Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 574 Das Sternenuniversum
Sternengeister von Hubert Haensel Rückkehr ins Ungewisse In...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 574 Das Sternenuniversum
Sternengeister von Hubert Haensel Rückkehr ins Ungewisse In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Bewohner und Crewmitglieder des Generationenschiffs SOL mannigfaltige Gefahren und Abenteuer bestehen müssen, wie die Aufzeichnung des Logbuchs eindeutig beweisen. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit der Zeit ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangt ist, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse eher zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3792 Solzeit, geht es bei den Solanern nicht nur mehr um bordeigene Belange und interne Machtkämpfe und Querelen – letztere wurden mit dem Amtsantritt von Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, gegenstandslos – sondern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es vordringlich um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. An der Einwirkung ebendieses Gegners liegt es auch, daß die Solaner gegenwärtig alles daransetzen müssen, um eine Rückkehr ins eigene, normale Universum zu bewerkstelligen. Sie unternehmen diesen Rückkehrversuch – und treffen auf DIE
STERNENGEISTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide begibt sich ins Nichts. Breckcrown Hayes - High Sideryt der SOL. Sanny - Die Molaatin entdeckt den »Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit«. Lucy Garbers und Fred Graebke - Zwei aus der Gruppe der »Tatendurstigen«. Krestar Merrym und Chart Deccon - Zwei Sternengeister.
1. In gewisser Weise war der Anblick des Sternenuniversums noch immer faszinierend. Und das obwohl man mittlerweile wußte, wie spärlich gesät in diesem Raum das Leben war. Atlan gab sich ganz dem Eindruck grenzenloser Einsamkeit hin. Nur sehr wenige Sonnen besaßen Planeten. Alles wirkte so … steril. Er fand keinen besseren Ausdruck dafür. Die SOL befand sich im relativen Stillstand zu den benachbarten Sternen, wenige Lichtjahre vom Aqua-System entfernt, dessen Sonne als winziger gelber Punkt auf den Schirmen zu erkennen war. Knapp zwei Tage lagen die dramatischen Ereignisse inzwischen zurück, aber die Erinnerung daran war frisch … Wieder eine zerstörte Hoffnung, wisperte Atlans Logiksektor. Der Arkonide verzog keine Miene, als er lautlos antwortete: Ich kenne die Solaner gut genug. Ihr Wille, eine Lösung für die Rückkehr zu finden, ist ungebrochen. Unser wirkliches Problem ist die Zeit. Atlan seufzte leise. Ich habe nicht vergessen, daß wir einem veränderten Zeitablauf unterliegen, auch wenn dessen tatsächliches Ausmaß verborgen bleibt. Leider war Federspiels telepathischer Kontakt mit seiner Zwillingsschwester zu unklar und zu kurz, um nähere Aufschlüsse zu geben. Du denkst daran, daß ein Rücksturz in unser Universum unter
umgekehrten Vorzeichen erfolgen könnte … Warum nicht? Was, Freund Atlan, wenn in Wirklichkeit tausend Jahre oder mehr vergangen sind? Selbst ein relativ Unsterblicher wie du sollte diese Spanne nicht mit einem Achselzucken abtun. Spekulationen! Gib dich keinen unerfüllbaren Erwartungen hin! Gerade jetzt, nachdem der Dimensionstransmitter und Aqua-I nicht mehr existieren. »Niemand hat deshalb den Mut verloren«, brauste Atlan auf. Ohne es eigentlich zu wollen, hatte er sich zu einer lauten Äußerung hinreißen lassen. Um so überraschter war er, als Breckcrown Hayes auf ihn zukam und ihm die Hand auf die Schulter legte. Mit der Linken deutete der High Sideryt auf den großen Panoramaschirm. »Das dort draußen ist eine fremde Welt. Selbst für uns Solaner, die wir den Weltraum Heimat nennen. Deshalb werden wir trotz aller Rückschläge nicht aufgeben. Dein ›Geist‹ ist es, der jedem ein konkretes Ziel gab und uns lehrte, daß in der Vergangenheit viele Fehler gemacht wurden.« Atlan nickte. »Es wäre schön, wenn alle so dächten.« »Dann höre dich um und du wirst erkennen, daß die Stimmung auf deiner Seite ist.« »So deutlich brauchst du ihm nicht zu sagen, was er mit Sicherheit schon weiß«, warf Lyta Kunduran ein. »Wie ich Atlan kenne, wälzt er ganz andere Probleme.« »Was kann es anderes geben als die Frage nach unserer Rückkehr?« Ungeduldig und voll versteckter Vorwürfe zugleich kam der Einwand einer jungen Frau. Atlan schätzte ihr Alter auf 18 Jahre. Sie war hübsch; langes blondes Haar fiel ihr offen bis auf die Schultern. Der Arkonide kannte sie nicht, er wußte nur, daß sie Jeanne hieß und für Curie van Herling arbeitete, die Chefin des
Funk- und Ortungspersonals. »Wir wollen doch zurück, oder?« Atlan schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, das sie unbeeindruckt ließ. »Die Jugend ist immer voreilig«, meinte Curie van Herling. »Nichts kann schnell genug gehen.« »SENECA«, sagte Breckcrown Hayes in diesem Moment, »wenn jemand eine Lösung aufzeigen kann, dann du.« »Nicht nur ich bin dazu in der Lage«, erklärte die Positronik. »Falls Sanny inzwischen zu Ergebnissen gelangt wäre, wüßten wir es«, bemerkte Hayes. »Vielleicht gibt es eine ebenso einfache wie logische Chance, uns aus dem Sternenuniversum zu befreien.« Atlan sah die Umstehenden der Reihe nach an. »Ein Dimensionstunnel erfüllt mit Sicherheit ähnliche Funktionen wie der Transmitter auf Aqua-I.« »Ich verstehe nicht.« Irritiert fuhr der High Sideryt sich mit der Hand durchs Haar. »Worauf willst du hinaus?« »Daß wir die SOL in ein Black Hole steuern müssen, um diesen Weltraum zu verlassen.« »Unmöglich!« platzte Gallatan Herts heraus. »Das auch nur zu versuchen, wäre reiner Wahnsinn.« »Es wäre praktisch Selbstmord«, pflichtete Uster Brick, der kleinere der beiden Chefpiloten, bei. »Ich bin derselben Meinung«, nickte Vorlan Brick. »Laßt Atlan zu Ende sprechen«, kam ein empörter Zwischenruf. »Sicher hat er über seine Vorschläge gründlich nachgedacht.« »Danke, Jeanne.« Der Arkonide bedachte die junge Frau mit einem nachdenklichen Blick. »Leider weiß ich bisher nur deinen Vornamen.« »Mandruga«, sagte sie. »Jeanne Mandruga. Meine Vorfahren waren schon an Bord, als die SOL sich zum erstenmal erhob.« Uster Brick winkte ab. »Du scheinst nicht zu wissen, welche Kräfte sich in einem Black
Hole wirklich austoben. Unser Schiff würde zwischen den Gravitationsfronten zerquetscht werden wie eine alte Dose im Mahlwerk der Wiederaufbereitungsanlage.« »Das ist nur bedingt richtig«, sagte eine weiche, warm klingende Stimme. Es war SENECA. Vorübergehend herrschte Stille, dann forderte Breckcrown Hayes lautstark: »Definiere diese Aussage näher.«
* Träge tropften die Sekunden dahin. Atlan glaubte die Erregung fast körperlich spüren zu können, die von den Anwesenden Besitz ergriffen hatte. »Warum antwortest du nicht, SENECA? Ich verlange eine sofortige Klarstellung!« Der High Sideryt blieb gelassen. Immerhin war es in letzter Zeit nicht mehr vorgekommen, daß die Biopositronik sich störanfällig zeigte. Mit einer flüchtigen Handbewegung heischte Atlan um Ruhe. Dann, als niemand mehr redete, wandte er sichanSENECA: »Ist es die Erinnerung, die dich bedrückt? Damit hilfst du niemandem, am allerwenigsten dir selbst.« »Das wüßte ich aber.« Ein Lächeln huschte über Atlans Züge. »Na also. Du hast längst erkannt, was wirklich zählt. Oder willst du wieder in jenen Zustand verfallen, den du erst vor kurzem überwunden hast?« SENECA antwortete völlig überraschend mit einer Gegenfrage. »Weißt du, Arkonide, was Perry Rhodan damals fühlte, vor mehr als zweihundert Jahren, als er an genau derselben Stelle stand, wie
du jetzt?« »Nein«, machte Atlan. »Der Terraner erschauderte, wenn er daran dachte, daß die SOL ein Spielball im Zusammenwirken unbekannter universeller Mächte war«, ließ SENECA wissen. »Das interessiert mich herzlich wenig«, rief Jeanne. »Was ist mit dem Schwarzen Loch? Können wir unbeschadet hindurchfliegen oder nicht?« »Nein!« stellten Vorlan und Uster Brick wie aus einem Munde fest. »Wir können«, sagte Atlan. Jeanne Mandrugä seufzte. »Wenn das so ist, will ich genau wissen, was im Innern eines Black Hole geschieht.« »Mit wenigen Worten läßt sich das schwer beschreiben«, meinte Gallatan Herts, der Leiter der Hauptzentrale. »Im Haushalt jeder beliebigen Sonne halten sich zunächst Strahlungsdruck und Schwerkraft die Waage. Die Energie, die dieser Strahlung innewohnt, stammt aus im Innern des Sonnenkerns stattfindenden Fusionsprozessen, zum Beispiel der Verschmelzung von zwei Wasserstoffkernen zu einem Heliumkern. Das scheint ein Ewigkeiten währender Vorgang zu sein, dennoch wird eines Tages der Vorrat an fusionsfähigen Elementen aufgebraucht sein. Als Folge davon erlischt der Strahlungsdruck, was wiederum bedeutet, daß die Gasmassen der äußeren Hülle nach innen stürzen. Durch die gleichzeitig freigesetzte kinetische Energie wird die Fusion mehrmals wieder in Gang kommen, schließlich aber ist die Sonne gänzlich ausgebrannt, wobei ungeheure Dichten auftreten können. In manchen Fällen mag die Gravitation an der Oberfläche einer erloschenen Sonne so gewaltig sein, daß in unmittelbarer Nähe befindliche Systeme verschlungen werden. Und irgendwann wird die Fluchtgeschwindigkeit so groß, daß nicht einmal mehr ein Lichtstrahl den Anziehungsbereich verlassen kann.« »Demnach ist ein Black Hole noch immer ein massiver Körper«,
zog Jeanne Mandruga die Folgerung. »Selbst wenn durch die Schwerkraft die Raumkrümmung beeinflußt wird, ist deshalb kein Durchgang geschaffen.« »Es war am 30. August 3578, als die damalige Besatzung der SOL sich notgedrungen dazu entschloß, in ein Schwarzes Loch einzufliegen, um auf diese Weise vielleicht der Vernichtung zu entgehen«, berichtete SENECA. »Die Große Schwarze Null, wie das Black Hole von den Keloskern, einem die siebendimensionale Mathematik beherrschenden Volk, zutreffend genannt wurde, hatte den Untergang der Kleingalaxis Balayndagar verursacht. Und infolge verschiedener Umstände hatten wir zu lange gezögert, die Flucht zu ergreifen. Die Wahrscheinlichkeit einer Rettungsmöglichkeit war nicht mehr erkennbar, die Triebwerke, obwohl auf Vollast laufend, vermochten das Schiff nicht mehr zu bewegen. Dobrak, der Rechner der Kelosker, erkannte den Fehler als erster. Anstatt den Sturz in die Große Schwarze Null zu verhindern, hätten wir uns deren überdimensionale Kraft zunutze machen sollen.« Auf den Bildschirmen wechselte plötzlich die Wiedergabe. Jeder wußte auch ohne SENECAS Erklärungen, was er zu sehen bekam. Es war das Ende von Balayndagar. In Gruppen wurden die Sterne von dem schwarzen, lichtlosen Moloch aufgesogen und ausgelöscht. Der gleichen materiellen Auflösung mußte auch die SOL zum Opfer fallen – eine Apokalypse von unbeschreiblichem Schrecken. Das Verderben griff nach dem Schiff, fraß sich unaufhaltsam heran … Keine halbe Minute hatte die Aufzeichnung gedauert, trotzdem schauderten die Solaner. »Als das erste Besatzungsmitglied die Besinnung wiedererlangte«, fuhr SENECA fort, »zeigten die Borduhren den 3. Januar 3581. Die SOL befand sich innerhalb eines Dimensionstunnels, anders ausgedrückt, in einer begrenzten Strömung n-dimensionaler
Energien. Dobraks Theorie ging von Anfang an dahin, daß bei jeder Großen Schwarzen Null durch das Aufnehmen ganzer Sonnensysteme eine Übersättigung auftreten kann, wobei die überschüssigen Energien durch einen Aufrißkanal oder Dimensionstunnel abgegeben werden. Auf diese Weise gelangten sogar Sonnen und Planeten in die sogenannte Endstufenballung, vorausgesetzt, daß es sich um extrem starke 5-D-Strahler handelte. Wie selten dieser Fall eintritt, beweist die Tatsache, daß zusammen mit der SOL kein Stern aus Balayndagar den rettenden Sprung geschafft hatte. Und wir beendeten diese Reise ins Ungewisse auch nur dank unserer Absorptionsfelder in halbstofflichem Zustand.« »Ein Übergang ist also tatsächlich möglich«, staunte Vorlan Brick. SENECA fuhr in seiner Erläuterung fort, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Knapp dreitausend Sterne und etwa sechzig Planeten erwarteten uns – und eine raumfahrende Rasse, die sich Zgmahkonen nannte. Insgesamt existierten achtzehn Dimensionstunnel, die mit Black Holes im Einsteinuniversum verbunden waren. Aber jeweils nur ein Teil dieser Aufrißkanäle war aktiv. Andere Schwarze Löcher, die nicht so stark mit 5-D-Energie angereichert waren, besaßen keine Verbindung zur Endstufenballung.« »Das bedeutet also«, zog Breckcrown Hayes die Folgerung, als SENECA geendet hatte, »daß, selbst wenn wir im Sternenuniversum ein Black Hole vorfinden sollten, auch dann keineswegs sicher ist, ob wir den Flug der SOL von damals wiederholen können.« »Es bleibt ein Risiko«, nickte Atlan. »Aber uns bietet sich endlich eine reelle Chance.« Jeanne Mandruga gab sich schon wieder voll Eifer und Tatendrang. »Die SOL hat seinerzeit fast zweieinhalb Jahre verloren«, warnte Curie van Herling. »Daran denkt wohl keiner.« Lyta Kunduran vollführte eine abwürfige Handbewegung. »Weißt du, welcher Zeitverschiebung wir bereits unterliegen? Sie kann den Faktor zehn betragen aber auch zehntausend. Mir
jedenfalls ist es egal, wann wir zurückkommen. Die Hauptsache ist, wir kommen zurück.« »Das meine ich auch«, pflichtete der High Sideryt bei.
* »Findest du nicht auch, Hage, daß Sanny reichlich dumme Fragen stellt?« Dem Galakto-Genetiker war der Ausspruch seines Roboters sichtlich peinlich. Verlegen zwirbelte er an seinem Schnauzbart herum. »Höre nicht darauf, Sanny. Ich hätte ihn verschrotten sollen, anstatt ihm diese neue Gestalt zu geben.« Die Molaatin winkte ab. »Ich weiß, wie Blödel es meint«, erwiderte sie. »So unrecht hat er nicht einmal.« Der Roboter musterte Sanny mit seinem einzigen, in der Mitte des Kopfes befindlichen Auge. Dann fuhr er einen seiner dünnen Arme aus und kratzte sich, wie Hage Nockemann es eben getan hatte, am Bart, der bei ihm allerdings aus grünen Plastikhaaren bestand. Nicht nur dieser Bart war seltsam für einen Roboter. Der kauzige Galakto-Genetiker hatte Blödel recht merkwürdig gestalten lassen. Mit einer Größe von 1,68 Meter war der Laborroboter um einen Zentimeter kleiner als Nockemann. Spötter behaupteten, daß darin ein gewisser Minderwertigkeitskomplex des Wissenschaftlers zum Ausdruck kam, denn zweifellos war die bewegliche Hochleistungspositronik ihm rechnerisch überlegen. Andererseits schreckte er aber nicht davor zurück, Blödel sich selbst ähnlich zu machen, was der grüne Plastikbart hinreichend bewies. Der röhrenförmige Leib des Roboters besaß einen Durchmesser von nur 34 Zentimetern und war mit Klappen für ausfahrbare Instrumente aller Art versehen. Blödel konnte selbständig denken
und handeln, konnte chemisch und biologisch analysieren. Waffen besaß er keine. Nockemann war wohl der Meinung gewesen, seinem Gehilfen in dieser Hinsicht nicht vertrauen zu dürfen. Sämtliche Wahrnehmungssensoren befanden sich im Kopf des Roboters, der mit einer Höhe von nur neun Zentimetern klein ausgefallen war. Zwei Zentimeter maß der Hals, jeweils fünfunddreißig waren die Beine lang. Das einzige Sichtbare, worin Blödel seinen Herrn übertraf, waren die Arme, deren Länge ausgefahren immerhin zwei Meter betrug. Die meiste Zeit über baumelten sie jedoch als kurze Fortsätze an seinem Körper herab. Hage Nockemann stieß den Roboter mit der Faust an. »Willst du Sanny nicht antworten?« fragte er. Blödel rasselte Informationen herunter, die ausschließlich das Sternenuniversum betrafen. Da war die Rede von der geringsten Entfernung der Sonnen zueinander, aber auch von ihrem höchstmöglichen Abstand, von der gegenseitigen Massenanziehung, die – in kosmischen Maßstäben gesprochen – sehr schnell einen Komprimierungsvorgang einleiten mußte. Der Wissenschaftler hatte Mühe, seinem Roboter bei allen Ausführungen zu folgen. Als Blödel geendet hatte, schwieg auch Sanny. So ging es seit Stunden. Die Molaatin wollte Daten wissen oder zumindest wiederholt bekommen, die inzwischen allgemein bekannt waren. Manche ihrer Fragen gaben Rätsel auf. Ihr Interesse galt neben den scheinbar unwichtigsten Fakten über das Sternenuniversum unter anderem auch dem Grund des Hierseins der SOL. »Hidden-X versucht, uns aus seinem Einflußbereich zu entfernen«, murmelte Sanny vor sich hin. »Das bedeutet, daß er jeden technisch gangbaren Weg für eine Rückkehr in unser eigenes Universum unterbinden muß.« »Weshalb drückst du dich nicht einfacher aus?« warf Blödel ein. »Hage würde jetzt sagen, daß Hidden-X uns auf Eis legen …«
In einem Anflug gespielter Verzweiflung rollte der Wissenschaftler mit den Augen. »Von wem hast du nur diese Redensarten? Oder nein – sage es lieber nicht, ich weiß schon.« Anstelle eines Kopfnickens beugte Blödel seinen röhrenförmigen Körper nach vorne. Die Molaatin lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst. Sie ließ sich nicht ablenken. Die drei befanden sich in Sannys Unterkunft in SOL-City. Hage Nockemann hatte in einem selbst für seine Körpergröße viel zu kleinen Sessel Platz genommen, während sie auf ihrer Liege lag. Lediglich der Roboter tippelte immer wieder von einem Ende der Kabine zum anderen. Plötzlich blieb er stehen und richtete sein Auge ruckartig auf den Wissenschaftler. »Weißt du, was sie tut?« fragte er leise. »Allmählich kann ich Teile ihrer Überlegungen nachvollziehen«, erwiderte Nockemann ohne erkennbare Regung. »Ich glaube«, sagte Blödel, »daß Sanny die Grundlagen für eine hochkomplizierte paramathematische Berechnung sammelt.«
* Die Suche nach einem Black Hole verlief ergebnislos. Zumindest im Umkreis von mehreren Millionen Lichtjahren um die SOL waren weder außergewöhnliche energetische Erscheinungen noch größere Massenansammlungen oder gravitationelle Störfronten anzumessen. »Da an SENECAS voller Funktionsfähigkeit nicht zu zweifeln ist«, stellte Breckcrown Hayes schließlich fest, »müssen wir uns wohl oder übel damit abfinden, keinen einzigen Schritt weitergekommen zu sein.« »Hat es einen Sinn, den Standort zu wechseln?« wollte Lyta
Kunduran wissen. Die Hyperinpotronik meldete sich spontan. »Nach den letzten Erkenntnissen, die unter den Gesichtspunkten einer gezielten Suche zustande kamen, bietet ein Weiterflug nur wenige Erfolgsaussichten. Abgesehen davon besitzt die SOL nicht mehr ganz die Befähigung wie seinerzeit in Balayndagar, den Sturz durch ein Black Hole schadlos zu überstehen. Da wir über keine Emotionauten verfügen, dürfte es schwerfallen, das Schiff sicher durch einander überlappende Gravitationsfronten zu steuern.« Mit der Faust schlug Gallatan Herts auf sein Schaltpult. »Warum machst du diese Einschränkung erst jetzt?« fuhr er auf. In SENECAS Antwort schien ein Hauch von Belustigung mitzuschwingen. »Weil jemand anderes an Bord in seinen Berechnungen dem Ziel inzwischen wesentlich näher gekommen ist. Hage Nockemanns Laborroboter hat mich vor wenigen Augenblicken von SOL-City aus davon in Kenntnis gesetzt.« »Also doch Sanny«, entfuhr es Breckcrown Hayes. Weiter kam er nicht, weil gleichzeitig der Interkom ansprach. Auf dem Monitor wurde der Ausschnitt einer kleinen Kabine sichtbar – und Nockemanns Stimme ertönte. Er selbst blieb außerhalb des Erfassungsbereichs der Optik. »Ich glaube«, begann der Wissenschaftler überaus zuversichtlich, »unsere Tage im Sternenuniversum sind gezählt.« »Was hat die Molaatin berechnet?« wollte Hayes wissen. »Wieso? Wie kommst du …? Ach, Blödel hat geplaudert, dieses vorlaute Monstrum.« Ein verschwitztes, faltiges Gesicht, eingerahmt von grauen Haarsträhnen, zeigte sich auf dem Schirm. »Atlan«, erklang eine Stimme aus dem Hintergund, »ich habe den ersten Teil meiner Berechnungen ausgeführt. Das Ergebnis ist besser, als selbst ich es erwartete. Demnach muß es in jeder Dimension oder Raumebene einen Ort geben, den ich als Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit bezeichne. Selbst dieses vermutlich
kleine Sternenuniversum besitzt mindestens einen solchen Ort.« »Die absolute Unwahrscheinlichkeit …«, sinnierte der Arkonide. »Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, was du damit zum Ausdruck bringen willst.« »Es ist schwer zu beschreiben für jemanden, der die Paramathematik nicht beherrscht.« »SENECA?« »Ohne die Ansatzpunkte zu kennen, sind mir selbst teilweise Erklärungen ummöglich.« »Dann versuche wenigstens du es, Sanny.« »Ich … kann nicht. Es fällt mir schwer, die passenden Worte zu finden, weil es für vieles keine Umschreibung gibt.« Oder sie will nicht, dachte Atlan. Du hast vor, zu ihr zu gehen? erkundigte sich der Extrasinn. Was bleibt mir anderes übrig?
* Mit halb geschlossenen Augen kauerte Sanny auf ihrer Liege, als Atlan eintrat. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen. Kaum merklich schüttelte Hage Nockemann den Kopf und legte dabei einen Finger auf die Lippen. Sanny murmelte leise vor sich hin. »Wie groß ist das Beschleunigungsvermögen der SOL?« wollte sie wissen. Atlan nannte die betreffenden Zahlen, woraufhin sie die Augen aufschlug und ihn überrascht musterte. »Die Reichweite?« »Unbegrenzt, solange wir in der Lage sind, unsere Vorräte aufzufüllen. Vor allem …« »Danke, aber das ist uninteressant.« »So geht es schon geraume Zeit«, bemerkte Hage Nockemann. »Sanny könnte einem unheimlich werden.«
»Was hat sie gemeint, als sie vom ›Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit‹ sprach?« Der Galakto-Genetiker zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Irgendwie muß es mit einer durchaus realen Möglichkeit zusammenhängen, das Sternenuniversum zu verlassen.« Ruckartig setzte Sanny sich auf und sah sich herausfordernd um. »Jeder Raum ist in sich gekrümmt«, sagte sie, »und von Schwerkraftfeldern durchzogen, die diese Krümmung aufrecht erhalten. Wenn man einen Stein schräg aufs Wasser wirft, prallt dieser infolge der Oberflächenspannung ab und springt davon. Er wird erst versinken, wenn er, der Schwerkraft folgend, steiler auftrifft.« »Du meinst, wir sind dieser Stein.« Sanny nickte. »Wir – und alles, was von uns ausgeht. Also auch die Ortungsstrahlen, die wir aussenden. Sie werden von der Raumkrümmung des Sternenuniversums zurückgeworfen, ohne jene Zonen anmessen zu können, an denen Gravitationswirbel oder energetische Besonderheiten überdimensionaler Natur die ansonsten festgefügte Struktur aufweichen.« »Die Erklärung erscheint mir zu banal«, stellte Blödel unumwunden fest. »Dahinter steckt zweifellos mehr, als deine Worte erkennen lassen.« »Ich habe versucht, zumindest einige meiner Überlegungen anschaulich dazustellen«, sagte die Molaatin. »Kannst du einen der Orte lokalisieren, die uns eine Rückkehr ermöglichen sollen?« wollte Atlan wissen. Sanny zeigte sich unschlüssig. »Wir gelangten ohne unser Zutun in das Sternenuniversum. Das beweist, daß eine Verbindung zwischen beiden Welträumen, dem unseren und diesem hier, besteht.« »… oder bestanden hat«, sagte Nockemann lakonisch.
Die Molaatin ging nicht darauf ein. »Primär geht es darum«, fuhr sie fort, »jenes Tor wieder aufzustoßen, das sich hinter uns geschlossen hat.« »Sofern Hidden-X uns gewähren läßt.« Die Erwähnung des noch immer unbekannten Gegners war schuld daran, daß Atlan unwillkürlich zusammenzuckte. Allmählich begann er zu verstehen, was Sanny versuchen wollte, aber er zweifelte an der Realisierbarkeit ihres Vorhabens. Die kleine Molaatin hat eines außer acht gelassen, stellte sein Logiksektor fest. Die Zeit. Jegliche Bestimmung ist unklar. Danke, dachte Atlan, und laut sagte er, an Sanny gewandt: »Die Zeitverschiebung, der wir unterliegen, dürfte bei deinen Berechnungen auch eine Rolle spielen. Vielleicht sollen wir SENECA hinzuziehen, um die tatsächliche Abweichung näher einzugrenzen.« »Theoretisch können Jahrtausende vergangen sein, während wir nur um wenige Wochen alterten.« »Jahrtausende?« Hage Nockemann wurde sichtlich blaß. »Bisher dachte ich, daß wir der Zeit im Heimatuniversum möglicherweise um einige Wochen oder gar Monate voraus sind. Aber das …« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Was erwartet uns, wenn wir wirklich zurückkehren?« Gelassen winkte Sanny ab. »Das Sternenuniversum besitzt seine Eigenzeit, und das genügt mir.« »Dann müßte es möglich sein zu berechnen, wieviel Zeit unbemerkt verflossen ist.« »Ich weiß es nicht, Atlan. Jede andere Antwort, die ich dir geben würde, könnte falsch sein. Zum einen interessiert mich diese Frage nur am Rand, denn sie lenkt mich von meiner eigentlichen Aufgabe ab, zum anderen hat kein Zeitablauf etwas mit der Suche nach dem möglichen Ort des Übergangs zu tun.« Indem sie sich wieder zurücklegte, gab Sanny zu verstehen, daß zumindest sie die Diskussion als abgeschlossen betrachtete.
»Ich brauche eine Weile der Ruhe, um die nächste Teillösung zu finden«, sagte sie. Es war jetzt 21.40 Uhr Bordzeit. Man schrieb den 7. Oktober des Jahres 3792. Daß dieses Datum falsch war, wußte mittlerweile jeder. Trotzdem hatte man es beibehalten. Obwohl ein anstrengender Tag hinter ihm lag, verspürte Atlan keine Müdigkeit. Die Impulse seines Zellaktivators wirkten belebend. Seine Gedanken schweiften ab. Balayndagar … Die Große Schwarze Null, alles verschlingend, unheimlich … Er sah das Geschehen vor sich, als wäre er selbst dabeigewesen. Doch zu jener Zeit weilte er in der heimischen Milchstraße, während Perry Rhodan die SOL befehligte. Zusammengesunken kauerte Nockemann in seinem Sessel, den Kopf halb zur Seite gelegt. Er schlief – und schnarchte. Sanny regte sich ebenfalls nicht. Mitternacht kam näher. Im Schiff kehrte Ruhe ein. Nur die wichtigsten Stationen waren noch besetzt. »Atlan«, sagte Sanny überraschend. »Wie schätzt du Hidden-X ein?« »Meine Antwort ist wichtig für deine Berechnungen?« »Zum Teil, ja.« »Mir wäre wohler, wenn wir mehr wüßten. Unser Gegner mag krank sein oder von Grund auf schlecht, seine Handlungsweise kann auch einer eigenen Art von Ethik entspringen. Auf jeden Fall sollten wir uns hüten, vorschnell zu urteilen.« Mit Riesenschritten eilte die Zeit dahin. Atlan sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Ein oder zwei Stunden Schlaf würden auch ihm guttun. Doch jäh wurde er aufgeschreckt. »Ich schaffe es nicht«, rief Sanny enttäuscht aus. Hage Nockemann fuhr hoch.
»Was ist?« krächzte er. »Ich kann nur Spekulationen anstellen und mehr oder weniger herumrätseln. Jedesmal wenn ich glaubte, das Ergebnis greifbar vor mir zu haben, schlichen sich Fehler ein, die alles veränderten. Ich besitze noch keine ausreichenden Informationen.« »Die lassen sich beschaffen«, meinte Atlan. »Selbst wenn wir einige Tage dafür benötigen, was ist das schon?« Die Molaatin winkte ab. Weder Atlan noch Nockemann hatten sie zuvor in einem solchen Zustand gesehen. Sie wirkte unendlich müde. »Du wirst es schaffen«, erklärte der Wissenschaftler. »Willst du mich trösten? Das ändert nicht, daß ich versagt habe.« Sanny warf sich herum und vergrub den Kopf zwischen ihren Armen.
2. Atlan war es, als verspürte er einen schwachen Luftzug. Ein Hauch von Weltraumkälte ließ ihn frösteln. Gleichzeitig bemerkte er, daß Nockemanns Blick starr wurde. Der Wissenschaftler stierte auf etwas, das sich hinter dem Arkoniden befand. Sanny hatte sich beruhigt. Sie hob den Kopf; ein Lächeln huschte über ihre Züge. »Chybrain«, wisperte es, und die leise, melodische Stimme schien von überallher zugleich zu kommen. »Chybrain, Chybrain …« »Helft ihm!« forderte Sanny. Langsam wandte Atlan sich um. Er erschrak. Das Kristallei hatte sein fahlrosa bis hellgrünes Leuchten verloren. Der mattgraue Schimmer, der ihm jetzt anhing, besaß etwas Abschreckendes. Das Gebilde aus nahtlos ineinander übergehenden sechseckigen Flächen, 18 Zentimeter hoch, 11 Zentimeter dick und von der Form
eines Eies, torkelte auf den Arkoniden zu. »Nicht!« rief Sanny aus, als Atlan unbewußt eine abwehrende Bewegung machte. »In diesem Zustand würdest du ihn erschrecken. Was er braucht, ist Zuneigung.« Hage Nockemann kam sichtlich interessiert näher. Das Kristallei wartete regungslos, bis er heran war, und hüpfte in Richtung Sanny davon. Ein leises Kichern wurde vernehmbar, brach jedoch abrupt ab. Chybrains Flug war mehr ein unkontrolliertes Torkeln als jenes schwerelose Schweben, das er bei früheren Begegnungen gezeigt hatte. »Hetzt ihn nicht«, stöhnte Sanny. »Er muß sich ausruhen.« Der Galakto-Genetiker stieß einen unverständlichen Laut aus. Mit beiden Händen faßte er sich an die Schläfen und schüttelte den Kopf, als gelte es, einen bösen Traum zu vertreiben. »Entweder phantasiere ich bereits, oder du weißt mehr über Chybrain, als du zugibst.« »Ich habe damit gerechnet, daß er kommen würde.« Zitternd verharrte das Kristallei unmittelbar vor der Liege, dann plumpste es in Sannys Schoß. Liebevoll begann sie, Chybrain zu streicheln. »Verstehst du das?« wandte Nockemann sich an Atlan. »Er ist müde von der Jagd«, erklärte die Molaatin. »Das ergeht allen Kindern so. Wahrscheinlich hat er zuviel gespielt.« »Kinder«, ächzte Nockemann. »Ich gebe es auf.« Atlan versuchte Chybrain ebenfalls zu berühren, aber seine Hände glitten durch das Kristallei hindurch, als sei es nicht materiell. »Was verbindet euch?« wollte Nockemann von Sanny wissen. »Wieso kannst nur du Chybrain anfassen?« »Ich empfinde Freundschaft für ihn und Mitgefühl«, erwiderte die Molaatin. »Ihr mögt ihn für klein halten, im Verhältnis zu mir ist er groß. Aber er besitzt trotzdem kein Gewicht.« Spielerisch hob sie das Kristallei mit einer Hand in die Höhe.
Einige der Sechsecke leuchteten in den gewohnten Farben auf. Das Grau wurde für die Dauer weniger Augenblicke verdrängt, gleich darauf war jedoch alles wieder wie zuvor. »Chybrain meint, er habe sein Gewicht im anderen Universum gelassen«, sagte Sanny. »Wo immer das sein mag.« »Willst du damit behaupten, daß er eben zu dir gesprochen hat?« Atlan setzte sich neben Sanny. Er schaute zu, wie sie Chybrain streichelte. »Was hat er dir sonst noch erzählt?« wollte er schließlich wissen. »Nicht sehr viel. Nur daß er nicht versteht, weshalb Wöbbeking ihn fangen will.« Dem Arkoniden waren beide Aussagen rätselhaft. Er bemerkte, daß auch Nockemann sich Gedanken machte. Plötzlich stieß Sanny einen spitzen Schrei aus. »Ich hab's«, rief sie. »Wir sollten Chybrain dankbar sein. Unbewußt hat er mir durch die Erwähnung seines Gewichts den letzten entscheidenden Hinweis gegeben, den ich für meine Berechnungen brauchte. Atlan, ich muß sofort in die SPARTACTeleskopkuppel!« »Was hast du herausgefunden?« »Nicht jetzt. Später, wenn ich meiner Sache völlig sicher bin.« Als Sanny sich erhob, stieg Chybrain schwankend von ihren Händen auf. »Komm!« forderte die Molaatin, aber der Kristall reagierte nicht. Statt dessen ließ es sich da nieder, wo sie eben noch gesessen hatte. »Er ist erschöpft«, behauptete Sanny. »Lassen wir ihm seinen Willen.«
* Sanny und ihre Begleiter benutzten den Transmitter in SOL-City. Um mit Hilfe der Antigravschächte und Laufbänder das immerhin fast drei Kilometer entfernte SPARTAC-Energieteleskop zu
erreichen, hätten sie mehr Zeit benötigt. An Bord herrschte Dämmerung. Zwar ging es auf den Morgen zu, dennoch begegnete man in der SZ-1 nur wenigen Solanern. Für den Rest des Weges benutzten die vier den zentralen Antigravschacht. Als sie den Lift auf der Höhe der astronomischen Abteilung verließen, wurden sie bereits von Deborah Kerron, der Leiterin des Hauptobservatoriums, erwartet. »Wajsto Kölsch hat mich unterrichtet«, sagte sie. »Um was geht es?« »Nichts Konkretes«, antwortete Sanny schnell. »Zunächst jedenfalls. Ich muß nur die Möglichkeit haben, über sämtliche technischen Einrichtungen zu verfügen.« Deborah Kerron nickte. »Das wird sich machen lassen, denke ich. Zwar sind unsere eigenen Beobachtungen des Sternenuniversums noch nicht abgeschlossen …« »Die Speicherdaten werde ich unter Umständen ebenfalls benötigen«, unterbrach die Molaatin. »Stehen sie zum Abruf bereit?« »Die Wiedergabe ist über jede Kommunikationsstelle möglich. Was die Direktbeobachtung betrifft, nehme ich an, daß keiner von euch das Hyperskop sachgerecht bedienen kann.« »Du wirst uns die Funktion erklären«, meinte Sanny. »Ich bin seit zwölf Stunden ununterbrochen im Dienst«, erwiderte Deborah Kerron. »Glaube nicht, daß ich auch meine Ruheperiode opfere. Immerhin erfordert die manuelle Bedienung der Präzisionsinstrumente höchste Konzentration.« Sie betraten die Zentrale des Observatoriums. Speicherbänke an den Wänden zeichneten auf, was die Bildschirme wiedergaben. Eine kleine gelbe Sonne stand wenige Lichtjahre vor der SOL; schwach spiegelte sich ihr Schein auf der Außenhülle des Schiffes wider. »Ich möchte in die Teleskopkuppel«, sagte Sanny. »Es ist anders, den Weltraum unmittelbar beobachten zu können, als lediglich eine Bildkonserve zu betrachten.«
»Mir ist bisher kein Unterschied aufgefallen.« Deborah Kerron war erstaunt. »Sanny reagiert mehr instinktiv«, stellte Atlan fest. »Wenn ich wenigstens wüßte, wonach sie sucht.« »Das weiß sie selbst noch nicht«, bemerkte Blödel, der sich bisher schweigsam verhalten hatte. Kaum hatten sie die Kuppel betreten, als Sanny hinter dem Okular eines auf optischer Basis arbeitenden Teleskops Platz nahm. Deborah Kerron wollte einige Korrekturen der Einstellung vornehmen, aber die Molaatin winkte ab. »Danke«, sagte sie, »das habe ich inzwischen berechnet.« Atlan wandte sich an die Astronomin. »Wahrscheinlich wird sich während der nächsten Stunden nicht sehr viel tun. Ich denke, wir können vorerst auf dich verzichten.« Deborah Kerron verzog die Mundwinkel zu einem säuerlichen Lächeln. »Geh ruhig«, sagte auch Hage Nockemann. »Wir finden uns schon zurecht.« »Dann schicke ich euch einen meiner Assistenten. Malcolm Brady arbeitet noch nicht lange in meiner Abteilung, aber er versteht sein Handwerk und ist immer begierig darauf, Neues zu lernen.« »Genau das brauchen wir«, bemerkte Blödel ungefragt. Sanny schaltete schnell und ohne den Blick nur einmal den Kontrollen zuzuwenden. Auf einem kleinen Monitor konnten ihre Begleiter verfolgen, welche Objekte sie jeweils einer näheren Betrachtung unterzog. Dabei sprang sie scheinbar ziellos von Stern zu Stern und verharrte nur gelegentlich länger beim Anblick auffälliger Konstellationen. Nach der anfänglich an den Tag gelegten Hektik, versank die Molaatin schnell in tiefe Nachdenklichkeit. Nur hin und wieder stöhnte sie bedrückt auf. Der einzige, den die eingetretene Ruhe zu stören schien, war Blödel.
»Geht es dir auch wirklich gut?« wollte er wissen. Sanny erwiderte nichts darauf. Sie schien seine Bemerkung vollkommen überhört zu haben. Von allen unbemerkt hatte ein junger Mann den Raum betreten. Er mochte etwa zwanzig Jahre alt sein, war mittelgroß und trug das Haar kurzgeschoren. In krassem Gegensatz dazu stand allerdings der dichte Vollbart, der sein Gesicht umrahmte. »Ich bin Malcolm«, sagte er. Seine Augen fixierten die Anwesenden der Reihe nach. »Deborah Kerron schickt mich.« Jetzt wandte sich auch Sanny um. »Du kannst mir zur Hand gehen. Ich benötige Einstellungen auf die entfernteren Gebiete des Sternenuniversums, so ab zehn Millionen Lichtjahre. Vergleichende Daten sollte das Hyperskop liefern.« In rascher Folge wechselten auf den Bildschirmen optische Aufnahmen mit Rasterbildern und Ortungsdaten. Die Flut an Informationen, die innerhalb von zwei Stunden auf diese Weise zu verarbeiten war, mochte selbst für Sannys paramathematische Gabe zu groß sein. Aber kein einziges Mal ließ sie in ihrer Aufmerksamkeit nach. »SENECA«, rief sie schließlich und wischte sich mit den Handrücken den Schweiß von der Stirn, »ich nehme an, du hast alles mitverfolgt.« »Du benötigst abschließende Daten, welche die astronomische Abteilung nicht liefern kann?« erwiderte die Biopositronik. »Sieh einer an«, sagte Blödel. »SENECA ist nicht einmal eifersüchtig auf unsere Rechenkünstlerin. Dabei ist sie drauf und dran, ihm den Rang abzulaufen.« »Blödel«, fuhr Hage Nockemann auf. »Jetzt reicht es. Sei endlich still.« Sanny störte sich an all dem nicht im geringsten. »Ich muß wissen, wo im Sternenuniversum die SOL aufgetaucht ist«, verlangte sie.
SENECA nannte die betreffenden Daten, woraufhin die Paramathematikerin abermals überaus nachdenklich wurde. Nach einer Weile schreckte sie auf. »Ich habe den nächsten Abschnitt der Berechnungen geschafft. Gestern sprach ich vom ›Ort der absoluten Unwahrscheinlicnkeit‹. Nun, die Koordinaten an denen die SOL auftauchte, sind der Gegenpol dazu – die unrichtigste Stelle überhaupt, weil das Sternenuniversum uns in Wirklichkeit nicht wollte. Immerhin hat Hidden-X uns gewaltsam und entgegen jedes Naturgesetz hierher verbracht.« »Was bezeichnest du als ›unrichtig‹?« fragte Hage Nockemann. Sanny versuchte es ihm zu erklären, aber ihren mathematischen Deutungen vermochte selbst Blödel nicht zu folgen. »Hör auf damit«, bat Nockemann schließlich. »Das alles ist zu verwirrend.« »Die Zusammenhänge bleiben in der Tat unverständlich«, meinte auch Atlan. Doch Sanny gewann mehr und mehr an Sicherheit. Nach den letzten Daten, die über die Bildschirme huschten, lehnte sie sich erleichtert zurück. »Vielleicht kann SENECA Sannys Ausführungen auf verständliche Weise wiedergeben«, behauptete Blödel. »Sei still!« herrschte die Molaatin ihn an. »Wieso?« »Weil ich Ruhe brauche.« »Hattest du nicht lange genug …« Die Stimme des Laborroboters brach mitten im Satz ab. Mit einem blitzschnellen Griff hatte Nockemann dessen Sprechsystem abgeschaltet. Sanny brach der Schweiß aus allen Poren. Sie zitterte. Aus unnatürlich geweiteten Augen starrte sie ins Leere. Ächzend sank sie dann in sich zusammen. Atlan und Malcolm Brady waren gleichzeitig bei ihr und verhinderten, daß sie aus dem Sessel stürzte. Der sanfte Bronzeton
ihrer Haut war einem schmutzigen Braun gewichen; ihr Atem ging flach, war kaum erkennbar. »Ich rufe einen Medorobot«, sagte Brady. Doch Sanny schlug bereits wieder die Augen auf. Sie stemmte sich hoch und kam schwankend auf die Beine. »SENECA, du mußt speichern!« In schneller Folge sprudelte sie endlose Zahlenkolonnen hervor, mit denen keiner ihrer Begleiter sehr viel anzufangen wußte. Zweifellos handelte es sich um Koordinatenangaben innerhalb eines mehrdimensionalen Raum-Zeit-Gefüges. Nur einmal stutzte Atlan, als eine Sequenz ihm bekannt vorkam. Ganz recht, bestätigte sein Logiksektor. Die Zahlengruppen haben den Ort des Auftauchens der SOL als Bezugspunkt. Als Sanny geendet hatte, herrschte vorübergehend Stille. Die Paramathematikerin kämpfte gegen einen erneuten Schwächeanfall an. »SENECA«, ächzte sie, »kannst du die Koordinaten eindeutig bestimmen?« »Sie bezeichnen einen Punkt im Sternenuniversum, der rund 21 Millionen Lichtjahre von unserem augenblicklichen Standort entfernt liegt.« Hage Nockemann pfiff leise durch die Zähne. »Das ist verdammt weit«, stellte er fest. »Mit ihren Vorräten und der augenblicklichen Ausrüstung kann die SOL diese Distanz gerade noch problemlos überwinden«, sagte die Biopositronik. »Das klingt, als wäre der Flug bereits beschlossene Sache.« »Ich denke, Hage«, erwiderte Atlan, »daß wir uns auf Sannys Berechnungen verlassen können.« Die Molaatin wollte ebenfalls etwas sagen, als sie zum zweitenmal zusammenbrach. Selbst Atlan reagierte nicht schnell genug, um sie aufzufangen. »Bringt mich … zurück …«, stöhnte Sanny.
Hage Nockemann wandte sich an seinen Roboter: »Trage sie in ihre Kabine. Aber vorsichtig!« Blödel gestikulierte, traf jedoch keine Anstalten, dem Befehl nachzukommen. Nockemann lief rot an im Gesicht. »Worauf wartest du?« brüllte er. »Bestätige und nimm dich endlich der Molaatin an.« Blödel stand noch immer unbeweglich und begann, seinen grünen Plastikbart zu kratzen. Auch Hage Nockemann zwirbelte seinen Schnauzbart. Schlagartig erinnerte er sich daran, daß der Roboter nicht sprechen konnte, und machte die diesbezügliche Schaltung rückgängig. »Das wird Zeit«, protestierte Blödel sofort. »Ich möchte wissen, was ich verbrochen habe, daß mir eine solche Behandlung widerfährt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hob er Sanny auf, drückte sie sanft an seinen metallenen Leib und tippelte von dannen. Malcolm Brady sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Abermals benutzten sie den zentralen Antigravlift und gelangten dann mit einem Transmittersprung ins Mittelteil der SOL. Sanny war inzwischen in den Armen des Roboters eingeschlafen. Schnell erreichte man SOL-City. »Chybrain«, murmelte Sanny, als Blödel ihre Kabine betrat. Instinktiv mußte sie ahnen, wo sie sich befand. Oder sie spürte die Gegenwart dieses unerklärlichen Kristalleis. Doch die Liege war leer, und Chybrain blieb verschwunden. So unerklärlich wie sein Kommen war auch seih Gehen.
* Der Melder des Interkoms summte lange, ehe jemand das Gespräch annahm. Daß der Bildschirm dunkel blieb, schien nicht zu stören. »Lucy«, begann der unsichtbare Anrufer, wurde aber sofort
unterbrochen. »Keine Namen. Du weißt nicht, wer unser Gespräch zufällig mitanhört.« »Tut mir leid, aber es ist wichtig.« »Das sollte es auch sein, wenn du mich hier anrufst. Also, schieß los.« »Sanny war im Observatorium und Nockemann und Atlan mit ihr. Sie haben ziemlich umfangreiche Nachforschungen angestellt.« »Dann ist es doch wahr.« Die mit Lucy Angeredete erschrak merklich. »Was?« wollte ihr Gesprächspartner wissen. »Die Sache mit dem Schwarzen Loch. Sollte die Schiffsführung wirklich versuchen, die SOL einem solchen Risiko auszusetzen?« Zögern am anderen Ende. Dann, stockend: »Möglich wäre es. Sanny hat verschiedene Koordinatenschnittpunkte errechnet und von SENECA bestätigen lassen.« »Was können wir tun? Mir gefällt die ganze Sache nicht.« »Abwarten. Ich glaube kaum, daß Hayes und Atlan einen solchen Flug gegen den Willen der Besatzung unternehmen werden.« Damit wurde die Verbindung wieder unterbrochen. Die Stabsspezialisten waren versammelt. Breckcrown Hayes stand vor dem Panoramabildschirm, auf dem die Sterne des fremden Universums funkelten. Kein Muskel zuckte in seinem von den SOLWürmern zernarbten Gesicht. »Weißt du, was Sanny wirklich entdeckt hat?« rief Gavro Yaal, der sich merklich von Atlan und dessen Team abgesondert hatte. »Ich meine, es ist nicht gerade ein Pappenstiel, 21 Millionen Lichtjahre weit zu fliegen, nur um letztlich feststellen zu müssen, daß wir erneut vor der Frage stehen, wie es weitergehen soll.« »Ich würde nicht ganz so schwarz sehen«, erwiderte Solania von Terra, die Kommandantin der SZ-2. »Bisher hatte alles Hand und Fuß, was Sanny errechnete.«
»Jeder kann einmal irren, und für uns hängt zuviel davon ab. In diesem nahezu planetenleeren Raum ist es nicht leicht, verbrauchte Vorräte zu ergänzen.« »Genau deshalb müssen wir jede sich bietende Gelegenheit zur Rückkehr nutzen«, eröffnete Lyta Kunduran. »Was hat Sanny nun gefunden?« wollte Curie van Herling wissen. »Ein Schwarzes Loch?« Bis jetzt hatte Atlan sich zurückgehalten und lediglich auf die Argumente geachtet, die für und wider vorgebracht wurden. Nun sah er sich zu einer Erklärung veranlaßt. »Soweit die Daten von SPARTAC inzwischen vorliegen, muß in dem betreffenden Raumsektor keineswegs mit erhöhter Gravitation gerechnet werden. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und wegen der großen Entfernung war eine abschließende Analyse jedoch nicht möglich. Ich sage das, weil nur wenige der Anwesenden Deborah Kerrons Anruf mitbekommen haben.« »Gut«, nickte Gallatan Herts. »Aber sollten wir nicht annehmen, daß eine Rückkehr in unser Raum-Zeit-Gefüge dort am ehesten möglich ist, wo wir in das Sternenuniversum gelangten?« »Ich verstehe nicht, weshalb keiner die Molaatin zu dieser Besprechung hinzugezogen hat«, meinte Gavro Yaal. »Wenn jemand Auskunft geben kann, dann sie.« »Weil Sanny noch immer vor Erschöpfung schläft. Sie hat sich vollkommen verausgabt.« »Dann warten wir.« »Jeder Tag kann in Wirklichkeit hundert oder gar tausend Jahre für uns bedeuten. Gerade deshalb sollten wir nicht länger zögern.« Gavro Yaal, dessen Aufgabe die Versorgung der SOL und der Solaner war, zuckte mit den Schultern. »Hat SENECA die Koordinaten bestätigt?« meldete Vorlan Brick sich zu Wort. Gallatan Herts winkte ab. »Das heißt noch lange nicht, daß er auch weiß, welche
Gegebenheiten dort herrschen. Sanny sprach von einem ›Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit‹. Ist nicht gerade unsere Rückkehr im Augenblick ›unwahrscheinlich‹?« »Du philosophierst«, lachte Wajsto Kölsch, der Kommandant der SZ-1. »Aber in der Tat – wir sollten den sich darbietenden Strohhalm ergreifen. Immerhin sind wir uns einig, daß wir irgendwie diesem ungastlichen Raum entkommen müssen.« Zustimmendes Murmeln von allen Seiten. »Noch besteht keine Gefahr für das Schiff«, schlug Atlan in dieselbe Kerbe. Breckcrown Hayes pflichtete ihm bei. »Stimmen wir ab, wer für den Flug ins Ungewisse ist. An Ort und Stelle können wir dann weitergehende Entscheidungen treffen.« Etliche Hände flogen in die Höhe. Nur Curie van Herling zögerte noch, und Gavro Yaal schüttelte verbissen den Kopf. »Also treffen wir die Vorbereitungen«, stellte der High Sideryt fest. »Curie, was ist mit dir?« Die Chefin des Funk- und Ortungspersonals gab sich einen merklichen Ruck. »Einverstanden.« »Gavro?« »Mir erscheint die Verantwortung zu groß. Ich bin dagegen.«
3. An Bord schrieb man noch immer den 8. Oktober, als die SOL bereits etliche hunderttausend Lichtjahre vom Aqua-System entfernt durch den Linearraum raste. Perry Rhodans altes Fernraumschiff befand sich wieder einmal auf dem Flug in unbekannte Regionen der Schöpfung. Der erste Orientierungsaustritt erfolgte nach zwei Millionen Lichtjahren. Die SOL blieb nur solange im Normalraum wie nötig
war, um erneut zu beschleunigen. Mit millionenfacher Lichtgeschwindigkeit näherte sie sich ihrem fernen Ziel. Zwei weitere Orientierungsaustritte erfolgten in Abständen von jweils mehreren Stunden. Sie verliefen ereignislos. Nirgendwo fanden sich Planetensysteme oder gar Spuren intelligenten Lebens. Die Einsamkeit war bezeichnend für dieses Universum. In der letzten Phase der Annäherung wurden konkrete Aussagen möglich. Sie fielen wenig zufriedenstellend aus. Gleichzeitig machte Enttäuschung sich breit. Atlan, der den ganzen Flug über in der Hauptzentrale der SOL weilte, bemerkte den allmählichen Stimmungsumschwung durchaus. Was hast du erwartet? fragte der Extrasinn bitter. Hast du wirklich geglaubt, Hidden-X würde es uns so leicht machen? Zum letzten Mal verschwand das Abbild der Sterne von den Schirmen und machte der gewohnten Wiedergabe des Linearraums Platz. Drei Stunden noch, dachte Atlan bitter. Drei lange Stunden, bis wir Gewißheit erlangen. Hage Nockemann meldete sich über Interkom aus SOL-City. »Sanny ist endlich aufgewacht«, sagte er. »Sie fühlt sich zwar schwach, will aber in die Zentrale kommen.« Wenig später betraten Sanny, Nockemann und der Roboter Blödel die Zentrale. Die Molaatin eilte auf Atlan zu. »Wo befinden wir uns?« »Knapp hunderttausend Lichtjahre von den Koordinaten entfernt, die SENECA mit deiner Hilfe errechnet hat.« »Dann sollte schon festzustellen sein, was uns erwartet.« Atlan war erstaunt. Breckcrown Hayes und Gallatan Herts wandten sich ihnen verwundert zu. »Du weißt es nicht, Sanny …?« Bedauernd zog sie die Schultern hoch. »Ich kann keine Erklärung geben. Meist verstehe ich selbst nicht,
was ich berechne.« Irgend jemand stöhnte verhalten auf. »Habt ihr Oserfan gefragt?« wollte Sanny wissen. »Immerhin weiß er mitunter meine Ergebnisse zu deuten.« »Nein«, machte Atlan irritiert. Niemand war auf den Gedanken gekommen, den Anführer der Molaaten hinzuzuziehen. Nockemann beauftragte seinen Laborroboter damit, Oserfan auf dem schnellsten Weg herbeizuschaffen. Währenddessen meldete sich Deborah Kerron. »Absolut nichts deutet auf den vermuteten ›Übergang‹ hin«, sagte sie. »Wir haben die Koordinaten weitgehend vermessen. Demnach nähern wir uns einer jener seltenen sternenlosen Zonen. Die nächsten Sonnen sind über 750 Lichtjahre von unserem errechneten Austrittspunkt entfernt. Zumindest das ist eine kleine Besonderheit, aber sonst …« Sie ließ die Folgerung offen. Damit war endgültig klar, daß alle noch kursierenden Spekulationen über ein Black Hole, dem die SOL sich nähern sollte, jeder Grundlage entbehrten. »Immerhin«, meinte Hage Nockemann. »Wir hätten es schlechter treffen können. Der Raumsektor ist nicht unauffällig.« Blödel kam mit Oserfan im Schlepptau, den er einfach an einem seiner langen Arme hinter sich herzog. Bei dem Anblick schlug der Galakto-Genetiker entsetzt die Hände vors Gesicht. »Ich fürchte, beim Einbau deiner Positronik ist mir ein Fehler unterlaufen«, stöhnte er. »Sobald sich Gelegenheit dazu bietet, werde ich das berichtigen.« »Du hast mich nach deinem Vorbild gestaltet«, behauptete Blödel. Atlan achtete nicht darauf. Er und Sanny bestürmten Oserfan mit Fragen. Doch der Molaate schüttelte den Kopf. »Das Problem«, sagte er bedauernd, »ist zu komplex, als daß ich es schon durchschauen könnte.« Unerwartet meldete sich SENECA und gab damit zu verstehen,
daß er die Ereignisse der letzten Stunden in allen Einzelheiten verfolgt hatte: »Lediglich zwei Theorien erweisen sich in vorliegendem Fall als wahrscheinlich. Erstens: Der Übergang zum Heimatuniversum wurde durch besondere Maßnahmen geschützt und ist für uns als solcher nicht erkennbar. Das entspräche vor allem dem vermutlichen Wesen des Hidden-X und dessen Bemühungen, uns entweder zu vernichten oder auf andere Weise loszuwerden. Zweitens: Es ergibt sich die Mutmaßung, daß dieser Übergang in seiner Funktion genau gegenteilig arbeitet wie die uns bekannten Black Holes. Tatsache scheint zu sein, daß sich hier absolut keine Materie befindet.« »Beides hat in der Tat etwas für sich«, überlegte der High Sideryt. »Sanny, welcher Möglichkeit würdest du den Vorzug geben?« »Jede hat etwas Bestechendes«, antwortete die Molaatin. »Das Gegenteil eines Black Hole«, murmelte Hage Nockemann. »Es gibt Viren, die zerstören, die töten, aber auch solche, die Leben erhalten können. Als Genetiker bin ich mir über die Tragweite durchaus im klaren. Bedeutet das aber, auf unseren Fall bezogen, daß ein Schwarzes Loch vernichtet und dieses … dieses Nichts vor uns – neu schafft, gebärt? Mir fehlt das richtige Wort für einen solchen Vorgang.« »Linearaustritt steht bevor!« meldete Uster Brick. Schlagartig verstummten fast alle Gespräche. Jeder wandte seine Aufmerksamkeit den Bildschirmen zu. Von einem Augenblick zum anderen überzog eine nahezu vollkommene Schwärze die Schirme. Mit bloßem Auge waren nur wenige, winzige Lichtpunkte auszumachen. Ihr Licht reichte nicht aus, um Reflexe auf die Hülle der SOL zu zaubern. Diese Sonnen standen Hunderte von Lichtjahren entfernt.
* Sofort begannen großangelegte Messungen, die nichts dem Zufall überließen. Die SOL schwebte ohne Schutzschirme im All, sämtliche energetische Tätigkeit war auf ein Minimum gedrosselt, um Störfaktoren von vornherein auszuschließen. Schon nach wenigen Minuten wurden die ersten Ergebnisse in die Zentrale übermittelt. Demnach war die nächste Sonne exakt 749 Lichtjahre entfernt. Die SOL befand sich nicht im Zentrum der freien Zone, sondern etliche Lichtmonate außerhalb. »Die Verteilung von Wasserstoffatomen entspricht der Norm des intergalaktischen Raumes – ebenso das Vorkommen von Neutrinos.« »Keine Materieverdichtung feststellbar?« »Auswertung bisher negativ.« »Was haltet ihr davon?« fragte der High Sideryt. »Insbesondere du, Sanny.« »Es ändert sich nichts«, antwortete die Molaatin. »Unmittelbar vor uns liegt der ›Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit‹.« Abermals meldete sich das Observatorium der SZ-1. Deborah Kerron selbst hatte das Gespräch hergestellt. Sie war sichtlich erregt. »Eine Raumkugel von 832 Kilometer Durchmesser. Das vollkommene Nichts. Dort existieren weder Atome noch Elementarteilchen.« »Distanz?« »Wir stehen außerhalb dieses Abschnitts. Ich habe so etwas nie zuvor gesehen. Ist es das, wonach wir suchen?« »Vielleicht«, sagte Atlan nur. Als der Monitor dunkel wurde, wandte er sich wieder den anderen zu. Zuversicht sprach aus ihren Mienen. »Es steht also fest, daß da etwas ist.« Breckcrown Hayes vollführte eine umfassende Geste. »Das vollkommene Nichts. Ein Loch im
Raum – oder was immer?« »Wie soll man diese Erscheinung definieren?« wollte Gallatan Herts wissen. »Ein Black Hole ist völlig anders – gegensätzlich. Hier existiert weder Gravitation noch Materie.« »Nennen wir es ein ›Weißes Loch‹«, schlug Atlan vor. »Warum eigentlich nicht«, nickte Uster Brick. »Und nachdem wir nun einen Namen für das Kind haben: was unternehmen wir weiter?« Breckcrown Hayes ging zu Sanny hin, die in einem der Kontursessel kauerte und gebannt auf die Wiedergabe der sternenleeren Zone blickte. »Meinst du, uns droht von diesem Weißen Loch Gefahr?« »Es gibt Dinge, die sich einer rationalen Erklärung entziehen«, erwiderte sie stockend. »Was sagt SENECA dazu?« Etliche Sekunden vergingen, bevor die Biopositronik sich meldete. »Die vorliegenden Fakten sind für eine Auswertung unzureichend. Ich empfehle eine eingehende direkte Untersuchung des Phänomens.« »Die Entfernung beträgt nur 150 Millionen Kilometer – eine geradezu lächerlich geringe Distanz für die Fernortungen«, ächzte Gallatan Herts. »Genau 138 Millionen Kilometer«, berichtigte SENECA. »Die SOL driftet mit Restgeschwindigkeit drauf zu.« Der Leiter der Hauptzentrale winkte ärgerlich ab. »Trotzdem bekommen wir keine genauen Ortungsdaten?« »Auf jeden Fall sind wir uns einig, daß ein Weiterflug mit der SOL Wahnsinn wäre«, stellte Uster Brick fest. »Zur ersten Erkundung genügt eine nur mit Robotern bemannte Space-Jet« schlug Atlan vor. Jeanne Mandruga hatte bislang schweigend zugehört. »Weshalb keine Besatzung?« erkundigte sie sich. »Die Gefahr, daß wir das Schiff verlieren, ist zu groß.«
»Aber Menschen reagieren sicherlich anders als Roboter. Und was, wenn es tatsächlich einen Übergang in unser Universum gibt, dieser aber nur einseitig passierbar ist? Wir würden die Jet als verschollen abschreiben und keine weiteren Versuche unternehmen.« »Es bleibt dabei, Jeanne, daß wir die SOL in sicherem Abstand halten«, sagte Atlan. »Die Jet wird mit Transmittern ausgerüstet, damit gegebenenfalls Solaner folgen können.« »Ich stelle mich freiwillig zur Verfügung.« Atlan winkte ab. »Es ist sinnlos, schon jetzt darüber zu reden.« »Wie lange wird die Umrüstung der Space-Jet dauern?« »Fünf Stunden, schätze ich«, erwiderte der High Sideryt. »Weshalb willst du das wissen?« »In dreißig Minuten beginnt meine Freischicht«, sagte Jeanne Mandruga und lächelte herausfordernd. »Ich würde den Flug gerne von der Zentrale aus verfolgen.« »Es steht dir jederzeit frei, zu kommen.« Hayes wandte sich an den Arkoniden: »Du bist seit beinahe dreißig Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Gönne dir auch ein wenig Ruhe. Die Probleme, die jetzt anstehen, sind Routinearbeit.« Atlan nickte. In der Tat verspürte er trotz seines Zellaktivators eine allmählich deutlicher werdende Schwäche. Er verließ die Zentrale in Richtung SOL-City.
* »Wir haben das Ziel erreicht.« »Und?« »Du wirst staunen. Wir müssen uns treffen.« »Wann?« »Sofort. Ich benachrichtige die anderen.« »Gut. Fred und Malcolm kann ich informieren. Wir sehen uns
dann.« Der Hangar lag im unteren Sektor des Ringwulsts der SOL, unmittelbar über den Schubdüsen der NUGProtonenstrahltriebwerke. Neben Lightning- und 55-m-Space-Jets standen hier auch einige Diskusschiffe der 35-m-Klasse. Mit der bislang herrschenden Ruhe war es vorbei, seit Montagetrupps und Roboter die Arbeit aufgenommen hatten. Eine der kleineren Space-Jets veränderte schnell ihr Aussehen. Jeweils etliche Meter durchmessende Ausbuchtungen, Warzen ähnlich, verunstalteten ihre Außenhülle. Auf Schönheit wurde kein Wert gelegt, ging es doch darum, den Flug in jeder Phase optisch und ortungstechnisch überwachen zu können. Da wurden Sensoren angebracht und Kameras, Antennenbündel ragten Stacheln gleich überall in die Höhe. Dutzende hochempfindlicher Geräte würden Neutrinostrahlung und Lichtdruck, Gravitation und energetische Absorptionen messen und weiterleiten. Auch an das eventuelle Vorhandensein von Antimaterie war gedacht worden. Fünf Roboter bildeten die Besatzung der SJ-81. Über zwei zentral installierte Transmitter größerer Reichweite konnten in Sekundenschnelle Solaner an Bord gelangen. Abschirmfelder, die möglicherweise im Bereich des Weißen Lochs auftretende Überlagerungen und damit gefährliche Störungen der Wiederverstofflichung kompensieren sollten, benötigten dabei mehr Platz als die eigentliche Transmitteranlage. Trotz einiger Koordinationsschwierigkeiten zwischen den einzelnen Gruppen gingen die Arbeiten zügig voran. Gleichzeitig wurden an anderer Stelle Freiwillige, vorwiegend Buhrlos, auf einen möglichen Einsatz vorbereitet.
*
Sie waren nur eine kleine Gruppe, aber gerade hier fanden sie das Gefühl tieferen Zusammenhalts, das sie anderswo vermißten. Vielleicht sehnten sie sich nach dem Abenteuer, das ihnen die kalte, emotionslose Technik des riesigen Schiffes nicht bieten konnte. »Die Tatendurstigen«, nannten sie sich. Einige von ihnen träumten davon, den Fuß auf einen fremden Planeten setzen zu dürfen und dem stählernen Gefängnis zu entrinnen, als das sie die SOL trotz vieler Annehmlichkeiten bezeichneten. Hatten ihre Vorfahren alles dafür aufgegeben, um endlich nach den Sternen greifen zu können, so fanden sie kaum noch Gefallen an einem solchen Dasein. »Wir sind anders«, pflegte Lucy stets zu sagen. »Was wir brauchen, ist ein frischer Wind, wie Atlan ihn an Bord gebracht hat, aber umfassender.« Lucy Garbers zählt erst 17 Jahre, und man sah ihr die jugendliche Frische an. Sie war ein Typ, der überall schnell Freunde und Anschluß fand. Ihre ganze Art, ihr offenherziges Wesen, machten sie zum Kumpel, dem man bedingungslos vertraute. Kleine Lachfältchen lagen um ihre Augen, deren Blick fordernd war und zugleich alles gewährend. Aber Lucy war nicht mehr frei. Fred Graebke, ein Jahr älter als sie und einen halben Kopf größer, gestand offen ein, ihr verfallen zu sein. Sie kannten sich seit sie Kinder waren. Während Lucy recht impulsiv sein konnte, besaß Fred eher eine zurückhaltende Ader. Trotzdem hatten sie es gemeinsam geschafft, von den Tatendurstigen als Anführer akzeptiert zu werden. Sie trafen sich in Lucys Kabine unweit der Transmitterhalle der SOL. »Also heraus mit der Sprache«, drängte Malcolm Brady. »Wenn es so eilig ist, muß es sich um eine brandheiße Sache handeln.« »Du wirst dich wundern«, erwiderte Fred Graebke. Das Mädchen wartete, bis alle schwiegen, und begann mit ihrer Erklärung. »Auf die derzeitige Situation einzugehen, kann ich mir wohl
sparen. Noch nicht allgemein bekanntgeworden ist jedoch die Tatsache, daß die SOL nahe einer kugelförmigen Zone steht, innerhalb der nicht einmal Atome existieren.« »Was hat das mit uns zu tun? Wenn eine Rückkehr möglich ist, wird Hayes kaum zögern.« »Weder Breckcrown noch Atlan sind sich schlüssig darüber, mit welchem Phänomen wir es zu tun haben. Selbst Sanny schweigt sich aus. Eine Space-Jet wird starten, um den leeren Sektor zu erforschen.« »Beneidenswert die Besatzung …« Lucy winkte ab. »Das Schiff wird nur mit Robotern bemannt. Aus Sicherheitsgründen.« Malcolm Brady pfiff leise durch die Zähne. »Das wäre eine Sache«, meinte er. »Wird die Jet bewacht?« »Kaum. Allerdings dürften bis zum Augenblick des Starts Techniker und Roboter im Schiff sein.« »Mist. Ich dachte schon, wir …« »Nicht du, Malcolm, und auch keiner der anderen. Ihr sollt Fred und mir helfen, an Bord zu gelangen.«
* Niemand achtete auf die beiden Neuankömmlinge, deren Abzeichen sie als Angehörige des Ortungspersonals auswiesen. Zielstrebig näherten sie sich der Space-Jet. Einer von beiden war eine junge Frau. Das lange Haar fiel ihr lockig über den Kragen des engen Overalls. Den bewundernden Pfiff, der ihr galt, überhörte sie geflissentlich. »He, wenn wir hier fertig sind, hast du Zeit für mich?« Das grinsende, verschwitzte Gesicht eines Monteurs schob sich über den Rand des Ringwulsts.
Die Frau sah nur flüchtig auf. »Mädchen, wir haben Grund genug zum Feiern.« »Wir beide?« »Aber sicher. Wer denn sonst?« Die Neuen verhielten ihre Schritte. Der zweite war ein hagerer, schlaksig wirkender Jüngling. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und funkelte den mindestens zwanzig Jahre älteren Techniker herausfordernd an. »Kümmere dich um deine Arbeit und laß Lucy in Ruhe. Sie ist schon vergeben.« »So ist das.« Der Mann setzte sich auf den Rand der Jet und ließ die Beine baumeln. »Trotzdem …«, er unterzog Lucy einer eingehenden Musterung, »… solltest du irgendwann die Nase voll haben von ihm, laß es mich wissen.« Er lachte noch immer, als die beiden schon in der unteren Schleuse der Space-Jet 81 verschwunden waren. »Puh«, machte Lucy und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, »ich dachte, jetzt fliegen wir auf.« »Ganz ruhig bleiben«, sagte er. Sie gingen an den Shifts vorbei, die im Hangar standen. Lucy Garbers zögerte zwar kurz, folgte ihrem Begleiter dann aber zum Antigravschacht. Die Flugpanzer waren ein schlechtes Versteck. Immerhin mußte man damit rechnen, daß sie vor dem Start entfernt wurden. »Zwei Decks höher liegen die Mannschaftsräume«, meinte Fred Graebke. »Wir sollten …« Mitten im Satz verstummte er, weil sie Gesellschaft bekamen. Ein Techniker ließ sich ebenfalls nach oben tragen. Zu allem Überfluß suchte er offensichtlich nach Unterhaltung. »Möchte wissen, was dort draußen ist. Das Nichts, heißt es, daß absolute Nichts. Kein noch so winziges Atom. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich weiß nicht …« Sie schwebten am Ausstieg vorbei, der zu den
Mannschaftsräumen führte. Lucy seufzte, was ihr Gegenüber allerdings mißzuverstehen schien. »Du hast recht.« Der Techniker unterbrach seinen Redeschwall nicht für einen einzigen Augenblick. »Es ist nur schwer zu begreifen. Den Raum kann ich mir noch vorstellen als etwas, was Materie beinhaltet, aber Nichts …« Die beiden Tatendurstigen atmeten auf, als sie endlich die Zentrale erreichten, obwohl in Wirklichkeit keine zwanzig Sekunden vergangen sein mochten. »Übrigens, ihr könnt mich Merrik nennen. Ich brauche nicht lange, habe nur einige abschließende Kontrollen durchzuführen.« »Was machen wir?« flüsterte Lucy. »Nichts anmerken lassen«, gab Fred ebenso leise zurück. Vor der Positronik stand ein Kampfroboter. Er beachtete sie nicht. »He«, rief Merrik, »wird der Halbraumspürer auch eingesetzt?« »Warum?« »Ich dachte nur, weil ihr ihn überprüft.« Der Roboter wandte ihnen seine Sehzellen zu. Lucy vermochte sich eines gewissen Schauders nicht zu erwehren. »Routinearbeit«, versicherte sie. »Man kann nie wissen.« »Komm!« Fred Graebke packte die Frau am Handgelenk. »Wir verschwinden wieder.« »Ich fürchtete schon, alles läuft schief«, stöhnte Lucy, als sie endlich die Zentrale verließen. Diesmal konnten sie den Antigravschacht auf dem gewünschten Deck verlassen. Weit und breit war niemand zu sehen, der sie dabei beobachtet hätte. »Wir müssen damit rechnen, daß die Jet vor dem Start noch einmal kontrolliert wird«, gab Lucy zu bedenken. »Dann in die Krankenstation«, grinste ihr Freund. »Dort sieht bestimmt keiner nach.« Der Raum, den sie betraten, war nicht sonderlich groß. Es gab nur zwei Betten, außerdem Diagnosegeräte und mehrere positronisch
gesteuerte Apparaturen für Behandlungen. »Dort hinüber.« Fred Graebke zeigte auf die Lücke, die zwischen einem Bett und der Wand verblieben war. »Das könnte dir so passen«, grinste Lucy anzüglich, kam seiner Aufforderung dann aber doch nach. »Na also.« Er zog sie zu sich heran. Jäh zuckten beide zusammen. Da waren Schritte, die sich näherten – die schweren Schritte eines Roboters. Die Tatendurstigen wagten kaum mehr zu atmen. Er geht vorbei, dachte Fred. Aber der Roboter kam näher, öffnete das Schott. Wuchtig und drohend schob er sich durch die entstehende Öffnung und ließ seinen Kopf kreisen. Nach wenigen Sekunden stampfte er wieder davon. »Zum Glück hat er die Infrarotortung nicht eingesetzt«, seufzte Lucy. Das Warten begann. »Ob alles klappt? Weißt du, wo die Transmitter stehen?« »Einer befindet sich in der Zentrale. Der andere wird wahrscheinlich im Hangar installiert.« Eine knappe halbe Stunde später durchliefen leichte Erschütterungen den Rumpf der Space-Jet. Das kleine Raumschiff beschleunigte. Wenige Lichtstunden voraus wartete das Nichts …
* »Atlan!« Der Arkonide hatte gerade seine Kabine in SOL-City verlassen und war auf dem Weg zur Zentrale, als er überraschend angerufen würde. Die Stimme kannte er. Also blieb er stehen und wandte sich
um. Malcolm Brady kam auf ihn zu. Der Junge wirkte nervös und verunsichert. »Gut, daß ich dich finde, Atlan. Ich … ich brauche deine Hilfe« Du versäumst den Start der COLUMBUS, erinnerte der Extrasinn. Die SJ-81 wartet nicht. Atlan achtete nicht darauf. In diesem Augenblick war ihm der Assistent Deborah Kerrons wichtiger. Er würde sich später die Aufzeichnungen ansehen. Außerdem war nicht gesagt, daß Brady ihn lange aufhielt. »Worum geht es?« Malcolm antwortete mit einer Gegenfrage: »Was ist inzwischen über den ›Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit‹ bekannt?« Atlan zog die Brauen zusammen. Das Verhalten des Jungen irritierte ihn. Irgendwie macht Brady den Eindruck eines Gehetzten. »Nichts, was du nicht am ehesten wüßtest«, antwortete er. »Ich verstehe den Sinn nicht ganz.« »Es ist, äh, nur so. Mich interessiert, was dort draußen auf uns wartet.« »Nein, Malcolm, das nehme ich dir nicht ab. Heraus mit der Sprache, wenn ich dir helfen soll. Aber mit der ganzen Wahrheit.« »Eigentlich geht es um zwei Freunde von mir«, eröffnete Brady. »Lucy Garbers und Fred Graebke, beide tolle Kumpels aber mitunter etwas eigenwillig.« Er schwieg wieder, preßte die Lippen zusammen, als habe er bereits zuviel verraten. Sei vorsichtig, warnte Atlans Logiksektor. Der Junge will Zeit gewinnen. »Ich habe lange nicht verstanden, was sie vorhatten, aber jetzt glaube ich zu begreifen. Sie wollten hinaus, Atlan, mit der SJ-81!« Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich sitzen sie irgendwo in der SOL und schütten sich aus vor Lachen. Du solltest das nicht so tragisch nehmen.«
»Das dachte ich anfangs auch«, sagte Malcolm, »und ich suchte nach ihnen. Sie sind verschwunden.« »Wie lange ist das her?« »Zwei Stunden etwa.« »Dann können sie längst wieder da sein.« »Ich glaube nicht.« Um Malcolm Bradys Mundwinkel begann es zu zucken. Aus einer Tasche seiner Kombination zog er ein handflächengroßes verschachteltes Bauteil hervor und reichte es Atlan. »Dies fand ich in Lucys Kabine.« »Solche Module werden häufig verwendet. Was willst du damit beweisen?« »Dieses Teil gehört zum Umwandler einer Hyperortung«, behauptete Malcolm. »Ich habe es nachgeprüft. Das Dumme ist nur, daß Lucy von solchen Dingen nicht die geringste Ahnung hat. Ich fürchte, daß sie und Fred als Techniker verkleidet die COLUMBUS betreten haben.« Was willst du tun, wenn zwei Solaner wirklich dort draußen sind? fragte der Extrasinn. Das ganze Unternehmen stoppen, nur auf einen bloßen Verdacht hin? gab Atlan zurück. »Wir nehmen Funkkontakt auf«, sagte er dann. »Die Roboter sollen die SJ-81 nochmals durchsuchen.« Täuschte er sich, oder zuckte Malcolm Brady unmerklich zusammen? Ehe Atlan sich darüber schlüssig werden konnte, hasteten zwei Jugendliche heran. Als sie Brady entdeckten, schwenkten sie aufgeregt ein Stück Papier. Beide waren ziemlich außer Atem. »Lies das«, keuchte der eine. Brady überflog die wenigen handgeschriebenen Zeilen. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Also doch.« Er reichte Atlan das Blatt weiter. »Hier steht, wie sie es versuchen wollen. Und sie haben es geschafft – bestimmt.« »Wurden nicht an Bord der COLUMBUS Transmitter installiert?«
überlegte einer von Malcolms Freunden. »Wir haben noch Zeit, Lucy und Fred zurückzuholen.« »Worauf warten wir dann?« »Halt«, sagte Atlan. »Keiner von euch wird das Risiko eingehen.« »Aber …« »Wenn jemand zur Space-Jet springt, bin ich es.« Er öffnete das Schott, das zur Transmitterstation führte. Ein Zusatzgerät war installiert und auf den Zentraletransmitter der COLUMBUS fixiert worden. Der Logiksektor warnte den Arkoniden, doch Atlan wehrte ab. Kurzentschlossen trat er durch das sich aufbauende Entstofflichungsfeld hindurch. Er spürte nur einen leichten, stechenden Schmerz …
* Der Start war Routine. Sanft glitt die Columbus auf ihren Antigravfeidern aus dem Hangar. Dann erst zündeten die Triebwerke, und das diskusförmige Schiff verschwand in der Schwärze des Alls. Auf einigen Bildschirmen in der Zentrale blieb der Ortungsreflex. Eingespiegelte Zahlenkolonnen verdeutlichten die jweilige Entfernung zum angeflogenen Ziel. Nach ungefähr fünf Minuten verschwand die SJ-81 für Sekundenbruchteile im Linearraum. Als sie wieder auftauchte, stand sie noch eineinhalb Lichtsekunden vor dem Nichts. Die Funkverbindung war einseitig. In stetem Fluß gelangten Daten und Auswertungen zur SOL. Alles verlief normal. Es gab keine Unregelmäßigkeiten. »Wo Atlan bliebt«, wandte Gallatan Herts sich an den High Sideryt. »Er wollte rechtzeitig hier sein.« »Vielleicht wurde er aufgehalten«, erwiderte Hayes.
»Soll ich in seiner Kabine anrufen?« fragte Curie van Herling. Ohne eine Antwort abzuwarten, tippte sie die Verbindung. Aber niemand nahm das Gespräch entgegen. Aller Aufmerksamkeit wurde erneut vom Geschehen um die COLUMBUS in Anspruch genommen. Die Space-Jet hatte die imaginäre Grenze fast erreicht. »Verbindung unverändert«, meldete Jeanne Mandruga. »Keine Störfronten.« »Zielmarkierung!« verlangte der High Sideryt. Auf dem Panoramaschirm erschien ein blauer Kreis, der die 832 Kilometer durchmessende Raumkugel symbolisierte. Die COLUMBUS schickte sich an, in das absolute Nichts einzudringen. »Jetzt!« Im gleichen Augenblick riß die Funkverbindung ab. Curie van Herling versuchte alles Mögliche, um den Kontakt wiederherzustellen, aber ihre Bemühungen blieben erfolglos. »Aus«, sagte sie tonlos. »Die Jet können wir abschreiben.« »Du siehst zu schwarz«, schnaufte Herts. »Noch ist nichts bewiesen. Was sagen die Ortungen?« »Keinerlei Begleiterscheinungen. Die COLUMBUS ist von einem Sekundenbruchteil zum anderen verschwunden, als hätte sie nie existiert.« »Ein Weißes Loch«, sinnierte der High Sideryt. »Atlan hat also recht. Da draußen ist etwas, das sich unseren Sinnen entzieht. Aber ob es gefährlich ist und was geschieht, wenn man hineinfliegt, wissen wir noch immer nicht.« Herausfordernd sah er sich um. »Langsam beginne ich mich zu fragen, wo Atlan bleibt.«
* Er wußte sofort, daß etwas schiefgelaufen war. Statt in der Zentrale der Space-Jet war er im zweiten Transmitter in deren Hangar
materialisiert. Eine Falle! behauptete der Extrasinn. »Atlan«, sagte eine zögernde Stimme hinter ihm. Er wirbelte herum. Da standen die beiden Gesuchten. »Ihr werdet mit mir zur SOL zurückkehren!« Lucy Garbers schüttelte den Kopf. »Das haben wir nicht vor. Wenn ein Durchbruch in unser eigenes Universum möglich ist, wollen wir es wissen.« »Die Roboter sind darauf programmiert, jede Möglichkeit auszuschöpfen.« »Maschinen«, sagte Lucy verächtlich. »Wir sind der Meinung, daß eine menschliche Besatzung mehr ausrichten kann. Und du hast von allen auf der SOL die größte Erfahrung.« »Ich bin auf euch hereingefallen«, stellte Atlan fest, der in diesem Augenblick erkannte, daß alles ein abgekartetes Spiel war. »Mit meiner Erfahrung kann es demnach nicht weit her sein.« »Oh«, meinte Lucy lächelnd, »wir haben deine Aktivitäten verfolgt. Wenn du an Bord bist, werden wir über kurz oder lang einen gangbaren Weg finden.« Atlan wurde sichtlich wütend. »Vielleicht verstehe ich eure Beweggründe sogar, aber ihr habt euch auf eine Kinderei eingelassen, die uns allen das Leben kosten kann.« »Es ist ein Abenteuer, Atlan, mehr nicht.« »Schluß damit!« Energisch winkte der Arkonide ab. »Ihr geht vor mir in den Transmitter. Auf der SOL reden wir weiter.« »Ich denke, dazu ist es zu spät«, sagte Fred Graebke. »In ein paar Sekunden werden wir die Grenze zum Nichts passiert haben.« Aus einer Nische des Transmitteraggregats zog er einen kleinen Monitor hervor. Atlan erkannte sofort, daß dieses Gerät an das Bordnetz angeschlossen war. Es gab die Daten wieder, die zur SOL übertragen wurden.
Nun kannst du nicht mehr zurück, wisperte der Extrasinn. Du Narr, warum hast du nicht auf mich gehört. Es ging um zwei Menschenleben, erwiderte Atlan in Gedanken. Nun geht es um drei. Vor der COLUMBUS verschwand das Licht der fernen Sonnen. Aber es war keine Dunkelheit, die das Schiff schlagartig umfing. Es war … … das Nichts.
4. »Wenn die Space-Jet explodiert wäre, hätten wir wenigstens einen Teil der freiwerdenden Strahlung angemessen.« »Das sind Vermutungen«, widersprach der High Sideryt heftig. »Nur Fakten können uns weiterhelfen.« »Dann verrate mir, wie du solche Daten erhalten willst.« Gallatan Herts reagierte überaus gereizt. Aber er war beileibe nicht der einzige, bei dem sich das Verschwinden der COLUMBUS auf diese Weise bemerkbar machte. »Wir versuchen weiterhin, Funkkontakt zu bekommen«, entschied Hayes. »Und für wie lange? Einen Tag, zwei vielleicht – oder gar eine ganze Woche?« »Nichts würde dadurch anders werden, daß wir ein zweites Beiboot starten.« »Dann gibst du also auf, Breckcrown?« »Zuvor will ich mit Atlan reden. Außerdem hoffe ich auf die Molaaten.« »Ehrlich gesagt, verstehe ich deine Zuversicht nicht. Und Atlan hätte sich längst melden können.« »Sämtliche Aufforderungen an ihn blieben unbeantwortet«, sagte die Biopositronik.
»Verdammt.« Der High Sideryt schlug die Fäuste gegeneinander. »Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.« »Was sollte Atlan schon geschehen sein«, meinte Uster Brick leichthin. »Ich weiß nicht«, erwiderte Hayes zögernd. »Ich habe ein ungutes Gefühl, das sich nicht verdrängen läßt.«
* Die Zeit schien stillzustehen. Es war, als gleite man in ein anderes Sein hinüber. Atlan wollte den Arm heben, um den Transmitter zu aktivieren, doch seine Bewegung war zeitlupenhaft langsam. Nebelschwaden trieben durch den Hagar der Space-Jet, waren in rotierendem wirbelndem Durcheinander begriffen. Wie Galaxien! schoß es dem Arkoniden durch den Sinn. Alles um ihn her schien sich aufzulösen. Als er endlich den Transmitter erreichte, zerfloß dieser unter seiner Berührung. Er war allein, schwebte inmitten einer Welt, die sich dem verstandesmäßigen Begreifen entzog. Zukunft und Vergangenheit, Sein und Vergehen schienen einander hier so nahe wie nirgendwo sonst im Universum. Atlan glaubte ein leises Flüstern zu hören, Stimmen, die auf ihn einredeten, sich um seinen Körper stritten. Entsetzt lauschte er, doch da war nichts mehr. Totenstille umfing ihn mit eisigen Fingern. Ihm war, als schwebe er durch die Unendlichkeit, als lerne er die Schöpfung innerhalb weniger Augenblicke kennen. Jahrmillionen mochten es sein, deren Atem ihm entgegenwehte. Da war das Flüstern wieder. Eine stete, drängender werdende Melodie wie … Sternengesang! Kein anderes Wort gab so einfühlsam wieder, was
Atlan wirklich empfand. Konzentriere dich auf das Wirkliche! forderte der Extrasinn. Verdränge alles andere, oder du wirst in dieser Welt aufgehen und nie zurückfinden. Es ist schön hier, gab Atlan zurück. Es ist das Nichts! Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, und du bist nicht allein. Nur zögernd löste er sich aus dem Bann, der ihn umfangen hielt. Galaxien, die er sah, wurden wieder zu wirbelnden, verwehenden Nebelschleiern. Atlan spürte festen Boden unter den Füßen. Er schwankte und mußte sich festhalten, um nicht zu stürzen. Die Berührung kühlen Metalls brachte ihn vollends zur Besinnung. Auf einmal war alles wieder normal. Nur das leise Flüstern wesenloser Stimmen blieb. Wo immer wir sind, dachte Atlan, wir leben noch, und allein das zählt. Die beiden Solaner erwachten ebenfalls zögernd aus der Starre eines veränderten Zeitablaufs. Lucy Garbers Stimme klang seltsam verzerrt. »Wir müssen in die Zentrale«, sagte Atlan. »Ich will wissen, was mit der COLUMBUS geschehen ist.« »Demnach … haben wir es geschafft«, meinte Fred Graebke siegessicher. »Wir sind wieder in unserem Universum.« Atlan deutete auf den kleinen Bildschirm, der noch an das Bordnetz angeschlossen war. Was sich darauf zeigte, war so unbeschreiblich wie die Vielfalt menschlichen Wahrnehmungsvermögens – weder die Schwärze des Weltalls, das Funkeln von Myriarden Sonnen noch der gewohnte Anblick eines übergeordneten Kontinuums. »Was ist das?« fragte Fred betreten. »Mir wäre wesentlich wohler, wenn ich es wüßte«, gestand Atlan ein. Zusammen schwebten sie zur Zentrale hinauf, wo die Roboter vor
den Kontrollen standen und schalteten. Die Fluglage der COLUMBUS war nicht stabil. Aus mehreren Anzeigen ging einwandfrei hervor, daß sie sich entlang ihrer Polachse überschlug. »Es ist trotzdem ein Gefühl, als stünde die Jet im Raum still«, bemerkte Lucy. »Uns fehlt jeglicher Bezugspunkt.« – Atlan ließ sich in den Pilotensitz gleiten und übernahm die Steuerung des Schiffes von dem neben ihm stehenden Roboter. »Was ist geschehen?« »Keine Definition möglich«, lautete die Antwort. »Mit dem Überqueren des Ereignishorizonts hat sich die Umgebung schlagartig verändert. Dies ist keiner der bekannten Weltenräume. Das Lineartriebwerk arbeitet, dennoch ist kein meßbarer Effekt zu erzielen. Selbst die Impuls …« »Atlan!« Aufgeregt deutete Lucy durch die transparente Kuppel der Zentrale nach draußen. Der Arkonide achtete plötzlich nicht mehr auf den Roboter, der ungerührt in seiner Erklärung fortfuhr. Erst war es nur ein sanftes Schillern, das er wahrnahm – wie ein Regenbogen, der sich langsam auflöst. Dann wurde die Erscheinung deutlicher und hatte Bestand. Ein Brodeln und Wallen, als blicke man in die Korona eines Überriesen … Und die COLUMBUS stürzte sich überschlagend darauf zu. Faszinierend und beängstigend zugleich war dieser Anblick. Atlans Finger huschten über das Schaltpult. Obwohl er die Kernfusionsreaktoren kurzfristig auf weit überhöhter Abgabeleistung fuhr, blieb der Kurs der Space-Jet unverändert. »Dieses Flüstern …« Fred Graebke preßte sich beide Hände auf die Ohren. »Es wird lauter.« Das Wallen vor ihnen schien sich aufzulösen und ließ Einzelheiten erkennen. »Ein Meer von Kugeln«, sagte Lucy Garbers. Atlan nickte bedächtig, während er versuchte, eine Vergrößerung
zu bekommen. »Wie Seifenblasen«, fügte er hinzu. »Bitte?« Der Arkonide reagierte nicht auf Lucys Frage. »Distanzortung?« wandte er sich an den nächststehenden Roboter. »Keine Angabe möglich; als würden die Impulse vom uns umgebenden Nichts verschluckt werden.« Die ersten Kugeln waren heran. Ihr Schimmern fiel durch die Kuppel und ließ die Zentrale der COLUMBUS in sämtlichen Farben erstrahlen. Sie waren von unterschiedlicher Größe. Manche maßen etliche hundert Meter, andere nur einen Bruchteil davon. Aber selbst die kleinsten besaßen noch einen Durchmesser von zehn Metern. Rund um die Space-Jet ballten sie sich zusammen. Auch jetzt fühlte Atlan sich noch an Seifenblasen erinnert, die sanft im lauen Wind schwebten. Da war ein Pochen in seinem Schädel. Was er die ganze Zeit über unbewußt verdrängt hatte, wurde wieder deutlicher. Atlan glaubte, die Stimmen unzähliger Lebewesen zu vernehmen, die zu ihm sprachen, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Suche das Reale, mahnte der Logiksektor. Eine der großen Kugeln, gut zweihundert Meter durchmessend, senkte sich auf die Space-Jet herab. Bunte Schlieren huschten über ihre Oberfläche, schienen sich zu Bildern zu vereinen und verschwammen wieder. Harno? dachte Atlan unwillkürlich. Doch das war nur eine schemenhafte Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Das Murmeln, wie eine stete Kulisse im Hintergrund, wurde lauter. Einzelne, fremdartige Stimmen schälten sich heraus. Das war keine Einbildung mehr … Eindringlinge! Gab es irgendwo einen Planeten, auf dem ein Volk von Telepathen lebte? Die Ortungen schwiegen noch immer.
Ihr stört unsere Ruhe! Das Gefühl, unerwünscht zu sein, wurde bedrückend. Waren es gar die Kugeln, von denen diese Empfindung ausging? Lucy zitterte am ganzen Körper. »Schutzschirme aktivieren!« befahl Atlan den Robotern. Tatsächlich zeigten die Kontrollen Grünwerte, doch die Kugeln schwebten weiterhin an der COLUMBUS vorbei. Mühelos durchdrangen sie selbst den Paratronschirm. Die Umrisse des Schiffes spiegelten sich in ihnen wider. Verjagt die Eindringlinge! Die COLUMBUS begann nun auch, sich um die Längsachse zu drehen. Erste Beharrungskräfte schlugen durch, waren aber zu gering, um Schäden anzurichten. Immer mehr verloren die Roboter die Kontrolle über das Schiff. Ihre Programmierung war für diesen Fall unzureichend; zudem wirkte sich der unterbrochene Kontakt zur SOL negativ aus. »Unternimm endlich etwas, Atlan!« Ächzend preßte Fred Graebke sich die Hände auf die Schläfen. »Dieser unheimliche Druck und die Stimmen …« Für Lucy und ihn mußte es weitaus schlimmer sein als für den Arkoniden. »In den Transmitter … Zurück!« »Nein!« schrie Atlan, um das jähe Aufheulen auf Vollast laufender Triebwerke zu übertönen. Die COLUMBUS sprang förmlich vorwärts, tauchte tiefer hinein in das schillernde Labyrinth, das keine räumliche Begrenzung mehr zu haben schien. »Gegenschub!« befahl der Arkonide. Die Roboter reagierten nicht. Starr waren ihre Sehzellen auf das Geschehen außerhalb der SpaceJet gerichtet, während sie gewagte Flugmanöver durchführten. Als Atlan selbst die entsprechenden Schaltungen vornehmen wollte, wurde er von einer der Maschinen abgedrängt. War da nicht ein lautloses Gelächter? Auch Lucy und Fred schienen es wahrzunehmen, denn sie starrten Atlan aus großen
Augen verständnislos an. »Die Roboter werden beeinflußt«, hörte der Arkonide sich sagen. »Ich kann nichts dagegen tun.« Inzwischen raste die COLUMBUS auf irrsinnigem Zickzack-Kurs durch das Meer von Kugeln. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste Zusammenprall erfolgte. Einem Regenbogen ähnlich, erschien die Rundung einer großen Kugel über der COLUMBUS. Sie war durchsichtig, wie all die anderen auch, und verzerrt huschte das Abbild der Space-Jet über ihre Oberfläche hinweg. Aber da war noch etwas anderes. Flüchtig glaubte Atlan, eine Bewegung in ihrem Innern zu erkennen. Zu kurz war jedoch der Eindruck, als daß er sicher sein konnte. Die Space-Jet wechselte den Kurs, raste auf diese Kugel zu. Im nächsten Moment, bevor Atlan auch nur fähig war, abwehrend die Arme hochzureißen, erfolgte der Zusammenstoß. Etwas schien zu explodieren. Zuckende Flammen hüllten ihn ein und leckten gierig am Kuppeldach empor. Es war ein kaltes Feuer aus allen Farben des Spektrums, dem die COLUMBUS innerhalb von Sekundenbruchteilen zum Opfer fiel. Alles löste sich auf: die Roboter, die Schaltpulte, der Boden, auf dem Atlan stand. Dann war Schwärze um ihn her.
* Matt und zerschlagen fühlte er sich, wie nach einem tagelangen, anstrengenden Fußmarsch. Sein Schädel drohte zu zerspringen, so laut war das Pochen, das ihn geweckt hatte. Stöhnend richtete er sich auf. Noch war undurchdringliche Schwärze ringsum. Kein Stern zeigte
sich am Firmament, das er nur ahnen konnte. Eine solche Nacht hatte er lange nicht mehr erlebt. Atlan roch den süßlichen Duft feuchter Erde und nassen Heus, und er fühlte, wie seine Sinne sich belebten. Die. Luft war angenehm lau. Eine leichte Brise brachte den Geruch von Salz und Teer mit sich und den Klang weit entfernter Stimmen. Angestrengt lauschte Atlan, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Oder war das Murmeln nur in ihm? Beinahe schmerzhaft drängte sich die Erinnerung auf. Wo befand er sich? Was war dies für eine Welt, die ihm fremd und doch gleichzeitig so seltsam vertraut erschien? »Fred«, rief er. »Lucy.« Eine Antwort blieb aus. Statt dessen vernahm er entferntes Stampfen, das sich allem Anschein nach näherte. Über den Horizont stieg fahle Helligkeit herauf. Im gelblichen Schein der aufgehenden Sonne zeichneten sich schneebedeckte Berge ab. Jetzt konnte Atlan auch seine nähere Umgebung erkennen. Er lag in einer Bodensenke, die umgeben war von blühenden Büschen. Das Erdreich selbst war lehmig und ließ nur wenige moosartige Pflanzen gedeihen. Das Stampfen wurde lauter – ein Geräusch, wie marschierende Soldaten es erzeugten. Vorsichtig arbeitete Atlan sich zum Rand der Senke empor, von wo aus sich ihm ein Rundblick bot. Gen Osten, wenn er die Richtung des Sonnenaufgangs so bezeichnen konnte, erstreckte sich zerklüftetes, karges Land. Einzelne Felsformationen ragten wie Knochenfinger anklagend in den Himmel. Obwohl die Sonne inzwischen ein Handbreit über den fernen Bergen stehen mußte, war sie nicht zu sehen. Das Firmament war diesig und vermittelte irgendwie den Anschein von Unendlichkeit. Ein flüchtiges Aufblitzen fesselte Atlans Aufmerksamkeit. Das
Klirren von Metall, unterdrückte Rufe, Befehle, und das Stampfen Dutzender Füße drangen an sein Ohr. Und dann sah er sie: Zwei römische Zenturien näherten sich. Ihre Rüstungen glänzten wie poliert, sogar die Schilde, von den Kriegern jeweils am linken Unterarm getragen, waren ohne Makel. Einige der Männer besaßen außer den Kurzschwertern auch Speere. Obwohl sie keine zehn Meter entfernt vorübermarschierten, konnte Atlan ihre Gesichter nicht sehen. Fast war es wie damals, als er als Gladiator in Roms Arena stand. Die Erinnerung drohte ihn zu übermannen. In Gedanken vernahm er wieder das Toben der entfesselten Menge, sah aller Hände nach oben gereckt und die Daumen in den Himmel deuten. Aber Nero wollte seinen Tod … Du hast damals überlebt, erinnerte der Extrasinn spöttisch. Sogar Marcus Vinicius hielt dich noch im Sterben für einen Gott. Atlan folgte den zweihundert Römern in sicherem Abstand. Wenn keine Reiter ausgeschwärmt waren, um das Gelände zu sichern, brauchte er eine Entdeckung nicht zu befürchten. Plötzlich gerieten die Reihen der Legionäre ins Stocken. Gleich darauf vernahm der Arkonide Schreie, und ihm wurde schlagartig bewußt, daß er Lucy und Fred sträflich vernachlässigt hatte. Aber zuviel Neues war in den letzten Minuten auf ihn eingestürzt, und wo hätte er mit der Suche beginnen sollen? Er mußte dem Schicksal dankbar sein, die beiden auf diese Weise gefunden zu haben. Zunächst galt es, das Überleben zu sichern. Wenn auf der SOL sein Verschwinden auffiel, würde der High Sideryt ohnehin alles daransetzen, um ihn aufzuspüren. Und falls Raum und Zeit euch trennen? Die Bemerkung seines Extrasinns stimmte Atlan nachdenklich. Zum Glück setzten die Söldner ihren Weg fort, so daß er gezwungen war, sich mit anderem zu befassen. Die Vegetation veränderte sich. Der Boden wurde sandiger. Kniehohes, scharfkantiges Gras wogte im Wind. Dazwischen, in
Gruppen wachsend, kakteenähnliche Bäume, fünfzig bis sechzig Meter hoch. Von üppiger Blütenpracht bedeckt, lockten sie allerlei Getier an. Dies hätte eine paradiesische Welt sein können. Atlan schätzte die Dauer eines Tages auf knapp zwanzig Stunden. Als der Abend dämmerte, hatten die Zenturien einen Strom erreicht, dessen jenseitiges Ufer halb im Nebel verborgen lag. Sie begannen damit, Bäume zu fällen und trafen auch sonst alle Vorbereitungen, um den Fluß zu überqueren. Die hereinbrechende Nacht setzte ihren Bemühungen ein Ende. Lagerfeuer wurden entfacht, an denen die Krieger sich niederließen und von ihren Vorräten zehrten. So sorglos sie sich auch gaben, Atlan war auf der Hut. Er hielt Ausschau nach den gefangenen Solanern und entdeckte sie schließlich gefesselt zwischen zwei Feuern. Lucy Garbers lag am Boden und schien zu schlafen, während Fred Graebke, aufrecht an einen Baum gelehnt, in die Nacht hinausstarrte. Von jenseits des Flusses erklang das dumpfe Grollen eines Vulkanausbrüchs. Obwohl die Erde erzitterte, nahm keiner der Krieger Notiz davon. Lodernde Glut zerriß die Dunkelheit, glutflüssige Lava wälzte sich träge über den Kraterrand in die Tiefe. Das Geschehen war zu weit entfernt, als daß es eine Gefahr bedeutet hätte. Atlan wartete, bis es im Lager ruhig wurde, dann schob er sich auf allen vieren vorwärts. Einige Wachen machten ihre Runde, aber das hohe Gras gewährte ihm ausreichende Deckung. Das erste Feuer, an dem er vorüberkam, war bereits halb niedergebrannt. Niemand legte neues Holz auf. Die Versuchung, sich eines Schwertes zu bemächtigen, war groß. Doch als Atlan einem der Schlafenden die Waffen abnehmen wollte, ließ lautes Grölen ihn innehalten. Ein Betrunkener torkelte durch das Lager auf den Fluß zu, von höhnischem Gelächter verfolgt. Erst als er das Ufer erreicht hatte und sich bäuchlings in das
aufspritzende Wasser fallen ließ, kehrte erneut Ruhe ein. Vorsichtig hob der Arkonide den Kopf. Höchstens noch hundert Meter trennten ihn von den Gefangenen. Ein plötzliches Rascheln ließ ihn herumfahren. Nur um Haaresbreite entging er dem Kurzschwert, das sich neben ihm tief in den Boden bohrte. Der Söldner, der die Klinge führte, schien selbst überrascht zu sein, denn anstatt den am Boden liegenden nun mit bloßen Fäusten anzugreifen, versuchte er, sein Schwert wieder hochzureißen. Atlan war schneller. Noch während er sich herumwälzte, trat er dem Gegner mit aller Wucht gegen die Schienbeine. Der Mann knickte ein, ließ einen unterdrückten Aufschrei hören, da sprang Atlan bereits auf und schickte ihn mit einem schwungvollen Haken endgültig in die Knie. Ein Dagorgriff betäubte den Krieger für längere Zeit. Das Lager blieb ruhig. Niemand schien den Zwischenfall bemerkt zu haben. Als Atlan sich bückte, um das Schwert des Söldners aufzuheben, fiel sein Blick auf dessen Gesicht. Das war kein Mensch. Unter einer dicken, lederartigen Haut zeichneten sich fahl die Knochen ab. Der Fremde besaß nur ein Auge, das von Nickhäuten geschützt wurde, und es schien mehrere Funktionen zugleich auszuüben, wie nicht nur seine ungewöhnliche Größe vermuten ließ. Ohren und Nase suchte man vergeblich, und eine Öffnung zur Nahrungsaufnahme befand sich unmittelbar am Halsansatz. In gebückter Haltung hastete Atlan weiter. Ihn überraschte, daß die Gefangenen nicht bewacht wurden. Fred Graebke hob kaum merklich den Kopf, als er leise Geräusche hinter sich vernahm. »Atlan?« flüsterte er hoffnungsvoll. Rasch durchtrennte der Arkonide seine Fesseln. Dann wandte er sich Lucy zu, die jäh aus leichtem Schlaf aufschreckte. Bevor sie
schreien konnte, schloß seine Hand sich um ihren Mund. »Willst du das ganze Lager aufwecken?« Das Mädchen starrte ihn an wie ein Geist. Sie brauchte lange, um ihre Überraschung zu überwinden. »Wohin?« fragte sie schließlich. »Über den Fluß«, hauchte Atlan. »Im Wasser verwischen sich unsere Spuren.« Der ferne Feuerschein des Vülkanausbruchs wies ihnen den Weg. Sie benötigten fast eine halbe Stunde, um das Ufer zu erreichen. Gemeinsam schoben sie einen der frisch gefällten Stämme über die flach verlaufende Sandbank ins Wasser. Nur so konnten sie sicher sein, einander in der Strömung nicht zu verlieren. Sie hatten es fast geschafft, als hinter ihnen Rufe laut wurden und Dutzende von Fackeln aufloderten. »Sie suchen uns«, warnte Lucy. »Wir müssen schwimmen.« Atlan drückte sie gegen den Stamm. »Nicht nachlassen.« Knirschend gab der Sand nach. Bis zu den Knien versanken die Solaner, aber sie schafften es. Sich beiderseits des Stammes festklammernd, trieben sie davon. Gleichzeitig erreichten die ersten Krieger das Ufer. Fackeln flogen in hohem Bogen ins Wasser und erloschen zischend. Ihr Schein reichte aus, um die Fliehenden für eine Weile dem Dunkel der Nacht zu entreißen. Die Pfeile, die man ihnen wütend nachsandte, trafen nicht mehr. Der Strömung folgend, geriet der Stamm schnell in die Flußmitte. Atlans Absicht war es, sich mehrere Kilometer weit treiben zu lassen, bevor er auf das jenseitige Ufer zuhielt. Für eine Weile war nur ein leises Plätzschern zu vernehmen, bis Fred Graebke das Schweigen brach. »Wo sind wir, Atlan?« wollte er wissen. »Was ist mit uns geschehen?« Die Antwort des Arkoniden war zugleich ein Eingeständnis seiner
eigenen Hilflosigkeit. »Alles, was mir im Augenblick klar ist, ist die Tatsache, daß wir die Luft dieses Planeten atmen können und daß wir irgendwie versuchen müssen, friedlichen Kontakt zu seinen Bewohnern aufzunehmen.« Das Mädchen lachte gequält auf. »Den ersten Versuch haben wir schon hinter uns. Wie sind wir von Bord der COLUMBUS hierher gelangt?« »Frage lieber, wie wir die SOL erreichen können«, erwiderte Fred heftig. »Ich fürchte, daß die Space-Jet nicht mehr existiert.« Unverhofft glitt er von dem inzwischen glitschig gewordenen Stamm ab und tauchte unter. Prustend und spuckend kam er dann wieder hoch und suchte nach neuem Halt. Die Strömung wurde zunehmend stärker. Flußabwärts ertönte ein Tosen und Brausen wie von einer Vielzahl tückischer Stromschnellen. Erste Strudel bildeten sich und zerrten an den Fliehenden. Unmöglich, den Baumstamm noch in die gewünschte Richtung zu lenken. Feuchtigkeit lag in der Luft. Man tauchte ein in einen kochenden Brodem aufgewirbelter Wassertropfen. Rasch steigerte sich das Tosen zum ohrenbetäubenden Donnern. »Zum Ufer!« Atlan mußte schreien, um sich verständlich zu machen. Der Strom war reißend geworden. Schaum bildete sich auf der Wasseroberfläche. Atlan folgte den beiden Solanern, die sich kräftig abstießen. Es fiel schwer, gegen die Fluten anzukämpfen. Immer wieder tauchte er unter, schlugen die aufgepeitschten Wellen über ihm zusammen. Die Nacht war bleischwarz; nur der Feuerschein des Vulkanausbruchs ermöglichte überhaupt eine Orientierung. Atlan fror, und die Kälte kroch lähmend in seine Glieder. Ein dunkler Schatten huschte vorüber. Das Steilufer – keine zehn Meter entfernt und doch schier unerreichbar. Er sah auch die Felsen im
Fluß, an denen das Wasser sich aufgischtend brach. Was in diesen Mahlstrom hineingeriet, mußte unweigerlich zerschmettert werden. Mit aller Kraft kämpfte der Arkonide gegen die Strömung an. Lucy und Fred hatte er aus den Augen verloren. Du schaffst es nicht, behauptete der Extrasinn. Plötzlich – ein schmerzhafter Schlag gegen die Rippen, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Sekundenlang fürchtete Atlan, die Besinnung zu verlieren. Instinktiv packte er zu: seine Finger verkrallten sich in hölzernen Pflanzenteilen, die dem tödlichen Sog trotzten. Es war ein Wurzelstrang. Mühsam zog Atlan sich daran weiter. Das Ufer kam näher. Zwei Meter mochte es hoch sein, und fast überall zeigte sich blanker, von der Gewalt des Wassers glattgeschliffener Fels. »Atlan, hier!« Der Arkonide folgte dem Ruf. Schemenhaft gewahrte er Fred Graebke, der bäuchlings auf dem unterspülten Randstreifen lag und ihm die Arme entgegenstreckte. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Aber bevor einer von beiden richtig zupacken konnte, rutschte Atlan wieder ab. Blindlings schlug er um sich, bekam erneut den Wurzelstrang zu fassen und klammerte sich daran fest. Fred Graebke schob sich noch weiter über die Böschung vor. »Jetzt! Komm!« Atlan schnellte förmlich aus dem Wasser. Freds zupackende Hände schlossen sich wie Schraubstöcke um seine Gelenke. Ein merklicher Ruck ging durch das Uferstück. Lucy schrie entsetzt auf. Im nächsten Moment lag Atlan bereits halb im nassen Gras, zog die Beine an und richtete sich taumelnd auf. Ein breiter Riß entstand keine zwei Schritte vor ihm. Die Böschung brach aus. Aus dem Stand heraus sprangen die beiden Männer. Während Fels und Erdreich aufschäumend in den reißenden Fluten
verschwanden, kamen sie mit dem Schrecken davon. »Danke«, sagte Atlan. Fred Graebke winkte nur ab. »Du hättest an meiner Stelle genauso gehandelt. Lucy und ich, wir hatten eben das Glück, weiter oben an Land gespült zu werden, wo das Ufer verhältnismäßig flach verläuft.« Erschöpft ließ er sich niedersinken. Das Tosen der Stromschnellen war eine bedrückende Kulisse. »Ich muß eingestehen«, sagte der Solaner dann, nachdem er eine Weile nur ins Leere gestarrt hatte, »daß ich mir den Flug gänzlich anders vorgestellt habe.« Lucy lachte bitter auf. »Wohin es uns auch verschlagen hat, der ›Ort der absoluten Unwahrscheinlichkeit‹ kann nie mit dieser Welt identisch sein. Immerhin durchmißt jener Bereich nur 832 Kilometer, während der Planet aufgrund der gewohnten Schwerkraft ein Vielfaches an Volumen besitzen muß.« »Das erscheint zumindest logisch«, erwiderte Atlan. »Warum nicht?« fragte Lucy irritiert. »Es ist alles relativ. Uns fehlen die erforderlichen Bezugspunkte, um klare Aussagen treffen zu können.« Jäh sprang das Mädchen auf, lauschte angestrengt in die Nacht hinaus. Doch da war nichts mehr. »Ich habe es auch vernommen«, flüsterte ihr Freund. Augenblicke später hörten sie es wieder. Deutlicher diesmal – und näher. Ein urweltlich anmutender Schrei. Aus nahezu entgegengesetzter Richtung erscholl als Antwort ein langgezogenes Heulen. Angsterfüllt suchte Lucy die Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Als sie sich wieder umwandte, erschrak sie zutiefst. Zwischen ihnen stand ein Geschöpf, halb Gnom, halb Schlange, und starrte sie aus dreieckigen gelben Pupillen unbewegt an. Kaum größer als einen Meter, war seine Gefährlichkeit dennoch unverkennbar.
Der Schädel war der einer Viper, die gespaltene Zunge befand sich in unablässiger Bewegung, und die beiden jeweils fingerlangen Reißzähne mochten gefährliche Waffen sein. Atlan hielt das erbeutete Schwert in Händen, das er bei der Flucht in seinen Gürtel geschoben hatte. »Warum fürchtet ihr mich?« Eine lautlose Stimme entstand in den Gedanken der drei Menschen. »Niemand braucht vor mir zu erschrecken.« Damit verschwand das Wesen und stand im selben Moment gut zehn Meter entfernt. Sein verhornter Mund verzog sich zu einem abschreckenden Grinsen. »Du bist Teleporter?« »Wenn du damit meinst, daß ich mich kraft meines Willens bewegen kann …« »Ich traue ihm nicht«, flüsterte Lucy. Der Blick aus gelben, lidlosen Augen schien sie bannen zu wollen. »Du urteilst nach meinem Äußeren. Hüte dich vor solchen Fehlern.« »Wer bist du?« fragte Atlan. »Nenne mich einen Geist. Ich bin gekommen, um euch zu warnen.« Wieder erklang ein markerschütternder Schrei. Die Erde erbebte unter dem Stampfen mächtiger Füße. Etwas, das gigantisch war wie ein Berg, schob sich aus der Finsternis heran. »Bleib!« warnte der Gnom, als Lucy mit allen Anzeichen des Entsetzens aufsprang. »Nur in der Nähe des Wassers seid ihr vor den Moorn wirklich sicher.« Atlan hätte nicht zu sagen vermocht, warum, aber er vertraute dem Fremden. Noch während er darüber nachdachte, verschwand dieser so unverhofft, wie er erschienen war. Zwei weitere wandelnde Kolosse, die den Arkoniden unwillkürlich an die Marschiere-Viel des Planeten Last Hope erinnerten, schoben sich heran. Keiner von ihnen kam dem Fluß
jedoch näher als bis auf ungefähr fünfhundert Meter. Es wurden bange Stunden. Selbst Atlan mußte eingestehen, daß man gegen diese Riesen hilflos war, falls sie es sich überlegten und doch zum Wasser zogen. Als endlich der Morgen graute, schienen die Monstren zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Trotz aller Ängste hatten Lucy und Fred der Müdigkeit nicht widerstehen können. Sie schliefen den Schlaf der Erschöpfung. Selbst Atlan gönnte sich eine Ruhepause. Er verließ sich darauf, dass sein Extrasinn ihn wecken würde, sobald Gefahr drohte. Er träumte wirres Zeug.
5. Er erwachte vom Heulen des Sturmes, der Schnee und winzige Eiskristalle mit sich brachte, die wie Nadeln auf der ungeschützten Haut stachen. Die Temperatur mochte schlagartig bis auf wenig über den Gefrierpunkt abgesunken sein. Zum Glück war seine Kleidung längst wieder getrocknet. Das Licht war milchig trüb und ließ ihn nicht viel von seiner Umgebung erkennen. Innerhalb weniger Stunden war mehr als ein halber Meter Schnee gefallen. Allerdings – vorhin hatte es die steil aufragende Felswand nicht gegeben. »Wo sind wir?« Einige Meter entfernt klopfte Fred Graebke den Schnee von sich ab und half Lucy, ebenfalls auf die Beine zu kommen. »Das ist eine andere Welt«, behauptete das Mädchen sofort. Atlan zögerte mit seiner Antwort. Du weißt, daß sie recht hat, wisperte der Extrasinn. Insgeheim mußte er sich eingestehen, daß auch er bereits davon überzeugt war. Irgend jemand spielt mit uns!
Wenn du es so nennen willst. Oder es ist alles nur fiktiv … Das würde deine Behauptung von eben keinesfalls widerlegen. Der Sturm flaute ab. Dicke, schwere Flocken fielen nun. Die Sicht reichte allmählich weiter. In der Ferne huschten fahle, irrlichternde Farben über den Himmel, füllten innerhalb von Sekunden fast das halbe Firmament aus und waren dann ebenso schnell wieder verschwunden. Atlan und die beiden Solaner befanden sich auf einem schmalen Hochplateau. Auf der einen Seite an den Fels angrenzend, fiel es zur anderen hin relativ flach ab. Ein dichtes Waldgebiet schloß sich an, und weit entfernt schimmerte golden ein ausgedehnter See. »Seht!« Lucy hatte die Augen zusammengekniffen, wie um deutlicher beobachten zu können, was sie entdeckt hatte. Aufgeregt deutete sie in die Ferne. Da war ein kleines weißes Segel. Das Boot, zu dem es gehörte, lag tief im Wasser, und nur ein Streifen heller Gischt verriet, daß es sich bewegte. Gleich darauf sah Atlan die Ansiedlung. Es mochten einige Dutzend Häuser sein, die dicht gedrängt beieinander standen. Aus vielen Kaminen kräuselten sich dünne Rauchfäden in den Himmel. »Das alles sieht überhaupt nicht kriegerisch aus«, bemerkte Fred. »Vielleicht können wir mit den Wesen, die dort unten leben, vernünftig reden.« Zwischen verschneitem Gecöll und niedrigen Pflanzen fanden sie einen schmalen, gangbaren Pfad, der in zahllosen Windungen in die Tiefe führte. Ein steter, den Berghang herabstreichender Wind sorgte dafür, daß der Schnee hier nur wenige Zentimeter hoch lag. Derselbe Wind ließ den Weg aber auch vereisen. Deshalb kamen die drei nur langsam voran. Dann endete der Pfad an einer breiten Schlucht. »Ohne Hilfsmittel kommen wir unmöglich hinüber.« Atlan wandte sich zu den ihm folgenden Solanern um.
Die Schlucht war mindestens vier Meter breit und erstreckte sich zu beiden Seiten, so weit das Auge reichte. Sie zu umgehen, erschien von vornherein wenig aussichtsreich. »Dann sind wir gezwungen, umzukehren«, meinte Fred Graebke. »Warte noch.« Vorsichtig näherte Atlan sich dem Rand des Felssturzes. Der Boden war glatt, und ein einziger Fehltritt genügte, ihn in die Tiefe stürzen zu lassen. Ehe seine Begleiter ihn daran hindern konnten, griff er nach den dürren Ästen eines verkrüppelten Gestrüpps und ließ sich vorsichtig über den Rand der Schlucht hinabgleiten, wobei er mit den Füßen bereits nach einem Halt suchte. »Es könnte gehen. Sechs Meter Höhenunterschied sind nicht unüberwindbar.« Langsam kletterte er weiter und schlug Schnee und Eis ab, bis an manchen Stellen nacktes Gestein zum Vorschein kam. Mehrmals drohte er abzustürzen, weil er auch das erbeutete Schwert zu Hilfe nahm und dann nur an einer Hand hing. Aber wer nach ihm kam, würde es bedeutend leichter haben. Endlich stand Atlan am Fuß der Schlucht und blickte hinauf in die erwartungsvollen Gesichter der Solaner. »Jetzt du, Lucy.« Sie stellte sich gar nicht so ungeschickt an, wie der Arkonide es erwartet hatte. Auch Fred schaffte den Abstieg mit heiler Haut. Unten reichte der Schnee bis über die Knie. Und darunter lagen dicke Eisschollen verborgen. Es konnte sein, daß zu anderen Jahreszeiten hier ein reißender Bergbach zu Tal schoß. Erneut begann es leicht zu schneien. Je tiefere Regionen man erreichte, desto wäßriger wurde der Niederschlag. Einmal ertönte das hungrige Fauchen einer größeren Raubkatze aus allernächster Nähe. Lucy, die besorgt den Rand der Schlucht im Auge behielt, meinte sogar, einen flüchtigen Schatten bemerkt zu haben, der zu ihnen herabspähte. Sechs Beine, behauptete sie, und
ein Fell wie eine Drahtbürste. Doch der Spuk war so schnell vorüber, daß weder ihr Freund noch Atlan etwas davon mitbekamen. Lucy entdeckte schließlich auch die schon halb verwehten Spuren – Prankenabdrücke, größer jeweils als eine Handspanne, und sie lagen so dicht zusammen, daß die Existenz einer sechsbeinigen Raubkatze fast schon zur Gewißheit wurde. Von da an ruhte Atlans Rechte ständig auf dem Knauf des Schwertes. Es war eine gute Klinge, derjenigen aus Arkonstahl, mit der er damals in Roms Arena gekämpft hatte, allerdings nicht ebenbürtig. Wieder diese Gedanken an deine Vergangenheit, spottete der Extrasinn. Du solltest inzwischen eingesehen haben, daß du keine wirklichen Römer vor dir hattest. Aber die Rüstungen, die Waffen und vor allem die Schilde der Söldner waren bis auf wenige Details nahezu täuschend ähnlich, gab er lautlos zurück. Glaubst du an Zufälle? Du meinst, alles um uns her ist nicht wirklich? Das habe ich nie behauptet, Arkonide. – Paß auf! Die Schlucht endete am Waldrand. Zwischen mächtigen, knorrigen Bäumen wucherte dichtes Unterholz. Wenn man schnell vorankommen wollte, mußte man auch weiterhin dem zugefrorenen Bachlauf folgen. Instinktiv ließ Atlan sich fallen, als ein bösartiges Schwirren ertönte. Er fühlte einen scharfen Luftzug, im nächsten Augenblick schlug etwas krachend in den nächsten Stamm hinter ihm. »Runter!« brüllte Atlan. Ein zweiter Pfeil bohrte sich neben ihm ins Erdreich. »Was ist …?« »Wir müssen weg. Hier liegen wir wie auf dem Präsentierteller.« Fred Graebke nickte verstehend. Bäuchlings schob er sich auf den Arkoniden zu.
Die Stille war bedrückend. Nur in den Wipfeln säuselte der Wind. Irgendwo knackte ein dürrer Ast. Gleich darauf ein zweiter. Rechts von dir, warnte der Extrasinn. Ungefähr sechzig Meter entfernt. Atlan gewahrte eine flüchtige Bewegung. Jemand huschte von Baum zu Baum, immer darauf bedacht, in Deckung zu bleiben. Wieder schwirrten zwei Pfeile heran, ohne jedoch gefährlich zu werden. »EINZIGE«, stöhnte Lucy entsetzl auf. Atlan hatte es ebenfalls bemerkt. Die Angreifer glichen aufrecht gehenden Schlangen mit jeweils zwei Armen und Beinen. Die offensichtliche Tatsache, daß sie nicht über Energiewaffen verfügten, stand zwar im krassen Gegensatz zu den bisherigen Erfahrungen mit ihnen, doch darüber konnte man sich später Gedanken machen. Vielleicht waren sie ebenso wie Atlan und seine Begleiter Gestrandete auf dieser Welt. Man hatte die EINZIGEN als beherrschende Macht des Sternenuniversums kennengelernt. Neben sich duldeten sie kein anderes intelligentes Leben. »Sie werden uns töten«, sagte Fred Graebke tonlos. »Wir haben nichts, um uns zur Wehr zu setzen.« Atlan zeigte auf das dichte Unterholz, das zwanzig Meter entfernt begann. »Dort werden sie uns nicht so leicht aufspüren.« »Aber wir kommen nur schwer vorwärts.« »Willst du abwarten, bis sie uns eingekreist haben? Dann sieh da hinüber!« Mindestens zwanzig EINZIGE kamen auch durch das Bachbett. Noch waren jene allerdings nicht bis auf Schußweite heran. Fred Graebke nickte zögernd. »Es bleibt wohl keine andere Wahl.« Blitzschnell kam er auf die Beine und hetzte in wilden Sprüngen über die freie Fläche. Mehrere Pfeile verfehlten ihn knapp. »Jetzt du!« Atlan stieß Lucy förmlich von sich. Fred hatte mittlerweile das Unterholz erreicht und war zwischen
den dichten Ästen verschwunden. Das Mädchen schrie auf, als ein Pfeil sie streifte. Sie stolperte, stürzte, raffte sich in aller Hast wieder auf und taumelte auf die Büsche zu, ihre Hand krampfhaft auf den linken Oberarm gepreßt. Atlan sah die beiden EINZIGEN zwischen den Bäumen hervorkommen. Lucy konnte es nicht mehr schaffen. »Hier!« schrie er und sprang hoch. Ruckartig wandten die EINZIGEN sich ihm zu; einer hob seinen Bogen und legte auf ihn an. Atlan wartete, bis der Pfeil von der Sehne schnellte und warf sich herum. Die Gegner durchschauten seine Absicht. Mochte der Himmel wissen, woher auch sie plötzlich Schwerter hatten. Waffen entstehen aus dem Nichts heraus, behauptete der Extrasinn. Atlan achtete nicht darauf. Von zwei Seiten zugleich wurde er angegriffen. Hart prallten die Klingen aufeinander. Die EINZIGEN waren hervorragende Kämpfer. Sie verstanden es, den Arkoniden vom ersten Augenblick an in Bedrängnis zu bringen. Singend schnitten ihre Schwerter durch die Luft. Sie täuschten und griffen gemeinsam an, als wären sie aufeinander eingespielt. Stets schien jeder von ihnen genau zu wissen, was der andere beabsichtigte. Atlan hatte Mühe, sich ihrer Attacken zu erwehren. Das Klirren der Waffen hallte in vielfachem Echo durch den Wald. Er führte sein Schwert jetzt beidhändig. Schweiß rann ihm über die Stirn und brannte in seinen Augen. Atlan wußte, daß er sich nicht aufhalten lassen durfte. Die anderen EINZIGEN waren inzwischen bedrohlich nahe gekommen. Er täuschte einen Ausfall vor, verlagerte sein Gewicht zu dieser Seite hin, wirbelte dann herum und prellte einem der Angreifer die Klinge aus der Hand, ehe dieser überhaupt in der Lage war zu begreifen, was geschah. Noch in derselben fließenden Bewegung riß Atlan die Ellbogen nach hinten und traf den zweiten in der
Körpermitte. Zugleich vernahm er hinter sich ein ersticktes Zischen. Fred hatte den entwaffneten EINZIGEN mit bloßen Fäusten niedergeschlagen. Es war allerhöchste Zeit, um zu verschwinden. Das Unterholz entzog Atlan und die Solaner den Blicken der Verfolger. Keiner achtete darauf, ob dornige Äste ihm die Hände zerkratzten. Atlan handhabte das Schwert wie ein schweres Buschmesser. So kamen sie zwar einigermaßen gut voran, hinterließen aber gleichzeitig eine deutliche Fährte. Irgendwann machte das Buschwerk jungem Baumbestand Platz. Die EINZIGEN waren noch immer hinter ihnen her, wie vielfältige Geräusche bewiesen. »Vielleicht sollten wir uns teilen«, schlug Lucy vor. Ihre Wunde hatte sich glücklicherweise nur als unbedeutender Kratzer herausgestellt. »Nein!« Atlan wehrte entschieden ab. »Wir bleiben zusammen.« Sie kamen nicht weit. Die Wesen, die ihnen urplötzlich den Weg versperrten, wirkten zu allem entschlossen.
* Acht Stunden nach dem spurlosen Verschwinden der COLUMBUS hatte man zwar noch immer keine Gewißheit über Atlans Schicksal erlangt, indes stand mit einiger Sicherheit fest, daß der Arkonide nicht mehr an Bord der SOL weilte. SENECA behauptete nach wie vor, über seinen Verbleib nicht informiert zu sein. Zudem, und gerade das machte die Angelegenheit mysteriös, waren die Beiboote an Bord des Mutterschiffs und der beiden Zellen vollzählig. Breckcrown Hayes hatte sich in seine Klause zurückgezogen. Er war zu aufgeregt, um wirklich schlafen zu können. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag er lang ausgestreckt und starrte die Decke an.
Erst als der Summer ansprach, kam Bewegung in seinen Körper. Sein halblaut gegebenes Kommando veranlaßte die Automatik, das Schott zu öffnen. »Du hast uns rufen lassen.« Bjo Breiskoll trat ein, gefolgt von Federspiel. Breckcrown Hayes nickte stumm und forderte sie mit einer flüchtigen Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Es geht um Atlan?« vermutete Breiskoll. »Uns ist die Hektik keineswegs entgangen, mit der nach ihm gesucht wird. Bald wird man es auch vor den Solanern nicht länger verbergen können.« Um Hayes' Mundwinkel zuckte es leicht. »Ich will von euch wissen, was geschehen ist. Ihr habt vollkommen freie Hand bei den Nachforschungen. SENECA wird euch, wo immer möglich, unterstützen.« »Hm«, machte der Katzer. »Weißt du, was es heißt, über 90.000 Solaner zu überprüfen?« »Ich kann es mir vorstellen. Aber ich setze vollstes Vertrauen in eure Fähigkeiten.« »Vielleicht steckt Hidden-X wieder einmal hinter allem«, meinte Federspiel. Breckcrown Hayes erschrak sichtlich. Das war eine Möglichkeit, die er nur, ungern in Erwägung zog. »Atlan ist kurz vor oder nach dem Start der COLUMBUS verschwunden«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß Hidden-X damit zu tun hat.« »Wir werden unser Bestes geben«, versprach der Katzer
* »Aquarianer!« Es waren fünfzehn verwilderte, verwegen dreinblickende Gestalten, ausgerüstet mit Knüppeln, Keulen und klobigen
Steinäxten. Als Atlan in der ersten abwehrenden Reaktion das Schwert hochriß, fiel ihm ein alter Aquarianer in den Arm. »Ich bin Krester Merrym, der Bewahrer auf dieser Welt. Wenn wir euch helfen sollen müßt ihr mich schon als Freund betrachten.« Bevor Atlan oder die beiden Solaner etwas sagen konnten, stürmten die Aquarianer an ihnen vorbei und verschwanden in der Richtung, aus der die EINZIGEN kommen mußten. Nur der Bewahrer blieb zurück. »Ich bin zu alt fürs Kämpfen«, sagte er, und es klang beinahe wie eine Entschuldigung. »Folgt mir.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um und schritt zügig aus. Irgendwie empfand Atlan Vertrauen zu ihm. Es mochte daran liegen, daß er vergeblich auf eine Warnung seines Extrasinns wartete. Krester Merrym führte sie tiefer in den Wald hinein, während hinter ihnen Kampflärm aufbrandete. Atlan glaubte, ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen. »Meine Männer werden die EINZIGEN zurückschlagen«, behauptete er. »Sie haben es noch immer geschafft.« Ungefähr eine Stunde später, sie mochten gut drei Kilometer zurückgelegt haben, wurde der Boden steiniger. Mächtige Findlinge säumten den Weg. Bald schon waren die tonnenschweren Felsblöcke zu einem unüberschaubaren Labyrinth aufeinandergetrürmt, durch das nur ein verwundener Pfad hindurchführte. »Hierher wird niemand euch folgen«, sagte der Aquarianer. Er verhielt seine Schritte, als sie einen freien Platz zwischen steil aufragenden Felsen erreicht hatten. Zwischen primitiven aus Ästen, Laub und Moos errichteten Hütten schwelten die Überreste eines Feuers. »Ich finde alles immer rätselhafter«, sagte Lucy, an Atlan gewandt. »Wo bleibt die Technik, die sie entwickelt haben. Auf eine solche Entwicklungsstufe zurückzufallen, bedeutet sicher, keinerlei
Kontakt mehr zur Zivilisation zu unterhalten.« »Du sprichst von Technik.« Krester Merrym schien verblüfft. »Nichts würde am Ort der ewigen Ruhe störender wirken.« »… der ewigen Ruhe«, wiederholte Lucy Garbers kopfschüttelnd, »das klingt nach Tod.« »Du bist der Wahrheit ziemlich nahe. Jedes Wesen aus Fleisch und Blut würde unseren augenblicklichen Zustand so bezeichnen.« »Aber.« »Mein Leben verbrachte ich auf Aqua«, sagte Krester Merrym betont langsam, als könne er ihre Gedanken erraten. »Jetzt bin ich nur noch Geist, ein Abbild meiner früheren Erscheinung.« »Ich verstehe nicht ganz«, machte Lucy irritiert. »Du glaubst nicht an ein Weiterleben nach dem Tod?« Ehe die Solanerin antworten konnte, mischte Atlan sich ein. »Wo existiert dieser Ort der ewigen Ruhe?« wollte er wissen. »Hier und nirgendwo«, erwiderte der Aquarianer ernsthaft. »Wir treffen uns alle eines Tages wieder, wenn die Uhr des Schicksals abgelaufen ist.« »Du meinst … nach unserem Tod.« »Ich bin ausgewandert an den Ort der ewigen Ruhe. Das ist nichts bedrückendes, wie du vielleicht annimmst.« »Diese Welt ist nicht die einzige, auf der die Geister Verstorbener leben?« Es war der Extrasinn, der Atlan die Worte förmlich in den Mund legte. »Ist das, was ich ein Weißes Loch nenne, identisch mit deinem neuen Lebensraum?« »Was meinst du damit?« Atlan versuchte, es so gut wie möglich zu erklären. Endlich nickte der Aquarianer. »Alle Verstorbenen dieses Universums begegnen sich hier, um einander kennen und verstehen zu lernen.« »Dann ist das Weiße Loch nichts anderes als ein unvorstellbarer Sammelplatz der Toten«, platzte Fred Graebke heraus. »In gewisser Weise magst du recht haben«, nickte der Aquarianer.
»Wo sind wir wirklich?« fragte Lucy ungläubig. »Du weißt es!« »Ich denke an die schillernden Kugeln, die im absoluten Nichts treiben.« Krester Merrym hatte sich in die Hocke sinken lassen und stocherte scheinbar gedankenverloren in der erloschenen Glut. Erst nach einer Weile des Schweigens antwortete er. »Jede dieser Kugeln ist eine Welt für sich – eine Welt ohne Materie allerdings, die nur durch unseren Geist ihre Existenzberechtigung erhält. In ihrer Gesamtheit bilden sie das, was ihr als Weißes Loch bezeichnet.« »Die größte Kugel durchmißt 500 Meter«, begehrte Fred auf. »Einnen solchen Unfug nehme ich dir nicht ab.« »Du wirst es glauben müssen, Solaner.« »Ich …«, begann Lucys Freund, hielt dann aber unvermittelt inne und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Niemand hat dir gesagt, woher wir kommen. Heraus mit der Sprache, Alter, wieso weißt du, daß wir Solaner sind?« Krester Merrym wand sich. »Ihr seid Eindringlinge, die niemand hergebeten hat«, rief er. »Laßt uns Geistern die Ruhe, nach der wir uns sehnen.« »Wenn uns jemand daran hindert, dann ihr«, hakte Atlan sofort ein. »Wir wollen nichts anderes, als einen Weg zurück in unser eigenes Universum finden. Je eher, desto besser.« »Die Zerstörung eures Raumschiffs erfolgte zum Schutz«, behauptete der Aquarianer. »Zum Schutz …« Fred Graebke winkte unwillig ab. »Wessen?« »Ich weiß nicht.« Der Solaner lachte hell auf. »Hör dir das an, Atlan. Er behauptet, etwas schützen zu wollen, und weiß nicht, was.« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Merrym im Brustton der Überzeugung. »Auf der Stelle will ich als EINZIGER wiedergeboren
werden, wenn das nicht die Wahrheit ist.« »Eine tolle Strafe«, stellte Lucy fest. »In gewisser Hinsicht käme das einer Beförderung gleich.« »Habe ich euch in Sicherheit gebracht, nur um mich beleidigen zu lassen?« »Dann heraus mit der Sprache. Was glaubst du zu beschützen? Den Übergang in ein anderes Universum?« Krester Merrym machte eine Geste, die sein Nichtwissen ausdrückte. »Unsere Aufgabe ist in jedem tief verwurzelt. Wenn die Zeit kommt, werden wir den Sinn erfahren.« »Solange können wir nicht warten.« Atlans Reaktion kam zu spät, um den Solaner aufzuhalten. Fred stürzte sich auf Merrym. Aber seine Fäuste schossen ins Leere. Der Aquarianer war spurlos verschwunden. »Wo ist er hin?« Lucys Verzweiflung mochte echt, konnte aber auch gespielt sein. »Daß ihr Männer immer alles gleich übertreiben müßt. Warum glaubst du ihm nicht?« »Weil … Was tut das jetzt noch zur Sache?« »Sehr viel, denke ich, falls Krester Merrym nämlich zurückkehrt.« »Ich halte nichts von seinen Behauptungen oder dem, was sich zwischen seinen Worten ausdrückte.« Atlan dachte an seine Erlebnisse im Mikrokosmos. Einerseits mißbilligte er Freds spontanes Verhalten, andererseits mochte der Solaner damit einen Stein ins Rollen gebracht haben, der endlich eine Entscheidung herbeiführen konnte. Doch warum diese fast schon wehmütigen Erinnerungen an die Vergangenheit? Bilder zogen vor seinem geistigen Auge vorüber, die selbst er beinahe vergessen wähnte. Es war schön gewesen, damals, als er noch unerkannt auf der Erde gelebt hatte. Und auch dann, als die Menschheit sich anschickte, ihr kosmisches Erbe anzutreten.
Was kommen würde, war ungewiß. Atlan fühlte die Todesahnung wie einen eisigen Hauch, und ihn fröstelte. Ein vielfach verästelter greller Blitz zuckte über das Firmament. Diese Welt zwischen Sein und Nichtsein macht dich schwermütig, behauptete der Extrasinn. Du warst früher nie so schnell bereit, aufzugeben. Selbst dann nicht, wenn eine Sache aussichtslos erschien. Ist nicht der Tod das unabwendbare Ziel jedes kosmischen Ereignisses? Früher oder später wird er selbst Unsterbliche wie mich ereilen. Der Himmel hatte sich weiter verfinstert. In unablässiger Folge zuckten Blitze auf und tauchten alles in ein unwirkliches Licht. Grollend hallte der Donner in dem engen Felskessel wider. Eine Geröllawine brachte eine der primitiven Hütten zum Einsturz. »Wir müssen hier weg!« bestimmte Atlan. Es gab keine Höhlen, die ihnen Schutz geboten hätten. Für Lucy und Fred, die ihr Leben lang nichts als die stählernen Wände eines riesigen Raumschiffs kennengelernt hatten, war dies alles fremd und bedrückend. Atlan schob die beiden einfach vor sich her, bis sie begriffen, daß ihnen von den brüchigen Steilhängen Gefahr drohte. Endlich wurde die Schlucht wieder breiter. Im Schutz der ersten Bäume schien das Gewitter an Gewalt zu verlieren. Plötzlich war da blendende Helligkeit. Splittern und Krachen begleiteten diesen Einschlag in allernächster Nähe. Im Nu versperrte eine lodernde Fackel den weiteren Weg. Lucy schrie gellend auf. Aus den zuckenden Flammen schoß ein mächtiger Schatten heran. »Zurück!« Atlan riß sein Schwert hoch. Keine zehn Meter entfernt kam die sechsbeinige Raubkatze auf. Das Feuer mochte sie in ihrer Wut noch angestachelt haben. Flüchtig nahm Atlan wahr, daß seine Begleiter sich zurückzogen,
dann sah er nur mehr die glühenden Augen des Tieres und die Muskeln der Läufe, die sich erneut zum Sprung spannten. In dem Augenblick, als die Raubkatze hochschnellte, wich er behende aus. Seine Klinge ritzte allerdings nur das Fell der Bestie, die da aufkam, wo er eben noch gestanden hatte. Ihre Pranken rissen den Boden auf. Die Raubkatze äugte zu den Solanern hinüber und entblößte ihre Reißzähne. Sie griff wieder an. Tief bohrte Atlans Klinge sich in ihre Flanke. Ein wütender Prankenhieb riß ihn gleichzeitg von den Füßen. Hart prallte er mit der Schulter gegen einen Stein. Trotz des Schmerzes rollte er sich ab und hielt das Schwert schützend über sich. Auf die Beine kam er nicht mehr, denn sofort war die Bestie heran. Das war ein anderer Kampf als damals in der Arena von Rom. Dieses Tier entwickelte weit mehr Kraft und Geschmeidigkeit als jede irdische Raubkatze. Stinkender Atem ließ Atlan würgen. Den zupackenden Kiefern entging er um Haaresbreite. Abermals verfehlte er den Schädel der Bestie, weil diese sich mindestens ebenso schnell herumwarf. Ihr Gebrüll hallte in schauerlichem Echo aus der Schlucht zurück. Angespannt erwartete Atlan den nächsten Angriff, bereit, die Klinge bis zum Heft zwischen die Augen des Tieres zu stoßen. Du bist nervös, warnte der Extrasinn. Um einen wirklich sicheren Hieb anbringen zu können, mußte Atlan sich in die Reichweite der vorderen Pranken und der mörderischen Zähne bringen. Den Bruchteil eines Augenblicks zu lange zögern hieß, dem Tod ins Auge sehen. Er dachte an seine Vorahnungen. Wieder erscholl auch hinter ihm lautes Brüllen. Das war kein Echo. Vorsichtig wandte Atlan den Kopf. Eine zweite Raubkatze kam heran. Zum Glück verhielten Lucy und Fred sich still.
Fast gleichzeitig griffen die Tiere an. Regungslos stand Atlan da, den Schwertgriff mit beiden Händen fest umklammert. Weiß traten seine Knöchel unter der Haut hervor. Alle Kraft legte er in den Hieb und spaltete einer der Bestien den Schädel. Doch schon sprang das zweite Tier ihn an und schnappte nach seinem Arm …
6. An Bord der SOL schrieb man mittlerweile den 10. Oktober. Die Suche der beiden Telepathen nach Atlan war im Sand verlaufen. Nicht der geringste Anhaltspunkt hatte sich ergeben. Über Interkom forderte der High Sideryt Bjo Breiskoll und Federspiel auf, in die Zentrale zu kommen. Immer mehr wurde es zur Gewißheit, daß Hidden-X hinter allem steckte. Selbst Sanny vermochte keine Berechnungen anzustellen. Dazu fehlten ihr die grundsätzlichen Daten. »Der Arkonide schwebt in größter Gefahr«, behauptete sie. Doch das war eine Feststellung, die Breckcrown Hayes schon vorher getroffen hatte, ohne etwas von Paramathematik zu verstehen. Bisher hatte er gezögert, allzu offen Stellung zu nehmen. Nur die Stabsspezialisten waren informiert und natürlich auch die Angehörigen von Atlans Team. Angesichts dieser Lage war das Problem der spurlos verschwundenen Space-Jet zweitrangig geworden. Man befaßte sich noch damit, um nach außen hin den Anschein eines normalen Ablaufs zu gewährleisten, in Wirklichkeit aber wartete die Schiffsführung darauf, daß der oder die unbekannten Entführer sich meldeten und ihre Forderung stellten. »Was anderes als die Übergabe der SOL werden sie verlangen?« Breckcrown Hayes sprach diese Vermutung nur ungern aus, aber sie ließ sich nicht von der Hand weisen.
Gallatan Herts und Lyta Kunduran zuckten einhellig mit den Schultern. »Angenommen, es wäre so«, sagte Herts. »Was würdest du tun?« Nachdenklich kaute Hayes auf seiner Unterlippe. Lytas forschendem Blick hielt er mühelos stand. »Eine verdammt schwere Entscheidung«, gestand er schließlich. »Atlans Leben gegen das Schicksal des ganzen Schiffes und seiner Besatzung.« »Wir sollten kämpfen«, meinte Lyta Kunduran leichthin. »Das sind wir dem Arkoniden schuldig.« Ein kleiner Bildschirm vor dem High Sideryt wurde wie von Geisterhand aktiviert. Es war klar, daß SENECA ihre Unterhaltung verfolgt hatte. Da die Hyperinpotronik auf eine akustische Durchsage verzichtete, mußte es sich um eine Mitteilung handeln, die nicht für alle Anwesenden bestimmt war. NEUSTE ERGEBNISSE, flimmerte ein Schriftzug über den Schirm. NACH AUSWERTUNG SAEMTLICHER SPEICHERDATEN UND AUFZEICHNUNGEN ENERGETISCHER VORGAENGE AN BORD DES MUTTERSCHIFFS UND DER BEIDEN ZELLEN ERGIBT SICH DIE FOLGERUNG, DASS ATLAN MIT HILFE EINES TRANSMITTERS ENTFUEHRT WURDE. »Detaillierung!« verlangte Hayes. »Welche Wahrscheinlichkeit kann dem zugeordnet werden?« 99,98 PROZENT, war zu lesen. ZUM ZEITPUNKT DES VERSCHWINDENS DES ARKONIDEN PLUS MINUS 30 MINUTEN SIND LEDIGLICH VIER TRANSMITTERDURCHGAENGE VERZEICHNET. DREI DAVON FUEHRTEN NACHWEISLICH VOM MUTTERSCHIFF ZU DEN ZELLEN. »Und der vierte?« ZIELKOORDINATEN UNBE KANNT. KEINE BERECHNUNG MÖGLICH, DA DIE SCHOCKWELLE DER REMATERIALISIERUNG NICHT ERFASST WURDE.
»Also ein Sprung über größtmöglichste Distanz«, stellte Lyta Kunduran fest. DER ENERGIEAUFWAND WAR MINIMAL UND LAESST DIESEN SCHLUSS NICHT ZU. »Welcher Transmitter wurde benutzt?« SOL-City. »Und der genaue Zeitpunkt?« Breckcrown Hayes schnalzte leise mit der Zunge, als er die betreffenden Daten ablas. »Das war nur wenige Minuten, bevor der Kontakt zur COLUMBUS abbrach. Ob ein Zusammenhang besteht?« Das Erscheinen der Telepathen unterbrach ihn. Bjo Breiskoll brauchte seine Fähigkeit nicht einzusetzen, um zu erkennen, was den High Sideryt bewegte; er hatte die letzten Sätze ablesen können. »Deshalb also«, sagte er. »Ist unser Gegner wieder aktiv geworden?« »Alles deutet darauf hin«, nickte der High Sideryt. »Wenn dem wirklich so ist, könnt ihr mit der Suche aufhören.« »Was soll nun geschehen? Wir dürfen Atlan auf keinen Fall im Stich lassen.« »Das werden wir auch nicht. Aber wir müssen damit rechnen, daß Hidden-X uns erneut eine Falle stellt.« »Was ist mit Federspiel?« machte Lyta Kunduran überrascht. Niemand hatte mehr auf den Telepathen geachtet, der sich plötzlich an einem Sessel festhielt. Er war blaß geworden, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die Augen halb geschlossen, schien er irgendwelchen Gedanken zu lauschen. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. »Jemand in der Zentrale denkt an Atlan. Hoffentlich geht alles gut.« »Das hoffen wir auch«, meinte Gallatan Herts. »Nein.« Federspiel schüttelte den Kopf. »Nicht so. Der Betroffene fürchtet, daß es ein Fehler gewesen sein könnte, daß er die Gefahr,
die Atlan und den anderen droht, nicht hoch genug eingeschätzt hat.« »Du meinst, einer von uns …?« Breckcrown Hayes sprach das Ungeheuerliche nicht aus. »Wer?« »Ich konnte es nicht feststellen«, sagte Federspiel. »Laß mir etwas Zeit.« Bjo Breiskoll antwortete schneller: »Eine junge Frau, Jeanne Mandruga. Zweifellos hat sie mit Atlans Verschwinden zu tun.« Der High Sideryt winkte zwei Roboter zu sich heran. »Holt mir diese Mandruga her!« befahl er.
* Im letzten Moment konnte Atlan seinen Arm vor den Reißzähnen zurückziehen. Er fügte der Raubkatze eine Wunde in der Halsgegend zu, was ihre Wut aber nur noch anzustacheln schien. Das Gewitter hatte nachgelassen, und obwohl es windstill war, trieben die Wolken rasch auseinander. Einige jener schillernden Kugeln, denen die COLUMBUS zum Opfer gefallen war, senkten sich herab. Dabei schienen sie zu wachsen und sich ins Unendliche auszudehnen. Wieder griff die Raubkatze an. Atlan stieß ihr das Schwert zwischen die Zähne, und mit einer heftigen Kopfbewegung riß sie ihm die Waffe aus der Hand. Von jäher Verzweiflung übermannt, bückte der Arkonide sich nach einem morschen Ast, der neben ihm lag. Der Himmel hatte sich mit den Farben des Regenbogens überzogen. Mit einemmal fühlte Atlan sich unsagbar klein. Ihm war, als blicke er in eine ferne Welt, die sich vor ihm öffnete. Und in gewisser Weise war dem auch so. Das Leuchten hüllte ihn ein. Flüchtig glaubte er, die Schwärze des
Alls wahrzunehmen, dann war alles wie zuvor. Atlan schwang den Ast wie eine Keule, bereit, sein Leben und das der beiden Solaner so teuer wie möglich zu verkaufen … Die Raubkatze war verschwunden. Der Ast entglitt seinen Händen, als die Erleichterung ihn zittern ließ. Ob nur ein Zufall ihn gerettet hatte, wußte er nicht. Aber dies war wieder eine andere Welt. Der Sand unter seinen Füßen strahlte angenehme Wärme aus. Keine zwanzig Meter entfernt verliefen sich die schäumenden Wellen eines Ozeans. Sanft und einschmeichelnd klang das Rauschen der Brandung. Von einem nahezu wolkenlosen Firmament stach eine kleine, grüne Sonne herab. »Wir verstehen überhaupt nichts mehr. Atlan, was geschieht mit uns?« Der Arkonide ließ von seinen Betrachtungen ab und wandte sich zu Lucy und Fred um, die eilig auf ihn zukamen. Verwirrung stand in ihren Gesichtern geschrieben. »Wo sind wir?« Atlan vollführte eine umfassende Handbwegung. »Auf einer neuen Welt«, sagte er betont langsam. »Habt ihr nicht das Leuchten wahrgenommen, das uns einhüllte?« »Eine der Kugeln«, nickte Fred Graebke. »Aber …« Atlan winkte ab. »Das ist ein Dimensionsproblem, weiter nichts. Jedenfalls müssen sich zwei Kugeln berührt haben, wodurch wir von einer Welt in die andere versetzt wurden. Solche Zusammenstöße geschehen sicher häufig. Als wir schliefen, muß es uns genauso ergangen sein.« »Das klingt plausibel«, sagte Lucy. Ein leises Zischen ließ sie aufmerken. Da war eine Bewegung im Sand. Entsetzt sprang sie zur Seite. Wo sie eben gestanden hatte, wühlte sich ein faustgroßes Tier an
die Oberfläche. Zwei Scheren schnappten ins Leere. Das Geschöpf wandte sich sofort einem neuen Opfer zu. Aus seinen Rückenstacheln spritzte eine giftgrüne Flüssigkeit auf Fred zu, der aber geistesgegenwärtig auswich. Als die Tropfen den Sand berührten, verdampfte dieser blasenwerfend. Seitwärts kriechend stürzte das Tier sich auf den Arkoniden. Atlan blieb starr stehen und sah zu, wie der seltsame Krebs sich an seinen Schuhen zu schaffen machte. Dieses Tier war gefährlich, das spürte er. Ein erneuter Säureschwall löste etliche Handvoll Sand auf. Fred Graebke wollte offenbar den Ast aufheben, um damit zuzuschlagen, aber die Erschütterungen seiner Schritte ließen den Krebs herumfahren. Atlan nutzte diesen Moment und trat zu. Unter seinem Fuß zersplitterte Chitin. Zu sehen war dann allerdings nichts mehr. »So ein tückisches Biest«, schimpfte Fred. »Hoffentlich lauern nicht noch andere dieser Art auf uns.« »Seht!« rief Lucy. An der Stelle, wo Atlan den Krebs zertreten hatte, wuchs eine Pflanze aus dem Sand. In Sekundenschnelle hatte sie Mannshöhe erreicht. Dicke Luftwurzeln tasteten nach allen Seiten und bohrten sich in den Boden. Der Baum wuchs rasend schnell weiter, bildete eine ausladende Krone und entwickelte große, lederartige Blätter. Sofort zeigten sich die ersten Blütenkelche in grellen Farben. Der Anblick faszinierte, wirkte vielleicht sogar hypnotisch, denn er machte es unmöglich, sich abzuwenden. Gefahr! signalisierte Atlans Extrasinn. Aus den Blüten wurden gut dreißig Zentimeter lange, dünne Früchte. »Kommt!« Der Arkonide zog die beiden Solaner mit sich, die wie gebannt den Baum anstarrten. Gleich darauf ertönte ein schrilles Geräusch. Zwei Samenkapseln
schwirrten über sie hinweg und schlugen weit vor ihnen auf. Sofort sprossen neue Pflanzen in die Höhe. Weder Lucy und Fred zeigten eine Regung. Sie waren wie Marionetten, die keinen eigenen Willen besitzen. Der Baum verschleuderte seine Früchte. Ringsum grünte und blühte es bereits. Allein wäre Atlan schnell genug gewesen, diesem üppig wuchernden Dschungel zu entkommen … Eine Samenkapsel traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Ins Wasser! forderte der Logiksektor. Nur dort seid ihr sicher. Kurz entschlossen warf Atlan sich Lucy über die Schulter. Die Wurzeln drohten ihm den Weg zu versperren. Das konnte kein Zufall sein. Er stolperte, hastete weiter, nur von dem Gedanken beseelt, den unbekannten Gegner zu schlagen. Erneut prasselte ein Schwall von Samen herab. Atlan hörte Lucy leise stöhnen. Endlich erreichte er das Meer und watete hinein, bis das Wasser seine Hüften umspülte. Das Mädchen schien langsam wieder zu sich zu kommen. Atlan ließ sie von seiner Schulter gleiten. »Bleib hier!« rief er ihr zu. »Ich muß Fred holen.« Sie nickte zögernd. Bis unmittelbar an den Rand der Brandung erstreckte sich bereits das Grün. Im Vorüberhasten riß Atlan etliche der kleinen Triebe aus und schleuderte sie davon. Das Wurzelwerk war dichter geworden, aber bis es wirklich undurchdringlich wurde, mußten noch etliche Minuten vergehen. Fred Graebke stand bewegungslos, sein Blick verlor sich in weiter Ferne. Als Atlan ihn sich ebenfalls aufladen wollte, begann er um sich zu schlagen. Der Arkonide konnte schließlich nicht umhin, ihn mit einem schnellen Dagorgriff zu betäuben. Schlangen gleich tasteten die Wurzeln über den Sand. Ein steter Hagel von Früchten prasselte hernieder. Atlan stöhnte unter der Last auf seinen Schultern, die ihn bei jedem Schritt tief einsinken
ließ. Er spürte den beschleunigten Schlag seines Herzens, kämpfte gegen das beängstigende Stechen in seinem Brustkorb an. Ohne die belebenden Impulse seines Zeilaktivators wäre er wohl zusammengebrochen. So aber erreichte er zum zweitenmal das Waser. Zurückblickend sah er den stetig weiterwuchernden Dschungel wie eine undurchdringliche Mauer. Lucy eilte ihm entgegen, und gemeinsam zogen sie Fred weiter ins Meer hinaus, bis die Wucht der aufkommenden Wellen fast schon stark genug war, sie umzuwerfen. Als der Solaner wieder zu sich kam, war der unheilvolle Bann auch von ihm abgefallen. Ein seltsamer Druck in seinem Schädel war alles, woran er sich erinnert. Daß Atlan davon nichts gespürt hatte, mochte entweder dem Extrasinn oder seiner Mentalstabilisierung zuzuschreiben sein. »Wenn wir wieder an Land wollen, werden wir uns mit deinem Schwert durchschlagen müssen«, meinte Fred. »Ich fürchte, Atlan besitzt es nicht mehr«, erwiderte Lucy. »Es sieht so aus«, nickte der Arkonide, »als könnten wir nur das von einer Welt in die andere mitnehmen, was wir am Körper tragen oder gerade mit den Händen berühren. Habt ihr euch nicht gefragt, wo die Raubkatzen geblieben sind?« Die Wellen wurden höher. Atlan verlor den Grund unter den Füßen und mußte schwimmen. Gegen die Strömung kam keiner an. Das Wasser zog sie mit unwiderstehlicher Gewalt dem Ufer zu. Plötzlich war da nur noch heller, glitzernder Sand und keine Spur mehr von dem tropischen Dschungel. Atlan watete als erster an Land. Aber nichts geschah. »Sind alle Planeten so?« fragte Fred Graebke irritiert. »Dann kann ich unsere Vorfahren verstehen, daß sie lieber im All leben wollten.« Atlan schüttelte den Kopf. »Nichts auf dieser Welt ist real«, behauptete er, »vielleicht nicht einmal sie selbst. Ich glaube, wir sollten Parallelen ziehen zu der Landschaft im Nichts.«
»Du meinst, jemand hat dies alles geschaffen, nur um uns festzuhalten?« »… oder um uns zu prüfen.« Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Atlan eine flüchtige Bewegung. Es war bereits zu spät, um auszuweichen. Ein heftiger Schlag zwischen die Schulterblätter wirbelte ihn meterweit davon. Er stürzte, raffte sich aber sofort wieder auf und riß das Schwert, das plötzlich wieder da war, aus dem Gürtel. Lucy und Fred rannten nach verschiedenen Richtungen davon. Indem sie damit den unverhofft erschienenen neuen Gegner verwirrten, taten sie das einzig Richtige. Ein wahrer Koloß aus zuckendem Fleisch und Warzen schob sich auf Atlan zu. Mindestens drei Meter maß dieses Abbild einer Kröte. Erneut schnellte ihre Zunge heran. Der Arkonide ahnte, daß es sinnlos war zu fliehen. Du vermutest richtig, stimmte sein Extrasinn zu. Nur deshalb waren die Überreste des Krebses verschwunden, und darum existiert der Dschungel nicht mehr. Wenn du jetzt wegrennst, würde das Tier aus dem Nichts heraus vor dir neu erstehen. Die Kröte trieb ihn aufs Wasser zu. An Land mochte sie ein plumpes Monstrum sein, im Meer war sie zweifellos überlegen. Immer wieder peitschte die klebrige Zunge vor und ließ Atlan keine Wahl. Die beiden Solaner versuchten, das Tier von ihm abzulenken. Der einzige Erfolg ihrer Bemühungen war, daß Lucy ebenfalls getroffen wurde und stöhnend vornüber sank. Atlan mußte in die Ausläufer der Brandung zurückweichen. Die Erkenntnis, in einer fiktiven Welt gefangen zu sein, half ihm wenig, denn die Gefahr zeigte sich durchaus real. »Bringt euch in Sicherheit!« rief er den Solanern zu. »Nein«, erwiderte Lucy beinahe zornig. »Wir bleiben bei dir.« Atlan verharrte in gespannter, leicht gebeugter Haltung. Das Schwert hielt er wie einen kurzen Speer. Während zwei Finger
seiner linken Hand die Klinge berührten, lag seine Rechte am Ende des abgerundeten Knaufs. Er wartete, bis die Kröte nur noch wenige Meter entfernt war. In dem Augenblick, als erneut ihre Zunge auf ihn zuschnellte, schleuderte er das Schwert. Bis zum Heft bohrte die schwere Waffe sich in den Schädel des Tieres, das lautlos versank. Lange blickte Atlan gedankenverloren auf jene Stelle, doch nichts geschah. Endlich watete er auf den Strand zurück. Paß auf! Die Warnung seines Extrasinns kam zu spät. Etwas sprang ihn von hinten an und riß ihn zu Boden. Atlan vernahm ein gefährliches Knurren. Seine zupackenden Hände verkrallten sich in triefend nassem Fell. Gleichzeitig wälzte er sich herum und schüttelte den Angreifer ab. Es war ein großer, grauer Wolf, der wie ein Schatten abermals heranflog. Diesmal war Atlan gewarnt und hielt dem Aufprall stand. Die Lefzen fletschend, schnappte das Tier nach ihm. Dem Arkoniden gelang es, mit beiden Händen das Maul zu packen. Doch so schnell ließ der Wolf von seiner Beute nicht ab. »Ich helfe dir!« Fred Graebke warf sich auf die zuckenden Hinterläufe des Tieres. »Er kam aus dem Meer. Ich habe es genau gesehen.« Selbst zu zweit konnten sie den Wolf kaum halten, der wild um sich biß. Freds Kombination zerfetzte, als er nur eine Sekunde lang unachtsam war. »Einen Stein, Lucy!« schrie er. »Oder irgend etwas, womit wir diese Bestie betäuben können.« Schon sprang der Wolf wieder hoch, fuhr jaulend herum, als Fred sich an seiner buschigen Rute festklammerte. Schützend riß der Solaner die Arme hoch.
* Jeanne Mandruga wirkte keineswegs überrascht, als die Roboter sie zum High Sideryt brachten. Sie bedachte Hayes mit herausfordernden Blicken. »Warum?« fragte er nur. Sie schwieg und preßte die Lippen zusammen, bis sie einen schmalen, blutleeren Strich bildeten. »Auch gut«, nickte der High Sideryt. »Wenn du nicht reden willst, Bjo Breiskoll und Federspiel werden die Wahrheit schnell herausfinden.« »Was wirfst du ihr vor?« wollte Curie van Herling wissen. »Deine Roboter haben sie einfach von ihrem Platz weggeschleppt.« »Meine Liebe«, erwiderte Hayes ruhig. »Es ist unnötig, daß du dich aufregst.« »Unnötig? – Ich habe mich Jeannes angenommen, weil sie hervorragende Anlagen besitzt, die wir fördern sollten.« »Eben«, nickte Hayes. »Zweifellos ist sie an Atlans Verschwinden beteiligt.« »Wer behauptet das?« Mit einem flüchtigen Kopfnicken deutete der High Sideryt auf die beiden Telepathen. »Es ist leider wahr«, gestand Jeanne Mandruga betont langsam. »Allerdings hat keiner von uns mit dem spurlosen Verschwinden der COLUMBUS gerechnet.« »Demnach ist Atlan auf der SJ-81?« »Wir glaubten, daß es besser sei, wenn das Schiff mit einer menschlichen Besatzung …« »Erzähle von Anfang an«, unterbrach der High Sideryt. »Mich interessiert, wer daran beteiligt war, wie es euch gelungen ist, Atlan zu entführen und vor allem, was ihr euch wirklich davon versprochen habt. Es ist vollkommen sinnlos, jetzt noch jemanden decken zu wollen.«
Und Jeanne Mandruga berichtete. Die Wünsche und Sehnsüchte einer jungen Generation drückten sich in ihren Worten aus. Trotzdem waren die Tatendurstigen nur eine kleine Gruppe Verschworener. Als sie endete, zeigten sich betretene Gesichter ringsum. »Ich muß dich und deine Freunde in Arrest nehmen«, sagte Hayes. »Vielleicht kann ich dabei sein, wenn ein zweites Schiff startet. Ich würde meinen Fehler gerne wiedergutmachen.« Mit keinem Wort ging der High Sideryt auf ihre Bitte ein. »Der Transmitter in SOL-City war auf die COLUMBUS justiert, um für mögliche Zwischenfälle gerüstet zu sein«, fuhr er fort. »Wie ist es euch gelungen, die Sicherungsschaltungen lahmzulegen und dabei sogar SENECA zu hintergehen?« »Wenn man die entsprechenden Codes und Schaltpläne kennt, kein großes Kunststück. Sogar die Zielprogrammierung für diesen einen Sprung konnten wir wieder löschen, ohne Spuren zu hinterlassen.« Jetzt lächelte der High Sideryt. »Ganz so perfekt, wie du glaubst, war euer Vorgehen nicht. SENECA hat herausgefunden, daß Atlan mit einem Transmittersprung von SOL-City aus entführt wurde – auch wenn bis zu dieser Erkenntnis unverhältnismäßig viel Zeit verging.«
* Fred Graebke schrie auf, als die Fänge des Wolfes sich in seinen Unterarm gruben. Breitbeinig stand Atlan da und versuchte, das Tier zurückzuzerren. Ein jäh losbrechender Sturm wirbelte Unmengen von Sand auf und preitschte sie über den Angreifer hinweg. Erste Hagelkörner prasselten hernieder. Der Wolf zog jaulend die Rute zwischen die Hinterläufe.
»Verschwinde!« rief Atlan dem Solaner zu. »Ehe er uns wieder angreift.« Doch sie kamen nicht weit. Weil man kaum mehr die Hand vor Augen erkennen konnte, hatte der Wolf sie schnell eingeholt. Schaum stand vor seiner Schnauze; sein dichtes, noch immer nasses Fell, begann zu dampfen. Es wurde bitterkalt. Innerhalb weniger Sekunden fielen die Temperaturen bis unter den Gefrierpunkt. Atlan glaubte, seinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen, als im Fell des Wolfes Eiszapfen wuchsen. Seine Bewegungen wurden merklich träger. »Das gibt es doch nicht, oder?« stöhnte Fred. »Es sieht so aus, als wollte die Natur dieser Welt uns zu Hilfe kommen.« Heftige Erschütterungen durchliefen das Erdreich, gefolgt von einem dumpfen Grollen. Keine fünf Meter entfernt tat sich der Boden auf. Greller Feuerschein brach daraus hervor, aber die erwartete Glut blieb aus. »Seht!« schrie Lucy. Die Umrisse des Wolfes schienen zu verschwimmen, wurden schattenhaft und ließen den Skelettaufbau erkennen, der ebenfalls in rascher Veränderung begriffen war. Flüchtig glaubte Atlan, einem Wesen mit annähernd menschlicher Gestalt gegenüberzustehen, dann glotzten ihn wieder zwei Wolfsaugen tückisch an, und ein heiseres Bellen erklang. Er zögerte nicht länger. Seine Finger verkrallten sich in struppigem Fell, er zerrte den nun fast reglosen Wolfskörper mit sich und schleuderte ihn hinab in den flammenden Schlund, der sich noch immer ausweitete. Das Tier verging in einer heftigen Eruption, deren Aufflammen geisterhafte Lichtreflexe hervorrief.
7.
Schlagartig beruhigte sich die aufgewühlte Natur. Selbst das Rauschen der Brandung verstummte. Eine nebelhafte Erscheinung stieg aus dem Boden empor. Eben noch von der Gestalt eines Wolfes, begann sie sich rasch zu verändern, schwebte auf Atlan zu. »Flieh!« riefen Lucy und Fred wie aus einem Mund, doch der Arkonide zeigte keine erkennbare Regung. Die Konturen verdichteten sich, wiesen schon durchaus menschliche Formen auf. »Nein!« schrie Lucy gellend auf. »Das … das kann nicht wahr sein.« Ihr Freund starrte mit schreckensgeweiteten Augen auf das Geschehen. Nicht einmal ein Ächzen drang über seine Lippen. Das Wesen hatte Atlan fast erreicht. Es war ein Hüne von einem Mann, fettleibig und kahlköpfig. Sein massiges Gesicht wirkte aufgedunsen und ließ die Augen kaum erkennen, die hinter dicken Fleischwülsten verschwanden. »Chart Deccon!« brachte Atlan tonlos hervor. Dann gab er sich einen merklichen Ruck. »Du bist genauso Schein wie alles andere, was uns hier begegnete.« »Du irrst, Arkonide«, sagte sein Gegenüber mit derselben grollenden Stimme, die man von ihm gewohnt war. »Erkennst du in mir nicht mehr den ehemaligen High Sideryt der SOL?« »Trotzdem kann ich es nicht glauben.« »Weil mein Tod ein Opfer war? Oder willst du Beweise? Du kennst meinen Nachfolger und weißt, in welchem besonderen Verhältnis ich zu ihm stehe – oder stand …« »Bist du es wirklich?« Lucy Garbers und Fred Graebke kamen nur zögernd näher. Chart Deccon lachte rauh. »Hier habe ich die Ruhe gefunden, nach der ich mich sehnte. Mein früheres Leben war wie die Phasen meiner Verwandlung, die ihr
miterleben durftet – erst Gift verspritzend, dann die undurchdringlichen Netze von Intrigen spannend, schließlich nichts als ein häßliches aber doch gefährliches Wesen und ein reißender Wolf. In der Stunde meiner Auswanderung hat der geistige Faktor mich an diesen Ort verschlagen. Das war, als ich das, was ihr Leben nennt, aushauchte.« »Dann stehen wir vor deinem Geist«, sagte Atlan. »Wenn du es so nennen willst.« »Und was soll nun geschehen?« »Mache dir darüber keine unnötigen Gedanken. Im Gegensatz zu unseren ersten Begegnungen bin ich dir durchaus wohlgesinnt.« »Wir werden deine Hilfe auch brauchen, wollen wir jemals in unser Heimatuniversum zurückkehren«, nickte Atlan. »Wie meinst du das?« Der Arkonide versuchte, die Odyssee der SOL seit den Geschehnissen im Ysterioon kurz aber doch so ausführlich wie möglich zu schildern. Er beendete seine Erzählung mit dem Sturz der COLUMBUS in das Weiße Loch. »Jede der Kugeln stellt eine eigene Welt dar«, nickte Deccon. »Sie werden nur von den ruhenden Geistern gebildet und besitzen keinerlei Materie, wie ihr sie kennt.« »Deshalb also das absolute Nichts, das sich von Bord der SOL aus darbot«, meinte Lucy. »Nichts – und doch ein Paradies oder die Hölle, ganz wie du willst. Hast du meinen Hinweis verstanden, Atlan?« Der Arkonide zögerte. Allerdings hätte es der Bemerkung seines Extrasinns nicht bedurft, um zu verstehen, worauf Chart Deccons Geist anspielte. »Die Römer …« sagte er. »Ich hätte mir denken können, daß nur jemand, der meine Vergangenheit kennt, ihre Kleidung und Waffen den Originalen nachbilden kann. Bist du auch verantwortlich für die vielen Erinnerungen, die in mir aufbrachen?«
»Nein«, erwiderte Deccon. »Wahrscheinlich waren es die verschiedenen Einflüsse des Ortes der ewigen Ruhe, die dich bedrängten. Als relativ Unsterblicher bist du aufgeschlossener für den Tod.« Lucy und Fred flüsterten miteinander. Obwohl Atlan nichts von ihrer Unterhaltung verstand, Chart Deccon konnte es offensichtlich. »Ihr habt euch den Kopf darüber zerbrochen, woher der Aquarianer die Bezeichnung Solaner kannte …« »Von Krester Merrym erfuhren wir immerhin, daß ihr einer Aufgabe nachkommt«, stellte Atlan fest. »Ist es der Übergang in unser Universum, den ihr bewacht?« Chart Deccon zuckte mit den Schultern. »Uns ist ziemlich egal, worum es sich handelt. Keiner hat bisher in dieser Richtung nachgeforscht.« »Dann tu es für uns. Bitte.« »Ja, Atlan, ich kann verstehen, was dich bewegt. Ich werde mit den anderen reden.« Da waren sie wieder, diese lautlosen Stimmen, die Atlan und die beiden Solaner bedrängten. Doch diesmal war keine Ablehnung erkennbar. Es mußten Milliarden von Geistern sein, zu denen Chart Deccon auf halb telepathische Weise sprach. Überwiegend Gleichgültigkeit schlug dem Arkoniden entgegen. »Gut und Böse liegen so dicht beieinander, daß eine Trennung nahezu unmöglich ist«, wisperten die unsichtbaren Bewohner dieser Welt. »Wer sagt uns, daß es wirklich gut ist, jene Wesenheit HiddenX zu besiegen?« Atlans Argumente vermochten nicht zu überzeugen. Auch Deccons Versuche schlugen fehl. »Wir leben hier in Frieden, den wir zuvor nicht hatten. Sollen wir alles aufs Spiel setzen, nur einer Idee wegen?« Allmählich lernte Atlan die Stimmen voneinander zu unterscheiden. Einige besonders weise Geister waren unter ihnen, deren Einfluß auf die anderen er keinesfalls unterschätzen durfte.
Was als Versuch Deccons begonnen hatte, seinen Freunden zu helfen, wurde sehr schnell zu einem Verhör. Besonders taten sich dabei zwei Geister hervor, die Fastrap und Wallga-Wallga genannt wurden. Über ersteren konnte Atlan nichts in Erfahrung bringen, beim Kontakt mit Wallga-Wallga aber stutzte er. »Wir kennen uns?« »In der Tat, das ist wahr. Du gehörst zu jenen, die mich um mein Schiff und meine Knappen brachten. Du mußt schon gute Beweggründe für dein Handeln haben, sonst werde ich nie zustimmen.« Öffne deine Gedanken für sie, riet der Extrasinn. Nur so wirst du Wallga-Wallga überzeugen können. Atlan zögerte nicht. Er fühlte, wie die Geister an seinen Erinnerungen teilhatten. Ihr Entschluß kam selbst für ihn überraschend: »Wir werden den Weg freigeben, was immer an seinem Ende auf euch warten mag, ob Erfüllung aller Hoffnungen oder die Vernichtung. Aber wir verlangen zwei Dinge. Du, Atlan, sollst dafür sorgen, daß die Ruhe der Geister des Sternenuniversums nie wieder gestört wird. Und du sollst ferner alles tun, um die böse Macht auszulöschen, die hinter allem steht.« »Ich verspreche es«, sagte Atlan. »Bringt uns nun zu unserem Schiff zurück.« »Wir können den Ort der ewigen Ruhe nicht überwinden.« »Nimm das hier.« Chart Deccon streckte dem Arkoniden seine Hand entgegen, und die Hand wurde zu einem kleinen Hyperfunkgerät, wie man es an Bord der SOL benutzte. »Rufe meinen Nachfolger und verlange, daß man einen Transmitter auf Empfang schaltet. Die Geister werden eine Lücke schaffen, damit die Hyperfunkwellen ihr Ziel erreichen.« Zweimal wiederholte Atlan die Aufforderung an Breckcrown Hayes, dann löste das Funkgerät sich auf.
»Geh jetzt!« sagte Chart Deccon. »Es ist ein Abschied für immer. Und du, Atlan, grüße Hayes von mir. Ich weiß, daß er ein fähiger High Sideryt ist.« Das, was seinen Körper ausmachte, verformte sich zu einem kleinen Sendetransmitter. Es war die Kraft des Geistes, die das Unvorstellbare möglich machte, Materie aus dem Nichts heraus zu erzeugen und wieder vergehen zu lassen. Vielleicht wird die Menschheit eines Tages selbst dieses Geheimnis ergründen, dachte Atlan. Dann schritt er hinter Fred und Lucy durch das Entstofflichungsfeld.
* Die WHITE HOLE stand zum Start bereit in einem Hangar des SOLMittelteils. Breckcrown Hayes hatte es sich nicht nehmen lassen, die Expedition selbst zu leiten, deren Ziel es war, das Schicksal der COLUMBUS aufzuklären. Außer ihm befanden sich Sanny und Bjo Breiskoll an Bord sowie Hage Nockemanns Roboter Blödel und Jeanne Mandruga. Keiner von ihnen wußte, ob er jemals die SOL wiedersehen würde; es war ein Flug, der unter den denkbar schlechtesten Voraussetzungen begann. Schon öffneten sich die Hangartore und gaben den Blick frei auf die sternenlose Zone. »Also dann …« Der High Sideryt lehnte sich im Pilotensessel zurück. Die Startvorbereitungen wurden vollautomatisch von der Bordpositronik gesteuert. Die Triebwerke zündeten im Leerlauf. Noch dreißig Sekunden … Ein Anruf aus der Zentrale kam Gallatan Herts selbst war am anderen Ende. Überraschung spiegelte sich in seinem Gesicht wider. »Den Start sofort abbrechen!« rief er. »Atlan hat sich gemeldet.« Verblüffung erst, dann redeten alle wirr durcheinander.
Kurzentschlossen legte der High Sideryt den Antrieb lahm. Zehn Sekunden waren es noch bis zum programmierten Start.
* Fünf Minuten später standen sie sich in der Zentrale gegenüber. Atlan und zwei Solaner, denen man die durchlebten Strapazen ansehen konnte, waren über den Transmitter zurückgekehrt. Es gab viel zu besprechen, aber die größte Überraschung war doch, daß der Arkonide behauptete, Chart Deccon habe ihnen geholfen. Jeden anderen hätte man für verrückt erklärt – seinen Worten schenkte man, wenn auch nur zögernd, Glauben. Er hatte noch lange nicht geendet, als auf den Bildschirmen das Weiße Loch zum erstenmal schwach sichtbar wurde. Ein mehrere Kilometer breiter Schlauch bildete sich, eine flammende energetische Erscheinung unbekannter Natur, die bis ins Zentrum des absoluten Nichts führte. Das freie Ende, zuckend, als wäre Leben in ihm, wölbte sich der SOL entgegen. »Volle Beschleunigung!« Atlan übernahm wie selbstverständlich das Kommando, nachdem Breckcrown Hayes auffordernd zur Seite getreten war. Uster und Vorlan Brick steuerten das riesige Fernraumschiff sicher in den sich ausweitenden Schlauch. Obwohl die Schutzschirme schlagartig zusammenbrachen, kam es zu keinerlei außergewöhnlichen Erscheinungen. Es war, als rase die SOL durch einen Tunnel hindurch, der in allen nur vorstellbaren Farben glühte. Ein düsteres Rot brach herein. Winzige Flammen tanzten wie Elmsfeuer über die Schaltpulte. »Wir nähern … uns … deeem … Zeeentruuuumm …« SENECAS Stimme klang gedehnt, als unterläge die Biopositronik bereits einem anderen Zeitablauf. Unwillkürlich blickte Atlan auf sein Armbandchronometer. Er war
nicht sonderlich überrascht, festzustellen, daß für ihn und die beiden Tatendurstigen mehr Zeit vergangen war als an Bord der SOL. Plötzlich war da eine Stimme, die jeder an Bord vernahm. Es war die Stimme von Chart Deccon. »Ich wünsche meinen ehemaligen Solanern Erfolg auf ihrem weiteren Weg. Sei das Glück mit euch! Und auch mit dir, mein Freund Atlan. Lebt wohl!« Die SOL hatte den Mittelpunkt des Weißen Lochs erreicht. Ein schrilles Singen brandete auf, näherte sich in Sekundenschnelle dem Bereich des Ultraschalls und ging in ein Dröhnen über, welches das Schiff bis in die Grundfesten erschütterte. Kaum jemand war noch in der Lage zu begreifen, was geschah. Aber alle hatten das unbestimmte Gefühl, als würde die SOL auf unsinnige Werte beschleunigt. Das Schiff raste durch einen Raum, dessen Existenz selbst Sannys paramathematischer Gabe verschlossen blieb. Ob nur Sekundenbruchteile vergingen oder endlos lange Stunden, niemand vermochte es zu sagen. Wallende Farben waren alles, was man sah. Endlich verschwand diese bedrückende Umgebung. Lichtreflexe tauchten auf, entpuppten sich als weit entfernte Sterne und Galaxien. »Wir befinden uns wieder im heimatlichen Universum«, verkündete SENECA Augenblicke später. »Unsere Position liegt nahe dem Zentrum der Kugelgalaxis Pers-Mohandot.« Der aufbrandende Jubel war groß. Niemand achtete auf eine mögliche Gefahr. Man ließ Sanny hochleben und Atlan. Sogar SENECA galt der Dank der Solaner und den Tatendurstigen, die nun keine Bestrafung mehr zu erwarten hatten. Sie waren einsichtig genug, ihre Fehler zu erkennen. Atlan zog sich aus dem allgemeinen Trubel zurück, sobald sich ihm die erste Gelegenheit dazu bot. Eine Frage gab es, die ihn
brennend interessierte: Wieviel Zeit war wirklich vergangen?
ENDE
Die Rückkehr ins normale Universum ist vollzogen, und nach den Borduhren hat die SOL nicht mehr als 57 Tage im »Sternenuniversum« verbracht. Daß diese Angaben unrichtig sind, hat man bereits vermutet – aber wie sehr die Zeitmesser irren, das stellt sich erst heraus, als man Pers-Mohandot erreicht – und eine neue Falle von Hidden-X. Mehr zu diesem Thema erzählt Peter Griese im nächsten Atlan-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: DAS HYPNO-BEWUSSTSEIN.