Es ist das Jahr 1997. Die Menschen haben den Mond und die Planeten Mars und Venus erreicht. Jupiter ist das nächste Zie...
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Es ist das Jahr 1997. Die Menschen haben den Mond und die Planeten Mars und Venus erreicht. Jupiter ist das nächste Ziel der Raumfahrt. Aber noch fehlt das Geld, um dieses gigantische Projekt in die Tat umset zen zu können. Senatorin Ellen Gallagher aus Kalifornien bemüht sich, im Kongreß die erforderlichen Gesetzesvorlagen einzubringen – gegen den heftigen Widerstand der Konservativen, die weitere Mittel für Raumfahrtpro jekte für reine Geldverschwendung halten. Max An drews arbeitet als Raketentechniker für das JupiterProjekt. Beide haben das gleiche Ziel – die Eroberung der Planeten.
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories 1 (2760) Science-Fiction-Stories 2 (2773) Science-Fiction-Stories 3 (2782) Science-Fiction-Stories 4 (2791) Science-Fiction-Stories 5 (2804) Science-Fiction-Stories 6 (2818) Science-Fiction-Stories 7 (2833) Science-Fiction-Stories 8 (2845) Science-Fiction-Stories 9 (2853) Science-Fiction-Stories 10 (2860) Science-Fiction-Stories 11 (2873) Science-Fiction-Stories 12 (2877) Science-Fiction-Stories 13 (2883) Science-Fiction-Stories 14 (2889) Science-Fiction-Stories 15 (2894) Science-Fiction-Stories 16 (2899) Science-Fiction-Stories 17 (2905) Science-Fiction-Stories 18 (2916)
Ullstein Buch Nr. 2925 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Lights in the Sky Are Stars« Übersetzung von Bert Koeppen
Science-Fiction-Romane: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917)
ISBN 3-548-02925-6
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1953 by Fredric Brown Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH
Fredric Brown
Sternfieber SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1997 Eigentlich hatte ich vorgehabt, noch einige Tage länger zu bleiben – aber dann sah ich mich im Badezimmerspiegel meines Bruders. Der Anblick meiner selbst, tropfnaß und auf ei nem Bein stehend, weil ich nur noch ein Bein zum Daraufstehen habe, änderte meinen Ent schluß. Ich wollte noch am gleichen Abend ab reisen. Hinter mir rauschte das Wasser aus der Wan ne, und genauso geräuschvoll und schnell ver rann für mich die Zeit. Mein Ebenbild im Spie gel sagte mir das mit aller Deutlichkeit. Ein Spiegel belügt dich niemals. Wenn er dir sagt, daß du wie siebenundfünfzig aussiehst, dann stimmt das auch. Und wenn du im Leben noch etwas vorhast, so wird es höchste Zeit, damit anzufangen! Natürlich kann man mit Hilfe der modernen Medizin über hundert Jah re alt werden – aber, Junge, glaub ja nicht, du wärst mit siebzig noch ein Jüngling! In dreizehn Jahren werde ich siebzig sein, dachte ich. Vielleicht würde ich auch noch schneller altern, denn bei meinem Lebenswan del stand ich mit einem Bein, bis zum Knie hin auf, bereits im Grabe.
Ich halte es für unverschämt und unmensch lich, in Badezimmern hohe Spiegel anzubrin gen. Die Jungen werden dabei eitel und die Al ten traurig. Rasch trocknete ich mich ab und zog mich an. Dann warf ich noch einen Blick in den Spiegel, und was mir jetzt entgegenblickte, war gar nicht so übel. Noch steckte eine ganze Portion Kraft in diesem Körper, und mit dem künstli chen Bein sah er vollkommener aus. Auch das Gesicht darüber war nicht direkt unangenehm. Es drückte ebenfalls die Kraft aus, die ich noch fühlte. Dann ging ich hinunter, sagte ihnen aber noch nichts. Damit wartete ich bis nach dem Abendessen, als Merlene die Kinder ins Bett gebracht hatte. Ich wußte genau, daß wir uns darüber streiten würden, und da wollte ich kei ne Kinder in der Nähe haben. Mit den Alten wurde ich fertig; aber was wollen Sie machen, wenn die Kleinen mit dem »Ach bitte, Onkel Max, bleib noch bei uns!« anfangen? Bill saß vor dem Video. Mein kleiner Bruder Bill. Mein kleiner Bruder mit dem ergrauenden Haar, der beginnenden Glatze und dem völligen Mangel an Phantasie. Aber sonst ein netter Kerl. Glücklich verheira tet, obgleich er es sich ziemlich spät überlegt
hatte. Einen ruhigen, sicheren Beruf, ruhige, sichere Ansichten. Aber keine Spur von Geschmack. Er liebte Cowboy-Musik. Auch jetzt saß er nur deshalb am Video, weil Cowboy-Musik gesendet wurde. Das Programm kam direkt aus dem Raum, von dem zweiten künstlichen Erdsatelliten mit der Telestation. Ein Programm in Videocolor, dreidimensio nal, und außerdem kam es direkt aus dem Weltraum. Ein Mann mit einem Cowboyhut zupfte an seiner Gitarre und sang mit näseln der Stimme: »Dich, meine einsame Prähä-rihie, und meinen Hengst, euch vergess' ich nihie!« Ich hätte dem Kerl alles mögliche geschenkt, wenn er dafür nur aufgehört hätte. Aber Bill gefiel das Programm. Ich trat an das breite Panorama-Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Von diesem Fens ter aus hatte Bill einen herrlichen Rundblick über die Stadt Seattle, von dem Hügel aus, der ungefähr fünfzig Kilometer von der Stadt ent fernt lag. Besonders in einer klaren Nacht wie heute konnte man jede Einzelheit erkennen. Es
war eine Nacht, wie man sie nur im Herbst manchmal erlebt. Unter mir die Lichter von Seattle, über mir der nächtliche Himmel mit seinen Sternen. Und hinter mir sang ein Cowboy. Endlich hör te er auf, und Bill schaltete mit der Fernbedie nung auf der Armlehne seines Sessels den Ton aus, als eine kurze Werbeeinlage folgte. In die plötzliche Stille hinein verkündete ich: »Bill, ich reise ab.« Er tat genau das, was ich befürchtet hatte: Er ging hin und schaltete das Video ganz ab. Man stelle sich vor: Er verzichtete auf die CowboyMusik, um sich mit mir darüber zu streiten, daß ich abfahren wollte! Noch schlimmer wurde es, als Merlene gerade den Raum betrat. Offensichtlich hatten ihr die Kinder heute weniger Schwierigkeiten ge macht als sonst. Ich hatte fest damit gerechnet, daß Bill schon einigermaßen erschöpft sein würde, bevor sie zurückkam. Jetzt mußte ich es mit beiden zugleich aufnehmen. »Nein!« sagte sie. Fest und endgültig. Sie setz te sich ins Sofa und blickte mich gerade an. Ich sagte: »Ja.« Ganz ruhig und mild. »Max Andrews, du bist jetzt gerade drei Wo chen bei uns und kaum halb erholt. Du brauchst mindestens zwei weitere Wochen Ur
laub und weißt das selbst genausogut wie wir.« »Keine so gründliche Erholung«, wandte ich ein. »Ich werde mich noch einige Zeit scho nen.« »Du bist aber noch nicht wieder so weit in Ordnung, daß du abreisen kannst.« »Dann werde ich bestimmt direkt vor eurer Tür in Ohnmacht sinken. Ihr dürft mich wie der hereinschleppen – und ich bleibe. Abge macht?« Bill wollte etwas sagen. Er setzte an: »Hör mal zu, Max ...« Dann verstummte er wieder und blickte Merlene an. Ich mußte den Kopf dau ernd von einem zum anderen drehen. »Wenn wir uns schon weiter streiten müssen, dann setzt euch doch bitte zusammen, damit ich mir nicht den Hals ausleiern muß. Bill, kannst du dich nicht neben deine Frau auf das Sofa setzen?« Er stand auf und wechselte seinen Platz. Nicht etwa geschmeidig – er stolperte dabei. Aber Gelenkigkeit hatte noch nie zu Bills Vorzügen gehört. Er war darin das genaue Gegenteil von Merlene. Sie war früher, bevor sie heirateten, Tänzerin gewesen, und jede ihrer Bewegungen war elegant und geschmeidig. Sie konnte den Tisch mit Bewegungen decken, von denen man meinte, sie gehörten zu einem Ballett. Sie war
sich dessen nicht einmal bewußt, deshalb machte es auch soviel Freude, ihr zuzusehen. Merlene sagte: »Versteh uns bitte richtig, Max. Wir haben dich gern hier, denn wir mö gen dich. Du darfst nicht glauben, daß du uns zur Last fällst. Du bezahlst deinen Teil selbst, und das hilft wiederum unserem Budget.« »Kann aber keine große Hilfe sein, wenn du darauf bestehst, mir nur die reinen Kosten zu berechnen. Ich habe dir ja vorgeschlagen, fünf zig Dollar in der Woche pauschal zu zahlen, und ...« »Bleibst du zwei Wochen länger, wenn ich fünfzig Dollar annehme?« Fast hätte ich mir eine Falle gestellt. »Nein, mein Schatz, das geht leider nicht.« Dann ging ich zum Gegenangriff über: »Seht mal her – im Augenblick steht es nur zwei zu eins für euch. Aber ihr könntet eure Übermacht vergrößern, wenn ihr die beiden Kinder herunterholt. Sie sind bestimmt noch nicht eingeschlafen. Sag ihnen, daß ich abfah ren will, damit sie versuchen, mich mit salzi gen Tränen aufzuweichen.« Merlene funkelte mich zornig an. »Du – du ...« Ich grinste Bill an. »Sie ist nur deshalb so sprachlos, weil sie sicher im gleichen Augen
blick daran gedacht hat, und jetzt kann sie es nicht mehr tun. Aber die Kinder würden nur darunter leiden, deshalb sollte man es nicht tun. Und an der Tatsache meiner Abreise wür de es nichts ändern. Ich muß weg.« Bill seufzte. Er blickte mich traurig an, mein kleiner Bruder mit den angegrauten Schläfen. »Wahrscheinlich nützt es auch nichts, wenn ich dir sage, daß ich dir bald eine ordentliche Stellung bei der Union Transport besorgen kann. Es ist eine sehr gut bezahlte Stellung ...« »Nein, Bill. Du weißt, daß ich Raketentechni ker bin. Union Transport benutzt aber keine Raketen.« »Du würdest in der Verwaltung eingesetzt, Max. Dabei spielt es doch wohl keine Rolle, ob es sich um Raketen oder Düsentransporter handelt?« »Ich mag Düsenflugzeuge nicht.« »Herrgott, Max, du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang Mechaniker bleiben!« »Warum eigentlich nicht? Es wird so lange Raketen geben, bis wir etwas Besseres gefun den haben.« Bill lachte. »Zum Beispiel, Nähmaschinen?« Da mußte auch ich lächeln. Diese Nähmaschi nen-Episode würde mich wahrscheinlich ver folgen, solange ich lebe. Sie hatte mich eine
Woche Arbeit und mindestens tausend Dollar gekostet – aber vielleicht ist ein guter Witz so viel wert. Bill räusperte sich schon, aber Merlene kam ihm zuvor. »Ach, laß ihn doch, Bill. Wenn er gehen will, können wir uns den Mund fransig reden, es hilft doch nichts. Warum sollen wir uns den letzten Abend damit verderben?« Ich trat zu ihr und klopfte ihr dankbar auf die Schulter. »Du bist ein Engel! Können wir dar auf nicht einen trinken?« Einen Augenblick lang musterte sie mich zweifelnd. Ich sagte: »Es würde schon nichts ausmachen. Ich bin kein Alkoholiker. Zumin dest nicht so weit, daß ich nicht gelegentlich ein Gläschen in Gesellschaft trinken könnte, ohne gleich dem Suff zu verfallen. Darf ich uns jetzt zur Feier meiner bevorstehenden Abreise eine Runde Martinis mixen?« Sie sprang auf. »Ich mache das schon, Max.« Sie ging hinaus, und ihr Gehen war wie ein Tanz. Bill und ich folgten ihr mit den Augen. Merlene ersparte mir eine Diskussion mit meinem Bruder, denn sie kam gleich wieder zurück. Wir stießen an. »Viel Glück, Max«, sagte Merlene. »Weißt du schon, wohin du fahren wirst?« »San Francisco.«
»Raketenmechaniker auf Treasure Island, wie früher?« »Wahrscheinlich, aber nicht jetzt gleich. Ich meine es wirklich ernst damit, daß ich mich erst noch eine Weile ausruhen will.« »Aber warum bleibst du nicht bei uns, bis du wieder arbeiten kannst?« »In Frisco tut sich etwas, wobei ich ein wenig mitmischen will. Ich hörte gestern abend im Video davon.« Bill sagte: »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Sicher das verrückte Frauenzimmer, das für die Senatswahlen aufgestellt wurde und eine Rakete zum Jupiter schicken will. Mein Gott, zum Jupiter! Was haben Mars und Venus uns Gutes gebracht?« Mein armer Bruder, mein armer Bill, der so viel Geld und so wenig Einsicht hatte, der arme, blinde Kerl! Ich sagte: »Hört mal zu, Kinder! Ich nehme die Düsenmaschine um zwei Uhr nachts. Jetzt ist es erst acht Uhr, wir haben also noch sechs Stunden Zeit. Ich mache euch einen Vorschlag: Ihr habt mich, seit ich hier bin, noch nicht ein einziges Mal als geübten Babysitter benutzt – heute habt ihr die letzte Gelegenheit dafür. Schnappt euch eure Kutsche und fahrt in die Stadt, damit ihr einmal ein wenig Unterhal
tung bekommt. Wenn ihr bis halb zwei Uhr wieder zurück seid, kann mich Bill zum Flug hafen bringen.« Es ging noch eine Weile hin und her, aber dann überredete ich sie doch. Mein Koffer stand neben der Tür, reisefertig. Er war nicht schwer. Ich reise genauso leicht, wie ich lebe. Materielle Besitztümer belasten einen nur, und wir haben weiß Gott auch ohne sie genug an Belastungen mit uns herumzu schleppen. Ich ging noch einmal ganz leise hinauf in das Zimmer, das jetzt drei Wochen lang meines ge wesen war und nun, nachdem meine Sachen herausgeräumt waren, wieder das Gästezim mer wurde. Easter und Billy schliefen neben an. Ich trat auf den kleinen Balkon hinaus. Es war eine wunderbare Nacht. Warm und klar. Gar nicht so weit weg erkannte ich den Mount Ranier. Über mir und in der Ferne leuchteten Lichter: die Sterne. Die Sterne, von denen man behaup tete, daß sie für uns unerreichbar seien, weil sie zu weit entfernt lägen. Sie lügen! Wir wer den sie erreichen, die Sterne. Wenn es die Ra keten nicht schaffen, irgend etwas wird uns hinbringen.
Es muß einfach eine Lösung des Problems ge ben. Wir haben den Mond erreicht, nicht wahr? Und den Mars, die Venus ... Ich war dabeigewesen, damals in den glückli chen sechziger Jahren, als der Mensch plötz lich nach den Planeten griff. Es waren die ers ten drei Schritte auf dem Weg zu den Sternen gewesen. Und jetzt? Was unternimmt man, um die Ster ne zu erreichen? Hör mich an – weißt du über haupt, was ein Stern ist? Unsere Sonne ist ein Stern und alle Sterne am Himmel sind solche Sonnen. Heute wissen wir, daß die meisten von Planeten umkreist wer den, so wie die Erde, der Mars, die Venus und alle anderen Planeten um die Sonne kreisen. Und es gibt verdammt viele Sonnen! Ich spreche hier keine Gemeinplätze aus – höchstens eine Untertreibung. Es gibt in unse rer eigenen Galaxis etwa tausend Millionen Sterne. Tausend Millionen Sonnen, von denen die meisten Planeten besitzen. Wenn man im Durchschnitt mit einem einzigen Planeten pro Sonne rechnet, dann sind das tausend Millio nen Planeten. Wenn nur jeder tausendste da von der Erde ähnlich ist, müßte es in unserer Milchstraße mindestens eine Million Planeten
geben, die der Mensch erobern und besiedeln kann, auf denen er normal leben, sich ernäh ren und fortpflanzen kann. Wir brauchen nur zuzugreifen, und eine Milli on Welten gehören uns. Aber das ist nur der Anfang, nur unsere Galaxis, die im Verhältnis zum Universum genauso winzig ist wie unser Sonnensystem, verglichen mit der Milchstra ße. Es gibt aber noch viele, viele Milchstraßen au ßer unserer eigenen. Weitaus mehr, als unsere Galaxis Sterne hat. Mindestens tausend Millio nen mal tausend Millionen Sonnen. Eine Million mal eine Million Planeten, die für uns bewohnbar sind. Weißt du, was für eine Zahl dabei herauskommt? Jeder Mensch, ob Mann, Frau oder Kind, könnte fünfund zwanzig Planeten geschenkt bekommen. Da aber niemand allein einen Planeten bevölkern kann, sagen wir ruhig fünfzig Planeten für je des Paar. Vielleicht sind manche davon schon bewohnt. Nun, das könnte ganz interessant werden. Wer oder was wird sie wohl bewohnen? San Francisco, drei Uhr fünfzehn morgens. Die verdammte Düsenmaschine hatte Verspä tung wie immer.
Ich nahm ein Helitaxi zum Union Square, dem einzigen Platz in der Stadtmitte, wo man mit einem Heli landen darf. Zum »Mark« ging ich zu Fuß. Ich kam ein wenig außer Atem, aber es war nicht allzu schlimm. Der »Mark« ist ein altes, heruntergekomme nes Hotel. Man kann für fünfzehn Dollar schon ein Einzelzimmer bekommen. Als ich noch klein war, wurde dieses Hotel wegen seines Ausblicks auf Hafen und Brücken berühmt. Heute ist es ringsherum zugebaut. Aber wenn man an der richtigen Ecke ein Zimmer bekom men kann, das oberhalb des siebten Stock werks liegt, blickt man über das niedrige Chi nesische Viertel hinüber nach Treasure Island, wo die Raketen starten und landen. Vielleicht bekam ich heute nacht noch eine zu sehen, denn eine landende Rakete ist aus einiger Ent fernung wunderbar anzuschauen. Ich hatte dieses Schauspiel seit Monaten vermißt und sehnte mich richtig danach. Zuerst war kein Zimmer an der richtigen Sei te frei, aber für zehn Dollar extra sah der Por tier noch einmal nach und stellte fest, daß ge rade eins freigeworden war. Das Zimmer war unaufgeräumt, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich zog mir einen Stuhl ans Fenster. Während ich auf eine Rakete wartete, blätterte
ich eine Zeitung durch, die ich mir unterwegs gekauft hatte. Über die Wahl stand nichts dar in. Also legte ich sie bald weg und dachte über verschiedenes nach. Billy, der Sohn meines Bruders, lebte noch immer seinen Traum von der Raumfahrt. Er wollte zu den Sternen – mit seinen sechs Jah ren. War ich daran schuld, oder vielleicht ir gendeine Sendung im Video? Es war mir gleich – solange er an seinem Traum hing. Eines Ta ges würde auch er zu den »Stardusters« gehö ren, zu den fanatischen jungen Leuten, deren Ziel die Sterne waren. Jeder von uns ist wich tig. Wenn wir erst einmal genug sind, dann ... Sieben Stunden später wurde ich von einem Mädchen geweckt, das zum Aufräumen an klopfte. Ich sagte ihr, sie solle das Zimmer in Ordnung bringen, ich hätte inzwischen etwas zu besorgen. Schmutzig und unrasiert ging ich zum Frühstück hinunter. In dem unordentli chen Zimmer wollte ich mich nicht einmal wa schen. Als ich wieder zurückkam und ein nettes, or dentliches Zimmer vorfand, kümmerte ich mich um meinen äußeren Menschen und fühl te mich gleich um vieles wohler. Ich rief Treasure Island an und fragte nach dem Chefmechaniker, Rory Bursteder. Als ich
seine Stimme hörte, sagte ich: »Hier spricht Max. Wie geht es dir, Rory?« Erst erkannte er mich nicht, aber dann schrie er begeistert: »Max Andrews! Du verdammter Schweinehund, wo hast du bloß das ganze Jahr gesteckt?« »Ach, mal hier, mal da. Meist in New Or leans.« »Von wo rufst du jetzt an?« Ich sagte es ihm. »Dann komm auf dem schnellsten Weg rüber. Du kannst gleich wieder anfangen.« Ich erklärte ihm: »Ich habe vor, mindestens die erste Woche nicht zu arbeiten, Rory. Ich muß hier erst noch etwas erledigen.« »Oh, handelt es sich etwa um die Wahlen?« »Richtig. Gestern hörte ich in Seattle davon. Wie stehen die Aktien?« »Komm rüber, und ich erzähle dir alles. Oder – Augenblick, hast du heute abend schon etwas vor?« »Nein.« »Dann kannst du genausogut mit mir und meiner Alten zu Abend essen. Wir wohnen im mer noch in Berkeley, das liegt auf dem halben Weg. Ich bin ab sechs Uhr frei. Hol mich am Tor ab, dann können wir zusammen nach Hau se gehen.«
Beß, Rorys Frau, ist eine großartige Köchin. Ich kann nicht behaupten, daß mir das Essen in Seattle nicht geschmeckt hätte, aber Merle ne ist als Köchin ein wenig zu phantasievoll. Sie macht sich mehr Mühe mit dem äußeren Aussehen eines Gerichtes, als mit dem Ge schmack. Beß Bursteder kocht nach der alten deutschen Schule, aber ihre Klöße sind so weich und duftig, daß sie von der delikaten, di cken Sauce daran gehindert werden müssen, nicht durch die Luft davonzusegeln. Nach dem Essen lehnte ich mich zurück und verschnaufte erst einmal. Ich hätte mich beim besten Willen nicht gleich erheben können. Ich fragte ihn jetzt: »Nun möchte ich einiges über die Wahl erfahren.« »Well, sieht wie eine wirkliche Chance aus.« »Das meinte ich jetzt nicht, obwohl es mich natürlich auch interessiert. Alles was ich bis her erfahren habe, ist eine Kurzmeldung ges tern abend im Video. Ich weiß nur, daß ein Mädchen namens Gallagher in Kalifornien einen Senatssitz haben möchte. Kommt sie bei der Wahl durch, will sie einen Gesetzesentwurf unterstützen und durchbringen, der die Be reitstellung von Geldmitteln für eine JupiterExpedition sichern soll.« »Richtig.«
»Ja, aber verdammt noch mal, das ist alles, was ich weiß! Ich muß Einzelheiten erfahren. Wie kommt es zu einer außergewöhnlichen Wahl? Ich dachte, daß der Gouverneur eines Staates irgend jemanden ernennen kann, der die Geschäfte eines während seiner Amtsperi ode verstorbenen Senators wahrnimmt.« »Das hat sich vor zehn Jahren geändert. Än derungsgesetz von 1987 – wenn ein Senatssitz durch Tod frei wird, bevor mehr als die Hälfte der Amtsperiode vorbei ist, muß in einer au ßergewöhnlichen Wahl ein Nachfolger ermit telt werden.« »So – damit wäre das erklärt. Wer zum Hen ker ist diese Gallagher?« »Ellen Gallagher, 45 Jahre alt, Witwe von Ralph Gallagher, der vor sechs oder sieben Jahren als Bürgermeister von Los Angeles ge storben ist. Danach hat sie sich der Politik zu gewandt – sie war zwar schon vorher aktiv, aber nur, um die Interessen ihres Mannes wahrzunehmen. Dann zwei Legislaturperioden im Landtag von Kalifornien, jetzt Kandidatur für einen Senatssitz. Nächste Frage.« »Was bringt sie zu ihrer Einstellung? Ist sie auch ein Starduster?« »Nein. Aber eine Freundin von Professor Br adley, University of California. Kennst du
ihn?« »Ich habe manches von ihm gelesen. Ein biß chen trocken, aber ganz gut.« »Er gehört mit gewissen Einschränkungen zu uns. Er tendiert immer noch zu den Relativis ten und glaubt nicht, daß wir die Lichtge schwindigkeit eines Tages überschreiten wer den. Aber er hat Miss Gallagher immerhin zu dem Unternehmen überredet. Nur verstehe ich nicht, warum sie nicht bis nach der Wahl ihre Klappe gehalten hat. Kalifornien ist ziemlich konservativ eingestellt, es könnte sie viele Stimmen kosten.« »Wir müssen ihr dabei helfen. Wer ist der Ge genkandidat?« »Ein gewisser Dwight Layton. Früher Bürger meister von Sacramento. Hat eine eigene Ma schine und ist mit allen Wassern gewaschen. Aber konservativ.« Ich schüttelte mich. »Ist das alles?« »Er spricht viel über Videostationen und, das muß man ihm lassen, er kann reden. Er sagt, daß die Menschheit viel von dem unersetzli chen Uran vergeudet, um wertlose Kolonien auf toten Weltkörpern wie Mond und Mars zu unterhalten. Die Erde macht sich selbst arm, denn sie versucht vergeblich, einen sich längst als unpraktisch erwiesenen Traum zu verwirk
lichen. Mehr als hundert Milliarden sind allein für das Marsprojekt aufgewandt worden – und welchen Wert hat Mars für uns? Sand und Moose, zu wenig Luft zum Atmen, bitter kalt. Dennoch geben wir jedes Jahr mehrere Millio nen aus, um ein paar Dutzend Menschen dort am Leben zu halten, die verrückt genug sind ...« »Halt, halt, das reicht mir.« Als wir nachher bei einer Flasche Bier gemüt lich im Wohnzimmer saßen, sagte ich zu Rory: »Gut, ich habe jetzt einen gewissen Überblick. Was kann ich dabei tun?« Er seufzte. »Nun, zunächst einmal kannst du sie wählen. Dafür bist du gerade noch rechtzei tig gekommen, um dich morgen einschreiben zu lassen. Bis dahin wohnst du natürlich bei uns.« »Wunderbar, vielen Dank!« »Außerdem hast du viele Freunde in San Francisco, so daß du dich für jeden von ihnen noch in ein paar anderen Bezirken eintragen lassen kannst und drei – oder viermal wählen könntest. Jede Stimme zählt, Max.« »Vielleicht sogar fünf oder sechs. Gut – wei ter.« »Rede mit deinen Freunden. Wir brauchen uns um sie keine Sorge zu machen – wenn es
deine Freunde sind, wissen wir, wen sie wäh len werden.« »Selbst wenn es mir gelänge, ein paar Dut zend Stimmen für sie zu gewinnen, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es muß noch andere Möglichkeiten geben.« »Verdammt, ich weiß nichts anderes. Du bist kein Redner. Wenn du vor ein Mikrophon trittst, ereiferst du dich und benimmst dich wie ein Fanatiker, der du in Wirklichkeit ja auch bist. Damit ist ihr nicht geholfen.« Ich stöhnte. »Damit hast du wahrscheinlich recht. Aber irgendeine Möglichkeit, mich nütz lich zu machen, muß es doch geben. Ich könnte diese Gallagher besuchen und sie fragen – möchte sie ohnehin gern kennenlernen.« »Glaube nicht, daß sie in der Stadt ist. Aber wende dich an ihren Wahlleiter, Richard Shea rer. Hat sein Hauptquartier im St. Francis Ho tel aufgeschlagen. Ich habe gestern mit ihm te lefoniert.« »Worüber?« »Er wollte einen Redner nach Treasure Island schicken. Ich sagte ihm, er sollte seine Leute da einsetzen, wo es nötig ist, denn unsere Stimmen bekommt er ohnehin geschlossen.« »Gut. Ich werde ihn gleich am Donnerstag morgen besuchen. Morgen werde ich mich um
meine Eintragung kümmern und zusehen, daß alle meine Freunde richtig wählen.« Punkt 9 Uhr betrat ich das Appartement 1315 im St. Francis. »Wahlleitung Ellen Gallagher« stand über der Tür. Eine blonde Empfangsda me verstreute Papiere auf ihrem Schreibtisch. Sie blickte auf, als ich eintrat, und lächelte mich an. Vielleicht gefiel ich ihr, oder sie lä chelte grundsätzlich bei jedem Besuch. Auf je den Fall lächelte sie. »Ist Ellen Gallagher zu sprechen?« erkundigte ich mich zuerst, um festzustellen, ob Rorys In formation richtig gewesen war. »Mrs. Gallagher befindet sich auf einer Wahl reise im Norden des Staates. Es tut mir leid, daß Sie sie nicht sprechen können.« »Kann ich dann Mr. Shearer sehen?« »Wird jeden Moment zurückkommen. Neh men Sie bitte Platz. – Oh, da kommt er schon. Dieser Herr wünscht Sie zu sprechen, Mr. Shearer.« Der Mann, der gerade eingetreten war, stand massig vor mir und hatte ein ausgesprochenes Mondgesicht. Ich stellte mich vor, und wir schüttelten uns die Hände. »Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Andrews?« fragte er. »Sagen Sie mir, wie ich Ellen Gallagher dazu
verhelfen kann, gewählt zu werden.« »Kommen Sie bitte weiter.« Er führte mich in sein Büro und nahm hinter einem altmodi schen Schreibtisch Platz. »Sind Sie mit Mrs. Gallagher befreundet, Mr. Andrews?« »Natürlich«, entgegnete ich. »Ich bin ihr zwar noch nicht begegnet, aber wenn sie im Senat eine Expedition zum Jupiter durchbringen will, bin ich ihr Freund.« »Ein Starduster also«, lächelte er. »Nun, wir brauchen auch die Unterstützung dieser Grup pe, ganz bestimmt jetzt, wo unsere Kandidatin sich so leichtsinnig über das Projekt geäußert hat.« »Sie sind damit offensichtlich nicht ganz ein verstanden?« »Ich habe nichts gegen die Rakete. Es ist an der Zeit, daß wir einen weiteren Schritt wagen. Aber ich fürchte, daß zu einer so ungünstigen Zeit, gerade vor den Wahlen, ihre Bemerkung der Presse gegenüber sehr schaden wird. Es war ein politischer Fehler, der sie mehr Stim men kosten wird, als sie damit gewinnt.« »Ist ihre Wahl dadurch in Frage gestellt?« »Ich weiß es nicht, Mr. Andrews. Aber wir werden auf jeden Fall die Stimmen sämtlicher Stardusters brauchen – jetzt, wo wir uns bloß
gestellt haben.« Ich sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen um die Stimmen der Stardusters. Die bekommt sie auf jeden Fall, manchmal sogar mehrfach.« Er lächelte schwach. »Ich wage Sie nicht zu fragen, was Sie damit meinen, deshalb ist es besser, wir berühren diesen letzten Punkt nicht weiter. Noch besser: Ich habe nicht ge hört, was Sie sagten.« »Schön, dann habe ich es eben nicht gesagt. Aber Sie sagten gerade, Sie wüßten nicht, ob sie die Wahl gewinnen wird. Denken Sie denn, daß sie es schafft?« Er schwieg so lange, daß ich mich entschloß, an seiner Stelle die Antwort auf meine eigene Frage zu geben: »Wie die Dinge stehen, wird sie also nicht durchkommen.« »Ich fürchte, es sieht fast so aus, wie die Din ge jetzt stehen. Wenn sich nicht irgend etwas Unvorhergesehenes ereignet ...« »Wie zum Beispiel ein plötzlicher und uner warteter Unfall des Herrn Dwight Layton?« Er hatte sich über seinen Schreibtisch nach vorn gebeugt, aber jetzt saß er wieder kerzen gerade, als ob er einen Stock geschluckt hätte. Er sagte: »Sie wollen damit doch nicht etwa andeuten ... In der Tat, Sie wären dazu fähig, und ich glaube fast, Sie sind imstande, einen
solchen Unfall zu arrangieren.« »Betrachten Sie es bitte als rein rhetorische Frage – aber antworten Sie mir bitte. Hätte Gallagher dann bessere Aussichten?« Er stand auf und begann mit langsamen Schritten nachdenklich im Büro auf und ab zu wandern. Fünfmal durchquerte er den Raum, dann hielt er inne und blickte mich fest an. »Nein, es wäre ungefähr das Schlimmste, was ihr passieren könnte – selbst dann, wenn Lay ton einen wirklichen Unfall erlitte.« »Warum?« »Layton ist ein verdammter Gauner, obgleich ihm niemand etwas nachweisen kann. Aber viele Leute, sogar manche seiner eigenen Par teigänger, vermuten Dinge, die ihn einige Stimmen kosten werden. Wenn Ellen einen an deren Gegenkandidaten bekommt, der in letz ter Minute zwischengeschoben wird, muß sie verlieren. Außerdem: Falls Layton einem Un fall zum Opfer fallen sollte, bei dem man auch nur entfernt vermuten könnte, daß er von ei nem fanatischen Starduster arrangiert war – mein Gott, Mann, sehen Sie denn nicht, wel chen Schaden Sie Ihrer eigenen Sache damit anrichten würden?« »Sie haben recht«, sagte ich. »Denken Sie nicht mehr daran. In welcher Hinsicht ist Lay
ton ein Gauner? Was hat er getan?« »Als Bürgermeister von Sacramento ist er überraschend schnell reich geworden. Es geht ein Gerücht, nach dem er hohe Provisionen für städtische Aufträge von Baufirmen kassiert hat. Aber er hat sich verdammt geschickt ge deckt. Die Leute vom Finanzamt haben ihn im letzten Jahr überprüft, aber sie konnten ihm nichts anhängen.« »Muß einen guten Buchhalter haben.« »Er selbst ist ein guter Buchhalter. Er war ein berühmter Buchprüfer, bevor er sich der Poli tik zuwandte. Er ist klug, und man kann ihn von keiner Seite her packen. Wenn wir Andeu tungen losließen, würde er uns vor den Kadi schleppen und glatt das Gegenteil beweisen.« »Wie wäre es, wenn ich persönlich solche Ver mutungen äußerte?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Die Reakti on darauf würde sich immer gegen Gallagher richten. Sie können während einer Wahlkam pagne nicht einen der Kandidaten angreifen, ohne sich automatisch mit dem anderen in Verbindung zu bringen. Nein, Mr. Andrews, ich fürchte, Sie können uns auch nicht helfen. Wir freuen uns, wenn Sie für Gallagher wählen und vielleicht noch ein paar Freunde dazu überreden, dasselbe zu tun – aber das ist auch
alles.« Er streckte mir die Hand hin, ein Zeichen, daß die Unterhaltung damit abgeschlossen war. Es war schon Mittag, als ich in Sacramento ankam. Der Düsenflughafen war gerammelt voll – ich glaube, es fand irgendeine Tagung statt – und ich hatte Schwierigkeiten, ein Heli nach der Stadt zu bekommen. Aber um halb zwei Uhr stand ich vor dem Gebäude in der KStreet, in dem Dwight Layton seine Büros hat te. Eine Minute später stand ich im Empfangsbü ro. Die Vorzimmerdame war ein regelrechter Zerberus, aber ich quatsche so lange, bis ich an ihr vorbeikam. Ich erklärte ihr, daß ich in ei ner ganz persönlichen Angelegenheit hier wäre, welche die Wahl und Mr. Laytons Aus sichten stark beeinflussen könnten. Nein, es wäre nichts, was ich auch mit seinem Wahllei ter besprechen könnte – er müßte es persön lich sein. Er war gerade sehr beschäftigt, und ich mußte siebenundzwanzig Minuten warten, aber ich kam zu ihm. Ich nannte ihm einen falschen Namen und spielte den erregten Layton-Wähler, der über
unsaubere Tricks der verdammten Stardusters ganz aus dem Häuschen geraten ist. Als er mich schon nach einer Minute sachte wieder hinausschob, redete ich immer noch heftig auf ihn ein. Vielleicht hätte ich noch etwas länger aushal ten können, aber die eine Minute hatte mir ge nügt, um mir sein Büro und die verschiedenen Arten von Schlössern an Türen und Schränken anzusehen. Der Panzerschrank war veraltet und hatte ein Schloß, das jeder gute Mechani ker innerhalb weniger Minuten öffnen konnte, wenn er die richtigen Werkzeuge hatte. Ich kaufte alles, was ich brauchte, und eine unauffällige Aktentasche dazu. Bis neun Uhr bemühte ich mich, die Zeit totzuschlagen, dann brach ich in Laytons Büro ein. Keine Einbruchssicherung – dieses Risiko mußte ich eingehen. Es klappte. Ich brauchte nicht einmal den Safe zu öffnen. Als erstes versuchte ich es mit der Schreib tischschublade. Sie war als einzige verschlos sen, und darin fand ich als einzigen Gegen stand einen roten Ordner. Er enthielt Schriftstücke in Laytons Handschrift. Ich ver glich sie mit anderen Notizen, die ich fand. Na men, Daten und Beträge, sogar genaue Be zeichnungen darüber, auf welche Aufträge der
Stadt Sacramento sich die jeweiligen Provisio nen bezogen. Beweise genug, um ihn ein dut zendmal ins Gefängnis zu bringen. Seltsam und systematisch arbeitet das Gehirn eines Buchhalters! In einem neutralen Umschlag sandte ich das Päckchen an Richard Shearer im Hotel St. Francis. Dann flog ich nach San Francisco zurück und legte mich schlafen. Kurz vor Mittag rief ich Shearer an. »Haben Sie ein Päckchen bekommen?« fragte ich kurz. »Bei Gott, ja! Wer sind Sie?« »Der Absender. Wir wollen lieber keine Na men nennen, besonders nicht über Telefon. Haben Sie schon etwas unternommen?« »Ich überlege mir immer noch, wie ich das Material am besten verwenden könnte. Ich weiß nicht recht ...« »Übergeben Sie es einfach der Kriminalpoli zei, das ist doch ganz einfach. Aber in Gegen wart einer ganzen Schar von Reportern, denen Sie Fotokopien der interessantesten Seiten überreichen.« »Was soll ich sagen, wenn man mich fragt, woher ich es hätte?«
»Woher haben Sie es denn? Es wurde Ihnen in einem neutralen Umschlag zugeschickt, und zwar aus Sacramento. Sie können der Polizei auch den Umschlag übergeben. Er weist keine Fingerabdrücke auf, und die Anschrift ist in Blockbuchstaben geschrieben. Sie vermuten, daß irgend jemand in seinen eigenen Reihen ihn nicht leiden mag – wahrscheinlich wird so gar Layton selbst das annehmen. Er wird keine Spur des Einbruchs finden und hat die Sachen vermutlich noch nicht einmal vermißt.« »Hören Sie – was wollen Sie dafür haben? Was können wir für Sie tun?« »Zweierlei: Erstens mir einen Drink kaufen, und zweitens anhören, was ich Ihnen dabei vorzuschlagen habe. Ich bin in fünfzehn Minu ten in der Big-Dipper-Bar. Ich werde Sie fin den, wenn Sie mich nicht erkennen sollten.« »Ich glaube, ich kenne Sie. Haben Sie mir nicht gestern in meinem Büro angedeutet, daß Sie Ihre Stimme mehrere Male abgeben woll ten?« »Still!« sagte ich. »Oder wissen Sie nicht, daß es gegen das Gesetz ist, öfter als einmal zu wählen?« Ich kannte die Bar nur vom Vorbeigehen, aber sie war ruhig und ziemlich menschenleer, so daß wir uns ungestört unterhalten konnten.
Shearer machte einen aufgeregten und nervö sen Eindruck. Er sagte: »Ich glaube, Ihr Vor schlag mit der Überreichung an die Kripo, in Gegenwart aller hiesigen Reporter, ist das Bes te. Ich hatte auch schon daran gedacht. Aber ich will bis morgen warten, morgen ist Sonn abend, da kommen die Neuigkeiten ganz groß in den Abendblättern und im Video heraus und werden am schnellsten bekannt. Es wird eine Sensation werden.« »Wie wollen Sie die Verzögerung erklären? Der Poststempel zeigt, daß Sie das Zeug schon heute bekommen haben.« »Ganz leicht. Ich weiß immer noch nicht, ob es sich nicht um Fälschungen handelt. Ist es die Handschrift von Layton, oder will mich nur jemand hereinlegen?« Ich verzog die Stirn. »Sie nehmen doch nicht an, daß ich Ihnen einen Streich spielen will, oder?« »Verdammt, nein! Aber wenn ich das Paket wirklich völlig unvorbereitet bekommen hätte, wäre ich sicher sehr mißtrauisch gewesen. Auf jeden Fall werde ich doch bis morgen dazu brauchen, die Identität der Handschrift festzu stellen und ein paar Kopien herzustellen. Okay – und was wollten Sie mir noch sagen?« »Das kann auch bis nach der Wahl warten. El
len Gallagher wird bis dann sicher zu beschäf tigt sein. Aber ich bitte Sie, ihr zu sagen, wer die Mappe besorgt hat. Vereinbaren Sie mir einen Termin mit ihr. Glauben Sie, daß sie sich mit mir unterhalten wird?« »Mit Ihnen unterhalten? Mann, sie sollte noch viel mehr für Sie tun! Schön, noch etwas?« »Nichts, was Sie mir versprechen könnten. Ich werde Mrs. Gallagher um einen Gefallen bitten. Deshalb soll sie wissen, daß ich noch einen Punkt bei ihr guthabe.« Er schlürfte an seinem Drink und blickte mich von der Seite an. »Sie können diese Rakete nicht fliegen, selbst wenn Ihnen Gallagher da bei helfen würde, das wissen Sie doch. Das Höchstalter für Piloten ...« Ich hob die Hand und stoppte ihn. »Denken Sie vielleicht, ich wäre verrückt? Ich weiß bes ser als Sie, daß das Höchstalter für Raketenpi loten auf dreißig Jahre festgelegt wurde. Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt. Nein, ich kann sie nicht fliegen. Aber ich kann beim Bau hel fen – mehr will ich gar nicht.« Er nickte. »Ich kenne Ellen gut genug, um Ih nen versprechen zu können, daß Sie den bes ten Job an dem Projekt bekommen werden, für den Sie sich eignen. Natürlich nur, wenn es im Senat durchkommt. Ich selbst gebe der Vorla
ge eine Chance von höchstens zehn zu eins.« »Welche Chance würden Sie Gallagher für die Wahl gegeben haben, wenn ich die rote Mappe nicht besorgt hätte?« »Etwa die gleiche. Aber das Durchbringen ei ner Gesetzesvorlage im Kongreß ist doch wie der etwas anderes. Sie können nicht das Büro eines jeden Abgeordneten ausräumen, der ge gen Sie stimmen wird.« Ich grinste ihn an. »Ich würde es versuchen.« Die Wahl selbst war eine Sensation. Die Be stechungsaffäre schlug ein wie eine Bombe – genau zur richtigen Zeit. Video und Presse schlachteten sie weidlich aus. Layton selbst er schien auf dem Video und versuchte, sich zu rechtfertigen. Er zog sich aber aus der Kampa gne zurück, bis die Anschuldigungen als un wahr zurückgewiesen sein würden. Den Na men seines Nachfolgers hörte schon kaum noch jemand. Er erhielt sechs Bezirke in Sacra mento – Ellen Gallagher vereinte alle anderen Stimmen auf sich. Um sechs Uhr saßen Beß, Rory und ich zu sammen und beobachteten, wie die gegneri sche Partei die Niederlage zugab. Wir ließen das Video leise laufen, weil wir Ellen Gallagher nicht verpassen wollten. Es war angesagt wor
den, daß sie sich auf dem Wege nach San Fran cisco befand und um halb neun Uhr bei der Landung in Angel Island interviewt werden sollte. Beß holte die Flasche Sekt aus dem Kühl schrank. Wir hatten damit gewartet, bis der Wahlsieg endgültig feststand. Wir tranken unsere Gläser auf den Sieg der Starduster leer. Wir tranken und unterhielten uns. Kurz nach halb neun Uhr sah ich, wie das Bild auf dem Schirm zum Flughafen überwechselte und der Reporter erschien. Ich drehte den Ton auf. »... sehr dicker Nebel«, sagte er gerade. »Man kann so gut wie nichts sehen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als zu warten bis Senator Gallagher landet. Man würde die Düsenma schine bei der Landung ohnehin nicht beob achten können – sie muß im Blindflug herun terkommen. Aber, jetzt kommt sie! Genau pünktlich – ich kann das Geräusch schon hö ren.« Ich sagte: »Mein Gott, Rory, diese Stratojets sind ganz miserabel im Blindflug. Wenn sie nach Instrumenten gelandet werden müssen ...« Im gleichen Moment hörten wir den Krach. Ich wollte hinaus, um zum Flugfeld zu fahren,
aber Rory hielt mich zurück. »Hier erfahren wir schneller, was los ist.« Die Nachrichten kamen stückweise, endlos lange Minuten lagen zwischen den einzelnen Meldungen. Die Düsenmaschine war schwer beschädigt worden, viele der Passagiere wur den dabei sofort getötet, niemand kam ohne ernstliche Verletzung davon. Der Copilot war unter den Überlebenden und konnte seine Um gebung noch erkennen, als man ihn herauszog. Er sagte, daß Radar und Radio zugleich versagt hätten, als sie sich nur noch wenige Meter über dem Boden befunden hatten – zu spät, um wie der hochzuziehen. Einen nach dem anderen zogen sie aus dem Wrack. Richard Shearer, Mrs. Gallaghers Wahlleiter, tot. Dr. Emmerett Bradley von der University of California, ebenfalls tot. »Gottverdammte Düsen!« fluchte Rory. Ellen Gallagher lebte. Sie war bewußtlos und schwer verletzt, aber sie würde wahrscheinlich am Leben bleiben. Man brachte sie sofort in ein Unfallkrankenhaus und verkündete, daß laufend über ihren Zustand berichtet werden würde. Sirenen heulten durch den Nebel. Verdamm tes San Francisco, verdammter Nebel, ver dammte Düsenmaschinen, verdammt – ver
dammt! Wir saßen da und warteten. Der Sekt wurde warm und schmeckte nicht mehr. Rory goß ihn in den Spülstein und holte eine Flasche Bier. Ich rührte mein Glas nicht an. Es war schon nach elf Uhr, als wir wieder et was über Gallagher hörten. Sie war außer Le bensgefahr, hatte aber sehr schwere Verlet zungen davongetragen. Zwei Operationen hatte sie schon überstanden. Sie würde mona telang im Krankenhaus liegen müssen. Es war aber mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß sie sich nach und nach wieder vollständig erholen würde. Ich dachte darüber nach, ob Richard Shearer wohl Zeit gehabt haben würde, ihr zu berich ten, wie er an die rote Mappe gekommen war. Er muß es ihr einfach gesagt haben! Sicher hat te sie ihn danach gefragt, und warum sollte er ihr nicht die Wahrheit gesagt haben – es sei denn, sie konnten nicht unbeobachtet darüber sprechen. Ja, das alles war leicht möglich. Sie war mit sieben Begleitern gekommen, Shearer und noch sechs andere. Es war also nur zu leicht möglich, daß sie keinen Augenblick lang mit Shearer allein gewesen war, so daß er ihr nichts davon hatte sagen können.
Schließlich trank ich das Bier aus, das mir Rory eingegossen hatte. Es war schon genauso warm geworden wie der Sekt eben, und es schmeckte ausgesprochen flau. Am nächsten Morgen fing ich in Treasure Is land unter Rory meine Arbeit wieder an.
1998 Die Arbeit an Raketen – an Raketen, die hin ausflogen, aber nicht weit genug. Nur ein paar tausend Kilometer und dann wieder zurück zur Erde. Raketen nach New York, Paris, Mos kau, Tokio, Brisbane, Johannesburg und Rio. Die richtigen Raketen starten von Plätzen in New Mexiko und Arizona. Sie unterstehen der Regierung – und die Regierung hat seltsame Vorstellungen von einem Raketenmechaniker. Die Regierung ist nämlich der Ansicht, daß ein solcher Mechaniker nicht älter als fünfzig Jah re sein darf. Sie ist weiterhin der Ansicht, daß er zwei eigene Beine haben sollte. Oh, ich habe an den interplanetaren Raketen gearbeitet, wenn mich einer meiner Freunde hineinbugsieren und mir eine Sondererlaubnis wegen meines Beines besorgen konnte. Aber nicht mehr, seit ich vor sieben Jahren die Fünfzig überschritten hatte. Diese eine Regel hat keine Ausnahme. Seitdem habe ich ver schiedentlich für kurze Zeit auf den Startplät zen der Regierung gearbeitet, aber nicht als Raketenmechaniker, sondern in der Verwal tung. Ich war froh, wenn ich ab und zu eine Ra kete starten oder landen sehen konnte. Ich hat
te es aber nie für längere Zeit ausgehalten. Ich bin kein Federfuchser. Da ist mir schon die richtige Arbeit an den Raketen lieber, selbst wenn es nur die Fernraketen der interkonti nentalen Flugverbindungen sind. San Francisco also. Und Senator Gallagher war in der Stadt. Sie lag immer noch im Kran kenhaus, es ging ihr aber schon besser. In ein paar Monaten würde sie wieder auf den Beinen sein – und ich hatte sie noch nie gesehen! Es war nur eine Frage der Zeit. Nur eine Frage der Zeit, bis die Jupiter-Rakete starten würde – und die Zeit verging. Sie zerrann mir unter den Fingern. In diesem Januar habe ich immerhin einiges erreicht. Ich entwickelte eine Idee, die das Ge wicht eines Gyro-Stabilisators um ein geringes verminderte. Dafür bekam ich eine Prämie von tausend Dollar, während die transkontinenta len Linien jedes Jahr viele Tausende einspar ten. Das störte mich aber nicht; mir war nur wichtig zu wissen, daß meine Verbesserung auch in den interplanetaren Raketen Verwen dung finden würde. Eine winzige Verringerung der Startmasse – ein kleiner Schritt näher an die Sterne heran. Darauf kam es an. Beß, Rory und ich hauten hundert von meinen tausend Dollar bei einem ausgedehnten Bummel auf
den Kopf. Das für mich wirklich große Ereignis kam erst ein paar Wochen später. Endlich erhielt ich einen Brief von Senator Gallagher. Da ich noch keine richtige Wohnung gefunden hatte und mir meine Post zu Bursteders schicken ließ, rief mich Beß eines Tages im Geschäft an und sagte mir, daß der Brief gekommen wäre. Na türlich forderte ich sie auf, ihn sofort zu öffnen und mir vorzulesen. »Lieber Mr. Andrews! Endlich, nach so langer Zeit, erlauben mir die Ärzte, die Antworten auf einige der vielen Briefe zu diktieren, die ich erhalten habe. Ih rer kommt dabei natürlich zuerst an die Rei he. Ja, Ricky Shearer erzählte mir, daß Sie es waren, der die Bombe zur Explosion brachte. Ich bin mir bewußt, wie tief ich in Ihrer Schuld stehe. Übrigens waren das die letzten Worte, die er in seinem Leben gesprochen hat. Wir saßen in dem Stratojet nebeneinan der, und er sagte es mir, als wir gerade zur Landung in Angel Island ansetzten. Es ist trotz der Zuversicht meiner Ärzte noch zweifelhaft, ob ich meine Arbeit noch
während der laufenden Legislaturperiode werde aufnehmen können. Aber im Sommer werde ich ganz gewiß wiederhergestellt sein, um die Arbeit im nächsten Kongreß – dem des Jahres 1999 – mit voller Kraft aufzuneh men. Inzwischen hoffe ich, daß wir uns schon bald einmal treffen und das Jupiterprojekt besprechen können. Ja, ich weiß, daß Sie an dem Projekt und nicht an mir interessiert sind, und ich werde mein Bestes für die Ge setzesvorlage tun, um sie durchzubekom men. Außerdem will ich mich bemühen, Ih nen eine geeignete Position bei der Ausführung des Projektes zu sichern, falls das überhaupt möglich ist. Ich weiß, daß dies der einzige angemessene Weg ist, Ihnen für Ihre Unterstützung bei der Wahl zu danken. Ich werde Ihnen in etwa einem Monat wie der schreiben; denn dann wird man mir wahrscheinlich schon gelegentlich erlauben, einen kurzen Besuch zu empfangen.« »Großartig!« sagte ich zu Beß. Sie meinte es auch. Ich war noch nicht verges sen. Richard Shearer – lieber Ricky! – war mit seiner Nachricht noch gerade zurechtgekom men. Er hatte gerade lange genug gelebt, um
Senator Gallagher von der roten Mappe zu er zählen. Ich hätte ihn und die ganze Welt umar men mögen – es war immer noch nicht zu spät für mich, ich war noch dabei! Und die Raketen flogen immer noch hinaus, und ich arbeitete an ihnen. Selbst wenn sie nach 30 000 Kilometern wieder herunterkom men – sie fliegen hinauf. Unter 30 000 Kilome tern lohnt es sich nicht, eine Rakete zu benut zen. Selbst wenn es möglich wäre, könnte man damit nur eine unmaßgebliche Zeitersparnis gegenüber einem Düsenflugzeug erreichen. Senator Gallagher schrieb mir keinen zweiten Brief. Sie rief mich statt dessen an. Es war an einem Abend Ende März. Sie rief bei Rory an, weil sie immer noch diese Anschrift von mir kannte. Zufälligerweise war ich an diesem Abend auch gerade da, so daß die Nachricht nicht auf Umwegen an mich weitergegeben zu werden brauchte. »Mr. Andrews? Hier spricht Ellen Gallagher. Ich bin jetzt wieder zu Hause, und es geht mir sehr viel besser. Ich darf Besuche empfangen, wobei man mir eine halbe Stunde als Höchst dauer befohlen hat. Wäre es Ihnen möglich, mich recht bald einmal zu besuchen?« »Wann immer Sie wollen«, sagte ich ihr. »Soll ich vielleicht gleich kommen? Oder, einen Au
genblick, Sie sagten, Sie seien wieder zu Hau se. Rufen Sie aus Los Angeles an?« »Nein, ich bin immer noch in San Francisco. Ich meine mit ›zu Hause‹ eine Wohnung, die ich mir für einen oder zwei Monate gemietet habe, damit ich mit den behandelnden Ärzten in engem Kontakt bleiben kann. Sie liegt auf dem Telegraph Hill.« »Wenn es Ihnen heute abend recht ist, kann ich in einer halben Stunde dort sein.« Sie lachte. Es war ein reizendes Lachen. Ich begann schon, sie gern zu haben. Gern haben? Nein, ich liebte sie bereits jetzt. Sie sagte: »Sie haben es aber wirklich eilig, Mr. Andrews. Am Telefon machen Sie auf mich genau den Ein druck, den ich von Ihnen hatte, als Ricky mir Sie beschrieb. Aber heute abend darf ich wirk lich keinen Besuch mehr empfangen. Haben Sie morgen Zeit? Wäre es etwa um zwei Uhr nachmittags möglich?« Ich sagte selbstverständlich zu und natürlich bekam ich frei, als ich Rory erklärte, worum es ging. Eine Krankenschwester führte mich in die Wohnung und in das Zimmer, wo Ellen Gal lagher bereits auf mich wartete. Sie sah noch blaß aus, aber viel hübscher als die Bilder, die ich von ihr gesehen hatte. Viel
leicht kam das daher, daß ich immer nur Schwarz-weiß-Bilder gesehen hatte, auf denen ihr kastanienbraunes Haar nicht so recht zur Geltung kam. Es war beinahe rot und wirkte ganz anders als auf den Fotos. Sie sah auch nicht wie fünfundvierzig aus. Ich hätte sie für Mitte Dreißig gehalten. Ihre Augen waren dun kel und standen weit auseinander. Auch ihr Mund war groß und voll. Eigentlich war sie gar nicht so hübsch, dachte ich bei einem zweiten Blick. Ich hatte wohl das falsche Wort ge braucht. Sie war aber attraktiv, und von Kopf bis Fuß (die ich natürlich nicht sehen konnte) eine Frau. »Nicht schlecht!« sagte ich als Begrüßung. Sie lachte. »Schönen Dank für das Kompli ment, Mr. Andrews!« »Sagen Sie Max, Ellen!« bat ich. »Wie Sie wollen, Max. Setzen Sie sich und hö ren Sie auf, hier hin und her zu laufen. Die Ra kete ist noch nicht ganz startklar.« Es war mir nicht zu Bewußtsein gekommen, daß ich auf und ab gegangen war. »Wann?« fragte ich nur. »Sie wissen doch, wie lange sich Regierungs projekte hinziehen.« Ja, ich wußte es. Ich wußte, daß es noch min destens ein Jahr nach der Bewilligung des Gel
des dauern würde, bevor man anfangen konn te. Eventuell noch länger, wenn nicht jemand mit viel Einfluß dahinter stand und beständig drängte. Und, da es sich um einen Auftrag der Regierung handelte, würde es mindestens zwei weitere Jahre dauern, bis die neue Rakete ge baut war. Die private Industrie würde es in der halben Zeit schaffen. Ich fragte: »Sagen Sie mir ganz ehrlich, wie die Aussichten für die Genehmigung des Pro jektes durch den Kongreß stehen!« »Ziemlich gut, Max. Ich kann die Vorlage at traktiv vorbringen, sie in die Öffentlichkeit tra gen, Urteile und Gutachten von führenden Wissenschaftlern einholen, die besagen, daß eine genaue Untersuchung der Jupitergegend wichtig sei. Das ist natürlich nur das Drum und Dran. Da es sich um einen relativ kleinen Betrag handelt, werde ich ihn durch einen Kuhhandel durchbringen.« »Kuhhandel? Was meinen Sie damit?« Sie blickte mich forschend an und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie wirklich nicht, wie es im Parlament zuzugehen pflegt?« »Nein.« »Das geht ungefähr so: Jeder Abgeordnete hat irgendein Gesetz, das er persönlich gern durchhaben möchte. Gewöhnlich ist es ein
Vorteil, den er für seinen eigenen Staat, für seinen Bezirk erringen will, damit er das nächstemal wiedergewählt wird. Senator Corn husker beispielsweise könnte für seine Bauern aus Iowa einen höheren Grundpreis für Getrei de wollen. Wir machen einen Kuhhandel. Ich stimme für seine Gesetzesvorlage, er für mei ne.« »Großer Gott!« sagte ich erschüttert. »Es gibt 102 Senatoren. Wollen Sie damit sagen, daß Sie hundertundeinen auf diese Weise ...« »Max, Sie denken nicht logisch. 52 Stimmen sind die Mehrheit. Auf mindestens 35 kann ich mich verlassen, die würden ohnehin dafür stimmen. Bleiben also noch 17 – um sicherzu gehen, 20 –, mit denen ich handeln muß.« »Aber das Abgeordnetenhaus ...« »Damit ist es schon schwieriger. Da werden mir die Stardusters helfen. Sie wissen genau, mit welchen Stimmen ich rechnen kann, und wie man sich noch genügend weitere besorgen kann. Sie übernehmen die Herstellung von Querverbindungen, und ich kann dann meine Stimme gegen ganze Blocks von ihren Stim men austauschen. Eine Stimme im Senat ist zur Zeit acht Stimmen im Abgeordnetenhaus wert. Ich brauche mich auch nicht persönlich um den ganzen Kuhhandel zu kümmern. Es
werden sicher noch ein paar andere da sein, die so an der Vorlage interessiert sind, daß sie sich an dem Geschäft beteiligen. Und dann ...« »Schrecklich! Und wie lange soll das Theater dauern? Kann das Gesetz unter diesen Um ständen überhaupt während der nächsten Sit zungsperiode durchkommen? Ich meine, falls Sie sich rasch genug erholen, um vielleicht einen Monat vor den Sommerferien da zu sein?« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Max, selbst wenn ich nicht verletzt worden wäre und jetzt dort sein könnte, würde ich es vor den Fe rien nicht mehr durchdrücken. Dieses Jahr ha ben wir eine Präsidentenwahl. Präsident Jan sen wird wahrscheinlich wiedergewählt werden. Er tendiert leicht zu unserer Seite hin. Er wird kein Veto dagegen einlegen, wenn er die Gesetzesvorlage nach den Wahlen zur Un terschrift vorgelegt bekommt. Aber direkt vor der Wahl würde er es beinahe zwangsweise tun müssen.« »Und wenn er die Wahl verliert?« »Das glaube ich zwar nicht, aber auch dann würde es nicht viel schaden. Wer ihn auch schlagen sollte, wir können ziemlich sicher sein, daß es ein gemäßigter Politiker sein wird, der nichts gegen eine im Verhältnis so kleine
Aufwendung hat. Er würde genau wie Jansen gegen große Projekte, wie zum Beispiel die Ko lonisierung eines Planeten oder den Bau eines neuen Sternschiffes sein Veto einlegen.« »Hm, so ganz klar sehe ich noch nicht, aber die großen Zusammenhänge verstehe ich jetzt einigermaßen. Was ich nicht begreife, ist fol gendes: Wenn Sie in politischen Dingen so schlau sind, wie konnten Sie dann den Jupiter kurz vor der außergewöhnlichen Wahl als Schlagwort herausstellen? Indem Sie den Re portern von Ihren Absichten erzählten, haben Sie beinahe die Wahl verloren.« »Ich weiß. Ich würde ohne Ihre Hilfe nicht durchgekommen sein. Aber in Wirklichkeit war es nicht mein Fehler, Max. Brad – Dr. Br adley von der Universität – war daran schuld. Er ließ eine Bemerkung darüber fallen, daß er die Vorarbeiten zu dem Projekt leiste und daß ich mich im Kongreß dafür einsetzen wollte, wenn ich gewählt würde. Die Reporter fragten mich danach – und ich konnte doch Bradley nicht in Schwierigkeiten bringen, nicht wahr? Ich konnte ihn nicht einfach als Lügner hin stellen.« »Nein, das konnten Sie nicht tun. Aber wie war es möglich, daß dieser verdammte Narr ...«
»Max!« Ihre Stimme unterbrach mich in et was schärferem Ton. »Vergessen Sie nicht, daß Brad tot ist! Außerdem war er es, der mir das Projekt nahelegte. Es war seine Idee.« »Entschuldigen Sie bitte!« sagte, ich ein wenig kleinlaut. Sie lächelte schon wieder. »Schon recht, ver gessen wir es. Sagen Sie ...« Ellen blickte zur Tür, als wir von dort Schritte hörten. Die Krankenschwester erschien. »Eine halbe Stunde, Mrs. Gallagher. Ich sollte Sie daran erinnern.« »Danke Dorothy.« Sie blickte zurück zu mir. »Max, was ich gerade fragen wollte, wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb verschie ben wir es auf das nächstemal. Wann können wir uns wieder sprechen?« Wir setzten meinen nächsten Besuch für Frei tag abend, sieben Uhr, fest. Am Freitag saß Ellen Gallagher schon in ei nem Sessel und trug ein Hauskleid. Sie sah besser aus, weniger blaß. Sie begrüßte mich. »Nehmen Sie Platz, Max. Wir beginnen da, wo wir das letztemal aufge hört haben. Ich brachte die Sprache gerade auf Sie. Was wollen Sie eigentlich von mir?« »Sie wissen verdammt gut, was ich will. Ich
will diese Rakete fliegen. Aber wir wissen ebensogut, daß das unmöglich ist, damit basta. Aber will ich mich damit begnügen, bei der Durchführung der Vorbereitungen mitzuhel fen, sie starten zu sehen und dann lange genug zu leben, um bei der Landung noch dabeisein zu dürfen. Ich will nur wissen, daß wir wieder einen Schritt auf dem Wege weitergekommen sind, den wir gehen müssen.« »Das habe ich mir auch gedacht. Ja, ich werde es wohl einrichten können, daß Sie an der Ra kete mitarbeiten. Aber um die anderen Vorbe reitungsarbeiten, im Kongreß zum Beispiel, will ich mich lieber selbst kümmern. Das ist nicht Ihr Fachgebiet. Sie lassen also besser die Finger davon.« »Ich kann mich erinnern, daß ich vor einiger Zeit einmal gar nicht ...« »Max, das war ein ganz anderer Fall. Sie ha ben nicht mir zur Wahl verholfen, sondern meinen Gegner vernichtet. Das ist im Grunde genommen dasselbe, aber mit solchen Metho den kann man kein Gesetz im Kongreß durch bringen. Wie würden Sie es anfangen? Die Bü ros von Senatoren und Abgeordneten plündern, um irgend jemanden damit anzu schwärzen?« »Ich könnte mit den Leuten diskutieren.«
»Max, in Washington würden Sie mehr Scha den anrichten als nützen. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Versprechen Sie mir das?« »Na schön, ich glaube, Sie haben recht.« »Gut. Nun kommt es noch darauf an, welche Art von Arbeit wir für Sie finden können, wenn das Projekt erst einmal angelaufen ist. Ricky Shearer sagte mir, Sie seien Raketenmechani ker, und er glaubte sich zu erinnern, daß Sie ein Ex-Spaceman sind. Stimmt das?« Ich nickte. »Ehrenvoller Abschied? Wo ist Ihr Abzeichen?« »In irgendeiner Schublade. Ich trage es nicht. Ich bin der Ansicht, daß man es nicht für etwas tragen sollte, was so lange zurückliegt.« »Tragen Sie es jetzt wieder. Die Tatsache, daß Sie selbst Spaceman waren, wird viel helfen. Fangen Sie jetzt ganz von vorn an und sagen Sie mir, was Sie können und was Sie bisher ge macht haben.« Ich seufzte. »Wenn es sein muß. Angefangen hat es im Jahre 1940 in Chicago. Ich war der Sohn armer, aber ehrlicher Eltern.« »Reden Sie keinen Quatsch, Max. Bleiben Sie bei den wichtigen Punkten, es könnte für Sie von entscheidender Bedeutung sein.« »Tut mir leid, ich werde mich jetzt zusam
mennehmen. Nun, ich war siebzehn, als 1957 die Arbeit an der ersten Raumstation begon nen wurde. In aller Heimlichkeit natürlich. Ich träumte wie viele Jungen damals davon, eines Tages zu den Sternen zu fliegen. Ich wollte na türlich Raumfahrer werden, wie es wohl der Wunsch eines jeden Siebzehnjährigen ist. Aber ich war noch etwas schlauer als die meisten, weil ich mir rechtzeitig den richtigen Weg aus dachte, wie ich hineinkommen konnte, bevor der große Ansturm kam. Ich meldete mich kurz vorher bei der Luftwaffe zur Ausbildung als Düsenpilot. Knapp einen Monat später wurde bekannt, daß bei der Bildung eines ›Raumkorps‹ die Raketenpiloten aus den Rei hen der Luftwaffe rekrutiert würden. Man wollte da die besten Piloten aussuchen. Plötz lich versuchten über eine Million junger Män ner, sich bei der Luftwaffe zu bewerben.« Ich grinste. »Natürlich konnten nur wenige von ihnen angenommen werden. Es war da mals schwieriger, in die Luftwaffe zu kommen – als beispielsweise in den Kongreß gewählt zu werden. Nur einer von tausend Bewerbern kam dran. Aber ich war bereits in der Ausbil dung. Ich bestand die Prüfungen. Ich wußte, daß wir Düsenpiloten allmählich Gelegenheit bekommen würden, zum Raumkorps überzu
wechseln. In der Klasse des Jahres 1958, als die Raumfahrerschule eröffnet wurde, saßen über dreihundert Piloten. 1962 machten sie ihre Prüfungen. Etwa zur gleichen Zeit waren die ersten Raketen fertig. Nur die zwölf Besten dieser ersten Klasse ka men jemals dazu, die Erde in Raketen zu ver lassen. Damals, als man noch die chemischen Raketentreibstoffe verwendete, war die physi sche Beanspruchung der Piloten so stark, daß das Höchstalter für Raketenpiloten auf sieben undzwanzig Jahre festgelegt wurde. Ich gehör te mit zu den Besten meiner Klasse, aber es waren eben noch über hundert andere vor mir. Und ich wurde alt! Ich war schon dreiund zwanzig Jahre. Nur noch vier Jahre, dann war es für mich aus. Mein Gott, machte ich mir da mals Sorgen!« »Das kann ich mir gut vorstellen.« »Glücklicherweise trat etwas ein, was ich nicht erwartet hatte. Es geschah 1964 – ganz plötzlich kamen die Burschen von Los Alamos mit Kleinreaktoren heraus, an denen sie jahre lang gearbeitet hatten. Über Nacht kam die Wendung. Die Raketen wurden mit Atomtrieb werken ausgerüstet. Auf einmal waren die chemischen Raketen ge nauso veraltet wie Ochsenkarren. Wir brauch
ten natürlich noch Treibstofftanks, aber viel kleinere, weil die Ausströmungsgeschwindig keiten stark heraufgesetzt worden waren. Ge wöhnliches Wasser genügte als Treibstoff. Es wurde durch den Reaktor in unheimlich rasch ausströmende Gase verwandelt, und wir konn ten Mars und Venus mit nur einmaligem Nachtanken erreichen. Wir erreichten den Mond fünf Jahre eher, als geplant war.« »Max, ich kenne die Geschichte der Raum fahrt. Sie sollen mir Ihre Erfahrungen und Vorkenntnisse berichten, vergessen Sie das bitte nicht.« »Ach so, ja. Nun, plötzlich war ich dran. Die Atomraketen wurden in großen Mengen herge stellt. Viersitzige Raumfahrzeuge kamen auf, und 1966 fuhr ich als Navigator und Co-Pilot zum erstenmal zum Mond. Dann im nächsten Jahr zum Mars, wieder als Co-Pilot. Kurz da nach wurde ich Spaceman Erster Klasse und erhielt meine Pilotenlizenz. Ich war damals schon sechsundzwanzig, aber die Altersgrenze für den aktiven Dienst wurde auf dreißig her aufgesetzt, deshalb hatte ich noch vier Jahre vor mir. Trotzdem wurde ich mit siebenund zwanzig in den Ruhestand versetzt. Ein Unfall auf einem Erkundungsflug um die Venus setzte meiner Laufbahn ein Ende.«
»Was war das für ein Unfall, Max?« »Wir hatten unseren Auftrag ausgeführt. Es war mein achter Flug. Wir machten die Rakete zum Start fertig. Ich war noch draußen und überprüfte die Triebwerke, aber mein Co-Pilot dachte, ich wäre schon in der Rakete und feu erte einen kurzen Stoß aus den Steuerdüsen ab, um sie zu prüfen. Ich hatte ein Bein vor die ser Düse stehen. Sie brachten mich lebend zur Erde zurück, und ich wurde auch wieder ge sund, aber mit der Raumfliegerei war es aus.« Leise sagte sie: »Das tut mir aber leid, Max.« »Mir nicht«, entgegnete ich. »Die Raumrei sen, die ich mitmachen durfte, sind mir das Bein wert. Viele Raumfahrer mußten eine ein zige Fahrt schon mit dem Leben bezahlen, im Vergleich dazu hatte ich noch Glück. Acht Fahrten kosteten nur ein Bein.« »Ja, das entspricht ganz Ihrer Einstellung. Er zählen Sie weiter.« »Weiter? Das ist alles.« Sie lachte ein wenig. »Damals waren Sie gera de siebenundzwanzig, und heute sind Sie sie benundfünfzig. Was haben Sie während der dazwischenliegenden drei Jahrzehnte getrie ben?« »Ich wurde Raketenmechaniker. Ich hätte eine Rente bekommen können, verzichtete
aber unter der Bedingung darauf, daß ich auf Staatskosten Atomtechnik und Raketenmecha nik studieren durfte. Seitdem bin ich Raketen mechaniker. Das ist alles.« Ich überlegte einen Augenblick lang, dann fuhr ich fort: »Nein, es ist doch nicht alles. Wenn ich Ihnen ein getreues Bild von mir ge ben soll, darf ich nicht zu bescheiden sein. Ich wurde ein guter Raketenmechaniker, einer der besten im Land. Ich bin immer auf dem laufen den geblieben. Ich kenne die Dinger in- und auswendig und kann alles reparieren, was dar an kaputtgehen kann. Ich bin kein Kernphysi ker, was die theoretische Seite betrifft, aber ich besitze ziemlich umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der angewandten Atomphysik. Ich habe an Passagierraketen gearbeitet, an Postraketen und auch an den interplanetaren Schiffen. Seit ich die offizielle Altersgrenze von fünfzig überschritten habe, konnte ich zwar nicht mehr an den interplanetaren Raketen ar beiten, aber ich kenne jede noch so kleine Ver besserung, die seitdem angebracht wurde. Es wurden sogar verschiedene Vorschläge von mir angenommen und ausgewertet. Sie werden vielleicht denken, ich will prahlen, aber ich muß es der Vollständigkeit halber noch sagen: Ich habe auf jedem der zwölf Han
delsflugplätze gearbeitet, und ich kann auf je dem einzelnen davon jederzeit wieder anfan gen, wenn ich will, gleichgültig, ob gerade ein Platz frei ist oder nicht. Und obgleich ich nie wieder eine Rakete selbst fliegen konnte, habe ich mich auch in bezug auf die Astrogation stets informiert. Ich bin ein ziemlich guter Amateur-Astronom, nicht nur ein Sterngucker. Ich bin in der Lage, Umlaufbahnen, Durchgän ge und Eklipsen zu berechnen.« »Haben Sie ein Ingenieur-Diplom?« »Nein, nur einen Bachelor of Science. Dieser Titel wurde beim Abschluß der Raumschule Verliehen – und schwer verdient. Aber was die Kenntnisse anbelangt, bin ich ein Raketen-In genieur. Vielleicht müßte ich manches nachse hen, wenn ich mich um die Prüfungen bewer ben wollte – aber ich könnte sie bestehen. Ich habe mich bloß niemals darum gekümmert, weil ich die Arbeit als Mechaniker lieber mag. Viel lieber als auf dem Papier arbeite ich an den Raketen selbst.« »Verwaltungsarbeit liegt Ihnen demnach nicht?« »Nein, gar nicht.« »Aber würden Sie es für das Projekt Jupiter tun?« »Dafür würde ich Fußböden schrubben, wenn
es sein müßte. Aber ich würde viel lieber Chef mechaniker sein.« »Würden Sie einen Posten als Zweiter Direk tor annehmen?« Ich holte tief Luft. Dann sagte ich: »Ja!« »Max, vielleicht könnte ich das für Sie ein richten, allerdings unter einer Reihe von Be dingungen. Dieser Posten würde bedeuten, daß Sie tatsächlich das Projekt leiten. Der Di rektor selbst muß aus bestimmten Gründen eine politische Figur sein, das läßt sich leider nicht ändern. Der Zweite Direktor ist demnach der Mann, der die Sache eigentlich dirigiert, wobei sein sogenannter Chef nur eine Stroh puppe ist. Paßt Ihnen das? Die Rakete bauen und starten?« »Stellen Sie um Gottes willen keine so dum men Fragen! Und die Bedingungen sind von vornherein bewilligt.« »Hm, die werden Ihnen überhaupt nicht pas sen«, sagte sie. »Ich sage sie Ihnen heute noch nicht, weil wir sonst zu lange darüber diskutie ren würden.« »Ich werde nicht darüber diskutieren«, ver sprach ich. »Ich tue alles dafür, wenn Sie wol len, schneide ich mir auch noch das andere Bein ab. Vielleicht sogar den Kopf.« »Den würden Sie sicher sehr vermissen. Aber,
Max, wir haben uns ziemlich lange unterhal ten, und ich werde noch schnell müde. Wollen Sie mich morgen abend um dieselbe Zeit besu chen?« Ich wollte es. Als ich zu Hause ankam, nahm ich mir einen optischen Glasblock vor, den ich mir besorgt hatte, und begann, daraus eine Linse für mein Teleskop zu schleifen. Das Schleifen ist aber eine recht kitzlige Angelegenheit. Als ich merk te, daß meine Hände zitterten, ließ ich es sein. Ich nahm es meinen Händen keineswegs übel, daß sie zitterten. Die Chance war da, eine Chance von tausend zu eins – zum Jupiter zu fliegen, eine Rakete zu lenken, die achtmal so weit hinausjagen würde, wie die Entfernung zum Mars beträgt. Achtmal weiter, als jemals ein Mensch vorher gelangt ist. Tausend zu eins! Aber gestern standen meine Aussichten noch eine Million zu eins. Und vor wenigen Monaten hatte ich überhaupt keine Aussicht. Nein, da durften meine Hände ruhig ein we nig zittern! »Die Bedingungen?« fragte ich sofort. »Zuerst die üblichen Höflichkeitsformen. Darf ich Ihnen vorher eine kleine Stärkung an
bieten?« »Die Bedingungen, Ellen – spannen Sie mich nicht weiter auf die Folter.« »Erstens: die Prüfung als Raketen-Ingenieur. Sie sagten, daß Sie es schaffen könnten, wenn Sie wollten. Wird Ihnen ein Jahr dafür genü gen?« Ich stöhnte. »Das wird gehen, aber es bedeu tet eine Menge hartes Büffeln. Ich muß die Prüfung in rund zehn Fächern ablegen. Sechs davon beherrsche ich so weit, daß ich mich gleich der Kommission stellen könnte, aber für die übrigen vier muß ich noch eine Menge ler nen. Alles Dinge, die ich von der praktischen Seite her beherrsche, aber gewisse theoreti sche Dinge fehlen mir. Ja, in einem Jahr kann ich das schaffen, vielleicht sogar in kürzerer Zeit. Und die andere Bedingung?« »Daß Sie jetzt sofort einen Verwaltungsposten übernehmen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Po sitionen für das Projekt verteilt werden, müs sen Sie sich zu einer möglichst hohen Stellung emporgearbeitet haben.« Ich stöhnte wieder. Sie sagte: »Ich will Ihnen die Gründe für diese Bedingungen erklären, Max. Es wird so einge richtet werden, daß der Direktor seinen eige nen Stellvertreter ernennt. Dieser muß aber
vom Präsidenten bestätigt werden. Sie müssen einen möglichst guten Eindruck machen, um diese Bestätigung zu erhalten.« Ich wandte ein: »Aber, wenn der Präsident den Direktor ernennt, wie wollen Sie diesen bei der Wahl seines Stellvertreters beeinflus sen?« Sie lächelte wieder. »Ich werde einen Handel abschließen. Ich suche mir als Direktor einen Mann aus, der einen guten Namen hat, aber ge rade keine geeignete Beschäftigung. Ihm schla ge ich dann vor, daß ich ihm den Direktorpos ten besorge, wenn er Sie zu seinem Stellvertreter macht.« »Hm ...« »Ich kann ihn bis zu einem gewissen Grad be einflussen. Aber, Max, eines müssen Sie einse hen: Ich kann ihm keinen simplen, hergelaufe nen Mechaniker andrehen.« »Das mag schon stimmen. Wie hoch muß ich bis dahin geklettert sein?« »Je höher, desto besser. Irgendein verant wortlicher Posten auf einem der großen Rake tenhäfen müßte genügen. Das und Ihr Diplom als Raketen-Ingenieur. Dazu kommt noch der Ruhm eines ehemaligen Spaceman.« »Und wenn ich das alles mitmache – aber der Präsident sucht sich einen ganz anderen Direk
tor für das Projekt aus?« »Das ist ein Risiko, das Sie eben eingehen müssen. Ich glaube aber, daß meine Empfeh lung den nötigen Eindruck haben wird – ein fach dadurch, daß ich einen Mann vorschiebe, den der Präsident selbst auch gewählt haben würde, wenn ich keinen solchen Vorschlag ge macht hätte. Es spielen dabei noch ein paar an dere Punkte mit hinein, die aber schwer zu er klären sind. Es wird aber sicher gelingen, wenn Sie Ihr Diplom machen und bis dahin einen Job mit hochtönendem Titel erlangen. Schaffen Sie das?« »Ja«, seufzte ich. »Ich fürchte, das wird ge hen. Sonst noch Bedingungen?« »Nein.« »Dann möchte ich jetzt um den Drink bitten, den Sie mir vorhin angeboten haben. Ich brau che ihn. Wo finde ich die Flüssigkeiten?« »Dort in dem Eckschrank. Mixen Sie sich ir gend etwas und bringen Sie mir ein Glas Sher ry mit.« Ich nahm ebenfalls Sherry. Mein Kopf mußte möglichst klar bleiben. Ich sagte: »Am besten bin ich beim Raketen hafen Los Angeles angeschrieben. Außerdem ist das einer der größten. Der Boss ist ein guter Freund von mir. Er war selbst einmal Mecha
niker, und wir sprechen deshalb die gleiche Sprache. Der Kerl quält mich schon seit Jah ren mit der Aufforderung, mir endlich den Dreck von den Händen zu waschen und ins Büro zu gehen. Er wird mich als Abteilungslei ter übernehmen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Falls keine Position frei sein sollte, wird er mir vorerst irgendeinen anderen guten Job geben und mich dann so schnell wie mög lich nach oben schieben. Mit etwas Glück könnte ich innerhalb eines Jahres sein Stell vertreter werden. Vielleicht ...« Ich dachte eine Minute lang darüber nach. »Wenn wir es hart auf hart kommen lassen – und warum sollen wir das nicht? – sage ich ihm, worum es geht. Warum ich einen Titel als Aushängeschild brauche. Er wird es wahr scheinlich so einrichten können, daß ich genau zu der Zeit, wo die Leute für das Projekt Jupi ter ausgesucht werden, leitender Superinten dant bin. Verdammt, das wird er sicher für mich tun. Bis dahin kann ich mir so viel Geld zusammengespart haben, daß wir seinen regu lären Vertreter für einen Monat in Urlaub schi cken, während ich ihm für diese Zeit sein Ge halt aus eigener Tasche bezahle. Klockerman wird das sicher für mich tun.« »Stellvertretender Superintendant wäre gera
de das Richtige. Selbst ein Posten als Abtei lungsleiter würde schon genügen. Wann kön nen Sie anfangen?« »In ein oder zwei Tagen, schätze ich. Glückli cherweise haben wir zur Zeit auf Treasure Is land nicht sehr viel Arbeit. Ich hätte Rory nicht gern im Stich gelassen – obgleich er mich auch dann verstanden hätte. Ja, morgen kann ich abreisen. Ich rufe Klockerman heute abend noch an und erzähle ihm den Fall. Und Rory besuche ich heute auch noch – dann kann ich mit der nächsten Düsenmaschine abfliegen.« Sie lachte ein wenig vor sich hin. »Was mir an Ihnen so besonders gut gefällt, Max, ist, daß Sie nichts halb machen. Ganz abgesehen von meinem Wunsch, Ihnen einen Gefallen zu tun, möchte ich, daß Sie das Projekt Jupiter in die Hand nehmen. Sie würden am besten damit fertig werden.« »Ich werde mich bemühen«, sagte ich. »Ver dammt, Senatorin, ich sollte Sie eigentlich da für hassen, daß Sie das nächste Jahr meines Lebens so miserabel machen wollen – aber ich muß sagen, daß ich Sie bereits in mein Herz geschlossen habe. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Sie so weit erholt sind, daß ich Ih nen ernsthaft den Hof machen kann?« »Selbst das würden Sie tun, um an dem Pro
jekt mitarbeiten zu dürfen?« fragte sie la chend. »Selbst das. Aber darüber unterhalten wir uns lieber später noch ausführlicher. Lassen wir meine Person jetzt beiseite, Ellen. Erzählen Sie mir etwas über das Projekt selbst, über die Ra kete.« »Bradley hat bereits alles aufgezeichnet. In al len Einzelheiten. Aber die Pläne liegen in mei nem Safe in Los Angeles, ich zeige sie Ihnen, sobald ich wieder nach Hause komme. Ich könnte Ihnen zwar ein paar allgemeine Anga ben machen, aber ich habe keinen Kopf für technische Daten, und ich könnte einiges durcheinanderbringen. Sie warten am besten, bis Sie sich die Zeichnungen ansehen können.« »Na, schön, wann werden Sie wieder in Los Angeles sein?« »Vielleicht in einem Monat, wenn ich mich auch weiterhin so rasch erhole wie bisher und keinen Rückschlag erleide. Sagen wir, am 1. März. Sobald Sie sich dort eingerichtet haben, schreiben Sie mir Ihre Anschrift und Telefon nummer, damit ich Ihnen Bescheid geben kann, wann ich komme.« »Fein«, sagte ich, »einverstanden. Aber wol len Sie mir nicht wenigstens ein paar grund sätzliche Dinge über die Rakete erzählen, da
mit ich darüber nachdenken kann?« »Fragen Sie mich bitte nicht danach, Max. Ich werde schon müde, und Sie sind diesmal ziem lich lange geblieben. Wenn wir jetzt anfangen, über die Rakete zu reden, können wir so schnell kein Ende finden. In den Entwürfen von Bradley steht ohnehin alles drin.« Sie sprach manchmal von Bradley mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Ich machte mir Gedanken darüber, ob das wohl etwas zu bedeuten habe. Aber wenn schon, es ging mich ja nichts an. Als ich sie fragte, wann ich ihr den Hof machen könnte, hatte ich es nur als Witz gemeint. Oder etwa nicht? Sie war wirklich eine verdammt attraktive Frau. Ich ging direkt zu Rory und berichtete ihm al les. Dann rief ich Klockerman an. Es war okay. Er wollte mich anstellen. Im Augenblick konn te er mir zwar nur die Verwaltung des Werk zeuglagers übertragen, aber er hatte ein paar Abteilungsleiter da, mit denen er nicht recht zufrieden war. In höchstens einem Monat wür de sich eine Gelegenheit ergeben, mir einen besseren Job zuzuteilen. Am Telefon sagte ich ihm nichts über den eigentlichen Grund dafür, warum ich plötzlich in die Verwaltung wollte. Das hatte noch Zeit für später. So etwas erklär te sich leichter bei einem Gläschen oder zwei.
Ich bot Rory die Glasblocks an, aus denen ich optische Linsen schleifen wollte. Man braucht viele Abende dafür, eine gute Linse zu schlei fen, und meine Zeit würde im kommenden Jahr recht knapp bemessen sein. Natürlich wollte ich immer noch ein Teleskop haben, um mir den Jupiter gelegentlich anzusehen, aber jetzt würde ich mir wohl eins kaufen müssen. Rory freute sich darüber und fuhr mit zu mei ner Wohnung, um sie gleich abzuholen. Er wartete, bis ich fertig gepackt hatte und fuhr mich dann zu dem freien Platz, von wo aus ich mit einem Helitaxi zum Flugplatz auf Angel Is land gelangen konnte. Gegen Mitternacht kam ich in Los Angeles an. Februar, März – ich arbeitete tagsüber und studierte nachts. Aber in jeder Hinsicht konnte ich Fortschritte feststellen. Im Flughafen war ich zum Abtei lungsleiter aufgerückt. Die Instandhaltung der Raketen wurde mir von Klockerman übertra gen. Langweiliger Kram, aber ein guter Titel. Ich strengte mich gehörig an und machte guten Eindruck auf die anderen. Es sah fast so aus, als ob ich den Posten eines Ersten Assistenten ohne Schiebung, auf ehrliche Weise, innerhalb des einen Jahres bekommen würde. Mit
Klockerman hatte ich mich noch nicht ausge sprochen. Ich hatte mir überlegt, daß ich viel leicht aus eigener Kraft bis zum Stellvertreten den Intendanten aufrücken und dann mit seiner Hilfe noch ein Stück weiterkommen könnte. Wenn ich den Posten aus eigener Kraft erreichen konnte und ihm dann erst reinen Wein einschenkte, würde er vielleicht noch mehr für mich tun. Etwa einen Monat Urlaub nehmen und mir für diese Zeit die Leitung des drittgrößten Raketenhafens der Welt überlas sen. Was die theoretische Seite anbelangte, blie ben nur noch die vier letzten, schwierigen Fä cher übrig. Ich hatte herausgefunden, daß ich die Prüfung nur in neun Fächern ablegen muß te. Drei davon waren so leicht, daß ich nicht einmal mein Gedächtnis aufzufrischen brauch te. Ich erledigte diese gleich in der ersten Wo che. Eine Woche später war ich mit den nächs ten beiden fertig. Von den restlichen vier Fächern kannte ich zwei einigermaßen, war aber aus der Übung gekommen, weil ich die Kenntnisse so lange Zeit nicht mehr ange wandt hatte. Ich konnte das Fehlende aber al lein nachholen und die Prüfung im Laufe eines Monats machen. Blieben also noch zwei Prüfungen – die aller
schwierigsten. »Metallurgie unter extremen Temperaturen« und »Einheitliche Feldtheorie«. Von keinem der beiden Wissens bereiche hätte ich jemals gedacht, daß ein Ra keten-Ingenieur sie jemals gebrauchen würde. Man kann die Eigenschaften aller Metalle und Legierungen von Tabellen ablesen, die bis zur zehnten Dezimalstelle genau sind; warum soll man also die Rechnerei selbst ausführen? Bei der Einheitlichen Feldtheorie ist es noch schlimmer; es ist bisher noch niemandem ge lungen, eine Einheitliche Feldtheorie auszuar beiten, die mehr ist als eben eine bloße Theo rie. Ein Raketen-Ingenieur hat keinerlei praktische Verwendung für diesen Kram. Au ßerdem führt der Weg zur Feldtheorie über die Relativitätslehre. Diese wiederum verschafft mir jedesmal eine Gänsehaut, weil sie von be stimmten Limitationen ausgeht. Ich glaube nicht an Begrenzungen. Ja, bei diesen beiden Fächern brauchte ich einen guten Lehrer, aber es gibt genug Univer sitätsprofessoren, die sich gern nebenbei ein wenig Geld verdienen, indem sie Leuten wie mir »Nachhilfestunden« erteilten. Da ich ge nug verdiente und keine Zeit hatte, um Geld auszugeben, konnte ich mir das leisten.
Senator Gallagher kam Anfang April zurück. Ich fuhr zum Düsenflughafen, aber dort stan den noch eine Menge anderer Leute herum, die sie auch abholen wollten. Ich schloß mich ihrem Gefolge nicht an, sondern benutzte nur einen günstigen Augenblick, um für ihren ers ten freien Abend eine Verabredung zu treffen. »Einen Drink, Max?« »Nein, Gnädigste! Ich warte seit Monaten dar auf, die Pläne zu sehen. Zeigen Sie mir endlich die Unterlagen.« Ellen schüttelte verwundert den Kopf. »Selbst die Arbeit in der Verwaltung macht keinen zi vilisierten Menschen aus Ihnen, Max. Sie be nehmen sich wie ein Wilder. Und schrecklich hartnäckig sind Sie auch.« »Genau«, erklärte ich ihr. »Wenn ich mir et was vorgenommen habe, will ich es auch zu Ende führen. Zeigen Sie mir bitte die Unterla gen.« »Erst trinken wir etwas und unterhalten uns mindestens fünfzehn Minuten über belanglose Dinge, wie sich das bei einem Besuch gehört. Sie haben jetzt monatelang gewartet, und ein paar Minuten mehr werden Sie auch nicht ge rade umbringen.« Ich mixte die Drinks. Und ich zwang mich dazu, geduldig und höflich zu erscheinen, so
gar noch ein paar Minuten über die von ihr festgelegte Zeit hinaus. Erst zweiundzwanzig Minuten später fragte ich wieder nach den Pa pieren. Sie brachte die Mappe. Ich warf einen raschen Blick auf die Skizze der Rakete. Was ich da zu sehen bekam, tat mir richtig weh. Rasch blätterte ich die Kosten aufstellung durch und hätte mir dabei am liebsten die Haare einzeln ausgerissen. Auf meinem Gesicht muß zu lesen gewesen sein, was ich dachte. Ellen fragte: »Irgend etwas nicht in Ordnung, Max?« »Eine Stufenrakete!« rief ich verzweifelt. »Die Schatten von 1962 verfolgen mich – eine Stu fenrakete! Ellen, man braucht keine Stufenra kete, um zum Jupiter zu fliegen. Mit Atom triebwerken ist das nicht mehr nötig. Und die Kosten – 310 Millionen! Ich kann eine Rakete zum Jupiter und zurück für ein Zehntel dieser Kosten schicken. Allerhöchstens 50 Millionen. Das hier ist glatt verrückt.« »Sind Sie sicher, Max? Brad war auch ein Ra keten-Ingenieur, und noch dazu einer der bes ten.« »Sicher, aber – Augenblick, lassen Sie mir fünfzehn Minuten Zeit, um nachzusehen, wo er danebengetappt ist.«
Ich blätterte weiter und schüttelte mich. »Erstens: Er sieht eine Zwei-Mann-Rakete vor. Warum? Ein Mann genügt vollkommen. Er ist in der Lage, alle erforderlichen Beobach tungen durchzuführen und braucht sich dabei immer noch nicht übermäßig anzustrengen.« »Brad und ich sprachen über diesen Punkt. Er sagte, daß ein ganzes Jahr Einsamkeit im Raum für einen Mann zuviel sei.« »Unsinn. Ortmann war im Jahre fünfund sechzig, als er den ersten Flug zum Mars und zurück machte, 422 Tage unterwegs. Seine Ka bine war nicht viel größer als ein Sarg. Und in der ganzen Raumschule gab es nicht einen ein zigen Kadetten, der ihn nicht um jede Minute seines Raumfluges glühend beneidet hätte. – Diese Expedition zum Jupiter ist ebenfalls eine Ersterforschung – außerdem die erste seit so vielen Jahren, daß ich nicht gern daran denke. Tausend hervorragend geeignete Männer wer den sich um die Ehre streiten, die Rakete zu steuern, und keiner wird nach den Bedingun gen fragen, keiner!« Ich blickte wieder auf die Pläne. »Brad gab hier die Größe der Kabine mit drei Meter im Durchmesser an. Selbst wenn es eine ZweiMann-Rakete werden sollte, was aber unnötig ist, wäre dieser Raum noch zu groß. Er hat die
Standardmaße von den Marsraketen übernom men, von einer Routinestrecke! Ein Mann, und ein Durchmesser der Kabine von einem Meter und zwanzig, das ist reichlich. Das Gewicht dieses Teiles der Rakete wird dadurch um 70 Prozent herabgesetzt.« Ellen zitterte. »Ich wollte niemals ein ganzes Jahr auf so engem Raum verbringen!« »Sicher nicht, Sie sind aber auch kein Raum fahrer. Raumfahrer sind rauhe Männer, phy sisch und psychisch. Sie müssen es sein, sonst kommen sie erst gar nicht in die Raumakade mie hinein, geschweige denn durch die Tests und Prüfungen. Was man ihnen zuerst abge wöhnt, Ellen, ist die Platzangst. Entdeckt man an einem von ihnen nur die geringste Spur da von, ist für ihn die Schule vorbei, falls man ihn nicht vollständig davon heilen kann. Sie wer den dazu erzogen, für eine lange Zeit mit sich allein zu sein, wenn das nötig ist. Im Vergleich zu den Prüfungen, die sie durchstehen müs sen, ist dieser Trip eine Kinderei.« Ich grinste. »Wissen Sie, wie man uns auf An zeichen von Claustrophobia untersuchte, da mals, gleich während der ersten Woche in der Schule? Man sperrte uns in finstere Schränke, die genau zwanzig Zentimeter im Quadrat ma ßen. Achtundvierzig Stunden lang. Und wir
mußten jede Stunde einen Kontrollknopf drücken, damit sie wußten, daß wir wach und wohlauf waren. Man konnte nur stehen und aushalten – oder dreimal kurz auf den Knopf drücken. Dann wurde man sofort aus dem en gen Gefängnis befreit, aber auch aus der Schu le.« »Aber, Max – Brad hatte zuerst die Werte für eine Ein-Mann-Rakete ausgerechnet und dabei festgestellt, daß es auf jeden Fall eine MehrStufen-Rakete sein mußte. Die Mehrkosten für ein Zwei-Mann-Schiff waren also nicht mehr so erheblich.« »Still«, sagte ich zu ihr. »Ich lese jetzt diesen schrecklichen Schrieb weiter. Aha! Hier liegt schon der Hase im Pfeffer, Ellen. Er ist davon ausgegangen, daß er für Hin- und Rückflug den Massenträger mitzunehmen hat. Deshalb glaubte er, selbst für die Ein-Mann-Rakete mehrere Stufen zu brauchen.« »Massenträger?« »Ein Fachausdruck. Sehen Sie, Ellen, eine Atomrakete braucht keinen Treibstoff mitzu nehmen, abgesehen von den winzigen Mengen für den Reaktor selbst. Sie braucht Tanks für einen Massenträger, meist Wasserstoff, der durch die Hitze in Gas verwandelt und auf un geheure Geschwindigkeiten gebracht wird. Die
ausströmenden Gasteilchen treiben das Raum schiff voran.« »Das verstehe ich wohl. Aber warum braucht die Rakete nicht für den ganzen Flug die Flüs sigkeit mitzunehmen – sie muß doch auch wie der zurückkommen!« Ich rannte mit den verdammten Plänen in der Hand unruhig auf und ab. »Natürlich muß sie das. Aber Jupiter hat zwölf Monde. Auf jedem davon kann man auf Grund der geringen Schwerkraft leicht landen und starten. Und mindestens sieben davon sind mit gefrorenem Ammoniak bedeckt. Ganz umsonst, man braucht sich nur zu bedienen.« »Geht denn das mit Ammoniak?« »Jede einigermaßen stabile Flüssigkeit ist ver wendbar. Ammoniak ist sogar ausgezeichnet geeignet. Man hat es auf dem Prüfstand aus probiert. Es hat nur den einen Nachteil, daß es unter normalen Temperaturen gasförmig ist und deshalb unter hohem Druck aufbewahrt werden muß. Ein Drucktank ist aber schwerer. Er erhöht das Gewicht der Rakete und vermin dert dadurch die Nutzlast.« »Aber in diesem Falle, Max ...« »Im Vergleich zu der zusätzlichen Menge an Flüssigkeit, die als Massenträger mitgenom men werden müßte, wenn sie für Hin- und
Rückfahrt reichen soll, ist das Mehrgewicht der Drucktanks minimal. Der Unterschied ist groß genug, um statt einer Drei-Stufen-Rakete eine einfache Ein-Stufen-Rakete verwenden zu können. Es ist der Unterschied zwischen 50 Millionen und 300 Millionen!« Ellen lehnte sich vor. »Max, das verändert die Lage vollkommen. Wenn sich das Projekt mit so geringen Kosten durchführen läßt ... Sind Sie auch ganz sicher?« »Ich werde mir absolute Sicherheit verschaf fen. Und zwar jetzt gleich. Ich komme morgen abend wieder, um dieselbe Zeit.« Ich stand auf. »Laufen Sie nicht einfach davon, ich ...« Ich lief ihr davon. Ich rechnete mit dem Re chenschieber ein paar der grundlegenden Da ten aus und stellte dann fest, daß mir für die weitere Arbeit verschiedene Unterlagen fehl ten. Ohne diese konnte ich nicht genau genug rechnen. Klockerman würde die fehlenden An gaben beisteuern können, entweder aus dem Gedächtnis oder aus seiner Bücherei. Beson ders bei der Berechnung der Kosten war er mir überlegen – das war schon immer meine schwache Seite gewesen. Ich rief ihn also an und erklärte kurz, worum es ging. Wir verein barten, daß ich zu ihm kommen sollte, weil er
etwa fehlende Unterlagen dort bei der Hand haben würde. Wir arbeiteten die ganze Nacht. Wir rechneten jeden einzelnen Posten durch, nicht ganz genau, aber immerhin bis zur ers ten Dezimalstelle. Das würde genügen, um zu beweisen, daß mein Plan durchführbar war. Ich hatte die Kosten viel zu hoch gesetzt. Klocky kam auf 26 Millionen – weniger als ein Zehntel der ursprünglichen Kosten. Wir machten ein kräftiges Frühstück ohne Kaffee, denn den hatten wir die ganze Nacht hindurch ununterbrochen getrunken. Dann gingen wir zur Arbeit. Am Abend brachte ich Ellen die Ergebnisse unserer Rechnerei. Sie las die Seiten verwun dert durch. Besonders die Aufstellung der Kos ten und die Gesamtsumme. »Sie sagten, Sie hätten zusammen mit Klockerman daran gearbeitet?« »Es war mehr seine Arbeit als meine.« »Er ist zuverlässig, nicht wahr?« »Absolut«, sagte ich. »Vielleicht gibt es in Ala mos oder bei der Regierung ein paar Leute, die ihm noch überlegen sind, aber ich garantiere Ihnen, Ellen, daß sie nichts grundsätzlich Falsches in diesen Ziffern finden werden, wenn sie das ganze Projekt später noch einmal
durchrechnen werden. Wahrscheinlich wer den sie nebensächliche Änderungen vorneh men und auf ein paar zusätzlichen Sicherheits faktoren bestehen, aber mein Kostenanschlag wird sich dadurch um höchstens 10 Prozent er höhen. Damit bleibt er immer noch unter 30 Millionen.« Sie nickte langsam. »Dann werden wir diese Rakete bauen, Max. Jetzt bitte ich Sie, uns et was zu mixen, damit wir darauf anstoßen kön nen.« Wir stießen auf das Projekt an. Ellen war sehr nachdenklich geworden. »Max, durch diese Veränderungen an den Plä nen wird manches viel leichter gehen. In zwei Wochen fahre ich nach Washington. Ich bin zwar jetzt schon wieder arbeitsfähig, aber ich will mir doch noch vierzehn Tage Zeit lassen, um mich auszuruhen und über manche Dinge nachzudenken. Wissen Sie, was ich tun werde, sobald ich im Senat bin?« »Sicher. Da der Kram nur ein Zehntel von dem kostet, was veranschlagt war, werden Sie versuchen, das Projekt noch in dieser Amtspe riode durchzubringen. Stimmt's?« »Nein. In diesem Jahr würde der Plan abge lehnt, ganz gleich, wie hoch die Kosten sind. Es hat keinen Zweck, es zu versuchen. Aber mir
ist eine Idee gekommen, wie ich ihn gleich zu Beginn der nächsten Sitzungsperiode ganz schnell durchbekommen kann. Sobald ich wie der in Washington bin, stelle ich einen Antrag auf Bewilligung von 310 Millionen Dollar für die von Bradley entworfene Rakete.« »Um Gottes willen!« schrie ich. »Warum?« »Still!« sagte sie lächelnd. »Ich bringe den An trag ein, sorge aber gleichzeitig dafür, daß er dem Ausschuß überwiesen wird und nicht mehr zur Abstimmung kommt. Gleich nach den Parlamentsferien gehe ich zu diesem Aus schuß und fordere die Zurückziehung meines Antrages – um ihn durch einen neuen zu erset zen, der nur über ein Zehntel der Summe des ersten lautet. Max – innerhalb eines einzigen Monats habe ich ihn durch beide Häuser und vom Präsidenten bewilligt!« »Senatorin, ich liebe Sie!« sagte ich als Ant wort. Sie lachte. »Sie lieben die Rakete, die Sterne und ganz besonders den Jupiter.« »Natürlich. Aber Sie auch, Senator Gal lagher.« Plötzlich dämmerte mir die Erkenntnis, daß ich diese Worte wirklich ernst meinte. Ich lieb te sie als Frau, und nicht als die Senatorin, die mein Lieblingsprojekt unterstützte.
Ich setzte mich neben sie auf das Sofa, legte einen Arm um ihre Schulter und küßte sie. Beim zweitenmal spürte ich ihre Arme um meinen Hals, die mich zu ihr hinzogen. »Du Narr«, sagte sie leise. »Damit hättest du auch nicht so lange zu warten brauchen.« Ich beschloß, daß mir eine zweiwöchige Un terbrechung meines Studiums im ganzen gese hen mehr nützen als schaden würde, beson ders, da ich ohnehin schon etwas weiter war, als ich mir vorgenommen hatte. Mein Diplom würde ich auch so noch rechtzeitig bekommen. Ein wenig Abwechslung würde dafür sorgen, daß ich nicht versauerte. Fast jeden Abend war ich mit Ellen zusam men. Wir mußten unser Zusammensein mit Heimlichkeit umgeben, weil jeder Skandal El lens Karriere als Senator geschadet hätte. Und heiraten konnten wir auch nicht. Das ganze Ju piter-Projekt wäre für mich dann außer Reich weite gewesen. Die Zeiten waren vorbei, wo die Senatoren ihren Verwandten und Freunden noch kleine, gut bezahlte Staatspöstchen zu schieben konnten. Man war streng gegen jede Art von Protektion. Da Ellen hinter dem Pro jekt stand, war es natürlich unmöglich, daß ihr eigener Mann Stellvertretender Direktor wur
de. Klockerman wußte, wie es um Ellen und mich stand, aber er gehörte schon sozusagen mit zur Familie. Wir hatten ihm sogar den eigentlichen Grund dafür erklärt, daß ich in der Verwaltung auf einem möglichst hohen Posten aufrücken mußte, bevor die Jobs an dem Projekt verteilt wurden. Er versprach mir, daß ich genau zur richtigen Zeit die Leitung des Raketenflugplat zes haben würde. Er wollte so lange Urlaub nehmen, wie dazu nötig war, selbst wenn es sechs Monate dauern sollte. Er hatte ohnehin einen langen Urlaub zu bekommen und wollte sich ein wenig in der Welt umschauen. Das Leben war mir alterndem Raumfahrer ge genüber auf einmal sehr gütig – ich war glück licher als in den ganzen letzten Jahren, seit die Sache mit meinem Bein passiert war. In der dritten Aprilwoche fuhr Ellen nach Wa shington. Sie würde mindestens einen Monat lang wegbleiben, vielleicht sogar zwei. Es kam ganz darauf an, wann der Kongreß in Ferien gehen würde. Ich vermißte sie sehr. Seltsam, wie schnell man sich an eine geliebte Frau gewöhnen kann! Seit vielen Jahren hatte ich kaum an Frauen gedacht, und jetzt entstand ein großes
Loch in meinem Leben, obgleich ich Ellen erst seit zwei Wochen richtig kannte. Also zurück ans Studium. Die Ruhe hatte mir gut getan und meinen Kopf aufnahmebereiter gemacht. Nach zwei Wochen stieg ich in die ersten beiden der übrigen Prüfungen ein, um dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen. Blieben nur noch die beiden härtesten Nüsse zu knacken. Ich fand einen Lehrer aus der Uni versität, der eine Menge über Metallurgie wuß te, und stürzte mich mit Feuereifer auf dieses Gebiet. An vier Abenden in der Woche war er bei mir, und die beiden übrigen Abende lernte ich allein. Einmal pro Woche, gewöhnlich am Sonntag, fuhr ich zu Klocky hinüber, und wir spielten Schach oder unterhielten uns. Jeden Abend, nachdem ich gearbeitet hatte, bis mir die Buchstaben vor den Augen ver schwammen, stieg ich zum Dach hinauf und blickte zu den Sternen empor, wenn der Him mel klar war. Ich hatte mir ein Teleskop ge kauft, das ich immer wieder auf Jupiter richte te. Der Riese unter den Planeten war nahezu in Opposition zur Erde und ihr so nahe, wie er selten kommt. In vier Wochen würde er nur 700 Millionen Kilometer entfernt sein. Jupiter, der Riese, elfmal so groß wie die Erde, mit der
dreihundertfachen Masse. Doppelt so groß wie alle anderen Planeten des Sonnensystems zu sammengenommen. Der große Jupiter mit seinen zwölf Monden. Vier davon konnte ich durch mein Teleskop se hen. Die anderen sind so winzig, daß man sie nur mit einem sehr großen und lichtstarken Instrument finden kann. Aber die vier, die schon Galilei im Jahre 1610 mit seinem selbst gebastelten, primitiven Teleskop entdeckt hat te, konnte ich sehen. Vier kalte, aber liebliche Monde, die noch kei nes Menschen Fuß betreten hatte, die wir aber bald erreichen würden. Bald. Verdammt bald! Io – Europa – Ganymed – Callisto. Auf welchem davon würde ich wohl landen? Oder würde ich jemals auf einem dieser Monde landen? Max, sagte ich mir selbst, Max, du blö der, alter Träumer, denk daran, daß die Chan ce immer noch tausend zu eins steht! Die Rake te wird starten, schön, und du darfst den Bau überwachen und leiten. Aber Max, du Esel, wie willst du sie stehlen? Es wird ein Regierungs projekt mit vielen Wachmannschaften sein, mit Hunderten von Leuten, die daran mitar beiten. Sicher, manches wird sich einrichten lassen. Du kannst sie vielleicht zwei Tage vor dem Starttermin vollgetankt und fertig bela
den haben. Du kannst es vielleicht einrichten, daß die fliegende Tankstation, draußen im Raum, rechtzeitig an der richtigen Stelle ist. Vielleicht kannst du es sogar so drehen, daß der Direktor zu dieser Zeit irgendwo anders voll beschäftigt ist und du die Leitung hast. Und trotzdem kann noch so manches schief gehen – so vieles kann mißlingen. Eins zu tausend, immer noch. Aber immerhin eine Chance, den Sternen näher zu kommen, als irgendein anderer Mensch jemals zuvor. Ei nes Tages werden wir auch die Sterne errei chen, die Milliarden Milliarden Milliarden Sterne ... Ellen kam Mitte Juli zurück. Natürlich sahen wir uns gleich am ersten Abend nach ihrer Heimkehr, aber dann eine ganze Woche lang nicht mehr. Ich stand kurz vor meinem Examen in Metallurgie, und wir vereinbarten, uns erst danach wieder zu tref fen. Das war für mich ein doppelter Antrieb, mich wirklich auf den Hosenboden zu setzen. Da das Wetter in dieser Woche auch schlecht war, verzichtete ich auf meine nächtlichen Be obachtungen vom Hausdach aus und fuhr auch nicht zu Klocky. Es waren also seit Ellens Rückkehr nur genau
sieben Tage vergangen, als ich sie anrufen konnte, um ihr über das bestandene Examen zu berichten. Eine einzige Prüfung lag jetzt noch zwischen mir und dem Ingenieur-Di plom. »Wunderbar, Liebling«, sagte sie. »Und du machst dich doch nicht gleich an die Arbeit – gehst sofort an das letzte Fach? Du bist deinem Plan ohnehin weit voraus.« »Richtig, Ellen. Ich habe noch eine gute Nach richt. Klocky ist mit meiner Arbeit als Abtei lungsleiter mehr als zufrieden. Er will mich am Tage der Verleihung meines Diploms zum Stellvertretenden Superintendanten ernennen. Ich habe also noch einige Monate lang Gele genheit, mich einzuarbeiten, bevor ich wäh rend seines Urlaubs die Leitung des Flugha fens übernehme.« »Max, es geht wirklich alles großartig voran – in Washington auch. Willst du nicht heute abend zu mir kommen, damit wir das ein we nig feiern können?« »Hm«, brummte ich. Mir kam eine Idee. »Ich habe ein paar Flaschen echten Champa gner hier. Kann dich das nicht locken?« »Schon, aber ich möchte dir einen besseren Vorschlag machen. Ich kann sofort eine Woche freinehmen. Welche Pläne hast du für die
nächsten Tage?« »Nun – ein paar Besprechungen, einmal Vi deo, ein oder zwei Tagungen ...« »Kannst du das nicht absagen? Wir könnten für eine Woche nach Mexico City fliegen. Wenn wir uns beeilen, kommen wir heute abend ge rade noch zum Dinner zurecht.« Wir fuhren für eine Woche nach Mexico City. Es war eine wunderbare Woche, und eine er holsame dazu. Wir waren beide sehr mitge nommen und benutzten die Gelegenheit, uns einmal gründlich auszuschlafen. An manchen Tagen schlief ich bis in den Mittag hinein. Ge gen Abend sahen wir uns die Stadt an und gin gen spazieren. Ellen mußte natürlich eine Hautmaske tragen – eine der neuen Ravigos, die man selbst im hellen Tageslicht kaum ent decken kann – damit sie auf der Straße nicht erkannt wurde. Der Preis, den sie für ihre Po pularität bezahlen mußte! In dieser Woche lernte ich Senator Ellen Gal lagher erst richtig kennen. Sie erzählte mir al les Wichtige aus ihrem bisherigen Leben. Ihre Jugend war sehr unruhig gewesen. Ellen Grabow hatte ihren Vater nicht gekannt. Er war 1952 bei dem verrückten Durcheinander in Korea umgekommen, nur einige Wochen vor ihrer Geburt. Auch die Mutter war zwei
Jahre später schon gestorben. Ihre Großeltern – die Eltern des Vaters – nahmen sich ihrer an, aber sie waren zu arm, um eine Pflegerin oder Erzieherin für das Kind zu bezahlen und zu alt, um sich selbst darum zu kümmern. Ellen kam deshalb in ein Waisenhaus. Sie war ein häßliches Entlein, ein zurückge bliebenes, kränkliches, schüchternes Kind, das häufig an Erkältungen litt. Sie gab selbst zu, daß sie damals ein recht schwer zu erziehen der Fratz war, hauptsächlich deshalb, weil sie mit sich selbst und der Welt unzufrieden war und versuchte, ihre Minderwertigkeitskomple xe durch Frechheit zu verdecken. Sie vereitelte alle Versuche einer Adoption durch ihr scheußliches Benehmen, das auch die mutigsten Ehepaare abschreckte. Also blieb sie bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr in dem Waisenhaus und wurde dann bedingt entlassen, um sich eine Arbeit zu suchen. Es wurde ihr zur Bedingung gemacht, daß sie in einem Mädchenheim wohnte, bis sie volljährig war und eine Abendschule besuchte, um das Abitur zu machen. Sie arbeitete in der Verpa ckerei eines Warenhauses und hielt es da vier zehn Tage lang aus, bis sie ihr erstes selbstver dientes Geld in die Hand bekam. Das alles spielte sich in Wichita ab, und seitdem haßte
sie diese Stadt wie die Pest. Mit dem ersten Geld brannte sie durch und fuhr mit dem Omnibus nach Hollywood. Sie war darauf versessen, Schauspielerin zu wer den und versuchte, in die damals gerade stark ansteigende Video-Produktion hineinzukom men. In diesem Jahr baute man die zweite Raumstation als Relaisstation für die Video programme. Mit fünfzehn Jahren war sie im mer noch sehr häßlich und wußte es auch, aber zugleich besaß sie ein wirkliches schauspieleri sches Talent, das sie befähigte, komische Rol len zu übernehmen. Vielleicht, so meinte sie selbst, war das Schau spielern damals ein Mittel der Verteidigung ge gen ihre eigene Häßlichkeit. Jedenfalls stand sie nicht vor dem Spiegel, um sich zu bewun dern, sondern um komische Gesichter zu schneiden. Ich machte uns inzwischen etwas zu trinken, dann erzählte sie weiter. Von Hollywood aus ging sie nach Kalifornien und hoffte auf einen raschen Erfolg beim Vi deo. Sie hatte aber keine rechte Gelegenheit dazu und arbeitete statt dessen zwei Jahre lang als Kellnerin. So entschloß sie sich, eine ande re Laufbahn zu wählen, die aussichtsreicher erschien.
Diese bot sich ihr in der Person von Ray Con nor, der nur ein Jahr älter war als sie selbst und sie heiraten wollte. Er war mit achtzehn auch schon Waise, hatte aber von seinen ver storbenen Eltern etwas Geld und ein festes Jahreseinkommen geerbt. Er wollte Richter werden und studierte Jura. Nach der Hochzeit schlug er vor, daß auch sie zur Universität ge hen sollte und war schockiert, als er hörte, daß ihr noch eineinhalb Jahre bis zum Abitur fehl ten. Ellen hatte inzwischen auch schon die Lücken in ihrer Ausbildung erkannt und stu dierte eifrig zu Hause, bis sie die Aufnahme prüfung ablegen konnte. Überraschenderweise machte ihr das Studi um Spaß, und zwar deshalb, weil sie es jetzt freiwillig tat und ohne Zwang. Als sie in der Universität eingeschrieben wurde, war sie nur ein Jahr hinter ihrem Mann zurück und ent schloß sich ebenfalls zum Studium der Rechte. Sie interessierte sich für die politische Lauf bahn; das war in den siebziger Jahren, als im mer mehr Frauen sich politisch betätigten. Sie machten 1974 zusammen ihr Staatsex amen – sie hatte das Jahr aufgeholt, das sie hinter Ray zurück war. Aber auf Grund der herrschenden Depression fanden sie keine rechte Arbeit. Rays Geld war aufgebraucht. El
len fand zuerst eine Stellung als Kellnerin, während Ray erst nach drei Monaten einen Job als Hilfsarbeiter bekam. Am dritten Tage fiel er von einem Gerüst und brach sich das Ge nick. Vier Jahre später lernte sie Ralph Gallagher kennen. Er war auf dem besten Wege, ein be rühmter Politiker zu werden, und Ellen be wunderte ihn. Sie heirateten, und während der folgenden zehn Jahre ihrer Ehe sah sie ihre einzige Aufgabe darin, ihn in seinem gesell schaftlichen und politischen Aufstieg zu unter stützen. Sie sammelte Erfahrungen in den Praktiken der Politik. Sie spielte die elegante Gastgeberin bei seinen Empfängen. Sie half ihm dabei, Bürgermeister von Los Angeles zu werden und der beinahe sichere Gewinner der nächsten Senats wählen. Aber eine Herzthrombose kam dazwischen und machte sie wieder zur Witwe. Ein zweiter Schock erwartete sie: Sie stellte fest, daß sie vollkommen pleite war. Sie hatte sich um seine Politik gekümmert, aber niemals um Geldangelegenheiten, und er war zu groß zügig gewesen. Nach Zahlung aller Schulden blieb ihr so gut wie nichts übrig. Da sie einen in Los Angeles gut angeschriebe nen Namen trug und sich in der Kommunalpo
litik auskannte, gewann sie mit Leichtigkeit die nächsten Wahlen und wurde Stadtverordnete. Dann zwei Jahre im Landtag von Kalifornien. Ja, und dann überredete man sie dazu, sich um den freigewordenen Platz im Senat zu be werben. »Und ich wäre ohne deine Hilfe mit Pauken und Trompeten durchgefallen, Max«, schloß sie. »Dazwischen kam noch eine kurze gemein same Zeit mit Bradley. Aber schon vor einigen Jahren brachen wir unsere Beziehungen zu einander ab ohne uns deswegen zu verkra chen. Es kann also wohl nichts Ernsthaftes ge wesen sein. Als er hörte, daß ich mich um den Senatorposten bewarb, kam er zu mir und überredete mich zu dem Jupiterprojekt, von dem er mir bereits Jahre vorher erzählt hatte. Alles andere weißt du ja.« »Hast du denn am ersten Abend schon ge wußt, was mit uns passieren würde?« »Natürlich. Ich wußte es in dem Augenblick, als du zur Tür hereinkamst.« Ich schüttelte verwundert den Kopf. Dann holte ich uns noch etwas zu trinken. Als ich ihr das Glas reichte, fragte sie mich versonnen: »Max, glaubst du wirklich daran, daß wir ei nes Tages die Sterne erreichen werden? Sie sind Lichtjahre von uns entfernt, und ein
Lichtjahr ist sehr weit.« »Ja, aber davon darf man sich nicht abschre cken lassen.« »Wie weit ist der nächste Stern entfernt? Ich habe es wohl einmal gewußt, aber wieder ver gessen.« »Bis zum Proxima Centauri sind es etwa vier Lichtjahre. Und wie weit es bis zu den entfern testen Sternen ist, wissen wir immer noch nicht, da unsere besten Teleskope nicht so weit reichen. Vielleicht haben die Relativisten un recht, und das Universum ist wirklich unend lich. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Unend lichkeit wirklich.« »Und die Ewigkeit?« »Da stehst du jetzt gerade mitten drin. Es ist Blödsinn, ein bestimmtes Alter für unser Uni versum anzugeben – zwei Milliarden Jahre oder vier Milliarden. Könntest du dir vorstel len, daß irgend jemand eines Tages eine Uhr aufzog und ihr einen Schubs gab – und daß es vorher keine Zeit gab? Verdammt noch einmal, Zeit kann man nicht beginnen oder anhalten! Wenn dieses eine Universum wirklich ein be stimmbares Alter hat, dann ist es doch ewig, da es sich ständig in einem uns noch nicht ganz verständlichen Prozeß erneuert. Es muß also Welten vor der unseren gegeben haben. Viel
leicht hat es vor -zig Milliarden Jahren schon einmal ein Universum gegeben, in dem zwei Menschen dieselben Namen trugen wie wir, sich über dieselben Probleme unterhielten, dieselben Drinks schlürften. Vielleicht hatten sie andersfarbige Schlipse oder Halstücher um, weil es eben ein anderes Universum war.« Ellen lachte. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über die Krümmung des Univer sums, seine Endlichkeit oder Unendlichkeit. Dann schliefen wir vor Müdigkeit ein. Wieder in Los Angeles – Reparaturen, Studi um. Mein Stundenplan war jetzt nicht mehr ganz so streng, da ich an meinem letzten Fach arbei tete und das Diplom bereits in Sicht war. Ellen verbot mir, die Arbeit zu übertreiben. Also stu dierte ich an vier Abenden in der Woche, zwei mal allein und zweimal mit einem Lehrer zu sammen. Die übrigen Abende gehörten Ellen oder Klocky oder beiden zusammen. Wir gin gen ab und zu ins Theater oder in ein Konzert. Dabei mußten wir immer aufpassen, daß kein Reporter auf die Idee kommen konnte, uns in irgendeinen Zusammenhang zueinander zu bringen. Juli, August, September.
In dem Mann, der mir bei der Einheitlichen Feldtheorie half, gewann ich einen wirklichen Freund. Sein Name war unmöglich: Chang M' bassi. Aber er selbst war noch unmöglicher als sein Name. Chang M'bassi war angeblich der letzte Ange hörige des Massai-Stammes, der noch in den sechziger Jahren in Ost-Äquatorial-Afrika ge lebt hatte. Mit Ausnahme von M'bassi ist der Stamm jetzt ausgestorben, jedenfalls lassen sich keinerlei Spuren mehr feststellen. Die Massai waren vielleicht der farbigste Stamm des farbigen Afrikas und die tapfers ten, kühnsten Krieger, die es jemals gab. Sie waren hochgewachsen und im Durchschnitt weit über 1,80 Meter groß. Ihr Lieblingssport bestand darin, Löwen mit dem Spieß zu jagen. Kein Jüngling wurde in den Kreis der Männer aufgenommen, bevor er nicht seinen Löwen erlegt hatte. Sie besaßen große Rinderherden, und ihre Nahrung bestand fast nur aus einer Mischung von Milch und Rinderblut. Sie waren ebenso gute Hirten wie Jäger. Diese Ernährungsweise war ihr Verhängnis, als in ganz Mittelafrika die große Seuche aus brach – ich glaube, es war 1969 –, an der fünf zehn oder sechzehn Millionen Menschen star ben. Die Katastrophe folgte dem Jahr, in dem
man zum erstenmal in großem Maßstab ver sucht hatte, die Tsetse-Fliege endgültig auszu rotten. Das Unternehmen schien schon ge glückt, aber eine kleine Anzahl der Fliegen war gegen das »Wundergift« immun und kam im folgenden Jahr wieder zurück. Die Tierchen brachten einen neuen Virus mit, der bis dahin unbekannt gewesen war. Alle Rinder der gan zen Gegend fielen dem neuen Virus zum Opfer. An den Rindern selbst stellte man keine Kenn zeichen der Infektion fest, aber in ihrem Kör per machte der Virus eine Veränderung durch, die ihn für Menschen tödlich werden ließ. Die Massai starben bis zum letzten Mann – bis auf M'bassi. Der Virus wurde rasch gefunden und eine Warnung ausgeschickt, die sämtliche umliegenden Stämme vor dem Schlimmsten bewahrte. Aber die Massai erhielten die War nung der Mediziner zu spät. Daß M'bassi am Leben blieb, ist mehr einem Zufall zu verdanken. Ein chinesischer Missi onsarzt namens Chang Wo Sing war gerade an gekommen und versuchte, die Massai zu be kehren. Er hatte es sehr schwer, weil seine spezielle Richtung des Buddhismus das Töten von Tieren verbot. Er hätte sicher mehr Erfolg gehabt, wenn er versucht hätte, aus Löwen harmlose Vegetarier zu machen. Die Massai
gaben ihren Sport und ihre Ernährungsweise nicht auf. Aber in gewisser Hinsicht war es Chang Wo Sing dann doch gelungen, den ganzen Stamm der Massai zu seiner Religion zu bekehren. M' bassi, der letzte Massai, wurde nämlich Bud dhist. Er war damals 11 Jahre alt und der Sohn eines Dorfhäuptlings. Am Tage der Ankunft des Missionars wurde der Junge von einem Löwen angefallen und schwer verwundet. Sein Vater sah keine Hoffnung mehr für ihn und übergab ihn an den Chinesen, damit dieser sein Glück versuchte. Dr. Chang gelang das Wunder – und die Krankheit war M'bassis Rettung. Er wurde nämlich, da er auch am Hals Verletzungen da vongetragen hatte, während der Seuchenzeit intravenös ernährt, und zwar auf rein vegetari scher Grundlage. Der gute Doktor nahm den Knaben mit nach Hause und ließ ihn studie ren. In China, in London in Tibet und in Ame rika. Das also war Chang M'bassi. Schwarz wie die Nacht auf der Venus, wild aussehend, aber mit einer angenehmen, melodischen Stimme. Ein Prachtkerl. Wir wurden so etwas wie Freunde. Im Oktober legte ich meine Prüfung für das
Diplom als Raketen-Ingenieur ab. Wir arrangierten eine Dinner-Party und mie teten dafür eine Zimmerflucht im Beverly-Ho tel. Rory und Beß Bursteder kamen aus Berke ley, Bill und Merlene aus Seattle, Klockerman mit Frau, Chang M'bassi, und natürlich Ellen. Neun im ganzen. Bill machte die Party offensichtlich Spaß, aber ich hatte das Gefühl, daß er beim größten Teil unserer Unterhaltung nicht so recht mitkam. Dennoch war er froh, dabeisein zu können. Er freute sich nicht so sehr über das Diplom, das ich mir so schwer erkämpft hatte, als darüber, daß ich nun nicht mehr mit schmutzigen Hän den herumlief und endlich einen verantwortli chen Posten bekleidete. Er applaudierte heftig, als Klockerman in seiner kleinen Rede verkün dete, er würde mich zu seinem Stellvertreter in der Flughafenleitung machen. Ich merkte, wie mich Merlene fragend ansah, und ich blinzelte ihr zu. Das verwirrte sie noch mehr. Geschah ihr ganz recht. Sie konnte sich denken, daß ich diesen Schritt nicht ohne Grund unternommen hatte. Weihnachten gehörte Ellen und mir. Mit dem Geschenk hatte ich mich in Unkosten gestürzt – es war ein Perlenhalsband. Fast ein Jahr lang
hatte ich nun mehr Geld verdient als jemals zu vor in meinem Leben. Dazu hatte ich keine Ge legenheit, welches auszugeben. Das sich auf der Bank ansammelnde Geld begann langsam, mir Sorgen zu machen, und das Halsband war ein prächtiger Grund dafür, einen Batzen des Geldes loszuwerden. Von Ellen bekam ich ein sehr schönes Zigaret ten-Etui, schwarz mit Diamantensplittern in einem willkürlichen Muster. Willkürlich? Ich blickte noch einmal genauer hin und stellte fest, daß mir das Muster nur zu gut bekannt war. Der Große Hund, der Polarstern ... »Die einzige Möglichkeit, Liebling«, sagte sie, »dir die Sterne zu schenken.« Fast hätte ich geweint. Vielleicht tat ich es auch – ich sah nämlich alles durch einen feuchten Schleier.
1999 Ein Brief von Ellen aus Washington, Ende Ja nuar: »Liebling! Gerade heute abend wäre ich so gern bei Dir! Die Müdigkeit und diese lästigen Kopf schmerzen würden dann leichter zu ertragen sein. Ich wäre sehr glücklich! Ich muß Dir aber trotzdem erzählen, was ich heute er reicht habe. Ich erwischte mein Opfer gerade zur rechten Zeit. Das Opfer: Ein Herr aus Massachusetts, Konservativer und Vorsitzender des Fi nanzausschusses, Senator Rand. Die Zeit: Ein Tête-à-Tête, zu dem ich ihn schlauerweise in ein Lokal geschleppt hatte, wo uns keiner kannte. Damit wir nicht gestört wurden. Während des Essens langweilte ich ihn gründlich mit den Gründen, warum man sich den Jupiter aus der Nähe besehen sollte. Aber das war nur das Drumherum. Unter dem Deckmantel dieses Berichts ließ ich im mer deutlicher werdende Bemerkungen fal len, aus denen er entnehmen mußte, daß ich die Gesetzesvorlage trotz der Opposition
durchdrücken würde. Ich deutete an, daß ich bereits genügend Unterstützung dafür hätte – was natürlich nicht stimmt, aber er wird meine Behauptung nicht nachprüfen können. Opposition dagegen würde ihm nicht viel nüt zen. Er reagierte sauer, als ich begeistert dar auf hinwies, wie klein die erforderliche Sum me von 310 Millionen Dollar für ein solches Projekt sei. Während wir nach dem Essen einen Brandy tranken – er beschließt jede Mahlzeit mit ei nem Brandy und taut dann erst auf – er wähnte ich ganz nebenbei, daß es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, die Rakete viel billiger zum Jupiter gelangen zu lassen. Die Landung auf einem der Monde sei ein weite rer Vorteil des zweiten Vorschlags. Ich umriß ganz kurz Deinen Plan. Er interessierte sich nur für die Endsumme der Kostenaufstel lung, aber dann machte er wirklich Augen! Er starrte mich an. ›Senator Gallagher‹, sagte er, ›wenn sich das Projekt mit so geringem Aufwand durchführen läßt, weshalb wollen Sie sich dann hinter einen Antrag stellen, der über die zwölffache Summe lautet?‹ Natürlich hatte ich diese Frage erwartet und konterte gleich mit der richtigen Antwort, die ich parat hatte. Daß nämlich zur Zeit meiner
Einreichung die neue Methode noch nicht ausgearbeitet gewesen sei und die Mehrstu fen-Rakete außerdem gewisse Vorteile böte. Zwei Mann, größere Kabine, mehr Bequem lichkeit während der langen Reise. Aber trotzdem sei ich bereit, meinen ersten Auf trag unter Umständen zugunsten des neuen zurückzuziehen, falls er mir versichern könn te, daß die Konservativen den Antrag ohne Schwierigkeiten passieren lassen würden. Sie brauchten nicht einmal dafür zu stimmen. Sie sollten sich nur der Stimme enthalten oder meinethalben während der Abstim mung auf dem Korridor Spazierengehen. Er machte zunächst einen Rückzieher und erklärte, er könne mir höchstens verspre chen, daß er persönlich nichts gegen meinen Antrag unternehmen würde. Ich schmeichel te ihm aber und sagte ihm ein paarmal, daß bei seinem großen Einfluß ... Als er auch dann noch nicht wollte, setzte ich mich aufs hohe Roß. Ich erklärte ihm, daß wir, da es nun ohnehin hart auf hart kommen würde, den Kampf auf der Basis des 300-MillionenVorschlags würden durchstehen müssen und auf den neuen Vorschlag nur dann zurück kommen würden, falls der erste nicht durch käme. Endlich sah er, was ich erreichen woll
te. Er versprach mir, daß er jede Opposition von seiten der Konservativen verhindern würde, falls ich den teuren Vorschlag zuguns ten des billigeren zurückziehen würde. Was immer man auch von Rand denken mag – er hält sein Wort. Max, das Projekt ist praktisch schon bewilligt! Außerdem hat uns Präsident Jansen privat versichert, daß er das Gesetz sofort unter zeichnen würde, ohne Einspruch einzulegen. Alles andere wird auch glatt über die Bühne gehen. So, mein Liebling, ist die augenblickliche Lage. Und wenn Sie Sorgen haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihren Senator!« Ich schrieb ihr zurück, daß ich sie schrecklich vermißte. Ich vermißte sie wirklich. Jetzt, wo wir ge trennt waren, erkannte ich erst, wie sehr ich sie liebte und daß sich zwischen uns etwas Großes und Schönes entwickelt hatte – nicht bloß eine gewöhnliche Liebelei. Manchmal ver dammte ich beinahe das Projekt Jupiter, weil es schuld an unserer Trennung war. So allein – früher hatte ich mich niemals ein sam gefühlt – fand ich, daß eine Woche viel zu
viel Abende hat. Ich ging trotz des miserablen Wetters sehr viel spazieren, auch wenn ich manchmal durch überschwemmte Straßen waten mußte. Ich las viel. Und so oft es sich einrichten ließ, war ich mit Klocky oder M'bassi zusammen. Wir spiel ten Schach oder unterhielten uns. Aber es gab immer noch zu viele Abende in der Woche. Ganze sieben Stück. Die Tage vergingen über der Arbeit sehr schnell, aber die Abende krochen dahin wie müde Schnecken. Von Ellen, Anfang Februar: »Ich habe Dir gestern telegrafiert, daß die Vorlage im Senat bewilligt wurde. Vielleicht hast Du es auch schon vorher am Video ge hört. Es war aber eine sehr knappe Angelegen heit, und wir müssen unsere Pläne ein wenig ändern. Rand hat uns nicht im Stich gelassen. Von den etwa fünfundzwanzig konservativen Stimmen im Senat waren nur ganz wenige ge gen uns. Die anderen waren entweder abwe send oder enthielten sich der Stimme. Wir hatten fünfundzwanzig sichere Leute hinter uns – die fünfzehn, mit denen wir im
mer rechnen können, und weitere zehn, mit denen wir Stimmen getauscht hatten. Die üb rigen fünfzig Stimmen der Mitte müßten, so dachten wir, sich etwa halb und halb auftei len. Dann hätten wir eine Mehrheit von bei nahe zwei zu eins erzielt. Trotzdem kam es bei der Abstimmung nur zu einem 36 zu 33. Und warum? Wir haben mit einigen Leuten der Mitte gesprochen und den Grund erfahren. Sie sind nach dem Un fall der Marsrakete am letzten Mittwoch der Raumfliegerei gegenüber skeptisch einge stellt. Nur weil die teure Rakete mit sechs Mann Besatzung von einem Meteor getroffen wurde und auf Deimos abstürzte, wäre beina he alles schiefgegangen. Diese Abstimmung hat mir gezeigt, daß wir etwas zu zuversichtlich waren. Bevor die Vor lage den Ausschuß verläßt und dem Hohen Haus vorgelegt wird, müssen wir noch eine Menge Vorarbeit leisten. Kuhhandel auf brei tester Basis! Wenn also Klocky für seinen Urlaub noch keine festen Absprachen getroffen hat, wäre es besser, wenn er bis April warten könnte. Ich habe auch noch einen privaten Grund da für. Unsere Kurzferien werden dieses Jahr während der zweiten Märzhälfte sein, und
Du kannst die beiden Wochen nicht freineh men, wenn er weg ist. Frag ihn doch bitte. Ich habe immer noch diese verdammten Kopfschmerzen. Jetzt, wo die ganze Aufre gung vorbei ist, werde ich wahrscheinlich doch einmal zum Arzt gehen. Hoffentlich ist es keine Migräne, obwohl es auch dagegen heutzutage ganz gute Mittel gibt. Schreib mir bald wegen der beiden Wochen Urlaub. Herzlichen Gruß!« Klockerman war einverstanden. Er hatte zwar seine Abreise schon für den 1. März vorberei tet, konnte aber den Termin noch ändern. Ich rief Ellen an und vereinbarte mit ihr, daß wir uns am 15. März in Havanna, Kuba, treffen wollten. Am Sonntagmittag aß ich zusammen mit M' bassi. Er hatte Kaninchenfutter und ich ein schönes saftiges Steak. Da es selbst für Los An geles an diesem Februartag ausnahmsweise warm war, gingen wir zum Strand hinunter und ließen uns von der Sonne bräunen. M'bas si hatte das zwar nicht nötig, aber er liebte die Sonnenwärme. Wir unterhielten uns über Löwen. M'bassi brachte die Rede darauf. »Gestern nachmittag war ich zum erstenmal
in meinem Leben in einem Zoo«, sagte er. »Ich wollte einmal wieder einen Löwen sehen. Seit dreißig Jahren hatte ich keinen mehr gesehen. Ich sah einen.« »Wie sah er aus?« »Er sah wohl aus wie ein Löwe. Sehr sogar. Aber es hat eine ganze Weile gedauert, bevor ich ihn als Löwen erkannt habe; er wirkte so anders als der eine in Afrika, der mir das Le ben gerettet hat, indem er mich zerkratzte. Dann stellte ich fest, daß der Unterschied nicht in dem Tier selbst lag, sondern in meiner Ein stellung zu ihm. Ich bin so froh, daß ich hinge gangen bin.« »Der Unterschied in der Anschauung kann zweierlei bedeuten, M'bassi«, sagte ich. »Ein mal der zwischen einem freien und einem ge zähmten Löwen, oder der zwischen dem Ein druck eines Knaben und dem eines erwachsenen Mannes.« »Es war keines von beiden, Max. Es war viel mehr der Unterschied zwischen der Einstel lung eines Wilden – denn das war ich mit elf Jahren noch – und der eines zivilisierten Men schen. Dieser Unterschied ist größer als der zwischen einem Elfjährigen und einem Er wachsenen; denn wäre ich ein Wilder geblie ben und hätte ich mein Leben weiter bei mei
nem Stamm verbracht, hätte sich mein Stand punkt nicht geändert.« »Wie würden Sie diesen Standpunkt definie ren? Ich meine, den des Wilden?« »Bewunderung, Respekt und den Wunsch, zu töten. Zu beweisen, daß ich mich vor dem Lö wen nicht fürchte.« »Und als zivilisierter Mensch?« »Bewunderung, Respekt und Mitleid.« »Es ist leicht, für einen eingekerkerten Löwen Mitleid zu empfinden. Was, wenn er Sie in Afrika angesprungen hätte?« »Ich hätte mich verteidigt«, seufzte er. »Viel leicht ungern, aber die Hsin-Philosophie pre digt keinen Fanatismus. Wenn es erforderlich ist, zur Rettung eines Menschenlebens ein Tier zu töten, tun wir es.« Ich holte weit mit meinem Arm aus. »Alles das, M'bassi – all das und die Sterne dazu, ge nügt das nicht, muß man da auch noch eine Re ligion erfinden?« »Es würde vielleicht genügen, wenn wir all das und die Sterne ohne Religion haben könn ten. Sie haben die Wissenschaft. Ich habe mei ne Religion. Besteigen Sie Ihr Pferd und lassen Sie sich zu den Sternen emportragen – ich neh me meines, Max.« Ich hätte mir damals nicht träumen lassen,
daß er es ernst meinte. Der Urlaub war herrlich, obgleich sich Ellen nicht wohl fühlte. Sie klagte über Kopfschmer zen und machte einen erschöpften Eindruck. Wir kürzten die Abende ab und gingen früh schlafen. In der zweiten Woche wurde es etwas besser. Wir sahen uns die Stadt an und gingen ein paarmal aus. Keiner von uns machte sich et was aus Tanzen, aber wir liebten die moderne kubanische Musik, die in Amerika längst wie der vergessen war. Vielleicht waren wir beide ein wenig altmodisch. An den sonnigen Tagen unternehmen wir Bootsfahrten. Wie gesagt, es waren herrliche Tage, und wir fühlten uns beide richtig erholt, als wir wieder zurück nach Amerika mußten. Mir stand eine verdammt anstrengende Wo che bevor – die letzte vor Klockys Urlaub. Nur eine Woche, um mir die vielen Dinge zu zeigen, die ich noch nicht kannte. Jeden Abend wurde es später, weil ihm immer noch etwas einfiel, was ich eigentlich auch wissen mußte, wenn ich ihn vertreten wollte. Die Leitung des Raketenhafens von Los Ange les ist eine schwere, verantwortungsvolle Auf gabe, stellte ich bald fest. Man muß die Abtei
lungen, die einem unterstellt werden, wenigs tens einigermaßen kennen. Bis zu Klockys Rückkehr würde ich alle Hände voll zu tun ha ben. Am 1. April flog er nach Afrika. Es war noch nicht ganz hell, als ich mich von ihm verab schiedete. »Halte die Verbindung mit mir auf recht, Max«, sagte er. »Dann weiß ich, wann deine Ernennung durch ist und ich wieder zu rückkommen kann. Aber nicht vor drei Mona ten. Einmal will ich richtig Urlaub machen, ich habe es verdient. Und – viel Glück!« Die ersten Tage, bis ich alles so stehen hatte, wie ich es haben wollte, war keine Zeit, sich über das Glück Gedanken zu machen. Aber es war mir offensichtlich immer noch treu. Ende Mai schrieb mir meine Senatorin: »Drück beide Daumen, Liebling! Ende der Woche, vielleicht am Donnerstag oder Frei tag, kommt die Vorlage ins Abgeordneten haus. Das heißt, falls nicht wieder irgendeine Rakete abstürzt. Wir müssen sicher gehen und eine mindestens 60prozentige Mehrheit haben. Ich werde dich sofort anrufen, wenn ich das Ergebnis weiß. Und, Liebling, Du kannst es mir glauben: Wenn ich Dich am Donnerstag oder Freitag anrufe, werde ich
Dir gute Neuigkeiten mitzuteilen haben. Ich hatte Gelegenheit, den Präsidenten gestern noch einmal kurz an das Projekt Jupiter zu erinnern. Er versprach mir seine Unterstüt zung. Außerdem erwähnte er, daß er von der niedrigen Summe überrascht gewesen wäre. Er könne sich daran erinnern, daß ursprüng lich wesentlich mehr gefordert worden war. Da hatte ich die Gelegenheit, die ich suchte: Ich konnte Deine Ernennung zum Stellvertre tenden Direktor vorbereiten. Ich erzählte ihm von Dir und Deinem Anteil an dem neu en Projekt. Ich ließ durchblicken, daß Du ei gentlich Direktor werden solltest, aber daß ich einsähe, daß ein Politiker der richtigere Mann dafür wäre. Er stimmte mir zu, daß wer immer Direktor werden wird, Dich mit dem Titel eines Superindendanten zum zwei ten Mann machen müßte! Stell Dir das vor! Er ging sogar so weit, daß er Dich auf der Stelle zum Direktor machen wollte, aber das habe ich ihm schnell ausgeredet. Ich will Dir auch sagen, warum: Die Ernennung zum Di rektor muß vom Senat bestätigt werden, und dabei kann zu leicht etwas schiefgehen. Du bist keine bekannte politische Figur; deshalb würde der eine oder andere Senator versu chen, Dir ein Bein zu stellen, weil er den Pos
ten lieber einem Bekannten zuschanzen wür de, dem er einen Gefallen schuldet. Es würde eine genaue Untersuchung Deiner Eignung für den Posten geben, und was dabei herauskommen würde, weißt Du selbst: Daß Dein Ingenieur-Diplom erst ein Jahr alt ist, daß Du vorher nicht die geringste Erfahrung mit Verwaltungsaufgaben hattest und so wei ter. Man würde dem Präsidenten mitteilen, daß Du Dich für diesen Posten nicht eignest. Danach würde es für mich auch unmöglich sein, Dir noch den Job des Zweiten Direktors zu verschaffen. Ich sagte Jansen, daß Du wahrscheinlich die oberste Leitung des Projekts gar nicht haben wolltest, und daß Du viel lieber an der Pla nung und der Rakete selbst arbeitest, als an dem Papierkram. Das sah er schließlich auch ein und fragte mich, ob ich für den Direktor sessel irgend jemanden ins Auge gefaßt hätte. Ich antwortete ihm, daß ich mir schon ver schiedene Persönlichkeiten überlegt hätte, aber nichts dazu sagen wollte, bevor der An trag nicht auch im Haus genehmigt sei. Bis dahin kann ich mir auch noch den Knaben aussuchen, der als Strohpuppe dienen soll. Er wird mir alles versprechen, um den Job zu bekommen. Es geht auf das Ende zu. Drück
weiter die Daumen!« Ich drückte zwei Tage lang die Daumen – von Dienstag bis Donnerstag. Jetzt, wo die Ent scheidung so knapp bevorstand, bekam ich es mit der Angst zu tun. Mein Gott, was konnte nicht alles danebengehen! Und ich hatte nicht mehr viel Zeit, falls es noch einmal eine Verzö gerung geben sollte. Bald wurde ich sechzig. Ich rief Ellen an und erfuhr, daß die Abstim mung am folgenden Tage gegen elf Uhr statt finden würde – das war acht Uhr in Los Ange les. An diesem Abend versuchte ich, rasch einzu schlafen, aber ich war zu aufgeregt und nervös, um Schlaf zu finden. Nach einer Weile gab ich es auf, zog den Bademantel an und stieg auf das Dach zu meinem Teleskop. Jupiter stand unterhalb des Horizontes, aber Saturn war gut zu sehen. Seltsamer Saturn, der nächste Planet nach Jupiter ... Und morgen sollte es sich ent scheiden! Es ging alles glatt. Ellen rief mich ein paar Minuten vor neun Uhr an. »Alles okay, Liebling«, begrüßte sie mich. »Der Vorschlag geht durch.« »Wunderbar.«
»Bequeme Mehrheit. Es sind erst etwa drei Viertel der Stimmen ausgezählt, aber wir ha ben schon jetzt die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen. Das Gesetz ist also durch. Wenn dich das Endergebnis interessiert, kann ich gleich noch einmal anrufen.« »Das spielt doch keine Rolle«, sagte ich. »El len, deine Stimme klingt immer noch schreck lich müde und abgespannt. Ruh dich aus und geh früh schlafen.« »Du hast recht, ich werde mich heute nach mittag ein wenig hinlegen. Heute abend habe ich eine Verabredung. Ich muß meine Empfeh lungen für den Direktorposten vorbereiten.« »Wer ist heute abend der Glückliche?« »Whitlow. William J. Whitlow. Ihn nehme ich mir als ersten Kandidaten vor. Ist dir der Name ein Begriff?« »Klingt zwar bekannt, kann mich aber nicht genau erinnern. Wer ist er?« »Früherer Abgeordneter aus Wisconsin. Ge hört zu Jansens Partei und verlor ohne seine Schuld in den letzten Wahlen. Andere Leute seiner Partei waren in einen Bestechungsskan dal verwickelt, deshalb kam der Kandidat der Gegenpartei zum Zuge.« »Und was macht er jetzt?« »Er ist einer der Unterstaatssekretäre. Etwas
Besseres konnte ihm Jansen nach der verlore nen Wahl nicht anbieten. Im Vergleich mit der Direktion des Jupiterprojektes ist es natürlich nicht viel, er wird also sicherlich mit Handkuß annehmen. Und Jansen wird froh sein, ihm eine Beförderung zu beschaffen.« »Kann der Senat auch nichts an ihm ausset zen, wenn er seine Ernennung bewilligen muß?« »Absolut nichts. Er hat ein reines Hemd an.« »Und wie ist der Mann persönlich?« »Ich fürchte, ziemlich steif und ein wenig son derlich. Aber, keine Angst, Max! Du wirst mit ihm schon fertig werden. Er wird dir nicht ins Handwerk pfuschen, weil er nicht die Bohne von Raketen oder technischen Dingen ver steht.« »Wirst du ihm von mir etwas sagen?« »Nein, ich werde deinen Namen nicht nen nen. Vielleicht erinnert sich der Präsident, daß er dich zum Direktor machen wollte und schlägt dich selbst als Superintendanten vor. Das hätte natürlich wesentlich mehr Gewicht. Wenn nicht, kann ich dich später immer noch hineinbringen. Er muß mir versprechen, nicht ohne meine Einwilligung einen Assistenten zu ernennen.« »Du sorgst für mich wie eine Mutter. Aber im
Ernst: Viel Glück heute abend, und sorge da für, daß er dich nicht zu lange aufhält. Du mußt dich ein wenig schonen.« »Ich rufe dich sofort wieder an, wenn ich et was Neues weiß. Ansonsten sehen wir uns nächste Woche.« »Ellen, es ist verdammt einsam hier ...« Sie hatte bereits eingehängt. Rory und die Boys von Treasure Island hatten im Pleiades Hotel eine großartige Siegesfeier arrangiert, um die Bewilligung des JupiterProjektes zu feiern. Ich stellte zu meinem Miß vergnügen fest, daß ich der Ehrengast war und mußte eine Rede halten. Kein Mensch schien sich darum zu kümmern, daß ich die Anspra che rettungslos verpfuschte, aber die Zeitun gen strichen nachher meinen Anteil an dem Projekt dick heraus. Meine plötzliche Berühmtheit schien mir auch in meiner Stellung im Raketenhafen von Los Angeles nicht geschadet zu haben. Wenn mir wirklich noch von mancher Seite Mißtrau en entgegengebracht wurde – ich hatte so das Gefühl gehabt –, weil Klocky mich zu schnell befördert hatte, so verschwand es jetzt. Ich war einwandfrei der Held des Tages, und was ich tat oder sagte, war unfehlbar richtig. Ich
konnte merken, daß man mich anders behan delte. Am Montag und Dienstag hörte ich nichts von Ellen. Sie hatte natürlich auch keinen Grund, mich extra anzurufen. Im Video hörte ich, daß der Präsident das Jupiter-Gesetz unterzeichnet hatte und daß es damit offiziell in Kraft getre ten war. Aber das war vorauszusehen, Ellen brauchte mich deshalb nicht anzurufen. Aber am Mittwoch wollte Ellen den Präsiden ten treffen. Ich wußte genau, daß sie mich so fort danach anrufen oder wenigstens ein Tele gramm schicken würde. Wenn sie mit Whitlow klargekommen war und er zum Direktor er nannt wurde, bekam ich den Job als Intendant. Ihre Verabredung fand um zwei Uhr nachmit tags statt, also elf Uhr nach Pazifikzeit. Ich blieb deshalb im Büro, um ihren Anruf nicht zu verpassen. Als es ein Uhr wurde, machte ich mir langsam Sorgen. Ihre Besprechung mit Jansen konnte unmöglich länger als eine Vier telstunde gedauert haben. Aber dann überlegte ich mir, daß sie anschließend wahrscheinlich schnell in den Senat zurück mußte und deshalb erst am Abend anrufen würde. Aber als ich um fünf Uhr Feierabend machte, war es in Washington bereits acht Uhr, und sie hatte immer noch nichts von sich hören lassen.
Sei kein Narr, redete ich mir gut zu. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Alles ging vermutlich glatt über die Bühne, und sie wartet jetzt, bis ich zu Hause bin, um in aller Ruhe mit mir sprechen zu können. Ich aß schnell etwas unterwegs und eilte nach Hause. Um sechs Uhr saß ich bereits wieder am Telefon. Um sieben Uhr rief ich Ellens Wohnung in Washington an, bekam aber keine Antwort. Ich versuchte es jede Stunde, bis es elf Uhr war – zwei Uhr nachts dort. Dann gab ich es für heute auf. Aber warum hatte sie nicht angerufen? Sicher wußte sie, daß ich auf eine Nachricht wartete. Ich stellte meinen Wecker auf fünf Uhr und legte mich hin. Ich schlief wenig und stand um halb fünf Uhr auf, um mir Kaffee zu kochen. Nach einer halben Stunde rief ich wieder in ih rer Wohnung an. Wenn sie vielleicht gestern abend ausgegangen war und erst morgens nach Hause kam, mußte sie jetzt in ihrer Woh nung sein. Nichts! Ich zwang mich dazu, über eine Stunde zu warten und rief dann im Senat an, der seit fast einer halben Stunde in Sitzung sein mußte. Ich mußte mich als Direktor des Raketenhafens aufspielen, bevor sich der Aufsichtsbeamte dazu bequemte, gleich im Sitzungssaal nachzu
sehen. Er kam nach zehn Minuten wieder zu rück und sagte, daß Senator Gallagher noch nicht anwesend sei. Er wollte aber nach ihr Ausschau halten und ihr meine Nachricht übergeben, sobald sie käme. Sie sollte mich dann gleich anrufen. Ich bedankte mich und hing ein. Soll ich bei der Polizei in Washington anru fen? überlegte ich. Wenn sie einen Unfall hat te, mußte es gestern abend passiert sein, und man würde jetzt Bescheid wissen. Aber wenn es für ihre Abwesenheit irgendeine normale Erklärung gab, konnte meine Fragerei nur peinlich für sie werden. Es konnte sogar sein, daß die Presse davon Wind bekam, bevor sie wieder auftauchte. Ich starrte auf das Telefon. Es klingelte. Washington war in der Leitung. Ich atmete auf und dachte, daß Ellen wohl jetzt erst im Se nat angekommen war. Aber es war eine Män nerstimme am Apparat. »Mr. Andrews?« Ich sagte: »Ja.« »Hier spricht Dr. Gundleman vom Kerry Hos pital. Ich rufe wegen Frau Senator Gallagher an, die bei uns eingeliefert wurde und mich bat, Sie zu verständigen.« »Was ist geschehen? Ist sie schwer verletzt?«
»Es war kein Unfall, Mr. Andrews. Sie wird sich heute noch einer Operation unterwerfen müssen, weil wir einen Gehirntumor festge stellt haben. Sie bat mich, Ihnen zu sagen ...« »Einen Augenblick bitte. Sagen Sie – ist die Operation gefährlich?« »Ja, es ist eine ernste Sache, aber die Aussich ten für die Patientin sind gut. Sie wären aber besser gewesen, wenn wir die Operation zehn Tage früher ausgeführt hätten, nämlich gleich, als das Geschwür festgestellt wurde. Ich glaube aber, wir werden sie durchbekommen.« »Wann wird operiert? Kann ich noch recht zeitig nach Washington kommen, um vorher mit ihr zu sprechen?« »Die Operation wird um halb drei Uhr begin nen. Um zwei Uhr müssen wir die Patientin da für vorbereiten, und jetzt ist es hier gleich zehn Uhr. Es liegen also nur vier Stunden und zehn Minuten dazwischen. Ich glaube, eine CharterRakete würde es noch schaffen, aber das wäre natürlich sehr kostsp...« »Sagen Sie ihr, daß ich gleich komme«, unter brach ich ihn und schleuderte den Hörer mit einem Krach auf die Gabel. Dann rief ich die Sekretärin an. Nach ein paar Minuten antwortete sie mit schläfriger Stim me.
»Dotty, hier spricht Max Andrews!« rief ich ungeduldig. »Rasch wach werden, eine äußerst dringende Sache! Hast du Papier und Bleistift zur Hand?« »Ja, Mr. Andrews.« »Gut. Schreib dir folgendes auf – genau, hörst du? Und fange mit der Erledigung sofort an, wenn ich den Hörer wieder auflege. Erstens, ruf den Raketenhafen an und sage ihnen, sie sollen die Charter-Rakete für mich bereithal ten, damit sie sofort starten kann, wenn ich komme; das wird in etwa zwanzig Minuten sein. Wenn mehrere Piloten vorhanden sind, will ich mit Red fliegen. Landeerlaubnis in Wa shington besorgen. Verstanden?« »Ja, Mr. Andrews.« »Zweitens. Wenn du damit fertig bist, ruf ein Helitaxi an, das mich hier abholen soll. Höchs te Dringlichkeitsstufe, der Pilot soll auf dem Dach landen. Ich werde zehn Minuten nach diesem Telefongespräch auf dem Dach stehen. Erledige das, während ich mich anziehe. Ruf dann sofort wieder an, und ich sage dir, was weiter zu geschehen hat.« Ich war rechtzeitig fertig. Dotty rief wieder an, und ich sagte ihr, was im Raketenhafen während meiner Abwesenheit zu geschehen hatte. Das Heli schaukelte gerade herab, als ich
auf das Dach hinaustrat. Kurz nach meinem Gespräch mit Washington startete ich. Eine Stunde und fünfzig Minuten später stieg ich in Washington in ein Heli um, das bereits warte te, um mich ins Hotel zu bringen. Daran hatte ich nicht gedacht – wohl aber Dotty. Ich erreichte das Krankenhaus um Punkt 12 Uhr, zwei Stunden vor dem Fertigmachen zur Operation. Am Empfang verschwieg man mir Ellens Zimmernummer. Dr. Grundleman hatte Anweisung hinterlassen, daß man mich in sein Büro führen sollte, sobald ich ankam. Er hatte ein rotes Gesicht und war so glatz köpfig, wie die Nase einer Rakete. Er sah mehr wie ein Ringer oder Barmixer als ein Arzt aus. Er reichte mir die Hand – aber ich war ja nicht gekommen, um mit ihm zu reden, sondern um Ellen zu sehen. Ich verlangte, zu ihr geführt zu werden. »Sie waren überraschend schnell hier, Mr. Andrews. So eilig ist es nicht.« »Sie haben es vielleicht nicht eilig, aber ich. Wo ist sie?« »Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Andrews. Sie verlieren keine Zeit, die ihr gehört, wenn Sie mir einen Augenblick zuhören. Bis zu den Ope rationsvorbereitungen sind es noch zwei Stun
den, und ich darf Ihnen unmöglich mehr als eine Stunde bewilligen. Selbst diese eine Stun de erhöht schon das Risiko. Und würden Sie nicht auch lieber die letzte Stunde wählen, um ihr die letzten Minuten vor der Operation zu verkürzen?« »Na schön«, sagte ich resigniert. »Unter einer Bedingung: Daß Sie ihr sofort sagen, daß ich hier bin und in einer Stunde zu ihr komme, da mit sie nicht daliegt und sich darüber Sorgen macht, ob ich es noch rechtzeitig schaffen wer de.« »Sie ist bereits unterrichtet. Der Empfang be nachrichtigte mich, als Sie eintrafen, und ich gab die Nachricht gleich an Senator Gallagher weiter. Sie weiß, daß Sie hier sind und die Stunde von eins bis zwei mit ihr zusammen verbringen werden. Wollen Sie jetzt bitte Platz nehmen?« Ich hatte nicht gemerkt, daß ich noch stand. Etwas verlegen ließ ich mich in den Sessel sin ken. »Verzeihung, Doktor. Ich bin ein wenig nervös.« »Das ist ein weiterer Grund dafür, daß ich Sie nicht jetzt sofort zu ihr lassen kann. Sie müs sen völlig ausgeglichen und ruhig sein, wenn Sie mit ihr sprechen, und nicht so aufgeregt. Trauen Sie sich das zu?«
»Ich werde zumindest Ruhe vortäuschen kön nen«, versprach ich. »Aber was ist eigentlich geschehen? Wann wurde sie eingeliefert? Wie lange ist ...« »Der Tumor muß sich letztes Jahr schon ent wickelt haben. Die ersten Symptome, starke Kopfschmerzen, setzten im Januar ein. Zuerst in größeren Abständen und erträglich. Senator Gallagher suchte Ende März, etwa vor zwei Monaten, deswegen einen Arzt auf.« Ich nickte. Das mußte gleich nach unseren Fe rien in Havanna gewesen sein. Offensichtlich hatte sie mehr darunter gelitten, als sie mich wissen ließ. Grundleman fuhr fort: »Ihr Arzt diagnosti zierte die Beschwerden als Migräne und be handelte Mrs. Gallagher entsprechend. Der Tu mor liegt so, daß damals die auftretenden Symptome fast die gleichen waren wie bei Mi gräne. Eine Zeitlang schien es so, als ob es ihr besser ginge. Erst vor zehn Tagen erlitt sie einen Rückfall, der ihren Arzt veranlaßte, sei ne erste Diagnose anzuzweifeln. Er schlug ihr vor, sofort zur genaueren Untersuchung hier herzukommen. Wir entdeckten einen Tumor und stellten seine Lage fest, und ich riet zur schnellen Operation. Sie bestand jedoch dar auf, noch zwei Wochen zu warten, obgleich die
Verzögerung mit einer erhöhten Gefahr ver bunden war, bis irgendeine Regierungsangele genheit erledigt sein würde, die sie als äußerst wichtig ansah.« Ich schloß die Augen. Das Jupiter-Projekt. Es war ihr wichtig genug, um das Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Oder war es etwa nicht das Projekt selbst, sondern mein Treiben – ihre Liebe zu mir? »Fahren Sie fort!« bat ich. Er zuckte die Schultern. »Ich konnte nichts daran tun. Wir legten den Termin der Operati on für kommenden Sonnabend fest. Ich sorgte dafür, daß Dr. Weißach den Eingriff ausführen wird – kennen Sie ihn?« Ich schüttelte den Kopf. »Vermutlich der beste Gehirnchirurg der Welt. Er wohnt in Lissabon, hat aber keine ei gene Praxis. Er operiert nur. Wenn möglich, fliegt man die Patienten nach Lissabon, damit er sie dort operiert, aber in so außerordentlich dringenden Fällen wie bei Senator Gallagher kommt er auch herüber, natürlich für ein er heblich höheres Honorar.« »Ist finanziell etwas zu regeln?« »O nein! Senator Gallagher kann die Kosten leicht selbst tragen. Dr. Weißach ist bereits im Haus. Er kam diesen Morgen an und unter suchte die Patientin. Er ruht sich jetzt aus.
Kann ich Ihnen sonst noch eine Auskunft ge ben?« »Ja. Welche Aussichten hat sie?« »Bei einem Chirurgen wie Weißach würde ich sie als hervorragend bezeichnen.« »Wie lange wird es nach der Operation dau ern, bis sie außer Gefahr ist, ich meine, voll kommen außer Gefahr?« »Diese Frage würde ich lieber erst nach der Operation beantworten.« »Schön, ich werde dann mein Büro anrufen müssen, um ihnen zu sagen, wie lange ich fort bleibe. Aber das hat Zeit.« Um Punkt ein Uhr betrat ich ihr Zimmer. Sie war blaß, sah aber nicht anders aus als das letztemal, wo ich sie gesehen hatte. Sie lächelte mir entgegen. Ich gab ihr keinen Kuß – jetzt noch nicht. Ich stand nur da und blickte auf sie nieder. Das kastanienbraune Haar bildete einen scharfen Kontrast zu den weißen Kissen. Sie mußte es auch gemerkt haben. »Schau dir die Haare noch einmal genau an, Liebling«, sagte sie. »Man wird sie mir bald abrasieren, weißt du.« »Zum Teufel mit deinen Haaren«, sagte ich. Das war vielleicht keine sehr romantische Ein leitung, aber sie verstand mich. »Mädchen, warum hast du mir nicht vorher
etwas davon gesagt? Du weißt seit zehn Tagen, daß du operiert werden mußt.« »Ja, aber ich wollte nicht, daß du dir Sorgen um mich machst. Ich wollte dich natürlich vor der Operation noch einmal sehen – nur für alle Fälle. Aber die war erst für Sonnabend ange setzt. Ich wollte dich am Freitagabend anrufen. Du hättest mit der Nachtmaschine herüber kommen und am Sonntag wieder zurückflie gen können. Aber so – es tut mir leid, Liebling, daß alles so schnell gehen mußte. Ich bin so glücklich, daß du trotzdem gekommen bist. Kann ich nicht einen Kuß bekommen?« Ich küßte sie sehr vorsichtig und leise. Sie sagte: »So, Max, und nun hol dir diesen Stuhl her und setze dich neben mich. Halte den Mund, bis ich dir alle Neuigkeiten berichtet habe. Dr. Grundleman sagte mir, du hättest ihn nicht einmal ausreden lassen.« »Ich wollte keine Zeit verlieren, das ist es. Was sollte er mir ausrichten?« »Präsident Jansen wird Whitlow zum Direk tor ernennen, und Whitlow hat mir verspro chen, dich als Stellvertreter zu nehmen.« »Sag einmal, warum hast du dich nicht vor zehn Tagen operieren lassen, als dir Grundle man sagte, es sei höchste Zeit? Es wird ohne hin ein paar Jahre dauern, bis die Rakete ge
baut ist – welche Rolle spielt da eine Woche mehr oder weniger?« »Ich konnte die Arbeit nicht gerade an diesem Punkt unterbrechen. Es war alles für die Ab stimmung im Haus vorbereitet. Von da an wird es auch ohne mich weiterlaufen.« »Aber warum ...« »Siehst du das denn nicht ein, Liebling? Ich wäre gerade während der unrichtigen Zeit fortgewesen, nämlich dann, wenn die Ernen nungen kommen mußten. Und ich wollte dir den Job doch besorgen. Außerdem dachte ich, daß Grundleman die Gefahr und die Notwen digkeit einer Operation übertrieb. Ich dachte, zwei Wochen mehr oder weniger würden auch nichts mehr ausmachen. Und wenn ich wirk lich daran sterben sollte, solltest du vorher we nigstens das erreicht haben, was du wolltest – was wir beide wollten.« »Hör auf, so zu reden, als ob du ... Verdammt, du wirst schon wieder auf die Beine kommen.« »Natürlich werde ich das. Aber ich mußte doch zumindest mit der anderen Möglichkeit rechnen. Paß auf, was sich gestern ereignet hat. Ich traf den Präsidenten um zwei Uhr und brachte der Einfachheit halber gleich Whitlow mit. Natürlich ließ ich ihn im Vorraum warten, während ich hineinging. Ich sagte ihm direkt,
wen ich für den geeignetsten Mann hielt, und er war sehr erfreut. Er meinte, Whitlow sei ideal dafür und verdiene auch eine bessere Po sition als seine gegenwärtige. Er wolle ihn gern zum Direktor ernennen. Er forderte seine Se kretärin auf, einen Besprechungstermin mit Whitlow zu vereinbaren. Ich lächelte ihn an und erklärte, daß ich mei ner Sache so sicher gewesen sei, daß ich den Mann gleich mitgebracht hätte. Von meiner Viertelstunde, die er mir bewilligt hatte, seien erst zwei vergangen – warum nicht gleich jetzt mit Whitlow über seine neue Aufgabe reden? Er ließ ihn also eintreten. Aber das Beste kommt noch. Jansen erinnerte sich an dich und pries nun deine Vorzüge. Er schlug dich für den Posten des Superintendanten vor. Un terdessen schwitzte Whitlow natürlich Blut und Wasser, weil er mir ja versprochen hatte, daß er den Mann anstellen würde, den ich ihm bringen wollte. Zufällig warf er mir einen Sei tenblick zu und sah, wie ich nickte. Du hättest sehen sollen, wie erleichtert er in diesem Mo ment war, Max! Er stotterte fast vor Eifer, dem Präsidenten zu versichern, daß selbstverständ lich du den Posten bekommen würdest.« Ich sagte: »Das ist großartig, Ellen. Aber warum hast du mich nicht angerufen – ich
meine nicht wegen des Postens, sondern we gen der Vorverlegung der Operation?« »Der Termin ist nicht von mir festgelegt wor den. Ich wurde auf dem Heimweg im Taxi ohn mächtig und wachte erst heute morgen hier in diesem Bett wieder auf. Whitlow brachte mich auf dem schnellsten Weg in ein Unfallkranken haus. Dort fanden sie eine Rechnung von Dr. Grundleman in meiner Handtasche und riefen ihn wegen weiterer Instruktionen an. Er ließ mich sofort hierher überführen und rief Dr. Weißach in Lissabon an, damit er schneller herüberkam. Als ich heute morgen aufwachte, war alles bereits arrangiert. Ich konnte Grund leman nur noch darum bitten, dich sofort an zurufen, und das tat er ja auch.« »Gott sei Dank habe ich die Nachricht noch rechtzeitig bekommen.« »Ich freue mich auch darüber. Ich habe mir zu spät überlegt, daß ich mir hätte ein Telefon bringen lassen können, um es dir selbst zu sa gen. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich immer noch anrufen können.« »So ist es aber besser«, sagte ich. »Am Telefon hätte ich dir keinen Kuß geben können.« »Nimm jetzt für ein paar Minuten meine Hand, Max. Da du schon einmal hier bist, will ich dir auch noch ein paar andere Dinge sa
gen.« Ich rückte näher an das Bett heran und hielt ihre Hand in beiden Händen fest. »Falls ich nicht – falls die Operation mißlin gen sollte, laß dich nicht aus der Bahn werfen, Liebling! Du hast eine große Aufgabe vor dir, ob ich nun da bin oder nicht.« »Hör auf mit ...« »Max, wir müssen uns mit der Tatsache abfin den, daß die Möglichkeit eines Mißlingens der Operation besteht, daß ich nicht durchkomme. Es ist mir gleich, ob diese Chance eins zu zehn oder eins zu hundert steht – da gibt es ein paar Dinge, die du wissen sollst. Laß mich bitte aus reden, und dann wollen wir dieses Thema nicht mehr berühren.« »Na schön«, sagte ich, »wenn es dich beru higt. Ich höre zu.« Ich faßte ihre Hand ein we nig fester. »Zunächst mein Testament. Ich wollte, ich könnte es zu deinen Gunsten ändern, aber ich ...« »Um Gottes willen, hör auf vom Testament zu reden!« »Du hast mir versprochen, zuzuhören. Du sollst nur wissen, warum ich es nicht geändert habe, obgleich die beiden Erben weitläufige Verwandte von mir sind, die ich kaum kenne
und die mir absolut nichts bedeuten. Wenn in der Öffentlichkeit bekannt würde, daß ich dir mein Geld hinterlassen habe – dann würdest du den Posten beim Projekt Jupiter nicht be kommen. Irgendein Pressemann könnte hell hörig werden, und ...« »Okay, das verstehe ich.« »Außerdem ist es nicht so viel, daß man des wegen ein großes Geschrei anstellen sollte – wenn diese Operation, die Beerdigung und alle anderen Kosten erst einmal davon abgehen.« »Herrgott, Frau, nun ...« »Ich sage ja immer nur falls, Liebling. Und falls ich sterbe, wird wohl oder übel eine Beer digung stattfinden müssen. Und das ist meine andere Bitte an dich. Ich will nicht, daß du zu meiner Beerdigung kommst.« »Warum nicht? Es würden Hunderte von Leu ten dabeisein. Niemand würde unsere Namen deswegen miteinander in Verbindung bringen, weil ich ...« »Nicht deswegen, Max. Ich will es einfach nicht. Ich hasse Beerdigungen. Sie sind so pompös, so verlogen und abstoßend. Da ich Se natorin bin, wird es sich aber nicht umgehen lassen. Aber falls ich wirklich sterben sollte, will ich nicht, daß du mich siehst – so leblos und kalt. Du sollst mich so in Erinnerungen be
halten, wie ich jetzt bin, lebendig. Schick bitte keine Blumen. Denk nicht daran. Versprichst du mir das, Max?« »Ja, ich verspreche es, wenn du dann auf hörst, davon zu sprechen.« »Schön, das war alles. Jetzt werden wir nur noch über erfreuliche Dinge reden. Wieviel Zeit haben wir noch?« Ich schielte nach der Uhr. »Fast eine halbe Stunde.« »Dann erzähl mir bitte noch etwas. Irgendei ne Geschichte von dir. Ich weiß schon: Die Sa che mit den Nähmaschinen.« Ich erinnerte mich und tat ihr den Gefallen: »Vor etwa zwanzig Jahren war das gewesen, da hoffte ich, durch irgendeinen Zufall das Ge heimnis der lichtschnellen Reise zu erfinden. Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich heute nicht mehr. Ich hob jedenfalls mein ganzes Guthaben bis auf den letzten Pfennig von der Bank ab und zog in eine Gegend, wo mich nie mand kannte. Bill und Rory suchten mich da mals, konnten mich aber nicht ausfindig ma chen. Ich gab meinen Job auf und – kaufte drei alte Nähmaschinen. Ich glaubte allen Ernstes dar an, mit Hilfe der ausgeleierten Dinger eine große Entdeckung zu machen. Wochenlang ar
beitete ich verbissen an meinen sinnlosen Ver suchsreihen, bis mich eines Tages Bill und Rory fanden – halb verhungert und ziemlich verkommen. Bill nahm mich für einige Zeit zu sich und sorgte dafür, daß ich wieder eine Ar beit fand. Mein humorloser Bruder Bill hatte damals beim Anblick der drei Nähmaschinen, die mei ne unaufgeräumte Bude zierten, schallend ge lacht – wahrscheinlich das einzige Mal, daß ich ihn richtig lachen hörte. Und seitdem war die Geschichte von den Nähmaschinen eine Art von Familienwitz zwischen uns. Das war alles.« Ellen lächelte. »Eine prächtige Geschichte, finde ich, aber nicht deshalb, weil sie witzig ist. Ich liebe sie, weil sie so echt dein Wesen zeigt, Max. Weil ich dich liebe, liebe ich auch diese Geschichte. Nur in einem Punkt irrst du dich.« »Wie meinst du das?« »Wir haben das Geheimnis des interstellaren Raumfluges, das du finden wolltest. Es liegt in dir. Vielleicht trage ich sogar ein klein wenig davon mit mir herum, jetzt, wo du es mir gege ben hast. Jeder, der mit Raketen zu tun hat, trägt dieses Geheimnis in seiner Brust: Rory, Klocky, sogar M'bassi.« »M'bassi?« Ich mußte in diesem Augenblick
ziemlich geistlos ausgesehen haben. »Er ist doch kein Starduster. Er ist ein Mystiker.« Sie lächelte wieder. »Vielleicht hast du ihn niemals nach seinem Geheimnis gefragt. Ver such es beim nächstenmal, wenn du ihn wieder siehst.« Ein leises Klopfen an der Tür, und Grundle man schaute herein. »Nur noch eine Minute«, sagte er und verschwand wieder. »Max, Liebling, versprich mir bitte noch et was.« »Alles«, sagte ich. »Falls ich sterbe – wir wissen, daß es nicht ge schehen wird, aber nur falls, du verstehst mich schon –, laß dich nicht aus der Bahn werfen. Fang nicht zu trinken an!« »Ich verspreche es.« Die Tür öffnete sich wieder, aber nicht Grund leman trat ein, sondern eine Krankenschwes ter und ein Wärter. Er sagte: »Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt gehen, Sir. Wir werden die Patientin vorbereiten.« Ich drückte ihr noch einen Kuß auf das wun derbare, kastanienbraune Haar, das jetzt gleich abgeschnitten werden würde. Dr. Grundleman kam zu mir in den Warte raum.
»Sie fahren Mrs. Gallagher jetzt hinüber. Dr. Weißach ist bereit. Die Operation kann aber sehr lange dauern, und Sie werden mindestens vierundzwanzig Stunden danach keine Mög lichkeit haben, sie zu sehen – falls überhaupt so früh. Ich schlage vor, Sie suchen sich ein Hotel und ich rufe an, sobald ich etwas weiß.« »Ich warte«, sagte ich nur. Ich wünschte mir sehnsüchtig, beten zu können. Dann betete ich schließlich wirklich: »Gott – ich glaube zwar nicht an deine Exis tenz. Und solltest du tatsächlich existieren, dann bist du eine unpersönliche, unerreichba re Wesenheit. Wenn du wirklich die Sperlinge vom Dach fallen siehst, so tust du doch nichts dagegen – aber falls ich mich darin irre, tut es mir schrecklich leid. Sollte ich wirklich im Irr tum sein, bete ich zu dir darum, daß ...« Viele Jahre später, so schien es mir, kam Grundleman zurück. Er lächelte. Gott sei ge dankt, er lächelte! Er sagte: »Eine großartige Operation! Weiß ach vollbrachte ein Wunder. Ich glaube, sie wird am Leben bleiben.« Ich starrte ihn entsetzt an. »Sie denken, sie wird am Leben bleiben! Und es war eine wun derbare Operation – Mann! Sie denken nur, daß sie ...«
Er wurde wieder ernst. »Ja, jetzt hat sie eine echte Chance, vielleicht sogar etwas besser als fünfzig zu fünfzig. Aber sie wird für mindes tens drei oder vier Tage nicht außer Gefahr sein.« Großer Gott! fuhr es mir durch den Kopf. Wie mögen die Chancen vorher gestanden haben? Vorhin, als ich mich noch so ruhig mit ihr un terhielt! Was meint ein Arzt, wenn er sagt, die Chancen für einen Patienten seien hervorra gend? Eins zu hundert? Oder eins zu tausend? »Werde ich sie morgen sehen können?« »Vielleicht. Aber ich kann es Ihnen jetzt noch nicht fest versprechen. Rufen Sie mich morgen früh wieder an.« »Ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich ein Hotelzimmer gefunden habe, damit Sie wissen, wo Sie mich erreichen können.« Er nickte. Im Hotel entdeckte ich erst, wie elend müde ich war. Ich hatte in der vorhergehenden Nacht nicht geschlafen, und die Sorgen neh men einen Menschen mehr mit als physische Anstrengung. Bevor ich mich hinlegte, rief ich noch einmal im Raketenhafen an und sagte meinem Vertre ter, daß ich für etwa eine Woche wegbleiben
müßte. Er sollte mich anrufen, wenn er allein nicht weiterkäme. Dann teilte ich dem Krankenhaus mit, wo ich wohnte und legte mich hin. In Sekunden war ich tief und fest eingeschlafen. Am Morgen fühlte ich mich wesentlich wohler und vollkommen ausgeruht. Und außerdem hatte ich einen Bärenhunger, weil mir jetzt erst einfiel, daß ich gestern völlig vergessen hatte, etwas zu essen. Das Krankenhaus teilte mir mit, daß Ellen eine ruhige Nacht verbracht hätte und ihr Zu stand gut sei. Dr. Grundleman war noch nicht da, würde mich aber sofort anrufen, wenn er hereinkäme. Ich ließ mir ein ausgiebiges Frühstück ins Zimmer bringen, weil ich nicht vom Telefon weggehen wollte. Ich aß mit wahrem Heißhun ger die ganze Riesenportion auf. Als Grundleman anrief, war es kurz nach neun Uhr. Er sagte mir, daß Ellen »sehr ruhig« sei. »Hat das auch wieder irgendeinen doppelten Sinn, oder bedeutet es, daß ihre Aussichten wirklich besser geworden sind?« »Viel besser. Die Sache sieht für sie jetzt aus gesprochen günstig aus. Nach menschlichem Ermessen müßte sie sich wieder erholen, falls
keine Komplikation eintritt.« »Darf ich sie heute nachmittag sehen?« »Wahrscheinlich wird es möglich sein. Wol len Sie mich um ein Uhr wieder anläuten? Oder bleiben Sie in Ihrem Hotel, damit ich Sie erreichen kann?« »Beides«, sagte ich. »Ich bleibe hier, damit Sie mich jederzeit erreichen können, und außer dem rufe ich Sie um ein Uhr an, falls ich bis da hin nichts gehört habe.« Da er ohnehin nicht sofort wieder anrufen würde, hatte ich Zeit, ein Ferngespräch nach Afrika anzumelden. Klockerman würde sich dafür interessieren, wie es Ellen ging, und au ßerdem sollte er wissen, daß ich für einige Zeit den Raketenhafen im Stich gelassen hatte. Vielleicht wollte er auch selbst zurückkom men, falls er meinte, der Mann, den ich als Vertreter bestimmt hatte, wäre seiner Aufgabe nicht gewachsen. Innerhalb von zwanzig Minu ten hatte ich ihn in der Leitung. Ich berichtete kurz, was geschehen war. »Gott sei Dank«, meinte er dann. »Und jetzt steht es für sie wieder besser.« »Bestimmt, Klocky. Aber wie ist es mit der Ar beit? Wird Gresham es allein schaffen? Oder soll ich ...« »Verdammt noch mal, ja. Mach dir darum kei
ne Sorgen. Unterrichte mich nur laufend, wie es um Ellen steht. Wenn sich irgend etwas bei ihr ändert, rufst du mich gleich wieder an, ja? Mit der Jupiter-Rakete alles klar? Fein!« Ich sagte ihm, wie Ellen sich selbst in Lebens gefahr gebracht hatte, indem sie die Sache vor ihrer Operation noch abschließen wollte. Er sagte nur: »Sie ist eine wunderbare Frau, Max.« Das Telefon läutete drei Minuten vor eins. Grundleman sagte: »Es geht ihr gut, und sie ist jetzt wach. Sobald Sie hier sind, können Sie eine halbe Stunde mit ihr sprechen. Aber kom men Sie vorher zu mir ins Büro, ja?« »Sagen Sie es mir bitte jetzt gleich. Ich möchte mir nicht auf dem ganzen Weg zum Kranken haus darüber Sorgen machen, was es sein könnte, was Sie mir zu sagen haben.« »Medizinisch gesehen geht es ihr gut, wenn man die Schwierigkeit des Eingriffs berück sichtigt und die Tatsache, daß er erst vor vier undzwanzig Stunden ausgeführt wurde. Aber seelisch ist etwas nicht in Ordnung mit ihr. Sie ist deprimiert und pessimistisch – viel mehr als vor der Operation. Damals hatte sie weiß Gott mehr Grund dazu. Deshalb gestatte ich Ih nen eine halbe Stunde, die ich sonst nicht ver
antworten würde. Sie sollen Sie aufmuntern, ihr sagen, daß die Operation ein voller Erfolg war und daß sie sich außer aller Gefahr befin det. Ich habe es ihr zwar auch schon gesagt, aber mir glaubt sie es nicht.« »Ich werde es ihr sagen. Aber stimmt es denn auch, daß sie außer Gefahr ist?« »Beinahe.« »Ich weiß nicht, was Sie mit beinahe meinen. Prozentzahlen bitte!« »Nun, zur Zeit würde ich sagen, 75 Prozent zu ihren Gunsten.« »Schön«, sagte ich. »Diese Sprache verstehe ich besser. Ich werde mich bemühen, sie auf zumuntern. Ich würde nur vorschlagen, daß ich ihr die volle Wahrheit sage. Sie soll wissen, daß ihre Chancen vier zu eins für sie stehen. Das wird sie mir eher glauben, und es wird sie beruhigen.« »Hm. Vielleicht haben Sie recht, Mr. An drews. Schön, machen wir es so. Aber verges sen Sie eins nicht: Keine Aufregung, und sie darf den Kopf nicht bewegen.« Diesmal sah ich statt der kastanienbraunen Haare nur dicke weiße Bandagen. Aber sie lä chelte ein wenig. »Hoffentlich habe ich dir nicht zu viele Sorgen bereitet, Liebling.«
»Eine ganze Menge – aber nun fange du nicht auch noch an, dir wegen mir Gedanken zu ma chen. Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?« »Das nicht, aber ich fühle mich fürchterlich schwach. Es ist besser, wenn du mehr sprichst und ich nur zuhöre.« Ich holte mir einen Stuhl ans Bett. »Fein. Worüber wollen wir sprechen?« »Zunächst einmal – haben sie dir die Wahr heit über meinen Zustand gesagt?« »Ja«, sagte ich und berichtete Wort für Wort mein Gespräch mit Grundleman. Ihre Augen wurden ein wenig heller. »Das ist gut, Max. Ja, du hattest recht. Es ist viel besser, die Wahrheit zu hören, als glatte Beruhigungs worte, die man doch nicht glauben kann. 75 Prozent – das ist besser, als ich dachte. Ich bin froh, daß du mir die Wahrheit gesagt hast.« »Das dachte ich mir auch. Schön – was jetzt?« »Laß uns über dich sprechen, Max. Als du mir gestern von den Nähmaschinen erzähltest, be merkte ich erst, wie wenig ich doch über dich weiß. Was war vor deinem 17. Lebensjahr, oder später, als du Mechaniker geworden warst?« »Meine Kindheit war nicht gerade aufregend. Ich erzählte dir schon, daß ich in Chicago in ei ner kleinen Wohnung geboren wurde. Ich war das zweite von drei Kindern. Meine ältere
Schwester starb vor fast zwanzig Jahren. Bill ist fünf Jahre jünger als ich. Unser Vater war Straßenbahnführer und ein unmäßiger Trinker. Ich gehörte zu einer Ban de ziemlich rauher Jungens, die allerhand Ver botenes anstellten. Viele meiner Spielkamera den endeten hinter Gittern. Ich glaube, daß nur ein einziger Umstand mich vor dem glei chen Schicksal bewahrte. Seit ich lesen konnte, verschlang ich alle Science-Fiction-Bücher, die ich in meine klei nen Hände bekommen konnte. Das Zeug er schien mir damals geradezu wunderbar, Aben teuer auf dem Mars, Flüge zu fernen Sternen, von Milchstraße zu Milchstraße. Sie wußten, daß der Raumflug eines Tages kommen mußte, – die Leute, die jene ersten Science-FictionGarne spannen. Sie besaßen noch die Fähig keit, zu träumen und gaben sie mir mit. Der Staub der Sterne – der Stardust – lag auf al lem, was sie schrieben. Ich wußte, daß die Raumfahrt eines Tages Wirklichkeit werden mußte, und dann wollte ich dabei sein. Diese Sehnsucht hielt mich davon ab, allzu weit vom geraden Weg abzukommen. Ich wuß te, daß mein Name bei der Polizei nicht be kannt werden durfte, weil sonst mein Traum, der große Traum von der Raumfahrt, vorbei
und ausgeträumt sein würde. Während wir aufwuchsen, lebten wir ständig im Schatten der Atombomben, unter der furchtbaren Drohung eines atomaren Krieges, der jede Minute irgendwo vom Zaun brechen konnte. Ich freute mich über diesen Zustand. Damals schon erkannte ich, daß die Furcht – und nichts anderes als die Furcht allein – die Regierungen dazu treiben würde, die vielen Milliarden für den Bau von Raumstationen, für den ersten Flug zum Mond, auszugeben. Wie groß das Risiko war, das wir dafür einge hen mußten, das kümmerte mich wenig. Die Hauptsache war, daß die Angst vor dem Atom brand uns zum ersten Schritt ins All veranlas sen würde. Ja, Ellen, so war es dann auch. Die Furcht trieb uns hinaus, und sie treibt uns auch noch heute an. Wenn wir den Schritt nicht wagen, werden wir ausgelöscht werden. Aber heute sind wir schon einen Schritt weiter gekommen. Die Menschheit ist auf dem Wege, sich selbst zu erkennen. Wir werden klüger werden, im mer mehr wissen und kennen, bis wir fast wie Götter sein werden. Nur den Satan in uns müs sen wir ein wenig am Leben halten, damit wir uns nicht zu Tode langweilen. Ellen, wir werden die Sterne erreichen! Zu
erst werden es Schiffe sein, die langsamer als das Licht fliegen und mehrere Generationen für den Flug brauchen werden – oder die Be satzung muß in künstlichen Tiefschlaf versetzt werden, um die vielen Jahre ohne Altern zu überstehen. Wir brauchen das aber nicht zu tun, glaube ich. Einstein sagt zwar, daß nichts jemals die Geschwindigkeit des Lichtes über treffen könne. Aber die Relativitätstheorie ist eben auch nur eine Theorie, und irgendwo muß es eine Hintertür geben. Überraum, Un terraum – keiner weiß es heute genau. Aber die Abkürzung gibt es bestimmt, und wir wer den sie eines Tages finden.« Ellen lächelte mich an. »Ich glaube an dich, Max. Und ich freue mich, daß ich mit dir an die Zukunft der Menschheit, an den Flug zu den Sternen, glauben kann. Zuerst zweifelte ich daran – jetzt nicht mehr.« Ihre Stimme trug einen beinahe kindlich-zuversichtlichen Ton. »Wir werden wirklich dieses Ziel erreichen.« »Ja, es ist alles nur eine Frage der Zeit. So wie unser nächster Schritt hinaus, zum Jupiter. Der wurde in verdammt kurzer Zeit Wirklich keit. Das haben wir dir zu verdanken.« »Uns beiden«, sagte sie. »Es ist unsere Rake te. Ich wünschte mir nur, ich könnte mit dir fliegen.«
»Mit mir ...« Ich starrte sie fassungslos an. Sie lächelte nur. »Denkst du denn, ich wüßte es nicht? Glaubst du, ich kenne nicht jeden dei ner Gedanken? Ich weiß doch, daß du alles da für geben würdest, um die Rakete selbst flie gen zu können, und daß du genug Selbstvertrauen besitzt, um es auch zu errei chen.« Ich antwortete nicht. Sie fuhr fort. »Das ist auch ganz richtig. Ich wünsche es dir, wenn du es schaffst. Selbst wenn du dich dabei umbringen würdest – ich will, daß du diese Chance bekommst, daß du auf diese Art ums Leben kommst, wenn es nicht anders geht.« Ich preßte ihre Hand. Darauf wußte ich nichts zu sagen – es gab nichts, was noch gesagt wer den konnte. »Max, falls ich sterben sollte ...« »Verdammt noch mal, du wirst nicht sterben! Sprich nicht davon.« »Schön, ich werde am Leben bleiben. Aber – dort steht ein Briefumschlag. Nimm ihn und steck ihn in die Tasche.« Ich nahm ihn. »Was ist drin?« »Eine Strähne meiner Haare. Ich wollte ihnen nicht sagen, daß ich ein so sentimentaler Narr bin. Deshalb bat ich darum, die Haare aufzube
wahren für den Fall, daß meine neuen Haare grau nachwachsen sollten, damit ich ein Mus ter zum Nachfärben habe. Wenn du startest, nimm die Haare mit.« Ich schüttelte nur schwach meinen Kopf und sagte nichts, weil ich der Festigkeit meiner Stimme nicht ganz traute. Sie sagte: »Siehst du, Liebling, falls ich wirk lich sterbe, sollst du unterwegs an mich den ken. Ich möchte bei dir sein, so nahe wie nur möglich.« »Ellen, du wirst nicht sterben. Aber ich bin glücklich, daß ich ein Stückchen von dir mit nehmen kann. Du wirst dann bei mir sein, ob ich wache oder schlafe, jede Minute, jede Se kunde. Du wirst bei mir sein, Ellen – immer bei mir sein.« Ich wollte wenigstens so lange in der Nähe des Telefons bleiben, bis Ellen vollkommen außer Gefahr war. Deshalb ließ ich mir auch das Abendessen auf das Zimmer bringen und ver brachte die Zeit bis zum Schlafengehen mit Le sen. Der Abend kroch langsam, endlos langsam dahin. Um Mitternacht ging ich zu Bett und schlief bald darauf ein. Das Telefon weckte mich kurz
nach drei Uhr in der Früh. Ellen, so verkündete das Telefon in meiner Hand, Ellen sei gerade gestorben. Ich saß in einer Bar. In den Händen hielt ich ein Glas Whisky, sie zitterten aber so stark, daß ich das Glas mit beiden Händen festhalten mußte. Ich hatte noch nicht davon getrunken, sondern das Glas eben erst in die Hand genom men. Ich starrte es an. Nein, sagte ich mir, das darfst du nicht tun. Ich wußte es genau: Wenn ich jetzt nur einen Tropfen über die Lippen brachte, war ich ver loren. Nein, diesmal wollte ich nicht diesen Ausweg wählen, diese häßliche Art, zu verges sen. Diesmal nicht. Meine Verpflichtung ihr gegenüber war zu groß. Ellen hatte mir zu viel gegeben. Ihre Liebe. Ihr Leben. Unsere Rakete. Ja, die würde jetzt gebaut werden, sie würde zum Jupiter fliegen. Aber Ellen wollte, daß ich die Rakete baute, daß ich sie flog. Es wäre Verrat an ihr gewesen, mich jetzt zu betrinken – ich würde wieder diesem gemei nen Laster verfallen. Und das Laster würde mich alles kosten, was sie mir gegeben hatte.
Außerdem erinnerte ich mich plötzlich an mein Versprechen. Ich hatte ausdrücklich ver sprochen, mich, falls sie sterben sollte, nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Ich stellte das Glas zurück und ging. Ging in mein Hotel, hinauf in mein Zimmer. Es war vormittags zehn Uhr. Die ganze Zeit, seit des Anrufs mußte ich irgendwo herumgelaufen sein, bis ich mich in der Bar wiederfand und aufwachte. Von meinem Zimmer aus rief ich Klockerman an und sagte es ihm. »Mein Gott, Max!« rief er. »Was soll ich dazu sagen? Es ist schrecklich!« »Sag bitte nichts. Du solltest es nur wissen.« »Ich komme mit der nächsten Rakete zurück.« »Nein, Klocky«, bat ich, »wenn du an die Be erdigung denkst, dann tue es nicht. Sie hat auch mich ausdrücklich gebeten, nicht zu kom men. Und denkst du an den Raketenhafen – laß ihn mir. Ich möchte ihn so lange leiten, bis du wieder zurückkommst.« »Bist du sicher, daß du das jetzt kannst, Max?« »Ich muß es tun. Es ist das einzige, was mir noch bleibt, Klocky. Ich fliege mit der nächsten Rakete nach Los Angeles zurück. Dann werde
ich arbeiten, wie noch nie zuvor in meinem Le ben.« Ich habe nie festgestellt, ob die Beerdigung in Washington oder in Los Angeles stattfand. Ich stürzte mich in meine Arbeit und schuftete wie verrückt, las keine Zeitungen und nahm jeden Abend Schlaftabletten, um bis zum Beginn des nächsten Arbeitstages durchschlafen zu kön nen. Es dauerte fast einen Monat, bevor ich wieder an irgend etwas anderes dachte als an meine Arbeit – die ich statt des Alkohols als Betäu bungsmittel benutzt hatte. Der Schmerz saß zwar immer noch fest – aber ich konnte jetzt wieder klar denken. Ich hatte das Bedürfnis, Menschen zu sehen. M'bassi, Rory und Bill hatten mich angerufen, ich hatte aber immer abgelehnt. Klocky rief jede Woche an, nach außen hin, um Geschäftliches mit mir zu besprechen, in Wirklichkeit aber wegen meines seelischen Zustandes, und weil er wis sen wollte, wann er wieder zurückkommen konnte. Als er Mitte Juli das viertemal anrief, sagte ich ihm: »Okay, Klocky. Ich habe es zwar nicht eilig, aber du kannst jetzt kommen, so bald du Lust dazu hast.« Er wollte am 1. August wieder da sein.
Inzwischen kaufte ich mir ein paar Zeitschrif ten, um zu sehen, wie weit das Projekt Jupiter gediehen war. Whitlows Ernennung zum Di rektor war vor drei Wochen veröffentlicht worden. Der Senat hatte vorige Woche ohne Gegenstimme seine Bestätigung ausgespro chen. Die Zeitungen hatten ein bißchen Wirbel um die Sache gemacht und den Plan mit vielen Diagrammen dem Volk zu erklären versucht. Sonst gab es nichts Neues. Ich beschloß, Whitlow selbst anzurufen und ihn zu fragen, wie die Dinge stünden. Dann überlegte ich es mir aber anders. Es war bes ser, damit bis zu Klockys Rückkehr zu warten. Ich mußte in der Lage sein, Whitlow zu sagen, daß ich jederzeit zur Verfügung stehen könnte. Klocky kam erholt und ausgeruht zwei Tage zu früh zurück. Als ich wieder sein Assistent und demnach entbehrlich war, rief ich Whit low an. »Hier spricht William J. Whitlow«, sagte eine trockene, pedantische Stimme. »Hier Max Andrews«, meldete ich mich. »Ich wollte nur hören, wann wir an dem Projekt Ju piter zu arbeiten anfangen, und wann ich hier meine Kündigung aussprechen soll.« Eine kurze Pause, gerade lang genug, um mir
ein wenig Angst einzujagen. Dann sagte er: »Das hat alles noch viel Zeit, Mr. Andrews. Die ersten Schritte sind rein verwaltungstechni scher Art und werden von Washington aus in die Wege geleitet. Sie werden dafür nicht ge braucht, da Ihre Aufgabe darin bestehen soll, die Konstruktion zu leiten. Die wird jedoch nicht vor nächstem Jahr beginnen.« »Warum nicht?« »Warum nicht, fragen Sie? Mr. Andrews, Sie sind sich offenbar der Schwierigkeit eines sol chen Unternehmens nicht bewußt. Allein die finanziellen Vorbereitungen ...« Er schwieg, und es klang so, als ob er es für hoffnungslos hielte, einem Laien wie mir so hochstehende Dinge zu erläutern. »Welche finanziellen Vorbereitungen?« fragte ich kurz. »Der Kongreß hat 27 Millionen Dollar bewilligt. Der Präsident unterschrieb das Ge setz und ernannte Sie zum Direktor. Ist der Staat so pleite, daß er das Geld nicht aufbrin gen kann?« »Sie reden Unsinn, Mr. Andrews. Sie wissen sehr genau, daß jedes Regierungsprojekt seine Zeit braucht, bevor es ausgeführt werden kann.« »Ja, das weiß ich allerdings. Und ich habe mir auch schon oft über die Gründe Gedanken ge
macht.« Ich konnte trotz der Entfernung von über 400 Kilometern hören, wie er verzweifelt stöhnte. Er sagte: »Lieber Mann, diese Dinge setzen komplizierte Vorbereitungen voraus, sehr komplizierte sogar. Es müssen Vordrucke ent worfen und hergestellt werden, und ...« »... und der Amtsschimmel muß vermutlich frisch beschlagen werden. Aber ganz im Ernst: Können wir wirklich nicht vor nächstem Jahr beginnen?« »Ich fürchte nein. Wenn wir mit dem Bau selbst schon Anfang des nächsten Jahres be ginnen können, haben wir viel Glück gehabt. Vergessen Sie nicht, daß jeder Einzelplan von drei Stellen bewilligt werden muß, bevor wir ihn auf das Zeichenbrett nehmen können.« Ich stöhnte nun ebenfalls. »Na schön, wenn es eben nicht rascher geht, müssen wir uns mit Anfang nächsten Jahres zufriedengeben. Aber ich bitte Sie darum, die Dinge möglichst zu be schleunigen. Der Bau selbst wird auch ein vol les Jahr in Anspruch nehmen.« »Länger, glaube ich.« »Ich kann es nicht länger dauern lassen, weil ich sonst nicht mit dem Geld auskomme«, sag te ich. »Die Kostenrechnung ging davon aus, daß der Bau nur ein Jahr dauern würde. Hö
ren Sie, Mr. Whitlow, es gibt viele Einzelhei ten, die ich gern mit Ihnen besprochen hätte. Man kann das nicht alles am Telefon regeln. Wann können Sie mir ein paar Stunden Ihrer wertvollen Zeit zur Verfügung stellen?« »Nun – dieses Wochenende nicht, und nächs tes auch nicht. Das übernächste Wochenende?« »Wenn es nicht vorher geht, gern. Wollen wir es fest abmachen? Damit ich nicht noch einmal anrufen muß. Wo und wann?« »Am Sonnabend bin ich für gewöhnlich nicht in meinem Büro, aber ich glaube, das könnte ich einrichten.« Ich dachte das allerdings auch. Wenn ich von Los Angeles kam, um mit ihm zu sprechen, würde er wohl auch den immensen Weg von zu Hause bis zum Büro auf sich nehmen können. Wir blieben bei zwei Uhr an diesem Sonn abend. Ellen hatte mich gewarnt, nicht wahr? Mich kümmerte seine Pedanterie nicht. Was mich ärgerte, war das phantastische Tempo, mit dem die Jupiter-Rakete nicht fertig wurde. Immer noch dieses verdammte Gefühl der Leere, als ob ein Teil von mir fehlte – der wich tigste Teil. Aber jetzt, wo Klocky wieder da war
und die Verantwortung für den Hafen nicht mehr so auf mir lastete, suchte ich wieder menschliche Gesellschaft. Klocky und ich sa ßen oft zusammen und arbeiteten rohe Skizzen für eine Rakete aus, die nach der Umkreisung des Jupiter den Saturn anfliegen sollte. Dieser geheimnisvolle, beringte Planet – wir wissen immer noch nicht viel über seine Ringmonde und sollen sie uns aus der Nähe ansehen. Aber auch Saturn hat, genau wie Jupiter, Monde mit einer gefrorenen Ammoniakatmosphäre, des halb konnte man für den Flug zum Saturn den selben Plan verwenden wie den für das Jupi ter-Projekt. Trotz der wesentlich weiteren Entfernung fanden wir zu unserer Freude, daß die Saturn-Rakete nur etwa dreimal soviel kos ten würde wie die zum Jupiter. An dem Wochenende vor meiner Verabre dung mit Whitlow flog ich nach Seattle, um Merlene und Bill wiederzusehen. Sie freuten sich sehr. Jetzt, wo Ellen tot war, würde ich voraussichtlich doch niemals ein eigenes Heim besitzen, deshalb fühlte ich mich irgendwie zu Bills Haus hingezogen. Mein Gott, dachte ich, wenn ich doch auch Kinder hätte wie Bill und Easter! Aber dafür war es zu spät. Erst dachte ich daran, Bill und Merlene zu ei nem Umzug nach Los Angeles zu überreden,
damit ich die Kinder häufiger sehen konnte. Aber dann fiel mir ein, daß ich selbst ja nur noch ein paar Monate dort wohnen würde. Und danach? Kein Mensch hatte eine Ahnung, wo das Projekt seine Heimstätte finden würde. Nach dem Abendessen brachte Merlene zuerst Easter zu Bett. Ich schnappte mir den kleinen Billy und trat mit ihm vor die Tür. Die Sterne kamen gerade heraus. Wir saßen nebeneinan der auf den Stufen und blickten zum Himmel hinauf. »Onkel Max?« »Ja, Billy?« »Warst du schon einmal auf einem Stern?« »Nein, mein Junge. Noch niemand war bisher auf einem Stern. Aber wir werden eines Tages hinkommen. Du willst doch auch einmal zu den Sternen fliegen, nicht wahr?« »Na aber sicher, Onkel Max! Wie Rock Blade im Video, der große Held! Er war schon auf vielen Sternen und hat eine Menge erlebt. Schade, daß Vati dazu immer Unsinn sagt, so etwas gäbe es nicht.« »Er meinte nur, daß es so etwas bisher noch nicht gegeben hat.« »Und er will auch nicht, daß ich solche Pro gramme anschaue, dann läßt er mich aber doch immer davor sitzen. Glaubst du auch, daß
es schlechte Programme sind?« »Ich weiß nicht recht, Billy. Ich habe nie eins gesehen. Aber es ist ja auch ganz gleich – wenn du danach das Gefühl hast, daß du zu den Ster nen fliegen willst, ist es schon in Ordnung.« »Und gestern nachmittag die eine Sendung, die vom Sir – Sir ...« »Sirius, meinst du?« »Richtig, vom Sirius. Glaubst du wirklich, daß dort kleine grüne Männer leben?« Ich mußte grinsen. »Komm, Junge, ich zeige dir, in welcher Richtung du einmal fliegen mußt, wenn du dich selbst davon überzeugen willst.« M'bassi kam am darauffolgenden Mittwoch zurück. Ich holte ihn am Flughafen ab. Schon von weitem konnte ich ihn erkennen, weil er alle anderen Passagiere um Kopfeslänge über ragte. »Tag, altes Ebenholz!« begrüßte ich ihn. Er grinste mich breit an und fletschte dabei die schneeweißen Zähne. »Gut, daß man dich wieder einmal sieht, Max. Ich habe von Ellen gehört. Ich kann dir nicht sagen, wie mich die Nachricht getroffen hat.« Auf meinen Vorschlag hin gingen wir in mei ne Wohnung, um eine Partie Schach zu spie len. Wir zogen die Jacken aus, und M'bassis
fast durchsichtiges Nylonhemd zeigte mir, daß er viel dünner geworden war. Seine Rippen standen heraus wie ein Waschbrett. »Macht nichts, Max«, lachte er, als er meinen Gedanken erriet. »Nur ein zehntägiges Fasten, das ich erst vor vier Tagen abgesetzt habe. Jetzt nehme ich schon wieder ein wenig zu. Du bist aber selbst dünner geworden, mein Freund.« Ja, während der ersten Wochen nach der Operation hatte ich nicht viel gegessen, aber auch ich war wieder auf dem Wege, mich zu er holen. Ich holte Schachbrett und Figuren, und wäh rend M'bassi sie aufsetzte, goß ich uns ein Gläschen Sauterne ein. Beim ersten Zug erinnerte ich mich daran, daß ich ihn etwas fragen wollte. »M'bassi«, sagte ich, »als ich mich mit Ellen im Krankenhaus unterhielt, sagte sie mir, du hättest eine Methode für den interstellaren Raumflug. Ich sollte dich einmal fragen, was das Geheimnis deiner Mystik sei. Was meinte sie?« »Sie hatte recht, Max. Unser Ziel ist dasselbe, nur beschreiten wir zu seiner Erreichung ver schiedene Wege.« »Willst du damit sagen, daß du auch ein Star
duster bist? Warum hast du nie etwas davon erwähnt?« »Du hast mich niemals danach gefragt.« Er lä chelte leise vor sich hin. »Du würdest meinen Weg, den ich gehe, auch nicht verstehen, weil du ihn als mystisch bezeichnen würdest. Diese Worte errichten zwischen uns einen Vorhang, der uns trennt. Wenn man das Studium des Geistes als mystisch bezeichnet, setzt man vor aus, daß der Körper eines Menschen etwas Be greifliches sei, während man den Geist nicht verstehen kann. Und das ist falsch, mein Freund.« »Aber was hat das mit der Erreichung der Sterne zu tun?« »Dein Plan geht dahin, den Körper zu den Sternen zu schicken – deinen Körper, damit er den Geist mit sich trage. Ich sage absichtlich ›Geist‹ und nicht ›Seele‹, damit du nicht an der Terminologie Anstoß nimmst, mein materialis tischer Freund. Ich versuche es auf dem umge kehrten Wege. Ich schicke den Geist aus, der meinen Körper tragen soll.« Ich öffnete den Mund und schloß ihn gleich wieder. M'bassi fuhr fort: »Die Idee sollte nichts Neu es für dich sein. Du hast doch früher auch Science Fiction gelesen. Sicher kennst du Ed
gar Rice Burroughs, der die Geschichten von John Carter und der Marsprinzessin schrieb. Es gab mindestens ein Dutzend Bücher dar über.« »Ich habe sie gelesen. Es war fürchterlicher Quatsch.« »Wenn es ein solcher Quatsch war, warum hast du die Bücher dann gelesen?« »Weil ich damals noch nicht alt genug war, um zu erkennen, wie blödsinnig das Ganze war. Ich war ein Kind. M'bassi, du willst mir doch nicht sagen, daß du diese Geschichten für gut hältst?« »Nein, das nicht. Deine Einschätzung des lite rarischen Wertes ist auch meiner Ansicht nach richtig. Aber kannst du dich daran erinnern, daß da etwas war, was sie von allen anderen Stories unterschied?« »Nicht aus dem Kopf, M'bassi. Was war es?« »Die Methode, die John Carter benutzte, um den Mars zu erreichen.« Ich mußte scharf nachdenken. Es waren im merhin fünfzig Jahre her, seit ich diese Bücher in der Hand gehabt hatte. Dann fiel es mir ein. »Ja – war es nicht so, daß er eines Abends zum Mars aufblickte und sich wünschte, dort zu sein, und plötzlich geschah es auch? Sein Wunsch wurde erfüllt.«
Ich mußte schrecklich lachen, hielt aber gleich wieder inne, weil ich M'bassi nicht ver letzen wollte. »Lach ruhig, wenn du willst«, sagte er. »Wenn man es so ausdrückt, klingt es natürlich ko misch. Natürlich hat Burroughs alles viel zu einfach dargestellt. War es nicht vielleicht eine übermäßig vereinfachte Darstellung von et was, was wir eines Tages erreichen könnten? Ich will es in eine Sprache übersetzen, die du verstehst. Ich nenne es Teleportation – die Fä higkeit, einen materiellen Körper mit Mitteln des Geistes durch den Raum zu transportie ren.« »Aber es hat bisher noch keinen authentisch belegten Fall von Teleportation gegeben, M' bassi«, gab ich zu bedenken. »Es hat aber auch noch keinen Fall von Raum fahrern gegeben, die den Überraum zur Errei chung von Überlichtgeschwindigkeiten benutzt haben, Max. Science-Fiction-Autoren haben diese Methoden immer wieder beschrieben, um in ihren Geschichten die Sterne erreichen zu können. Es gibt aber vieles, was zugunsten der Telekinese spricht – zum Beispiel die Kon trolle über Würfel bloß durch den Geist. Tele portation ist nur eine Fortführung der Teleki nesis. Wenn das eine möglich ist, muß auch
das andere erreichbar sein.« »Vielleicht«, sagte ich. »Ich halte mich lieber an die Raketen, davon verstehe ich mehr.« »Raketen sind für den interplanetaren Ver kehr ganz gut, da funktionieren sie. Aber für die Sterne, Max?« »Ganz gleich, welchen Antrieb man verwendet – man wird mit Raketen niemals die Lichtge schwindigkeit auch nur annähernd erreichen können.« »Richtig, Max. Die Einheitliche Feldtheorie beweist das, ganz gleich, was du von dieser Theorie hältst. Und wie ist es mit den Sternen, die hundert oder tausend Lichtjahre entfernt sind? Sollen wir Tausende von Jahren brau chen, um sie zu erreichen?« Er trank einen Schluck Wein und stellte das Glas wieder hin. Dann sagte er: »Der Gedanke überwindet den Raum ohne Zeitverlust, mein Freund. Wenn wir lernen, mit dem Gedanken zu reisen, dann erreichen wir auch die Ge schwindigkeit des Gedankens – im Verhältnis dazu ist die Lichtgeschwindigkeit ein Schneck entempo. Wenn wir das Geheimnis der Tele portation lösen, können wir die entfernteste Galaxis in der gleichen Zeit erreichen wie ein Objekt, das nur einen Meter von uns entfernt ist.«
Das Schachspiel hatten wir längst vergessen. M'bassi erzählte von seiner Reise nach Tibet. Er hatte dort einen berühmten »Guru« be sucht, der sich mit Teleportation beschäftigte. Zusammen mit dem Guru hatte er studiert und gefastet. »Hat er dir die Teleportation vorgeführt?« fragte ich. »Ich – ich möchte diese Frage lieber nicht be antworten, Max. Am neunten Tag unseres Fas tens geschah etwas – oder ich dachte jeden falls, daß etwas geschah. Aber nach längerem Fasten treten öfter Halluzinationen auf. Wenn sich dieses Ereignis, das ich meine, wirklich ereignet hat, so konnte es mein Guru doch nicht wiederholen, so sehr er sich auch an strengte. Wir haben deshalb keinen Beweis, denn ich weiß nicht genau, ob ich das, was ge schah, auch wirklich sah. Deshalb spreche ich lieber nicht davon. Verzeihst du mir das bitte?« Ich mußte es, denn ich konnte ihn mit nichts dazu überreden, mehr davon zu berichten. Ich erfuhr nur noch, daß am zehnten Tage des Ex periments der Guru sich so schwach fühlte, daß der Versuch wegen der für ihn damit ver bundenen Gefahr abgebrochen werden mußte. »Er ist ein alter Mann, 107 Jahre alt. Wahr
scheinlich wird es ihm nicht mehr möglich sein, den Versuch zu wiederholen. Wenn ja, wird er mich sofort unterrichten, und ich flie ge gleich zu ihm, selbst wenn ich alle Erspar nisse für eine Charter-Rakete opfern müßte.« »Verdammt, M'bassi, warum hast du mir die ganze Zeit über nichts von diesen Dingen ge sagt? Wenn ich daran denke, wieviel Zeit wir mit Reden oder Schachspiel vertan haben – al les so unwichtige Dinge. Warum hast du nichts davon gesagt?« »Zuerst hatte es einen bestimmten Grund. El len bat mich darum, vorerst zu schweigen, weil du deine Prüfung machen mußtest und wir nicht zum Arbeiten gekommen wären, wenn wir über diese Probleme diskutiert hätten. Da nach – nun wir haben über so viele andere Dinge gesprochen, daß ich nicht das Thema wechseln wollte. Und ich wußte, daß ich dich niemals zu meiner Denkweise bekehren konn te, genausowenig, wie du mich zu deiner. Ich lehne deine Ansichten keineswegs ab. Viel leicht habe ich unrecht, und deine materialisti schen Methoden mögen der einzige Weg sein, auf dem wir die Sterne jemals erreichen kön nen.« Er seufzte. »Wenn ich nur deine Zuversicht hätte! Wenn einer von uns beiden ein Mystiker
ist, dann bist du es, mein Freund.« Washington, genau zwei Uhr nachmittags, in Whitlows Büro. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir nach der Stimme vorgestellt hatte. Klein, trocken, ge nau, fast pedantisch, langweilig. Mittelalter, aber nicht etwas jugendlich, vermutlich war er schon alt zur Welt gekommen. Ich fragte ihn zunächst: »Wann soll ich im Ra ketenhafen Bescheid geben, daß ich gehen will?« »Der 1. Januar wäre dafür richtig, denke ich, Mr. Andrews.« Er verschränkte die Finger über dem unglaublich sauberen Löschblatt, das die Unterlage auf seinem Schreibtisch bil dete. Darüber hinweg blickte er mich an. »Viel leicht könnte ich Sie schon früher überneh men, aber Sie hätten so gut wie nichts zu tun, bevor nicht die eigentliche Konstruktion an fängt. Wie es aussieht, würden Sie dabei auch nicht mehr verdienen als jetzt, wo Sie Klocker mans Assistent sind.« »Die finanzielle Seite interessiert mich über haupt nicht«, sagte ich. »Ich will nur endlich mit dieser verdammten Rakete anfangen.« »Ich versichere Ihnen, daß wir die Vorarbei ten so schnell wie irgend möglich vorantrei
ben. Und wenn Sie erst einmal angefangen ha ben, ist sicherlich viel Arbeit für Sie da. Viel leicht – ja, das könnte Ihnen vielleicht zusa gen. Ich könnte Sie etwa am 1. November übernehmen, zu diesem Datum müßten Sie dann kündigen. Aber da Sie während dieser beiden Monate nichts zu tun haben werden, könnten Sie sich erholen, Kräfte sammeln, einen bezahlten Urlaub nehmen, bevor Sie an fangen ...« »Ich will keinen Urlaub, Mr. Whitlow«, unter brach ich ihn. »Ich bin auch nicht im gerings ten daran interessiert, von Ihnen Geld zu be kommen, bevor ich zu bauen anfangen kann. Haben Sie schon einen geeigneten Platz ausge sucht?« »Nein. Dabei wollte ich Ihren Rat einholen. Haben Sie irgendwelche Vorschläge zu ma chen?« »Nicht in Einzelheiten, aber ich würde New Mexico oder Arizona vorschlagen. Und der Platz sollte nicht zu weit von einer größeren Stadt entfernt liegen, vielleicht Albuquerque, Phoenix, Tucson oder El Paso – einer Stadt, wo die vielen Arbeiter untergebracht werden kön nen, damit wir nicht auch noch Wohnungen bauen müssen. Die sind in unserer Rechnung nicht mit berücksichtigt.«
Er nickte. »Das klingt sehr vernünftig. Von den Städten, die Sie erwähnten, hat Albuquer que einen Vorteil gegenüber allen anderen: nämlich den größten Düsenflughafen, von wo aus mehrmals täglich reguläre Maschinen nach Washington fliegen. Da ich häufiger hin und her reisen muß, wäre das ein erheblicher Vorteil.« »Gut, dann werden wir uns zunächst dort um sehen. Außerdem gehört dort der Regierung eine Menge Land, und wir werden sicher etwas benutzen können, ohne daß es etwas kostet. Wir werden darauf achten, daß eine Haupt straße in der Nähe vorbeiführt, weil wir auch nicht viel Geld für Straßenbauten anlegen kön nen. Soll ich mich unterwegs ein wenig umse hen? Ich habe morgen den ganzen Tag Zeit und könnte vielleicht etwas Passendes finden. Wenn wir das schon einmal unter Dach und Fach haben, ist ein Problem weniger zu lösen.« »Wenn Sie daran interessiert sind, gern. Aber, Mr. Andrews, ich fürchte, wir sind nicht darauf eingerichtet, Ihre Reisekosten zu er statten.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ha ben wir sonst noch etwas zu besprechen?« Nein, es war nichts mehr zu besprechen. Wir hätten das alles viel billiger am Telefon erledi
gen können, aber ich wollte den Mann persön lich kennenlernen. Ich war zwar nicht beein druckt, aber beruhigt. Er sah nicht so aus, als ob er mir später viel dazwischenfunken würde. Wahrscheinlich würde er die meiste Zeit in Washington verbringen, besonders nachdem er erst einmal herausgefunden hatte, wie ver dammt heiß es im Flachland der Südstaaten manchmal werden kann. Am Abend war ich in Albuquerque und miete te mir für den nächsten Tag ein Heli. Es war schon fast Mittag, als ich den Platz fand. Auf den ersten Blick konnte ich sehen, daß er sich großartig für unser Vorhaben eig nete. Ich flog die Landstraße entlang, etwa 40 Kilometer südlich von Albuquerque, 8 Kilome ter nördlich von Belen. Zur Linken, nicht weit von der Straße ent fernt, lag das Feld, vielleicht knapp einen halb en Quadratkilometer groß. Rundherum lagen niedrige Hügel, die uns vor den Sandstürmen schützen würden. Von der Hauptstraße führte bereits eine zwei spurige, breite Seitenstraße zu dem Feld. Am Ende dieser Straße lag eine Gruppe von sechs oder acht Gebäuden verschiedener Größe. Sie sahen zwar verlassen, aber keineswegs
heruntergekommen aus. Es wäre fast zu schön um wahr zu sein, wenn man diesen Platz für das Jupiter-Projekt bekommen und die Gebäu de verwenden könnte. Ich flog eine Runde um den Platz. Er war ein gefriedet mit einem hohen Metallzaun, ganz wie ein Raketenhafen. Nur daß keine Startge rüste zu sehen waren. Ich landete in der Nähe der Gebäude und ging hinüber. Sie befanden sich nicht in ganz so gu tem Zustand, wie es von oben aus schien, aber schlimm war es auch wieder nicht. Die Repara turen würden nur einen Bruchteil dessen kos ten, was für Neubauten veranschlagt war. Aber wozu hatte das Gelände wohl gedient? Plötzlich fiel es mir wieder ein. Die G-Station! Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an die G-Station, die in den 70er Jahren gebaut wer den sollte, eine luxuriöse Raumstation, die in etwa 1000 Kilometer Höhe die Erde umkreisen und einen Super-Spielklub für Millionäre und Gauner bilden sollte, denen es für einen ab wechslungsreichen Abend nicht auf tausend Dollar für die Fahrt ankam. Ein Glücksspiel-Syndikat hatte bereits Millio nen in das Unternehmen gesteckt und den Platz gekauft, die Hallen gebaut und die Kon struktion der Trägerraketen vorbereitet. Dann
kam der große Knall. Das Harris-Fenlow-Ge setz vernichtete die Syndikate und zerschlug das Vorhaben, bevor die erste Rakete die Erde verlassen hatte. Das war die Masche für unser Projekt! Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht? Warum hatte nicht irgend jemand anders dar an gedacht? Wir konnten mindestens zwei Millionen spa ren, wenn wir das Gelände bekamen, von der Zeitersparnis gar nicht zu reden. Wir brauch ten die Gebäude nur zu reparieren. Eigentü mer war entweder die Regierung in Washing ton oder der Staat New Mexico – denn sicher hatte niemand während der letzten zwanzig Jahre dafür Grundsteuern gezahlt. Welche Gelegenheit! Ich flog in die Stadt zurück und hängte mich ans Telefon. Nach einiger Zeit bekam ich Gou verneur Romero zu fassen, der sich in seiner Villa im Norden des Landes aufhielt. Er erklär te sich bereit, mich für ein paar Minuten zu empfangen, wenn ich gleich losfliegen könnte. Eine halbe Stunde später saß ich ihm gegen über, und zwei Stunden später saß ich wieder in meinem Hotel und telefonierte mit Whitlow. »Gouverneur Romero gefällt die Idee. Seine Landesregierung muß die Sache zwar erst be
willigen, bevor er uns etwas fest versprechen kann. Aber er ist sicher, daß wir das Gelände ohne Pacht oder für eine nominelle Pacht von einem Dollar haben können, wenn wir es brau chen. Das Projekt wird dem Staat auf andere Weise ein paar Millionen einbringen, und ich ließ eine Andeutung fallen, daß wir uns einen Platz in Arizona aussuchen würden, falls wir das Gelände nicht bekommen könnten.« »Sehr gut, Mr. Andrews, sehr gut! Und sicher haben Sie ihm auch gesagt, daß das Gelände sehr viel wertvoller sein wird, wenn wir es ihm nach Beendigung unseres Projektes wieder zu rückgeben.« »Ja, obgleich wir an Neukonstruktionen nichts brauchen als die Startplattformen und vielleicht ein oder zwei Kräne. Alles andere ist bereits vorhanden.« »Das klingt in der Tat äußerst günstig. Mr. An drews. Ich werde es mir gelegentlich einmal ansehen. Irgendwann im Laufe des nächsten Monats könnte ich zu einer Inspektion hinflie gen. Wenn der Platz nur in etwa Ihren Be schreibungen entspricht, werde ich mit Rome ro verhandeln.« »Warum sollen wir das Eisen nicht schmie den, während es heiß ist? Schreiben Sie ihm morgen einen Luftpostbrief mit der formellen
Anfrage, damit er den Antrag der Landesregie rung unterbreitet, solange die Angelegenheit noch frisch ist. Wenn Ihnen nachher das Ge lände nicht gefällt, bezahle ich den Dollar Pacht aus eigener Tasche. Was kann da schon schiefgehen?« »Vielleicht haben Sie nicht unrecht, Mr. An drews. Ich werde aber doch lieber erst dann schreiben, wenn mir eine genaue Beschrei bung des Geländes von Ihnen vorliegt. Wollen Sie mir diesen Bericht verfassen, wenn Sie nach Los Angeles zurückkommen?« Ich machte es ganz anders. Mir blieben noch einige Stunden Tageslicht übrig. Zunächst ließ ich mir vom Geschäftsfüh rer des Hotels einen guten Detektiv empfehlen und ins Hotel zitieren. Ich sagte ihm, daß ich eine rechtsverbindliche Beschreibung des Ge ländes brauchte, und zwar sofort. Wie er sie besorgte sei mir absolut gleichgültig. Wenn er nicht wüßte, wo solche Dinge aufbewahrt wer den, sollte er sich darum kümmern. Mit Schmiergeldern läßt sich so etwas selbst am Sonntagnachmittag machen. Dann mietete ich mir eine riesige InstaprintKamera und nahm das Gelände aus dem Flug zeug von allen Seiten aus auf. Als ich zurück kam, wurde es gerade dunkel. Der Detektiv
wartete bereits auf mich. Er hatte genauso schnell gearbeitet wie ich. Er brachte Fotokopi en der rückständigen Steueranforderungen und der Beschlagnahmepapiere. Aus dem Plan, der dem Grundbuch entnommen war, konnte ich ersehen, daß noch ein guter Teil des Landes außerhalb des Zaunes mit zu dem Ge lände gehörte. Sogar Baupläne sämtlicher Ge bäude waren vorhanden. Wirklich ein Prachtkerl, dieser Detektiv. Ich bezahlte ihn nicht nur, sondern ich lud ihn so gar zum Abendessen ein. Das Mittagessen hat te ich vor Aufregung vergessen und war jetzt ziemlich hungrig. Nach dem Essen besorgte ich mir eine Steno typistin und diktierte ihr einen kompletten Be richt in die Maschine. Die Unterlagen kamen dazu, dann ging das ganze Paket mit Luftpost an Whitlow ab. Er würde es in drei Stunden zu Hause ausgeliefert bekommen. Insgeheim grinste ich, wenn ich an sein Gesicht dachte. Er hatte sich vorgestellt, daß ich in ein paar Tagen in aller Ruhe ein paar Seiten Bericht aufsetzen würde, und zwar erst in Los Angeles. Jetzt hat te er keine Ausrede mehr und mußte Romero gleich morgen früh schreiben. Die letzte Düsenmaschine bekam ich nicht mehr, aber mit der ersten morgen früh war ich
immer noch rechtzeitig zurück. Unser Pro gramm machte Fortschritte – falls Whitlow nicht alles vermasselte! M'bassi wohnte in den Slums von Hollywood, in einer häßlichen Gegend mit dunklen, alten, zwölfstöckigen Gebäuden. Kein Druckluftauf zug, sondern ein ausgeleierter, klappernder Lift. Die dritte Etage war früher einmal eine recht vornehme Wohnung, jetzt war sie unter teilt. Eine seltsame Frau, deren Großmutter Filmschauspielerin gewesen war, vermietete die Wohnung und lebte von der ruhmreichen Vergangenheit ihrer Vorfahrin und den Gro schen der Mieter. Wenn man aber erst einmal die vier zusam menhängenden Räume betreten hatte, die M' bassi gehörten, vergaß man die Gegend, in der das Haus stand. Der große Wohnraum war in orientalischem Stil eingerichtet und mit Ge genständen geschmückt, die er von seinen ver schiedenen Reisen aus China und dem fernen Osten mitgebracht hatte. Im Gegensatz dazu wirkte das Studierzimmer äußerst nüchtern und streng. Vom Fußboden bis unter die Decke reichten die Bücherregale, die neben Stuhl und Tisch das einzige Mobiliar darstellten. Ein drit ter Raum war eine Kombination von Küche
und Schlafraum, während das vierte, winzig kleine Zimmer keine Spur von Einrichtung enthielt. Es sah aus wie eine nackte, kahle Mönchszelle und war es auch. Im Hintergrund spielte leise Musik – Scria bin, den M'bassi sehr liebte –, und M'bassi ver suchte vor mir sitzend, meine Fragen zu beant worten. »Wie man sich teleportieren kann? Max, Max – glaubst du, ich säße noch hier, wenn ich das wüßte?« »Aber, verdammt noch mal, du versuchst doch, hinter das Geheimnis zu kommen – du mußt doch wenigstens wissen, was du versu chen mußt!« »Es gibt tausend Wege zu diesem Ziel. Alle gleich schwierig und kaum verständlich für je manden, der das Fach nicht studiert hat. Könntest du jemandem, der absolut keine Ah nung von Physik hat, erklären, wie eine Rakete funktioniert?« »Natürlich, wenigstens in großen Zügen. Atomenergie verwandelt eine Flüssigkeit in Gas. Dieses Gas schießt mit hoher Geschwin digkeit aus dem Heck der Rakete und treibt sie an.« »Und jetzt erkläre mir bitte, wie ein Hyper raum-Antrieb funktioniert.«
»Du weißt genausogut wie ich, daß wir einen solchen Drive noch nicht besitzen. Aber eines Tages werden wir einen erfinden.« »Und du weißt, daß ich selbst heute noch nicht teleportieren kann. Wie soll ich dir also erklären, wie man es macht?« »Was gibt dir die Überzeugung, daß es über haupt geht?« »Dafür gibt es zwei Gründe, Max. Erstens ist es nur eine logische Weiterführung der be kannten und bereits bewiesenen telekineti schen Fähigkeiten, die der menschliche Geist besitzt. Und zweitens glaube ich daran, daß Te lekinesis bereits stattgefunden hat. Drei Leute, denen ich vertrauen kann und bei denen ich studiert habe, erlebten sie in der einen oder anderen Form. Es ist ihnen gelungen, sich selbst zu teleportieren, aber nur – wie soll ich mich ausdrücken – nur halb unbewußt, ohne daß sie merkten, wie sie es taten. In keinem Fall waren sie imstande, den Versuch zu wie derholen oder zu erklären. Sie versuchten zwar, die äußeren Begleitumstände möglichst genau wie beim erstenmal wiederherzustellen – alles umsonst. Es gab keine Wiederholung.« »Und sie sind sicher, daß es beim erstenmal Telekinesis war?« »Kann man überhaupt etwas sicher wissen,
mein Freund? Es gibt immer die Möglichkeit einer Sinnestäuschung, eines Irrtums. Bist du sicher, daß ich jetzt hier sitze und mit dir spre che?« »Aber du glaubst doch, daß es Fälle von Tele kinesis waren?« »Ja. Der Guru zum Beispiel, mit dem zusam men ich diesen Sommer in Tibet studierte und fastete, erzählte mir, daß er die Telekinesis zweimal erlebt hat. Er ist ein ehrlicher, glaub würdiger Mann.« »Zugegeben. Aber sag mir, warum du glaubst, daß er sich nicht geirrt hat.« »Da er außerdem ein weiser Mann ist, weise genug, um gegen eine Selbsttäuschung Vorkeh rungen zu treffen. Er hat sie mir beschrieben, und auch ich hielt sie für ausreichend, um Irr tümer auszuschließen.« »Triffst du auch besondere Vorkehrungen, wenn du experimentierst, M'bassi?« »Natürlich. Wie sollte ich sonst wissen, ob meine Experimente Erfolg haben? Beim Expe rimentieren verschließe ich den Raum, den du meine Mönchszelle nennst, von innen. Er kann nur von innen verschlossen werden. Gesetzt den Fall, ich habe Erfolg und finde mich woan ders wieder. Zum Beispiel, hier in diesem Raum. Dann brauche ich nur nachzusehen, ob
das Zimmer noch von innen verschlossen ist.« »Du müßtest die Tür aufbrechen, um wieder in die Zelle hineinzukommen.« »Diese kleine Mühe würde ein Erfolg doch wert sein.« »Wahrscheinlich. Aber was hat das Fasten mit Teleportation zu tun?« »Der Körper, Max, übte auf verschiedene Art seinen Einfluß auf den Geist aus. Zu viel oder zu wenig Nahrung, Anregungsmittel und Beru higungsmittel, Übermüdung – alle diese Dinge beeinflussen unsere Fähigkeit zu denken und die Art unseres Denkens. Seit vielen Jahrhun derten wissen die weisen Männer dieser Erde, daß Fasten zur erhöhten Klarheit der Gedan ken, manchmal sogar zu Visionen führt.« »Manchmal Visionen, oft aber auch Wahnvor stellungen. Alkohol erreicht dasselbe. Ich habe Dinge gesehen – nun, reden wir nicht dar über.« »Richtig, Max. Aber hast du nicht schon ein mal in einem ganz bestimmten Stadium der Trunkenheit festgestellt, daß du beinahe – fast greifbar nahe – vor einer Erkenntnis gestan den hast, die ungeheuer wichtig war? Daß sie aber dann wieder verschwand?« »Ich weiß verdammt genau, was du meinst«, sagte ich. »Aber man kommt dieser Erkenntnis
niemals ganz nahe, ich meine so, daß man sie fassen könnte. Eine bestimmte Grenze kann man nicht überschreiten.« »Meinst du nicht, daß es unter besonderen Bedingungen noch einmal möglich sein könn te? Meiner Ansicht nach bestehen mehr Aus sichten bei Verwendung bestimmter Drogen. Ich werde demnächst beginnen, mit Drogen zu experimentieren.« »Hast du es schon mit Alkohol versucht?« »Ja. Und auch mit Opiumrauchen. Ich glaube, mit Opium kam ich dem Ziel näher.« »Sind das nicht sehr gefährliche Versuche?« »Sind Raketen ungefährlicher?« Er lächelte, als ich unwillkürlich auf meine Prothese herunterblickte. Er sagte: »Max, ich weiß genau, daß du jedes Risiko eingehen wür dest, um dahin zu kommen, wo du hinwillst. Warum sollte ich das nicht auch tun?« An diesem Abend nahm ich mir einen Armvoll Bücher mit nach Hause. Er meinte, das wären die Grundbegriffe. Ganz einfach zu verstehen. Für mich waren sie nicht einfach zu verste hen. Sie kamen mir vor wie böhmische Dörfer. Um drei Uhr morgens gab ich es auf und schlief ein. M'bassi mochte es mit dieser Me thode versuchen; ich würde wohl bei meiner bleiben müssen. Ich war zu alt, um noch um
lernen zu können. Und obgleich ich hoffte, daß M'bassi auf dem richtigen Wege war und er eines Tages etwas finden würde, konnte ich es doch nicht so recht glauben. Im Oktober ging das Projekt Jupiter erneut durch alle Zeitungen. Das Gelände des alten GProjektes war gemietet worden. Am Mittwoch erschienen kurze Notizen, aber in der folgenden Wochenendausgabe wurden längere Artikel darüber gedruckt. Zwei der Fo tos erkannte ich als meine eigenen. Es stand sogar darunter: Foto: Max Andrews. Im Text selbst wurde ich nicht erwähnt. Andererseits wurde auch Whitlow nur ganz nebenbei als Di rektor des Projektes vorgestellt. Die Hauptsa che war jedoch, daß Whitlow die Sache nicht verpfuscht hatte. Das Projekt hatte jetzt eine feste Heimstätte. Jetzt konnte es nicht mehr allzu lange dauern, und hatten wir erst mit der wirklichen Arbeit angefangen, würde ich wohl wieder vierund zwanzig Stunden am Tag eingespannt sein. Das würde mir sehr, sehr gut tun. Abgesehen von meiner wachsenden Ungeduld ging es mir eigentlich zur Zeit ganz gut. Ich hatte mich mit dem Verlust meiner Ellen abge funden und damit seltsamerweise ein Stück
von ihr wiedergewonnen. Da ich jetzt wieder an sie denken konnte, ohne den peinigenden Schmerz zu empfinden, war es mir sogar mög lich, ihr in meinen gelegentlichen Selbstge sprächen einen Platz zu geben. Manchmal hat te ich sogar das Gefühl, als seien wir nur zeitweise getrennt, so wie damals, wo sie in Washington und ich in Los Angeles war. Viel leicht wartete sie irgendwo auf mich, und wir würden uns eines Tages wiedersehen. Ich lernte, daß selbst der Tod sie mir nicht ganz nehmen konnte. Mit dieser Erkenntnis kehrte Friede in mir ein. Es ging auf Dezember zu. Allmählich wurde ich immer ungeduldiger, endlich mit der Ar beit an dem Projekt beginnen zu können. Si cherlich hatten sie in Washington jetzt Zeit ge nug für die Vorbereitungen gehabt, so daß ich bald auf den Plan treten konnte. Ich würde zwar erst im Januar angestellt werden, aber was, zum Teufel, kümmerte mich die finanziel le Seite, wenn ich vielleicht jetzt schon irgend wie mithelfen konnte? Ich fragte Klocky, ob es ihm sehr viel ausma chen würde, wenn ich früher als vereinbart ausscheiden würde. Er lachte nur: »Was bringt dich bloß auf den
Gedanken, du seist unentbehrlich? Ich wußte, daß du Anfang des nächsten Jahres ohnehin gehen wolltest. Bannermann ist so weit ge drillt, daß er deine Aufgaben übernehmen kann. Daß du immer noch hier bist, enttäuscht mich ein wenig. Was willst du eigentlich noch in Los Angeles?« »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht der Ge danke, hinzukommen und keine Arbeit zu ha ben. Das wäre noch schlimmer als hier zu sit zen.« »Wenn es dort für dich nichts zu tun gibt, kommst du wieder zurück. Wie wäre es damit? Ich gebe dir – heute ist Mittwoch – für den Rest der Woche frei. Fliege nach Washington und rücke dem Whitlow auf die Pelle. Wenn du glaubst, daß es schon irgend etwas zu tun gibt, dann rufe mich an und kündige. Wenn nicht, bist du am Montag wieder hier und arbeitest vorerst weiter.« »Klocky, du bist ein feiner Kerl!« Er schnaubte. »Findest du das jetzt erst her aus? Was hast du mit deiner Wohnung vor? Mit deinen Büchern und dem anderen Zeug?« Ich hatte nicht daran gedacht und stöhnte. In zwei Jahren sammelt sich eine Menge Kram an. »Weiß ich auch nicht. Die Wohnung habe ich
bis zum Jahresende bezahlt und zu dem Ter min gekündigt. Aber die Bücher und die ande ren Sachen ...« »Gib mir einen Schlüssel, Max. Ich sorge da für, daß dir das Zeug nachgeschickt wird, so bald du irgendwo eine bleibende Stätte gefun den hast.« Ich atmete erleichtert auf. »Fein. In Washing ton brauche ich die Sachen nicht. Und wenn ich bis dann in Albuquerque noch nicht unter gekommen bin, kannst du das Zeug ja irgend wo lagern lassen.« »Und das Teleskop? Steht es noch immer auf dem Dach?« Ich nickte. »Heute abend hole ich es runter und verpacke es, damit ihm beim Umzug nichts geschieht.« »Schön, um alles andere will ich mich selbst kümmern. Hänge am besten Zettel an die ein zelnen Stücke, damit ich weiß, was dir gehört und was nicht.« Er füllte zwei Gläser, und wir stießen an. »Auf Jupiter!« Als er mich dann anblickte, schimmerte es tatsächlich feucht in den Augenwinkeln. Seine Stimme war sehr leise. »Glaubst du, daß du es schaffen wirst, Max?« Ich hatte ihm nichts gesagt. Genau wie Ellen
war er allein auf den Gedanken gekommen. Er kannte mich eben auch sehr genau. »Ich glaube, die Möglichkeit besteht, Klocky.« »Ich beneide dich um diese Chance, Max, und sei sie noch so vage. Ich würde alles dafür ge ben, was ich besitze ...« Ich packte genug Sachen in zwei Koffer, um eventuell zwei Monate lang in Washington aus kommen zu können, falls ich nicht sofort nach New Mexico fliegen konnte. Dann blickte ich mich in meiner Wohnung um. So viel Kram, den ich da besaß! Man sollte eigentlich niemals mehr Sachen besitzen, als man im Notfall mit seinen zwei Händen weg tragen kann. Dann flog ich nach Washington und besorgte mir ein Hotelzimmer. Ich legte mich hin, um morgen ausgeruht zu sein. Donnerstag, neun Uhr. William J. Whitlow, mein neuer Chef und Meister, saß hinter sei nem Mahagoni-Schreibtisch und blickte mich an. Dann spielte er mit seinem Kugelschreiber. Er sagte: »Es tut mir leid, daß Sie gekommen sind, Mr. Andrews.« Verdammt, noch nicht fertig? dachte ich. »Die Bezahlung ist mir gleichgültig, Mr. Whitlow. Es muß doch irgend etwas geben, was ich inzwi
schen schon tun kann.« »Darum geht es jetzt nicht. Ich schrieb Ihnen gestern einen Brief. Es tut mir für Sie leid, daß Sie gekommen sind, bevor Sie den Brief gele sen haben.« Verdammt, meinte dieser Kerl wirklich ... Soll ich ihn zusammenschlagen, oder soll ich meine plötzlich schmerzenden Hände um seinen fet ten Hals krampfen und ihn erwürgen? Soll ich ... »Ihre Ernennung sollte demnächst veröffent licht werden. Sie werden verstehen, Mr. An drews, daß wir vorher einige Erkundigungen einholen mußten, nur Routinesache. Als der Bericht eintraf ... Da Senator Gallagher mir ein Versprechen abgenommen und der Präsident selbst Sie empfohlen hatte, hielt ich mit ihm Rücksprache. Er ist absolut meiner Meinung, daß ...« Ich wußte es wieder. Ich erinnerte mich – und ich starb. Alles um mich her versank. Whitlow war nicht mehr da – kein Gesicht, in das ich meine Faust schlagen konnte, kein Hals zum Würgen. Nur eine Stimme, eine undeutliche Stimme, die aus einer grauen Ferne zu mir durchdrang. »... weiß nicht, ob Sie ein psychopathischer Lügner sind, oder ob Sie hofften, mit falschen
Behauptungen davonzukommen. Aber in je dem Fall ... Es stimmt, daß Sie 1963 die Ab schlußprüfung in der Raumakademie mach ten; aber der Unfall, der Sie ein Bein kostete, spielte sich auf der Erde ab. Nicht auf der Ve nus. Deshalb haben Sie die Erde nie verlassen, sind nicht einmal bis zur nächsten Raumstati on gekommen, geschweige denn zu den Plane ten. Angesichts Ihrer anderen Qualifikationen verstehe ich nicht, Mr. Andrews, daß Sie so lä cherliche Behauptungen aufstellten. Sie hätten es doch gar nicht nötig gehabt. Ihr Diplom als Raketen-Ingenieur, Ihre leitende Position auf dem Raketenhafen von Los Angeles hätten vollkommen genügt, Sie für den Posten geeig net erscheinen zu lassen. Ganz besonders nach dem Beitrag, den Sie zur Ausarbeitung des Projektes geleistet haben und der voll aner kannt wird. Schließlich handelt es sich doch um eine Konstruktionsaufgabe und nicht dar um, daß Sie die Rakete steuern wollten. Aber der Präsident ist derselben Ansicht wie ich. Auch Senator Gallagher würde mir zustim men, wenn sie noch lebte, das weiß ich gewiß. Ihre Behauptungen weisen entweder auf eine psychopathische Veranlagung oder auf grund sätzliche Unaufrichtigkeit, und in beiden Fäl len ...«
Immer diese Stimme, diese Stimme ... Dann kam eine Bar und noch eine. Und dann lag ich in einem Hotelzimmer, eine halbvolle Flasche in der Hand, eine leere neben dem Bett. Das Zimmer sah genauso grau aus wie Whitlows Büro. Ellen war bei mir, obgleich ich sie durch den grauen Nebel nicht sehen konn te. »Liebling«, versuchte ich ihr zu erklären, »ja, es ist wahr. Ich weiß, daß das wahr ist, was die Stimme sagte – aber du mußt verstehen, ich wollte dich nicht verraten, ich wollte dich nicht belügen. Ich wußte, daß ich log, und zugleich wußte ich es auch wieder nicht. Denn ich hatte andere und mich selbst seit so langer Zeit im mer wieder belogen, so daß ...« »Du brauchst das nicht zu erklären, Max, ich verstehe dich doch.« »Aber, Ellen, ich verstehe es nicht. Bin ich verrückt? War ich denn verrückt? Wie kann man an etwas glauben, von dem man weiß, daß es eine Lüge ist? Und es zur gleichen Zeit auch wieder nicht glauben, weil es eine Lüge ist. Eine Lüge, die man so oft erzählt hat, daß man sie schließlich als Wahrheit akzeptiert ...« Ich sagte: »Ellen, ich muß verrückt gewesen sein, nach diesem Unfall, der mir den Raum
für immer verschloß, als ich im Begriff war, den ersten Schritt zu den Sternen zu tun. Es war nur eine Stunde – Liebling, eine einzige Stunde, bevor wir zur ersten Raumfahrt star ten sollten. Alles andere spielte sich genauso ab, wie ich es dir erzählt habe, nur auf der Erde, nicht auf der Venus. Ich wollte zur Venus – nicht zum Mond, sondern zur Venus – und dann dieser Unfall! Es war nicht so sehr der Schmerz oder der Schock, sondern die Er kenntnis, daß ich niemals, niemals würde die Erde verlassen können, nie ein richtiger Space man werden könnte! Während der langen Jah re wehrte sich mein Geist gegen diese Erkennt nis. Die Phantasie baute ein Gebäude vor meinem Bewußtsein auf, an das ich schließlich selbst beinahe glaubte. Beinahe! Aber ich hätte dich nicht belügen dürfen.« »Ich hätte es auch damals verstanden, Max.« »Aber Gott sei Dank hast du niemals erfahren, daß ich dich betrogen habe. Du hättest mich nicht mehr lieben können, wenn du gewußt hättest, daß ich ein Betrüger war. Gott sei Dank hast du es nie gewußt.« Ihre Hand berührte meine Stirn. Oder war es eine wehende Gardine? »Max, es hätte zwischen uns nichts geändert. Es lag ja nicht an dir, daß du die Erde nie ver
lassen konntest. Du hast es versucht. Dein gan zes Leben lang.« »Nein, nicht immer. Es gab Zeiten – immer dann, wenn ich mich daran erinnerte –, da habe ich getrunken, so wie jetzt. Bittere Wo chen lang, Monate. Dutzende Male, so wie jetzt. Wenn ich zu denken begann – dieser Fluch! Als ich zum erstenmal von dir hörte, hatte ich gerade wieder eine solche Zeit hinter mir und erholte mich in Seattle bei Bill und Merlene. Ich wollte dir helfen, diese Rakete ins All zu schicken.« »Das haben wir doch getan, Max. Vergiß nie mals, es ist unsere Rakete. Eine Rakete zum Jupiter, weiter hinaus, als der Mensch bisher jemals gelangt ist. Es hätte mindestens zehn Jahre länger gedauert, wenn du nicht gewesen wärst, Max. Ist das nicht genug für einen Mann, für ein ganzes Leben?« »Nein«, sagte ich bitter, »die Rakete startet, aber ohne mich.« Ich suchte sie in dem grauen Nebel, aber sie war nicht mehr da. Sie war tot, und ich wieder allein, so allein wie niemals zuvor. Andere Hotels. Ein Zimmer mit entsetzlichen Blumen auf der Tapete. Ich wurde von einem Traum verfolgt, der immer wiederkehrte. Mein ganzes Leben lang hatte er mich ver
folgt, immer wieder. Jetzt spielte Ellen darin eine Rolle, aber ansonsten war alles wie frü her. Ich kletterte auf einer Rakete herum. Auf der Außenseite sah ich, daß eine tote Ameise fest geklebt war. Sie würde zwar beim Start wegge schleudert werden, aber einen Flecken hinter lassen. – Dann das plötzliche Dröhnen, der betäubende Schmerz – der Alptraum. Dann ein weißer Raum. Ein Krankenhauszim mer. Ein Arzt hatte die Bettdecke hochgehoben und wechselte den Verband. Ich hob den Kopf und blickte an mir herunter. Ich erstarrte für einen Augenblick, der Ewig keiten dauerte. Als ich erwachte, zitterte ich. Ich war schweißgebadet. Raus aus dem Hotel, raus aus dem Zimmer mit den geblümten Tapeten, fort, immer weiter. Der Angsttraum würde mich weiter verfolgen. Nur völlige Erschöpfung be wahrte mich davor. Straßen und Kneipen, Theken, Musikautoma ten. Und die Stimme, durch die Musik immer wieder diese verdammte Stimme: »Ich kann nicht verstehen, Mr. Andrews ...« Ich erinnerte mich an jedes einzelne Wort. Immer wieder. Dann die Stimme des Wirtes: »Kann dir nichts mehr geben, mein Junge.
Würde mich die Lizenz kosten.« Nicht betrunken genug – noch nicht betrun ken genug! Andere Straßen, andere Kneipen. Nur die Stimme immer dieselbe. Wirbelnde Wolken, Schnee. Irgend jemand sagte »Frohe Weih nachten!« zu mir. Ich kaufte jemandem einen Drink. Dann er mir. Ein Gesicht erschien im Nebel, ein starkes, männliches Gesicht mit ei ner gebrochenen Nase, großen klaren Augen, welche die Sterne aus der Nähe gesehen hat ten. Ein Spaceman. »Mußt dich zusammenreißen, Kamerad, be vor du völlig vor die Hunde gehst. Kann ich dir irgendwie helfen?« »Bin nicht dein Kamerad. Bin kein Space man.« »Halt mich nicht zum Narren! Du bist Max Andrews.« »Ich bin niemand, ein Nichts. Ein Betrüger.« »Nein, Kamerad, ich kenne dich doch. Du bist der beste Mechaniker, den wir haben, und du bist ein Spaceman.« Er lehnte sich vor und blickte mich aus seinen Augen fest an. »Hör zu, Kamerad. Eine Zeitlang hat es lausig ausgese hen, aber jetzt geht es wieder voran. Wir flie gen zum Jupiter.« »Zum Teufel!« sagte ich. »Hör zu, du verwech
selst mich anscheinend mit einem anderen. Ich habe nie etwas von einem Max Andrews ge hört.« »Wenn du es so willst.« »Nein, es ist so!« Immer weiter. Ab und zu wachte ich auf und hatte panische Angst davor, daß der Traum wiederkommen würde. Neue Kneipen, Men schenmengen, und mitten drin immer dieses Gefühl trostloser Einsamkeit. Gelegentlich eine Schlägerei und ein zerschundenes Ge sicht. Dazwischen tauchte Ellen auf. Sie verstand, warum ich trank. In halbnüchternen Augenbli cken fragte ich mich, ob sie es wohl wirklich verstanden haben würde. Aber die Toten müs sen wohl alles verstehen. Eines Nachts hörte ich auf den Straßen frohe Stimmen, eine Menge Lärm. Sie lachten, san gen und bliesen auf Hörnern. Dann plötzlich noch mehr Lärm. Läutende Glocken – einer schrie mich an. Noch einmal, dann verstand ich ihn. »Prosit Neujahr!« Dann dämmerte es mir. Es war nicht irgend ein Neujahr. Durch den Lärm, durch das Tu ten, Heulen und Glockenläuten, durch den lei se fallenden Schnee hatte sich unser Jahrhundert davongeschlichen – war das
Jahrtausend einem neuen, jüngeren gewichen. Mein Gott, fiel mir ein, es war das Jahr ...
2000 Etwas zum Feiern, es mußte wirklich gefeiert werden! Ich schrie: »Prosit Neujahr! Prosit dem neuen Jahrtausend!« Drei oder vier Mann tief umdrängten die Menschen die Bar. Ich ver suchte mich auch heranzudrängen und schaff te es nicht. Drinks wurden zurückgereicht. Ei ner hatte zwei Gläser in der Hand und blickte sich suchend um. Er fand seinen Begleiter nicht und drückte mir das Glas in die Hand. »Viel Glück, Alter!« Ich spendierte Runden, wurde eingeladen und machte den vergnügten, tollen Rummel des »fin de siècle«, des »fin de mille« mit. Wir klopften einander auf den Rücken und schüt telten uns gegenseitig ohne jeden Sinn die Hände. Dann verlief sich die Menschenmenge, wurde immer dünner, bis die letzten von uns die glasig-klare Winternacht hinauspolterten. Kalt, klar und still. Ich lief durch ein paar Straßen, torkelte auf einem Rasenstück herum und fand mich in ei nem Park wieder. Eine Brücke über einen Teich. Über einen stil len, klaren Teich. Ich stolperte auf die schmale Brücke und
blickte dabei über das niedrige Geländer hin unter in das schwarze Wasser – in das schwar ze und spiegelglatte Wasser, in dem ich die Sterne sehen konnte. Sie spiegelten sich scheinbar Lichtjahre unter der nachtschwar zen Oberfläche. Das Wasser, in dem das Leben entstand, aus dem unsere Vorfahren auf das Land krochen und ihre Häupter zum Himmel erhoben – zu den Lichtern, die die Sterne sind. Ich sank in den Himmel hinein – direkt auf die fernen Sterne zu. Wieder der weiße Raum, aber diesmal kein Alptraum – nur ein ganz gewöhnlicher Traum. Oder nicht einmal das? Jemand beugte sich über mich. Jemand mit kastanienbraunen Haaren. Ich kam wieder zu mir und stellte fest, daß es nicht Ellen war. Es war eine Kranken schwester in weißer Uniform. Mit Ellens Haar – aber es war nicht Ellen. Was sie sagte, war nicht für mich bestimmt. »Ich glaube, er ist wieder bei Bewußtsein, Dr. Fell.« Dr. Fell – der Name erinnerte mich an etwas. Ich mag dich nicht, Dr. Fell! Ich weiß nicht warum – aber ich mag dich nicht! Die Schwester war einen Schritt zurückgetre ten, und ich drehte meinen Kopf zur Seite, um
ihn zu sehen. Ein breiter Mann mit grauem Haar, grauen Augen und einem Gesicht, das mich an den Spaceman erinnerte, den ich in der Bar getroffen hatte. Nur die Nase war nicht gebrochen. »Fühlen Sie sich stark genug, ein paar Worte zu sprechen?« Seine Stimme war tief und tö nend, eine Stimme, zu der man Vertrauen ha ben konnte. Ich sagte: »Ich glaube, ich mag Sie leiden, Dr. Fell!« Er grinste und sagte zu der Schwester: »Sie können jetzt gehen, Miss Dean.« Dann zu mir: »Wie fühlen Sie sich?« »Ich weiß nicht recht. War irgend etwas mit mir nicht in Ordnung – ich meine, außer ...« »Alkoholvergiftung, Lungenentzündung und Delirium tremens. Dazu Unterernährung. Nein – abgesehen davon waren Sie ganz in Ordnung, Mr. Andrews.« »Ich kann mich erinnern, daß ich in einen Teich gefallen bin. Das ist alles. Bin ich selbst wieder herausgekommen?« »Ja, Sie sind wieder herausgekrochen. Er war nur zwanzig Zentimeter tief. Aber dann haben Sie dagelegen, naß und frierend, weiß Gott wie lange, bevor Sie jemand fand. Ich will Ihnen et was sagen: Wenn es nur eine halbe Stunde län
ger gedauert hätte, wären Sie jetzt nicht mehr da. Und noch etwas: Noch eine einzige Sauf tour wie die letzte wird Ihre letzte sein, selbst wenn Sie nicht ins Wasser fallen. Ist Ihnen das klar?« »Ja«, sagte ich. »Glücklicherweise sind Sie noch kein chroni scher Alkoholiker, deshalb brauche ich Ihnen einen gelegentlichen Schluck nicht zu verbie ten – wenn Sie erst einmal wieder in Ordnung sind. Aber eine fortgesetzte Serie von ...« Ich unterbrach ihn. »Ich weiß schon. Aber wo her wollen Sie wissen, daß ich kein Alkoholiker bin?« »Von Ihrem Bruder und einem Freund, einem Mr. Klockerman. Sie waren beide hier. Ihr Bruder ist immer noch in der Nähe, er wird während der Besuchszeit heute nachmittag wiederkommen.« »Sie sind beide meinetwegen von der West küste nach Washington gekommen – oder, Au genblick, bin ich hier in Washington?« »Nein, Denver. Das Carey Memorial Hospital in Denver.« »Und seit wann bin ich hier? Den Wievielten haben wir heute?« »Sie sind: seit elf Tagen hier. Am Neujahrstag um fünf Uhr morgens hat man Sie eingeliefert,
und heute ist Dienstag, der 11. Januar.« »Welches Jahr?« Ich wollte nur, daß er es noch einmal sagte. »2000«, sagte er. »Das Jahr 2000.« Das neue Jahrtausend, dachte ich, als ich wie der allein war. Das 21. Jahrhundert im 3. Jahr tausend! Die Zukunft. Unter 2000 hatte ich mir immer die Zukunft vorgestellt. In den 50er Jahren war es mir so fern erschienen, daß es mir nichts bedeutete. Da war es also. Und ich lebte mitten drin. Und hier mußte ich versuchen, mit mir selbst wieder ins reine zu kommen, wenn ich am Le ben bleiben wollte. Ich mußte der Tatsache ins Auge sehen, ohne Beschönigungen und auch ohne Bitterkeit. Wenigstens mit nicht zuviel Bitterkeit. Ich mußte mich damit abfinden, daß ich alt wurde, zu alt, um jemals in den Weltraum ge langen zu können, nicht einmal zu den Plane ten. Ich hatte in jungen Jahren die Gelegenheit dazu gehabt und sie verpaßt. Ich hatte eine an ein Wunder grenzende zweite Gelegenheit – wenn die Chance auch gering war – und ver paßte auch diese. Jetzt war ich praktisch sech zig und würde keine weitere Gelegenheit mehr geboten bekommen. Und? Viele Leute sind
Stardusters, träumen ein Leben lang davon zu den Sternen zu fliegen, und erreichen ihr Ziel doch nicht. Und sie leben auch, nicht wahr? Finde dich damit ab, sagte ich mir, dann wird es dir von jetzt an besser gehen. Etwas Schlim mes kann dir eigentlich nicht mehr passieren, weil du der Chance nie mehr so nahekommen wirst, um enttäuscht zu werden. Du wirst auch niemals mehr einen Menschen lieben, wie du Ellen geliebt hast. Und wenn nichts so Wun derbares mehr wie ihre Liebe in dein Leben eintreten kann – dann kann dir auch nichts so Schreckliches mehr zustoßen wie ihr Tod. Denk dran – vergiß es niemals! –, daß du nie die Erde verlassen hast, und daß du es auch nie wirst. Denk dran, Max, es geht jetzt bergab. Du hast zu viel vom Leben erwartet, Max. Mehr, als ein Mensch erhoffen darf. Du hast von der Menschheit mehr gefordert, als sie in einer Generation zu geben vermag. Du hattest kein Recht dir etwas zu erhoffen. Der Mensch wird die Sterne erreichen, und zwar noch in diesem Jahrtausend. Wo stand er am Beginn des letzten Jahrtausends, im Jahre 1000? Er führte wahnsinnige Kreuzzüge aus und kämpfte mit Schwert, Pfeil und Bogen. Und am Ende desselben Jahrtausends hat er die Erde verlassen und die nächsten Planeten
erreicht. Und wo wird er am Ende des Jahrtausends stehen? Nein, Max, du wirst es natürlich nicht mehr erleben. Aber du nimmst Anteil daran, du bist ein Teil der Menschheit und kannst mithelfen. Solange du lebst, kannst du schieben und sto ßen, wenn auch nicht fliegen. Du kannst mit helfen, die Raketen und die Menschen zu den Sternen zu drängen. Die Schwester brachte mir das Mittagessen. Ich stellte fest, daß ich zwar noch ziemlich schwach war, aber doch ein wenig essen konn te. Als sie das Tablett wieder forttrug, fragte ich sie, wann die Besuchszeit beginne, weil ich vorher noch ein wenig schlafen wollte. Es war aber schon in einer halben Stunde, deshalb blieb ich wach. Ich dachte an M'bassi. Chang M'bassi. Vielleicht war er und nicht ich auf dem richti gen Wege. Das war immerhin möglich. Nichts ist unmöglich! Wer kann auf der Stelle sagen, wo der menschliche Geist seine Grenzen hat und wessen dieser Geist, dieses wunderbare Gebilde, noch fähig ist? Wer kann auf der Stelle die Zusammenhänge
zwischen Geist und Materie erklären? Ein Mensch ist ein Stück Materie, in dem ein Geist eingebettet liegt. Wenn ein Teil davon stirbt, dann – so denke ich – stirbt auch der andere Teil. Aber der Körper kann den Geist irgend wohin tragen. Und wie kann ich mich erdreis ten, zu behaupten, daß nicht auch der Geist ei nes Tages den Körper tragen kann? Und zwar mit der Schnelligkeit des Gedankens. Wenn das der richtige Weg ist, wünschte ich M'bassi mehr Kraft, damit er die Lösung des Problems auf seine Weise finden möge. Es ist aber nichts für mich. Ich würde mich selbst zum Narren halten, wenn ich es versu chen wollte, und ich habe mich während mei nes Lebens gerade genug an der Nase herum geführt. Mein Gebiet sind die Raketen, und ihnen werde ich auch treu bleiben. Bill sagte: »Hallo, Max! Ich freue mich, daß du wieder bei uns bist!« Wir schüttelten uns die Hände. »Wieder ganz bei euch«, sagte ich. Und er verstand mich. Wenn er sich wirklich um mich Sorgen ge macht hatte, konnte er nun beruhigt sein. Er zog sich einen Stuhl ans Bett. Ich sagte: »Laß uns erst die Kleinigkeiten erle digen. Wie ist es um meine Finanzen bestellt?
Wer bezahlt das alles?« »Das ist in Ordnung. Klockerman hat deine Sachen zu sich genommen und dein Bankbuch nachgesehen. Er sagt, es sei genug drauf, um die Rechnung hier zu zahlen und auch noch für deinen Rückzug.« »Hat er sich mit der Bank in Verbindung ge setzt, um festzustellen, ob ich ...« »Sicher. Du hast zweimal um Geld telegrafiert und auch welches bekommen. Aber das ist schon berücksichtigt. Nun, bis du erst wieder arbeitsfähig bist, wirst du vielleicht dem einen oder anderen von uns ein paar Hundert schul den, aber das ist nicht so schlimm.« »Gut«, sagte ich. »Noch etwas. Ich sprach eben mit Fell, vergaß aber zu fragen, wie lange ich noch hierbleiben muß. Hat er dir etwas da von gesagt?« »Ich habe ihn gerade danach gefragt, als ich hierher kam. Er meint, etwa zehn Tage noch, bis du reisefähig bist. Aber danach sollst du mindestens einen Monat lang nicht arbeiten. Kommst du für diese Zeit zu uns nach Seattle? Merlene und die Kinder freuen sich schon wie verrückt darauf, dich da zu haben, und ich auch.« »Ich ... Muß ich mich jetzt gleich entscheiden, Bill?«
»Natürlich nicht. Ich wollte dich zu nichts drängen. Ich sollte dir noch sagen, daß auch Klockerman, Rory und M'bassi ihre Ansprüche auf deine Gesellschaft angemeldet haben. Du kannst es dir also aussuchen. Du hast ein paar großartige Freunde, Max.« »Und großartige Verwandte, Bill.« Ich drehte mich halb um und blickte ihn voll an. »Hör zu, Bill. Falls ich nach Seattle komme, will ich erst eine Kleinigkeit mit dir allein besprechen, während wir hier sind.« »Los, sag es mir!« »Wegen Billy. Macht es dir etwas aus, wenn ...« Ich wollte sagen: ... ich versuche, ihm den Traum einzupflanzen, aber diese Sprache würde Bill nicht verstehen. »Macht es dir et was aus, wenn ich mit ihm über die Raumfahrt spreche, wenn ich versuche, einen Starduster aus ihm zu machen?« »Merlene und ich haben uns darüber schon unterhalten«, sagte er sehr ruhig. »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir nichts dage gen haben. Es hängt schließlich von Billy selbst ab, was er einmal werden will.« Plötzlich grins te er. »Falls er sich nicht noch im Laufe der Jahre ändert, werden wir ihn nicht sehr drän gen müssen. Mit ihm ist es fast genauso schlimm wie es früher mit dir war, Max.«
»Gut«, sagte ich. »In diesem Fall werde ich voraussichtlich einen Teil meines Ruhemonats bei euch verbringen. Wahrscheinlich nicht gleich die ersten beiden Wochen, die beiden letzten Wochen werden besser sein. Dann bin ich wieder kräftiger und kann mich mit den Kindern beschäftigen. Sie sind recht anstren gend für einen alten Mann, wenn er sich nicht ganz wohl fühlt.« »Großartig. Ich werde Merlene sagen, daß du die beiden letzten Wochen bei uns sein wirst. Und wegen der anderen – weißt du schon, wo hin du zuerst fahren wirst? Ich werde ihn dann benachrichtigen, damit du nicht zu schreiben brauchst.« »Nein, ich habe mich noch nicht entschieden. Aber du kannst mir einen Gefallen tun, Bill. Telegrafiere allen dreien, daß ich über den Berg bin – wieder ganz da. Tust du das?« »Natürlich.« »Und halte bitte fest, was die Telegramme und Anrufe kosten. Auch die Kosten deiner Reise.« Er lachte. »Die Anrufe, na schön. Aber mach bloß kein Theater wegen der Reise. Für mich ist es ein Urlaub von der Familie, und ich habe schon immer nach einer guten Ausrede für eine Reise nach Denver gesucht. Max, das hier war früher ein Kuhdorf. Vielleicht das größte,
das wir hatten. Kühe! Und sie haben Museen vom alten Westen hier, von der Cowboyzeit. Ich habe mich herrlich unterhalten. Es gibt Ranches, wo man noch leben kann wie damals ...« »Mein Gott!« rief ich. »Du willst damit doch nicht sagen, daß du auf einer solchen Ranch gelebt hast?« Er nickte glücklich. Anscheinend tat es ihm sogar leid, daß ich mich wieder wohler fühlte und er zurück zu seiner Familie zu einem seri öseren Leben mußte. Er mußte sich jetzt wie der wie ein Erwachsener benehmen. Mein kleiner Bruder – auf Pferden, in Cow boytracht, mitten in der Vergangenheit! Mein großartiger, kleiner Bruder! Briefe kamen an. Einer von Merlene, in dem sie mir mitteilte, wie sehr sie und die Kinder sich auf mein Kommen freuen. Besonders Billy sei schon ganz aufgeregt. Ein Brief von Beß Bursteder: »Heute muß ich schreiben, weil Rory sehr viel Arbeit hat. Er ist dabei, den Job zu wech seln. In Treasure Island ist er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr so recht zufrieden. In vielen Dingen hatte er Differenzen und
Meinungsverschiedenheiten mit den Direkto ren. Ende dieser Woche werden wir also um ziehen. Es ist ein kleinerer Raketenhafen und bringt ihm weniger ein, aber das macht nichts. Er bleibt Chefmechaniker, und wenn ihm die Arbeit mehr Freude macht und er selbständiger arbeiten kann, ist es besser. Du wirst dich freuen, wenn Du hörst, wohin wir übersiedeln: nach Seattle! Von jetzt an kannst Du jedesmal zwei Fliegen mit einer Klappe treffen, wenn Du dorthin kommst. Hoffentlich lernen wir bald die Familie Dei nes Bruders näher kennen. Deine Schwäge rin gefiel mir auf den ersten Blick, als ich sie in Los Angeles sah – auf der Party damals. Erinnerst Du Dich noch? Wir wollen vorerst noch kein Haus kaufen. Aber letzte Woche waren wir dort und haben eine nette Wohnung gemietet, die uns vorläu fig genügt. Es ist auch ein Gästezimmer für Dich vorhanden. Wenn Du ankommst, ist al les für Dich fertig und das Durcheinander des Umzugs vorbei. Du kommst doch, nicht wahr? Rory schaut mir gerade über die Schulter, er will noch etwas dazuschreiben.« Dann folgte in Rorys klobiger Handschrift:
»Schön, daß Du uns besuchen kommst, Max. Vermutlich wirst Du wieder nach Los Angeles an Deinen alten Job zurückkehren, aber wenn Du das nicht willst, ist immer in Seattle für Dich ein Arbeitsplatz frei. Kopf hoch!« Ein solcher Brief half viel dabei, den Kopf wie der hochzunehmen. Ich entschied mich für Se attle. Aber am folgenden Tage warf ein anderer Brief diesen Entschluß wieder um. Er stammte von M'bassi und war nur eine hastig hingekrit zelte Notiz. Erst die Aufforderung, auf jeden Fall meinen Erholungsurlaub bei ihm zu ver bringen. Und dann: »Max, ich glaube – oder hoffe –, daß ich kurz vor dem Erfolg stehe. Ich brauche Deine Hilfe. Bitte komm!« Das änderte vieles. Was mochte er mit Erfolg meinen? Hatte er das Geheimnis der Teleportation entdeckt? Oder stand er vielleicht knapp davor? Und wie sollte ich, gerade ich, ihm dabei hel fen? Oder wollte das verdammte Ebenholz mir nur einen Köder hinwerfen, um mich dazu zu ver
anlassen, auf alle Fälle zu kommen? Aber Gott, was, wenn er wirklich etwas ... Ich konnte mich nicht so recht entschließen, bis ich zwei Tage später einen Brief von Klocky bekam. »Max, ich mache mir über M'bassi solche Sorgen. Er hat wieder seine mystische Tour. Er fastet und schluckt Drogen, und das ist eine verdammt gefährliche Kombination. Er ist schon so dünn, daß er keinen Schatten mehr wirft, und er hört auf nichts, was man ihm sagt. So kann es nicht mehr lange weiter gehen. Wenn Du Dich dazu in der Lage fühlst – ich würde Dir das Gegenteil nicht verübeln – hierher zu kommen, solltest Du seine Einla dung annehmen. Vielleicht gelingt es Dir, ihn wieder in die Reihe zu bringen. Er ist auf das, was er gerade ausprobiert, ganz verrückt. Wenn er nicht verhungert, verendet er eines Tages als Süchtiger – aber nein. Dazu besitzt er einen zu starken Willen. Trotzdem ist das, was er jetzt treibt, mehr als gefährlich. Weiß Gott, warum das so ist, aber es scheint mir, daß Du nach Gautama Buddha den meis ten Einfluß auf ihn hast. Er braucht Dich. Wenn Du Dich dazu entschließt zu kommen, laß es mich rechtzeitig wissen, damit ich Dich
mit meinem Heli abholen kann. Wir können uns dann kurz besprechen, bevor Du ihn auf suchst.« Damit stand mein Entschluß fest. Ich über trieb Dr. Fell gegenüber ein wenig, wie frisch und stark ich mich fühlte, aber auf jeden Fall wurde ich drei Tage eher entlassen, als vorge sehen war. Klocky sah genauso aus wie an dem Tage, wo ich ihn zum letztenmal gesehen hatte. Warum mich das so überraschte, weiß ich nicht, denn es waren inzwischen doch nur zwei Monate vergangen. Manchmal erschienen mir diese beiden Monate wie doppelt so viele Jahre. Er packte meine Hand so fest, daß es schmerzte. »Gut, daß du zurück bist, Max. Ver mißte dich sehr. Laß uns einen Kaffee trinken, bevor wir zu ihm fliegen.« Ich nickte. Beim Kaffee fragte ich ihn nach M'bassi. »Ich weiß nichts Neues von ihm. Habe ihn seit zwei Tagen nicht zu sehen bekommen. Aber – bevor wir über ihn reden, laß uns einen Augen blick über dich sprechen. Du kommst doch wieder zu deinem alten Job bei mir zurück?« »Ich – weiß nicht so recht, Klocky. Ich glaube nicht.« »Er ist noch frei. Ich habe für dich einen un
begrenzten Urlaub vermerkt. Und ich brauche dich, Max.« Ich grinste ihn an. »Als ich abfuhr, hast du mir etwas ganz anderes gesagt. Aber im Ernst: Ich möchte wieder eine Zeitlang als Mechani ker arbeiten, glaube ich. Ich brauche es, zu mindest für eine Weile. Dreck und Öl an den Händen, körperliche Arbeit.« »Max, du wirst auch nicht gerade jünger. Du kannst nicht dein ganzes Leben lang Mechani ker spielen.« »Ein paar Jahre halte ich es noch aus, Klocky. Aber wir werden ja sehen. Aber bitte, halte den Posten nicht für mich frei.« Er zuckte die Achseln. »Es liegt bei dir. Auf je den Fall halte ich ihn noch ein paar Wochen lang offen, falls du dich anders entschließen solltest. Und für die Zwischenzeit gebe ich dir einen Job als Mechaniker – verdammt ...« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht in Los Ange les, Klocky. Es wäre für uns beide peinlich, wenn dein früherer Assistent wieder als Schmiermaxe arbeitete. Ich weiß schon, wo ich anfangen werde.« Ich erzählte ihm von Rorys neuem Arbeitsfeld und seinem Angebot. »Na schön, wenn du nicht anders willst.« Ich sah, daß er erleichtert darüber war, daß ich nicht in Los Angeles als Mechaniker arbeiten
würde. »Klocky«, fragte ich dann, »ich habe seit Mo naten keine Zeitung mehr gelesen – ist die Er nennung schon veröffentlicht worden?« Er wußte genau, welche Ernennung ich mein te. Er nickte. »Kreager – Charlie Kreager.« Der Name sagte mir nichts, aber offensicht lich wußte Klocky, wer das war. »Ein guter Mann?« fragte ich. »Verdammt gut.« Mehr wollte ich nicht hören, und ich beließ es dabei. Ich wußte nicht, wieviel von den Einzel heiten Klocky wußte oder vermutete, und ich wollte ihn auch nicht danach fragen. Wir rede ten nicht mehr darüber. Aber eine große Sorge war weg, seit ich wußte, daß mein Nachfolger ein guter Mann war. Nachfolger ist auch zuviel gesagt. Ich wechselte das Thema. »Nun zu M'bassi!« »Wenn ich es mir recht überlege, Max, brau che ich dir eigentlich nichts mehr über ihn zu sagen. Du wirst genau wissen, was es geschla gen hat, wenn du ihn siehst. Es ist vielleicht auch besser, wenn ich nicht mehr sage, als ich bereits habe. Es gibt auch nicht viel mehr zu berichten.« »Wir verlieren nur Zeit, Klocky. Laß uns auf brechen!«
Unser Klopfen wurde nicht beantwortet. Ein viereckiges Stück Papier schaute mit einer Ecke unter der Tür heraus. Ich zog es vor und öffnete den Umschlag des Telegramms. Es war mein gestriges Kabel, in dem ich ihm meine Ankunft mitgeteilt hatte. Es mußte mindestens vor vierundzwanzig Stunden ausgeliefert wor den sein. Die Tür war unverschlossen. Wir wußten bei de, was geschehen war. Wir wußten, daß wir zu spät kamen. Eine Lage von Staub bedeckte alles. Die Tür zu seiner Zelle war von innen verschlossen. Ich klopfte nur einmal. Dann blickten Klocky und ich uns an. Ich nickte. Er war 50 Pfund schwerer als ich und nahm einen Anlauf. Das Schloß erwies sich als nicht zu widerstandsfä hig und sprang gleich beim ersten Versuch auf. M'bassi lag da mit einem Lächeln auf dem Ge sicht. Er lag auf dem Rücken, auf einer harten Ma tratze und trug nur eine kurze Hose. Seine Rip pen sahen aus wie ein Vogelkäfig. Die Augen hatte er weit geöffnet. Sie starrten aus eng zu sammengezogenen Pupillen ins Leere. Wir untersuchten ihn flüchtig, bevor wir die erforderlichen Telefonanrufe erledigten. Aber
wir hatten es von dem Augenblick an gewußt, wo er auf unser Klopfen hin nicht reagierte – wir waren zu spät gekommen. M'bassi war nicht mehr hier. Sein Körper lag wohl vor uns, aber M'bassi selbst? Ich wünschte, ich könnte glauben, daß M'bas si irgendwohin gegangen war – nicht bloß, daß er nun nicht mehr da war. Wenn ich doch daran glauben könnte, daß je der Mensch einmal wiedergeboren wird, oder daß er als Einzelwesen unsterblich ist! Wenn ich doch in einem anderen Körper einmal wie der zum Leben erweckt werden könnte, oder wenigstens vom Rande einer weichen Wolke aus alles beobachten könnte! Meinetwegen auch durch das schmutzige Fenster eines Ge fängnisses, durch ein winziges Guckloch – oder einfach irgendwie! Ganz gleich, wie die Umstände sein könnten – ich wünschte mir, dabeizusein, beobachten zu können, wie der Mensch eines Tages die Sterne erreicht. Wenn wir das Universum oder die Universen er obern, wenn wir fast wie der Gott werden, an den ich nicht glauben kann, weil es mir nicht eingehen will, daß er existieren kann, bevor wir so werden wie er. Aber da ich schon in so vielen Dingen unrecht
gehabt hatte, konnte ich mich auch hier wieder irren. Zeig mir doch, daß ich unrecht habe. Gott – zeig es mir doch! Beweise mir, daß M' bassi einen Grund hatte zu lächeln. Zeig dich, Gott, zeig dich und beweise mir, daß ich unrecht habe!
2001 »Von hier aus werden wir es besser sehen können, Billy«, sagte ich. Ich parkte das Heli hinter dem Hügel. Dann stiegen wir zu Fuß hinauf, auf einen der niedri gen Hügel, der das Gelände umgab. Fünf Uhr an einem wolkenlosen Oktoberabend. Die Son ne senkte sich bereits dem Horizont entgegen. Drei Stunden vor dem Start der Jupiter-Rake te. Aber es waren schon andere vor uns da und hatten sich die besten Stellen auf den Hügeln ausgesucht. Wenn die Rakete drei Minuten nach acht Uhr starten würde, in drei Stunden, dann würden alle diese niedrigen Hügel schwarz von Menschen sein. »Bist du auch sicher, Onkel Max, daß nicht unten am Zaun ...« »Nein, von dort aus würden wir es bei weitem nicht so gut sehen können.« Ich lächelte den Jungen an. »Ich weiß, daß du der Rakete mög lichst nahe sein möchtest, aber mach dir keine Sorgen. Eines Tages wirst du den Raketen nä her sein als dieser hier, selbst wenn du dich ganz dicht am Zaun aufstelltest.« Fünfzehn Meter hoch stand sie da, stolz und schön. Mein Gott, wie schön! Schlank und
schmal, glänzend und ... Aber es gibt keine pas senden Worte, mit denen man die Schönheit einer Rakete, einer neuen Ein-Mann-Rakete, beschreiben kann, noch dazu, wenn sie gleich hinausfliegen wird in den Raum. So weit, wie bisher noch kein Mensch gelangt ist. Hinaus zu einer anderen Welt, wieder einen Schritt nä her an unser Ziel heran. Ich konnte die Enttäuschung von Billys Ge sicht ablesen. Ich sagte: »Nun, wir haben noch eine Menge Zeit. Lauf rasch hinunter zum Zaun und sieh sie dir von dort aus genau an. Komm aber dann gleich wieder zurück. Den Start können wir von hier aus besser beobach ten.« Ich blickte ihm nach, wie er den Hügel hinab lief. Zehn Jahre alt war er jetzt. Gott, wie schnell waren doch die vier Jahre vergangen, seit ich zum erstenmal von dieser Rakete hier gehört hatte. Ellen Gallagher. Die Jahre verge hen sehr schnell, wenn es dem Ende zugeht. Fortschreitende Beschleunigung, genau wie bei einem Körper im freien Fall. Bin bald bei dir, Ellen, dachte ich. Gleichgültig, ob es noch zwei Jahre oder dreißig sein werden – sie wer den im Nu vorbei sein. Die Geschwindigkeit des Lichts? Sie ist nichts im Vergleich zur Ge schwindigkeit der Zeit.
Ich breitete die Decke aus und setzte mich darauf. Dabei beobachtete ich die Rakete, be obachtete Billy. Er stand nun dicht an dem ho hen Maschendraht des Zaunes und drückte sein Gesicht dagegen, um der Rakete so nahe wie nur irgend möglich zu sein. Ich sah mich selbst wieder – im Alter von zehn Jahren. Damals, im Jahre 1950, gab es noch keine interplanetaren Raketen. Wenn es aber welche gegeben hätte, damals in meiner Jugend, hätte ich sicher genauso davor gestan den wie der kleine Billy hier. Begeistert, erwar tungsvoll. Jetzt stand sie da, diese Rakete. Ich hatte das Gefühl, heulen zu müssen, weil sie zum Jupiter starten würde und ich nicht dabeisein durfte. Weinen, weil ich wieder eine Chance versäumt hatte. Aber mit 61 Jahren ist man zu alt zum Weinen. Du bist jetzt schon ein großer Junge, sagte ich mir selbst, um mich zu trösten. Die Sonne ging langsam unter. Sie sank wie ein glühender Feuerball hinter den gelben Ho rizont der sandigen Gegend von New Mexico. Mein Sohn kam den Hügel heraufgelaufen. Nein, nicht mein Sohn, aber beinahe mein ei gener. Er stiefelte den Hügel herauf, und in seinen Augen lag der Staub der Sterne. Er wür de auch ein Starduster werden, nein, er war
schon einer. Er setzte sich neben mich auf die Decke. Gemeinsam warteten wir auf den großen Augenblick. In seinen Augen lag ein verlorener, sehnsüch tiger Blick. Es war ein Blick, wie man ihn oft bei Spacemen sieht, die dazu verdammt sind, auf der Erde zu bleiben. Ein Blick wie bei ei nem Tier, das die Freiheit gewohnt ist, aber im Käfig sitzen muß. Es wurde düster um uns herum. Immer mehr Leute sammelten sich an. Die meisten von ih nen schwiegen. Wir alle schwiegen. Die Erwar tung dessen, was sich nun bald ereignen sollte, ließ uns verstummen. Durch die anbrechende Dunkelheit stachen die grellen Scheinwerfer unten im Gelände des Jupiter-Projektes. In dem Gelände, das ich ent deckt hatte, in dem schon einmal Raketen ge baut werden sollten, allerdings für einen weni ger schönen und reinen Zweck. Das Projekt G, welches zerschlagen wurde, bevor die erste Ra kete fertiggestellt war. Das Projekt Jupiter würde nicht zerschlagen werden. Jetzt nicht mehr. Dort unten war ein Mann, in dessen Augen dasselbe Licht leuchtete wie in Billys Augen, das Licht der Sterne. Er bereitete sich darauf vor, die arme zweidimensionale Erdoberfläche
zu verlassen, auf der dreidimensionale Wesen herumkriechen. Er würde nun bald in den Raum hinaus fliehen. Fliehen! Wie sehr hatten wir alle die Flucht aus dieser Enge hier nötig! Diese Notwendig keit war die Triebfeder fast aller großen Taten der Menschheit. Alles, was nicht nur aus dem Drang nach Sättigung entsprungen war, hatte seine Ursache in diesem Drang nach Freiheit. Er hat den Menschen auf seltsame Pfade ge führt, hat ihm Kunst und Religion, Askese und Astrologie, Tanz und Alkohol, Poesie und Wahnsinn gebracht. All das waren Fluchtwege, auf denen der Mensch sich selbst zu entfliehen versuchte – hinaus! Hinaus in die Unendlich keit, in die Ewigkeit, weg von der kleinen, fla chen oder – besser gesagt – leicht gewölbten Erdoberfläche, auf der wir geboren wurden und auch wieder sterben müssen. Eine Motte im Sonnensystem, ein Atom in der Galaxis. Ich dachte an die fernste Zukunft und an das, was wir dann besitzen würden. Meine wildes ten Wunschträume schied ich dabei als unan gebracht aus. Unsterblichkeit? Die hatte der Mensch dann sicher schon erreicht und spätes tens vierhundert Jahre später als unnötig wie der von sich geworfen. Umkehrung der Zeitbe
griffe, um das ganze Universum von neuem zu beginnen? Längst überholt, nachdem der Nola nismus und die konkurrierende Cognanz im quadratischen Dekal entdeckt wurde. Klingt das verrückt? Ja? Was würde beispielsweise ein Neandertaler zu dem Wort »Lichtquanten« sagen, oder zum Begriff der Materie-EnergieTransformation? Auch wir sind Neandertaler, verglichen mit unseren Nachfahren, die in hunderttausend Jahren leben werden. Selbst in den wildesten Hirngespinsten hinsichtlich ihrer möglichen Errungenschaften werden wir sie vermutlich noch weit unterschätzen. Die Sterne? Verdammt, ja! Sie werden die Sterne erreicht haben. Finster war es jetzt. Stockfinster. »Wie spät ist es jetzt, Onkel Max?« fragte Billy. »Noch vier Minuten, Billy.« Die Scheinwerfer wurden abgeschaltet. Ihr Licht erstarb in der Finsternis. Über das ganze Gelände verbreitete sich eine atemlose Stille, trotz der Tausende von Menschen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. O Gott, Ellen, wenn du jetzt hier neben mir stehen könntest! Wenn du sehen könntest, wie unsere Rakete startet. Unsere Rakete, hörst
du? Aber es ist mehr deine als meine. Du bist für sie gestorben. Hier, als ich wartend in der Finsternis stand, fühlte ich mich klein und demütig vor dieser Rakete. Demütig vor dir, Ellen, demütig vor den Menschen und vor der Zukunft. Und vor Gott, dessen Ebenbild der Mensch immer mehr werden muß.