STRANDDISTEL
Roman von Leni Behrendt
Das Mädchen Senöwe von Helgen trug seinen aparten Namen zu Recht: wenn man es näm...
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STRANDDISTEL
Roman von Leni Behrendt
Das Mädchen Senöwe von Helgen trug seinen aparten Namen zu Recht: wenn man es nämlich sah, mit hellem Haar und strahlend blauen Augen, mußte man unwillkürlich an Sonne denken, an Meer und Wind. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter ein zweites Mal geheiratet. Diese fühlt sich wohl in der Stadt, in dem Reichtum und in dem Luxus, mit dem ihr Gatte sie umgab. Senöwe dage
gen dachte voller Sehnsucht und Wehmut an das Haus am Meer zurück, wo sie mit dem Vater gelebt hatte. Als sie hörte, daß der beste Freund ihres Vaters – ihr geliebter Onkel Konny – nach langen Wanderjahren zurückgekehrt sei und sich dort in der Heimat ein Haus gekauft habe, hält sie nichts mehr in der Stadt. Sie erbittet einen ungern gewährten Urlaub und reist los. Kurz vor dem Ziel verfährt sich Senöwe und dringt in einen geheim nisvollen Park. Ein Hund stürzt auf sie zu und – ein herrischer Pfiff – im nächsten Moment tritt eine hohe Männergestalt ihr entgegen und weist ihr kurz den Weg; dann wendet sie sich um und schreitet davon. Und Senöwe begegnet ihm ein zweites Mal. Wie sie erfährt, wer er ist, welch ein Geheimnis ihn und das Schloß am Meer umgibt, wie er ihr die schwerste Frage ihres Le bens stellt, die doch die glücklichste sein sollte, und wie sie trotzdem »ja« sagt, wie aus der »Stranddistel« schließlich die ge liebte Herrin von und zu Bernbrugg auf Möwen wird, das erzählt Leni Behrendt mit unnachahmlicher Meisterschaft.
Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz.
Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),
Mühlenstieg 16-22, 2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09,
Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich:
Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten.
Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr.
Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.
Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßi gen
Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden.
Printed in Denmark.
Das Mädchen Senöwe trug seinen aparten Namen zu Recht. Wenn man es nämlich sah, dann mußte man unwillkürlich an Sonne denken, an Meer und an Wind. Das machte wohl das natürlich gewellte Haar, das auf dem Klopf gleißte wie köstlicher Bernstein, die strahlendblauen Augen mit der leicht grünlichen Iris, das Gesicht, von dem man sagen konnte, herb und süßlich zugleich, die rassige, biegsame Gestalt und das frischfröhliche Naturell. Senöwe – den Namen hatte der Vater seinem so freude strahlend empfangenen Töchterlein gegeben. Es wurde fortan sein ein und alles, zumal er mit seiner Frau in nicht gerade harmonischer Ehe lebte. Kein Wunder, da er zweiundzwanzig Jahre mehr zählte als sie. Aber was sollte der Junggeselle machen, als man ihm das Verwandtenkind, das seine Eltern durch einen Unglücksfall an einem Tag verlor, gewissermaßen als Mündel aufhalste? Er gab die Zwölfjährige erst mal in ein Internat, doch als sie diesem mit achtzehn Jahren entwuchs, war guter Rat teuer. Denn die schöne Irina war sehr verwöhnt, sehr kapriziös und so lebensfremd, daß sie sich, auf eigene Füße gestellt, in dem rauhen Leben nie behauptet hätte. Also sagte sich der Bildhauer Justus von Helgen, daß dieses eigenartige Geschöpf bei ihm immer noch am besten aufgehoben wäre und heiratete es kurzentschlossen. Und als Irina ihm dann mit zwanzig Jahren die kleine Senöwe schenkte, war er ihr dafür von Herzen dankbar, zumal diese so wurde, wie er sich seine Tochter ersehnte. Wie zwei unzertrennliche Kameraden lebten die beiden, die sich äußerlich und innerlich so ähnlich waren, wie es Vater und Tochter nur sein können. Und als ein uralter Onkel seinem Neffen Justus nach dem Tode sein Haus vermachte, siedelte dieser mit der damals achtjährigen Se nöwe dahin über, dabei das Lamento seiner Gattin völlig ignorierend. Und dieses Haus, das sich der Kapitän nach seiner Pensio nierung hatte erbauen lassen, lag so dicht an der Ostsee, wie es eben anging. Es war zwar nicht groß, aber immerhin
genügend für zwei Personen und dazu sehr behaglich ein gerichtet. Und somit befand sich Justus von Helgen endlich am rech ten Platz. Man konnte sich diesen blonden Hünen auch kaum in einer engen Stadtwohnung vorstellen, genauso wenig, wie einen Falken in einem Vogelbauer. Und Senö we. diese kleine Stranddistel, wie der Vater sie zärtlich nannte, hätte sich in einer engen Vase auch sonderbar ge nug ausgenommen. Und doch steckte sie jetzt darin, bereits schon ein ganzes Jahr, obwohl diese »Vase« kostbar war und die Weite einer komfortablen Villa besaß. O wie gern hätte Senöwe diesen Komfort lachenden Mun des eingetauscht gegen das weit primitivere Haus am Meer. Aber leider gab es für sie dorthin kein Zurück, seitdem es nach dem Tod des Vaters verkauft werden mußte. Erstens einmal, weil Senöwes mondäne Mutter es entschieden ab lehnte, sich in dieser Einöde zu vergraben und zweitens, weil man das Geld, das dieser Verkauf brachte, unbedingt benötigte. Denn Justus von Helgen hatte es nie zu Wohlstand ge bracht, weil er nicht zu rechnen verstand und außerdem noch eine offene Hand besaß. Wenn es nämlich galt, in Not geratenen Menschen zu helfen, wußte die Linke oft nicht, was die Rechte tat. Trotzdem hatte es zu einem behaglichen Leben immer noch gelangt. So reichlich sogar, daß Frau Irina von Hel gen, die es nie lange in dem einsamen Haus am Meer aus hielt, auf Reisen gehen konnte, wo sie gewiß nicht mit dem Pfennig rechnete. Und dann war eines Tages alles aus. Und zwar, als Justus von Helgen bei einer Rettungsaktion, von der er sich nie ausschloß, mit drei anderen todesmutigen Männern von den tosenden Wellen hinweggespült wurde in unermeßli che Ferne. Und mit dem Tage endete auch das freie, lachende Leben der Stranddistel Senöwe. Halb wahnsinnig vor Schmerz um
den Verlust des zärtlichen Vaters, durfte sie sich jedoch in diesem Schmerz nicht verlieren. Mußte die fassungslos jammernde Mutter beschwichtigen und ihr sogar in das Heim folgen, das ein reicher Mann der noch so jugendlich wirkenden Witwe von vierzig Jahren freudig bot. Irina hatte den gutaussehenden Mann auf einer ihrer Rei sen kennengelernt. Und da man sich gleich vom ersten Sehen an gut gefiel, war es zu einer Freundschaft gekom men, bei der man aber nie vergaß, daß Irina an einen Mann gebunden war. Als dieser jedoch starb, warb der In dustrielle, auch ein Witwer, um die verehrte Frau, die sei nen Antrag ohne Bedenken annahm, obgleich er bereits zwei Monate nach dem Tode von Justus von Helgen erfolg te. Schon einige Wochen danach kam es zu einer stillen Hochzeit, und Senöwe blieb nichts anderes übrig, als ihrer Mutter in das neue Heim zu folgen. Nun saß sie da wie ein Sturmvogel, dem man die Schwin gen gestutzt und den man in einen goldenen Käfig gesperrt hatte. Trug immer noch heißen Schmerz um den Tod des so sehr geliebten Vaters und war trotz ihrer jetzt einund zwanzig Jahre schon so recht des Lebens überdrüssig. Es war ein reiches Haus, in dessen Halle ein siebzehnjähri ges Mädchen wirbelte und, einen flotten Schlager pfeifend, die breite, teppichbelegte Treppe emporsprang. Oben nahm es dann ein allerliebstes Jungmädchenzimmer auf, darin es jedoch nicht verweilte, sondern in den Nebenraum eilte, wo Senöwe von Helgen am Fenster saß und verdrieß lich in den dämmernden Park hinabschaute. Jetzt wandte sie den Kopf und sah nicht gerade erfreut auf die Kleine, die ohne zu fragen Licht einschaltete. »Wie du hier im Dunkeln sitzen und Trübsal blasen kannst, wird mir ewig ein Rätsel bleiben«, sprudelte es über die Lippen des Jungfräuleins. »Ich soll dich von Fred Ewing grüßen, der sich vor Sehnsucht nach dir verzehrt. Ebenso wie noch andere deiner glühenden Verehrer, deren treue Anhänglichkeit du gar nicht verdienst. Hach, wie gehst du doch bloß grausam mit deinen Anbetern um.«
»Um so liebenswürdiger behandelst du die deinen«, warf Senöwe sarkastisch ein. »Wo hast du dich übrigens den Nachmittag über herumgetrieben?« »Herumgetrieben, wie sich das anhört«, zog die andere ein Schmollmäulchen. »Wie du siehst, bin ich im Tennisdreß, ergo kann ich doch wohl nur im Tennisklub gewesen sein. Übrigens haben wir ein neues Mitglied. Du, das ist viel leicht ein Mann! Einfach himmlisch! Er machte mir gleich ein Kompliment…« »Schon faul«, unterbrach Senöwe sie trocken, sprach jedoch nicht weiter, weil die Mutter eintrat. O ja, sie konnte sich schon sehen lassen, die schlanke, dunkelhaarige Frau, der man ihre einundzwanzigjährige Tochter gewiß nicht ansah, zumal diese auch nicht die kleinste Ähnlichkeit mit ihr hatte. Ein Unbeteiligter hätte vielmehr annehmen können, daß die brünette Stieftochter ihr leibliches Kind wäre. »Himmel, Mam, bist du wieder mal schick!« rief die Kleine, dabei bewundernd auf das elegante Kleid tippend. »Neu?« »Ganz recht, Liebchen. Papa hat nämlich ein gutes Geschäft gemacht und befand sich daher in ganz besonders großzü giger Geberlaune. Selbstverständlich hat er auch euch nicht vergessen.« »O wie schön!« jubelte Charlott. »Was ist's, Mamachen?« . »Komm mit, du natürlich auch, Senöwe.« Lachend folgte sie der Stieftochter, während die eigene Tochter sich damit Zeit ließ. Als sie unlustig das Ankleide zimmer betrat, das sie mit der Stiefschwester teilte, war diese schon dabei, ihr Kleid abzustreifen. Dabei hingen ihre dunklen Kulleraugen entzückt an dem Kleidchen, das allerliebst genug war, um ein Jungmädchenherz in Wonne zu versetzen. Flugs schlüpfte Charlott hinein und drehte sich vor dem Spiegel wie ein eitler Pfau. »Todschick«, lachte sie selig. »Dabei paßt es wie angegos sen. Ich muß schon sagen, Mamachen, daß du einen siche ren Blick für meine Maße hast. Darf ich das Wunderwerk anbehalten?«
»Natürlich, Kleines. Der Papa erwartet das sogar, um sich an unserm Anblick berauschen zu können. Nun mach schon, Senöwe«, wandte sie sich unwillig an die Tochter, die langsam ihr Kleid abstreifte. »Es wird gleich zum Abendessen gongen, und du weißt doch, daß Papa Unpünktlichkeit haßt.« Kurz darauf schaute die Mutter stolz auf ihr schönes Kind. Ihre Senöwe konnte aber auch anziehen was sie wollte, stets sah sie elegant und apart aus. Aber auch Charlott konnte sich sehen lassen in ihrer Niedlichkeit. Ebenso das zehnjährige Nesthäkchen Susi, das nun angestürmt kam, gleichfalls in einem neuen, allerliebsten Kleidchen. Da der Gong ertönte, beeilte man sich, in das Speisezim mer zu kommen, wo auch gleich darauf der Herr des Hau ses eintrat. Ein Mann Ende der Vierzig, gutaussehend und mit dem selbstsicheren Gebaren des gebietenden Ge schäftsmannes. An seiner Seite befand sich der Sohn des Hauses, ein aufgeschossener Knabe von vierzehn Jahren, mit einem kecken Gesicht und dunklem Haarschopf, der momentan ganz manierlich gekämmt war. Da er wie die meisten Jungen seines Alters verächtlich jeden » Weiberkram« abtat, sah er auch jetzt grinsend auf die in Neu ers trahlende Weiblichkeit, während sein Vater sie schmun zelnd betrachtete. »Einfach fabelhaft schaut ihr aus, meine lieben Weibsen. Bei so einem Anblick lohnt es schon, sein Portemonnaie ganz weit aufzumachen.« »Bloß mir gegenüber blieb es zugeknöpft«, brummte der Filius, worauf denn augenzwinkernd vom Herrn Papa ein Geldschein in die Bubenfaust geschoben wurde. Somit hatte der Herr vom Ganzen wieder einmal alle zu friedengestellt und nahm mit Selbstverständlichkeit an, daß auch seine Stieftochter es sein müßte. Und hätte man ihm gesagt, wie widerstrebend diese dem allen, was ihr in dem reichen Hause geboten wurde, gegenüberstand, wäre er wohl bass erstaunt gewesen. Genauso wie die Mutter es war, als Senöwe ihr nach der
Hochzeit eröffnete, daß sie sich auf eigene Füße stellen wolle. »Ja, aber Kind, wozu das?« fragte sie verständnislos. »Du hast es als Tochter des reichen Neubeck doch wahrlich nicht nötig.« »Stieftochter, Mama.« »Mädchen, das ist doch einfach Wortklauberei. Genauso wenig wie ich seine Kinder als Stiefkinder betrachte, tut er es bei meiner Tochter. Ich bitte mir aus, diesen wahrhaft vornehmdenkenden Menschen nicht zu kränken, das hat er gewiß nicht um uns verdient. Außerdem, wie willst du dich auf eigene Füße stellen? Du hast doch nichts Rechtes gelernt. Hast nicht einmal eine öffentliche Schule besucht, weil dein Vater sich in seiner Affenliebe nicht von dir trennen und dich nicht in die Stadt geben wollte. Und der Unterricht, den du bei dem verdreh ten Dorfgelehrten erhieltest, ist wohl kaum ernstzuneh men.« »Und doch habe ich mein Abitur mit Auszeichnung be standen, Mama. Also ein Zeichen, daß ich doch wohl etwas gelernt haben muß.« »Naja, das schon«, räumte Irina widerwillig ein. »Willst du etwa studieren? Das würde Papa dir gern ermöglichen. Ich werde mit ihm sprechen.« »Mama, willst du mich denn durchaus nicht verstehen? Ich möchte deinem Mann nicht auf der Tasche liegen.« »Wie töricht, Senöwe. Und nun Schluß mit dem Unsinn! Du bist hier genauso Kind des Hauses wie die drei anderen. Nimm also, was dir hier freudig geboten wird, ohne Wenn und Aber an. Lange wirst du es sowieso nicht nötig haben. Denn bei deiner köstlichen Schönheit und dem reichen Vater wird sich gar bald ein Mann finden.« Da wandte Senöwe sich schroff ab und eilte hinaus. Kam nie mehr auf ihren Wunsch zurück, unterbreitete ihn erst gar nicht dem Stiefvater, da sie genau wußte, daß die Mut ter da quertreiben würde, und der Stiefvater war ihr Vor mund.
Doch seit einer Woche nicht mehr, Gott sei Dank! Man hatte ihre Volljährigkeit ganz groß gefeiert, sie mit Ge schenken förmlich überschüttet. Aber gefreut hatte Senöwe sich nur über das schmucke Auto, das der Stiefvater dem Töchterchen, wie er sie zu nennen pflegte, höchst persön lich zum Geschenk machte. Eigentlich bin ich doch undankbar – sann sie vor sich hin, während sie wie mechanisch aß. Ich müßte doch froh sein, in einem so molligwarmen Nest sitzen zu dürfen. Müßte unbekümmert in den Tag hinein leben, wie auch die Mut ter es tut. Aber sie konnte es nicht, wirklich nicht, trotz aller vernünf tigen Vorstellungen nicht. Das Leben hier widerte sie förm lich an, das den anderen direkt Lebenselixier bedeutete. Vergnügungen, Gesellschaften, Putz und Tand, das wurde hier ganz groß geschrieben. Der Mann verdiente das Geld, die Seinen gaben es mit vollen Händen aus. Aber das wollte er ja haben, gerade so gefielen sie ihm. Er selbst ließ sich ja auch nichts entgehen, ergo: Leben und leben lassen. So richtig unzufrieden mit sich und der ganzen Welt suchte Senöwe am Abend ihr Zimmer auf. Ein trautes Nestchen, wie es einer verwöhnten jungen Dame zukommt. Zuerst hatte sie mal Mühe, Charlott aus dem Zimmer zu bekommen, die wie eine kleine Elster schwatzte. Natürlich von Kleidern, von Vergnügungen und von den feschen Ka valieren, die ihr den Hof machten. Vorläufig war das harm los, sonst hätte die Kleine nicht so offen davon gesprochen. Aber so einige Jahre später… Nun, das sollte Senöwes Sorge nicht sein, sie hatte gerade genug mit sich zu tun. Endlich verschwand die Kleine, und Senöwe, die bereits im Bett lag, griff nach der Illustrierten, die sie erst einmal un lustig durchblätterte. Bis – Ja, bis ihre Augen ein Bild erfaß ten. Und zwar das Bild eines Mannes, das fast schon ihrem Gedächtnis entschwunden war. »Onkel Konny«, flüsterte sie und las dann voll Spannung,
was unter dem Bild stand, nämlich, daß der Maler Konrad Hövemann mit seinem Bild auf der Ausstellung den ersten Preis bekommen hatte. Konrad Hövemann, was alles war damit für Senöwe von Helgen verbunden – ihre ganze unbeschwerte Kindheit und erste Jungmädchenzeit; denn der Maler war der beste Freund ihres Vaters gewesen. Immer stellte er sich im Haus am Meer ein, wenn er kein Geld hatte. Wurde jedesmal mit herzlicher Freude aufgenommen, bis die Unrast ihn dann wieder forttrieb. Die letzte Karte war aus Spanien eingetrof fen, seitdem hatte Senöwe nichts mehr von ihm gehört. Doch jetzt war er wieder in Deutschland und machte von sich reden. Er lebte in seinem Haus an der Ostsee, wo er seßhaft zu werden gedachte. Ein Haus an der Ostsee – Senöwe durchzuckte ein freudiger Schreck. Ob es gar ihr geliebtes Haus war? Doch nein, leider nicht, die Ortschaft trug einen anderen Namen. Egal, es war ein Haus am Meer, und nun wußte die kleine Stranddistel endlich, wo sie ein rechtes Zuhause fin den konnte. Die Zeitschrift fest ans Herz gedrückt, schlief Senöwe von Helgen ein. Schlief so gut, wie sie in dem weichen Pfühl noch nie geschlafen hatte. Daß in der Villa Neubeck alles ordnungsgemäß verlief, war gewiß nicht das Verdienst der Hausherrin, sondern das der Hausdame, die schon länger als ein Jahrzehnt dort segens reich wirkte. Der Hausherr schätzte sie sehr, und seine Kin der hingen an ihr. Also geschah es nicht um des Hausstandes willen, daß Er win Neubeck wieder heiratete, sondern weil er Irina liebte. Er wußte wohl, daß die verwöhnte Frau kein braves Haus mütterchen werden würde, aber das verlangte er ja gar nicht von ihr. Er wollte eine schöne, elegante Frau haben, mit der er prahlen konnte das Hauswesen und die Kinder waren bei Frau Alger bestens aufgehoben. Also führte er Irina heim und hatte das in seiner bis jetzt einjährigen Ehe noch nicht einen Augenblick bereut. Im
Gegenteil war er der geliebten Frau dankbar, daß sie sich so gut mit seinen Kindern verstand. Mehr jedenfalls als mit der eigenen Tochter, die so gar nichts von ihrer mondänen, charmanten Mutter hatte. Daher konnte Erwin Neubeck auch nicht den richtigen Kontakt zu dem aparten Mädchen finden und behandelte es mehr als junge Dame denn als Stieftochter. Daß diese nicht hinter den Kindern des Hauses zurückstand, dafür würde schon die leibliche Mutter sorgen. Somit tat er die sen Fall ab, wie er ja alles abtat, was ihm unbequem war. Wie schon gesagt, lief dank der Fürsorge der Frau Alger in dem großgeführten Hauswesen alles reibungslos. Pünk tlichkeit war da erstes Gesetz, dem sich selbst die verwöhn ten und freiheitsliebenden Kinder beugten. Also nahm man die Mahlzeiten pünktlich ein, bis auf das Frühstück, da gab es keine Norm. Die drei schulpflichtigen Kinder, zu denen auch Charlott bis Ostern gehörte, schlan gen es während des Ankleidens hinunter, weil sie nicht zu bewegen waren, den weichen Pfühl auch nur fünf Minuten früher zu verlassen als unbedingt nötig. Der Hausherr nahm es gedankenlos ein, weil er dabei das Börsenblatt las, die Hausherrin schlief bis in den Vormittag hinein, wie es jetzt auch Charlott nach der Schulentlassung tat, und nur Frau Alger sowie Senöwe fanden sich um acht Uhr am Frühstückstisch ein. So geschah es auch heute. Senöwe wünschte der würdigen Dame artig einen guten Morgen, plauderte wie stets mit ihr, und doch hatte Frau Alger den Eindruck, daß das junge Mädchen mit seinen Gedanken weit fort war. Es aß hastig, gab zerstreute Antworten und sprang schließlich auf, ohne die Tasse geleert zu haben. »Entschuldigen Sie, Frau Alger, aber ich kann unmöglich hier in aller Gemütsruhe frühstücken.« Weg war sie und hastete zum Schlafzimmer der Mutter, die in ihrem luxuriösen Bett noch im tiefen Schlummer lag, den Senöwe rücksichtslos unterbrach, indem sie die Jalou sien hochzog. Zuerst blinzelte die so Aufgeschreckte ins
blendende Licht, setzte sich dann auf und sah die vor ihr
stehende Tochter ärgerlich an.
»Senöwe, ich muß schon sagen…«
Weiter kam sie nicht, weil das Mädchen sich auf den Bett rand setzte und die Schockierte umfaßte.
»Sei lieb, Mama, ja? Ich habe dir nämlich etwas zu sagen,
was keinen Aufschub duldet – wenigstens für meine Unge duld nicht. Da, lies!«
Damit drückte sie der Mutter die Illustrierte in die Hand,
auf die diese zuerst starrte und dann verständnislos den
Kopf schüttelte.
»Und dazu reißt du mich so unbarmherzig aus süßem
Schlummer, damit ich den Künstler betrachten soll, der
übrigens wie ein Wald- und Wiesenmensch aussieht? Wer
ist er überhaupt?«
»Aber Mama, erkennst du denn nicht den Maler Konrad
Hövemann, den besten Freund von Paps?«
»Ach, der ist das – «, dehnte Irina. »Komisch, daß der für
sein Gekleckse auf der Ausstellung den ersten Preis bekam.
Wird wohl so seine Verbindung haben.«
»Und vor allen Dingen hat er ein Haus an der Ostsee.«
»Ist das denn so aufregend?«
»Für mich schon. Ich fahre nämlich zu meinem lieben gu ten Onkel Konny. Herrgott, was habe ich bloß für eine
Mordsfreude!«
»Das verbiete ich dir, Senöwe! Der haust dort doch be stimmt allein.«
»Und was schadet das?«
»Ja, sag mal, mein Kind, gehen dir denn alle Anstandsre geln ab?«
»Mama, Onkel Konny ist bestimmt nicht mehr weit von
Fünfzig.«
»Das sagt gar nichts. Bedenke, daß dein Vater auch
zweiundzwanzig Jahre alter war als ich. Du fährst zu dem
Maler jedenfalls nicht.«
»Und ich fahre doch. Ich halte es in diesem Hause einfach
nicht mehr länger aus.«
»Kind, sei doch nicht so störrisch«, griff sich nun die Dame, die selbst im Bett einen mondänen Eindruck machte, ner vös an die Schläfen. »Wenn du aus diesem Hause, das dich so schützend umgibt, durchaus fortstrebst, dann nur ein kleines Entgegenkommen – und du wirst noch heute des reichen und angesehenen Fred Ewings Braut.« »Ah, daher weht der Wind. Gib dir keine Mühe, Mama, ich heirate nur den Mann, den ich mir selbst aussuche. Und nun paß mal auf: Sollte Onkel Konny wirklich allein in dem Strandhaus wohnen, dann komme ich zurück, das verspreche ich dir, denn ich bin selbst nicht dafür, mich dem Gerede der Menschen auszusetzen. Und nun gehab dich wohl, ich melde mich sehr bald.« Ja, was sollte die Frau da wohl machen. Sie wußte ja schon längst, daß sie keine Macht über die Tochter besaß, eigent lich nie besessen hatte. Die erste Instanz war von jeher der vielgeliebte Paps gewesen, und mündig war sie jetzt auch. »Na schön«, gab Irina resigniert nach, weil ihr eben nichts anderes übrig blieb. »Ich will dich nicht halten. Ich weiß nur nicht, wie ich es meinem Mann, diesem herzensguten und edlen Menschen, beibringen soll, daß seine Stieftoch ter ihm alles, was er ihr so großmütig bietet, hohnlachend vor die Füße wirft, um in der Einöde unterzutauchen.« »Nun, Mamachen, du wirst schon deinem ergebenen Ehe sklaven gegenüber die richtigen Worte linden«, spottete Senöwe. »Nichtsdestotrotz bin ich ihm für das Auto dank bar, das er mir an meinem Geburtstag schenkte. In dem wonnigen Gefährt werde ich hinauskutschieren in die Frei heit und hinein in die Arme meines guten Onkel Konny. Also indes auf Wiedersehen oder Wiederhören, Mama. Be halte deine unnütze Tochter heb, die nie vergessen wird, was sie dem makellosen Namen Helgen schuldig ist.« Und ehe die überrumpelte Frau noch antworten konnte, war das Mädchen auf und davon. Senöwe von Helgen fühlte sich so losgelöst wie eine Möwe, der es gelungen war, nach einjähriger Haft dem engen Käfig zu entfliehen. Und wenn dieser Käfig auch noch so gute
Sicherheit garantierte, so war der Freiheitsdrang weit starker als alle Wohlgeborgenheit. Was sie in dem Strandhaus erwartete, das wußte Senöwe zwar nicht, aber es würde alles leichter zu ertragen sein als das Schmarotzerleben in der komfortablen Villa. Senöwe hatte die Autokarte gründlich studiert und wußte daher, welchen Kurs sie einschlagen mußte. Dazu war es Mai – und Senöwe von Helgen zählte einund zwanzig Jahre. Was Wunder, daß ihr die Welt in rosarotem Licht erstrahlte. Wie es weitergehen sollte, darob machte sie sich keine Sorgen, der gute Onkel Konny würde bestimmt einen Ausweg wissen. Allein, bis es soweit war, verging noch eine gute Weile. Zu erst galt es einmal, das Dorf zu erreichen, in dessen Nähe das Strandhaus liegen sollte. Wenn nur der Wegweiser aus führlicher angezeigt Hätte, aber aus denen konnte man wirklich kaum klug werden. Aha, da stand schon wieder so ein Ding und streckte vier Arme aus. Nach Möwen wollte sie nicht, nach Sanden auch nicht, aber hier, daher wehte wohl der richtige Wind. Ja – und dann schien die Welt plötzlich nicht mit Brettern vernagelt zu sein, aber immerhin von Drahtzäunen abge sperrt. Senöwe konnte steuern hin und her, kreuz und quer, überall gebot so ein Zaun Halt. Und jetzt tat es gar ein breites, schmiedeeisernes Tor, hinter dem sich ein riesiger Park erstreckte, den eine Birkenallee schnurgerade durchschnitt. Senöwe stieg aus, trat ganz na he an das Hindernis heran und lugte durch die Eisenstäbe in den Park, der wie verwunschen dalag. Uralte Bäume, die jetzt junges Mailaub schmückte, weite Rasenflächen mit smaragdgrünem Schimmer, allerlei Figuren, sicher schon sehr alt, aber gepflegt, weiter hinten ein Weiher, auf dem ein Schwanenpaar gemächlich ruderte – nur von einem Haus war nichts zu sehen. Wie verzaubert schaute Senöwe auf dieses herrliche Fleck chen Erde, aus dessen grüner Tiefe es geheimnisvoll zu raunen und zu wispern schien.
Bis die andächtig Schauende rücklings einen Stoß erhielt, der sie gegen das Tor warf. Zutiefst erschrocken fuhr sie herum und sah nun einen Jagdhund, der sie mit feindseli gem Knurren musterte. Bis ein kurzer, scharfer Pfiff ihn dahin eilen ließ, wo nun auch ein Mann sichtbar wurde, der Jagdkleidung und die Flinte über der Schulter trug. Senöwe stand da wie erstarrt, das Herz klopfte bang und schwer. Abwehrend streckte sie die Hände aus – und da umzuckte ein ironisches Lächeln den Mund des Mannes, der jetzt vor ihr stand, seine Augen erst über den chromb litzenden Wagen gleiten ließ und sie dann auf das Mäd chen heftete, das stocksteif dastand und sich nicht zu rüh ren wagte. Dann klang eine Stimme auf, dunkel, volltönend, mit der Sicherheit des Gebieters: »Nun, meine Gnädige, wollen Sie mir vielleicht erklären, wie Sie in ein Gebiet gelangen konnten, das von allen Sei ten abgesperrt ist und wo an der einzigen Zugangsstelle ein Schild anzeigt, daß dieser Privatweg nur von Befugten be fahren werden darf?« Der herrische Ton reizte Senöwe, doch die Haltung des Mannes warnte sie davor, eine patzige Antwort zu geben. Daher sagte sie höflich: »Entschuldigen Sie, mein Herr, ich habe mich hierher ver irrt.« »Wohin wollen Sie denn?« »Zum Maler Hövemann.« Jetzt blitzte es überrascht in den Augen des Mannes auf, der im Aussehen wie im Gebaren gewiß kein Dutzendmensch war. Wer mochte dieser ungewöhnliche Mann sein? Während sie grübelte, merkte sie gar nicht, daß ihre Augen großaufgeschlagen an der prachtvollen Erscheinung hin gen, und daß ihr Blick ihre Gedanken verriet. Sie zuckte zusammen, als die sonore Stimme erneut aufklang: »Dann fahren Sie geradeaus ins Dorf und lassen sich dort den Weg zum Strandhaus erklären. Guten Tag.« Damit lüftete er den grünen Hut und wandte sich dem Tor
zu, zog aus der Tasche ein Schlüsselbund, schloß auf, hin ter sich wieder zu und schritt festen Fußes die Allee ent lang, ohne sich nach Senöwe umzusehen, die ihm mit atemloser Spannung nachsah, bis die hohe Gestalt in ei nem Seitenweg verschwand. Verschwunden wie ein Spuk, dachte sie zusammenschau dernd. Da kann es einem ja direkt gruseln, zumal in diesem Märchenwald eine so unheimliche Stille herrscht, als halte die Natur den Atem an. Also beeilte sie sich, in den Wagen zu kommen, brachte ihn in Gang, wendete und fuhr langsam den Weg entlang, der wohl noch zwei Kilometer weit von Zäunen abgesperrt war. Doch unmittelbar danach begann das Dorf, in das Senöwe wollte. Ein Schild zeigte es an, aber daneben stand noch eins, das darauf hinwies, daß das Betreten und Befahren des eingezäunten Weges Unbefugten bei Strafe untersagt sei. »Ach du lieber Gott, da kann ich ja froh sein, daß ich noch so glimpflich weg kam«, murmelte Senöwe. »Denn der fin stere Mann scheint wahrlich nicht lange zu fackeln.« Und dann galt ihr Interesse erst mal dem Dorf. Die Häuser, ungefähr dreißig mochten es sein, hatten zum Teil noch ein Strohdach. An den weißgetünchten Mauern hingen Netze, hinter den blanken Scheiben der kleinen Fenster blühten in Töpfen Fuchsien und Geranien, und in den kleinen Vorgär ten leuchtete es bunt von Frühlingsboten. Jedenfalls mach te das Dorf, in dessen Mitte der Dorfkrug breit und behäbig stand, einen sauberen und freundlichen Eindruck. »Zur fetten Flunder« prangte es über der Haustür in lustigbunter Schrift, also vielverheißend, wie Senöwe lachend feststellte. Für ihren Wagen fand sie reichlich Platz, und nachdem sie ihn gesichert hatte, betrat sie den Flur, der mit roten Zie geln ausgelegt war. Die große Stube war so niedrig, daß ein hochgewachsener Mensch mit ausgestrecktem Arm bequem die Balken fassen konnte. Es roch darin nach Tran, Fisch und Tang, Schnaps, Grog, Stiefelwichse, Petroleum, Herin
gen und Zichorie. Die drei letzten »Düfte« wehten aller dings von dem Laden her, dessen Tür einen Spalt geöffnet war. Die Luft in dem Schankraum hätte man schneiden können. Sie rührte von dem Knaster her, den die Männer, die darin saßen, in ihren Pfeifen rauchten. Wie etwas lange Entbehrtes zog Senöwe von Helgen diese Gerüche ein. Und warum? Weil das die Luft war, die sie geatmet hatte, wenn sie, den primitiven Korb am Arm, vom Strandhaus in den Krugladen einkaufen ging. Es gab alles darin, von der Nähnadel bis zu den Holzpantoffeln, über Kochtöpfe, Steingutgeschirr, Bonbons, Schokolade und Schmierseife. Als die elegante junge Dame eintrat, hoben die Männer, die an den Tischen mit den grellbuntkarierten Decken saßen, flüchtig die Köpfe. So eine Erscheinung war hier nicht neu, weil der Ort, der besonders schön gelegen, immer wieder Sommergäste anzog, die es »schick« fanden, in den Fi scherhäusern zu wohnen und im Krug die einfache Haus mannskost zu essen. Selbst der Wirt näherte sich diesem Gast, der sich an einen freien Tisch setzte, durchaus nicht dienstbeflissen. Pomadig kam er näher und fragte nach dem Begehr; wunderte sich gar nicht, als diese »süße Pup pe« ein Bier bestellte, das dann kurz darauf im Seidel schäumte. Beherzt setzte Senöwe es an die Lippen, tat einen langen Zug und fragte dann den Wirt nach dem Weg. »Das trifft sich gut, meine Dame«, verzog sich das glänzen de Vollmondsgesicht zu einem breiten Lachen. »Frau Hö vemann befindet sich nämlich gerade nebenan im Laden, um ihre Einkäufe zu machen. Wenn Sie mitkommen wol len…« Schon kugelte er voran, und sehr langsam folgte Senöwe. Denn was sie soeben gehört, war nicht so leicht zu fassen. Frau Hövemann? Dann jedoch geschah etwas, das Senöwe völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Sie fühlte ihre Hände erfaßt, einen
Kuß auf die Wange gedrückt und hörte ein silberhelles La chen. »Nun komm schon endlich zu dir, kleine Stranddistel. Wird mein Konny aber eine Mordsfreude haben, wenn ich ihm mit so einem Mitbringsel komme. Hast du nebenan etwas verzehrt?« »Nur Bier.« »Aha! Hier haben Sie eine Mark, Herr Wirt, und nun lassen Sie uns in Frieden ziehen.« Damit griff sie nach dem Arm der Willenlosen und zog sie mit sich fort. Draußen betrachtete sie das Auto mit Ken nerblick. »Schicke Karre. Dein persönliches Eigentum?« »Ja – «, war alles, was Senöwe zuerst einmal vorbringen konnte. Es wirbelte in ihrem Kopf, nach dem sie hilflos griff, und die andere lachte: »Kann mir so ungefähr denken, wie die Gedanken in dem Köpfchen durcheinanderpurzeln. Ich hätte ja auch weniger stürmisch vorgehen können, aber als ich dich so fassungs los stehen sah, spickte mich der Hafer, wie es so schön heißt.« »Ja – aber sind Sie – denn wirklich – Onkel Konnys – Frau ?« »Mädchen, du stotterst ja ganz erbärmlich. Vor allen Din gen laß mal das steife Sie, das wollen wir zwischen uns erst gar nicht aufkommen lassen.« »Aber woher kennen Sie – kennst du – mich denn über haupt?« »Kindchen, wer so aufreizend an der Wand hängt wie du bei uns, der hat seinen Steckbrief weg. Außerdem hat Kon ny mir viel von der kleinen Stranddistel, dem Sturmvogel und noch mehr solcher stolzen Tierchen in zärtlichster Weise erzählt. Und nun wollen wir endlich losfahren. Ich kann es nämlich kaum noch erwarten, dich Konny trium phierend zu präsentieren. Was dir noch unklar ist, erzähle ich unterwegs.« So stiegen sie denn ein, doch bevor Senöwe den Wagen in
Bewegung setzte, ließ sie sich erst einmal den Weg be schreiben. »Siehst du ungefähr zweihundert Meter weiter den Weg, der rechts abbiegt?« »Ja.« »Den schlägst du ein. Dann noch einmal rechtsherum und du gelangst an eine Wellblechgarage, wo dein Hottehüh chen Wohnung beziehen kann, weil wir augenblicklich noch keins haben.« So tat Senöwe denn wie ihr geheißen. Der Weg, der von der Asphaltstraße abbog, war so einiger maßen, doch der nächste, den sie einschlugen, war schmal und sandig. Doch unermüdlich mahlten die Räder hin durch, angetrieben von dem vorzüglichen Motor. Und dann befand man sich plötzlich in der Nähe der See, die an diesem sonnigen Maitag in unwahrscheinlicher Bläue erstrahlte. Vor der Garage stoppte Senöwe, und dann hingen ihre leuchtenden Augen freudetrunken an dem Bild, nach dem sie sich ein Jahr lang gesehnt hatte. »Wunderbar«, sagte sie leise. »Mir ist zumute, als wäre ich nach quälender Irrfahrt endlich wieder heimgekehrt.« »Das bist du auch«, sprach da eine Stimme neben ihr gütig. »Denn so ein kleiner Sturmvogel wie du kann sich in der Stadt unmöglich heimisch fühlen. Das habe ich Konny immer wieder vorgehalten. So, und nun werde ich dir erst mal die nötigen Erklärungen geben, also: Ich heiße Anita, bin siebenunddreißig Jahre, könnte also zur Not deine Mutter sein. Ich bin in dem Strandhaus geboren und auch aufgewachsen, weil mein Vater, Professor Gratz, es mit den Altertümern hatte, wobei sein Kind mit der Zeit auch Altertumswert gewann. Es fühl te sich jedoch mopsfidel dabei. Bis dann dieser gute Kamerad seine treuen Augen für im mer schloß – meine Mutter hatte es schon zehn Jahre vor her getan – da stand ich denn da, ein einsames Altjüngfer lein. Um dieser quälenden Einsamkeit mal erst zu entfliehen, ging ich auf Reisen, was gewiß nicht zum erstenmal ge
schah; denn ich hatte mit meinem lieben Vater schon ein gutes Stück von der Welt gesehen. Und auf diesem Bummel listete mich das Schicksal mit dem Malersmann Konrad zusammen. Das heißt, wertvoll an mir war ihm wohl nur mein Strandpalast«, setzte sie spitzbübisch hinzu. »Und da er den ohne mich nicht bekommen konnte, nahm er mich wohl oder übel als Beigabe mit.« »Was wohl nicht ganz stimmen kann«, warf Senöwe trok ken ein. »Da wird der liebe Amor wohl kräftig mitgeholfen haben.« »Kindchen, ich bitte dich, in unseren Jahren«, tat sie gro ßartig, mußte sich jedoch auslachen lassen, wobei sie fidel mittat. »Nachdem nun alles geklärt ist, können wir aussteigen. Deine Prachtkutsche kannst du unbekümmert hier stehen lassen, weil ich ja nicht den Schlüssel von der Garage mit mir herumschleppe. Auch den Koffer laß stehen, den holt Konny dann später. In unserem Paradies wird erstens nicht gestohlen, und dann verirrt sich auch kaum ein Mensch hierher.« Als sie ausgestiegen waren, stand Senöwe erst einmal zö gernd da. »Anita, ich habe noch etwas auf dem Herzen.« »Na, denn mal herunter mit dem Ballast«, kam es vergnügt zurück. »Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches ist mir fremd. – Ist er wenigstens deiner wert?« Da lachte Senöwe, hellklingend, „überschäumend, wie sie seit des Vaters Tod nicht mehr gelacht hatte. »Der – Er – ist vorläufig noch Vexierbild, also gibt es darü ber nichts zu berichten. Was mich bedrückt, das ist, ob ich Onkel Konny – und vor allen Dingen auch dir – nicht un gelegen komme.« »Schaf«, unterbrach Anita sie trocken. »Wenn du das noch nicht gemerkt hast, dann kannst du mir nur leid tun. Also hör mal gut zu, Senöwe, was ich dir sagen werde«, wurde die Frau nun ernst. »Konnys Erschütterung hättest du sehen sollen, als er mich seinem guten Freund Justus
freudestrahlend vorstellen wollte – und als uns dann in dem lieben Strandhaus ein fremder Mann entgegentrat und gleichmütig erklärte, daß der Bildhauer von Helgen ver storben wäre und seine Witwe das Haus an ihn verkauft hätte. Sie wäre jetzt wieder verheiratet, doch Genaueres darüber wüßte er nicht. So stellte denn Konrad seine Recherchen an und erfuhr somit, daß die schöne Irina wirklich wieder geheiratet hatte – und du mit ihr in dem reichen Hause wohntest.« »Und warum schrieb Onkel Konny denn nicht an mich?« warf Senöwe hastig ein. »Weil er annahm, daß, wenn du nun mit deiner Mutter zusammen lebtest in Wohlstand und Sorglosigkeit, du ge wiß nicht mehr die alte Senöwe wärest. Und mit einer mondänen Dame in Verbindung zu treten, dazu verspürte er keine Lust.« »Wie sehr er mir unrecht tat, werde ich ihm schon bewei sen«, erwiderte das Mädchen erregt. »Der kluge und auch weitgereiste Mann hätte immerhin so viel Erfahrung haben müssen, daß aus einer Stranddistel niemals eine Orchidee werden kann.« »Guter Vergleich«, lachte Anita. »Und nun rege dich mal ab, mein Herzchen, ganz blaß bist du geworden. Komm, damit du dem verbohrten Konny ordentlich Zunder geben kannst.« Der Pfad, den sie jetzt gingen, war noch sandiger als der Weg, den sie gefahren waren. Und dann lag das Strandhaus vor ihnen. Ein festgefügter Holzbau, eingeschossig, mit ausgebauten Giebeln und Mansarden. Die geräumige Terrasse lag der See zu, vierzehn Stufen mußte man zu ihr emporsteigen. Der Hauseingang befand sich auf der anderen Seite und man konnte ihn zur ebenen Erde erreichen. Blanke Fensterreihen, hinter denen duftige Gardinen hingen, zeugten davon, daß in diesem schmucken Bau eine sorgsame Hausfrau waltete. Wahrlich ein Anblick ringsumher, der jedes Malerauge entzücken mußte.
Der Maler selbst saß auf der untersten Terrassenstufe und flickte an einem Netz. Gewiß kein Adonis mit seiner unter setzten Gestalt, dem groben Gesicht, der zu lang geratenen Nase und dem kantigen Schädel, auf dem rotes, storres Haar wuchs. Wenn es zu lang wurde, stutzte Konrad Hö vemann es eigenhändig mit der Schere und damit holla. Aber die Augen, die waren schön. Dunkelblau, lustig und gut. Wie auch das Schmunzeln, das dieses Männerantlitz so liebenswert machte, und auch die Pfeife, ohne die man sich den Mann kaum vorstellen konnte. Zum Glück wurde sie nicht mit Knaster gefüllt, sondern mit einem guten Tabak. »Bleib noch im Hintergrund«, raunte Anita dem Mädchen zu, das mit Tränen in den Augen den Mann betrachtete, der ihr neben dem Vater der liebste Mensch gewesen von jeher. »Ich will meinen guten Alten neugierig machen und das genüßlich auskosten. Hallo, Konny, ich hab dir was Wunderschönes mitgeb racht!« rief sie ihm spitzbübisch zu. »Nun rate einmal, was es wohl sein könnte.« Die Pfeife wurde aufreizend langsam von einem Mund winkel in den anderen geschoben, und die Augen zwinker ten verschmitzt zu dem getreuen Ehegespons hin. »Da du im Krugladen warst, wie der Korb an deinem Arm beweist, könnten es nur einige von den Stinkadores sein, die so herrlich nach Petroleum und Stiefelwichse schmek ken. Oder hast du gar eine Importe aufgestöbert? Nun rück schon damit raus, Weib.« »Hach, Importe, daß ich nicht lache! Ein Nuschtwerk ist die gegen mein Mitbringsel. Und dabei kostet es nichts.« »Hm – « meinte der Mann, der nicht so leicht zu erschüt tern war. »Da kann es schon gar nichts Rechtes sein, denn umsonst ist nicht mal der Tod.« »Aber eine Stranddistel«, entfuhr es Anita ungewollt. Da hob der Mann den Kopf. Sein falkenscharfer Blick schweifte umher und erspähte dann auch Senöwe, die zu ihm hin lachte. Einige kühne Sprünge, dann stand sie vor dem überraschten Mann, ihm beide Hände entgegenstreckend.
»Onkel Konny, ich bin es wirklich!« jubelte sie. »Ich glau be, du hast schon mal schlauer ausgesehen.« »Hab ich recht?« triumphierte Anita. »Ist das nun ein wun derschönes Mitbringsel oder nicht?« »Kann man wohl sagen«, schmunzelte er, dabei das bezau bernde Geschöpf liebevoll betrachtend. »Mädchen, sei mir tausendmal herzlich willkommen.« »Na also«, zappelte Anita vor Ungeduld, das erregende Er lebnis zu schildern. »Stell dir mal vor, was ich wohl für Augen machte, als diese elegante junge Dame so plötzlich im Krugladen vor mir stand. Aber ich erkannte sie sofort, jawohl!« »Bei deinem Scharfsinn gewiß kein Wunder«, besah er sich seine muntere Ehehälfte. Und an dem zärtlichen Blick konnte Senöwe erkenne, daß dieses Paar sich trotz der rei fen Jahre in Liebe gefunden hatte. »So, meine kleine Standdistel, nun erzähle uns mal wie, warum und wieso«, forderte der Mann auf. »Aber dazu set zen wir uns wohl auf die Terrasse.« Wenig später saß man bequem in Sesseln aus Rohrgeflecht, und es grenzte beinahe schon an Hexerei, als in unwahr scheinlich kurzer Zeit eine Flasche mit kühlem Wein und Gläser auf dem Tisch standen. Der Hausherr schenkte ein, man trank den ersten Schluck auf den unverhofften Gast. Und dann erzählte Senöwe. Von des Vaters Tod, dem Hausverkauf, der Heirat der Mutter und so fort bis zum gestrigen Abend, da sie die Illustrierte in die Finger bekam und es somit kein Halten für sie gab, zu dem Menschen zu eilen, der ihr von Kindheit an vertraut war. »Hm – und was sagte die Frau Mama zu deinem Ent schluß?« forschte Hövemann, der gleich der Gattin dem Bericht interessiert gefolgt war. »Oder bist du etwa heimlich auf und davon?« »Nein, Onkel K- nrad. Ich riß sogar Mama aus süßem Schlummer, um ihr diesen Entschluß mitzuteilen. Denn bis sie so um zwölf Uhr herum unten auftauchte, konnte ich unmöglich warten, weil ich ja nicht genau wußte, wie
lange ich zu der Fahrt hierher brauchen würde. Aber sie war
denn doch kürzer, als ich annahm.«
»Ja, kümmert deine Mutter sich denn nicht um den Haus stand?« fragte Anita konsterniert.
»Nein, das braucht sie nicht. Dafür ist eine Hausdame da,
die schon länger als ein Jahrzehnt dort segensreich wirkt.«
»Und womit verbringt deine Frau Mama denn ihre Tage?«
»So, wie es einer Mondänen zukommt«, erklärte Senöwe,
sich über das verdutzte Gesicht der anderen köstlich amü sierend.
»Und die Ehe?« warf der Maler kurz dazwischen.
»Ist gut. Denn so stark Mama auch stets beschäftigt ist, für
ihren Mann hat sie immer Zeit.«
»Und die drei Kinder?«
»Läßt man nach ihrer Fasson selig werden.«
»Gott in deine Hände«, sagte Anita erschüttert. »Da komm
ich Dutzendmensch einfach nicht mit.«
»Siehst du, mir erging es ebenso«, nickte Senöwe. »Daher
konnte ich mich trotz der glänzenden Verhältnisse in dem
Haus nicht wohl fühlen. Und es verlassen, um mich auf
eigene Füße zu stellen, das hätte mein Stiefvater und Vor mund nicht zugelassen, dafür hätte schon Mama gesorgt.
Sie war direkt entrüstet, als ich ihr mit dem Anliegen kam.
Konnte es einfach nicht begreifen, daß ein Mensch sich aus
dem Wohlleben heraussehnte und arbeiten wollte. Und da
ich damals noch nicht mündig war, mußte ich in der kom fortablen Villa weiter vegetieren. Und wer weiß, wie lange
ich dazu noch verurteilt gewesen wäre, hätte ich nicht in
der Illustrierten dein Bild entdeckt, Onkel Konny.«
»Also ist das Interview, wogegen ich mich zuerst mit Hän den und Füßen sträubte, doch zu etwas nütze gewesen«,
schmunzelte der Maler. »Aber wenn dein Herr Stiefvater
und Vormund dich mit Pauken und Trompeten in die wei chen Pfründe zurückholt, was dann?«
»Kann er nicht, ich wurde vor einer Woche mündig.«
»Aha, daher die Courage. Na, sei dem wie es wolle, ich
empfinde eine Mordsfreude, dich hierhaben zu dürfen,
meine kleine Stranddistel – die du gottlob trotz der Ver pflanzung geblieben bist.« »Woran du ja, wie Anita mir erzählte, gezweifelt hast, mein lieber Onkel Konrad.« »Ja, denk dir bloß«, schaltete Anita sich lachend ein. »Als ich ihr deine Skepsis verriet, bemerkte sie trocken, du klu ger und weitgereister Mann hättest es eigentlich wissen müssen, daß aus einer Stranddistel nie eine Orchidee wer den kann. Aber nun sag mal, mein schneidiges Mädchen, was hättest du wohl gemacht, wenn dein guter Onkel Konny hier ohne jede Weiblichkeit gewesen wäre? Da hätten sich die Leut chen wohl ganz, gehörig ihre Mäuler zerrissen?« »Ich hätte sie geheiratet«, meinte der Maler pomadig, wäh rend die Fältchen um Augen und Mund nur so tanzten. »Genauso wie ihr Vater es tat, als er mit seinem Mündel nichts anzufangen wußte. Hättest du mich genommen, mein Sturmvögelchen?« »Sofort«, blitzte sie ihn übermütig an. »Ein ältlicher Mann in der Hand, ist immerhin besser als ein junger auf dem Dach.« »Siehste, da hast du's!« wollte Anita sich halb totlachen. »Geschieht dir recht, du eitler Herr der Schöpfung. Doch nun plauscht mal allein weiter, während ich für ein verspätetes Mittagsmahl sorge. Denn vor lauter Aufregung vergaß ich ganz, pünktlich zu sein. Aber Delikatessen gibt es bei uns nicht, meine fürnehme Dame.« Damit wirbelte sie ab, und der Gatte schmunzelte. »Na, was sagst du nun zu meinem besten Stück? Habe ich bei der Wahl nun Dusel gehabt oder nicht?« »Kann man wohl sagen«, entgegnete Senöwe warm. »So rasch vertraut wie mit dieser Frau bin ich noch nie mit ei nem Menschen gewesen. Das heißt, sie ließ ein Fremdsein erst gar nicht aufkommen. Duzte mich gleich und tat so, als hätten wir zusammen bereits einen Scheffel Salz ver zehrt.« »Ein Zeichen, daß sie dich spontan ins Herz schloß«, er
klärte der Mann. »So ist sie nun mal, meine Anita. Wen sie mag, dem schließt sie sich sofort an.« »Also auch dir«, warf Senöwe trocken ein, und er lachte verlegen. »So war es, und das wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Denn diese prächtige Frau sieht nicht nur gut aus, sie ist außer dem gebildet und hat auch noch Geld.« Es kam so kläglich heraus, daß Senöwe hell auflachte. »Na, Onkel Konny, wohin die Liebe nun einmal fällt. Trin ken wir ein Glas auf das Wohl deiner wirklich liebenswer ten Frau.« Als Senöwe am nächsten Morgen erwachte, tat sie es mit der Unlust eines Menschen, vor dem ein ganzer Tag liegt, mit dem er absolut nichts anzufangen weiß. Verdrießlich warf sie sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, doch irgendwie war es anders als sonst. Was war das überhaupt für ein Rauschen und Brausen, dazwischen gellte es hell wie der Schrei einer Möwe. Und da war die verschlafene Senöwe plötzlich hellwach. Die Augen öffneten sich weit, und was sie erfaßten, war ein urgemütliches Giebelstübchen, von Sonne durchflutet. Hei, wie flitzten da die Beine aus dem Bett! Wie eilig patschten die bloßen Füße an das geöffnete Fenster. Und dann schaute das Mädchen andächtig auf das herrli che Bild. Doch dann jubelte Senöwe auf. So hell und laut, daß der Hahn, der unten im Hof mit seinem Harem eitrig scharrte, empört krähte und die zehn Haremsdamen erschreckt dazwischengackerten. Der Hund, der so ziemlich alle Ras sen in sich vereinte, bellte aufgeregt, und eine Menschen stimme riet lachend nach oben: »Ja, Mädchen, wirst du etwa geschlachtet?« »Nein, ich habe nur mein Lebenslustventil geöffnet«, kam es gleichfalls lachend zurück. »Guten Morgen, Onkel Kon ny! Wie wunderherrlich es doch ist, dich zu sehen.« »Ein Dito, Marjellchen. Aber nun stürze dich in die kühle Flut und schwimme dir Appetit zum Frühstück an. Mein
braves Weib ist schon auf und davon, um Flundern zu ho len, frisch aus der Räuchertonne. Und wenn du da nicht tüchtig einhaust, ist sie dir bitterböse.« »Um alles – bloß das nicht!« Der Kopf am Giebelfenster zog sich zurück, und schon fünf Minuten später sah der Mann das reizendste Badenixlein zur See eilen mit federndem Gang. Das bernsteinhelle Ge lock umflirrte das feine Gesichtchen, ein lichtgrüner Bade anzug umschloß die jugendschöne, rassige Gestalt, in der herunterhängenden Rechten baumelte die Badekappe schneeweiß und weich wie Möwengefieder. Schmunzelnd griff der Maler nach dem Skizzenbuch. Denn es lohnte sich schon, so was Wunderholdes aufs Papier zu bannen. Natürlich heimlich, still und leise, versteht sich. Senöwe tat ihm sogar den Gefallen, nicht gleich ins Wasser zu gehen, sondern kurz davor noch zu verweilen. Die leuchtenden Augen ins Weite gerichtet, stand sie da in ver sunkenem Schauen. Hövemann wußte wohl, welch ein Anblick das Mädchen fesselte. Nämlich das Schloß, das sich über den Dünen erhob und so trutzig seinen Platz behauptete, als wäre es für die Ewigkeit erbaut. Das fand auch Senöwe, die sich von dem kühnen, stolzen Bild kaum losreißen konnte. Wem mochte dieses prächtige Schloß am Meer wohl gehören? Etwa dem seltsamen Mann, in dessen Revier sie sich gestern verirrte? Der Rich tung nach konnte es schon stimmen. »Nun mach schon, du Traumclinchen!« riß eine helle Stimme Senöwe aus ihrer Versunkenheit. »Laß dich von dem großartigen Anblick da oben auf der Höh' nicht blen den. Es wird auch da nur mit Wasser gekocht, genauso wie bei uns. Und unser Kaffeewasser sprudelt sich bereits tot.« Da stülpte Senöwe die Badekappe auf das Gelock und wart sich mit einem Jubellaut ins Wasser. Schwamm wie ein kleiner Otter und erschien eine halbe Stunde später wie blankgeputzt auf der Terrasse, wo der Kaffeetisch gedeckt war. Aus der Kanne duftete es aromatisch, auf einem Teller
lagen dick und fett goldbraun geräucherte Flundern. Ferner gab es noch tropfenfrische Butter, herrliches Landbrot, Marmelade und Honig. »O wie schön«, freute Senöwe sich. »Das alles schmeckt schon, wenn man es nur ansieht. Ich habe einen Mords hunger.« »Dein Glück«, nickte Anita zufrieden. »Bei uns wird näm lich nicht genascht, sondern gegessen. Oder hast du Angst, daß deine schlanke Linie dabei futsch geht?« »Sollte mir einfallen«, schnitt Senöwe eine Grimasse. »Die se Angst überlaß ich Mama, die sich förmlich kasteit, um nur ja nicht einen Zentimeter an Umfang zuzunehmen. Und Charlott fängt jetzt auch schon damit an.« »Wer ist das?« »Meine ältere Stiefschwester.« »Wie alt?« »Siebzehn.« »Na, so ein dummes Ding. Du meine Güte, als ich siebzehn Lenze zählte, da war es mir völlig wurscht wie ich aussah – und ist es eigentlich auch heute noch. Hauptsache, daß ich meinem Konny gefalle. Und das tue ich doch, Alter, was?« Sie war allerliebst, als sie ihn mit ihren dunklen Augen so verschmitzt anblitzte, so ein richtiger charmanter kleiner Kobold, dem man sein Alter wahrlich nicht ansah. »So schön wie du bin ich natürlich nicht«, räumte sie ein, dabei unbekümmert die Flunder zerlegend. »Auch nicht so schick. Mit der Verpackung könntest du glatt in den Seebä dern Furore machen.« »Und dabei ist das Fähnchen eines meiner anspruchslose sten Kleider«, tat Senöwe gleichmütig ab. »Die mondänen brachte ich erst gar nicht mit. Die hängen zu Hause im Schrank und können meinetwegen die Motten kriegen. Das heißt, so ganz ohne Eitelkeit bin auch ich nicht, ich zieh mich gern gut an. Es darf nur nicht zur Putzsucht aus arten, wie es in der Villa Neubeck der Fall ist. Da wird jedes neue Kleid zur Sensation. Und kommt man erst auf die Mode zu sprechen, berauscht man sich daran stunden
lang.« »Haben die Menschen Sorgen«, meinte Anita trocken. »Ich verstehe immer mehr, daß du es unter ihnen nicht aushiel test. Gräßlich denke ich es mir, ein Sklave der Mode zu sein. Deshalb braucht man gewiß nicht in Sack und Asche zu gehen, muß nur immer die vornehme Note bewahren. Wie es zum Beispiel die beiden Gräfinnen da oben tun. Die kleiden sich bestimmt nicht nach dem letzten Schrei und wirken dennoch elegant. Warum fährst du denn so auf?« »Weil mir jetzt wieder einfällt, was ich gestern erlebte. Das muß ich doch mal rasch erzählen.« Sie tat's und führte dann weiter aus: »Wie verzaubert kam mir alles vor – auch der Mann. Ich muß schon sagen, daß ich einem so seltsamen noch nie begegnete.« »Kann ich mir denken«, lachte Anita. »Er ist ja auch wahr lich kein Dutzendmensch, der Graf von und zu Bernbrugg auf Möwen.« »So kennst du ihn?« »Will ich meinen. Ich habe den wilden Jungen sogar be treut und später, als gute Beichtmutter, die kleinen Aben teuer des Jünglings zur Kenntnis nehmen müssen; denn ich war ja von jeher sieben Jahre älter als er.« »Halt ein, du Strolch«, lachte der Gatte amüsiert dazwi schen. »Drück dich nicht so mystisch aus. Hab Erbarmen mit dem Mädchen, das ein Gesicht macht, als ob die Katz es donnern hört.« »So will ich denn gnädig sein. Also höre und staune: Der Knabe Rasmus wurde von meinem Vater, der nebenbei noch Dr. phil. war, in die Geheimnisse des ABC einge weiht. Und da das so gut ging, ließ der Graf seinen einzigen Sprößling bei dem bewährten Magister bis zur Obersekun da. Da erst kam der Schüler aufs Gymnasium, wo er dank der guten Vorbereitung das Abitur als Primus schaffte. Hinterher ging er zur Landwirtschaftlichen Hochschule, wo er auch glänzend abschloß, und dann kam der Bummel durch die Welt, wie das ja bei Söhnen vornehmer und rei
cher Eltern so üblich ist. Kehrte er jedoch zwischendurch nach Hause zurück, stürmte er, kaum daß er die Eltern be grüßt hatte, hier herein wie das lachende, sprühende Leben persönlich. Ein Bild von einem jungen Kerl, auf den ich so richtig schwesterlich stolz war; denn schließlich waren wir ja wie Geschwister aufgewachsen. Ja – und was ich nun weiter erzählen werde, kenne ich nur vom Hörensagen, weil ich mich mit meinem Vater gerade auf Reisen befand, als das Widerwärtige geschah. Als der junge Graf nämlich Mitte Zwanzig war, legte ihm sein Vater nahe, sich unter den Töchtern des Landes umzu sehen. Schwer für ihn; denn wer die Wahl hat, der hat auch bekanntlich die Qual. Und Auswahl hatte dieser Mann wahrlich, der nicht nur über eine blendende Erscheinung, sondern auch über Geld verfügte und Gut. Daher brauchte er um Geld nicht zu freien, Hauptsache, seine Auserwählte besaß das, was er als Majoratserbe tradi tionsgemäß verlangen mußte: Tadellose Familie und ma kellose Vergangenheit, mit der diese Komteß, die er sich nach langem Prüfen und Wägen erwählte, wohl auch auf warten konnte. Allein, daß dem nicht so war, wenigstens nicht, was die Tugendhaftigkeit betraf, sollte der Verlobte bald erfahren. Da fackelte er nicht lange und gab der Braut den Laufpaß. Daraufhin machte sie ihm eine so widerliche Szene, daß es nur so durch das Schloß hallte. Anschließend folgte ein gräßlicher Schrei und als die Menschen ihm nacheilten, lag die Komteß am Absatz der Treppe – tot – sie hatte sich bei dem Sturz das Rückgrat gebrochen.« »Um Gottes willen, da hat man doch nicht womöglich den Grafen…?« rief Senöwe entsetzt dazwischen, und Anita nickte grimmig. »Jawohl, man hat, nämlich, daß der Bräutigam seine Braut in sinnloser Wut die Treppe hinunterwarf. Es kam zu pein lichen polizeilichen Untersuchungen, wobei sich dann einwandfrei herausstellte, daß der Mann an dem tragischen Ende des Mädchens schuldlos war. Er war nämlich gar
nicht an der Treppe, als das Unglück geschah, sondern blieb im Zimmer, als die Braut wie eine Rasende davon stürmte. Schuld allein trug nur der Schuhabsatz, der ab brach, als sie blindwütig die Treppe hinabrannte, durch den fehlenden Absatz den Halt verlor und kopfüber in die Tiefe stürzte. So war es. Doch bis ein tüchtiger Polizeimann das heraus fand, vergingen immerhin Tage, in denen die Familie Bernbrugg die Menschen in ihrer ganzen Erbärmlichkeit kennenlernen sollte. Die Mutter der Verunglückten schrie dem jungen Grafen sogar das Wort >Mörder< entgegen, was sie jedoch nicht genierte, ihm nach seiner Rehabilitie rung süßlächelnd die zweite Tochter anzubieten. Aber da räumte Rasmus auf, wobei sein Vater grimmig mit tat. Mit stählernem Besen schied man den Weizen von der Spreu, und siehe da, es blieb kaum eine Handvoll übrig. Darunter befand sich von den Gutsbesitzern nur der Kört litz auf Sanden, von den Gutsbeamten der langjährige Ver walter, der Oberförster, einige Förster, einige Inspektoren, die altbewährten Instfamilien, von der Dienerschaft der treue Kilian, die Kammerfrau, die Beschließerin und die Mamsell, alles andere mußte dem stählernen Besen wei chen. Und damit das elende Gesindel ihnen drei Schritt vom Leibe bleibt, sperrte man die Zugänge zum Schloß durch Zäune ab. Seitdem haben nur Befugte Zutritt.« »Grausig«, schüttelte sich Senöwe. »Und nun lebt der junge Graf wohl verbittert und menschenscheu dahin?« »Er denkt gar nicht daran. Dazu ist der Rasmus bestimmt nicht wehleidig genug. Er hat durchaus nichts gegen die Menschen – allerdings nur per Distanz.« »Ist der Graf das einzige Kind seiner Eltern?« »Ja – und der Majoratserbe dazu. Also, wenn das Ge schlecht nicht aussterben soll, wird er sich nolens volens zur Heirat entschließen müssen.« »Du erwähntest doch einen Körtlitz auf Sanden, was ist das für ein Mensch?« »Ein Rauhbein, aber eine goldene Seele. Schade, daß er
keine Tochter hat, die würde der Rasmus gewissermaßen unbesehen an seine Seite stellen. Aber leider sind da nur zwei Söhne. Einer davon ist bereits verheiratet, der andere, ein Nachkömmling, drückt noch die Schulbank.« »Und wie stehst du mit dem Grafen?« »Gar nicht. Er hat nämlich Vater und mich, als wir ah nungslos von der Reise zurückkehrten, mit seinem Mißt rauen beehrt, was mein gutes Papachen bitter kränkte. Wir zogen uns in unser Schneckengehäuse zurück, an das wir keinen aus dem Schloß heranließen. Und nun Schluß mit den ollen Kamellen!« »Jawohl«, bestätigte der Gatte schmunzelnd. »Was scheren die uns da oben auf der Höh'? Mögen sie zusehen, wie sie mit dem Leben fertig werden, wir müssen es ja auch.« Senöwe von Helgen kehrte von einem Einkauf im Krugla den zurück. Entzückend war sie anzuschauen in dem lu stigbunten Sommerkleidchen, so eine richtige Augenweide für Schönheitskenner. Also auch für die beiden Herren, die ihr im Gig entgegen fuhren. Einer davon war Graf Bernbrugg, wie Senöwe jetzt ja wußte, der andere konnte nach Anitas Beschreibung Herr Körtlitz sein. Da der Weg schmal war, trat das Mädchen zur Seite, um das Gig, dessen hohe Räder sich langsam durch den Sand mahlten, vorbeizulassen, und war keineswegs angenehm berührt, als der ältere der Herren vorwärts zeigte und la chend sagte: »Reizendes Gretel, sind Sie aber spendabel! Ihre Schwester im Märchen streute nur Brotkrumen aus, um den Weg zu zeichnen, Sie jedoch tun es mit ganzen Brötchen.« Senöwe machte ein so verdutztes Gesicht, daß auch der Graf in amüsiertes Lachen ausbrach. Dann flog ihr Blick den Weg entlang, auf dem in kleinen Abständen vier Bröt chen lagen. Der zweite Blick streifte das Einkaufsnetz, in dem die weiteren knusprigen Dinger bereit waren, es den anderen gleichzutun.
»Ein Loch«, stellte sie lakonisch fest, und dann sprang sie mit federnden Schritten davon, um die Ausreißer einzuho len. Bei dreien ging das mühelos, doch beim letzten mußte sie ablassen, weil Fido, das Musterexemplar von minde stens vier Hunderassen, sich des Brötchens bemächtigt hat te und es mit Genuß verspeiste. Da lachte Senöwe von Helgen. Lachte so herzerfrischend frei und froh, wie es nur Menschen können, die noch un berührt sind von den Kümmernissen des Lebens. Und das war sie ja auch, seitdem sie im Strandhaus weilte. »Na warte, du Strolch!« drohte sie dem Hund, der sich bei seiner ergaunerten Mahlzeit nicht stören ließ. Der Klaps, den er bekam, war mehr liebevoll als strafend. Und dann nahm Senöwe mal erst das Netz in Augenschein, das ein respektables Loch aufwies. Da sie zu den Menschen gehörte, die sich zu helfen wissen, wurde kurzentschlossen das Seidenband, das um den Kopf gebunden war, abge streift und damit das Loch im Netz vernestelt. Die Locken pracht, nun jeden Haltes beraubt, umflirrte in bezaubern der Zwanglosigkeit das vor Eifer gerötete Gesichtchen. Die Zungenspitze flitzte über die Lippen, weil die Nestelei wahrscheinlich so leichter ging. Dann wurde das Netz, das bis obenhin gefüllt war, kräftig geruckt – und siehe da, es hielt. »Na also«, schmunzelte der Mann im Wagen, der nebst seinem jungen Begleiter dem allen interessiert zuge schaut hatte. »Der Mensch muß sich zu helfen wissen.« »Jawohl – dann kann man auch noch so dämlich sein«, perlte ein übermütiges Lachen auf. Mit federnden Sprüngen setzte die rassige Gestalt davon, von Fido, der indes seinen Raub verzehrt hatte, lustig kläffend umsprungen. Die bei den Herren sahen dem Mädchen solange nach, bis es ihren Augen entschwand, dann sagte der ältere anerkennend: »Trautes Marjellchen voller Charme und Schneid, wie man es bestimmt nicht alle Tage zu sehen bekommt. Es scheint Feriengast im Strandhaus zu sein.« »Es scheint nicht nur, sondern es ist Tatsache«, entgegnete Rasmus . Bernbrugg, während er dem unruhigen Pferd frei
en Lauf ließ. »Ich begegnete der jungen Dame bereits vor einigen Tagen, wo sie sich in unser Revier verirrt hatte. Und dem gewiß nicht billigen Wagen nach zu schließen, gehört sie bestimmt nicht zu den armen Mädchen.« »Was du nicht sagst«, horchte Körtlitz interessiert auf. »Wo fand die Begegnung statt?« »Vor dem Parktor.« »O weh, dann hast du gewiß die Ärmste von deinem abge zäunten Grund und Boden gejagt.« »Wenn auch nicht ganz so kraß, aber liebenswürdig auch nicht gerade. Nachdem mir die reizende Maid, die mich wie den bösen Wolf im Märchen anstarrte, erklärt hatte, daß sie zum Maler Hövemann wolle, gab ich ihr den guten Rat, ins Dorf zu fahren und sich dort den Weg erklären zu lassen.« »Hm – «, brummelte der Ältere. »Kann mir denken, wie du mit deiner düsteren Physiognomie gewirkt haben mußt. Dazu noch in dem Zauberwald, der ohnehin schon un heimlich genug ist. Ich glaube, da würden selbst beherzte Männer Reißaus nehmen, geschweige denn so ein zartes Mägdelein.« »Ist dir nun wohl Onkelchen?« fragte der Graf lachend. »Jetzt hast du es mir wieder einmal ordentlich gegeben.« »Wenn das bei dir Bengel bloß Zweck hätte, aber du bist und bleibst ein hoffnungsloser Fall. Nun halte an der Weg gabelung.« »Willst du meinen Lieben nicht wenigstens kurz guten Tag sagen, Onkel Julius? Du warst schon so lange nicht mehr bei uns.« »Das geht nicht, mein Jungchen, dazu fehlt mir die Zeit. Du weißt ja, was so ein Umbau für Scherereien macht. Und daß er notwendig wurde, das mußt du doch selbst sagen.« »Allerdings«, gab Rasmus zu. »Es war wirklich schon recht baufällig, das uralte Herrenhaus von Sanden. Ich hatte immer Angst, daß es eines Tages zusammenstürzen könnte. Aber ich weiß ja. Onkel Julius, wie sehr man am Althergeb rachten hängt und kann mir daher denken, wie schwer dir
der Entschluß zum Umbau gefallen sein muß.« »Ist er, Jungchen, ist er. Und meine gute Alte erst, die jam merte, als wollte man ihr das liebste Kind rauben. Selbst die Filiusse zogen einen Flunsch, und mein Schwiegertöch terlein erklärte, wenn sie das gewußt, hätte sie den Hellmut gar nicht geheiratet. Denn gerade das urgemütliche alte Haus wäre es gewesen, das sie diesen leichtsinnigen Schritt tun ließ.« »Ganz Ilse«, lachte Rasmus. »Und wo haust ihr jetzt?« »In einem Insthaus. Bißchen beengt, aber es geht. Es ist ja auch nur ein vorübergehender Zustand. Und nun sag: Brrrr!« Das brauchte der Lenker des Gefährts erst gar nicht, weil das Pferd bei dem vertrauten Laut wie angegossen stand. Der Hüne kletterte vom Wagen und sagte herzlich: »Schönen Gruß denen zu Hause, mein Junge. Sag ihnen, es ist keine böse Absicht, daß wir uns vorläufig nicht blicken lassen.« »Schon gut, Onkel Julius. Grüß auch die lieben Deinen.« Dann fuhr das Gig schon davon, und zwar in entgegenge setzter Richtung. Der Weg führte allmählich bergauf, was dem Rassepferd jedoch nichts ausmachte, zumal die Last leicht war, die es nachziehen mußte. Dann lichtete sich plötzlich der Wald und gab den Blick frei. Und da lag nun das Rittergut Möwen wie in einer Enk lave. Große, lange Gebäude umstanden den riesigen Hof, und von ihm durch üppige Anlagen getrennt, erhob sich das alte trutzige Ritterschloß, vor dessen Portal jetzt das Gig hielt, das ein herbeieilender Mann in Empfang nahm. Und während das Gefährt dem Hof zurollte, stieg Rasmus Bern brugg gemächlich die Freitreppe empor, durchschritt die riesige Halle und betrat dann ein hohes, weites Gemach, in dem alle die geruhsam saßen, die des Mannes Herz um schloß. Zu denen gehörte seine Großmutter, die Eltern und ein neunjähriges Mädchen, das dem Eintretenden gespannt entgegensah.
»Da bist du ja, Onkel Rasmus, hast du das Buch?« »Jawohl, mein Fräulein Ungeduld, ich hab's«, war die la chende Antwort. »Nun begib dich zu deinen holden Schwestern.« »Wie meinst du das?« sahen die permuttgrauen Augen ihn fragend an. »Weil du doch selbst so ein Märchenprinzeßlein bist, wie sie in den Büchern geschildert werden.« »Oh, Onkel Rasmus, bin ich denn wirklich so schön?« »Also auch in dir steckt die eitle Eva«, bemerkte er trocken, während die anderen herzlich lachten. »Nun nimm schon deinen Schatz.« »Ich danke sehr«, umschlossen die zarten Kinderhände das ersehnte Buch. »Bringst du mich in mein Zimmer, ja? Ich möchte sofort lesen und dabei nicht gestört werden.« »Na eben«, tat der Mann ernsthaft, während er das zierliche Persönchen auf die Arme hob. Und an der Art, wie er es tat, konnte man ersehen, wie lieb ihm die Kleine war. Ebenso wie der ganzen Familie, die dieses Verwandtenkind zu sich holte, als die lieblose Stiefmutter – der Vater war kurz vorher gestorben – ihre Stieftochter in ein Krüppelheim steckte, der nach einer schweren Knieverletzung das Bein steif blieb, was jedoch bei fachmännischer Behand lung behoben werden könnte. Jedenfalls beteuerten das die Ärzte, die man zu Rate zog, immer wieder. Allerdings wäre die Sache langwierig und daher Geduld vonnöten. Nun lebte die kleine Gabriele bereits ein Jahr bei den Bern bruggs, geliebt und verhätschelt von der ganzen Familie. Man hatte für sie eine Lehrerin ins Haus genommen, die das Mädchen mit zwei anderen gleichaltrigen zusammen unterrichtete, damit es nicht nur mit Erwachsenen Umgang hatte. Man tat also alles, um diesem lieben, engelschönen Geschöpfchen das Leben froh zu machen. Natürlich war die Kleine geistig anderen Kindern ihres Al ters weit voraus. Gottlob aber nicht soweit, daß sie ihr Lei den im vollen Umfang erfassen konnte. Sie hielt es für eine Selbstverständlichkeit. Nur von einem Rollstuhl wollte sie
nichts wissen. Da ging sie lieber an Krücken, wenn sie dazu Lust hatte. Sonst fand sich immer jemand, der das leichte Persönchen trug. Wie es jetzt auch Rasmus tat. Ihm folgte die Lehrerin, die man mit häßlich bezeichnen konnte. Doch da die Natur dieses Menschenkind nicht ganz stiefmütterlich behandeln wollte, gab sie ihm ein goldenes Herz, einen frohen Mut und eine warme Altstimme mit auf den Weg. Man hatte also richtig gewählt, als man das alternde Fräu lein trotz seiner Häßlichkeit engagierte. Jetzt hatte man sich schon so daran gewöhnt, daß man es nicht mehr bemerkte. Daß sie noch über den Durchschnitt musikalisch war, trug viel dazu bei, ihre Stellung immer mehr zu festigen. Denn die Bernbruggs hörten Musik sehr gern, waren jedoch darin so wenig begabt, daß sie selbst nicht musizieren konnten. Wenig später erschien Rasmus dann wieder, anzuschauen wie ein junger Gott in seiner sieghaften Männlichkeit. Wohlgefällig ruhte der Blick der Seniorin der Familie auf dem einzigen Enkel, auf den sie fast noch stolzer war als die Eltern. Und nicht nur auf sein blendendes Aussehen, sondern mehr noch auf seinen vornehmen Charakter. Und daher war man den Menschen bitter gram, daß sie einem durch und durch anständigen Menschen einen so gemeinen Mord zutrauen konnten. So richtig schofel hatte man sich benommen. Hauptsächlich ein Vetter, der auf Rasmus von jeher neidisch war, sorgte für Einflüsterungen, die an Gehässigkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Obwohl die Bernbruggs diesen minderwertigen Menschen zutiefst verachteten, waren sie dennoch gezwungen, sich mit ihm zu befassen. Denn eine Tante der beiden Vettern hatte ein Testament hinterlassen, in dem es hieß: Ich ver mache meinem Großneffen, dem Grafen Rasmus von und zu Bernbrugg auf Möwen meine gesamte Hinterlassen schaft, wenn er in einem Jahr verheiratet ist. Sollte es nicht der Fall sein, so tritt mein Großneffe Kainz Grat von Bern brugg auf Warnen die Erbschaft an. »Möchte gern wissen, was die alte verdrehte Schraube sich
so eigentlich gedacht hat!« brauste der Vater, Graf Magnus, auf, nachdem der Notar, der das Testament verlesen hatte, gegangen war. »Es ist schon eine Beleidigung, unseren Jun gen mit dem minderwertigen Subjekt gewissermaßen in einem Atemzug zu nennen – und dann gar dieses noch! Mag der üble Bursche mit dem Geld selig werden, wir brauchen es gottlob nicht.« »Na nun mal langsam«, beschwichtigte die Seniorin be dächtig. »Thusnelda war noch lange keine verdrehte Schraube, sondern eine kluge und gütige Frau, die zu den wenigen Menschen gehörte, die nach dem Widerwärtigen treu zu uns hielt. Solltest du das vergessen haben, mein Sohn?« »Natürlich nicht«, brummte er beschämt. »Aber dann ver stehe ich nicht, wie sie Kainz bei dem Testament mit in Betracht ziehen konnte, wo sie doch von seiner Schofligkeit zutiefst empört war.« »Aber ich verstehe das Testament«, lächelte die alte Dame. »Thusnelda teilte nämlich unsere Sorge, daß Rasmus nach der bösen Erfahrung so ehescheu geworden ist, daß er zu einer Heirat nicht zu bewegen sein wird. Nun will sie ihn mit diesem Testament zu einer Ehe zwingen. Denn es geht ja nicht allein um das vermachte Geld, sondern in erster Linie um Möwen – und Kainz ist nach Rasmus für das Ma jorat der nächste Agnat. Und ich glaube nicht, daß Rasmus so gewissenlos sein wird, das Vätererbe in so schmutzige Hände fallen zu lassen. Habe ich recht, mein Junge?« Wortlos stand er auf, ging hinaus und ließ drei tief be kümmerte Menschen zurück. Senöwe von Helgen führte jetzt ein Leben, in dem sie sich wunschlos glücklich fühlte. Über Langeweile konnte sie sich nicht beklagen. Im Gegenteil, ihretwegen hätte der Tag noch länger sein können, so ausgefüllt war immer die Zeit. Sie half Anita, deren Hilfe sie im Stich ließ, den Haushalt besorgen, machte die Besorgungen im Krugladen und – wenn notwendig – auch in der Stadt, die ungefähr zehn Kilometer entfernt lag. Dann freute sie sich jedesmal über
ihren schmucken Wagen, der jetzt entschieden wertvollere Dienste leistete als bei Spazierfahrten. Neuerdings hatte Senöwe noch eine Beschäftigung, an die sie mit Lust und Liebe heranging. Sie versuchte sich in Übersetzungen, bei denen Anita schon recht gute Erfolge gehabt hatte. »Ob ich mich da auch heranwagen könnte?« fragte sie zö gernd, und Anita lachte. »Versuch's doch mal, den Kopf kann es ja nicht kosten. Denn du weißt, ein Mensch ohne Kopf ist ein Krüppel.« Seitdem arbeitete Senöwe mit Anita um die Wette. Haupt sächlich an Regentagen, an sonnigen tummelte man sich lieber im Freien herum. Wie es auch der Maler tat, der sich in der Mansarde ein vorbildliches Atelier geschaffen hatte. Darin wirkte er nun, sofern er tust und Liebe hatte und dann auch mehr aus Liebhaberei. Um Geld zu verdienen brauchte er es nämlich nicht mehr. Denn was er und seine Frau gemeinsam besa ßen und was sie immer noch zuverdienten, war mehr, als sie selbst bei einem üppigen Leben verbrauchen konnten. An einem Nachmittag Mitte Mai saßen die beiden Weib lichkeiten emsig bei der Arbeit. Senöwe schrieb in ein Heft, während Anita auf der Schreibmaschine munter klapperte. Es war ein kleines, aber gemütliches Zimmer, das sie sich als Arbeitsplatz erwählt hatten. Schreibtisch, Schreib schrank und Regale an den Wänden, gaben dem Raum einen ernsten Charakter. Durch das geöffnete Fenster lachte die Sonne, der herbe Duft von Wasser und Tang wehte hinein. Möwen schrien durchdringend, als wollten sie die Fleißi gen hinauslocken in Sonne, Meer und Wind. Allein, sie ließen sich dadurch nicht stören; denn die Arbeit drängte. Wenigstens Anitas, die sie in den nächsten Tagen abliefern mußte. Und um sie nicht allein in der Fron zu lassen, tat Senöwe mit. War dann bald so vertieft, daß sie ihre Umgebung vergaß. Bis Anita zu knurren anfing, da hob sie den Kopf.
»Ja, was hast du denn? Du knurrst ja wie ein böser Ketten hund.« »Und soll ich das vielleicht nicht?« kam es ärgerlich zurück. »Ausgerechnet jetzt muß das Farbband durchschlagen, wo kein Ersatz im Hause ist. Ist es unbescheiden, mein Mäd chen, wenn ich dich bitte, in deiner Karre Farbbänder aus der Stadt zu holen?« »Aber gar nicht«, sprang Senöwe bereitwillig auf. »In einer Stunde bin ich wieder zurück.« Fort war sie, stürmte nach oben, zog sich rasch um und stand dann abwartend vor Anita, die sie kopfschüttelnd betrachtete. »Mädchen, Mädchen, du wirst ja immerzu hübscher. Wenn das so weiter geht, weiß ich nicht, was daraus werden soll.« »Halt hier keine langen Reden, sag mir lieber, was ich ho len soll.« Anita schob ihr einen Zettel hin und meinte kleinlaut: »Ich hab hier alles aufgeschrieben. Es ist allerdings mehr geworden als ein Farbband.« »Das sehe ich«, bemerkte Senöwe lachend. »Da werde ich wohl die große Tasche mitnehmen müssen, damit der Großeinkauf gut verstaut werden kann. Also gehab dich wohl, so schnell es geht bin ich zurück.« »Warte, ich muß dir ja noch Geld geben.« »Laß nur, ich leg es aus.« »Daraus wird nichts mehr, mein Herzchen. Einige Male habe ich dir vertraut, doch jetzt gehöre ich zu den gebrann ten Kindern, die das Feuer scheuen. Hier hast du fünfzig Mark, zieh hin in Frieden.« »Anita, kannst du denn nicht verstehen…?« »Ich verstehe gar nichts. Nicht einmal, wie du dich gegen eine Selbstverständlichkeit sträuben kannst. Konny hat es ja auch nicht getan, wenn er wochen-, sogar monatelang sich bei euch einquartierte. Und nun kein Wort mehr von dem Unsinn, sonst werde ich ernstlich böse. Komm, gib mir einen Kuß – so – und nun ab mit dir.« Also hatte Senöwe auch diesmal wieder den kürzeren gezo
gen. Aber sie konnte da nicht so schart vorgehen, damit sie die guten Menschen nicht kränkte. Es war ihr eine Genug tuung, daß sie in guten Verhältnissen lebten und daher kein Opfer brachten, wenn sie den Gast mit durchfütterten. Vielleicht fand sich mal etwas, womit sie einen Ausgleich schaffen konnte. Das heißt, viel Geld besaß sie ja nicht. Aber immerhin so viel, um einige Jahre damit auskommen zu können. Denn die Mutter hatte ihr immer wieder etwas zugesteckt, woge gen sie sich erst gesträubt, es dann jedoch genommen hat te. Warum auch nicht? Es traf ja keinen Armen. In dieser Beziehung hatte die Mama gut für sie gesorgt, auch was Kleidung anbetraf, aber sonst…? Na egal. Sie mußte sich jetzt ans Steuer setzen und durfte dabei kei ne Probleme wälzen. Wie lieb und brav ihr Hottehühchen den sandigen Weg durchmahlte. Aber da Senöwe ihn nicht zum erstenmal fuhr, wußte sie, daß die Straße, in die sie bald einbiegen mußte, wenn auch nicht tadellos, so doch annehmbar war. Sie wurde wohl auch nur von den Anliegern benutzt, um auf die Chaussee zu gelangen, die zur Stadt führte. Doch kurz vor der Chaussee blieb der Wagen einfach ste hen und war nicht zu bewegen, wieder anzuspringen. So stieg Senöwe aus, hob die Haube hoch, bohrte ihre Au gen förmlich in das Getriebe, doch nichts konnte sie erspä hen, was irgendwie schadhaft gewesen wäre. Benzin war genügend vorhanden, die Zündkerzen waren in Ordnung, na denn – prost Mahlzeit! Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als zu der großen Tankstelle zu tippeln, die jenseits der Chaussee lag. Weit war es gerade nicht, aber zu Fuß immerhin eine halbe Stunde. Ausgerechnet auf dieser einsamen Straße passierte das Mal heur. Also mußte schon ein Wunder geschehen… Und siehe da, das Wunder geschah. Senöwe traute ihren Augen kaum, als so ein chromblitzendes Ungeheuer nahte.
Und wer entstieg ihm? Kein Geringerer als Graf Bernbrugg. Zufall oder gar Vorsehung? Das zu ergründen stand nicht in schwachen Menschenkräften, das konnte nur das Schick sal. »Nun, gnädiges Fräulein, woran krankt er denn?« trat der Mann näher, von dem so ein unbeschreibliches Fluidum ausging. »Aber jetzt, bei unserer dritten Begegnung, wird es wohl notwendig, Nam' und Art zu nennen.« »Nicht erforderlich«, winkte sie hastig ab. »Ich weiß, daß Sie Graf Bernbrugg sind – und ich heiße Senöwe Helgen.« »Ist mir bereits bekannt, gnädiges Fräulein. Auch daß Sie die Tochter des verstorbenen Bildhauers von Helgen sind, der immerhin einen Namen hatte – und auch noch hat. Und nun erst mal…« Während es ihm verdächtig um Augen und Mund zuckte, griff er in die Tasche, zog einen kleinen Spiegel hervor und hielt ihn Senöwe hin. »Ach du liebe Güte«, lachte sie hellauf, dabei ihr Gesicht musternd, das reichlich viele schwarze Flecken aufwies. »Wenn ich so unter Menschen gekommen wäre, hätte man mich wohl gehörig ausgelacht.« »Oder zum mindesten angelacht«, entgegnete er schmun zelnd, sich dann dem Motor zuwendend, während Senöwe sich verstohlen die Flecke aus dem Gesicht entfernte – und zwar mit Taschentuch und Spucke, denn etwas anderes stand ihr nicht zur Verfügung. »Am Motor ist nichts«, erklärte er dann bestimmt. »Muß es also an der Zündung liegen. Ist vielleicht die Batterie leer?« »Ausgeschlossen, die ließ ich erst kürzlich auffüllen. Ich stehe da wirklich vor einem Rätsel.« »Das ein Fachmann bald lösen wird. Doch dazu müssen wir den Wagen abschleppen. Und zwar bis zur nächsten Reparaturwerkstatt, die ja nur einen Katzensprung von hier entfernt liegt. Trauen Sie es sich zu, gnädiges Fräulein, Ih ren Wagen zu steuern?« »Ohne weiteres. Es ist mir nur peinlich, Sie zu bemühen, Herr Graf.«
»Phrasen? Die stehen einer Stranddistel aber schlecht an.«
»Ja – woher wissen Sie denn, daß man mich so nennt«,
fragte sie perplex und er lachte.
»Man muß nur Augen und Ohren offenhalten, dann hört
und sieht man manches.«
Damit trat er an seinen Wagen, holte ein Seil hervor und
verband damit die Autos fachgerecht. Senöwe nahm in
ihrem Platz, er in dem seinen, und schon zehn Minuten
später hielt man vor der Werkstatt, wo der Meister persön lich eilfertig nahte. Denn Graf Bernbrugg war nun mal eine
Persönlichkeit, die rasch zu bedienen einfach Ehrensache
war – schon allein wegen der kulanten Art und für die ihn
Bedienenden wegen der noblen Trinkgelder.
»Wo fehlt's, denn, Herr Graf?« fragte der Mann.
»Das festzustellen kommt Ihnen zu, mein lieber Meister.
Wenn ich Sie bitten darf, so sehen Sie zu, den Wagen mög lichst schnell flottzubekommen.«
»Natürlich, Herr Graf, natürlich. Jungens, kommt mal her!«
Worauf denn zwei Lehrlinge, die um die Ecke lugten,
schleunigst herbeieilten. Senöwes Wagen wurde losgekop pelt, in die Werkhalle geschoben – und dann standen sich
die beiden jungen Menschen allein gegenüber.
»Ich danke Ihnen, Herr Graf.«
»Wofür denn, gnädiges Fräulein? Etwa für eine Selbstver ständlichkeit? Darf ich fragen, wohin Sie wollen?«
»Zur Stadt, um notwendige Einkäufe zu machen.«
»Dann nehmen Sie bitte in meinem Wagen Platz.«
Während sie es gezwungenermaßen tat, sprach der Graf
noch mit dem Meister, der beteuerte, sich sofort des Wa gens anzunehmen. Dann setzte Rasmus sich zu Senöwe,
die sich so betont in die Ecke drückte, daß er verwundert
fragte:
»Haben Sie Angst, daß ich beiße?«
»Nein, aber das alles paßt mir nicht«, versetzte sie kurz.
»Man muß so manches tun, was einem nicht paßt«, kam es
gelassen über die hartgeschnittenen Männerlippen.
»Nun, Sie haben das doch wirklich nicht nötig«, entfuhr es
ihr spontan, und er lachte kurz auf. Da ärgerte Senöwe sich und zwar über sich selbst. Was fiel ihr überhaupt ein, sich wie ein dummes Gör zu benehmen. Das hatte der Mann für seine Gefälligkeit doch wahrlich nicht verdient. Aber seine herrische Art reizte sie nun mal, sie forderte di rekt ihren Widerspruch heraus. Nein, mit dem da war nicht gut Kirschen essen, mit dem hätte sie nichts zu tun haben mögen. Sie wollte froh sein, wenn sie aus seiner Nähe kam. Schweigend verharrte sie, wie auch er es tat. Erst als sie in die Stadt einfuhren, wandte er den Kopf seiner Begleiterin zu. »Wo soll ich Sie absetzen, gnädiges Fräulein?« »An dem nächsten Schreibwarengeschäft, Herr Graf.« In wenigen Minuten war es erreicht. Der Wagen hielt, Se nöwe stieg aus und sagte erschrocken: »Nun habe ich doch tatsächlich die Tasche im Wagen lie gen lassen, und darin steckt auch das Portemonnaie. Was mach ich da bloß!« »Mich anpumpen«, riet er so trocken, daß sie wider ihren Willen lachen mußte. »Und wenn das mit dem vergessenen Portemonnaie nur die übliche Finte eines Pumpgenies ist?« »Dann muß ich meine schlechte Menschenkenntnis eben bezahlen«, kam es zurück, während er bereits die Briefta sche zückte. »Außerdem ist mir bekannt, daß Sie Gast mei ner Kindheitsfreundin Anita sind – und die duldet schon nichts Zweifelhaftes um sich. Wird es reichen?« hielt er ihr einen Fünfzigmarkschein hin, nach dem sie hastig griff. »O ja, reichlich. Besten Dank, Herr Graf. Hätte Frau Höve mann das Farbband nicht so dringend nötig…« »Dann hätten Sie das Geld nicht von mir genommen«, sprach er gelassen weiter, als sie unter seinem ironischen Blick verlegen stockte. »Und nun noch die Tasche…« Er griff hinüber zum hinteren Sitz, reichte ihr eine Aktenta sche und sprach ganz sachlich:
»Jetzt bleibt nur noch zu klären, wo wir uns zur Rückfahrt treffen.« Überhaupt nicht – hätte sie am liebsten erwidert. Aber wie sollte sie zur Werkstätte kommen – und wenn der Wagen noch nicht fertig war, gar bis nach Hause? Das waren im merhin gute zehn Kilometer, aus der Stadtmitte noch mehr. Also überwand sie sich, ließ die Vernunft sprechen und sagte höflich: »Das zu bestimmen kommt Ihnen zu, Herr Graf.« »Recht so, immer sich selbst bekriegen«, blitzte es in seinen Augen auf. Denn der Kampf, der sich so deutlich in dem hochmütigen Mädchengesicht gespiegelt hatte, war ihm nicht entgangen. »Also treffen wir uns auf dem Parkplatz am Markt, der ist zentral gelegen.« Er fuhr weiter und Senöwe mußte mal erst ihren Ärger hi nunterwürgen. Das war ja ein ganz arroganter Mensch! Ach was, tanzten eigenwillig die Locken nach hinten, was ging er sie an? Die Gefälligkeit, die er ihr erwies, hätte ge wiß auch ein anderer getan. Da machte sie tatsächlich aus einer Mücke einen Elefanten. Mit diesem Schlußstrich beeilte sie sich, die Einkäufe zu machen. Was geraume Zeit in Anspruch nahm, weil sie ja in verschiedene Geschäfte gehen und dort außerdem noch warten mußte. Auf dem Parkplatz trat ihr der Graf schon entgegen und nahm ihr die Tasche ab. »Ganz nettes Gewicht«, stellte er fest, und sie zuckte die Achsel. »Ich habe mich daran nicht krummgeschleppt.« Wenig später setzte sich der Wagen in Bewegung. Tief in die weichen Polster zurückgelehnt, streifte des Mädchens Blick immer wieder den Mann, der das Steuer führte. Fest auf dem Rad lagen seine schmalen, nervigen Hände, an deren Linken ein schwergoldener Wappenring blinkte. Sie sah im Profil das hartgeschnittene Gesicht, in dem die blitzenden Augen anmuteten wie bläuliches Eis. Seine ganze Erschei nung hatte etwas Schroffes an sich, etwas Unbeugsames
und Herrisches. Und da mußte Senöwe von Helgen richtig erkennen, daß ihr ein so außergewöhnlicher Mann noch nie begegnet war. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie sich gegen etwas weh ren, das drohend auf sie zukam. Als müßte sie laufen, so schnell und weit, damit sie diesem Unerklärlichen entfloh. Sie atmete wie erlöst auf, als sie an der Werkstatt den Wa gen verlassen konnte. War so richtig froh, daß ihr Wagen bereits in Ordnung war. Es wäre allerdings nur eine Klei nigkeit gewesen, erklärte der Meister. Der Draht zur Zün dung war durchgebrochen. »Nun, so kann ich ja beruhigt von dannen ziehen«, meinte der Graf. »Gnädiges Fräulein, es war mir ein Vergnügen.« Eine tadellose Verbeugung, dann saß er auch schon am Steuer, und der Wagen flitzte davon. Diese kurzangebundene Art ärgerte Senöwe nun wieder, doch sie ließ sich nichts anmerken, da sie die neugierigen Blicke des Meisters sah. Sie zahlte den geringen Preis der Reparatur, drückte den beiden Lehrlingen ein Trinkgeld in die Hand und atmete auf, als sie endlich im Wagen saß, der nun wieder brav sei nen Dienst tat. Was würde nur Anita sagen, daß sie so lange ausblieb. Die wartete doch sicherlich schon sehnsüchtig auf das Farb band. Das war jedoch nicht der Fall. Denn als Senöwe vor ihr stand, unterbrach sie die Tipperei und sagte erstaunt: »Du bist schon zurück?« »Schon?« dehnte das Mädchen. »Ist es dir denn gar nicht aufgefallen, daß ich länger ausgeblieben bin, als vorgese hen war?« »Eigentlich nicht. Weißt du, ich fand doch noch ein Farb band. Aber was hast du da für eine Tasche, die gehört ja gar nicht uns.« »O nein, die gehört dem Herrn Grafen Bernbrugg auf Mö wen«, erklärte Senöwe pathetisch. »Mach den Mund zu,
mein Herz, sonst muß ich deine Intelligenz anzweifeln. Und da auch Onkelchen soeben in Erscheinung tritt, brau che ich von meinem großartigen Erlebnis nicht zweimal zu berichten.« Sie erzählte, was ihr unterwegs begegnete und schloß mit den Worten: »Ich wundere mich, daß der Herr Graf nicht hohnlachend vorüberfuhr, sondern sich herabließ…« »Na, so ist der Rasmus nun auch wieder nicht«, warf Anita ein, damit den Jugendgespielen in Schutz nehmend. »Daß er den Menschen, mit denen er nicht unbedingt zu tun hat, aus dem Wege geht, ist ihm wahrlich nicht zu verdenken. Aber wenn ein Mensch wirklich seiner Hilfe bedarf, wird er sie ihm nicht versagen. Dafür steckt ihm die Ritterlichkeit zu tief im Blut.« »Na schön«, entgegnete Senöwe kläglich. »Aber was mache ich nun mit der Tasche und mit dem Geld? Wie soll ich es dem Eigentümer zurückgeben?« »Persönlich«, zwinkerte Konrad ihr zu, und sie hob abweh rend die Hände. »Nur ja nicht! Das wäre ja gerade so, als liefe ich ihm nach. Das könnte seiner Arroganz noch so passen. Außerdem, wie soll ich wohl durch all die Zäune kommen, mit denen er sich abgesperrt hat?« Es klang so komisch verzweifelt, daß die anderen herzlich lachten. Doch dann sagte Anita: »Überlaß die Sachen ruhig mir. Ich sorg schon dafür, daß sie an die richtige Adresse gelangen.« Und tatsächlich konnte sie schon am nächsten Tag Tasche nebst Geld dem Briefträger übergeben, dessen Weg auch nach Möwen führte. Und somit war die Angelegenheit er ledigt. Es war an einem Sonnentag im Juni, als Senöwe in den Wald ging, um Erdbeeren zu pflücken. Die erste Reife schien jedoch bereits abgelesen zu sein, denn die Milch kanne wollte sich nicht füllen, noch nicht einmal bis zur Hälfte. Aber da drüben, hinter dem Stacheldrahtzaun, da leuchtete es rot, dicht bei dicht. Doch das war ja verbotenes
Gebiet; auf das sich niemand wagen durfte, der nicht zu
den Bernbruggs gehörte.
Ach was, tat Senöwe leichtsinnig ab. Man darf sich dabei
nur nicht erwischen lassen.
Also kletterte sie geschickt durch die Stacheln und hielt
dann reiche Ernte. Sie war so emsig bei der Sache, daß sie
den Mann nicht bemerkte, der unweit von ihr stand und
ihrem Tun amüsiert zusah. Er hörte sogar das uralte Spinn stubenlied, das die eifrige Sucherin laut und unbekümmert
sang:
»Es ging ein Mädchen in den Wald.
dreiviertel Stund vor Tag.
Es wollte Erdbeer'n pflücken fein,
ja, ja pflücken fein,
dreiviertel Stund vor Tag.
Da kam ein Jäger schmuck und keck,
dreiviertel Stund vor Tag.
Der nahm ihr die roten Beeren weg,
ja, ja Beeren weg,
dreiviertel Stund vor Tag.«
So weit war die Sängerin gekommen, als über ihre Schulter
hinweg eine nervige Männerhand nach der Kanne griff.
Zutiefst erschrocken fuhr Senöwe herum – und sah mitten
in zwei blitzende Augen hinein.
»Nun, wie geht das Lied weiter?« fragte eine sonore Stimme
mit unterdrücktem Lachen.
»Das geht Sie gar nichts an, Herr Graf!« wurde das Mäd chen, das sich rasch faßte, nun böse. »Geben Sie mir sofort
die Kanne wieder!«
»Fällt mir ja gar nicht ein«, kam es gelassen zurück. »Die
Beeren sind in meinem Wald gepflückt und gehören daher
mir.«
»Aber nicht alle!« protestierte Senöwe heftig. »Ein Viertel
davon sammelte ich in dem Wald, der zum Dorf gehört.«
»Ich will ja großmütig sein, wenn Sie die Fortsetzung des
Liedes, das Sie so nett sangen, beherzigen«, erklärte der
Mann, während es ihm verdächtig um Augen und Mund
zuckte.
»Ich kenne die Fortsetzung nicht«, flog der bernsteinglit zernde Kopf in den Nacken, und zwei blaue Augen sprüh ten dem Mann entgegen, der nun lächelnd sagte:
»Aber ich kenne die Fortsetzung und will sie, wenn auch
nicht gerade singen, so doch sagen:
Gib mir einen Kuß, mein Mägdelein,
dreiviertel Stund vor Tag.
Dann sind die roten Beeren dein,
ja, ja Beeren dein, dreiviertel Stund vor Tag.«
Dabei trat er so dicht an Senöwe heran, daß diese entsetzt
zurückwich.
»Wagen Sie es!!« versuchte sie sich zu wehren, doch schon
war ihr Mund von einem anderen verschlossen, dieser keu sche, jungrote Mund, den bisher noch kein Mann küssen
durfte.
Und was war das diesmal, Zufall oder Vorsehung, daß ge rade in dem Augenblick fünf Männer nahten und dieses
herzinnige Spiel schmunzelnd betrachteten? Das heißt, es
taten nur vier, dem fünften blieb fast das Herz stehen vor
Schreck.
Und dieser Mann war der Vater des kecken Jägers, der nun
auf ihn zutrat, während die anderen vier sich verdrückten.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Senöwe, die Rasmus los gelassen hatte, ihnen nach. Ein Stöhnen entrang sich ihrer
schweratmenden Brust.
Doch dann schoß ihr die Röte der Empörung ins Gesicht.
Ihre Hand hob sich langsam, sank jedoch gleich wieder
hinab, als ihr Blick auf den alten Grafen fiel, der sie unwil lig ansah. Da wandte sie sich ruckartig ab, rannte wie ge hetzt davon, kroch durch den Stacheldraht, ohne darauf zu
achten, wie dabei ihr Kleid in Fetzen ging und war dann
bald den Augen der ihr nachschauenden Herren ent
schwunden. »Ja sag mal, mein Sohn, was hat das eigentlich zu bedeu ten?!« fuhr der Vater ihn an. »Wie kommst du dazu, hier so öffentlich im Wald zu scharmutzieren? Dazu hättest du dir ein verstecktes Plätzchen aussuchen sollen.« »Laß das jetzt, Vater«, unterbrach der Sohn ihn kurz, dabei die Kanne aufhebend, aus der beim Fall ein Teil der Beeren gerollt war. Nun lagen sie da wie rote Blutstropfen. »Ich erkläre dir alles, wenn wir zu Hause sind. Da könnt ihr dann gemeinsam über mich Gericht halten.« Damit stürmte er davon, so daß der Ältere ihm nicht zu folgen vermochte, obwohl auch er nicht gerade langsam ging. Denn er wollte das Beschämende, das er mit eigenen Augen erschaute, möglichst schnell Mutter und Gattin mit teilen, die dann über seinen Bericht genauso fassungslos waren wie er selbst. Und dann trat der Enkel und Sohn mit einer Gelassenheit ein, die man direkt bewundern mußte. Er nahm Platz, steckte eine Zigarette in Brand, legte sich tief im Sessel zu rück, schlug ein Bein über das andere und sah die drei wie erstarrten Menschen ruhig an. »Also Rasmus, ich muß schon sagen, daß ich über deine Kaltschnäuzigkeit direkt erschüttert bin«, begann der Vater, sich dabei mit zwei Fingern in den Kragen fahrend. »Willst du dich nun endlich äußern über das Unerhörte?« »Jawohl, das will ich. Ich werde die Konsequenzen tragen und Senöwe Helgen heiraten.« Ja, da waren die drei anderen zunächst einmal platt. Es dauerte immerhin Sekunden, bis der Vater sich soweit ge faßt hatte, um tragen zu können: »Senöwe Helgen wer ist denn das?« »Das Mädchen, das ich im Wald küßte.« »Kennst du es näher?« »Näher ist zuviel gesagt«, kam es mit immer noch aufrei zender Gelassenheit zurück. »Ich bin der jungen Dame heute zum viertenmal begegnet. Das erste, als sie sich in unserem Wald verirrte und am Parktor nicht weiter konnte,
das zweite, als ich mit Onkel Julius durch das Dorf fuhr, das dritte, als ich ihr streikendes Auto abschleppen durfte, das vierte in unserem Wald, wo sie unerlaubterweise Er dbeeren pflückte. Da mußte sie eben Strafe zahlen.« »Aber Junge, wie konntest du nur«, sagte die Großmutter konsterniert. »Es ist doch sonst nicht deine Art.« »Nein, es ist sonst nicht meine Art«, winkte der Enkel kurz ab. »Aber Dummheiten sind nun einmal da, um gemacht zu werden.« »So, so«, räusperte sich der Vater. »So einfach stellst du die ses hin. Es wäre auch nicht weiter schlimm, wenn ich nicht mit dem Oberförster und den drei Holzfällern dazuge kommen wäre. Junge, hast du denn keine Ahnung, was du dir mit dem unüberlegten Streich eingebrockt hast?« »O ja, ich bin mir dessen durchaus bewußt. Wie schon ge sagt, werde ich die Konsequenzen tragen und die junge Dame heiraten, weil sie wohl nicht zu den Mädchen ge hört, die man so ohne weiteres kompromittieren darf.« »Nun sag doch schon endlich, wer die junge Dame eigent lich ist!« platzte dem Vater sozusagen der Stehkragen, was den Sohn noch immer nicht erschütterte. Fast belustigt schaute er auf die konsternierten Menschen und gab dann endlich Bericht: »Senöwe von Helgen ist die Tochter des bekannten Bild hauers, und der Mann Anitas war sein bester Freund.« »Warum – war?« warf der Vater ein. »Weil Herr von Helgen seit mehr als einem Jahr tot ist. Sei ne Frau heiratete wieder, und zwar den Industriellen Neu beck. Senöwe, die mit ihrem Vater in einem ähnlichen Strandhaus gelebt hatte wie Anitas, folgte, nachdem das Haus verkauft war, der Mutter in das neue Heim. Wahr scheinlich konnte die kleine Stranddistel – den Namen gab ihr der Vater – die Verpflanzung in eine Stadtvilla nicht vertragen und rückte aus, zu ihrem guten Onkel Konrad.« »Aha, nun kommt langsam Licht in die dunkle Angelegen heit«, nickte der Vater. »Nun sag uns auch, woher deine genaue Orientierung stammt.«
»Aus Erkundigungen, die ich einzog.« »Also hat die junge Dame dich gleich von Anfang an inter essiert?« »Ja, und zwar durch ihre bezaubernde Natürlichkeit – mei netwegen auch durch ihre Schönheit. Ihr wißt ja, daß ich in einigen Monaten verheiratet sein muß und – will.« »Rasmus, bedenkst du denn gar nicht, daß du traditions gemäß nicht jedes Mädchen heiraten darfst?« sagte die Mut ter erregt. »Daß du bei einer Übertretung des Familienge setzes als Majoratserbe ausscheidest? Darauf wartet dieser üble Kainz doch gerade.« »Muttchen, nun beruhige dich schon. Für wie gewissenlos hältst du denn deinen Jungen. Gerade weil ich bei der ers ten Wahl so jämmerlich hereinfiel, habe ich mich nach der Familie von Helgen genauestens erkundigt. Sie ist von gu tem altem Adel, die Söhne wurden traditionsgemäß Offi zier. Nur der letzte konnte es nicht werden, weil er ein et was kürzeres Bein hatte, was jedoch kaum aufgefallen sein soll. Trotzdem war er für den Militärdienst ungeeignet und konnte guten Gewissens den Beruf ergreifen, zu dem er sich eignete. Und er wurde ein guter Bildhauer, wie seine Erfol ge bewiesen. Seid ihr Zweifler nun beruhigt?« »Bis auf das Mädchen selbst schon«, sagte die Großmutter. »Wie war da die Auskunft?« »Ein unbeschriebenes Blatt, blütensauber von innen und außen.« »Und dann hast du die junge Dame im Wald wie ein Wege lagerer überfallen?!« brauste der Vater auf. »Schäm dich mal, Rasmus!« »Und zwar ganz gehörig«, bekräftigte die Großmutter. »Konntest du dich um das Mädchen nicht bewerben in herkömmlicher Weise?« »Nein, Großmama, es hätte mich bestimmt abgewiesen.« »Na, das wird ja immer besser!« lachte der Vater grimmig auf. »Und du meinst, daß es dich jetzt nehmen wird – nach dieser Beleidigung?« »Ich will es jedenfalls versuchen.«
»Na dann herzlichen Glückwunsch«, sagte der Vater jetzt trocken. »Vielleicht bekommst du dann die Ohrfeige, zu der die junge Dame bereits ausholte, die dann jedoch un terblieb, weil ich dabei war. Denn verdient hast du sie, du unverschämter Bengel!« Da stand Rasmus auf und ging hinaus, die Seinen in Aufre gung zurücklassend. Zutiefst erschrocken sah das Ehepaar Hövemann auf Senö we, die ins Zimmer stürmte – das Kleid zerrissen, das Haar zerzaust, blutige Kratzer an Gesicht und Händen. »Senöwe, was ist dir denn geschehen?!« schrie Anita ent setzt auf. Zuerst einmal ließ das Mädchen sich in den nächsten Sessel sinken, drückte das Gesicht in die Seitenlehne und weinte wie ein Mensch, dem Böses widerfuhr. Nur ganz allmählich gelang es den Gatten, das ihnen so liebe Menschenkind zum Sprechen zu bewegen. Und erst dann, als es unter Schluchzen und tiefster Empörung hervorgestammelt war, konnte auch Anita ihrer Empörung freien Lauf lassen. »Na, so ein Spitzbube! Was bildet der sich eigentlich ein! Nimmt er etwa an, daß alle Mädchen, die sich in seinen Wald verirren, Freiwild sind?!« »Nun mal langsam«, stoppte der Gatte ab, der gelassen da saß und dabei sein Pfeifchen schmauchte. »Soweit ich den Grafen beurteile, wird er als Ehrenmann das auslöffeln, was er sich in seinem Übermut einbrockte…« »Wie meinst du das?« fragte Anita dazwischen. »Er wird um Senöwe anhalten.« »Das soll er bloß wagen!« fuhr diese kampfbereit auf. »Dann hat er aber schon die Ohrfeige weg, die er bereits im Wald gekriegt hätte, wäre sein Vater nicht dabei gewesen. Ich nehme wenigstens an, daß es sein Vater war. Und wenn er ein gerechter Mann ist, wird er seinem unverschämten Sprößling die Ohrfeige geben.« »Na, na, na«, beschwichtigte Konrad. »Meine kleine Stranddistel, so leicht ohrfeigt sich das nicht. Schon gar nicht einen Grafen Bernbrugg.«
»Na eben, der betrachtet es als sein Privileg, wehrlose Mäd chen im Wald zu überfallen und zu küssen. Und darf es dann nonchalant abtun, wenn man ihn dabei ertappt.« »Daß er es nicht nonchalant abtut, wird er dir schon noch beweisen.« Da knallte die Tür zu, und der Mann schmunzelte. »Nun sag mal, wäre das so schlimm, wenn der Graf Senöwe heiraten würde? Einen besseren Mann kann sie ja gar nicht finden, abgesehen davon, daß sie durch diese Heirat in glänzende Verhältnisse käme. Außerdem wäre ihre Heimat an der See, wie es sich für eine Stranddistel gehört. Wir wissen es doch, wie schlecht ihr die Verpflanzung in Stadtboden bekam, wie sie darin müde und welk wurde. Das merkte man doch, als sie bei uns eintraf. Und sieh sie dir jetzt an, wie das sprühende, lachende Leben selber ist sie. Ich jedenfalls freue mich über diese Wendung, sie ge schah bestimmt zu Senöwes Glück.« »Ja, wenn du das so hinstellst, dann hat es schon was für sich«, wurde Anita nachdenklich. »Meinst du wirklich, daß Rasmus sich um sie bewerben wird?« »Anita, du müßtest ihn doch noch besser kennen als ich. Denn ich kenne ihn ja nur vom Hörensagen, du jedoch von Kindheit an.« »Das schon. Früher hätte ich auch für seine Ehrenhaftigkeit meine Hand gewissermaßen ins Feuer gelegt, aber nach der damaligen Affäre soll er sich sehr verändert haben.« »Aber bestimmt nicht, was seine Ehrbegriffe betrifft. Nun, wir werden ja sehen.« Und sie sahen es; denn zwei Stunden später erschien Graf Bernbrugg. Die Milchkanne in der Hand, in der die roten Beeren so unschuldig leuchteten – und dabei hatten sie doch so raffiniert Schicksal gespielt. »Da bin ich«, erklärte er einfach, und Anita entgegnete bö se: »Das sehe ich. Und gleich mit der Milchkanne. Wie vulgär, Herr Graf – denn so muß ich jetzt doch wohl sagen, nicht wahr?«
»Meine liebe Anita, wie ich feststellen muß, hat dein immer schon spitzes Zünglein in den drei Jahren unserer Entfrem dung noch an Schärfe zugenommen«, versetzte er gelassen und wandte sich dann dem Hausherrn zu, der ihm lachend die Hand entgegenstreckte. »Da können Sie sich wohl vorstellen, Herr Graf, wie ich unter dieser Spitzzüngigkeit zu leiden habe. Außerdem spickt mich seit einigen Wochen auch noch eine kleine Stranddistel. Na ja, leide ich ohne zu klagen.« Lachend sah man sich in die Augen, und schon war der Kontakt da. »Na, ihr scheint euch bereits prächtig zu verstehen«, brummte Anita noch immer nicht ganz besänftigt. »Nun gib schon die Kanne her. Die paßt zu deiner Erscheinung wie ein Joch zum Rassegaul. Was willst du überhaupt da mit?« »Die Beeren ihrer Eigentümerin geben, für die sie redlich bezahlte.« »Dann mach dich nur darauf gefaßt, daß sie dir diese vor die Füße wirft. Sie ist zwar ein wohlerzogenes Mädchen, aber auch das kann schließlich mal aus der Haut fahren. Nimm jetzt endlich Platz und beichte.« »Was gibt es denn hinterher, einen Klaps oder Schokola de?« erkundigte er sich scheinheilig, während er einen Ses sel einnahm und die Kanne daneben stellte. »Das war doch deine Taktik, als du mich früher so ganz und gar beherrsch test.« »Und dieser Mann spricht von Spitzzüngigkeit. Eigentlich müßte ich dich zur Strafe trocken sitzen lassen. Doch da es heiß ist, will ich diesmal noch Gnade vor Recht ergehen lassen.« Port war sie, und Konrad fragte: »Was rauchen Sie, Herr Graf?« »Vorläufig nichts, Herr Hövemann. Ich möchte erst die Angelegenheit in Ordnung bringen, von der Sie gewiß schon hörten.« »Ja. Es hat deswegen hier einen Aufruhr gegeben, der mo
mentan abgeebbt ist. Aber nur, weil Senöwe sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat und wahrscheinlich ihre Sa chen packt.« »So sehr ist sie über mein Verhalten empört?« »Was ja auch schließlich kein Wunder ist. Denn Senöwe von Helgen gehört nicht zu den Mädchen, die einen Kuß leichtnehmen. Den wird sie nicht so bald vergessen, Herr Graf.« »Auch nicht, wenn ich die Konsequenzen dafür tragen will?« »Die zieht sie ja bereits, indem sie von der Bildfläche zu verschwinden gedenkt.« »Das muß auf alle Fälle verhindert werden, Herr Höve mann.« »Und wie wollen Sie das verhindern, Herr Graf? Ich kenne Senöwe von Kindheit an und weiß daher, daß sie ganz und gar unzugänglich wird, sofern ihr ein Unrecht geschieht.« »Also habe ich dich doch erwischt«, klang von der Diele her jetzt Anitas Stimme. »Feige kneifen willst du, schäm dich!« »So laß mich doch gehen!« »Nicht eher, als bis du mit dem Grafen gesprochen hast. Komm!« Die Tür öffnete sich, und Anita erschien, Senöwe am Arm zerrend, die sich wie ein störrisches Böckchen dagegen stemmte. Doch die energische junge Frau ließ nicht locker, bis sie die Aufsässige dahin hatte, wohin sie diese haben wollte. Dann nahm sie kurzerhand Konrad am Arm, zog ihn mit sich fort und schloß die Tür von außen zu. »Besser ist besser«, erklärte sie, noch ganz echauffiert von dem Gerangel mit dem eigensinnigen Mädchen. »Das ist vielleicht ein kleiner Trotzteufel – oha! Da wird Rasmus was zu zähmen kriegen.« Im Zimmer jedoch standen sich die beiden jungen Men schen gegenüber und sahen sich in die Augen. Die des Mädchens sprühten vor Zorn, die des Mannes bettelten wie um Gnade. Zögernd versuchte er nach den bebenden Hän den zu fassen, die sich brüsk auf den Rücken legten.
»Unterlassen Sie jede weiteren Annäherungsversuche, Herr Graf«, sprach die sonst so weiche Stimme jetzt schneidend. »Der unverschämte im Wald hat mir vollauf genügt.« »Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädiges Fräulein. Mein un schönes Verhalten tut mir leid, wollen Sie mir das glau ben?« »Nein.« »Und wenn ich gutmachen will?« »Wie sollte das wohl möglich sein?« »Indem ich Sie bitte, meine Frau zu werden.« »Also doch!« lachte sie hart auf. »Bemühen Sie sich nicht, Herr Graf, eine solche – Mußwerbung nehme ich nicht an. Oder wollen Sie abstreiten, daß diese niemals erfolgt, wäre der Kuß unbeobachtet geblieben?« »Unmittelbar danach vielleicht noch nicht.« »Das genügt mir. Ihnen als Mann wird man den Kuß, ge raubt im Wald, mit schmunzelndem Verständnis nachse hen – und mir als Mädchen wird er auch nicht weiter weh tun, da ich noch heute von hier gehe.« »So – und an Ihre Freunde denken Sie nicht? Ich möchte wetten, daß dieser – na ja – jetzt schon in vieler Leute Mund ist. Und wie soll das Ehepaar Hövemann das Ge schehnis wohl dementieren? Es wird in diesem kleinen Ort und Umgegend viel geklatscht, gnädiges Fräulein.« »Na wenn schon«, wurde sie bereits unsicher. »Über Klatsch sind die Hövemanns erhaben.« »Und doch schleift er Schmutz mit sich, der an dem Be klatschten irgendwie haften bleibt. In der Beziehung kann ich nämlich aus Erfahrung sprechen.« Da sah sie auf, mitten in seine Augen hinein, in denen et was lag, das sie wider Willen rührte. Ihr Blick flirrte ab, und da sagte der Mann bittend: »Gnädiges Fräulein, wollen Sie nicht ein bißchen zugängli cher werden, damit ich Ihnen einen Vorschlag machen kann?« »Meinetwegen«, gab sie seufzend nach. »Setzen wir uns.« »Darf ich Ihnen zuerst die Beeren überreichen, die Ihnen
doch nun wirklich gehören?« »Ist das nicht – dreist – Herr Graf?« »Nein, gnädiges Fräulein, das soll meine Strafe sein. Denn es fällt mir wahrlich nicht leicht, wie ein armer Sünder vor Ihnen zu stehen und Ihre Verzeihung zu erbetteln.« Da nahm sie ihm die Kanne ab, stellte sie weg und bot ihm einen Platz an. Und dann fuhr der Mann sich erst einige Male ruckartig über Augen und Stirn, bevor er zu sprechen begann: »Gnädiges Fräulein, ich bitte darum, in eine Verlobung mit mir einzuwilligen. Sie können diese nach einiger Zeit lösen – natürlich nur, wenn Sie es wollen. Dann bleibt der Schein gewahrt, und die Klatschmäuler sind gestopft, we nigstens was Sie betrifft. Kein Mensch wird es Ihnen ver denken, wenn Sie schließlich eine Verlobung mit mir lö sen.« »Warum betonen Sie denn das – mir – so nachdrücklich?« »Nun – Sie kennen doch sicherlich die Affäre, in die ich vor drei Jahren geriet?« »Aber doch schuldlos.« »Allerdings, trotzdem bin ich irgendwie belastet.« »Das ist doch Unsinn«, entfuhr es ihr spontan. »Mit dieser fixen Idee überschatten Sie sich ja Ihr Leben.« »Danke – das war ein gutes Wort.« Verwirrt senkte sie die Augen, atmete einige Male tief und schwer, hob dann den Blick und sagte langsam: »Nun gut – es sei. So engherzig bin ich nun auch wieder nicht, um eines Kusses willen so schwerwiegende Konflikte heraufzubeschwören. Wie schon gesagt, mich würden die Klatschmäuler ja weiter nicht berühren, wenn ich von hier ginge, aber ich möchte sie nicht den Hövemanns auslie fern. Das haben sie nicht um mich verdient. Also, Herr Graf, gelten wir nun mal so ein bißchen als Verlobte.« Es kam so trocken heraus, daß der Mann lachen mußte, sowenig ihm danach auch zumute war. Er beugte sich vor, griff nach den zarten Mädchenhänden, führte sie behutsam an die Lippen, eine um die andere und sagte leise:
»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Oder darf ich jetzt Senöwe sagen?« »Das wird sich ja wohl kaum umgehen lassen«, seufzte sie. »Aber das sage ich Ihnen, Erdbeeren pflücke ich im verbo tenen Gebiet nicht mehr, das ist mir denn doch zu gefähr lich.« In diesem Moment lugte Anitas dunkler Wuschelkopf vor sichtig durch den Türspalt, dann schob sich das Persönchen nach und lachte. »Ihr seid ja ganz friedlich. Darf man gratulieren, kleine Standdistel?« »Ja, man darf.« »Wunderbar! Diese Verlobung muß begossen werden.« »Aber mich entschuldigt bitte. Ich möchte die Meinen nicht länger als nötig in Unruhe warten lassen. Darf ich morgen wiederkommen – Senöwe?« »Ja.« »Danke.« Eine tadellose Verbeugung, dann ging er, und Anita sah mit zugekniffenen Augen zu Senöwe hin, die nach einer Ziga rette griff, die auf dem Tisch lagen. Ihre Hand zitterte da bei. »Na, nach einer friedlichen Verlobung sieht mir das nicht aus – «, dehnte Anita und sah dabei vielsagend den Gatten an, der langsam nähertrat. »Was hat's gegeben, Senöwe?« Sie erzählte kurz und stand dann auf, die unangebrannte Zigarette auf den Tisch werfend. Sie war auffallend blaß. Ihre Stimme klang müde, als sie sagte: »Entschuldigt, ich muß erst einmal in aller Ruhe dazu Stel lung nehmen, was heute so plötzlich und ungeahnt in mein Leben trat.« Damit ging sie, und Anita sagte kläglich: »Du meine Güte, das nennt sich nun Verlobung. Lach nicht, Konrad, das ist alles eher zum Weinen. Was soll bloß daraus werden?« »Ein Glück natürlich. Es wäre ja gelacht, wenn es einem solchen Prachtkerl nicht gelingen sollte, so ein sprödes
Mädchenherz zu gewinnen. Und nun komm, kleine Frau, trinken wir beide auf das Wohl des abwesenden jungen Paares.« Anita stemmte die Hände in die Hüften und besah sich angelegentlichst den Mann, der da schmunzelnd sein Pfeif chen schmauchte, als wäre alles in schönster Ordnung. Sie blies die Backen auf, schnaufte wie ein Flußpferdchen und legte dann los: »Ja sag mal, Mann, gibt es denn überhaupt nichts, das dich aus deiner verflixten Ruhe bringen kann?« »Und was nützte es, wenn ich mich ereiferte?« kam es po madig zurück, und da mußte sie klein beigeben. »Nichts, da hast du recht. Aber es geht doch hier um ein Menschenkind, das wir beide lieben und das in einer Ehe ohne Liebe bestimmt unglücklich wird.« »Nun, erstens ist es noch nicht soweit, und dann sind blindgeschlossene Liebesehen größtenteils nicht die besten. Sie sind wie schillernde Seifenblasen. Wenn sie bald zer platzen, bleibt ein leeres Nichts.« »Dann steht uns ja noch so allerlei bevor.« »Liebes Kind, mein Seifenbläschen habe ich mir mit offe nen Augen angeschaut, bevor ich nach ihm haschte.« »Ach, sieh mal an. Aber da du so neunmalklug bist, kannst du mir sicher auch erklären, was mit den aus Vernunft ge schlossenen Ehen wird.« »Kann ich, nämlich: Erwählst du dir 'ne Liebste, forsch immer erst: Was gibt se. Halt außerdem die Augen offen, dann darfst du dir ein Glück erhoffen.« Da sahen sie sich lachend in die Augen und verstanden sich wieder einmal glänzend. »Wo der Junge nur bleibt«, sagte Gräfin Hortense, die mit Gatten und Schwiegermutter zusammensaß. Sie war eine mittelgroße, schlanke Frau und nicht nur dem Namen nach
vornehm. Sie war mit ihren zweiundfünfzig Jahren immer noch schön und sehr gepflegt, die Kleidung ausgesucht elegant. Ihr sorgfältig frisiertes Haar zeigte kaum einen grauen Faden. Die Augen blickten gütig, die Stimme hatte einen herz warmen Klang. Graf Magnus hatte die verarmte Prinzessin aus Liebe heimgeführt und war mit ihr glücklich geworden bis auf den heutigen Tag. Anders war die Ehe der Eltern des Grafen Magnus zustande gekommen. Seine Mutter entstammte wiederum einem verarmten gräflichen Geschlecht. Man hatte sie dem, rei chen Grafen Bernbrugg zur Frau bestimmt, und sie hatte ihn auch widerspruchslos genommen. Und da sie beide Menschen von guter Erziehung und gutem Charakter war en, hatten sie eine vorbildliche Ehe geführt und sich von Jahr zu Jahr immer fester aneinander geschlossen. Jetzt war der Gatte, der fünfzehn Jahre mehr zählte, schon seit zehn Jahren tot. Ehrlich betrauert von seiner Frau, die mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch so vital war. Die hochgewachsene Gestalt war vom Alter ungebeugt, die Au gen hatten immer noch einen klaren, scharfen Blick. Auch das feine Antlitz wies nur wenig Falten auf, so daß man der Frau das immerhin hohe Alter nicht ansah. Sie saß auch noch jeden Tag im Sattel, war geistig rege wie eh und jeh, hatte Verständnis für die Jugend und sah ihr viel nach. Aber nicht dergleichen, was ihr Enkel sich da geleistet hat te, und das sie als unehrenhaft bezeichnete. Nicht, daß er ein Mädchen küßte, dagegen hatte sie nichts einzuwenden, er zählte immerhin erst dreißig Jahre. Aber dann sollte er das bei solchen Mädchen tun, die damit ein verstanden waren und nicht einfach einen Kuß erzwingen. Das war unritterlich und ihres Enkels nicht würdig. »Magnus, nun tu mir den Gefallen und renne hier nicht im Eilzugtempo hin und her«, sagte sie jetzt nervös zu dem Sohn, der schon eine Weile von Unruhe getrieben auf und ab ging. »Deshalb kommt der Junge doch nicht früher.« »Ich könnte den Bengel ohrfeigen!« stieß er grimmig her
vor, sich dabei mit Vehemenz in einen Sessel werfend. »Ich habe direkt Angst vor dem Mädchen, das er uns bringen wird. Am liebsten möchte ich wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, um nur nichts hören und sehen zu müssen.« »Das sieht dir ähnlich«, betrachtete die Mutter kopfschüt telnd ihren Sohn, der wiederum seinem Sohn auffallend glich. Nach siebenundzwanzig Jahren würde dieser genau so aussehen, ein vornehmer Grandseigneur mit angegrau ten Schläfen. Das konnte man so recht erkennen, als Rasmus jetzt ein trat. Drei Augenpaare sahen ihm gespannt entgegen, und dann fragte die Großmutter enttäuscht: »Hast du denn das Mädchen nicht mitgebracht?« »Nein, Großmama.« »Dann hat sie am Ende – Junge, so sprich doch endlich!« Zuerst nahm er Platz, steckte eine Zigarette in Brand und sprach dann klar und knapp. Als er geendet, schüttelte die Seniorin ihr wohlfrisiertes Haupt. »Ja, gibt es auch so was, daß ein Mädchen nicht mit beiden Händen zugreift, wenn ein Mann wie du um es wirbt?« »Das hat Senöwe ja bewiesen«, lächelte er belustigt über die konsternierte Dame. »Sie wird es uns allen nicht leichtma chen, ihr näherzukommen.« »Na das wäre«, fuhr der Vater sich brummend in den Kra gen. »Wir werden ihr schon das Trotzköpfchen zurechtset zen.« »Dazu wünsche ich dir viel Erfolg, Vater. Sie führt nämlich ihren Beinamen Stranddistel nicht zu unrecht.« »Es ist kaum die Möglichkeit. Hätte man je gedacht, daß man vor so einem jungen Ding – wie alt ist es überhaupt?« »Einundzwanzig.« »Hm«, brummte der Vater, seinen Sohn dabei so eingehend musternd, als sähe er ihn heute zum erstenmal. »Es will mir fast scheinen, als hätte der Kuß noch eine tiefere Bedeu tung. Ich kenne dich nämlich zu gut, um zu wissen, daß dir derartige Geschmacklosigkeiten nicht liegen, so mir nichts,
dir nichts ein Madchen im Wald zu überfallen und es zu küssen. Nun mal ehrlich, Rasmus, hast du es etwa über rumpeln wollen? Aha, du läufst rot an wie eine Tomate – also doch. So viel kühle Berechnung hatte ich dir trotz dei ner Kaltschnäuzigkeit den Frauen gegenüber denn doch nicht zugetraut. Oder sollte ein Wunder geschehen sein und du hast dich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt?« »Nun laß den Jungen endlich in Ruhe«, wurde die Groß mutter jetzt unwillig. »Das ist ja die reinste Vivisektion, die du da mit ihm treibst.« Da sprang Rasmus auf, eilte hinaus, und der Vater sah ihm bestürzt nach. Am nächsten Vormittag erschien Graf Bernbrugg wieder im Strandhaus, traf jedoch nur das Ehepaar Hövemann an. »Da bist du ja«, empfing Anita ihn vergnügt. »Nimm Platz. Auf deine Braut wirst du noch eine Weile warten müssen, weil sie gerade schwimmt, was sie mit bewundernswerter Ausdauer zu tun pflegt.« »Wie ist ihre Laune?« erkundigte Rasmus sich, während er sich setzte, und Anita sah ihn entrüstet an. »Werde hier gefälligst nicht spitz. Mein lieber Freund, Lau nen hat Senöwe keine, dafür ist sie noch zu wenig von der mondänen Welt angekränkelt. Weißt du auch, daß dein gestohlener Kuß im Wald, du Raubritter, heute bereits be klatscht wird?« »Kann ich mir denken. Um diese Ungeheuerlichkeit zu verbreiten, dafür werden schon die drei Waldarbeiter be stens gesorgt haben.« »Jawohl, haben sie. Als ich nämlich heute früh den Krugla den betrat, der wie stets nach jedem wöchentlichen Zahltag der Fischer proppevoll war, verstummte das lebhafte Ge spräch, und scheue Blicke streiften mich. Fast so, als hätte ich mich im Wald mit dir geküßt«, setzte sie lachend hinzu. »Doch ich tat sehr harmlos, erledigte meinen Einkauf und bevor ich die Tür von draußen schloß, hörte ich, wie eine Frau meinte, daß ich von dieser blamablen Angelegenheit bestimmt noch nichts wüßte. Es würde ein harter Schlag
für mich ehrbare Frau sein, wenn ich davon erführe. Und was sagst du nun?« »Daß es eingetroffen ist, womit ich rechnete. Weiß Senöwe davon?« »Nein, und sie soll es auch nicht wissen. Da kommt sie übrigens. Ist sie nicht goldig, unsere Süße?« Das konnte man wohl sagen. Hochbeinig, mit federnden Schritten nahte die grazile Gestalt, den Bademantel über die Schulter gehängt. Ein Bild sprühenden, blühenden Le bens. Doch bevor sie die Stufen zur Terrasse hochsteigen konnte, trat Anita an die Brüstung. »Verkrümele dich, mein Liebchen, und zieh dich an!« rief sie lachend. »Wir haben nämlich Besuch.« »Was für einen denn?« »Den Herrn Bräutigam.« Schon war Senöwe um die Ecke geflitzt, um nach einer Viertelstunde zu erscheinen, bezaubernd anzuschauen in dem duftigen Sommerkleidchen. Rasmus erhob sich, trat ihr entgegen und zog die ihm entgegengestreckte Hand an die Lippen, dabei einen prüfenden Blick in das frische Mädchengesicht werfend. »Weißt du auch, Senöwe, daß ich gekommen bin, um dich nach Möwen zu holen?« »Ach du lieber Gott«, tat sie burschikos, wobei ihr jedoch heiße Röte ins Gesicht stieg. »Muß das sein?« »Senöwe, meine Angehörigen warten ungeduldig darauf, dich kennenzulernen. Meine Großmutter war gestern direkt enttäuscht.« »Was, eine Großmutter hast du auch noch?« fragte sie so komisch entsetzt dazwischen, daß das Ehepaar Hövemann in amüsiertes Lachen ausbrach. Dann sagte Anita: »Nun stell dir diese Großmutter nicht womöglich vor wie die Hexe aus dem Knusperhäuschen, sie ist nämlich alles andere als das. Sieh zu, daß du ihr Herz gewinnst, dann hast du auch die andern der Sippe. Und nun geh, du Schelm, riskier' dort oben auf der Höh' dein Knickschen und mach mir keine Schande. Umzuziehen brauchst du
dich nicht, bist schön genug. Hast du auch ein Taschen tuch?« Absichtlich schlug Anita so einen leichten Ton an, weil sie sich denken konnte, wie es dem Mädchen zumute sein mußte. Es war ja auch keine Kleinigkeit, unter Menschen zu treten, die sie zwangsläufig willkommen heißen mußten. Denn recht war ihnen die »Mußverlobung«, des Sohnes und Enkels auf keinen Fall, dafür kannte sie die stolzen, unzugänglichen Menschen zu gut. Aber sie wußte daher auch, daß sie es das Mädchen nicht entgelten lassen würden, was Rasmus verbrach. Dafür war en sie denn doch zu gerechtdenkend. Also lag es ganz allein an Senöwe, wie dieser erste Besuch ausfallen würde. Davon hing überhaupt das Später ab. Ge lang es ihr heute, die spröden Herzen zu gewinnen, dann würde sie darin warm und weich sitzen für alle Zeit. Nun, das hoffte Anita zuversichtlich. Denn man mußte diesem frischfröhlichen Geschöpf ja gut sein, an dem alles so ursprünglich, so ganz und gar ungekünstelt war, dazu die Schönheit, der gute Charakter. »Warum siehst du mich denn so starr an, als müßtest du mich hypnotisieren«, lachte es hell in ihr Grübeln hinein. »Laß nur, das hat bei mir gar keinen Zweck.« »Scheint mir auch so. Nun geh schon endlich, du machst mich mit deiner Pomadigkeit noch ganz nervös.« »Ich gehe ja schon. Meine Lieben, betet für mich.« »Na, mit dem Strolch werden Sie es bestimmt nicht leicht haben, Herr Graf«, lachte Konrad herzlich. »Der wird Sie schon in Atem halten.« »Kommt ganz darauf an, wer den längeren Atem hat«, kam es gleichfalls lachend zurück. »Und ich glaube, es wird der meine sein.« »Na schön. Nur was wir selber glauben, glaubt man uns – sagte irgendwo ein weiser Mann.« Damit ging sie endlich von Rasmus gefolgt zu der Garage, vor der sein Wagen stand. »Fahren wir denn durch das Dorf?« fragte Senöwe verwun
dert. »Das müssen wir von hier aus immer, wenn wir uns einen kilometerweiten Umweg ersparen wollen.« »Na, da werden die Leute ja Augen auf Stielchen kriegen, wenn sie uns so treulich vereint durch die Gegend kutschie ren sehen.« »Das sollen sie ja auch. Und daß ich dich an meiner Seite haben darf, verdanke ich nur deinem Verständnis, das du dem Sünder so großmütig entgegenbrachtest. Schau nur die Gesichter hinter den Fenstern«, zeigte er mit einer Kopfbewegung zu den Häusern hin, die rechts und links die Dorfstraße säumten. »Ich glaube, selten war der Dorfkrug so besetzt, wie es heute der Fall sein wird.« »Haben die Leutchen Sorgen«, schnitt Senöwe eine Grimas se. »Aber nun erkläre mir mal, wie du auf diesem Weg zum Schloß gelangen willst.« »Das müßtest du eigentlich wissen, da du vor einigen Wo chen diesen Weg bereits gefahren bist.« »Der ist doch aber an dem paradiesischen Tor zu Ende.« »Für uns wird sich das Paradies schon öffnen. Und daß es auch wirklich eins ist, wird allein nur an dir liegen.« Verwirrt senkte sie den Blick und sagte leise: »Du verlangst wahrlich viel von mir, Rasmus.« »Nicht mehr, als du zu geben imstande bist, Senöwe«, ent gegnete er sehr ernst. »Doch jetzt wollen wir so schwerwie gende Gespräche unterlassen, es ist in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gerade genug auf dich einge stürmt. Und nun wollen wir mal das Paradies öffnen. Sollst mal sehen, wie leicht es geht.« Er stoppte vor dem Tor, schloß es auf und dann wieder zu, nachdem er den Wagen hindurchgesteuert hatte. Und dann ging es erst einmal die Allee entlang, hinter deren hohen, alten Bäumen sich gepflegte Rasenflächen dehnten. Riesige Büsche von Rhododendron, der um diese Jahreszeit üppig blühte, wechselten mit anderen Sträuchern ab. Rabatten streckten sich, mit ihrem Blumenflor prunkend. Figuren aller Art, von Urvätern hingestellt, kokettierten auch heute
noch mit dem Beschauer. Ein Weiher, grün und tief, war das Domizil eines stolzen Schwanenpaares, das seine Brut zärtlich betreute. Weiden hingen ihre Äste bis zu dem Was ser hinab, an dessen Ufer Vergißmeinnicht und Tausend schönchen lustig wucherten. Ein Gang tat sich auf, einge zäunt von Spalieren, an dem Rosengesträuch emporrankte, wo die Blüten in allen Größen und Farben dufteten. Und dann lag plötzlich das Schloß da, prächtig anzuschau en mit seinen blinkenden Fensterreihen, Baikonen, Erkern und Türmen. Auf dem Hauptturm flatterte die Hausfahne derer von Bernbrugg. Sie zeigte eine fliegende Möwe, die einen Brok ken im Schnabel hielt, der wohl Bernstein darstellen sollte. Alles in allem ein prächtiges Bild, das Senöwe nun doch beklommen machte. Nein, so großartig hatte sie sich das Schloß und seine Umgebung denn doch nicht vorgestellt. Wie würde sie sich darin wohl behaupten können. Nun bog der Wagen rechts ab, nahm sicher die Rundung und hielt dann vor dem Portal des Schlosses, das durch Anlagen von dem riesigen Hof getrennt war. Auf dem gro ßen Rasenrund stand ein Springbrunnen, den aus Marmor gemeißelte Möwen umkreisten. Aus ihren Schnäbeln sprühte glitzernd die Fontäne empor. Und riesige Möwen saßen auch auf den Podesten, welche die Freitreppe flan kierten. »Nun, wie gefällt dir deine neue Heimat?« riß eine sonore Stimme sie aus ihrem fast fassungslosen Staunen. »Mäd chen, du zitterst ja, hast du das denn nötig? Merke dir ei nes, Senöwe: Wenn ich an deiner Seite bin, brauchst du dich nicht zu fürchten. Und nun komm.« Damit griff er nach ihrer Hand und ließ sie auch nicht los, als sie die breite Freitreppe emporstiegen. Sie sträubte sich auch nicht dagegen, solange sie draußen der Beobachtung ausgesetzt waren. Doch als sie die Halle betraten, die sich prächtig der Außenseite des Schlosses einfügte, begann Senöwe sich gegen die Fessel zu wehren. »Laß jetzt endlich meine Hand los, Rasmus«, sagte sie är
gerlich. »Warum hältst du mich überhaupt so fest?« »Weil ich Angst hatte, daß du noch im letzten Augenblick Reißaus nehmen könntest«, blitzte es in seinen Augen auf, und da mußte sie lachen. »Meinst du, daß ich das nicht auch hier noch kann?« »Nein, hier bist du mir auf Gnade und Ungnade ausgelie fert, mein eigenwilliges Kind. Also sei hübsch lieb und brav. Und nun heiße ich dich als künftige Herrin hier willkom men. Bring uns Bernbruggs die Sonne, Senöwe von Helgen, mehr wird von dir nicht verlangt.« Nachdem er die Hand an die Lippen geführt hatte, ließ er sie endlich los. Verwirrt von all dem Neuen schritt das Mädchen wie willenlos neben der hochgewachsenen Män nergestalt her. Über Teppiche und Mosaikboden, an reich geschnitzten Türen vorbei, bis eine nervige Hand die eine öffnete, hinter der ein hohes, weites Gemach lag, in dem drei Menschen saßen, die den Eintretenden gespannt ent gegensahen. Senöwe hatte das Gefühl, als müßte sie kurz kehrtmachen und davonlaufen, was die Beine nur hergaben. Doch zu spät, schon klang die sonore Stimme auf: »Hier bringe ich euch meine Braut, Fräulein Senöwe von Helgen. Das da sind meine Lieben, kleine Stranddistel, Großmutter und Eltern. Nun tu, wozu Anita dir riet.« Daß der Mann in dieser eisigen Atmosphäre noch scherzen konnte, war Senöwe unverständlich. Ganz langsam, als hätte sie Blei an den Füßen, ging sie auf die Seniorin zu und beugte sich artig über ihre Hand. Desgleichen tat sie bei Gräfin Hortense und begrüßte zuletzt den Grafen, der sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte. Inzwischen war es Senöwe gelungen, sich zu sammeln, und Trotz stieg in ihr auf, von dem sie gewiß nicht wenig besaß. Was fürchtete sie eigentlich? Wenn sie diesen stolzen Men schen nicht zusagte, mochten sie diese ruhig von sich wei sen. Dabei hatte sie keine Ahnung, wie stolz sie selbst dastand,
einen abweisenden Zug in dem hochmütigen Gesichtchen. Etwas Frisches, Reines ging von der Mädchengestalt aus, ihr entströmte das Fluidum von Herbe und Süße zugleich. Und nun sprach die Seniorin der Familie das aus, was auch andere Menschen beim Anblick Senöwe von Helgens emp fanden. »Also tatsächlich eine kleine Stranddistel. Wenn man sie sieht, muß man unwillkürlich an Sonne denken, an Meer und an Wind.« »Und mir drängt sich der Vergleich mit einem Sturmvogel auf«, schmunzelte Graf Magnus. »Komm her, mein Kind, wir beide werden uns bestimmt gut vertragen.« »Na also«, lachte jetzt Rasmus amüsiert auf. »Ihr hättet euch doch denken können, daß ich euch nur etwas bringen werde, was über jede Kritik erhaben ist. Komm, Senöwe, nimm hier Platz, damit wir es auch dürfen. Sonst ist es doch gar zu ungemütlich.« Damit drückte er sie in einen Sessel, der zwischen denen der beiden Damen stand, sein Vater und er nahmen die gegenüberstehenden ein, und schon war die Runde ge schlossen. »Wozu riet Anita der Kleinen denn?« fragte jetzt Hortense gespannt, und lachend gab der Sohn Antwort: »Sie soll bei euch das Knickschen und ihr keine Schande machen.« »Ganz Anita«, schmunzelte der Hausherr. »Wie ist übrigens ihr Mann, Rasmus?« »Meiner Ansicht nach eine Seele von Mensch. Hab ich recht, Senöwe?« »Ja«, leuchtete es in den Mädchenaugen auf. »Onkel Konny muß man liebhaben, ob man will oder nicht. Es war für meinen Vater und mich immer eine große Freude, wenn er zu uns ins Strandhaus kam, und wir waren traurig, wenn er wieder ging. Leider steckte in ihm ein so großer Wander trieb, daß er es nicht länger als einige Wochen an einer Stelle aushielt. Das hat sich jetzt allerdings gewandelt, er ist kaum aus dem Strandhaus herauszukriegen.«
»Kunststück, bei einer Frau wie Anita«, meinte Rasmus trocken. »Bei der kann ein Mann es schon aushalten.« »Will ich meinen«, nickte Hortense. »Schade, daß wir mit dem lieben Menschenkind so auseinanderkommen muß ten. Aber das wird sich ja ändern, nun wir Senöwe als so genannten Mittelsmann haben. Stimmt's?« »Ich weiß nicht, Frau Gräfin.« »Nun, mein Kind, eine solche Fremdheit wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen. Gib uns nur ruhig das trauliche Du, wie es sich gehört. Und nun erzähle uns mal, wie es kommt, daß du so ganz anders bist als die meisten Mädchen deines Alters. Oder magst du das nicht?« »Doch, gern. Daß ich anders bin, liegt wohl daran, daß ich seit meinem achten Jahr keine Gelegenheit hatte, mit Glei chaltrigen zusammen zu kommen. Denn seit der Zeit lebte ich mit meinem Vater im Strandhaus, das sein Onkel, ein uralter Kapitän, ihm vermacht hatte. Ich besuchte nicht einmal eine öffentliche Schule, weil Paps sich nicht von mir trennen und mich nicht in die Stadt geben wollte. So paßte es gut, daß im nächsten Dorf ein alter Gelehrter wohnte, der mich unterrichtete. Und ich habe viel bei ihm gelernt, bin gut durch das Abitur gekommen.« »Und was sagte deine Mutter zu alledem?« fragte jetzt die Seniorin. »Natürlich war sie mit dem allen nicht einverstanden. Wollte mich jedesmal mitnehmen, wenn sie auf Reisen ging; denn sie hielt es nie lange im Strandhaus aus.« »Hattest du denn keine Lust, mit ihr zu gehen?« »Auch nicht die geringste. Ich blieb selbstverständlich bei meinem Paps.« Dieses »selbstverständlich« drückte so viel aus, daß man sofort über die Eltern des Mädchens im Bilde war. »Und was wurde aus dem Haus?« forschte die alte Dame weiter. Da senkte Senöwe den Kopf und entgegnete leise: »Das wurde nach Paps Tod verkauft.« »Armes Kind. Wie lange ist das her?«
»Anderthalb Jahre. Ich konnte es in der Stadt nicht aushal ten, obwohl es mir dort glänzend ging. Es sollte wohl so sein, daß ich zufällig eine Zeitschrift erwischte, die über Onkel Konny berichtete, von dem ich lange nichts mehr gehört hatte. Nun las ich, daß er bei einer Ausstellung für sein Bild den ersten Preis gewonnen hatte und in einem Haus ganz nahe an der Ostsee seßhaft geworden war. Da gab es natürlich für mich kein Halten mehr. Schon am nächsten Morgen fuhr ich zu ihm.« »Mit Erlaubnis der Mutter?« »Ja. Sie rang zwar die Hände, weil ich ihr ganz und gar un verständlich war, aber ließ mich schließlich ziehen. Und dann mein Schreck, als ich Onkel Konnys Frau ken nenlernte!« fuhr sie lachend in ihrer Erzählung fort. »Und zwar geschah es im Dorfkrug, wo ich mich nach dem Weg zum Strandhaus erkundigte. Zufällig befand sich Anita ne benan im Laden. Und wie sie nun einmal ist, benahm sie sich mir gegenüber gleich so, als hätten wir zusammen bereits einen Scheffel Salz verzehrt.« »Also kannte sie dich nicht von früher?« warf Gräfin Hor tense ein. »Nein. Trotzdem wußte sie sofort, wer ich bin, weil mein Steckbrief im Strandhaus hängt, wie sie lachend sagte. Je denfalls führte sie mich Onkel Konny mit Triumph zu – na ja – da war nun die Freude groß.« »Kurz und bündig«, schmunzelte der Hausherr. »Mädchen, wie mir scheint, ist es nicht deine Art, lange zu fackeln.« »Stimmt«, blitzte sie ihn vergnügt an. »Und immer da, wo mein Herz es gebietet. Das zog mich nun einmal zu mei nem guten Onkel Konny, und ich hatte Glück, daß seine Frau, mit der ich ja gar nicht rechnete, ein so liebenswerter Mensch ist. Aber etwas anderes hätte er erst gar nicht gehei ratet.« Alles, was Senöwe sprach, klang einfach, echt und wahr. Man hatte das Gefühl, daß sie sich nie mit Phrasen abgab. Allerdings hätte das zu dieser lichten, kristallklaren Er scheinung auch gar nicht gepaßt. Dazu schien sie über ein
helles Köpfchen zu verfügen, gleichfalls über eine gute Erziehung, aus makelloser Familie stammte sie auch – alles wichtige Punkte für das Familiengesetz. Und dann weiteten sich Senöwes Augen, als die kleine Gabriele auf Krücken nahte, die sie geschickt gebrauchte. Es war für das Mädchen ein so erschütterndes Bild, daß ihm die Tränen in die Augen traten, was von den anderen, die es scharf beobachteten, gar wohl bemerkt wurde. »Ich hörte, daß ihr Besuch habt«, klang nun ein helles Stimmchen auf. »Und den möchte ich mir doch einmal ansehen. Nicht, Onkel Rasmus, laß mich nur gehen«, schob sie ihn von sich, der auf sie zutrat und sie auf die Arme heben wollte. »Was soll die junge Dame von mir denken, wenn ich großes Mädchen mich wie ein Baby tragen lasse. Guten Tag, Fräulein -?« »Du darfst Tante sagen, mein Herzchen.« Hortense zog das Kind liebevoll an sich, während die Lehrerin, die es beglei tet hatte, die Krücken in die Ecke stellte. Sie wurde mit Se nöwe bekannt gemacht} aus der Selbstverständlichkeit, mit der Magda Bergelt in der Runde Platz nahm, konnte Senö we folgern, daß diese zur Familie gerechnet wurde. »Warum darf ich Tante sagen?« forschte Gabriele, die nun auf Hortenses Schoß saß. »Man sagt doch zu fremden Da men nicht Tante.« »Sie ist nicht fremd, Gabylein, sondern die Braut von On kel Rasmus. Weißt du, was das ist?« »O ja, ein Fräulein, das er heiraten wird«, erklärte die Klei ne ernsthaft. »Sie gefällt mir gut. Sie ist so schön wie Dorn röschen in meinem Märchenbuch.« »Ob das nun eine Schmeichelei ist, wollen wir dahinge stellt sein lassen«, lachte der Hausherr gleich den anderen. »Denn die Abbildungen in Märchenbüchern sind mit ro senrotem Pinsel gemalt. Doch nun mußt du Tante Senöwe wohl sagen, wer du bist.« »Senöwe heißt sie? Den Namen habe ich noch nicht ge hört. Aber ich finde ihn schön. Ich heiße Gabriele, gefällt
dir der Name?« »Ja – sehr«, gelang es Senöwe, ihrer Stimme Festigkeit zu geben, denn der Anblick dieses engelschönen Kindes an Krücken hatte sie zu sehr erschüttert. Ob Anita von ihm nichts wußte? Wohl kaum, sonst hätte sie bestimmt davon gesprochen. Senöwe wirbelte es im Kopf von all den Eindrücken, von denen der letzte so traurig war. Wie hilfesuchend sah sie Rasmus an, der diesen Blick sofort verstand und gelassen sagte: »Es wird Zeit für dich, Senöwe, ins Strandhaus zurückzu kehren. Denn so wie ich Anita kenne, wartet sie bestimmt mit dem Mittagessen auf dich.« »Du kommst doch wieder, Tante Senöwe?« fragte das Kind ängstlich, als das junge Mädchen sich von ihm verabschie dete. »Oder darf ich nur Senöwe sagen? Du siehst doch gar nicht wie eine Tante aus.« Da lachte Senöwe hellklingend auf, was die Kleine entzück te. »Lachst du aber lieb. Nicht wahr, du kommst wieder?« »Dafür laß mich nur sorgen, Gabylein«, gab Rasmus Ant wort. »Unsere Senöwe lassen wir nicht mehr los.« »Nein, das tun wir nicht«, bekräftigte das Kind. »Sag mal, Senöwe, kannst du auch Geschichten erzählen?« »Ich glaube nicht, Gabriele. Aber du liest doch sicherlich gern?« »Sogar sehr gern.« »Na siehst du. Meine kleine Schwester…« »Eine kleine Schwester hast du?« fragte die Kleine atemlos dazwischen. »Sag schnell, wie alt sie ist, wie sie heißt und wo sie wohnt.« »Sie ist zehn Jahre alt, heißt Susi und wohnt bei ihren El tern in der Stadt.« »Ist das weit von hier?« »Ungefähr hundertzwanzig Kilometer, wenn dir das ein Begriff ist.« »Ach, so weit«, schob das Kind enttäuscht die Lippe vor.
»Dann kann die Susi wohl gar nicht herkommen?« »Das weiß ich nicht«, wich Senöwe verlegen aus. »Aber sie hat Bücher, die dir bestimmt gefallen werden. Soll sie dir welche davon leihen?« »O ja, das wäre fein. Wann kann ich sie haben?« »Ich werde heute noch deswegen schreiben.« »Dann geh ganz schnell nach Hause.« »Aber Gaby, das ist doch ein Hinauswurf«, rügte Hortense, und da senkte das Kind beschämt das Köpfchen. »So mein' ich das doch nicht.« »Das weiß ich ja«, beschwichtigte Senöwe. »Ich wäre ohne hin gegangen.« Damit verabschiedete sie sich, Rasmus gab ihr das Geleit, und auch die Lehrerin zog sich mit Gabriele zurück, weil der Unterricht begann. Jetzt konnten die drei Zurückblei benden ungehemmt sprechen. »Der Junge scheint mit dieser übereilten Verlobung tatsäch lich Glück gehabt zu haben«, begann Magnus. »Ich glaube, wir können mit dieser Schwiegertochter zufrieden sein, nicht wahr, Hortense?« »Das können wir. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß es eine Scheinverlobung ist.« »Dann soll Rasmus zusehen, daß daraus eine wird, die zur Hochzeit führt«, sagte die Seniorin unwirsch. »So ein dummer Bengel! Anstatt um das Mädchen, das ihm wahr scheinlich auf den ersten Blick gefiel werben wie es üblich ist, überfällt er es wie ein Raubritter im Wald und küßt es – « »Aber Mutter«, blinzelte der Sohn ihr verschmitzt zu. »Er tat doch nur das, was das Lied, welches die entzückende Klei ne freiweg sang, verlangte. Wer weiß, ob ich mit dreißig Jahren nicht genauso gehandelt hätte.« »Und es heute mit deinen siebenundfünfzig nicht auch noch tun würdest«, unterbrach die Mutter ihn trocken. »O ihr Männer! Da hackt eben eine Krähe der anderen die Au gen nicht aus.« »Muttchen, wie kannst du bloß«, lachte die Schwiegertoch
ter herzlich. »Du gehörst gewiß nicht zu den Müttern, die sagen: Mein Sohn, der tut das nicht.« »Werde mich hüten«, zog ein Schmunzeln über das vor nehme Frauenantlitz. »Na, laßt gut sein, Kinder. Vielleicht sollte es so sein, daß der Junge sich zu der Dummheit hin reißen ließ. Soll Senöwe ihn die vorerst mal büßen lassen, das schadet ihm gar nichts. Ausschlaggebend ist, daß die Heirat zustande kommt, mit der Rasmus seinem nichtswürdigen Vetter ein Schnippchen schlägt.« Als Rasmus mit seiner Braut dem Strandhaus zufuhr, sprach er über Gabriele, und nachdem er geendet hatte, sagte Senöwe leise: »Armes Kind. Hoffentlich weiß es nicht, wie schwer sein Leiden ist.« »Nein, dafür ist Gaby wohl noch zu klein. Sie nimmt mit Bestimmtheit an, daß sie noch einmal genauso herums pringen wird wie andere Kinder.« »Kann das möglich sein?« »Das hoffen die beiden Ärzte, Kapazitäten von Ruf, zuver sichtlich. Sie planen sogar eine Operation, doch dafür ist es ihrer Ansicht nach noch zu früh. Jedenfalls soll alles getan werden, was nur in Menschenkräften steht. Und sollte Gab riele eines Tages wieder gehen können, wird uns das der schönste Lohn sein. Aber das liegt ja noch in der Ferne, naheliegender ist, was aus uns wird. Wann wirst du deiner Mutter Kenntnis von unserer Verlobung geben?« »Das weiß ich nicht«, winkte sie kurz ab. »Vorerst will ich damit noch warten.« »So, soo«, dehnte er. »Also war das Versprechen an Gabrie le, ihr von deiner kleinen Schwester Bücher zu besorgen, nichts weiter als eine Phrase.« »Wie kommst du denn darauf?« sah sie ihn groß an. »Mit Phrasen pflege ich mich nun wirklich nicht abzugeben. Zwar entschlüpfte das Versprechen mir spontan, aber was ich verspreche, das halte ich auch.« Darauf sagte er nichts. Senöwe bemerkte nur, wie sich seine
Hände so fest um das Steuerrad legten, daß die Knöchel weiß hervortraten. Scheu streifte ihr Blick sein Gesicht, das sich auffallend verfinstert hatte. Sie war froh, als sie aus steigen und sich von ihm verabschieden konnte. »Darf ich dich morgen wieder abholen?« fragte er kurz. »Wenn du willst – bitte.« »Und wie ich will!« lachte er hart auf. »Bilde dir ja nicht ein, daß du mich noch einmal los wirst.« So rasch griff er nach ihrer Linken, daß sie es nicht verhin dern konnte. Auch nicht, daß er ihr blitzschnell einen schwergoldenen Wappenring auf den Finger schob. »So, mein Kind, diese kleine Fessel war unbedingt notwen dig. Sie wird dich fortan daran erinnern, daß du fest an mich gebunden bist.« Bevor Senöwe etwas erwidern konnte, fuhr der Wagen an, und sie sah ihm verstört nach. Während sie dann Fuß um Fuß setzte wie eine Nachtwandlerin, starrte sie auf den Ring, der ihr entgegenfunkelte. In den gewiß sehr kostba ren Stein war das Wappen der Bernbruggs eingemeißelt, also die fliegende Möwe mit dem Brocken im Schnabel. Winzig kleine Schrift, die man mit bloßem Auge unmög lich entziffern konnte, umlief den Stein, wahrscheinlich handelte es sich um den Wappenspruch, der auch auf der Hausfahne stand. Aber sie wollte den Ring doch gar nicht haben, der sie mit dem Hause Bernbrugg verband. Sie hatte doch nur in eine Scheinverlobung gewilligt. Es war unfair von Rasmus, sie mit dem Ring einfach zu überrumpeln. Ob sie ihn ihm zurückgab? Nein, das wagte sie denn doch nicht. Der Mann hatte zuweilen eine Art, die einen ganz klein werden ließ. Immer noch verstört langte sie im Strandhaus an, wo das Ehepaar auf der Terrasse bei einem kühlen Trunk saß. Beim Anblick des blassen, niedergedrückten Mädchens tauschten sie einen erschrockenen Blick, und dann fragte Anita be hutsam: »Was ist dir geschehen, mein Herz?«
»Da«, zeigte Senöwe erregt auf den Ring. »Den hat er mir kurz und bündig angesteckt, ehe ich es verhindern konnte.« Ein hartes Aufschluchzen, sie sank in den nächsten Korb sessel und weinte bitterlich. Anita erblaßte vor Schreck und sah böse zu dem Gatten hin, der natürlich seelenruhig sein Pfeifchen schmauchte. Am liebsten hätte sie ihm diese aus dem Mund gerissen und ins Meer geworfen, so sehr erboste sie diese verflixte Ruhe. Doch als sie es in seinen Augen humorvoll aufblitzen sah, zeigte sie ihm nur ihre niedliche Faust und wandte sich Senöwe zu, deren Schulter umfas send. »Aber, aber, mein Mädchen, wie kann man nur. Du bist doch sonst so tapfer, läßt dich nicht so leicht erschüttern. Komm, sei lieb. Hör zu weinen auf und sag uns, was dich quält.« Da hob Senöwe den Kopf, wischte energisch die Tränen fort und machte ihrem Herzen Luft: »Unfair ist es von Rasmus, mich so zu überrumpeln und mir den Ring anzustecken, den ich gar nicht haben will. Damit hat der Graf sein Wort gebrochen – jawohl! Denn unsere Verlobung besteht laut Vereinbarung nur zum Schein. Er selbst war es sogar, der mir diesen Vorschlag machte.« »Dann hat er sich jetzt eben anders besonnen«, warf der Maler so gelassen ein, daß Senöwe ihn empört anfunkelte. »Weißt du, was du bist, Onkel Konrad?« »Sei still, Marjellchen, ich will das gar nicht wissen. Beruhi ge dich mal erst, dann sprechen wir weiter.« »Ich will aber nicht still sein, dafür bin ich viel zu empört! Ich werde ihm den Ring vor die Füße werfen!« »Ei du, das riskiere nicht. Ich kenne den Grafen zwar nur wenig, aber so viel immerhin, daß du bei dieser übrigens geschmacklosen Geste den kürzeren ziehen würdest. Also laß den Ring nur am Fingerlein und finde dich mit dem ab, was das Schicksal für dich bestimmte. Gegen diese Allge walt kommst du nicht an, da kannst du dich auch noch so dagegen stemmen.«
»Onkel Konrad, daß ich mich noch einmal so über dich ärgern müßte, hätte ich nie gedacht.« »Ärgere dich nur. Immerhin besser, als wenn du dich zu einer nie wiedergutzumachenden Dummheit hinreißen läßt.« »Und die wäre?« »Indem du dir durch Trotz die einmalige Chance deines Lebens verdirbst. Denn so einen Mann wie den Grafen be kämst du nie wieder, nicht zu reden von seiner Stellung, seinem Reichtum – und seinem Schloß am Meer. Denn nur da kannst du glücklich werden, in der Stadt welkst du klei ne Stranddistel dahin.« »Konny hat recht«, sprach nun auch Anita auf das vertrotzte Mädchen ein. »Schau mal, Senöwe, ich kenne Rasmus von Kindheit an und weiß daher, daß in ihm das ritterliche Blut seiner Ahnen pulst. Er wird seiner Frau, ob er sie da aus Liebe erwählt oder nicht, immer ein guter, rücksichtsvoller Gatte sein. Aber spielen läßt er mit sich natürlich nicht. Und nun sei lieb, kleine Stranddistel, die heute wieder mal erbärmlich spickt. Erzähle uns, wie oben der Empfang war.« »Es ging«, brummte sie, immer noch nicht ganz besänftigt. »Man kam mir freundlich entgegen. Und das Kind – ja, sag mal, Anita, weißt du denn von der kleinen Gabriele nichts?« »Gabriele? Nein, wer ist das?« Als Senöwe es erklärt hatte, nickte die andere so recht zu frieden. »Schon daraus ersiehst du Dummchen, was für gute, hilfs bereite Menschen die Bernbruggs sind. Du müßtest stolz darauf sein, dich zu ihnen zählen zu dürfen.« »Ich werde mich unter ihnen nicht behaupten können, glaubt es mir doch! Sie sind alle so vornehm, so be herrscht. Und dann die ganze Umgebung. Nie könnte ich mich in solcher Pracht wohl fühlen. Ich bin dafür eben nicht ge schaffen.«
»Und wie du dafür geschaffen bist, du kleines Schaf«, ver setzte Anita trocken. »Das weißt du bloß noch nicht. Du kommst doch aus einer komfortablen Villa, in der du dich nur nicht wohlfühltest, weil sie nicht am Meer lag, Strand distelchen.« »Ach, darin war doch alles so anders, ich weiß nur nicht, wie ich das erklären soll. Na, ist ja egal.« Es klang so kläglich, daß das Ehepaar amüsiert lachte, wo rüber Senöwe sich wieder ärgerte. »Ihr habt gut lachen, die ihr hier so pomadig in eurem Glück sitzt. Wie beneide ich euch bloß!« »Also ganz tiefer Weltschmerz«, schmunzelte Konrad. »Wird schon bald abflauen, Marjellchen, und dann wirst du dich selbst auslachen.« »Wäre gut«, brummte sie. »Aber noch ist es nicht soweit. Erst möchte ich mich einmal ohrfeigen, daß ich Gabriele versprach, ihr Bücher zu besorgen.« »Da ging eben dein gutes Herzchen mit dir durch«, strei chelte Anita das flimmernde Köpfchen, das heute so traurig herunterhing. »Du wolltest diesem bedauernswerten Kind eben etwas Gutes tun. Wie wirst du die Bücher herbekom men?« »Ich werde schreiben«, kam die Antwort verdrießlich. »Und in dem Brief gleich deine Verlobung bekanntgeben«, riet Konrad, doch da fuhr sie hoch. »Auf keinen Fall! Dann hätten wir bald die gesamte Familie Neubeck hier, und das darf nicht geschehen, die Bern bruggs dürfen nicht belästigt werden. Ich wende mich an die Hausdame und bitte sie, die Bücher für ein Mädchen zu schicken, das gern liest. Das kann sie ohne weiteres, da sie ja doch nur unbeachtet herumliegen. Denn Susi hat dafür keinen Sinn, die interessiert sich nur für Putz und Tand.« »Wie die Alten sungen«, bemerkte Konrad trocken. »Und nun lach wieder, Marjellchen, du hast allen Grund dazu. Wie sagt Moliere: Schlag mich lieber, aber laßt mich la chen.« Da lachte Senöwe wirklich, und das Ehepaar, dem dieses
Mädchen so fest ans Herz gewachsen war, atmete erleich tert auf. Die Verlobung des Grafen Bernbrugg mit Senöwe von Hel gen war eine Sensation, wie die Leutchen so zwanzig Kilo meter im Umkreis sie seit der Affäre in Schloß Möwen schon nicht mehr gehabt hatten. An Stammtischen, auf Damenkaffees, in Dorfkrügen, Hütten, Villen und auf Gü tern wurde herumgerätselt, was für ein Mädchen es wohl sein mochte, das den ehescheuen Grafen betört hatte. Nun, die Menschen in der engeren Umgebung wußten es. Daher auch der Kuß im Wald – o ja, der war nun Wohl verständlich. Doch unverständlich war Senöwe der Briet, den sie zehn Tage nach der Verlobung erhielt. Und was sie da las, war eine einzige Verleumdung des jungen Grafen Bernbrugg. Und zum Schluß der gute Rat, ihn um Gottes willen nicht zu heiraten, wenn ihr das Leben lieb wäre. Unterschrieben war der üble Wisch selbstverständlich nicht mit einem Namen, sondern mit dem feigen: Jemand, der es gut mit Ihnen meint. »Na, so ein Lumpenkerl!« sagte Anita empört, nachdem sie gleich dem Gatten das Geschmiersel gelesen hatte. »Wer mag das bloß sein? Vielleicht wissen es die Bernbruggs.« »Das ist möglich«, nickte Konrad. »Da tut Senöwe gut, wenn sie sofort nach Möwen fährt und dort den Wisch vorzeigt, der ja jeder Beschreibung spottet.« So machte Senöwe sich auf den Weg, fand im Schloß je doch nur die Großmutter vor. Rasmus war mit den Eltern zur Stadt gefahren, und Gabriele hatte Unterricht. Schweigend legte Senöwe den Brief vor, den die alte Dame gründlich las und dann kurz auflachte. »Das habe ich kommen sehen. Na, so ein gemeiner Schuft!« »Kennst du ihn denn, Großmama?« »Und ob! Das kann kein anderer sein, als dieser nichtswür dige Kainz. Und nun paß mal auf, mein Kind, was ich dir eröffnen werde.«
Je länger sie sprach, um so blasser wurde Senöwe. Und als der Bericht beendet war, zitterte sie so vor Erregung, daß sie zuerst gar nicht sprechen konnte. Und als sie es dann tat, klang die Stimme heiser. »So würde, falls Rasmus ledig bleibt, Möwen an diesen üblen Menschen fallen?« »Ganz recht. Aber das liegt noch in weiter Ferne, denn wir wollen nicht annehmen, daß unser kerngesunder Junge uns durch den Tod entrissen wird. Zuerst kommt einmal das reiche Erbe der Tante, das dieser Lump erhält, wenn Ras mus nicht am Stichtag verheiratet ist.« »Und wann ist dieser Stichtag?« »In ungefähr acht Wochen. Willst du nun dazu beitragen, mein Kind, daß das Gute über das Schlechte den Sieg da vonträgt?« »Und wie ich das will!« blitzte es in den blauen Mädchen augen kampfbereit auf. »Aber genügt meine Abstammung, damit dieser üble Mensch in dieser Beziehung Rasmus nichts anhaben kann? Was verlangt das Familiengesetz?« »Makellose Vergangenheit des Mädchens und einen makel losen Namen. Und da Rasmus' erste Braut nicht makellos war, was er allerdings erst nach der Verlobung erfuhr, muß te diese eben gelöst werden.« »Und von wem erfuhr Rasmus das?« »Von Kainz, diesem routinierten Schnüffler, der ausnahm sweise mal die Wahrheit sprach, wie gründliche Nachfor schungen ergaben.« »Na, meinetwegen mag der Bursche in meiner Familie und deren Vorfahren schnüffeln nach Herzenslust, was er übri gens bereits getan haben dürfte, sonst hätte er Rasmus schon längst vor seiner zweiten Braut gewarnt.« In dem Moment trat Rasmus mit den Eltern ein, die sofort merkten, daß etwas nicht in Ordnung war. Schon allein deshalb, weil Senöwe ohne den Verlobten nach Möwen kam. Sonst holte er sie immer ab und brachte sie auch wie der zum Strandhaus zurück. Und obwohl das nun bereits zehn Tage geschah, war es den
Bernbruggs noch nicht gelungen, Senöwe aus ihrer Zurück haltung herauszulocken, wenngleich sie sich auch zwang los gab. Selbst Gabriele gegenüber ging sie nie aus einer bestimmten Reserve heraus. Ehe man jetzt eine Frage stellen konnte, reichte die Groß mutter dem Enkel den Brief, den er mit verfinsterter Miene las und ihn an die Eltern weitergab. Und dann war es Mag nus, der zuerst seiner Empörung Luft machte: »Na, so ein Schuft! Da hat er doch wieder in seiner gemei nen Art herumgeschnüffelt. Wahrscheinlich fiebert er direkt nach Tante Thusneldas Erbe. Kein Wunder, da ihm das Messer sozusagen am Halse sitzt, diesem üblen Schulden macher. Kinder, tut mir den einzigen Gefallen und heiratet bald, damit wir endlich mal vor diesem Schnüffler und Wühler Ruhe bekommen.« Nach diesen geharnischten Worten war es erst einmal be klemmend still. Aller Augen hingen an Senöwe, auf deren feinem Antlitz die Farbe kam und ging. Man sah es direkt, daß da ein harter Kampf gekämpft wurde – und wartete nun bangklopfenden Herzens auf den Entscheid. Von ihm hing ja so viel ab, wenn nicht alles. Denn löste Senöwe die Verlobung, wozu sie laut Vereinbarung ein Recht besaß, war es Rasmus wohl kaum möglich, in acht Wochen ein Mädchen zu finden und zu heiraten. Soweit waren die vier Menschen mit ihren sorgenden Ge danken gekommen, da hob Senöwe ruckartig den Kopf. Die Augen fest auf den Verlobten gerichtet, der wie die an deren vor Spannung den Atem anhielt, sagte sie knapp und klar: »Wenn es dir recht ist, Rasmus, kannst du das Aufgebot bestellen. Ich händige dir dazu noch heute meine Papiere aus.« Nach diesen schwerwiegenden Worten war es wieder so still, daß einer des anderen gepreßte Atemzüge hörte. Doch dann packte Magnus das Mädchen in den sonnenhellen Schopf und zog es so zu sich heran. »Komm her, dafür muß ich dir einen Kuß geben!« lärmte er
über seine Rührung hinweg. »Und in Gold faß ich dich außerdem, du Mordsmarjellchen! Schampus her, mein Sohn, damit eure richtige Verlobung gebührend begossen werden kann. Doch halt, noch nicht, dabei dürfen Anita und ihr Mann nicht fehlen. Denn mir schwant so, daß sie nicht ganz schuldlos an dem schneidigen Entschluß unserer kleinen Stranddistel sind, stimmt's?« »Ja«, gab sie lachend zu. »Sie haben mir gerade genug ins Gewissen geredet. Anita mit anschaulicher Dringlichkeit, Onkel Konny auf seine trockene, pomadige Art. Doch ausschlaggebend war wohl, was vorhin Großmama sagte«, setzte sie leise hinzu. »Nämlich: Daß das Gute über das Schlechte den Sieg davontragen muß.« »Na also«, schmunzelte Magnus. »Da hat unsere verehrte Seniorin wieder einmal das rechte Wort zur rechten Zeit gefunden. Und nun werde ich das Ehepaar Hövemann tele fonisch herbitten. Sag dem Chauffeur Bescheid, Rasmus, daß er es abholt.« »Darf ich da mitfahren?« bat Senöwe. »Denn meinen po madigen Onkel Konny muß man immer erst aus seinen vier Wänden triezen«, setzte sie lachend hinzu. »Na wenn's so ist, dann hopp!« ermunterte der Schwieger vater. »Aber bleibt nicht zu lange aus.« Es dauerte dann aber doch eine Weile, bis die Erwarteten endlich eintrafen. Sie fanden außer den Bernbruggs die gesamte Familie Körtlitz vor. Man hatte nicht umhin kön nen, auch diese guten, treuen Menschen an der improvi sierten Feier teilnehmen zu lassen und sie fernmündlich hergebeten. Nun saß es da, das kreuzfidele Ehepaar, dem die Gemüt lichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. Er, ein gutmüti ger, tapsiger Hüne, sie, mittelgroß und mollig mit einem lieben Gesicht und lustigen Augen. Die Söhne schlugen dem Vater nach, und die Schwiegertochter paßte mit ihrer vollschlanken Figur und dem frohen Naturell vorzüglich in die Familie.
»Seid mir gegrüßt, ihr trauten Gäste«, brummte Körtlitz mit seinem Baß den Eintretenden entgegen, dabei das Sektglas schwenkend. Dann erhob er sich gleich den anderen Her ren und zwinkerte Anita zu. »Mädchen, du wärst ja schon immer ein Bild von einem Frauenzimmerchen, aber die Ehe hat dich doch bedeutend verschönt.« »Was deine gut dreißigjährige immer noch nicht zuwege brachte«, kam es schlagfertig zurück, und somit hatte Anita die Lacher auf ihrer Seite. Sie begrüßte nun auch die ande ren, die ihr bis auf die junge Frau Körtlitz, die Lehrerin und Gabriele schon längst bekannt waren, und die Be kanntschaft mit den übrigen war rasch vermittelt. Der Maler mußte ja, außer Rasmus, allen vorgestellt wer den, und Senöwe nur Familie Körtlitz. Als sie die rundliche Dame artig begrüßte, zog diese das Mädchen einfach in die Arme und küßte es herzlich. »Da hat sich der Rasmus aber mal was ganz Trautes ausge sucht«, sagte sie entzückt und sah dann verblüfft den Gat ten an, der schmunzelnd bemerkte: »Und großzügig ist sie erst, Muttchen. Sie streut nicht wie das Gretel im Märchen Brotsamen auf den Weg, sondern gleich ganze Brötchen.« Auf die vielen fragenden Augen hin gab er die niedliche Episode zum besten und lachte dann mit den anderen in seinem dröhnenden Baß. Indes hatte man in der Runde Platz genommen und sah nun auf Gabriele, die geschickt von Sessel zu Sessel hüpfte und dann vor Hövemann stehen blieb. »Du bist der Onkel Konny, nicht wahr?« fragte sie zutrau lich. »Du gefällst mir doch so gut. Hast so schöne verknit terte Augen, wenn du lachst.« Damit meinte sie die Fältchen und konnte gar nicht verste hen, warum so große Heiterkeit ausbrach, in die der Haus herr hineinrief: »Die Komplimente unserer Gaby sind immer recht zweifel haft, aber gut gemeint.«
»Na was denn sonst«, entgegnete die Kleine ernsthaft. »Et was Schlechtes sag ich nicht, das denk ich mir bloß. Sag mal, Onkel Konny, Senöwe sagt, daß du so schön malen kannst. Malst du mich auch?« »Mit dem größten Vergnügen, Tausendschönchen.« »Wie lieb«, klatschte das Kind entzückt in die Händchen. »So will ich jetzt immer heißen. Nun heb mich auf den Schoß, ich kann nicht mehr stehen.« Es bereitete den anderen ein spitzbübisches Vergnügen, mitanzusehen, welche Anstrengung es den Mann kostete, das zierliche Persönchen auf den Schoß zu heben. Und als das schwere Werk geschafft, standen ihm tatsächlich Schweißtropfen auf der Stirn. »Onkel Konny, du bist aus der Übung gekommen!« rief Senöwe lachend zu ihm hinüber. »Mich hast du als Kind mit kühnem Schwung hochgehoben.« »Das konnte man bei dir handfestem Persönchen auch herzhafter tun, als bei so einem zarten Sylphidchen. Sitzt du auch gut, mein Kind?« »Ja, Onkel Konny, sehr gut. Du hast Hände wie Samt. War Senöwe als Kind artig?« »Ja – wenn sie nicht gerade ihren Trotzkopf aufsetzte.« »Bekam sie dann Haue?« »Aber wer wird denn kleine Mädchen hauen.« »Meine Stiefmama«, erklärte das Kind eifrig. »Die schlug mich oft, wenn sie weinte, weil mir das Bein weh tat.« »Das muß ja eine schöne Bestie gewesen sein«, murmelte Konrad, was das Kind jedoch nicht verstand. Im es von dem traurigen Gespräch abzulenken, sagte Körtlitz senior etwas Lustiges, und da lachte die Kleine schon wieder. Es gab in den nächsten Stunden noch viel zu lachen. Und als Familie Körtlitz sich am Spätabend verabschiedete, hat te sie insgesamt ein wenig Schlagseite. »Das hat mal wieder gutgetan«, sagte der Hausherr behag lich. »Es sind doch zu liebe Menschen, die Körtlitz'. Die können einen Griesgram zum Lachen bringen. Was ist, Anita, willst du etwa schon gehen?«
»Ich meine, Zeit dafür ist es reichlich, Onkelchen.« »Ach was, sei kein Spielverderber. Trink lieber noch ein Gläschen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.« Also blieb man, doch das Gespräch war nicht mehr so fi del. Es wurde sogar ernst, als die Seniorin fragte, ob Senö wes Mutter überhaupt schon von der Verlobung ihrer Toch ter wüßte. »Nein«, kam die Antwort einsilbig. »Und warum nicht?« »Bitte, Großmama, ich möchte darüber nicht sprechen.« »So werde ich es tun«, sagte Anita entschieden. »Senöwe fürchtet nämlich, daß dann die gesamte Familie Neubeck hier anrückt. Die besteht immerhin aus fünf Köpfen. Und diese Köpfe gehören Stadtmenschen, die zwischen alter, hochgehaltener Tradition bestimmt fehl am Platze sind.« »Vorsichtig ausgedrückt«, lächelte Hortense. »Und doch müssen wir sie ertragen, weil es Senöwes Angehörige sind. Wenn wir uns alle zusammentun, werden wir es schon schaffen, zumal solche Menschen es nie lange auf dem Lande aushalten. Sofern der Reiz der Neuheit vorüber ist, wenden sie sich gelangweilt ab und streben ungeduldig dem quirlenden, pulsierenden Leben der Großstadt zu.« »Ich will sie aber hier nicht haben«, sagte Senöwe, nun schon den Tränen nahe, und da griff der gute Onkel Konny ein. »Wir wollen sie jetzt nicht länger quälen. Es wird sich schon ein Ausweg finden lassen.« »Den ich bereits habe«, schaltete sich Rasmus ein. »Ich fah re mit Senöwe zur Villa Neubeck und mache dort meinen Antrittsbesuch. Ich glaube nicht, daß man mich hinauswer fen wird.« »Sie bestimmt nicht«, lächelte der Maler ironisch. »Sie sind ja schließlich eine Persönlichkeit, mit der man prunken kann. Zieh nicht die Stirn kraus, Senöwe. Ich kenne deine Mutter persönlich und deren Familie durch deine anschau lichen Schilderungen, da darf ich mir schon ein Urteil er lauben. Man soll eine Angelegenheit nicht verschleiern,
sondern sie klar beleuchten. Sonst gibt es Mißverständnis se, die nur Verwirrung schaffen. Bedenke, daß dein Vater genauso sprechen würde wie ich. Und vergiß nie, daß ich dich als sein Vermächtnis liebe und ehre.« Da senkte sich der gleitende Mädchenkopf, und eine Träne sprang glitzernd auf die verkrampften Hände. Anita stand auf und sagte gemacht lustig: »Jetzt aber husch husch ins Korbchen. Werden wir leben, werden wir sehen.« Von einem ungewohnten Geräusch aus dem Schlaf ge schreckt, warf Senöwe sich herum, blinzelte ins Licht und erblickte Anita, die lachend vor ihrem Bett stand. »Heraus aus den Federn, du Faulpelz! Schläfst hier, als gin ge dich die ganze Welt nichts an. Und dabei hat dein Herr Bräutigam schon gute Arbeit geleistet. Hat dank der Papie re, die du ihm gestern zustecktest, bereits das Aufgebot be stellt, wie er telefonisch kundtat. In einer Stunde ist er hier, um mit dir zu deiner Mutter zu fahren. Also erhebe dich schleunigst aus deinem weichen Pfühl!« »Ich fahre nicht mit«, bockte Senöwe, und da wurde Anita ärgerlich. »Mach gefälligst keine Mätzchen, verstehst du?! Mach doch dem Mann das Leben nicht unnötig schwer. Der hat weiß Gott Unerfreuliches genug hinter sich.« »Du bist ein Scheusal, Anita!« »Ein Dito, mein Herzchen. Nun hopp raus und rein ins Wasser. Das wird dir bestimmt einen klaren Kopf schaffen. Laß uns nicht zu lange mit dem Frühstück warten. Du weißt, daß Konny morgens immer sehr hungrig ist.« Hinaus war sie, und Senöwe erhob sich mißmutig. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, daß man sie andauernd zu etwas zwang, das ihr absolut nicht zusagte. Warum der überstürz te Besuch bei ihrer Mutter? Der hatte doch wirklich noch Zeit. Das sagte sie auch, als sie später am Frühstückstisch er schien, anzuschauen wie der taufrische Sommermorgen persönlich. Nur das mißmutige Gesicht wollte nicht zu der
lichten Erscheinung passen. »Nun sei friedlich, und verdirb uns mit deiner griesgrämi gen Miene das Frühstück nicht«, wurde Anita energisch. »Etwas Notwendiges, und wenn es noch so unerquicklich ist, soll man nicht auf die lange Bank schieben, sondern es beherzt hinter sich bringen. Wenn du das geschafft hast, wirst du mir bestimmt recht geben und nicht länger mau len.« »Bist du nun fertig mit deinem Sermon?« »Kommt ganz darauf an, wie du dich benimmst, du stache lige Distel. Lieber Gott, wenn ich dich doch erst unter der Haube hätte!« So komisch verzweifelt klang es, daß Senöwe hell heraus lachte, vergnügt fiel Anita ein, und dann gab es doch noch ein behagliches Frühstück. Man war gerade fertig, als Rasmus in Erscheinung trat. For schend sah er die Braut an. »Bist du zu der notwendigen Fahrt bereit, Senöwe?« »Dafür hat Anita schon gesorgt«, versetzte sie trocken. »Die Standpauke, die sie mir hielt, war wirklich nicht so ohne.« »Aber notwendig. Jetzt plage dich mit ihr weiter ab, Ras mus.« »Soll geschehen«, entgegnete er lachend. »Doch meine Ge duld ist langmütig.« »Und durchaus erforderlich. Nimm sie hin, und bringe sie mir bei besserer Laune zurück. Hier hast du den Mantel, da die Handtasche – und nun ahoi!« »Vergiß bloß nicht drei Kreuze hinter mir herzumachen«, spottete Senöwe, drückte jedoch dabei einen Kuß auf die Wange der jungen Frau, einen zweiten auf die des schmun zelnden Konrad, dann ging das Paar davon, dem Auto zu, das vor der Garage stand. Man nahm Platz, und die Fahrt begann, vor der Senöwe sich direkt graulte. Das heißt, vor der Fahrt selbst nicht, die war sogar schön. Die Sonne lachte vom blauen Himmel, und da Senöwe nie lange mißmutig sein konnte, lachte sie bald mit. Entzückend war sie anzuschauen in ihrer lichten Schön
heit. Die Augen leuchteten wie Saphire. Das unbedeckte Haar, von einem Seidenband zusammengehalten, das auf dem Scheitel zur Schleife geknotet war, umbauschte bei dem sachten Luftzug das feine Gesichtchen. Über dem Sommerkleid trug sie einen leichten Seidenmantel von ausgesuchter Eleganz. Die Beine, die sie von sich gestreckt hielt, waren schlank, die hellfarbenen Sandaletten zierlich. Alles in allem machte sie einen vornehmen Eindruck. Dazu ihre köstliche Schönheit – nun, ein so holdseliges Men schenkind bekam man bestimmt nicht alle Tage zu sehen. Und der Mann? Der wirkte immer distinguiert, ob er den Straßenanzug, den Frack oder den Reitdreß trug. Wahrlich ein junges Paar, an dem selbst der liebe Herrgott seine Freude haben mußte. Jetzt wandte sich der rassige Männerkopf seiner Begleiterin zu, und ein Lächeln umzuckte den hartgeschnittenen Mund. »Nun, mein Mädchen, ist es schön so?« »Was die Fahrt betrifft, sogar sehr schön. Aber was an schließend kommt, wird alles andere als schön sein.« »Aber notwendig, Senöwe. Vielleicht hätten wir deine Mut ter doch erst schriftlich von deiner Verlobung in Kenntnis setzen sollen. Was wird sie sagen, wenn du so mir nichts, dir nichts gleich mit einem Bräutigam anrückst? Wird sie nicht sehr überrascht sein?« »Zuerst natürlich. Doch sie wird sich rasch fangen und sich über den Schwiegersohn freuen, mit dem sie in der Gesell schaft prunken kann. Klingt doch auch wirklich gut, dieses: Mein Schwiegersohn, der Graf Bernbrugg auf Möwen.« »Du hast doch ein verflixt flinkes Zünglein«, lachte er amü siert. »Das werde ich dir wohl nach und nach stutzen müs sen.« »Wird dir wohl kaum gelingen; denn Disteln spicken nun mal. Außerdem steht die Stranddistel unter Naturschutz, das laß dir nur gesagt sein.« »Sei du da nur nicht so sicher«, blitzte er sie an. »Gerade so ein Verbot verleitet zur Übertretung.«
»Aber nur bei Dieben.« »Hm – davon gibt es verschiedene.« Ein Lächeln zuckte ihm um Augen und Lippen. »Zum Beispiel – Herzensdie be.« Mit spitzbübischem Vergnügen bemerkte er, wie heiße Röte das Mädchengesicht überflutete. Doch dann war das Züng lein schon wieder klar zum Gefecht. »Ich glaube, Herr Graf, Sie benehmen sich.« »Warum denn?« tat er harmlos. »Seit gestern sind wir doch ganz richtig verlobt. Da steht doch dem Bräutigam sogar ein Kuß zu.« »Also Rasmus, wenn du jetzt nicht vernünftig bist, dann – dann – « »Na was – dann?« »Dann – dann – gebe ich dir den Ring zurück.« »Wie theatralisch. Aber beruhige dich, mein eigenwilliges Kind, ich werde mir niemals etwas nehmen, das mir nicht freiwillig gegeben wird.« Es war so schroff gesagt, daß Senöwe betroffen schwieg. Scheu sah sie in das stolzgeschnittene Antlitz, um dessen Mund ein verbissener Zug lag. Anita hatte recht, mit diesem Mann durfte man nicht spielen, noch nicht einmal im Scherz. Ein Angstgefühl stieg in ihr hoch, das ihr die Kehle eng machte. Wie würde sie sich diesem ungewöhnlichen Mann gegenüber nur behaupten können – und sie hatte sich ge stern unlösbar an ihn gebunden. Aber konnte sie anders handeln? Nein, gewiß nicht. Sie sah jetzt noch die bekümmerten Mienen der Großmutter und der Schwiegereltern vor sich – und das blasse, wie verstei nerte Gesicht des Verlobten. Wo hätte sie da wohl den Mut herbekommen sollen, kaltblütig zu eröffnen, daß sie ihnen leider nicht helfen könne. Hätte sie dann noch jemals Ruhe vor ihrem Gewissen gehabt? Nein – und nochmals nein! Denn in ihre Hand war es gegeben, die Menschen von ei ner drückenden Sorgenlast zu befreien, und vor allen Din gen einem minderwertigen Menschen das schmutzige
Handwerk zu legen. Sie sah direkt seine gierigen Hände,
die sich nach dem reichen Erben ausstreckten.
Und was hätten Anita und Onkel Konny wohl dazu gesagt,
wenn sie ihnen eröffnet, daß sie den Bernbruggs ihre Hilfe
versagt und sie somit kaltlächelnd ihrem Schicksal über ließ? Die beiden Menschen hätten sie gewiß verachtet –
und unter den Umständen hätte sie nicht länger bei ihnen
bleiben können. Hätte entweder in die Villa Neubeck zu rückkehren oder sich eine Arbeit suchen müssen.
Und was für eine? Zur Bürokraft fehlte ihr die Ausbildung,
selbst im Hauswesen wurde eine solche verlangt.
Also hatte sie eigentlich sich selbst den größten Gefallen
getan, als sie sich gestern zu dem bedeutsamen Schritt ent schied und somit für ein behütetes, sorgenfreies Leben. Da
brauchte sie sich gar nicht so aufzuspielen, als hätte sie wer
weiß was für ein Opfer gebracht.
Und mit dem Mann würde sie schon irgendwie fertig wer den. Zwar würde es schwierig sein, aber es mußte einfach
gehen!
Mit diesem Schlußstrich warf sie kampfesmutig den Kopf
zurück, und schon hörte sie neben sich die sonore Stimme:
»Nanu, du läßt ja dein Köpfchen spielen wie ein unwilliges
Schlittenpferd. Was paßt dir jetzt so alles nicht, hm?«
»Das möchte ich lieber für mich behalten.«
»Ist auch besser«, kam es gelassen zurück. »Wie sagt Freilig rath meinem Gedicht: >Und hüte deine Zunge wohl, bald
ist ein böses Wort gesagt. O Gott, es war nicht bös gemeint,
der andre aber geht und klagt<.«
Da senkte Senöwe beschämt den Kopf. Es kam ihr sehr
gelegen, daß sie in eine Stadt einfuhren und Rasmus scharf
aufpassen mußte. Und als sie wieder freie Fahrt hatten,
sagte er mit einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett:
»Noch eine halbe Stunde, dann dürften wir unser Ziel er reicht haben.
Also ungefähr um zwölf Uhr. Wird deine Mutter dann
schon zu sprechen sein?«
»Das schon. Hoffentlich ist kein Besuch da.«
»Nanu, bist du etwa menschenscheu?« »Nein. Aber das würde unsere Angelegenheit hinausschie ben, und ich möchte heute noch nach Hause zurück.« »Nach Hause – «, dehnte er. »Sollte das für ein junges Mäd chen nicht bei der Mutter sein?« »Wenn ich mit ihr allein wohnen würde – vielleicht. Aber all die anderen, die jetzt zu ihr gehören, sind mir so we sensfremd – überhaupt alles ist mir in dem Hause fremd, obwohl ich ein Jahr darin lebte. Du wirst ja meine Stief schwester Charlott kennenlernen und dann feststellen können, daß diese viel mehr die leibliche Tochter meiner Mutter sein könnte als ich.« »Armes Kind. Na, laß nur. Du wirst ja jetzt bald ein Zuhau se haben und zu Menschen gehören, die alles tun werden, um es dir zum wahren Zuhause zu machen. Schon allein deshalb, weil sie dir zu danken haben, daß du unter Ver leugnung deiner selbst so tapfer für sie eintrittst.« »Bitte nicht«, unterbrach sie ihn hastig, wobei ihr die Röte der Beschämung ins Gesicht flutete. Doch tapfer sprach sie weiter: »Sag das nicht wieder, Rasmus, wenn ich mich nicht schä men soll. Wenn ich nämlich das richtig beleuchte, wofür ihr mir danken wollt, muß ich eingestehen, daß ich mir damit selbst den größten Gefallen tat.« »Wie soll ich das verstehen?« »Nun, erstens hätte mich mein Gewissen geplagt, Höve manns hätten mich verachtet, und ich hätte von ihnen ge hen müssen in eine ungewisse Zukunft hinein.« Der flimmernde Mädchenkopf senkte sich, und zart fuhr die Männerhand darüber hin. Die Stimme klang nicht ganz klar, die nun sprach: »Wahrlich, Senöwe, nicht viele Mädchen hätten das so tap fer eingestanden. Ich danke dir.« Behutsam wurde ihre Hand ergriffen, an die Lippen ge drückt und wieder in den Schoß zurückgelegt. Doch dann hob sich der Kopf, und die blauen Augen sahen den Mann bittend an.
»Rasmus, was ich dir jetzt sagen werde, fall es nicht falsch auf, es würde bestimmt zu Mißverständnissen führen…« »Sprich nur, Senöwe, was ist's?« »Rasmus«, begann sie in fliegender Hast, dabei seinen Arm mit der bebenden Linken umfassend. »Sprich in der Villa nicht von früher, nein? Schau mal, sie kennen dich doch gar nicht und könnten etwas sagen, das dich – kränkt.« Jetzt mußte sie die Augen schließen unter dem blauen, blitzenden Strahl, der sie aus den Männeraugen traf. Ermat tet legte sie sich im Polster zurück und hörte dann eine leise Stimme, ganz zärtlich, ganz weich: »Nein, du kleine Stranddistel mit dem weichen Herzchen, ich werde nichts sagen, was du nicht willst.« »Danke, jetzt ist mir wohler.« »Kann ich gar nicht finden, ganz blaß bist du geworden. Wie der Besuch auch ausfallen mag, du hast niemand und nichts zu fürchten, wenn du mich an deiner Seite hast, Se nöwe, das habe ich dir ja schon einmal gesagt. Lach dich nur unbekümmert durchs Leben und überlaß alle Schwie rigkeiten mir.« »Ach, Rasmus, ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?« »Nein, du mußt nur dazu beitragen, daß es wahr wird.« Es war ihr nur recht, daß sie darauf nicht zu antworten brauchte, weil der Verkehr kurz vor der Stadt sehr rege wurde. Da durfte der Mann am Steuer nicht abgelenkt wer den. Frau Irina war natürlich höchst überrascht, als die Tochter so plötzlich vor ihr stand. »Senöwe, wo kommst du denn her?« schlug sie die Hände zusammen. »Und einen fremden Herrn bringst du gleich bis in mein Wohnzimmer? Kind, das ist doch unschick lich.« »Graf Bernbrugg ist nicht fremd, Mama, er ist mein Verlob ter.« Daß die Frau nach dieser Eröffnung zuerst einmal fassungs los war, konnte man ihr schließlich nicht verdenken. Nicht gerade geistreich starrte sie auf den Mann, der nur mit Mü
he ein amüsiertes Lachen unterdrücken konnte. Doch Se nöwe, die konnte es sich schon erlauben, hell herauszula chen. »Aber Mama, so komm doch endlich zu dir. Einmal muß ich dir doch einen Schwiegersohn bringen.« »Das schon«, kam die Antwort kläglich. »Aber damit darfst du mich doch nicht so überrumpeln, du böses Mädchen. Entschuldigen Sie meine augenblickliche Fassungslosigkeit, Herr – wie war doch der Name?« »Grat Bernbrugg auf Möwen, Mama.« »Ah so – sehr angenehm. Sie sind mir natürlich willkom men, Herr Graf. Aber nehmen Sie doch bitte Platz.« Und dann ging die Fragerei los. Nicht plump und gera deaus, versteht sich, sondern hübsch diskret, worin diese Weltdame ja Routine besaß. Und während Senöwe Antwort gab, natürlich so, wie sie es für angebracht hielt, betrachtete Rasmus seine Schwieger mutter mit stillem Ergötzen. Genauso hatte er sie sich vor gestellt. Und dann wirbelte ein niedliches Etwas ins Zimmer, das ihm als Tochter des Hauses vorgestellt wurde. Senöwe hat recht, dachte der Mann. Dieses brünette, zierli che Persönchen könnte eher die Tochter der mondänen Dame sein als diese rankgewachsene, sonnenhelle Schön heit mit den leuchtenden Blauaugen. »Denk dir mal, mein Liebes«, erklärte die Frau Mama, »Graf Bernbrugg ist Senöwes Verlobter.« Zuerst behielt die Kleine das Mäulchen offen, doch dann sprudelte es über: »Aber das ist ja todschick. Da werden die heute abend Au gen machen. Ihr kommt gerade zurecht, denn wir geben ein Gartenfest. Aber du hast dazu ja gar kein Kleid, und mein Schwager«, setzte sie wichtig hinzu, »hat auch nichts anzuziehen.« »Na sind wir etwa nicht angezogen?« versetzte Senöwe trocken, die es um Nase und Mund des Verlobten verdäch tig zucken sah.
»Das schon, aber nicht einem Gartenfest angepaßt, nicht wahr, Mama?« »Natürlich, mein Kleines. Kinder, hättet ihr euch nicht vor her anmelden können? Ich weiß jetzt vor Aufregung nicht, wo mir der Kopf steht.« »Dann rege dich ab, Mama. Wir sind nur auf Stippvisite hier.« »Waaaas? Aber Kind, du scherzest wohl. Du darfst jetzt überhaupt nicht fort, weil wir für deine Aussteuer sorgen müssen. Wann soll denn die Hochzeit sein?« »In knapp drei Wochen.« »Ach du großer Gott – warum denn so überstürzt?« »Weil mein Verlobter in spätestens acht Wochen verheiratet sein muß. Es geht nämlich um eine Erbschaft, die er sonst verliert.« »Ach so ist das«, atmete die Dame hörbar auf. »Dann aller dings, Geld verliert keiner gern. Aber wie sollen wir so rasch mit deiner Aussteuer fertig werden? Und dann mit den Vorbereitungen zur Hochzeit, die doch so glänzend wie möglich begangen werden muß.« »Was für eine Hochzeit denn?« kam es fragend von der Tür her, durch die der Hausherr soeben schritt. Und schon hat te die holde Gattin ihn bei den Rockklappen, wie ein Was serfall auf ihn einsprudelnd. Ein Wunder, daß der Mann daraus klug wurde, wenigstens einigermaßen. Natürlich war auch er überrascht, verstand das jedoch als gewandter Geschäftsmann besser zu tarnen als die lebhafte Gattin. »Aber Frauchen, du bist ja ganz durcheinander«, lachte er. »Nun laß mich mal los, damit ich die unverhofften und lieben Gäste begrüßen kann. Töchterchen, es scheint dir ein spitzbübisches Vergnügen zu bereiten, uns ahnungslose Menschen hier mit einem Herzallerliebsten zu überrumpeln«, drohte er mit dem Fin ger. »Aber ganz was Exquisites hast du dir da ausgesucht, potztausend. Seien Sie mir als Schwiegersohn willkommen, Herr Graf.
So – nun möchte ich aber in Ruhe erklärt haben, was mein Frauchen da so aufgeregt hervorsprudelte, von einer Erb schaft und einer Heirat in drei Wochen. Setzen wir uns.« Rasmus sprach über die Erbschaftsbedingung kühl und reserviert. Und das Fludium, das von dem vornehmen Mann ausging, verfehlte auch hier seine Wirkung nicht. »Daher die rasche Heirat«, führte die sonore Stimme weiter aus. »Was die Aussteuer betrifft, wäre diese in Möwen fehl am Platze, Senöwe findet dort alles in reichlichem Maß vor. Und ihre persönlichen Sachen sind wohl bald be schafft.« »Die ich überhaupt schon besitze«, erläuterte das Mädchen. »Man hat mich hier so verschwenderisch mit allem ausge stattet, daß es für Jahre reicht.« »Aber Kind, da ist doch bestimmt viel Unmodernes darun ter«, wurde die Mutter nun wieder mobil, und da lachte die Tochter hellauf. »Mama, unsere Möwen dort sind nicht so kritische Mode betrachter wie die Gesellschaftsmenschen.« »Kind, du wirst ja ungezogen«, beklagte Irina sich, während die Herren amüsiert lachten. »Man kann dich doch nicht wie ein Aschenbrödel in die Ehe schicken.« »Das werden wir ja auch nicht, Frauchen«, begütigte der Gatte. »Vorerst gibt es wichtigere Dinge zu klären. Ist Mö wen Majorat, Herr Graf?« »Ja.« »Genügt da Senöwes Abstammung laut Familiengesetz, das es ja wohl auf jedem Majorat gibt?« »Voll und ganz, Herr Neubeck. Es verlangt makellose Ver gangenheit der künftigen Majoratsherrin und einen guten, unbescholtenen Namen.« »Nun, damit kann unsere Tochter wohl aufwarten«, ent gegnete Neubeck. »Und wie sind Ihre Verhältnisse, Herr Grat.« »Die denkbar besten, Herr Neubeck.« »Keine Schulden?« »Im Gegenteil.«
»Danke, das mußte ich wissen. Und nun wollen wir zum gemütlichen Teil übergehen. Du bleibst bis zur Hochzeit selbstverständlich zu Hause, Töchterchen.« »Nein, Papa, ich fahre heute noch zurück.« »Aber Kind, du kannst doch unmöglich schon vor der Hochzeit im Hause des Verlobten…« »Tu ich auch nicht«, schnitt sie ihm kurz das Wort ab. »Ich wohne bis dahin weiter im Strandhaus bei dem Ehepaar Hövemann.« »So ist der Maler verheiratet?« fragte die Mutter überrascht. »Ja, er hat eine prachtvolle Frau.« »Aus unseren Kreisen?« »Will ich meinen.« »Aber die Hochzeit dürfen wir dir ausrichten, nicht wahr?« fragte Irina spitz, und da gab Rasmus, der sich über alles köstlich amüsierte, Auskunft: »Leider geht das nicht, gnädige Frau. Das Familiengesetz der Bernbruggs schreibt vor, daß die Majoratserben in der Kapelle von Möwen getraut werden müssen.« »Ach, so ist das. Kind, du bringst mich aber auch um jede Freude. Doch da fällt mir eben etwas Schreckliches ein: Ich kann dich und deinen Verlobten noch nicht einmal zum Mittagessen einladen, weil es heute nur einen kleinen Im biß gibt, wie es vor Gesellschaften so üblich ist. So eine Blamage aber auch.« »Wir werden schon nicht verhungern«, lachte Senöwe. »Und nun möchten wir nicht länger stören.« Es kam zu einem Abschied, bei dem die Frau Mama sogar ein Tränchen zerdrückte. Aber nicht etwa, weil die Tochter sie schon wieder verlieft, vielmehr darum, weil dieses böse Kind sie um die Ausrichtung einer glanzvollen Hochzeits feier brachte, mit der sie hätte prunken können nach Her zenslust. »Das ist doch recht gut gegangen«, lachte Rasmus, als er den Wagen anspringen ließ. Mit einer diskreten Kopfbewe gung zeigte er zur Villa hin, wo sich hinter drei Fenstern die Gardinen bewegten. »Ob sie mit meinem Wagen zufrieden
sind? Denn so ganz trauten sie meiner Beteuerung nicht, daß ich keine Schulden hätte.« »Nun, dieses chromblitzende Ungeheuer kann ja nur ein Angeberwagen sein, der nicht bezahlt ist«, fiel Senöwe fröh lich in das Männerlachen ein. »Ach, Rasmus, wie bin ich froh, daß dir das alles da oben nicht auf die Nerven gegan gen ist.« »Mein liebes Kind, so zartbesaitet bin ich nicht. Es sind eben Gesellschaftsmenschen, dem muß man Rechnung tragen. Das Ehepaar scheint sich übrigens gut zu verste hen.« »Das tut es. Mama ist meinem Stiefvater aber auch eine gute Frau. Immer für ihn da, immer auf sein Wohl bedacht. Und die Kinder hängen an ihr. Wohl gerade deshalb, weil sie ihnen allen Willen läßt und nicht an ihnen herumer zieht, dafür ist sie nämlich zu bequem. Sie will mit Uner quicklichkeiten nicht behelligt werden, das stört sie in ihrer geliebten Ruhe. Und nun habe ich Hunger.« »Ich dito. Daher werden wir an einem Hotel halten und uns gütlich tun.« Bis es jedoch soweit war, gab es für Senöwe noch eine Be gegnung, die sie keineswegs entzückte. Denn als sie vor dem Hotel ausstiegen, kam ihnen ein Ehepaar entgegen, das das Mädchen überschwenglich begrüßte. »Ei sieh da, die bezaubernde Seenöwe«, näselte der Herr, so ein richtiger Lebemannstyp. »So lange habe ich Ihren Anblick entbehren müssen. Und der gute Fred Ewing erst, der trug sich schon mit Selbst mordgedanken vor lauter Liebeskummer.« »Aber wirklich, Fräulein Senöwe«, beteuerte die Ehehälfte. »Na, da wird sein Herz heute abend aber vor Freude hüp fen. Denn Sie fahren doch sicher zu den lieben Eltern, weil Sie das Gartenfest mitmachen wollen, von dem sozusagen die halbe Stadt spricht.« »Darf ich Ihnen meinen Verlobten, den Grafen Bernbrugg vorstellen?« sagte Senöwe gelassen.
»Das ist mal eine sensationelle Überraschung«, flötete die Dame. »Also gibt es doch einen Mann, der sich das spröde Herzchen einfangen konnte. Allerherzlichsten Glück wunsch – und nun wollen wir nicht länger stören.« Damit schoben sie ab, ihrem Wagen zu, und Senöwe blies die Backen auf, während sie an der Seite des Verlobten ins Hotel ging, ihn im Vestibül jedoch zurückhielt. »Puh, war das grausig! Diese Klatschmäuler haben mir ge rade noch gefehlt. Nun, die werden schon dafür sorgen, daß noch vor Beginn des Gartenfestes meine Verlobung in der Gesellschaft herumkommt. Aber hier essen wir nicht, damit wir nicht noch einige von der Sorte treffen.« »Dann kneifen wir«, zwinkerte er ihr zu, und wie zwei lu stige Verschwörer zogen sie von dannen. Unterwegs fanden sie ein Gasthaus, das ihnen zusagte. »So, hier wird man uns nicht aufstöbern«, sagte Senöwe zufrieden. »Wenigstens jetzt nicht, wo man die Zeit und die Ruhe nicht hat, sich außerhalb der Stadt in ein Lokal zu setzen; denn man muß ja zu dem phänomenalen Garten fest rüsten.« »Vielleicht wärst du doch ganz gern dazu geblieben?« forschte er, und sie hob abwehrend die Hände. »Um alles nicht! Ich bin richtig froh, daß ich so leicht da vonkam. Wir werden später sowieso daran glauben müs sen, Festlichkeiten in der Villa mitzumachen. Denn soweit ich Mama kenne, gibt sie nicht früher Ruhe, als bis sie uns in die Gesellschaft eingeführt hat.« »Werde ich auch noch mit Fassung tragen. Du weißt, ich bin geduldig.« Mißtrauisch sah Senöwe ihn von der Seite an – wie meinte er das schon wieder? Es war wirklich nicht leicht, aus die sem Mann klug zu werden. Und wieder stieg die Sorge in ihr auf, wie sie sich neben ihm würde behaupten können. Doch nachdem sie zu dem guten Essen noch zwei Gläs chen Wein getrunken hatte, sah sie die Welt in rosigem Licht. Rasmus kam aus dem Schmunzeln kaum heraus, als er mit seiner fidelen Begleiterin weiterfuhr.
In einem Dorf mußten sie halten, weil man Schützenfest feierte und der Umzug die Straße versperrte. »Du, da machen wir mit«, sagte Senöwe begeistert. »Oder hast du keine Lust?« »Nur, wenn du auf dem Schramm mit mir tanzt und nur mit mir allein gehst, wie es unter den Dorfbewohnern so schön heißt. Ich bin nämlich sehr eifersüchtig.« »Du –?« tat sie nonchalant ab. »O nein, dafür bist du viel zu pomadig.« »Laß es nicht darauf ankommen, daß ich dir das Gegenteil beweise«, schmunzelte er. »Davor habe ich auch gerade Angst«, lachte sie ihn aus. »Aber sieh nur, wie prächtig geschmückt die Mädchen sind. Da komm ich bestimmt nicht mit.« »Natürlich. Wie könnte auch eine Stranddistel mit Gänseb lümchen und Klatschmohn konkurrieren.« »Na hör mal, der ist doch sehr dekorativ. Schade, daß der Zug zu Ende ist, er war doch so lustig. Fahr jetzt weiter zum Gasthof, wo der Schramm sicherlich stattfindet.« »Oder dort auf dem Rummelplatz, wie ich sehe und an der Dudelei höre. Wenn ich den Wagen abgestellt habe, gehen wir dahin und mischen uns unter die lustigen Leute. Aber ich muß mich doch sehr wundern, daß du nicht zum Gartenfest bliebst, wenn du so vergnügungssüchtig bist.« »Ach, so ein Klimbim ist für mich schon oft dagewesen, hier jedoch lockt der Reiz der Neuheit.« Vor dem Gasthaus standen bereits einige Wagen. Ein Zei chen, daß auch andere Durchfahrende Lust verspürten, den fidelen Rummel mitzumachen. Daher fiel auch das distin guierte Paar nicht weiter auf und konnte sich zwanglos amüsieren. Doch zuerst trat Rasmus an den Schießstand, wo es dem guten Jäger gewiß nicht schwerfiel, genau ins Schwarze zu treffen. Er wählte als Preis ein Jägerhütchen, das er der la chenden Senöwe auf die sonnenhellen Locken drückte. »So, jetzt bist du würdig geschmückt – und nun hinein ins Vergnügen!«
Das fand man denn auch bei einem Karussell, das in küh nen Kapriolen herumwirbelte. Senöwe, die nun doch ängstlich wurde, suchte Halt am Arm des Nachbarn, der sie daraufhin dicht zu sich heranzog. Hui, wie das ging! Bergauf, bergab! Dazu dudelte die Mu sik, die sich mit dem Lachen und Kreischen der Fahrenden vermischte. Herrlich fand Senöwe das und ließ nicht lok ker, bis die dritte Runde gedreht war. Da allerdings hatte sie genug und taumelte, als sie auf festem Boden stand. Da schob sich ein Arm unter den ihren, und so treulich ver eint, strolchte man über den Platz, auf dem es von fröhli chen Menschen nur so wimmelte. Es gelang Rasmus, ein putziges Äffchen aus Plüsch zu erwürfeln, das Senöwe ent zückt betrachtete und dann kategorisch erklärte: »Bist ein feiner Kerl, dich nehm ich mit ins Bett. Und nun habe ich Durst.« Den stillte sie bei einem allerdings nur kleinen Maß Bier, das ihr trotzdem in die Beinchen fuhr. Aber tanzen konn ten sie dennoch leichtbeschwingt, wenn man es in dem wirbelnden Gedränge überhaupt noch mit tanzen bezeich nen durfte. Das machte Senöwe nichts aus, bis ein unge schickter Jüngling ihr so herzhaft in die Ferse trat, daß sie humpeln mußte. Da zog Rasmus sie kurzentschlossen aus dem Gedränge und sagte lachend: »Hast du jetzt endlich genug?« »Der Not gehorchend. Aber laß nur, schön war's doch.« Rasmus mußte noch oft über die drolligen Bemerkungen, überhaupt über die entzückende Art dieses frischfröhlichen Menschenkindes schmunzeln, bis er es im Strandhaus ab liefern konnte. »Hier hast du sie wieder, süßbedudelt und quietschverg nügt«, schob er sie lachend Anita zu. »Laß dir von ihr er zählen, was sie an diesem Tag erlebte, ich muß es schon zu Hause tun. Schlaf wohl, du Übermut, und vergiß nicht, was du dem niedlichen Äffchen versprachst.« Als Rasmus zu Hause das Wohnzimmer betrat, rief ihm die Mutter aufgeregt entgegen:
»Junge, wo warst du nur so lange?! Ich habe mich sehr um dich geängstigt.« »Und uns damit nervös gemacht«, brummte die Großmut ter. »Setz dich hin und erzähle.« Das tat Rasmus – und zwar so launig und anschaulich, daß die drei Zuhörer sich köstlich amüsierten. Und als er gar von dem Schützenfest sprach, da lachte man direkt Tränen. »Na so ein übermütiger Strolch!« wischte Magnus sich die Augen. »Mein lieber Sohn, mit dem Schritt zu halten wird nicht ganz einfach für dich Schwerblütler sein. Und wie benahm sie sich während der Rückfahrt?« »Da sang sie freiweg wie ein Vöglein auf dem Ast.« »Auf die Liebeslieder bin ich aber gespannt.« »Liebeslieder?« wiederholte Rasmus lachend. »Hast du eine Ahnung! Ein Studentenlied sang sie, und zwar: >Im schwarzen Walfisch zu Askalon< Wahrscheinlich hat ihr das mächtig imponiert, daß ein Mann drei Tage hindurch trinken konnte, während sie schon von zwei Glas leichtem Wein und einem kleinen Maß Bier genug hatte.« »Ihr Vater muß ein prachtvoller Mensch gewesen sein«, sagte Hortense warm. »Denn bei der Mutter hätte Senöwe wohl kaum ein so frischfröhliches, bezauberndes Men schenkind werden können.« »Wahrscheinlich nicht«, versetzte Rasmus trocken. »Dann wäre sie heute bestimmt auf dem Gartenfest und ließe ihr mondänes Kleid bewundern.« »Du hast nur die ältere Neubeck gesehen?« fragte die Großmutter interessiert. »Ja. Die anderen beiden Kinder waren wohl in der Schule.« »Daß die Gören bei der Erziehung überhaupt noch zur Schule gehen«, brummte Magnus. »Wohl kaum das Ver dienst der Frau Mama.« »Ganz bestimmt nicht«, gab der Sohn Antwort. »Dafür sorgt die langjährige Hausdame, die schon in der Villa war, als Neubecks erste Frau noch lebte.« »Während die Gnädige ihre Schönheit pflegt und sich putzt«, warf die Großmutter ironisch ein. »Da ist es ja kein
Wunder, daß ein so wertvoller Mensch wie Senöwe es bei solchen Hohlköpfen nicht aushielt und zu ihrem Onkel Konrad flüchtete. Und gut, daß sie es tat. Sonst hättest du sie nicht kennenge lernt, mein Junge, und womöglich so ein modisches Putz äffchen an den Hals gekriegt. Danken wir daher unserem Herrgott jeden Tag aufs neue, daß er eine Senöwe erschuf und sie uns in den Weg führte. Ich freue mich schon, wenn sie morgen kommt, auf ihr goldiges Lachen.« Allein, daraus sollte nichts werden. Denn als Rasmus am nächsten Vormittag im Strandhaus erschien, fand er nur Anita vor, die aufgeregt sagte: »Vor einer halben Stunde ist Senöwe zu ihrer Mutter gefah ren. Denk dir bloß, Rasmus, da hat doch dieser anonyme Schmierfink an die Dame geschrieben. Was, das weiß ich nicht genau. Sie sprach telefonisch mit der Tochter und beschwor sie, um Gottes willen sofort nach Hause zu kommen, da sie ihres Lebens hier nicht sicher wäre, weil du ein ausgesprochener Blaubart bist. Und da Senöwe nicht wollte, daß die aufgeregte Frau hier aufkreuzte, ist sie schleunigst zu ihr gefahren.« »Aber Anita, wie konntest du das zulassen?« entgegnete er unwillig. »Senöwe war doch sicher erregt und wird so an dem ersten besten Baum landen. Du hättest sie zurückhal ten und mich verständigen sollen.« »Das verbot sie mir, weil sie die Angelegenheit ohne dich ins reine bringen wollte. Und da Konrad das gleiche be fürchtete wie du, ist er mitgefahren. Er ließ Senöwe nicht ans Steuer, sondern führte es selbst.« »Gott sei Dank, da bin ich in dieser Hinsicht beruhigt. Aber das andere – ich weiß nicht, ob Senöwe sich da durchset zen wird.« »Worauf du dich verlassen kannst. Sie wird ihrer Mutter schon gewissermaßen die Wacht blasen. Von dir läßt sie jedenfalls nicht, das ist mir schon längst klar.« »Das war ein gutes Wort, Anita. Ich gehe jetzt, weil ich dir mit meiner Unruhe doch nur auf die Nerven fallen würde.
Sofern Senöwe zurück ist, bitte deinen Mann, bei uns zu erscheinen und Bericht zu erstatten. Ruf vorher an, dann schicke ich den Wagen.« »Das will ich gern tun, wenn es bloß erst soweit wäre. Was man mit euch beiden so alles mitmachen muß, das läßt sich kaum beschreiben. Aber laß nur, ich tu es ja gern«, setzte sie hinzu, als sein Antlitz sich verfinsterte. »Aber froh werde ich dennoch sein, wenn die Hochzeit vorüber ist und der anonyme Schuft dir nichts mehr anhaben kann. Doch jetzt können wir weiter nichts tun als abwarten. Aber sei dessen gewiß. Senöwe steht zu dir auf Biegen oder Bre chen.« Was sie denn auch tat. Unwillig sah sie die Mutter an, die bei ihrem Erscheinen in den hellsten Tönen zu jammern anfing, welch eine Angst sie um ihr Kind ausstehen müßte, dessen Leben gefährdet sei und so weiter. Sie unterbrach kurz ihre Jeremiade, als sie Konrads ansichtig wurde. »Ah, der Maler Hövemann«, tat sie herablassend. »Was sa gen Sie bloß zu diesem Grafen. Er hat doch einen wirklich vornehmen Eindruck auf uns gemacht. Und was verbirgt sich dahinter? O du großer Gott, mein armes Kind!« »Mama, jetzt hör endlich auf!« wurde Senöwe böse. »Vor allen Dingen schick die Kinder raus, die Mund und Ohren aufsperren.« »Nun, nun, Senöwe, du kannst doch nicht so einfach mei ne Kinder hinauswerfen«, räusperte Neubeck sich, der auch dabei war. Doch kurz schnitt sie ihm das Wort ab. »Ob ich es kann oder nicht, darauf darf ich jetzt keine Rücksicht nehmen.« »So geht schon, meine lieben Kinder«, flehte die Mama, die Finger dabei an die Schläfen pressend. Da schoben die drei maulend ab, und Senöwe fragte kurz: »Wo ist der Brief?« »Da liegt er. O mein armes Kind, was wird dein Schicksal sein. Vielleicht bist du morgen schon tot.« »Aber nur, wenn dieser Schmierfink da mich umbringt«, entgegnete sie trocken, dabei nach dem Wisch greifend. Als
sie ihn gelesen hatte, gab sie ihn an Konrad weiter. »Lies nur, Onkel Konny, was diese Kreatur da zusammen geschmiert hat, der müssen wir unbedingt das schmutzige Handwerk legen.« »Das ist allerdings ein starkes Stück«, sagte nun auch der Maler, dabei den gelesenen Brief auf den Tisch werfend, als hätte er sich seine Finger daran verbrannt. »Dem üblen Burschen scheint das Wasser schon bis zum Hals zu rei chen, weil er alle seine dreckigen Hebel in Bewegung setzt, um zu der Erbschaft zu gelangen.« »Kennen Sie ihn denn?« fragte Neubeck. »Ich nicht, aber die Bernbruggs kennen ihn. Er ist nämlich der Mann, an den das reiche Erbe fällt, falls Graf Rasmus an dem Stichtag, den die Erblasserin bestimmte, nicht ver heiratet ist.« »Haben die Bernbruggs Beweise, ob er der anonyme Schreiber ist?« »Leider nicht. Sonst hätte Graf Rasmus seinem entarteten Vetter schon längst die Hundepeitsche um seine nichtswürdigen Ohren geschlagen.« »Siehst du, liebster Mann, so ein brutaler Mensch ist das«, ging Irinas Jeremiade wieder los. »Mein armes Kind…« »Beruhige dich endlich«, wurde der Gatte nun auch unge halten. »Senöwe wird die Verlobung lösen…« »Was soll ich?« fragte diese so erstaunt dazwischen, als hät te man ihr zugemutet, auf den Kirchturm zu klettern. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst?« »Mein voller, Töchterchen.« »Natürlich, warum auch nicht«, wurde sie jetzt ironisch. »Auf so eine gemeine Verleumdung hin gebe ich meinem Verlobten ganz einfach den Laufpaß. O nein, zu der Sorte von Menschen gehöre ich nicht.« Nun wurde es unter dem verächtlichen Blick der klarblauen Augen dem Mann denn doch unbehaglich. Hastig sagte er: »Kind, wie kann man gleich so spitz werden. Ob der Brief Verleumdungen enthält oder nicht, du bleibst jedenfalls hier, bis die Recherchen, die ich sofort anstellte, ein klares
Bild ergeben.« »Sehr zu wünschen«, sagte Senöwe eisig. »Diese Recherchen werden dann ja wohl das infame Lügengewebe zerreißen, was dieser anonyme Bursche spann und die Wahrheit über die Tragödie enthüllen.« »Hoffentlich. Wirst du nun die Verlobung lösen?« »Nein, ich werde meinen Verlobten heiraten.« »Das verbiete ich dir!« »Mit welchem Recht? Du vergißt wohl, daß ich mündig bin.« »Und ein ungezogenes Mädchen dazu!« verlor der Ge schäftsmann jetzt seine Ruhe. »Sei doch nicht so starrköp fig. Sieh dir doch deine Mutter an, die in Angst um ihr Kind einem Nervenzusammenbruch nahe ist. Bleib hier unter unserem Schutz.« »In einem besseren Schutz, als in dem Onkel Ronnys und dem der Grafenfamilie kann ich mich nirgends befinden.« »So geh zu ihnen in drei Deubels Namen!« schlug der er boste Mann mit der Faust auf den Tisch. »Und laß dich hier nicht mehr blicken, wir sind fertig miteinander!« Noch ehe er seine Wut ausgetobt hatte, fiel die Tür hinter den Besuchern zu. »Das nennt man das Tischtuch zerschneiden«, sagte Senö we bitter, als sie neben dem bekümmerten Konrad im Auto saß. »Weißt du, was die sind, Onkel Konny? Krämerseelen. Schau mal an, wie mein aalglatter, verbindlicher Stiefvater aus der Ruhe geraten kann. Er hat recht, wir sind fertig mi teinander.« Dabei blieb sie, so gütig Konrad auch auf sie einredete. Besorgt ging sein Blick immer wieder zu dem blassen, er schöpften Mädchen hin. Hoffentlich hielt es durch, bis er es bei Anita abliefern konnte. Die würde schon die rechten Worte zur Besänftigung finden. Und so geschah es auch. Anita fragte nicht viel sondern handelte, nachdem sie einen vielsagenden Blick mit dem Gatten getauscht hatte. »Komm, mein Herzchen«, sagte sie gütig, dabei die Schulter
des erschöpften Mädchens umfassend. »Du schläfst erst einmal über deinen Ärger hinweg, wozu mein bewährter Schlaftrunk dir verhelfen wird.« Willig ließ Senöwe sich von ihr fortfuhren, und es dauerte denn doch eine ganze Weile, bis Anita zum Gatten zurück kehrte, der unruhig im Zimmer umherwanderte. »Na, du siehst ja auch ganz nett mitgenommen aus«, stellte sie kritisch fest. »Setz dich und erzähle.« »Also doch«, sagte sie grimmig, nachdem die alles wußte. »So ungefähr habe ich es mir gedacht. Senöwe hat recht, es sind Krämerseelen. Ganz blaß siehst du aus, wirst wahrscheinlich hungrig und durstig sein. Ich werde dir rasch einen Imbiß bereiten, und dann mußt du hinauf ins Schloß. Rasmus war nämlich hier und bat mich, ihm sofort telefonisch Bescheid zu geben, wenn du zurück bist. Dann schickt er dir den Wagen, damit du oben Bericht erstatten kannst. Also wollen wir die Men schen, die gewiß schon sehnsüchtig deiner harren, nicht länger als nötig warten lassen. Aber bis der Wagen hier ist, bleibt dir noch Zeit, etwas zu essen.« Um sehnsüchtig Konrads zu harren, dazu war den Bern bruggs keine Zeit geblieben, und zwar durch die Aufregung, die Gabriele verursachte. Das Kind klagte plötzlich über Schmerzen am verletzten Knie, so daß man gezwungen war, den sie behandelnden Arzt außer der Zeit nach Mö wen zu bitten. Doch bis der vielbeschäftigte Mann, der sich die Zeit zu dem nicht einkalkulierten Besuch direkt absteh len mußte, in Möwen eintraf, vergingen immerhin Stun den, die man in Unruhe verbrachte. Und diese sollte noch gesteigert werden, als der Arzt erklär te, daß er die kleine Patientin mit sich in seine Klinik neh men müßte, damit er sie ständig unter Augen hätte. Allein, gegen diese Fahrt sträubte das Kind sich mit einem Eigensinn, der neu an ihm war. Es wurde erst nachgiebig, als es hörte, daß Fräulein Magda es begleiten und auch in der Klinik bleiben würde. Als dann das Auto endlich fort war, blieb den erschöpften
Menschen kaum eine Stunde, bis Konrad eintraf. Betroffen hörte er, was sich ereignet hatte und wagte es nicht, den ohnehin schon Bekümmerten auch noch mit seinem unerf reulichen Bericht zu kommen. Er sprach erst dann, als er dazu aufgefordert wurde, berichtete dann so ausführlich, daß er selbst den Inhalt des Briefes ziemlich genau wieder geben konnte. »So war es«, führte er anschließend weiter aus. »Hut ab vor Senöwe, sie hat sich wieder einmal glänzend bewährt.« »Und hat dabei zwischen sich und den Ihren das Tischtuch zerschnitten«, fuhr Magnus auf. »Das hätte ihr erspart blei ben können, wenn der Verleumder sich schon einige Tage früher seinen Hals gebrochen hätte. Dann wäre dieser Wisch erst gar nicht geschmiert worden. Vor ungefähr einer Stunde rief unser guter Körtlitz senior nämlich an, daß dieser Kainz mit seiner Frau bei einer ra senden Autofahrt tödlich verunglückt sei. Körtlitz war gera de in der Stadt, als man die Toten überführte. Man spricht davon, daß der Mann sich auf der Flucht ins Ausland be fand, weil die Polizei wegen Falschspiels und anderer Unta ten hinter ihm her war. Sie werden uns sicherlich für herzlos halten, Herr Höve mann, daß wir über das tragische Ende zweier Menschen keine Trauer empfinden können. Aber es geht nicht, der Bursche hat uns zuviel Böses angetan. Es tut uns nur weh, daß Senöwe das letzte Opfer seiner Verleumdung war. Denn es wird ihr schon nahegehen, daß die Mutter sich von ihr lossagte.« »Aber nicht so, daß es ins Mark schneidet«, beruhigte Kon rad. »Denn Mutter ist die Frau ihr nie im wahren Sinne gewesen. Es war auch gewiß nicht die Angst um das Leben ihrer Tochter, was sie so jammern ließ, sondern feige Furcht, daß man in der Gesellschaft über die Verlobung tuscheln könnte. Und der Industrielle ist wohl erstens um sein Prestige besorgt, und dann geht ihm die Jammerei seiner Frau gehörig auf die Nerven. Um nur seine Ruhe zu haben, wollte er radikal durchgrei
fen, hatte aber nicht damit gerechnet, daß seine Stieftochter sich nicht so ohne weiteres die Butter vom Brot nehmen läßt. Jedenfalls ist Senöwe von Helgen ein Mensch, der der Ah nenreihe der Bernbruggs zur Ehre gereichen wird: stolz, unbestechlich und von vornehmer Gesinnung. Die geht mit Ihnen, Graf Rasmus, bestimmt durch dick und dünn.« »Was sie ja bereits mit der Verlobung bewiesen hat.« Es leuchtete in den Männeraugen auf. »Wie mag es ihr jetzt wohl gehen?« »Sie schlief bereits tief und fest, bevor ich hierher kam. Ani ta flößte ihr einen Schlaftrunk ein, der nach einem uralten Rezept der Bernbruggs gebraut wird, wie sie mir erklärte.« »Aha, der Schlaftrunk«, lächelte Hortense. »Danach schläft Senöwe bestimmt einmal um die Uhr. Hoffentlich wird sie, wenn sie erwacht, ihr goldiges Lachen nicht eingebüßt ha ben. Denn das brauchen wir hier, da nun auch noch die Sorge um Gabriele hinzukommt, nötiger denn je. Aber beherzt ist unsere Senöwe, das muß man ihr lassen. Es war ja wohl ein Wagnis, die Kinder des Hauses in Ge genwart des Vaters zu vertreiben.« »Danach fragt doch unsere Stranddistel nicht«, schmunzel te der Maler. »Die Herzchen zogen ja auch erst maulend ab, als die Frau Mama ihnen etwas Schönes versprach. Und der Nachsatz: >Aber horcht nicht an der Tür< – ist so richtig typisch für Familie Neubeck. Ich bin nicht so ganz sicher, ob sie nicht in Kürze geschlossen hier anrücken wird.« »Wie meinen Sie das?« forschte die Seniorin. »Nun, wenn die Recherchen abgeschlossen sind, wird das Ehepaar wohl einsehen müssen, wie unrecht es mit seinem Mißtrauen den Bernbruggs tat, und die Tochter dem jungen Graten mit tausend Freuden geben. Um so mehr, da die Recherchen die glänzenden Verhältnisse hier beleuchten werden.« »Wenn das so ist, dann hat Senöwe an der Mutter nicht viel verloren und an dem Stiefvater schon gar nicht«, sagte Magnus. »Die gehören wahrscheinlich zu den Menschen,
die nach der Affäre uns Bernbruggs mit Schmutz besudel ten. Gottlob gab es auch andere, wenn auch nur wenige. Und da Sie zu den wenigen gehören, Herr Hövemann, ist es mir direkt ein Bedürfnis, mit Ihnen eine Freundschaft zu schließen, die bestimmt wert ist, geschlossen zu werden, und zwar bei einer besonders guten Flasche Wein. Sind Sie dazu bereit, uns Bernbruggs Ihre Freundschaft zu schen ken?« »Mit dem größten Vergnügen«, schmunzelte der Maler. »Wie heißt es im Hamlet: >Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen. Und wer in Not versucht den falschen Freund, verwandelt ihn sogleich in einen Feind<.« »Ein wahres Wort«, bekräftigte Magnus. »Das haben wir erfahren müssen. Wenn die Menschen nur wüßten, wieviel Unheil sie mit ihrem gedankenlosen Geplapper anrichten, wieviel Kummer sie damit schaffen, sie würden vielleicht in sich gehen und ihre Zunge hüten. Und größtenteils sind es solche Menschen, denen nie ein Leid geschah. Das beleuch tet Stieler treffend mit den Worten: Wenn einer Herzen richten möcht, dem selber nie das Herz geblutet.« Es war an einem Sonntag vormittag Anfang Juli. Schon vom frühen Morgen an kletterte das Thermometer und zeigte bereits um elf Uhr fünfundzwanzig Grad im Schat ten. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, träge plätscherten die Wellen der unwahrscheinlich blauen See. Kaum ein Lüftchen regte sich. »Ganz nett warm«, meinte Anita, die nebst dem Gatten im Liegestuhl auf der Terrasse faulenzte. Beide leicht gekleidet und durch den großen Schirm vor Sonnenstrahlen ge schützt. Anita sog durch den Strohhalm eine kühle Limo nade, Konrad rauchte wie gewöhnlich das geliebte Pfeif chen, ohne das er einfach nicht denkbar war, selbst bei seinen neuen Freunden nicht. »Hättest mitsegeln sollen«, sagte er schläfrig. »Auf dem Wasser ist es bestimmt kühler als hier.« »Das schon, aber ich wollte die beiden allein lassen, wie sollen sie wohl ihre Reserviertheit zueinander aufgeben,
wenn man sie ständig unter Augen hat. Mein Himmel,
Rasmus ist doch sonst den Frauen gegenüber nicht so zag haft.«
»Er will sich von der Stranddistel nicht spicken lassen«,
schmunzelte Konrad.
»Du, da lärmen doch in der Nähe Menschen«, unterbrach
Anita ihn, sich dabei aufsetzend und angestrengt horchend.
»Das werden doch nicht etwa Badegäste sein, die sich hier her wagen, das sollen sie mal gefälligst bleiben lassen.
Hilf Himmel, da nahen sie bereits, fünf an der Zahl. Na,
die will ich mal schleunigst aus unserem Paradies vertrei ben.«
Damit sprang sie auf, stemmte die Hände in die Hüften
und wartete angriffslustig auf das, was da kommen wollte,
bis Konrad, der nun auch interessiert den Weg entlang spähte, amüsiert auflachte.
»Sieh mal an, Familie Neubeck geschlossen.«
»Ach du liebes bißchen, da hast du wieder einmal richtig
geahnt. Empfange sie, ich werfe nur rasch ein Kleid über.
Denn so halbnackt möchte ich mich denn doch nicht prä sentieren.«
Weg war sie, und als sie nach Minuten wiederkam, begrüß te der Hausherr gerade die unwillkommenen Gäste.
»Meine Frau«, stellte er vor. »Und das ist Familie Neubeck.«
Schon fühlte Anita sich von fünf Augenpaaren aufgespießt,
wie sie ironisch bei sich feststellte. Wahrscheinlich galten
die Blicke ihrer Aufmachung; denn so eine Sorte pflegt die
Mitmenschen ja nach der Kleidung einzuschätzen. Aber
Anita konnte sich sehen lassen, elegant und gepflegt stand
sie da.
»Ach meine liebe Frau Hövemann, entschuldigen Sie gü tigst den Überfall«, lächelte Irina ihr süßestes Lächeln.
»Aber wir konnten nicht umhin, uns die Stätte anzusehen,
wo unsere Senöwe so liebevolle Aufnahme fand. Dürfen
wir uns setzen, ja? Wir sind nämlich von der Hitze
schachmatt.«
Nachdem Konrad durch Heranholen für Sitzgelegenheiten
gesorgt hatte, fand jeder seinen Platz. »Wo ist denn unser Töchterchen?« fragte Irina pathetisch. »Wir haben doch so große Sehnsucht nach ihm.« »Senöwe befindet sich mit ihrem Verlobten auf dem Was ser«, gab Anita reserviert Auskunft. »Was – badet sie denn?« »Nein, sie segelt.« »So besitzt der Grat ein Segelboot?« »Sogar eine Jacht mit allen Schikanen.« »Eine Jacht?« wiederholte Charlott entzückt. »Das ist aber fesch. Schon deshalb bleibe ich hier, Mama – das heißt auf dem Schloß.« »Apropos Schloß«, sprach jetzt der Herr Papa. »Kann man es von hier aus sehen?« »Gewiß«, entgegnete eine heute sehr reservierte Anita. »Da zu müssen Sie jedoch an die Brüstung treten.« Wie ein Mann erhoben sich die fünf, die alle mit einem Fernglas versehen waren. Die wurden nun gezückt – und dann rissen die »Ahs« und »Ohs« nicht mehr ab. Als müß ten sie den stolzen Bau zu sich herunterzerren, so wurde er von den Blicken angestarrt. »Das Schloß scheint ja noch feudaler zu sein, als ich es mir ohnehin schon vorstellte«, erklärte Irina so richtig stolzge schwellt. »Da wird unser schönes und apartes Kind wenig stens den richtigen Rahmen haben, nicht wahr, liebster Mann?« »Unbedingt, Frauchen. Sagen Sie mal, Herr Hövemann, die Bernbruggs sind wohl – äh – hm – sehr reich?« »Ich möchte ihr Geld nicht zählen«, kam es pomadig zu rück. »So an die zehntausend Morgen wird Möwen, Ne bengüter und Vorwerke mit eingerechnet, schon sein. Doch nicht eingerechnet ist der riesige Waldbesitz und der nicht mindere an Wasser«, bereitete es dem Maler eine grimmige Freude, diesen Hohlköpfen gegenüber zu prahlen. »Ja, ja, Möwen ist wie ein kleines Königreich, und die Grafen dar auf die Feudalherren. Warum hustest du so erbärmlich, Anita, hast du dich verschluckt?«
»Ja«, kam es erstickt zurück. »Aber es geht schon vorüber.« Während Konrad seine ironischen Bemerkungen machte, hatte Anita die Besucher gewissermaßen unter die Lupe genommen. Die Weiblichkeit unbedingt »fesch« in ihren gewiß nicht billigen Strandanzügen und den riesigen Hü ten, Vater und Sohn wie aus dem Modejournal geschnitten. Das heißt, der Sohn wirkte in seinem erlesenen Habit schlaksig, doch der Herr Papa oho! »Ich habe doch so großen Durst«, klagte das Nesthäkchen Susi. Also ein Wink mit dem Zaunpfahl, dem die Hausher rin nicht ausweichen konnte. Daher servierte sie einen küh len Trunk. Nachdem man sich ausgiebig gestärkt hatte, ging die Fragerei weiter. Na, bei diesen »Malersleuten« konnte man sich das ja leisten. »Wie hoch ist denn eigentlich das Erbe, das dem Grafen nach seiner Verheiratung zusteht?« fragte Irina gerade he raus und riß ganz groß die Augen auf, als Konrad noncha lant entgegnete: »In die Hunderttausende wird es schon gehen. Denn mit Lappalien geben sich die Bernbruggs gar nicht erst ab. Sie haben diese eigentlich gar nicht nötig, aber Geld stinkt nun einmal nicht, stimmt's, Herr Neubeck?« »Gewiß, gewiß«, räusperte sich dieser, weil er nicht so recht wußte, was er mit der Bemerkung anfangen sollte. Anita jedoch sprang auf und trat an die Brüstung der Terrasse, weil es ihr nicht länger möglich war, ernst zu bleiben. Und da sah sie unweit ein stolzes Segelschiff, das sich in seiner strahlenden Weiße wunderbar von den blauen Wellen ab hob. Wahrlich ein Anblick, der jedem Wassersportler das Her? im Leibe hüpfen ließ vor Wonne. »Die Jacht ist in Sicht!« rief Anita – und schon standen fünf weitere Menschen an der Brüstung, ihre Gläser an die Au gen pressend. Anita jedoch schwenkte ihr Taschentuch und sang dann mit heller Stimme das lustige Liedchen mit, das zur Handharmonikamusik da drüben von Senöwe gesun gen wurde:
»Du mein Mägdlein fein,
trockne deine Äugelein,
wenn wir uns jetzt trennen müssen.
Denk an meinen heißen Schwur,
daß just eine Liebste nur,
mich so zärtlich durfte küssen.
Ahoi, ahoi, ein Seemann ist der Liebsten
immer, immer treu,
ahoi, ahoi, ein Seemann bleibt
der Liebsten treu – «
Dann formte Anita die Hände zum Sprachrohr und gab das
bekannte Signal:
»Legt an, legt an, legt ahahan –!«
Und schon kam es zurück:
»Wir kokommmeeeen –!«
Dem allen sahen und hörten die fünf Besucher mit nicht
gerade geistreichen Gesichtern zu, bis die elegante Jacht
ankerte. Geschickt wurde sie an dem festen Pfahl vertäut,
und dann nahte das junge Paar. Prächtig sah es aus in Po lohemd und Shorts, dessen blendende Weiße die gebräun ten Gesichter so richtig hervorhob. Sie sprachen miteinan der, aber was, konnte man nicht verstehen, weil die Unter haltung leise geführt wurde.
»Großer Gott, die Invasion ist da«, sagte Senöwe erschrok ken. »Da hat Onkel Konrads Ahnung nicht getrogen. Was
machen wir da bloß?«
»Gute Miene zum bösen Spiel.«
Das tat man denn auch – aber wie! Etwas wie Eiseskälte
strömte die hochgewachsene Männergestalt aus, die Augen
glitzerten wie bläuliches Eis, um den Mund spielte ein iro nisches Lächeln.
Und Senöwe? Deren Haltung zeigte gewiß nichts Entge genkommendes, so daß die Frau Mama ihr »herzliebes
Kind« nicht in die Arme zu schließen wagte, sondern mit
forciertem Lachen sagte:
»Da staunst du, mein Liebes, nicht wahr?«
»Allerdings. Wo wollt ihr denn hin?!« hielt sie die drei Neubeckschen Sprößlinge zurück, die im Begriff waren, davonzustürmen. »Zur Jacht!« gab der Junge ungeduldig Antwort. »So laß mich doch gehen!« »Du wirst hierbleiben und die anderen auch.« »Aber Herzblatt, so laß die Kinder doch – « »Nein, Mama, sie bleiben hier. Ich kenne doch ihre rigoro se Art mit Sachen umzugehen, und die Jacht kostet viel Geld.« »Eine liebevolle Schwester bist du gerade nicht«, maulte Charlott, doch die Frau Mama beschwichtigte: »Laß nur, mein Liebchen, Senöwe ist jetzt noch böse. Aber das wird sich schon geben, nicht wahr, mein Herzens kind?« »Also sind die Recherchen gut ausgefallen«, stellte das »Herzenskind« ironisch fest, doch schon schaltete sich der Herr Papa ein: »Töchterchen, sprechen wir nicht mehr davon«, räusperte er sich. »Wenn du nicht so erregt gewesen wärest, hätte sich alles in Ruhe und Güte regeln lassen. Übrigens war es gar nicht einfach, hierher zu finden. Wir wollten eigentlich zum Schloß, aber da sagte uns ein Mann, daß der Zutritt dahin allen Unbefugten verboten ist. Naja, der ungehobelte Mensch konnte ja nicht wissen, wie befugt wir sind. Und nun, Herr Graf – äh – hm – möchte ich Ihnen mein Bedauern über den Fauxpas aussprechen, der uns unterlau fen ist. Aber wie konnten wir auch ahnen, daß es so böswil lige Verleumder gibt. Naja, wir waren wohl ein wenig über eilt, aber das alles entsprang nur der Angst um unser Töch terchen, das wir Ihnen, nachdem sich alles so glänzend klärte, natürlich mit tausend Freuden geben.« Jetzt konnte Anita sich nicht mehr länger beherrschen. Sie platzte mit einem Lachen heraus, das die Tonleiter nur so auf und ab perlte. Und es sprach für die Selbstgefälligkeit des Neubeckschen Ehepaares, daß es dieses Lachen als Plus
für sich buchte.
»Ganz recht, gnädige Frau, lachen Sie nur«, meinte der
Mann wohlgefällig. »Lachen wir alle; denn Lachen macht
lustig. Vereinen wir uns zu einem Kreis von trauten Brü dern. Aber dazu muß Champagner her…«
»Den wir nicht haben«, wart Konrad trocken ein. »Wir sind
ja schließlich arme Malersleute.«
»Gewiß, gewiß. Aber im Schloß wird es doch welchen ge ben, nicht wahr, mein lieber Schwiegersohn?«
»Das weiß ich nicht«, blitzte es in den blauen Männeraugen
humorvoll auf. »Den Weinkeller hat mein Vater unter
sich.«
»Apropos, der Herr Papa! Wohl ein jovialer Herr?«
»Das zu beurteilen möchte ich als befangen ablehnen.«
Jetzt platzte Senöwe mit ihrem unterdrückten Lachen he raus, was die kleine Susi zutraulich werden ließ. Sie
schmiegte sich ans Knie der Stiefschwester und sagte ent zückt:
»Endlich lachst du wieder. Senöwe. Nicht wahr, ich darf
meine Sommerferien im Schloß verleben?«
»Darüber habe ich nicht zu bestimmen«, wich das Mäd chen den bettelnden Kinderaugen aus. »Ich bin ja nicht die
Herrin dort.«
»Aber du wirst es doch nach der Hochzeit?«
»Nur untergeordnet. Denn im Schloß gibt es noch eine
Großmutter und eine Mutter.«
»Sind die böse?«
»Nein, lieb.«
»Dann werden sie auch bestimmt nichts dagegen haben,
wenn ich Freundinnen mitbringe.«
»Wie viele sind es denn?«
»Bis jetzt zehn, doch es werden schon noch mehr hinzu kommen.«
»Wie beruhigend. Da wird uns nichts anderes übrigbleiben,
als im Schloß einen Kindergarten zu eröffnen.«
»Kindergarten«, schob die Kleine die Lippe vor. »Du bist
abscheulich, Senöwe.«
»Herzchen, laß das jetzt«, fiel die Frau Mama ein. »Kommt Zeit, kommt Rat. Wie ist es, wollen wir nicht allesamt in ein Lokal fahren und dort zu Mittag essen? Die Kosten trägt selbstverständlich mein Mann.« »Wie großzügig«, spottete Senöwe. »Doch leider können wir das liebenswürdige Angebot nicht akzeptieren, weil wir vier im Schloß zum Mittagessen erwartet werden. Und da wir pünktlich sein müssen, wird es Zeit, daß wir uns rü sten.« Das war gerade deutlich genug und wurde selbst von den nicht gerade zartbesaiteten Leutchen verstanden. Also sprach der Herr Papa ein Machtwort: »Kommt, wir haben es bestimmt nicht nötig, hier zu Kreu ze zu kriechen. Wer nicht will der hat. Aber der Scheck, den ich dir zustecken wollte, der bleibt in meiner Brieftasche, du ungezogenes Mädchen. Hoffentlich bereust du deinen jetzigen Starrsinn nicht. Wann heiratest du überhaupt?« »In zehn Tagen.« »So schnell schon«, wurde Irina wieder mobil. »Da wird es ja Zeit, für entsprechende Toiletten zu sorgen. Leb wohl, mein herzliebes Kind, ich kann dir trotz allem nicht böse sein.« So zog man denn vereint von dannen, und Rasmus strich der Braut zart über die Augen. »Senöwe, wie kann man nur. Man muß diese Menschen eben so nehmen, wie sie nun einmal sind.« Wohl selten hatte ein Mädchen sich so wenig um seine Hochzeit gekümmert, wie Senöwe von Helgen es tat – nahm wenigstens Anita an. Immer wieder versuchte sie, der jungen Freundin ins Gewissen zu reden, wie auch heute. Kopfschüttelnd sah sie zu ihr hin, die sich auf der Terrasse wohlig im Liegestuhl rekelte. »Mädchen, deine Ruhe möchte ich haben. Vergißt du denn ganz, daß in zwei Tagen deine Hochzeit ist?« »Daran erinnerst du mich gerade zur Genüge«, kam es schläfrig zurück. »Möchtest du mir nicht verraten, was ich deiner Ansicht nach noch mehr tun soll, als bereits gesche
hen ist? Meine Sachen, die Neubecks Hausdame mir auf meine Bitte schickte, sind dank der Fürsorge der Kammer frau im Schloß in Schub und Lade. Das Hochzeitskleid nebst Zubehör liegt bereit, mein Haupt wird der traditio nelle Schleier der Bernbruggs schmücken, die Blumen stif tet mein Herr Gemahl, der er nach der standesamtlichen Trauung ja bereits ist, und somit ist alles in schönster Ord nung.« »So – und was sagt das Herz?« »Das schweigt.« »Dann laß es nur immer weiter schweigen, bis Rasmus ei nes Tages die Geduld reißt und er seine eigenen Wege geht.« Da sprang Senöwe auf, eilte davon, und Anita sah ihr be troffen nach. »Und was hast du nun?« fragte Konrad kopfschüttelnd. »Diese Angelegenheit ist doch viel zu zart und empfind sam, um ausgesprochen zu werden. Laß Senöwe doch ge währen. Sie kennt ihre Pflicht als Gattin eines Majoratser ben und wird zu ihr stehen, verlaß dich darauf. Und nun schau nicht so kläglich drein, mein Fraule, ich weiß, du meinst es mit deinem Insgewissenreden gut. Das schadet dem kühnen Jäger gar nichts, der sich so verwegen den Kuß raubte, wenn die schöne Erdbeerpflückerin ihm noch das kalte Schulterchen zeigt. Laß ihn zur Strafe ruhig toggen burgern, ungefähr so: Blickte stundenlang nach dem Fen ster seiner Liebsten, bis das Fenster klang.« »Hast du das etwa auch bei mir getan?« fragte sie spitz, und er schmunzelte, daß die Fältchen um Augen und Lippen nur so tanzten. »Ich habe dich ja auch nicht beim Erdbeerpflücken ken nengelernt.« Nun sahen sie sich lachend in die Augen, wie nach jedem Geplänkel; denn ernstlichen Streit gab es in dieser Ehe nicht. Allein, Anita schrieb sich das hinter die niedlichen Öhr chen, was der Gatte gesagt und so konnte es kommen, daß
die beiden letzten Tage, die Senöwe noch im Strandhaus verweilen durfte, harmonisch verliefen. Und dann war der große Tag endlich da. Sorgfältig geklei det stand Senöwe von Helgen da, als der Verlobte sie zur standesamtlichen Trauung abholte. Bezaubernd anzu schauen in dem eleganten Kleid aus schwarzem Taft, nur sehr blaß und erschöpft. Sie taumelte sogar, als Rasmus ihr die wenigen, aber erlesenen Blüten überreichte, so daß er sie rasch umfaßte und besorgt in das müde Gesicht sah. »Was fehlt dir, Senöwe, ist dir nicht gut?« »Doch – ja – laß uns gehen, damit wir nicht zu spät kom men.« Bekümmert sah Anita ihnen nach. Was hatte Senöwe nur? Sie war ihr schon gestern abend so matt und müde vorge kommen. Machte das die Aufregung, oder steckte gar eine Krankheit in dem Mädchen? Es war in den letzten Tagen sehr heiß gewesen, man konnte Senöwe kaum aus dem Wasser bekommen. Hoffentlich hatte sie sich dabei nicht erkältet und machte nicht sozusagen kurz vor Toresschluß schlapp. O nein, das tat Senöwe von Helgen nicht, obwohl ihr be stimmt nicht wohl war, Kopf und Hals schmerzten erbärm lich, doch keine Klage kam über ihre Lippen. Sie hätte sonst an der flotten Fahrt im Viererzug, der aus Schimmeln bestand, bestimmt ihre helle Freude gehabt. Doch jetzt wünschte sie sehnlichst, daß erst die stande samtliche Trauung zu Ende war, nach der sie mit Fug und Recht des stolzen Grafen Bernbruggs Frau wurde – und ihm so das reiche Erbe sicherte. Das hatte sie sich als Ziel ge steckt und es auch erreicht, als sie das Standesamt als Grä fin Bernbrugg verließ. Alles andere war ihr augenblicklich ganz egal. Erschöpft saß sie da, tief in die weißseidenen Polster der Equipage geschmiegt. Hurtig griffen die Schimmel aus, gelenkt von dem Kutscher, der heute stolz die Galalivree trug. Ebenso wie der Diener, der mit verschränkten Armen neben ihm saß.
So war es wohl Vorschrift im Hause Bernbrugg, diesem uralten Geschlecht, dessen Tradition hochgehalten wurde bis auf den heutigen Tag. Und zu diesem Geschlecht gehörte sie jetzt. Einige Feder striche auf dem Standesamt hatten genügt, um sie zur Grä fin Bernbrugg zu machen. Und der stolze Mann an ihrer Seite war nun ihr Gatte. So grübelte sie in halber Bewußtlosigkeit, und niemand störte sie dabei. Sie fühlte nicht die Blicke der drei Herren, die besorgt auf ihr ruhten. Sie hatte nur das brennende Verlangen, jetzt schlafen zu dürfen. Ihretwegen über Zeit und Ewigkeit hinweg. Als die Galakutsche vor dem Portal des Schlosses hielt, ließen die beiden Trauzeugen sich mit dem Aussteigen Zeit. Sie wollten dem jungen Paar damit Gelegenheit geben, in den ersten Minuten ihrer Ehe allein zu sein. Aber leider gab es auch Menschen, die nicht so zartfühlend waren. Denn als das Paar die Halle betrat, eilte ihm Familie Neubeck freudestrahlend entgegen. Dem Grafen wurde die Hand geschüttelt, Senöwe wurde geherzt und geküßt. Da bei lachte und schwatzte man durcheinander, daß die jun ge Frau meinte, ihr müßte der schmerzende Kopf platzen. »Ach du mein schönes Kind!« Irina zerdrückte ein Trän chen, und dann sagte Charlott: »Hast du ein Kleid an, Senöwe, einfach himmlisch. Mama, sieh dir das bloß an.« O ja, die Mama sah es, aber nicht, wie blaß und müde ihr Kind war. Ehe Senöwe sich noch dagegen wehren konnte, wurde sie mit Triumph in ein Zimmer gezogen, wo man ihr einen Gabentisch aufgebaut hatte, an dem wirklich alles dran war, wie man so sagt. Den Vogel jedoch schoß der Herr Papa ab, indem er dem »Töchterchen« wohlgefällig einen Scheck von respektabler Höhe überreichte. Im ersten Impuls wollte Senöwe ihn zurückweisen, was sie jedoch unterließ, weil sie keine Auseinandersetzung he raufbeschwören wollte. Erstens wäre das für die anderen peinlich gewesen, und dann war sie viel zu matt, um zu
streiten. So nahm sie denn den Scheck, bewunderte auch pflicht schuldigst die Gaben auf dem Tisch und war im übrigen froh, als sie da Platz nehmen konnte, wo ein exquisites Gabelfrühstück bereitstand. Nachdem sie ein Glas Cham pagner getrunken hatte, wurde ihr tatsächlich wohler. Die bleichen Wangen bekamen Farbe, was den Gatten und die Seinen aufatmen ließ. Ihnen war die Blässe Senöwes näm lich nicht entgangen, wenn sie auch darüber kein Wort verloren. Wahrscheinlich machte das die Erregung, die ja wohl bei den meisten Menschen nicht ausbleibt, die einen wichtigen Schritt tun. Als die Schwiegermutter jedoch be merkte, wie Senöwe bei der lebhaften Unterhaltung, die natürlich von Familie Neubeck bestritten wurde, schmerz haft das Gesicht verzog, stand sie auf und trat zu ihr. »Komm, mein Kind«, sagte sie gütig. »Ruh jetzt ein wenig. Ich sorge schon dafür, daß es zur Trauung nicht zu spät wird.« »Ja, geh nur, mein Herzenskind«, redete nun auch Irina zu. »Strecke dich nur lang, das wird dir guttun. Soll ich mit kommen und dir Gesellschaft leisten? Dann kann ich mir gleich deine Gemächer ansehen, was man mir bis jetzt ver wehrte.« »Aus dem einfachen Grunde, weil es ja wohl so üblich ist, daß die junge Frau ihre Räume zuerst betritt«, warf die Se niorin gelassen ein. »Na ja, gewiß, aber ich bin doch schließlich die Mutter.« Mehr hörte Senöwe nicht, weil Hortense sie rasch mit sich zog und Rasmus die Tür nachdrücklich von außen schloß. Er tauschte mit seiner Mutter einen besorgten Blick, als Senöwe so langsam die Treppe emporstieg, als hätte sie Blei an den Füßen. Doch sie sagten immer noch nichts, weil sie es für die Reaktion auf das hielten, was dieses sensible Menschen kind in wenigen Wochen hinter sich gebracht hatte. Wenn sie nur geahnt hätten, daß Senöwe krank war, wäre die zweite Trauung unter allen Umständen aufgeschoben wor
den. Aber gerade das wollte die junge Frau nicht, darum nahm sie sich so tapfer zusammen. Wenn alles vorüber war, dann konnte sie sich gehenlassen. Doch jetzt wollte und mußte sie noch durchhalten, um jeden Preis. Und dann betrat die junge Schloßherrin ihr kleines Reich, das man ihr liebevoll hergerichtet, ohne daß sie etwas da von geahnt hatte. Sprach los vor Überraschung stand sie erst einmal da, doch dann brach die Freude durch, die so groß war. daß Senöwe darüber sogar ihre erbärmliche Ver fassung vergaß. Wie ein beschenktes Kind ging sie durch die Räume, die aus Wohn- und Schlafzimmer, Ankleide raum und Bad bestanden. Man sah es diesem trauten Nest chen direkt an, daß an seiner Einrichtung nicht gespart worden war, es mußte selbst den verwöhntesten Ansprü chen genügen. »So wunderschön soll ich es haben«, sagte Senöwe andäch tig. »Ich danke euch von ganzem Herzen. Und nun werde ich diesen Diwan mal gleich ausprobieren.« Sprach's und streckte sich auf das weiße, weiche Fell. Es war aber auch höchste Zeit; denn länger hätte sie sich wohl kaum auf den Beinen halten können. »Das tut gut, nicht wahr?« lächelte der Gatte, dabei eine flauschige Decke über sie breitend. »Wirst du schlafen kön nen?« »Und wie! Heiraten ist doch sehr anstrengend.« »Das ist's«, lachte Hortense. »Schlaf nur ruhig, ich wecke dich schon zur Zeit.« Als sie sich mit dem Sohn entfernen wollte, hielt Senöwe sie am Ärmel zurück. »Mutti«, sprach sie das liebe Wort zum erstenmal aus, was die Frau unsagbar beglückte. »Nicht wahr, du sorgst dafür, daß Mama und die beiden Mädchen beim Ankleiden zur Trauung nicht zugegen sind?« »Wenn du es nicht magst, dann soll es auch nicht gesche hen, mein Liebling. Aber die Großmama wirst du dabei schon dulden müssen, sonst würde sie sich kränken.«
»Dulden? Aber Mutti! Ich hab die Großmama doch lieb. Auch Anita will ich dabei haben.« Das klang schon schlaftrunken, leise schlichen Mutter und Sohn hinaus. Über welche Energie Senöwe verfügte, das sollten die näch sten Stunden lehren. Auch wenn sie das Gefühl hatte, als ob sie auf Gummi trat, so schritt sie dennoch neben dem Gemahl zum Traualtar der Kapelle, die von Zuschauern vollgepfropft war. Alles Menschen, die durch ein Dienst verhältnis zu Möwen gehörten, angefangen vom Oberför ster bis zum jüngsten Instmann. Denn zu den Gästen zähl ten nur die Familien Neubeck, Körtlitz und Hövemann. Übrigens eine Enttäuschung für Frau Irina, die eine so simple Hochzeit einfach nicht verstehen konnte. Und da bei hatten sie sich doch alle so »schick« gemacht, wie es nur irgend anging. Reizend schaute die kleine Susi aus, wie sie da vor dem Brautpaar wippte und Blumen streute, während der Filius der Familie, als Page verkleidet, die Schleppe trug. Und dann Senöwe. Wie schön und apart ihr Kind wirkte in dem duftigen Hochzeitsstaat mit dem traditionellen Schleier und wie distinguiert der Mann an ihrer Seite. Re porter hätten da sein müssen, um das stolze Bild mit der Kamera festzuhalten. Diese ärgerlichen Gedanken hegte die Mutter, während ihr Kind sich am Altar kaum noch aufrechthalten konnte. Im mer wieder riß das tapfere Menschenkind sich zusammen, bis es an der exquisiten Hochzeitstafel wirklich nicht mehr länger ging. Der Hals brannte wie Feuer, rote Ringe tanzten vor den Augen, der Kopf tat erbärmlich weh. Hauptsäch lich, wenn die sehr lebhafte Familie Neubeck die Stimme erhob, hatte Senöwe das Gefühl, als bohrten Messer in ih rem Kopf herum. Und als die kleine Susi einmal hell und schrill auflachte, da griff sich die junge Gräfin stöhnend an den Kopf – und brach dann bewußtlos zusammen. Sie wä re wohl vom Stuhl gesunken, wenn der Gatte, der kein Au ge von ihr ließ, sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätte.
Nun trug er sie davon, die weiße Gestalt im Hochzeitsge wand, nicht achtend, daß der kostbare Schleier den Boden schleifte. Es war ein so ergreifendes Bild, daß selbst dem gewiß nicht sentimentalen Julius Körtlitz die Tränen in die Augen tra ten. Eine direkt an Herz und Nerven zerrende Stille herrschte, in die dann Irina hineinjammerte: »Mein Kind – großer Gott – was hat man ihm getan?« »Seien Sie doch still!« fuhr Körtlitz senior sie grob an. »Wer sollte der jungen Gräfin wohl etwas tun, die man hier liebt wie eine Kostbarkeit. Leider scheint es nicht die Erregung allein zu sein, die sie zusammensinken ließ, wahrschein lich ist sie krank.« »Dann muß ein Arzt her! Man kann mein Kind doch nicht sterben lassen!« »Hysterische Person«, brummte Körtlitz vor sich hin, wäh rend er zu der Gruppe trat, wo man flüsternd miteinander sprach. Eben sagte Anita, der die hellen Tränen über die Wangen liefen: »Senöwe gefiel mir schon seit einigen Tagen nicht mehr. Sie kam mir so blaß vor, so müde und matt, wo sie doch sonst das sprühende Leben selber ist. Doch auf meine besorgten Fragen lachte sie mich aus. Sie wollte wohl die in ihr stek kende Krankheit nicht zugeben, weil sie fürchtete, daß dann die Hochzeit verschoben werden würde.« »Was auch geschehen wäre«, entgegnete Graf Magnus mit belegter Stimme. Seine Hand zitterte, mit der er eine Zigar re in Brand steckte. »Nun, nun«, beschwichtigte Julius Körtlitz. »Wird schon so schlimm nicht sein. Mit einer ernstlichen Krankheit gibt sich unser forsches Marjellchen erst gar nicht ab. Ein Glück, daß die Mondäne jetzt den Mund hält, und uns somit nicht weiter auf die Nerven fällt. Wahrscheinlich will sie auspro bieren, was ihr besser zu Gesicht steht, haltloser Jammer oder eine klagende Miene. Wo diese Frau die patente Toch ter herhat, das mag der liebe Himmel wissen.
Ah, da naht sie bereits am Arm des Gemahls, anzuschauen wie das Leiden Christi.« »Wie geht es meinem Kinde?« fragte die Frau Mama pathe tisch. »Ist der Arzt schon da? Er muß mir etwas geben, denn ich bin dem Nervenzusammenbruch nahe. Wenn ich nur schlafen könnte!« »Möglichst tausend Jahr«, knurrte Julius wie ein böser Ket tenhund, was von dem Ehepaar zum Glück nicht verstan den wurde. Doch die anderen hatten Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, so wenig ihnen danach auch zumute war. In dem Augenblick trat der Arzt ein, ein gemütlicher älterer Herr, der aber auch kurzangebunden sein konnte, wo es erforderlich war. Er zählte zu den wenigen Menschen, die nach der Affäre unerschütterlich zu den Bernbruggs gehal ten hatten. »Na, was ist denn hier los?« polterte er, seine Brille zu rechtschiebend. »Wenn ich den Grafen Rasmus am Telefon richtig verstand, ist seine ihm eben angetraute Gemahlin krank geworden. Ja, wo gibt's denn so was!« »Natürlich nur bei uns«, lachte der Hausherr bitter auf. »Wie sollte da wohl etwas glatt verlaufen. Da hat man schon Sorge um Gabriele, an der gestern die unbedingt notwendige Operation vorgenommen werden mußte, und nun wird uns die Senöwe noch krank. Es ist tatsächlich, als ob sich alles gegen uns verschwören hätte!« »Man immer sachte mit den jungen Pferdchen«, beschwich tigte der Arzt. »Um die kleine Gabriele braucht Ihnen nicht bange zu sein. Wenn der anerkannt tüchtige Professor sich zu der Operation entschloß, steht er auch hundertprozentig dafür ein. Und die junge Gräfin werde ich mir zuerst ein mal ansehen. Wie gelange ich zu ihr?« »Ich werde Sie führen, Herr Doktor.« »Einen Augenblick noch«, hielt Irina wehleidig den Arzt zurück. »Ja – bitte?« fragte der gute Mediziner und Menschenken ner, die Mondäne mit dem Blick förmlich durchbohrend. »Was gibt's denn, gnädige Frau?«
»Herr Doktor, die junge Gräfin ist mein Kind!« »Aha!« »Herr Doktor, meine Frau ist einem Nervenzusammen bruch nahe«, warf sich der Gatte gewissermaßen in Positur, was dem braven Landarzt aber auch kein bißchen impo nierte denn gerade solche Typen hatte er gern. Daher ent gegnete er seelenruhig: »Zuerst kommt einmal die junge Gräfin dran – das andere hat bestimmt noch Zeit.« Sprach's und folgte dem Hausherrn, der ihm das Geleit gab, was den Industriellen entrüstete. »Ist das ein ungehobelter Mensch! Dem können wir doch unmöglich unser Töchterchen anvertrauen.« »Ja, ein Salondoktor ist er zwar nicht, aber er versteht was«, lächelte Körtlitz senior so richtig niederträchtig, und da wandte sich das Ehepaar Neubeck verächtlich von dem »Banausen« ab. Dann warteten er und seinesgleichen bangenden Herzens auf den Arzt, der stundenlang weg blieb, wie es ihnen schien. In Wirklichkeit waren es jedoch kaum zwanzig Mi nuten, bis der Arzt zu ihnen trat. »Da hat sich unsere jüngste Gräfin eine ganz gediegene Angina zugelegt«, berichtete er wohl ernst, aber nicht so, daß man Schlimmstes befürchten mußte. »Daß sie damit die Hochzeit überstehen konnte, zeugt von bewundern swerter Forsche.« »Ist das Fieber sehr hoch?« fragte Anita angstvoll, und da umzuckte ein Schmunzeln den Mund des Arztes. »Immerhin so hoch, daß sie mich, aufgeschreckt aus dem Fieberschlaf, freundlich fragte, ob ich mit ihr auf die Hoch zeitsreise gehen wollte. Als ich das verschämt verneinte, kam sie zu sich und lachte mich an. Sie sehen, meine Herr schaften, die Krankheit ist zwar nicht leicht, aber zu schlimmsten Befürchtungen gibt sie wiederum auch nicht Anlaß.« »Doktorchen, da fällt mir direkt ein Mühlstein vom Her zen«, lachte der Hausherr wie befreit auf. »Denn daß wir
Ihnen vertrauen dürfen, wissen alle, die Sie so segensreich verarzten. Wie wäre es, wenn wir uns den Genüssen der Hochzeitstafel zuwenden würden, von der uns der Schreck verjagte?« »Mit dem größten Vergnügen, Herr Graf. Doch zuerst möchte ich die gnädige Frau mal in den schönen Arm pie ken«, zwinkerte er Irina vergnügt zu, die ihn darob entsetzt ansah. Doch schon kam ihr der Herr Gemahl zu Hilfe. »Danke, Herr Doktor, Spritzen verträgt meine sensible Frau nicht. Wenn Sie ihr nicht anders helfen können, tut es mir leid.« »Mir auch«, kam die Antwort pomadig. »Da weiß sicher der Arzt der Gnädigen besseren Rat.« »Worauf Sie sich verlassen können. Komm, mein Lieb, be vor du mir noch ganz zusammenbrichst. Unsere armen Kinder müssen auch zur Ruhe kommen. Sieh mal, wie ver stört sie sind.« »Das sehe ich auch«, meinte der Arzt beflissen, weil er ge nau wußte, welch einen Gefallen er den anderen damit tat, wenn diese Familie entschwand. »Ich kenne ja Ihre Psyche nicht so genau wie Ihr Hausarzt.« »So kommt denn, meine Lieben«, winkte Irina ihnen matt zu. »Ach, daß dieser Tag so enden muß.« Am Arm des Gemahls wankte sie davon, gefolgt von den lieben Kinderchen, die so recht verdrießlich dreinschauten. Es gefiel ihnen gar nicht, daß sie die Stätte verlassen muß ten, wo es doch so interessant war. Höflichkeitshalber gab der Hausherr ihnen das Geleit, und als er wiederkam, meinte er trocken: »Die Frau hätte Schauspielerin werden müssen, das Zeug dazu besitzt sie wahrlich. Nun wollen wir mal zuerst einen Kognak trinken. Donner noch eins, der Schreck ist mir nicht zu knapp in die Glieder gefahren. Und so richtig wird er erst daraus entschwinden, wenn unser Sturmvöglein wieder munter zwitschert.« Doch bis dahin sollte eine Woche vergehen. Da zwitscherte das Vöglein wieder, wenn zuerst auch leise und matt. Aber
es klang denjenigen, die sich um das herzliebe Menschen kind geängstigt hatten, wie schönste Musik. Der junge Gatte war in diesen sorgenvollen Tagen und Nächten ordentlich schmal geworden, kein Wunder, da er kaum etwas aß und wenig schlief. Und dabei brauchte die Kranke wenig Aufsicht, weil sie unausgesetzt schlief. Zum Gurgeln, zum Einnehmen der Medizin und zum nötigsten Essen mußte sie immer ge weckt werden. Geduldig ließ sie dann alles über sich erge hen und streckte sich, nachdem die Prozedur vorüber war, wieder wohlig in die Kissen. Bis sie dann an einem Frühmorgen mit klarem Kopf und klarem Sinn erwachte. Rasmus, der im Lehnstuhl neben dem Bett saß, hielt vor Spannung den Atem an, als die blauen Augen unstet umherschweiften und dann an ihm haften blieben. »Rasmus – du? Was willst du denn hier?« Da lachte der Mann, so recht von Herzen froh. »Tu nur noch so unschuldig, du Bösewicht. Du hast uns mit deiner Krankheit keinen kleinen Schrecken eingejagt. Wie geht es dir jetzt?« »Bis auf einen Mordshunger gut. Wo sind denn die ande ren?« »Aha, die verwöhnte Prinzeß vermißt ihren Hofstaat. Ein Wunder, daß du den überhaupt wahrnahmst.« »Na du, so futsch und weg war ich denn doch nicht.« »So, so. Dann war es nur Berechnung, als du den guten Onkel Doktor fragtest, ob er mit dir auf die Hochzeitsreise gehen wollte.« »So dunkel erinnere ich mich«, lachte sie, wenn auch noch matt. »Auch daran, daß er sich dagegen sträubte.« »Weil er wohl fürchtete, daß ich ihm bei einer Zusage den Hals umdrehen würde. Und nun halt mal dein Schnäbel chen, damit du dich nicht überanstrengst. Dein Stimmchen klingt zwar klar, doch immer noch matt.« »Weil die Stimmbänder nicht geölt sind. Ich habe nämlich gräßlichen Hunger. Wie ausgenommen komme ich mir
vor. Kriege ich etwas zu essen?« »Soll geschehen, nur noch ein wenig Geduld.« Er eilte hinaus, und als er wiederkam, trug er ein Tablett, auf dem ein Glas warme Milch und ein Teller mit Weißbrot stand. »So, mein Kind, jetzt kannst du tafeln, etwas anderes gibt es noch nicht. Warum so erschrockene Augen?« »Weil du dich selbst bemühen mußt. Wenn ich nur geahnt…« »Hätte ich lieber gehungert«, warf er trocken ein. »Und nun komm mal her, damit ich dich aufsetzen kann.« »Wo ist Mutti?« fragte sie hastig, und er lachte. »Sie schläft. Denn wir haben ja schließlich erst drei Uhr morgens.« »Und dann bist du hier?« »Na was denn sonst? Du warst immerhin krank genug.« »Ich hatte Angina?« »Und zwar eine ganz gediegene, wie der Arzt sich ausdrück te. Und an einer Lungenentzündung kamst du knapp vor bei. Du hast uns Sorge genug gemacht.« »Das tut mir aber leid. Schon allein deshalb, weil ich euch durch mein erbärmliches Schlappmachen die Feier ver darb.« »Na eben, entschuldige dich auch noch.« Damit umfaßte er sie, setzte sie auf und steckte ihr Kissen in den Rücken, in die sie sich kuschelte. »Ich fühle mich doch noch sehr matt.« »Nur gut, daß du das einsiehst. Sperr mal dein Mäulchen auf, damit ich dich füttern kann.« Sie schluckte denn auch gehorsam, was er ihr reichte. Trank hauptsächlich die warme Milch mit Behagen und schlief ihm dann unter den Händen ein. Vorsichtig zog er die Kis sen fort, brachte so den Körper in die gewohnte Lage und strich mit zarter Hand das Lockengewirr aus dem Ge sichtchen, das, im Schlaf gelöst, all die Reinheit und Süße widerspiegelte, die den Mann schon längst beglückte. Des halb mußte er sie ja auch haben, die entzückende Stranddi
stel, die so empfindlich spicken konnte, wenn man sie an zurühren wagte. So sollte sie auch bleiben – aber hoffent lich nicht mehr lange für ihn. Von dieser Hoffnung beseelt, setzte er sich in den Lehn stuhl, wo er fast augenblicklich einschlief. Kein Wunder, da er sieben Nächte kaum geschlafen hatte. So bot sich Gräfin Hortense, als sie um sechs Uhr das Zimmer betrat, ein gar friedliches Bild. Und als sie das Tab lett mit dem geleerten Geschirr erspähte, da wußte sie Be scheid. Gerührt schaute sie auf die holde Schläferin, deren Wangen jetzt nicht mehr fieberheiß, sondern schlafgerötet waren. Ein Gebet stieg voller Dank zu dem Höchsten em por, der ihnen dieses herzliebe Kind gelassen hatte. Und als Senöwe nach einem erquickenden Schlaf erwachte, fand sie im Lehnstuhl statt des Gatten die Schwiegermutter vor. Mittlerweile war es zehn Uhr geworden, und die Sonne strahlte in das luxuriöse Gemach. »Mutti, du bist hier?« fragte sie erstaunt. »Eben war doch noch Rasmus da.« »Eben ist gut«, lachte die Mutter amüsiert. »Ich sitze bereits seit vier Stunden hier. Wie geht es dir denn, mein Lieb ling?« »Gut, Mutti. Am liebsten möchte ich aufstehen.« »Sieht dir ähnlich, du kleine Draufgängerin. Doch bis es soweit ist, wirst du dich wohl noch gedulden müssen. Hunger?« »Ja.« Diesmal war die Mahlzeit schon reichlicher, die Senöwe mit Behagen verspeiste. Sie schlief jedoch danach nicht wieder ein, sondern fühlte sich zu einem Schwatz aufgelegt. »Wo ist Rasmus jetzt?« erkundigte sie sich wie nebenbei, was der Mutter ein verstecktes Lächeln entlockte. »Er schläft nach unserem bewährten Schlaftrunk, den ich ihm mit Gewalt einflößen mußte. Er hatte den Schlaf aber auch wirklich nötig, der arme Junge. Ganz herunterge kommen ist er vor Sorge um dich.« »Aber Mutti, warum habt ihr euch denn bloß so um mich
gesorgt, das war doch nun wirklich übertrieben. Angina ist doch schließlich eine Krankheit, die Tausende von Men schen befällt.« »Aber nicht immer in solchem Ausmaß, mein Liebling. Du hattest sehr hohes Fieber, und der Arzt befürchtete, daß gar eine Lungenentzündung hinzukommen könnte.« »Das sagte mir Rasmus schon«, bekannte Senöwe kläglich. »Solch ein schmähliches Versagen ausgerechnet bei der Hochzeitsfeier. Wie nahm Mama es auf?« »Das weiß ich nicht«, wich Hortense aus. »Nachdem du zusammenbrachst und Rasmus dich davontrug, folgten Großmama und ich ihm. Doch wie ich aus Erzählungen weiß, hat sie sich so aufgeregt, daß ihr der Hausarzt eine Kur zur Stärkung der Nerven verschrieb. Schon am näch sten Tag fuhr sie mit der gesamten Familie ab.« »Na, dann kann es nicht so arg gewesen sein«, warf Senöwe trocken ein. »Hoffentlich hat sie nicht vergessen, zehn Schrankkoffer mitzunehmen.« »Herzchen, du wirst ja spitz«, lachte die Schwiegermutter. »Sie hat jeden Tag angerufen und sich nach deinem Erge hen erkundigt.« »Sehr bequem. Doch jetzt was anderes: Wie geht es Gaby?« »Sie wurde einen Tag vor deiner Hochzeit operiert. Wir haben dir das absichtlich verschwiegen, weil wir dich nicht erregen wollten.« »Und wie ist die Operation verlaufen?« »Nach Aussage des Professors gut. Die Kleine wird das Be inchen mit der Zeit wieder gebrauchen können, ganz glück lich soll sie darüber sein. – Ja, Junge, du bist schon wieder auf?« rief sie überrascht dem Sohn entgegen, der soeben durch die Tür trat. »Nach dem Schlaftrunk eigentlich ganz unmöglich.« »Aber doch wahr, Muttichen. Ich habe dir ja prophezeit, daß das Gebräu etwas für die Weiblichkeit ist, aber nichts für Männer. Trotzdem habe ich fest geschlafen und bin munter wie eh und jeh. Und wie geht es der Frau Gemah lin?«
»Gut, mein Herr Gemahl«, gab sie schlagfertig zurück. »Wenn ich ein saftiges Schnitzel haben könnte, würde ich sogar sagen: Sehr gut.« »Nicht kleinzukriegen«, lachte die Mutter amüsiert. »Wenn der Arzt das Schnitzel erlaubt, sollst du es haben.« Und er erlaubte es. Warum auch nicht? Die Patientin war fieberfrei und die Angina vollkommen abgeklungen. Im Bett mußte sie allerdings noch einige Tage bleiben, da half kein Schmeicheln und Betteln. Doch die Tage, die Senöwe noch im Bett verbringen mußte, sollten ihr nicht langweilig werden, weil immer einer da war, der ihr die Zeit vertrieb. Darunter befand sich auch Anita, die sich täglich bei der jungen Gräfin blicken ließ. Da sie sich jetzt einen Wagen zugelegt hatten, konnte man leicht mal nach Möwen huschen, wie sie sich ausdrückte. So saß sie denn auch heute an dem luxuriösen Bett, in dem Senöwe sich wie ein holdes Prinzeßlein ausnahm. Anita betrachtete sie mit heimlichem Entzücken, was sie jedoch nicht davon abhielt, das bezaubernde Menschenkind wie der einmal auf seinen »Seelenzustand« zu prüfen. »Du weißt ja gar nicht, wie froh ich bin, daß Rasmus sich schon wieder erholt hat«, begann sie vorsichtig. »Er sah nämlich erbärmlich aus, der arme Kerl, so sehr setzte die Angst um dich ihm zu. Es stimmt schon, wie es allgemein heißt, nämlich: Wenn Männer seiner Art lieben, dann hat die Liebe sie aber auch mit Haut und Haaren. Die vergöt tern ihre Frauen förmlich, gehören ihnen wirklich mit Herz und mit Sinn, wie es in dem Lied aus >Zar und Zimmer mann< heißt.« »Du schwärmst ja ordentlich, Anitachen«, warf Senöwe neckend ein. »Aber dazu sind die Poeten ja da, daß sie den Menschen blauen Dunst vormachen.« Zuerst war Anita über die Antwort verblüfft, doch dann stemmte sie nach beliebter Art die Hände in die Hüften und legte los: »Also, ich muß schon sagen, daß du ein ganz kaltschnäuzi ges Ding bist! Du hast einen Mann wie Rasmus bestimmt
nicht verdient.« »Ganz recht«, kam es von der Tür her, durch die der Er wähnte soeben schritt. »Es ist genau das, was ich in meiner Selbstherrlichkeit empfinde. Aber meinst du nicht auch, Freundin Anita, daß so tiefgründige Gespräche für die an gegriffenen Nerven einer Rekonvaleszentin nicht das richti ge sind?« »Du hast gehorcht?« »Ich war so frei.« »Na weißt du, Rasmus…« »Halt ein«, unterbrach er sie lachend. »So begann nämlich immer die Standpauke, die du mir früher nach einer Dummheit zu halten pflegtest. Aber jetzt mache ich schon längst keine mehr.« »Das kann man bei euch Männern nie wissen.« »Also doch nicht so ganz Halbgötter, wie du sie hinzustel len beliebst«, lachte Senöwe hellauf, wobei Anita wohl oder übel mittat. »Und die soll angegriffene Nerven haben? Ich finde, die sind sehr gut intakt. Doch was verschafft uns die Ehre dei nes Besuches, gebietender Herr?« »Um zu gebieten, daß der übermütige Faulpelz sich da aus seinem weichen Pfühl erhebt. Und zwar auf Anordnung des guten Onkel Doktor.« »Ich darf wirklich aufstehen?« »Ja, du darfst. Ich wünsche dir dazu viel Vergnügen.« Was er damit meinte, das sollte Senöwe erfahren, als sie, nachdem er gegangen war, mit Vehemenz aus dem Bett fuhr. Doch kaum, daß sie stand, schielte sie sehnsüchtig nach dem molligen Plätzchen. »Ja, ja«, spottete Anita gutmütig. »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« »Ich hätte nie gedacht, daß die Krankheit mich so mitneh men könnte, sie war doch nur kurz.« »Aber heftig, mein Herzchen. Vor allen Dingen das hohe Fieber, das saugt die Kraft aus dem Körper. Willst du nicht doch lieber wieder ins Bett zurück?«
»Auf keinen Fall, es soll und muß gehen.« »Na ja, daß du über Energie verfügst, das hast du am Hoch zeitstag bewiesen. Wie du da, so krank wie du warst, durchhalten konntest, wird uns allen ewig ein Rätsel blei ben.« »Ach, miserabel genug war mir schon zumute, aber hätte ich das gezeigt, wäre die Hochzeit bestimmt verschoben worden. Denk dir mal die Aufregung! Nein, es war schon besser so. Die hatten die Bernbruggs schon ohnehin, da ja Gabriele, wie ich später erfuhr, am Tag vorher operiert worden war. Es tut mir nur leid, daß ich nicht auch noch die Hochzeitsfeier durchhalten konnte, sondern so be schämend schlappmachte.« »Beschämend ist gut. Und nun setz dich bloß schnell hin, bevor du mir noch umkippst. Komm, die gute Anita wird dich anziehen wie ein Baby.« Sie war gerade damit fertig, als Rasmus eintrat. Prüfend sah er die Gattin an. Doch als er Miene machte, sie auf die Ar me zu heben, wehrte sie sich dagegen. »Na das wäre! Laß mich nur gehen, ich schaffe es schon.« Und sie schaffte es. Bei Anita und Rasmus eingehakt, langte sie auf der Terrasse an, wo ihrer eine Überraschung harrte. Denn wer ihr da freudestrahlend entgegenlachte, war die kleine Gabriele. »Gaby«, sagte Senöwe überwältigt. »Du bist schon hier?« »Ja«, entgegnete die Kleine wichtig. »Ich kann sogar schon etwas das Bein aufsetzen.« »Und unser Sturmvöglein sogar schon beide«, räusperte sich der Hausherr. »Aber setz dich ja hin, siehst doch noch recht blaßschnäbelig aus. Gib ihr ein Glas Wein, Rasmus.« Das leerte Senöwe dann mit Behagen, hielt auch eine Stun de tapfer durch, war dann jedoch froh, als sie sich wieder ins Bett strecken konnte, wo sie augenblicklich einschlief, zum völligen Genesungsschlaf. Es war eine Woche später. Draußen regnete es, wie es im Sommer ja auch sein muß. Zwar kam dieser Regen den Landwirten ungelegen, weil man mitten in der Roggenernte
war, aber wenn er nicht zu lange anhielt, würde er keinen Schaden bringen. Senöwe, die nun schon wieder fest auf den Beinen stand, ging langsam durch ihr kleines Reich, um es so recht gründlich in Augenschein zu nehmen. Wozu sie bisher noch keine Gelegenheit gehabt, weil man sie in den ver gangenen drei Wochen nicht eine Stunde sich selbst über lassen hatte, so überängstlich war sie behütet worden. Wenn Senöwe an all die Liebe und Güte dachte, in die man sie förmlich einhüllte, wurden ihr die Augen feucht. Wie still es um sie her war – eigentlich ein bißchen beäng stigend. Denn die beiden Gräfinnen waren mit Rasmus zur Stadt gefahren, Gabriele hielt ihr Mittagsschläfchen, Fräu lein Magda wollte den Regentag ausnutzen, um längst fälli ge Briefe zu beantworten, und Graf Magnus befand sich im Stall, wo ein Fohlen erwartet wurde. Also war Senöwe sich selbst überlassen und konnte in Mu ße all das in Augenschein nehmen, was man hier mit Liebe, Geschmack und sicherlich viel Geld für sie geschaffen hat te. Liebe -? sann sie nach. Bei den anderen schon – aber bei dem Gatten? Nein, daran glaubte die skeptische junge Frau nicht. Gewiß, erging zart mit ihr um, aber wie hatte Anita einmal gesagt: Rasmus wird seiner Frau, mag er sie aus Lie be erwählen oder nicht, immer ein guter, rücksichtsvoller Gatte sein. Plötzlich hatte Senöwe gar keine Freude mehr an ihrem luxuriösen Reich. Unwillkürlich fiel ihr die Redensart mit dem goldenen Käfig ein, die sie jedoch, ärgerlich über sich selbst, als geschmacklose Phrase abtat. Dann blieb ihr Blick an der breiten Glastür hängen, die ihr und des Gatten Schlafzimmer trennte. Sie hatte den darun terliegenden Raum natürlich noch nie betreten, aber hi neinschauen konnte sie schon mal. Vorsichtig, als wäre es ein Unrecht, drückte sie die Klinke nieder und lugte durch den Türspalt. Vor ihr lag ein Ge mach, zwar sehr gut, aber gewiß nicht pompös möbliert.
Auf dem Nachttisch neben dem breiten Bett stand ein Bild. Das interessierte Senöwe brennend. Auf Fußspitzen schlich sie über den dicken Teppich – und dann schlug ihr heiße Röte ins Gesicht. Das zarte Aquarell zeigte nämlich – sie – und zwar im Ba deanzug. Zwanglos stand sie da in dem knappen Trikot, die Badekappe lässig in der Hand, das Gesicht erhoben und die Augen sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Es war natürlich nicht schwer zu erraten, wer dieses kleine Kunstwerk ge schaffen hatte, das jeden Beschauer entzücken mußte in seiner natürlichen Schönheit und seinem Charme. Wie kam Onkel Konrad eigentlich dazu, ihr hinterlistig aufzulauern und sie so zu malen – und es dann Rasmus zu geben. Und wie kam dieser wiederum dazu, dieses immer hin intime Bild so offen auf seinen Nachttisch zu stellen. Sicherlich rechnete er damit, daß sie es nicht zu sehen be kam, weil es in seinem Schlafzimmer stand, das sie nicht betrat. Aber das Zimmer mußte ja auch gesäubert werden. Allerdings hatte zu dem nur der alte treue Diener Kilian Zutritt – und der war diskret und verschwiegen. Dennoch -! Hastig wandte sie sich ab und verließ den Raum. »Siehst du, neugierige Elster, das kommt davon, wenn man so naseweis ist«, schalt sie sich selber aus. »Jetzt hast du's! Wärest du da nicht hineingeschlichen, wo du nichts zu suchen hast, brauchtest du dich nicht zu schämen.« Denn das tat sie, obwohl sie gewiß nicht ausgesprochen prüde war. Wenn sie nur wüßte, wann Rasmus in den Be sitz des Bildes gelangt war, womöglich gar schon als Ver lobter. Aber nein, eine solche Indiskretion traute sie Onkel Konrad denn doch nicht zu. Und sie tat recht damit. Denn das entzückende Bildchen hatte der Maler dem Grafen als Geschenk überreicht, nach dem er von dem Standesamt zurückgekehrt war. »Da hast du sie, wie sie leibt und lebt. Als Bräutigam konn te ich dir dieses holdselige Konterfei nicht gut überreichen, doch als Ehemann steht es dir zu. Halt es aber geheim,
sonst spickt mir die Distel, soweit ich sie kenne, die Augen aus.« »Und mit Recht«, hatte Rasmus lachend erwidert. »Hab Dank, Konny, du hast mir mit dem wunderholden Ge schenk eine große Freude gemacht. Ich werde es vor neu gierigen Augen zu hüten wissen.« So war es gewesen, aber das konnte Senöwe ja nicht ahnen. Um ihr heißes Gesicht zu kühlen, trat sie auf den Altan und schaute hinunter in den Park, der nach dem warmen Regen wie blankgeputzt wirkte in dem leuchtenden Grün der Ra sen und den buntprangenden Blumenbeeten. Von den blühenden Akazien wehte der süße Duft bis zu Senöwe hin, auch von den vielen Rosen, die an allen Ecken und Enden wucherten. Schillernd sprühte die Fontäne empor, die der auf dem Rasenrund nach der Hofseite des Schlosses glich. Nur daß hier die Marmormöwen nicht flogen, son dern auf dem Bassin saßen. Eine Meisterhand mußte sie geschaffen haben, denn sie wirkten so natürlich, daß Se nöwe meinte, sie müßten jeden Augenblick ihren schrillen Schrei ausstoßen. Erschrocken fuhr sie zusammen, als zwei Hände sich zart auf ihre Augen legten. Sie schnellte herum und schaute in das lachende Gesicht dessen, an den sie eben so inbrünstig gedacht. Das verwirrte sie so sehr, daß sie rückwärts trat und sich an die Brüstung des Altans lehnte. Es sollte gewiß keine abweisende Geste sein – allein der Mann faßte sie so auf. »Entschuldige«, lächelte er spöttisch. »Ich muß mich näm lich erst daran gewöhnen, statt einer Stranddistel eine Mi mose geheiratet zu haben. Ist es hier draußen für dich nicht zu feucht?« »Keineswegs«, entgegnete sie hastig. »Die Luft ist ja so warm.« »Wenn auch, du mußt immer noch vorsichtig sein.« Schweigend trat sie an ihm vorbei in ihr Wohnzimmer, wo sie sich in einen Sessel sinken ließ und in das Zigaretten kästchen auf dem Tisch greifen wollte. Doch schon wurde
es ihr verwehrt.
»Laß das lieber bleiben, Senöwe, schone deinen Hals noch.
So ganz gefällst du mir sowieso nicht, bist immer noch
blaß…«
»Wie soll ich wohl anders als blaß aussehen, wenn ihr
mich wie eine Gefangene haltet«, fuhr sie gereizt dazwi schen. »Laßt mich doch endlich hinaus in die Sonne…«
»Hauptsächlich dann, wenn es regnet«, warf er trocken ein,
und da mußte sie lachen.
»Hast recht, ich bin ein Schaf – und undankbar obendrein.
Aber laß nur, ich werde mich ändern.«
»Nur ja nicht, bleib lieber so, wie du bist.«
»So, eben bemerktest du doch, daß ich dir nicht gefalle.«
»Darüber wollen wir uns später unterhalten, jetzt ist es da für noch zu früh. Zuerst einmal möchte ich dir eine kleine
Dividende überreichen.«
Er zog ein Etui aus der Tasche, ließ es aufspringen – und da
lag auf weichem Samt eine Armbanduhr und eine Platin-
kette, an der ein wundervoller Smaragd hing, und Sma ragdsplitter zeigte auch die schwergoldene Uhr.
»Rasmus, das ist ja überwältigend schön«, sagte Senöwe
entzückt. »Aber warum Dividende?«
»Nun, ein winzig kleiner Anteil an der Erbschaft, die ich
mit deiner Hilfe heute antreten durfte. Du verstehst doch,
was ich damit meine?«
»Das schon«, entgegnete sie, unter seinem sonderbaren
Blick verwirrt die Augen senkend. »Aber du hättest ja auch
ohne meine – na ja – das Geld bekommen, weil dein Vetter
ja tot ist, ob du da verheiratet bist oder nicht.«
»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Der Verstorbene
hat nämlich zwei Söhne hinterlassen und man weiß nie,
wie das Gesetz entscheidet. Also ist es auf alle Fälle besser,
daß ich verheiratet bin.«
»Die armen Kinder«, sagte Senöwe mitleidig. »Was wird
nun aus ihnen?«
»Die können sich bei ihren Eltern bedanken, die sie in ihrer
Verschwendungssucht um die Heimat brachten. Denn der
Besitz ist so verschuldet, daß nach der Versteigerung den
Knaben nichts bleiben wird.«
»Wie alt sind sie?«
»Acht und zehn Jahre.«
»Haben sie schon einen Vormund?«
»Ja – mich. Warum siehst du mich so überwältigt an?«
»Weil es überwältigend ist, daß du nach allem, was dir der
Vater Böses antat, dich nun seiner Kinder annimmst. Was
seid ihr Bernbruggs doch für gute Menschen.«
»Nun, ich meine, daß du zu denen jetzt auch gehörst.«
»Und darauf bin ich stolz. Was hast du über die Kinder
beschlossen?«
»Sie befinden sich bereits in einem anerkannt guten Inter nat, wo man sie sorgfältig erziehen wird. Denn jetzt sind
sie direkt verwahrlost, was kein Wunder ist, da die Eltern
sich nicht um sie kümmerten.«
»Hoffentlich bereiten sie dir keinen Kummer.«
»Kummer bestimmt nicht, dafür sind sie mir zu wenig ans
Herz gewachsen. Höchstens Ärger vielleicht auch nicht, da
muß man eben abwarten.
Und nun bin ich neugierig, wie sich die Kette an deinem
Hälschen ausnimmt. Ich habe sie so gewählt, daß du sie
täglich tragen kannst, ebenso die Uhr. Wirst du das tun?«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber sind die Sachen dafür
nicht zu kostbar?«
»Für dich ist mir nichts zu kostbar, das müßtest du eigent lich mit der Zeit schon gemerkt haben. Komm her – «
Geschickt legte er ihr die Kette um, streifte die Uhr über
und betrachtete sie dann schmunzelnd.
»So, jetzt bist du unlöslich an mich gekettet- und an der
Uhr wirst du bald merken, was die Glocke geschlagen hat.«
»Das glaube ich auch«, lachte sie, seinem Blick jedoch da bei ausweichend. Was sollte sie nun tun? Ihm so danken,
wie ihr ums Herz war? Doch bevor sie sich dazu entschlie ßen konnte, fiel die Tür hinter ihm zu.
»Was machen wir nun mit all den Leuten, die euch zur
Hochzeit beglückwünschten?« fragte der Vater den Sohn,
als man nach dem Abendessen im trauten Familienkreis beisammen saß. »Die Briefe häufen sich beängstigend, und die Blumen…« »Sind verwelkt, und ihr Duft ist verweht«, warf Rasmus trocken ein. »Wir werden Karten drucken lassen und sie verschicken.« »Da hast du schon recht. Aber uns so von den Menschen abschließen wie bisher werden wir nicht mehr können. Bedenke, daß du jetzt eine junge Frau hast, die Geselligkeit zu beanspruchen hat.« »Ich?« lachte Senöwe. »Soweit kommt das noch, daß ich hier anfange, Ansprüche zu stellen, wo man mir ohnehin schon jeden Wunsch von den Augen abliest. Erstens habe ich euch als liebste Gesellschaft, dann Hövemanns fast täg lich und auch Familie Körtlitz wird sich, sofern der Umbau beendet ist, hier öfter einfinden, wie Onkel Julius mir neu lich versprach. Das dürfte insgesamt wohl Gesellschaft ge nug sein, will ich meinen.« »Und deine Angehörigen, Marjellchen?« »Paps, beschwöre sie bloß nicht herauf«, entgegnete sie kläglich. »Die rücken schon von allein hier an, sofern sie von der Sommerreise zurück sind. Wie mir Mama gestern am Telefon erklärte, freut sie sich schon darauf, ihr >Her zenskind< wieder in die Arme schließen zu dürfen. Ich dämpfte ihre Freude, indem ich erklärte, daß ich noch kei ne Gäste empfangen könnte, weil ich unbedingte Ruhe brauchte.« »Mit einemmal«, schmunzelte die Großmutter. »Wie lange wirst du die noch brauchen, hm?« »Immer, wenn es mir gerade in den Kram paßt«, kam es spitzbübisch zurück. »Bedenke, daß ich als Stranddistel unter Naturschutz stehe.« »I der Dausend!« lachte Magnus gleich den anderen herz lich. »Aber hast recht, Marjellchen, bleiben wir erst mal für uns allein. Eingeschlossen natürlich die lieben Hövemanns, die ja sowieso zur Familie gehören. Außerdem haben eini ge Güter den Besitzer gewechselt, vielleicht sind Menschen
darunter, mit denen in Verkehr zu treten es sich lohnt. Da werde ich mal vorsichtig meine Fühler ausstrecken. Doch wie ist das heute mit unserem Regenabendkonzert, Fräulein Magda, wollen Sie etwa streiken?« »Gewiß nicht, Herr Graf«, entgegnete sie lächelnd, während sie sich erhob und an den Flügel trat, der im Wohnzimmer stand, außer dem im Musikzimmer, der jedoch nur selten benutzt wurde. Es sang und spielte wirklich gut, das unschöne Fräulein und hatte damit der Familie, bei der sie so freundliche Aufnahme fand, schon manchen Genuß bereitet. So hörte man denn auch heute behaglich zu und genoß dabei die Traulichkeit um sich her mit allen Sinnen. Da es in hohen, weiten Räumen bei Regenwetter leicht kühl wird, prasselten die Scheite im Kamin. Der Schein der Flammen huschte rotleuchtend durch den Raum, der nur von einer Stehlampe erhellt war. Draußen sangen Meer und Wind ihr ewiges Lied, schlug der Regen gegen die Scheiben, was in dem wohlig durchwärmten Gemach die Traulichkeit noch erhöhte. Dazu die Musik – nun, man konnte es schon ver stehen, daß diese Menschen sich nicht hinaussehnten aus dem Hafen des Friedens. Auch das neueste Familienmitglied nicht. Das war gerade die Atmosphäre, die Senöwe liebte. Im Sessel tief zurückge lehnt saß sie da, verträumt das Lied mitsummend, das Fräulein Magda gerade sang. Es war ein uraltes Lied von einem schönen Knaben, der sich keck einen stolzen Sturmvogel einfing, um sich an ihm zu erfreuen. So lange sang Magda allein. Doch bei dem letzten Vers sang Senöwe, sich selbst wohl kaum bewußt, die ein schmeichelnde Weise mit. Ihre weiche, süßverträumte Stimme paßte sich wunderbar dem warmen Alt Magdas an. Wie eine Welle von Zärtlichkeit und Sehnsucht durchwehte es das Gemach, in dem die Zuhörer gebannt lauschten: »Nun sag mir, mein Vöglein,
willst frei wieder sein?
Dann laß ich dich los,
ich sperr dich nicht ein,
dein Herzchen es soll nicht erkalten.
Ich komm nicht mehr los,
von dir Knaben fein;
nimm mich an dein Herz,
hüll in Liebe mich ein dann darfst du mich immer behalten.«
Nachdem der letzte Ton verklang, war es zuerst einmal sehr
still. Sie hatten dieses kleine schlichte Lied gewiß nicht
zum erstenmal gehört, doch noch nie hatte es sie so eigen
berührt wie heute.
Dann darfst du mich immer behalten…
Ganz einfach hatte es geklungen und war doch wie ein
Schwur gewesen durch Not und Tod.
Daß in der Seele dieses schönen Geschöpfes unschätzbare
Werte schlummerten, war hier bekannt; denn man hatte
schon so manche gehoben. Doch dieser beglückende Vor rat schien immer noch nicht erschöpft zu sein.
Schon während Senöwe sang, hatte sie in die Flammen
geschaut, verträumt, weltentrückt, kaum wissend, was um
sie vorging. So sinnverwirrend schön wie jetzt war sie noch
nie gewesen, wie sie so dasaß, die grazile Gestalt wie ein
Kätzchen zusammengeschmiegt, um den jungroten Mund
ein süßverträumtes Lächeln. Es war dem Mann nicht zu
verdenken, daß seine Augen wie trunken an dem wunder holden Bild hingen, daß ihm das Blut heiß zum Herzen
schoß.
Und in diese fast heilige Stille schrillte die Glocke des
Fernsprechers hinein – laut, aufdringlich, wie Hohngeläch ter. Die Menschen zuckten zusammen, und Rasmus fuhr
sich erst einige Male ruckartig über Augen und Stirn, bevor
er den Hörer abhob. Doch nachdem er das Gespräch ent gegengenommen hatte, sprang er hastig auf.
»Der Verwalter ist in Sorge um Thor!«
Er eilte davon, und der Vater hinterdrein.
»Halt, Junge, nimm mich mit!«
Fort waren sie, und Senöwe sah ihnen erschrocken nach.
»Thor – wer ist denn das?«
»Unser wertvollster Zuchthengst«, gab die Großmutter Aus kunft. »Ja ja, mein Kind, so ist es mit den Landwirten nun
mal. Immer müssen sie auf dem Sprung sein, immer in
Bereitschaft liegen. Hauptsächlich dann, wenn der Betrieb
so groß ist wie der unsere, da kommt fast täglich was vor.
Wahrscheinlich gibt es für unsere Männer eine schlaflose
Nacht.«
»Aber die opfern sie gern, wenn Thor nur erhalten bleibt«,
meinte Hortense. »Nur jammerschade, daß unsere schöne
Musikstunde so rauh unterbrochen werden mußte. Sag
mal, mein Liebling, was werden wir noch so alles an dir
erleben?«
»Warum, Mutti, was tat ich denn?«
»Du hast uns mit deinem Gesang beglückt. Wir hatten ja
keine Ahnung, daß du so wunderbar singen kannst.«
»Muttichen, mach mich doch nicht eitel. Ich singe, wie der
Vogel singt.«
»Eben deshalb«, schaltete sich die Großmutter ein. »Gerade
weil bei dir alles so ursprünglich geschieht, so ohne jede
Effekthascherei, deshalb wirkt es auf die Menschen so stark,
mein Kind. Bist du auch sonst noch musikalisch?«
»Ja, Klavier, Geige . . .«
»Geige?« fuhr Magda lebhaft auf. »Das ist ja wunderbar,
Frau Gräfin. Dann können wir ein Konzert geben.«
»Nun warten Sie doch erst mal ab wie ich spiele«, lachte
Senöwe in ihre Begeisterung hinein. »Denn sich Ihrem gu ten Spiel anzupassen, das dürfte nicht ganz einfach sein.
Zwar brachte mir mein Lehrer, der mich auch in Musik
unterrichtete, manches bei – na, wir werden ja sehen.«
»Jetzt gleich?«
»Aber aber, Fräulein Magda, Sie haben ja ganz rote Wangen
vor Aufregung«, lachte Gräfin Hortense. »Heute werden wir
erst mal schlafen gehen, denn ich bin offen gestanden mü
de.« »Außerdem habe ich meine Geige gar nicht hier«, erklärte Senöwe. »Die ist im Strandhaus. Doch morgen hole ich sie, das verspreche ich Ihnen. Aber hoffentlich erleben Sie kei ne Enttäuschung.« »Das glaube ich nicht, Frau Gräfin. Ich wünsche den Da men eine gute Nacht.« Damit ging sie, und die anderen folgten, begaben sich zur Ruhe und schliefen tief und fest. Nur Senöwe nicht, die plagte sich mit quälenden Gedan ken ab, konnte mit ihrem törichten Herzen nicht mehr fertig werden. Daß sie Rasmus liebte, wußte sie längst, doch noch nie war ihr das so qualvoll zum Bewußtsein gekommen wie in dieser schlaflosen Nacht. Und erst als das erste Frührot dämmerte, weinte sie sich in den Schlaf. Als Senöwe erwachte, strahlte die Sonne so hell ins Zim mer, als hätte es gestern nicht geregnet. Noch schlaftrunken streckte sie sich im Bett, fuhr jedoch erschrocken hoch, als ihr Blick auf die Uhr fiel, die auf dem Nachttisch stand. EH – da hatte sie sich ganz gehörig verschlafen. Einfach beschämend war das den anderen gegenüber, die um acht Uhr das Frühstück einnahmen, selbst die alte Gräfin mit ihren siebenundsiebzig Jahren. Die war sicher schon längst von ihrem täglichen Ritt zurückgekehrt, den sie in Beglei tung der Schwiegertochter unternahm. Danach sah diese im Hauswesen nach dem Rechten, nur die jüngste Gräfin stahl dem lieben Gott die Tage weg. Dafür wurde sie noch verhätschelt, sozusagen in Watte gepackt, weil sie vor drei Wochen Angina hatte. »Pfui, Senöwe, schäm dich!« sprach das Gewissen in ihre erbitterten Gedanken hinein. »Dank lieber dem Höchsten jeden Tag aufs neue, der dir ein Leben beschert, wie du es gar nicht verdienst. Was warst du schon vor deiner Ehe? Ein junges Mädchen, das von der Gnade des Stiefvaters abhing. Gewiß, du wehrtest dich dagegen und suchtest Zuflucht bei dem guten Onkel Konny, um wiederum dem auf der Ta sche zu liegen.
Bis der Mann kam, der dich zu dem erhob, was du heute bist – Gräfin Bernbrugg. Hast du überhaupt schon darüber nachgedacht, was das bedeutet? Wenn nicht, dann geh in dich und zeige dich deiner bevorzugten Stellung würdig.« Da schäme Senöwe sich wirklich. Sie sprang auf, eilte ins Badezimmer und stellte sich unter die kühle Dusche, die dann auch alle Grillen vertrieb. Und als sie dann später auf der Terrasse erschien, wo die beiden Gräfinnen bei einer Handarbeit saßen, war sie wieder ganz das frischfröhliche Menschenkind Senöwe, bei dessen Anblick man unwillkür lich an Sonne denken mußte, an Meer und an Wind. »Da bist du ja«, sagte die Großmutter schmunzelnd. »Ob du gut geschlafen hast, braucht man nicht erst zu fragen. Schaust aus wie das blühende Leben selber. Hast du schon gefrühstückt?« »Nein – ich habe auch kein Frühstück verdient. Schlafe wie ein Murmeltier, während alle anderen arbeiten. Ich schäme mich.« »Das laß ja bleiben«, lachte die Schwiegermutter, dabei zärtlich über das flimmernde Köpfchen streichelnd. »Du tust gerade genug. Du bringst uns die Sonne ins Haus, und das ist gewiß nicht wenig.« Dabei drückte sie den Klingelknopf, der alte Diener er schien, erhielt seinen Auftrag, und schon zehn Minuten später stand ein Frühstück da, dem Senöwe mit dem Appe tit eines gesunden Menschen zusprach. »So, jetzt bin ich satt«, erklärte sie fröhlich. »Zu meiner völligen Behaglichkeit fehlt nur noch ein Bad in der See.« »Damit warte lieber noch, bis Rasmus es dir gestattet«, sag te Hortense gütig. »Wir haben ihm vor seiner Abfahrt fest versprechen müssen, dich wie ein Kleinod zu hüten.« »Ist er denn fort?« »Ja. Auf einen Anruf ist er sofort nach Warnen gefahren, wo heute die Versteigerung stattfindet. Er muß ja als Vormund die Interessen seiner Mündel wahrnehmen. Wahrscheinlich wird er einige Tage fortbleiben, bis alles einigermaßen ge regelt ist. Dem armen Jungen blieben, nachdem er aus dem
Stall kam, kaum drei Stunden Schlaf, dann mußte er auf den Anruf hin geweckt werden. Aber das machte ihm nicht viel aus. Ihm war die Hauptsache, daß Thor wieder mobil ist. Dir soll ich von Rasmus herzliche Grüße bestellen.« »Danke, Mutti«, gelang es Senöwe, gleichmütig zu tun, während ihr doch das Herz so bitter weh tat. Wie sollte sie es wohl ohne Rasmus tagelang aushalten, nach dem sie sich schon sehnte, wenn er nur auf Stunden fort war. Sie merkte, daß ihr die Tränen kommen wollten und sprang auf. »Ich husch mal schnell ins Strandhaus hinüber, um meine Geige zu holen, wie ich es gestern Fräulein Magda ver sprach. Hoffentlich wird ihr mein Gefiedel nicht auf die Nerven gehen. Das heißt, die Geige selbst ist wahrschein lich sehr wertvoll. Ich fand sie vor, als Paps das Haus von seinem Onkel erbte. Der alte Seebär hat das Instrument wohl von einer seiner Fahrten mitgebracht. Jedenfalls be trachtete es mein Lehrer, der mich so arg mit der Musik piesackte, immer wieder voll Andacht. Und nun gehabt euch wohl, meine Lieben. Seid bitte nicht böse, wenn ich mich zum Mittagessen nicht einfinden soll te. Denn soweit ich Anita kenne, wird sie mich sobald nicht fortlassen.« Einen Kuß auf Hand und Wange der Damen, dann ging Senöwe leichtfüßig davon. Lustig wippte der weite Rock des eleganten Sommerkleides, wie Meeresgold glänzte und gleißte das Gelock auf dem rassigen Köpfchen. »Wie schön sie ist«, sprach die Schwiegermutter ihr zärtlich nach. »Und wie liebenswert in ihrer ganzen Art. Wie glück lich können wir doch sein, daß sie nun endgültig uns ge hört. Wenn der Junge nur endlich seine Gelassenheit ihr gegenüber aufgeben möchte. Am Ende liebt er sie nicht so…« »Hortense, jetzt redest du aber Unsinn«, unterbrach die Schwiegermutter sie trocken. »Bedenke, daß Senöwe nach der Hochzeit zuerst krank und danach Rekonvaleszentin war. Laß nur den Jungen gewähren, der weiß schon, was er
tut.« Indes schritt Senöwe frohgemut dahin. Eine Lust war es, wieder einmal den Strand entlangzuwandern, so nah, daß die heranbrausenden Wellen last ihre Füße näßten. Immer wieder wandte sie sich um und grüßte mit den Augen den trutzigen Bau, der auch sie jetzt schützend umschloß. Mun ter langte sie im Strandhaus an, wo man sie freudig begrüß te. »Ei sieh da, Frau Gräfin persönlich«, schmunzelte der Ma ler. »Bist du entflohen deiner Kerkerhaft oder hat man dich freiwillig daraus entlassen?« »Letzteres, du Spötter«, blitzte sie ihn an. »Das heißt, Ras mus weiß von meinem ersten Ausflug nichts. Er ist heute früh nach Warnen gefahren, wo die Versteigerung stattfin det.« »Aha«, nickte Anita verständnisinnig. »Und die beiden Damen und den vernarrten Paps hast du einfach um den Finger gewickelt. Denn der einzige, der dir Circe da oben standhalten kann, scheint tatsächlich Rasmus zu sein.« »Du bist ein Scheusal, meine liebe Anita. Aber macht nichts, ich bin froh, wieder einmal hier zu sein.« »Ehrt uns mächtig, Frau Gräfin«, machte die Malersfrau einen Kratzfuß, wobei ihre Augen lachten. »Aber so ganz allein aus purer Leutseligkeit erfolgt dieser Besuch wohl kaum.« »Hast recht«, kam es lachend zurück. »Ich bin hier, um meine Geige zu holen.« »Auch das noch.« »Wie belieben?« »Tu nur noch so scheinheilig, du weißt ganz genau, was ich damit meine. Wer wird dich zu deiner nichtsnutzigen Fie delei begleiten?« »Fräulein Magda. Die spielt nämlich ganz wunderbar Kla vier, und ihre dunkle Stimme ist weich wie Samt.« »Hast du die deine etwa auch schon hören lassen?« »Ja, gestern abend.« »Also kein Wunder, daß der Herr Gemahl da ausriß.«
»Halt endlich ein, du Strolch!« fuhr jetzt Konrad lachend dazwischen, und fröhlich fiel Senöwe ein. »Laß sie nur, Onkel Konny. Sie hat wahrscheinlich lange nicht ihr Zünglein wetzen dürfen, und da komm ich ihr gerade gelegen. Warum wart ihr übrigens gestern und vor gestern nicht oben?« »Weil wir schließlich noch mehr Beschäftigung haben, als einer verhätschelten Rekonvaleszentin die Langeweile zu vertreiben. Wie steht es mit dieser Kostbarkeit jetzt? Darf man sie wieder herzhaft anfassen?« »Na, herzhafter als du es tust, kann es wohl kaum noch geschehen.« »Ein Ausgleich tut immer gut, mein Herzchen. Wie steht es übrigens mit deiner angefangenen Übersetzung?« »Die nehme ich mit und führe sie zu Ende. Ich weiß sowie so nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll.« »Kommt noch, mein Liebchen, kommt noch. Laß Rasmus erst wieder auf der Bildfläche erscheinen, dann wird er sich dir, nun du wieder blühend gesund bist, schon an deine Fersen heften. Ich habe so was läuten hören, daß er dir bereits ein Pferd ausgesucht hat, auf dem du ihn begleiten sollst. Und dann kommst du kaum noch aus dem Sattel bei so einem anspruchsvollen Herrn.« »Das wäre ja herrlich«, freute Senöwe sich. »Allerdings wird er viel Geduld haben müssen. Denn ich bin über den An fangsunterricht kaum hinweg, den ich im Tattersall erhielt.« »Dann laß den glänzenden Reiter dich nur weiter in die Schule nehmen, das hat er nämlich erstklassig raus. Das heißt, bei mir versagte selbst er, der als Jüngling von dem Wahn besessen war, aus mir eine schneidige Reiterin zu machen, bis er es als hoffnungslosen Fall aufgeben mußte. Denn sowie er mich von einer Seite auf das Pferd hob, rutschte ich mit Vehemenz zur andern runter. Und als das neckische Spiel sich zum z….igstenmal wiederholt hatte, wandte mein forscher Lehrer sich verächtlich ab und nann te mich eine lahme Krähe.« »Was, so ungalant kann Rasmus sein?« fragte Senöwe la
chend, und vergnügt fiel die andere ein. »Konnte, mein Herzchen. Denn damals war er fünfzehn und somit in den schönsten Flegeljahren, die selbst vor der Ritterlichkeit eines Bernbrugg nicht haltmachten. Weißt du übrigens schon, daß Rasmus unseren Konny gebeten hat, dich zu malen, so richtig in Essig und Öl für die Ahnenga lerie?« »Aber das ist doch Unsinn«, wehrte Senöwe erschrocken ab. »Daraus wird nichts.« »Und wie etwas daraus wird! Dafür laß nur deinen hart näckigen Herrn Gemahl sorgen. Wenn der sich mal etwas in seinen harten Kopf gesetzt hat, dann geschieht es auch auf Biegen oder Brechen. Und er ist der Ansicht, daß so viel Schönheit und Charme nicht oft genug festgehalten werden kann. Und nun friß mich bloß nicht. Ich weiß auch so, daß ich eine Schwatzliese bin. Doch was tut's? Wem das Herz voll ist, geht der Mund über. Übrigens gibt es bei uns zu Mittag saures Herz. Ist dieses frugale Gericht der Frau Gräfin genehm?« Da lachte Senöwe, so recht von Herzen frisch und froh. »Ach, Anita, was bist du bloß für ein Unikum – aber ein liebes.« »Wenn das ein Kompliment sein soll, dann herzlichen Dank. Und nun gehe ich, damit ich die saure Angelegen heit bald servieren kann; denn sauer macht lustig.« Damit wippte sie ab, und die junge Gräfin sagte warm: »Onkel Konny, wie glücklich kannst du sein, vom Schicksal eine so prachtvolle Frau beschert bekommen zu haben.« »Das weiß ich«, entgegnete er so ernst wie selten. »Aber glaub mir, Senöwe, ich weiß dieses Glück auch voll und ganz zu schätzen.« Am Abend war dann der große Augenblick gekommen, auf den man in Möwen mit Spannung wartete. Selbst das Ehe paar Hövemann hatte sich dazu eingefunden, mit spitzbü bischem Vergnügen der Dinge harrend, die da kommen sollten.
Fräulein Magda war so aufgeregt, wie eine Künstlerin vor der Premiere. Daher klappte es bei der routinierten Spiele rin zuerst auch nicht so recht. Dreimal mußte sie mit dem Vorspiel beginnen, bis die Geige einsetzen konnte. Und dann klang zart und süß die »Toselli-Serenade« durch das Gemach. Kein künstlerisches Spiel, aber gerade deshalb ergriff es die Zuhörer, die ja alle Dilettanten waren, wie die Spieler selbst. Dazu kam noch das Bild, das sich den Menschen bot. Kei nen Blick konnte man wenden von der zauberschönen Gestalt, die da so leicht und sicher den Bogen führte, die Augen dabei sehnsuchtsvoll ins Weite gerichtet. Es erfüllte die Zuhörer mit Bedauern, daß Rasmus nicht da war, um das holdselige Bild in sich aufnehmen zu können. Doch der war nun bereits zwei Tage fort. Und er wußte selbst noch nicht, wie lange es dauern würde, bis er von Warnen loskommen konnte, diesem verwahrlosten Besitz, wo vorläufig noch alles drunter und drüber ging. Nun, dafür hatte er ihn auch lächerlich billig ersteigern können – und somit hatte Möwen noch ein Nebengut mehr. Doch sollten die Söhne des verstorbenen Kainz gut einschlagen, dann… Doch das hatte mindestens noch ein Jahrzehnt Zeit. Vorerst galt es einmal, den Besitz hochzubringen, was den beiden tüchtigen Landwirten, Vater und Sohn, allmählich schon gelingen würde. Zweimal hatte Rasmus bereits angerufen und mit dem Va ter lange Gespräche geführt, sich bei ihm Rat geholt. Denn nach Warnen fahren konnte Magnus nicht, obwohl es nur zwanzig Kilometer von Möwen entfernt lag. Für ihn gab es da während der Roggenernte alle Hände voll zu tun, zumal die tüchtige Hilfe des Sohnes fortfiel. Als Rasmus jedoch am dritten Tag anrief, befand Senöwe sich allein in dem Raum, in dem die Glocke so aufdringlich schrillte. Sie hob den Hörer ab, meldete sich und schon hörte sie die sonore Stimme, die ihr arges Herzklopfen ver ursachte:
»Du bist es, Senöwe? Das ist aber lieb. Wie geht es dir denn?« »Soweit gut, Rasmus, aber warum bleibst du nur so lange fort?« Es dauerte Sekunden, bis die Antwort kam: »Vermißt du mich denn?« »Ja – sehr.« Wie ein Hauch klang es, und doch hatte der Mann es ver standen. Ganz weich und zärtlich klang jetzt seine Stimme: »Ich komme, liebste Frau, sobald ich irgend kann. Wirst du mich dann aber auch nett empfangen?« »Ja, Rasmus, das verspreche ich dir.« Damit war es aber auch mit ihrer Courage vorbei. Sie legte den Hörer auf. Hob ihn auch nicht ab, so sehr er auch hin terher wieder schrillte, bis Magnus aus einem anderen Raum herbeieilte. »Nanu, Marjellchen, hast du etwa Angst vor dem schwarzen Kasten da, daß du ihn nicht anzurühren wagst?« fragte er neckend und sah verdutzt der grazilen Gestalt nach, die wie gehetzt aus dem Zimmer lief. Kopfschüttelnd hob er den Hörer ab und sagte gleich darauf: »Ach du bist es, mein Junge. Wie geht's, wie steht's, soweit alles in Ordnung dort?« »Ja, der Wust beginnt sich langsam zu entwirren. Aber eben sprach ich doch noch Senöwe. Willst du mir nicht sagen, warum sie so unvermittelt abhängte?« »Kann ich nicht, weil sie eben wie ein gehetztes Rehlein davonsprang. Was hat es zwischen euch gegeben?« »Für mich Beglückendes. Sie hat nämlich verraten, daß sie mich sehr vermißt.« »Und hinterher Angst vor der eigenen Courage bekom men«, lachte der Vater herzlich. »Laß den Krempel dort und komm zurück, dann wirst du ein Wunder erleben. Deine Frau fiedelt nämlich, daß selbst ein Paganini vor Neid er blassen müßte. Damit wird sie unter Garantie dein ver stocktes Herz windelweich kriegen. Wann kommst du al so?«
»Vielleicht morgen, Vater. Ich muß unbedingt noch mit dem neuen Verwalter verhandeln, der sich angesagt hat. Willst du während der Verhandlung nicht dabei sein?« »Gut, Rasmus, ich werde mir die Zeit dazu eben abstehlen. Ruf mich sofort an, wenn der Mann da ist.« »Danke, Vater. Gruß an alle, besonders an Senöwe.« »Wird bestellt, sofern ich ihrer habhaft werde. Doch vorläu fig muß sie wohl noch mit ihrem verängstigten Herzchen Zwiesprache halten.« Was sie auch tatsächlich tat. Sie schalt es ein törichtes Ding, weil es heute so spontan mit ihr durchgegangen war. Aber einmal muß das doch sein, nahm der Verstand das gescholtene Herz in Schutz, was nun wirklich nicht oft ge schah, denn Kopf und Herz pflegen sich selten zu vertra gen. Besinne dich nur, was Rasmus einmal zu dir sagte: Beruhige dich, mein eigenwilliges Kind, ich werde mir niemals etwas nehmen, was mir nicht freiwillig gegeben wird. Also richte dich danach. Wie deine Ehe sich gestalten wird, das ist allein in deine Hand gegeben. Vergiß dabei aber bitte nicht, daß dein Gatte Majoratserbe ist. So stand die arme Senöwe nicht nur mit dem Herzen in Streit, sondern auch noch mit der Vernunft. Und um sich klaren Kopf zu schaffen, tat sie etwas, was sie eigentlich noch nicht sollte. Sie schlich hinunter zum Meer und warf sich in die kühlen Fluten. Und als sie daraus wieder auf tauchte, lachte sie sich selber aus. Indes spann die Liebe ihre Fäden von Herz zu Herz. Was machte es dieser Allgewalt schon aus, daß das eine Herz hier schlug, das andere einige Meilen weiter? Es spann die se Fäden ja sogar über Land und Meer. Und machte immer wieder erfinderisch, das sollte Senöwe am nächsten Morgen erfahren. Zuerst dachte sie beim Er wachen, es narrt sie ein wunderholder Traum. Aber nein, er blieb. Und zwar in Gestalt der Kammerfrau, die ihrer Her rin einen Strauß roter Rosen hinhielt. »Die hat soeben ein Bote gebracht, Frau Gräfin. Wann darf ich wiederkommen und beim Ankleiden helfen?«
»Das weiß ich noch nicht, Alma«, wich Senöwe aus. »Es ist ja noch früh, kaum sieben Uhr. Ich melde mich schon, wenn ich Sie brauche.« Da zog die Gute ab, die es sich nicht nehmen ließ, jetzt auch noch ihre jüngste Herrin zu betreuen. Und war sehr gekränkt, wenn diese die Hilfe zurückwies. Also mußte Senöwe sich schon von ihr bedienen lassen, ob sie wollte oder nicht. Jetzt jedoch wollte sie mal erst mit sich allein sein, um das Wunder erfassen zu können, das da so süß zu ihr empor duftete. Zögernd griff sie nach dem Brief, der in der roten Pracht steckte, öffnete ihn mit bebenden Fingern und las dann ein sie über alles beglückendes Geständnis: Ein Morgengruß von dem, der Dir gehöret mit Her: und mit Sinn. Da mußte Senöwe sich erst einmal zurücksinken lassen in die Kissen, weil sie meinte, das Herz müßte ihr bersten vor lauter Glückseligkeit. Die hellen Tränen liefen ihr dabei über die Wangen. Und als die junge Gräfin später an den Frühstückstisch trat, sprach die kleine Gabriele das aus, was die anderen dach ten: »Senöwe, deine Augen glänzen ja heute wie die Kerzen am Weihnachtsbaum.« »Guter Vergleich«, schmunzelte die Großmutter. »Wer mag die Lichtlein wohl angezündet haben?« Eine scheinheilige Frage, die sie da stellte. Denn die Kam merfrau hatte die Indiskretion begangen, erst ihr und der Schwiegertochter verschmitzt den Rosenstrauß zu zeigen, bevor sie ihn an die richtige Adresse brachte. »Wo ist denn Paps?« fragte Senöwe hastig, um von dem verfänglichen Thema abzulenken. »Er ist nach Warnen gefahren, mein Kind«, gab Hortense Auskunft. »Rasmus braucht ihn dort zu seiner Unterstüt zung.«
»Wird er lange fortbleiben?« »Bestimmt nicht länger als bis zum Abend. Hoffentlich bringt er dann auch unseren Jungen mit.« Hoffentlich, dachte Senöwe sehnsüchtig. Allein, es verging Tag und Abend, ohne ihr den Ersehnten zu bringen. Und dann stand sich das junge Paar gegenüber. Süß er schrocken war der Blick der Frau, heiß werbend der des Mannes. In der Stimme vibrierte der Herzschlag mit, als er leise fragte: »Was tust du nun mit dem Mann, der dir schon längst ge höret mit Herz und mit Sinn?« »Das – «, kam die Antwort wie ein Hauch. Und dann legte sich ein gleißendes Köpfchen wie müde an eine breite Brust. Danach brannte heiß Mund auf Mund in dem ewi gen Spiel glückseliger Liebe. Und dann schob der Mann seine Frau von sich, soweit die Arme reichten. Die blauen Augen blitzten in dem stolzen Männerantlitz, und eine sonore Stimme fragte mit unterd rücktem Lachen: »Nun, steht die Stranddistel immer noch unter Natur schutz?« »Die Stranddistel hast du dir ja schon längst geraubt, du arger Räuber«, trat ihn ein Blick, der ihm das Blut heiß zum Herzen schießen ließ. »Schon damals im Wald, wo sie zwi schen rotleuchtenden Erdbeeren stand, wo sie ja wahrlich nichts zu suchen hatte. Aber der gefangene Sturmvogel möchte noch ein Geständnis machen.« »Und das wäre?« Da drückte sich das heilserglühte Gesichtchen fest gegen die Brust, in der ein Herz so stürmisch klopfte, und leise wehte es zu dem lauschenden Mann empor: »Ich komm nicht mehr los, von dir Knaben fein, nimm mich an dein Herz, hüll in Liebe es ein dann darfst du mich immer behalten.« Drei Jahre waren vergangen, die den Bernbruggs Glück und Segen gebracht hatten. Natürlich auch manchen Alltagsär ger, von dem ja kein Mensch verschont bleibt.
Und dazu gehörte auch damals das unverschämte Ehepaar, das in Warnen auftauchte und kategorisch das Gut mit Be schlag belegen wollte, weil es ihrer Ansicht nach den bei den Enkeln gehörte, welche die verstorbene Tochter hinter ließ. Das heißt, an dem Gut lag ihnen wenig, das Geld wollten sie dafür haben. Zwar ärgerten sich die beiden Grafen Bernbrugg über so viel Unverfrorenheit, aber Kummer machte sie ihnen nicht. Sie übergeben die Angelegenheit dem Gericht, nach dessen Urteil dann die beiden Unverschämten abziehen mußten, keinen Pfennig gewinnend, sondern noch die Gerichtsko sten tragend. Außerdem lag ihnen die Sorge für die Erzie hung der Enkel ob, weil Graf Rasmus die Vormundschaft niederlegte. Aber auch nur, weil er zu der Erkenntnis ge langte, daß die beiden Knaben aus demselben Holz ge schnitzt waren wie Eltern und Großeltern. Damit hatte er sich endlich von allem Zwielichtigen befreit und durfte fortan unbeschwert in Sonne und Licht atmen, die es reichlich gab in dem Schloß am Meer, zu dem er nach des Tages Müh und Plage zurückkehren durfte, ein glücklicher Mann im Kreise einer trauten Familie, zu dem jetzt auch seit zwölf Monaten ein kleiner Erbherr gehörte. Er trug die Vorzüge des Vaters, doch die Augen und das goldige Lachen hatte ihm die Mutter vererbt. Gabriele, ein kleines Wunder an Schönheit, stand schon längst auf ihren schlanken Beinen, und die Großmutter war mobil wie eh und je. Sie unternahm immer noch ihren täglichen Ritt, wobei sie es am liebsten sah, wenn Senöwe sie begleitete; denn sie war und blieb ihr Abgott. Und das Ehepaar Hövemann? Das konnte man sich einfach nicht mehr aus seinem Leben wegdenken. Konrad hatte Senöwes Bild mit so viel Liebe gemalt, daß es das beste wurde, was er je geschaffen. Das zweite Bild, das Konrad Hövemann dann mit viel Lie be malte, war das des kleinen Rasmus. Senöwe erhielt es am ersten Geburtstag des Söhnchens. Die junge Mutter betrachtete es zuerst mit sprachlosem Entzücken, doch
dann fiel sie dem schmunzelnden Spender kurzerhand um den Hals. »Onkel Konny, wie soll ich dir bloß danken! Das ist ja un ser Butzi, wie er da leibt und lebt.« »Na, den Herrgott zu konterfeien, damit hat er sich den größten Gefallen getan«, bemerkte Anita trocken. »Zuerst war es die Mutter, auf die ich eifersüchtig sein mußte, jetzt ist es der Sohn.« »Was du aber ganz gut überstanden hast«, neckte die Senio rin der Familie Bernbrugg. »Und dein Zünglein mit.« Heute war nun ein Tag, der des Feierns wert war; denn die alte Gräfin wurde achtzig Jahre alt. Gerührt nahm sie all die Liebesbeweise hin – auch die der Familie Neubeck, die geschlossen anrückte. Schon längst nahm man die turbu lente Familie so, wie sie nun einmal war; denn schließlich war sie gar nicht so übel. Man mußte nur gute Nerven ha ben, um sie zu ertragen. Charlott war nun auch verlobt und zwar mit Fred Ewing, den Senöwe einst verschmähte. Das hatte dem schneidigen jungen Mann jedoch nicht das Herz gebrochen, wie die Verliebtheit, mit der er seine niedliche Braut umgab, es schlagend bewies. Irina war es hoch anzurechnen, daß sie ihre Großmutterwürde nicht etwa verleugnete, sondern sie groß herausstell te, wie und wo sie nur konnte. Da die Großmama zu ihrem Ehrentag keinen »Klimbim« wünschte, ließ man selbstverständlich davon ab. Denn mittlerweile hatte Schloß Möwen seine gastlichen Tore wieder zur Geselligkeit geöffnet. Doch zu den liebsten Gä sten gehörten immer noch Familie Körtlitz, die sich auch heute vereint einstellte. Selbst das jüngste Mitglied von zweieinhalb Jahren war zugegen, das von Susi und Gabriele sofort mit Beschlag belegt wurde. Jetzt saß man treulich vereint unter einer uralten Linde, die breitastig genug war, um die riesige Kaffeetafel zu über schatten. Man tat sich an den Genüssen gütlich, lachte und schwatzte dabei nach Herzenslust. Sie hatten ja auch allen Grund, vergnügt zu sein, diese bevorzugten Menschen,
denen das Schicksal hold war. Nur Konrad Hövemann war nicht zugegen, den man in dem Trubel auch gar nicht vermißte. Doch dann tauchte er plötzlich auf – und wie! An seiner Hand tapste nämlich der kleine Erbherr von Möwen, der bisher noch nicht den ersten Schritt getan. Zwar noch unsicher auf den drallen Beinchen, aber im merhin, sie hielten wacker stand. Zuerst einmal fassungsloses Staunen, doch dann brach der Jubel los. Jeder wollte nach dem entzückenden kleinen Schelm fassen, doch nonchalant, eine ererbte Geste von der Mama, tat das dicke Patschchen die zugreifenden Hände ab. Nur der Urgroßmutter gelang es, das Kerlchen auf den Schoß zu heben – und gerade das war es, was der schmun zelnde Konrad bezweckte. »Nun, Uromi, wie gefällt dir denn dieses Geburtstagsge schenk?« »Es ist mein schönstes, du Heimtücker«, entgegnete die alte Dame lachend. »Daher warst du auch in letzter Zeit kaum aus dem Kinderzimmer zu bekommen. Aber wie hast du den kleinen Schalk hier nur dazu bewegen können, nicht schon früher seine Kunst zu zeigen?« »Er gab mir als echter Bernbrugg sein Wort«, entgegnete der Maler schlicht und fiel dann vergnügt in das herzliche La chen der anderen mit ein. Und man lachte noch oft und viel an diesem Tag, bis dann am Spätabend der vergnügte Trubel ein Ende nahm. Still war es im Schloß, wo man sich so recht zufrieden zur Ruhe begab. Nur zwei Menschen taten es noch nicht. Deren Herzen waren zu voll des Glücks, um Ruhe zu finden. Sie standen sich gegenüber, und ihre Herzen brannten einander zu wie am ersten Ehetag. »Kleinod mein«, sagte der Mann verhalten. »Ich kann es noch immer nicht fassen, dieses große Glück, das du mir gibst. Kleine geliebte Stranddistel, daß ich dich pflücken durfte, das werde ich dem Höchsten danken bis zu meines
Herzens letztem Schlag.« -ENDE