Illustrationen von Rainer Schwalme
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Illustrationen von Rainer Schwalme
© Verlag Neues Leben, Berlin I983 Lizenz Nr. 303 (305/19/83) LSV7004 Umschlag: Rainer Schwalme Typografie: Walter Leipold Schrift: 10p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell - Nr. 643 456 8 DDR 5,30 M
Erstes Buch
Das Labyrinth in der Steppe
Staub, nichts als Staub Wie ein beim Start versteinerter Vogel ragte das Gerüst in den schwarzen Himmel, zerriß die fernen Lichterketten der Gebäude, schimmerte selbst tiefblau. Der Mann, der daran lehnte, wirkte gegen die Konstruktion grazil. Manchmal bewegte er die Lippen, ohne daß er gesprochen hätte. Seine Augen waren auf das Glaslicht gerichtet, das aus der Schwärze der Nacht gekommen war, gemächlich rotierte und so an eine Galaxie erinnerte. Es stieß, ebenso wie jenes astronomische Gebilde, Lichtarme aus, die mehr und mehr ausfaserten, schwächer wurden. Das Licht hüllte die Menschen ein, die den weiten Platz vor der Metallkonstruktion füllten, lachend und plaudernd umherzogen. Ein Name blitzte auf. Immer wieder und in immer kürzerer Folge. DELTAR. Der Mann an dem Gerüst sah seinen Namen, der Licht im Licht war, und es berührte ihn eigenartig, daß all die Anwesenden zu ihm gekommen waren, ihn ehren wollten. Amon Deltar winkte den Menschen zu, wußte nicht, ob sie es sahen. Er fühlte, wie ihn die Gravitierklammer faßte, verlor den Boden unter den Füßen und glitt nach oben. Er atmete tief durch. Lächelte. So, dachte er, so wird der Mensch eines Tages fliegen. Frei wie ein Vogel. Ohne alle spürbaren Apparate. Als er das ungefähr fünfzig Meter hohe Podest erreicht hatte, löste sich die Klammer von ihm. Er sah hinunter auf das lustige Treiben, das durch den Glaslichtteppich purpurn überstrahlt war. Gleichzeitig gewahrte er die Telexoptiken, die auf ihn gerichtet waren. Vierfach erschien nun sein Gesicht in gewaltiger Vergrößerung, begrenzte den Platz. Deltar betrachtete nachdenklich die ihm vertrauten Züge, die nun ungewohnt und ein wenig hilflos schienen. „Amon Deltar“, erklang eine Stimme, und auf dem Platz wurde es still, „in Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen, die Sie vollbracht haben, verleihen wir Ihnen den Namen Amon Hater, Amon der Weise. Es gibt wohl niemanden hier, der nicht weiß, was Sie auf den Gebieten der Mykologie, der Mikrobiologie und der Ökologie geschafft haben...“ „Schweben“, rief jemand von unten herauf, und es blitzten Lichter auf: Schweben. Schweben. Schweben. Die Frau, die in dem kleinen Silomobil saß, bewegte unruhig die Hände. Sie rang offensichtlich mit einem Entschluß. „Was ist los?“ fuhr sie die Automatik an, „wir bleiben stecken.“ „Man macht uns keinen Platz“, erklärte der Lautsprecher, „sie beachten uns nicht. Eine Ehrung.“ „Dann gib ein Sondersignal“, wies die Frau die Maschine an.
„Sie sind Ärztin“, kam es aus dem Lautsprecher, „aber es liegt kein Fall vor, der ein Sondersignal gestattete.“ „Dann fahre die Rotorblätter aus“, die Ärztin preßte die Handflächen gegeneinander, „steig auf. Flieg hinauf...“ „Im Glaslichtsektor darf ich den Bodenkontakt nicht verlieren.“ „Natürlich“, erregte sich die Ärztin, „und im Dunklen mußt du mit Licht fahren. Aber ich, ich muß dorthinauf. Ich muß.“ Sie entledigte sich des Gurtes, erhob sich zornig. Das Silomobil erstarrte. Der Antrieb war verstummt. Schweigend verließ die Ärztin das Gefährt. Sie sah sich um, brauchte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das gleißende Glaslicht gewöhnt hatten. „Du hörst es, Amon Hater“, klang leise eine Stimme über den Platz, „man möchte, daß du schwebst. Bist du bereit?“ Die vier Köpfe nickten gleichzeitig, und viele hundert Lichtfäden durchzogen den Luftraum, bildeten ein unsymmetrisches Gespinst. Die Frau sah, wie Hater den bereitliegenden Überwurf aufhob, ihn wie einen Poncho überstreifte. Er löste sich von dem Podest, bewegte sich mit weit ausgestreckten Armen durch den Lichtraum, schien zu schwimmen und sank langsam dem Boden zu, näherte sich einem gut fünf Meter hohem Piedestal, auf dem er landete und lachend um sich sah. Mit einem bösen Lächeln auf den Lippen verfolgte die Ärztin jede Bewegung Amon Haters. Dunkle, getragene Töne wehten durch die Nacht, dehnten das Schweigen der Zuschauer. Man lauschte und schwieg. Niemand bewegte sich. Die Ärztin nutzte diese Unbeweglichkeit und hastete vorwärts, drängte sich an den Erstarrten vorbei auf das Podest zu. Die Töne wurden leiser, schienen nur mehr Hintergrund, und andere, neue Lichter flammten auf, erzeugten helles Tageslicht. Die Zuschauer klatschten froh, begannen sich zu bewegen. Lebten auf. „Gleich“, erklang wieder die Stimme, „wird auch der Nebel verwehen, der jene kleine Bühne dort einhüllt. Es ist eine Überraschung für den Jubilar, für Amon Hater. Sieh nur, Amon...“ Die Ärztin, die das Podest erreicht hatte und die Treppe betreten wollte, hielt inne, sah hinüber zu der Bühne, sah die zerflatternden Nebel. Dann blickte sie nach oben, gewahrte Haters verständnisloses Gesicht, wendete erneut den Kopf und erkannte eine große Menschengruppe, die auf der Bühne stand. „Amon, Amon“, riefen lachend ein paar alte Frauen. „Papa, Papa“, ließen sich solche vernehmen, die sicher zehn Jahre älter als Hater waren, und: „Opa, Opa...“, meldeten sich scheinbar Gleichaltrige.
„Ach ihr...“, sagte Hater schwunglos, „das ist eine Überraschung. Unglaublich...“ „Eine Überraschung“, nahm der unsichtbare Sprecher das Wort auf, „Haters Partnerinnen, seine Kinder und Enkel sind dort vereint. Alle haben sie mitgemacht. Waren bereit. Nun aber hat Hater selbst das Wort. Er soll sprechen.“ „Es ist siebenhundert Jahre her“, begann Hater klar und akzentuiert, „da kam die Boje 14 222 zur Erde...“ Erzähle von dir! Lichter blitzten rundum auf. „Laßt mich von Arpje Tyrsos und Markus O'Delta erzählen“, der Mann auf dem Podest suchte einen neuen Anfang. „Von dir ..., von dir ..., von dir!“ Die Lichtzeichen häuften sich. „Von mir“, Hater machte einen halben Schritt nach vorn, sah einen Moment nachdenklich aus. Dann entstanden feine Lachfältchen um seine Augen. „Ich weiß schon etwas... Es gab da einen Plagegeist. Ein Psychoteufelchen... Ein Tier aus einem anderen Lebensraum...“ Die Ärztin stieg die Treppe nach oben. Sie atmete heftig, wie Menschen, die unter Atemnot leiden. Als sie hinter Hater stand, schluckte sie. Sie schloß die Augen, öffnete sie gleich wieder, sah plötzlich entschlossen und ernst aus. „Sie sollten von Tyrsoleen. sprechen“, sagte sie, und ihre Stimme klang brüchig, heiser, ein wenig gehetzt, „erzählen Sie uns doch von Tyrsoleen.“ Haters Gesicht wurde dunkel, maskenhaft starr. Er fuhr herum, sah der Ärztin in die Augen. „Woher wissen Sie...?“ fragte er schroff; unvermittelt wandte er sich zurück, erklärte: „Ich will nicht sprechen. Beginnen wir mit dem Tanz und dem Zimbanum. Nutzen wir die Stunden...“ Sanfte Töne erklangen, und viele Anwesende tanzten. „Was wissen Sie?“ Hater schien plötzlich müde. Er legte sich und der Frau die Gravitierklammer an. Sie glitten über die Köpfe der Tanzenden dahin. Niemand beachtete sie, denn an dem Vorgang war nichts ungewöhnlich. Am Rand des Platzes stand Haters Graviorator. Hater ließ die Ärztin vorangehen, schloß, nachdem auch er Platz genommen hatte, die Beidseittür und wählte ein Programm. „Also“, sagte er, „Sie werden mir einiges erklären wollen.“ „Umgekehrt“, erwiderte die Ärztin, „Sie sind es, der mir Antworten geben wird. Und nicht nur einige... Ihre Bilderbuchgeschichten von dieser Boje oder jenem Markus Dolta, oder wie der Mann auch immer hieß, die haben Sie parat. Aber man sagt Ihnen nur ein Wort, ein einziges Wort, und Sie verlassen fluchtartig den Platz Ihres Triumphes...“ Ihr Lachen zerriß das ruhige Summen der Aggregate. „Sie mögen mich nicht“, stellte Hater fest, „ich verlange auch
nicht, daß mich jeder mag. Darum geht es nicht. Es geht um Tyrsoleen. Woher haben Sie den Namen?“ „Sie haben eine Enkelin“, erklärte die Ärztin grob, „die Sie nicht einmal kennen, möchte ich wetten. Sie heißt Antoinella. Ist eine Kollegin von mir, und die hat mir ein Märchen erzählt.“ „Ein Märchen...“ Hater entledigte sich des Umhangs, warf ihn heftig über die Schäumerlehne. „Und welches?“ „Die alten, ehrwürdigen Frauen auf dem Sockel vorhin“, die Stimme der Ärztin war tonlos, „die einmal Ihre Frauen waren, die glauben alle an eine Familiensaga. Eines Tages, so sagen sie, wird uns Amon unsere Jugend zurückbringen. Er hat ein Mittel. Das heißt Tyrsoleen. Ein Wundermittel von einem fernen Stern. Sie alle glauben an den Mann, der sie schon lange vergessen hat. An Hater, den Weisen...“ Der Mann stützte den Kopf schwer in die Hände. „Das ist doch nicht wahr“, stieß er hervor, „sagen Sie, daß es nicht so ist.“ Die Ärztin lachte auf. „Haben Sie keine Angst“, sie sagte es höhnisch, „daß sich irgend etwas herumspricht. Nicht einmal die Männer der Frauen und die angeheirateten Frauen der Männer erfahren dies. Antoinella hatte sich an einem psychopharmakologischen Experiment beteiligt. Deshalb weiß ich alles. Und seit heute weiß ich, daß es diesen Stoff schon gibt. Sie haben ihn, Hater. Und er heilt Hyperverpilzung...“ Sie lehnte sich nach vorn, veränderte das Flugprogramm. Die Maschine rüttelte in der Luft, wendete hart und flog dann wieder ruhig dahin. „Ich weiß nicht, wohin Sie wollten“, kommentierte die Ärztin ihre Eigenmächtigkeit, „das ist auch egal. Ich werde Ihnen etwas zeigen...“ „Und was?“ Hater hob den Kopf aus den Händen, sah der Frau in die Augen. „Das ist mein Ehrentag“, sagte er ruhig, „man wird nur einmal im Leben Hater. Wenn überhaupt. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir alles Weitere auf morgen verschieben könnten.“ „Vielleicht habe ich nicht mehr Zeit bis morgen“, die Ärztin erwiderte Haters Blick, „vielleicht ist morgen schon alles vorbei. Was dann?“ „Was soll vorbei sein?“ Hater setzte sich sehr gerade hin. „Ihr Physiomat gibt keinen Alarm. Was soll diese Angstgeschichte?“ „Es gibt außer uns beiden noch mehr Menschen“, erklärte sie un bewegt, „als Arzt weiß man das. Aber als Theoretiker...?“ Das Gefährt hatte die Bolidenbahn erreicht und jagte steil nach oben. Nicht lange, und es neigte seine Spitze der Erde zu, näherte sich in atemberaubendem Tempo einer Insel, die aus dem Meer aufwuchs, ununterbrochen an Mächtigkeit gewann, sich schließlich von Horizont zu Horizont dehnte, einem grünen, baumbestandenen Eiland, auf dem es
zu Gruppen zusammengefaßte Gebäudekomplexe gab, die von parkähnlichen Inseln getrennt und durch Rollbänder miteinander verbunden waren. Hater sah das alles, ohne die Insel zu kennen. Er wußte nur, daß er hier noch nie gewesen war, und so ließ er keinen Blick von der Panoramascheibe, bis das Gefährt weich aufgesetzt hatte, die Sei tenwände herunterklappten und er alles nun unmittelbar in sich aufnehmen konnte. Die beiden Reisenden sprangen auf das Rollband. Hater atmete die Düfte der nächtlichen Erde, der Pflanzen tief ein. „Wo sind wir hier?“ Seine Frage verriet seine innere Spannung. „Sie werden es sehen“, sagte die Ärztin unbestimmt. Sie fuhren über eine Schräge, standen schließlich in einer unterirdischen Schleuse. Ihre Kleidung, aber auch Gesicht, Hände und Haare wurden von einer Substanz besprüht, die augenblicklich erhärtete. „Schutzstufe vier“, sagte Hater verwundert, und sah die Frau mit gerunzelter Stirn an. „Was soll das?“ Sie fuhren in einem Paternoster nach oben. Standen in einem Gang, dessen Wände aus Megaolith waren. Das Material wirkte als Einwegscheibe. Man konnte von der Gangseite aus in die Zimmer sehen, von dort aber nicht hinaus. Die Zimmer waren freundlich eingerichtet. Angenehm in jeder Beziehung. Interessiert blieb Hater stehen. Sein Blick, gerade noch freundlich, veränderte sich abrupt. Da lagen auf blasig weichen Unterlagen Körper, die an marmorne Statuen erinnerten, Körper von Männern und Frauen, wie es ihm schien. Diese grauweißen Marmorkörper besaßen Kinderköpfe. Erschrocken wich er zurück, stieß mit der Ärztin zusammen. Sie faßte Hater beim Unterarm und führte ihn weiter durch den Gang, öffnete eine der Türen, trat in den Raum. „Das hier ist Soyosa“, sagte sie mechanisch, wie man etwas sagt, an dessen Richtigkeit man nicht glauben kann oder will, „Soyosa ist meine Tochter. Neun Jahre alt. Ihr Körper wäre in der Lage, ein Kind zu gebären, und sie könnte es sogar stillen. Ihre Psyche ist die einer oligophrenen Dreijährigen. Man nennt diese Krankheit Hyperverpilzung oder einfach Organverpilzung. Immer siedeln sich die Fungi im innersekretorischen System an, und immer erzeugen sie dieses Bild. Und schließlich, nachdem der Kinderkörper scheinbar alle Stadien des Lebens sinnlos durchlaufen hat, bis zur organischen Vergreisung, bleibt die Wahl zwischen Kyborg und Tod. Aber das wissen Sie ja alles viel besser. Aus der Theorie. Nur in der Praxis... Sie waren noch nie bei einem Patienten...“ Das Kind sah die laut debattierende Frau groß an, ohne daß ein Verstehen in seinen Augen aufgeleuchtet wäre. Haters Gesichtsausdruck wurde starr.
„Antoinella hat mit mir an demselben Projekt gearbeitet“, fuhr die Frau ungerührt fort, „also wird auch Ihr Urenkel, wenn er acht oder neun Jahre alt ist, denselben Weg gehen, den Soyosa jetzt schon absolviert. Es wird Ihnen nicht erspart bleiben, öfter hierher zu kommen..., oder...“ Die Augen der Frau weiteten sich. „Oder ihre Teufelsgene verhindern das. Dann sind Sie der Stammvater einer unverwundbaren Familie... Da wird sich ja bald die Galaxis um Sie reißen, was?“ Sie schwieg, ihr Kopf sank nach vorn. Sie weinte tonlos. Hater faßte sie behutsam bei den Schultern, führte sie hinaus. Sie ließ es mit sich geschehen und ging immer noch mechanisch neben dem Mann her, als sie schon wieder die Schleuse verlassen hatten. „Ich weiß, was Sie denken“, sagte Hater, nachdem sie das Rollband verlassen hatten, bei der Maschine standen, „ich bin für Sie ein egozentrischer Dorian Gray, der von dem Wunsch beseelt ist: Möge mir kein anderer gleichen. Einer, der seinen Jungbrunnen Tyrsoleen ebenso hütet, wie jener sein Porträt bewahrte...“ „Es gibt das Tyrsoleen?“ „Tyrsoleen“, Hater sah die Ärztin aus weiten Augen an, blickte durch sie hindurch, schien etwas zu sehen, was hinter der Maschine und den Gebäuden, vielleicht sogar hinter den fernen Sternen war, „ja, das gibt es.“ Wie alt diese Augen sein können, dachte die Ärztin, in ihnen wohnt die Erfahrung vieler Menschen. Ich muß mich an seine Augen halten. Nicht an sein junges Gesicht. Dann kann ich ihm glauben. „Tyrsoleen“, wiederholte Hater gedankenversunken, „es hat erreicht, daß ich dieselben Schmerzen wie Sie empfinde. Nur ist es nicht mein Kind, das ich beklage, sondern meine Mutter... Es gibt eine Substanz dieses Namens. Sie kann die Hyperverpilzung ebenso beenden, wie die Zellkernermüdung. Und sie ist ein Vorbeugungsmittel gegen den DNSTripelschwund. Aber der Preis, den man dafür zahlt...“ „Hater“, das Gesicht der Ärztin belebte sich, Hoffnung keimte darin auf, „das ist meine Wissenschaft, über die Sie reden. Wir haben in grauer Vorzeit den Rheumatismus besiegt, haben den großen Seuchenzügen, der Cholera, der Pest, dem Typhus und der Diphtherie ebenso den Kampf angesagt wie der Hepatitis, den Pocken und der Tollwut. Wir waren auch die Sieger, als es gegen Tuberkulose ging. Wir haben den Krebs in seine Schranken gewiesen und erkrankte Orange gegen gesunde oder halbsynthetische ausgetauscht. Wir pflanzen klonisch vervielfältigte Zähne denen ein, deren Zahnstruktur angegriffen ist. Immer gab es Nebenwirkungen, die das Ziel für uns kaum erreichbar machten. Wir haben es denoch geschafft. Immer.
Jetzt sind es die niederen Pilze, unter denen wir leiden. Und die Zellen, die mitten im Teilungsprozeß verharren und aus lebendem Gewebe knorpelige Störkörperchen machen. Neue Krankheiten. Neue Herausforderungen... Geben Sie mir den Stoff. Lassen Sie mich damit arbeiten...“ „Sie würden Soyosa zu einem Versuchsobjekt machen“, Hater sah die Ärztin streng an, „und das ohne alle Vorkenntnisse. So würde sich eine alte Geschichte wiederholen. Nur: Nicht Ahnungslosigkeit, sondern Leichtsinn wäre diesmal das Motiv.“ „Und Pasteur?“ Die Ärztin sah Hater trotzig an. „Und Koch, Semmelweis? Und alle anderen, die sich nicht schonten? Sogar Selbstversuche machten? Waren die alle leichtfertig? Sicher, die Fungi waren seinerzeit noch harmlos. Es ging um Bakterien, Viren. Aber wenn es erforderlich gewesen wäre, hätten jene Ärzte auch Pilzselbstversuche gemacht.“ „Stimmt“, erklärte Hater sachlich, „weil es zu jener Zeit noch keine Computer gab, die rechnerisch alle Wirkungen und Nebenwirkungen durchspielen konnten und die also theoretisch sterben können, wenn es notwendig ist. Das ist der Unterschied zu uns.“ „Ach was...“, stieß die Ärztin hervor, fühlte, wie die aufkeimende Hoffnung zerrann. „Kommen Sie“, Hater stieg in den Flugapparat, und die Frau folgte ihm, „jetzt werde ich das Reiseziel festlegen.“ „Ich habe mich scheußlich benommen, was?“ Die Ärztin setzte sich, verfolgte Haters Bewegungen. „Ich wollte Sie schon lange aufsuchen. Es ist schwer, Sie ausfindig zu machen. Dazu kommen meine Arbeit und die täglichen Besuche bei meiner Tochter. Als ich von Ihrer Auszeichnung hörte, wußte ich, wo ich Sie finden mußte. Sie wurden zu Hater, dem Weisen, und meine Tochter trat an ebendiesem heutigen Tag in das Stadium vier der Krankheit ein. Es ist nur noch eine kurze Zeitspanne, und die Kommission wird die letzte entscheidende Frage an mich richten: Sollen wir Soyosas Hirn retten, oder...? So kam ich.“ Die Wände klappten hoch, rasteten ein. Die Programmtafel sprühte kaltes Licht, übergoß die beiden Gesichter, machte sie fahl, fremd. Haters Finger glitten über die Tastatur. Der Biowellenempfänger entzifferte das Reiseziel, setzte es in Kommandoströme um. Leise begannen die Aggregate zu arbeiten. Hater nahm die Hände der Frau in die seinen. „Sie sind mir sympathisch“, sagte er sanft, „weil Sie das alles für einen Menschen tun, der stellvertretend für viele andere steht und der Ihnen nicht einmal danken kann. Ich biete Ihnen meine Freundschaft an. Wie heißen Sie?“ „Ainina.“ „Sie haben mir die Apokalypse gezeigt, Ainina“, Hater sprach leise,
„vielleicht war das wichtig für mich. Weil ich, wie Sie sagten, Theoretiker bin. Aber auch ich kann Ihnen eine Hölle offerieren. Ich kann Ihnen einen Menschen zeigen, der sich für nichts mehr interessiert. Nicht für ferne Kulturen und nicht mehr für seinen Nachbarn. Einen Menschen, der weder Liebe noch Haß, weder Sympathie noch Auflehnung kennt. Einen, den gesellschaftliche oder technische Umwälzungen nicht mehr berühren. Festlichkeiten und Unglücksfälle perlen gleichermaßen von ihm ab. Alles wird bedeutungslos. Sein Leben ist wie ein Spinnwebfaden, der endlos durch einen Nebel gespannt wird. Es ist das Ende des Menschseins...“ Aininas Blick wanderte zwischen Haters Zügen und der Panora mascheibe, auf der das Meer schwarz und metallisch glänzend ab gebildet wurde, hin und her. „Was ist mit diesem Menschen?“ Sie flüsterte beunruhigt. „Tyrsoleen“, sagte Hater hart, „Zauberdroge Tyrsoleen. Eine der genannten Nebenwirkungen.“ „Vielleicht sind Sie betriebsblind geworden“, sagte Ainina, „vielleicht ist es gar nicht so schwer, diese Nebenwirkungen zu beseitigen...“ „Und wenn nicht . . . ?“ „Sie sind Amon Hater“, die Ärztin lächelte zum erstenmal, „Sie sind der Weise. Warum wollen Sie vor Schwierigkeiten kapitulieren? Vielleicht fühlen Sie sich noch als Deltar und nicht als Hater. Manchmal sind Namen die Lenker der Dinge.“ Das. Lächeln verschönte ihre Züge, und in ihren Augen brannte sekundenlang ein Funke, der einen schalkhaften Ausdruck in ihrem Gesicht entstehen ließ. „Was ist das eigentlich für ein Name“, erkundigte sie sich, „Deltar... Das klingt ungewöhnlich.“ „Eine komplizierte Geschichte“, Hater nickt« bedächtig, „ich habe ein Vierteljahrhundert gebraucht, das zu entziffern. Ich werde es Ihnen erzählen. Aber jetzt nicht. Später.“ Hater blickte auf die Sichtscheibe, war überrascht. „Wir sind auf der Bolidenbahn. Das Reisetempo verblüfft mich immer wieder. Wir sind gleich da.“ „Wir reisen zum Informationsarchivkomplex?“ „Erraten, antwortete Hater, „ich habe mich entschlossen, Ihnen als Einführung in die erste Vorlesung über Tyrsoleen einiges aus meinem Leben vorzuführen. Sie werden sehen, was ich erfuhr und erlebte. Es ist wichtig. Sie sollen die Zusammenhänge begreifen.“ „Ich werde alles voller Interesse verfolgen“, sagte die Ärztin ernst, „weil es für Soyosa ist. Und für die anderen Patienten. Ich will eine gelehrige Schülerin sein. Zufrieden?“ „Ja“, Hater legte seine Hände gegeneinander, „ja.“ Ein leichter Ruck ging durch den Apparat. Ein schwacher Wind berührte ihre Gesichter.
Hater und Ainina schauten durch die offene Schleuse in den Vor lesungssaal, der völlig leer schien. Die Stuhlreihen waren in den Boden versenkt und die Möbel in die Wände eingefahren. Der Raum wurde offensichtlich gereinigt. Nur das Vortragspult, ein dämmriger ovaler Klotz, ragte ziemlich weit vorn auf. Neben ihm stand aufrecht, in seinen Umrissen an einen eckigen Affen erinnernd, der Reinigungsrhesuid. Im matten Schein der Leuchtplatten wirkte er ungeschlacht, ein Wesen aus grauer Vorzeit. „Hier werden Sie...“, begann Hater, brach aber ab, starrte auf die Reinigungsmaschine, als wüßte er nicht um ihre Existenz. Der Rhesuid fuhr mit seinem Säugrüssel über den Boden hin, bewegte die Bohnerbürsten gleichmäßig und griff etwas mit seinen Pinzettfingern, was er in die Vernichtungsanlage steckte. Es knirschte leise. „Aber das geht doch nicht!“ Hater schrie die Worte, und Ainina, die wohl begriff, was hier geschah, lachte laut auf. Der Rhesuid packte mit seinen Metallfingern eine Kristallplatte nach der anderen und ließ sie in seinem rechteckigen Maul verschwinden. Seine Kameraaugen glommen schwach rötlich. Der Wissenschaftler stürzte durch die Schleuse, verlor das Gleichgewicht und rutschte sitzend über den frisch behandelten Boden dem Rhesuiden direkt vor die Füße. „Halt!“ Der Rhesuid hielt inne, blieb reglos stehen und sah auf den Sitzenden herab. „Ich habe das Glänzerzeichen gesetzt“, murmelte er entschuldigend und hob Hater auf. „Rühr mich nicht an“, schimpfte der, griff die letzte dünne Kri stallscheibe und hielt sie fest in der Hand. Der Rhesuid machte ein paar unbeholfene Schritte nach hinten. Ainina trat zu Hater. „Wer hat diesem Kretin gesagt“, erboste sich Hater, „daß er all meine Aufzeichnungen vernichten soll? Es ist mein Leben. Erinnerungen. Es ist das, was die Journalisten aufgenommen und in Bilder umgesetzt haben...“ „Rhesuiden vernichten alles“, erklärte Ainina, „was in Hörsälen und Vortragsräumen zurückbleibt.“ „Verzeihung“, murmelte der Rhesuid aus sicherer Entfernung. „Staub“, Aininas Augen wurden nachdenklich, „nichts als Staub. Das sind nun Ihre Erinnerungen, Hater.“ „Staub ist Materie“, Hater lächelte, „das ist nicht einmal falsch: Mein Leben ist Materie, ist Staub. Das hier ist die Aufzeichnung Nummer eins...“ Hater reichte Ainina die flache Platte. „Ich werde sie Ihnen vorspielen...“ Der Rhesuid verließ den Raum, und Stühle und Tische tauchten ebenso lautlos aus dem Boden auf wie die Schränke und Regale in denen die Vorführtechnik untergebracht war.
„Sagen wir so“, sagte Hater sarkastisch, „ich bin wie eine Flamme der Wissenschaft.“ Er wurde ernst: „Eine Flamme, wie gesagt, nicht die Fackel, die die Flamme erzeugt, und erst recht nicht die Hand die die Fackel trägt und entzündet. Da waren andere, eine endlose Zahl vor und neben mir. Andere, die für das gelebt haben und gestorben sind, was ich zusammengefaßt habe. Das ist Wissenschaft. Das Werk vieler. Aber auch die Flamme hat einen Sinn: Sie erhellt das Dunkel. Und wenn man nicht vergißt, daß man von einer unübersehbaren Zahl anderer Menschen getragen wird, dann ist es legitim, sich ehren zu lassen. Das ist mein Standpunkt, und Sie sollen ihn erfahren, bevor ich Ihnen einen jungen Amon Deltar vorführen werde, der so ganz anders ist. Aber auch er gehört zu der Geschichte des Tyrsoleen. Alles, was ich Ihnen zeige und erzähle, sind Argumente für und gegen das Präparat.“ Die Rundumprojektion spielte sich ein, sandte das gestochen scharfe, räumliche Testbild. Ainina trat an das grünliche Pult heran, ließ die Kristallplatte, die sie noch immer in Händen hielt, in den Wiedergabespalt gleiten, hörte das kaum vernehmliche Einrasten des Verschlusses und begab sich dann zu Hater. Sie setzte sich auf einen der Besuchersessel und Hater folgte ihrem Beispiel. Sollte ich über Gefühle sprechen? Der junge Mann setzte keuchend den grünen Notfallkoffer ab. Er hörte das glockenhafte Klingen des Hypnosprays, der gegen die Flasche mit Euphoriawasser gefallen sein mußte. Der schwere metallene Sprecherzwinger schepperte dumpf gegen die Kofferwand, und der Sinnenstimulator knackte in seiner typischen Art. Doch das alles beachtete der schwitzende Mensch nicht. Es war unwichtig. Er stand vor dem Haus Luksor 85426. Irgendwo in schwindelnder Höhe wohnte Gledis Wehmuurd. Die berühmte Sängerin Gledis Wehmuurd. Es war der erste Auftrag, den der junge Kommufacharbeiter erhalten hatte: Gledis in die Heilstätten zu begleiten und darüber zu wachen, daß ihr nichts geschehe. Frau Wehmuurd, so hatte es der Computer ausgedruckt, war niedergeschlagen, verzagt, depressiv. Amon Deltar wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann massierte er seinen Arm, rückte Halstuch und Armbinde mit der dargereichten Hand, dem Warzeichen der Kommufacharbeiter, gerade, und dachte an das Examen, das er vor fünf Monaten abgelegt hatte. Es war der erste nichtsimulierte Einsatz.
Besonders da er wußte, wie leicht eine Niedergeschlagenheit in Selbstanklagen und sogar Selbstbeschädigungen ausarten konnte. Sicher, töten konnte sich kein Mensch mehr, da die automatischen man radar stations vierundzwanzig Stunden am Tag darüber wachten, daß keinem etwas geschah, aber es genügte, wenn diese Gledis sich die Fingernägel in das Gesicht grub und sich Kratzwunden zufügte. Das reichte aus, um den Kommufacharbeiter noch einmal auf einen der letzten Kurse zu schicken. Als er zu Atem gekommen war, präparierte sich Amon Deltar. Der Hypnospray kam in die rechte Tasche des Overalls, das Euphoriawasser in die linke. Die Katalepsiestifte wanderten in die linken Ärmelhalterungen und der Neurodesintegrator zur Oberschenkelklappe. Amon Deltar fühlte sich unerwartet wichtig. Seine Bewegungen wurden eckig, ein wenig übertrieben. Er verwahrte zuletzt noch die Spritzole mit den Gleichgültigkeitsampullen in der weitgeschnittenen Kapuze und sah sich ein letztes Mal um. Eine Gruppe junger Frauen kam den Weg entlang. „Ein Frischling“, sagte eine, und alle kicherten. Amon Deltar hüstelte und wandte sich der Tür zu. „Frischchen“, rief eine, „ich fühle mich hundeelend. Regelrecht ausgelaugt. Kannst du mir nicht helfen?“ Dabei lachte sie, und die anderen stimmten ein. Der junge Mann fuhr herum. „Spottet nur“, sagte er, „spottet ruhig. Aber vergeßt nicht, daß ihr mich vielleicht eines Tages brauchen könntet...“ „Hör mal, wir wollen dich nicht ärgern, aber wir sind werdende Genetikerinnen und wissen, daß dich eines Tages niemand mehr braucht. Schon mein Vater hat gesagt, Zuzuna, wenn du lieber angeln und lesen möchtest, dann werde Kommufacharbeiterin...“ Zuzuna sah Amon lächelnd an, und die anderen umringten ihn. „So ausgerüstet und bepackt stelle ich mir die Bezwinger des Olympus mons vor“, bemerkte eine von den Staunenden, „müßt ihr auch die Erkrankten eigenhändig zum Air tragen?“ Vater, dachte Amon, ihr Vater hat etwas gesagt. Warum habe ich keinen Vater? Warum eigentlich? „Ich habe ein überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen in menschliches Verhalten“, sagte Amon. „Euch fehlt das sicher.“ Die Mädchen wurden ernster als vorher. „Sei doch nicht so nachtragend“, erwiderte eine von ihnen, „ich denke auch darüber nach, ob ich nicht doch noch Geologin werden soll. Vielleicht wechsle ich noch. Das kannst du doch auch, oder willst du ein Leben lang Kommufacharbeiter bleiben?“ Amon lächelte listig. „Wißt ihr, zu wem ich gehe?“ fragte er. Sie sahen ihn erwartungsvoll an.
„Gledis Wehmuurd“, seine Augen wurden rund. „Komischer Name“, sagte eins der Mädchen. „Na die Sängerin...“, Amon betrachtete die Mädchen fassungslos, „die müßt ihr doch kennen. Fünf Jahre lang war sie die Nummer eins in der Unterhaltungsmusik. Das hat mein Instrukteur gesagt ...“ Der letzte Satz klang leise, fast entschuldigend. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Amon wandte sich dem Eingang des Hauses zu. Vorsicht, Rücksicht, Nachsicht. Er brachte sich die drei Leitsätze seiner Tätigkeit in Erinnerung, sah noch einmal über die Schulter zu den Mädchen hin, die schwatzend im hellen Sonnenschein dahintrippelten, und betrat das beeindruckende Bauwerk. Er benutzte nicht die üblichen Aufzüge, sondern kroch, er meinte es seinem Beruf schuldig zu sein, in die Nothubanlage. Wenig später war er fast sechshundert Meter über der Straße. Ein erregendes Gefühl bemächtigte sich seiner. Mein Glückstag, dachte Amon, es ist ein Glückstag. Bestandene Abschlußprüfung. Erster selbständiger Auftrag. Amon strich an den Türen entlang, besah sich die Schilder. Da, das war es. Farbige Fruchtalgen bildeten einen verschnörkelten Namen: Gledis Wehmuurd. Amon atmete noch einmal tief durch und stellte den Koffer ab. Liebe Gledis, sagte er in Gedanken, die Welt ist wohlgeordnet. Wer wüßte das besser als Sie selbst, die Sie auf allen Kontinenten den Menschen Freude gebracht haben. Sie haben gesehen, wie die gigantischen Sonnengitter um die Erde gelegt wurden und alle Energie aus dieser Quelle... Nein, dachte Amon plötzlich, nein. Das geht nicht. Sie ist ein anderer Mensch, hatte der Instrukteur gesagt, versteh das, Amon. Sie ist nicht wie wir. Sie ist eine Künstlerin alten Stils. Sie will jung sein, ewig jung sein. Wenn du nur sagen würdest: Sie sind reizend wie meine Mutter, dann kratzt sie dir die Augen aus. Sage ihr lieber: Sie erinnern mich in vielem an meine kleine Schwester. Das gefällt ihr. Gledis Wehmuurd sucht Bewunderung, Einverständnis. Ihre Arbeit ist nicht ein Teil von ihr, sondern sie ist ein Teil ihrer Arbeit. Glitter, Flimmer, Farbe, Erotik. Weil sie eine Stimme hat, die tatsächlich ungeheuer ist, tolerieren wir das. Merk es dir, Amon... Ganz automatisch hatte Amon den Öffner betätigt und trat ein. „Au“ Er schrie auf, sprang erschrocken zurück, denn er war gegen etwas warmes, sich Bewegendes gelaufen. Vor ihm hing eine dieser mannsgroßen Wuschelflatterer, eine fruchtfressende Fledermaus mit langem, flauschigem Fell. Das Tier musterte den Eingetretenen, flatterte durch das große Zimmer und verschwand in einem Nebenraum. Aus diesem kam eine Frau, die sofort abwehrend eine Hand hob.
„Sie sind ein Verehrer“, sagte sie, und an den augenähnlichen Kameralinsen merkte Amon, daß sie ein Automat war, „aber es tut uns leid; Gledis kann Sie nicht empfangen. Sie ist verwirrt, verzagt, niedergeschlagen, und sie reist in das Sanatorium der freundlichen Gezeiten. Zudem erwarten wir in diesen Minuten den Kommufacharbeiter, der Gledis begleiten wird. Sie müssen also wieder gehen.“ „Ich bin der Kommufacharbeiter“, sagte Amon und klapperte de monstrativ mit seinem Koffer. „Sie?“ Die Frau schüttelte ihre langen Haare. „Natürlich sind Sie das“, fuhr sie dann fort, „ich hätte es an der Kombination sehen müssen. Ich hielt Sie für einen Musikalius, für einen Begeiste rungsfacharbeiter.“ Nachdem Gledis erschienen war, holte Amon die Utensilien aus den Taschen. Noch während er eine Ampulle hochhielt, bekamen seine Augen einen erstaunten, fast gelösten Ausdruck, die Pupillen drehten sich nach oben, und er sank zu Boden, einige Sekunden später folgte ihm Gledis! Die zerbrochene Ampulle kullerte in eine Ecke. Der Automat betrachtete abwechselnd Amon und Gledis, die träumend auf dem flauschigen Teppich lagen. Schließlich entschied er sich, der Programmlogik folgend, Amon zuerst hochzuheben und auf den Balkon an die frische Luft zu tragen. Als Amon erwachte, waren unmittelbar vor seinem Gesicht die Kameralinsen des Automaten. „Was ist“, fragte er, „immer noch Prüfung?“ Der Automat kicherte heftig. Allmählich besann sich Amon. „Wo ist Gledis?“ „Im Zimmer“, der Automat deutete auf die offene Balkontür. „Schläft sie etwa auch?“ „Sie ist soeben aufgewacht und sucht Sie.“ Leicht torkelnd betrat Amon das weite Zimmer. Gledis Wehmuurd sah ihn aus großen, noch immer verträumten Augen an. „Oh“, sagte sie, „ich habe gerade etwas Schönes geträumt. Ein wunderbarer Kommufacharbeiter war bei mir, und er begleitete mich in das Sanatorium auf eine unbeschreibliche Art... Aber Sie waren das nicht...“ „Stimmt“, bestätigte Amon, „ich war das nicht, weil ich in der Zeit auf Ihrem Balkon war.“ „Warum waren Sie das eigentlich nicht?“ fragte Gledis nach. „Es wäre doch schöner gewesen, weil ich dann alles noch einmal erleben könnte.“ „Kein Mensch kann zweimal dasselbe erleben...“, gab Amon einen der Leitsätze seiner Zentrale zum besten. „Ich weiß“, unterbrach ihn Gledis. Sie ging auf und ab, doch jedesmal, wenn sie sich der Ampulle näherte, die harmlos auf dem Teppich lag, wurde ihr Gang unsicher, und sie kam schnell wieder zurück, hielt sich bei der Balkontür auf.
„Jedenfalls habe ich mir das alles anders vorgestellt.“ Sie setzte einen ihrer Füße auf einen Sessel und stützte ihren Kopf in die Hände, „viel persönlicher, intimer. Ich habe ein wissendes Gesicht erwartet. Freundlichkeiten auf einer anderen als der allgemeinen Schwelle. Ich habe an einen Mann gedacht, bei dem ich das Gefühl habe, als könnte es weder vorher noch nachher einen anderen Patienten für ihn geben. Ja, er sollte mir das alles meinetwegen vorspielen, doch so, daß ich ihm glauben kann. Aber Sie, mein Freund, Sie würden sich bei mir wohler fühlen als ich mich bei Ihnen. Sie sind nicht das, was ich will...“ „Es geht also weiter“, sagte Amon schwermütig und trat auf den Balkon hinaus. „Ich bin nur schwacher Durchschnitt. Das Maschi nenkind. Es stimmt, ja, ich kenne meine Eltern nicht. Tut mir leid, Gledis, ich habe mir den Auftrag nicht gegeben.“ Sie stand, ohne daß Amon sie hätte kommen hören, dicht hinter, ihm, und ihre schmalen Hände berührten sacht seine Oberarme. „Verzeihen Sie“, sagte sie und betrachtete ihn voller Mitleid. „Ich habe das nicht wissen können. Ich bin einfach überspannt. Ich suche immer neue Abenteuer, und auch das sollte eins werden, und nun bin ich gekränkt, daß man mich durchschaut hat. Verstehen Sie das? Es tut mir leid. Sie haben recht: Kein Mensch kann zweimal dasselbe erleben, und Sie haben strikt nach der Devise: Vorsicht, Rücksicht, Nachsicht gehandelt. Ich will Ihnen nichts vorwerfen. Drehen Sie sich um...“ Amon gehorchte und sah der Sängerin direkt in die Augen. „Bitte“, sagte sie, „geben Sie mir einen Kuß. Das ist in meiner Gilde das sichere Zeichen, daß man sich nichts nachträgt.“ Amon küßte Gledis und fühlte Wärme in sich aufsteigen, spürte eine neue, berauschende Leere in seinem Kopf. „Nun, wieder gut?“ fragte Gledis und lächelte. „Wieder gut“, erklärte Amon, „in einem Jahr würde ich vielleicht über einen derartigen Vorwurf lachen. Ich kann es noch nicht. Das alles ist mir so ernst heute. Schrecklich ernst.“ „Ich will dir sagen“, Gledis lehnte sich über die Brüstung des Balkons und sah auf die bleistiftdünnen Straßen, „warum ich niedergeschlagen bin: Ich glaube, man hat mich hereingelegt. Layliy, meine Konkurrentin, so heißt es jedenfalls, ist als Libelle und Programmiererin erzogen worden. Verstehst du? Plötzlich stimmen jede Jury und alle Automaten für sie. Da gewinnt sie jedes Festival. Jedes. Und ich...“ „Ich bin Facharbeiter für humanoide Kommunikation und Inter aktion“, Amon nannte nun den vollen Titel seiner Tätigkeit, „und als ein solcher glaube ich nicht daran, daß noch irgendwo jemand betrügen kann oder will. Das wäre auch sinnlos und gegen jede Spitzeleistung gerichtet. Unsere Technik und Kultur, unsere Kunst und Wissenschaft würden Mittelmaß werden. Eine armselige Welt…“
„Wenn du denkst“, sagte Gledis, „du bist der Fachmann. Wir wollen gehen. Ich muß vorher noch ein Bad nehmen, und ich bitte dich, mich zu begleiten.“ Sie lagen Rücken an Rücken im Wasser und sahen beide hoch zur Decke, wo sich rauschende Blätter, blauer Himmel und ziehende Wolken zeigten. „Ich hatte überhaupt keine Lust“, sagte Amon, den die Wärme und der Wohlgeruch des Wassers in einen Zustand innerer Gelöstheit versetzten, „meinen Beruf zu ergreifen. Offener wollte ich werden. Ich wollte zu denen gehören, die überall auftauchen, überall Erfahrungen und ein wenig Wissen ansammeln, um sich dann später für etwas zu entscheiden. Ich dachte mir, daß es gut sei, wenn man zehn Jahre herumzieht und sich alles anschaut. Zehn Jahre. Aber sie haben hochspezialisierte Anlagen bei mir gefunden. Ich könnte Menschen gut verstehen... Komisch, was?“ Gledis drehte sich herum. Sie drückte Amons Kopf an ihre Schulter. „Was ist daran komisch?“ Sie strich Amons Haare nach hinten. „Na“, Amon lächelte in das Gesicht, das so dicht über ihm war, „daß ich nicht bemerkt habe, wie ich Menschen verstehe. Man müsste es doch merken. Ich sehe doch, wenn ich gut malen kann. Oder wenn ich ein Bastler bin. Aber Menschen begreifen, das weiß man nicht.“ Plötzlich richtete er sich auf, wandte der Sängerin sein Gesicht voll zu. „Weißt du, was man einmal gesagt hat?“ fragte er. „Ich sei ein Maschinenkind aus Mejoora...“ „Na und“, Gledis blickte Amon verständnislos an, „was ist das? Sieh, ich singe. Ich werde solange singen, wie ich kann. Das ist etwas anderes, als Maschinen zu verbessern oder andere Kunstwerke zu schaffen. Mein Lied ist flüchtig. Es erklingt, und schon ist es weg. Ich habe in der Zytoplasmologischen Abteilung der Regenerationszentrale Eizellen von mir speichern lassen. Dann nämlich wenn ich nicht mehr singen kann, will ich ein Kind. Dort ist auch schon der Samen des Vaters aufbewahrt. Und dann, wenn ich es will, werden beide Elemente verschmelzen, und mein Kind wird geboren werden. Und was soll daran ungewöhnlich sein?“ „Ich weiß“, Amons Augen wurden dunkler. „Aber als ich das Wort hörte, da galt es mir. Und es zog einen Graben zwischen mir und den anderen. Ich war anders. Meine Erzieherin hat es mit einem kalten Lächeln auf den Lippen gesagt. Weil ich den kleinen Simur, ihren Liebling, aus einer Roto-Tonne stieß. Es ist überhaupt nichts passiert, aber der Junge schrie, als hätte ich ihn ernsthaft verletzt.
Da hat sie es gesagt. Und dann war da immer wieder eine wunderschöne Frau, die mich hochhob. Ich weiß nicht, ob es diese Frau überhaupt gab. Vielleicht ein Wunschdenken, denn ich erinnere mich nicht eines Wortes von ihr. Sie drückte mich schweigend an sich. Was einem so alles einfällt...“ „Du hast keine Eltern?“ „Nein“, antwortete der junge Mann und ihm fiel das Wort Markus ein. Wer war das: Markus? Hatte die Frau ihn so genannt? Unmöglich. Schließlich hieß er Amon und nicht Markus. „Erzähle noch mehr von dir“, bat Gledis, die plötzlich eine andere war. „Ich bin einmal einen Baum hochgestiegen“, sagte er, „da kam meine Entwicklerin mit zwei anderen. Seht doch den kleinen Rhesuiden, rief sie. Ich hielt es für ein Lob und kletterte bis in die Spitze des Baumes. Erst später begriff ich, warum sie mich als Rhesuiden bezeichnet hatte. Die Frau mochte mich nicht. Die Kinder haben den Schimpfnamen voller Spaß aufgenommen, und ich war bestimmt zwei Jahre lang der Rhesuid. Ich darf mich gar nicht daran erinnern. Vielleicht sorgte diese Anfangszeit dafür, daß ich bei Prüfungen nie die Punktzahl für einen anderen Beruf erreichte. Ich weiß es nicht. Nur daß ich bei der Kommuausbildung mit Auszeichnung abschloß, zählt noch für mich.“ „Ich begreife schon“, Gledis ließ sich in das tiefe Wasser gleiten, „daß du Menschen verstehst.“ „Einmal habe ich nach meinen Eltern gefragt“, erzählte Amon, der liegen geblieben war und Gledis beobachtete. „Sie haben die Schultern gehoben. Wortlos. Das war schlimm für mich. Keine Antwort, nur die gleichgültige Bewegung. Ich habe nicht mehr gefragt. Ich habe auch nicht mehr zugehört, wenn irgendeiner von seinen Eltern sprach.“ „Du hast viel freie Zeit“, Gledis stieg aus dem Bassin, „du kannst ja alles noch finden. Die Namen deiner Eltern. Andere Tätigkeiten. Hindert dich jemand daran?“ „Etwas in mir“, gestand Amon und ließ sich ins tiefe Wasser fallen. „Ich weiß, daß ich alle Unterstützung bekäme, wenn ich darum ersuchte. Man würde mich sogar alle Tests wiederholen lassen, aber das, wogegen ich ankämpfen muß, ist in mir. Eine Ahnung, daß über meinen Eltern ein Geheimnis schwebt, das man besser nicht antastet. Das ist es wohl, was mich an einem Neubeginn hindert.“ „Vor Jahren“, Gledis zog einen dunklen, glänzenden Overall an und reichte Amon, der sich anschickte, aus dem Wasser zu kommen, die Hand, „hat mir ein Therapeut gesagt, daß wir alles, was uns beunruhigt, im Laufe der Zeit vergessen. Vielleicht hast du auch vergessen, was du wissen solltest.“
„Ich habe viel vergessen“, sagte Amon, trocknete sich ab und zog seine Arbeitsmontur an. „Ich weiß nicht einmal mehr, wie die anderen Kinder hießen, die mit mir zusammen ausgebildet wurden. Ich weiß eigentlich nichts. Und wenn ich suchen wollte, müßte ich dorthin zurück. Dahin, wo es mich am allerwenigsten hinzieht...“ Das Bild wurde blaß, blieb stehen. Amon Hater sah es immer noch an. Die Medizinerin hüstelte. „Das gab es damals“, fragte sie, „Er zieherinnen, die einem Kind so etwas sagen?“ „Ja“, sagte Hater, „das gab es und wenn es nur eine von Tausenden anderen war. Aber ich war das Opfer. Fürchten Sie nicht, daß ich in Selbstmitleid zerfließe. So etwas ist zugleich eine harte Schule. Ich war übrigens lange Zeit noch mit Gledis befreundet. Drei Kinder hat sie erzogen. Ich glaube, sie hat nur noch zwei Jahre gesungen. Mein Instrukteur schüttelte mir damals die Hand und beglückwünschte mich. Und ich dachte, es würde Vorwürfe hageln. Eine Blitzheilung, erklärte er mir. Jeder Mensch trägt solche Dinge in sich, hat er mir erklärt, Dinge, die ihn bewegen und an die er doch nicht herankommt.“ „Und, haben Sie Ihre Eltern gesucht?“ „Ich blieb noch drei Tage bei Gledis in dem Sanatorium und fuhr dann in meine Unterkunft. Da steckte eine Konserve in meinem Bildgeber. Da hat sich einer in der Adresse geirrt, dachte ich noch so, als das Stück begann. Ein Mädchen findet etwas. Eine Maschine. Was für ein hanebüchener Unsinn, als könne man per Zufall so etwas entdecken, ohne Sachkenntnis, ohne Grundlagen. Ich wollte die Konserve schon aus dem Geber nehmen, aber da erfuhr ich, daß dieses Mädchen elternlos über die Welt dahinzieht, allein, ohne ihre Vergangenheit zu kennen. Sie forscht in den Zeitarchiven, ohne etwas zu erfahren. Und sie beschäftigt sich mit ihrem Fund. Es ist, bitte lachen Sie nicht, eine Zeitmaschine, und nun reist die junge Heldin durch die Zeit. Sie durcheilt rückwärts die Menschheitsgeschichte und stiftet immer wieder Verwirrung. Schließlich erfährt sie, daß ihr Vater ein berühmter Pilot gewesen ist, der einer Passagiergruppe das Leben rettete, wobei er selbst starb, und ihre Mutter ist eine Wissenschaftlerin, die in einem Labor ihr Leben verliert, als das Mädchen erst wenige Wochen alt ist. Natürlich hat es mich damals aufgewühlt. Solche Eltern zu haben, dachte ich, sie zu finden, das muß etwas sein. Ich habe mir damals einen Gravosspaten besorgt, das ist ein sehr simples Ding. Man drückt auf einen Knopf, und eine geballte Energieladung reißt einige Kubikdezimeter Erdreich aus dem Boden.
Drückt man schnell genug, kann man das Fundament für ein festes Sommerzelt in zwanzig Minuten ausheben. Nur Metall war gefährlich, man durfte kein Metall unter sich haben, weil sonst ein Teil der Energie zurückgeworfen wurde und schwer heilende Wunden hinterließ. Im Laufe der Jahrzehnte war nur ein schwerer Unfall bekannt geworden: Es hatte einen Mann von einer Klippe geschleudert. Natürlich wollte ich am liebsten sofort los und etwas finden, was Licht in mein Dunkel warf. Aber so einfach war das nicht. Die Mitglieder des Straßenortsausschusses, die mich kommen sahen, bestellten mich zu sich und lamentierten darüber, daß ein solcher Spaten nicht ungefährlich sei. Jedenfalls überzeugten sie mich, daß es ratsam sei, erst einmal einen geologisch-archäologischen Grundkurs zu absolvieren. Ich stimmte schließlich zu und zog los. Aber nicht, um mich belehren zu lassen, sondern um graben zu können. Und da geschah etwas Beunruhigendes. Ich kam nach Hause und war verblüfft, daß das Licht nicht auf flammte, obwohl ich mehrmals das Fußrelais berührte. Immer wieder versuchte ich es, doch nichts geschah. Na schön, dachte ich, die paar Meter bis zum Transporthub, die findest du auch im Dunkeln. Ich betrat das Haus und ging kaum drei Schritte, als ein Schatten auf mich fiel und eine wuchtige Hand nach mir griff. Ein Arm, stark wie der einer Maschine, hielt mich fest und zerrte mich in die Nische, in der sich das Materialiensaugrohr befand. War bisher alles lautlos vonstatten gegangen, so begann der Un-, sichtbare nun zu reden. Seine Stimme klang heiser und gepreßt - ich habe sie nie vergessen können. , Deltar’, raunte er mir zu, und mich überkam ein Schauer ,Deltar, du bist kein Maschinenkind. Laß sie doch reden. Du bist ein wertvoller Mensch. Wenn du mehr wissen willst, dann begib dich nach Mejoora und Wendynck. An diesen beiden Orten wirst du, wenn du klug vorgehst, erfahren, wer dein Vater war. Merk es dir, und vergiß es nie. Und wenn wir uns einmal wiedersehen sollten, dann verzeih die Grobheit. Ich wußte keinen anderen Weg...’ Ein Leinentuch flog über meinen Kopf, und ich wurde losgelassen. Es war sicher komisch, wie ich mich zitternd und zappelnd aus dem Baumwollsack herauswand. Als ich endlich frei war, brannte helles Licht, und ich war allein. Ich trat noch einmal auf die Straße hinaus, aber sie war leer. Und dann habe ich geweint. Ich weiß nicht, warum... Ich lebte damals in Euras. Doch in meinen Träumen tauchte immer wieder ein endloses, vom Meer umgebenes Gebiet auf: Austras eins. Eine fremdartige Landschaft voller Wildheit. Ein ungebändigter Raum. Mir war dann, als sollte ich ankommen dort.
Aber es war so unklar. Natürlich, ich hätte reisen können. Dann wieder schien es mir, als versuche eine unbekannte Kraft, mich dorthin zu locken. Man kann so etwas nicht schildern. Überhaupt: Ich kannte ja Austras eins. Wir hatten viele Berichte gesehen. Die Tiere dort und die Pflanzen. Ich konnte es mir nicht vorstellen, das ich in Austras eins etwas finden konnte, was mir bei meiner Suche weiterhalf. Nun denken Sie bloß nicht, daß für mich nichts anderes mehr existierte. Ich lebte nicht abgeschlossen für mich, hatte ein Mädchen. Und wer mich kannte, hatte unbedingt von mir den Eindruck eines lebenslustigen jungen Mannes. Anderenfalls hätte ich keinen Auftrag mehr bekommen, und Amon Deltar wäre selbst in ein Sanatorium begleitet worden. Aber es gab Stunden, in denen ich nachdenklich, in mich gekehrt war, und mich fragte, wer ich sei. Und meine Arbeit mit dem Gravosspaten. Da war ich wirklich für mich allein. Da tastete ich die Erde ab, suchte Reste der Vergangenheit. Es war ein zwiespältiges Leben, das ich lebte. Oder: Es war ein normales Leben mit eingestreuten Episoden der Nachdenklichkeit. So vielleicht. Das ist es, Ainina, was in meinen Aufzeichnungen fehlt. Ich weiß das. Es fehlt. Bestimmte Stimmungen, Gedanken, Gefühle, die sind nicht sichtbar, die kann auch der idealste Computer nicht reproduzieren. Manchmal aber führen gerade sie zu unvorhergesehenen Veränderungen in unserem Leben. Wissen Sie, Überzeugung ist etwas, was in unserem Innern steckt. Das ist nichts, was sich mit Reden ausdrücken läßt. Und auch die schlechteste Erfahrung kann einen nicht davon abbringen. Stimmen Sie mir zu?“ „Zustimmen?“ Die Frau bewegte sich in ihrem Sitz, schwang vor und zurück. „Wenn Sie damit begründen wollen, daß Sie Ihr Präparat vor uns verstecken, dann werden Sie mich nicht auf Ihrer Seite finden...“ Metallregen Es gab keinen Ort auf der Welt, der mich so anzog wie Mejoora. Mejoora war dadurch entstanden, daß drei Städte aus drei verschiedenen Himmelsrichtungen zusammenwuchsen und etwas ergab, das von Stilbrüchen wimmelte. Die älteste Stadt hieß Menos, und sie war das Zentrum der irdischen zoologischen Forschung. Jorache, die Stadt, die am Meer emporgewachsen war, beherbergte schon seit Urzeiten Urlauber aus aller Welt, und Aranad, die dritte Stadt, war früher einmal ein landwirtschaftliches Zentrum.
Diese Städte krochen wir erkaltende Lava aufeinander zu, verkrallten sich ineinander und bekamen einen gemeinsamen Namen: Mejoora. Es war eine Ortschaft neuen Typs. Der Höhenbau, der Tiefenbau und der Breitenbau flossen zusammen. Drei gegensätzlich architektonische Strömungen ergeben zumeist ein Chaos. Nicht so in Mejoora. Die Stadt steigt, wenn man vom Festland her kommt, so sanft und allmählich an, daß man den Eindruck eines endlosen Daches hat. Noch eine Besonderheit gibt es. Aus der Zeit, da die Stadt noch gar nicht existierte, stammt ein Dekret, das bestimmt, daß der nördliche Klippensaum nicht bebaut werden darf. Dort findet man seltene Pflanzen und interessante Meeresbewohner, und man hat sie unter Schutz gestellt. Dort an jenem Klippensaum gab es Verkarstungen und Höhlen, schmale Sandstreifen und wilde Buschgruppierungen. Dort konnte ich nach Herzenslust graben. Stundenlang schickte ich den Energiestrahl in das Erdreich, sah zu, wie die Löcher tiefer und tiefer wurden, sich schließlich mit Grundwasser füllten und zusammenstürzten. Nur, ein Zeugnis aus der Vergangenheit fand ich nicht. Einmal verbrannte ich mich an der rechten Hand. Ich weiß nicht, warum ein Teil des Energostrahls zurückkam. So ging ich zu einer Medkeule und schob meine Finger in die Öffnung, über der eine stilisierte Hand abgebildet war. Es fauchte und schlurfte in dem Apparat, und als ich die Hand hervorzog, sah sie wieder recht ordentlich aus. Auch die Schmerzen waren weg. Und dann kam der dringende Ratschlag, einen Grundkurs über geologische Archäologie zu absolvieren. Ich habe diesen Kurs bis heute nicht besucht. Tut mir leid. Ich holte mir ein Metallometer, denn ich war überzeugt, auf Metall gestoßen zu sein. Meinen Spaten fand ich, er lag unberührt auf dem Sand, doch Metall entdeckte ich nicht. Ich hatte den Spaten also irgendwo auf dem Weg zur Medkeule abgelegt, hatte kein Kennzeichen dort hinterlassen, wo der Energostrahl reflektiert worden war. Wo immer ich suchte, die Lampe des Metallometers glomm grün auf. Es gab nicht eine Spur von Metall. Dieses unübersichtliche Land schien unaufhörlich zu wachsen, endlos zu werden. Ich hatte wie ein Spürhund gesucht, war stets mit gesenktem Kopf gegangen. So erinnerte ich mich auch nicht, wo ich mich verbrannt hatte. Zudem hatte mich der Schmerz augenblicklich betäubt und blind für meine Umgebung gemacht. Ich wußte nicht, woher ich gekommen, wohin ich gegangen war. Immer wieder stieß ich auf von mir gegrabene Löcher, ohne mich zu erinnern, daß ich hier schon gewesen sein sollte.
Und dann fand ich zu allem Unglück noch zwei Tierarten, eine Krabbenart und kleine Schildkröten, die ebenfalls Höhlen graben, so daß ich nicht einmal mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, ob eins der Tiere oder ob ich die Ursache für die vielen Löcher war. Die widerstreitendsten Gefühle waren in mir. Ich hatte Metall gefunden. Metall. Vielleicht war das meine Zeitmaschine. Und ich würde diese Spur nie wiederfinden, weil täglich neue Vertiefungen von Krabben und Kröten hinzukamen und alles mehr und mehr verwirrten. Zwei Wochen lief ich wie ein aufgeschrecktes Huhn über das zerklüftete Land, suchte, ließ das Metallometer im Dauerbetrieb detektieren und geriet allmählich in Verzweiflung. Zweimal sollte ich irgendeine Persönlichkeit nach irgendwohin begleiten. „Laßt mich in Ruhe“, schimpfte ich in den Sprechgeber, und natürlich ließen sie mich in Ruhe. „Bitte melden, wenn auftragsbereit“, verabschiedete sich die Lenkerzentrale von mir. Dann, an einem späten Nachmittag, die Farben der Klippen und des Meeres waren blaßgrünlich überhaucht, der Wind ruhte, und nur die Sonne brannte heiß auf mich nieder, zeichnete sich plötzlich ein Schatten auf dem kleinen Glasoktaeder ab. Ein Schatten. Also Metall. Ich befestigte einen Markierungsstrahl auf der Erde. Dann ließ ich mich erschöpft nieder. Betrachtete die verschwommene Silhouette der Stadt, die sich wie eine Tuschzeichnung ausnahm. Die Sphäroklänge drangen jetzt deutlicher an mein Ohr. Es war Musik zum Nachdenken, Nachruhen, zur Besinnung. Man wurde eingestimmt auf einen feierlichen Abend. Ich wollte weiterarbeiten, aber die Musik störte mich. Immer wieder wurde ich nachdenklich, machte Pause, konnte mich nicht mehr auf meine Aufgabe konzentrieren. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, ehe ich einen zweiten Markierungsstrahl verankert hatte. Immer mehr dieser schwach fluoreszierenden Strahlen von einem halben Meter Länge standen auf dem Boden zwischen Strandhafer und Bambuspflänzchen. Es war der neue Meeresbambus, der bis in Wassertiefen von zwölf Metern wächst und die wundersamsten Blüten trägt. Als ich meine Arbeit beendet hatte - ich fühlte ein Dröhnen in meinem Kopf, denn die Musik begleitete in dieser Stunde die Menschen bei der Tätigkeit des Umkleidens, beim Anlegen der Feststundengarderobe sah ich mir den gewonnenen Umriß des Metallklumpens an und entdeckte, daß er irgendwie eckig aussah. Beinahe quadratisch.
Ich wußte, daß man einen Gegenstand solchen Ausmaßes lange nicht gefunden hatte. Meine Phantasie entzündete sich an dem mächtigen, in der Erde ruhenden Objekt. Womöglich war dies meine Zeitmaschine, und ich würde reisen können, so wie jenes Mädchen in dem Film. Dann aber überkam mich Unruhe. Ich erinnerte mich des Überfalls in dem Haus. Ich wollte sichergehen. Also betrat ich Mejoora, und sofort fühlte ich mich elend. Überall wurde getanzt, man begegnete sich festlich, und ich stakste in meinem Außerstadtoverall umher. Wohin wollte ich ausweichen? Bis in die Nacht habe ich mit den anderen getanzt und Freundlich keiten getauscht, nachdem ich mich umgezogen hatte. Dann aber, als die Musik der Ruhe und des Schlafens einsetzte, als sich die Straßen in Minutenschnelle leerten, holte ich mir zuerst einen Schallisolator, den ich unauffällig an meinem Kopf befestigte. Nun war die Welt stumm und lautlos. Ich atmete auf, und die beginnende Müdigkeit schwand. Dann besorgte ich mir die größte Sommerhaut, die ich finden konnte, und spannte sie über der Fundstelle auf. Damit war ich nicht nur gegen fremde Blicke, sondern auch gegen jede Störung gesichert. Den Schallisolator ließ ich in der Stadt zurück. Ich bereute es, denn ich fühlte schon bald, daß meine Muskeln erschlafften und ich mich schrecklich müde fühlte. Meine Arme sanken herab. Schließlich kroch ich aus der Sommerhaut und sah, daß irgendein Automat in freundlicher Absicht eine dieser Sphäroklangtafeln in meiner Nähe aufgebaut hatte. Ich nahm den Spaten, zielte auf die Tafel und drückte ab. Der Energostrahl zerfetzte das dünne Ding, und die Musik verstummte. Nun war es das Meer, dessen Geräusche mich wach hielten, mich aktivierten und zu neuer Tätigkeit anstachelten. Auch das hohle Heulen des Windes war Musik, die mich erfrischte. Denk mal an, dachte ich, so also machen sie es. Und auf der Kommuschule haben sie kein Wort zu den Sphäroklängen gesagt. Vorsichtig schickte ich also den ersten Energostrahl in die Tiefe. Es kam nur wenig Erde heraus. Ich arbeitete ruhig weiter, systematisch und vorsichtig. Dann kam eine glänzende Kante in zwei Meter Tiefe zum Vorschein. Den anfallenden. Sand schaffte ich etappenweise nach draußen und ließ ihn ins Meer rinnen. Allmählich wurden meine Bewegungen müde und langsam. Ich konnte kaum noch abdrücken, fühlte mich unbehaglich und wollte meine Arbeit beenden. Während ich mir ein provisorisches Nachtlager errichtete, begriff ich, was geschehen war. Irgendeiner dieser Reparaturrobbys hatte die zerstörte Tafel durch eine neue ersetzt. Im Nu war ich draußen und sah das Maschinchen befriedigt davontippeln.
Erneut richtete ich den Spaten gegen die Tafel, und sie zersprang mit einem feinen, schrillen Ton. Der Robby hielt inne, wandte sich um und betrachtete den Schaden. Wie ein apportierender Hund jagte er davon und kam mit einer neuen Tafel zurück. Ich hatte auf ihn gewartet, und noch ehe die Tafel montiert war, hatte ich sie in Schrott verwandelt. Wieder hetzte das Maschinchen fort und brachte eine neue Tafel. Diesmal hatte ich eine Fallgrube gebaut und sie mit Bambus und feinem Sand unsichtbar gemacht. Der Robby und die Tafel verschwanden in der Tiefe, und als ich herantrat, sah ich, daß die Maschine wie ein Käfer auf dem Rücken lag und zappelte. Ich begrub den Robby und stampfte die Erde fest. Dann rief ich, gegen das Erdreich gerichtet: „Nicht bewegen. Andernfalls gefährdest du einen Menschen.“ Das stimmte zwar nicht, aber die unglückselige Maschine mußte, ob sie wollte oder nicht, unbeweglich liegenbleiben, bis sie ein Widerruf von dem Befehl befreite. Sollte sie liegenbleiben. Ich hatte einen ersten Sieg errungen. Über eine ganze Welt, wie es mir damals schien. Mein Wille galt etwas... Noch immer stand das blasse, erstarrte Bild aus der Kristallatorscheibe im Raum. Die Medizinerin befreite sich aus den Riemen des Hängesitzes, baumelte noch einen Moment mit den Beinen, bevor sie aufsprang. Dann ging sie mit gesenktem Kopf auf und ab. „Sie haben sich nicht verändert“, sagte sie. „Dieser verschüttete Robby. Ich vermute, Soyosa hat für Sie den Stellenwert dieses Robbys. Wichtig ist doch nur für Sie, daß Ihr Wille gilt. Das alles so ist, wie Sie sich das denken. Und Sie glauben, daß die Menschheit noch nicht reif ist für das Tyrsoleen? Und was Ihre Träume anbelangt, wollen Sie wissen, was ich glaube? Ihr Instrukteur hat Sie gelenkt, Sie sind nicht Ihrer eigenen Initiative gefolgt. Er hat Ihnen das vermittelt, was Sie jetzt von sich selbst behaupten: den Sinn des Lebens gefunden zu haben. Oder irre ich mich?“ „Das sind schwerwiegende Vorwürfe“, sagte Hater, und seine Augen wirkten ein wenig matt, „Sie werfen mir allen Ernstes vor, ich würde Soyosa und diesen Robby mit den gleichen Wertigkeiten versehen? Wenn es so ist, warum sind Sie dann noch hier? Ich meine das ernst: Sie können doch gehen. Einen solchen Egozentriker hoffen Sie doch nicht etwa durch Argumente weichzuklopfen? Bitte antworten Sie augenblicklich: Bin ich in Ihren Augen derjenige, der Maschinen und Menschen gleichsetzt - oder nicht...? Sprechen Sie!“ Eine ungeheure Erregung hatte sich des Mannes bemächtigt. Immer wieder schüttelte er den Kopf, seine Augen waren schmal, und seine Finger bewegten sich unablässig.
„Ich habe Sie jetzt verletzt“, erwiderte die Frau, „ich wollte das, und selbst wenn Sie mich hinauswerfen, nützt es Ihnen nichts. Ihr Name ist augenblicklich in aller Mund. Das Infozentrum sucht sicher Geschichten über Sie. Und Tyrsoleen ist eine solche Geschichte. Denken sie an die Betroffenen und deren Angehörige. Sie werden in einer Flut von Anfragen ersticken. Sie werden hunderttausend Besucher haben. Sie werden Bärenkräfte entwickeln müssen, wenn Sie Hunderttausende hinauswerfen wollen. Aber ich habe auch Ihr Gesicht gesehen, Hater, als Sie meine Tochter betrachteten. Ich erblickte Entsetzen und Jammer darin, Verzweiflung und - tiefes Nachdenken. Feste menschliche Bindungen, Familienleben, kann man das lernen? Sie haben in Ihren hundertzwanzig Kalenderjahren nie lange mit jemandem zusammengelebt. Ihre Partnerinnen sind heute Greisinnen und einige sind schon tot. Ein Fluch der Zeitdilatation. Aber ist es nur das? Ich kenne Ihre Geschichte aus der Anamnese: Zehn Jahre waren Sie auf einem Jupitermond. Das war dieses Raumeiweißprojekt. Überschußernährung. Sie haben mehr als dreißig Jahre in einem Labor zugebracht. Ich meine, Sie können ausdauernd und treu sein, wenn es um Arbeit geht, nicht aber, wenn von Menschen die Rede ist... Jetzt haben Sie vielleicht verstanden, was ich meine?“ Hater zog die Luft hörbar ein, stieß sie ebenso aus. Er trat an eine der Wände, die den Raum abgedunkelt hatten, und als er davorstand, lösten sich die Schattenpartikelchen auf, und die Wand war nun aus Glas, gab den Blick auf die weitgestreuten Anlagen dieses Komplexes frei. Zwischen den Gebäuden erhoben sich dichte, samtschwarz wirkende Baumgruppen, und ein silbrig überzogenes Flüßchen glänzte wie getriebenes Metall. „Für Sie bin ich also ein Relikt aus dem Gestern, ein egoistischer Rechthaber, fast ein Psychopat? Wenn Sie das von mir denken, zwingen Sie mich, Ihnen alles zu sagen und zu zeigen. Und ich würde Sie zurückhalten, wenn Sie jetzt gehen wollten, bevor ich mich rehabilitieren kann. Lassen wir also den Film weiterlaufen. Sie werden alles sehen...“ „KFA 36-9-81, bitte melden“, flüsterte die Lautsprecherstimme in der Kapuze. Der Kommufacharbeiter Amon Deltar löste sich aus der Gravitorschlinge, in der er über das langgestreckte Oval des Strudelba des hatte schweben wollen, und erregte damit den Unwillen einer Gruppe junger Leute auf der anderen Seite des Bassins. Sie protestierten gegen die Spielunterbrechung, und einige riefen: „Ist dir wohl zu schwer, was? Dreifach Stutterem und Rückschwingen“
Amon winkte ab. „Hier KFA 36-9-81“, sprach er dann ins Mikrofon seiner Kombination, „ich höre.“ „Bitte augenblicklich zur Zentrale“, das war erneut die Stimme in der Kapuze, dicht an seinem Ohr. „Ich muß zur Zentrale“, rief nun Amon seinen Freunden zu, lief - so wie er war - weg vom Bassin und bestieg ein heranrollendes Fahrzeug, das mit ihm eilends davonfuhr. Unterwegs begann Amon nachzudenken. Er sah die heitere Silhouette der Stadt, die spielenden Kinder und die dichte Begrünung, hinter der die meisten Gebäude unsichtbar blieben. Was ist denn? dachte er. Wenn es ein neuer Auftrag ist, dann hätten sie ihn mir doch durchgeben können. Merkwürdig... Allmählich schwand seine Fröhlichkeit. Er blickte - ernster, als es seinem Alter anstand - auf die Menschen, die die Bänder entlangglitten, beobachtete die Kinder auf den elektronisch gesteuerten Spielplätzen. Das hätte es damals geben sollen, dachte er, ein Spielgelände, das sich immer wieder wandelt. Man steigt eine Treppe hinauf, und die Treppe wird länger und länger und nimmt erst dann ein Ende, wenn man erschöpft ist, und doch befindet man sich nur einen halben Meter über dem Boden. Oder ein Baum wächst, während man durchs Geäst hangelt. Und immer ist man in ungefährlicher Bodennähe. Ein Tunnel, der sich endlos in die Länge zieht, Bausteine, die immer höhere Geschicklichkeit erfordern. Die Wandelspielplätze... Und dann die programmierten Tiger und Urechsen. Welches Kind vergaß hier nicht Zeit und Raum und lernte doch Ausdauer und viele Fertigkeiten... In der Ferne schob sich der stumpfweiße Flachbau der KFA-Zentrale heran, beherrschte immer mehr das Blickfeld. VORSICHT - RÜCKSICHT - NACHSICHT. Amon Deltar las die drei wichtigsten Regeln, die Buchstaben wurden von dichtgepflanzten lachsroten Rosen gebildet. Das Fahrzeug rollte am Portal aus, und das Dach klappte zur Seite. „Danke“, sagte Amon Deltar und ging auf eine ovale Tür zu. Er durchschritt die Pforte, betrachtete still lächelnd die Türen, hinter denen die Prüflinge befragt wurden, und folgte dem Amon-Deltar-Pfeil durch einen langen Gang. Hier war er noch nie gewesen. Endlich drückte er auf die Ankunftstaste, und eine Tür glitt nach oben. Amon trat ein. „KFA 36-9-81“, sagte er ein wenig übertrieben sachlich. Zwei Männer saßen an einem Tisch, tranken einen gelbgrünen Saft und musterten den Besucher interessiert.
Als Amon in einem von ihnen seinen Instrukteur erkannte, lächelte er erfreut. „Setz dich, Junge“, sagte der Instrukteur, und feine Lachfältchen erschienen um seine Augen. „Setz dich und höre uns aufmerksam zu.“ Amon nahm Platz, goß sich auch etwas Saft in das bereitstehende Glas und nahm einen tiefen Schluck. „Zuerst dachte ich, daß du ein Maulwurf werden wolltest“, sagte der Instrukteur, „als ich erfuhr, mit welcher Besessenheit du die Erde umgräbst. Dann habe ich mir im archäologischen Museum deine Fundstücke angesehen. Interessante Sachen sind dabei. Aber ich habe auch erkannt, daß dich diese Dinge gar nicht interessieren. Du suchst nicht, weil du Historiker werden willst... Habe ich da recht?“ Amon Deltar nickte zustimmend. „Ich dachte schon, daß deine Verletzung dich von dem Grabefieber heilen würde, doch du bleibst dabei“, fuhr der Instrukteur fort, „du hältst durch. Da habe ich mich gefragt, warum macht er das? Ohne Ausbildung. Ohne Vorkenntnisse und ohne diesbezügliche Ambitionen...“ Der Instrukteur hielt inne, lächelte abwesend. Er war mit seinen Gedanken nicht mehr in diesem Raum. „Weißt du es denn selbst?“ fragte unerwartet der andere den jungen Mann. Amon Deltar wurde rot. Seine Gedanken überschlugen sich. Er dachte an das Maschinenkind, das er sein sollte, an das schöne Gesicht jener Frau, von der er nie wußte, ob es sie gab oder nicht. An den Vorwurf, ein Rhesuid zu sein. Er dachte an Gledis und die verpatzten Prüfungen, ihm ging so vieles durch den Kopf. Auch die Konserve mit der Zeitreise. Dein Vater ist Pilot und deine Mutter Wissenschaftlerin, hatte das Mädchen erfahren... „Manchmal habe ich so eine Ahnung“, sagte er langsam, „aber genau...“ Er stockte, sah den Instrukteur hilfesuchend an. „Deine Entwicklerin hat uns geschrieben“, sagte der Instrukteur, „es tut ihr sehr leid; sie weiß jetzt erst, wie falsch sie dich eingeschätzt hat, wie du gelitten hast. Sie ist eine hervorragende Erzieherin geworden. Ich weiß, was du jetzt denkst, Amon: Was nützt mir das? Das stimmt, dir nützt diese späte Erkenntnis nichts. Wir haben uns jedoch hier zusammengesetzt, deinetwegen. Wenn auch nur einer von Milliarden Menschen sich nicht so entwickelt, wie es ihm zukommt, ist das schlimm genug. Wir haben hin und her überlegt, glaube mir das, Junge. Aber jetzt meinen wir, eine Lösung gefunden zu haben. Da ist ein Problem, etwas, was dir Sorgen bereitet. Wenn du weißt, was du suchst, dann ist es gut. Aber vielleicht weißt du es nicht einmal. Dann forsche weiter. Wir dürfen dir nicht einmal sagen, was es ist. Weißt du es...?“
„Der Pilot...“, stieß Amon hervor und spürte, wie seine Wangen glühten. „Vielleicht ist er gar nicht der Vater des Mädchens, sondern...“ „Richtig“, unterbrach ihn der Instrukteur, „du suchst deinen Piloten. Ich habe mir dieselbe Bildkonserve bestellt, übrigens ein ComputerAuftragswerk. Man hat sie wohl extra für dich anfertigen lassen; sie ist der Allgemeinheit nicht zugänglich. Ja, du suchst den Piloten, bildlich gesprochen. Wir haben uns an die Zentralverwaltung von Euras gewandt. Sie haben zugestimmt. Du bist nicht mehr nur Kommufacharbeiter 36-9-81, sondern darfst von diesem Augenblick an überall tätig sein. Am Ende jeden Jahres gibst du uns einen Bericht über deine Studien, dein erworbenes Wissen, die Erfahrungen, die du gemacht hast. Und dann kannst du wieder tun, was du für richtig hältst. Ich gratuliere dir und wünsche dir viel Erfolg.“ Der Instrukteur und der andere Mann erhoben sich. Auch Amon stand auf. Der Fremde drückte Amon fest die Hand, sah ihm dabei in die Augen. Amon erwiderte den Druck. Der Instrukteur umarmte den Kommufacharbeiter. „Manchmal werden wir dir noch Aufträge erteilen“, sagte er, „doch wenn du etwas Wichtiges verfolgst, dann laß es uns wissen, und wir ziehen den Auftrag zurück.“ „Danke“, sagte Amon und wußte nicht, wie ihm geschah. „Danke. Ich..., ich werde meine Eltern finden...“ „Davon bin ich überzeugt“, erwiderte der Instrukteur, dann brachte er den Fremden zur Tür, verabschiedete sich dort von ihm. „War das der Protokollant?“ wollte Amon wissen. Der Instrukteur lachte herzlich. „Es war Disorra“, sagte er schmunzelnd, „Disorra.“ Amon starrte seinen Instrukteur an. „Disorra von der Weltverwaltung Mensch und Wissenschaft?“ Seine Frage klang ungläubig. „Du glaubst es wohl nicht?“ „Ich meine“, Amon wirkte hilflos, „Milliarden Menschen, von denen einige hunderttausend im Raum sind..., und ich bin nichts als ein Kommufacharbeiter...“ „Aber du bist ein Mensch“, sagte der Instrukteur voller Überzeugung, „und ohne dich fehlte einer an den Milliarden...“ Amon Deltar befand sich in einem solchen Stimmungshoch, daß er zu Fuß nach Hause ging. Er kletterte mit zwei Halbwüchsigen um die Wette, verabredete sich mit zwei Mädchen an demselben Ort und zur selben Zeit und betrat den Häuserblock, in dem er wohnte. Das zweistöckige Gebäude war von einer efeuimitierenden Grünalge überwachsen. Nur die Ovale der Fenster wurden alle vier Tage nachgeschnitten, weil auch sie sonst zugewachsen wären. Die Algen hatten ihren Ursprung in einem unterirdischen Bottich voll Nährlösung.
Amon lief die Treppe hinauf. Als er in sein Dreifachquartier eintrat, stockte ihm der Atem: Eine der Schimmerwände zeigte kein Bild, sondern eine flammende Schrift. Suche O'Delta, und du hast dich gefunden. Er starrte die Schrift an, die allmählich gröber wurde und zu zerlaufen begann. Und dann dachte er: Ich heiße Deltar und soll einen O'Delta suchen. Wie ähnlich das klingt! Amon Deltar zog die neue Kombination an, die seinem Sonderstatus entsprach, und verließ, mit dem Gravosspaten unter dem Arm, eilends das Haus. Er verstärkte die Sphäroklänge rings um sich, so daß man zu ihm hinsehen und mehr noch ihn hören mußte. Er wollte bemerkt werden, ja, er wollte es... Das Bild erstarrte erneut und wurde blaß. „Da wird berichtet, daß Sie andere Aufgaben erhielten, daß Sie eine Montur angezogen haben, die Ihrer neuen Würde entsprach. Sie werden vor lauter Bedeutsamkeit noch zum Monument“, sagte die Ärztin bitter. „Was soll das alles? Sie stehen einer Mutter gegenüber, die um das Leben ihres Kindes kämpft. Und es gibt keine Macht auf dieser Welt, die mich davon abhalten könnte.“ „Ich sehe es“, Hater trat vom Fenster weg, dann blickte er nach denklich zu Boden. „Ich habe da eine Idee, sie ist mir soeben ge kommen. Warten Sie aber ab, bis ich Ihnen alles erzählt habe. — Ja, wie war das damals? Ich verließ also den Wohnblock, wie im Taumel. Suche O'Delta, und du hast dich gefunden. Zerrissen war ich, im Siegestaumel und aufgeregt. So bestieg ich den Expreß und fuhr nach Mejoora. Ich speiste nicht, trank nichts und ging allen Gesprächen aus dem Weg. Man fragte mich sogar, ob ich niedergeschlagen sei. Ich dachte darüber nach, wer mir nachstellte, wer mir immer wieder in den Weg trat und mich anstiftete, Dinge zu tun, die ich allein nicht begonnen hätte. Ich dachte auch über die Konserve nach, die mir diesen Film vorgegaukelt hatte. Der Pilot. Das war es. Ich sollte einen Piloten finden. Als der Express in Mejoora einlief, hatten sich Hunderte von Menschen versammelt, die den Fremden die Stadt zeigen wollten. So war das damals. Man ging, wenn ein Express ankam, einfach zur Endhaltestelle, und wer einem gefiel, dem zeigte man die Stadt. Meistens wohnte man dann noch eine Zeitlang zusammen, ehe man sich trennte. Ein, wie mir scheint, schöner Brauch, und ich finde es schade, daß heute dieses ‚Abholen’ auf einen rein elektronischen Vorgang reduziert wurde. Ich hatte damals alle Mühe, den Abholern klarzumachen, daß es mich zu jenem verlassenen Stück Natur hinzog, von dem ich schon
gesprochen habe. Aber schließlich war ich auf dem Rondell, auf dem die Fahrzeuge standen, und ich ließ mich zu dem Klippensaum fahren. Wie atmete ich tief durch, als mich die frische Meeresbrise traf! Ich war glücklich, fühlte mich auf eine mir bisher unbekannte Art geborgen im Schoß der Menschen, der - lächeln Sie nur ironisch, Ainina - Menschheit. In einer sternenklaren Nacht, umgeben vom Wind und von dem ewigen Summen der unterirdischen Großaggregate, die die ferne Stadt am Leben hielten, ging ich daran, meinen Fund von allem Sand zu befreien. Dabei mußte ich innehalten, denn das Summen der Aggregate, ich hatte es bisher für Töne aus dem Meer gehalten, beschäftigte mich. Wenn sie nun einmal innehalten, dachte ich entsetzt, wenn dann die Luftzirkulation in den Bauwerken zum Erliegen käme, die Le bensmittelproduktion stockte, und keine Abfälle mehr beseitigt und aufbereitet würden. Sie wissen, wie das ist. Als junger Mensch denkt man immer: Wie, wenn es unterbrochen wird. Später wagt man sich an solche Gedanken nicht mehr heran und tut so, als ob nichts, gar nichts mehr passieren kann. Schließlich wurde ich wieder ruhiger und wandte mich dem sandverkrusteten Gegenstand aus der Tiefe zu. Es gab nichts, wo ich Feinstarbeit leisten mußte, denn das Ding war völlig glatt und zudem von einer ungeheueren Härte. Ich schoß mit dem Spaten den verkrusteten Schlamm einfach weg. Zuerst erschien ein mattblauer Metallbuckel. Schließlich, als ich alles, so gut es ging, gereinigt hatte, erkannte ich, wie hoch das Ding war. Es überragte mich sogar. Und dann geschah etwas, was einen besonnenen Menschen gewarnt hätte: Sand und Schlamm bröckelten unvermittelt von allein ab, und das Ding stand funkelnd und glänzend vor mir und warf mein verzerrtes Abbild zurück. Doch es war äußerst merkwürdig: Das Ornament des schauenden Menschen, das bei meinem Anzug auf der Herzseite angebracht war, erschien im Spiegelbild nicht etwa links, wie es sein sollte, sondern auf der anderen Seite. Ich sah mich zum erstenmal so, wie andere mich sehen mußten. Ein seltsamer Anblick, vertraute Züge waren plötzlich fremd. Und dann geschah noch etwas: Teile von mir wurden vergrößert. Erst die Haare, dann die Stirn, die Augen und die Nase, der Mund. Es war nicht, wie man es aus einem Panoptikum kennt, sondern es schien mir eine stumme Anfrage, eine Probe, ein Test, und ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Mich beunruhigte, daß ich keine Schalter, Hebel oder ähnliche Gebilde entdecken konnte. Ich beklopfte das Ding von allen Seiten. Es gab kein Geräusch. Nicht das leiseste. Der Metallpanzer mußte sehr dick sein.
Als alles umsonst war, schoß ich mit dem Mut der Verzweiflung eine Spatenladung gegen die Schildkröte ab. Sie leuchtete einige Sekunden brennend orange auf und schimmerte dann wieder in dem schwarzblauen Grundton. Und während das Ding grellfarbig wurde, sah ich mein Porträt überdeutlich abgebildet. Den Spaten konnte ich nicht erkennen. Auch jetzt geschah nichts. Ich setzte mich in den Sand und schlug mit der Faust auf den Boden. Dann erhob ich mich auf die Knie und kroch um meinen geheimnisvollen Fund herum. Dabei entdeckte ich eine Inschrift, die ich augenblicklich notierte: Vereinigtes Terrestrisches Raumfahrtkommando/Typ: Solarschiff A 75 600-series. Personen und Materialschutz - System: MS0.09/RSP 04/austr. Nun hatte ich etwas. Ich konnte mich informieren. Ich mußte nur nachfragen, wenn es ein Vereinigtes Terrestrisches Raumfahrtkommando gegeben hatte, wohin dieses Raumschiff A 75 600 gestartet war und was RSP 04 bedeutete. AUSTR. hieß sicher Austras eins oder, wie Sie es früher nannten, Australien. Würde man meine Fragen beantworten, konnte ich meinen Fund zeitlich datieren und würde auch wissen, wie man damals solche Schildkröten gehandhabt hatte. In Mejoora würde ich keine Antwort bekommen, denn Mejoora verfügte nur über die üblichen Zeitspeicher. Ich mußte also nach Wendynck. Zur Leitinfostelle für Raumfahrt. Wendynck... Davon hatte der Mann gesprochen. Jener Überfall. Er hatte mir geweissagt, daß ich nach Wendynck mußte. Und nun war es Tatsache. Allerdings nicht, um einen Piloten ausfindig zu machen, sondern um eine Schildkröte zu entlarven... Als ich in Wendynck, ein wenig benommen von dem unruhigen Flug, aus dem Gleiter gekrochen war, stand ich lange unbeweglich. Mir war es, als sei ich auch durch die Zeit gereist und weit in der Vergangenheit angekommen. So mußte es einst gewesen sein: Keine Begrünung, keine Gewässer, nichts. Rund um die Stadt erhoben sich wilde, zerklüftete Berge. Und in diesem Talkessel, in dem auch ich mich befand, standen graue Blöcke, zumeist fensterlos. Ich wußte damals noch nicht, wie wichtig die hier gesammelten Informationen waren und daß das ungefilterte Licht der Sonne den Maschinen und ihren empfindlichen Gedächtnissen sehr schaden konnte. Für mich war Wendynck ein Ort aus einer Urzeit. Alles ragte himmelauf und schien im nächsten Moment auf mich niederzustürzen zu wollen. Die Menschen in ihren englischroten Kombinationen, die Wendynckmarke am Latz, wirkten auf mich wie Kyborgs. Ich verließ den Landeplatz nur zögernd, ging gemächlich durch die Straßen und sprach längere Zeit mit einer Kommufacharbeiterin. Meine Entschlossenheit geriet ins Wanken.
MS 0.09, dachte ich, was kann das sein? M könnte Material heißen oder auch Marianne... Aber das geht ja wohl nicht. Wer eine solche Schildkröte Marianne Schulz nennt, der muß schon sehr viel Humor haben. Nein, nein, es war kein Name. Es war eine Sachbezeichnung. Zum Glück wußte ich, welches dieser Gebäude mein Ziel war. Ich sah Bauten, die dem Profil der Felsen folgten, während andere wie die Säulen des Herakles den Himmel zu stützen schienen, wieder andere erinnerten mich an riesige und durchsichtige Nadeln. Manche krochen auch echsengleich über den Boden und erhoben sich nicht über die zweite Etage. Das Gebäude, in dem ich erfahren wollte, was mich interessierte, ähnelte einem ruhenden Tier. Der Kopf war der Eingangskomplex mit der dreiteiligen Schleuse, während der Leib anscheinend die Datenbank beherbergte. Ich kam an der Schleuse von Komplex I an, pfiff eine bekannte Melodie gegen die Sphäroklänge und erreichte, daß der Polyromat mich mißtrauisch mit seinen drei Kameraaugen betrachtete. „Na, Alterchen“, sagte ich munter, „beeile dich! Ich muß darein.“ „Unmöglich“, sagte die Maschine… Ich habe sicher nicht sehr intelligent ausgesehen, als ich dieses. Wort hörte. Was war unmöglich? „Ich muß da rein“, wiederholte ich fester. „Unmöglich“, sagte die blechern kratzende Stimme des Polyromaten erneut. „So... Und was soll das?“ Ich strich mir die Kombination glatt, damit diese Maschine sehen konnte, daß ich ein Studierender war. „Das soll nichts“, sagte die Maschine. „Das ist unmöglich...“ „Und warum?“ Ich trat von einem Bein aufs andere und versuchte, die Kameraaugen zu fixieren, aber da es drei waren, pendelte mein Blick hin und her. „Weil Ihnen ein Grundkurs fehlt“, erklärte er freundlich, „ein Sechsmonategrundkurs und ein Dreimonatespezialkurs. Zu absolvieren in Komplex zwei. Ab sofort...“ Sein Kopf wackelte hin und her, und die Augen glommen gelblich. „Und wenn ich die Kurse später nachhole?“ sagte ich. „Du kannst mich ruhig erst mal reinlassen!“ „Unmöglich“, antwortete er. Ich drehte mich um und ging. Weg war mein Elan. Ich war ein Fremder in einer fremden Stadt. Plötzlich spürte ich Hunger. Ich betrat also eine Speisegaststätte und ließ mich erschöpft auf einen Sitz fallen. An der Wand glomm die Speisekarte auf, und ich tastete, ohne recht hinzusehen, nach dem Laserstift und umrandete mit dem Lichtstrahl das, was ich essen wollte. Dann noch ein Getränk.
Das Menü kam auf dem ausgefahrenen Band an, und ich griff zu, stellte die Teller und Schüssel, die Schalen und die Sauciere auf meinen Tisch. Das Besteck schob sich aus dem Tischspalt. Ich wollte schon zu essen beginnen und wartete auf das GUTEN APPETIT der Anlage, als ich die beiden kleinen Dinge entdeckte. Eine Metallmarke und einen Zettel. Verwundert nahm ich sie an mich. Du wirst O'Delta finden, stand auf dem Papier, und die Marke war nichts anderes als eine Marke für neun Monate zur Benutzung jenes Gebäudes, bei dem der mir verhaßte Polyromat Dienst tat. Ich reagierte diesmal ungewöhnlich schnell. Mein Menü war aus einem der Zuführtrakte der Garine gekommen. Wer eine Manipulation vorhatte, mußte sich dort aufhalten, weit vom Eingang entfernt. Ich sah einen Mann, dessen Kopf und Körper von einem sandfarbenen Umhang völlig verdeckt waren, und dieser Mann verließ eilenden Schrittes die Gaststätte. Es war der Unbekannte! Der Mann mit der Bildkonserve und der Flammenschrift. Es war der, der mich überfallen hatte. Na warte, du, dachte ich und sprang auf. Die Juicekanne klirrte gegen die Suppenterrine, und die beiden Flüssigkeiten mischten sich. Das alles kümmerte mich wenig. Ich lief los, prallte gegen Stühle, erntete mißbilligende Blicke und erreichte schließlich die Tür. Ich stieß gegen zwei Rhesuiden, die ausgerechnet jetzt eintraten. Aber noch ehe ich ganz den Boden berührt hatte, war ich schon wieder oben und stürmte hinaus. Als ich auf der Straße war, hatte ich noch die Witzeleien der Gäste im Ohr, die mich sicher für einen Absolventen hielten, der kurz vor der großen Prüfung steht. Von dem Mann sah ich keine Spur. Er mußte sich in Luft aufgelöst haben. Unwillkürlich blickte ich nach oben. Ich sah die Fassade hoch, gewahrte einen Regensammler über mir, der leicht schwankte, und glaubte sogar einen Augenblick lang, daß der Fremde die senkrechte Fassade hinaufgeturnt sein könnte. Unschlüssig sah ich immer wieder nach rechts und nach links. Ein merkwürdiges Gefühl erwachte in mir. Ich hätte vorher alles dafür gegeben, wenn ich den Polyromaten hätte überlisten können. Einmal, weil er eine Maschine und ich ein Mensch war. Und dann auch, weil MS auf mich wartete. Marianne, wie ich sie heimlich nannte. Nun aber, da ich offiziell das Gebäude betreten würde, hatte ich keine rechte Lust dazu. Man hatte mir Vertrauen entgegengebracht, hatte mir eine Lernstufe verliehen, die ich regelrecht nicht erreicht hatte. Und ich sollte nun diesen Vertrauensbeweis mißbrauchen. Konnte ich die Marke benutzen?
Unerwartet war eine Stimme an meinem Ohr. „Junge“, sagte mein Instrukteur, „in der Gaststätte, in der du eben warst, da ist ein Mensch, der die Kommuhilfszentrale braucht...“ „Ich gehe schon“, rief ich voller Eifer und wandte mich zurück. „Dummkopf“, die Stimme wurde durch Lachsalven unterbrochen, „du solltest nicht gehen.“ „Und warum nicht?“ wollte ich erstaunt wissen. „Na, weil der verwirrte Mensch Juice mit Suppe mischte, fast zwei Rhesuiden demontierte und einem Phantom nachjagt. Du müßtest dich selbst begleiten...“ Wieder das prallvolle Lachen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich war auf mich angesetzt worden. „Was soll ich tun?“ fragte ich ungläubig. „Geh los“, sagte er, „mach einen Bogen um die Gaststätte. Und jage keine Phantome mehr.“ Man sagt, daß Maschinen kein Seelenleben haben. Ich weiß nicht recht. Der Polyromat von Komplex I sah mich mehr als verwundert an. Er betrachtete die Marke an meinem Mitteltäschchen und verglich sie sorgfältig mit dem Endloszeitgeber über seinem Kopfteil. „Neun Monate“, murmelte er verwirrt, „neun Monate...“ „Kann ich passieren“, fragte ich ruhig. „Un...“, begann er, „un...unter diesen Umständen natürlich... neun Monate...“ Ich ging gemessenen Schrittes durch die Schleuse. „Sie sollten auch einmal Phantom spielen“, Ainina richtete sich auf, unterbrach Hater. „Sie meinen...“, der Wissenschaftler verstand den Einfall sofort. Er vollendete den Satz nicht, wartete ab. „Genau das meine ich“, sagte Ainina, „geben Sie mir eine Benut zerkarte und einen Plan, die mich zu dem Medikament führen...“ Sie dachte nach, sah Hater scharf an. „Außerdem bezweifle ich“, sagte sie dann und wog die Worte ab, „daß Ihr Gewissen damals wirklich so rebellisch war, wie Sie es mir jetzt einreden wollen. Sie sollten bedenken, daß man später immer eine Ausrede für sich selbst sucht, vielleicht eine Entschuldigung für die Torheiten der Jugend. Sie haben den Komplex eins betreten. Das zählt für mich. Nicht, was Sie heute meinen, daß Sie es damals dachten oder fühlten. Sie pochen beinahe darauf, daß die Verantwortlichen der Weltverwaltung Mensch und Wissenschaft großzügig Ihnen gegenüber waren. Nur: Gelernt haben Sie von diesen Menschen nichts. Wo ist Ihre Großzügigkeit den Zehntausenden gegenüber, die krank in den Hospitälern liegen und auf Hilfe warten?
Wo ist Ihre Toleranz, wo ist Ihr Vertrauen uns gegenüber? Ach...“ Sie schwieg, lehnte sich in den Sitz zurück und kaute auf einem ihrer Fingernägel. „Bitte“, Hater spreizte die Finger, setzte sie gegeneinander, „wir haben eine Abmachung. Sie warten und schweigen, bis wir am Ende der Erzählung sind. Gedulden Sie sich...“ „Und wie lange? Aininas Gesicht war nun einen Schein fahler. „Wie lange denn? Soyosa hat kaum mehr als fünf oder sechs Tage Zeit. Dann werde ich vor dem medizinischen Gremium stehen und werde als Mutter verantworten müssen. Hater, mehr Zeit habe ich nicht.“ „Wendynck“, sagte Hater, „verbarg nichts vor mir. „Ich durchquerte die Schleuse als Sieger und Zweifler in einem. Und meine Zweifel waren begründet. Bereits im ersten Maschinensaal blieb ich stehen, erstarrte. Die Apparate und die Art der Programmierung waren mir unbekannt. Wendynck war ein alter Ort, und als er entstand, nannte man ihn Weltdatenbank. Die Speicher selbst waren so alt wie jenes Wort. Und immer hatte man alles so belassen, wie es war. Schließlich existierten dort derart viele Informationen, daß man fürchten mußte, daß bei einer Überführung Wichtiges verloren gehen könnte. Kaum hatte sich damals meine Erstarrung gelegt, da wanderte ich durch die Säle, stand staunend vor den Maschinengiganten und hatte nicht die geringste Vorstellung von dem, was zu tun sei. Es schien mir auch nicht ratsam, einen der hier Beschäftigten anzusprechen. Was sollte ich ihm sagen? Ich studierte also alles, was ich an Schrift auf und neben den Maschinen fand, versuchte mir daraus ein Bild zu machen, und kam doch keinen Schritt voran. Heute, daß wissen Sie ja auch, ist Wendynck ein Museum. Mehr als neunzig Prozent aller Informationen sind in die Kleinspeicher von Yusuma überführt. Aber damals... Ich landete schließlich in einem Raum, der zweihundert mal vierhundert Meter maß und in dem in Fünfmeterabständen Steuerpulte standen. Kaum eines der Pulte war an das Energiesystem angeschlossen, da es nur wenige Benutzer gab.“ In der Solarabteilung war nur eine Person, eine Frau, kaum älter als ich selbst, und sie kam auch gleich zu mir heran. „Prüfung?“ wollte sie wissen und ging neben mir her. Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Ich brauche die Daten für einen archäologischen Fund.“ Sie sah mich forschend an. „Archäologie wollte ich auch machen“, sagte sie leise, „aber bei der Geräteprüfung kam ich nie zurecht. Mit dem Energospaten habe ich einem Mitglied der Prüferkommission das Gesicht verbrannt. Er mußte Kunsthaut bekommen. Und mit dem Rubindilatator zerriß ich die Wand des Prüfungsraumes, anstatt eine
gefundene Metalldose vom Sand zu befreien. Vielleicht wäre ich heute geschickter. Wer weiß... Und was für Funde hast du gemacht?“ „Es sind Solarschiffsplitter“, sagte ich und sah sie an, erwartete einen Hinweis. „Eigentlich merkwürdig“, ihr Gesicht schien mir eine einzige Frage, „es sollen doch alle Solarschiffe draußen geblieben sein. Man nennt sie nicht umsonst die Abtrünnigen.“ „Vergiß nicht die Meteoritenbahnen“, ich gab mein gesamtes kos misches Wissen preis, „diese Dinge können auf Meteoritenbahnen daherkommen.“ „Aber doch frühestens in zwanzigtausend Jahren.“ Ich sah sie zweifelnd an, dann lächelte ich ihr zu. „Weißt du, daß du ein sehr hübsches Mädchen bist. Ich möchte mir von dir gern die Umgebung von Wendynck zeigen lassen, und ich möchte mit dir sprechen. Aber im Augenblick suche ich etwas. Und...“ Ich unterbrach mich. Sollte ich ihr sagen, daß ich mit diesen Maschinen nichts anfangen konnte? Wirklich, ich mußte etwas tun. Also setzte ich mich an eins der Steuerpulte, während sie achtungsvoll hinter mir stehen blieb. Es war das modernste. Ich hatte etwas gegen Regeltechnik, als ich ausgebildet wurde. Das zahlte sich jetzt aus. Und wie. Zuerst ließ ich Energie kommen. Das ging noch. Die Kontrollämpchen blinzelten mir vertrauensvoll zu. Aber dann ging es schon nicht mehr weiter. Mußte man zuerst den Massenspeicher abrufen oder über den Baum der logischen Möglichkeiten von oben nach unten vorgehen? Ich wartete vergebens auf das Eingreifen einer höheren Macht. Sie beugte sich vor und berührte meine Schultern. „Was ist los?“ „Ich bin so aufgeregt“, erwiderte ich und saß wie ein Stück Blei unbeweglich auf dem Schaumer, „ich weiß vor Spannung nicht einmal, was ich machen soll.“ „Laß mich mal.“ Sie lächelte und griff über mich hinweg. Sie durchbrach die Lichtschranken, von denen es einige hundert gab, in atemberaubendem Tempo. Dabei lächelte sie mir zu und suchte meine Augen. „Und nun brauche ich die Information“, sagte sie nebenher. „Vereinigtes terrestrisches Raumfahrtkommando“, gab ich mein erstes Teilgeheimnis preis. Sie gab die Information ein. „Personen- und Materialschutz.“ Der Apparat schluckte alles. „Solarschiff A 75 600-series.“ Die Maschine bestätigte den Empfang. „System: MS 0.09/RSP04/austr.“ Unverzüglich antwortete uns die Maschine.
XXO-antwort: das vereinigte terrestrische raumfahrtkommando exi stierte bis vor sechshundert Jahren, dann ging es über in die nordsüd liga. solarschiffe existierten vier, von A 75 600 bis A 75 603. alle so larschiffe scheiterten, keine besatzung wurde gerettet, bau wurde ein gestellt. ms 0.09 bedeutet: manshadow. die mannschaftsmitglieder, die die nummer 09 trugen, wurden durch ms 0 vor extraterrestrischen gefahren bewahrt, ms 0 ist ein kampfsystem mit rational-logischer maschi nenintelligenz. kommandant der A 75 600 war jaun wetdar. nach einem unglücksfall wurde es markus o'delta. rsp 04 ist raketenstartplatz 04 in austras eins, heute ist dort kleinstsiedlung und markus-o'delta-archiv. letztes privatarchiv der eheleute sebal. für die richtigkeit:System 265a/11842yy/0221. Das war nicht viel. Kein Wort über das Ziel der langen und gefähr lichen Reise, bei der ein Jaun Wetdar umgekommen war, nichts über das Ende. Nichts. Wahrscheinlich mußte man, wenn man mehr wissen wollte, dieses Privatarchiv der Sebals aufsuchen. Es waren auch keine Bilder gespeichert. „Ein bißchen dürftig“, sagte das Mädchen und sah mich enttäuscht an. „Na ja“, sagte sie dann tröstend, „immerhin besser als nichts.“ „Finde ich auch“, stimmte ich zu, „ich habe wenigstens erwartet, daß der Zweck des Fluges oder das Ziel genannt wird. Also werde ich nach Austras eins müssen. In dieses Archiv der Wetdars...“ „Der Sebals“, verbesserte sie mich. „Wieso Sebals“, ich sah sie an, „hießen die nicht Wetdar?“ „Wetdar war der Kommandant“, sagte sie mit Bestimmtheit und ließ die gespeicherten Informationen noch einmal durchsagen. „Stimmt“, gab ich zu, „du hast recht. Also auf, zum Archiv der Sebals...“ Als ich wieder auf der Straße stand, als die Aufregung abgeklungen war, fühlte ich erneut jene alte Unruhe. Der Begriff Austras eins und der Name des Kommandanten hatten mich aufgewühlt. Ein Ring schließt sich, dachte ich. Immer wieder war es mir beim Erwachen, als hätte ich von Austras eins geträumt, als ziehe mich etwas dorthin. Nun mußte ich reisen, wenn ich nicht steckenbleiben wollte. Aber aus einem anderen Grund als dem, der mir durch die Traumbilder vorgegaukelt wurde. Ich sollte O'Delta finden und hatte seine Spur im Zusammenhang mit MS 0.09 entdeckt. Was hatte das alles miteinander zu tun? Ich vergaß, daß ich am Abend verabredet war, und flog sofort nach Mejoora zurück. Ich brannte darauf, meine Schildkröte zu sehen diesen maschinenintelligenten Beschützer der Mannschaft.
„Du heißt nicht Rumpelstilzchen“, begrüßte ich sie, „sondern Manshadow, und ich werde dir klarmachen, daß wir nicht geschützt werden müssen.“ Gemächlich ging ich um den Apparat herum, besah ihn mir von allen Seiten. Mir schien es, als blinzelte mir das glänzende Metall mit den durch die Schutzhaut abgeschwächten Sonnenreflexen zu. Unerwartet entdeckte ich einen Spalt, der in das Innere des Apparates führte. Einen Spalt, gerade so breit, daß eine Menschenhand bequem hineinpaßte. Er war so angebracht, daß man stehend hineingreifen konnte, und als ich es vorsichtig versuchte, war ich verblüfft, weil dieser Spalt die Form eines nach innen gestülpten Handschuhs besaß. Für jeden Finger gab es eine Röhre. Ich suchte nun im Innern Kontakte oder andere Schaltelemente, und in meinem Eifer fuhr ich immer wieder hinein, bis meine ganze Hand in diesem „Handschuh“ steckte. Alles war glatt. Poliert. Sandfrei. Dann geschah es. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann. Es war, als hätte sich die Welt auf mir unerklärliche Weise geändert. Das Licht schien mir greller, unangenehm. Die Gegenstände traten deutlicher, überplastisch hervor. Alles war wie vorher und doch auch wieder nicht. Und ich konnte meine Hand nicht mehr aus der Öffnung nehmen. Ich konnte sie einfach nicht mehr bewegen. Sie war nicht taub oder paralysiert. Ich hatte Gefühl in ihr. Ich spürte auch keinen Schmerz. So stand ich da, betrachtete eher erstaunt als fassungslos den im Metall steckenden Armstumpf und wußte nicht, was ich denken sollte. Allmählich beschlich mich ein Gefühl der Unsicherheit. Die Maschine reagierte nicht, gab nicht einmal zu verstehen, daß sie etwas mit mir vorhatte, ließ mich aber auch nicht mehr los. Zugleich, und dies bewahrte mich vor der anfänglich aufsteigenden Angst, sah ich Bilder, die mir Dinge mitteilten, ohne daß ich sie einordnen konnte. Da war zum Beispiel der Kopf einer energischen Frau mit schwarzen Haaren. Silberfäden durchzogen diese Haare, die Züge wurden verkniffen, und unerwartet glänzten mir blanke Schädelknochen entgegen. Ich sah einen Mann, der sich durch eine Grotte schleppte, während um ihn unheimliche Maschinen standen, die seine Schritte beobachteten. Dann sah ich einen Baum, der in fremdartig anmutenden Farben prangte, sah unzählige kleine Herzen an ihm hängen. Ich erblickte aufreißende Kontinente, Lavaströme, die von allen Seiten auf mich zuzukommen schienen. Ein flaches, dreieckiges Gebilde raste in einen Feuersturm hinein und blähte sich augenblicklich zu einem glasigen Hitzeball auf. ‚Tyrsos’, spürte ich da einen fremden Gedanken in mir, Kamerad... Ich sah Zeiger, die in rasendem Lauf über Skalen hinflogen und in rote Überlastbereiche federten und einen schwarzen Blitz, der alles abdunkelte.
Es waren apokalyptische Bilder eines Weltenuntergangs, die dichtgedrängt, von Namen und Gedanken untermalt wurden. Ich ahnte wohl, daß mir MS 0.09 diese Bilder vermittelte, daß sie eine Botschaft für mich waren, aber einen Sinn ergab das nicht. Zugleich fürchtete ich, daß die Schildkröte hilflos dastehen mußte, falls sie auf meine Gedanken erpicht war. Wir stammten nicht nur aus unterschiedlichen Jahrhunderten, sondern waren in unterschiedlichen Räumen wirksam. Sie im Universum, ich auf der Erde. Wie konnten wir uns da verständigen? O weh, dachte ich schließlich, wenn dieses Ding nun einfach losflog? Der Speicher hatte nicht gesagt, daß sie flugunfähig war. Wenn sie nun losflog und mir die Hand abriß? Oder wenn sie erneut in die Erde kroch? Dann würde sie mich zwischen Sand, Gestein und Magma zerdrücken oder ersticken. Und das Meer in seiner endlosen Weite und Tiefe war auch nur ein paar Schritte weit fort... Wieviel Zeit vergangen war und wieviel aus der Angst geborene Gedanken mich gequält hatten, weiß ich nicht mehr. Mitten hinein in den Strom der Furcht aber drang eine klare Stimme: „Signalempfang.“ Meine Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Mir war es, als wäre jemand in meiner Nähe. Ich fühlte jemanden, den ich nicht sehen konnte. „Hallo“, sagte ich halblaut, „ich hänge hier fest...“ Niemand antwortete mir. Natürlich, wer kommt auch hierher. Ich war weiterhin mit der Schildkröte allein. Ich begriff: Im Innern der Maschine summte es wie in einem Bienenstock. Leise, aber unhörbar. Und das Geräusch schwoll an. „Commander O'Delta“, sagte da eine Stimme, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde, „chronologische Achsmessung nicht möglich. Zeitstrom zerrissen. Die Raumparameter sind fremd und doch vertraut. Analoge Schwerefelder wie auf der Erde. Analog, nicht identisch. Mögliche Katastrophenfolgen nicht auszuschließen ... Erbitte Informationen ... erbitte dringendst Informationen.“ Die Maschine vibrierte. Sie begann zu arbeiten, auch wenn sie sich nicht rührte. „Am Horizont Intelligenzballung“, fuhr die Stimme nach einiger Zeit fort, „erbitte Informationen. Erbitte Informationen.“ „Mejoora“, sagte ich und erschrak über meine Stimme. Vor Aufregung krächzte ich nur. Im Innern der Maschine schienen die Vibrationen zuzunehmen. Lange Zeit geschah nichts.
„Ich brauche meine Hand“, stieß ich endlich hervor. „Ich habe schließlich nur zwei davon. Ich bin doch kein Tausendfüßler ... Das muß doch zu machen sein, daß ich sie zurückbekomme...“ „Altersstruktur nicht mit dir identisch“, die Stimme der Maschine klang beinahe ungehalten, „Commander, du bist mit dir nicht identisch ... Logische Unmöglichkeit. Dein Zellmaterial ist nur neun Jahre im Maximum. Kläre bitte die logische Unmöglichkeit auf. Erbitte Informationen. Erbitte Informationen.“ Nach einer Pause sagte sie noch: „Wo sind die anderen?“ Die letzten Worte klangen unruhig. Etwa so, als erinnere sich die Maschine plötzlich einer noch zu lösenden Aufgabe. „Ja, wo sind sie?“ wiederholte ich und überlegte, wie man unver fänglich antworten konnte. Die Maschine schien nicht einmal zu ahnen, wie lange sie im Erdreich geruht hatte. „Ich habe folgendes ermittelt“, meldete sie mir nun, „wir sind auf einem Planeten der Intelligenzklasse c4 gelandet. Keine a-Intelligenz, keine b-Intelligenz. Auch cl bis c3 scheidet aus. Harmonisierung der Ökosphäre linear. Nicht kausal, nicht hyperboloid. Linear. Noch hoher Energieverschleiß und -verlust durch offenes System. Waffen habe ich nicht geortet. Droht den anderen Gefahr?“ „Schon lange nicht mehr“, antwortete ich und dachte an die Jahr hunderte, die die anderen tot waren. „Warum sind sie nicht hier?“ wollte die Maschine nun wissen. „War der Archimedesschaden irreparabel?“ Ich hätte der Maschine die Wahrheit sagen können. Die verflossene Zeit, der Tod der Mannschaft. Ich hätte es wohl, aber ich fürchtete, daß ein metallener Glockenton erklungen und MS 0.09 wieder in ihrer Dornröschenschlaf gesunken wäre. Das war meine Angst. Und schließlich: Ich brauchte ja tatsächlich meine Hand. Sollte das verfluchte System von mir aus in einen neuen Winterschlaf verfallen, doch meine Hand mußte es freigeben. „Sie werden Mittag essen“, sagte ich überzeugt, „oder ein Bad. nehmen. Woher soll ich wissen, was sie momentan tun.“ „Ich empfange ihre Sender nicht“, wies mich die Maschine zurecht, „nur ein zaghafter, sehr entfernter Einzelimpuls. Du bist der Commander. Du mußt es wissen.“ • Noch ehe ich antworten konnte, kam noch eine Frage: „Warum ist die Nuklearbatterie des einzelnen Senders fast verbraucht?“ Einen Augenblick war ich wie betäubt. Ein wohliges Gefühl rann durch meinen Körper: Meine Hand war frei. „Gib mir den Auftrag, sie aufzuspüren“, forderte die Maschine. Ich sah, daß Veränderungen an meiner Schildkröte vorgegangen waren.
Klappen sprangen auf, vier scheinwerferähnliche Gebilde schoben sich vor. Aus dem Buckel ganz oben glitten silbrige Antennen hervor. Ein schlankes Rohr zeigte sich noch. Lautlos begannen die Antennen zu rotieren. Die Grundfarbe der Schildkröte war nun dunkelgrün. Sie erinnerte tatsächlich an ein Tier. An ein niedergeducktes, sprungbereites böses Tier. Sie glitt aus dem Loch, zerriß das Sommerzelt und blieb unter freiem Himmel stehen. Ich folgte ihr und suchte zu erraten, was sie wohl als nächstes tun würde. Am Horizont tauchte ein fahler Lichtschein auf. Es war der Postator, der auf seinem Leitstrahl von Kontinent zu Kontinent glitt und die Neuigkeiten nach Mejoora trug. Die Schildkröte duckte sich so, daß die Scheinwerfer in den Himmel hinaufwiesen. Dann sah ich etwas, was mich an einen zarten Glasfaden erinnerte, und die Rakete zerplatzte. Das Feuerwerk überraschte mich, erschreckte mich. Ich war bestürzt. Ich sah Fahrzeugtrümmer, blasig aufgetriebene Kleinstcontainer und Tausende sprechnotierter Grüße ins Meer regnen. „Anhalten“, schrie ich aus Leibeskräften, „bist du wahnsinnig ge worden. Das darfst du nicht.“ Die Schildkröte zog all ihre Armaturen ein und sah wieder so aus, wie ich sie gefunden hatte. Mehr noch, sie erschien mir irgendwie eingeschnappt. „Hör mal“, sagte ich, „du hast selbst gesagt, daß du keine Waffen ortest. Es gibt hier keine Waffen. Alles ist friedlich. Es wird nicht mehr geschossen.“ „Verstanden“, erwiderte sie sachlich. „Du kannst mich hören“, sagte ich, „auch aus Entfernung?“ „Ja“, antwortete die Maschine, und in der Klappe erschien ein winziges Sprechgerät, „ich höre dich über zweihundert Meilen.“ „Dann paß auf“, es war die Stunde meiner Ideen, „du gehst ins Meer. Zweihundert Meter tief. Das kannst du doch? Dort hältst du dich fit, bis ich dich abrufe. Wirst du das alles tun?“ „Und was wirst du tun?“ „Ich gehe zum mejooranischen Rat. Schließlich habe ich einen Schaden angerichtet. Ich werde es aufklären müssen. Das ist so. Aber du bleibst friedlich. Es besteht keine Gefahr für mich. Hast du begriffen?“ „Verstanden.“ Die Maschine glitt wie ein Rochen über die Klippen und verschwand im Meer. Ich blieb noch lange stehen, wußte schon bald nicht mehr, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte oder ob es Wirklichkeit war...
Sie kamen nie zurück „Kommen Sie“, sagte Hater, „wir müssen nicht hierbleiben. Die anderen Kristallscheiben wurden zerstört, und die Räume sind nicht einladend. Ich werde Ihnen erzählen, wie es weiterging. Aber nicht hier“. Schweigend verließen sie den Raum, den der Rhesuid augenblicklich annektierte, und stiegen in das Gefährt, das sie hergebracht hatte. Hater programmierte, und während der Flugminuten - es war nicht einmal nötig, die Bolidenbahn zu erreichen - hing jeder seinen Gedanken nach. Als die Klappwände herabfuhren, erreichte gleichmäßiges Wellenrauschen ihre Ohren. Ainina erhob sich und blickte auf das Meer, auf dessen Wasser sich die Lichter des Schneckenovals spiegelten. „Hier zieht es Sie hin“, sagte sie und vertiefte sich in den Anblick des gläsernen Gebäudes, das, aus den Fluten auftauchend, hoch aufragte und seine schimmernden Zufahrtswege wie Spinnenweben gegen den begrünten Strand schickte. „Ja, hierher“, antwortete Hater, „dies ist der Punkt, an dem alles begann. Der einst wilde Strand von Mejoora. Jetzt ist das Zentrum der bildenden Kunst hier. Aber auch der Musikalienmarkt, wie die Tonschaffenden es nennen, und ein Erholungszentrum. Ich liebe beides: die Erinnerung an damals und die Schönheit des Bauwerks. Sie fuhren durch das Rohr weit hinauf auf das Gebäude im Meer, betraten den ersten Schneckengang. Ainina pflückte sich zwei Hibiskusblüten und steckte sie ins Haar. „Ich war noch nie hier“, erklärte sie, „das liegt daran, daß ich zweimal am Tag bei Soyosa bin. Sie denken jetzt sicher, daß das sinnlos ist, und vielleicht ist es das auch. Sinnlos. Vergeblich. Es hilft ihr ja doch nicht. Aber ich muß es tun.“ Sie kniete nieder, sah durch das Glas hinunter auf die Wellen, die zwanzig Meter unter ihnen ihr ewiges Spiel trieben. Hater kniete sich neben sie, befestigte eine der Blüten erneut. „Sie müssen es tun“, erklärte er, „ja, Sie müssen es tun. Solange Sie sich nicht zum Sklaven dieses Gefühls machen...“ Ainina wandte das Gesicht ab. „Ja, Hater“, sagte sie nun, ihre Stimme wurde kühler, bestimmter, „es gibt auch noch anderes Leid auf dieser Welt als nicht zu wissen, wer Mutter und Vater sind. Tatsächlich. Und es gibt andere Wünsche, als einen Piloten zum Vater zu haben...“ „Sie sind verbittert“, Hater ergriff impulsiv ihre Hand, hob Ainina von dem Polster auf, trat mit ihr zwischen den Pflanzen hindurch an die Wand, hinter der die Weite des Meeres lag, „das kann nicht anders sein. Nur dürfen Sie nie die Menschen mit den Fungi verwechseln.
Pilze haben Soyosa an das Bett gefesselt. Nicht die Gesellschaft. Kein Mensch... Wissen Sie, daß ich einen Kyborg kannte, den ich mehr schätzte als viele andere Menschen...? Ich muß einfach weiter erzählen, damit Sie begreifen...“ „Hater“, Ainina betrachtete kopfschüttelnd das Wasser, „ist das nun Einbildung, oder sind die Wellen größer?“ „Im Laufe von zwölf Stunden“, erklärte Hater, „bewegt sich dieser Schneckengang so, daß wir einmal in dreihundert Meter Tiefe und einmal in hundertfünfzig Meter Höhe sind. Eine architektonische und technische Spitzenleistung.“ „Ich bin nie aus Euras herausgekommen“, sagte Ainina, „nie...“ „Ja und?“ Hater begriff nicht. „Und Sie haben lange Jahre in Austras gelebt“, fuhr die Frau fort, „Sie fühlen sich mir überlegen, weil sie auch die ungebändigte Natur kennen...“ Hater wurde unversehens ernst. Er deutete auf die Konstruktion des Schneckenovals. „Das hier konnte nur jemand schaffen, der Euras nie verlassen hatte. Verstehen Sie? Ich weiß, wie manche unserer Landschaften und Parks verändert werden können, damit sie anziehender werden. Ich kann Hinweise geben, wie man den Raumreisenden Fähigkeiten anerzieht, die es jenen ermöglichen, auf fremden Planeten zu überleben. Aber ich kann nicht die Schönheit des Lebens in Architektur, in Musik oder Worte fassen. Man muß eine Sache lebenslang tief kennen, um das zu können. Nein, ich schaue auf niemanden herab.“ „Ich möchte Ihnen gern glauben, Hater“, Ainina sah den Mann abschätzend an, „aber Ihre Reaktion auf dieses Tyrsoleen, die läßt das nicht zu. Erzählen Sie weiter, erzählen Sie...“ „Marianne“, rief ich in den Sprechgeber und beobachtete die metallene Schildkröte, die wie ein buckliges Untier aus den Wellen des Meeres kam. Ja, ich hatte sie versteckt, sie ins Meer geschickt, denn ich wollte erst alles wissen, was sie an Wissen barg, bevor ich meinen Fund aus den Händen geben würde. Und ich hatte sie Marianne genannt. Manshadow klang mir einfach zu abenteuerlich, zu brutal. Das Wort paßte nicht mehr in meine Zeit. Ich sah sie durch das Wasser kommen, sah sie, wie sie sich mir näherte und unmittelbar vor mir stoppte. „Ich hoffe“, sagte ich zu ihr, „daß du dich nicht gelangweilt hast. Es gibt manchmal für mich viel zu tun, und dann kann ich nicht kommen. Ich möchte heute, daß du mir von dir erzählst, von dem was du gesehen hast, von den Flügen. Ich werde bald reisen. Ohne dich. Und da bekomme ich sehr viele Informationen. Auch solche, nach denen du immer wieder fragst. Sage mir, was du beobachtet hast. Früher, unterwegs im Raum...“
„Wir hatten dieselbe Reise, Commander“, sagte die Schildkröte unsicher, „aber du hast vieles vergessen. Es liegt an der veränderten Altersstruktur... Ich berichte: Du hast mich in der Spindel untergebracht. Der Kurs war vorgegeben. Wahrscheinlich RSP-4. Ich habe keine sicheren Informationen darüber. Bei Atmosphärenkontakt stieg die Erhitzung der Spindel über die zulässigen Werte. Da wurde ich als sehr schwerer Körper ausgestoßen. Ich bremste, so gut es ging. Die Chronographen aber litten unter der Überhitzung. Auch andere periphere Zentren. Mehr nicht. Ich bin auf ein Wasser geprallt, versunken und war schließlich vom Schlamm umgeben. Meeresschlick. Niemand rief mich. Ich wartete lange. Aber: niemand forderte mich an. Da bin ich auf das Ufer zugekrochen und habe mich im Sand eingewühlt. Außer meinem Rufimpulsgeber wurde alles abgeschaltet. Das Solarschiff ARCHIMEDES rief mich nie mehr. Das Ziel der Reise war der dritte Planet der Sonne Theta im Sternbild der Hyaden...“ „Nein“, sagte ich, denn ich erinnerte mich, daß dies eine meiner Prüfungsfragen gewesen war, „Theta ist die jüngste Supernova, die wir kennen. Da ist kein Planet.“ „Das Ziel der Reise“, wiederholte die Maschine energisch, war der dritte Planet der Sonne Theta in den Hyaden.“ „Dann meinen wir beide etwas anderes“, sagte ich. Die Metallhaut der Schildkröte wurde nachtschwarz, und ich sah die mir bekannten Sternbilder, sah das Regengestirn und dann die Zielmarkierung. Eine Supernova konnte ich nicht entdecken. „Es sollte eine Pflanze von diesem Planeten geborgen werden“, sprach die Maschine weiter, „eine Pflanze, die auf der Erde gebraucht wurde. Ich kann dabei alle Zwischenstationen als bekannt voraussetzen. Du weißt, Commander, daß wir ankamen... Du mußt es wissen... Wir kamen an, ohne im vollen Umfang zu entladen. Ich hab nicht gespeichert, warum wir nicht vollständig entluden. Viele Aggregate wurden entenergetisiert und als Müll vernichtet. Auch die Mannschaft ging nicht von Bord. Bis auf den einen Mann. Bis auf deinen Freund. Aber die Lande- und Verladeeinheiten waren vonnöten. Eine Maschinenkette wurde gebildet, und nur der eine überwachte sie, regelwidrig, aber notwendig. Unerwartet bekamen wir volle Energie. Der Boden wurde porös. Sulfur. Ammoniak. Hydrargyrum. Gesteinsaufweichung. Gebirge verschoben ihren Standort. Wir kreiselten. Fanden das Gleichgewicht. Dann die Alarmstartvariante durch dich. Die Geräte verblieben am Einsatzort. Die Oberfläche blieb zurück. Stationäre Bahn. Ich folgte dir dann zur Spindel. Und die Spindel löste sich von der ARCHIMEDES. Ich war abgeschaltet. Später flog ich getrennt von der Spindel, erreichte das Meer, schlug auf.“ Die Maschine verstummte.
„Aber die Zeit“, rief ich aus, „wie ist das mit der Zeit? Lief alles hintereinander ab? Wie im Film?“ „Zeitspeicher defekt“, erklärte mir die Schildkröte, „Zwischen einzelnen Sätzen liegen nach deiner Zeitrechnung vielleicht nur Minuten. Zwischen anderen Jahrhunderte...“ Ich ordnete an: „Geh zurück in das Meer und warte dort, bis ich dich erneut rufe. Dann werde ich dir alles erklären. Du wirst ein neues Programm bekommen. Mit dem Wissen, das du benötigst. Lebewohl...“ „Verstanden“, sagte das System und glitt aus dem Gebüsch, überquerte den öden Uferstreifen und verschwand im Wasser. Wenn ein Geheimnis zu übermächtig ist, dann droht es immer, den Besitzer zu verschlingen. So ging es mir. Ich suchte Kontakt, lud mich bei einer Libelle ein und verbrachte zwei Tage mit dem Mädchen aus Wendynck. Aber Ruhe fand ich nicht. Manchmal nahm ich einen Anlauf. Dann wollte ich reden, suchte einen Mitwisser. Yovana hieß die Libelle, und sie war so zärtlich und freundlich, daß ich bei ihr alle Vorsicht vergaß und ihr den Anfang der ArchimedesGeschichte erzählte. Es war nur gut, daß sie nicht zwischen der Realität und einem Film unterschied, und so konnte ich abbrechen und ihr sagen, daß der Film zuletzt immer schlechter wurde, bis ich aufstand und ging. Es war klar, daß ich in jenes Privatarchiv mußte, in jenes MarkusO'Delta-Archiv. Aber etwas ließ mich zögern, hielt mich zurück, denn Austras eins ist voll naturisiert. Dort arbeiteten Zoologen, Ethologen und Botaniker, auch Ökologen und Informatologen. Die Städte waren vor Urzeiten aufgegeben worden, und Pflanzen und Tiere aus aller Welt wurden dort angesiedelt. Ein menschenleerer, wilder Kontinent. Im nördlichsten Norden, direkt am Meer, gab es ein Urlauberzentrum, doch das Landesinnere war wenig einladend. Nie wollte ich dorthin, aber was blieb mir übrig, ich brauchte die Fakten aus dem Archiv. In der Infozentrale für personelle Daten erfuhr ich einiges von dem, was ich wissen wollte: Nora und Viktor Sebal haben vor mehr als 450 Jahren ein Privatarchiv gegründet. Es handelt sich um einen Gebäudekomplex, in dem sie wohnen, Führungen veranstalten und wissenschaftlich arbeiten. Dieses Archiv entstand an der Stelle, wo vordem ein RSP war - nähere Auskunft über RSP in Wendynck, bei Geprära. Dieser Ort heißt in der offiziellen Nomenklatur Archimedes. Archimedes besteht aus einer Wohneinheit, mehreren Garagen, einer Wasseraufbereitungsanlage, einem Denkmal und dem Labor. Gruppen oder Einzelpersonen, die den Ort besichtigen wollen, melden sich bitte unter der Abgreifziffer: VYR-04-8 455 115.
Auch astrobotanische und astrozoologische Forschung wird dort in schmalem Rahmen betrieben. Mir kam das alles lächerlich vor. Auf der Venus hatten wir die gekühlten Algogroßgärten, und auf der Schattenseite des Merkurs die Subbulurenkulturen. Man konnte in den schwebenden Gewächskugeln auf der Mondoberseite ebenso tätig sein, wie auf den Jupitermonden das Direkteiweiß ernten. Überall hatten kluge Köpfe Möglichkeiten gefunden um dem Menschen notwendige Produkte zukommen zu lassen. Und diese beiden haben sich vor Jahrhunderten eingeigelt, verzichten auf alle moderne Technik und alle Helfer und züchten unter sicher primitivsten Bedingungen Lebewesen aus dem Raum... Vielleicht, so dachte ich auch, würde ich nichts weiter finden als einige Sanddünen. Es war ja möglich, daß im Laufe der Zeit alles zerfallen war. Damit wären die letzten Spuren des Raumschiffes verwischt. Ich wandte mich unverzüglich an ein Reisegeberlein. Eigentlich mochte ich diese Einrichtungen nicht, weil sie immer alles kalkulieren wollen, nicht prompt ein Reisekärtchen ausgeben, sondern berechnen, ob wohl bestimmte Wissenschaftler oder Ratsmitglieder in der nächsten Zeit auf ebendiese Reise gehen wollen. So etwas kann unter Umständen einen halben Tag dauern, ehe sie ihre Wahrscheinlichkeitsrechnungen beendet haben und das Kärtchen freigeben. In diesem Fall aber erfuhr ich augenblicklich, daß seit mehr als vierzig Jahren zwar kein Besucher mehr registriert sei, aber das Anwesen sich in einem tadellosen Zustand befinde. Es gab einen Aer, den man bestellen konnte und der bis nach Taipanville - ich wußte zu meinem Glück nicht, was dieser Name bedeutete - flog. Den letzten Rest der Reise würde ich zu Fuß zu rücklegen müssen. Aber das würde, so meinte ich, mich kaum stören, weil ich ein geübter Rollbandfahrer war.
Landung im Sand Austras, so wußte ich aus dem Reiseprogramm, verlangt eine andere Kleidungsart, als sie sonst üblich ist. Es war selbstverständlich, daß ich, als ich die Konfektio-Hohlkugel betrat, nicht meine neue Kombination trug. Ich entledigte mich ihrer und legte sie draußen ab. Die würde ich nie mehr hergeben, selbst, wenn sie nur noch aus Klebstreifen bestehen sollte. Natürlich fragte mich der Automat, ob ich nackt durch die Stadt gekommen sei. Sollte ich auf eine solche Frage antworten?
Ich bestellte mir Kleidung für Austras. Was aber aus der Klappe kam, warf ich sofort in die Vernichtungsanlage. Gelblichbraune Stücke, aus einem Material, das man Wildleder nannte. „Andere“, wies ich die Maschine an. Wieder kamen jedoch Kleidungsstücke aus dem Spalt, die den vorigen wie ein Ei dem anderen ähnelten. Ich schüttelte den Kopf, fürchtete, daß die Kreativschaltung des Apparats gestört war und zeichnete mit dem Impulser Kleidungsstücke auf, wie sie mir für eine solche Reise vorschwebten. Auch die Farben gab ich an, und die entsprechenden Muster. „Ich produziere“, antwortete der Automat, „gebe aber zu bedenken, daß solche Kleidung ungeeignet für Austras ist.“ „Überlaß das getrost mir“, sagte ich und hielt Minuten später das in den Händen, was ich entworfen hatte. Draußen ließ ich die Quellungen aus meiner Kombination und steckte das kleine Päckchen in eine Ärmeltasche. Ich fühlte mich ein wenig wie der Entdecker der Welt, als ich in meinen selbstentworfenen Kleidungsstücken. durch die Straßen glitt Ich spürte mehr Blicke als sonst auf mir ruhen und wurde immer wieder gefragt, ob denn schon wieder die Zeit sei, da das Fest der quarrenden Blumen gefeiert werde. Geduldig klärte ich die Frager auf, erzählte von Austras und seiner wilden Natur. Ich hatte den Eindruck, daß man mich nicht so richtig verstand. Manche hielten mich für einen Humoromaten. Allmählich zweifelte ich an dem Verständnis der Menschen für meine Pläne und antwortete nur noch knapp. Mich störte das Lachen, denn ich meinte nicht anders, als daß sie über mich lachten. Freundliche Zurufe deutete ich zu witzelnden Anspielungen um. Ich benutzte also nur noch die Schnellbänder und freute mich schon nicht mehr an dem Drallercape, das lustig im Winde flatterte. Auch die Gardirolen, die ich zum Schutz meiner Hände trug, und die das Licht vielfach brachen und Regenbogenblitze aufsprühen ließen, erfreuten mich wenig. Und als ich das erstemal mit meinen türkisenen Bauschhosen hängen blieb und stürzte, verfluchte ich die stumme Bereitschaft des Automaten, der mir meine Kreationen nicht ausgeredet hatte. Im Aer waren vier Menschen. Drei von ihnen trugen tatsächlich jene Kleidung, die man auch mir angeboten hatte. Nur ein Mädchen war anders gekleidet. Sie trug ein Erholungsticket am Handgelenk. Sie würde also an der Küste von Austras den Aer verlassen. Ich setzte mich zu ihr, weil uns unsere Kleidung zu Verbündeten machte. Sie sah mich flüchtig an, dann vertiefte sie sich in ein Videobuchscheibchen, das ihr Satz für Satz vorführte und zugleich leise die Geschichte vorlas.
Ich wünschte ihr einen guten Tag. Wieder sah sie hoch, ohne zu antworten. „Waren Sie schon einmal in Austras?“ fragte ich leise. „Ich möchte lesen“, sagte sie, ohne aufzusehen, „laß mich also...“ Mein Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte mich geduzt, hielt mich also für eine Maschine. „Hören Sie“, sagte ich scharf und böse, „was soll das? Wofür halten Sie mich?“ „Für einen Servieromaten oder einen Hostessofunktionator“, erwiderte sie ungerührt und folgte interessiert ihrer Lektüre. „Ich bin KFA“, drängte es mich, zu erklären. „Warum denken Sie' denn, daß ich ein lebloses Gebilde bin?“ Sie hob überrascht den Kopf, musterte mich mit offenem Mund und deutete mit ihrem Videobuch, das immer noch die Geschichte fortführte, auf meine Kleidung. „Und die da“, ich deutete nach hinten, wo die anderen drei saßen, die zudem merkwürdige Leinensäcke mit zwei Riemen bei sich hatten, „die da sind dann wohl Walzblechvermesser?“ Ihre Augen wurden grimmig, musterten mich ohne jedes Verständnis. „Die da“, sagte sie, „sind Wissenschaftler, Menschen, die Entbehrungen auf sich nehmen für ihre Wissenschaft. Für uns alle und also auch für Sie, mein Herr...“ „Das sehen Sie“, empörte ich mich, „aber daß ich ähnliche Ent behrungen auf mich nehmen werde, sieht man natürlich nicht.“ „Natürlich nicht“, jetzt lachte sie tatsächlich los, „man könnte viel eher denken, daß Sie zu einem Paradiesvogelausscheid wollen. Da hätten Sie alle Aussichten, einen der ersten drei Plätze zu belegen. Auch ohne Vogel...“ Beleidigt schwieg ich und sah aus dem Fenster. Der Flug wurde ermüdend. Wir holperten von einem Gleitstrahl auf den nächsten und mußten dabei Posttransporter und Maschinendriften vorlassen. Einmal fiel mir ein, was wohl passiert wäre, wenn ein Aer über das Meer gekommen wäre, damals, als die Schildkröte mir ihre Schießkunst vorführte. Mir wurde übel. Dann aber erinnerte ich mich, daß sie ja nicht auf Menschen schießen kann. Es wäre nichts geschehen... Ich saß da, apathisch und desinteressiert. Einmal noch versuchte das Mädchen, sie langweilte sich allmählich ebenfalls, ein Gespräch mit mir. Doch den Paradiesvogel konnte ich nicht vergessen, und ich antwortete so sparsam, daß sie nicht mehr weiter fragte, sondern sich erhob und sich zu den drei Wissenschaftlern setzte. Ich war allein.
Schließlich landeten wir an dem Urlaubsstreifen von Austras eins. Das Mädchen entledigte sich seiner Numerohaut, darunter hatte sich ein filigranmusterübersätes Kleid gebildet. Strahlend sah sie uns vier der Reihe nach an und verließ so den Aer. Aber niemand schloß sich ihr an, denn wir hatten andere Ziele. Dafür stiegen zwei Frauen und ein Mann zu. Sie sahen schrecklich müde aus. Ich wagte sie kaum näher anzusehen. Ihre Kleidung war schmutzig und ohne allen Glanz. Ihre Gesichter schienen fast schwarz. Eine Mischung aus einer ungesunden Bräune und der Spur eines mir unbekannten Färbemittels ließen ihre Haut beinahe wie Leder erscheinen. Ich will ehrlich sein: So stellte ich mir die mächtigen Menschenaffen der Vorzeit vor. So gewalttätig, ledern, stupide. Sie begannen sofort eine Unterhaltung mit den drei weiter hinten sitzenden Männern, und wie es mir schien, fanden sie eine gemeinsame Sprache. Einmal nur stockten sie und musterten mich mit den gleichen bedeutsamen oder traurigen Blicken, mit denen mich vorher die drei angesehen hatten. Eine erste Strapaze begann: Der Aer schwankte schrecklich. Wir waren in einem Gebiet unvollständiger Leitstrahlen, das bedeutete, daß der Eigenantrieb immer wieder einmal unterstützend laufen mußte. Es schüttelte und rüttelte mich auf meinem Platz. „Amon Deltar zum Ausstieg. Taipanville.“ Sitzen bleiben, dachte ich, so tun, als ob es dich nichts angeht. Denn was ich gesehen hatte, reichte mir vollauf. Ich meinte damit nicht die Menschen, an die man sich wohl gewöhnen konnte, sondern die Landschaft unter mir. Ein Alptraumland, in dem es keine Ordnung gab. Nichts. Keine Laufbänder. Vielleicht nicht einmal Sphäroklänge. Wer wollte das sagen? „Amon Deltar...“ „Ja“, ich sprang auf, „ich komme ja schon.“ Ich ging, aber als ich die Klappe greifen wollte, rutschte ich einfach weg und lag auf dem Boden. Man half mir auf die Beine und riß die Klappe schwungvoll auf. Als der Greifer nach mir faßte - die alten Aers haben alle diese sogenannten fliegenden Wechsel -, habe ich geschrien. Dann hing ich in der Luft, und Sand, endlos viel Sand, nahm mir die Sicht, verwandelte meine Augen in zwei schmerzende, glühende Bälle. Ich hing in der Luft, griff um mich, wollte etwas fassen. Ein Schmerz durchzuckte meine Knöchel, ich stand. Die fauchenden Geräusche des Aers wurden leiser und leiser. Eine unheimliche Stille umgab mich. Langsam fiel der Nebel aus Staub und Sand, und ich rieb mir die Augen. „Nicht reiben“, sagte eine Stimme zu mir, die mich zutiefst er schreckte, „nur nicht reiben. Dann wird es schlimmer.“
Allmählich konnte ich wieder sehen. Aber auch die Hitze spürte ich. Es war unangenehm heiß. Drückend heiß. Und um mich war nichts als Sand. Und wenn mich nicht alles täuschte, würde ich vergeblich ein Schutzsystem suchen. Ich wagte es gar nicht zu denken: Hier kann man verunfallen, wenn man nicht achtgibt. Dann sah ich den Mann mit dem Elektromobil. Er war groß, sehnig. Mit dunklem Gesicht. Wie die Zugestiegenen. Seine grauen Augen sahen mich spöttisch an. „Da ist ja der verlorene Sohn“, sagte er, und wieder beunruhigte mich seine Stimme, schreckte mich auf, „na, dann komm schon. Ich bin Sebal. Viktor Sebal.“
Schnell wieder zurück Als wir losfuhren - ich war noch keine Viertelstunde in Austras -, scheuerte der Sand überall, hatte meine Gardirolen überwunden und aus meinem Drallercape einen sandgefüllten Hohlzylinder gemacht, der mir den Hals zudrückte. „Eure neueste Mode, was?“ erkundigte sich Viktor, während er das Elektrobil mit der Hand lenkte. Es sah sehr komisch aus, wie er ein Rad einmal nach rechts und dann wieder in die Gegenseite drehte. „Nein“, sagte ich, „das habe ich entworfen, und keiner hat mich richtig verstanden. Paradiesvogel haben sie mich genannt. Aber das dient dem Schutz vor...“ Viktor lachte herzlich, schwieg aber. „Diese ganze Evolution“, schimpfte ich, „ist doch nur eine einzige Orgie der Vernichtung. Und das ist noch geschmeichelt. Es ist ein Hexenkessel. Nur verkrüppelte Pflanzen und Dornensträucher. Können Sie sich vorstellen, daß man hier lagert, singt und romantische Gedanken austauscht?“ Viktors Augen wurden weich und sahen in die Ferne. „Ja“, erwiderte er einfach, „das kann ich mir vorstellen. Und du wirst es auch.“ „Du?“ fragte ich befremdet. „Hast du etwas gegen das Du?“ Er wandte mir sein verbranntes Gesicht zu. Es war häßlich. „Allerdings“, sagte ich, „ich bin kein Automat.“ „Ach so“, er nickte bedächtig, „das verstehe ich. Ich werde Sie nicht mehr duzen. Pardon.“ „Schon in Ordnung“, erwiderte ich und schloß das Thema ab, „nur im Aer, da war ein Mädchen, die hielt mich für einen Servieromaten. Deshalb meine Heftigkeit.“
Mein Kinn schlug auf meine Knie, und ein greller Schmerz jagte mir durch den Kopf. Ich dankte der Medizin für die Transplantatzähne, die uns zwischen dem Zahnwechsel verabfolgt wurden, denn einen solchen Schlag kann kein natürlicher Zahn überstehen. „Ist es noch weit?“ fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen, und Viktor schüttelte den Kopf, deutete nach vorn. Jetzt erst sah ich unser Ziel. Ich hatte es für eine Ansammlung aus zerbrochenen Bäumen gehalten oder für einen Felsen. Das war kein Haus. Keine Klimatoren, keine landschaftsgestaltenden Fenster und natürlich auch keine Sphärotafel. Ich wünschte mir jetzt, daß sich der kleine Robby aus dem Sand von Mejoora befreien sollte und mit der Tafel hierher käme. Vergeblich suchte ich nach Sauerstoffduschen und Mikrobenfilteranlagen. Nichts gab es hier, nichts, was man braucht, um leben, um sich entfalten zu können. Als wir stuckernd und holpernd bis an die Terrasse herangefahren waren und hielten, sah ich eine Anzahl kleiner Tiere mit langen Schwänzen und ohne Haarkleid, die eilig davonhuschten. „Da“, schrie ich aus Leibeskräften, „da ..., da ..., Seuchenratteneinschlepper ..., sofort Medi - Alarm auslösen ... Gleich jetzt!“ Viktor lachte. Er schlug sich auf die Schenkel dabei, und Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Wir werden viel Spaß miteinander haben“, sagte er schließlich, sich mechanisch die Lachtränen von den Wangen wischend. Ich betrachtete ihn einen Moment verwundert, denn die Tränen glänzten noch immer im Sonnenlicht. Er hatte sie nicht getroffen. Gledis Wuschelfledermaus fiel mir ein. Ein feinfühliges Tier, das sich zurückzog, wenn es Abwehr und Widerwillen fühlte. Die Langschwänzler hier waren aufdringlich und frech. Schlimmer noch: Sie beachteten uns überhaupt nicht. Mein Plan stand in diesem Augenblick fest. Ich brauchte schätzungsweise zwei Stunden, um alles Material, daß es hier gab, infogetreu zu speichern. Dann konnte ich umkehren und wieder dort hin gehen, wo es mir gefiel. Ich würde im Aer lesen und in Mejoora lesen. Ich würde ‚Marianne’ vorlesen, was ich gefunden hatte. Ich stieg die wenigen Stufen hinan, stand nun auf der Terrasse. Die nächste herbe Enttäuschung: Es gab hier keine elektromagnetischen Sand-Wind-Fallen. Man konnte sich die Stufen getrost sparen. Es war oben wie unten. Ein riesiges achtbeiniges Tier mit fast rundem Leib und dunkler Behaarung stelzte über das Holz. Ich suchte Augen bei dem Wesen, konnte aber nur acht winzige helle Punkte entdecken. O ja, was es altes gab. Und ich war überzeugt, daß dies nur der Anfang sein würde, wenn ich bliebe. Was mich beruhigte, war die Vorstellung, in wenigen Stunden im Aer zu sitzen und mit Kurs Euras abzufliegen. Noch im Aer würde ich mich umkleiden. Sie sollten sehen, wer mit Ihnen reiste: Ein Kandidat der Wissenschaft.
Ich stand auf der Terrasse und blickte in das Haus, das mir dunkel und eng, wie eine Höhle, wie eine Falle vorkam. Viktor war irgendwo da drin. Aber wo und wozu? Einige Augenblicke wartete ich noch, dann ging ich ebenfalls hinein. Gleich rechter Hand war ein verglaster Raum, der trotz allem finster wirkte. Hier fehlte alles. Niemand, der sich vorstellte, keiner, der zu einem sprach. Gläser, die das Licht nicht sammelten, sondern einen Teil verschlangen. Wände und Fußböden so roh und rauh, daß man nicht den Mut hatte, sie mit nackter Haut zu berühren, und Sitzgelegenheiten, die ursprünglich sicher als Folterinstrumente geplant waren. Ich setzte mich, ohne mich entspannen zu können, und sah hinaus. Der Wind hielt immer noch an, und der feine Sand schwebte an dem Fenster vorbei. Mir war klar, daß sie meine Wünsche kannten und mich in das Museum geführt hatten. Sie erwarteten also nicht, daß ich eine Nacht hier verbrachte. Das war gut so. Ich liebte klare Fronten, wie es in einem alten Sprichwort hieß. „Na, kommen Sie...“ Die Stimme schreckte mich auf, trieb mich von dem Stuhl hoch. Mein Herz hämmerte. Ich begriff nicht, warum ich so erschrocken reagierte. Ich folgte Viktor, und wir betraten zuerst einen dämmrigen Raum, dessen Grundfläche ein regelmäßiges Sechseck bildete. An der einen Wand führte eine Treppe nach irgendwo hinauf, während an zwei weiteren Wänden geschlossene Türen waren. Wir selbst gingen auf eine nur angelehnte Tür zu. Viktor blieb stehen. „Willkommen in Archimedes“, sagte er und bot mir seine Hand. „Danke“, antwortete ich, „aber ich brauche keine Hilfe. Meine Überraschung klingt gerade ab.“ Mit nachdenklichem Gesicht nahm er die Hand zurück, stieß eine Tür auf und ließ mich eintreten. „Wer ist denn das?“ Die Worte klangen wie ein Schrei, wie ein entsetzter, enttäuschter Aufschrei. Die Frau, die diese Worte von sich gegeben hatte, stand nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich sage Frau, aber das war keine Frau, eher ein feingliedriges Mädchen. Ihre Haut, stellte ich fest, glänzte fast zartbläulich. Augen so groß und so schwarz, daß ich nicht lange hineinschauen konnte. Diese Augen erinnerten mich sofort an jemanden. Wer hatte auch solche Augen, wer bloß? „Was soll denn das sein?“ klagte sie erneut. „Viktor, sage, daß du mir einen Streich gespielt hast. Ich bitte dich. Nimm das da fort von mir. Jage es hinaus! Dieses papageienfarbene Eurasmännchen hat nichts mit Markus gemein. Gar nichts...“ Sie wandte sich heftig ab und verließ das Zimmer, die Tür hinter sich zuschlagend.
„Was meint sie denn?“, fragte ich vollständig verwirrt. Auch das Mädchen im Aer hatte unmöglich reagiert. Und die hier, die sicher die vollkommenste Libelle war, wurde noch heftiger. „Nimm es nicht tragisch“, sagte Viktor schmunzelnd, „die Welt ist einfach nicht reif genug, deinen künstlerischen Modeimpulsen zu folgen. Du weißt doch, wie viele Genies in vergangenen Zeiten unerkannt verkümmert sind.“ „Ist das Zeug wirklich so schrecklich“, erkundigte ich mich vorsichtig. „Mein Geschmack ist das nicht“, sagte er, „du siehst ja, was ich bevorzuge...“ , Es war das gleiche Lederzeug, das ich schon bei den Leuten im Aer gesehen hatte und das mir der Automat vorgeschlagen hatte. „Was macht sie hier?“ wollte ich dann wissen. „Sie lebt hier“, Viktor wurde ernst, „es ist Nora Sebal.“ Ich sah ihn skeptisch an. „Wer ist das?“ fragte ich noch einmal, denn jetzt erst wurde mir der Widerspruch zwischen der Informationszelle und der Wirklichkeit bewußt. „Wer soll das sein?“ „Nora Sebal.“ Ein Glück nur, dachte ich, daß ich nicht meine Vermutung preis gegeben habe. Aber auch ohne diesen Irrtum war alles undurchsichtig. Die einfachste Erklärung war, daß diese beiden den Namen angenommen hatten. Sie nannten sich Nora und Viktor Sebal. Vielleicht war das eine Art Titel. „Dieses Cape“, Viktor deutete auf das Kleidungsstück, „willst du das nicht wenigstens ablegen?“ Ich riß es mir herunter. „Drüben gehe ich anders“, sagte ich, holte meine Kombination aus der Tasche und entrollte sie, „so“. „Wir haben nichts dagegen, wenn du sie auch hier trägst“, Viktor lächelte mir aufmunternd zu, und ich entkleidete mich und schlüpfte in die Kombination, die augenblicklich die Queller aktivierte. Allerdings fehlte es an drahtloser Energie, so daß die Beine und Ärmel etwas zu kurz gerieten und die Kombination sehr eng saß. „Kein Strom, was?“ fragte ich. „Stimmt“, erwiderte Viktor, „kein Strom. Aber das machen wir heute Abend an unserem Anschluß. Dann sieht alles wieder normal aus...“ Er hatte heute Abend gesagt. Am Abend wollte ich schon in Mejoora sein. Der Mann mußte denken, daß ich Lust und Zeit hatte, hier einen Abend zu verbringen. „Wollen Sie sich ein wenig umsehen?“ sagte er, und ich stimmte dem zu. Das war eine Lüge, denn ich wollte mich nicht umsehen, ich wollte die Informationen sammeln und - und dieses Mädchen finden. Ich weiß nicht, warum, aber das schwebte mir vor. Sie sollte mich so sehen, wie ich wirklich war. Ohne allen Putz. Und ich wollte sie finden, weil sie Augen hatte, die mich in beunruhigender Weise an jemanden erinnerten.
„Wissen Sie...“, begann ich und brach ab. Viktor war nicht mehr im Zimmer. Ich trat an das kleine, dämmrige Fenster. Hier war alles dämmrig. Das lag an dem Material, aus dem die Dinge gefertigt waren. Holz, tierische Produkte, Pflanzenfasern. Das schluckte Licht und erzeugte künstliche Finsternis. Unsere Materialien schlucken kein einziges Lux. Im Gegenteil, sie verstärken und brechen das Licht. Er ist groß, dachte ich, mächtig und auch dunkel. Ja, so kann man diesen Viktor Sebal beschreiben. Etwas Dunkles geht von ihm aus. Er könnte der lebende Bruder von Manshadow sein. Ich verließ das Fenster und öffnete eine Tür. Das war nicht leicht. Kein Relais, nichts, was auf meine Annäherung reagierte. Es galt, einen Metallstab aus der Senkrechten nach unten zu drücken und dann gegen die Tür zu stoßen. Ich ging von Raum zu Raum. Es war ein finsteres Museum. Schließlich fand ich in einem oberen Stockwerk, in einem Raum, dessen gesamte Fensterfront aus Glas bestand, und in einem Lehnsessel, der mit dem Rücken zur Tür stand, einen blauschwarzen Haarschopf, der sich schwach bewegte. „Viktor?“ fragte es vom Sessel her. „Ich bin es“, antwortete ich und atmete tief durch, „der, den sie so wenig mögen. Ich heiße übrigens Amon Deltar, bin Kommufacharbeiter und Wissenschaftskandidat und habe es tatsächlich nicht verdient, beschimpft zu werden, bevor Sie sich überzeugt haben, wie ich eigentlich bin. Ich verstehe schon, daß das Land den Menschen ein wenig verwildern und ihn auch unbeherrscht reden läßt, aber trotzdem. Das geht nicht.“ Sie drehte sich nicht um. „Ach ja“, erwiderte sie auf meine Vorwürfe, „das Land läßt uns verwildern. Warum das Land? Warum nicht die Zeit?“ Ich verstand nicht und schwieg. „Weißt du, was ich hier mache?“ „Sie duzen mich“, warf ich ein, „ich bin kein Automat. Sie sollten mich siezen.“ „Ich denke nicht daran“, sagte sie unverändert, „ich duze dich. Dieses Recht kann mir niemand nehmen. Siezt euch solange, bis ihr euch nur noch mit Kohlezangen und Feuerhaken anfaßt, ich schließe mich da aus. Und wenn es dir nicht paßt, dann geh!“ „Man hat Sie bestimmt zu früh aus der Kinderentwicklungsabteilung genommen“, beriet ich sie, denn der Kommufacharbeiter drängte sich bei diesem Gespräch vor, „und deshalb ist dieser rauhe Ton in Ihren Worten. Bitte, tun Sie, was Ihnen gefällt. Ich werde einfach jedes Du in ein Sie umdenken. Dann werden wir uns schon vertragen.“
„Natürlich“, kam es vom Sessel her, und die Worte klangen böse, man hat mich zu früh aus der Entwicklungseinrichtung genommen. Dann bin ich wohl gar ein Maschinenkind aus Mejoora?“ Ich erschauerte und fühlte, wie mir die Luft knapp wurde. „Maschinenkind aus Mejoora“, flüsterte ich. „Woher wissen Sie...?“ Die Augen, durchzuckte es mich, das waren die Augen, in die du als ganz winziges Kind gesehen hast. Die Augen, die alles das sagten, was der Mund zurückhielt. In mir hatte etwas zu schwingen begonnen, das mich umzureißen drohte. Ich lief, stürzte nach vorn, wollte sie in meine Arme nehmen, sie fragen, ob sie bei mir gewesen war. Doch als ich sie im Sessel sitzen sah, ein uraltes Buch in den Händen, einen Gedichtband, da vergaß ich, was ich vorgehabt hatte. Ein Mädchen, höchstens so alt wie ich selbst, sicher noch jünger, saß da und sah aus dem Fenster. „Was willst du?“ fragte sie mich, der ich atemlos neben ihr stand. „Ich bin verwirrt“, sagte ich, „ein verrückter Gedanke, es ist Unsinn. Sie dürfen nicht darauf hören. Ich komme mit dieser Welt hier nicht klar. Das ist es. Ich will nichts.“ „Was könntest du auch wollen“, sagte sie und sah mich immer noch nicht an. Ich ging ans Fenster, stellte mich so, daß sie mich sehen mußte. Meine Kombination. Sie mußte mich sehen. Als ich mich zu ihr umdrehte, bemerkte ich, wie sich ihre Augen belebten. „Die Kombination“, flüsterte sie, und sie stand auf, kam auf mich zu. „Bist du das? Markus...“ „Ich heiße Amon“, verbesserte ich ebenso leise, denn ihre Ver wandlung bedrängte mich stärker als ihre Gleichgültigkeit. Markus, dächte ich, Markus wurde ich schon einmal genannt. „Setz dich doch, Amon“, sagte die Frau, ohne einen Blick von mir zu lassen, „es war schon lange niemand mehr hier. Sicher sind es wichtige Ereignisse, die die Menschen davon abhalten, sich eingehender mit dem O'Delta-Bericht abzugeben.“ Und es begann etwas mir selbst Unerklärliches. Wenn irgendein Mensch mir den Satz gesagt hätte, den diese Frau sprach, ich hätte gelacht. Was soll dieser Unsinn, hätte ich gesagt, wer ist denn dieser O'Delta? Ein Halbaffe. Ist vor Urzeiten wie ein Raubritter losgezogen, ein paar Büsche zu ernten, und hat es nicht geschafft. Weißt du, was wichtig ist, wäre ich fortgefahren, wichtig ist, daß man sich endlich entschließt, die Versorgungsleitungen durch die Naturschutzparks an die Strande und Parks zu verlegen, weil man dort auch ein Gläschen Tee, etwas Eis oder eine Brühe haben möchte.
Wichtig ist ferner, daß endlich allen Frauen der Libellastatus zuerkannt wird und nicht nur den so Erzogenen. Immer mehr Männer nehmen sich, wenn sie nach einer Frau verlangen, keine Libelle, sondern irgend jemanden, zum Beispiel eine Programmiererin aus Wendynck. Ja, dies ist wichtig. Wie auch die Diskussion um die Auflösung aller Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. Aber Markus O'Delta', was soll das? So hätte ich gesprochen, wenn mir irgendein Mensch das gesagt hätte, was mir diese Frau anbot. Jetzt aber schwieg ich, trieb auf den Wogen angenehmer Emp findungen und schwieg. „Hat Viktor schon gesagt“, fuhr die Frau fort, „daß ich Nora Sebal bin?“ Nora Sebal... Viktor und Nora Sebal haben vor... In meinem Kopf begann sich ein feuriges Karussell zu drehen. Viktor und Nora Sebal müßten doch schon lange tot sein... Wenn es einen Widersinn unter dieser Sonne gab, dann war es der: Viktor und Nora Sebal... „Du wirst dich ein wenig gedulden müssen“, sagte Nora, und meine Nachdenklichkeit war weg. Statt dessen alarmierte mich eine innere Stimme, gebot mir Vorsicht. „Ein paar Tage nur. Es sind Reparaturen im Archiv auszuführen, und Viktor macht das. Die Technik ist schon alt. Die modernen Robbys kommen damit nicht klar. Aber ein paar Tage wirst du ja warten können.“ Ein paar Tage, dachte ich, hoffentlich nicht mehr als zwei oder drei. Oder ob ich noch einmal wiederkommen sollte? Ich konnte ja abfliegen und zurückkommen, wenn alles in Ordnung war. Dann dachte ich an das Gestucker im Aer. An den fliegenden Wechsel. Nein, das nicht... „Erzähl von dir“, sagte sie und griff nach meinen Händen, hielt sie in den ihren, begann sogar mit meinen Fingern zu spielen. „Ich“, sagte ich, „ich bin Kommufacharbeiter. Das ist manchmal schwierig. Man vertraut uns Menschen an, weißt du. Von euch und der Archimedes habe ich über die Schi...“, verdammt, ich wollte Schildkröte sagen, „Schimmerwand erfahren. Populärwissenschaft. Ich arbeite ja auch kaum mehr als sieben Stunden je Dekade. Da hat man viel Zeit, denn ich habe kein Interesse an der Kunst. Jetzt noch nicht. Vielleicht kommt das später noch. Manche sind ganz hervorragende Maler und Bildhauer. Wirklich. Die Galerien füllen sich, und wer will, kann sich dort Bilder und Plastiken für seine Wohnung holen. Ebenso Holzarbeiten. Alles. Du weißt sicher auch, daß es in jedem Block mit mehr als tausend Einwohnern eine Multibühne gibt. Für alles. Unterwasserartistik. Leitstrahltänze. Theaterstücke und Kabarett. Nur die Dramen, die sind ein bißchen komisch. Sie erinnern an Geschichten für Kinder der
unteren Entwicklungsstufe, weil sie alle im Weltraum spielen. Aber das alles ist nichts für mich. Ich weiß nicht, warum.“ „Und wie lange könntest du bleiben?“ Noras dunkle Augen forschten in meinem Gesicht, und wieder war diese Welle der Zuneigung in mir. „Ich verstehe dich nicht“, sagte ich, „wer wollte meinen Aufenthalt, wo immer ich bin, begrenzen wollen?“ „Na, wird man nicht nach dir fragen?“ Ich lachte. Und es hat mich irgendwie befreit, dieses Lachen. „Du“, sagte ich und wendete ganz bewußt das Du an, „fühl einmal. Hier mehr...“ Ich hielt ihre warmen Finger und strich damit sanft über meinen linken Oberarm. „Fühlst du etwas?“ „Es ist hart“, sagte Nora und strich ganz allein, ohne daß ich sie führte, wieder und wieder über meinen Oberarm. „Dort haben sie meine Lebenskarte implantiert“, erklärte ich ihr, „und wenn mir etwas passiert, etwas Wirkliches, dann wird die Meldung über Satellit der Zentrale für Gesundheitsbetreuung gemeldet, und sie holen mich ab. Außerdem funkt das Ding, sobald eine schwere Krankheit im Anmarsch ist. Das ist doch Kontrolle genug. Findest du nicht?“ „Ja“, sagte Nora, „ja natürlich. Es ist Kontrolle genug.“ Unerwartet stand Viktor in der Tür. „Ich habe uns Kaffee und einen Imbiß bereitet“, sagte er, und wir erhoben uns, verließen den Raum, folgten ihm nach unten. „Wie lange bleibt man eigentlich hier?“ fragte ich am Kaffeetisch. „Ich meine, wann wird man abgelöst und kann zurück?“ „Wir leben hier“, Nora sah mich groß an, „immer.“ „Aber das ist doch schlimmer als auf dem Mond“, warf ich ihnen vor. „Warst du schon auf dem Mond?“ wollte Viktor wissen, und ich verneinte es, denn ich war tatsächlich noch nicht auf dem Mond gewesen. „Du solltest da hinauf“, erklärte er nebenbei, „damit du den Un terschied zwischen Leben und Tod lernst.“ „Und wenn nicht“, erwiderte ich trotzig, „wenn ich nun finde, daß die Ruhe des Mondes beeindruckender ist als Ihr Leben hier?“ „Dann muß ich annehmen, daß du dumm, unreif und ahnungslos bist“, Viktor sagte es tiefernst, „nichts ist so wertvoll wie das Leben. Das natürliche, zelluläre Leben.“ Nora betrachtete uns nacheinander, und etwas wie Trauer tauchte in ihren Augen auf. „Ich dagegen möchte wetten“, schrie ich, denn seine Worte hatten mich erneut gekränkt, und er hatte mich wieder geduzt, mir schien das Maß voll zu sein, „daß Sie nicht einmal das dritte beltedristische Axiom kennen, und Sie reden über Leben und Tod...“
„Viktor“, warf Nora freundlich ein, „jeder sieht die Welt, wie er sie erlebt. Er weiß nicht, was dich bewegt, und du kannst nicht nachfühlen, was in ihm ringt. Soll ich euch etwas sagen: Ihr habt beide recht. Beide...“ „Wieso?“ sagten Viktor und ich wie aus einem Mund. Aber Nora winkte nur ab. „Trinkt Kaffee“, ordnete sie an, „eßt Plätzchen, und nehmt euch ein bißchen Zeit, einander kennenzulernen. Und dann streitet weiter.“ Erst, als die Tür ins Schloß fiel, begriff ich: Ich würde in Taipanville in einem Höhlenhaus übernachten. Ich hörte Noras leichte Schritte, dann klappte noch eine Tür, und eine tiefe Stille lastete auf dem Haus. Eine Stille, die ich hören konnte, die in meinen Ohren rauschte, jeden Atemzug zu einem lauten Störgeräusch machte und mich in einen mir unerklärlichen Zustand verhetzte. Nora hatte es also geschafft. Ich war geblieben, und ich wußte, daß ich auch am nächsten Tag nicht abreisen würde. Zwei Stunden, war mein anfängliches Ziel gewesen, es zwei Stunden auszuhalten. Dann verlängerte ich die Frist bis zum Abend, und jetzt war ich bereit, so lange auszuharren, bis Viktor Sebal mit der Reparatur fertig war. Ich verstand nicht, warum Nora Sebal nicht bei mir geblieben war. Ich hatte ihr zu verstehen gegeben, daß sie mir sehr angenehm war. Ich hatte sogar um sie geworben, wie man eigentlich nur um eine Libelle wirbt. Nichts. Führt mich in mein Zimmer, hält fast zu lange meine Hand, sieht mir tief in die Augen und geht dann. Geht einfach, wortlos, still vor sich hinlächelnd. Sie ist doch ein Mädchen unserer Zeit. Sie weiß doch, wie man lebt. Und dann dies: Lächelt und geht. Ich habe sie beim Abendbrot eingeladen, mir die Natur zu zeigen, habe ihr gesagt, daß mir das Freude machen wird. Kann man noch mehr sagen? Kann man noch eindringlicher signalisieren, daß man viel, sehr viel von ihr hält? Nun sitze ich ganz allein auf dem Bett, höre meinen Atem und mein aufgeregtes Herz und das Summen der Stille in meinen Ohren. Und draußen vor dem Fenster steht der Mond, und natürlich ist er kugelrund, und es gibt keine Rhythmozerrer, und also fühle ich mich wie ein Mondsüchtiger, der auf das weiße Ding wie auf die Kristallkugel eines Hypnotiseurs starrt. Und zugleich denke ich, daß sich etwas durch die schwarzen Korridore schleicht und sich wie jenes achtbeinige Tier meiner Tür nähert und lauscht und meine Bewegungen verfolgt und... Ich wußte noch nicht, was alles geschehen konnte. Aber etwa war in mir geweckt. Ich war aus der Sicherheit der Euraswelt herausgelöst, und die Folge war, daß ich mich wie ein Tier fühlte, wie ein gejagter, und der Evolution ausgelieferter Organismus empfand. Ich fühlte mich fremd und bedroht.
Das gab es in Euras nicht. Wie sollte es auch. Wen man trifft, in dem sieht man den potentiellen Partner und also ist man freundlich, muß nicht nur so tun. Im Laufe unseres Lebens werden, wenn nicht die schreckliche Organverpilzung über uns kommt, die Zähne, die Nieren und die Leber, die Testes und Ovarien und die großen Gefäße ausgetauscht. Man ist immer gesund. Und auch das sorgt dafür, daß man unbekümmert ist. Und dann die Luxotrone. Selbst ein Novemberabend in Narvik ist taghell. Das alles macht unsere Psyche leicht und beschwingt. Denke ich jedenfalls. Es läßt nie solche Gefühle aufkommen, wie ich sie hier schon am ersten Abend empfinde: Fremdheit und Bedrohung. Das Bett vollführte weder die sanften Schaukelbewegungen, die ich so mag, noch hüllten zarte Schlafklänge mich ein. Wenn das Möbel überhaupt etwas tat, dann dies: Es knarrte. Bei jeder Bewegung knarrte es und ließ mich immer wieder auffahren und aus müden und erschrockenen Augen in die Runde sehen. Und draußen huschten Schatten vorbei, klangen nie gehörte Schreie auf. Und im Haus meinte ich immer wieder einmal Schritte zu bemerken.
Nimm Abschied von den Träumen... „Guten Appetit“, sagte Nora und goß Kaffee ein. Ich dankte und ließ mich auf der Terrasse nieder. „Weißt du“, fuhr sie fort, „daß du schon fast ein richtiger Held. bist?“ Ich sah sie sprachlos an. „Drei Nächte“, sie lächelte mir in einer Art zu, daß ich mitlächeln mußte, „bist du schon bei uns, und seit gestern wagst du es, auf der Terrasse die Mahlzeiten einzunehmen. Du bist sehr mutig.“ „So etwas hat mir noch kein Mensch gesagt“, erwiderte ich eigenartig berührt. Ich mußte schlucken. „So etwas sagt man nicht bei uns“, erzählte ich Nora. „Einmal wollte ich über ein Energokabel auf ein Haus klettern. Ich muß in der sechsten Entwicklungsstufe gewesen sein. Wie auf ein lautloses Kommando haben sich alle meine Kameraden und auch die kleine Libelline, die ich auf kindliche Weise verehrte, von mir abgewandt und sind fortgegangen. Ich stand da wie vor den Kopf geschlagen. Später habe ich es begriffen. Wir sind, in unsere Schutzsysteme sicher eingebettet. Wirklich sicher. Ganz früher, da gab es, lach aber nicht, Nora, Selbsttötungen. Das ginge bei uns nicht.
Du kannst aus dem Fenster springen oder versuchen, eines anderen Fahrzeug zu rammen. Im ersten Fall gleitest du langsam nach unten, und im zweiten Fall kommt es zu keiner Kollision. Du kannst auch versuchen, Feuer zu legen. Es geht nicht. Nichts brennt. Nichts. Nicht unsere Bodengeher noch die Möbel, nicht der drahtlos übermittelte Treibstoff noch unsere Kleidung. Nichts brennt. Als über Arkada einmal ein Erdbeben hinging, riß die Erde auf, wurde faltig, und tiefe Krater entstanden. Die Leitstrahlen hielten die Stadt so lange schwebend über dem Unfallort, bis alle Einwohner evakuiert waren. Du kannst weder verunfallen noch willentlich oder versehentlich sterben. Wozu also muß ich auf Bäume klettern können. Muß ich doch nicht. Ich brauche niemandem zu helfen, der im Astwerk hängenbleibt, weil das der Leitstrahl viel besser macht. Man lobt nicht, weil einer mutig ist und etwas wagt. Du hast es getan, und es gefiel mir. Ja, es hat mir gefallen. Es war schön. Vielleicht ist es ein Fehler, daß wir es abgeschafft haben... Wer weiß. Ich will nun wirklich etwas Mutiges sagen: Ich bleibe bei euch, bis ich das letzte Geheimnis von Markus O'Delta und der Archimedes kenne. Dieses Land hat mich herausgefordert, und ich habe gelernt, daß der Mensch, wenn er nur will, jede Herausforderung bestehen kann! Nora umarmte mich plötzlich und zog meinen Kopf an ihren Körper. Ich konnte ihren Geruch wahrnehmen und fühlte die Wärme ihrer Brüste. Hatte ich das gesucht? Ich wurde ganz still, bewegte mich nicht und fühlte und atmete. Ich habe nur noch geatmet. Die Wärme, den Duft, sie. „Bitte, laß mich nicht los...“ Sie ließ mich nicht los, und erst das Gekrächze einiger der weißen Vögel mit den gelben Hauben, die man hier Kakadus nennt, löste meine Erstarrung. „Ich will dir ein Märchen erzählen“, sagte Nora leise und sah hinaus in die Steppe, „ein altes Märchen.“ „Was ist ein Märchen?“ „Das sind Geschichten“, Noras Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an, „mit denen die Menschen aussprachen, was sie sich wünschten. Hör zu: Es war einmal eine arme Marktfrau, die hatte einen einzigen Sohn. Die Frau verkaufte Gemüse, und eines Tages kommt doch ein steinaltes Muttchen an ihren Stand und kauft dies und das, und es wird immer mehr. Als sie die Waren nach Hause tragen will, schafft sie es nicht. Der Sohn der Frau aber ist sehr hilfsbereit, packt das Gemüse und lädt es sich auf die Schulter. So gehen sie davon. Überqueren Plätze und durchwandern enge Gassen. Schließlich sind sie in einer Straße, die der Junge noch nie gesehen hat. Die Frau schließt einen Torweg auf, und sie gehen über einen düsteren Hof in das Haus.
In der Küche stellt der Junge alles ab, und die Frau sucht aus einigen Fächern pure Goldstücke zusammen, die sie in ein ledernes Beutelchen steckt. ‚Hier hast du etwas zum Lohn’, sagt sie, ‚weil du ein so freundlicher Junge bist.’ Er läuft jubelnd hinaus, verläßt den Hof und eilt durch Straßen und über Platze. Nun hat alle Not ein Ende, denkt er, denn wir haben Gold genug, um unser Leben auch ohne Markt fristen zu können. Er klingelt daheim und fährt erschrocken zurück, als eine ihm völlig fremde Frau öffnet. Die unbekannte Frau nennt das Haus ihr eigen und will die Tür schließen. Doch der Junge drängt sich hinein und schaut in alle Räume. Nirgends entdeckt er die ihm bekannten Möbel. Ängstlich verläßt er das Haus und läuft zum Markt. Da stehen andere Buden, die er noch nie gesehen hat, und andere Marktfrauen bieten Waren an. Nun irrt der Junge durch die Stadt. Er sieht Häuser, die er vordem noch nicht sah, während ihm bekannte Gebäude verfallen aussehen. Am nächsten Tag kommt er an dem Friedhof vorbei, und da dies der einzige Ort ist, der sich nicht verändert hat, betritt ihn der Junge und läßt sich weinend auf einer Bank nieder. Ein uralter Kirchendiener tritt zu dem Jungen und fragt ihn, was er habe, und der Knabe erzählt, was ihm widerfahren ist. Da denkt der Alte lange nach und meint schließlich, daß man, als er selbst noch ein Kind gewesen sei, eine ähnliche Geschichte erzählt habe: Ein Junge war verschwunden, der Sohn einer Marktfrau... Er fragt den Jungen nach seinem Namen, und als der ihn genannt hat, führt er ihn schweigend zu zwei verfallenen Gräbern, deren Stein vom Wein überwuchert ist. Der Junge entziffert mühsam die Namen seiner Eltern. Dann findet er die Gräber seiner Geschwister und die von deren Kindern. Der Junge beschließt, die alte Frau wieder zu suchen, ihr das Gold zu geben und von ihr zurückzufordern, was nicht mit Diamanten aufzuwiegen ist, die Zeit. Aber er findet ihr Haus nicht mehr und irrt umher. Einmal scheint es ihm, als sehe er sie auf dem Markt, einen kleinen Jungen bei sich, der einen Berg Gemüse trägt. Aber als er die Verfolgung aufnimmt, sind die Alte und der Knabe wie vom Erdboden verschluckt...“ An der Terrasse lief ein plumpes Tier vorbei. Ich verfolgte das Tier mit den Blicken und dachte an die Zeit, an jene Größe, die nicht mit Diamanten aufzuwiegen war, wie Nora sagte. Ich weiß nicht, warum, aber das Märchen versetzte mich in eine merkwürdige Stimmung. Ich war weder traurig noch zornig. „Wer ist die alte Frau“, fragte ich nach einer ganzen Weile, „und wer ist der kleine Junge?“
„Du wirst also hierbleiben“, sagte sie, ohne meine Frage zu beantworten, „bis du Markus O'Deltas Geheimnis kennst. Das willst du tun?“ „Und was hat das mit dem Märchen zu tun?“ fragte ich direkt. „Mich hat nicht der Erdboden verschlungen, und ich bin auch nicht bei einem steinalten Mütterchen.“ Ich lächelte ihr zu, aber ihre Augen wurden traurig. Fremd sah sie mich an. „Ich bin hier und bleibe hier“, lenkte ich ein, „mein Entschluß steht fest. Ich bleibe vor allem bei dir.“ „Dann nimm Abschied von deinen Träumen“, sagte Nora unerwartet, und ihre Stimme bekam einen harten und bitteren Klang, „du träumst wie alle Menschen. Du erzählst dir Geschichten, wie sich alle Geschichten erzählen. Aber diese Traumgeschichten werden sterben, wenn du hierbleibst. Die Sonne, das Meer und auch die Sterne werden Strukturen und Prozesse sein, nur das: gesetzmäßige Strukturen. Erscheinungsformen der Alphastufe der Materie. Du wirst alles in Formeln und Zahlen ausdrücken lernen. Sogar die Farben werden ihre Wunderkraft für dich verlieren. Und wenn du dann eines Tages zu den Menschen nach Euras zurückkehrst, dann wird es dir gehen wie dem Jungen im Märchen. Man wird dich nicht verstehen. Man wird deine Fähigkeit, sogar deine Genialität loben und deinen Entdeckungen nachjagen. Man wird dir alles abschwatzen wollen. Aber egal, in welche Zimmer du auch schaust: Das Mobiliar erkennst du nicht mehr. Die Gerätschaften werden dir fremd sein. Und die Gesichter werden dir nichts als unbekannte Bilder sein...“ Der Nachmittag war unerträglich heiß, und wir saßen im Bil. Nora fuhr, ich hielt mich an den Griffen fest. Wir näherten uns einer Baumgruppe, und Noras Miene wurde gespannt. Da saß eine Gruppe Känguruhs, die ich schon gut kannte. Manche der Tiere kamen bis auf wenige Schritte an das Haus heran. Ich erblickte auch Jungtiere, die aus den Bäuchen der Alten schauten. „Na“, flüsterte Nora mir zu, „wie findest du das?“ „Die kenne ich doch“, antwortete ich unbekümmert, „Känguruhs. Die sind doch überall.“ „Die meine ich nicht“, Nora wurde ernst, „der Taipan...“ Taipan? Das Wort kannte ich nur in Verbindung mit dem Ortsnamen Taipanville. „Eines Tages wirst du auch Augen haben“, flüsterte Nora dicht an meinem Ohr, „die für diese Landschaft taugen. Bis jetzt könntest du noch nicht bestehen.“ Ich sah endlich den Taipan. Was war denn das? Ein Riesenwurmungeheuer grell bedruckt. Ohne Füße und Hände, ohne Hörner und Schnabel. Was sollte daran aufregend sein?
Er glitt, wie von einem leichten Wind getragen, über den Sand. Nun ja, er war schon ziemlich lang. Länger als das Bil. Lautlos näherte er sich den Tieren, und ich hatte schon Angst, daß ihm eins der Känguruhs oder auch jenes kleine Wuscheltier versehentlich den Kopf zertreten würde, als die Situation sich völlig wandelte. Eins der Känguruhs sah wohl den Wurm und hüpfte in Höchstgeschwindigkeit davon. Die anderen folgten unverzüglich, und das silberne, wuschlige Tierchen sah ihnen erstaunt hinterher. Dann sah ich eine rasende Bewegung, die mich an einen abge schossenen Pfeil erinnerte, und der Taipan berührte das kleine Tier wie versehentlich. Es mochte wohl auch nur ein Versehen sein, denn der Taipan zog sich in derselben Sekunde schon wieder zurück und blieb unbeweglich liegen. Das kleine Tier schrie auf, sprang kerzengrade in die Luft, fiel aber sofort wieder zurück. Es kroch über den Sand, dann wurden seine Hinterbeine lahm. Es versuchte auf seinen Vorderbeinen weiterzukommen. Schließlich kippte es auf die Seite und schlief augenblicklich ein. „Was ist das?“ Nora antwortete nicht. Ich bekam die Antwort: Der Taipan kroch los. Immer wieder stülpte er seine Zunge aus, die mir in der Aufregung sogar gespalten vorkam, und näherte sich dem Tier. Als er es erreicht hatte, gähnte er gewaltig und - schlang das Tier unzerteilt hinunter. „Er...“, ich brach ab und sah Nora mit flackernden Augen an. „Es war eine Chinchilla“, sagte Nora, „vielleicht die letzte ihrer Art. Man hat die Chinchillas aus Südamerika gebracht und hier angesiedelt. Sie haben es nicht geschafft. Die Schlangen und die Greifvögel haben Angriffsmethoden, auf die sich die Chinchilla nicht einstellen kann. Man hätte die Chinchillas nicht verpflanzen sollen. Und der Taipan... Ja, er hat Gift. Viele Tiere sind giftig. Wenige aber so giftig wie der Taipan. Nur die Todesotter ist es und die Wasserkobra...“ Ich fühlte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. „Es würde dir nicht anders gehen als der Chinchilla“, sagte sie dann ernst, „du würdest sterben, wenn er dich beißt. Sicher, wir haben Seren im Bil. Jedes Trockenserum schaltet das Gift von mindestens fünfundzwanzig Giftschlangenarten aus, aber eine kleine Unsicherheit bleibt doch. Denk daran: Wenn dich eine Schlange beißt oder eine Spinne, ein Skorpion sticht, versuche das Tier zu töten. Bring es mit. Dann bekommst du hundertprozentig das richtige Serum. Allerdings ist es noch besser, wenn du dich gar nicht erst beißen läßt. Schule deine Augen. Was du siehst, hat seinen Schrecken verloren. Wen du siehst, dem bist du überlegen.“ Das war sie nun, die Evolution: Einer tötet den anderen. Jeder schützt sich vor jedem durch schreckliche Dinge. Sie machen sich unsichtbar, tragen Gifte in sich oder versuchen es mit Schnelligkeit.
Der Taipan beißt diese kleinen Chinchinchen, oder wie sie heißen mögen, und frißt sie auf. Er kann auch mich töten, obwohl er mich nicht verschlingen kann. Man kann sich regelrecht Reihen ausdenken: Mordfliege frißt Schmetterling, Frosch frißt Mordfliege, Schlange frißt Frosch, Echse frißt Schlange, Vogel frißt Echse, Kleinsäuger frißt Vogel, Großkatze frißt Kleinsäuger. Kommt ein Insekt, sticht die Großkatze. Die wird krank und verreckt. Das nennt sich dann Entwicklung... Wir fuhren zu einem See. Der war doppelt überglast. Nora öffnete eine Schleuse, und wir traten ein. Durch einen Filterzufluß und einen ebensolchen Abfluß kam das Wasser herein und hinaus. „Hier kann man baden“, sagte Nora lachend, während sie sich auszog, „hier kann uns nichts stören.“ Ich sah ihr schweigend zu, wie sie sich entkleidete, und ich bestaunte ihren Körper. Sie könnte jeden Tag zum Wettbewerb „Der schöne Mensch“ gehen und würde alle Tage mit dem Sonderpreis ausgezeichnet werden. Das Wasser war kühl. Ich spürte, wie sich der Schweiß von mir löste. Es war wunderschön. Schöner als in den Gigowellenbädern, in denen kein Mensch versinken kann. Das Doppelglas schwächte die glühende Sonne ab, und ein Rondell aus riesigen Bäumen sorgte zusätzlich für Schatten. Es roch hier nach lebendigem Wasser. Im Geäst der Bäume saßen lustige Tiere, die possierliche Bewegungen vollführten. Sie trugen ihre Jungen teilweise Huckepack und auch an den Bauch gedrückt. Diese Tiere gefielen mir außerordentlich, aber Nora gestattete nicht, daß ich eins mitnahm. Das hängt mit der Ernährung zusammen, erklärte sie mir, denn sie fressen nur eine Pflanzenart, und die gibt es bei dem Haus nicht. Ich war hier das einzige Lebewesen, das man bereits erblickte, sobald es über die Horizontlinie kam. Jeder Taipan mußte sich das Maul lecken, wenn er mich sah. Die Sebals waren unauffällig. Sie trugen immer Kleidung aus dem gleichen Material. Es konnte heller oder dunkler sein. Hosen, Stiefel, Jacken, Hemden, Blusen. Im Haus trug Nora Kleider. Viktor benutzte sogar drinnen Wildleder. „Soll ich dir auch Wildlederzeug schneidern?“ Und ob ich wollte. Im Bil hatte ich endlich Mut, über etwas zu sprechen, was mich bedrückte. „Nora“, fing ich also an, „es ist mir unheimlich in dem Haus. Manchmal jedenfalls.“ Sie lachte nicht. „Nora, eine... Ich denke, daß ich beobachtet werde.“
Sie warf mir einen erstaunten Blick zu. „Wer beobachtet dich?“ „Ich weiß es doch nicht“, ich wurde immer unsicherer, es ist..., es ist eine Wand, die mich beobachtet. Die allen meinen Bewegungen folgt. Eine Wand eures Hauses beobachtet mich. So wie man jemand aus den Augenwinkeln ansieht. Und der Beobachter wartet einfach. Er wartet auf etwas..., ich weiß, was du sagen wirst.“ Ich sah, wie sich für einige Sekunden eine steile Falte über ihrer Nasenwurzel bildete. „Aber warum sagst du, daß es eine Wand ist. Wände können doch nicht beobachten.“ Sie hatte gut reden. Wie sollte ich ihr dieses Gefühl erklären. „Das ist es ja, was mich so verwirrt. Wäre es eine Kamera, ein Auge, alles wäre klar. Aber eine Wand... Ich hatte in der ersten Nacht einen furchtbaren Traum. Da hat es angefangen. Mir war danach, als wenn eine Wand ihre Augen auf mich richtete. Seither tritt es täglich auf.“ „Ist es immer dieselbe Wand?“ „Nein“, antwortete ich sofort, „immer eine andere. Mal diese, dann jene. Mal in meinem Zimmer, dann wieder auf der Treppe. Und es wird immer intensiver.“ Nora antwortete mir nicht, und wir kehrten in tiefem Schweigen zu dem Haus zurück. Ich stieg bei der Terrasse aus, und Nora fuhr das Bil in die Garage. Dort trafen wir Viktor. Er war mit dem Kettenfahrzeug unterwegs gewesen. Ich sah ihn überhaupt sehr wenig. Sicher reparierte er das Archiv, damit ich demnächst beginnen konnte. Sie redeten intensiv miteinander. Nora versuchte Viktor etwas klarzumachen, ohne daß Viktor gleich darauf einging. Mir lief in dem Moment etwas eiskalt über den Rücken. Irgend jemand sah mich an. Und dieser Jemand stand dicht hinter mir. Ich fühlte es körperlich. Da stand jemand und fixierte mich. Meine Nackenhaare richteten sich steil auf. Es knisterte. Tigerotter, dachte ich, Todesotter, Taipan, Wasserkobra. Ich konnte mich nicht umdrehen. Nora und Viktor redeten noch immer ahnungslos miteinander. Kommt doch, dachte ich, denn sprechen konnte ich nicht, kommt doch endlich. Helft mir doch... Schließlich drehte ich mich doch um. Ich dachte daran, daß ich das Tier, das mich biß, töten mußte. Festhalten wenigstens. Hinter mir war nichts. Nicht einmal diese Ameisen oder Spinnen. Ich strengte meine Augen an. Nein, es war nichts da. Dafür spürte ich, daß ich nun aus dem Innern des Hauses beobachtet wurde. Ich sah den grünen Fußbodenbelag, der im Licht der schrägstehenden Sonne sanft aufleuchtete. Ich komme, dachte ich nur, ich komme jetzt...
Und ich ging tatsächlich in das Haus, durchquerte das eine Zimmer, stieß die Tür zum Nachbarraum auf. Trat ein. Die Räume waren leer und verlassen. Nicht einmal eine Fliege, die herumflog... So trat ich den Rückzug an. Doch ehe ich draußen war, kamen Viktor und Nora herein. Ich schwieg. Ich würde Viktor nichts sagen. Er war ein Mensch, der für Schwächen nichts übrig hatte. Jedenfalls wirkte er so. Nur Nora hätte ich gesagt, warum ich ins Haus gelaufen bin. Als ich nach dem Essen in mein Zimmer gehen wollte, um ihnen einen Prospekt von Mejoora zu holen, erschrak ich noch einmal. Denn gerade als ich die Treppe betrat, wisperte ein feines Stimmchen. Ich habe nicht verstanden, was es sagte. Ich habe es nur gehört...
Wem gehört Manshadow? Einmal unternahmen wir einen nächtlichen Ausflug. Die Steppe lag in hartem weißem Licht, und die Schatten rissen scharfkantige Löcher in den Sand. Silbriggrau schimmerten die Pflanzen, und sie hoben sich überdeutlich vom Untergrund ab, schwammen auf ihren Schatten. Die Ränder dieser Schatten waren wie ausgeschnitten. In stetem Wechsel lösten sich milchige Hügelkämme und tintenschwarze Schlünde ab. Schluchten, die zum Mittelpunkt der Erde führen mochten. Das alles schien mir unwirklich. Das war nicht Austras und nicht Archimedes. Es war mir, als hätten alle meine Ängste, aber auch meine Wünsche und Träume Gestalt angenommen. Sträucher wurden zu langohrigen oder gehörnten Riesentieren, Baumgruppen bildeten ferne, rätselhafte Städte. Und all diese Städte schienen auf silbrigen Wasserflächen zu stehen, um jede Bewegung des Wanderers mitzumachen, der sich ihnen nähern wollte. Diese Nacht war nicht stumm. Überall schnarrte und zirpte, schrie und kreischte es. Ein Sirren und Wispern lag in der Luft, und manche Töne schienen direkt aus den Sternen zu kommen, die teilweise so dicht standen, daß sie an Lichtwölkchen erinnerten. Dann wieder klangen einzelne hohle Rufe aus den Waldstreifen heran, nadelfeine Schreie und das dumpfe Grollen der mir bekannten Großkatzen. Da war kein Wind der sich regte, kein rieselnder Sand, und doch schien mir alles in ständigem Fluß, in ewiger Bewegung. „So etwas habe ich noch nicht gesehen“, flüsterte ich Nora zu, die sehr wach und aufmerksam das Bil steuerte, „da kommt keine noch so perfekte Theatervorstellung mit. Es ist unheimlich.“
Nora lächelte. „Jede Welt will entdeckt werden“, sagte sie, „man darf nicht erwarten, daß einem alles sogleich gefällt.“ Meinte sie auch sich damit, fragte ich mich, wollte sie damit ihre spröde Art entschuldigen? „Warum lebst du mit Viktor hier so allein“, erkundigte ich mich, und als ich ihr das sagte, spürte ich das erstemal, daß ich Nora duzte. Sie hatte über mein Sie gesiegt. Na schön, sollte sie. Wenn das der Schlüssel zu ihrer Nähe war. Man kann es aussprechen: Du. „Früher“, antwortete sie und wich einem Loch aus, „da machten alle Fahrzeuge Lärm. Flugkörper fauchten, Schiffe dröhnten und Autos waren unüberhörbar. Statt der Sphäroklänge wählte jeder Mensch sein eigenes Musikprogramm. Ein tonales Chaos. Ein unentwegter Hintergrund, der negativ beeinflußte, ohne daß man es begriff. Das alles machte nervös. Man fühlte sich gehetzt. Es gab keinen akustischen Frieden. Nur in der Natur konnte man den finden. Es war wohl die Ruhe, die uns anzog...“ Es war dieses FRÜHER, das mich aus der Betrachtung der Nacht riß. Wieder kamen alle meine Zweifel in Erinnerung: Wie alt waren sie eigentlich, diese Sebals? Waren sie tatsächlich nur Namensträger oder... umgab sie ein Geheimnis, von dem ich nichts ahnte. Und es war die Nacht, die meine Gedanken zu Worten, zu Fragen werden ließ. „Du sprichst von dir“, sagte ich, „als wärest du wer weiß wie alt. Wieso erinnerst du dich an Dinge, die soweit zurückliegen, daß nicht einmal...“ Ich mußte eine Pause machen, denn automatisch hatte ich sagen wollen, daß nicht einmal mein Großvater etwas davon weiß. Das war Unsinn. Ich kannte meinen Großvater nicht. „... daß nicht einmal unser Geschichtsdozent davon gesprochen hat. Du, die du jünger bist als ich. Du bist es doch?“ Sie sah mich an, und in ihren Augen brannte ein Feuer. „Ich bin jünger als du“, fragte sie so laut, daß für mich die Geräusche der Nacht vorübergehend erstarben, „denkst du etwa auch, daß ich jünger bin als du?“ „Was ist daran so ungewöhnlich“, ich versuchte einzulenken, „warum gefällt dir das nicht?“ „Weil es schrecklich ist“, sie stöhnte, „weil es das Furchtbarste ist, das einem begegnen kann, weil ich das nicht zum erstenmal erlebe. Aber du..., du..., das darfst du nicht wieder sagen. Du quälst mich damit. Du tust mir weh, beleidigst mich. Amon, Amon...“ „Aber Nora“, ich legte meinen Arm um ihre Schulter, und sie ließ es geschehen, „was ist denn passiert?“ Sie wurde wieder ruhiger. „Ich war einmal bei euch“, berichtete sie nun beinahe apathisch, „nicht lange. Mir fehlte so vieles. Das Rohressen schmeckte mir nicht, und die meisten Gespräche bewegten mich nicht.
Ihr sagt, die eine Sache ist gut oder auch schön. Aber wo sind die Begriffe wie herrlich und phantastisch, wie unbegreiflich oder zauberhaft. Man akzeptiert, aber man verehrt nicht mehr. Man schwärmt nicht mehr für etwas. Keiner, der sich blind oder unbesonnen in ein Abenteuer stürzt. Man verliert keine Tränen mehr. Man läßt seine Haare von Automaten richten, aber man rauft sich die Haare nicht mehr. Sicher, es mußte so kommen, auch wenn noch nicht alle Krankheiten beseitigt sind. Es mußte so kommen in einer Welt ohne Not, Kummer und Sorge. Aber mir fehlt das einfach. Mir fehlt die Dramatik. Kühle Distanz hat jede Unüberlegtheit ersetzt. Ich komme damit nicht zurecht. Das ist es. Ich habe nichts gegen Euras. Es ist, aus meiner Ferne betrachtet, schön. Aber es bietet mir nicht das, was ich suche, natürlich vergeblich suchen muß. Weißt du, wenn du ein Kind zwingst, am Sonntagvormittag im Bett zu bleiben, weil sonntags der Schlaftag der Eltern ist, dann hast du eine Garantie: Dieses Kind wird, wenn es erwachsen ist, sein Leben lang am Sonntag ein Frühaufsteher sein. Es wird nie mehr von dem Gefühl loskommen, daß das Sonntagsmorgenbett heißer und erstickender ist als jeder andere Ort. Bestimmte Dinge leben in mir. Ich brauche sie. Mir bedeutet die Schönheit deiner Welt nichts, weil ihr genau das fehlt, was mich wecken könnte... Und unsere Welt. Sie ist anders. Hier findest du, was an lebenden Raritäten in den wenigen Schlupfwinkeln auf der Erde überdauern konnte. Hier bietet jeder Schritt Überraschungen. Gute und böse. Bei euch braucht man nur eine Quadratmeile zu kennen, und man findet nichts Ungewohntes mehr.“ „Nein“, widersprach ich, „das stimmt nicht. Ich kenne nicht zwei Städte, die sich gleichen. Nicht zwei Stadtteile in einer Stadt, die identisch sind. Nicht zwei Phonoteken, die Geschwister sein könnten. Sicher, Natur haben wir nur in gebändigter und überaus freundlicher Form, dafür ist aber die Architektur sehr vielfältig. Sie übertrifft die Natur, denn sie ist von vornherein ungefährlich und menschenfreundlich. Überall finden Begegnungen statt, Gedanken- und Gefühlsaustausch. Du solltest nur Mejoora kennen. Nur Mejoora, das einmal drei Städte war und nun eine Einheit ist...“ Mir war, als erröte Nora, als ich den Namen der Stadt nannte. „Hast du auch Träume, Nora?“ Sie sah nach vorn, startete den Motor und gab Gas. Ihre Augen waren ungewöhnlich hell, fast grau. Vielleicht waren das auch nur das Mondlicht und mein Sichtwinkel. Jedenfalls waren ihr Blick starr und ihre Bewegungen unruhig. Sie übersah sogar ein Warzenschweinloch, und es schüttelte uns gehörig durch.
„Träume“, antwortete sie gedehnt, „hat nicht jeder Mensch seine Träume? Natürlich habe ich Träume...“ „Bin ich auch in deinen Träumen?“ fragte ich. „Nein“, ihre Worte klangen hell, scharf, böse. „Wie kommst du auf eine solche Frage?“ Sie riß das Lenkrad herum und ich knallte gegen die Tür des Bils. Aber gleich darauf hatte sie sich und das Fahrzeug wieder in der Gewalt. „Eines Tages“, sagte sie, und es klang wie eine Entschuldigung, „wirst du alles hier verstehen. Ich meine wirklich alles. Nicht nur die Natur, sondern auch das andere. Dann wird diese Welt ihren Schrecken für dich verloren haben. Du wirst Leben finden, wo jetzt noch deine verworrenen Träume nisten. Freude und Leid wirst du entdecken. Aber bis dahin muß dein Auge noch klar werden. Dein Blick muß in die Tiefe vorstoßen und nicht an den oberflächlichen Konturen hängenbleiben. Das ist vielleicht ein Nachteil der Architektur. Ein wirklicher Nachteil. Du bist sehr auf Formen fixiert, auf Zweckmäßigkeit und Komfort.“ Als wir zurückkamen, hatte Viktor ein paar natürliche Lichter aufgestellt und entzündet. Ich kannte so etwas nicht, fand es aber nicht häßlich. Man nennt solche Lichter Kerzen. Das Zimmer war sehr warm, und die Dimensionen der Möbel verschoben sich. Überall waren Schatten, und die Schatten tanzten. Nora trug ein Kleid, das wie eine lebende Blütenansammlung aussah, und Viktor trug etwas Weites, das rot schimmerte. Das Haus war verändert, Auf dem Tisch stand eine wassergefüllte Glasschale, in der drei lila Blüten schwammen. Das alles war sehr schön. Ich hatte einmal als Lernender einen Blick in die luststeigernden Erotilaboratorien werfen können, in denen man versuchte, überlangweilte Zeitgenossen dahin zu bringen, daß sie wieder zu Libellinen gingen. Man hatte dort Kreisellichter und aromatisierte Blumenimitate verwendet. Es war ähnlich wie die Stimmung im Zimmer, wenn sich auch bei mir damals ein Gefühl heimlicher Peinlichkeit einstellte, ohne daß ich dies begründen konnte. Hier war das anders. Die zarten Lichter und die geheimnisvollen Schatten schufen eine Atmosphäre der Versöhnung. „Du bist eine eigene Liebe“, sagte ich Nora, nachdem wir uns gesetzt hatten. „Ich verstehe eure Euraskomplimente nicht“, sagte sie und legte ihre warme Hand auf die meine. „Er hat es nicht anders gelernt“, Viktor sah Nora groß an, „aber es kommt aus seinem Herzen.“ „Ich will euch etwas sagen“, begann ich nun meine Eröffnung, „ich besitze nämlich eine Schildkröte...“
„Nanu“, Viktor lachte, „wird bei euch neuerdings mit Tieren ge handelt? Ich denke, es ist verboten?“ „Nein, das ist kein Tier“, ich fühlte den Stolz in mir, „nichts, das durch den Sand schlurft oder Spuren hinterläßt. Es ist eine Schildkröte aus Metall. Sie kann reden und hat eine Postrakete zertrümmert. Mit einem blauen Faden. Mit glasigem Licht. Sie redet mich mit Commander Markus O'Delta an und hielt meine Hand eine Weile fest.“ Viktor und Nora erstarrten in der Bewegung. O Gott, wie sie mich ansahen. „Was hast du?“ erkundigte sich Viktor fassungslos. „Ein Manshadow“, triumphierte ich, „Ms 0.09 heißt es. Und ich will, daß sie von nun an uns allen gehört. Euch und mir. Sie stammt vom Solarschiff Archimedes.“ „O'Delta soll er suchen“, sagte Viktor rätselhaft, „und Ms 0.09 findet er nebenbei... Das gibt es nicht.“ „Wo hast du sie her“, drang Noras Frage an mein Ohr. „Aus dem Erdreich“, erwiderte ich, „ich habe sie freigelegt. War eine schwierige Arbeit, bei der ich mich sogar verbrannt habe...“ „Natürlich“, warf Viktor ein, „ballistisch korrekt. Ich hätte der Ms0.09-Geschichte Glauben schenken sollen. Weiter.“ Ich erzählte, wie es war. „Sie gehorcht dir also“, sagte Nora und sah mich unverwandt an. „Du bist ein großartiger Mensch“, sagte Viktor, und sein Lob tat mir wohl. Ich erhob mich und trat ans Fenster. Schob die Vorhänge zur Seite. Die Sonne erwachte. Es war der Moment, wo die Welt sekundenschnell brennend rot ist, ehe alles in das helle Tageslicht übergeht. Rot glomm der Himmel, und der Sand schien zu glühen. Die Bäume standen als schwarze Silhouetten davor. Ich sah die feine Purpurlinie und dachte an meinen metallenen Freund, der einige tausend Kilometer weiter tief im Wasser ruhte. „Er soll uns allen gehören“, sagte ich noch einmal. „Manshadow ist unbesiegbar“, erklärte Viktor leise, „er kann mit schnellen Teilchen, mit Neutronen, ganze Areale frei von biologischen Leben machen. Er kann Städte verglühen lassen und mit Antimaterie Gebirgsmassive zerkochen, und er kann mit dem Fadenlaser kleinste Ziele zwischen anderen heraussuchen und besiegen. Er ist gefährlich...“
Vernichtungsfäden Das Wasser stieg, verdeckte den Himmel, und die Pflanzen schienen tintig blau und blaßviolett. „Wir sind unter der Wasseroberfläche“, sagte Ainina, und die sanften Reflexe huschten über ihr Gesicht. „Hater, das ist ein wunderbarer Ort hier...“ Sie preßte den Mund zusammen. „Nur wird ihn Soyosa nicht sehen, weil sie entweder gar nichts mehr sieht oder auf einer der Weltraumbojen Dienst versehen muß ... Es gibt viele Soyosas, für die das hier nicht gebaut ist...“ „Nichts ist für alle da“, erwiderte Hater, „oder denken Sie, daß ich jemals auf einem fernen Planeten stehen werde? Ich muß es glauben, daß es sie gibt und andere darüber hingehen. Auch die frühe Schauspielkunst und die alten Tondichtungen werde ich nie erleben, obgleich ich Musik über alles liebe. Seit Austras. Es kann überhaupt nicht alles für alle da sein. Das geht nicht. Sie haben mir besser gefallen, als Sie an meinen Intellekt appellierten, oder auch, als sie mich beschimpften. Lassen Sie das Mitleid aus dem Spiel. Es steht ihnen nicht gut an.“ „Und wenn ... ich das Mittel stehlen würde“, die Frau sah Hater gerade an, „was dann?“ „Warum fragen Sie mich?“ erwiderte Hater. „Man würde Soyosa untersuchen und wissen, welche Nervenleiterstoffe in Ordnung sind, und würde sie genetisch wieder normalisieren. Das wissen Sie besser als ich. Sie kennen sicher sogar die Fachausdrücke.“ „Ja, ich kenne sie“, bestätigte die Frau. „Sie würden wahrscheinlich eine Reihe von Jahren keine Menschen mehr behandeln dürfen“, mahnte Hater, „Und außerdem ist es nicht einmal ungefährlich“, ergänzte er, „das werden Sie wissen, wenn ich mit meiner Erzählung am Ende bin...“ Die Frau setzte sich auf eine aufgewachsene Moosbank und sah hinaus in das Wasser. Sie antwortete nicht mehr, zeigte so an, daß ihr an dem Bericht gelegen war, den Hater unterbrochen hatte... „Ja“, fuhr er wieder ruhig fort, „da muß ich nun von einem Vogel berichten, weil auch er eine Etappe meines Lebens einleitete. Ein großer weißer Vogel: der Kakadu. Kaum daß ich das Zimmer betreten hatte, als er schon seinen mächtigen dunklen Schnabel öffnete, nervös mit seiner dicken Le derzunge zwischen den Hornschneiden hin und her fuhr und mich aus seinen rotumränderten kugligen Augen mißtrauisch musterte. Er stellte augenblicklich die Haube auf, und nur, wenn er Futter in meiner Hand entdeckte, beruhigte er sich, tat ungeheuer freundlich und kam O-beinig näher.
Dann reckte er mir seinen Kopf entgegen, wollte gekrault sein und ließ sich auch dann und wann dazu herab, irgendein aufgeschnapptes Wort von sich zu geben. Der einzige Schönheitsfehler an ihm war der linke Flügel, der lange Zeit gerupft und versengt aussah. Auch einige Brustfedern fehlten ihm, so daß man bei bestimmten Bewegungen seine nackte rosige Haut sehen konnte. Über seinen Erwerb will ich berichten. Ich saß auf der Terrasse und blätterte in einer Enzyklopädie. Da sah ich etwas auf dem Tisch, unmittelbar neben dem Buch, was mich alarmierte. Es war eine Schlange. An ihrem Kopf und der Farbgebung erkannte ich augenblicklich, daß sie ein giftiges Exemplar war. Ich saß da, rührte mich nicht und beobachtete sie. Die Wärme meines Körpers schien ihr zu gefallen, denn sie kam sogar näher, hob den dreieckigen Kopf und züngelte. Ich konnte die senkrecht stehenden Pupillen in den starren Augen ebenso sehen wie die nadelkleinen Zähnchen in ihrem Unterkiefer. Mein Herz hämmerte. Ich fürchtete schon, daß die Schlange das hörte. Ich konnte nicht aufstehen, ohne daß ich für das Reptil ein Angreifer war. Und wenn die Schlange näher kam, dann würde sie wohl spüren, daß ich ein Lebewesen war. Wieder würde sie sich angegriffen fühlen. Ich dachte darüber nach, ob ich nicht einfach das Buch packen, nach ihr schleudern sollte und mich gleichzeitig rücklings vom Stuhl fallen lassen sollte, als ein Fenster aufflog und Viktor im Rahmen sichtbar wurde. Er hatte ein silbriges Rohr in der Hand. Es blitzte auf, krachte ohrenbetäubend, und ich sah, wie die Schlange, nun kopflos, vom Tisch geweht wurde. Sie klatschte blutend und zuckend auf dem Terrassenboden auf. Langsam erhob ich mich und fühlte, wie das Blut in mein Gesicht zurückkehrte. „Viktor...“, sagte ich nur, und er kam heraus auf die Terrasse. „Kein angenehmer Besuch“, sagte er kummervoll, „beileibe nicht. Außer einem Zoologen würde er keinen Menschen freuen.“ „Niemand kann sich da freuen“, entgegnete ich und wischte mir hastig den erst jetzt ausbrechenden Schweiß ab. „Sag das nicht“, erwiderte er und hob den toten Schlangenleib auf, „die Gattung Dendroaspis, der auch dieses Tier angehört, lebte einst in Afrika, und man fürchtete sie mehr als viele andere Schlangen. Ihre Vertreter zählten zu den Giftnattern. In Asien und Amerika gab es die, wie es hieß, höchstentwickelten Reptilien, die Grubenottern. Und nach der Zusammenlegung der Tiere in Austras wurde immer wieder behauptet, daß die Dendroaspis angusticeps und die Lachesis muta sich kreuzen können. Das hier ist der Beweis, daß es kein Gerücht ist ... Hast du die beiden Vertiefungen hinter den Nasenlöchern gesehen?“ „Ich hatte anderes zu tun“, rief ich aus, „als mir die Nase des Tieres anzusehen.“ „Es ist wichtig“, vollendete er seine Rede, „weil in diesem Tier wahrscheinlich ein ganz neuer Gifttyp steckt... Und wenn man ein
Antiserum benötigt, muß man zuerst das lebende Tier und sein Gift haben. Über ein elektronisches Tier mit synthetischem Menschenblut bekommt man dann auch das Gegenserum ... Und das braucht man ja manchmal...“ „Wenn du es so siehst...“, sagte ich nachdenklich. Viktor betrachtete das Tier, und ich wußte jetzt, daß ich mich vor dem schlaffen Leib der Schlange ekelte. Ich hätte sie nicht anfassen mögen. „Du mußt sie auch nicht anfassen“, erklärte Viktor und schleuderte sie weit hinaus in die Steppe, „Ameisen werden sie fressen. Oder jemand anderes. - Du liest fleißig, wie ich sehe.“ „Es gibt so viele Tiere“, ich hob die Schultern, „die werde ich nie alle auseinanderhalten können. Aber ich finde die Abbildungen schöner als die in unseren Holographie-Video-Büchern. Obgleich alles nur flächig und starr ist und man nie hinter das Tier sehen kann. Solche Bücher sind doch wohl sehr alt?“ „Hm“, machte Viktor nur, dann legte er das Rohr, mit dem er das Untier getötet hatte, auf den Tisch. Es erzeugte ein hartes Geräusch bei seinem Aufprall und ich wurde aufmerksam. „Was ist das?“ fragte ich jetzt. Er erklärte mir die Funktionsweise der Waffe, zeigte mir, wie man damit umgehen muß. „Wir dachten uns“, beendete er seinen Vortrag gemächlich, „daß du heute einmal allein einen Ausflug machen wirst. Nora und ich haben zu tun, und schließlich muß jeder einmal flügge werden. Du kannst mit dem Bil fahren, denn du müßtest schon fahren können. Auch ohne Fahrschule...“ „Was ist eine Fahrschule?“ erkundigte ich mich. „Ein vergessener Begriff“, antwortete er nur. „Wenn du losziehst, lege den Gürtel an, den du von mir bekommen hast. Da ist ein automatischer Sender eingenäht, der uns immer sagt, wo du bist und wie es dir geht. Du kannst uns auch rufen, wenn du in Gefahr bist. Das ist erst einmal alles.“ „Verabschiedet mich Nora auch“, ich sah ihn erwartungsvoll an. „Sie hat keine Lust“, kommentierte Viktor meine Frage, „ihr ist manches auf die Nerven gegangen, was du von dir gegeben hast. Es empört sie, daß du ihr Begriffe schenkst, die einer Libelle würdig wären: eigene Liebe wert ..., danksagungsschöne Frau ..., neurotransmittererzeugender Anblick ... Das ist sie nicht gewohnt. Ich denke, du mußt erst noch lernen, hinter ihr makelloses Profil, hinter ihre ewig feuchten Augen und hinter ihre blauschwarzen Haare zu sehen. Manchmal hast du schon eine richtige Idee. Aber dann, wenn du vor Nora stehst, sind deine Überzeugungen nichts als Nebel, den die Morgensonne auflöst. Lebe wohl.“ Wenn man zum zweiten Frühstück gesagt bekommt, daß man frei von Sensibilität und Feingefühl ist, wenn einem lächelnd erklärt wird,
man ähnele diesen hölzernen Puppen, mit denen Kinder spielen, dann hat man keinen Wunsch nach weiteren Komplimenten dieser Art. Dann kann man sich nicht einmal an einer nagelneuen Montur aus Wildleder freuen, die man seit diesem Morgen trägt. Ich ließ, kaum in der Garage angekommen, den Motor an und gab Gas. Es knallte dumpf, und ich fand mich auf dem kleinen Kühler des Bils wieder, ich war gegen die Tür gefahren. Wieder nahm ich meinen Platz ein und beschleunigte. Es ging gut, so lange jedenfalls, bis ich versehentlich den Rückwärtsgang einlegte und an einer Yuccapalme zum Stehen kam, wobei ich mit dem Sandboden Bekanntschaft machte. Ein ungemein witziges Spiel. Schließlich lernte ich doch noch, auf drei Dinge zu achten: Gang, Steuerung, Gas. Ich sah nun auf. Vor mir lag die endlose Steppe, und ich konnte viertausend Kilometer fahren, ehe ich auf andere Menschen traf, jene Zoologen nämlich, von denen ich einige im Aer gesehen hatte. Dazwischen lebte kein Mensch. Ich erhöhte die Geschwindigkeit und hüpfte wie ein Känguruh über die Unebenheiten des Bodens. Besonders die schwer auszumachenden Erdhöhlen waren es, die mir zusetzten. Ich weiß nicht, wann ich damit begonnen hatte, aber ich sang. Es war über mich gekommen, besser: aus mir hervorgequollen. Natürlich hatte ich immer gesungen. Als Kleinkind, als Schüler, auf der KFAAkademie. Immer hatten wir gesungen, aber immer im Chor und nie ohne Instrumentation. Ich war nicht der Mensch, der als Einzel- oder Vorsänger Gesangsfacharbeiter hätte werden können. Jetzt aber sprengten die Töne wie von allein alle Schleusen und Hemmungen, und ich sang. Ich weiß nicht, ob es schön klang und richtig war. Darauf kam es auch nicht an. Der Gesang drückte einfach eine innere Stimmung aus, weitete meine Brust, erhob mich über das Bil und die Steppe. Er machte die Sonne groß und rund, überzog die bizarren Konturen der Pflanzen mit einem neuen, weichen Licht und glättete den rauhen Boden. Lange fuhr ich dahin, übte mich im Slalom und im Bremsen und fühlte erst spät, wie erschöpft ich war. Ich hielt an, stieg aus dem Bil, nahm, wie es Viktor empfohlen hatte, das Silberrohr mit mir und ließ mich im Schatten einer Baumgruppe auf die Erde fallen. Da lag ich nun, starrte in den Himmel, der, durch die Blätter gesehen, an ein Puzzle erinnerte, das irgend jemand unvollständig, aber bis jetzt richtig zusammengesetzt hatte. Ich blickte hinauf in das flirrende Licht. Ach, Junge, würde mein Instrukteur sagen, hast du etwas gelernt daraus? Weißt du jetzt, daß der Mensch das anpassungsfähigste Lebewesen des bekannten Teils unserer Galaxis ist. Es gibt wohl kaum einen Ort, den er nicht besiedeln könnte. Manchmal lohnt es sich schon, als Vorvater einen Affen zu haben, auch wenn das wenig schmeichelhaft klingt.
Hätte er das gesagt? Würde er mich wirklich loben? Kehlige Laute rissen mich aus meinen Träumereien. Nora und Viktor hatten beide von den Großkatzen gesprochen und mir die Bilder in der Encyclopedia animale austrasia gezeigt. Und sie hatten mich gewarnt. „Wenn dich eine solche Katze erwischt“, hatte Viktor einmal gesagt, „dann muß ich dich ins Zentrum für zelluläre Replikation schaffen, damit sie dich wieder zusammenflicken und aufbauen... Ich reise dann mit deinen Überresten nach Simenon...“ „Mejoora“, verbesserte ich automatisch. „Früher“, Viktor lächelte wissend, „war das ZZR in Mejoora. Heute ist es in Simenon. Dort ist die gesamte Mikrobiologie untergebracht.“ „Und warum heilt man nicht auf dem Weg der Zellreplikation die Organverpilzung“, fragte ich, und Nora und Viktor erstarrten mitten in den Bewegungen, traten an mich heran und sahen mich lebhaft und freundlich an. „Weil“, antwortete Viktor und legte mir zum erstenmal freund schaftlich seine Hände auf die Schultern, „der Pilz noch im Inku bationsstadium den genetischen Satz so verändert, daß ein sogar restlos neu geschaffener Leib schon wieder infiziert wäre. Man hat es ja versucht. Vergeblich.“ Das kehlige Knurren verwandelte sich in ein schwaches Grollen. Ich richtete mich halb träge, halb interessiert auf. Das erste, was ich sah, waren zwei grasgrüne, von einem inneren Licht aufgehellte Augen. Sie sahen mich starr an. Dann gewahrte ich den Leib. Ein wahres Feuerwerk von Rottönen verschönte das Fell, veränderte sich bei der kleinsten Muskelbewegung. Zwischen den schwärzlichen Lippen erkannte ich eine rote Zungenspitze, die das Tier einzuziehen vergessen haben mochte. Es war schön und elegant. Es war vollendet. „Hör mal“, sagte ich leise, denn ich wollte es nicht stören, „du bist schön. Du gefällst mir. Ich werde dich nie vergessen.“ Es drehte die Ohren so, daß es meine Worte auffing, und setzte sich nieder. Der lange Schwanz fegte lose Blätter und Staub zur Seite. „Was meinst du“, fragte ich, „willst du nicht mein Freund sein? Diese Evolution, was ist das schon? Ich kann dir Fleisch bringen. Du bist dann satt und hast keinen Grund, mich oder andere anzugreifen, he... Wie ist es? Kann man nicht Freundschaft schließen...“ „Zurück, Amon“, kommandierte unerwartet der Gürtel, „zurück! Nimm das Rohr und schieß endlich. Ein Tiger ist kein Koala!“ Das war das Ende des Paradieses, der Verbrüderung von Mensch und Bestie. Viktor hatte die Illusion zerstört:
Die große Katze sprang auf, und Lichtreflexe flossen wie helle Flämmchen über das Flammenmeer ihres Fells. Sie duckte sich und öffnete das Maul. Ich sah die Eckzähne, die wie weiße, mächtige Dolche blinkten, sah die schmal werdenden Augen, die genau auf meine gerichtet waren, und hörte das zornige Grollen aus der Kehle. Ich hob das Rohr, richtete es auf das Tier, blickte durch das Drahtoval. Im Fadenkreis erschien ein Schnurrhaar, dann die schwarze lederne Nase. Ich suchte weiter. Nun sah ich das Auge, vielfach vergrößert. Es hätte ebensogut ein schillernder See sein können, über den ich hinflog. Meine Hände tasteten an dem Rohr entlang, während ich in dieses Seenauge blickte und ich fand automatisch, was ich jetzt suchen mußte. Der Zeigefinger meiner rechten Hand traf auf einen Widerstand, der einfach störte. Man mußte ihn überwinden. Das Seenauge schwebte im Fadenkreuz. Sie springt, schrie der Gürtel, drück endlich ab, sie springt doch. Mein Zeigefinger überwand den Widerstand. Ein schmerzhafter Ton durchzuckte meinen Kopf, und in der Luft hing ein blauer Faden. Die große Katze stürzte vor meine Füße, und ihr Kopf war nichts als ein verschmorter Klumpen. Aus dem schwärzlichen Fleisch blickten die Fangzähne hervor. „Das müßte sein“, sagte ich laut, „hörst du mich, Tiger, es mußte sein.“ Ich habe getötet, dachte ich gleichzeitig, getötet. Von eigener Hand. Bewußt. So hat also dieses Austras eins einen Sieg über Amon Deltar errungen, einen teuflischen Sieg... „Sie werden meine Tapferkeit loben, Tiger“, sagte ich noch, „aber ich pfeife auf diese Begriffe. Ich pfeife darauf...“ Immer wieder ging mir das Geschehen durch den Kopf. Ich ging zu Fuß, sah immer wieder hinter mich, aber das tote Tier war nicht mehr zu erkennen. Was ist das, dachte ich, Evolution? Da flüchten kreischend und schreiend die Affenmenschen vor dem mächtigen Säbelzahntiger, und dann sehen sie sich um und erkennen, daß der Verfolger in ein Loch eingebrochen ist und nicht mehr herauskommt. Vielleicht ist sein Fuß von einer scharfen Bambusspitze durchbohrt. Das Kreischen verebbt, und sie beobachten alles von weitem. Dann aus der Nähe. Unerwartet hebt einer der Horde einen Stein auf, schleudert ihn der Großkatze gegen den Schädel. Das Tier brüllt herrisch auf. Mehr nichts. Es brüllt nur. Heraus kann es nicht. Die anderen folgen dem Beispiel. Steine fliegen, immer neue Steine, und der Säbelzahntiger brüllt immer kläglicher. Die Kraft der Schwachen fließt in einer gemeinsamen Aktion zusammen. Und diese Kraft reicht, den Starken zu besiegen. Ein für allemal. Und aus dem Stein wird der Bogen und das Schwert.
Ich habe eine Tür aufgestoßen, einen neuen Raum betreten. Wie jene Affenmenschen damals. Und entweder man nimmt heulend Reißaus und verzichtet auf diesen Raum, oder aber man setzt sich durch. Das ist Leben. Ich kann mich fressen lassen oder zurückschlagen. Ich trete, wenn man mich treten will, und töte, wenn man mich töten will. Auch sich wehren wollte gelernt sein. Ich hob das Feuerrohr, zielte auf eine vertrocknete Kaktee. Der glasige Strahl durchstach die Luft, und die Pflanze glühte auf, zerfiel zu Staub. Ich zielte auf ein einsames Wölkchen und löste es in einen himbeerfarbenen Regen auf. Einen morschen Ast, den ich in die Luft warf, verfehlte ich. Schließlich entdeckte ich jenen milchhellen Fleck in einem dunklen Geäst. Und der Wind schien das Ding zu bewegen. Sorgfältig zielte ich und drückte ab. Kreischend stürzte eine weiße Federwolke auf den Sand und lief zeternd und ungeschickt davon, kippte um, rappelte sich auf und versuchte erneut zu entfliehen. Da wurde mir das Feuerrohr aus der Hand gerissen. Ich blickte in Viktors flammende Augen. Wortlos bückte er sich, hob eine Handvoll kleiner Steine auf und warf sie auf einmal in die Luft. Dann riß er das Rohr hoch, drückte immer wieder ab. Der Himmel glomm rotviolett auf, und dazwischen schwebten weißliche Feuerkugeln: die einstigen Steine. Alles atmete Hitze. Es roch nach Ozon. Entsetzt betrachtete ich den Funkenregen, der über der Steppe niederging. „Schießen kannst du nicht“, sagte Viktor kalt, „nur vernichten. Warum stellst du nicht auf Serie und zerstörst die halbe Steppe?“ Der Glanz und die Lichtpunkte in seinen Augen erloschen. Er war nachdenklich, enttäuscht. „Woher soll ich wissen, daß es ein Vogel ist?“ antwortete ich zögernd. „Es fing damit an, daß ich, einer Weisung folgend, ein Tier tötete...“ „Du mußtest es tun“, Viktors Augen blickten wieder so wie Immer, „glaube ja nicht, daß du den Tiger eingeschläfert hättest mit deinen Angeboten. Deine Sprache waren neue Laute für ihn, und er prüfte zuerst, ob damit eine Gefahr verbunden ist. Er hätte sehr schnell erkannt, daß dies nicht der Fall ist, und dann hätte er schneller reagiert, als du es dir vorstellen kannst...“ Kein Paradies, dachte ich; das Wort der Vernunft bringt die Bestie nicht zur Besinnung. Vielleicht eine Zukunftsaufgabe: unsere Sprache so stark und mächtig zu gestalten, daß sie die Waffen ersetzen kann. Hier und auf den wilden Planeten. Was für eine Aufgabe...
„Nora wollte dich begleiten“, Viktor setzte sich auf den Sand, „denn sie hatte Angst um dich. Aber einmal muß man die eigenen Füße gebrauchen, wenn sie nicht verkümmern sollen. Stimmt das nicht, Kommufacharbeiter?“ Ich bestätigte das. „Hier hast du zwei dicke Lederhandschuhe“, sagte er und warf sie mir vor die Füße, „die ziehst du über die Hände, und dann greifst du dir den Kakadu. Du wirst ihn gesund pflegen. Sieh dich aber vor; er kann mit seinem Schnabel sogar Paranüsse knacken, und die sind härter als Menschendaumen.'' Während ich durch den Sand ging, mich dem kreischenden Kakadu näherte, dachte ich daran, daß ich tatsächlich noch viel lernen mußte, besonders diese Unbestimmtheiten. In Euras ist alles klar: Wer zu einer Libelle geht, wird lieben. Ein Planer plant. Ein Programmierer programmiert. Ein Leitungsmitglied lenkt. Koordinatoren koordinieren, und Raumfahrer bewegen sich durch den Raum. Das ist eindeutig. Aber Viktor: Einmal ist er Dozent, dann wieder Ratsmitglied und Befehlserteiler. Oder gar Nora: In ihr vereint sich alles, was man sich vorstellen kann. Und dabei ist sie noch so jung. Doch sie will es nicht sein, wehrt sich dagegen, wäre lieber älter... So bin ich also zu meinem Kakadu gekommen, der mich täglich grimmig begrüßt und mich an den sinnlosen Schuß erinnert. Ein kluger Schachzug von Nora und Viktor. Sie erziehen mich mit dem Feuerrohr im Bil zur Friedensliebe und zur Achtung vor dem Leben und sorgen dafür, daß ich an eine Abreise nicht denken kann, denn schließlich muß ich meinen Kakadu pflegen, diesen elenden Schreihals mit dem bepuderten Gefieder und den rotumrandeten Augen, die aussehen, als seien sie von zu vielem Lesen chronisch entzündet... Nicht lange danach habe ich Nora in ihrem Zimmer aufgesucht. Es war wie immer: Sie saß in ihrem Lehnsessel und las in einem der alten Bücher Gedichte. „Du hast dir noch nicht meinen Kakadu angesehen“, sagte ich ein wenig vorwurfsvoll. „Ich kenne Kakadus“, antwortete sie. „Aber nicht meinen“, widersprach ich. „Stimmt“, sie hob die Augen, sah mich an, lächelte, „einen Kakadu mit verbranntem Flügel bekommt man wohl nicht alle Tage zu Gesicht... Übrigens scheinst du erwachsen zu werden.“ „Danke“, sagte ich, „und wenn du mir einen Wunsch erfüllen willst, dann lege einen ganzen Tag diese Bücher weg und tobe mit mir herum...“ „Du liebst mich“, erkundigte sie sich, „stimmt das?“
„Ja“, sagte ich, „ich liebe dich. Seit ich dich gesehen habe. Du ahnst nicht einmal, wie traurig es mich macht, daß du nicht wenigstens zwei Jahre die Erziehung einer Libelle genossen hast. Es würde alles viel einfacher machen.“ „Dummkopf“, sie hob ärgerlich das Buch auf, als ob sie damit werfen wollte, „so meine ich das nicht... Kannst du dir vorstellen, daß dich ein Mensch verrät?“ „Das müßtest du mir erst erklären“, wollte ich wissen, „wer sollte mich denn verraten?“ „Ich habe es getan.“ „Aber wie kannst du mich verraten“, fragte ich, „wenn wir uns erst hier begegnet sind?“ Ich sah in ihre Augen und wieder zuckte der Gedanke auf: Es waren diese Augen, an die du dich erinnerst. In diese Augen hast du gesehen. Sie gehörten einer großen, einer schweigenden Frau. „Was machst du dir für Gedanken“, sagte ich dann und hob sie aus ihrem Sessel, „laß das... Es ist diese Landschaft, die dir solche Ideen eingibt. Der Wind und der Sand und die Enge hier... Sieh mal, ich habe eine Postsendung zerstört. Ich habe es gemeldet. Man hat mir nicht den Kopf abgerissen, sondern mir nur den Unwillen des Rates ausgesprochen. Dann wurde die Post rekopiert und erneut auf Tour geschickt. Alles ist korrigierbar, wiederholbar, neu zu machen. Wenn du dir einredest, du hast mich verraten - ich weiß schon, damals am ersten Abend, als ich auf diesem knarrenden Bett saß und deine Schritte verhallen hörte -, dann korrigiere diesen Verrat doch einfach. Es ist nicht schwierig... „ Ich trug sie die wenigen Schritte bis zur Liege. Dort legte ich sie ab, kniete mich nieder und umfaßte sie. Auch sie legte ihre Arme um mich. Ich suchte mit meinen Lippen ihren Mund. Eine wahnsinnige Glut durchströmte mich. Das war nicht die Empfindung, die man hat, wenn man eine Libelle berührt. Es war, als verlöre ich die Besinnung. Ich fühlte, schmeckte ihre Lippen, als ein brennendes Gefühl mich in die Wirklichkeit zurückbrachte. Meine rechte Gesichtshälfte brannte. Nora hatte mich geohrfeigt. Sie saß aufrecht im Bett, und in ihren Augen waren Haß, Abscheu, Verzweiflung. Vielleicht alles auf einmal. Ich sagte kein Wort, hielt mir die Wange und begriff nichts mehr. Auch sie sprach lange nicht. „Reise in die Zeit“, sagte sie schließlich, „reise in die Vergangenheit. Dort findest du ein Mädchen, das du liebst. Stell dir vor, du liebst sie. Und du weißt, wenn du sie küssen willst, daß sie schon tausend Jahre tot ist und daß auch deine Maschine sie nicht lebend in deine Zeit tragen kann. Wie würdest du dich fühlen?“ „Nicht anders als jetzt“, erklärte ich und strich mir erneut über die schmerzende Wange, „kein bißchen anders...“
Da aber fiel mir das Märchen wieder ein. Jemand wollte das haben, was nicht mit Diamanten zu bezahlen war: die Zeit, eine verlorene Zeit, die Vergangenheit. Und wenn die Zeitmaschine hält und der Reisende nach der Geliebten sieht, findet er nichts als ihren blind gewordenen Schmuck. Nichts bleibt ihm als die Erinnerung an Küsse und Wärme. Nie holst du zurück, was vorüber ist. Nie... Etwas zupfte an meinem Stiefel. Ich drehte den Kopf und sah in das aufgeplusterte Gesicht meines Kakadus, der durch die offene Tür hereingewatschelt war und nun meinte, da er mich kniend auf der Erde fand, ich wollte mit ihm spielen.
Im Land der Wunder Es war ein heller und glasklarer Morgen, der die Bäume und Hügel, die Sträucher und Termitenbauten ferner erscheinen ließ, als ich - mitten beim Frühstück - einen unangenehmen Gedanken wälzte. „Ich komme mir wie eins der Beuteltiere vor“, erklärte ich ungehalten, „wenn ich nicht bald etwas Sinnvolles tun kann. Ich schule meine Augen und schule meine Augen und schule meine Augen und werde es noch tun, wenn ich zu Grabe getragen werde.“ Nora und Viktor lachten gleichzeitig auf. „Weiß ich immer noch nicht genug?“ empörte ich mich. „Ich gebe ja zu, daß das Schießen mit dem Feuerrohr eine dumme Sache war. Aber wenn du mir Farben und Pinsel gegeben hättest, hätte ich die ganze Steppe blau gestrichen. So ist das. Jedes Ding verführt den Menschen, es zu benutzen. Meist fragt man erst hinterher, ob das überhaupt gut ist.“ „Ja“, sagte Viktor, „dann ist es wohl soweit. Ehe wir noch einen Generalstreik auf Archimedes erleben, wollen wir zustimmen. Nora, sag es ihm.“ „Du wirst heute in das Archiv gehen“, sagte Nora, und ihre Augen wurden groß und strahlend. „Wie bitte?“ Ich wurde steif und wuchs nach oben. „Du gehst ins Archiv“, wiederholte Nora, „eine erste Sondierung. Schau dich um. Dann werden wir weitersehen.“ „Und wo ist das Archiv?“ fragte ich und hatte es plötzlich sehr eilig, mit dem Frühstück fertig zu werden. Viktor deutete mit dem Zeigefinger nach unten. „Du spazierst darüber hin“, sagte er. „Und die Schatzkammer hat auch eine Tür“, forschte ich. „Hat sie“, Viktor erhob sich, „aber eins merke dir bitte: Da unten sind allerhand Gewächs- und Bruteinheiten. Die sind alle ungefährlich.
Und dann gibt es noch zwei Gewächshäuser, die so groß sind, daß man sie nicht übersehen kann. Die wirst du nicht betreten. Die Türen sind gesichert. Komm also nicht auf den Gedanken, daß die Türen vielleicht klemmen. Später werden wir auch diese Räume betreten. Später.“ Ich erinnerte mich, daß die Sebals, laut Personeninformator, auch astrozoologische und -botanische Forschung betrieben. Das war es also. „Ja“, sagte ich, „ich mache einen Bogen.“ Der Aufzug war so winzig, daß ihn nur eine Person betreten konnte. Nach noch nicht einmal zehn Sekunden Fahrt öffnete sich erneut die Tür, und ich stand in einem halbkugeligen Raum, und mir gegenüber, aus Stein gehauen, und mit edlem Gesicht, stand... ich. Ja, ich stand da. Älter, als ich tatsächlich war, so würde ich vielleicht in zwanzig Jahren aussehen, aber das war ich. Ich trug die Kombination eines Raumpiloten. Ein Sterbender lag zu meinen Füßen, sah mich an und hielt mir etwas entgegen, das ich für ein Herz hielt. Zwei Männer nahmen Abschied voneinander. Sterbend reichte der eine dem anderen etwas, was jener im nächsten Augenblick entgegennehmen würde, wenn die Figuren sich bewegen könnten. Was dann geschah, läßt sich schwer in Worte fassen. Ich sah, wie sich das Gesicht des Sterbenden veränderte. Es war kein Mann mehr, der da lag, sondern das Mädchen aus Wendynck, und sie starb auch nicht mehr, sondern gab mir ihr Herz zum Zeichen ihrer Liebe. Dann wieder bohrten sich Schlangenköpfe durch die Wände. Eine Schlange besaß zwei angesenkte Kakaduflügel und Hornschneiden, mit denen sie Steine zerknacken konnte. Ich glaubte Nora zu sehen, die behangen war mit altertümlichem Schmuck, und wir küßten uns, und währenddessen jagten wir durch eine Zeitwolke dahin, und es klirrte, und Nora war verschwunden, und nichts als ihre Ringe, Ketten, Armreifen lagen auf dem Böden. Ein Säbelzahntiger sprang durch die Luft und prallte gegen mich. Er hatte Viktors Augen und sprach: Man muß sich überzeugen, daß es ungefährlich ist... „Ich bin verrückt geworden“, sagte ich laut, „ich bin nicht mehr Amon Deltar...“ Dann wieder schien mir das Denkmal aus einem genoppten Schaumstoff zu bestehen, und es zeigte Nora in ihrem Blütenkleid, zeigte sie mir in der Wanne von Gledis Wehmuurd, und als ich zu ihr wollte, versperrte mir ein Gitter aus silbrigen Todesrohren den Weg. „Ja, ich liebe dich“, sagte ich gegen meinen Willen laut, „und die Lösung ist einfacher, als du denkst: Ich werde in deiner Zeit bleiben. Vielleicht macht mir die Gleichzeitigkeit meiner Doppelexistenz etwas zu schaffen, aber der liebende Mensch. kann jeden Zeitschleier zerfetzen...“
Ein silberhelles Gelächter drang an mein Ohr. „Such mich, Liebster, such mich...“ Ich mußte gegen den Wahn etwas unternehmen. Das war mir klar. Was hatte ich als letztes hier im Archiv erfahren? Man muß die Realität gegen den Wahn stellen. „Klammerraumreisen“, dozierte ich also heftig, „sind solche Reisen, bei denen Start und Ziel um maximal vier Sekunden verschoben sind. Für die Raumfahrer sind Jahrzehnte vergangen, und auch das Material ist zerkratzt, fleckig, gealtert. Man wechselt während solcher Reisen immer nur die Räume, nicht aber die Zeit. Ein merkwürdiges Bild, wenn die Rakete abhebt, verschwindet und unmittelbar darauf wieder auftaucht und landet. Noch ist der Startplatz heiß, da wird er erneut beansprucht. Wer zum Abschied erschienen ist, begrüßt auch zugleich die Heimkehrer und wundert sich über die Veränderungen, die mit den Reisenden vor sich gegangen sind. Die unterwegs Geborenen sind oft schon Erwachsene. Man sollte solche Abschiede nicht zulassen. Die Verwirrung ist oft ungeheuer, selbst wenn jeder weiß, was ihn erwartet. Trotzdem glauben sie nicht, was sie sehen. Und die Verunglückten feh len ganz und müssen erst wieder aus den gespeicherten Geninfor mationen aufgebaut werden. „Such mich, Liebster...“ „Nora?“ „Such mich doch... Ich halte es nicht mehr lange ohne dich aus...“ Eine Wand klappte auf, und ich betrat sehr eilig eine unterirdische Straße. „Ja, komm, komm doch“, flüsterte es dicht bei mir. „Das ist kein Wahn, Nora“, sagte ich laut, „ich höre dich doch.“ „Natürlich hörst du mich“, flüsterte es erneut. Aus einer Querstraße kam ein dreirädriges Gefährt gerollt, und ich sprang erschrocken zur Seite. Es stoppte etwas holprig, und ich sah, daß es zwei Sitze hatte. Auf einem hockte vornübergebeugt, an einen sehr alten, dürren Mann erinnernd, ein Steuerrobby, während der zweite Platz frei war. „Nein, Herr Deltar“, sagte der Robby schnarrend, „das ist kein Wahn. Ich stehe zu Ihren Diensten. Steigen Sie ein, ich werde Sie fahren.“ „Mach das bloß nicht“, wisperte die Stimme, „er will dich in eine Falle locken, er wird dich einsperren und beimpfen. Tu es nicht.“ Ich zögerte, betrachtete die Maschine, deren ausdruckslose Glasaugen den Gang entlangblickten. „Sie scheinen zu zögern“, sagte er von oben herab, „zweifeln Sie etwa an meiner Fahrtauglichkeit?“
„Natürlich nicht“, antwortete ich und stieg zögernd auf. „Und wohin fahren wir?“ „Ich fahre, wie Sie es befehlen.“ „Ich kenne mich aber nicht aus“, gab ich zu bedenken, „fahren Sie also schön langsam.“ Lautlos rollten wir den Hauptgang entlang, an Seitenstraßen vorbei, in denen ich verschiedenartige Gegenstände zu erkennen glaubte. „Wir haben jetzt das Archiv erreicht, mein Herr“, gab der Robby Auskunft, „wenn Sie sich umschauen wollen...“ „Denkst du, ich bin im Archiv“, flüsterte plötzlich Nora, „was soll ich zwischen Papieren und Staub? Wir wollen doch leben und lieben... Nicht im Archiv.“ Ich zweifelte allmählich an meinem Verstand. Woher kamen diese Stimmen? Es hatte sich viel in diesem Archiv angesammelt. Zudem fehlte Ordnung. Nichts war alphabetisch oder numerisch geordnet. So dauerte es endlos lange, bis man gefunden hatte, was man suchte. Ich sah mir alles an, ließ die Projektowände aufleuchten und wieder erlöschen und war nur halb bei der Sache. Immer erwartete ich eine neue Botschaft von Nora. Ich würde heute, so war mir klar, die Rede auf das Versteckspiel bringen, und - ich würde mich auch nicht mehr abweisen lassen. Wenn sie mich hier unten narrte, sich als Kobold entpuppte, dann konnte sie auch über der Erde meinem Wunsch nach einer gemeinsamen Nacht entsprechen. Nachdem ich mich ein wenig mit der Technik des Archivs vertraut gemacht hatte, verließ ich es. „Bitte steigen Sie auf, mein Herr“, sagte der Robby, und Nora unzweifelhaft war sie wieder da - stimmte zu: „Komm schnell, Amon, komm zu mir.“ Ich war wie ein gespannter Bogen. Wo mag sie sein, dachte ich, wo mag sie sein. „Laß dich in den Mitteltrakt fahren“, flüsterte sie, „und befreie mich aus meinem Gefängnis.“ „Zum Mitteltrakt“, sagte ich bestimmt. Schien es mir nur so, oder sah mich der Robby länger als gewöhnlich an. Wir rollten wieder los, und ich blickte in Seitenstraßen hinein, gewahrte die Bruteinheiten in den Wänden. Schließlich rollte das Fahrzeug aus. „Der Mitteltrakt“, sagte der Robby. Ich stieg ab, stand unmittelbar vor den Gewächshäusern und überlegte. Ich durfte sie nicht betreten. Deutlich sah ich den Feuerschimmel, der die gläsernen Wände hochkroch, unter der Decke hing und von Zeit zu Zeit niedersank.
Eine gleichförmige, ermüdende Bewegung. Und immer wenn der Feuerschimmel zu Boden sank, waren die nebligen Säulen zu sehen, die die unwirklichsten Pflanzen darstellten, die ich je gesehen hatte. Aus den Nebensäulen sprühten Funkenentladungen. Ununterbrochen. Möglich, daß diese die Funktion der Blüten übernahmen und Insekten lockten. Wer weiß. Weiter links stand ein rabenschwarzes Gewächs, dessen Blätter konvulsivisch zuckten. Berührte aber der Feuerschimmel eines der Blätter, schnellten aus dem Pflanzenstamm dünne Pfeile hervor, die Fetzen aus dem Feuerschimmel rissen und sie in der schwarzen Pflanze verschwinden ließen. Ich sah auch die wuchtige durchbrochene Kugel, die Tausende von Stacheln aufwies und plötzlich durch das Gewächshaus rollte, dann an einer anderen Stelle unbeweglich liegenblieb. An der Decke hingen dünne, ineinanderverschraubte Spiriolen, aus denen hartschalige Würfel, Oktaeder und Kugeln quollen, die schwerfällige Bewegungen vollführten. Schließlich sah ich auch die weniger auffälligen Vertreter ihres Stammes. Da waren moosige Schuchteln und die sogenannte Kaltpflanze, in deren Umgebung sich ewiges Eis bildete, da sie allem, was sie berührte, reine Energie in Form von Wärme entzog und sich so ernährte. Sie nahm darüber hinauf nur bestimmte Minerale auf, schied nichts aus und teilte sich ab und an. Und doch war sie ein Lebewesen. Eine Pflanze. Dieser kolonisierende Wärmefresser, wie er offiziell hieß, war mir schon bekannt. Es dauerte auch nicht lange, da kamen die Wärmefresser an die Scheibe, und mir wurde kalt. Ich wechselte schnell meinen Standort. Schließlich entfernten sich die Wärmefresser enttäuscht. Ich war als Beute ungeeignet. Als sie in die Nähe der Stachelkugel kamen, wurden sie milchig hell und winzig klein und zogen in einem Bogen um die Kugel herum. Gerade so, als fürchteten sie sich. Aber sie passierten unbeschadet die Kugel, schichteten sich übereinander und kamen erneut auf mich zu. Ich fror am ganzen Leib. Meine Zähne klapperten aufeinander. Da näherte sich der Robby und tippte mit einem sogenannten Frostowerhaken gegen die Scheibe. In panischer Flucht stoben die farnähnlichen Wärmefresser auseinander und verschwanden in der Tiefe des Raumes. Ich setzte langsam meinen Weg fort, wollte soviel wie möglich sehen. Dichtgedrängt wuchsen Buckelfarne, Schlummerlamotten, Hohlfingergräser und dreibeinige Zinsser. Klangzirren sangen me lodisch, und aromatische Blucken kamen näher, um nicht übersehen zu werden.
Ich stieg, noch immer frierend, eine Treppe nach oben, ließ die niederen Pflanzen hinter mir und blickte durch Panzerglas in einen weitläufigen Saal, in dem nur drei Bäume standen. Zuerst glaubte ich, es wären Eichen, aus Euras vielleicht. Aber das stimmte ganz und gar nicht. Die Äste dieser gewaltigen Gewächse füllten den Raum aus. Sie waren, wie der Stamm auch, dunkelblau, lackglänzend, und sie re flektierten das unbestimmte Licht. Die langen, schmalen Blätter bildeten den lebhaftesten Kontrast, denn ihr mattes Hellorange stach gegen die hölzernen Teile ab, ohne daß sich die beiden Farben nicht vertragen hätten. Zwischen den Blättern entdeckte ich Früchte. Die Bäume waren über und über mit ihren Samen bedeckt. Die Früchte waren groß wie die Faust eines Mannes, und in ihrer Form erinnerten sie an ein stilisiertes Herz eines Säugetieres. Ihr Farbton war ein sattes Violett, das von einem karminroten Adernetz durchzogen wurde. Nur die Spitzen der Früchte funkelten blaßblau. Es schien mir unglaublich, denn diese so gegensätzlichen Farben harmonisierten miteinander. Plötzlich entstand ein Bild in mir: Ein Dreieck rast in einen Feuersturm. Was war das für ein Bild? Das war Marianne. MS 0.09 hatte mir diese Bäume schon einmal gezeigt. Sollte sich hier und jetzt ein Kreis schließen? Hatte mich Manshadow nach Austras delegiert? Oder war sie von hier gekommen? Und wieder ein Bild in mir: Eine Gebirgswand, die den Himmel bedeckt. Risse in den Felsen. Glut, die von allen Seiten herankriecht. Kochendes Wasser, das himmelhoch aufsteigt. Eine brennende Sonne. Nebel, schwarz und fettig. Und wieder der Gleiter, wieder das Dreieck. Er nähert sich. Fliegt über eine durchglühte Fieberlandschaft. Glutseen. Zerkochendes Gestein. Säulen aus reinem Licht, die in den Himmel steigen, zusammenbrechen. Schwarz der Himmel. Luftleer. Der Gleiter muß es schaffen. Er muß. Tyrsos! Das elegante Fahrzeug wendet. Durchstößt eine Metallsäule. Rast in eine feurige Lache... „Amon“, flüsterte Nora genau in diesem Moment, „Amon, wo bleibst du denn? Wir brauchen uns doch so sehr...“ „Schluß jetzt“, stieß ich energisch aus und wischte mir den Schweiß von der Stirn, „das ist mehr als genug. Ich habe keine Lust, mich weiter foppen zu lassen. Wenn du etwas von mir willst, kannst du es haben. Aber dort, wo die Sonne ist und der Wind, nicht in einem Treibhaus voller desolater Automaten, schizoider Pflanzen und halluzinogener Bäume. Wenn es dir nur hier Spaß macht, werde ich dich in ein Sanatorium begleiten, und du wirst erneut lieben lernen auf die einfachste Weise. Fürchte dich nicht, denn ich werde dir helfen, Nora... Ich verspreche es...“
Ich betrat Noras Zimmer. Natürlich saß sie wie immer da und hielt das Buch in der Hand. „Du brauchst dich nun nicht mehr vor mir zu verstellen“, eröffnete ich grußlos das Gespräch, „ich weiß alles und verstehe endlich, warum du dich in die Bücher flüchtest, einen geistesabwesenden Eindruck machst. Es ist die Angst vor deinen eigenen Wünschen. Ich akzeptiere, daß im Archiv eine erregende Atmosphäre herrscht und man dort die verrücktesten Traumbilder produzieren kann, die denkbar sind. Aber es ist ebenso schön, wenn man sich einfach an den Händen faßt, wenn man im hellen Schein der Sonne...“ Ich wartete, hoffte auf ein Geständnis, eine Reaktion. Aber sie schwieg und sah mich nur groß und nachdenklich an. Ich verlor den Faden. „Meinst du nicht“, fragte ich ein wenig irritiert, „daß auch Sonne, Wind und Sand schön sind?“ „Habe ich das bestritten?“ Ein mütterliches Lächeln umspielte ihre jungen Züge. Ich hob die Schultern. „Natürlich war es lustig“, versuchte ich es auf andere Art, „ich habe ganz schön geschwitzt beim Gewächshaus...“ „Gefroren wolltest du wohl sagen“, berichtigte sie mich. „Wieso gefroren?“ Ich verstand nicht. „Ich habe geschwitzt“, sagte ich, „aber du hast es auch eingesehen, daß das da unten Unsinn ist. Sonst wärst du ja nicht hier... Nora, ich liebe dich. Ohne Spuk und Versteck.“ „Und wie liebst du mich?“ fragte sie leise. „Wie der Mann, der durch die Zeit reist“, stieß ich hervor, „nur klüger als jener: Denn ich kann in deiner Zeit, in deiner Welt bleiben und habe mehr als deinen blind gewordenen Schmuck. Ich habe dich.“ „Nur so?“ fragte sie geduldig. „Was meinst du?“ „Ich frage dich, ob du mich nur so liebst. Nur, wie du es geschildert hast?“ Ihre Stimme klang hilflos. „Wie soll ich dich denn sonst noch lieben?“ „Na, man kann auch jemanden wie seine Mutter lieben“. „Das würde mir nie in den Sinn kommen“, beschwor ich sie. „Es muß dir aber in den Sinn kommen“, sagte sie entschieden, „denn ich bin deine Mutter, Amon...“ Da bemerkte ich die beiden Tränen in ihren Augen und wußte, daß dies die Wahrheit war. Der Raum verlor für mich seine Konturen,, wurde eisig, glatt und ohne einen Halt für mich. Ich habe dich verraten, Noras Satz fiel mir ein, und: Einmal noch sah er die uralte Frau, dann aber war sie vom Erdboden verschwunden. Und wenn er sie küssen will, weiß er, daß die, die er in den Armen hält, schon tausend Jahre nicht mehr lebt... Denn ich bin deine Mutter, Amon!
Glockenschläge dröhnten durch den Raum. Mejoora. Maschinenkind aus Mejoora. Die Augen. Ich habe sie gesehen. Seit ich sehen kann. Sie war bei mir. Immer wieder. Zuletzt schweigend. Wortlos. Scheu hob sich mich auf. Das ist sie. Das ist sie gewesen. Nicht Maschinenkind. Nicht plasmatischer Wechselbalg. Es tut ihr leid, mich so behandelt zu haben. Was geschah da nur? Lachte dieser Amon Deltar, oder weinte er? Schrie oder flüsterte er? Der Raum und Austras waren konturenlos, waren von Licht überfüllte Schläuche, die nur einen Weg erlaubten. Wieder preßte sich Amon Deltar an die Frau. Er bedeckte ihr Gesicht, ihren Hals, die Schultern und Brüste mit Küssen. Nicht mit den Küssen eines erfahrenen Mannes, sondern mit Küssen kindlicher Hingabe, und er wußte: Dies ist nun meine Heimat. Dies ist der Ort, der sich nie wandeln wird, verändern kann. Die Oase des Friedens. Hier nur findest du Verstehen und wirst es immer finden...
Achtung, Lebensgefahr! Was war das für ein Tag! Die Sonne schien heller, freundlicher, er innerte mich an Euras. Die Pflanzen waren frischer und heiter, und selbst die Dornensträucher erinnerten mich an weiche Kissen. Es gab an diesem Tag keinen Wind, und kein Sand rieselte gegen die Hauswand, jedenfalls nahm ich nichts dergleichen wahr. Eine neue, eine frisch gewaschene Welt begrüßte mich. Die Känguruhs hüpften fröhlich durch den Sand, und die Antilopen zogen anmutiger vorüber. Die ewig unruhige akustische Kulisse war verblaßt, und nur einige Singvögel schickten ihre zarten Lieder in das tiefe Blau des Himmels. Freundlich war alles. Freundlich und hell. Die Ferne schien mir näher gekommen und die Horizontlinie ein greifbarer Streifen. Nun konnte mich nichts mehr im Labor überraschen. Jetzt nicht mehr. Ich würde es gegen jeden Spuk aufnehmen. Also fuhr ich wieder hinunter, betrat die Hauptstraße, sah mich um, mußte einfach etwas tun. Ich klopfte an die Scheibe der Meerschweinburg und erzeugte ein vielstimmiges Pfeifkonzert. Dann sah ich zehn Minuten lang dem emsigen Treiben der Ratten zu, bestaunte ihre Geschicklichkeit. „Amon Deltar“, befahl mir unerwartet eine Stimme, „bitte kommen Sie! Commander Markus O'Delta wünscht Sie zu sprechen.“ „Wie?“ Ich sah mich um. O'Delta war einige hundert Jahre tot. Was sollte das? „Wer ist denn da?“ fragte ich aufs Geratewohl.
„Ich, mein Herr“, antwortete der Robby vom Gang her und erschien auch schon diensteifrig in der Tür des Labors. „Und was soll der Quatsch mit Markus O'Delta?“ wollte ich wissen. „Sagen Sie bloß das nicht“, die Maschine erregte sich, „der Commander ist der Grundstein dieses Archivs. Ohne ihn wäre nichts hier. Nicht einmal Sie...“ „Ich möchte wissen“, meine Stimme klang ärgerlich, denn die ausschweifende Art des Robbys störte mich, „warum du gesagt hast, daß ich sofort zu dem Commander kommen soll. Das ist doch Unsinn.“ „Was soll ich gesagt haben?“ Der Robby wurde steif und sah noch hagerer als gewöhnlich aus. „Du hast mich doch gerufen“, warf ich ihm vor. „Das käme mir nie in den Sinn, mein Herr, niemals, obgleich es nicht unhöflich wäre, wenn Sie sich ab und an mit mir ein wenig unterhalten könnten...“ „Aber einer hat doch hier gesprochen“, unterbrach ich ihn. „Ich nicht!“ Er sagte es voller Entschiedenheit. „Amon Deltar! Sofort zu Commander O'Delta!“ Die Stimme. Sie war wieder da. Und die Sprecheinheit des Robbys war erloschen. Er war es also nicht. Und wer? Wer denn? „Vorwärts“, rief ich der Maschine zu, „fahre mich zum Ende dieses Ganges, augenblicklich und mit Höchstgeschwindigkeit.“ „Der Herr haben verwirrende Einfalle“, antwortete der Robby und folgte mir zu dem Dreirad, „aber man spricht in unseren Kreisen schon lange davon, daß der Mensch den Zappeltod sterben wird, wenn er nichts gegen seine Nervosität unternimmt. Ich könnte Ihnen für Meditation und stromonotones Training einen ausgezeichneten Großrechner empfehlen, so Sie es wünschen.“ Natürlich fuhren wir nicht sonderlich schnell den Gang entlang. Ich hätte sicher nebenherlaufen können. Mutter, dachte ich, ich finde den Eindringling und werde ihn unschädlich machen. „Was jetzt?“ erkundigte sich der Robby, als wir uns dem Gangende näherten. „Das weiß ich noch nicht“, sagte ich und sah mich zornig um. Was hatte ich erwartet? Ein Lebewesen oder einen Gegenstand...? „Nicht so langsam“, flüsterte es erneut, „der Commander hat nicht ewig Zeit...“ „Wo bist du denn?“ schrie ich los. „Hier, hinter Ihnen, mein Herr“, antwortete der Robby ebenfalls schreiend.
„Nicht du“, ich winkte müde ab, ohne mich umzuwenden, „ich meine dich nicht. Hast du nichts gehört?“ „Doch“, antwortete er. „Na, siehst du“, „ich gewann Oberwasser, „und das suchen wir.“ „Aber das waren Sie, mein Herr“, sagte er, „Sie haben geschrien: Wo bist du denn?“ „Den meine ich nicht“, ich verhaspelte mich, „ich meine: Mich meine ich nicht, sondern den, der mich zum Commander schicken will.“ „Sie waren beim Commander“, erklärte die Maschine, „Sie haben ihn doch gesehen, in Stein. Vor der Tür. Zu seinen Füßen Arpje Tyrsos. Man muß das Denkmal besichtigen, wenn man ankommt.“ „Das ist er?“ Ich sprang vom Fahrzeug, umrundete es zweimal und stützte mich dann auf die metallenen Oberschenkel der Maschine. „Und du irrst dich nicht?“ „Mein Herr“, sagte er distanziert, „was sollen diese Vertraulichkeiten? Das sind meine Beine, auf denen Ihre Hände ruhen. Vielleicht finden Sie für Ihre Extremitäten einen anderen Aufbewahrungsort. Und ich irre mich nie.“ „Markus O'Delta...“, ich muß sehr einfältig ausgesehen haben, „aber wenn das der Commander ist, dann kann er nur...“ Mir fielen die verstrichenen Jahrhunderte ein. Das ging nicht. Und doch, diese Ähnlichkeit mit mir. „Steht das Denkmal... Der Commander, steht der schon lange dort?“ „Knapp fünfhundert Jahre“, erklärte die Maschine geduldig, „und nur einmal strukturerneuert. Sehr gutes Material und ausgezeichnet klimatisiert...“ „Fünfhundert...!“ Es war eher ein Schrei als eine Feststellung. „Deltar“, flüsterte die Stimme noch einmal, „du hast genau noch fünf Minuten Zeit. Dann verschwinden wir.“ Ich stieg wieder auf das Dreirad. „Da du natürlich wieder nichts gehört hast, fahr einfach los!“ erklärte ich und dachte immer wieder: Fünfhundert, fünfhundert, fünfhundert... „Aber wohin, mein Herr?“ „Du elender Blechkasten“, schimpfte ich, „was kann ich dafür, daß dir jede Sensibilität abgeht. Fahre einfach... Ist ganz egal, wohin.“ „Das kann ich nicht“, erwiderte er frostig, „zudem scheinen Sie mir verstört. Ich muß das Schlimmste für uns befürchten, wenn ich Ihnen gehorche.“ „Widerling“, rief ich noch, trat mit dem Fuß gegen das Gefährt und sprang ab. Dann lief ich los, während der Robby unbeweglich an seinem Platz blieb. Nur seine Kameraaugen glommen hell auf, und er verfolgte alle meine Bewegungen, als müsse er eingreifen.
Ich durchquerte Gänge, Nebenräume und Laboratorien, folgte immer wieder der Stimme und fand keine Ruhe. Als ich um eine Kurve kam, stieß ich mit Nora zusammen. „Mutter...“ Sie lächelte, und diese Regung verschönte ihr Gesicht. „Du schwitzt ja“, sagte sie, „ist es so schwer, eine Mutter zu haben?“ „Hier stimmt etwas nicht“, gab ich ihr Antwort, „ich weiß nicht, was es ist, aber hier ist etwas, was... Zuerst war Gledis hier, eine Sängerin, dann ein Mädchen, das ich aus Wendynck kenne, und dann riefst du mich - betörend. Deshalb bin ich doch zu dir gekommen. Dachte, daß dies eine Art Werbung sein sollte. Jetzt, nachdem alles zwischen uns klar ist, ruft mich der tote Commander O'Delta. Und ich jage ihm nach, finde ihn nicht, höre nur immer wieder diese Worte, diese Stimme. Ich hasse sie förmlich...“ „Du erinnerst dich an die Wand“, fragte sie. „Die Wand?“ ich dachte nach, „welche Wand meinst du?“ „Eine Wand hat dich beobachtet“, erinnerte sie mich. „Ja natürlich, das war zu Beginn meines Aufenthaltes in Austras.“ „Die Wand und die Stimme“, Nora lehnte sich an das Tragegitter, „das ist eine Person, ein und derselbe Täter. Und jetzt gehen wir ihn unschädlich machen.“ „Ich wäre schon froh“, sagte ich, dann wandte ich mich an den Robby. „Mein lieber Kraftfahrer, würdest du die Freundlichkeit besitzen, abzusteigen und deine Beinchen zu nutzen, um zum Ausgang zurückzugehen. Wir brauchen das Gefährt und sind zwei Personen.“ Ich verstand nicht, was er brummelte, aber er stieg ab, wenn auch widerwillig und steifbeinig. Nora nahm Platz, und ich lenkte. Sie wies mich ein. „Das hier“, erklärte sie, „ist der zoologische Trakt, und hier lebt ein eigenartiger Quälgeist, der nicht jeden mag. Aber wen er sich als Kumpan aussucht, der erlebt die Hölle. Es ist immer so, wie du es erlebt hast. Wir gehen jetzt zu ihm, ich werde dir sagen, was zu tun ist, damit du zukünftig in Ruhe forschen und arbeiten kannst.“ Langsam schritten wir an den Käfigen und Gehäusen der stellaren Tiere vorbei. Manche Behälter schienen mir leer, während es in anderen quirlte und brodelte. Ziemlich nahe der Rückwand des Raumes blieben wir stehen. Ein Terrarium, in dem eine Schicht welker und teilweise in Fäulnis übergegangener Blätter lag, war unser Ziel. Die Myette mit der künstlichen Nahrung hing nahe der Vorderscheibe. Ich suchte das Tier, aber wenn es nicht sehr klein war, mußte es entflohen sein. „Da“, Nora tippte gegen das Glas, deutete auf eines der fauligen Blätter, „das ist es.“
„Seit wann reden Blätter mit mir“, ich lachte. Das Blatt, so erkannte ich jetzt, hatte sich vorzüglich angepaßt. Nur zwei Doppelreihen resedagrüner Punkte unterschieden es von den echten Blättern. Das Blatt näherte sich wie von einem Windhauch getragen, der Scheibe. „Amon Deltar“, flüsterte die Stimme so dicht vor mir, daß ich zu rückfuhr, „du bist da. Das ist gut. Der Commander erwartet uns. Schnell, öffne diesen elenden Glaskasten vor dir. Öffne ihn. Er ist leer...“ „Da ist sie“, sagte ich gepreßt, „die Stimme. Ich soll das Behältnis öffnen.“ „Jetzt kennst du das Existenzprinzip deines Freundes“, Nora schien sich zu amüsieren, „es sucht die Bioströme, tastet sie ab und ruft die hochemotional gespeicherten Sinneseindrücke ab. Ein Spätling der Evolution, der in einer apsychischen Welt nicht existieren könnte. Es verwirrt also seine Opfer und wartet, an einem Ast hängend, daß sie sich ihm nähern. Dann läßt es sich fallen, kriecht in den Luftsack des Opfers und lebt dort fort bis an sein Lebensende. Ein Warnton verhindert, daß zwei Tiere einen gemeinsamen Wirt haben. Frißt ein Raubsuchler jenes Wirtstier, verendet unser kleiner Freund auch, weil Raubtiere keine Luftsäcke besitzen. Es wird dann verdaut. Allerdings werden dabei seine Sporidien freigesetzt, und es wird ein Junges geboren.“ „Wie schön“, kommentierte ich Noras Exkurs, „und wie heißt das Biest?“ „Energophagier pseudocommuniscens andromachi“, antwortete Nora. „Ich würde es Pseudoknarre oder Seelenteufelchen nennen“, sagte ich „Drücke auf diesen Knopf hier“, unterbrach mich Nora, „dann sendest du den Drohlaut und hast zukünftig Ruhe.“ Als der Ton erklang, fühlte ich einen nadelfeinen Stich in beiden Schläfen und sah, wie das „Blatt“, ich hatte seinen Namen schon vergessen, eilends in den Hintergrund des Behälters abzog. Nun wies mich Nora auf andere Sehenswürdigkeiten in diesem Trakt hin. Über uns hing ein Baumstamm, der zerbrechlich wirkte. Ich sah, wie er langsam seinen Weg fortsetzte, ohne daß etwas an ihm sichtbar war, was diese Bewegungen vollführt hätte. Ich wies nach oben. „Wo er lebt“, Noras Gesicht wurde streng, „gibt es äußerst reak tionsschnelle Raubtiere mit ausgeprägtem Gesichtssinn. Dort kann kein Pflanzenfresser Arme, Beine, Schwänze, Nasen oder Ohren ausbilden. Es würde ihn verraten und zu einer leichten Beute machen.“ Wir blieben dann, bei dem flossenpedalen Wasserhörnchen stehen, sahen seinen anmutigen Bewegungen zu.
Auch die samtrote Gleiterspinne machte Eindruck auf mich. Sie saß majestätisch auf einem Ast und blickte hoheitsvoll um sich. „Das Weibchen und die Jungen“, erklärte Nora, „haben sich in das für uns unsichtbare Flechtnest zurückgezogen.“ Ein knallender Laut ließ mich zusammenzucken. Ich wandte meine Aufmerksamkeit jenem Gehäuse zu, das sich hinter mir befand. Schon dessen Ausstattung zeigte mir, daß jenes Tier, das hier wohnte, über erhebliche Kräfte verfügen mußte. Das Glas war halbmeterdick und wies die Linearglanzlinien auf, die nur eine Glasart besitzt: Trirodonglas, das sonst nur in der Raumfahrt Verwendung findet. „Der schmetterlingsflüglige Drasser“, erklärte mir Nora leise, während ich in das Behältnis blickte. Er sah harmlos aus, erinnerte an eine kleine Großkopfschildkröte. In diesem Augenblick gewahrte mich das Tier. Es flog mit voller Wucht gegen die Scheibe. Ich zuckte erneut zurück. Das Tier kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück, ließ die Luft ab und war nur noch halb so groß. Dann kam es erneut heran, knallte mit weitaus größerer Wucht gegen das Hindernis und kehrte zu seinem Ruheplatz zurück. Der Vorgang wiederholte“ sich ein weiteres Mal: Luft ablassen, Flug, verstärkter Anprall. Immer mehr verkleinerte es sich, und immer heftiger war der Aufprall auf die Scheibe. Als es nur noch so groß wie mein Daumen war, berührte Nora meine Schulter. „Komm“, sagte sie, „vollständig ist der Drasser noch nicht erforscht. Wissenschaftler haben ihn so lange gereizt, bis er nur noch die zehnfache Größe eines Eiweißmoleküls hatte. Dann entkam er ihnen, vergrößerte sich in Freiheit auf eine Gesamthöhe von zwölf Metern und mußte getötet werden. Man behauptet, daß es nicht sein Minimum war. Aber schon, wenn er die Größe eines kleinen Virus erreicht, gibt es für ihn kein Hindernis mehr. Läßt man ihn allein, ist er nicht bestrebt, seiner Gefangenschaft ein Ende zu machen. Auch den Fütterrobby toleriert er. Nur Lebewesen lehnt er ab. Kein Mensch weiß, ob wir Weibchen oder Männchen haben, oder ob es eine solche Unterscheidung überhaupt gibt. Ein interessantes, wenn auch unbekanntes Tier.“ Im Gang sah ich überrascht, daß der Robby wieder auf seinem Stammplatz saß und uns entgegensah. „Ich mache Ihnen, meine Herrschaften, einen Vorschlag“, sagte er und deutete eine Verbeugung an, „wie Sie wissen, kann man uns nur unserer Pflichten entbinden, wenn man uns nachweist, daß unsere Leitungen angerostet sind. Dies ist bei mir nicht der Fall. Darf ich Sie nicht einzeln zum Ausgang kutschieren. Sie werden mit mir nicht unzufrieden sein...“
Ich sah Nora an, und wir beide mußten lachen. „Ich bleibe hier, Mutter“, sagte ich und benutzte die Anrede wie eine Zärtlichkeit, die so kein anderer benutzen durfte, „laß dich von ihm fahren. Ich brauche ihn erst später. Es gibt hier noch viel zu sehen.“ „… vorderen Teil aber nur!“ rief sie mir im Davonfahren zu. Ich hatte es nicht richtig verstanden. Irgend etwas war mit dem vorderen Teil. Also mußte es noch einen hinteren Teil geben, einen Abschnitt, den ich noch nicht gesehen hatte. Ich hatte einen Einfall, während ich in entgegengesetzter Richtung den Gang entlangschritt. Ich dachte an eine Sache, die schon längere Zeit zurücklag. In einer der Mittelstufen meiner Ausbildung hatte ich einen Freund. Wie Kinder sind, verrieten wir uns unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit unsere bestgehüteten Geheimnisse. Er hörte von dem Maschinenkind aus Mejoora, und ich wußte, daß sein Vater bei einem Satellitenunfall genetisch erneuert worden war. Eines Tages aber kam mein Freund nicht wie gewohnt, und ich suchte ihn auf. Er war verstört, und seine Augen waren verweint. Seine Mutter war wegen Organverpilzung in eine Klinik gekommen. Um ihm Hoffnung zu geben, versprach ich ihm, Arzt zu werden und etwas zu finden, was ihr helfen würde. Das war aber unmöglich. Die Ergebnisse der Prüfung machten es mir unmöglich, Medizin zu studieren. Das tat er dafür, obwohl er als Kind nichts mit diesem Fachgebiet zu tun haben wollte. Aber dieser Gedanke hatte mich nie verlassen: die Organverpilzung zu bekämpfen, mir medizinisches Wissen anzueignen. Auch nicht, als ich nach Archimedes kam, da erst recht nicht. Nachdem ich mich ein wenig eingewöhnt hatte, hoffte ich auf nichts so sehr wie darauf, neben astronomischen auch einige medizinische Kenntnisse zu erlangen. Und als ich die Meerschweine und Ratten sah, als ich von den selbstproduzierten Seren hörte, da stand für mich fest, daß ich mich hier medizinisch betätigen konnte. Es gab einen hinteren Teil des Archivs. Mir war klar, was ich in diesem Abschnitt finden würde: Laboratorien, Forschungsräume für Humanmedizin. Die ersten drei Gänge, die ich absuchte, endeten an mächtigen metallenen Türen, die ich nicht öffnen konnte. Zu allem Übel hatte ich meinen Gürtel nicht um und vermochte Nora nicht zu rufen, die mir hätte sagen können, wie man diese Türen öffnet. Der vierte Gang, es war der letzte, der in diese Richtung führte, endete wie die vorigen. Doch unmittelbar neben der Metalltür war eine mannshohe offene Klappe.
Der dahinterliegende Gang war in Dämmer getaucht. In regelmäßigen Abständen brannten kleine blaue Lampen, die ein gespenstisches Licht auf die Steine warfen. Ich schritt immer weiter. Die blauen Lichtspender flackerten. Was war das...? Eine Ahnung überkam mich. Ich hatte immer geglaubt, die Archimedes - oder Taipanville, wie es beim Reisegeberlein hieß - hing am interkontinentalen Energienetz. Das Flackern zeigte mir, daß es nicht so war. Archimedes besaß ein autarkes Energienetz und versorgte sich selbst. Aber wie? Was besaß es für mächtige Aggregate, die Tag und Nacht Strom lieferten? Ich ging weiter, brachte eine enge Kurve hinter mich und sah zwei Warnleuchten und darunter die Schrift: ACHTUNG, LE BENSGEFAHR! Und darunter, wesentlich kleiner, aber doch stechend, fast unerträglich für die Augen: FÜR SCHUTZANZUGTRÄGER: HELM ABDICHTEN. HANDSCHUHE AUSFAHREN. ISOLIERBE SCHICHTUNG MAXIMAL VERSTÄRKEN. Noch nie in meinem Leben war mir ein solches Schild begegnet. Gedankenfetzen jagten mir durch den Kopf, formten sich zu ver worrenen Annahmen. Neben dem Schild hingen an Haken eine ganze Reihe von Skaphandern. Ich suchte einen aus, der mir paßte, riß ihn herunter, klappte ihn auf und stieg in fliegender Hast ein. Dann folgte ich der Aufforderung der Leuchtschrift. Ich stand da, starrte in die vor mir liegende Finsternis und suchte das Objekt, das mir gefährlich werden konnte. Aber alles war stumm und leer, und ich sah nichts Gefahrdrohendes. Ich begann weiter zu gehen, vorsichtig und in Erwartung eines... eines dieser Lebewesen aus den Käfigen, die ich angesehen hatte. Dann lag die letzte Kurve hinter mir. Der Weg war nun gerade, leicht abfallend und endete an einer rostrot gefärbten Eisenleiter, die senkrecht in die Tiefe führte. Eine Glaswand trennte mich von der Leiter und dem jähen Abgrund. Hinter dem Glas, fahl ausgeleuchtet und kulissenhaft unwirklich erhob sich die urtümlichste und größte Maschine, die ich je gesehen hatte. Das Ding bestand aus Metall, soviel war klar. Sein Grundriß war ein Achteck. Die Wände zeigten eine Vielzahl kleiner Rillen, die sich alle in der Spitze trafen. Rohrbüschel entsprangen der Basis der Maschine und liefen wenige Meter unter der Spitze in den Koloß hinein. Die Spitze ragte hoch auf und reichte bis fast an die Decke. Über die Riesenmaschine lief ab und an ein schwaches, diesiges Flackern, Ich stand an diesem Abgrund und war unfähig, etwas Vernünftiges zu tun. Es waren nicht die angenehmsten Gedanken, die ich hatte. Auch wenn ich dieses Ding nicht kannte, schien es mir nicht sehr vertrauenserweckend, und schließlich war da ja die Schrift im Gang: Achtung, Lebensgefahr.
Plötzlich bewegte sich eine affenähnliche Gestalt über die Maschine hin. Mich verwirrte die Geschicklichkeit dieses Wesens. Es hangelte an den Rohren hoch, konnte sich auch, sich irgendwie in den Rillen festkrallend, um die Maschine herumbewegen und trug dabei eine Last auf dem Rücken, die schwer sein mußte. Ich sah, wie sich das Material unter diesen Füßen förmlich eindrückte. Dann entzog sich das Wesen meinen Blicken, arbeitete auf der Rückseite und kam nach einer geraumen Zeit wieder zum Vorschein. Und wieder war es beladen. Diesmal nutzte es ein Seil, an dem es bis auf den Boden hinunterklomm. Unten angekommen, richtete es sich zu seiner ganzen Größe auf und verschwand hinter dem Koloß. Ich wartete noch zehn Minuten, aber nichts tat sich. So ging ich den Weg zurück. Die Schrift war erloschen. Es bestand keine Lebensgefahr mehr. Ich zog den Skaphander aus, hängte ihn nach dort, wo ich ihn gefunden hatte, und verließ den Gang. Kaum daß ich in der gewohnten Umgebung war, als auch schon der Robby angefahren kam. „Wünschen Sie befördert zu werden, mein Herr?“ fragte er mich höflich. „Ja“, erwiderte ich, „was ist da in dem Gang?“ Ich deutete über meine Schulter nach hinten. „Ein Notausstieg“, antwortete er auf meine Frage. „Und daneben?“ „Es gibt kein Daneben“, erklärte“ er mir. Ich sah mich um, wischte mir über die Augen. Der Eingang existierte nicht mehr. Dort war eine glatte Steinmauer. „Das gibt es doch nicht.“ „Doch nicht“, sagte die Maschine, „ist unlogisch, entweder doch oder nicht. Beides schließt sich aus.“ „Jetzt hör einmal gut zu“, erwiderte ich, „dort wo jetzt die Wand ist, war gerade noch keine Wand. Dahinter liegt ein Gang. Ich war da drin. Und am Ende ist ein Abgrund, und dort steht eine ungeheure Maschine. Und du weißt das, denn du hast den Eingang gesehen. Also, was ist es...?“ „Den Eingang habe ich gesehen, mein Herr“, der Robby kratzte sich die Speicherelemente, „aber er endet nach drei Schritten blind. Vor langer Zeit hat mich Herr Sebal dort hineingeschickt. Fünf Schritte kam ich voran, dann stieß ich gegen eine Wand und kehrte um.“ „Nur fünf Schritte“, ich lachte auf, „und eine Glastafel hast du dann natürlich nicht gesehen und Warnleuchten und die Glasscheibe ebenso wenig wie die Maschine, die rostige Leiter und den Abgrund?“ „Nein, mein Herr, denn uns fehlt die humanoide Phantasie“, erklärte er würdevoll, „man meint, es wäre ein Mangel, aber ich habe noch nie dergleichen beobachten können. Wir sind die besseren Realisten.“
„Dann sage mir wenigstens“, ich stieg auf, gab mit der Hand das Zeichen, daß er losfahren könne, „welchen Zweck ein Gang hat, in dem sich nichts befindet...“ „Gar keinen Zweck, mein Herr“, vermutete er zu Recht. „Wenn er keinen Zweck hat“, ich triumphierte, „weshalb schafft man ihn dann und verschließt ihn mit einer steinernen Wand, die ihn verbirgt? Einen leeren Gang...“ „Das weiß ich auch nicht“, entgegnete er und schüttelte den Kopf. So erreichten wir den Hauptgang. Hier war alles freundlich und mir vertraut. Ich sprang vom Beifahrersitz. „Schwirr ab!“ rief ich, innerlich erleichtert, daß jene alptraumhafte Welt keine Macht mehr über mich hatte. Er stoppte kurz. „Mein Herr“, sagte er voller Wehmut, „leider sind wir nicht als Flugmaschinen konstruiert. Es ist mir unmöglich, zu schwirren. Wobei zu beachten ist, daß Schwirren eine spezielle und sicher schwierige Art des Fliegens ist. Ein Mangel an uns, wie ich zugebe, und es beruhigt mich keineswegs, daß Sie auch nicht schwirren können.“ Dann setzte sich das Gefährt erneut in Bewegung. Ich ging geradewegs zu einem der Rattenversuchsräume, in dem einige mir noch nicht näher bekannte Experimente liefen, weil dort ein Videosprecher war und ich Nora alles erzählen konnte, was ich beobachtet hatte. Kaum, daß ich jenes Biolabor betreten hatte, als mich ein piepsiger Ton erreichte und ich eine gleichförmige Stimme hörte: „Alarm... Alarm... Alarm...“ Ich kannte das. Alarm bedeutete Havarie. Wenn einer der Energie saugschlote oder auch nur ein Wasserrohr defekt ist, wenn man über die Evakuierungsrohre in ein anderes Wohnquartier gestromert wird, weil in dem gegenwärtigen für einige Stunden keinerlei Lebenskomfort mehr existiert, dann wird eine solche Aktion durch ebenjenes Wort eingeleitet: Alarm. Ich blieb also stehen, weil ich erwartete, man würde mich in ein anderes Laboratorium stromern. Doch nichts geschah mit mir. Aber mit den Ratten - sie waren in vier Etagen untergebracht, und jede Etage bestand aus sieben Glashäusern -, mit denen geschah schon etwas. Sie wurden müde. Sie kamen schnüffelnd an das Glas, manche beleckten es, sie hatten also Durst. Sie sahen überhaupt nicht schrecklich aus. Eher komisch oder lustig. Auch die drei farbigen Stempel trugen dazu bei. Lila waren die Symbole der Versuchsart, hellblau war der Serienstempel und ocker die Individualnummer. Viele Ratten waren müde, legten sich auf die Seite und Schliefen ein. Ich sah zu, wie immer mehr Tiere in Schlaf verfielen.
Zuletzt lagen sie alle in ihren Behältnissen. Ich trat näher an das Glas heran, denn an die gleichmäßige Alarm-Stimme hatte ich mich gewöhnt. Doch wer kann mein Entsetzen beschreiben, als ich sah, daß die Tiere nicht schliefen, sondern tot waren. Sie atmeten nicht mehr und wurden schließlich von einem automatischen Greifer entfernt und einer Entseuchungsanlage zugeführt. Ich wollte Informationen haben und betätigte den entsprechenden Knopf. „Einmalinformation“, sagte die Stimme, und ich wußte, daß alles gelöscht werden würde, nachdem ich erfahren hatte, was nun folgte: „Durch Fremdeinwirkung eine Rattenphage eingeblasen. Ohne Bedeutung für andere Lebewesen, sofort tödlich für Versuchstiere.“ Jemand blockierte die Versuche der Sebals, vernichtete, was er nicht geschaffen hatte. Natürlich fiel mir jener Spinnenaffe ein, den ich bei der Maschine gesehen hatte. Und der Robby will nicht wissen, daß ein Gang existiert, der zu einem mir unbekannten Zentrum führt. Und das, obwohl er schon dort war. Mich fröstelte. Ich rief Nora, aber sie war nicht in ihrem Zimmer. Sie war überhaupt nicht im Haus. Auch Viktor meldete sich nicht. Ich versuchte es wieder und wieder. Dann ließ ich es und warf noch einen Blick auf die Käfigwand: Neue Ratten liefen herum, bewegten sich munter und interessiert, schnüffelten. Ich trat nahe heran. Besah mir die Stempel. Es handelte sich scheinbar um dieselben Versuche, um dieselbe Serie und um dieselben Tiere, wenn man den Individualnummern trauen durfte. Das war Betrug! Nora und Viktor mußten annehmen, daß dies die Tiere sind, die ich hatte sterben sehen. Aber niemand würde mir glauben, denn ich konnte nicht bewei sen, was hier geschehen war. Ich verließ leise das Labor. Alles schien mir nur noch halb so hell: denn irgendwo in diesem Labyrinth gab es jemanden, von dem keiner wußte, und dieses Wesen schien systematisch die Sebalsche Arbeit zu stören, sorgte dafür, daß diese Versuche, mochten sie betreffen, was immer sie wollten, nie zu Ende geführt werden konnten, verfälschte die Ergebnisse. Das war zuviel für mich, der ich aus einer Welt kam, in der Sicherheit und Wahrheit nach jahrtausendelangem Ringen die Oberhand gewonnen hatten. Es war einfach zuviel für mich. Ich wünschte mir das Feuerrohr herbei, wagte aber auch nicht, das Labyrinth zu verlassen. Ich ging durch die Räume, sah mir alles an und fand in einer Chemikalienkammer eine Wachsflasche, in der Fluorwasserstoff war. Wer einmal Versuche mit dieser aggressivsten aller Substanzen angesehen hat, wer beobachten konnte, wie sich selbst Glas unter der Wirkung der Flußsäure zersetzt, der weiß, was er in die Hand nimmt, wenn er nach einer solchen Flasche greift. Für mich war es eine Waffe gegen den bärenstarken Spinnenaffen, wie ich das Wesen nun einmal nannte. Ich würde ihn finden müssen, ehe die Sebals zurück waren.
Vielleicht wurde durch eine Überwachungseinheit an alle Räume signalisiert, was ich in meinen Händen hielt, jedenfalls vermied es auch der Robby, mich zu fragen, ob er mich fahren sollte. Niemand kam. Ich lief, verlassen und auf böse Überraschungen gefaßt, durch die Gänge. Ich sah in die Lichtothek und das eigentliche Archiv, drückte mir fröstelnd und auch schwitzend die Nase an den Gewächshäusern platt und hoffte, ihn hier zu finden. Ich trabte noch einmal zu dem Ort zurück, wo nun eine Mauer, vorher aber ein Gang war. Ich sah vieles Neue, aber den Spinnenaffen fand ich nicht. Und dann, gerade als ich beschlossen hatte, die gefährliche Flasche in das Chemiekabinett zurückzutragen und die unterirdische Welt zu verlassen, geschah es. Ich befand mich im Gewirr einiger dämmriger Verbindungsgänge, als ich spürte, daß etwas hinter mir war. Ich fuhr herum. Knapp fünf Meter hinter mir war eine mächtige, finstere Gestalt. Ich erkannte sie wieder. Ich hätte sie überall wieder erkannt, unter allen Verkleidungen: Es war jener Unbekannte, der mich einst überfallen hatte. Sein Gesicht war in der Dämmerung nicht zu erkennen, nur die Augen glommen wie zwei glühende Metallstücke. Nicht ein Gedanke regte sich in mir. Ich riß die Hand, den Arm mit der Flasche zurück und schleuderte sie mit aller Gewalt gegen den Angreifer. Es geschah unglaublich schnell, und doch sah ich alles in Zeitlupentempo, sah, wie die Flasche durch die Luft flog, sah auch wie der Fremde noch schneller zur Seite sprang, auf mich zuhastete, mich einfach packte und mit mir, als wäre ich gewichtslos, den Gang entlangstürmte. Ich vernahm auch den feinen Ton, als das Wachs zerbrach, sah weit hinten die weiße, dampfartige Wolke aufsteigen. Aber da hatten wir den Hauptgang erreicht, eine Schleuse schloß den vergifteten Gang hermetisch ab, und ich fühlte wieder Boden unter meinen Füßen. Das Gesicht, das jetzt dicht vor mir war, beraubte mich der letzten Vernunft. Es war das von Viktor... „Du warst das“, stieß ich, den Tränen nahe, hervor, „du hast mich überfallen. Du hast mir die Karte zwischen das Menü gelegt. Du warst das!“ Er lehnte sich an die Wand, lächelte, wie mir schien, verloren. „Ja, Amon“, erwiderte er nur, „ich war das. Eines Tages wirst du alles verstehen, und dann wirst du es verwunden haben. Eines Tages...“ „Ich war bereit, dich zu töten“, sagte ich schroff, weil ich nicht wußte, was ich noch sagen sollte. „Nicht mich“, Viktors Lächeln hielt unverändert an, „nicht mich. Du hast etwas gesucht, von dem du annahmst, daß es mich und Nora und damit auch dich bedroht. So war es doch...“
„Ich habe eine Maschine gesehen“, versuchte ich zu erklären, „eine Maschine von ungeheuren Dimensionen, und da war etwas...“ „Ja“, Viktor stimmte unbewegt zu, „da war etwas. Ganz recht. Aber das arbeitet in unserem Auftrag, nicht gegen uns. Beruhige dich, Junge. Es ist alles in Ordnung.“ „In Ordnung?“ Ich sah ihn ungläubig an. „Und der Robby“, rief ich empört aus, „er lügt...“ „Nein“, sagte Viktor geduldig, „er lügt nicht. Auch wenn er behauptet daß der Gang blind endet. Das stimmt für den Roboter sogar. Überall, wo Energie erzeugt wird, können die Maschinen einfach nichts mehr sehen, es sei denn, sie arbeiteten dort. Die Orte sind im Programm skotomisiert, einfach ausgeblendet - aus Sicherheitsgründen. „Für die Maschine endet der Gang tatsächlich nach wenigen Schritten?“ fragte ich staunend. „Und dabei hält sich der Apparat für den größten irdischen Realisten...“ „Das ist er sicher auch“, Viktor lachte auf, und auch ich fühlte, wie sich etwas löste, wie in mir alles leicht und frei wurde, „auf seine Art. Denn er ist frei von Phantasie und Wünschen. Du kannst auch nicht ultraviolettes Licht oder Röntgenstrahlen sehen. Sie sind in deinem Wahrnehmungssystem auch skotom. Aber dennoch ist das Abbild der Welt für dich richtig.“ „Und was ist das für eine Maschine?“ fragte ich abschließend. „Laß uns darüber oben sprechen, Amon“, antwortete Viktor. „Warum sagst du es nicht?“ Viktor hob die Schultern. „Ein Neutrino-Rückstrom-Aktor“, sagte er sachlich. „Das Ganymed-Ding?“ fragte ich atemlos. „Ja“, sagte Viktor, und das Ja klang nicht sonderlich freundlich, „ja, er hat Ganymed weggesprengt. Das lernt man wohl als erstes auf euren Schulen. Nur vergessen eure Lehrer, daß diese Dinger jahrzehntelang dafür gesorgt haben, daß die Menschheit aus der Energiekrise herauskam. Ihr habt sicher auch nie gehört, daß erst der NeutrinoRückstrom-Aktor die Raumfahrt beflügelte und weite Reisen zuließ. Die Dinger sind sicher. Und Ganymed, das war ein Meteorit. Aber ein solcher Meteorit könnte auch ein plattentektonisches Kraftwerk zerstören und jedes Gezeitenwerk, Vulkanhybridatoren und den Mondspeichertransmitter. Er könnte das Solargitter zertrümmern und würde selbst ein Biokraftwerk lahmlegen können. Aber du bist nicht der erste, der so denkt. Man sprach von Zeit bomben, deren Zeiger sich mit stupider Gleichmäßigkeit gegen die Zündkontakte bewegen. So jedenfalls argumentierte man in alten Zeiten. Das stimmt nicht.
Nur: Wenn du dir ein Flugzeug aus rostigen Autoteilen baust und die einzelnen Teile mit Schnur zusammenhälst, dann darfst du dich nicht wundern, wenn deine Kiste beim Versuch, die Schallmauer zu durchstoßen, auseinanderfällt. Es gab damals rücksichtslose Produzenten, die, des großen Geschäfts wegen, Ausschuß produzierten. Das hat aber nichts mit dem Aktor zu tun. Absolut nicht. Noch eine Frage?“ „Nein“, sagte ich, der ich zwar meine Fassung wiedergewonnen hatte, aber über die Art, wie Viktor mich belehrte, empört war. Ich fand Nora im Garten. „Weißt du schon?“ sprach ich sie an. Sie nickte. „Ich habe mitgehört“, antwortete sie schließlich und lehnte sich an einen Baobab, dessen mächtiger Stamm mich vom ersten Tage an fasziniert hatte. „Er tut immer, als ob ich ein Kind wäre, das euch ärgern will“, be schwerte ich mich, „die Ganymed-Geschichte kannte ich nur halb. Aber dafür kann ich nichts. Dann soll er meinem Dozenten seine Predigt halten und nicht mir.“ „Nimm es nicht tragisch“, Nora sah mir in die Augen, „aber der Aktor und Viktor, das wird nie anders werden. Nie.“ Jetzt erst fielen mir die Ratten wieder ein. „Man hat eure Ratten getötet“, sagte ich, um es nicht wieder zu vergessen, „glaube es mir, denn ich habe zugesehen.“ Noras Augen weiteten sich. Einen Augenblick war sie sehr blaß. Langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück. „Du hast dich nicht geirrt?“ sagte sie eindringlich. „Nein, unmöglich. Ich dachte erst, die Tiere würden schlafen. Sie waren alle tot, sind ausgeräumt und durch gesunde Tiere ersetzt worden. Alle.“ „Sage Viktor aber nichts“, wies mich Nora an, „es sind seine Ver suche, und ich ahne schon, wo der Fehler steckt. Sprich nicht mehr darüber. Er wird die Versuche fortsetzen und nicht einmal wissen, was geschehen ist...“ „Wenn nun aber die neuen Tiere gesund sind“, unterbrach ich sie, „dann kommt Viktor nie zu einem Ergebnis. Woran arbeitet er?“ „Pilze...“ Nora hatte wohl keine rechte Lust, darüber zu sprechen. „Pilze“, ich griff begeistert das Thema auf, „Organverpilzung, was? Ich habe darüber geschrieben. In der sechsten Entwicklungsstufe. Ätiologische Überlegungen zu einer von mir gewählten Krankheit, hieß das Thema. Ich habe die Organverpilzung genommen aus einem aktuellen Anlaß. Ich habe in meiner Arbeit behauptet, daß irgendwann einmal der genetische Bausatz jeder Art ermüdet. Und so wird man nie, habe ich geschrieben, die letzte Ursache des Sterbens der mächtigen Dinosaurier und Ursäuger klären.
Oder nur dann, wenn eine strukturelle Lebenseinheit aus einem Skelett entwickelt werden kann. Nehmen wir an, der genetische Satz ermüdet, ein Tripel dieser Basen-DNS bricht heraus und ein Fungi-Tripel setzt sich an seine Stelle. Dann haben wir eine Erklärung für die bisherige Unheilbarkeit der Organverpilzung und auch eine Erklärung dafür, warum ein solcher Patient nicht als Double aufgebaut werden kann: In seinem Erbsatz ist die Krankheit enthalten. Zugleich könnten wir ableiten, warum in so kurzer Zeit eine Art ausstirbt. Und je komplizierter ein Lebewesen ist, desto länger muß sein genetischer Bausatz sein, und also auch anfälliger. Er ermüdet beschleunigt. Hatten die Saurier zweihundert Millionen Jahre Zeit, dann ist unsere vielleicht auf sechzig Millionen begrenzt... Wie findest du das, Nora?“ „Intelligent“, antwortete sie und sah mich freundlich an, „ja, Amon, ich finde es intelligent. Und das hast du dir ausgedacht? Es ist deine eigene Überlegung?“ Ich nickte. „Viktor ist von einer anderen Grundlage ausgegangen“, erläuterte sie mir, „er meint, daß die vielen tausend Schimmelarten sich kreuzen können. Er geht von mehreren Millionen Unterarten aus und sucht also die eine Art, die völlig neue Eigenschaften besitzt und von anderen Arten getarnt wird. Man kommt auch so voran, aber es frißt Zeit. Möglicherweise mehr Zeit, als ein oder zwei Menschengenerationen haben. Stell dir viele Millionen Unterarten vor. Alle wollen sie überprüft werden auf das Spektrum der Wirkstoffe, die sie erzeugen können. Man ist also jetzt schon bei der Milliarde angekommen. Und jede von ihnen produzierte Substanz muß nun noch auf Hunderte von Medikamenten hin untersucht werden. Dazu muß man noch wissen, welche Kombinationen unsere Stoffwechselprodukte mit ihnen ergeben und warum Reptilien, Amphibien, Fische, Vögel und niedere Tiere überhaupt nicht befallen werden. Endlose Zahlenkolonnen werden das, und jede Ziffer bedeutet einen Versuch. Selbst wenn man neunzig Prozent aller Versuche rechnerisch meistern könnte, es bleibt noch genug, um Generationen zu beschäftigen...“ Sie dachte nach. „Hast du nicht Lust, an solchen Versuchen teilzunehmen? Mit deiner Hypothese?“ fragte sie dann. Natürlich wollte ich. Das war es doch, was ich mir immer vorge nommen hatte: Die Organverpilzung bekämpfen.
Gesternbesucher Ein griesiger, dunstiger Morgen in Archimedes - ich wußte gar nicht, daß es so etwas gab. Tiefhängende Wolken zogen vorbei, ballten sich und sahen wie feuchte Wattestreifen aus. „Nun wirst du die Landschaft so erleben, wie ich sie am ersten Tag hier kennengelernt habe“, sagte Nora, „es wird nämlich Regen geben, und danach erkennst du die Steppe nicht wieder.“ „Warum?“ erkundigte ich mich und goß Nora von dem Tee ein, den Viktor selbst angebaut hatte. „Die Steppe wird blühen. Du siehst keinen Sand mehr. Nur noch Blüten.“ Ich dachte an Noras Kleid. „Ich werde dir daraus ein neues Kleid flechten“, sagte ich und sah sie an. „Das wird dir nicht gelingen.“ „Aber da unten, in dem Gewächshaus, da blüht es doch auch das ganze Jahr über“, wandte ich ein. „Das ist anders“, erwiderte Nora, „die stellaren Gewächse sind uns fremd. Ich bewundere ihre Wildheit und ihre Anpassungsfähigkeit. Ein Bedürfnis, sie zu berühren, entsteht bei mir nicht..., aber die Steppenblumen, die möchte ich haben. Einen Strauß...“ „Du meinst einen Emu“, wandte ich ein, „oder einen Kasuar?“ Nora lachte mich aus. „Einen Strauß aus Blumen meine ich. Unterschiedliche Blumen zusammengefaßt, abgeschnitten und überreicht.“ „Aber Blüten sterben, wenn man sie abschneidet.“ „Stimmt“, sagte Nora, und ihr Gesicht drückte aus, daß sie eigentlich noch nie daran gedacht hatte, „nur sterben sie nicht gleich. Man kann sie ins Wasser stellen und freut sich daran.“ „Du freust dich, obgleich sie sterben müssen?“ „Du solltest es kennenlernen, dann würdest du nicht mehr theoretisieren“, rief sie gespielt beleidigt aus. „Vielleicht.“ „Die Steppe bringt schöne Blumen hervor“, erklärte Nora verzückt, „Blumen in allen Farben. Viele sind sehr klein. Stumpfe Farben, weißt du. Man möchte sie einfach in die Hand nehmen. Sie sind aus der Not des ewigen Wassermangels geboren, und das macht ihre Faszination aus.“ Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen klatschten gegen die Scheibe, wo sie, krakelige Kanäle bildend, herabflossen. Ich stand auf und riß das Fenster auf. Der Regen klatschte mir in das Gesicht, und ich empfand es als angenehm. „Ich glaube“; rief ich Nora zu, während mir das Wasser in Nase und Mund drang, „die Konstrukteure der Meteorologie haben drüben sogar unseren Regen gebändigt.“
„Warum nicht?“ fragte ich Nora zurück. „Wo ist eigentlich Viktor?“ Als Antwort hupte es. „Viktor hat eine Botanikerin abgeholt“, sagte Nora, „sie wird drei Tage hier wohnen. Sie sammelt Proben.“ „Und wie heißt sie?“ „Isina“, erinnerte sich Nora, „Isina Trefon.“ Wir gingen den Ankömmlingen entgegen. Isina war dunkelhäutig, schlank und hatte ungewöhnlich helle Haare. Sie war mit einer olivgrünen Kombination gekleidet, die Gesicht, Haare und Hände schützte, ohne die natürlichen Linien zu verwischen. Sie sah mich einige Sekunden an. „Willkommen“, sägte ich, „ich freue mich.“ „Glückliche Stunden“, antwortete sie und ergriff meine Hände, „was dein Gesicht für eine Farbe hat, du. Es erinnert mich an Holz. Dunkles Holz...“ Dunkles Holz, dachte ich, ja, das war es. Als ich am Aer war, tat sächlich, das lag ein Jahr zurück, da waren mir die Gesichter der zusteigenden Wissenschaftler dunkel, beinahe verbrannt vorgekommen. Und sah ich auch so aus? Gab es das? Ich sah so aus. Und die Zeit, was war das für ein seltsames Gebilde? Jeder Tag schien mir eine kleine Ewigkeit, endlos lang und interessant, während die Gesamtzeit mir scheinbar nichts als ein einziger Augenblick war. Als ich aus meinen Überlegungen aufschreckte, war ich mit Isina allein. „Komm“, sagte ich, und wir spazierten zu einem lichten Hain, in dem ich manchmal gelegen hatte. Kaum dort angekommen, flatterte es über mir, und auf dem untersten Ast saß mein Kakadu und krächzte mir freudig seinen Gruß entgegen. Isina schrie entsetzt auf, und ich konnte sie gerade noch am Handgelenk fassen und festhalten. „He“, sagte ich, „das ist ein Freund von mir... Stimmt's?“ Das letzte hatte ich an den weißen Vogel gerichtet, der sich nun auf den Boden niederließ und gemächlich auf mich zu watschelte, wobei sein Körper, um das Gleichgewicht zu halten, von einer Seite auf die andere pendelte. Isina schien nicht begeistert. „Ein lustiger Kerl“, sagte ich und setzte mich auf die Erde, kraulte ihm den Kopf, „komm Mädchen, setz dich auch.“ „Ich wäre schon lieber in einem Röhrenbad“, ihre Stimme klang unwillig, „ich würde dir gern ein wenig Zärtlichkeit schenken.“ „Ich denke“, sagte ich, „du bist Botanikerin... nicht Libelle.“ Sie lachte mir ins Gesicht, stieß dabei vorsichtig, aber entschieden den Kakadu weg, der sich ihren Beinen näherte. „Es gibt doch keine Libellen mehr“, klärte sie mich auf, „die Libellen, die solche sind, haben die Wahl, etwas anderes zu werden oder nicht. Aber neue werden nicht
ausgebildet. Wozu auch? Sind wir nicht omnipotent genug, alleAufgaben unseres Lebens zu meistern? Wie lange bist du hier?“ „Ein Jahr“, sagte ich ein wenig stolz. „Tapfer, tapfer“, sie meinte es auch so, „aber dann weißt du nichts vom letzten Weltkongreß der Planungsbehörde. Es ist vorbei mit den Überspezialisierungen. Das werden die Automaten übernehmen. Es ist ein neuer Grundbausatz entwickelt worden, mit dem man jede benötigte Spezialisierung erreichen kann. Damit sind wir davon erlöst, Fachidioten zu werden. Der Mensch wird der sein, der den allgemeinen Überblick hat und der an den Schnitt- und Brennpunkten der Wissenschaft und Technik entscheidet. - Da auch die Libelle etwas Hochspezialisiertes ist, wurde sie abgeschafft. Und jeder von uns wird etwas Libellisches an sich haben. Deshalb wollte ich in ein Röhrenbad mit dir. Ich wollte dir zeigen, wie zärtlich ich sein kann.“ „Wir haben weit draußen einen Badesee“, schlug ich vor. „Danke“, sagte sie kühl, „beim Anblick dieses schaurigen Landes hier erwartest du doch nicht etwa, daß ich zärtlich sein könnte. Schon wenn ich nur wüßte, daß dieses weiß bepuderte Kakadu-Scheusal da im Umkreis von tausend Kilometern sein Unwesen treibt, hätte ich soviel Angst, daß an Freundlichkeiten nicht zu denken wäre...“ „Schade“, sagte ich, „aber wenn man sich nicht gerade auf eine Königskobra legt, ist es ganz romantisch hier.“ „Ich weiß nicht, was es ist“, sagte sie, „aber wir wollen von etwas Freundlicherem reden. Womit beschäftigst du dich?“ „Mykologie“, sagte ich einsilbig. Ich war eingeschnappt. Mich störte die mäklige Art dieses Mädchens, weil ich jetzt erst begriff, was ich war, als ich hier ankam. Ich dachte an das Drallercape und die Gardiolen. Und damals war mir alles ebenso normal vorgekommen, wie jetzt mein Wildlederzeug. Ich hatte zwei Stunden in Archimedes bleiben wollen und mich sicher entsprechend benommen. Isina wollte drei Tage lang Pflanzen sammeln, und ich würde sie begleiten. Es war schließlich nicht ungefährlich für einen Neuling... Nach dem Abendbrot suchte ich Isina. Ich lief durch das ganze Haus, ohne ihr zu begegnen. Auf der Terrasse traf ich mit Nora zusammen. „Wo ist sie?“ erkundigte ich mich. „Sie hat den letzten Aer genommen und ist zur Hotelsiedlung ge flogen“, sagte Nora, „sie wollte nicht über Nacht hier bleiben. Sie hatte Angst.“ Ich schluckte. Meine Arme fielen herab. „Was ist“, Nora legte ihren Arm um meine Schultern, schmiegte sich an mich, „hast du dich verliebt?“
„Ach“, sagte ich ärgerlich, „Unsinn. Nur sie hätte mir schließlich sagen können, daß sie geht. Wer weiß, wer sie dort erwartet. Ich mag solche Geheimniskrämerei nicht.“ „Ja, ja“, Nora lächelte verschmitzt, „streite es nur ab. Aber Eindruck hat sie auf dich gemacht. Gewaltigen Eindruck.“ „Ich fühle mich schon fast als Austraside“, sagte ich, „ich komme nicht los von diesem Fleck..., auch nicht von den Versuchen. Und erst recht nicht von meiner Hypothese. Ist das nicht verbohrt?“ „Es ist willensstark“, sagte Nora, bog meinen Kopf zu sich herab und küßte mich auf die Stirn, „und Ausdauer braucht man in der Wissenschaft.“ „Ich glaube“, ich löste mich aus ihrer Umarmung, stützte mich auf das hölzerne Geländer, „ich glaube, ein wenig liebe ich sie. Ich werde sie morgen fragen, ob sie nicht hier nächtigen will. Ich werde ihr viel zu erzählen haben. Ja, ich glaube, ich fühle ein wenig von dem, was du in deinen Gedichten immer wieder heraufbeschwörst. Ich fühle es...“ „Du wirst erwachsen“, Nora stand wieder neben mir, „und wir beide haben Zeit. Ich will dir etwas erzählen, Amon, etwas, was du jetzt wissen kannst. Höre mir also zu...“
Zweites Buch
Die Jagd nach dem Baum des Lebens
Boje 14222 Professor Friedhart Hofmant blickte in den mannshohen Spiegel, der die Innenseite seines Barockschrankes ausfüllte. Hofmant begutachtete sich von allen Seiten, strich sich noch einmal über die ordentlich gescheitelten Haare und erinnerte sich voller Stolz der Studentinnen des ersten Studienjahres, die allen seinen Bewegungen mit angehaltenem Atem folgten, die sich keine Phase seines großartigen Schauspiels, Vorlesung genannt, entgehen ließen. Hofmant lächelte sich selbst zu, während vor seinem inneren Auge die Hörsaalbilder vorüberzogen. Dann hob er leicht die Augenbrauen. Nur ein wenig. Er versuchte den herrischen Ausdruck seiner Augen abzuschwächen, ohne daß es ihm gelang. Er wußte nicht, woher das kam, aber es war so: Er konnte nicht interessiert oder freundlich dreinsehen. Hofmant schloß schließlich die Schranktür und trat an den Sprechgeber. „Wo ist dieser O'Delta?“ fragte er unwirsch, nachdem er den entsprechenden Knopf niedergedrückt hatte. „Er ist dabei, die Boje in die Entladestation zu bringen, Herr Professor“, war die Antwort der Sekretärin. Hofmant konnte schrecklich wütend werden, wenn einer, und wäre es auch nur die Sekretärin gewesen, seinen Titel vergessen hätte. Es gab damals nicht wenige, die wollten wissen, daß Hofmant die Professur einem undurchsichtigen Ränkespiel verdankte. Deshalb ahnte Hofmant augenblicklich Gefahr, wenn einer den Professor vergaß. Er gehörte zu den Menschen, die ständig heimlichen Widerstand und Intrigen vermuteten, weil sie selbst sich dieser unsauberen Mittel bedienten. Sein Weg begann in den unruhigen Zeiten des energetischen Umbruchs. Hofmant war damals Neulaborant für Biozösie. Einem Freund, der als Chefenergetiker an den Ligasitzungen teilnahm, verdankte Hofmant, daß zwei Ligisten auf ihn aufmerksam wurden und ihn förderten, ohne ihn zu fordern. So war er erster Biologe geworden und promovierte über das Thema: Neuenergiegewinnung und exemplarischer Monoprinzipalismus. Aus dieser Zeit stammt auch sein Lieblingszitat: Principales est principelles. Die Leitung irrt nie. So ließ er schließlich in den groben Stein über dem Hauptgebäude des Instituts die Abkürzung PEP einmeißeln, nachdem er die Professur erhalten hatte. Der neuernannte Professor tauschte alle fähigen Mitarbeiter des Instituts gegen solche des Mittelmaßes aus. Nicht umsonst fürchtete Hofmant, daß ein Fähiger ihn demaskieren und lächerlich machen könnte. Das war die Hofmantsche Angst. Es reichte die intelligente
Frage eines Studenten in der Vorlesung, und schon war dieser nach Hofmants Ansicht für die Universitätslaufbahn untragbar. O'Delta war die Ausnahme. Markus O'Delta hatte anderenorts studiert und bewarb sich am Institut, während Hofmant im Urlaub war. Das Einstellungsgespräch wurde von zwei anderen Mitarbeitern, Smith und Gaistchen, geführt, sie konnten an O'Delta nichts Ungewöhnliches entdecken. Diese Fähigkeit konnte man Hofmant nämlich nicht absprechen: Er erahnte das Ungewöhnliche sehr schnell, hatte einen Instinkt für Intelligenz und Genialität. Sie stellten O'Delta sorglos ein. Aber jetzt, neun Monate später, herrschte bereits ein gespanntes Verhältnis zwischen Hofmant und Markus, der zwar viele seiner Gedanken wenn auch trivialisiert bei Hofmantreden wiederfand, zugleich aber immer von dem Professor erfuhr, er sei mit seinen Ideen in einer Sackgasse. O'Delta hatte zudem Gedanken, die den Professor beunruhigten, ihn aufstöberten, bis in seine Träume verfolgten. Als Hofmant selbst noch ein kleiner Junge war, als ihn seine Mutter ab und an züchtigte, als er sich zu einem Schwätzer und Petzer entwickelte, Einzelgänger wurde und in der Schule hemmungslos strebte, nicht aber lebte, da wurden vierzehntausendfünfhundert automatische Bojen in alle Raumrichtungen gestartet. Dieses Unternehmen Lebenskralle sollte den Nachweis erbringen, daß es Leben in den Tiefen der Galaxis gab. Aber weder der neue Antrieb noch die Heimfindespulen, auf der Basis von Brieftaubenneuronen entwickelt, brachten den gewünschten Erfolg. Im Laufe von fünfundvierzig Jahren - nach ebendieser Zeit erloschen die automatischen neuralen Steuerimpulse - waren gerade zwanzig Bojen zurückgekehrt. Siebzehn Bojen waren mit leeren Containern, demoliert und zerschlissen, angekommen, und zwei der drei anderen hatten einige bekannte Mineralien an Bord, die auch von der Erde stammen konnten. Nur in einer war ein erfolgversprechender Samen gewesen: Die allseits beliebte Kicheralge konnte auf der Erde angesiedelt werden. Leider hatten immer wieder Schüler, die einen Topf Kicheralgen in den Klassenschrank stellten, dafür gesorgt, daß diese fröhliche Pflanze bald in Verruf kam. Nun war noch ein Nachzügler am Himmel erschienen. Die Boje 14222. Man hatte sie ordnungsgemäß gelandet und im Hofmantschen Institut untergebracht. Fernsehen, Bildberichten und Journalisten waren geladen, auch die Kapazitäten verwandter Wissenschaftszweige, und sie saßen allesamt in der Kuppel des Entladeraumes und sahen hinter einer Schutzscheibe aus Panzerglas die zerschrammte Boje vor sich, an der der Landeleiter, O'Delta und Frau Doktor Piefky, alle drei vorsorglich in
Schutzanzüge gehüllt, arbeiteten. Die Berichterstatter waren auch der Grund, weshalb Hofmant noch einmal in den Spiegel gesehen hatte. Als er den gigantischen Saal betrat und merkte, daß ihn niemand sah, verließ er mit einer scharfen Wendung den Raum und zog draußen den Sprechgeber aus der Tasche. „Brotjahr“, belferte er, „kommen Sie raus.“ Brotjahr kam unbeholfen und ein wenig ängstlich dreinschauend auf den Korridor. „Nun“, erkundigte sich Hofmant, „alles in Ordnung da drinnen?“ „Natürlich“, antwortete Brotjahr und hüstelte verlegen. „Ich werde jetzt kommen“, sagte Hofmant, „Sie können es den anderen mitteilen.“ Und so geschah es, daß Hofmant unter stürmischem Applaus eintrat, kurz ein paar Worte zur Bedeutung dieser Boje sagte, O'Delta mit einem bösen Blick maß und erklärte, daß die Boje geöffnet sei. Damit allerdings hatte er den Ereignissen weit vorgegriffen, denn es sollte noch fast zwei Stunden dauern, bis die drei hinter der Schutzscheibe mit den altertümlichen Schweißnähten fertig wurden. Kurz bevor dieser Vorgang abgeschlossen war, trat ein Mann in den Raum, dessen Erscheinen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das schulterlange schneeweiße Haar des Mannes schien sich mit dem bis auf die Brust reichenden Bart zu vereinen. Dazwischen schimmerte die Haut in einem kräftigen Bronzeton. Hellgelbe Augen sahen ernst und abgeklärt in die Welt. Das war Professor Ala Rabause. Rabause schaute über die Reihen der Anwesenden, und ein feines Lächeln lag auf seinem Gesicht. Als sein Blick Hofmant erreichte, wurden seine Züge gespannt, lösten sich aber gleich wieder, und sein Lächeln wurde intensiver. Es war, als mache sich der alte Mann über Hofmant lustig. Die Klappe der Boje fiel polternd zu Boden. Frau Doktor Piefky, die nicht rechtzeitig auswich, bekam das schwere Metall gegen ein Bein und stürzte. Man trug sie hinaus, um sie von einem Rettungsberger behandeln zu lassen. Hofmant versuchte den Vorfall mit einigen Bemerkungen zu bagatellisieren, aber immerhin: Man hatte es gefilmt. Hofmant knirschte heimlich mit den Zähnen. Diese Piefky, dachte er grimmig, welch eine Schande für uns. Bleibt einfach stehen... Das Thanato-Anbio-Gas war durch mehr als fünfzig Prozent Sauerstoff ersetzt. Alle warteten gespannt, was sich im Innern der Boje befinden würde. Enttäuschung Nummer eins: Die Sprechzelle der Boje war ausgefallen, so daß es keinerlei Erklärungen gab. Schließlich aber kam der Kopf einer in allen Farben schimmernden Echse zum Vorschein, deren gespaltene Augen unruhig in das Rund blickten.
Das Tier entrollte spinnwebfeine Fühler, die die Luft peitschten. Der Blick des Tieres wurde wehmütig, fast traurig. Als sich die Echse weiter und weiter aus der Öffnung zwängte, konnten alle das feine, dichte Haarkleid sehen, das den zierlichen Körper einhüllte. An den Seiten trug das Tier eine Reihe ebenmäßiger nebelgrauer Auswüchse. Endlich stieß sich das Tier, während die Filmkameras surrend alles registrierten, vom Rand seines Gefängnisses ab, entfaltete zwei Doppelflügel und schwebte in der Luft umher. Mit seinen Krallen versuchte es, den Schutzanzug des Landeleiters zu beschädigen, ohne daß dies gelang. Nachdem die Echse gelandet war, lief sie auf den Hinterbeinen trippelnd umher. Es war offensichtlich, daß sie einen Ausweg aus dem gläsernen Gefängnis suchte. Dann hielt sie vor Markus O'Delta, sah ihn aus großen, feuchtschimmernden Augen an. O'Delta fühlte alles in sich klamm werden, denn plötzlich waren Worte in seinem Kopf: Wo sind die Kinder... Bitte... Sie werden ohne mich sterben müssen... Bitte ...Ich muß nach Haus... Bitte... Ich muß zu ihnen... O'Delta fühlte sich wie im Traum. Man müßte das Panzerglas zertrümmern und mit dieser Frau - er dachte beim Anblick jener Echse tatsächlich mit dieser Frau - einfach fliehen. Die Kinder suchen. Zugleich dachte er: Das ist Schizophrenie. Echsen können nicht denken. Nicht ihre Kinder suchen. Nicht reden. Nicht Frau sein. Echsen können nichts. Da erhob sich das Tier erneut. Warum können Echsen nicht Frau sein und nicht Kinder haben... ? Dies waren die nächsten Gedanken, die Markus empfing. Dann ging alles rasend schnell. Das Tier beschleunigte seinen Flug und prallte wie ein regenbogenfarbenes Geschoß gegen das Glas, wo es augenblicklich mit gebrochenem Genick und verblassenden Flügeln, mit stumpfer, farbloser Haut und glasigen Augen abstürzte und unbeweglich liegenblieb. „Unsere Institution hatte eine Anästhesieentladung angeraten“, sagte Ala Rabause in das aufgestellte Mikrofon und erreichte damit, daß Hofmant grau wie Marmor wurde, „aber natürlich wußte Kollege Hofmant alles besser.“ Hofmant zog den Kopf ein, konnte aber angesichts des toten Tiers keine Antwort geben. Ein nicht mehr gutzumachender Schaden war entstanden. O'Deltas Gesicht verriet seine Haltung, zeigte Hofmant erneut, daß ihm da jemand ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte. „Überhaupt“, setzte Rabause seine Rede fort, „ist es ein Unding, mit einer räuberischen Boje irgendwo einzudringen und zu nehmen, was sich greifen läßt. Allerdings zeigt uns die hohe Verlustrate, daß nicht alles Leben wehrlos ist gegen Übergriffe und Verschleppung. Das war
einer der letzten menschlichen Irrtümer aus der Zeit der Waffen und Kriege. Landen, Rauben, Verschwinden. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn man einer höheren Intelligenz begegnet wäre, die an Vergeltung gedacht hätte. Wie gefiele es uns, wenn es kirchturmgroße Zylinder regnete, wenn man uns zu Tausenden aufsaugte und entführte? Dabei ist eine solche Technologie bei dem Stand unseres Wissens heute nicht einmal undenkbar.“ „Bravo!“ rief O'Delta. „Bravo, Professor Rabause.“ Spontaner Beifall klang auf. Zwei Blüten schwebten aus der Boje. Die Gebilde umgaukelten einander. Sie torkelten den Scheinwerfern entgegen und kamen dann wieder herunter. Ihre unruhige Flugbahn schien ohne Ziel. Rabause sah es zuerst. Die Blüten näherten sich immer wieder und jedesmal mehr dem Landeleiter, der ihrem Spiel ebenso fasziniert zusah wie die anderen. Nun waren sie bei ihm. Die eine der Blüten näherte sich dem Mann von der rechten Seite, die andere von der linken, und als sie ihn erreicht hatten, riß der mit einem Ruck den Schutzhelm ab. Alles sprang auf. Die Kameras surrten. Sie sahen, wie stoßweise Blut aus Nase, Mund, Ohren und Augen des Landeleiters quoll, sich zu einem breiten sickernden Strom vereinigte, der sich über das makellose Blau des Schutzanzuges ergoß. Der Mann taumelte wie trunken im Rund der gläsernen Arena umher, ehe er über der toten Echse zusammenbrach. Noch waren die Menschen im Banne des Geschehens, als die schwebenden Blüten sich O'Delta näherten. „Vorsicht, O'Delta!“ klang da die durchdringende Stimme Ala Rabauses durch das Mikrofon, „sie kommen zu dir.“ Markus O'Delta sah sich gehetzt um und schlug nach den Schwebblüten, die sich ihm von vorn und von hinten näherten. Er hechtete nach vorn, packte den schweren Schneidbrenner, mit dem die Boje geöffnet worden war, und versuchte, ihn in Gang zu bekommen. „Öffnen Sie den Fluchtweg, Hofmant“, forderte Rabause scharf. „Das kann ich nicht“, Hofmants Antwort war ein Gestammel, „ich kann nicht gegen das Seuchenschutzgesetz handeln.“ Ein regelrechter Tumult entstand. Die Filmreporter schrien, daß man aus dem Weg gehen solle, denn sie wollten von nun an alle Einzelheiten des dramatischen Zweikampfes festhalten, andere Beobachter gaben, je nachdem, aus welchem Winkel sie das Geschehen sahen, dem verstörten O'Delta die unterschiedlichsten Ratschläge. Der erkundigte sich brüllend, wie denn der verdammte Brenner zu entflammen sei, und zugleich erschien ein gallertartiger Klumpen, der sich dem Einstieg der
Boje 14222 entwand und leicht über den Boden glitt. Er näherte sich dem Toten und dem verendeten Tier. Als nach einer geraumen Weile der Brenner immer noch nicht arbeitete, warf O'Delta das schwere Gerät nach einer der mörderischen Blüten, ohne sie allerdings zu treffen. Dann lief der Assistent quer durch den Raum hinter der gläsernen Schutzwand, sprang über das klumpige Wesen, das sich über die toten Körper wie ein Tuch ausgebreitet hatte, und hielt erst inne, als er den Handscheinwerfer erreicht hatte. O'Delta versuchte die Blüten mit Licht zu irritieren. Unbeirrt von dem gleißenden Leuchten, näherten sich die schwebenden Gebilde erneut dem wehrlosen Menschen. Das Geschrei und die Schreckensrufe aus den Zuschauerrängen nahmen zu. Nun schienen die Blüten unsicher. Sie taumelten ziellos hin und her, verloren den Kontakt zueinander und schienen auch nicht mehr zu wissen, wo O'Delta stand, denn sie entfernten sich von ihm. „Schreien“, verlangte Ala Rabause über Mikrofon, „um Gottes willen, meine Damen und Herren, schreien Sie, was Sie können. Nur so ist O'Delta zu retten.“ Markus O'Delta wurde gerettet, und die Blüten zerfielen in griesigen Staub. Inzwischen aber hatte jenes Eiweißgebilde den Körper des Landeleiters und den der Echse aufgelöst... Alles andere geschah unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es kamen nur noch mumifizierte Kadaver zum Vorschein. Eine stahlblaue Rippenspinne. Ein Regenbogenhörnchen. Ein Wimmelmull. Ein knapp fingerlanger Kuhschellenmakak und eine Schachtelhalmsifaka. An Pflanzen fand sich die getrocknete Nackelflalle und eine Sammlung vielmündiger Renjyrmas. Auch Isionen gab es, wenn sie auch kaum noch kenntlich waren. Zuletzt kam ein Stück Ast ans Licht des Tages, an dem fünf Blätter und zwei Früchte hingen. Die Blätter sahen gelborange aus und hatten eine blasse Maserung. Die Früchte aber, violett und leuchtend, zeigten eine blaßblaue Spitze und ein grellrotes Tigermuster. Ihre Form erinnerte an ein Säugetierherz.
Die Ratte im Schaumbad Nachdem Hofmant den ersten Schrecken überwunden hatte - er mußte Rügen durch den Energetischen Rat erwarten, statt dessen lobte man seine Tapferkeit und Kaltblütigkeit -, brach eine angenehme Zeit für den Professor an. Kein Tag verging, an dem nicht Reporter zu ihm kamen, ihn interviewten und eine Einschätzung der gesammelten Erfahrungen erbaten. Er war in diesen kommenden Monaten der meistfotografierte und meistinterviewte Mann. Das schmeichelte seiner Eitelkeit.
Die Nachrichten aus den Labors des Biozens hingegen waren nicht ermunternd. Alle Objekte, die man präparieren wollte, verwandelten sich in stinkende Brühe, und jener Gallertklumpen war ebenfalls verendet. Doch davon sagte Hofmant nie ein Wort. Im Gegenteil: Er prahlte damit, daß das Biozen neuen großen Zeiten entgegenginge und man in absehbarer Zeit mit ungeahnten Erkenntnissen aufwarten könne. Dabei dachte Hofmant an die einzigen erhalten gebliebenen Gebilde, jene Pflanzenfrüchte. Die Äste, auf Nährlösung gesetzt, zeigten bald eine gesunde Wurzelbildung, und die Anzahl der Blätter vermehrte sich. Man nannte den Baum Hyanodendron succulentoides. Damit traf man zwei Tatsachen: Nicht nur, daß die Boje aus der Sterngruppe der Hyaden gekommen war, sondern die Pflanze ver brauchte auch tatsächlich ungewöhnlich viel Wasser, und sie besaß die Fähigkeit der Wasserspeicherung. Daher der zweite Name. In anderen wissenschaftlichen Kreisen, in jenen, die Rabause nahestanden, setzte sich allerdings der Name Hyanodendron coriformes - die Herzgestaltigen - durch, denn die Früchte ähnelten tatsächlich verblüffend einem Herzen. Als die Nährlösung die wachsenden Äste nicht mehr trug und auch eine allgemeine Stagnation des Wachstums eintrat, ordnete Hofmant an, sie in einen vorbereiteten Mutterboden umzupflanzen. O'Delta wollte den Professor warnen, er dachte an ein Trägernetz, das dafür sorgen würde, daß die Äste Halt hatten, aber Hofmant wischte O'Deltas Vorschlag mit einer gewichtigen Handbewegung beiseite. Anderentags waren beide Äste tot. Und Hofmant, der morgens davon erfuhr, nahm einige Tage Urlaub, wollte nichts mehr sehen und hören. Es existierten also nur noch die beiden Früchte, Hyanodendron succulentoides oder Hyanodendron coriformes war tot. War von einem gelblichen Pilz durchdrungen, hatte lange, aber dafür leblose Wurzeln. Die Früchte kamen in die biochemische Abteilung. Die Biochemiker O'Delta war Botaniker und Biochemiker, und es stritten sich in ihm selbst mehr als einmal der Biologe mit dem Pharmazeuten - suchten andere Dinge als die Biologen. Sicher, man würde die Früchte vermehren, dann hatte man mehr Ausgangsmaterial, aber den ersten Ruhm würde die Konkurrenz aus der botanischen Abteilung einstecken. Andererseits waren die lebenden Pflanzen unnötig, wenn man die Struktur bestimmter wirksamer Substanzen kannte, weil man sie dann in der Retorte nachbauen konnte. Mit der lapidaren Feststellung, daß keine der beiden Früchte fortpflanzungsfähig oder wuchsfähig sei, versetzte man den Botanikern einen vernichtenden Schlag und begann alsbald mit der Extraktion aller in den Früchten enthaltenen Wirksubstanzen.
Nun aber zeigte sich die Vielfalt der Materie: Man fand Stoffe, die es nach allen geltenden Gesetzen der Molekularbiologie, der Biochemie, nicht geben durfte. Diese „Tabusubstanzen“, wie die Presse sie nannte und welchen Begriff die Wissenschaft alsbald übernahm, waren fremdartig und in ihrer Wirkweise unerklärlich. Ob sie dafür gesorgt hatten, daß der Schimmel die Früchte nicht berührt hatte? Friedhart Hofmant annektierte ohne weitere Diskussion alle diese Substanzen und schloß sie in dem Safe seines Arbeitszimmers ein. Hofmant, der schon lange eine Hypothese entwickelt hatte, aber aus Angst vor Rabauses vernichtender Kritik diese nicht zu veröffentlichen gewagt hatte, sah seine Stunde gekommen. Dabei ist anzumerken, daß auch andersartige Funde seine Theorie weitgehend gestützt hätten. Und so war schon bald zu lesen: Von der Uniformität der parasitären Welt (Biozen/Hofmant/eig.Idee) Wir wissen, daß die ganze universale Vielfalt aus einem einzigen Punkt entstanden ist. Wir können das Ereignis datieren und tun dies auch. Aus dieser temporären und materiellen Einförmigkeit entwickelte sich die ganze Vielfalt der interstellaren und stellaren Körper. Die erste Generation der Himmelskörper ist zerfallen. Wo aber, so muß man sich fragen, ist das Leben der Planeten der ersten Generation? Es ist parasitär geworden, und zwar uniform parasitär. Natürlich mußte es sich einem Anpassungsmechanismus unterwerfen, als die Himmelskörper, die Sonnen und Galaxien der zweiten Generation entstanden, und dadurch kam es zu einer Aufspaltung. (Auch unsere Etruskerspitzmaus und das Mammut haben letztendlich einen gemeinsamen Vorfahren, ja sogar der Mensch und der Lanzettfisch oder der Bandwurm können auf einen Ahnen blicken.) Heute kennen wir die unterschiedlichsten Krankheitserreger. Zoavren, Mooltrynen, Rickettsien, Bakterien, Viren, Phagen, Shigellen und Fäulniserreger gehen also auf eine Urform zurück und haben ein Ziel: einzudringen in eine lebende Zelle und sich zu holen, was sie selbst benötigen. Damit kann man einen wirksamen Schutz gegen jede Erkrankung finden, wenn man den allen Parasiten gemeinsamen Mechanismus kennt und vernichtet. Das Biozen ist nahe daran, diesen geheimen Mechanismus aufzuspüren und ein Präparat für alle Krankheiten zu konzipieren und in Serie herstellen zu lassen.
Natürlich stürzte sich die Presse auf diese Hypothese. Sachliche Stimmen wie die von Ala Rabause, der auf all die Ungereimtheiten und logischen Widersprüchlichkeiten in Hofmants Bericht hinwies, wollte niemand hören, denn es ging um einen Stein des Weisen, der alle Krankheiten beseitigen konnte. Die schärfsten Proteste, wenn sie auch leider nur in den Fachblättern erschienen, kamen aus den Reihen der Mediziner, die Hofmant öffentlich einen Querkopf, einen Ignoranten und wissenschaftlichen Scharlatan nannten. Es gäbe Verschleißkrankheiten, mahnten sie, genetische Schäden, die zum Leben gehörten wie Atmung und Metabolismus. Wie kann ein Antibiotikum, sei es auch ein Zaubermittel, zugleich den Kreislauf stützen, die DNS-Schäden rückgängig machen und Infekte eingrenzen. Nein, dieser Hofmant war ein Phantast, wenn nicht etwas Schlimmeres. Doch die Tagespresse schlug andere Töne an. Hofmant wurde als der Retter der Menschheit bezeichnet, man wähnte das Wundermittel schon in Sicht, und zu all der normalen Post kamen die Schreiben Zehntausender Kranker, die sich Hofmant als Versuchspersonen anboten, ihn um Hilfe baten und nichts ausließen, die Aufmerksamkeit des Messias auf sich zu lenken. Noch einen Zweifler gab es: Markus O'Delta. Drei Assistenten, unter ihnen Markus O'Delta - vielleicht auch als der Anstifter -, hatten eine Unterschlagung begangen. Sie hielten ein wenig von jenen Substanzen zurück, lieferten nicht alles an Hofmant ab. Und mit diesen Grundsubstanzen, die sich nicht reproduzieren oder nachbauen ließen, weil im Raum um die Erde ein anderes Newtonfeld herrschen mußte als um den fernen Hyadenplaneten, experimentierten sie. Im Labor waren einige Raben, und mit diesen Tieren wurden nun Versuche gemacht, die nicht befriedigend abgeschlossen werden konnten. Die infizierten Vögel gingen alle jämmerlich ein, ohne daß einer der unbekannten Stoffe half oder gar Linderung verschaffte. In den restlichen Abteilungen des Biozens wurde die HofmantHypothese aus verständlichen Gründen immer weiter entwickelt. Man sprach von Ur- und Erstparasiten, von denen der ersten Stunde, Welle und Generation, von Antikristallinen und Dogmarinen. Und man schlug vor, das Paul-Ehrlich-Körperchen in Friedhart-Hofmant-Zoavre umzubenennen. Hofmant, der die Reste der kostbaren Substanz in zwei bruchsicheren Repertien untergebracht hatte, zeigte zunehmende Nervosität, denn alle bisherigen Versuchsreihen waren gescheitert, von einer Wunderdroge konnte überhaupt keine Rede sein.
Tödliche Gifte fand man, Substanzen, die alles Lebendige vernichteten. Allein Viren, Zoavren und Phagen gediehen prächtig. Manche Mikroben wurden jetzt erst pathogen, so daß Tag und Nacht die Mikrobenvernichtungsanlage in Betrieb war und beseitigte, was ent standen war. Es gab Riesen- und Zwergwuchs. Viren von der Größe eines Einzellers waren ebenso alltäglich wie Bakterien, die jeden Virusfilter passieren konnten. Hofmant ließ in dieser Phase alle Versuche vorübergehend einstellen. Er wartete auf eine grandiose Idee, die doch noch alles zum Guten wenden würde. Der Zufall griff ein und brachte alle ins Rollen. Markus O'Delta und seine beiden Mitverschworenen hatten ihre Substanz allerdings fast verbraucht. So saßen sie an einem regnerischen Abend in O'Deltas Wohnung und diskutierten. „Unser Immunsystem ist nicht mehr viel wert“, sagte Dreier, Markus einstiger Kommilitone und jetziger Freund, „das ist es doch. Seit Jahrhunderten werden wir von Kindesbeinen an mit Medikamenten gefüttert. Schnupfen: Antibiotikum. Husten: Antibiotikum. Es ist ein regelrechter Wettlauf zwischen der Immunität der Erreger und dem neuen Medikament. Ihr wißt es doch selbst: Ob venerische Krankheit, ob Erkältung, was früher harmlos und leicht zu beseitigen war, heute ist es ein Problem...“ „Weil die Erreger nicht still halten“, schaltete sich O'Delta ein, „sie verschmelzen, teilen sich und haben neue Eigenschaften. Manche, die ihnen nichts nützen. Dann sterben sie. Aber auch solche, die sie unempfindlich gegen das Präparat machen, und dann leben sie und vererben ihre Unantastbarkeit, und im Handumdrehen hast du einen neuen resistenten Stamm eines bekannten Körperchens. Das wissen wir. Was wir nicht wissen ist: Wozu ist der Rest der Substanz noch gut? Ich habe keine Idee. Wir sollten das Zeug Hofmant zuspielen. Vielleicht, daß in einer anderen Abteilung eine Idee reift. Und die brauchen es unter Umständen nötig.“ „Der Weg aus diesem Dilemma“, Raapita, der dritte aus dem Trio, saß leicht vornübergebeugt am Tisch, „wäre doch: kein Medikament mehr. Gar keins. Bei einem Rattenstamm sollten wir alle Medikamente weglassen. Achtzig Prozent der Tiere würden verenden, aber die Überlebenden würden widerstandsfähig sein. Nur ist der Mensch keine Ratte. Man kann ihn nicht sterben lassen, um eine gesunde Art zu erzeugen. Ihr beobachtet sicher auch voller Genugtuung die Neuentdeckung der Wadenwickel, die Toleranz gegenüber Fieber, wenn es auftritt. Das ist ein Anfang. Man muß das schrittweise tun, und wenn es ernst wird, mit Medikamenten die Heilung unterstützen und den Tod verhindern... Zugleich aber ist eine neue Sorge in der Welt: Organverpilzung. Nicht tödlich, noch nicht tödlich, aber schmerzhaft und häßlich. Weil der Erkrankte mit seinen Hautdefekten, dem leicht
eingeschränkten Sensorium und den. manchmal auftretenden Hormonentgleisungen entstellt ist. Und da sollten wir ansetzen.“ „Humanversuche“, O'Delta sprang auf, „bist du verrückt! Wir haben bei Tieren keinen Erfolg, und du willst den Menschen als Objekt angehen? Ohne mich. Ich bringe morgen das Zeug zu Hofmant. Und ich nehme zur Not auch ein Disziplinarverfahren und den Rausschmiß auf mich...“ Raapita lachte heiser auf, dann verzerrte sich sein Gesicht. „Was ist los?“ Dreier hob den Freund auf, dessen Kopf auf die Tischplatte gefallen war. „Schon gut“, Raapita stöhnte schwach, „ist gleich vorbei.“ O'Delta rückte seinen Stuhl vor. „Erzähle“, sagte er nur. „War beim Arzt“, Raapita versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen, aber es gelang ihm nicht, „und meine Harnblase ist verpilzt. Nicht wesentlich. Nur ein wenig.“ „So ein Mist“, sagte Dreier, „wenn das Hofmant erfährt, nimmt er dich aus der Forschung. Schiebt dann immunologische Bedenken vor. Und die Behörde wird diesem Argument folgen. Und wenn er es geschickt dreht, dann sind wir beide gleich mit dran. Vorwand: Sie könnten unerkannt infiziert sein. Hofmant wird jubeln, wenn ihm das zu Ohren kommt...“ „Und was tun wir dagegen?“ fragte O'Delta. „Ich weiß etwas“, Raapita richtete sich auf, „aber ihr müßt schweigen. Auch, wenn wir Erfolg haben. Versprecht es...“ O'Delta und Dreier bewegten zustimmend die Köpfe. „Habt ihr die Verpackung der Früchte gesehen“, fragte Dreier, und nachdem sie verneint hatten, fuhr er fort, „sie sind aus dem Kanister gefallen und lagen an der Außenwand der Boje 14 222. Wißt ihr, was das heißt? Sie haben alles überstanden, was auf sie einstürmte. Wellen. Strahlen, Kälte. Hitze. Sie müssen einen Zellkern haben, der wie Titan ist. Sie sind das stabilste, was der Menschheit je unter die Augen gekommen ist. Selbst unsere wirksamsten Mikroben wären in der Zeit kaum mehr als wirkungsloser Materiestaub. Stellt euch einmal vor, die Früchte können diese Eigenschaft weiterreichen. Der Zellkern stabilisiert sich. Mein genetischer Satz...“ „Warum sprichst du von deinem genetischen Satz“, unterbrach ihn O'Delta, „was heißt das?“ „Warte ab“, erklärte Raapita, „stellt euch vor, mein genetischer Satz übernimmt ein Tausendstel dieser Stabilität. Mein Abwehrsystem würde alle Mikroben, alle Fungi und Viren besiegen.“ „Und du würdest dafür an einem anaphylaktischen Schock sterben“, vermutete Dreier, „du würdest zuletzt deinen eigenen Körper vor sich selbst und vor seinen Ausscheidungsprodukten bewahren, was?“
„Immer noch besser, ein entsprechendes Medikament zu schlucken“, Raapita lächelte schwach, „als verkrüppelt und halbblind zur Untätigkeit verdammt zu sein. Ich will einen Selbstversuch machen. Gesunde ich, dann nehme ich alles auf mich, auch den Diebstahl, und haue Hofmant in die Pfanne, wie es so schön heißt. Bleibt alles, wie es ist, dann haben wir Pech gehabt. Macht ihr mit?“ „Und wenn es schiefgeht?“ O'Delta sah unruhig von einem zum anderen. „Haben wir nicht genug Gifte und tödliche Substanzen bei unseren Versuchen erhalten? Was, wenn es schiefgeht?“ Raapita lächelte verkrampft. „Ich wische eure Fingerabdrücke ab“, sagte er, und sein Gesicht war blaß, ein milchiger Fleck, in dem die Glut zweier Augen brennende Zeichen einer unumstößlichen inneren Bereitschaft setzten, „und war es ganz allein. Keiner von euch hat etwas gewußt...“ Schweigen senkte sich auf die drei Männer. O'Delta öffnete seine schwarze Ledertasche und entnahm ihr ein kleines Röhrchen, stellte es vor Raapita auf den Tisch. „Und wann wirst du es tun“, erkundigte sich Dreier. „Ihr werdet schon sehen“, Raapita stand auf, nahm das Röhrchen, in dem eine Flüssigkeit das Lampenlicht reflektierte, „ihr werdet es als erste erfahren.“ Er öffnete einen Wandschrank und stellte das Medikament in ein kleines Klappfach... Am anderen Morgen fing O'Delta Dreier ab. „Ich nehme es ihm wieder ab“, sagte er, „gleich heute nach dem Dienst. Ich bin noch einmal alles durchgegangen. Was Mikel vorhat, ist Wahnsinn. Immer nur Mißerfolge. Bildet er sich ein, daß sein Verstand die Substanz besiegt, sie ihm dienstbar macht?“ „Wir waren verrückt“, Dreier stimmte O'Delta zu, „diese blödsinnigen Diskussionen. Man verliert die Welt. Man schaukelt sich in eine euphorische Stimmung hinein. Zu Hause sind mir die gleichen Bedenken gekommen...“ Im Labor stellten sie beunruhigt fest, daß Raapita, der sonst immer vor ihnen erschien, abwesend war. Der Vormittag wurde zur Ewigkeit, und am Mittagstisch erfuhren sie es: Raapita lag in einem Krankenhaus. Hofmant erlaubte O'Delta den Krankenbesuch, und gegen vierzehn Uhr stand der erschütterte Mann vor dem Krankenbett, in dem ein hohlwangiges, gespenstisches Wesen lag, das behauptete, Raapita zu sein. Sein Leib war unförmig geschwollen, die Haut zeigte einen tiefen Bronzeton. Das Herz des Kranken jagte, und seine Sprache war undeutlich. Die Verständigung war kaum möglich. Nur eins erschien dem Vergifteten am Herzen zu liegen: Er gab O'Delta sein Tagebuch, das er unter dem Kopfkissen aufbewahrt hatte.
O'Delta sah Raapita nie wieder, der nach zwei Tagen starb. Noch während der Freund mit dem Tode rang, las O'Delta die Aufzeichnungen. „Es muß sein“, waren die ersten Sätze, „und es muß gleich sein. Immer ist das Leben stärker als der Tod, und immer waren es wa gemutige Wissenschaftler, die dem Tod Paroli boten. Nun, denn, Freunde. Es ist jetzt 22.49 Uhr, und ich nehme mein Mittel. 0.10 Uhr. Ich muß unmittelbar nach der Einnahme eingeschlafen sein. Meine Träume waren sehr angenehm. Vielleicht habe ich einige Erinnerungen jener Pflanze angezapft. Ich war in einer fremden freundlichen Welt, in der alles so anders war als bei uns. Es ist schade, daß ich mich an so wenig erinnere und daß ich nicht die Zeit habe, was ich noch weiß, niederzuschreiben, denn bei einem Selbstversuch muß man anderes aufnotieren. Ich bin völlig schmerzfrei und fühle mich ungewöhnlich heiter und stark. Ja, nur so ist den Zweiflern beizukommen. Nur so. Die Schmerzen in der Harnleitergegend sind verschwunden. Ich spüre nichts mehr. Die Konturen aller Gegenstände scheinen mir deutlicher, die Farben sind intensiver geworden, und mein Geruchssinn hat sich geschärft. Sollte das so bleiben, dann habe ich ein Sensorium, um das man mich beneiden kann. Da ich wach bleiben will, werde ich ein wenig lesen... 1.42 Uhr: Ich bin überhaupt nicht müde. Dafür habe ich Hunger. Leider fand ich in der Küche nur noch zwei kleine Konserven. Ich habe die Erdnüsse und die Geflügelleberpastete sofort gegessen. Aber ich habe immer noch Hunger. Und Durst. Na, das ist kein Problem. Tee und Mineralwasser habe ich ausreichend im Haus. Ich öffne jetzt, wenn ich den Stift aus der Hand lege, die dritte Flasche. Morgen muß ich meine Leuchtröhren austauschen, weil sie ziemlich klägliches Licht geben. 2.30 Uhr: Ich warte voller Spannung auf den Sonnenaufgang, denn wenn man eine ganze Nacht wach bleibt, dann erst weiß man, wie kümmerlich diese sogenannten Tageslichter sind, die unsere Wohnungen zieren. Man erkennt alles nur noch undeutlich. Und das Mineralwasser. Und der Tee. Alles ohne Geschmack. Dabei steht auf dem Wasser: Zitronenaroma, und auch der Tee soll Darjeeling sein. Kann ja wohl nicht stimmen. Alles ist geschmacklos. Und reizt die Blase. Reizt sie schmerzhaft. Und von den Konserven würde ich jetzt auch nicht mehr sagen, daß sie sehr frisch waren. Der Magen, ich spüre meinen Magen und meine Därme. Sogar die Leber meldet sich. Wenn das so weitergeht, habe ich morgen eine klassische Diarrhöe und darf zu Hause bleiben. Dann kann ich mir gleich in den Morgenstunden neue Röhren holen... und mein Unwohlsein auskurieren...
3.45 Uhr: ...brennt. Alles brennt. Das ist Wahnsinn. Was ist das bloß für ein Schmerz... Das war ja vorhin, nein, vordem, also bevor ich das Zeug genommen habe, besser... Mein Kopf schmerzt. Ich bin übermüdet. Mein Kopf..., da dreht es sich, immer rundherum wie ein Karussell, daß man nicht abstellen kann... Überhaupt nicht... Nach vier: Ich muß telefonieren. Ich will es nicht, weil sie es sonst wissen. Ich muß, sofort. Aber als Wissenschaftler habe ich... die Pflicht... bis zum Atemzug... Ich will nicht ster... Bitte. Mir ist schlecht. So schlecht..., warum habe ich das getan? Ich gehe telefonieren... Ich glaube, weiß jetzt, was es ist..., andere Früchte..., stimmt schon alles..., nicht alle hatten Kontakt mit der Wand, die anderen sind... O'Delta ließ die mageren Aufzeichnungen auf den Tisch sinken. Vor seinen Augen rollte visionär die Tragödie ab, die sich in der Wohnung seines Freundes abgespielt hatte. „Nicht er“, flüsterte O'Delta entsetzt, „sondern der Pilz hat sich verändert. Auf schreckliche Weise hat er sich jetzt verändert, und diese neue Art wird nicht nur Verkrüppelungen und Hautverfärbungen erzeugen, sondern sie wird Menschenleben fressen... Was haben wir da eingeleitet... Am nächsten Morgen legte O'Delta seine Kündigung auf Hofmants Tisch, und er bewarb sich bei der Raumflotte. Hofmant willigte augenblicklich ein, wurde er doch den Mann los, der ihm lange ein Dorn im Auge war. So wurde Markus O'Delta Raumflieger. Es war Feigheit und Flucht. Er ahnte, daß die Hyperverpilzung durch den Selbstversuch seines Kameraden eine ungeheure Ausbreitung erfahren konnte, daß sie in ein neues, gefährliches Stadium getreten war, und er wollte nichts mehr von dem wissen, was nun geschehen würde. Der zweite Zufall hing mit einer der berühmten Hofmantschen Pressekonferenzen zusammen. Der Professor entnahm seinem Safe die Substanzen und ließ sie jovial von Hand zu Hand gehen. Die Journalisten waren begeistert. Obwohl man kaum durch die Dunkelgläser schauen konnte, waren sie geradezu entzückt. Am Ende seiner weitschweifigen Erklärungen stellte Hofmant die kostbaren Repertien auf seinen Schreibtisch und geleitete die Journalisten zu ihren Autos. Dabei entstanden noch einige sehr wirkungsvolle Bilder des Professors.
Schließlich kehrte Hofmant in sein Zimmer zurück. Aufatmend ließ er sich in den Sessel fallen, schien ausgepumpt. Dann beschlich ihn ein Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. Die Unruhe nahm in der nächsten halben Stunde zu. Nicht einmal als er eins der Alben seinem Schrank entnahm, in dem er Fotos aufbewahrte, die ihn bei allen möglichen Gelegenheiten und Anlässen zeigten, vermochte das die dunklen Gedanken zu vertreiben. Hofmant ließ es achtlos auf den Schreibtisch fallen. Dann sah er sich suchend um. Natürlich gab es im Biozen auch Ungeziefer. Sogar giftige Tiere waren dabei, aber sie waren im Metallturm untergebracht, den er nie betrat. Es bestand ein Verbot, gefährliche Tiere - und schon Wespen galten als gefährlich - außerhalb des Metallturms in lebendem Zustand unterzubringen. Nein, von da her drohte ihm keine Gefahr. „Die Repertien“, schrie der Professor plötzlich auf, „wo sind die Repertien...?“ Wie ein Blitzstrahl durchfuhr es ihn. Die Repertien mit den kostbaren Substanzen waren verschwunden! Sie hatten vorhin auf dem Schreibtisch gestanden. Direkt vor ihm. Hofmants Stirn und seine Hände bedeckten sich mit kaltem Schweiß. Er warf Blätter vom Tisch, fegte das Album herunter, zertrümmerte den Marmorschreibsatz und konnte sich nicht beruhigen. Die Glasbehälter blieben verschwunden. Dreimal schloß er nacheinander den Safe auf und wühlte und wühlte. Natürlich hatte er sie nicht eingeschlossen. Er wußte es und glaubte sich trotzdem nicht. Hofmant kroch auf allen vieren durch das Zimmer, kippte die Sessel und die Stuhllehnen um, rollte den Teppich auf, soweit es ging. Dann dachte er an die Reporter. Wenn einer von denen überhaupt kein Reporter gewesen war, sondern ein Spion Rabauses! Man würde über ihn schmunzeln, lachen und ihn dann ablösen, denn Rabause wußte sicher etwas mit dem Material zu beginnen. Hofmant versuchte sich die Reporter noch einmal vorzustellen. Aber ihm fiel immer nur jene feingliedrige Frau ein, für die er die ganze Zeit gesprochen hatte. Man hatte ihn sogar gestört. Aus dem Rattenlabor hatte man an gerufen, weil man Parathormon brauchte. Ja, hatte er geantwortet, holt es euch. Aber nun bitte keine Störung mehr. Und wenn nun in dieser Zeit der Unbekannte zugegriffen hatte, denn immerhin war nicht nur Hofmant abgelenkt, sondern alle. Das Rattenlabor... Hofmant wurde plötzlich übel. Sie wollten das Parathormon, und er hatte es ihnen zugesichert. Er war mit den Reportern unterwegs, und der Bote, dieser beschränkte Mensch, war hereingekommen und hatte die Repertien gesehen. Zwei Flaschen sollte er bringen, da standen sie ja.
Der Gedanke war ungeheuerlich. In Repertien werden normalerweise Hormone aufbewahrt. Ratten, dachte der Professor entsetzt, Ratten fressen meinen Weltruhm. Zum Teufel... Hofmant drückte die Ruftaste. „Doktor Esselyn“, meldete sich eine zaghafte Stimme, „bitte...“ „Hofmant“, donnerte der Chef, „haben Sie schon die Hormone?“ „Natürlich“, bestätigte Esselyn eilig. „Sind die Ratten schon geimpft?“ „Ja“, antwortete Esselyn, „Sie wissen, daß wir alle Ihre Anweisungen augenblicklich ausführen.“ „So“, grollte Hofmant, „so...“ „Ist denn etwas nicht in Ordnung?“ fragte Esselyn besorgt. „Nein, Esselyn“, Hofmants Stimme war gefaßt, „es hat alles seine Richtigkeit.“ „Da bin ich aber froh.“ Hofmant sah in Gedanken Esselyns rundes Kindergesicht strählen. „Wie viele Tiere sind es?“ „Zwanzig“, antwortete der Doktor. „In Einzelkäfigen?“ „Natürlich“, bestätigte Esselyn. „Die kommen zu mir“, wies Hofmant schroff an, „alle. Bringen Sie sie augenblicklich. Melchner und Gantzer sollen Ihnen helfen. Klar?“ Was Hofmant nicht ahnte: Keines der Tiere war geimpft, denn die Laboranten hatten gemeinsam mit den Wissenschaftlern eine ausgiebige Kaffeepause gemacht. Nun aber, nachdem der Anruf sie aufgeschreckt hatte, impften sie unverzüglich die Tiere und schafften die Käfige in das Arbeitszimmer des Professors Friedhart Hofmant... Kurz darauf ließ sich Hofmant mit der Genetischen Abteilung verbinden und drei Mitarbeiter kommen, die die Ratten holen sollten. Die Ratten, erklärte Hofmant, sind mit den außerirdischen Ami nosäuren geimpft. Es war der letzte Versuch. Alles kam so ins Lot, alles war im rechten Fach. Jedenfalls nachdem sich Hofmant zwanzig Ratten in Einzelkäfigen aus der Genetischen Abteilung bringen, sie von seinem persönlichen Freund Saichlein mit Parathormon impfen und sie dann von den Rattenlaboranten zurückschaffen ließ. Wieder einmal gab es keinen Hofmantschen Fehler, wie es noch nie einen gegeben hatte. Am nächsten Tag schon wurde Hofmant von der Genetischen Abteilung aus angerufen. Man sagte ihm, daß er unverzüglich kommen sollte. Es sei etwas Ungeheuerliches geschehen. Etwas, was Hofmant sehen müsse.
Als der Professor bei den Genetikern erschien, war dort alles in heller Aufregung, und man redete durcheinander. Niemand ließ den anderen zu Wort kommen, und auch Hofmant ergriff eine innere Erregung, so daß er unfähig war, Ruhe zu verlangen. Sie gingen in den Raum mit den Ratten. Alle Tiere lagen auf dem Boden, wanden sich in Krämpfen, keuchten und fiepten schrill. Doch im Gegensatz zu den erschreckenden Bildern sagten die Meßgeräte eindeutig, daß keine Organstörung vorliege, sondern im Gegenteil alle Organsysteme in einem einwandfreien Zustand seien. Die Ratten sonderten einen weißlichgrauen, kalkig anmutenden Schaum ab, der ihren Körper erst bedeckte, dann völlig umhüllte. Es vergingen nur zehn Minuten, und außer der Schwanzspitze und der rosigen Nase war nichts mehr zu erkennen. Hofmant, der keinen Blick von den Käfigen nahm und es auch unterlassen hatte, sich die Sichtscheiben der Biographen anzusehen, wies an, die Schutzglocken abzusenken. „Das ist er“, erklärte der Professor gewichtig, „es ist der Urparasit, der sie auflöst.“ Nach mehreren Stunden fiel der Schaum in sich zusammen, und die Ratten tauchten wieder auf. Sie waren nicht aufgelöst, aber unglaublich schwach. Bereits drei Tage später erfuhr Hofmant, daß alle Ratten ent schlackt waren. Er begriff nicht recht. Sie seien entschlackt, war die Auskunft des Pathologen, alle Or gansysteme, Muskeln, Gefäße, Bänder und Knochen. Kein sichtbares Zeichen für eine definierte Altersstufe. Erwachsene Babys sozusagen. Als seien sie soeben geboren. Und der Prozeß halte, wenn auch ohne alle Dramatik und ohne Schaum, weiterhin an. Sie entschlacken sich selbstregulatorisch. Gerade, als habe der Körper gelernt, nicht zu altern. Das alles vernahm Hofmant nur mit halbem Ohr, Jetzt, da er diese grazile und blonde Assistentin in sein Institut aufgenommen hatte - es war Ersatz für O'Delta nötig -, hätte er einen Jungbrunnen benötigt und nicht Esselyns Rattenheer. Er verfluchte den Boten und diesen Esselyn. Da hatte er ein Zaubermittel besessen und wußte es nicht, ließ zu, daß es einer Verwechslung zum Opfer fiel. Wahnsinn. Eine Expedition, dachte er dann, es muß eine Expedition aufbrechen und die Früchte des Hyanodendron succulentoides holen. Tonnenweise gleich. Er dachte an die lange Reise und wußte, daß er schwerlich der Nutznießer sein konnte. Die Expedition würde kaum vor sechs Jahren starten können. Zwanzig Jahre Hinflug, ebensoviel zurück. Sechsundvierzig Jahre insgesamt. Dann wäre er vierundneunzig.
Die vereitelte Flucht Fauchend kam die kleine Maschine angerast. Sie sah mit ihren extrem gepfeilten Flügeln gefährlich aus. Auch der Feuerstrahl, den sie hinter sich herzog, und das unüberhörbare Fauchen ließen sie bösartig erscheinen. Die Männer der Flugleitzentrale sahen sich betreten an. Einer ging an das Mikrofon. „He, O'Delta“, sagte er nicht unfreundlich, „du hast nichts von einer Düsenmaschine gesagt. Kannst du sie nicht drosseln? Verbotene Dezibelzahl und verbotene Beunruhigung der Tierwelt.“ „Ich könnte den Motor abstellen“, kam es aus dem Lautsprecher. „Dann knallt es noch einmal, und dann ist Stille. Aber was ist mit euch los?“ „Hier gibt es keinen Lärm mehr“, antwortete der Sprecher, „selbst das Raketenstartgelände wird geräumt. Demnächst. Australien wird ganzjährig naturgeschützt. UNO-Entscheid.“ Aus dem Lautsprecher dröhnte O'Deltas Lachen. „Mann, Jeremy, bald bist du mich los, und wenn ich wiederkomme, sitzen deine Urenkel auf deinem Platz und wundern sich vielleicht, warum unser Raumschiff so lautlos angeschlichen kommt. Muß ich Bußgeld entrichten? Ich lasse sowieso alles hier. Was soll es in hundert Jahren noch wert sein? Nichts. Und jetzt weist mich ein, oder ich muß auf einer Akazie notlanden. Ich höre...“ Da kam ein zweiter Mann nach vorn, nahm dem ersten das Mikrofon aus der Hand. „Wir haben eine Überraschung für dich, Markus“, sagte er und blinzelte dem anderen spitzbübisch zu, „du hattest doch Ärger mit Hofmant?“ „Oh“, der Pilot tat, als erschrecke er, „der Ärmste, was ist denn mit ihm?“ „Hofmants geschiedene Frau wird dein Commander sein.“ „Vergiß nicht, April, April zu sagen“, kam der dröhnende Baß O'Deltas zurück. „Jaun Wetdar ist der Commander der Archimedes“, sagte der Mann völlig ernst, „und du bist Leiter der wissenschaftlichen Gruppe.“ O'Deltas Stimme hatte einen unzufriedenen Klang, „ich kenne keine Jaun Wetdar. Jedenfalls nicht von der Raumakademie.“ „Kannst du auch nicht“, wurde er aufgeklärt, „denn sie war nie dort. Man ist davon ausgegangen, daß ein Commander nur menschliche Entscheidungen zu fällen hat. Für alles Technische gibt es Spezialisten... So jedenfalls die offizielle Version. Übrigens haben wir erst heute morgen davon erfahren...“
„Sie haben dabei vergessen, daß ein Commander jedem Spezialisten etwas befehlen kann und manchmal sogar muß. Kommt der Alte vielleicht selbst mit?“ „Es heißt, daß er wollte“, klang es leiser aus den Kopfhörern O'Deltas, „aber jetzt hat es ihn erwischt. Sie haben es bei der Diagnostik ermittelt: beginnende Hyperverpilzung. Soll zusammengebrochen sein. Jämmerlich, weißt du...“ Die Maschine zog elegant nach unten und setzte mit kreischenden Rädern auf, rollte aus, wippte noch einmal nach und blieb dann unbeweglich stehen. Die Plexihaube klappte hoch, und der Pilot entstieg dem kleinen Flugzeug. Kaum stand er auf dem Beton der Piste, riß er sich die Haube vom Kopf. „Das ist ja ein Brutofen“, hörten sie seine nun deutliche Stimme, „wie haltet ihr das aus?“ „Klimaanlage“, schrieb einer der Männer groß an die Scheibe des Lotsenturmes. Der Pilot nickte verstehend und strebte dem langgestreckten Gebäude zu, vor dessen Tür einige Menschen standen. Sie begrüßten den Ankömmling herzlich und traten schließlich ein. „Wo ist der Commander?“ erkundigte sich O'Delta zuerst bei dem schmächtigen und sehr jungen Arpje Tyrsos und dann bei Genario Oskuse, dem robusten Sizilianer. Aber keiner der beiden wußte es. Der Vorsitzende der Kommission für letzte Angelegenheiten trat an O'Delta heran. „Herr O'Delta“, begann er umständlich, „ich bin von Ihrem Commander ersucht worden, Sie zu beauftragen, die Abschiedsze remonie zu leiten, da er bereits im Raumschiff ist. Bitte wollen Sie feststellen, ob alle männlichen Teilnehmer Samen und alle weiblichen Eizellen in der ZZ RUV hinterlassen haben...“ „Was ist ZZ RUV“, O'Deltas Augen glommen böse; er haßte alle Abkürzungen. „Zytoplasmatisches Zentrum für Regeneration und Vermehrung“, erklärte der Mann, „das meine ich.“ „Dann sagen Sie es doch“, entgegnete O'Delta schroff, „wenn sie das meinen.“ „Dann fragen Sie bitte auch noch, was mit dem Privatbesitz der Expeditionsteilnehmer geschehen soll, wenn keine Regelung getroffen wurde, und drittens...“ Er kam nicht mehr dazu, zu sagen, was er mit drittens meinte.
„Nichts werde ich“, sagte O'Delta unhöflich, „entweder macht es der Commander selbst, oder Sie bemühen sich. Ich leite die Wis senschaftsgruppe, und Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß dies wissenschaftliche Aufgaben sind?“ Er wandte sich schroff ab und rief Oskuse. „Hast du schon gehört“, sagte dieser, „wir haben eine Frau, einen Hofmantableger, als Commander.“ „Ja, ich weiß“, O'Delta war immer noch unwirsch. „Wenn sie etwas kann, dann ist es gut, und wenn nicht, frißt sie der Raum. Das ist so. Reg dich also nicht auf. Schließlich bist du als Wissenschaftsratsvorsitzender ihr Stellvertreter. Das ist doch auch was... Natürlich hast du ein ordentliches Commanderpatent in der Tasche. Sie hat sicher keins, aber was soll das? Befürchtest du Komplikationen, Markus, oder ist es die gekränkte männliche Eitelkeit?“ „Ich weiß nicht, Genario“, erwiderte O'Delta nachdenklich, „vielleicht bin ich wirklich eitel...“ „Entschuldigen Sie“, ein sehr blasser Mann - Markus haßte diese neueste Mode, der Sonne aus dem Weg zu gehen und sich chemisch zu bleichen - drängte sich in die Nähe O'Deltas, „ich bin von der Presse, und da Sie ja der zweite Commander sind, würde ich gern wissen, wie man sich fühlt?“ Ein unsympathischer Kerl. Widerwärtig bleich. Ein Totengesicht. Das war das eine. Andererseits hatte er gefragt, und die Menschen würden erfahren, was Markus O'Delta gesagt hatte. Das war das andere, „Schuldig“, sagte O'Delta in den Kristall, „schuldig fühle ich mich. Ich habe damals ebenso wild herumexperimentiert wie unser Chef, Hofmant. Und ich glaube, daß die Hyperverpilzung noch ein paar hundert Jahre gewartet hätte, wenn wir damals nicht so stümperhaft, alle Vorsichtsmaßnahmen außer acht lassend, herumgebastelt hätten. Es waren keine ordentlichen Versuche. Es war Stückwerk. Dummes, wie sich herausstellte, sogar gefährliches Stümperwerk. Und dann: Wir reisen in die Zeit. Das ist auch etwas. Zurückdrehen kann niemand die Zeit. Nur immer nach vorn. Immer schneller, Wer weiß, was uns erwartet, wenn wir zurückkommen. Eine blasse, verpilzte Menschheit mit Spinnenfingern, Kankerbeinen. Gelächter über unsere Primitivität und Wildheit... Es ist Vabanque.“ „Ich danke Ihnen.“ Der Bleiche verbeugte sich und entfernte sich in eine andere Richtung, wo er eine junge Frau ansprach. „Wie lange geht das noch?“ flüsterte Markus seinem Nebenmann ins Ohr. „Noch fast vier Stunden“, antwortete Oskuse grimmig, „dann geht es in die Desinfectiokammer.“ „Scheiße...“
In den langgestreckten Kammern lagen sie alle lang. Es hatte sie ermüdet, ununterbrochen Auskunft geben zu müssen, dazwischen auf das Gelingen anzustoßen, die Checkliste durchzugehen und die Fragen zu beantworten, ob sie alles geregelt und erledigt hatten, was es zu tun galt. „Ich wußte gar nicht“, Markus wandte sich erneut an Oskuse, „daß es so schwer ist, zu sterben. Was man da alles regeln und ordnen muß, wenn man seine Zeit verläßt.“ „Hoffen wir nur“, Oskuse lächelte schwach, atmete vorsichtig die Desinfectiogase ein, „daß bei der Ankunft nicht der gleiche Zirkus beginnt. Mir reicht es einmal.“ „Läuft eigentlich unser Punktegehalt weiter, während wir unterwegs sind“, erkundigte sich ein kleiner Mensch, der neben den beiden Freunden auftauchte. „Sicher“, antwortete Oskuse statt O'Delta, „mit zwanzig Überstunden täglich, Zins und Zinseszins. Wir werden alle als Millionäre landen.“ Einige, die bereits durch das Weckgas erfrischt waren, lachten. Sie sahen dem Mann hinterher, der sich leise davonstahl. „Du bist eine Frau, wie ich einwandfrei feststellen kann“, wandte sich der Sizilianer an eine hochgewachsene kräftige Frau, die ihm gegenübersaß, „dabei fällt mir ein, daß es gar nicht übel wäre, wenn du mir verraten würdest, in welcher Kabine du wohnen wirst.“ Sie sah Oskuse gelangweilt an. „Wenn du unser Commander wärst“, ihr Lächeln war dünn, „würde ich dir deine Bitte erfüllen.“ O'Delta lachte. „Immer klappt es nicht, Oskuse“, sagte er, schlug dem Kameraden kräftig auf die Schulter, „selbst bei dir klappt es nicht immer.“ Der Summerton trieb sie alle hoch. Sie drängten aus der breiten Tür hinaus in den Gang, der in die Tiefe führte. An den Wänden hingen die Raumanzüge. Die Nummer, die sie auf dem Rücken trugen und die der Bordcomputer gespeichert hatte, stand auf einer Leiste über dem einteiligen Skaphander. O'Delta mußte nicht suchen. Seine Kombination war nicht orange, sondern lichtblau und auf Brust und Rücken war das C2 aufgedruckt. Commander zwei. Stellvertreter der Jaun Wetdar... „Ich habe ihnen befohlen“, sagte Jaun Wetdar statt einer Begrüßung, „die Listen durchzugehen. Warum haben Sie es nicht getan?“ Sie saß sehr gerade auf dem Commanderstuhl. Ihre Beine standen fest auf der Erde. Sie trug die Haare straff hochgekämmt. Die Schwanenfrisur, die gerade Mode war. Ihre grauen Augen sahen weder streng noch leutselig aus.
O'Delta dachte in diesem Augenblick an das Interview. Er hatte alles gesagt, was ihn die letzten Jahre beschäftigte. Wer nicht wußte, worum es ging, mußte meinen, O'Delta greife Hofmant an. Nein, er hatte nicht Hofmant gemeint, sondern den Selbstversuch, den er nie hätte zulassen dürfen. Nur darum hatte er sich für die Archimedes beworben. Sie hatten mit ihrem Leichtsinn etwas in Gang gesetzt, was nicht mehr korrigierbar war, so wollte er den Rest seines Lebens damit zubringen, jenes Mittel zu holen, das helfen konnte. „Das hat er Ihnen auf den Weg gegeben“, sagte O'Delta gereizt. „Hofmant. Er hat Ihnen gesagt: Liebling, nimm den O'Delta gleich richtig ran. Der gehört an die Kandare, dann ist er brauchbar. Aber hören Sie: Ich habe den Commanderpaß. Nicht Sie. Ich kann alle Geräte, Fahrzeuge und Waffen mit eigener Hand bedienen. Ich habe auf zwanzig simulierten Planeten handeln gelernt und habe zwei Trainingslager auf der Venus absolviert. Im Hitzeanzug... Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Ich meine nur eins: Sie kümmern sich um Ihren Plunder. Ich um meinen. Kommen Sie mir nicht zu nahe. Oder Sie versuchen, mit mir auszukommen, denn es könnte Situationen geben, wo ich vom Raumrechtsparagraphen zweihundertvierzehn Gebrauch machen müßte. Commanderwechsel wegen gefährlicher Fehlentscheidungen. Vergessen Sie es nicht. Also dann: Auf gute Zusammenarbeit.“ Jaun Wetdar antwortete Markus O'Delta nicht und sah ihm mit großen Augen hinterher, wie er, eine Spur zu lässig, davonging. „O'Delta.“ Markus blieb in der offenen Tür stehen, wandte sich betont langsam um. „Was ist?“ „Ich will nur sagen“, Jaun Wetdar deutete ein Lächeln an, „ich habe nichts gegen Sie...“ Natürlich nicht, dachte Markus, natürlich hat sie nichts gegen mich, denn Hofmant ist nicht nur krank, sondern auch Vergangenheit, sobald wir gestartet sind. Hier zählt anderes. Wirkliche Fähigkeiten, Können, Energie. „Genario“, der Zweite Commander richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, legte die Gartenschere neben sich, „ich sage dir, daß diese Frau verrückt ist...“ Der Sizilianer sah O'Delta aus seinen dunklen Augen abschätzend an.
„Vielleicht hast du einfach Nerven wie Stahlseile“, sagte Oskuse gutmütig, „oder sie liebt dich, wie du sie liebst.“ „Genario...“, O'Delta war entrüstet, „hör doch erst einmal zu, bevor du deinen besten Freund niedermachst. Ich habe einmal in der Mannschaftsliste nachgesehen, wer was tut. Dein spezieller Freund, unser Küken, ist Kellner im Snowerflower. Wir sollten Arpje Tyrsos dort einmal besuchen und uns von seinen Fähigkeiten überraschen lassen. Die von der Gruppe Bandrian sind Inneneinrichter, und die Dame aus der Dusche, es ist übrigens die weltbekannte Astronomin Janka Chomain, hat sich als Maßschneiderin in der Innenstadt niedergelassen. Nur unser berühmter Commander, Frau Wetdar, jetzt halte dich fest, ist Urlauberin. Urlauber und Gast steht unter der Rubrik Berufsbezeichnung. Kannst du mir einen Urlauber nennen, der vierzehn Monate lang durch eine Kleinstadt tingelt, ohne zu verblöden?“ „Ich werde dir sagen“, Oskuses Augen waren unerwartet wach und listig, „daß es für sie besser ist, im Gewächshaus der Tertiärpfropfungen zu arbeiten, weil sie da unter dem sicheren Gewahrsam eines ganz bestimmten einzelnen Herrn ist, der es nicht gern sieht, wenn sie sich zuviel mit anderen Männern abgibt.“ Er ließ seinen Worten ein tiefes, beinahe grollendes Lachen folgen. „Glaubst du wirklich, daß ich etwas an ihr finde?“ fragte Markus betroffen. „Mache ich den Eindruck...?“ „Ja“, sagte Oskuse, nahm die Nebeleinheit und begann die Reihen der Pflanzen gleichmäßig einzusprühen. „Dauert das jedesmal vierzehn Monate, bis wir die Thanatogrenze erreicht haben und endlich schlafen können“, hörte Markus die Stimme des Freundes durch den Sprühnebel. „Fünf Monate“, rief er zurück, während der die Schere aufhob und die Äste der Kürberdbeere kritisch betrachtete. Sie mußten reinblau kommen. Jede grünliche Verfärbung bedeutet eine Schwächung der Pflanze. Das mußte ab. „Fünf Monate“, echote Oskuse, „das ist erträglich. Aber jetzt sind es vierzehn Monate. Vierzehn.“ „Die Aggregate sind neu“, O'Delta schnitt einige gelbgrünliche Zweiglein kürzer, „sie müssen erst in die Form gepreßt werden. Das dauert seine Zeit. Schließlich wollen wir nicht hochgehen...“ „Meine Herren“, Jaun Wetdar saß wie immer sehr aufrecht in ihrem Sessel, vielleicht weil sie kleiner als die meisten Männer war und mit ihrer Haltung ihre Stellung an Bord dokumentieren wollte, „ich habe den Rat der Archimedes zusammengerufen, weil in ungefähr zwanzig Stunden die Thanatogrenze erreicht ist. Nun, es ist ein großer Augenblick, oder sagen wir: der erste Abschied voneinander, denn Sie wissen, daß kaum eine Todesschlafperiode vergeht, ohne daß nicht einer
oder zwei unserer Gefährten nicht mehr erwachen. Bereiten Sie bitte alle Mannschaftsmitglieder darauf vor, daß jeder ein paar letzte Worte an den Menschen richtet, der ihm nahesteht oder von dem er meint, daß er ihm nahesteht. Unsere Kleinstadt wird in zehn Stunden ihre Funktion einstellen. Außer den Gewächshäusern werden alle Einrichtungen in die Zwischenwände verschwinden, und das nackte Raumschiff wird uns umgeben. Sagen Sie allen Mitarbeitern in meinem Namen, daß ich ihnen für die vergangenen vierzehn Monate danke. Sie können gehen...“ Sie sah lächelnd in die Runde. „Ich bitte Markus O'Delta, noch ein wenig bei mir zu bleiben“, fuhr sie dann, an Markus gewandt, fort und beobachtete schweigend, ohne ihren Zweiten Commander eines Blickes zu würdigen, wie sich der Raum leerte. Leise zischend schwangen die Türen von unten nach oben zu. O'Delta erhob sich, ging an den Energoübermittler und betrachtete interessiert die feinen farbigen Linien. Es sah aus, als habe er diese Farbschirme noch nie gesehen. „Eine Rechnung ist noch offen“, hörte der Mann die klare Stimme der Frau hinter sich, „eine Rechnung, die nie beglichen wurde. Etwas, was zwischen Ihnen und Hofmant war. Warum wollen Sie, daß ich dafür zahle? Ich war ganze sieben Monate mit diesem Mann verheiratet. Bereits nach vierundzwanzig Stunden fand ich ihn unerträglich. Sie haben es vier Jahre bei ihm ausgehalten. Ich hätte das nicht fertiggebracht. Sie müssen mir nicht antworten. Ich weiß nicht einmal, ob ich eine Antwort will. Aber Fairneß, die kann ich wohl verlangen, auch wenn ich keinen Commanderpaß in der Tasche habe, sondern nur Expeditionsleiter zum Alpha Centauri war. Aber das zählt ja nach Ihrer Rechnung nicht. Nachbarschaftsbesuch...“ Markus stand noch immer mit dem Gesicht zum Energographen. Die Farben faszinierten ihn, ohne daß er einen der angezeigten Werte hätte benennen können oder gar gewußt hätte, was sie bedeuten. Er preßte die Lippen zusammen. Sie hatte recht. Mit allem, was sie sagte. Aber das war es ja überhaupt nicht. Es gab keinen Weg zu ihr, und Markus wünschte sich nichts sehnlicher als diesen Weg. Es gab ihn nicht. Er hatte den Boden nicht befestigt, sondern aufgerissen, hatte Löcher und Gräben gesprengt und es sich und ihr unmöglich gemacht, sich einander zu nähern. Ich gehe jetzt, dachte Markus, ich werde schweigend gehen. Er drehte sich um. Jaun stand dicht vor ihm. Nicht mehr als einen Schritt von ihm entfernt. Und sie legte sich den Zeigefinger auf die Lippen, gab Markus so zu verstehen, jetzt nicht zu sprechen. So standen sie da, betrachteten sich, und in dem Schweigen erwuchs zur Gewißheit, was sie beide beschäftigte.
Markus hob langsam seine Hände, faßte Jaun bei den Schultern. Sie küßten sich und hatten noch immer kein Wort miteinander gewechselt. „Ich weiß das schon lange“, brach Jaun das Schweigen und lächelte Markus zu, „denn ich habe doch Biologie studiert. Verhaltensforschung, weißt du. Und meine ersten Studienobjekte waren störrische Pferde. Ganz gemeine und störrische Pferde.“
Die galaktische Riesenfaust Markus O'Delta sah sich vorsichtig um. Die Phase unmittelbar nach der Ankunft im Zielgebiet war durch höchste Aktivität der Besatzung gekennzeichnet. Da konnte man in aller Ruhe und unbemerkt einmal etwas unternehmen, was sich nicht schickte. Und so war O'Delta mit einem kleinen Rollo kreuz und quer durch die Gänge gefahren, scheinbar absichtslos oder nur, um alles zu beaufsichtigen, um dann im rechten Moment das Gefährt zu verlassen und in einen winzigen Raum zu eilen, den er hinter sich vorsichtshalber verschloß. O'Delta atmete tief durch. Ja, es roch nach Jaun. Dies war ihre kleine Privatkabine. O'Delta mußte lächeln, als er sah, daß ein zerdrückt aussehendes Kissen die sonst so vorbildliche Ordnung milderte. Da hatte er gesessen. Doch er war nicht hierhergekommen, um sich seinen Erinnerungen hinzugeben. Er war neugierig, und er wollte wissen, welche letzte Nachricht ihm Jaun hinterlassen hatte, bevor sie in die Anabiose gegangen war. Schnell prüfte O'Delta jeden einzelnen Bordkanal durch. Sie waren weit vor der Zeit geweckt worden. Es gab, so hieß es, Unre gelmäßigkeiten im Raum. Das mußte untertrieben sein, denn Störungen normaler Natur werden von den Maschinen allein beseitigt. Dazu brauchten sie nicht den Menschen. Vielleicht aber war es Leben, das ihren Weg kreuzte. Ein möglicher Grund für ein vorzeitiges Wecken. Sei es, wie es sei, es war ruhig an Bord, und er ging kein Risiko ein, wenn er sich vorübergehend von allen Bordsystemen löste und in aller Stille Jauns kristallgespeicherte Liebeserklärung anhörte. Mit wenigen Handgriffen hatte der Zweite Commander die Leitungen blockiert. Stille umfing ihn. Markus betätigte die notwendigen Schaltungen, und schließlich schob sich der winzige Kristall aus dem Röhrchen, glitt in die Wiedergaberesonante und zeigte durch Blinklichter seine Einsatzbe reitschaft an. Das Herz pochte dem Zweiten Commander bis zum Hals. Gleich würde er ihre Stimme hören, würde er wissen, was sie in den letzten Minuten vor der Ruhe gedacht hatte. Entschlossen durchbrach er die
Schranke. Ein zartes Rauschen erklang. Dann war Jauns Stimme im Raum. „Du altes Ekel“, sagte sie und kicherte dabei, „mir ist klar, daß du sehr neugierig bist. Schäm dich ein bißchen, denn so hintergeht man eine Frau nicht. Und wenn du wissen willst, ob ich dich etwa liebe, dann kannst du ja am Abend mit Blumen vorbeikommen, sofern die Gärtner das Gewächshaus nicht verkommen ließen...“ Markus fühlte sich nicht behaglich. „Du Teufelsweib“, flüsterte er, „du kannst doch nicht alles wissen, nur weil du einmal mit störrischen Pferden gearbeitet hast...“ Er schaltete sich in das Bordnetz ein. „...elta! Wir rufen Markus O'Delta! Sofort in die astronomische Abteilung. Bitte bestätigen.“ „Ich komme“, meldete er sich und ging nach draußen. Der Rollo stand immer noch an derselben Stelle. Niemand hatte ihn haben wollen. Als Markus ankam, reichte ihm Jaun schweigend einen Papierstreifen, der einem Oszillogramm ähnlich sah. O'Delta sah sich das Papier an. „Nun?“ fragte Jaun und lächelte spöttisch. „Ich gestehe, daß ich geschnüffelt habe“, sagte Markus, „aber was ist das hier? Ein kosmischer Fieberschub?“ „Könnte man annehmen“, erwiderte Jaun, und ihr Gesicht war wieder ernst, „eine unbekannte Erscheinung. Für uns jedenfalls...“ Jetzt sah Markus auch die elegant gekleidete Janka Chomain, die sich im Hintergrund des Raumes aufhielt und einige Blätter miteinander verglich. „Ah“, sagte er, „unsere Astronomin. Haben Sie eine Erklärung für diese ..., diese Erscheinung?“ „Versuchen Sie sich einfach eine Sonne mit zwei Kernen vorzu stellen“, ihre Erklärung klang banal, war ohne innere Überzeugung, „und immer wieder einmal stoßen die beiden Kerne aufeinander. Nicht daß sie sich berühren, aber sie tun es fast. Alles was sich in den höheren Schichten dieses Körpers abspielt, was wir so gern die normalen Vorgänge nennen, das alles bricht dann für einen Augenblick zusammen. Gleich darauf ist die Normalität wieder hergestellt. Bis zum nächsten Zusammenprall. Aber das ist noch nicht alles. Sie müssen sich diese Sonne von der Masse mindestens zweier Galaxien vorstellen und dazu noch in einem anderen als unserem Raum. Die Trennung der beiden Räume ist nicht hundertprozentig. Eine schwache Auswirkung der Vorgänge erreicht uns in der Form einer unbekannten Kraft. Diese Energie breitet sich nun nicht etwa aus, sondern sie sammelt sich in einem Punkt, wird gebeugt und verschwindet wieder. Bis zur nächsten Wiederkehr. Das was wir hier aufgezeichnet und endlos vergröbert haben, dauerte nur eine millionste! Sekunde. Meine dazugehörigen Erläuterungen stimmen nicht, sollen nur ein Denkbild erzeugen.“
„Und stellt das ..., das Loch in der Wand“, fragte Markus ironisch, „stellt es eine akute Gefahr für uns dar?“ „Ich hatte von einem Denkbild gesprochen“, sagte die Astronomin deutlich arrogant, „und mag keine Vulgarisierung der von mir simplifizierten Modelle ... Es ist kein Loch in der Wand.“ Nachdenklich betrachtete Jaun Wetdar die Frau. „Sind wir gefährdet oder nicht. Das ist doch eine klare Frage.“ „Für mich ist weder die Frage noch die Antwort klar“, sagte die Astronomin, „dazu müßte ich Materialien und Objekte sehen, dies sich in der Nähe des Punktes, von dem ich sprach, aufgehalten ha ben.“ „Oder durch den Kanal geschwommen sind“, sagte Markus O'Delta herausfordernd. „Was meinen Sie denn mit Kanal?“ „Wenn irgendwo ein Loch ist“, erklärte Markus unbefangen, „und an einer anderen Stelle trifft das auf, was da durchkommt, dann gibt es zwischen den beiden Punkten Millionen Punkte, die das Ding passiert haben muß. Ist das einleuchtend?“ „Auf der Erde“, sagte die Astronomin vergnügt und lachte, weil sie begriff, das Jaun eifersüchtig auf sie war und Markus sie bewußt provozieren wollte, „auf der Erde schon. Im Raum muß das nicht sein. Eine Größe kann im Punkt A entstehen, im Punkt B wirken, ohne daß es auch nur einen weiteren Punkt gibt, in dem man etwas von der Erscheinung bemerken kann. Das ist so.“ „Sie sagten auch“, fragte Markus, „daß die Kerne immer wieder die Ordnung aufheben können, in Ihrem Denkbild, also könnte sich auch die Erscheinung wiederholen?“ „Sicher“, die Astronomin legte die Blätter zur Seite, erhob sich, „aber ob das in einer Milliarde Jahren sein wird oder von jetzt ab in einer millionstel Sekunde, kann ich nicht wissen.“ „Und da denkt man immer, daß die astronomischen Annalen alles erfaßt haben, was es gibt. Das dachte man sicher schon bei der Entdeckung der Radiosterne. Dann kamen die Pulsare. Quasare, Quasage. Schwarze Löcher. Die somaren, weißen Kräfte...“, Markus hielt inne, „ich werde nicht fortfahren, aber immer ist es doch, als sei nun der letzte Baustein im Aufbau des Universums gefunden. Und jedes zweite Jahr tauchen neue Begriffe, unbekannte Phänomene auf...“ „Auch der Raum“, sagte die Astronomin leichthin, „ist in seiner Erscheinungsform unendlich. Nicht nur im Bereich der lebenstragenden Strukturen ist das so. Das Universum war vor fünf Milliarden Jahren ein vollständig anderes, als es heute ist, und in fünf Milliarden Jahren wird es wieder ein anderes sein. Es gibt keine versteinerte Energie, die man ausgraben kann.
Und die anderen, die in fünf Milliarden Jahren forschen, werden wieder nur das ferne Licht haben, jenes, das von unseren Sonnen abgestrahlt...“ Sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn der Bordrechner gab bekannt, daß ein lebenstragender Planet ihre Flugbahn in rund vierzehn Tagen kreuzen würde... Markus lag ausgestreckt neben Jaun, hörte ihren Atem. „Merkwürdig“, sagte er, „wie dicht ein lebenstragender Planet neben einer unbekannten energetischen Erscheinung existieren kann.“ „Und daneben ein kleines Metallgelaß, in dem Menschen von der Erde leben können“, sagte Jaun, „und sie haben sogar Blumen an Bord.“ Markus rückte dichter an Jaun. „Blumen“, sagte er, „und Wasser und Fische in Aquarien und singende Vögel und Sauerstoff und Wasser ... Man vergißt das Wunderbare so schnell...“ „Wir wollen es nicht vergessen“, sagte Jaun, „wir dürfen es nicht vergessen ... Und wenn wir auf dem Rückflug sind, wenn alle Strapazen vorbei sind, möchte ich ein Kind von dir.“ Markus legte seine Hand auf Jauns Rücken. „Wie schön“, er schmunzelte, „daß wir beide auch einmal dasselbe wollen ... Das soll ja nicht oft vorkommen, daß das störrische Pferd mit seiner Dresseurin übereinstimmt...“ Auf den ersten Blick ist der gefundene Planet einer von denen, die man zu Zehntausenden registriert hat. Seine Entfernung zu seinem Zentralgestirn entspricht dem doppelten Plutoabstand zur irdischen Sonne. Seine Bewegungen sind entsprechend langsam. Er benötigt fast neunhundert Jahre, um ein planetares Jahr zu absolvieren. Zugleich aber die Besonderheit: Er ist nicht etwa von einer Eisdecke überzogen, sondern mit Pflanzen bewachsen. Seine Temperatur ist zehnmal so hoch, wie sie sein müßte, wenn man die Strahlung des Zentralgestirns als Basis annimmt. Die Oberfläche ist fast glatt, kaum Berge und Täler, und auch große Seen oder Meere gibt es nicht. Dafür eine Unzahl feinster Kanäle oder Flüßchen, die einer in den anderen fließen, allesamt wieder in der Tiefe versinken und über ihre Quellen erneut die Oberfläche erreichen. Zweiundvierzig Prozent molekularer Sauerstoff, vier Prozent Kohlendioxid. Dazu drei Prozent molekularer Stickstoff und einundfünfzig Prozent Edelgase. Argon, Helium, Neon und Xenon. Es gab auf diesem Planeten keine Nachtseite. Beide Halbkugeln waren gleichmäßig ausgeleuchtet. Die Pflanzendecke war in fünf Etagen unterteilt. Man nahm an, daß entweder die Pflanzen oder eine Mineralart die Fähigkeit hatten, Licht zu erzeugen.
Ununterbrochen empfing man ein dichtes Funkfeuer aus ver schachtelten und sich gegenseitig durchdringenden Zirplauten. Diese Funkfeuer konnten nur intelligenter Herkunft sein, aber Sendeanlagen oder künstliche Bauten entdeckte man nirgendwo. Einhundertfünfundvierzig Stunden benötigte der Planet, ehe er sich einmal um sich selbst gedreht hatte. Es wurde also auf der Erde beinahe siebenmal Tag und Nacht, ehe hier die ferne Morgensonne erschien, die nichts sein konnte als ein heller Stern unter ähnlichen. Die Schwerkraft war sehr gering. Die Lebenszeit möglicher tierischer Vertreter des Planeten mußte mit mindestens achthundertfünfzig Erdenjahren angenommen werden. Alle Lebens-, Fäulnis- und Zerfallsprozesse waren dementsprechend verlangsamt. Der Name, den man für diese Oase des Lebens fand, lautete Paradies 245/19, die kartographische Bezeichnung: Hyadensonne Theta-xccParadies 245/19. Der Linguyiter hatte einigen Zirptönen die Information entnommen, daß ein Mitglied einer animalischen oder humanoiden Population vierundsechzig Nachkommen geboren hatte. Das widersprach den meisten Langlebigkeitshypothesen. Möglich aber auch, daß die Geburt generell ein seltenes Ereignis war darum jene zirpende Freundbotschaft, die ein Fest ankündigte - und man jede einzelne Geburt registrierte. Markus O'Delta und Oskuse betrachteten den Bildschirm, als die Astronomin Janka Chomain zu ihnen stieß. „O'Delta“, begann sie ohne Umschweife, „Sie und ihre Biocomputer leiden wahrscheinlich gleichermaßen an Halluzinationen. Wissen Sie, was ich soeben abgerufen habe? Einen ungefähren Umriß der Planetarier. Und wissen Sie, wie die aussehen? Wie kleine schlanke Äffchen und es sind Pflanzenesser. Und all das stellt der Computer als Fakten dar, obwohl die Vegetation überhaupt keine direkte Oberflächensicht gestattet.“ „Da muß ich Ihnen ein Denkbild geben“, Markus lächelte breit, betrachtete die Frau und zugleich Oskuse, der verstimmt ein paar Schritte zur Seite ging, „die Sache ist einfach: Unser Computer empfängt die Zirplaute. Das sind keine technischen Produkte. Sie stammen also von den Bewohnern. So ähnlich, als empfingen wir nicht Funkwellen, sondern eine Telefonstimme. Aufgrund dieser Töne ist es nicht schwer, das lauterzeugende Organ zu konstruieren. Und auch das umliegende Resonanzfeld sowie das Organ, das den Luftstrom erzeugt. Auch die Lage dieser drei Größen kann nicht zufällig sein, sondern folgt dem natürlichen Ökonomieprinzip. Da haben sie schon viel, nicht wahr? Größe, Lage und Volumen stehen in einem ganz bestimmten Verhältnis
zu den anderen Organen, den tragenden Sehnen und Bändern, den Gliedmaßen und allen Anhangsgebilden. Nun haben wir schon den tragenden und den restlichen Organapparat. Das alles braucht Energie, um funktionieren zu können. Die Töne aber sagen uns auch, in welchem Rhythmus die Wesen dort unten atmen. Das wieder definiert die Luftkapazität. Sehen Sie, so fügt sich eines an das andere und ergibt zuletzt ein geschlossenes Bild: den Umriß des Planetariers. Und seine Art der Ernährung. Warum sie allerdings keine Bauten geschaffen haben, warum sie nicht den planetennahen Raum betreten, das wissen wir nicht. Wir müssen warten, bis wir Kontakt mit ihnen haben und sie es uns sagen. Sind Sie zufrieden?“ „Und das funktioniert?“ Janka Chomains Züge hatten einen spöt tischen Anflug. „Das ist nicht neu“, erklärte Markus bereitwillig, „auf diese Art hat man schon vor langer Zeit aus einem einzelnen Backenzahn eines Vormenschen dessen Anatomie rekonstruiert und aus dem Horn eines Sauriers das komplette Tier. Es existiert immer ein bestimmtes Verhältnis der einzelnen Organe, Knochen und Sehnen zueinander. Der Computer hat es uns möglich gemacht, selbst aus Geräuschen, aus Lauten und Duftstoffen dasselbe zu rekonstruieren. Einfach weil die Maschine Millionen Möglichkeiten in einer Sekunde durchspielt und sich immer für das Logischste entscheidet. Wir würden Jahre sitzen und rechnen und zeichnen, ehe wir denselben Punkt erreichen würden. Doch Janka, es ist legitim!“ „Danke“, sagte die Astronomin und wandte sich zum Gehen. „Mir macht etwas anderes Sorgen“, O'Delta hielt sie zurück, „unser Linguyiter hat Funkkontakt aufgenommen. Und sie erzählen nichts. Man kann sie nicht dazu bringen, Daten zu schicken, die uns interessieren. Das ist auch nicht etwa eine junge Intelligenz, die noch keine Wissenschaft haben kann. Nein. Es ist eine sehr alte Zivilisation. Der Planet ist uralt. Er ist...“ „Danke“, wiederholte Janka, „daß Sie mich auch noch in meinem Fachgebiet aufklären wollen. Aber das ist nicht nötig. Sobald ich in meinem Trakt bin, werde ich einen Rapport veröffentlichen, in dem Sie dann lesen können, daß diese Sonne ursprünglich einmal achtzehn bis zwanzig Planeten hatte, die allesamt viel massereicher waren als dieser Zwerg hier. Und Sie können dann weiter lesen, daß einer nach dem anderen in seiner Bahn instabil wurde und entweder abgewandert ist oder in den Zentralkörper stürzte. Sie werden sogar lesen können, welcher abwanderte und welcher verglühte. Und das hier, das ist der letzte. Ich will nicht behaupten, daß er ein letzter Planet der ersten Sterngeneration des Alls ist, weil eine solche Interpretation den Widerspruch aller Kollegen auf sich zieht. Doch ist das sogar möglich. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann war die Sonne hier schon
einmal Sonne, schließlich Staubansammlung, die sich erneut formierte und eigentlich bereits eine zweite Sonne ist. Aber auch das werde ich nicht schreiben, weil die Indizien nicht ausreichen, vor einem irdischen Gremium zu bestehen. Zufrieden?“ „Markus...“ An Oskuses ironischem Lächeln sah Markus, daß Jaun eingetreten war. Er wandte sich ihr zu. „Vielleicht setzt ihr ein andermal euer Rendesvouz fort“, sagte Jaun Wetdar spitz, „die Planetarier wollen unsere Funksprüche erwidern. Sie rufen immer dringender. Komm schnell.“ Sie liefen den Gang entlang. „Der Lexikator“, sagte Jaun aufgeregt, „hat zweihundert Synonyma für das Wort schön ermittelt. Wie findest du das?“ „Das deutet auf ein sonniges Gemüt“, Markus lachte auf, „also doch Pflanzenesser! Mit angeborener Tötungshemmung. Also können wir sie besuchen... Was hat die Elektronenlinse gefunden?“ „Warte es ab!“ Jaun und Markus sprangen in demselben Augenblick in den Schacht und kamen so durch das Gleitrohr in die Zentrale. „Na“, Jaun deutete auf die Bildwand 2, „wie gefällt dir das?“ Markus sah das gelbe Auge mit der langgezogenen, sich mehrfach zusammenziehenden Pupille und ein Schulterteil, das gelb und behaart war. „Ziegenaugen“, sein Blick haftete unverwandt auf dem Bild, „es ist das Auge einer Ziege, wenn es auch intelligenter und...“, er zögerte einen Augenblick, „melancholischer wirkt. Ja, ich glaube, das ist das rechte Wort: Dieser Planetarier sieht verträumt aus. Abwesend.“ „Wir werden das feststellen“, sagte sie, „doch wenn es eine Expedition dort hinunter gibt, dann bist du nicht dabei. Als mein Stellvertreter wirst du hier stehen und mich und die anderen aus der Ferne beschützen.“ „Das ist nicht dein Ernst“, sagte Markus, „du willst mich hier lassen?“ „Du“, wiederholte Jaun, „und deine Freunde Oskuse und Tyrsos, ihr bleibt hier. Auch Manshadow bleibt an Bord. Wir wollen die melancholischen Zicklein nicht erschrecken oder verstimmen.“ „Du redest, als stände alles schon fest...“ O'Deltas Stimme klang belegt, als er das sagte. „Es steht auch fest“, Jaun sah den Mann gerade an, „du solltest mich kennen.“ „Das geht nicht ohne mich“, Markus stieß es zornig aus, „wenn ich dein Partner bin, gibt dir das noch lange nicht das Recht, über mich zu verfügen...“ „Stimmt“, Jaun beschäftigte sich mit der Planetenholographie, „aber mein Rang an Bord gibt mir das Recht. Und da Janka Chomain auch hierbleibt, wirst du dich schon nicht langweilen...“
„Sag mal, was ist los mit dir?“ Markus schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Bist du auf sie etwa eifersüchtig?“ „Nein“, antwortete Jaun kalt, „es gefällt mir nur nicht, daß du wie ein Gockel vor ihr herumspazierst...“ „Ich verspreche dir, nicht mehr zu gockeln. Ist jetzt alles in Ordnung?“ „Ja“, stimmte Jaun froh zu, „in Ordnung: du bist mein Beschützer, und ich steige hinunter.“ Markus O'Delta stürmte hinaus, nicht ohne eine Fluch ausgestoßen zu haben. Als sich der Gleiter durch die Pflanzen fraß, sahen Markus O'Delta und die Zurückgebliebenen die wahre Gestalt der freundlichen Planetarier. Ihre Augen waren groß und schimmerten golden wie die Augen mancher irdischen Eulen. Sie besaßen keinerlei Behaarung, doch dafür bedeckten hauchzarte Grannen, die an Schuppen erinnerten, den Körper. Der Bauch und die Brust waren bei den weiblichen Wesen nackt, und sie hatten Milchleisten. Ihre Münder waren wulstig vorgestülpt — beinahe Menschenmünder. Nasen hatten sie nicht. Zwischen den Lippen erschien alle Augenblicke eine dünne stahlblaue Zunge, die ihnen auch zum Rupfen bestimmter Pflanzenteile diente. Sie standen oder liefen auf fünf Gliedmaßen, die in eine schmale Hand einmündeten. Die Finger waren verkümmerte Häkchen, mit denen sich die Jungen auf dem Rücken und am Bauch der Weibchen festhielten. Auf dem Bild erschienen sehr viele Junge. Eine Geburt schien kein seltenes Ereignis zu sein. „Du wirst Augen machen“, flüsterte Markus in das Mikrofon, „wenn du sie sehen wirst. Putzige Geschöpfe.“ „Mit wem sprichst du“, wandte sich der hinter dem Co-Commander stehende Arpje Tyrsos an O'Delta. „Mit wem wohl“, das war Genario Oskuses klingender Baß, „mit seinem einzigen erklärten Feind aus dem Menschengeschlecht. Mit Jaun Wetdar... Familiennachrichten.“ Markus wandte dem Sizilianer das Gesicht zu und schmunzelte vergnügt. „Genario“, wandte er sich an Tyrsos, „ist nämlich unser Bordorakel, weißt du. Er weiß alles immer schon vorher. Was meinst du denn, ob wir nicht so eine fünfbeinige Zirpmilchkuh überzeugen können, uns zu folgen. Wäre das nichts? Jeden Morgen Frischmilch...“
Die drei Männer lachten und wandten sich dann wieder dem Bildschirm zu. Der Gleiter stand auf einer Lichtung, die von oben aus nicht zu sehen gewesen war, weil die beinahe hundertfünfzig Meter aufragenden Trophophyten die Sicht vollständig versperrt hatten. In der Umgebung des Gleiters wimmelte es von Planetariern, die den metallenen Apparat mit den Greifhäkchen staunend berührten, über seine polierte Oberfläche hinfuhren und sich lebhaft zirpend austauschten. „Sie lassen sich aber mit dem Aussteigen Zeit“, sagte Markus. „Vielleicht gibt Jaun allen noch einmal eine Instruktion“, vermutete Oskuse. „Und warum werden ihre Worte nicht übertragen?“ Markus stand auf, ging auf und ab. „Sie wird dich eifersüchtig machen wollen.“ Oskuses Worte waren nicht sehr überzeugend. „Jaun“, O'Deltas Stimme war laut, fordernd, „was ist los? Fürchtet ihr euch vor ihnen, oder warum steigt ihr nicht aus?“ Aus dem Lautsprecher kam keine Antwort. „Oskuse“, dies war die Stimme eines Raumcommanders, nicht die eines Freundes, „sofort die Außenkamera ins Innere bringen. Tyrsos, ununterbrochen die Leute im Gleiter rufen.“ Darin wandte er sich an den Rechner. „Alarmstart für den Gleiter“, ordnete er an, „Pflanzendecke durchstoßen und in der Schwebe halten, bis wir wissen, was geschehen ist.“ Der Gleiter löste sich von der Ebene, und die Planetarier sprangen erschrocken, fast entsetzt zurück. Dann änderte sich das Bild. Die Kamera kroch den Gleiter entlang, zeigte nun vergrößerte Ausschnitte der Gleiteraußenhaut und erfaßte den Durchstiegskanal. Das Bild wurde dunkel, und nur Arpje Tyrsos helle Jungenstimme erfüllte den Raum, der den Gleiter ununterbrochen rief. Die Dunkelheit auf den quadratmetergroßen Sichtschirmen flockte aus. Das Bild zeigte die Sitzreihen des Gleiters. Achtunddreißig Totenschädel grinsten in das Objektiv. Achtunddreißig Skelette mit zerfaserten Fleischresten in tadellose Anzüge gekleidet, saßen in den Konturensesseln. Sie waren tot bis auf den letzten Mann, und siebenunddreißig grellorange Planetenerkundungsanzüge waren von den Gefährten geblieben. Der milchighelle Skaphander mit dem roten C auf der Brust gehörte Jaun... Das rote C brannte in O'Deltas Augen mit der Kraft von tausend glühenden Sonnen und ließ alle seine Gedanken ersterben. „Jaun...!“
Sein Schrei hallte durch die Kommandozentrale, wurde von den Mikrofonen aufgefangen, verstärkt und durch die Archimedes geschickt. „Jaun...!“ Und während O'Delta nicht glauben wollte, was seine Augen sahen, formten seine rissigen Lippen Worte, Sätze: „Ich habe dich verraten..., dorthin geschickt. In die Falle...“ Er brach ab, erstarrte mitten in einer Bewegung, schien versteinert. Man hat uns betrogen, jagte ein Gedanke durch sein Hirn, auf schreckliche Art und Weise betrogen. Jaun, dachte er dann, und alle seine folgenden Gedanken zerstoben wie Wassertropfen, die auf eine glühende Metallplatte stürzen. Eine endlose Leere breitete sich dort aus, wo gerade noch heißer Schmerz war, und grell blitzte es in ihm auf: Vergeltung! Rache! Und dann: Wir müssen uns schützen. Sie können uns nicht abfliegen lassen als lebende Zeugen dieser Bluttat! Pflanzenesser! „Serienneutronproduktion aufnehmen! Präventivschlag vorbereiten!“ Das war nicht O'Deltas Stimme, die scharf wie geplatztes Eis in den Räumen klang, nachhallte. Der Commander beseitigte nach und nach die drei Sicherungen, und Oskuse löste mit seinem Schlüssel die letzte. Die unzerstörbare Platte schob sich zur Seite. Hell leuchtete das nie gesehene V: Ver teidigungsfall. Marionetten, dachte der Commander, sie sind Marionetten einer schrecklichen Macht, die alles leitet und lenkt und uns in eine Falle gelockt hat. Was mag die Tiefe des Planeten beherbergen? Was ist alles unseren Augen verborgen? Und ihre wiederkäuenden Lockvögel haben ganze Arbeit geleistet. Und der Beschützer hat versagt, hat jämmerlich versagt. Jaun... Der Warnton gellte durch das Raumschiff, brach sich an den Wänden. Schleusen schlössen sich hermetisch. Schutzwände wurden abgesenkt. Der Commander wußte, daß die Männer und Frauen in den Schutzanzügen steckten und an einer Unterlage fest verankert waren. „Geh“, sagte O'Delta zu Oskuse, „geh in die Schutzkammer! Ich brauche dich nicht mehr.“ Der Sizilianer ging schweigend. Verteidigungsfall. Die Lichter im Raumschiff erloschen. Notbe leuchtungen warfen ein karges bläuliches Licht in die Gänge und Kammern, die Arbeitsräume, Werkstätten und Laboratorien. Gläser funkelten fremdartig, Flüssigkeiten und Nährlösungen schienen zum Leben zu erwachen, Metallgegenstände schimmerten unruhig, und die zusammenfließenden Schatten ergänzten das Bild. Überall schlössen sich Schotten und Trennwände, halbierten, drittelten oder viertelten die vorhandenen Räume. Es entstanden kleine Sektoren und Abteilungen, so konnte man mögliche Beschädigungen auf einen kleinen Bereich
begrenzen. Die Schotten trennten Arbeitskollegen und Freunde, Liebende und Kameraden. Die Menschenherzen schlugen dumpfer, und das gellende Jaulen der Alarmsirene mischte sich in alle Gedanken ein, machte unruhig, weckte Verzweiflung - und doch durften sie sich nun nicht mehr erheben, mußten unbeweglich sitzen und auf das warten, was über sie hereinbrechen würde Verteidigungsfall. „Die Atmosphäre von Paradies 245/19 läßt sich ausgezeichnet als Resonanzfläche verwenden“, erklärte der Bordrechner sachlich, „so daß unsere Infraschallschwingungen kumulativ verstärkt werden können und binnen einer zehntausendstel Sekunde ab Minus Theta sämtliche Eiweißstrukturen lysieren. Damit könnten wir auf sehr sichere Art einen möglichen Gegenschlag von der Planeten-Oberfläche ausschalten. Aber auch einem Waffeneinsatz aus der Tiefe kommen wir so zuvor. Wenn wir zugleich einen Antiprotonenring um den Äquator legen und mit den Serienmonopolen die Planetenachse verschieben, wird sich der Kern gegen die Oberfläche bewegen, und die so entstehenden Kräfte überwinden für einige Stunden die Massenanziehung des Planeten. Nach dem Rentvierschen Gesetz kann es also zu keiner neuen Vereinigung der Teile mehr kommen, sondern die partikularen Planetensplitter werden auf die Sonne zuwandern... Das Programm kann in sechs Minuten und zwei Sekunden anlaufen. Ende.“ Markus O'Delta, der neue Commander, bewegte den Kopf wie eine Gliederpuppe. „Disziplinverstoß!“ Die Anlage heulte in einer anderen Tonlage auf. „Disziplinverstoß unter Verteidigungsbedingungen!“ O'Delta wandte kein Auge von den Daten. Die Archimedes blähte sich auf, pumpte wie ein mächtiger Käfer kurz vor dem Abflug. Nur sammelte sie nicht Luft, sondern Energie, tötende Energie. Paradies 245/19 würde zerstört werden. O'Delta schien den Disziplinverstoß übersehen zu wollen. Er widmete sich einzig den Berechnungen. Ich muß die Archimedes schützen, dachte er wieder und wieder. Konnte nicht anderes denken. Der Commander wischte sich über die schweißige Stirn. „Disziplinverstoß unter Kriegsbedingungen“, meldete die Maschine nun. Das Notgleitrohr in der Kommandozentrale klappte auf, und ihm entstieg, in makelloser Anzugsordnung die Frau, die Markus als letzte erwartet hätte: Janka Chomain. O'Delta zog mit beinahe pedantischer Bewegung den Werfer aus dem Futteral. Angriff auf die Zentrale im Verteidigungsfall, dachte er... Der Sicherungshebel der Waffe glitt zurück.
„Tote haben nichts für Rache übrig“, sagte sie, sah die Waffe nicht einmal, „Tote wollen Frieden. Und wenn Sie annehmen, daß Sie nach ihrem kosmischen Feuerwerk ein glücklicher Mensch sein werden, dann irren Sie sich, Commander.“ Die Waffe sank, die glimmende Spitze deutete auf den weichen Bodenbelag. Dann wanderte sie in das Futteral zurück. „Was wollen Sie hier?“ fragte O'Delta tonlos. „Es geht nicht um Rache. Sie werden uns vernichten, wenn wir zögern. Gehen Sie an Ihren Platz, es geht um unser Leben.“ „Ich muß Ihnen sagen, daß Sie uns vernichten, wenn Sie den Planeten zertrümmern. Uns. Die Archimedes.“ O'Delta ließ sich einfach in seinen Sessel fallen, der eben noch Jauns Sessel gewesen war, und beobachtete den roten Zeiger, der unaufhaltsam vorrückend, die Sekunden bis zum Gegenschlag abzählte. „Begeben Sie sich auf Ihren Posten!“ befahl er scharf, ohne ihren Einwand zu beachten. „Wir sterben mit denen da unten“, wiederholte die Astronomin, „wir werden so sterben wie die Menschen im Gleiter. Wie unsere Freunde. Auf dieselbe Art...“ O'Delta sah Trauer in ihren Augen. Etwas vibrierte in ihm. Plötzlich fühlte er die Last der Verantwortung unbarmherzig seine Schultern niederdrücken. „Sprechen Sie!“ verlangte er schroff. „Wir wollen sie nicht vergessen“, sagte die Frau geduldig, „nichts wollen wir vergessen. Nicht unsere Freunde, nicht die Gefährten und nicht unsere Liebe, aber wir wollen nicht ebenso sterben. Und deshalb, Commander O'Delta, müssen Sie das Vernichtungsprogramm stoppen, solange dies noch möglich ist.“ Unsere Liebe nicht vergessen. Die Worte brannten in ihm. Er sah den Mund der Astronomin, sah den Schmerz, der sich in zwei feinen Linien um die Lippen ausdrückte, und wußte, daß diese Frau ebenso erschüttert war wie er... „Alle Programme stoppen“, sagte O'Delta, ohne seinen Blick von den Augen der Frau zu lösen, „alle Programme augenblicklich stoppen.“ Sie verlangt es nicht grundlos, dachte er, diese Frau weiß genau, was sie sagt. Dann kehrte er den Energiestrom in dem Auslösekästchen um schob die Scheibe darüber und schloß die dreifache Sicherung und rief Oskuse. Entwarnung. „Ich trage jetzt die Verantwortung. Wissen Sie, was es bedeutet, den Planeten zu verschonen?“ fragte O'Delta schwach. „Sprechen Sie...“ Die Astronomin ließ sich in den zweiten Sessel fallen.
„Ich werde es Ihnen so erklären, daß Sie mich verstehen“, begann sie ihre Erklärung sehr leise, „obwohl ich selbst noch nicht alles verstanden habe. Sie erinnern sich: das Loch im Raum. Ein Defekt meinethalben. Durch dieses Loch quellen mächtige Newtonstrudel in unseren Raum. Natürlich muß als Quelle ein Körper vorhanden sein, den wir uns nicht einmal in seiner lokalen Dimensionalität vorstellen können und erst recht nicht in seiner temporären und energetischen, aber es gibt ihn. Dieses Gebilde also beeinflußt den Raum in der unmittelbaren Nähe der Defektstelle. Natürlich ist für uns dieser Himmelskörper nicht existent. Wir können Millionen Jahre fliegen, ohne ihm auch nur einen Meter näher gekommen zu sein. Aber das ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß diese mächtigen Newtonstrudel alles beeinflussen, was sie fassen können. Sonnenaktivität. Sie erinnern sieh der leuchtenden Nachtseite von Paradies 245/19. Alles unterliegt dem Gesetz des Newtonstrudels. Die DNS-Spiralen drehen sich in rasendem Tempo. Die Strudel beschleunigen diesen Prozeß ins endlose. Das bedeutet, daß die Lebensuhr eines Lebewesens in Sekunden Jahrzehnte durchläuft. Jahrzehnte! Ich glaube kaum, daß die Zirper älter als zwei Jahre unserer Rechnung werden. Möglich auch, daß sie früher länger lebten. Vielleicht so lange, wie es unsere Automaten ermittelt haben. Immer wieder einmal sinken die Strudelwerte, und dann wird geboren und gelebt, auch geliebt und getanzt. Aber wenn die Energie ansteigt, und gerade als der Gleiter aufsetzte, registrierte ich einen solchen Anstieg, fällt der Tod über alles Lebende her. Dann wird gestorben und getrauert, geklagt und gejammert. Dann sterben wahrscheinlich...“, ihre Stimme sank zu einem heiseren Flüstern ab, „auch viele Ungeborene in ihren Müttern. Auch auf dem Planeten.“ O'Delta hob den Kopf. Seine Kaumuskeln zeichneten sich über deutlich ab, so preßte er die Kiefer zusammen. Er erhob sich schwankend und unsicher. „Und warum sterben wir nicht?“ „Weil der Planet massereicher als die Archimedes ist“, erwiderte die Frau, „weil er alle Energie auf sich zieht. Erst wenn wir ihn zertrümmert hätten, würden wir der massereichste Gegenstand im Brennpunkt der Newtonstrudel sein...“ Markus wurde übel. Seine erste Entscheidung als Commander wäre die letzte gewesen. „Danke“, sagte er, „ich danke Ihnen...“ Die Frau nahm die Hand des Commanders und drückte sie, wie man einem Freund die Hand drückt, dem man Beistand zusichert und Mut wünscht. Dann wandte sie sich um und verließ die Zentrale. In O'Deltas Kopf entstand ein rasender Strudel, der sich ausbreitete und alle Gedanken verschlang...
Im gelobten Land Markus O'Delta ließ sich kraftlos in den Sessel fallen. Er streckte die Beine weit von sich, kaute auf der Unterlippe. „Janka Chomain ist von diesem Augenblick an Zweiter Commander“, sagte er mit brüchiger Stimme in das Mikrofon, „ich bitte die Genannte, zu mir zu kommen.“ Genario, der wie so oft in der Nähe seines Freundes war, der ihn seit dem Verlust Jauns mehr als sonst umsorgte, mit ihm sprach und vor allem - scherzte, hob erstaunt die Lider. „Die Astronomin“, sagte er, „wie kommt es denn zu dem Sinnes wandel.“ „Ich möchte es so“, antwortete O'Delta schleppend, „und nicht nur, weil wir ihr alle unser Leben verdanken. Nicht nur, weil sie klüger war als unsere perfekten Maschinen, sondern vor allem, weil ich in ihr einen Menschen entdeckt habe, der..., der es wert ist, Anweisungen zu erteilen...“ „Diesen Baum“, Oskuse wurde ernst, „was meinst du, werden wir ihn finden?“ „Wir müssen, Genario, „wir müssen einfach“, erwiderte O'Delta gedankenvoll, „ob das Leben durch einen Energiestrudel oder durch eine Krankheit verkürzt wird, es ist ein unwürdiger Prozeß... Denk nur einmal daran, daß die Paradieser irgendwann einmal achthundertfünfzig Erdenjahre gelebt haben könnten und inzwischen bei achtzehn Erdenmonaten angekommen sind und, so haben es die Maschinen extrapoliert, bei einer noch zu erwartenden geringförmigen Steigerung des Newtonstrudels die Lebenserwartung auf zwölf Erdenmonate sinken wird, die Weibchen nicht mehr dazu kommen, ihre Jungen auszutragen, und so alles in Nacht und Vergessen versinken wird.“ „Aber sie sind fröhlich, feiern planetare Geburtenfeste, zirpen und tanzen..., machen Musik.“ „Wir behaupten“, wandte O'Delta schwermütig ein, „daß sie fröhlich sind, weil sie musizieren und sich lieben. Aber wer sagt, daß es stimmt? Wir sind fröhlich, wenn wir Musik machen. Wir lieben uns, wenn wir glücklich sind. Aber sie..., nenne mir doch eine Alternative? Planetarer Suizid? Es gibt keine Lösung... Sie leben einfach, und wir haben nicht ein Wort mit ihnen gewechselt. Nichts wissen wir. Wir sehen und bilden uns etwas ein. Hyadendron succulentoides werden wir finden, weil wir ihn finden müssen.“ Janka Chomain trat ein.
„Ein verständlicher, aber unsinniger Gedanke“, erklärte sie, ohne zu grüßen, „ich werde niemals Zweiter Commander. Kann ich wieder gehen?“ „Es ist ein Befehl“, O'Delta lächelte schmerzlich, „ich weiß, daß es Ihnen nicht paßt, und nach unserer Rückkehr zur Erde können Sie gegen meinen Entscheid auch Klage einlegen. Sie können sich dann beschweren und mich vor die Liga zerren. Aber erst dann. Jetzt habe ich die Kommandogewalt, und ich erteile Ihnen den Befehl, Ihre persönlichen Sachen in den Raum zu bringen, der vordem von Jaun Wetdar bewohnt wurde. Nach dorthin führen alle Kommandoleitungen. Ihr Astrolabor werden wir austauschen mit dem Molekularlabor. Dann wohnen Sie gegenüber Ihrem Arbeitsplatz. Allerdings müssen Sie die Steuerzentrale als Ihren ersten Arbeitsraum ansehen. Bitte, jetzt können Sie gehen und alles den Automaten eingeben. Haben sie noch eine Frage?“ „Ja, warum diese Eile“, die Frau blickte trotzig O'Delta an, „wollen Sie nur, daß alle Erinnerungen an Jaun gelöscht werden, selbst ihre Kabineneinrichtung, oder ist da etwas anderes?“ O'Delta zuckte leicht zusammen und bemühte sich, seine Betroffenheit zu verbergen. „Das ist es ja, was ich an Ihnen schätze, er lächelte gezwungen, „beides Janka, beides. Die Erinnerungen sollen gelöscht werden, und... unser Ortungssystem hat einen Satelliten ausgemacht, der einen Planeten der Sonne Beta-xcx-003/02 umkreist.“ „Und warum habe ich das nicht erfahren?“ Da war wieder jener Blick, der etwas in O'Delta weckte, seinen Widerstand entfachte. „Für Sie als Zweiten Commander wird es keine Geheimnisse mehr geben. Als Mannschaftsmitglied ohne besondere Funktion schon. Bitte führen Sie also zuerst aus, was ich angeordnet habe. Ihre neue Dienstkleidung hängt schon für Sie bereit.“ Die Observerzentrale schaltete sich ein. „Commander“, sagte der unsichtbare Mann, „der Satellit ist schon sehr alt. Mindestens zwei Millionen Jahre. Wir wissen nicht einmal, ob er planetaren Ursprungs ist oder aus einem anderen Bereich stammt. Heliodynamisches Metall ist nicht typisch für den Hyadenabschnitt. Möglicherweise ein Fremdsatellit, der nur Beobachtungsaufgaben hatte. Es dauert nicht mehr lange, und seine Bahn wird instabil sein. Sollen wir ihn bergen?“ „Ja“, stimmte O'Delta zu, „bergen Sie ihn.“ „Die Sichtschirme werden blasser“, kommentierte Janka. O'Delta ließ sich nicht stören. Arpje Tyrsos lachte.
„Sie können das nicht wissen“, erklärte er bereitwillig, „wir haben Reflexionsschutz. Das Licht macht einen Bogen um uns. Man kann uns nicht orten. So müssen wir sie nicht beunruhigen.“ „Danke“, Janka lächelte Arpje sparsam zu, der das Lächeln erwiderte, „sagen Sie, wie alt sind Sie eigentlich?“ „Fünfundzwanzig Erdenjahre“, antwortete Arpje und wurde rot, „deshalb nennen Sie mich das Küken. Dabei habe ich schon drei Überlebenskurse absolviert.“ „Ich werde Sie in Zukunft den Kondor nennen“, Jankas Augen sprühten spöttisches Feuer, „vielleicht verschafft Ihnen das die nötige Befriedigung.“ „Ach Sie...“, Arpje lehnte sich gegen die schimmernde Energosäule, „spotten Sie nur ... Auf der Erde hatte ich drei Mädchen. Drei. Sie haben mir geschworen, daß sie mich lieben.“ „Wer weiß“, Janka lachte hell auf, „vielleicht schwöre ich es Ihnen auch noch. Aber vorher müssen Sie O'Delta dazu bringen, daß er mich von dem Posten erlöst. Oder noch besser, Sie bringen ihn um.“ Arpje lachte laut los, und auch Janka stimmte in die Fröhlichkeit ein. Dabei berührte sie unabsichtlich Arpje, der sich sofort wieder unsicher fühlte. „Alfamangan“, verkündete eine weiche Stimme, „Alfamangan muß es sein. Viviliis Haut ist geschaffen, liebkost zu werden. Geschaffen, geliebt, gestreichelt, gezärtelt und gelaugt zu werden. Sie ist jung wie ein ungeborenes Leben.“ O'Deltas Gesicht verfärbte sich. Zornesrot unterbrach er die Schranke. Die Stimme brach mitten im Satz ab. „Was soll das?“ Drohend klangen seine Worte durch den Raum. Es war niemand da, der ihm antwortete. Er erhob sich, durchquerte die Zentrale und setzte sich, im Gang angekommen, auf einen Rollo. Vor Jankas Kabine stoppte er, stieg ab und stieß die Tür auf. Er trat ein. „Streichelt Viviliis Haut, kommt, liebkost sie...“ Zum zweitenmal durchbrach der Commander die Schranke. „Was soll der Unsinn“, fauchte er und sah auf die Frau hernieder, die ausgestreckt auf dem Bett lag, einen zweigeteilten Umhang, der verrutscht war, nachlässig um den Körper geschlungen. „Entschuldigen Sie“, sagte Janka und massierte sich die Hände weiter, „ich habe überhaupt nicht gehört, daß Sie angeklopft haben, sonst hätte ich mich aufgesetzt und Herein! geantwortet.“ „Ich habe auch nicht geklopft“, unterbrach sie Markus. „Das sollten Sie aber tun“, Janka sah beleidigt aus, „Zweiter Commander ist nämlich eine Funktion und kein Geschlecht. Ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag eine Frau, aber nur knapp zehn Stunden Zweiter Commander. Oder...?“
„Dieser Unsinn...“, O'Delta fühlte sich unbehaglich, „was ist das?“ „Das kommt von den automatischen Kundschafter-Krabben“, Janka setzte sich nun auf, zog den Umhang fester um sich, „wer weiß, was die empfangen. Wer weiß...“ „Darf ich“, fragte O'Delta und deutete auf einen Sessel. „Bitte“, entgegnete Janka fröhlich, „setzen Sie sich, Commander.“ O'Delta sah sich um, suchte nach Spuren von Jaun, konnte sie nicht entdecken. In diesem Raum war keine Grünpflanze, keine Versteinerungen von der Erde, keine Strohblume. Janka liebte of fensichtlich Stofftiere, Seidentapeten und weiche Bezüge auf den Sitzmöbeln. Das Licht war schwächer, als es Jaun geliebt hatte, und die Schattenwürfe unruhiger. „Ja“, die Frau sah Markus gerade an, „es ist nicht mehr Jaun hier. Keine Spur, wie sie sehen. Es war Ihr Wille.“ „Erinnerungen sind schmerzlich“, O'Delta betrachtete das offene Gesicht der Frau, „auch die an fröhliche Zeiten sind Anlaß, schmerzlich zu empfinden. Ich lehne sie ab. Alle Erinnerungen. Ganz gleich, ob ein Möbel, ein Foto oder ein Wort, die sorgen dafür, daß wir trauern, statt zu leben.“ „Und Sie haben nichts von Jaun“, Janka wandte sich wieder ihren Fingern zu, „kein Bild, keinen Gegenstand?“ „Doch“, O'Delta erhob sich, trat auf den Gang hinaus, „ich habe schon etwas, aber das ist hier.“ Er tippte sich auf die linke Brustseite und ging davon... Der Bildwandler zeigte die erste Krabbenübertragung. Da lagen in langen Reihen menschenähnliche Wesen, und ein feiner Pinsel glitt über sie alle hin. „Keiner von ihnen ist Vivilii“, sang eine feine Stimme, „und keiner von ihnen nimmt Alfamangan. Man sieht es. Erodierende Häute haben sie. Ungeliebt werden sie eingehen in das gelobte Land. Doch unsere Vivilii“, es erschien ein etwas fettleibiges Weib, das sich in einer Badewanne unverschämt rekelte, „ist begehrt und wird gezärtelt. Dank Alfamangan.“ Blitzhaft waren Tausende von Gesichtern zu sehen, die einen Schrei ausstießen: „Gebt es uns...“ Und tausend Arme flogen in die Höhe, tausend Hände griffen in den Himmel, während das Bild zitternd zerrann. Alfamangan... Das war das letzte Wort. Empört ließ O'Delta das Bild und den Ton abschalten. Zugleich fühlte er deutlich, daß diese Vivilii ein Geheimnis besaß. Sie war nicht einmal schön.
Warum denke ich an sie, dachte der Commander, warum? Ich würde Jauns Haut gern zärteln, wie sie es nennen. Auch ohne diesen chemischen Unsinn ... Alfamangan. Hört sich sogar gut an: dank Alfamangan... Der Biologe Jestrich meldete sich. „Eine Neuigkeit, Commander“, sagte er, „jedes ihrer Augen hat drei voneinander unabhängige Pupillen, mit denen sie in allen drei Raumebenen gleichzeitig scharfe Bilder aufnehmen können. Das muß einmal wichtig für sie gewesen sein. Sicher gab es hier, als der Planet jung war, Lebewesen, die zugleich aus dem Wasser, der Luft und Erdlöchern angreifen konnten...“ „Ja, danke“, sagte O'Delta, „hochinteressant...“ Er trennte die Leitungen. Dann schaltete er sich in die Übertragung der Kundschafterkrabben ein. Was ist das nur, dachte er, warum bewegt mich das alles nicht mehr? Ich schaue mir selbst zu und schwimme durch die Ereignisse wie durch einen Nebel. Ich denke an Jaun, und immer ist es mir, als müsse jeden Augenblick zischend ein Schleusenschott aufgehen und sie vor mir stehen: Na, du hast es geglaubt, stimmt's? Würde sie das sagen? O'Delta stützte sich schwer auf. Mit Raapitas Selbstversuch fing es an. Unsere Eigenmächtigkeit damals. Aber ist das überhaupt noch wahr...? Ich glaube manchmal nicht mehr, daß es einen Raapita gab. Und dann bin ich auf und davon. Weg von der Welt, auf der eine neue Krankheit entsteht: die tödliche Organverpilzung. Paradies 245/19. Jaun Wetdar muß sterben, weil wir eine Erscheinung nicht schnell genug deuten können. Verteidigungsfall. Vielleicht ist das alles zuviel für einen Menschen. Und deshalb werden wir Hyanodendron succulentoides finden. Wir müssen ihn finden, genauer gesagt: Ich muß ihn finden, um Raapitas Rechnung zu begleichen. Wenn jener dritte hypothetische Planet der Sonne Thau-ccc-414-00 auftaucht, werde ich hellwach sein. Und falls das Jahr dort vierzig Erdenjahre zählen sollte und wir kommen mitten im Winter an, dann bleiben wir zwanzig Jahre dort in Stellung, bis unsere Früchte reifen. Wir bringen den Menschen die von Hofmant versprochene Jugend, und ich bringe ihnen das Mittel gegen die Hyperperpilzung... „Das Wort Jugend brachte ihn wieder zu Vivilii... Wie geht das nur, dachte O'Delta, alles an ihr ist Provokation, Dummheit und Madenhaftigkeit. Dick und quenglig hatte sie ausgesehen. Den laschen Blick eines eingefleischten Hausmütterchen hatte sie, und doch war es unmöglich, ihr einen gewissen Reiz abzusprechen. Ist das Geschick? Oder ein unverhohlener Angriff auf humanoide Intelligenz?
O'Delta sah zu dem Sichtfeld hoch. Da war es ja, Viviliis Gesicht. Sie starrte den Commander frech an. Der stellte den Ton lauter. „Octracin ist überwunden“, jubelte eine Stimme emphatisch, „Vivilii hat Bläuchen abgelöst...“ O'Delta sah fast überdeutlich die drei Pupillen, die unentwegt hin und her wanderten. „Alfamangan hat Octracin abgelöst“, sagte der Sprecher, „denn Octracin ist, wie die Wissenschaft eindeutig beweist, Gift. Ist Chemie. Toxine. Schlaffe, schlafende Haut. Man braucht es nicht. Niemand will es. Es macht blau. Stichig. Wurmig. Es altert!“, Neue Gesichter tauchten auf. Kopfschüttelnd. Zornig. Abwehr zeigend. Die Hände bildeten spitze Keile, durchmaßen die Luft. Das Bild wirbelte herum, also hatte sich die sendende Krabbe gewendet. Man sah deutlich mehrere Planetarier, die sich unterhielten. Sie sprachen, ohne die Münder zu bewegen. Nur die Hälse blähten sich rhythmisch auf und fielen wie schlaffe Luftballons immer wieder zusammen. „Vivilii“, sagte der eine, „oh, es wäre etwas. Vivilii.“ „Rasselt euch“, sagte ein anderer ungehalten, und alles verstummte. Einige lutschten weiße Fäden von einer Kugel. Es sah nicht sehr appetitlich aus. O'Delta betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. „Alfamangan ist Unsinn“, bemerkte der erste Sprecher vorsichtig, wobei er besonders jenen im Auge hatte, der sie unterbrochen hatte, „es gibt kein Alfamangan, wie es kein Octracin gab. Es ist derselbe Stoff wie früher Akkalodrin. Nur die Farbe ist anders und die Forschmädchen. Vivilii ist jünger als Miggi, sage ich, vollgenährt und forschstimmig.“ Das Bild sprang. Die Übertragung einer anderen Krabbe erreichte die Sichtfelder der Archimedes. Ein gelbscheckiger Planetarier, dessen Pupillen milchig getrübt und starr erschienen, redete auf einen anderen ein. „Durmavolan“, sagte der starr Blickende gewichtig, „es ist schon angelaufen. Als Serienprodukt. Wir warten noch zwei Wochen, bis man sich an Vivilii übergesehen hat, und dann ist Rotämchens Stunde gekommen. Sie liegt vier Einheiten unter Vivilii, ohne daß man es sieht.“ „Die Salziger erheben ihre Stimme“, erklärte der andere hastig, „sie wollen wahrmachen, was sie androhten: Vivilii und alle Folgenden sollen altersmäßig untersucht werden. Außerdem will man die Mittel auf Schadstoffe untersuchen.“ „Wo kein Wirkstoff ist“, der Gelbscheckige lachte heiser, „ist auch kein Schadstoff.“
Wieder Bildwechsel. Eine andere Krabbe zeigte einen Vorgang, der Markus O'Delta erschauern ließ. Ein kugelförmiger Raum, in dem sich zwei Planetarierinnen um kleideten. Im Dämmerlicht erinnerten sie an Erdenfrauen. Nur gab es kaum einen Teil ihrer sichtbaren Schönheit, den sie nicht einem Wechsel unterzogen. Es begann mit den Haaren, den Brauen und den Augenlidern. Starr und kahlköpfig warteten sie darauf, daß die neuen Teile in den Raum glitten. Dann waren Teile des Halses, die Fingernägel und das erste Glied der Fußzehen dran. Als auch dieser Austausch vollzogen war, streckten und reckten sie sich behaglich, sahen sich an und lachten gleichzeitig los. Ja, sie lachten und verließen den dämmrigen Raum. Die Krabbe schien sich auf die abgelegten Dinge zuzubewegen, aber noch ehe sie sie erreicht hatte, versank alles in einer Bodenluke, aus der kurzzeitig Flammen aufzüngelten. Ein schlanker zylindrischer Apparat erschien im Bild, aus dem heraus ein Sprecher verkündete: „...des Kugelschlafs. Ja, das Ende des Kugelschlafs ist in greifbare Nähe gerückt. Wir schlafen in Muscheln. Jeder einzelne von uns. Schaffenseinheiten und Arbeitsstunden sind bereits berechnet, und es gibt keinen, der nicht so schlafen kann. Die bisherigen Schlafkugeln sind Burgen chemischer Verseuchung, bakterieller Ansammlung und toxischer Reste die niemand entfernen kann. Man schadet sich in den Kugeln, indem man dem Alter Vorschub leistet. Muscheln aber sind wuschel-kuschelig weich, exzellent. Sind neu und aus reinem Naturalgomoglan. So wie es in den Meeren, den freien unbändigen Ozeanen wächst, so wächst es auch bei Perror. Perror schafft gesunde, helle, hohe und lauschige Puschelmuscheln aus Naturalgomoglan. Morgens richten Sie sich auf und sind jung. Jungjungjungjungjungjungungung.“ O'Delta stellte die Sendung ab, ließ sich in den Kontursessel fallen, dachte nach. Er spürte eine zunehmende Verwirrung seiner Gedanken. Unruhe befiel ihn, und er strich sich über die harten Stoppeln seines Bartes. Keiner wird jünger, dachte er, ohne zu ahnen, warum er so dachte. Ihm fiel die Einsteinuhr ein, die jeder, der es wollte, ansehen konnte, und die die Erdzeit und die Raumschiffzeit getrennt aufzeichnete. Zeitdilatation. Ein sinnloser Begriff. Man lebt, wo immer man ist, sein Leben, und die Zeit der anderen ist einem so gleichgültig wie nur irgend etwas... Wieder spürte er das entstandene Loch, den Nebel, der ihn einhüllte: Jaun Wetdar fehlte ihm immer mehr.
Oder..., oder sollten diese Übertragungen von jenem glänzenden Sein einer alten, im Niedergang begriffenen Kultur schuld daran sein, daß ihn so seltsame Gedanken bedrängten? Hatte es nicht ähnliche Lügengespinste auf der Erde auch gegeben? Vor Urzeiten? „Übertragungskanäle werden aus dem Bordnetz geschaltet“, sagte O'Delta sehr ruhig, „wir kristallographieren mit. Für das Archiv. Der Krabbensteuerraum und die Observerzentrale verfolgen weiterhin alles. Ende.“ Die immer gleichen Stimmen verstummten, und statt der Bilder dieser dümmlichen Planetarier blickte man nun aus der Entfernung der Satellitenbahn auf die eintönige Landschaft hinunter. O'Delta empfand es als Befreiung. Er atmete tief durch. Als er sich umwandte, sah er Janka in der Schleuse stehen. „Was ist“, fragte sie, „hat man unsere Krabben gesichtet? Ich empfange die Sendung nicht mehr.“ „Ist Ihnen die Sendung so viel wert?“ fragte O'Delta. „Es geht nicht darum, was sie mir wert ist“, Jankas Augen funkelten zornig, „sondern daß ich mich in meiner eigenen Entscheidung beschnitten fühle.“ „Wetten“, O'Delta lachte, „daß dieser Satz von einem dieser famosen Sprecher stammt? Ich habe etwas Ähnliches nie von Ihnen gehört. Überhaupt haben Sie Selbstverständlichkeiten noch nie betont. Wir wollen unsere Nerven schonen, deshalb mein Order.“ „Oh“, Janka machte eine formvollendete Verbeugung, „Majestät haben ein Order erlassen. Der Tanz ist zu Ende...“ „Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist“, gab O'Delta zur Antwort, „aber zuviel von dem Zeug macht trübsinnig. Bitte, sehen Sie...“ Er schaltete den Kommunikationsspeicher ein. Unterschiedlich gefärbte Linien waren auf einem weißen Untergrund abgebildet. Viele der Linien liefen in der Bildmitte von links nach rechts. Einige wenige tasteten sich an der unteren Bildhälfte entlang und schnellten dann, beinahe am Ende des Feldes, nach oben, während andere Linien, die sich ziemlich hoch dahinzogen, unvermittelt abfielen. „Das ist es“, erklärte der Commander seiner Stellvertreterin, „hier, bis zu dem Punkt, da wir den Quatsch übertrugen, alles ganz normal. Oben Gespräche persönlicher Natur, Kontakte, Themen, die unser Flugziel betreffen und die Ereignisse im Raum. Ganz unten die Linien, das eigene Alter betreffend, Tagträume und Befürchtungen. Im Mittelfeld zumeist die Aktualitäten, Augenblickliches. Und hier, hier begannen die Sendungen. Sechs Stunden alles normal - und dann kippt das Bild um. Spitzenplätze haben Tagträume, Bedauern, das eigene Alter. Immer wieder im Gespräch: die Einsteinuhr. Plötzlich uninteressant werden Flugziel, Ereignisse, die uns umgeben, und Pläne.
Ist das ein Zufall? frage ich Sie. Sie selbst haben sich das Zeug angesehen. Sie, deren brillante Logik ich über Paradies 245/19 be wundert habe. Sie, die Sie einen Planeten und unsere Expedition gerettet haben... Und diesen teuflischen Plapperern gehen auch Sie auf den Leim. Sie sind Zweiter Commander, Janka, ich kann Sie nicht daran hindern, weiterhin den Sendungen zu folgen. Weisen Sie es an, und in Ihrer Kabine wird sich der Sichtschirm beleben...“ Janka Chomain schüttelte den Kopf. „Das hätte ich nicht gedacht“, sagte sie, nachdenklich geworden, „wer hätte das geahnt. Ich selbst habe begonnen, über mich und mein Alter nachzudenken. Auch in meinen Gedanken war die Einsteinuhr, die die Erd- und die Raketenzeit gleichzeitig produziert. Ja, unser Kommunikationsaufzeichner hat recht. Und Sie auch... Ich werde Ihre Entscheidung unserem Bordrat vortragen, damit alle informiert werden können.“ „Danke“, O'Delta musterte sie freundschaftlich, „ich danke Ihnen...“ „Danken Sie dem da“, sagte Janka und deutete mit dem Kopf auf die farbigen Linien, „wissen Sie, ich mag Leute nicht, die intuitiv etwas fühlen und dann handeln. Seien Sie ehrlich, Sie haben erst nachträglich die Maschine befragt. Zuerst waren der Impuls und die Ordner. Dann die Beweisführung. Da jeder von uns der Schule entwachsen ist, wäre es schon besser gewesen, uns zu befragen, die Argumente darzulegen und abzuwarten, wie wir uns entscheiden. Ich will Ihnen etwas sagen: Sie sind sicher der bessere Fachmann, aber Sie sind auch eigenmächtiger, als es Jaun Wetdar war...“ Der Name hallte wie ein Glockenton in O'Deltas Kopf. „Sie folgen allzu schnell einem Einfall. Das kann neunundneunzigmal gut gehen. Aber einmal geht es daneben. Und dann stehen Sie vor einem Scherbenhaufen, O'Delta...“ Markus dachte an Raapita. „Es hat schon einen gegeben“, sagte er, „Sie wissen natürlich nicht, daß ich bei Hofmant gearbeitet habe und wer Hofmant ist. Man hatte dort nie die Gelegenheit, zum Zuge zu kommen. Und täglich sah man die Fehler dieses Mannes. Und einmal, da haben wir zu dritt etwas selbständig getan. Das Ergebnis war ein Scherbenhaufen ohnegleichen... Vielleicht bin ich auch ein Hofmant geworden. Und das, was Sie Eigenmächtigkeiten nennen, sind die Fühler, die dieser imaginäre Hofmant aus mir hervorwachsen läßt. Ich will nicht so sein... Hören Sie, Janka, ich will nicht Hofmant sein. Und deshalb bitte ich Sie, mir zu helfen. Lassen Sie es nicht zu, daß ich ein unausstehlicher Diktator werde.“ „Gut“, erwiderte die Astronomin, „dem Manne kann geholfen werden. Merken Sie sich einfach folgende Leitsätze, und alles ist in Ordnung.
Erstens: Man kann eine innere Leere nicht mit äußerlicher Be triebsamkeit, mit Hektik ausfüllen. Leere ist und bleibt Leere und will im Innern gefüllt werden. Zweitens: Stärke, Gewalt und Unsachlichkeit haben noch nie eine Beweisführung erübrigen können. Drittens: Auch Verluste gehören zu unserem Leben, und man muß einfach lernen, mit einem solchen Gefühl zu leben. Commander, ich möchte Ihnen eine Freundin sein. Ich werde Sie auch dann unterstützen, wenn Sie im Unrecht sind. Weil ich Ihr Stellvertreter bin. Aber eins merken Sie sich: Wenn Sie nach einer solchen Situation mit mir allein sind, dann werden Sie den Augenblick verfluchen, da Sie mich zu Ihrem Stellvertreter gemacht haben... Das Omega-Rot-Zeichen kam. Eine der Kundschafterkrabben war also an einem Ort gelangt, an dem es wesentliche Informationen über diese Welt gab. Janka schaltete augenblicklich das Tiefenbild und den Holoton ein. Fünf Planetarier in einem Raum. Alle in weiche, fließende Stoffe gehüllt, deren metallischer Schimmer das künstliche Licht reflektierte. Die Krabbe selbst mußte ein Versteck auf einem erhöhten Standort gefunden haben, denn die Planetarier waren unter ihr. „Meine Herren“, einer der fünf erhob sich, „sicher, nach Multmus ist die Zeit der Spontanerhebungen und Revolutionen überwunden, aber ich sage: Wer es glaubt, hat doppelt Glück. Ich glaube es nämlich nicht. Ich bin weiterhin dafür, daß wir einen Teil der Kosmetika nicht weiter produzieren lassen, sondern noch einmal die Produktion der Waffen aufnehmen. Unsere Kräfte müssen bewaffnet sein, wenn wir der möglicherweise auftretenden Unruhen Herr werden wollen. Sicher, man kann einiges abfangen. Wir können Billigprothesen herstellen und sie dem Volk anbieten, und wir können auch dann und wann ein produktives Forschmädchen zur Vivilii machen, aber die allgemeine Unzufriedenheit wächst. Übersteigt vielleicht schon bald die Apathie. Und wehe, wenn wir dann waffenlos sind. Ein Büchlein, geschmacklos in seiner Sprache und billig in seiner Aufmachung, kursiert überall. Und immer wenn unsere Speicher voll sind und wir die Leute auf die Straße setzen, dann lesen sie darin, lesen sich vor und schalten unsere Rufer ab. Sie lesen den Erlebnisbericht eines Mannes, den es vielleicht nie gab. Er nennt sich Seymur 1359-002-127 oder, wie ihn seine Freunde nennen, Sey 127. Ich habe Nachforschungen angestellt und weiß, daß dieser Sey mehr als zwanzig Jahre tot ist. Und doch: Das Buch hat nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil. Man schreibt es ab. Es ist die neue Tambora unseres Jahrhunderts. Man glaubt nicht mehr an Tambo. Das ist vorbei. Das alles kann Sie hier nicht beunruhigen, werden Sie denken. Ich denke da anders. Das Heft ist aus dem gelobten Land zu uns herübergekommen. Kann mir einer sagen, wie so etwas möglich ist?
Denken Sie denn, der Brand in dem Transportgaragentrakt war ein Zufall? Das zusammengeschlagene Empfangskomitee die Folge von Drogen? Wir brauchen gepanzerte Fahrzeuge, eine Truppe, die sofort ein- und durchgreifen kann, wenn sich irgendwo etwas rührt. Die alten Pläne müßten noch existieren. Und nun werde ich Ihnen die Schmähschrift zu Gehör bringen, damit Sie wissen, worum es geht...“ Seymur 1359-002-127 oder einfach Sey 127, wie ihn seine Freunde nannten, wachte mit einem faden Geschmack im Mund auf. Es muß der Traum gewesen sein, dachte er aufstöhnend, dieser einzigartige Traum, der ihn seit zehn Tagen regelmäßig heimsuchte. Immer wieder. Ein Traum, der sich auch nicht abschütteln ließ, indem man zwischendurch aufwachte. Und das zermürbte. Es war immer gleich. Immer die endlose Straße. Der hellblaue, kalte Himmel mit den feinen Dunstwölkchen. Die fröhlichen Menschen rundum. Die Blumen in den Haaren der anderen. Stimmen, die wie kleine Vögel über allem hinschwirrten. Alles so leicht und frei. Er dagegen hockt mit müden Beinen am Straßenrand. Kann keinen Schritt gehen. Ist alt. Die anderen winken: Komm doch, Sey 127. Aber er kommt nicht hoch. Die lachenden Menschen, die luftigen Kleider - ein immer währender Lebensstrom, der an ihm vorbeiführt. Dann die mitleidigen Blicke der Jüngsten in dem Zug. „Ahnchen“ nennen sie ihn. Auch einige vorwurfsvolle Gesichter darunter: Einer, der weder das eine noch das andere kann. Der Zug entfernt sich. Schrumpft in allen Dimensionen. Ist zuletzt nichts als ein farbiger Faden in endloser Ferne. Der Himmel strahlt nun Kälte, eine so grausame Kälte, daß es nicht mehr auszuhalten ist. Schneeflocken wirbeln die endlose Straße entlang. Unerwartet aber beginnt das Visionsfeuerwerk. Blaustichig. Gleißend und grell. Und immer noch sitzt er, Sey 127, auf der Erde. In ihm wird alles gläsern, kalt und verloren. Nein, denkt er nun, das schaffe ich nicht mehr. Das Bild wechselt. Es ist der Platz der Freude. Die feierliche Musik rundum. Er fühlt deutlich eine Erschütterung in sich. Schauer packen ihn. Er will tanzen. Wenigstens noch tanzen. Aber es geht nicht. Die Beine, steif und knorrig, gehorchen ihm nicht. Die Frauen rundum sehen ihn aus großen Augen an, schämen sich, schütteln die Köpfe und gehen fort. Wieder ein Ortswechsel: Er ist im Haus der Lieblichkeit. Er wußte, daß es einen Zusammenbrach geben würde, wenn er sich seinem Ziel näherte. So taumelt er zwischen den Liebenden entlang, fühlt dann auch den Zaun, der sich zwischen den anderen und ihm erhebt, und weiß, daß er hier nichts mehr zu suchen hat.
Er reißt die Identitätskarte aus der Tasche, will sie vorweisen, den prallen Mädchen ins Gesicht schleudern, aber die Identitätskarte ist grau und leer. Verzweifelnd wimmernd sucht er die Angaben zu seiner Person. Irgendwo stand doch: männl./weibl. und dann Reizmustertyp, Genitalmaß, Orgasmuszeit... Nichts, die Spalten sind aufgelöst, verschwunden. Es gibt keine Spalten mehr. Er ist ein Nichts. Ein geschlechtsloses Nichts, an dem man vorübergeht, ohne es zu bemerken. Nun aber, da er verloren scheint, kennt er mit einemmal den Weg. Den Weg der Wege. Er zerreißt voll innerer Genugtuung, voller Stolz und Einsicht und unter dem Klatschen der anwesenden Mädchen und Frauen seine Identitätskarte, zerreißt sie, unmittelbar vor Vivilii stehend. Sie heben ihn hoch und tragen ihn hinaus in die Freiheit. Sie tragen ihn in das gelobte Land der Alten. Da ist alles leicht und sonnig, warm und schön. Da werden sie von Mädchen und Jünglingen betreut und lieblich unterhalten, da fließen Ströme duftenden Weines, und die Parks sind endlos und farbenprächtig, die Seen tiefblau, der Himmel dunkel, und die Sonne steht im Zenit und will nicht untergehen. Er weint vor Glück, denn er kann sich ausruhen von all seinen hervorragenden Taten, kann seine dunklen Hände hell und durch scheinend werden lassen. Nun ist auch er ein Straßengänger, kein Produktiver mehr. O, du gelobtes Land der Alten... So war der Traum. Sey 127 saß nun in seiner Kugel und fühlte sich ausgelaugt und zerschlagen. Er rang nach Atem und fürchtete sich, daß ein Hustenreiz über ihn kommen könnte, denn Husten war der sicherste Vorbote des Alters. Sey 127 stand der Schweiß auf der Stirn. Naß und klebrig. Er sehnte sich nach der Badekugel. Aber bis dahin mußte man laufen. Laufen. Kühles Wasser und Alfamangan würden ihn wieder wecken und erfrischen. Dann noch in das Sauerstoffzelt und zwei Peppelynkapseln, etwas Bioextradoppelnahrmalzin. Dazu die obligate Sinthezin forte und die Kampf-o-derm-creme, und man konnte sich im Movimationsraum sehen lassen. Die Übungen würden die Gelenke weich machen. Hinterher etwas Hydroflexin, Roboran, Symmetrin. Man war wieder ein vollständiger, ein junger Mensch. Man konnte jung und frisch bis zum nächsten Morgen existieren.
Aber vorher durfte man niemandem begegnen. Egal, wer es war, man würde ihm ansehen, was er geträumt hatte. Man würde ihn bedauernd ansehen, sich später seiner schämen. „Wie, der wohnt in unserem Block? Ach..., erzähl doch nicht.“ Oder wer ihn sah, alarmierte die Freunde in der Not. Die waren herzlos. Sie würden ihn wegschaffen. An Armen und Beinen haltend, gerade so, als habe er sein Leben lang nicht einen Handschlag getan. Sie würden ihn durch die halbe Stadt kutschieren. Ja, man hatte es schon gesehen, wenn andere dran waren. Die übrigen würden die Nase rümpfen. Speien... Alter Egoist. Sitzt in deinen Muschelwänden, derweil junges Glück zusammengedrängt im Brutraum haust. Er war dann der öffentlich erklärte Egoist. Der Waschlappen. Niemand würde mit ihm sprechen, wenn sie ihn dann untersuchten. Kein Mediziner, keine Hilfskraft, kein Drallmädchen. Nicht ein Wort. Er wäre Luft für sie. O nein, nicht etwa weil er alt war, sondern einfach weil er sich nicht dazu bekannte, die Welt der Jungen ebendiesen zu überlassen. Das war es. Und es war ja auch richtig. Möglich auch, daß er selbst die Abtransporte noch nie gesehen, sondern nur geträumt hatte. KRANKE SIND TOTE IM VORAUS, hieß es in der Ausspruchsammlung des Mussodrei. Wer also ablehnte, sich zu sich selbst zu bekennen, würde nie das gelobte Land der Alten sehen. Er kam einfach weg. Ja, weg... Sey 127 schwitzte heftig. Mühsam das eine Bein vor das andere setzend, erhob er sich aus der Schlafkugel. Zitternd stand er im Raum. Sah voller Ingrimm die Schlafkugel an, die noch von seinem Vorgänger stehengeblieben war, obwohl damals die gesünderen Schlafmuscheln in Mode kamen. Wenn nur niemand hereinsieht, dachte er verzweifelt, nur jetzt nicht, in diesem Augenblick nicht. Sey 127 tastete sich an der Wand entlang. Warf sich gegen die Tür. Es durfte niemand kommen und ihn so sehen. Sie würden ihn unweigerlich für einen alten Schwindler halten. Für einen Betrüger, der sich in die Vergnügungen der Jungen einmischte: der dummfrech noch immer etwas sagen wollte, geliebt sein wollte, tanzen wollte, der in Wirklichkeit schon gar nicht mehr konnte... Aber es half alles nichts. Er mußte in die Badekugel, den Raum verlassen und den wangoweichen Gang durchschreiten. Draußen war die Luft kaum atembar. Eine stickige, heiße Wolke kam Sey entgegen. Er sah die Zeitrotatoren und erschrak: Die anderen hatten bereits mit der Movimation begonnen. Sein Platz! Sie würden merken, daß sein Platz leer war. Er mußte ihnen etwas sagen. Irgend etwas.
Vor Sey 127 lag der endlose Gang. Dreißig Meter vorbei an anderen Eingängen und Zwischenstationen, vorbei an Ab- und Aufstiegen. Und überall konnte jemand kommen und ihn sehen. Das Bad, sonst wunderbare Erfrischung, brachte ihm an diesem schrecklichen Morgen keine Linderung. Erst als er alle Präparate in der richtigen Reihenfolge genommen hatte, hörte das Zittern auf, und er konnte sich einigermaßen ordentlich bewegen. Sey 127 beschloß und entschied in diesen Augenblicken, während er den Block verließ, ohne den Movimationsraum noch einmal aufgesucht zu haben, es sollte vorüber sein... Jetzt, da sein Entschluß feststand, spürte er auch, daß die Welt wohl doch schön war. Ja, die Welt war schön, nur: jeder an seinem Platz. Das war es. Ein Jugendlicher in der erhabenen Stille des gelobten Landes der Alten war ebenso ein Unding wie ein Alter, der nach den Festen der Freude, des Jubels oder der Lieblichkeit lechzte. Und wer sich an diese einfachste aller Grundregeln hielt, der war in seiner Psyche gesund. Vor Sey 127 lag die ganze Stadt, ausgebreitet wie ein überreich gedeckter Tisch. Ja, die ganze Welt bot sich ihm dar. Sie lebten in der besten aller Welten. Die Junggeborenen wuchsen in den Ge burtenstationen auf, und was schadete es ihnen, wenn sie sich eng aneinanderschmiegten, sich andrängten? Schließlich gehen die Jupys in die Katakomben, bis Platz ist in der allgewaltigen Stadt. Er, Sey 127, hatte auch dort gelebt. Lang vergessen ist das. Und dann kommt man in die Stadt, produziert, feiert, liebt und träumt von Vivilii oder Bläuchen oder wer gerade geehrt ist, und man begegnet Millionen Viviliis oder Bläuchens. Eine Vivilii. Natürlich, eine Vivilii in ihrer öligen Behaglichkeit, in ihrer erotischen Anmutlosigkeit und Tapsigkeit, in ihrem körperlichen Ungeschick, ihrer erregenden Stupidität würde er nun nicht mehr kennenlernen, aber die nach ihm kamen, die sollten einfach für ihn miterleben. Sey 127 genoß nun auch die Architektur. Unsere Stadt ist wie ein Garten, dachte er mit tränenden Augen, sie wächst, strebt apfelblütig in den Himmel, nähert sich dem Land der Schwebseligen, in das eingeht, wer ausgefüllt gelebt hat. Sey 127 hat es geschafft. Er hat sich hingestellt vor seine Kollegen, hat ein seltsames Lächeln aufgesetzt und gesagt, daß er in das GeLaDeAl gehen würde. Mochte ein Jupy seinen Platz einnehmen. Schließlich brauchte die Abteilung neues Blut, neue Kraft und neue Techniken der Zärtelei in den Pausen. Sie hatten ihm alle zugestimmt. Nicht mit überschwänglichen Worten, sondern einfach indem sie weiterarbeiteten, ihn gewähren ließen, ihn nicht ansahen.
Am Eingang der Abteilung, Sey 127 hatte sich nach seiner kurzen Rede augenblicklich entfernt, traf er mit dem Jupy zusammen, der ihn ablöste. Der schenkte ihm eine Ungfas, die Sey 127 schnell einsteckte. In der Zentralbibliothek erhielt er zwei Byrillen. Im Laufe seiner Tätigkeit hatte er fast achtzig Byrillen bekommen. Er hatte sie nie gemocht und immer gleich an Sammler weitergegeben. Sicher, man konnte zu Lustfesten die Byrillen an dem Block oder auf dem Weg anbringen, und einige wenige taten dies sogar während der Lieblichkeitsfeste, aber Sey 127 lehnte es ab. Dies war seine Art der Opposition, ein Überbleibsel aus der eigenen Jupyzeit. Das Lebewohlgebäude hatte seine Tore für ihn weit geöffnet. In Begleitung kichernder Jupyerinnen, die sich ohne alle Lieblich keitszeremonien von ihm sogar mit den Lippen berühren ließen, kam er durch Hallen und Zwischenetagen, überquerte er Lichthöfe und breite Treppenfluchten und stand letztlich vor einer der Sekretärinnen des Obersten Tongeberregenten. „Na, Gelobtchen“, sagte die reife und pralle Frau, die wie eine von Mund aufgeblasene Vivilii zurechtgemacht war, „ist wohl soweit, was?“ Sie tätschelte ihm die Wangen, zupfte an seinem Kinn und brachte ihm sein Haar in Unordnung. Seine Karte ließ sie von einem der Nebulatoren löschen. Sey 127 erhaschte in diesem Augenblick sogar einen Blick des Regenten aus dem Nebenraum, der ihm still zuwinkte. „Nun, Gelobtchen“, die Sekretärin war immer noch beschäftigt, ihn wie ein Hausgamser zu tätscheln, „Sey null null null, wie ist dir aufgegangen, daß es Zeit ist, ins GeLaDeAl aufzubrechen?“ „Man muß es wissen“, stammelte Sey 000, „man ist mehr als ein Stück Fleisch.“ „Wie weise du das sagst, Gelobtchen“, sie fuhr immer noch mit ihren Tätschelbewegungen fort, und Sey 000 gewann den Eindruck, daß diese Frau so etwas brauchte, um selbst glücklich sein zu können, während ihm die Anrede Gelobtchen in den Ohren weh tat, ihn seiner Würde beraubte. „Träume lügen nicht“, sagte Sey 000 und wollte die Sekretärin ebenfalls tätscheln, doch er erhielt einen derben Schlag mit einem Lineal auf die Finger, „Träume sind unser Innertbewußtsein. Die Innertwelt. Die weiß mehr von uns, da sie Kontakt hat zu dem Land der Schwebseligen.“ „Siehst du, Gelobtchen“, die Sekretärin begann Sey 000 mechanisch zu entkleiden, warf ihm dann, als er aller Kleidung ledig war, einen gestreiften Overall vor die Füße, „das dachte ich mir. Viele wissen das. Einmal aber, wenn ich selbst nicht mehr jung sein kann, werde ich das auch wissen.“
Sey 000 hatte das undeutliche Gefühl, daß es mit dieser Sekretärin nicht seine Richtigkeit hatte. Sie schimmerte allzu plastolen, schien nicht einmal mehr eigene Haut zu besitzen, und ihr Atem war stoßweise, beinahe keuchend. „Gelobtchen, du weißt auch, wohin du mußt?“ Sey 000, der sich plötzlich nach seinem Arbeitsplatz sehnte, nach den uninteressierten Gesichtern der anderen, nach einer Schlafmuschel, dachte nach. „Man sagt...“, begann er. „Gewäsch“, unterbrach ihn die Sekretärin und schob ihn nun, da er den Streifenoverall trug, mit der Fußspitze in Richtung Ausgang. „, Man sagt...’ Alles Gewäsch. Jupyparolen. Und du wirst es glauben, was? Vorbei am Container der vielen. Links vorüber am Born der Jubilierer und durch den Block Hort der Freudstimmigkeit. Und da wird man dich weiterleiten. Ja weiterleiten.“ „Aber wer?“ erkundigte sich Sey 000 ängstlich. „Verschwinde!“ dröhnte die aufgebrachte Stimme der Sekretärin, und sie stampfte mit dem Fuß auf. „Mißbrauche nicht unsere Geduld, unsere Liebe, Fürsorge und Gastfreundschaft!“ Mit zitternden Fingern und großen, leeren Augen strich sie sich immer wieder über ihre Bluse. Der Ort, den Sey 000 schließlich erreichte - niemand kannte ihn mehr, keiner hatte ihn aufgehalten oder sich an ihn gewandt -, war ihm kaum bekannt. Er wußte nur, daß die Baabelkämpfer von hier aus in die Ovalena stiegen und sich unter den Augen der Straßner einmal im Jahr bekämpften. Gesehen hatte Sey 000 das noch nicht. Auch die rück wärtigen Eingänge zu den Heilungshallen erblickte er zum erstenmal in seinem Leben, und sie schienen ihn nun häßlich, gierig, wie aufgerissene Mäuler. Er sah auch die stete Kette der geschlossenen Fahrzeuge, die dort ankamen. Sein ganzes Leben lang hatte er gemeint dieser Fahrzeugtyp beliefere die Blöcke mit Blumen - o Zuugus -, wann hatte er die letzte lebende Blume eigentlich gesehen -, während er nun erkannte, daß nicht Pflanzen, sondern heilungswürdige Städter mit ihnen transportiert wurden. Sey 000 erschrak zum erstenmal an diesem Morgen. Die Stimmen der Empfehler waren dünn wie Pinselstriche auf einer rauhen Wand. Das eigentliche Leben der Stadt begann also erst hinter der geschickt errichteten Visiowand, deren unregelmäßige Durchbrüche davon kündeten, daß hier auch die Feuerwerke abgelassen wurden. Das war lange her, daß Sey 000 ein Feuerwerk gesehen hatte. Ein paar brennende Büsche, mehr nicht. Es dauerte nicht lange, bis eine kratzige, schon fast erschöpfte Lautsprecherstimme ertönte.
„Umrunde das Heilgebäude. Der Luftkissenbus erwartet dich schon. Gute Reise.“ Der Bus war gut besetzt. Fast vierzig Menschen hatten dasselbe Reiseziel wie Sey 000. Unmittelbar vor Sey saß eine Frau mit einem riesigen Paket. Die anderen waren wie Sey 000 auch ohne Gepäck unterwegs. Welch Unsinn, dachte Sey 000, was diese Frau alles mitschleppt. Verrückt. Mitten hinein in diesen Gedanken aber gab es einen Ruck. Der Bus setzte sich in Bewegung. Hob sich fauchend vom Boden. Ächzte entsetzlich und schien immer wieder abstürzen zu wollen. Mit einem. plötzlichen Ruck drehte sich die Frau um. Starrte Sey 000 ins Gesicht. Fixierte ihn lange. „Sie haben wohl keinerlei Gepäck“, sagte sie, „oder ist es unter der Bank?“ „Natürlich habe ich kein Gepäck. Wozu denn auch?“ „Also erwarten Sie das Paradies, was?“. Ihre Augen glommen böse. „Was erwarten Sie im GeLaDeAl?“ Sey 000 war peinlich berührt. Sehr sogar. Wie, wenn die anderen ihnen zuhörten? „Wo ist denn Ihr GeLaDeAl?“ fragte die Frau unwirsch. „Wie, wo ist es...“ Sey 000 verstand die Frage nicht. „Na, wo ist es denn?“ Die Frage der Frau wurde bohrend. „Es muß doch irgendwo liegen. Geographisch. Lokal. Örtlich?!“ „Wir fahren dorthin“, erwiderte Sey 000 und wollte sich abwenden, aus dem Fenster sehen. „Ach ja“, die Frau lachte höhnisch, „unsere Reise führt dorthin. Natürlich. Aber gereist...? Globalblick. Doppelglaskugel und so, daß kennen Sie doch auch. Sie sind doch gereist?“ „Mir fehlten immer die Punkte oder Ökonomos“, gestand Sey 000 nur ungern, „ich bin nicht gereist.“ „Aber ich“, frohlockte die Frau, „denn mein Totalpartner war Oberer Statistoskope, Ich bin gereist. Ich kenne unseren Planeten. Nur sah ich keine Spur eines GeLaDeAl. Was sagen Sie nun?“ „Der Regent weiß, wohin er uns schickt.“ Für Sey 000 war damit alles gesagt. „Der Regent ist nur Regent, solange es den Instrumenten gefällt.“ Die Stimme der Frau klang verachtungsvoll. Sey 000 wurde leichenblaß. Nicht einmal als Jupy in den Katakomben hätte er gewagt, das Wort Instrumenter auszusprechen, und diese Totalpartnerin benutzte es wie etwas Selbstverständliches. „Es gibt kein..., keine... Nein, so etwas gibt es nicht.
„Und wer hat die Maschine repariert“, schrie die Frau jetzt, daß es bis in die Steuerkanzel zu hören sein mußte, „ein ganzes halbes Jahr ist kein Mensch nach dem bekannten Schema gealtert. Ich nicht. Sie nicht. Waren Sie nicht froh in der Zeit, da Sie mit Ihrer natürlichen Lieblichkeit allein waren? Ohne Vivilii.“ Wie verachtungsvoll diese Frau Vivilii sagte, sie mußte eine Hexe sein, eine Ketzerin. „Jetzt aber läuft sie wieder. Auf Hochtouren. Schauen Sie nur, wie voll es ist.“ „Und“, die Augen von Sey 000 wurden brennend, ein Fieber fraß an ihm, „wo sind diese Instru...?“ „Ich weiß es nicht genau“ erklärte die Frau, „aber es heißt, daß sie mindestens einhundertfünfzig Jahre alt sind und sich einen Wunderstoff aus den Leibern von Ungeborenen extrahieren lassen, um sich so geistige Frische und körperliche Gesundheit zu erkaufen. Es heißt, daß sie in einer unterirdischen Festung auf dem verseuchten Kontinent leben. Es sollen nicht mehr als zwanzig sein. Sie sollen Unterwasserfahrzeuge, Schnellrollner und Donnerflieger haben, mit denen sie in Stunden jeden Punkt des Planeten erreichen. Auch heißt es, daß sie einige Automaten haben, die bewaffnet sind, um jede Erhebung abzuwürgen.“ „Und wenn das nur Ihre kranken Gedanken sind?“ begehrte Sey 000 noch einmal auf. Er sah aus dem Fenster. Unter ihnen lag das große ruhige Meer. Die Frau betrachtete Sey noch einmal. Dann sagte sie: „Ich habe Angst.“ Angst, dachte Sey 000, nun schon nicht mehr von seinem Mor genentschluß überzeugt, Angst hatte er auch einmal. Er hatte als Spätjupy gesehen, wie sie einen Mann aus den lieblichen Hallen entfernt hatten. Dieser Mann hatte etwas von einem Untergang aller erzählen wollen. Warum sollte er nicht, und warum sollte man ihn nicht entfernen. Nein, nicht das hatte Angst ausgelöst, sondern die gläsernen Augen der Fortschaffer. Der hallende Schritt ihrer großen Füße, die ungewohnten Bewegungen ihrer Arme. Die Angst hatte ihn damals wie ein Schattentier umflattert. Einer in seiner Nähe hatte diese Vokabel benutzt. Einer, der dann nicht mehr lieblich sein konnte. Der ein enttäuschtes Mädchen zurückließ. Untergang, dachte Sey 000, ist das das gleiche wie Angst? „Und warum haben sie Ang...?“ Sey 000 staunte über seinen Mut, die Frage zu stellen, auch wenn er ein halbes Wort verschluckt hatte. „Sie haben sicher Kochlerkügeln gefädelt“, sagte die Frau, und Sey 000 nickte zustimmend, „ich nachher auch, weil mein Totalpartner sich ein Jupymädchen nahm. Da mußte ich auch Kochlerkugeln fädeln. Davon werden die Hände dunkel und die Augen schwach. Ich habe es an mir beobachtet. Und warum das alles?“
„Kochlerkügeln werden gebraucht“, verteidigte Sey 000 seine le benslange Arbeit. „Ich werde Ihnen auch sagen, wozu“, ein bitterer Zug entstand in ihrem Gesicht, „damit andere die Kochlerkügeln wieder abfädeln können. Und die Leerkügeln zu uns zurückkommen. Es ist Irrsinn. Sinnlos. Die wirklich sinnvollen Sachen werden an anderen Orten gefertigt.“ „Aber wo denn...?“ Das Meer unter dem Bus färbte sich rostigrot. Die helle Zwergsonne stand tief über dem Horizont. Das Fahrzeug flog der Zeit hinterher. Die Welt wurde dämmerig. In dieser mageren Beleuchtung tauchte eine Insel auf. Eine Kette blauer Lichter flammte auf, ließ eine Landebahn erkennen. Die Lichter bildeten einen Schlauch. Der Bus wurde träge und langsam. Er setzte wie ein müder Vogel zur Landung an. Dann trat Stille ein. In weiter Ferne hörte man noch das Rauschen des Meeres. Im Bus flammte hartes Kunstlicht auf. Ein Lautsprecher dirigierte die schweigenden Passagiere zum Heck. Sey 000 wollte nicht unhöflich sein und trug das Paket der Frau. Die Hecktür klaffte knarrend auf. Eine Treppe war im blauen Licht der Landestrahler zu sehen. Eine Treppe, die an bröckelndes Eis erinnerte. Der schweigende Zug der Alten schien zu schrumpfen. Sie rückten wie erschrockene Vögel eng zusammen, fühlten einer den anderen, fühlten das Zittern der fremden Leiber. Dichtgedrängt schritten sie über die Treppe nach unten. In der Brust gerann etwas, wurde eisig und fest. Kaum stand der letzte auf der Treppe, glitt der Bus mit noch offener Hecktür nach oben und nahm Kurs auf. Nun hörten sie die Stimme des Meeres. Dann aber war es wieder still. Kein Geräusch erreichte ihr Ohr. Die Treppe führte in einen fünf Meter mal fünf Meter großen Raum, dessen Tür sich gemächlich hinter dem letzten Mann schloß. Sie fühlten, daß dieser Raum ein Aufzug war, denn er hatte sich gleich in Bewegung gesetzt. Eine schier endlose Fahrt, die durch einen harten Aufprall beendet wurde. Die Tür öffnete sich quietschend. Es war Lüge, Betrug. Und es gab keinen Weg zurück. Die Kabine des Aufzuges erwärmte sich mehr und mehr, wurde glühendheiß. Das sorgte dafür, daß sie eilig nach draußen stolperten. Dann wurde die hitzeflirrende Kabine verschlossen. Das GeLaDeAl lag nun vor ihnen.
Sey 000 sah zuerst das blauweiße Dämmerlicht, Schattenräume und geisterhaften Fels. In einer endlosen Ferne gab es winzige Lichterketten. Vielleicht Wohnblocks. Dort wohnte ein Alter am anderen. Einer dem Atem des anderen ausgeliefert, das Knacken der Gelenke durch die dünnen Innenwände hörend. Eine Straße, staubig und mit verstreuten Steinen oder Kieseln in ihrer Gleichförmigkeit unterbrochen, führte nach dort. Mehr ein Weg, der sich aus dem Halbdunkel herausschälte. Rundum nacktes Gestein. Pflanzenfrei. Leben in einem Sarg. Dann differenzierte Sey 000 die einzelnen Geräusche. Es waren furchteinflößende Töne. Etwas stampfte und brodelte. Die Luft zitterte unter dem Stampfen. Zugleich drang feines Summen an die Ohren von Sey 000. Grelle Töne, die aufzuckten, verwehten. Das Gestein vibrierte. Das Herz von Sey 000 wurde taub und kalt. Die Zeit tropfte dahin, ohne daß etwas geschah. Wie lange würde man sie stehen lassen? Man muß doch essen, trinken, seine Notdurft verrichten. Man wird doch müde. Sey 000 nahm das Paket der Frau und ging einfach los. Immer die Straße entlang. Er drehte sich nicht mehr um, wußte aber, hörte es gelegentlich an den schlurfenden Schritten, daß ihm die anderen folgten. Natürlich folgten sie ihm, und wäre er in einen Abgrund gesprungen, auch da hätten sie ihn nicht allein springen lassen. Sie waren gebrochen und aufgewacht. Aufgewacht aus dem Viviliitraum und dem Kochlerkügeltraum, aus dem endlosen Jupytraum, alles zu ändern, und aus dem Lieblichkeitstraum. Die erwarteten Mädchen und Jünglinge waren ein Traum wie die endlosen sonnigen Parks und das blaue Meer. Über ihnen war das Meer. Über ihnen... Die Straße führte abwärts, und es lief sich fast leicht. Auch ohne die hundert Präparate und Mittelchen. Ohne Alfamangan und den ganzen Dreck. Ja, er dachte Dreck, und es war der Anfang seiner neuen Gedanken. Dann stieg die Straße wieder leicht an. Sie erreichten einen stählernen Viadukt. Das Ende dieser technischen Einrichtung lag in Finsternis. Unten aber war mattes rötliches Licht. Das Dröhnen und Kreischen der Maschinen nahm zu. Dort unten bewegte sich alles, rotierte und pulsierte. Es wimmelte dort wie in einem Ameisenhaufen. Zwischen den Maschinen huschten Menschen hin und her, schwärzliche Punkte, die ein Ungeheuer umsorgten. Von Zeit zu Zeit tauchten schwerfällige Fahrzeuge auf und hielten an. Sie saugten die Alten mit rüßligen Auswüchsen auf und verschwanden schwankend in der Ferne. Die Neuankömmlinge standen unbeweglich und schauten nach unten. Sie standen da, die erhitzten Gesichter gegen das Geländer gepreßt, und konnten nicht glauben, was sie wahrnahmen.
Ein schriller Ton erklang überall zugleich. Das Bild änderte sich. Die Ameisen auf dem Boden der Maschinenhölle hatten es nun sehr eilig. Sie strebten einem bestimmten Ziel zu. Ein gespenstisches Gewimmel. Sie fielen hin, kamen taumelnd hoch. Stützten sich oder gingen achtlos vorbei. Schließlich erstarb die Bewegung. Andere Fahrzeuge näherten sich. Andere Ameisen verließen diese Wagen, während die ersteren die Bordwände erklommen, sich hinaufzogen, fallen ließen. Schließlich ein erneuter Ton. Die Fahrzeuge setzten sich in Bewegung. Aber nicht alle waren aufgestiegen. Einige hatten es nicht geschafft. Die Kräftigsten von ihnen reihten sich in die Gruppe der Arbeitenden ein, während die Entkräfteten entweder ruhig liegenblieben oder auf allen vieren fortkriechen wollten. Nun tauchte ein breites und sehr flaches Fahrzeug auf, dessen acht orangerote Scheinwerfer den Boden abtasteten. Erfaßte das Licht einen der Zurückgebliebenen, wurde er mit einem stählernen Greifer gepackt, hochgehoben und in eine Klappe versenkt. Es entkam nicht einer. Schnell und sicher bewegte sich das Fahrzeug und ebenso schnell und sicher der Greifer. Dünne Greisenschreie füllten die Luft. Einer kroch freiwillig in die Klappe. Der Greifer berührte ihn nicht. Das Fahrzeug verschwand in der Ferne. Nun kam auch den Neuankömmlingen eine Fahrzeugkolonne entgegen. Angstvoll aneinandergedrängt standen sie da. Warteten. Das erste Fahrzeug stoppte neben ihnen. Vorn stand einer, der sie mitleidig ansah. „Ihr seid angekommen?“ Sie waren angekommen und folgten blind der Aufforderung auf zusteigen. Sey 000 war der letzte. Er hielt sich in der Nähe eines Brückenpfeilers auf. Wie einer verblüffenden Eingebung folgend, zerrte er das Paket hinter den T-Träger und verschwand selbst im Schatten des Metalls. Er beobachtete die anderen, die aufstiegen und sich fallen ließen. Sey 000 dachte an das Greiferfahrzeug. Seine Zunge wurde pelzig. Wie, wenn es auch hierherkam. Er dachte an die Schreie, den Container mit seiner Klappe. Die Fahrzeugkolonne setzte sich in Bewegung. Die Frau, deren Paket Sey 000 getragen hatte, hob den Kopf. Sie suchte Sey 000 und ihr Paket. Sie wollte wohl schreien, aber einer hielt ihr den Mund zu, und einer von denen, die vorher oben waren, schlug ihr hart auf den Rücken. Da kippte sie nach vorn... Die Fahrzeuge verschwanden hinter dem Knick. Vom anderen Ende kamen nun gelborange Lichtpunkte daher. Das Herz des Mannes hämmerte einen rasenden Rhythmus. Die Muskeln versagten ihm den Dienst. Er wußte nun, was Angst war. Weg, dachte er verzweifelt, weg, weg, weg...
Das drohende Summen kam näher. Die Lichter wurden heller und heller. Die Scheinwerfer tasteten den Weg ab. Sey 000 preßte sich an den Träger. Die Scheinwerfer waren nun heran. Metallene Ketten zermalmten den Kies. Staubteilchen flogen durch die Luft. Voran das Greiferfahrzeug und mit einer Kette ein Milchglascontainer, in dem etwas arbeitete, gräßlich wuchtete und rotierte. Preßluftgeräusch. Zwei Klappen. Eine oben - für den Greifer und eine an der Seite - für Freiwillige. Das Fahrzeug verschwand. Die wohltätige Dunkelheit verschlang es. Sey 000 ließ sich einfach hinfallen. Er schrie all seine Verzweiflung in die stickige Luft seines Gefängnisses. Erst das zarte Stimmchen ließ ihn innehalten. Es kam aus dem Paket. Sey 000 riß die oberen Gazeschichten zur Seite. Er blickte in das spärlich erleuchtete Antlitz eines Kindes. Sey 000 sah es wie ein Wunder an. Ja, es war ein Wunder. Woher mochte die Frau es haben? Ein Wunder... Und dann war es da. Er spürte deutlich, daß ihn jemand beobachtete. Sey 000 schaute sich um. Er bückte sich, hob den größten Stein auf, den er finden konnte. Hielt ihn in der Hand. Er würde sich verteidigen und das Kind schützen. Sey 000 sah schlohweißes Haar und eine dunkle Brille. „Wirf weg“, sagte der andere nur, „wirf ihn weg.“ Sey 000 ließ den Stein fallen. Der andere trug ein hohles Rohr in der Hand. Sey 000 postierte sich vor dem Paket. „Du bist neu hier, was?“ sagte der mit der Brille. „Man sieht es. Auffälliger kann man sich schon gar nicht benehmen. Sie werden dich bald finden und inhaftieren.“ Unter Sey 000 schwankte der Boden. Er wollte antworten, aber nur ein kläglicher Laut entrang sich seiner Brust. Der Weißhaarige kam heran und sah neugierig in das Paket, hob es auf und lud es sich wortlos auf die Schulter. Er gab Sey 000 derweil das Rohr. „Vorsicht“, sagte er nur, „es ist geladen. Sag mal, wie ist dir das gelungen? Ein Kind...“ „Eine Frau“, stammelte Sey 000, „es war eine Frau. Ich wollte damit aber nicht auf das Fahrzeug. Das ist alles.“ „Intelligent“, versicherte der Weißhaarige, „sie hätten es noch heute containert. Und jetzt komm. Halte dich an meiner Seite und tue. alles, was ich mache. Man darf nicht auffallen. Jedenfalls hier nicht. Mit dem Kind da kann man nicht gut kämpfen.“ Sie gingen nicht weit. Der Weißhaarige deutete auf ein sehr kleines Fahrzeug, das nur aus einem Motor, Rädern, den Steuereinrichtungen
und einer winzigen Ladefläche bestand. Eilig entfernten sie sich aus dem Bereich der Produktions- und Wohnstätten. Das Fahrzeug surrte nur leise. „Eigenbau“, der Weißhaarige lachte, „schön ist es nicht, aber schnell, wendig und unhörbar. Das ist wichtiger. Stimmt's?“ Und nach kurzer Zeit fiel ihm etwas ein. „Da“, sagte er zu Sey 000, „neben dir liegen ein paar von unseren Brillen. Setz dir eine auf.“ Sey 000 tat es, und aus der finsteren Nacht wurde heller Tag. Sey 000 sah nun alles, was vorher unsichtbar gewesen war. Er lächelte sogar. „Die Stadt ist von uns abhängig“, dozierte der Weißhaarige, „wir produzieren alles. Sie brauchen uns, wir aber sie nicht. Wir sind auch mehr Menschen als die da oben. Achtzig Prozent der Produktion führen wir aus. Für die Stadt. Wir aber, du wirst uns schon bald kennenlernen, wir besitzen bereits einen Zugang zum Meer und fangen uns Fische und Schalentiere. Sehr schmackhaft. Und wir haben nicht nur Waffen, sondern schon ein Konzept, wie wir alles beenden und neu gestalten können, und wer weiß“, er deutete auf das Kind, „vielleicht wird der da unser Anführer sein...“ Vier der Planetarier rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her, während der fünfte, der vornehmste, das dünne Heft zusammenklappte und auf den Tisch legte. „Man muß diesen Zugang zum Meer finden“, keuchte einer, „und mit einer riesigen Bombe das GeLaDeAl versaufen lassen. Mit allem, was dort ist. Ich betone: Mit allem.“ „Aber“, der Wortführer sah den Sprecher an, „woher bekommen wir dann alles, was man so braucht?“ „Wir werden die Produktion der Kochlerkügeln einstellen und statt dessen wirkliche Produkte anfertigen lassen.“ „Ach“, der vierte erhob sich, „ich denke, Sinnvolle Arbeit macht denkende Hirne? Gilt das nun nicht mehr?“ „Ja, es gilt“, sagte der Wortführer, „nur eine Alternative, haben Sie die?“ „Natürlich nicht“, sagte der vierte, „höchstens, wir müssen neue, andere Träume produzieren...“ „Programmtechnik“, wußte der Wortführer, „hat dem Forschungskreatismus Platz gemacht. Wir haben auf Automaten gesetzt, weil wir allmählich Angst vor dem Selbstbewußtsein der Produktiven hatten. Niemand versteht mehr die Kunst des Programmierens. Oder denken Sie, es macht uns Spaß, alles zerfallen zu sehen? Die Träume sind starr. Die Alternative ist: Die Traummaschinen sprengen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Nun, äußern Sie sich jetzt.“
„Es bleibt dabei“, sagte der vierte, und der Wortführer nickte rhythmisch dazu, „wir fluten das GeLaDeAl und produzieren zur Not überhaupt nichts mehr, wenn uns eine Umstellung nicht gelingt. Nur eine Frage bliebe zu klären: Woher bekommen wir die Sprengladung, und vor allem, wem vertrauen wir sie an?“ Janka Chomain betrat ungestüm die Zentrale, prallte mit Markus zusammen, entschuldigte sich. „Wo ist Arpje Tyrsos“, fragte sie, „ist er nicht hier?“ „Nein, nicht hier“, O'Delta sah unbewegt aus, „nur ich bin da.“ „Und wo ist er?“ „Er schläft“, sagte O'Delta unfreundlich. „Er schläft?“ „Es begann mit einem Ringkampf“, sagte Markus grimmig, „fand seine Fortsetzung mit einem Faustschlag und endete mit einer Injektion in seinen Arm. Jetzt schläft er. Achtundvierzig Stunden. Unter der Aufsicht von Medcontrol. Wollten Sie das wissen?“ Janka stand leicht schwankend auf ihrem Platz. „Sie geben mir die Schuld?“ fragte sie leise. „Hier ist kein GeLaDeAl“, brauste Markus auf, „hier ist keiner bezüglich seiner Liebe im Alter festgelegt. Und woher soll er wissen, daß Sie nur ihrer Anatomie nach eine Frau sind? Sie haben es ihm doch nicht gesagt...“ Janka senkte sekundenlang den Blick. „Wir haben gescherzt“, sagte sie dann und sah Markus gerade an, „gescherzt, nichts weiter...“ „Das müssen Sie Ihm sagen“, ereiferte sich O'Delta, „ihm, nicht mir. Ich benötige keine Aufklärung.“ „Er ist Ihr Freund“, Janka ging unruhig auf und ab, „er wird eines Tages ein O'Delta sein ... Das geht Ihnen besonders nahe.“ „Danke für die Feinanalyse“, O'Delta lächelte, „aber Sie haben eine Stärke: die Schwächen anderer sehen. Und wie wäre es, wenn Sie auch einmal vor Ihrer Tür kehren würden? Sie sind nämlich gerade dabei, das Vorkommen durch mich zu erklären. Aber das sind nicht meine Scherben. Mir wollte er nicht beweisen, daß er ein ganzer Kerl, ein Held ist. Das hat er nicht nötig, weil ich ihn wie einen Mann behandele. Ihnen wollte er beweisen, daß er kein Küken mehr ist. Für Sie wollte er mit Ms 0.05 und dem schweren Gleiter hinaus und diese dekadente Welt zerglühen. Für Sie, Janka, weil Sie mit ihm scherzen. Ihnen genügt das sicher. Doch ihm nicht. Und er glaubt, was Sie ihm vorflunkern. Er glaubt es.“ „Sie haben ihn dann überrascht?“ Janka sank in sich zusammen, schien kleiner, zerbrechlicher. „Überrascht?“ O'Delta lachte hart.
„Die Sicherungen haben gemeldet, daß sich einer im Bewaff nungsraum zu schaffen macht. Arpje hatte alle Sicherungen ausge schaltet. Aber eben die nur, die vor Ort sind. Da bin ich hin. Er hätte auch gar nicht starten können. Ich habe die Automatik blockiert...“ „Sie sehen also zu, wie dieses Land der Produktiven geflutet wird?“ „Nein“, sagte Markus, „wir hatten Funkkontakt, haben sie gewarnt. Mehr dürfen wir nicht tun. Zudem: Man hat die Bombe noch nicht...“
Futuristengestammel Die durchsichtige Schnecke hatte den Meeresboden erreicht. Schwaches violettes und purpurnes Licht drang durch das Glas, und rätselhafte Lebewesen bewegten sich teils heftig zuckend oder schwimmend, teils kriechend über das Gestein, durch Tang- und Algenwälder, überwanden lautlos Korallenstöcke, um in der fernen Finsternis zu verschwinden... Ainina, die Medizinerin, lag mit offenen Augen in einer Arachnoile direkt an dem meeresgekühlten Glas und träumte in das Meer hinein. Manchmal sah sie nicht Fische, sondern Raumreisende, im Korallenwald verschwand ein Gleiter, und sie wußte, daß alle seine Insassen tot, skelettiert sein würden. Eine Meeresschildkröte wurde zur Archimedes, der Papageienfisch in seiner strengen Linienführung konnte nur Janka Chomain heißen und die weißbäuchigen Haie waren die Herren, die das GeLaDeAl versenken wollten. So träumte die Ärztin, während Amon Hater hinter ihr in einem Schlorrer schwebte und erzählte. Wenn er nicht weiter wußte, weil ihm Worte fehlten oder sich Trockenheit in seinem Mund einstellte, dann durchbrach er mit dem kleinen Finger der linken Hand die kaum wahrnehmbare MikroLichtschranke seiner Axillarbürette, und das Gerät fuhr in seiner Diktion und mit seiner Stimme fort zu erzählen. Es reproduzierte, was es bei der Aufzeichnung im Informationsvideoarchiv gespeichert hatte, schmückte es, immer den Regeln der Logik gehorchend, auch aus und sorgte dafür, daß es keine Kunstpausen, keine Besinnung für Ainina gab, sondern eine gleichmäßige Erzählung, ein folgerichtiger Rapport zustande kam. Ainina hatte vergessen, wo sie sich befand und, vor allem, warum sie hier war. Sie hatte vergessen, daß sie Hater von seinem Podest holen wollte. Nicht, daß sie nicht gewußt hätte, daß da eine kranke Tochter auf ihre Hilfe wartete, sie hatte zum erstenmal seit Wochen oder Monaten Stunden, in denen ihre Gedanken und Gefühle auf anderes gerichtet waren. Sie war zum erstenmal innerlich frei, hatte das stählerne Band der Selbstbezichtigungen gesprengt, pendelte nicht mehr nur zwischen der Krankenstation, ihrem Arbeitsort und dem Schlafquartier.
Hater schwieg und nutzte die Pause, zwei Erfrischungsgetränke zu holen. Als er ihr stumm das Glas vor das Gesicht hielt, zuckte sie zusammen, löste den träumenden Blick aus der Welt in drei hundertfünfzig Meter Tiefe, aus einer Welt, die man mittels Vibro-Sand durch sich selbst erleuchtet hatte, drehte sich um und sah den Mann an, der direkt aus der Archimedes zu ihr herabgestiegen schien. „Und das...“, waren ihre ersten Worte, „das war so? Ich meine, die vielen sinnlosen Toten? Jaun...“ „Sie werden alles sehen“, beschwor sie Hater leise, „so, wie ich das sah. Damals blieb meine Mutter nicht mit mir auf der Terrasse, sondern wir fuhren in der winzigen Kabine hinab, und sie ging mit mir in das eigentliche Archiv, diesen unbedeutendsten aller Räume in dem weitläufigen unterirdischen Labyrinth. Sie hatte diesen Tag gründlich vorbereitet. Alle Filme, Bilder, Spulen, Tagebücher und Videographen waren in logischer Folge bereitgestellt, und jener veraltete Robby mit den Manieren eines englischen Butlers war unser sichtbarer, in einem Nebenraum hantierender Vorführer all des Materials; er war aber auch unser Koch und Kellner, der uns mit dem versorgte, was wir gerade benötigten. Man verliert in einem Keller schnell das Zeitgefühl, besonders wenn man keinen Chronographen sieht, und ich kann nicht sagen, ob wir nun vierundzwanzig Stunden oder vier Tage dort waren. Hyperiomaten regulierten unseren Schlaf, und wenn ich an der Seite meiner Mutter erwachte, wenn die Nebelsprühvorrichtung uns wusch und erfrischte und wir anschließend unsere inzwischen gewaschenen und parfümierten Kombinationen anlegten und der Robby die Vorführung wieder einschaltete, dann schon waren die Schlafpausen nichts Wirkliches mehr, und man hatte sie vergessen. Sie werden das auch sehen. Ich möchte, daß auch Sie das Archiv besichtigen, daß Sie die Gesichter der Tapferen sehen, dann wenn ich mit der Erzählung zu Ende bin... Wäre es bei dieser Reise nur um Entdeckungen gegangen, man hätte sie die erfolgreichste seit Menschengedenken nennen können. Vier Lebenträger auf einem Flug, das gab es weder vorher noch später. Die traurige Geschichte vom Paradies 245/19 kennen Sie und jenen überalterten Planeten mit seinem menschenfressenden GeLaDeAl auch. Bevor die Archimedes aber ihr Ziel erreichte, fand noch eine Begegnung im Raum statt. Da war eine Sonne namens Epsilon-cxc 1800/41, ein heißer blauer Zwerg...“
„Guten Morgen, Janka“, Arpje Tyrsos lächelte den Bildschirm an, auf dem Janka Chomains verschlafenes Gesicht sichtbar war. „Morgen“, maulte die Astronomin, „und jetzt geh raus. Eine er wachende Frau ist nur in einer Geschichte schön.“ „Sie gefallen mir auch verschlafen“, sagte Arpje, „aber ich tue Ihnen den Gefallen. Tschüß also...“ Das Bild erlosch, und der junge Mann rieb sich kräftig die Augen. Dann trat er auf die Schleuse zu, die seinen Schlafraum von dem langen Gang abtrennte. Die Wände und Decken des Raumschiffes waren mit Platten ausgelegt, die alles, was die Sensorelemente der Archimedes erfaßten, naturgetreu abbildeten. Man spazierte also unentwegt unter den sich nur zäh wandelnden Sternbildern entlang. Das heißt: Natürlich hatte es einen Sprung gegeben. Zwischen dem anabiotischen Einschlafen und dem Aufwachen hatte eine unsichtbare Kraft nicht nur die Sternbilder durcheinandergewirbelt, sondern auch ganz neue Konstellationen und Galaxien geschaffen. Als sie dann das Gebilde sahen, dessen Äste ihnen auf der Erde ständig Begleiter am Nachthimmel waren, als sie hörten, dies ist die Milchstraße, und ungefähr an dieser Stelle liegt die Sonne, von der mit bloßem Auge nichts zu erkennen war, da war es fast allen einen Moment lang schwer ums Herz geworden. Ja, sagte sich Arpje, Nachteulen werden wir. Immer ist ein nächtlicher Himmel um uns. Die naheste Sonne, einmal von den beiden Planetenreisen abgesehen, war gerade so groß wie eine Glasmurmel. Sie hätten lieber Bilder von der Erde an die Wände projizieren sollen. Immer mal etwas anderes: Grand Canyon. Eine große Stadt. Pazifikromantik... Er durchschritt die Schleuse, und seine Gedanken rissen ab. Man konnte die Raumprojektionen auf den Wänden blaß werden lassen, wenn man die unsichtbaren Lichtquellen zwischen den Plattenfugen auf maximale Leistung schaltete. Hatte das jemand getan? Den Gang hüllte beizendes blaues Licht ein. Das Licht brannte, schmerzte, biß in die Augen. Es lag auf dem Bodenbelag und den Gegenständen, hüllte Stangen, Säulen und Fahrzeuge ein. Es kam aus dem Raum, hatte alle Sterne erstickt, ihre Lichter gelöscht und waberte durch den Gang. Hier gab es keine Sonne, nur einen schmerzhaft brennenden Punkt jenseits der Archimedes, und aus diesem Punkt quoll blaues Licht. Tyrsos fühlte ein Dröhnen in seinem Kopf, ein Pochen und Pulsieren, und konnte doch nicht die Augen von der Erscheinung lassen. Als Kind hatte er einmal den Lichtbogen eines Elektro-Schweißgerätes gesehen. Sein Vater hatte ihm erklärt, daß man es nicht darf. Trotzdem stand der kleine Arpje unbemerkt und starrte in das Licht, bis ihm die Augen schmerzten und er drei Tage lang intensiv mit einem schaumigen Gelee
behandelt werden mußte. Und genau das schien sich zu wiederholen. Er stand und starrte, konnte den Blick nicht abwenden. Zunehmend stellte sich das Gefühl ein, er stürze in einen endlosen blauen Schacht. Schließlich sah er die nachtschwarze Kugel, um die es grellblau flackerte. Er versuchte nun, sich mit den Blicken an diesem schwarzen Loch festzusaugen, aber das ging nicht. Immer wieder suchte er den Punkt, dem das Licht entquoll. Da stieß etwas gegen seinen Kopf und augenblicklich war das Licht abgeschwächt. „Du willst sie hypnotisieren, was?“ Arpje sah undeutlich Genario Oskuses Gesicht vor sich, und dieses ihm vertraute Gesicht steckte unter einem Schutzglas, das nun auch über seinem eigenen Kopf war. „Ist das eine Explosion?“ fragte Arpje leise, „ich finde das schrecklich...“ „Kennst du das Rätsel“, Oskuse schien voller Gleichmut, „wenn du es siehst, siehst du nichts mehr?“ „Nein“, sagte Arpje gelassen, „sicher ein kompliziertes sizilianisches Rätsel.“ Oskuse lachte dröhnend. „Eines von der Raumakademie“, erklärte er, „man meint damit blaue Zwergsonnen. Wenn solch eine Sonne als Körper sichtbar wird, dann bist du so dicht dran, daß sie dich wie ein Butterstück auf einer heißen Pfanne zerlaufen läßt. Du mußt soviel Abstand halten, daß sie selbst unsichtbar bleibt. Und ihr Licht, das ist ekelhaft, wie wir feststellen können.“ „Und wie viele Stunden müssen wir das ertragen?“ „Stunden“, Oskuse hieb Arpje Tyrsos auf die Schulter, „frag lieber, wie viele Wochen oder Monate. Wir sind nämlich nicht zufällig hier. Ein lebenstragender Planet umkreist dieses Scheusal. Und wir haben Funkkontakt und werden landen...“ Oskuse wurde ernst, seine schweren Lider bedeckten das halbe Auge, verliehen seinem Gesicht einen schläfrigen, aber auch drohenden Zug. „Wir werden unseren Lieblingsgleiter benutzen“, sagte er, „den von Paradies 245/19... So ist das...“ „Und dieser Planet?“ Oskuses Miene wurde grimmig. „Der hat nur vier Prozent Sauerstoff, dafür jede Menge Phosgene, Cyanide und Halogene. Die reinste Giftküche“, sagte er. „Und doch lebt auch dort etwas. Rotatorien. Scheibner. Nackelflallen und Pseudoanimalier. Das größte Exemplar von ihnen kannst du in einem Werferfutteral unterbringen. Alles Anaerobier. Leben ohne Sauerstoff. Die Bodenstruktur ist mehr als merkwürdig. Es besteht sogar die Hypothese, daß dieser Planet einst von hochentwickeltem Leben besetzt war, aber es ist zerfallen...“
„Ich denke, ihr hattet Funkkontakt?“ „Das ist es ja“, Oskuse schob Arpje in einen der Duschräume, ließ die Schleuse herab. Jetzt konnten sie die Schutzgläser abnehmen, „hatten wir auch. Aber jetzt nicht mehr. Und andere Planeten gibt es nicht. Was schlußfolgerst du also?“ „Der Funker hat keine Lust mehr“, sagte Arpje Tyrsos und ließ sich in das Wasser gleiten, „er macht Urlaub. Vielleicht ist versehentlich Sauerstoff in sein Haus eingedrungen, und er erholt sich in einem Blausäuresumpf...“ „Du bist eben keine Maschine“, Oskuse lachte und sprang in das aufspritzende Naß, „dir fehlt noch viel, wenn du Computer werden willst. Die Erklärung ist viel einfacher: Es gibt zwei Planeten. Auf einer identischen Bahn. Und sie stehen in Opposition. Der andere ist also hinter der Sonne. Na? Wie klingt das?“ „Also fliegen wir an der Sonne vorbei und schauen uns den Ver schwundenen an, ja?“ „Ach, Arpje“, sagte Oskuse gespielt gequält, „du vergißt alles. Laß dich entschlacken. Mein Rätsel. Wir können nicht an der Sonne vorbei, ohne gegrillt zu werden. Wir müssen beinahe der Planetenbahn folgen. Viel näher als jener können wir nicht heran. Weil dieser häßliche blaue Zwerg nicht nur Licht und Hitze speit, sondern auch jede Menge mörderischer Strahlung abgibt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie das planetare Völkchen vor der Strahlung geschützt ist...“ „Hat noch keiner dem Commander gesagt“, fragte Arpje, „daß er die Übertragung dieses häßlichen Lichts abschalten soll? Das geht einem ja auf die Nerven...“ „Dazu brauchen wir keinen Commander, das macht die Automatik ganz allein, zu unserem Schutz. Filter für Filter hat sie da vorgeschraubt und zuletzt alles abgeschaltet. Nur die Radioortung blieb in Betrieb...“ „Na und?“ Oskuse legte sich auf den Rücken, trieb auf dem kristallklaren Wasser. „Du siehst es doch selbst: Die Gänge leuchten blau, wir sehen rot und ärgern uns schwarz. Oder nicht?“ „Ich denke, es ist abgeschaltet“, sagte Arpje ärgerlich. „Ist es auch!“ Prustend stieß Oskuse einen Wasserstrahl senkrecht in die Luft. „Aber dieser häßliche Zwerg ist so energiereich, daß er sich nicht mehr an unseren Befehl hält. Er überbrückt einfach die getrennte Leitung und zeigt sich uns in seiner ganzen himmlischen Pracht. Und das so viele Wochen und Monate, wie wir brauchen, bis wir auf dieser Planetenbahn an ihm vorbei sind. Schöne Aussichten, sage ich dir...“ Arpje Tyrsos wurde nachdenklich. Er tauchte einigemal unter, kam hoch, aber schien den Gedanken noch nicht abgeschüttelt zu haben, der ihn bewegte. „Was wirst du eigentlich mit deinen Früchten machen“, fragte er unerwartet.
„Mit meinen Früchten?“ Oskuse betrachtete erstaunt den Jüngeren. „Wie meinst du das: Mit meinen Früchten?“ „Ich habe auf ein Kilo Erderinnerungen verzichtet“, erklärte Arpje, „obwohl ich gern noch ein paar Bücher an Bord gebracht hätte. Da kann ich ein Kilo von diesen Früchten unterbringen. Meine Früchte...“ „Du mußt ja glauben“, erwiderte der Sizilianer, „daß wir inmitten einer Hyanodendron-Plantage niedergehen und uns ein freundlicher Gärtner bittet, ihn von seinem Fallobst zu erlösen. Ich denke mir das ganz anders. Jemand wollte uns foppen. Ein glänzendes Raumschiff aus einer fernen Galaxie ist gelandet. Edle, aber witzige Raumfahrer schweben über den Planeten hin und entdecken so ein armseliges Maschinchen mit der Kennzahl 14 222. Und dieses Maschinchen sucht nach etwas Verstaubarem. Natürlich dauert das die Reisenden, und sie holen ein paar Apfelsinen, jene geschätzten Früchte, und stopfen sie heftig kichernd in die 14 222. Und wir denken, die wachsen hier...“ Tyrsos sah Oskuse fassungslos an. Der lachte hellauf. „Und wir Esel kommen und suchen etwas, was es überhaupt nicht gibt“, fuhr er dann beschwörend fort, „und ein kleiner Oberesel will noch ein Kilo für sich persönlich...“ „Du machst Spaß“, sagte Tyrsos unsicher. „Ich“, Oskuse schlug sich an die Brust, „traust du mir das zu? Oder stell dir einen Planeten wie dieses ‚Paradies’ vor. Wir sehen von oben die herrlichsten Früchte, können sie aber nicht pflücken, weil wir im selben Augenblick tot wären...“ „Das ist Unsinn“, Arpje lachte los. „Wir haben Maschinen, die die Arbeit für uns erledigen...“ „Und wenn die Früchte unter unseren Bedingungen ebenso sterben wie wir unter den planetaren?“ „Dann wären sie nie zur Erde gekommen“, sagte Arpje voller Überzeugung. „Also gut. Eins zu null für dich. Und lachen kannst du auch schon wieder. Das ist in Ordnung. Ich dachte, dir war der blaue Zwerg auf die Lachmuskeln geschlagen. Weißt du, daß ich überhaupt keine Erderinnerungen habe? Siebenundzwanzig Kilo Früchte kann ich mir unter das Kopfkissen stecken. Du mußt mir nur sagen, was ich damit soll?“ „Hofmant hat die ewige Jugend versprochen“, flüsterte Arpje, „und Heilung von sämtlichen Krankheiten. Markus hat gesagt, daß das Zeug seiner Ansicht nach alle Schlackestoffe aus dem Körper schwemmt und die DNS-Kette auf unbekannte Art stabilisiert, vielleicht sogar die Eigendrehung der DNS verzögert. Man kann damit alle Krankheiten heilen. Man erkrankt gar nicht erst, weil alle auf der Erde entstandenen Mikroben mit einer solchen Gen-Konstruktion einfach nichts anfangen können und sie ignorieren...“
„Wenn das so ist“, sagte Oskuse nachdenklich, „und du alle fünf Jahre deine Frau wechselst, weil sie viel zu schnell altert, dann ist das ja der Himmel auf Erden.“ „Ich würde es meiner Freundin auch geben“, sagte Arpje. „Sicher“, Oskuse stieg aus dem Wasser, ließ sich abtrocknen und zog seine Dienstkombination an, „das kannst du. Du kannst dann auch Schätze horten, weil es welche geben wird, die alles dafür hingeben, ewig jung zu sein. Aber du kannst auch an deinen Früchten sterben. Wenn einer beispielsweise sehr gierig darauf ist und nicht den entsprechenden Gegenwert besitzt. Was sollte ihn hindern, dich zu töten, das Zeug zu nehmen und seine zwanzig Jahre Umerziehung abzusitzen, denn danach ist er ebenso jung wie vorher...“ „Also ist es gar nicht gut, wenn wir die Früchte bringen?“ „Denk an Lug und Betrug, den Verrat und den Haß, denk an Neid und Depressionen, an Verzweiflung und Enttäuschung. Das alles wäre wieder möglich... Wir sind unterwegs, um einer himmlischen Fee ein kleines Stückchen von ihrem Kleid abzuschneiden. Dieser Stoffetzen erfüllt alle menschlichen Wünsche, aber nur wenige haben etwas davon. Und du willst ein Kilo für dich allein haben...“ „Nein“, sagte Arpje sehr entschieden, „nein, es ist nicht gut, die Früchte zur Erde zu bringen. Es ist nicht gut.“ „Gut“, Oskuse sah nachdenklich seinem Freund zu, wie der sich ankleidete und die Haare glattstrich, „nicht gut. Was heißt das? Das sind Begriffe für eine besorgte Mama. Das gibt es gar nicht. Was für Hofmant gut war, um ein Beispiel zu nennen, war für Markus schlecht. Was für einen raffgierigen GeLaDeAl-Chef gut war, das war für die Produktiven schlecht. Was ist gut? Was ist schlecht? Leblose Begriffe, wenn man sie in kein vernünftiges Koordinatensystem einführt. Die Früchte sind schlecht, wenn die Verpilzung zu einer Existenzfrage anwachsen würde, die Menschheit sich jedoch nicht weiterentwickelt hat. Sie sind gut, wenn man um ihre Gefahren weiß, sie ordentlich unterbringt, sie als Forschungsobjekte behandelt und erst die Ergebnisse preisgibt, sobald die Serienproduktion aufgenommen ist. Die Frucht als Mittel kosmetischen Jugendzaubers ist schlecht. Als Heilmittel ist sie gut.“ „Und wo ist die Grenze zwischen gut und böse? Zwischen sinnvoll und sinnlos?“ Arpje erinnerte an einen Richter der obersten Behörde, wie er Oskuse mit flammenden Augen ansah, die Lippen zusammengepreßt. „Wo ist die Grenze“, fuhr er dann heftig fort, „zwischen Kosmetik und Medizin? Kosmetik, denkt man, das sind Glimmercreme und Bleichtonimitat. Aber auch Hautersatz, Trans plantatzähne und Verhaarungsgeberinyl gibt es. Und die Medizin verwaltet alles. Dabei ist es nicht Medizin, sondern Kosmetik.
Es ist der natürliche Lauf der Dinge, das wir Zähne verlieren, unsere Haut runzlig wird und uns die Haare ausgehen. Das ist natürlich und biologisch. Also sind solche Reparaturen eigentlich Kosmetik. Dahinter steht keine Krankheit. Und ist nicht eine Lebensverlängerung, und wenn auch nur um ein Jahr, ebenfalls Kosmetik? Das ist nicht Medizin. Natürlich sprechen die Ärzte von Heilung und nicht von Verschönerung...“ „Du bist ein gelehrsamer Schüler“, Oskuse lächelte, „einer, der im rechten Moment seinen Lehrer überwindet. Deine Meinung stimmt sogar. Nur: Es gehört auch zu unserem Menschsein, daß unser Leben immer leichter und schöner wird. Wofür sonst all die Anstrengungen, die wir unternehmen? Sicher nicht, um wie ein angeschlagener Wolf dahinzusiechen. Sicher nicht...“ „Markus hat einmal gesagt“, erinnerte sich Arpje Tyrsos, „daß er nötigenfalls eigenhändig kontrollieren würde, ob unsere Früchte nur verwendet werden, um ein Mittel gegen die Verpilzung zu finden...“ „Da hat der Commander den Mund ein wenig zu voll genommen“, Oskuse winkte ab, „dann müßte er durch alle Reagenzgläser, Zentrifugen und Retorten, durch alle Filter, Analysatoren und Erlmeyerkolben kriechen und prüfen, was dort gerade produziert wird. Er müßte seine Hände über alle soeben entstehenden Produkte und deren Zwischenstufen halten und die scheinbar unwesentlichsten Abfälle nicht aus den Augen lassen, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Er müßte Pflanzenkreuzungen ebenso überwachen wie die Pharmakologie, müßte in chemischen Großproduktionsstätten in alle Papiere und Gläser sehen und darauf achten, daß man nicht eine ähnliche Substanz synthetisch herstellt. Solange er das nicht tut, gibt es keine Sicherheit gegen Mißbrauch.“ „Und was wirst du tun, Genario“, Arpje blickte den breitschultrigen Mann unsicher an. „Mit meinem Leben dafür einstehen“, sagte er ernst, „daß selbst eine Frucht, wenn es nur eine gäbe, in die Hände von O'Delta und damit zur Erde kommt.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Arpje, „du hast doch gerade...“ „Es kommt auch nicht darauf an“, unterbrach ihn der Sizilianer, „daß man alles versteht. Handeln muß man. Das ist wichtig.“ Sie hatten die blaue Sonne im Rücken, als sie den Planeten erblickten. Jetzt, da das gespenstische Licht des blauen Zwerges seine Zauberkraft verloren hatte - es sah so aus, als sei ein feiner blauer Nebel im All, der die Sterne sanft umspielte - war wieder Alltag an Bord.
Der Planet, der sich aus diesem Lichtschleier herausschälte, war wohltuend ockerfarben. Sie sahen die stark abgeplatteten Pole und den mächtigen Äquatorgürtel. Auch Wasser konnten sie erkennen. Dann aber, als die ersten Aufnahmen ankamen, wurde ihre Freude ein wenig gedämpft. Die Bilder zeigten erodiertes Land, rissig und ausgetrocknet, verkarstet und von jämmerlichen Pflanzen spärlich durchwirkt. Später kamen die Fotos von den Nutzgebieten. Vierfach wurde der gute Boden genutzt, und auch die Städte waren flächenmäßig nicht groß, aber in ihrer vertikalen Ausdehnung beträchtlich. Gollnou, so hieß der Planet, wenn man dem Funkfeuer glauben durfte, erwies sich als Planet der Hochbauten und Brücken. Es gab einen Gürtelkontinent, der den Äquator umspannte und die Wasser in ein Nord- und ein Südmeer trennte. Verbindungskanäle waren nicht auszumachen, wohl aber Brücken, über die Schiffe von einem Ozean in den anderen glitten. Es war derselbe Gleiter wie auf Paradies 245/19. Sie stiegen ein, und ihre Fröhlichkeit blätterte von ihnen ab. Ihre Augen wanderten immer wieder über das Metall hin, das den Gefährten zum Sarg geworden war, suchten irgend etwas, was ihnen verraten könnte, in welcher Gestalt der Tod hier erschienen war. Sie setzten sich auf dieselben Sitze, auf denen vorher die Skelette gesessen hatten, trugen die gleichen Planetenkombinationen, die gleichen Stiefel und waren auch nicht anders ausgerüstet. O'Deltas Kombination zierte das gleiche C, das vorher auf Jauns Skaphander geleuchtet hatte, und er saß auf ihrem Platz. In den chemobiologischen Labors hatten sie an der Entwicklung der Schutzhäute gearbeitet. Ein Material, das, auf die nackte Haut geschäumt, mit dieser verschmilzt und den Menschen ebenso vor allen Unbilden bewahrt wie sonst ein Skaphander. Aber man war nicht ganz fertig geworden mit dem neuen Material, und der Oberingenieur hatte sie vertröstet und ihnen gesagt, daß die nächste Landung ganz sicher in den Schutzhäuten erfolgen würde. So waren sie in die bekannten Kombinationen geklettert... Der Gleiter ging auf einer freundlichen Wiese nieder. Noch während das Gefährt fauchend ausrollte, klappten die Türen auf, die Spitze öffnete sich nach oben und die Notausstiege glitten zurück. Ein stürmischer Wind riß die Haare der Reisenden nach hinten, nahm ihnen den Atem, peitschte ihre entwöhnten Gesichter. Es dröhnte und knatterte ohrenbetäubend, und die Männer und Frauen, die in dem leisen Gleichmaß der Archimedes die irdischen Töne vergessen hatten, rissen die Münder auf, hielten sich die Hände schützend gegen das Gesicht, stöhnten und erschauerten. Nur langsam begriffen sie, daß keine Katastrophe den Gleiter zerfetzt hatte, daß alles normal, ja heiter war.
„Markus“, schrie Arpje, der als erster hinausgesprungen war, „Markus...“ O'Delta stieg aus, folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Arm des Freundes. Der Himmel war nicht etwa, wie man hätte annehmen müssen, tiefblau, sondern rubinrot. Von der Erde her kannten sie das Rot als die Farbe des Sonnenuntergangs und demnach als gemäßigtes, abgeschwächtes Licht. Hier war das anders. Es war heller als je auf der Erde, und trotzdem spannte sich über sie ein Rubinhimmel: Mitten drin aber war ein zerklüftetes blaues Loch, das alles an sich zu reißen schien. „Nein“, sagte O'Delta, „man kann diese Sonne auch hier nicht als Körper sehen. Ein Strudel ist sie. Ein winziger Malstrom aus Licht...“ Die Pflanzen schimmerten sanft violett, und dort, wo das nackte Erdreich zutage trat, herrschten Grüntöne vor. „Lange kann man es hier sicher nicht aushalten“, fuhr der Commander fort, „und dabei haben wir uns alle nach einem Planeten gesehnt. Aber gegen diesen hier ist die Archimedes wirklich ein Zuhause... Wie das vor den Augen flirrt, wenn man lange irgend etwas betrachtet. Abscheulich, was?“ Wortlos bestätigte es Tyrsos. Noch standen sie herum wie eine Gruppe Touristen, die nicht wissen, was sich anzusehen lohnt. Noch waren sie ohne eigentliche Aufgabe und übten die Anpassung an diese ihnen so fremde Welt. Einige machten ein paar hilflose Schritte, kamen aber augenblicklich zu den Versammelten zurück. „Da“, sagte Arpje, „da kommen welche...“ Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Sie waren Menschen. Das war offensichtlich. Aufrecht kamen sie über eine Wiese, schritten auf die Raumreisenden zu. Je näher sie kamen, desto deutlicher konnten die Männer und Frauen um O'Delta erkennen, daß es tatsächlich Menschen waren. Ihre Schritte waren anders als die der Irdischen. Sie gingen schwankend. Ihre Körper pendelten hin und her. Sie waren auch fast vollständig nackt und von einem feinen goldenen Haarflaum eingehüllt, der eine Art Lichtschein um sie erzeugte. Der Anführer, ein goldhaariges Wesen mit stark entwickelten Oberarmen, einer fliehenden Stirn und mächtigen Kaumuskeln, blieb dicht vor O'Delta stehen, stand breitbeinig da und stützte die fleischigen Hände in die Hüften. Es sah aus, als wollte er fragen: Und was wollt ihr? Haut doch endlich ab, ihr...“
Die Frauen aber schienen von den Irdischen fasziniert. Sie boten ihnen ihre straffen Milchbrüste an, zeigten mimisch, daß man daraus trinken kann, und machten allerlei Verrenkungen, bei denen der Unterleib eine nicht geringe Rolle spielte. Nur dann, wenn sich der Anführer einmal umwandte, wobei ihm zunehmende Nervosität anzumerken war, verhielten sie, taten unbeteiligt und ließen ihre Blicke über das violette Gras wandern. „Ich finde“, sagte Arpje zu Markus, „daß der Anführer ausgesprochen dumm in die Welt schaut...“ Der Commander schüttelte einigemal den Linguiyter. Aus der kleinen Maschine kamen nur Schmatz- und Knurrlaute. „Das kann ja heiter werden“, sagte er hastig, „mein Übersetzer ist gestört...“ Aber die anderen bestätigten O'Delta, daß ihre Maschinen auch nichts anderes hergaben. „Ich denke, wir hatten Kontakt“, murmelte O'Delta, „na, dann viel Spaß im Pantomimentheater.“ Eins der Weiber, ein noch sehr junges Ding, hatte sich unterdessen Arpje Tyrsos genähert, berührte ihn zuerst sacht und versuchte ihm ihre Brust in den Mund zu stecken. Arpje wurde nacheinander rot und blaß und versuchte verzweifelt, die planetare Schönheit loszuwerden, ohne daß er damit Erfolg hatte. Der Anführer der Gruppe senkte den Kopf, krümmte die Finger, an denen er beachtliche Krallen hatte, und schickte sich an, auf Arpje loszugehen. Oskuse hatte im selben Moment den Werfer in der Hand, richtete ihn auf das aggressive Wesen... Es war ein gefährlicher Augenblick. „Suh - schuh“, klang da ein Ton auf, der, zischend und weich zugleich, unüberhörbar war. Der Anführer strich sich mehrmals durch das goldene Lockenhaar, grinste einfältig und wandte sich, wenn auch zögernd, ab. Das Weib ließ von Arpje und trottete dem Blonden hinterher. Oskuse steckte den Werfer wieder ein. Alles sah friedlich aus. Nein, nicht eigentlich friedlich, eher wie der Abbruch einer absurden Theaterszene durch einen zornigen Regisseur. „Commander“, rief Tsi Ling, der Soziologe, „sehen Sie nur. Hinter uns.“ Ein ockergelbes Tier, auf einer Vielzahl tentakelartiger Gebilde gleitend, näherte sich ihnen. Es hielt inne. und musterte die Menschen aus seinen fünf halbkugeligen Augen. „Suh - schuh“, machte es, und die Irdischen wußten, wer das Geräusch erzeugt hatte. Es ließ dabei eine ganze Anzahl seiner Tentakeln von einer Seite auf die andere schwingen.
„Geht in den Stall“, erklang es aus den Linguiytern. „Suh - schuh. Beeilt euch schon, ihr Dickköpfe...“ Die goldhaarigen „Menschen“ trotteten davon, nicht ohne daß einige Weiber noch anzeigten, wo sich ihre Unterkunft befand. Je weiter sie sich von den Raumreisenden entfernten, desto eiliger liefen sie. Zuletzt, sie waren schon winzig, hätte man sie mit einer galoppierenden Pferdeherde verwechseln können. „Und ihr...“, der Fünfäugige dachte nach, stützte alle seine Tentakeln ins Gras, „was seid ihr denn für welche? Sicher Neuzüchtungen, die ihre Blöße bedecken. Dabei sind die Goldhaarigen die befehlsbravsten. Was man so alles züchtet...“ Dann schwang er wieder seine Tentakeln und machte mehrmals: „Suh - schuh, suh - schuh, suh - schuh!“ „Die hören nicht auf mich“, murmelte der Fünfäugige dann enttäuscht, „elende Kreuzungsbastarde. Geht in den Stall, sag ich euch!“ Bis jetzt hatten die Erdenmenschen atemlos den Worten der Übersetzungsmaschine gelauscht, jetzt aber drängte es sie, zu erklären, daß hier offensichtlich eine Verwechslung vorlag. Es fiel ihnen schwer zu glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten: Menschen, die keine Menschen, sondern eine Art Haustiere waren, und diese krakenartigen Fünfaugen, die sprechen und offensichtlich auch denken konnten. „Du kannst mich jetzt verstehen“, wandte sich O'Delta an den Pentocularier, „sage uns, wie man jene Wesen nennt, die sich dort am Horizont entfernen.“ Als der Pentocularier die Raumreisenden sprechen hörte, knickten ihm die Tentakeln ein, und er lag auf dem Rücken. Seine Augen nahmen alle möglichen Farbschattierungen an, und sein vorher sandfarbener Körper glühte weinrot. Mühsam kam er wieder hoch. Das Farbenspiel der Augen wollte nicht aufhören. „Stoppelopps“, stöhnte der Pentocularier und sah von einem zum anderen, „Stoppelopps.“ „Und du denkst, daß wir auch Stoppelopps sind“, sprach O'Delta nun sehr ruhig weiter, „so denkst du. Aber das stimmt nicht. Wir sind mit diesem Apparat dort“, er wies auf den Gleiter, „aus dem Raum der Sterne gekommen und möchten die sprechen, denen du dich unterordnen mußt. Das verstehst du?“ Der Pentocularier klappte einigemal nach vorn. „Ja“, sagte er, „ich bin Terarist. Mache nicht viel. Achte, daß die Stoppelopps sich nicht wegen der Weibchen zanken. Treibe sie in die Ställe. Helfe mit ausmisten, denn sie sind sehr schmutzig...“ Er leuchtete nun türkis.
„Innen jedenfalls“, fuhr er dann fort, „außen glänzen ihre Ställe. Mit ihren Doppelzungen lecken sie die Wände und Wege blitzsauber, aber man darf nicht in die Schlafecken. Sie sind eben sehr schmutzig. Und sie können einander nicht ausstehen. Deshalb kam ich. Ich dachte, es gibt Streit ... Na ja, auch die Jungen knuffen und treten sie. Das darf aber nicht sein, weil so etwas den Plan gefährdet. Jedes Junge, das wegen Mißhandlung stirbt, gibt einen Abzug in dem Zuchtplan. Man muß schnell sein, wenn man eingreift. Wenn ich mit Futter zu ihnen gehe, dann treten und schubsen sie sich rücksichtslos, um sich, sobald sie satt sind, gegenseitig abzulecken und zu liebkosen. Nur wenn wir sie schlachten müssen, dann ist es traurig. Wir nutzen dann ihre Liebe zu glänzenden Dingen aus, und sie folgen den kleinen schimmernden Bronzesternchen ganz freiwillig in die Maschinen ... Sie haschen nach dem Flitter, bis die Multisäge sie entsprechend der Vorschrift zerlegt... Traurig ist das. Ich bin Terarist. Das ist wenig. Aber sie tun mir leid. Ich wäre dafür, daß wir endlich beginnen, die Seebotter zu züchten. In gigantischen Aquarien zum Beispiel oder in künstlichen Teichen. Sie sind ertragsreicher und haben keinen Kopf, kein Hirn ... Ich gehe jetzt. Hole einen Genisten. Der wird alles besser wissen als ich...“ Er glitt davon, kam noch einmal zurück. „Woher kommt ihr?“ fragte er und rieb sich mit einem Tentakel über die Augen. „Von der Erde“, erwiderte O'Delta lächelnd, „aus dem Sternenraum...“ „Barsou“, der Pentocularier hob wie zur Abwehr die Tentakeln, „von dem Unheilbringer...“ „Die Erde sieht man nicht“, erklärte O'Delta. „Barsou auch nicht“, wimmerte der Pentocularier und wurde sehr klein. O'Delta meinte, daß dies nur der zweite Planet sein konnte, fragte sich aber zugleich, woher sie von dessen Existenz wußten, besaßen sie doch keinerlei Flugaggregate. „Barsou sieht man nicht, weil zwischen ihm und euch immer die Sonne ist. Die Erde aber sieht man nicht, weil sie so weit entfernt ist.“ Das verstand das Lebewesen mit den fünf Augen, wiederholte alles noch einmal und glitt endgültig davon. Genario Oskuse fand als erster die Sprache wieder. „Da sieht man erst einmal, was aus einem werden kann, wenn ein anderer für dich handelt und denkt, dich füttert, tränkt und lenkt... Haben wir ein Glück, daß es auf der Erde nie Fünfäuglein gab, was?“ „Na, meine Herren Stoppelopps, dann schlendert mal in die Ställe“, sagte Janka lachend über die Kopfhörer. Sie schien die einzige zu sein, die nicht bedrückt und peinlich berührt war, „und vergeßt nicht, nach den goldenen Sternlein zu hüpfen, wenn es zur Schlachtmaschine geht.“
„Janka“, O'Deltas Stimme war ein einziger Vorwurf, „denk lieber daran, daß die Stoppelopps unsere Morphologie besitzen. Ihr Hirn muß ähnlich angelegt sein, auch wenn sie sich streckenweise quadriped bewegen wie bei der Flucht in die Ställe.“ „Ich glaube“, Jankas Stimme klang spöttisch, „ihr müßt euch von dieser falschen Sentimentalität frei machen. Oder würdet ihr im dämmrigen Wald auch auf eine Baumwurzel schießen, nur weil sie einem Drachen ähnelt? Wenn euch euer Gewissen dazu treibt, dann laßt den Stoppelopps ein Exemplar der Entstehung der Arten und ein Kapital da. Wundert euch aber nicht, wenn sie damit ihre Lager tapezieren oder sich ihr Hinterteil abwischen.“ Sie kamen zu sechst angeglitten. Immer sah ihre Bewegungsweise weich und fließend aus, und immer bewegten sie sich lautlos. Der Terarist mußte sehr genau Bericht erstattet haben, denn als die sechs die Gruppe um O'Delta erreicht hatten, versuchten sie es mit einer leichten Verbeugung. Markus erwiderte diesen Gruß und sagte: „Ich grüße euch, Bewohner dieses lichten Planeten.“ Sie berührten sich gegenseitig mit den Tentakeln. Na bitte, schienen sie zu sagen, der Terarist hat also die Wahrheit gesagt: Sehen aus wie Stoppelopps und reden wie wir. Ungeheuer. „Auch wir grüßen euch“, ergriff einer das Wort, „und laden euch im Namen des Gremiums in unsere Spitzenstadt ein.“ „Sie kommen von einem sehr fernen Stern“, sagte ein anderer und schaute sehnsüchtig zum Himmel hinauf, „und er heißt Erde, nicht Barsou...“ Der Gleiter brachte sie alle in ruhigem Schwebeflug in eine schlanke, hoch aufragende Riesenstadt, deren Bauweise von einer einmaligen Technik kündete: Sie stand auf Stelzen. Die Unterhaltung verlief sehr freundlich. Die Pentocularier waren fasziniert, als sie die Bilder von der Erde sahen und noch mehr, als sie die Aufnahmen des eigenen Planeten betrachten konnten. Sie entsetzten sich über das Ausmaß der Bodenerosion und lobten ihre Städte. Und so schilderten sie sich selbst: In einem Verbund leben neben- und miteinander drei Gruppen. Die Teraristen sind praktische Wesen mit geschickten Tentakeln, wachen und harten Augen, die alle manuellen Arbeiten erledigen können und den Stoppelopps die Aggressionen austreiben. Die Genisten, die Begleiter der Irdischen gehörten dieser Gruppe an, beschäftigen sich mit der Wissenschaft. Sie sind die, die aus Ideen und Theorien den praktischen Teil schöpfen und ihn den Teraristen klarmachen. Genisten sind immer vielseitig und könnten ebensogut Teraristen wie Futuristen sein.
Letztere bilden die dritte Gruppe. Sie sind die Hüter aller edler Gedanken, die Produzenten der künstlerischen Produkte, die Schöpfer der Architektur und aller Werte, die länger als ein Pentocularierleben halten sollen. Was ein Futurist sagt, hat Bestand, gilt, ist immer Richtschnur des Handelns der anderen. Sie dürfen sich um nichts kümmern, was in Alltag und Gewohnheit einmünden könnte, und so werden sie mit allem versorgt, was sie benötigen. Es war die Ökologin Stefka Radels, die diese umständlichen und wohlformulierten Erklärungen als erste ermüdeten, denn unerwartet hob sie den Kopf und fragte: „Ich begreife nicht, wie konnte das mit Ihrem Boden geschehen. Sie haben Wasser, eine sehr fruchtbare Krume und Licht in Hülle und Fülle, und Sie lassen Ihren Boden erodieren...“ „Ja, der Boden..., der Boden“, die Genisten fächelten sich gegenseitig Luft mit den Tentakeln zu, blickten sich treuherzig in die Augen, wackelten mit dem Kopfbruststück, als schüttele sie jähes Fieber, „eine Sache ist das, oh, eine Sache... Aber es ist wahr, der Boden. Kann man nichts dagegen sagen. Man sieht es ja, und besonders von ganz oben... Von dem Sternenschiffen der Menschen... Das ist eine schlimme Sache... Und sie wird kaum besser... Nein, nein.“ „Vielleicht“, schaltete sich Stefka erneut ein, „könnten Sie das alles logisch und wissenschaftlich klar ausdrücken, denn ich habe eigentlich noch gar nichts verstanden.“ Lange funkelten sich die verwirrten Genisten an. Dann ergriff einer von ihnen das Wort. „Es geht etwas schief“, sagte er, „mit unserem Anbau. Wir kennen Barsou. Dort gibt es kein intelligentes Leben mehr. Aber auch kaum Sauerstoff. Eines Tages wird es ihn geben. Dann werden wir übersiedeln. Zuvor müssen wir noch Flugapparate schaffen. Kom pliziert, was?“ „Und was, bitte, hat Barsou mit Ihrer Landwirtschaft zu tun?“ Stefka Radels hob den Kopf, sah wechselweise dem Wortführer in seine fünf schimmernden Augen. „Sie wissen es“, fuhr er fort, und mit ihm ließen auch die anderen die Tentakeln müde herabhängen, „Sie haben Barsou gesehen. Von dort sind sie gekommen: Aggressoren. Sie haben genau so eine blühende Kultur gehabt wie die Gollnouer. Aber sie haben Raubbau getrieben, und schließlich ist ihnen alles eingegangen. Da kam ihre Raumflotte hier an. Und nichts, nichts haben sie verschont. Und wurden nicht geschont. Das war der große Krieg...“ „Und wo sind die Barsouer jetzt?“ Der Commander wandte sich an den Sprecher.
„Die haben von Gollnou Besitz ergriffen und leben auf diesem Planeten.“ „Die Stoppelopps“, erkundigte sich O’Delta. „Iiiih!“ Alle Genisten erzeugten diesen Ton gleichzeitig. „Pentocularier“, sagte der Wortführer der Genisten mit Bedacht. „Sie“, fragte Stefka überrascht, „Sie sind die einstigen Bewohner von Barsou? Ja, haben Sie denn nicht wenigstens aus Ihren Fehlern gelernt? Die Erosion ist hier auch schön weit fortgeschritten. Wo wollen Sie hin, wenn dieser Planet Sie einmal nicht mehr trägt?“ „Das ist es ja“, ein zweiter Pentocularier ergriff das Wort, „das macht uns Sorgen. Schon die Flugapparate werden nie mehr entstehen, denn ein Zufallsgenerator bestimmt von vornherein, wer Terarist, wer Genist und wer Futurist ist. Man kann nichts dagegen machen. Nicht die Leistung entscheidet, sondern der Generator. Vielleicht hüten unsere fähigsten Leute die Stoppelopps, und das edle Gedankengut wird von Minderintelligenten festgelegt. Der Stempel bei der Geburt setzt alles fest. Eine Korrektur ist nicht möglich. Einige sagen auch, daß die Futuristen ihren Nachkommen“, seine Stimme knickte ab, wurde leiser, „den Futuristenstempel besorgen können.“ „Vielleicht können Sie uns einige Ratschläge geben“, fuhr der Wortführer der Genisten fort, „Sie kommen von weit her. Bei Ihnen ist sicher vieles anders, was?“ „Das kann man sagen“, murmelte Arpje Tyrsos, „bei uns werden Tintenfische gegessen, und Menschen entscheiden über die Zukunft. Menschen...“ Er brach ab und dachte wohl an das Stoppeloppweibchen. „Was sind Tintenfische?“ erkundigte sich der Wortführer. „Kleine achtarmige Teufel“, dröhnte Oskuses Stimme durch das Fahrzeug, „lecker und unkompliziert. Na, nichts für ungut, das war nur so ein Gedanke von mir.“ O'Delta sah ihn strafend an. „Wer wacht eigentlich über die Ordnung“, wollte Stefka wissen, „an der niemand rütteln darf?“ „Ich“, sagte der Wortführer bescheiden, „ich bin Köcher. Oberster Köcher. Mir stehen achtzig Stellvertreter zur Seite!“ „Sie?“ Stefka verschluckte sich fast vor Lachen, und die Pentocularier sahen sie fassungslos und betreten an; sie mochten eine Ähnlichkeit mit den Stoppelopps erkannt haben, „da ändern Sie doch das, was Sie stört!“ „Dann entmündigen mich meine Stellvertreter“, sagte der Pentocularier schlicht, „sie entmündigen mich, weil immer nur der, der alles am korrektesten erhält, Oberster Köcher sein kann.“ „Sprechen Sie sich doch mit den anderen ab“, warf Arpje ein, „ich denke, daß Sie alle Mißstände kennen und beseitigen wollen.“
„Das verbieten mir mein Titel und mein Stolz“, erklärte der Oberste Köcher, „mich mit den anderen gemein zu machen. Vergessen Sie bitte nicht, daß ich Oberster Köcher und nicht einfach Köcher bin...“ Er sah in die Runde. „Wir haben nur eine Hoffnung“, verkündete er gewichtig, „die behüteten Futuristen. Sie werden es schaffen.“ „Ein informatives Gespräch“, O'Delta beendete die Unterhaltung „ich würde jetzt gern wissen, was das hier für Bauwerke sind...“ Die behüteten Futuristen waren in der abgelegenen Tabustadt un tergebracht. Hinter Glas. In einer Nährgelantine. Nicht der gesamte Futurist, sondern nur der lebende Kopf. Und man erhielt diese Köpfe am Leben. Man erhielt auch ihre Gedanken am Leben. „Sie haben Jahrtausende Zeit“, erklärte der Oberste Köcher, „sie werden alle Probleme lösen. Auch das der Erosion. Dumm ist eigentlich nur, daß wir ihre Sprache nicht mehr verstehen. Unsere Sprache hat sich so gewandelt, daß wir nicht wissen, was sie uns mitteilen wollen. Sie aber, die Sie, aus dem Sternenraum kommend, auch uns verstehen, Sie haben doch Möglichkeiten.“ „Unser Botaniker kann Ihnen zwanzig Lösungsmöglichkeiten vorschlagen“, sagte O'Delta, dem es nicht behagte, zum Übersetzer degradiert zu werden. „Verzeihen Sie“, der Köcher verneigte sich bis zur Erde, ihm schien diese neuerworbene Geste offensichtlich Vergnügen zu bereiten, „aber alles, was ich erfahren habe, scheint mir radikal und nicht gut für unsere Ordnung. Seien Sie nicht böse, aber es ist so.“ O'Delta verständigte sich mit Janka, und sie schaltete den Bordrechner ein. Nun würden alle Gedanken der behüteten Futuristen über ein Lautsprechersystem den Männern und Frauen im Raumschiff ebenso wie der Landegruppe und den Pentoculariern verständlich werden. Die Maschinerie begann zu arbeiten. Es knackte einigemal. Dann hörten sie alle deutlich die Gedanken des Philosophen: „Trallala, bin wieder da. Bin immer da. Was ist denn das? Fruchtsoße mit pikanten Pulken. Ein Genuß. Himmlisch. Und Ausscheiden erst. Man scheidet himmlisch Pulken aus. Sie sollen mich ja entleeren, diese Banditen da draußen. Immer lassen sie alles zu lange in mir, und ich denke doch: Du machst dir in den Latz. Ollebolle, auf dem Sitz da hockt ein Trolle. Scholle, Schelle, Schule, Schuhe. Wir sitzen in dem Schuh, und raus bist du. Nacht, ihr Lieben. Müde, immer müde. Fressenentleerung nicht vergessen. Ich kann's mir leisten, ihr Feisten. O mein Fütterchen, wie saubeutelig ist die Welt. Damals, als Kuki kam, da war was los. Geschenke auf grüner Wiese. Und jetzt? Die Kiemen voller Blabber und kein Eiapopeia. Mein Schätzchen mit dem feinen Lätzchen. Wo ist mein Essen? Mein Fraß. Kompott. Komplott. Komplett...“
„Nun“, Janka hatte O'Delta in seiner Kajüte besucht, saß auf seinem Bett, während der Commander den Sessel bevorzugte, „sind Sie endlich geheilt von Ihrem medikamentösen Jungsein? In Ihrer Hand liegt es, ob wir die Teufelsfrüchte nehmen oder hängenlassen. Phantastisch, was die für edle Gedanken wälzen.“ „Das sind Greise“, O'Deltas Widerstand war schwächer, als er es vermutet hatte, „die keine Sinneseindrücke von der Welt empfangen und einen Großteil des Leibes los sind. Das ist anders, als wenn ein wacher und gesunder Mensch ein paar Jahrzehnte länger lebt.“ „Und wenn der Speicher im Kopf voll ist?“ „Kein Aufzug, der nicht das Fünffache der aufnotierten Last bewegt,“ sagte Markus und dachte plötzlich an Jaun, an ihre Wärme, an die glücklichen Stunden in diesem Raum, „und keine Nerven zellensammlung, die nicht Freiräume hat...“
Operation Hyanodendron Die Sonne Thau-ccc-414/00. Von hier war die Boje 14 222 gestartet und hatte die Erde erreicht. Sie hatte von einem lebensprallen Planeten gekündet, auf dem ein rätselhafter Baum wuchs. An diesem Baum hingen eigenartige rotviolette Früchte, deren orangenes Aderwerk bis in die lichtblaue Spitze reichte. Substanzen aus diesen Früchten hatten Ratten in Schaum gehüllt, hatten sie entschlackt und verjüngt. Den Paradiesern verabfolgt, würden sie ein normales Leben ga rantieren. Ein Leben von bestimmt hundert Jahren. Auf dem Planeten des GeLaDeAl würden sie revolutionäre Impulse setzen, Schönheit und Ebenmaß allen garantieren. Den Gollnouern würden sie den Urverstand der behüteten Futuristen garantieren. Den Frauen und Männern um Markus O'Delta hatte bisher kein glücklicher Stern den Weg gewiesen, und sie ahnten auch nicht, daß es nach der Archimedes nur noch vier Sternenschiffe der Solarklasse gegeben hatte und sie nun schon zweihundert Jahre nicht mehr produziert wurden. Drei der fünf Raumflugkörper waren irgendwo in der Tiefe des Alls aufgeflammt, waren Feuerkugeln geworden, spurenfrei vernichtet...
Oskuse kam in die Zentrale, setzte sich, als sei dies normal, in den Konturenlieger des Zweiten Commanders, streckte die Beine aus. „Wir haben die ersten Oberflächenaufnahmen“, sagte O'Delta, „nicht sehr ermutigend.“ „Und wenn sie recht hat?“ O'Delta sah Oskuse scharf an. Natürlich wußte er, wen der Freund meinte. „Hat sie dich auch überzeugt“, brauste O'Delta auf, „dann seid ihr ja schon drei gegen mich. Und du meinst, daß ihre Behauptungen, nur weil sie Astronomin ist, richtig sein müssen? Wir sind nach dem Plan geflogen, und die Trajektorie hat uns hierhergelenkt. Und plötzlich sagt Janka Chomain: Nein, das ist nicht der Planet. Zuviel Staub und Metall in der Luft, da gibt es kein Leben... Und was soll ich machen? Alle Hyadensonnen abgrasen? Alle Planeten besuchen? Auf jedem einen Jahreszyklus abwarten, ob sich nicht vielleicht die Früchte aus dem Boden schieben? Es muß etwas geben, wonach man sich richten kann, sonst ist man verloren. Und wir richten uns nach dem Flugprogramm. Wir sind bei der Sonne Thau-ccc-414/00 angekommen. Wollen wir mehr?“ „Bei uns sagt man“, entgegnete Oskuse ruhig, „getroffene Hunde bellen. Ich sage: Enttäuschte Commander schreien. Du bist enttäuscht, Markus, verbittert...“ „Hast du die Temperaturwerte gesehen“, fuhr O'Delta heftig fort, „diese Schlangenlinie, die sich Planetenbahn nennt? Ich habe mit vielem gerechnet, selbst mir einem mehrjährigen Aufenthalt hier, weil wir zufällig im Winter ankommen. Aber das..., das...“ Seine Stimme wurde leise, schwach, müdigkeitsschwer. „Vielleicht hat sie recht, und es existiert tatsächlich kein Leben mehr auf dieser Kugel. Es ist der ehemals dritte Planet, und er bewegt sich jetzt zwischen dem ersten und zweiten und nähert sich mehr und mehr dem ersten. Ich kann mit meiner Uhr errechnen, wann er in die Sonne stürzt...“ „Und was meint Janka im einzelnen?“ „Sie behauptet, daß dieser Planet nicht zu diesem System gehört. Er wandert nicht nur entgegen den übrigen um den Zentralkörper, sondern auch seine Rotation ist entgegengesetzt. Sie meint, er ist ein Wanderer, der, aus unerklärlichen Tiefen kommend, eingefangen wurde und eine Zeitlang quasistabil die Sonne umlief. Und Stefka erklärt, daß er Lebenskeime mitbrachte. Und daß das Leben auf ihm nicht Hyadenleben ist. Daher die unerklärlichen Strukturen, an denen Hofmant gescheitert ist. Leben aus einem anderen Raum, einer anderen Zeit...“
Oskuse gähnte. Seine Lider sanken herab. Er betrachtete O'Delta aus schmalen Augenschlitzen. „Und jetzt?“ „Wir steigen ab!“ „Soll ich mich mit dem Gleiter umsehen?“ Oskuse blickte Markus eindringlich an. Der Commander wußte, daß Oskuse das nicht nur so gesagt hatte. „Die Atmosphäre ist eine nach Eisenfeilspänen schmeckende Staubsuppe. Du kommst mit dem Gleiter da nie wieder raus. Also müssen wir dich sowieso holen. Nein, wir werden landen. Wir werden...“ O'Delta dachte nach. Er hatte gehofft, einen Planeten zu finden, der sich ruhig durch die Biosphäre der Sonne bewegte. Auf einem solchen Planeten können sich Pflanzen bilden, die das Wunderbare in sich speichern. Mochte die Sonne sein, wie sie wollte. Oft ist es der Widerstand, der die Stärke schafft. Markus O'Delta hatte sich diesen Planeten genau so vorgestellt. Aber woher sollte er wissen, daß sich einst achtundfünfzig Planeten in Millionen Jahren auf diese Sonne zubewegten, daß von ihnen nur noch vier übrig waren und daß ein jeder Planet einmal den Lebensbereich durchlaufen, eine ungeheure Vielfalt an Lebendigem erzeugt und schließlich wieder verbrannt hatte, nachdem er den Lebensring passiert hatte, und schließlich in die glasige Sonnenhitze gestürzt war. Als die Archimedes auf dem Boden des Planeten stand, überraschte die Raumfahrer die Dämmerung. Dieses Bild, das auf der Erde ein starkes Gewitter ankündigte, der schwefelgelbe bis giftgrüne Himmel, die beinahe schwarzviolette Wolkenwand, der Orkan, der Sand, Staub und Metallteile mit sich führte, kündete von dem beginnenden Inferno, von dem Grauen des Untergangs. Über den trockenen, verkarsteten Boden jagte ein böiger Sturm, der Geröll, Sand und weiße, glitzernde Kristalle vor sich her trug. Sie sahen Gebilde, die an geplatzte Röhren erinnerten und an denen ein tintiger, fellähnlicher Besatz hing. Das Ende der Ebene, auf der die stolze Archimedes stand, war in wabernde, zuckende Finsternis getaucht. Greller Feuerschein flackerte auf, verlor sich. Spitze Blitze jagten den Wolken entgegen, vermischten sich, bildeten, verästelte Lichtzeichen. „Commander“, die Stimme des Planetologen klang durch die Zentrale, „darf ich Ihnen etwas erklären...?“ Schweigend sah O'Delta dem Mann entgegen. „Dieser Planet hat offensichtlich Leerstellen in der Mendelejewtafel. Eine Reihe bestimmter Stoffe existiert hier nicht. Und dann: Die anderen Planeten wurden von unseren Satelliten als instabil definiert. Alles nähert sich der Sonne. Langsam, aber unaufhaltsam...“
„Das ist ein bißchen viel.“ O'Deltas gefurchte Stirn kündete von der Anstrengung, die es ihm kostete, die Informationen einzuordnen. „Dieser Planet hier ist ein Gast im System“, erklärte der Planetologe einfach, „er ist ein Vagabund. Entweder hat er das System einer anderen Sonne verlassen, oder er entstand auf anderem Weg. Er zog jedenfalls durch den Raum. Millionen Jahre? Milliarden Jahre? Vom Ursprung an? Wir können die Frage nicht entscheiden. Und dann hat er sich von dieser Sonne einfangen lassen, war anfangs einer der äußeren Planeten, wanderte, wie die anderen Planeten auch, immer näher und näher. Er hat sich eingeordnet. Sicher ist, daß seine Bahn niemals stabil war. Dann geriet er in den Lebensbereich, und was immer er als Sporen oder Lebenskeime trug, erwachte. Es gab sicher einige Entwicklungen, die scheinbar entgegen den Gesetzen der Evolution abliefen. Während sie in ihren Räumen oder zu ihrer Zeit sicher unauffällige Lebensformen waren, blühten sie jetzt und hier auf...“ „Was sagen die Biologen?“ O'Delta wollte es nicht wissen. Doch er mußte fragen, denn es gehörte zu den Verfahrensweisen. „Sie sagen, daß es den Baum wahrscheinlich nicht mehr gibt. In den Jahrhunderten von dem Eintreffen unserer Boje bis heute hat sich die Bahn des Planeten der kritischen Grenze so weit genähert, daß Leben kaum noch möglich ist.“ Die automatischen Auswertungen wurden weiterhin fortgesetzt, die ersten Verluste an Material und Technik mußten hingenommen werden. Markus O'Delta befand sich in seiner Kabine, hatte die Kom mandoleitung übernommen und horchte in das Stimmengewirr der unterschiedlichen Arbeitsgruppen. Er erinnerte sich an das Hofmantsche Institut. Da gab es so etwas. In der Kantine. Wenn sie in die Kantine gingen, strömten viele Stimmen zu einer einzigen zusammen, und die erreichte jeden, wo immer er war. „Kein Leben“, sagte O'Delta gedehnt zu seinem grauen Spiegelbild auf dem Bildschirm, „kein Leben also... Ein Leben, unser aller Leben, für eine Idee vergeudet. Für eine Fiktion.“ Er schien nicht zu bemerken, daß die kleine gläserne Kugel mit den eingelegten Farbmustern, die er unablässig zwischen den Händen drehte, daß diese kleine Kugel einst Jaun Wetdars Zimmer geziert hatte.
„Commander...?“ Es war wieder einer in der Kommandoleitung, der ihn sprechen wollte. „Bitte.“ „In den zerfetzten Röhren, so wissen wir mit Sicherheit, lebte einst intelligentes Leben. Alles ist kunstvoll und geplant geschaffen... Wir sind auf einer apokalyptischen Steinkugel niedergegangen. Es regnet Feuer und Steine. Gebirge zerbersten, und flüssige Metalle kommen kochend aus der Hefe... Noch scheint es auf der Nachtseite des Planeten friedlicher zu sein, aber möglich auch, daß dort gerade Pause ist.“ Pause, dachte O'Delta müde. „Und Wasser?“ erkundigte er sich. „Ich weiß, Commander“, die Stimme wurde besorgt, „wir brauchen es für den Rückflug. Wir müssen suchen. Mit allen Systemen...“ „Ich befürworte es“, O'Delta erhob sich, „suchen Sie mit allen Systemen. Die maschinellen Verluste sind unwichtig.“ „Darf ich, Janka?“ „Kommen Sie, Markus“, sie ging ihm entgegen, „setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?“ „Trinken“, O'Delta schnaufte hörbar, „wir brauchen Wasser. Wasser für den Rückflug. Wir haben etwas mehr als tausend Tonnen durch das Aggregat und dreihundert Tonnen in unseren Gewächshäusern benötigt. Das müssen wir haben...“ Die Frau dachte nach. „Es reicht nicht“, sagte sie dann entschieden, „wenn wir die automatischen Stationen hinauslassen, daß sie nach Wasser suchen, wir müssen auch alle Landegleiter mit Menschen, mit Freiwilligen, einsetzen. Irgendwo muß es doch Wasser geben.“ O'Delta nickte stumm. „Soll ich das sofort durchgeben? „Sie haben mich früher nicht gefragt“, O'Delta lächelte schwach, „jetzt ist jede Frage Zeitverschwendung. Handeln Sie, Janka...“ Sie gab mit, wie es O'Delta schien, schneidender Stimme die ent sprechenden Befehle in die Kommandoleitung. „Was ist mit Ihnen, Markus?“ fragte sie dann. „Ich bin müde“, O'Delta rieb sich die Augen, beugte sich nach vorn, betrachtete in der spiegelnden Glasfläche des Tisches sein Abbild, „nur noch müde. Ich begreife nichts mehr. Wir finden Leben. Unerwartetes Leben. Vielfältiges Leben. Dort aber, wo wir es vermuten, wo wir Nachricht von ihm haben, dort geht es in eben dieser Zeit zugrunde ... Es ist eine Wiederholung in meinem Leben ... Damals hieß er Raapita. Ein Freund und Mitarbeiter. Er wollte gesund sein! Nichts weiter. Und er ist nicht nur gestorben, sondern die Urgeneration einer neuen Geißel der Menschheit wurde gezüchtet. Raapita. Allerdings haben zwei andere ihr Einverständnis zu dem Experiment gegeben. Und einer von denen
war ich ... Und jetzt ist es Hyanodendron. Die Geschichte wiederholt sich für mich. Wir finden unerwartetes Leben, und das erwartete stirbt... Vielleicht sollte ich mich als Freiwilliger für einen Gleiter melden.“ Sie schwiegen beide. „Das wäre wenigstens eine Aufgabe“, fuhr der Commander fort, „da draußen. Gegen den Orkan und alle Unbilden.“ „Dann wäre ich die“, erklärte Janka sachlich, „die den Werfer ziehen müßte, um sie an die Paragraphen betreff des Commanderdaseins zu erinnern. Und ich würde nicht zögern...“ „Kann ich mir denken“, O'Delta erhob sich, seine Worte klangen grimmig, „außerdem haben Sie noch etwas vergessen: Ich habe schließlich nur von mir geredet. Sie sollten mir sagen: Dann hätten Sie die ganze Expedition allein absolvieren können, wenn es Ihr Hyanodendron ist. Sie hätten mir sagen müssen, daß ich Sie und die anderen wieder einmal entmündige. Das haben Sie vergessen, Janka. ..“ „Ich habe es gedacht“, erwiderte der Zweite Commander und setzte sich auf den frei gewordenen Sessel, „ich habe es gedacht, Markus...“ Aber sie blieb nicht sitzen, sondern sprang auf, stand dicht vor O'Delta. Ihre Augen glänzten. „Was sind Sie für ein Mann“ rief sie heftig aus, „ich habe immer gedacht, ich bin empfindsam. Aber verglichen mit Ihnen habe ich das Gemüt einer Galapagosriesenschildkröte, Sie Mimose. Trauen Sie mir eigentlich auch einmal einen freundlichen Gedanken zu?“ Die Borduhr zeigte Mittag. Die Wolken waren an einigen Stellen aufgerissen. Das gelbe Licht der Sonne drang hindurch. Spitzes, nadelfeines Licht. Die Kundschaftergleiter waren hinauskatapultiert worden. Janka Chomain hatte die Männer verabschiedet. Nun flogen sie, lagen immer zu zweit auf dem Boden, neben tickenden oder rasselnden Apparaturen, und schauten nach unten. Sie starteten am Tag, durchstießen die kochende Dämmerung, tauchten in die Nacht. In ein neues, unheimliches Dunkel. Eine Nacht der ungewohnten Geräusche, der gespenstisch glühenden Wolken, der tiefschwarzen Abgründe und der brüllenden Lichtwände. Da waren Löcher, Spalten und Risse, unbestimmbare Wesen, die ihre Feuerglieder hinaufschoben zu den Kundschaftergleitern. Niedergeduckte Rauchbänke sahen immer wieder wie drohende Gebirgszüge aus, die sich träge den Maschinen in den Weg stellten.
Die Männer lagen auf dem Bauch, beobachteten die Tiefe. Sie suchten Wasser. Aber sie hofften mehr zu finden: das letzte, verlorene Leben auf diesem Planeten. Egal, wohin es geflüchtet war. Ob in der Tiefe einer Grotte oder in der dünnen Luft der Gebirge, in den Niederungen dampfender Quecksilbersümpfe oder in den glühenden Ebenen zwischen brüllenden Vulkanen - sie suchten es, hofften und bangten um dieses Leben und um die Nische, in die es geflüchtet sein konnte. So fühlten sie sich als Wettläufer, die durch einen Nebel hindurch einem unsicheren Ziel zustrebten, und sie wußten, daß der Tod auf der Nebenbahn lief und denselben Zielstreifen anvisiert hatte. „Hier GeKa eins“, meldete sich Oskuse, „ich rufe die Archimedes. Archimedes, melden!“ „Koordinator vom Dienst, van Deerten“, antwortete der augen blicklich, „sprechen Sie, Oskuse.“ Lauschend stand Markus O'Delta am Übertragungsschirm. Eine nicht bestimmbare Unruhe hatte den Commander erfaßt. Er hatte nicht gewollt, daß Genario startete. Ich habe Jaun verloren, hätte er am liebsten gesagt, ich möchte nicht auch noch meinen Freund verlieren. Er konnte es nicht sagen, um nicht die Mannschaft zu demoralisieren. So hatte er zum Abschied Oskuse mit einem langen Blick, in dem auch die Angst sichtbar war, angesehen, und Oskuse hatte leise geantwortet: „Mensch, Markus — mit mir machen die das nicht...“ Die, das war alles. Das war die Zerstörung, das Chaos. Das war Untergang und Metallregen. Das war ein versagendes Aggregat und ein versiegender Leitstrahl. „Unter uns ist eine Grabenformation“, erklärte Oskuse, „es glimmt darin. Vielleicht sind das Leuchtalgen ... Sie könnten in Symbiose mit anderen Organismen leben...“ „Vielleicht“, erwiderte van Deerten mechanisch, „wissen kann man das nicht...“ „Wir wollen etwas Material bergen“, schlug Oskuse vor, „gebt uns die Erlaubnis.“ „Auf keinen Fall.“ Van Deerten schrie es fast. Er merkte jetzt erst, was seine gedankenlose Wiederholung der Oskusehypothese her aufbeschwor, „die Außentemperatur beträgt wenig über achthundert Grad, Oskuse. Das ist mineralogisches Wärmeglimmen. Nein, dort lebt keine Alge ... Und selbst wenn es eine Alge wäre, dürfte niemand landen. Nur Intelligenz, Wasser oder dieser verfluchte Hyanodendron sind Landegründe. Nichts anderes...“
„Und Intelligenz erkenne ich wohl daran, daß sie mir einen Ausweis vorhält?“ Oskuses Stimme klang ätzend, böse. O'Delta dachte an die Echse, derentwegen er einige Sekunden lang bereit gewesen war, den Hofmantschen Glaskäfig zu zertrümmern, um mit ihr gemeinsam die verlorenen Kinder zu suchen. „Intelligenz macht sich dir verständlich, Genario“, sagte er leise in die Leitung und erstickte damit im Keim den Streit, der sonst zwischen van Deerten und Oskuse unweigerlich ausgebrochen wäre, „sie gibt sich dir zu erkennen. Nicht durch Krawatte, schwarzen Lederkoffer und Paß, sondern durch sich selbst...“ „Ich glaube dir, Markus“, sagte der Sizilianer und dachte an seine Heimat, dachte an die karge Insel im Mittelmeer, auf der man andere, feinere Lebensbegriffe kannte, als es die Gewächshausgärtner der übrigen Welt meinten. Er kannte die geheimen Kräfte des scheinbar vertrockneten Grases auf dürren Felsspitzen, die sofort ergrünten, wenn ein Wassertropfen sie berührte. „Unsere Planetologen“, erklärte O'Delta, „glauben, daß sich ungeheure Spannungsfelder im Kern des Planeten entwickeln oder schon entwickelt haben. Sie erwarten einen Zusammenbruch der normalen Struktur. Wir können nur ahnen, was das bedeutet. Es geht also um Zeit. Ihr fliegt gegen die Zeit oder meinetwegen auch mit der Zeit um die Wette. Darum dürft ihr euch nicht aufhalten, nirgends verweilen. So ist das...“ „Hier GeKa fünf, schaltete sich eine andere Stimme ein, „es spricht Holman. Ich rufe die Archimedes.“ „Es spricht van Deerten“, gab der Koordinator Auskunft, „sprechen Sie, Holman.“ Holman berichtete von einer Hochebene voller Glutpfannen. Er sprach davon, daß es überall kochte und brodelte und glühende Steinfontänen bis in ihre Flughöhe aufspritzten, dann wieder schmatzend und gurgelnd in sich zusammenfielen. Er berichtete von Feuerkugeln, die jaulend auseinanderspritzten und wie Geschosse über die Ebene dahinjagten. Holman bat dann, den Kurs ändern zu dürfen. Er wollte nach Norden ausweichen. Der Koordinator erlaubte es nicht. Er wies in knappen Worten darauf hin, daß sie einen präzisen Plan ausgearbeitet hätten und jede Kursänderung einen höheren Zeitaufwand bedeutete. Noch war van Deertens Erklärung nicht beendet, als sich GeKa acht meldete. Parstener wartete nicht erst die Bestätigung ab, sondern erklärte sofort, daß er und Merringer nur langsam vorankamen. Da waren Staubwolken formationen, die fast bis auf den Boden des Planeten hinabreichten und ihnen nicht nur die Sicht, sondern auch das Radarbild trübten. Der Gleiter wand sich förmlich zwischen Felsnadeln, Feuersäulen und schräg aufragenden Granitgebilden hindurch, und die Piloten fürchteten,
daß sie schon bald mit einem Hindernis kollidieren könnten. Zweimal waren Flammenzungen gegen den Gleiter geprasselt und hatten sie zu Tode erschreckt. Aber noch war alles intakt, und es war kein Defekt entstanden. Hinzu kam, daß überall eine Art dürrer Metallnadeln aus dem Boden sprießte, die meistens dünner als ein Finger waren, aber möglicherweise sehr stabil sein konnten. Der Autopilot arbeitete auf Stufe neun und ließ sich immer wieder von den Menschen bestätigen, ob seine Entscheidung richtig war. Das war die Situation. Man konnte nach oben ausweichen und damit den Bodenkontakt verlieren. Oder man wich in eine andere Richtung aus. „Fliegt weiter“, sagte van Deerten ruhig, „jeder von euch hat einen Grund, seinen Kurs zu verlassen. Da können wir ja gleich ein Meeting bei der Archimedes veranstalten, und alles weitere wäre gelaufen.“ „Ich will nicht“, unterbrach Merringer van Deerten, „hörst du, Koordinator: Ich will nicht jämmerlich krepieren. Nicht hier in dieser Finsternis. Ich will nicht!“ „Dann steig einfach aus und komm zu Fuß zurück“, entgegnete van Deerten kalt, „beeil dich aber, weil sonst dein Kaffee kalt wird...“ O'Delta wollte sich in die Leitung einschalten. Er hatte vor, van Deerten zurechtzuweisen und Merringer Mut zuzusprechen. Doch er zögerte. „Du Idiot“, grollte Merringer, und statt der Angst schwang unerwartet Zorn in seiner Stimme, „gut, ich halte durch. Aber wenn wir uns begegnen, schlage ich dir alle Zähne ein. Alle...“ „Immerzu“, rief van Deerten und lachte, „darauf bin ich schon richtig gespannt...“ Es war einige Minuten still. „Hier GeKa neun. Feimovi. Ich rufe Archimedes. Melden“, kam die nächste Stimme aus den Lautsprechern. Van Deerten forderte Feimovi zum Sprechen auf. „Ein mächtiger Berg rutscht wie ein betrunkenes Pantoffeltier über die Landschaft, die wir observieren“, berichtete Feimovi, „alles wird von ihm glattgewalzt wie von einer mächtigen Dampfwalze...“ Feimovi holte noch einmal Luft. „Hör mal, van Deerten“, sagte er dann, und seine Stimme klang ernst, „ich habe alles gehört, was inzwischen über den Funkkanal ging. Wir alle fliegen parallel zueinander und haben denselben Kurs. Und alle melden wir dasselbe: Unter uns nur noch Tod und Verderben. Ihr aber laßt uns stur weiterfliegen. Es gibt auch nicht den geringsten Hinweis dafür, daß dreitausend Kilometer weiter etwas anderes als hier unter uns ist. Verdammt noch mal, wenn ihr nicht entscheidungsfähig seid, dann gebt dem Großrechner alle unsere Daten und laßt ihn entscheiden. Ich habe keine Angst, hier zu verrecken, aber für nichts als eine verrückte Idee verrecken, das ist etwas anderes, und dagegen habe ich etwas...“
„Alle Daten gehen ohne unsere Zensur an den Großrechner“, erwiderte van Deerten, und in seiner Stimme schwang zum erstenmal Unsicherheit, „aber die Maschine enthält sich jedes Kommentars. Die Computer lassen uns allein... Und ihr da draußen macht es mir nicht leichter. Ahnt ihr nicht, was es bedeutet, wenn wir ohne Frischwasser starten müssen? Ohne Hyadendronfrüchte zur Erde zurückkehren...? Der Koordinator lachte hart auf. „Ich biete euch folgendes an“, sagte er dann unfreundlich, „wer Angst hat oder keine Nerven, der kommt zurück. Setzt sich hierher. Ich starte für ihn. Ich kenne, noch eine Reihe von Männern, die euch da draußen ablösen können. Kommt auf Raketenparabeln, zurück... Ich warte...“ Die Männer in den Gleitern berichteten nun von Formationen, die kein Mensch vor ihnen gesehen hatte und keiner nach ihnen sehen würde. Sie beschrieben brüllende Feuerseen und wabernde Schluchten, weißglühende Blöcke, die wie Lebewesen dahintorkelten, und blendendhelle Inseln, die in der Tiefe der planetaren Nacht versanken. Aber keiner sprach mehr davon, daß er den Kurs ändern wollte. Die weißen Flecken auf der Planetenkarte nahmen zusehends ab. Perlenkettenartig reihte sich Beobachtung an Beobachtung. Aufnahme an Aufnahme. Es entstand der seltsamste Globus der Menschheitsgeschichte. Jedes Bild, das hinzukam, stimmte schon in dem Augenblick nicht mehr, da es auf der Zweimeterkugel seinen Platz gefunden hatte. Es waren die Bilder einer stürmischen Vergangenheit, die sie aneinanderreihten. Nur eins war klar: Leben konnte es da nirgends geben. Kein Leben, kein Wasser und erst recht keine Intelligenz. Janka stand in ihrer Kabine und dachte über Zufall und Not wendigkeiten nach. Sie dachte nach, ohne eigentlich zu einem Ziel kommen zu wollen. Sie versuchte, ihre Verzweiflung denkend zu übertönen. Man müßte von Gollnou Wasser holen, überlegte sie immer wieder. Das hier beenden und von Gollnou Wasser holen. Ein anderer Gedanke, einer, den sie, ohne es zu bemerken, ängstlich vor sich selbst verbarg, drängte immer ungestümer an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Es war dies der Gedanke, der an ihre Angst geknüpft war. Sie sah mit gläserner Deutlichkeit, daß in den nächsten Minuten etwas Grauenhaftes geschehen mußte. Sie empfand dies so plastisch, so deutlich, daß sie nicht einmal die Fassung verlor, als wenige Minuten nach dieser Erkenntnis die Radarregistratur meldete: GeKa neun ohne Muster... Muster von GeKa neun erloschen.“
Sie stand da und lauschte auf die Reaktionen aus den einzelnen Sektoren. Aber die Mannschaft und selbst der Commander zeigten keine Reaktion. Ging es allen so wie ihr selbst? Hatten alle gewußt, daß es geschehen müßte? Janka strich sich über das Haar. Ihr Körper neigte sich leicht vornüber, und sie faßte nach den Haltegriffen, um nicht zu stürzen. Schwankend hielt sie sich aufrecht. „Ich atme“, flüsterte sie, „ich atme noch. Die Männer nicht mehr. Aber ich habe Angst, bald auch nicht mehr atmen zu können... Wenn das nur ein erster Auftakt war, wenn uns der Planet nicht mehr losläßt... Wir kennen nicht die Kräfte, die auftreten, wenn ein Planetenkern zerreißt oder die Oberfläche durchstößt. Wir verlassen uns auf die Schubkräfte der Archimedes. Dabei existieren in jedem Bergmassiv tausendfach stärkere Kräfte. Und dieser Planet hat uns deutlich gezeigt: Es ist nicht weit her mit unserer gepriesenen Technik...“ Und sie dachte noch: Nein, das ist kein glücklicher Stern, unter dem unsere Expedition steht... „O'Delta...“, Janka bediente die Rufertaste, „hörst du mich, O'Delta?“ Sie wartete auf eine Antwort. Die Sekunden verstrichen. Reihten sich aneinander, wurden Minuten. Dann schwang die Kabinentür auf, und der Gerufene trat ein. Er war sehr blaß, und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Schweigend sah der Commander seine Stellvertreterin an. Er hob die Brauen. Mehr nicht. „Wenn wir im Raum sind“, sagte Janka, und all ihre Sicherheit bröckelte von ihr ab, „wenn das hier beendet ist und wir liegen or dentlich auf Kurs... Ich meine, wenn Sie einverstanden sind, Com mander, dann würde ich gern..., ich möchte ein Kind von Ihnen haben. Nicht Sie, Commander. Ein Kind...“ O'Delta drehte sich schweigend um und verließ die Kabine, ohne zu erkennen gegeben zu haben, wie er die Bitte, die Offenbarung der Astronomin, aufgenommen hatte. Janka sah auf die Tür wie auf einen lebenden Menschen. „Wasser...! Wasser...! Wasser...! Wasser!“ schrien die Lautsprecher. Immer wieder dieses eine Wort. Das Leben wohnte neben dem Tod. Noch waren sie alle gelähmt, dachten an die beiden Toten. Das Wort Wasser war die Dusche, der kalte Guß, der sie in das Jetzt zurückholte. Sogar Janka schrak auf und verließ eiligst ihre Kabine.
„Ein gigantischer Krater“, jauchzte es im Lautsprecher, „voller Wasser. Wunderbares, glasklares Wasser füllt den Krater. Hier gibt es grüne, blaue, rote Pflanzen und Tiere. Ich kann Fische entdecken. Fische... O Leute... Es ist unglaublich. Wir sind direkt am Nordpol des Planeten...“ Die Archimedes stand im Wasser. Einem silbrig glänzenden, tief eingerammten Pfahl gleich, stand sie im Wasser, verdampfte die tausendfach regenerierten Wasservorräte und sog gierig das frische Wasser auf. Gleichzeitig arbeiteten die automatischen Fangmaschinen in rasender Eile und besetzten Aquarien, Paludarien und Terrarien mit allem, was sich greifen ließ. Die Gewächshäuser wurden ebenfalls mit Pflanzen angefüllt, und die ersten Präparate kamen in die Unterdruckkammern. Markus O'Delta stand mit fiebrig glänzenden Augen an der Dreifachsichtanlage. Sein Herz schlug Alarm. Kaum daß er zu atmen wagte, denn in den nächsten Minuten oder Stunden würde sich alles entscheiden. Er wartete auf das Zauberwort. Genario Oskuse war der erste, der mit seinem Gleiter eintraf. Dann folgten die anderen Gleiter. Sie kamen in der typischen Parabelbahn an, da sie dabei die Maximalgeschwindigkeit fliegen konnten. Man umarmte und beglückwünschte sich. Oskuse stürmte noch im Flugskaphander in die Kommandozentrale. „Markus“, dröhnte seine Stimme durch den Raum, und er umarmte den Commander überschwenglich, „sie werden sie finden, ganz bestimmt.“ Er sagte nicht, was sie finden würden, und doch gab es nur ein Ding, das in diesen Augenblicken durch aller Gedanken ging, und als eine automatische Sonde dessen Namen nannte, glaubten sie alle, sich verhört zu haben. Erst als die Station leidenschaftslos ihre Meldung wiederholte, da glaubten, da begriffen sie es: „Fundort... von... Hyanodendron coriformes... beziehungsweise... Hyanodendron succulentoides... ausgemacht... Fundort von Hyanodendron coriformes ausgemacht!“ Sie jubelten und schrien, sie tanzten und schienen aus dem Häuschen. Alles mischte sich in diesen Jubel. Alles: die grausige Wirkung des Newtonstrudels ebenso, wie die Erkenntnisse aus dem gelobten Land der Alten, das Gestammel der Futuristen wie der Verlust von GeKa neun. Die Hoffnung am Beginn der Reise und die Resignation im Angesicht der Feuerseen. Alle Forschungsprogramme wurden augenblicklich unterbrochen. Die Maschinen bewegten sich, ein schweigender metallischer Trauerzug,
entlang der Strandregion dorthin, wo die automatische Sonde stand und ununterbrochen ihren Ruf aussandte. Es gab sie also, die Herzfrüchte, einige hatte die Apokalypse übersehen, und diese würden der Menschheit zum Segen gereichen. Man konnte alle Krankheiten besiegen. Man konnte in den Jungbrunnen steigen. Eine jugendliche und doch weise Menschheit würde den Garten Eden bewohnen... „Markus!“ Der Commander, eingehüllt in einen wunderbaren Traum von einer glücklichen Menschheit, wandte sich langsam dem Sprecher zu und sah in das offene Gesicht von Arpje Tyrsos. „Arpje...“ Markus nickte dem Jungen erlöst zu. „Ein Mann muß die Maschinen überwachen“, sagte Arpje sehr energisch und lächelte schwach, „das heißt, eigentlich müssen es zwei sein. Aber bei der Situation hier wird ja wohl nur einer dürfen. Ich habe noch gar nichts getan. All die vielen Jahre habe ich doch nichts Wirkliches getan. Schick mich.“ „Dich?“ fragte Markus O'Delta und blinzelte einige Augenblicke nervös. „Verläßlichkeit ist mehr wert als Heldentum und Opferbe reitschaft...“ Dann entstand eine steile Furche über der Stirn des Commanders. Er dachte an die Unsinnigkeit, seinen Freund belehren zu wollen. Jetzt. Hier, in diesem Augenblick. „In Ordnung, Arpje“, sagte er dann, „flieg mit dem Dreiecksgleiter los und achte darauf, daß die besten Früchte zu uns kommen. Wenn du ganz junge Bäume entdeckst, laß sie ausgraben. Alles, was für uns von Wert ist, muß her...“ Sie umarmten sich beide, und dann stürmte Arpje Tyrsos hinaus. Mit dröhnenden Aggregaten jagte der Gleiter aus dem Schacht, verlor sich in der Ferne. Als in den Lautsprechern das Geräusch der Aggregate verebbt war, kam Tyrsos' Stimme über die Lautsprecher. „Commander“, meldete er sich so offiziell wie möglich, „hier ist ein mächtiger Hain dieser Bäume. Und die Früchte erst. Sie sehen wirklich wie Herzen aus. Jetzt kommen unsere Maschinen an. Sehr diszipliniert sind sie. Ungeheuer. Ich weise die Maschinen ein.“ Er schwieg, und O'Delta lächelte bei der Vorstellung, wie Arpje jetzt die befehlstreuen Maschinen heftig einweisen würde. Es dauerte auch nicht lange, da war die Stimme des Jungen wieder da, „Die Ernte beginnt“, sagte er, „die Containerwürste saugen mit ihren Rüsseln die Früchte von den ausgelegten Schaomounterlagen. Das solltet ihr sehen, wie hier gearbeitet wird. Da ist keine Bewegung überflüssig. So, die ersten Containerwürste schweben schon los und bringen euch Früchte...“
Flieg, Spindel, flieg... Selbstvergessen stand Markus O'Delta vor der Vollsichtscheibe der Kühlzelle und sah zu, wie die erste Containerwurst sich selbst entlud und die Früchte ordentlich und einzeln in die Mikrofächer legte. Er kannte diese Früchte gut, in seinen Träumen waren sie einmal größer und einmal kleiner gewesen. Aber das hier, das waren sie tatsächlich. Die Farben waren so leuchtend und klar, wie es nur bei frischen Früchten möglich ist, und da noch keinerlei Wasserverlust eingesetzt hatte, erinnerten sie noch stärker an ein Herz. An das Herz eines Warmblüters. Im Biozen hatte er es sich gewünscht: einmal eine ganze Kiste solcher Früchte zu haben und mit ihnen arbeiten zu können. Und hier lagen sie nun. Der Ausgangsstoff einer neuen Medikamentengeneration. Sie hatten sie gefunden. Teuer hatten sie dafür bezahlt. Gleichzeitig aber fragte sich O'Delta, ob er tatsächlich einmal Assistent bei Hofmant gewesen war. Konnte das alles nicht ein Traum, ein Film gewesen sein? Vielleicht war das Gerede von der Erde ein ebensolcher Traum. Der Commander hatte keine lebendige Erinnerung mehr an den Heimatplaneten. Gleichmäßig stark oder schwach waren die Bilder der lebentragenden Planeten neben dem Bild der Erde, so daß sich O'Delta ein wenig heimatlos und verloren vorkam. O'Delta wandte sich von der Kammer ab und durchquerte den Gang. Als er in der Zentrale ankam, empfing ihn Janka schon mit einer Reihe ihr wesentlich erscheinender Detailfragen zum ausgeladenen Maschinenpark. „Wir laden nichts mehr ein“, sagte der Commander, „alles bleibt draußen. Für uns sind die Maschinen nichts als unnötiger Ballast, und die Erde wird sie auch entbehren können. Möglich sogar, daß wir die Maschinenhallen brauchen werden, um Pflanzenmaterial einzulagern. Wie es aussieht, gibt es dort ungeheuer viele Früchte. Sicher wird Arpje auch Schößlinge und vielleicht gar Keimlinge finden. Jedenfalls sollten wir uns darauf einstellen, daß eine ungeheure Menge dieser Früchte auf uns wartet. Und bei dem Erntetempo können wir, ohne Gewissensbisse zu bekommen, die dreifache Menge laden...“ Ein mächtiger dröhnender Schlag ging plötzlich durch das Schiff und unterbrach ihn. Irgendwo schlugen donnernd Schleusen zu, und Zwischenwände wurden fauchend ausgefahren. Wie ein grausiger Schrei schnitt er alle menschlichen Gedanken ab, und die grellen Alarmlichter blendeten die Raumreisenden. Aus den Wänden kamen gummierte Greifer und preßten die Menschen in die Sitze. Wie eine glühendheiße Nadel brannte es sich in O'Deltas Hirn und blieb dort stecken. Gleichzeitig spürte der Commander den dumpfen Schlag gegen seine Eingeweide. In seinen Ohren war das maschinelle Gebrüll der Triebwerke...
Alarmstart. Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein. Der Bordrechner hatte den Alarmstart ausgelöst. Alles, was sich in diesem Augenblick außerhalb der Titanburg befand, war dem Tod ausgeliefert. Alarmstart: Es gibt keinen Übergang, keine Vorbereitungs- oder Anwärmphase. Die Triebwerke arbeiten sofort mit vollem Schub. Es geht um Zehntelsekunden. Markus O'Delta wollte sich gegen die schreckliche Klammer, die ihn in den Sessel preßte, wehren. Er kämpfte mit all seiner Kraft. „Janka!“ schrie er gellend durch die Zentrale. „Janka, ich komme hier nicht los... Sie müssen das Notgleitrohr für Tyrsos öffnen ... Das Notgleitrohr wird ihn aufnehmen... Janka...!“ Wimmernde Laute waren die Antwort. Schreckliche wimmernde Laute. O'Delta drehte den Kopf gegen das Dröhnen und Brüllen der Maschinen, gegen die blendenden Alarmlichter - gegen alles, was sich hier verschworen hatte. Seine Augen erfaßten das Oval des Sichtschirmes. O'Delta sah die ausgedehnte Landschaft, den meerähnlichen Krater und den grünen Uferstreifen, sah all das zu sammengedrängte Leben und die tiefrote Morgensonne, die hinter dem Horizont auftauchte. Aber die Wasserfläche, scheinbar unbeweglich, zeigte sich konkav eingezogen. Im nächsten Moment wölbte sie sich wie eine Blase nach oben. O'Delta sah den gläsernen Baum, der sich aus dem Wasser erhob, der himmelan wuchs, sich ausbreitete und Millionen Äste mit Milliarden Blättern auszustoßen schien und in grellflammendem Orangeton zu leuchten begann. Alarmstart! Der Boden unter der Archimedes begann sich zu neigen, verlor alle Festigkeit. Er hob und senkte sich, ließ das gigantische Raumschiff wie einen Schilfhalm im Wind schwanken, das Entsetzen nahm den Besatzungsmitgliedern jede Orientierung und saß als steinerner Kloß im Magen. Langsam, fast unmerklich rutschte der Raumflugkörper auf den feurigen Detonationsbaum zu, glitt dem Inferno, das sich anbahnte, entgegen. Immer mehr Kontrollämpchen glommen um O'Delta auf. Sicherungen rasteten aus, und Zeiger schnellten augenblicklich nach oben. Die Aggregate gaben vollen Schub. Aus der vollständigen Ruhe heraus in den vollen Schub. Das Kraterwasser verlor sich in der Tiefe, Sekunden später kehrte es als feuriger Dampf zurück und hüllte die Archimedes ein. Der Raumflugkörper neigte sich nach rechts, dann nach links. Schwankte zurück und kam in die Nulllage. Der Strom der glühenden Teilchen war gegen den porösen Untergrund gerichtet. Sie suchten Widerstand. Zermalmten alles, was sie berührten, und sorgten
zugleich dafür, daß die Archimedes nicht einsank in das zerbröckelte Bodenprofil des Planeten. Vor den Sichtschirmen wallten Wasserdämpfe und Staubnebel und gewährten keine Durchsicht, und doch spürte der Commander, daß der Aufstieg begann. Sie hatten sich vom Untergrund gelöst, standen auf dem Antrieb und arbeiteten sich langsam nach oben. Als sie die Wasserdampfschicht durchstoßen hatten, sah der Commander nieder auf das Gemisch aus Wasser, Feuer, Metallstaub, Gestein und Glut. Die Gebirge am fernen Kraterhorizont zerbröckelten und stürzten in die Tiefe. Wasser strömte in das Feuer und kam als eine dampfende Fontäne zurück... Aber all das berührte den Commander nicht. Seine Qualen und Ängste gipfelten in dem letzten von ihm wahrgenommenen Bild, bevor auch sein Kopf in die Konturunterlage gedrückt wurde: Eine flache dreikantige Scheibe erschien. Sie kam direkt aus dem apokalyptischen Feuerwassergemisch herausgerast. „Arpje!“ O'Delta schrie es gegen den Andruck, der seine Brust zusam menpreßte, bunte Kreise vor seinen Augen zeichnete und ihm die Luft nahm. „Arpje...!“ Da kam er in seinem Gleiter angerast, der jüngste der Expedition. Der Mann, der auch etwas tun wollte, weil er all die Jahre nichts getan hatte, als anwesend zu sein. „Markus... Markus... Janka...“ Es war ein zartes Piepsen. Die Worte klangen verzerrt, schienen von einem Kind ausgestoßen. Einem hilflosen Kind, das in seiner Not die Eltern ruft: Markus.,. Janka... „Das Notgleitrohr, verdammt noch mal!“ O'Deltas Schrei wurde vielfach von der Akustoanlage zurückgeworfen, aber weder der Bordrechner noch das Selbstschutzsystem der Archimedes reagierten darauf. Das Risiko, daß es zu Materialermüdungserscheinungen kam, war zu groß. Immer größer und größer wurde die flache Scheibe. „Die Erde, Markus...“, kam es schwach und verloren aus dem Lautsprecher, „die Erde, da gibt es...“ O'Delta spürte deutlich, daß die Archimedes immer mehr ihren Flug beschleunigte. Er spürte es, und doch weigerte er sich, dies anzuerkennen. Auf dem Sichtschirm veränderte sich nun nichts mehr. Der Abstand zwischen der Scheibe und dem Mutterschiff blieb endlose Zeit konstant. Dann aber erkannte O'Delta deutlich, daß der Gleiter kleiner wurde.
Die Archimedes flog also bereits schneller als der Gleiter. Und ihre Beschleunigung nahm zu. Sekunde für Sekunde. Das winzige Gefährt wurde kleiner und kleiner, blieb zurück, könnte mit dem mächtigen Raumflugkörper nicht mehr Schritt halten. Und O'Delta mußte mit ansehen, wie Arpje den Gleiter wendete und mit Höchstgeschwindigkeit in das atomare Chaos hineinjagte... Jemand schrie. O'Delta betastete mit der freien Linken seinen Mund. Der war geschlossen, zusammengepreßt. Er hatte nicht geschrien. Er nicht, Arpje auch nicht, weil sein Schrei fern und undeutlich gewesen wäre. Dann blieb nur noch Janka. Janka hatte geschrien... Janka Chomain ließ die Tür zum Bildlabor aufschwingen. Sie sah Markus O'Delta am Tisch sitzen und durch ein Mikroskop etwas betrachten. „Commander.“ Ihre müde Stimme füllte den Raum. O'Delta hob den Kopf und sah Janka an, ohne sie eigentlich wahrzunehmen. „Was ist?“ Seine Frage kam von weit her. „Sie führen Tagebuch?“ erkundigte sich Janka überrascht. „Ja, ich führe Tagebuch“, erklärte sich O'Delta selbst diesen Vorgang, „ich führe Tagebuch, weil ich nicht weiß, was noch geschehen wird. Vom ersten Tag an, und ich miniaturisiere unsere Fotos und Filme, ein freundlicher Fotograf hat mich sehr geduldig in diese Technik eingewiesen, und speichere alles in diesen Kristallen. Einfach so für den Fall, daß wir die Erde nicht mehr sehen sollten. Niemand weiß, was für märchenhafte Erzählungen Jaun auf diesem Kristall gespeichert hat. Ihre Stimme lebt noch. Die Erdenmenschen werden sie hören... Ich mache das, weil all die maschinellen Tagebuchaufzeichnungen unsinnig sind. Wen, außer vielleicht den Konstrukteur der Archimedes und ein paar Physiker, interessieren schon Andruck und Teilchenbombardement, Be schleunigungskoeffizient und Lebenstyp eines Planeten? Und es war gut, daß ich es tat, es war so gut. Jauns Stimme, ihre Bewegungen, ihr Lächeln, alles werden die Menschen sehen können. Sie werden wissen, was ein Newtonstrudel bewirkt und wie es im gelobten Land zugeht. Sie werden wissen, was aus einem Genie wird, wenn man es aus seiner Zeit herauslöst, von den anderen abkoppelt, und sie werden ahnen, was auf Barsou falsch gemacht wurde. Sie werden die Stoppelopps beobachten können und schließlich das Inferno eines planetaren Untergangs erleben, und alles das kann auch den Menschen helfen. Sie werden wissen, daß es lächerlich ist, sich aufzublähen wie jener Frosch, der dem Ochsen gleichen wollte...“
Van Deertens schmaler Kopf tauchte hinter Jankas Rücken auf. „Commander...“ Seine klare, ruhige Art, das auszudrücken, was er zu sagen hatte, hatte sich kaum merklich geändert. O'Delta schien es, als hätte dieses Commander gepreßt geklungen. „Treten Sie ein, van Deerten.“ O'Delta schob das Mikroskop zur Seite. „Was gibt es?“ „Es gibt schwache, schwer meßbare Unregelmäßigkeiten in den Aggregaten“, sagte er, während er an Janka vorbei in den Raum kam, sich auf einem Hocker niederließ und die Hände auf die Knie legte. „Sie wissen, O'Delta“, fuhr er dann in der gleichen Stimmlage fort, „daß man auf der Erde so ein geflügeltes Wort hatte: Solarschiffe sind Sonntagsschiffe. Man meinte damit, daß diese Konstruktionen keine Überbeanspruchungen mögen. Der Alarmstart aber ist die extremste Überbeanspruchung, die man sich denken kann. Selbst die für alle Raumflugkörper notwendige Vorwärmphase fällt dabei weg, und die Zusatztriebwerke, die maximal auf ein zehntausendstel Millimeter genau axial eingebaut sind, reißen ebenfalls am Schiffskörper. Das alles hat Spuren hinterlassen. Jene Unregelmäßigkeiten, über die die Energetiker nur lächeln. Aber das ist nicht zum Lachen, denn drei Monate Dauerantrieb reichen aus, uns in eine Mikrosonne zu verwandeln...“ „Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?“ erkundigte sich O'Delta und sah van Deerten gerade an. „Wir müssen eine Generalreparatur vornehmen“, sagte der, „ich weiß, es bedeutet, daß wir erst nach zwei Jahren und nicht nach vier Monaten in die Anabiose eintauchen können, denn wir haben immerhin vier Aggregate an Bord, und ein Teil unserer Maschinen steht auf dem verfluchten Planeten, aber es gibt keinen anderen Weg. Gleichzeitig müssen wir die Beschleunigung drosseln. Auf ungefähr ein Zehntel des jetzigen Wertes. Ich werde das noch genau durchrechnen. Sind Sie prinzipiell mit diesem Vorgehen einverstanden?“ „Ja“, O'Delta zog das Mikroskop an sich heran, „machen Sie das, van Deerten, geben Sie die entsprechenden Anweisungen. Wenn es Proteste gibt, Sie wissen ja, wo ich bin. Hier im Labor...“ Van Deerten und die Reparaturkolonne bewegten sich durch den zweiten Havariegang auf den Bug der Archimedes zu. Sie wollten das erste Aggregat abschalten, es auskühlen und zur Ruhe kommen lassen, um dann mit der Arbeit zu beginnen. Sie gingen wie Männer, die wußten, daß eine langwierige Arbeit ihrer harrte. Die Bewegungen waren sparsam und zielgerichtet. Als sie die Schleuse drei öffneten, erstarrten sie in ihren Bewegungen. Das Licht, dachte van Deerten, woher kommt denn das Licht? Und dies war der letzte Gedanke, den van Deerten hatte. Sein Hirn und sein Körper zerfielen augenblicklich, und selbst die Roboteinheiten stürzten klirrend übereinander...
Die Alarmsirene trieb die Menschen hoch. O'Delta riß die Spule vom Tisch und verstaute sie in seiner Kombination. Dann verließ er das optische Labor. Überall begegneten ihm hin und her hastende Menschen. Niemand wußte, was geschehen war. Eine Gruppe von Aufzügen war mitten in der Bewegung erstarrt. In einigen Kabinen hörte der Commander das Hämmern menschlicher Fäuste. O'Delta sprang in einen Rollo und wollte zur Kommandozentrale, aber schon nach einer siebenminütigen Fahrt stoppte der Rollo. Die Schleusen waren hermetisch geschlossen, und selbst auf das Commanderrufzeichen wurde diese Absperrung nicht mehr aufgehoben. O'Delta sah sich um. „Zur Kühlkammer“, wies er das Gefährt an, und es ging in atem beraubender Fahrt die Gänge entlang. Unvermittelt erlosch das Licht, und die gespenstisch blaue Not beleuchtung flammte auf. „Stop!“ schrie O'Delta, und das Gefährt hielt so plötzlich, daß es den Commander über die Bordwand nach draußen schleuderte. Der weiche Bodenbelag dämpfte den Sturz. „Niemand außer mir kann dir Kommandos erteilen“, wies er, sich taumelnd erhebend, die Maschine an und lief zu einem der Sprechgeber. Es dauerte endlos lange, bis die Zentrale sich meldete. „Markus“, es war Jankas erschöpfte Stimme, „ein Riß ist im Südtrakt der Archimedes. Vielleicht hat die ungesteuerte Reaktion in einem der Aggregate begonnen. Ich weiß nichts. Keine Meldung aus dem technischen Trakt kommt durch. Als ob alles verschmort und geschmolzen ist. Auch von Deerten meldet sich nicht...“ „Wo ist Oskuse?“ „Bei den Kühlzellen, glaube ich“, flüsterte Janka kraftlos. „Danke“, O'Delta blieb noch einen Augenblick stehen, „wenn wir es geschafft haben, reden wir noch einmal über deinen Wunsch. Kopf hoch!“ Er lief zum Rollo zurück, den zwei Menschen in weißen Kitteln in Gang zu bringen trachteten. „Aus dem Weg!“ schrie der Commander, aber sie hörten nicht, beachteten ihn nicht, schienen ihn nicht einmal zu sehen. Mit zitternden Händen versuchten sie immer wieder die Sperre des Rollos zu lösen. Da packte O'Delta den einen beim Kragen und stieß ihn wortlos gegen die Wand des Ganges. Den anderen zerrte er vom Sitz und schlug ihm ins Gesicht. Und in diesem Schlag lag sein angestauter Haß auf den Weltraum und die menschenfressenden Planeten. Wimmernd sank der Geschlagene zu Boden, aus seiner Nase sickerte Blut. O'Delta beachtete ihn nicht, sprang in den Rollo und wiederholte den Auftrag: „Zu den Kühlzellen!“
„Die Temperatur fällt kontinuierlich ab“, meldete ein Lautsprecher im Gang, „Energiepegel ebenfalls.“ O'Delta kam es so vor, als schleiche der Rollo den Gang entlang, obwohl ihn ein Blick auf den Tachometer eines Besseren belehrte. Und überall, wo er vorüberfuhr, sah er fassungslose Mannschaftsmitglieder, die sich hierhin und dorthin wandten und sich doch für keine Fluchtrichtung entscheiden konnten. Die Kühlzelle war offen, von Oskuse fehlte jede Spur. O'Delta rief erneut die Zentrale. Jankas Stimme drang kaum durch den gestiegenen Rauschpegel. „Zwei Massen“, zirpte es schwach an O'Deltas Ohr, „zwei Massen, die sich, dem Trägheitsgesetz folgend, einander annäherten. Es wäre der Sofortuntergang von uns allen gewesen. Oskuse wollte etwas tun...“ O'Delta sah das Bild vor seinem inneren Auge: Der hühnenhafte Oskuse im Schutzanzug durchquert Schleuse für Schleuse. Immer heißer wird es, und die unsichtbaren schnellen Teilchen lassen den Innenhelmindikator aufglühen. Der Mann läuft. Steht am Rand des Abgrunds und wuchtet etwas hinein. Irgend etwas. Ein Metallding. Ein mächtiges Werkzeug, einen Reparaturautomaten. Das ist gleichgültig. Wichtig ist: Die Massen nähern sich nicht weiter an, pendeln zurück. Verharren vorübergehend. Genario Oskuse aber kann sich jetzt Zeit lassen. Er wird nicht zurückkehren können zu den Menschen. Wozu also noch hasten und eilen. Vielleicht setzt er sich und blickt in die Tiefe. Oder er läßt sich auch fallen. Wer weiß... „Was ist noch intakt?“ O'Deltas Frage gellte durch den Gang. „Die Commanderspindel“, antwortete Janka, „die Kühlzellen und Ms 0.09, die sich aus ihrem Raum befreit hat und dich sucht. Die ganze linke Schiffsseite ist zerstört und aufgerissen. Alle Le benserhaltungssysteme sind an die Notstromaggregate angeschlossen. Wir haben nicht mehr viel Zeit...“ „Ja“, wiederholte O'Delta mechanisch, „so muß es sein: Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Und es beunruhigte den Commander nicht einmal. Es schien nur eine Vermutung zu bestätigen. „Sei tapfer, Mädchen“, sagte er noch, „zeig’ der Besatzung, dass du der zweite Commander bist. Ich habe viel zu tun. Leb wohl, Janka...“ „Ich erwarte Ihre Befehle, Commander.“ O'Delta wandte sich von dem Sprachgeber ab. Vor ihm stand, tintig glänzend und mit rotierenden Sensoren, Manshadow.
„Die Früchte...“, erklärte O'Delta hart, „sie müssen in die Com manderspindel. Niemand darf den Vorgang behindern. Niemand. Niemand...!“ Eine Menschengruppe, die den Gang entlanggehetzt kam, traf ein erstes Infraschallwellenbündel der Schildkröte. Lautlos fielen sie zu Boden, lagen im Gang wie Puppen, die man aus Stoffresten angefertigt hatte... „Neun Kilo Früchte verladen“, meldete die Manshadoweinheit dem erschöpften O'Delta. „Da passen noch mehr hinein“, sagte der Commander schläfrig, denn der Sauerstoffmangel begann sich auszuwirken, „das Zehnfache...“ „Die Kühlzelle ist zerfetzt“, gab das System Auskunft, „sie ist verloren und mit ihr die anderen Früchte... Was soll ich tun?“ „Da“, O'Delta stieß mit dem Fuß gegen eine lose Metallplatte, „nimm sie und ätze die Worte ein: Hyanodendron tyrsoleenii.“ Augenblicklich begann Manshadow mit der Arbeit. Das ist für Arpje, dachte O'Delta mit gerunzelter Stirn, für Arpje Tyrsos... Mit unsicheren Schritten ging er in die Spindel und legte das kristalline Tagebuch der Archimedes ab. Dann tauchte er wieder im Gang auf. Manshadow hatte die Arbeit beendet und legte die Metallplatte zu den Früchten. „Hör mich, Manshadow“, ordnete O'Delta nun an, „hör mich und registriere es: Du wirst mit der Spindel fliegen. Wenn ihr anderswo als auf der Erde niedergeht, wirst du die Früchte unter Einsatz aller Waffensysteme verteidigen. Und müßten es zehntausend Jahre sein. So lange, bis Menschen kommen und sie holen wollen. Dann gib sie frei. Kannst du die Früchte nicht mehr verteidigen, weil die anderen dir überlegen sind, zerstöre die Spindel und dich. Ende.“ Die Schildkröte wiederholte getreu die Anweisung. O'Delta verschloß die Spindel ordnungsgemäß und ließ die Schutzwand herab. Dann leitete er eigenhändig den Ausstoß der Spindel ein. Erst als er sah, daß sie sich von der Archimedes gelöst hatte, wandte er sich ab und betrat das danebenliegende astronomische Observerlabor. Es war still und friedlich in diesem Raum. Die Sterne blickten herein und vervollkommneten das Bild der Ruhe. Nur der Sauerstoff reichte kaum noch zum Atmen. O'Delta bediente den Sprechgeber und verband sich mit dem diensthabenden Ingenieur.
„Wie lange haben wir noch?“ fragte er. „Vielleicht noch neunzig Minuten“, sagte der, „aber es ist nur ein Schätzwert. Nichts Definitives...“ O'Delta trennte die Leitung und rief die Zentrale. Das Rufzeichen kam an. Es klang wieder und wieder, ohne dass jemand an den Sprechgeber ging. Die Bildübertragung funktionierte schon nicht mehr. Janka, dachte O'Delta und versuchte sich vorzustellen, was dort hinter den hermetisch geschlossenen Schleusen vorgehen oder vorgegangen sein mochte. Dann dachte er an den Ingenieur, der auf seinem Platz saß und, soweit dies noch möglich war, seinen Dienst versah. Und Markus fragte sich, ob das der Mensch ist, der eigentliche Mensch, der seinen Dienst versieht und so lange hofft, wie er selbst atmet... Noch einmal bediente er den Sprechgeber. „An alle“, sagte er und hoffte, daß man ihn in vielen Sektoren hören würde, „jeder ist hiermit seiner Verpflichtung dem Raumgesetz, der Erde und mir gegenüber entbunden. Wer für sich eine Rettungsmöglichkeit wahrnimmt, kann sie nutzen, ohne deshalb Meldung zu machen. Ich danke euch allen für eure Einsatzbereitschaft, eure Aufopferung... Danke...“ Zehn Uhr zwei Bordzeit Die Archimedes schlingerte stark und jagte direkt auf die orangerote Sonne zu. Es ist das Ende, dachte Markus O'Delta, der im Astroobserverraum auf einem der Kontursessel saß und sein Denken und Fühlen dem kalten Funkeln der Milliarden Sterne überließ. Ein wehmütiges Lächeln trat in sein blasses Gesicht, und seine Augen glänzten fiebrig, während er in die endlose Nacht des Universums starrte. Und wie zum Abschied hob er die Hand und flüsterte heiser: „Flieg, Spindel, flieg...“
Drittes Buch
Der Preis des Lebens
Giftkonserven „Was ist das für ein Licht?“ Weit vorn, inmitten der endlosen Dunkelheit der Nacht zeichnete sich ein bleistiftstrichdünner Lichtstreif ab, trennte Wasser von Luft, den Ozean von der Atmosphäre. „Wir sind über der Wasserlinie“, sagte Amon Hater und musterte das Gesicht Aininas, der Medizinerin. Die Meerestiefen mit ihren künstlichen Lichtern, ihren wilden Felsen und merkwürdigen Be wohnern waren die Kulisse der Erzählung gewesen, und die beiden hatte es weder gestört noch registriert, daß die Bewegung des Bauwerks sie langsam nach oben trug und sie in dem Moment das Wasser durchschnitten, als Amon Hater gesagt hatte: „Flieg, Spindel, flieg...“ Die Nacht war zeitlos an ihnen vorbeigezogen, war zu Erinnerungen an ferne Sonnen und unbekannte Planeten geronnen, eine Nacht widerstreitender Empfindungen. Ainina sammelte sich, erhob sich, atmete tief durch. „Alle“, sagte sie dann, und eine stumme Erschütterung klang in ihr nach, „alle sind sie draußen geblieben. Aber wofür?“ Hater gab keine Antwort, erhob sich ebenfalls. Er nahm behutsam die Frau bei der Hand und führte sie durch den glasgerahmten Garten, vorbei an der blühenden Pracht. Sie erreichten schließlich eine der drei Laufbandröhren, die sie hoch über den Wellen dahintragen würden, bis hinüber zum Strand. „Ich weiß jetzt“, sagte Ainina, „daß sich der Kreis geschlossen hat. Wir sind zum Anfang Ihrer Erzählung zurückgekehrt. Wir sind in der Zeit angelangt, in der Sie nach Austras kommen und forschen. Und Sie haben aus den Früchten, unter Umgehung der alten, der Hofmantschen Fehler ein Präparat geschaffen, das alle Prophezeiungen bestätigte. Jugend. Gesundheit. Befreit von der Organverpilzung. Vielleicht sind Sie auch dabei, es zu vollenden. Bald... Ich verstehe Sie, Hater. In Ihnen sind nicht nur der Optimismus und die Willenskraft O'Deltas, nein, auch die Naivität des Arpje Tyrsos ist Ihnen eigen geworden und die kühle Skepsis Janka Chomains und die Vorsicht Genario Oskuses. Dazu kommt das warnende Beispiel Raapitas. Und die Unbekannten, die ebenso ihr Leben gaben. Bei der Erfüllung einer Aufgabe. Ich verstehe, wie lächerlich und aufdringlich, ja geradezu hysterisch ich auf Sie gewirkt haben muß, als ich hinter Ihnen stand und statt Schweben! einfach Tyrsoleen rief... Sie haben mir Gelegenheit gegeben, mich selbst zu sehen: klein, verzagt, jammervoll...“
„Dort, schauen Sie doch!„ Hater deutete mit der Hand zum östlichen Horizont, „die ersten Sonnenstrahlen. Der Morgen bricht an.“ Sie standen nebeneinander am Strand und beobachteten die auf schießenden Lichtstreifen, die das Schwarzblau vertrieben, die Sterne löschten und zarteste Grün- und Gelbtöne über den Wasserspiegel zauberten. „Nun“, sagte Ainina, „da Sie mir meine Ungehörigkeit an Ihrem Ehrentag zurückgezahlt haben, werden sich ja unsere Wege trennen. Ein merkwürdiger Abschied: bei Sonnenaufgang.“ „Wir haben denselben Weg“, sagte Hater, „wozu wollen Sie sich extra ein Fahrzeug rufen? Fahren wir gemeinsam.“ Die Wände glitten bei ihrer Annäherung herunter, und die Frau und der Mann betraten nacheinander die wohltemperierte Maschine, die die Wände hochklappte und mit dem leisen Summen der Aggregate ihre Fahrbereitschaft meldete. „Existiert es schon“, fragte Ainina leise, „als Formel ..., oder die ersten Millikubik?“ Die Sonne tauchte auf, ließ alles in dem kleinen Apparat hellrot aufleuchten. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, Amon sah direkt in die kraftvolle Morgensonne, „da ist noch ein Teil, der wichtig ist. Un geheuer wichtig. Bedenken Sie doch selbst: Die Spindel fliegt los, und ich finde in Austras eins drei Tyrsoleenbäume voller Früchte. In dem unterirdischen Gewächshaus. Verstehen Sie, etwas fehlt noch.“ „Und wann werde ich das hören?“ „Gedulden Sie sich ein wenig.“ Der kaum spürbare Ruck ging durch ihre Körper. Sie hatten die Bolidenbahn erreicht. „Nicht mehr lange“, sagte Hater, „dann werden Sie hören, was noch fehlt.“ „Hier sind wir“, sagte Ainina verstört, herausgerissen aus jener zu rückliegenden Zeit und eingetaucht in den Alltag. „Ja, hier“, bestätigte Hater, „Sie werden doch nicht vergessen, Ihrer Tochter einen guten Morgen zu wünschen... Sie haben gesagt, daß Sie das immer tun. Und gute Nacht haben Sie ihr gestern auch nicht gesagt. Also gehen Sie...“ „Und Sie?“ „Ich bleibe hier. Ich warte auf Sie. Lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Ainina lief auf die Schleuse zu. Hater sah ihr nach, er lächelte. Als die Frau hinter der Schleuse verschwunden war, orientierte er sich auf der Anzeigetafel. Dann hatte er gefunden, was er suchte, und er entfernte sich eiligen Schrittes...
Sie kamen fast gleichzeitig beim Gleiter an, stiegen beide schweigend ein und setzten sich. „Hören Sie also, was nach dem Tod der Raumfahrer passierte...“ „Es geht ihr nicht gut“, sagte Ainina, „der Prozeß nimmt an Tempo zu. Es ist, als sei außer den üblichen Pilzarten eine neue, die das Hirn angreift. Wenn das stimmt, dann hat niemand mehr die Wahl zwischen einem Weiterleben als Kyborg und dem Tod...“ „Ich weiß...“, Hater bewegte bedeutungsvoll den Kopf, „ich weiß.“ „Sie wissen...?“ Aininas Worte klangen bitter, „Sie wissen alles... Warum wissen Sie alles?“ „Ich weiß nicht alles“, erwiderte Hater geduldig, „wie kommen Sie nur darauf? Das ist doch selbstverständlich: Ich habe auf dem Physiomaten gesehen, in welchem Zustand sich Ihre Tochter befindet. Ist das so schwer? Und die Einbeziehung des Zentralnervensystems war für mich klar. Ihnen ist meine Hypothese bekannt: Unser genetischer Satz ist geschwächt, bricht an einer Stelle auf und macht der Pilz-RNS Platz. Ein Ungleichgewicht entsteht dadurch und es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Körper nicht mehr durch die eigenen Abwehrkräfte geschützt ist. Eine einfache Feststellung. Unsere Experimente zeigen uns noch etwas: Es wird demnächst eine spezielle Fungi-Art geben, die die Bauchspeicheldrüse zersetzt, und eine weitere, die sich im Markraum unserer Hohlknochen ansiedelt. Diese vier Bereiche haben wir ermittelt: Endokrinium, Zentralnervensystem, Bauchspeicheldrüse und Markzellen.“ Stumm, mit geweiteten Augen sah Ainina Hater an. So flogen sie dahin, dem aufhellenden Tag entgegen. „Wo geht es denn jetzt hin?“ erkundigte sich die Frau neugierig. „Wir haben ein wenig Zeit“, erklärte der Wissenschaftler, „und deshalb möchte ich Ihnen nun gern den Schluß erzählen. Wollen Sie...?“ Ainina nickte nur schweigend. Sie sah hinunter auf all die gesunden Menschen, die ihren Tätigkeiten nachgingen, und dachte an ihr Kind, an Soyosa. Ein Schatten glitt über das Gefährt hinweg. Ainina duckte sich unwillkürlich. Dann sah sie auf den Fahrtographen. „Was war das?“ „Irgendein Krankentransport“, sagte Hater beiläufig. „Sie sind am selben Ort gestartet wie wir“, murmelte die Frau, „nur, daß sie es eiliger haben...“ Die Sonne versank in schweren, diesigen Wolkenbänken, die Tier stimmen verebbten, und eine vorübergehende Stille breitete sich aus, in die hinein die Zikaden und Nachtschwalben, die Unken und Kröten ihre Stimme schickten, während sehr fern vereinzeltes Raubtiergebrüll erklang.
Brummend kam ein kleiner Hubschrauber näher, wirkte in seiner schlanken Linienführung zerbrechlich, schien ein Insekt aus einer anderen Zeit. Das Flugzeug sackte schnell, dann immer langsamer ab, setzte sandaufwirbelnd auf, und die Rotorblätter, die noch eine Zeitlang bei abgestelltem Motor im Kreis herumgefahren waren, standen schließlich still. Die Kanzel klappte nach hinten, und zwei Menschen entstiegen der Flugmaschine. Sie machten ein paar unsichere Schritte, schließlich faßten sie sich bei den Händen, liefen lachend über den Sand, bis einer von ihnen stolperte und hinfiel. Da ließ sich der andere einfach auf ihn fallen, umarmte ihn, wurde selbst umarmt, und ein minutenlanger Ringkampf hielt sie in Atem. Keuchend richteten sich beide auf, setzten die Flugkappen ab, legten sie achtlos neben sich. Das Mädchen hatte pechschwarze Haare, die ihr bis über die Schultern flossen, während der junge Mann, dessen Augen blitzten, kurzgeschnittene sandfarbene Haare besaß. Der Himmel durchlief die endlose Folge immer dunkler werdender Blautöne, und die ersten Sterne wurden sichtbar. Der Junge klappte ein handliches Zelt auseinander, befestigte es am Boden und holte aus dem Hubschrauber allerlei Gerät und auch einen kleinen Batteriekompressor. Damit schuf er in kurzer Zeit zwei Liegestätten, Decken und eine Gummimasse, die sich in die Länge ziehen ließ und einen brusthohen Zaun um das Lager bildete. „Fertig, Nora“, rief er und hob das Mädchen auf, „man sagt, daß man seine Angetraute über die Schwelle trug. In alten Zeiten...“ Er ließ sich mit ihr einfach über den Zaun fallen, wo ein erneutes Handgemenge begann, das erst endete, als der Zaun samt Zelt umkippte. „Und dieser Zaun soll uns vor Raubtieren schützen“, prustete Nora los, „wer hat dir denn das gesagt?“ „Der Mann in der Reisezentrale“, erwiderte der Junge, „ach so, jetzt fällt es mir ein: Dazu gehört noch eine Flüssigkeit, die man aufsprüht...“ „Und wo ist die?“ fragte Nora. „Ich habe sie vergessen“, erklärte der Junge ratlos, „was nun? Übernachten wir einfach im Hubschrauber“, fügte er hinzu, „da sind wir sicher.“ „Hast du etwa Angst?“ Nora lachte und trommelte Viktor mit ihren schmalen Fäusten auf die Brust, „Angst hat er. Spricht wochenlang mit meiner Mutter, überzeugt sie von Austras eins, kriegt sogar meinen Vater rum und nun hat er Angst... Ich bin eine Riesenschlange und werde dich fressen!“ Das letzte schrie sie und warf sich erneut auf Viktor, der aufstöhnte.
„Wenn du das Zelt zerbrichst“, rief er unter Noras Last, „baust du eine Blockhütte. Mit dem Schneidbretterer. Ich gebe dann nur Anweisungen..., verstanden..., uff...“ Seine Drohung ging in ein Schnaufen über. „Sei mal still“, Nora ließ von ihm ab, richtete sich auf. Auch Viktor setzte sich. „Was ist?“ wollte er wissen. „Hörst du nichts?“ Viktor horchte mit leicht geöffnetem Mund. „Nichts“, er suchte im Dämmer Noras Augen, „ich höre überhaupt nichts...“ „Na eben“, erwiderte sie, „man hört nichts. Wie still es hier ist...“ Eine Weile lauschten sie beide auf die ungewohnte Stille, aus der sich Stimmen der Nachtvögel, der Insekten und einiger umherschweifender Säuger herauslösten. „Daß es so etwas gibt“, Noras Stimme klang andächtig. Viktor versuchte alles, was umgestürzt war, wieder notdürftig herzurichten. Schließlich gab er es auf. „Dann müssen wir in einem Bett schlafen“, sagte er. „Das denkst du dir so“, rief Nora heftig, „du hast meiner Mutter gesagt, daß hier irgendwo RSP null vier ist, der Raketenstartplatz. Du hast ihr erzählt, daß wir vor Ort historische Studien treiben wollen. Und nun? Du willst in einem Bett mit mir schlafen. Das hätte ich gleich wissen sollen...“ Sie holte Atem. „Wo ist eigentlich RSP null vier“, fragte sie, „die Ruine?“ „Da“, sagte Viktor, auf dem Rücken liegend, und deutete irgendwohin. „Da ist gar nichts“, entgegnete Nora, „nicht einmal ein Strauch.“ „Na, dann vielleicht dort“, Viktor versuchte es mit einer anderen Richtung. „Da sind die Sterne“, empörte sich Nora. „Morgen“, sagte Viktor schläfrig, „Morgen zeige ich dir RSP null vier. Und wenn du brav bist, führe ich dir einen Raketenstart vor...“ „Murmeltier, Langschläfer“, hetzte das Mädchen. „Ich bin die ganze Zeit über geflogen“, gähnte Viktor, „und du hast derweil geschlafen. Bettenassel...“ „Wo schläfst du denn nun?“ fragte Nora. „Ich werde mich in den Zaun einrollen“, murmelte Viktor, „dann ist er noch zu etwas gut...“ „Da“, rief Nora und bedeckte Viktor mit dem nachgiebigen Gebilde, „und da und da und da... Hier geht es weiter... Brauchst du noch mehr?“ „Ich brauche nichts weiter als Frieden“, jammerte Viktor schlaf trunken, „man hat mich vor Nora Pergond gewarnt. Man hat mir gesagt, daß ich die Hälfte meines Körpergewichts verlieren würde, wenn ich dich mitnehme. Und sie hatten recht!“
„Ich kann ja zurückfliegen“, grollte das Mädchen und wandte sich ab, „bitte, sage ein Wort, und ich fliege...“ „Damit mich hier die Treiberameisen fressen, was? Das könnte dir so passen...“ Viktor wälzte sich unter den Zaunresten hervor, sprang auf die Füße, packte die sich wild sträubende Nora und schleppte sie gegen ihren Protest in das Zelt. „Hier bleibst du jetzt“, keuchte er, „hier legst du dich hin und schläfst bis morgen früh. Gute Nacht.“ Pustend ging er zum Ausgang des Zeltes, aber Nora huschte an ihm vorbei. „Schlaf selber da“, rief sie lachend von draußen, „ich fliege los...“ Mitten im Satz brach sie ab. Ein hohles, unbestimmtes Fauchen erklang und nahm zu. Mit zwei großen Schritten stand Viktor neben Nora. Am Horizont tauchte ein Feuerfaden auf, der rasch näher kam und größer wurde. Ein anderer Faden löste sich von der brennenden Spur und zog hoch über sie hinweg. Jener erste aber wurde breiter und heller, riß Bäume und Sträucher, Gräser und Steine aus der Finsternis, tauchte die Baumkronen und auch die beiden erstarrten Menschen in ein grelles Licht und stürzte, Flammenzungen und Staub hochwirbelnd, nicht weit von ihnen in eine Baumgruppe. Die Nacht sank erneut herab. Tiefste Finsternis umgab Nora und Viktor. „Was war das?“ Nora lehnte sich an ihren Freund, zitterte. „Eine Sternschnuppe“, sagte Viktor, „man hat früher gesagt, wer eine Sternschnuppe sieht, kann sich etwas wünschen. Man darf es aber nicht verraten...“ „Das war der Schutzpatron der Raumfahrer“, Nora lachte plötzlich los, „er wollte deine Arroganz strafen. Weil du mir nicht RSP null vier zeigen willst...“ „RSP null vier“, Viktor betrachtete seine Vielfachuhr, „liegt genau dort, wo der Feuerstein herabge...“ Sein Mund stand immer noch offen, als Nora sich ihm zugewandt hatte. „Denkst du?“ Sie holte tief Luft. „Warum nicht“, sagte Viktor, „die Zeitdilatation. Warum soll das nicht ein verspäteter Heimkehrer sein... Komm...“ „Jetzt willst du zu den Urtieren da raus“, rief Nora, „eines Steines wegen. Das Ding war so klein.“ Sie zeigte mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand, wie klein ihrer Ansicht nach der Stein war. „Quatsch“, schrie Viktor, „er war so groß.“ Eine weitausholende Geste, die den Lagerplatz samt Hubschrauber einschloß, folgte seiner Rede. „Klein...!“ „Mach, was du willst“, Viktor regte sich jetzt auf, „ich gehe und du schlaf meinetwegen...“
„Viktor“, Nora sprach leiser. „Was ist?“ „Willst du mich wirklich allein lassen?“ „Hier frißt dich keiner“, sagte Viktor lachend. „Und du vergiß nicht, ein paar Eimer Wasser mitzunehmen, oder denkst du, daß du den kleinen heißen Stein mit der Hand anfassen kannst?“ „Ach ja“, Viktor blieb nachdenklich stehen, „abkühlen muß das Ding ja erst einmal. Bei der Feuerspur.“ „Na, siehst du“, lenkte Nora ein, „und weil du vernünftig geworden bist und erst morgen mit mir dahin gehst, darfst du auch mit im Zelt schlafen. Im Zelt, Viktor, nicht im Bett...“ Nora schreckte hoch. „Ja?“ „Komm“, flüsterte Viktor, „gleich geht die Sonne auf. Wir wollen los, das Ding suchen. Zieh dich schnell an.“ Sie gingen schweigsam, denn beide waren sie müde, auch wenn sie versuchten, es voreinander zu verbergen. Viktor deutete auf den Boden. Er bückte sich, wischte etwas Sand von einer kaum sichtbaren schnurgeraden Linie aus einem ihnen unbekannten Material. „Das ist schon eine Spur von RSP null vier“, erklärte er, und Stolz über das Wissen schwang in seiner Stimme, „mein Dozent für historische Raumerkundungsdaten hat mit mir zusammen den Standort ausgerechnet. Auf den Meter genau... Das DING war nicht zu verfehlen. Es hatte aus einer kleinen Baumgruppe ein Dutzend verkohlter und blattloser Stämme gemacht, stak mit der Spitze im Erdreich und hatte eine ganze Reihe Stützbeine ausgefahren. Es sah stumpf und sogar ein wenig bedrohlich aus. Auf seiner Spitze rotierte müde ein kleiner Kristall. Als sie dicht heran waren, gab das DING eine Reihe unverständlicher Töne von sich. „Der Kommunikator ist hin“, sagte Viktor enttäuscht, „und alle Aufschriften hat die Hitze weggeätzt. Wir werden nie wissen, was es ist... Schade...“ Als sie nur noch wenige Schritte von dem Gebilde entfernt waren, löste sich eine Versiegelung und, fauchend, knarrend und eine Serie unverständlicher Töne ausstoßend, öffnete sich ein ovales, mehr als mannshohes Luk. Ein schwaches phosphoreszierendes Licht drang aus dem Innern. Nora und Viktor standen unbeweglich, blickten hinein, versuchten zu erkennen, was sich dort befand. Wie auf ein geheimes Zeichen hin traten sie auf das Gebilde zu, steckten die Köpfe hinein, traten ein.
„Oh“, Nora sah sich um, betrachtete die Schätze aus einer fernen Zeit, vielleicht auch aus einem unbekannten Raum... „Wir müssen alles bergen“, erklärte Viktor. Während er das sagte, deutete er auf die in gläserne Folien eingeschweißten Früchte, die in der schwachen Beleuchtung an Blutorangen erinnerten oder an die neuen Banamandarinas. „Das stimmt“, sagte Nora, „aber es war ja ein ganz schöner Weg, und wir werden ihn einigemal gehen müssen.“ „Ich weiß schon“, Viktor verließ das Gebilde, und Nora folgte ihm, „das ist ganz einfach. Ich habe so etwas in einem alten Film gesehen. Zwei glatte Stämmchen. Man bindet sie zusammen und flicht dünne Äste zwischen die Holme. Das ist dann ein Schlitten für Sand. Da können wir alles verstauen und zum Lager bringen. Du kannst dich hier hinsetzen. Ich mach das schon...“ Er ging zielstrebig davon, und Nora setzte sich. Nicht lange, dann stand sie wieder auf, betrat das metallene Gehäuse und sah sich erneut um. Vorsichtig öffnete sie einen der Folienverschlüsse und nahm drei Früchte heraus. Sie roch daran, fand das Aroma angenehm. Schließlich schälte sie eine und steckte sie in die Umhängetasche. Mit den anderen beiden jonglierte sie eine Weile. Das wurde ihr langweilig und sie schälte eine zweite, die sie ohne die Fruchthülle ebenfalls in die Tasche steckte. Mit der dritten Frucht warf sie nach einer eilig vorübergleitenden Schlange. Dann drehte sie eine nachtklamme, sich nur müde wehrende Schildkröte auf den Rücken und lachte, als sie die vergeblichen Mühen des Tieres sah, wieder auf die Beine zu kommen. Als das Spiel sie langweilte, setzte sie die Kröte wieder auf die Füße. Danach begann sie lautstark mit einer Gruppe Sittiche um die Wette zu schimpfen. Als Viktor auftauchte, zwei krumme Holme auf den Schultern, lachte sie hellauf. „Herr Australopithecus persönlich“, kommentierte sie, „jetzt könnte man mit dir einen Film machen. Und was für einen.“ Unweit des Lagers ließen sie sich kraftlos auf die Erde fallen. „Mir reicht's“, sagte Nora, „und das nennt der Mensch Urlaub... Weißt du, was das ist? Schwerstarbeit zu deinem Ruhm. Du wirst deinem Dozenten sagen, wie sehr du dich geschunden hast und daß wir dir alles zu verdanken haben...“ „Spar deine Puste“, Viktor wischte sich den Schweiß von der Stirn, „wir müssen noch ein Stück laufen... Durst habe ich...“ Nora war eingeschnappt. Sie mochte keine Zurechtweisungen, und schon gar nicht von Viktor, den sie anfangs zu lieben glaubte, aber das stimmte nicht mehr. Er ist ein Freund, dachte sie, ein guter Freund.
„Da“, sie sah intensiv in die Ferne und deutete mit dem Daumen nach hinten, wo ihre Umhängetasche auf dem Schlitten lag, „in meiner Tasche...“ Viktor war zu sehr mit den Funden beschäftigt, als daß er die ge fährliche Sparsamkeit in Noras Worten bemerkt hätte. So erhob er sich gedankenvoll und trat an den Schlitten heran. Er fand zwei geschälte Banamandarinas, wie er dachte, und zerlegte sie. Er schmunzelte. Was die sich alles ausdenken, dachte er, Früchte, die nicht mehr von Pol zu Pol zu zerlegen sind, sondern die man von ihrem Äquator aus zergliedern kann. Er nahm ein sauberes Tuch, garnierte es mit den runden Scheiben, die nun an Ananas erinnerten, und breitete das Tuch zwischen sich und Nora. Sie aßen die Früchte. Es war um die Zeit des Mittagessens. Nora erwärmte sich eine Vier-in sich-Konserve, sie wollte nicht auf diesen Luxus verzichten, und Viktor hatte es Noras Mutter versprechen müssen, daß wenigstens eine Mahlzeit so sei, wie sie es gewohnt waren. Plötzlich sank Nora um, blieb stöhnend auf dem Bauch liegen, und alles an ihr verkrampfte sich. Viktor lief zu ihr hin, hob sie auf, legte sie auf das Bett. In größter Eile, wenn auch sehr gründlich, untersuchte er den Körper des Mädchens nach Insektenstichen oder Schlangenbissen. Er fand nichts und wurde ruhiger. „Was ist“, fragte er, „was ist los?“ Nora sah ihn aus starren Augen an. Es fiel ihr schwer, zu sprechen. Viktor begriff nicht, was mit ihr geschehen war. „Ich hole den Hubschrauber“, schrie er, “bleib liegen. Wir fliegen ins Med-Zentrum. Warte...“ Dann war er draußen. Seltsam, dachte er, während er rannte, wie weich der Sand ist. Man sinkt ein... Das ist neu... Und während er dachte, daß er lief, rannte, wurden seine Schritte schleppend, unbeholfen, er taumelte noch einigemal im Kreis herum und stürzte dann zu Boden. Geier sammelten sich in der Luft. Ihre Kreise wurden enger und enger. Hyänen, die das sahen, kamen angetrabt. Ihr Gekicher und Geheul war schrecklich. Die erste näherte sich Viktor, schnüffelte an ihm. Da wandte sie sich ab und lief eilig davon. Jede Hyäne, die an dem Bewußtlosen gerochen hatte, flüchtete, und auch die Geier, die auf oder neben Viktor gelandet waren, begannen ihr blutiges Mahl nicht, stiegen in die Lüfte, zogen davon, sich andere Beute suchend... Viktor Sebal schlug die Augen auf. Eine weiße Wand zerstob, und er sah die Morgensonne, die an einem hohen gelbgrünen Himmelstand. Er sah das Zelt, dessen langer Schatten ihn berührte. Viktor fühlte etwas Klebriges auf dem Gesicht, wischte es ab. Schaum..., moorig, gegoren,
heftig riechender Schaum. Viktor rieb ihn ab. Dann sprang er auf die Füße und fühlte sich erfrischt, unternehmungslustig und sicher. Er betrat das Zelt, hob die schlafende und ruhig atmende Nora auf, auch sie war vollständig von Schaum bedeckt, und trug sie zu der nahen Quelle. Nachdem Viktor sie vorsichtig hingelegt hatte, sah er verwundert seine Hände, seine Arme an: Wie hatte er das nur schaffen können? Er hatte Noras Gewicht kaum gespürt. Dann entkleidete er seine Begleiterin, wobei er ein Zittern der Hände nicht verbergen konnte, wusch ihr den Schaum ab, reinigte die Kleidung und zog sie ihr wieder an. Dann wusch er sich, und zuletzt waren seine Kleidungsstücke an der Reihe. Wie gut, dachte er dabei, daß wir Soforttrockner mitgenommen haben, sonst wären wir jetzt elend naß... Viktor trank Quellwasser. Ein Gefühl von Behaglichkeit und Ge lassenheit begann sich in ihm auszubreiten. Nun öffnete Nora die Augen, sah Viktor groß an. „Was war los?“ fragte sie. „Die Umstellung“, erklärte Viktor, „das war sicher die Umstellung. Mein Dozent sagte...“ „Dein Dozent...“, Nora lachte, „heirate doch deinen Dozenten, wenn er so feine Ratschläge weiß.“ „Nora“, Viktor runzelte die Stirn. Sie lachte und lief davon. Viktor rannte ihr hinterher, ohne sie einzuholen. Dabei wußte er, daß er doppelt so schnell und viel ausdauernder laufen konnte. Nora hangelte über einen Ast auf einen Baum und streckte dem verdutzten Viktor die Zunge heraus. Der kletterte Nora hinterher, aber Nora war einfach von oben abgesprungen, weich aufgekommen und lief schon zum nächsten Baum. Endlich blieb sie auf einer weiten, versandeten Lichtung stehen, ohne daß ihnen der Atem ausgegangen wäre. „Verrückt, was?“ sagte Viktor. „Was man hier alles lernt...“ Sie flogen in ein Urlauberdorf an der Küste und holten dort, was sie benötigten. Jetzt stand ein fünf Meter hohes rundes Zelt an der Stelle des alten, und ein aromatisierter Zaun sicherte im Umkreis von zehn Metern die beiden ab. Eine Projektionswand und entsprechende Geräte erhoben sich in dem Zelt. Viktor und Nora sichteten das Material, das der Raumflugkörper mitgebracht hatte. Fast zehn Tage lang sahen sie unausgesetzt Bilder, filmische Berichte, hörten Kommentare, Unterhaltungen, Tagebüchertexte. Markus O'Delta und Jaun Wetdar, Janka Chomain und Genario Oskuse, Arpje Tyrsos und Hofmant, Ala Rabause und Raapita wurden ihre Freunde, ihre Vertrauten. Sie erlebten die Paradieser von 245/19 und begleiteten Sey 127 ins GeLaDeAl, sie hörten das
Gestammel der Futuristen und bewunderten die Logik von Stefka Radels. Schließlich vernahmen sie die letzte Botschaft O'Deltas: „…und wenn euch das Tyrsoleen hilft, dann denkt manchmal an uns, die wir das Land, den Planeten des Infernos sahen, die wir nicht geflohen sind, sondern nur dieses eine Ziel hatten: Dem Menschen eine menschenwürdige Zukunft zu geben. Denn Krankheit ist menschenunwürdig. Jeder von uns hat alles gegeben, damit diese Expedition zu einem glücklichen Ende führen würde. Es ist anders gekommen. Schade, daß nun keiner von uns die neue Zeit sehen kann, die sicher schon auf der Erde angebrochen ist. Lebt wohl... Commander der Archimedes, Markus O'Delta - im Namen aller Mitglieder der Besatzung“ Nora Pergond ließ das Zelt, den Zaun hinter sich, ging durch den lautlosen Abend. Sie setzte sich, lehnte den Rücken an den Stamm eines Eukalyptusbaumes. Sie weinte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie wußte nicht einmal, warum sie weinte. Nur ihr Blick, der an den feinen Lichtpunkten hing, die zwischen den schwarzen Blattsilhouetten aufleuchteten, mochte sie selbst ahnen lassen, wonach sie sich sehnte, was sie in diesem Augenblick wünschte. Sie saß still, umgeben von den zusammenfließenden Schatten der Nacht, die wie eine Flut das Land überschwemmten, und dachte lange Zeit gar nichts. Schließlich keimte ein Gedanke in ihr auf. Es war nichts als ein schmaler Erkenntnisschimmer. ZZ RUV, dachte Nora Pergond, das existiert noch, dieses ZZ RUV. Es muß einfach existieren, weil die Zeitdilatation selbst noch im kommenden Jahrhunderten Raumflugkörper zur Erde zurückbringen könnte, die vor Urzeiten gestartet sind. Man müßte sich einfach einmal erkundigen. Das kann man ja. Scheinbar absichtslos erkundigen. Markus O'Delta, Commander der Archimedes. Sie werden es wissen, sie werden mir antworten... „Nora“, Viktor durchquerte das Gesträuch, suchte sie, begann in eine andere Richtung zu gehen. „Nora!“ „Viktor?“ Jetzt kam er heran, setzte sich zu ihr, legte seine Arme um ihre an den Körper gepreßten Knie. „Es hat dich auch beeindruckt, was?“ Sie bestätigte es wortlos. „Erinnerst du dich der Hofmantgeschichte?“ fragte Viktor dann und fuhr, keine Antwort abwartend, fort: „Ich meine die Sache mit den Ratten, die da im Schaumbad waren?“ Sie nickte.
„Was hast du mit den Früchten gemacht, deren Schalen ich neben der Spindel gefunden habe?“ „Nichts“, sagte Nora, „ich habe sie in die Umhängetasche gesteckt. Ins Sammelfach.“ „Da sind sie aber nicht mehr.“ „Ich habe sie nicht herausgenommen“, sagte das Mädchen bestimmt. „Aber ich“, Viktor sprach sehr ernst, „ich. Ich dachte, es seien Banamandarinas... Als wir mit dem Schlitten kamen. Weißt du jetzt?“ Im Schaumbad, dachte Nora, jetzt hast du uns, Markus, auch wir waren im Schaumbad. Und nun gehören wir mit zu deiner Mannschaft. Sind deine Mitstreiter geworden, Markus... Und nun?
Verurteilt zum Leben Der diensthabende Oberer stürmte in den Raum, hatte eine Reihe bedruckter Papiere in der Hand, wedelte mit ihnen. „Unmöglich“, schrie er so laut, daß Viktor und Nora, die nackt auf der kabelgespickten Zentralliege waren, zusammenzuckten, „ganz und gar unmöglich! Was soll das heißen: Die Erythrozyten zerfallen in dreihundert Tagen...? Was soll das heißen?“ Der Untersucher wurde leichenblaß. „Herr Oberer“, stammelte er, „ich mache doch gar nichts...“ „Das ist es ja“, der Oberer war zornrot im Gesicht, „keiner tut mehr etwas. Jeder glaubt an das Gewäsch dieser hirnlosen Computerblöcke. Und wenn die ausspucken: Geschlecht sächlich, dann steht ihr auch dabei, dreht Däumchen und denkt: Na, so etwas... Also, wo liegt der Fehler?“ Der Untersucher klopfte leicht gegen Kabel und Gläser, hielt den Kopf schief, um die Dosimeterklappe erkennen zu können, und richtete sich dann wieder auf. „Nirgendwo ein Störzeichen“, sagte er leise. „Glauben Sie vielleicht“, donnerte der Oberer, „daß eine verschmorte Leitung Ihnen zuwinken wird?“ „Jede Störung wird aber angezeigt“, widersprach der Untersucher. „Natürlich wird sie das“, der Oberer wischte sich den Schweiß von der Stirn, „selbstverständlich wird sie das. Warum auch nicht... Schließlich muß man sich auf die Technik verlassen können... Aber das hier, was heißt das?“
Der Untersucher warf einen Blick auf das Blatt. „So etwas gibt es nicht.“ „Das sag ich doch“, die Stimme des Oberers klang gereizt, „deshalb bin ich ja hier. Reihenuntersuchung. Alles normal. Mein Kaffee wird kalt, die Kollegen feixen und spotten hinter meinem Rücken: Er hat extraterrestrische Spione entlarvt. Andromedaner, die sich eingeschmuggelt haben... Aber da...“ Er trat mit schnellen Schritten an Noras Liege, faßte die Haare des Mädchens, hob sie hoch, ließ sie los, kniff Nora in die Schulter. „Ist das extraterrestrisch, ist das eine Fremde...?“ Nora fuhr herum, sprang von der Liege. „Sie sind wohl nicht ganz in Ordnung“, rief sie heftig, „Sie sollten sich selbst untersuchen lassen, vor allem Ihren Kopf. Erst schreien Sie mit diesem Mann herum, der sich völlig korrekt benimmt, und nun fassen Sie mich auch noch an? Sind sie Medcomputer-Oberer oder Schamane?“ Der Oberer hielt inne, stockte einen Augenblick, ließ die Blätter sinken. „Entschuldigung“, murmelte er, besann sich, „es tut mir leid. Aber das muß doch einen Menschen verrückt machen. Wissen Sie, was Ihre Untersuchung ergeben hat?“ Nora sah den Mann groß an. „Nach diesen Werten zu urteilen“, erklärte er, „müßten Sie ungefähr zweihundertvierzig Jahre leben können. Und dazu kommt noch, daß keinerlei Verschleiß zu verzeichnen ist. Nicht einmal ein Ansatzpunkt von Verschleiß. Nichts... Seien Sie also so freundlich, und legen Sie sich noch einmal auf die Liege. Wir wiederholen die Untersuchung auf einem anderen Kanal, weil wir dann letzte Gewißheit haben, ob der Fehler an der Maschine oder an Ihnen liegt...“ Nora Pergond nahm wieder auf der Liege Platz, sah zu Viktor hinüber, der ihr zublinzelte. Der Oberer verließ den Raum und die Untersuchung wurde wiederholt. Lichtstreifen huschten über die Wände, verschmolzen zu gitterartigen Gebilden, deren Farbtöne sich immer wieder änderten, schließlich aber bei einem bestimmten Ton bestehen blieben. Zahlenkolonnen liefen vorüber, hielten inne und erschienen unmittelbar darauf auf dem Sichtschirm. „Stimmt genau“, sagte der Untersucher von der Wand her, „es ist ein anderer Kanal, aber die Werte bleiben identisch.“ Dann wandte er sich an Viktor. „Waren bei Ihrer vorigen Untersuchung auch schon solche Differenzen festzustellen?“ fragte er. „Nein“, antwortete Viktor, „wir sind nämlich schaumgebadete Ratten, wissen Sie... Ein Scherz. Was sagte Ihr Chef, wie lange werden wir leben?“
„Drei Menschenleben“, das Gesicht des Untersuchers war ernst, „drei Menschenleben, obwohl...“ Er sah Viktor noch einmal an. Der erwiderte den Blick. „Was ist obwohl!“ fragte er. „Eine kleine Unregelmäßigkeit“, sagte der Untersucher, „aber bei Ihren seltsamen Werten ist das keine Unregelmäßigkeit, weil niemand wissen kann, was Regelmäßigkeit bedeutet...“ „Sagen Sie schon, was Sie sehen“, fuhr Viktor den Mann an. „Nichts“, sagte der, „die Milz und die Schilddrüse arbeiten intensiver als bei Ihrer Freundin. Das ist aber normal, sage ich Ihnen, weil es immer individuelle Unterschiede gibt... Vielleicht haben Sie sich ein bißchen erkältet? Wäre doch möglich...“ „Sie wissen es also auch nicht“, sagte Viktor geringschätzig, „das ist es doch, oder? Warum reden Sie darum herum?“ „Eigentlich sind Sie zu beneiden“, sagte der Untersucher und wagte es zum erstenmal, die nackte Nora anzusehen, „Sie können alles machen, was Ihnen gefällt. Sie können Raumreisende werden und trotzdem noch Kinder auf der Erde aufziehen, Sie können Künstler und Wissenschaftler werden. Wir müssen, wenn alles bestätigt ist, ihre Karten als Geheim aufbewahren, weil Ihnen sonst sicher alle Welt die Türen einreißt. Jeder wird wissen wollen, wie Sie das angestellt haben... Der Jungbrunnen... Man könnte natürlich auch Menschen damit helfen...“ „Jeden Morgen duschen wir kalt“, sagte Viktor eisig, „und trinken einen Heilbrunnen, den man aus jedem Reformzentrum beziehen kann. Außerdem essen wir keinen Spinat und treiben Rudelwurfball... Zufrieden?“ Der Untersucher schwieg und wandte sich seinen Geräten zu. Nora öffnete, als das Licht aufflammte, ihre Tür, blieb stehen, sah den Besucher an. „Viktor“, sagte sie unsicher, „komm rein. Was willst du?“ „Ist Erik hier?“ Er sah sich um. „Nein“, erwiderte Nora, „aber was soll das?“ Viktor trat ein, grüßte die erstaunte Frau Pergond unfreundlich und ging in Noras Zimmer. Das Mädchen folgte ihm, nachdem sie ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte. „Also?“ Nora blickte Viktor ermunternd an. Der saß schon auf einem Sessel, betrachtete seine Fußspitzen, schwieg. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ fragte Nora. „Du hast doch auf dem Weg hierher gewußt, was du sagen wolltest.“ „Das weiß ich immer noch“, sagte Viktor grob, schwieg aber erneut. „Ich hole uns etwas zu trinken“, erklärte Nora und wollte gehen.
„Nein, bleib!“ Viktor bekam sie bei der Hand zu fassen und dirigierte sie zu dem zweiten Sessel. „Du machst dir etwas vor“, sagte er, „das wollte ich sagen. Sicher, ich bin nicht so gesellig wie andere, und Erik ist ein netter Bursche. Mehr aber auch nicht. Er ist nett, ja. Manchmal frage ich mich, mit wem er geht, mit dir oder mit deiner Mutter. Macht nichts. Du hast ihn genommen und mich weggeschickt. Damals, vor einem Jahr, nach unserer Reihenuntersuchung...“ Wieder senkte sich Schweigen auf die beiden herab. „Du streust dir Sand in die Augen“, sagte Viktor heftig, „vielleicht vergißt du, wenn Erik da ist, was mit uns geschehen ist. Wenn Erik hundert Jahre alt ist, dann bis du gerade dreißig. Ich war zu einigen Zwischenuntersuchungen, wegen der Schilddrüse. Du weißt ja. Unsere Werte steigen weiter an. Hofmants Schaumratten waren Stümper gegen uns...“ „Und?“ Noras Blick wurde unruhig. „Und“, Viktor lachte rauh, „es gibt nur noch einen Menschen für Nora Pergond, der neben ihr bestehen kann, dessen Vergreisen sie nicht beobachten muß. Und der Mensch heißt Viktor Sebal. Früher sagte man: Die beiden sind füreinander geschaffen. Das ist Unsinn. Wer es will, ist füreinander geschaffen. Nur bei uns, da ist es anders. Wir sind tatsächlich füreinander geschaffen, einfach weil wir für keinen anderen geschaffen sind und kein anderer für uns... Oder aber...“, Viktor betrachtete Nora grimmig, „oder aber“, fuhr er ungerührt fort, „du gibst Erik auch so eine Frucht und beobachtest, ob er ein Raapita oder ein Geschäumter wird...“ „Wo ist das Material?“ Noras Augen wurden wach. „In Sicherheit“, sagte Viktor dumpf, „die Substanz einer Frucht wurde in aller Stille verbraucht, und die Computerwerte ergaben, daß es nichts als ein tödliches Gemisch der verschiedenartigsten Stoffe ist. Und um nicht wieder die Menschheit in die alten panischen Zeiten, in denen Gier und Neid herrschten, zurückfallen zu lassen, sind die Früchte am sichersten Ort der Welt, und niemand wird von ihnen erfahren, außer unserem Dekan, dem Fachmann für interaktionelle Sicherheit und einem Spezialgremium der Behörde der Vereinigten Kontinente...“ „Wir sind also ein Zweipersonenvolk“, sagte Nora bedächtig, und diese Art zu sprechen paßte so wenig zu ihr wie die Nachdenklichkeit, die in ihrem Gesicht erschien, „und haben keine Wahl in bezug auf unsere Partner...“ „Richtig“, sagte Viktor, „deshalb bin ich hier. Schick Erik fort, und laß uns überlegen, was wir mit unserem endlosen Leben anfangen wollen. Das, was damals der Mediziner sagte, ist sicher Nonsens. Dies und das und jenes. Wir verzetteln uns dabei. Wir sollten zielgerichtet auf etwas hinarbeiten. Vielleicht darauf, Hyanodendron tyrsolenii auf der Erde anzusiedeln und Hofmants Traum von dem Mittel gegen die
Organverpilzung zu verwirklichen. Es wäre im Sinne unseres Commanders...“ „Unseres Commanders“, fragte Nora unsicher, „was meinst du damit?“ „Erst wünscht sie sich ein Kind von ihm“, sagte Viktor halb lachend, halb im Ernst, „und dann vergißt sie ihn. Das ist typisch für Fräulein Nora Pergond. Ich rede von Markus O'Delta. Von unserem Commander Markus O'Delta, der die Früchte gebracht hat...“ „Ach so“, Nora suchte etwas in ihrer Erinnerung, „das war damals. In Austras. Da war alles so anders, so ..., so romantisch. Und ich war noch jünger, ein ganzes Jahr oder noch mehr. Mädchenträume...“ „Mädchenträume...“, Viktor zog die Brauen hoch, „was hältst du davon, wenn wir nach Austras eins gehen und uns dort ansiedeln, wo die Archimedes gestartet ist... Eine Reihe Genehmigungen habe ich schon. Es könnte klappen...“ „Ich schlage dir auch etwas vor“, Noras Augen funkelten zornig, „du planst nie mehr für einen anderen Menschen mit. Mach es doch so: Nimm dir ein paar Automaten und bau auf, was du möchtest. Laß mich aber hier. Wenn ich Eriks Vergreisung bemerke, dann komme ich nach. Bis dahin aber: Auf Wiedersehen, Viktor Sebal, auf Wiedersehen!“ Schweigend stand Viktor auf. Er sah Nora durchdringend an, sagte aber kein Wort und verließ das Zimmer. Krachend flog die Pergondsche Wohnungstür zu. „Was wollte er?“ Noras Mutter steckte den Kopf durch die Tür. „Er hat um meine Hand angehalten“, antwortete Nora schnippisch, „und ich habe ihn weggeschickt...“ Viktor saß am Fenster des hölzernen Hauses, betrachtete die Steppe. Er hörte das leise gleichmäßige Pochen aus dem Bauch der Erde. Da unten, dachte er, arbeiten meine nimmermüden Robbys, schaffen die Räume, die ich benötige, um die Forschung anzukurbeln, die das Vermächtnis der Leute von der Archimedes erfüllt... Solche heroischen Gedanken sind gut, denn man fühlt dann die Bauchschmerzen nicht... Schmerzen waren es nicht eigentlich, die ihn peinigten, es war eher ein unbeschreibliches Gefühl. Inmitten der tollkühnsten Gedanken machte sich etwas bemerkbar, was wie ein blasses Tuch über ihn und seine Gedanken hinsank und alles wie aus weiter Ferne sichtbar machte. Selbst die Ideen, die ihm kamen, waren dann nur noch Andeutungen von Ideen. Und wieder und wieder schwebte dieses Tuch herab. Jetzt auch. Er hatte eben noch den Robbys geholfen, als es ihn übermannte. Der Turbohammer entfiel seiner Hand, und er stieg über die schmale Treppe, später würde er hier einen Aufzug einbauen, hinauf, setzte sich in den Schaukelstuhl und sah aus dem Fenster. Etwas Fremdes, nicht zu ihm Gehörendes steckte in seinem Körper. Sie hatten damals die
Schilddrüse und die Milz verdächtigt. Die Schilddrüse hatte sich in atemberaubendem Tempo normalisiert, die Milz nie mehr. Von Zeit zu Zeit schwollen seine Lymphknoten an und wieder ab. Aber es war in ihm. Vielleicht ist das wirklich psychosomatisch, dachte er dann, vielleicht wäre ich vollständig gesund, wenn Nora gekommen wäre. So etwas gibt es... Erik... Wieder hüllte ihn das Nebeltuch ein, preßte seinen Brustkorb zusammen, ließ ihn nicht frei atmen... Eine Zusatzvierfachinjektion zum Schutz vor Neoplasmen haben sie mir verabfolgt, dabei war ihnen bekannt, daß ich ordnungsgemäß meine Schutzimpfungen bekommen habe... Nichts wissen sie... Sei nicht ungerecht, sagte sich Viktor, was sollen sie auch wissen, wenn da ein Mensch vor ihnen steht, dessen Erythrozyten jetzt schon fast sechshundert Tage leben und dessen DNS-Spirale sich sechsmal langsamer dreht als bei anderen Menschen. Sie haben keine Erfahrungen, keine vergleichbaren Fälle... Nein, ich darf ihnen nicht unrecht tun. Sie werden eines Tages finden, was nicht so funktioniert, wie es soll, und dann werden sie mir helfen. Ein Raapita bin ich jedenfalls nicht. Nach sechs Jahren kann man kein Raapita mehr sein. Da ist alles festgelegt... Viktor krümmte sich ein wenig zusammen. „Soll ich das Med-Zentrum rufen?“ fragte der Robby, der hinter Viktor Sebal in der Zimmertür stand. „Du bist ein netter Kerl“, Viktors Stimme klang gepreßt, „aber ich kenne das. Ich weiß, wie es ist. Laß gut sein. In einer Stunde bin ich wieder bei euch... Vielleicht kochst du mir einen schönen Tee! Was machen die anderen?“ „Sie arbeiten weiter. Immer weiter, mein Herr“, sagte der Robby, „ich werde Ihnen Tee bereiten und ein heißes Bad. Dann mache ich Ihnen noch einen warmen Umschlag, lege Sie ins Bett und bleibe bei Ihnen, um Ihnen vorzulesen. Und in einer Stunde sind wir dann wieder bei den anderen da unten...“ „Ist Post gekommen?“ erkundigte sich Viktor. „Jede Menge“, rief der Robby aus der Küche, „aber das meiste wird Sie kaum interessieren. Immer nur Terminangaben für Materialien. Und schließlich die Terminvorgabe der Weltbehörde. Man wird sich nächste Woche damit auseinandersetzen, ob Sie hier einen Aktor bekommen können oder nicht. Unmittelbar nach der Sitzung wird man Ihnen den Entscheid mitteilen. Sicher sind Sie schon sehr gespannt, was?“
„Das kann man sagen“, antwortete Viktor vom Fenster her, „im Prinzip können sie nichts dagegen haben. Nur: Die meisten wissen aus Sicherheitsgründen gar nicht, worum es eigentlich geht. Das macht die Sache bedenklich. Wenn man ihnen sagen könnte: Da ist ein Jungbrunnen in Aussicht, eine neue Medikamentengeneration, die auch die Hyperverpilzung bekämpfen kann, würden sie schon zustimmen. Aber dann wüßte es die ganze Welt. - Naja, wir werden es ja erfahren...“ Die Geräusche des kochenden Wassers erzeugten in Viktor an genehme Erinnerungen. Der mächtige Gleitschrauber stand über dem kleinen Anwesen still. Balken, Sand und Sprayin verschoben sich in ihren Halterungen, einzelne Dachschindeln wurden vom Dach gefegt und schlugen scheppernd irgendwo auf. Blätter wurden von Baumästen gerissen, es regnete Grünzeug. „Diese Idioten“, schrie Viktor und sprang die schmale Treppe hinauf, „können die nicht vor dem Zaun halt machen...“ Er hetzte durch das Haus, warf eine Kanne mit kaltem Tee um und kam nach draußen. Der Schub war so stark, daß Viktor gegen den Flechtzaun getrieben wurde. „Was bringt ihr denn“, schrie er aus Leibeskräften nach oben, war aber überzeugt, daß die Leute im Gleitschrauber ihn nicht hören konnten. Er stand, an den Zaun gelehnt, und sah, wie jemand an einem Seil abgelassen wurde, aufsetzte und sich von dem Haken löste. Dann gab der Besucher ein Zeichen, und wie ein Geschoß jagte der Gleitschrauber davon. Der Wind verebbte, die Blätter und der Sand sanken zur Erde. Der Ankömmling zog sich die Schutzkapuze vom Kopf und kam auf Viktor zu. „Nora...“ Viktor blieb das Wort in der Kehle stecken. „Nora, du... ?“ sagte er noch einmal und spürte, daß er nicht mehr von dem Zaun loskam, daß ihn dieser Flechtzaun umwuchs, ihn festkrallte. „Es ist schrecklich geworden“, sagte Nora, „er ist nicht mehr aus der Wohnung zu bekommen. Er sitzt vor der Schimmerwand, hört Musikkonserven, bastelt an einer Fünf-Wohnungen-Modelleisenbahn und sammelt Raumpostzeichen ... Das kann man doch nicht aushalten. Er redet immer geschwollener, spricht nur noch von seinen Erfolgen und Arbeitsproblemen. Und denkst du, daß Mutter mich versteht? Sie spricht von einem netten jungen Mann. Jung. Und meine Schwestern fangen genauso an wie Erik. Der vergiftet die ganze Familie. Und da dachte ich mir: Fahr für ein Wochenende zu Viktor und sieh dir da alles an. Das hilft dir bestimmt, Erik zu verstehen.“
„Das ist nett“, sagte. Viktor und stieß sich von dem Zaun ab, „kommst her, schmeißt mir die Ziegel vom Dach, und das, weil du sehen willst, wie mies ich bin, um wieder neue Lebenskraft für Erik zu haben. Na, dann sieh dir mal mein Häuschen an ...!“ „Holz“, sagte Nora skeptisch. „Holzimitat“, Viktor blieb ernst, „kann auch ein Holzfachmann nicht erkennen. Die Struktur stimmt. Aber die Metalleinlagerungen machen es unverwundbar gegen Regen, Fäulnis und Wurmbefall...“ Sie betraten das Haus, und Nora berührte die einzelnen Gegenstände. „Was ist das?“ fragte sie plötzlich und deutete auf zwei ihr unbekannte Gegenstände. „Schnellfeuerfädner“, sagte Viktor, „man hat sie mir faktisch auf gezwungen, der Gefahren wegen, die aus der Natur drohen könnten. Ich habe sie noch nie benutzt. Einen Leoparden habe ich mit einem brennenden Scheit in die Flucht getrieben und einen verrückt gewordenen Kodiak hat mein Freund Ucki niedergeboxt.“ „Ucki?“ Nora betrachtete prüfend Viktors Augen. „Du glaubst nicht, daß ich einen Freund habe?“ „Ich glaube nicht“, sagte sie, „daß es hier jemand bei dir in dieser Wüstenei aushält.“ „Freunde habe ich viele“, erwiderte Viktor, „zweimal in der Woche treffe ich mich mit den Biologen und Geologen, die hier arbeiten, und einmal gehe ich zur Sauna in das Ratata-Hotel an der Küste ... Aber schön, du sollst Ucki erleben.“ Viktor rief den Namen, und leise, Nora grüßend, trat der Robby ein. „Ucki“, Viktor lächelte schief, „die Dame will nicht glauben, daß du einen Kodiakbären niedergeboxt hast. Erzähle es ihr...“ „Das war nicht schwer, meine Dame“, sagte der Robby, „bei einem nervenimpulsgesteuerten Lebewesen braucht man nichts weiter zu tun, als einen entsprechenden Druck auf einen der beiden Hauptstränge, präzis auf den Vagusnerv, auszuüben, und das System wird für eine genau definierbare Zeit von seinen normalen Neuroimpulsen abgeschaltet. Ich habe damals...“ Und nun folgte die Geschichte: Als sie sich in den gemäßigten Breiten von Austras befanden und in der bewaldeten Zone unerwartet einem Kodiakbären gegenüberstanden, welcher wohl noch nie einen Menschen getroffen hatte und sicher annahm, einen geschorenen Bären vor sich zu sehen, hatte der sich aufgerichtet, vorgewiesen, wie Bären auszusehen haben, und sich dann auf die Eindringlinge gestürzt. Er nahm sich als erstes Opfer den kleineren der beiden vor, und das war - die Maschine, die dem Anprall und den rasenden Tatzenhieben standhielt. Der Roboterkopf zerbrach auch nicht, als er im Bärenrachen steckte und das Tier zubiß. Trotz des Ernstes der Situation hatte Viktor lachen müssen, als aus dem Fell-Metall-Gemisch die ruhige Stimme des Robbys klang:
„Was soll ich tun, mein Herr, dieses Tier ist bar jeder Vernunft und versucht tatsächlich, mich zu beschädigen...“ Viktor hatte gefragt, ob sich Ucki würde befreien können, ohne das Tier dabei zu töten, „Aber selbstverständlich“, hatte die dumpfe Antwort geklungen, „das ist kein Problem...“ „Ich habe an Erik geschrieben“, sagte Nora leise, „und an Mutter. Sicher, sie werden schon gemerkt haben, daß aus einem Wochenende mehr geworden ist, aber ich will nicht abschiedslos gehen...“ „Du bleibst also.“ Viktor hatte es ruhig gesagt, stand einfach da und rührte sich nicht. Er sah abwechselnd auf das Papier und dann in Noras Gesicht. „Du bleibst...“ „Ja“, sagte sie, „ich weiß jetzt, daß ich mir etwas vorgemacht habe. Aber du hast auch nicht recht...“ „Wieso?“ „Du hast gesagt“, erwiderte sie, „ich würde schon feststellen, wie Erik vergreist. Das ist simpel. Das ist lächerlich. Damit hätte ich wahrscheinlich leben können, weil man dann nebeneinanderher geht. Viel schlimmer sind die Zwischenetappen. Der Mensch wandelt unablässig seine Interessen. Was ihm anfangs das Wichtigste der Welt ist, verliert seine Bedeutung, und neue Werte tauchen auf. Das ist schrecklich. Sehen, wie jemand bequem wird, nicht mehr aus der Wohnung will, innerlich ein anderer ist...“ „Ja“, Viktor sann nach, „ja, sicher ist es das.“ „Und ich habe noch etwas gesehen“, fuhr Nora fort, „es sind nicht die anderen, die seltsam, unverständlich werden, sondern ich bin es. Ich bin die einzelne. Es vollzieht sich an mir, was ich an den anderen zu entdecken glaube. Ich verstehe jetzt, warum mir meine ehemaligen Freundinnen aus dem Weg gehen und warum sich keiner meiner früheren Freunde mehr bei mir einfindet. Für sie ist alles normal. Die Welt ist schön und in Ordnung. Und dann sehen sie mich. Mich, die ich wie eine Siebzehnjährige aussehe. Und sie wissen: Es ist doch möglich. Und die Welt wird für sie glanzloser, sie fühlen sich unerwartet alt und fragen sich: Wie ist das nur möglich? Sie fragen. Zweifeln an der Gesetzmäßigkeit der Welt und aller Dinge. Weil es einen anderen Fall gibt. Das ist menschlich. Wenn ich einen Menschen fliegen sehe, will ich auch fliegen und meine, daß es funktionieren muß. So ist unsere Welt eingerichtet; schlimm, wenn es anders wäre, wenn ich mich selbst beschränkte und mir sagen würde: Der kann fliegen, weil er ein Grünhäutiger ist. Du wirst nie in diesen Genuß kommen. Das wäre Selbstkasteiung. Aber sie können doch nicht so sein wie wir. Vielleicht werden eines Tages alle einen Körper haben, der von der Geburt bis zum Tod im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Aber - noch ist es nicht soweit.
Und erst dann, dann kehren wir beide zurück. Dann ja. Deshalb habe ich geschrieben.“ „Soll ich den Postator rufen?“ fragte Viktor. „Ja“, sagte Nora, „ja, rufe ihn gleich ...!“ „Sie kommen“, rief Nora, „sie kommen.“ Der Aktor war unterwegs. Das Weltgremium hatte sich schnell entschieden, aber die technischen Vorbereitungen und vor allem der Bau - es hatte keine Produktionsstätte mehr für diesen Typ gegeben - hatten acht Jahre gedauert. Einmal monatlich war ihnen eine Lichtpesche zugegangen, die ihnen zeigte, wie weit man mit dem Bau war. Und nun sollte es soweit sein. Sie würden unbegrenzt Energie haben. Diese Jahre hatten die beiden Sebals - Nora hatte ihren Familiennamen zugunsten eines gemeinsamen aufgegeben - genutzt, um die Laboratorien und Versuchsräume, das eigentliche Archiv und vor allem die Gewächshäuser immer mehr zu vergrößern. Denn eines war klar: Früchte, die man über der Erdoberfläche aufbewahrte, verwandelten sich in Tagesfrist in hochtoxische Substanzen, und Keimlinge erreichten nur eine bestimmte Höhe, dann wucherten sie in die Breite und bildeten schließlich einen Rasenteppich, der metallhart und ekelhaft spitz war. Unter Ausschluß des Sonnenlichts, bei künstlicher Beleuchtung und in einer Tiefe von mehr als zehn Metern wuchsen Bäumchen heran, von denen man zwei in einer Kaffeetasse unterbringen konnte und die winzige Früchte hatten. Es war Viktors Einfall, die Versuche zunächst einmal abzuschließen und erst, wenn Energie in ausreichenden Mengen zur Verfügung stand, erneut aufzunehmen, diesmal mit Kaltaanlicht. Kaltaanlicht, so wußte man, enthielt einige Strahlungskomponenten sehr alter Sonnen, wie sie diese in der Hyadengruppe beobachtet hatten. Vielleicht hatte deren Strahlung die Tyrsoleenfrüchte beeinflußt. Der Aktor kam. Grollend rollten die mächtigen Mammut-Schlepper durch die Steppe. Ein feiner Staubfilm hüllte die Gefährte ein, die Sträucher und Bäume niederwalzten, den Sand platt drückten und unter ihren Ketten auch Steine zermalmten. Tierherden und Vogelschwärme flohen in panischem Schrecken, und nur Geier, Schakale und Hyänen folgten ihnen in ehrfürchtigem Abstand, um sich der Tierkadaver zu bemächtigen, die hier und dort liegengeblieben waren. Das waren hauptsächlich Schildkröten, plumpe Gilatiere und nestjunge Vögel. Die acht Meter breiten Ketten der Giganten hinterließen tiefe Furchen, in denen sich das Wasser des nächsten Regens wie in einem Bachbett sammeln und genau zum Sebalschen Haus rinnen würde.
Die Schlepper kamen wie Maschinen aus einer versunkenen Zeit daher und balancierten auf vierundzwanzig Greifrieglern der mächtigen Energieproduzenten. Der hatte die Form einer überdimensionalen Medikamentenkapsel, wies eine Unzahl Rillen auf und besaß den allen Energieproduzenten typischen Dopplerspiegelfaden für die drahtlose Übermittlung des Stromes. Über dem Zug schwebten die Gleitleuchten, die ununterbrochen die Schrift aufleuchten ließen: Nicht nähern... Nicht nähern... Nicht nähern... Es war eine überflüssige Maßnahme, da keinerlei Gefahr drohte. Die Erde bebte, als die Fahrzeuge heran waren. Der Programmator sprang aus der Kabine, ging den Sebals entgegen, blieb einen Moment unbeweglich stehen und sagte dann: „Sind eure Eltern nicht da?“ Er hielt sie offensichtlich für Kinder der Sebals, die die Genehmigung bekommen hatten, einen Aktor in Selbstverwaltung zu betreuen. „Sie müssen schon sagen, wen Sie mit unseren Eltern meinen“, Viktor lachte dem verdutzt blickenden Programmator ins Gesicht, „ihre Eltern oder meine? Sollten Sie aber die suchen, die unterschriftsberechtigt sind, dann geben Sie den Wisch ruhig einem von uns...“ „Sie sind das“, der Programmierer schluckte, „na, dann Entschul digung auch. Muß einem schließlich gesagt werden, daß hier zwei geniale Schüler ein energetisches Feuerwerk veranstalten dürfen...“ Viktor verschwand mit seinem Sprechfunkgerät in der Tiefe des Schachtes. Er fühlte mehr, als er hörte, daß die Motoren oben anliefen. Das Manöver der Versenkung begann. Er wußte, daß der Programmator immer noch nicht von seinen Zweifeln erlöst war, sich hier Kinder einen Scherz mit ihm erlaubten. Die Versenkarbeiten gingen fast mühelos vonstatten. Eine perfekte Technologie. Unter der riesigen Kapsel wurde das Gestein verflüssigt, die Verankerungen sanken ein, und das flüssige Gestein erkaltete mit Ultranull fast augenblicklich. Bald lag die Maschine in der Erde, als ruhte sie dort von Anbeginn an. Als die Arbeiten erledigt waren, nahmen sie gemeinsam einen Imbiß ein. „Langweilen Sie sich nie?“ fragte der Ingenieur beiläufig und sah Nora sehnsuchtsvoll an. „Manchmal schon“, antwortete sie, „aber dann kommen meistens ein paar Programmierer vorbei, halten uns für Schulkinder und sehen mich an, als sei ich eine Erotikpuppe. Das bringt dann wieder Heiterkeit und Frohsinn in dieses Haus.“
Der Programmierer verschluckte sich an der heißen Suppe, bekam einen Hustenanfall, und Viktor schlug ihm dreimal auf den Rücken. Der Ingenieur bückte sich über seinen Teller und sah nicht mehr auf, bis er fertig war. Dann murmelte er etwas von Zeitplan und wichtigen Terminen und verabschiedete sich überstürzt. Nora und Viktor sahen ihm lachend hinterher. Es traf Viktor wie ein Hammerschlag. Er ging durch den Garten, hatte einige Blüten entdeckt und wollte sie für Nora pflücken. Er wußte, wie sehr sie Blumen liebte. Als er sich bückte, kam es über ihn. Nicht wie ein graues Tuch, sondern wie der Schlag mit einem Turbohammer. Er kippte nach vorn, lag mit dem Gesicht zwischen den Blüten, deren Duft er nicht bemerkte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er preßte die Hände auf den Leib. Er wollte schreien, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Liegenbleiben, dachte er, bis alles vorüber ist. Dann nehme ich die Blüten und kann ins Haus gehen als wäre nichts geschehen. Ich muß einfach damit leben. Es ist nun einmal so. Irgendeine Unregelmäßigkeit. Nichts Psychosomatisches. Etwas ist schiefgegangen... Er lag tatsächlich still und schweigend auf der Erde. „Herr Sebal ist zusammengebrochen“, berichtete Ucki Nora, die den Einbau der Kaltaanlichtquellen überwachte. „Was?“ Sie ließ alles stehen und liegen und lief, so schnell sie konnte, durch den Gang, stieg in den Aufzug und fuhr hoch. Dichtauf folgte ihr der Robby über den Notausstieg. Sie fanden ihn im Garten, das Gesicht zwischen den Blüten. Nora kniete neben ihm nieder. „Viktor... Was ist denn, Viktor?“ Er wandte ihr das Gesicht nicht zu. „Magen verdorben“, stöhnte er leise, „habe schlechtes Fleisch in der Steppe gegessen. Gleich vorbei...“ „Trag ihn ins Haus, Ucki“, sagte Nora verzweifelt. Der Automat hob Viktor auf und trug ihn ins Haus. Viktor verließ auch an den kommenden Tagen nicht das Bett. Er fieberte, phantasierte. Dann rief er Raapita und O'Delta, unterhielt sich mit den Toten der Archimedes und versuchte sich gegen etwas zu wehren, was er nicht benennen konnte. Waren die Fieberschübe vorbei, wurde er ruhig, fast apathisch und sah schweigend aus dem Fenster. „Das geht so nicht“, erklärte ihm Nora eines Morgens, „ich bin keine Ärztin. Ich habe das Med-Zentrum verständigt. Sie kommen und holen dich heute ab.“ „Nein“, schrie Viktor aufgebracht, „nein...“
Noras letzter Entscheid Der CC, wie er sich gern nennen ließ, also der Computerchef des MedZentrums, war persönlich in den Besucherraum gekommen, um Nora Auskunft zu geben. Das geschah selten, da der CC in der Tiefe seiner Seele menschenscheu war. Er hatte sich die lachsrote Schärpe und das Kragengebinde angelegt, um seine Würde zu dokumentieren, und kam nun gemessenen Schrittes in den Raum, in dem die Frau seines Patienten ATS-000.442 wartete. Als er Nora sah, blieb er überrascht stehen, hüstelte verlegen und trat nur zögernd näher. „Was für eine Schönheit“, sagte er, „und welch blühende Jugend. Wunderbar.“ Nora antwortete nicht, saß still und randvoll mit Befürchtungen in dem riesigen Sessel, wo sie jeden Augenblick zu versinken drohte. Das dachte jedenfalls der CC. „Warum darf ich ihn nicht sehen“, waren Noras erste Worte, „wie soll ich diese Spannung noch lange ertragen? Was ist denn mit ihm...?“ „Ja, was ist mit ihm“, der CC legte sein Gehabe ab, setzte sich hinter den Schreibtisch und entfernte unwirsch Schärpe und Kragengebinde, „wenn wir das wüßten... Wir wissen es nicht.“ „Der Aktor“, Nora stieß die Worte heraus, „es war etwas mit dem Aktor... Stimmt's...? Irgendein Ventil oder eine undichte Stelle...“ „Aktoren haben weder Ventile noch undichte Stellen“, erklärte der CC bestimmt, „nein. Es war eine Strahlung, das stimmt. Aber eine, die lange zurückliegt... Bestimmt zwanzig Jahre... Er ist strahlenkrank. Sie haben ja auch einen solchen veränderten Körper, also kann ich mit Ihnen frei darüber reden: Ohne diese sich langsam drehende Spirale, ohne die schier unglaubliche Lebenszeit der Erythrozyten wäre der Mann schon zehn oder fünfzehn Jahre tot. Ganz sicher... Hatte er jemals Kontakt mit strahlendem Material?“ „Nein“, sagte Nora, „nie...“ Tief in sich hörte sie das hohle Heulen, das die Nacht zerschnitt, die Stille bersten ließ. Sie sah die Flammenspur über sich, vernahm erneut den dumpfen Aufschlag, bei dem die Erde zitterte. Und als sie ankamen bei dem Ding, da lag im Innern alles so fein ordentlich, als wäre schon in der Nacht ein anderer in das Innere geschlüpft, um alles vorzubereiten. In einer Zeit, da die Außenwände noch glühten.
Und wenn Viktor einen nächtlichen Ausflug unternahm und die überhitzten Wände etwas an sich hatten, was mit einer wahnsinnig kurzen Halbwertszeit strahlte? Es war doch denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich... „Vielleicht“, sagte Nora nur, „vielleicht...“ „Wir stehen vor einem Rätsel“, sagte der CC. „Es könnten schnelle Teilchen sein, die alles ausgelöst haben, aber allein die Art, wie der Körper dieses Mannes darauf reagiert, ist absolut ungewöhnlich. Das ist es auch, weshalb wir Sie nicht gern zu ihm lassen. Natürlich, prinzipiell können wir es Ihnen nicht verbieten, wir können nur raten...“ „Ich will ihn sehen“, sagte Nora bestimmt. „Ich habe Sie aber gewarnt“, der CC kam hinter dem Schreibtisch hervor. Nora erhob sich ebenfalls. Sie dachte an Jaun Wetdar, an das Bild der blanken, grinsenden Schädelknochen über dem Raumanzug mit dem C. „O'Delta hat es auch überstanden“, sagte sie leise, „er hat es ausgehalten... Und ich werde es auch durchstehen...“ Nora stand hinter der Vollwandscheibe und sah hinter der schim mernden Trennlinie den einzigen Menschen, der zu ihrem Volk, dem Volk der Langlebigen, gehörte. Sie stand starr, aber für den CC und sein Gefolge sehr gefaßt. Das auffälligste an dem Raum war das meterdicke Rohr, in dem sich die Nährgelantine befand. Inmitten dieser glasigen Masse schwebte ein dunkler Körper. Das war er, das mußte er sein. Ringsum Kabel, Schläuche, Drähte. „Er bekommt über die Sielow-Gelantine alles, was er braucht“, erklärte der CC im Hintergrund, „Zellerneuerer, DNS-Stabilisatoren, Sauerstoff, Mineralstoffe und Enzyme. Hormone und Proteine, Glukose und Wasser. Einfach alles, was sein Körper benötigt, um sich aufbauen zu können. Nur: Er tut es nicht. Er zerfällt Zellgruppe für Zellgruppe. An der Peripherie beginnt es. Er hat schon keine Zehen mehr. Nur noch die Nerven hängen wie feine Drähtchen aus dem Fuß.“ „Kann er mich hören?“ flüsterte Nora. „Nein“, sagte der CC, „er liegt in Rundum-Anästhesie.“ Nora schwieg und betrachtete weiterhin den Menschenschatten hinter der Glasscheibe. Noras Lieblingsplatz war ein hoher Sessel, den sie in ihrem Schlaf zimmer so an das Fenster gerückt hatte, daß sie hinaussehen konnte. Sie beobachtete die Steppe und die Wälder und Berge, die sich in der Ferne auftürmten. Hier schrieb sie in ihr Tagebuch, was immer ihr einfiel.
So saß sie jetzt, hielt das Buch in den Händen und wollte eigentlich das, was ihr gerade durch den Kopf ging, notieren. Dann aber, nachdem sie die erste Seite aufgeschlagen hatte, las sie voller Interesse, was dort stand. 31. Tag nach Viktors Einweisung: Ich will versuchen, alles, was mich schmerzt und bedrängt, zu Papier zu bringen. Vielleicht ist es dann erträglicher. Ich will in diesem Heft weinen und klagen, damit ich es nicht wirklich tun muß. Ich weiß jetzt, und ich glaube dem CC, daß nur ein Wunder den Prozeß aufhalten kann, der weiter und weiter fortschreitet. Es ist ein schrecklicher Kontrast: Unter der Wirkung von Viktors Kaltaanlicht werden die Bäumchen größer und größer. Das Tyrsoleen Markus O'Deltas gedeiht, und Viktor schrumpft. Er, der alles hier eingerichtet und den Weg beschrieben hat, den man gehen muß... 39. Tag:
Jetzt sind seine Füße dran. Es ist, wie es bei den Zehen war, genauso...
46. Tag: Viktors Beine sind bis zu den Knien verschwunden, sind einfach nicht mehr da. Der CC machte mir heute Hoffnung. Da sind neue metabolische Werte aufgetaucht. Viktors Körper verbraucht seit einem Tag mehr Energie und Eiweiß. Vielleicht, sagte der CC, hat der Körper einen Weg gefunden, den Prozeß aufzuhalten. Es wäre wunderbar. Der CC hat sich mit dem Transplant-Zentrum in Gingivaal in Verbindung gesetzt, und wenn der Prozeß stillsteht, dann werden Viktor in Gingivaal zwei halbsynthetische Beine anplantiert. Der CC sagte, daß nicht einmal ein Arzt hinterher ahnen würde, daß es nicht Viktors eigene Beine sind, weil die Nervenbahnen meines Mannes unangetastet sind... War Viktor für mich bisher einfach nur der zweite unseres kleinen Stammes, so soll das nun anders sein. Die Sorge um ihn, die Angst vor dem möglichen Ende haben mich dichter an ihn heranrücken lassen. Ich sehne mich nach ihm, nach meinem Mann... 53. Tag: Heute war ich bei dem Oberverwalter von Gingivaal. Ein merkwürdiger Mensch. Ich kann nichts mit ihm anfangen. Er strich um mich herum wie eines dieser zahmen Katertiere. Dann kam er mit der Sprache heraus: Tyrsoleenfrüchte. Möchte nur wissen, woher der Mann davon Kenntnis hat. In Übereinstimmung mit dem Weltsicherheitsgremium sagte ich ihm, daß sie alle verdorben seien. Damals schon, als die Spindel ankam. Die Enttäuschung in seinem Gesicht war unübersehbar. Er verwies mich dann an die entsprechenden Fachkapazitäten und verabschiedete mich sehr eilig.
Ja, haben sie mir erklärt, es ist genau so, wie der CC es gesagt hat. Sie zeigten mir Fotos von Anplantaten. Dann führten sie mir einen Patienten vor. Der Mann war nackt, und ich sollte sagen, was bei ihm ersetzt worden war. Ich kam nicht darauf. Und als sie mir sagten, daß es der rechte Arm mit Schulter war, wollte ich es nicht glauben. Es ist einfach perfekt. Ich bin voller Hoffnung. 72. Tag: Wer kann meinen Schrecken beschreiben, wer findet Worte für das, was mir der CC heute mitgeteilt hat: Obwohl der Stoffwechsel noch immer zunimmt, hat der grausame, tückische Tod ein anderes Zielgebiet gefunden. Viktore Finger beginnen zu zerfallen. Seine Finger und ebenfalls die Ohren. Auch die Beine zersetzen sich weiter. Wozu war ich in Gingivaal? Wozu bin ich hier in Austras? Wozu lebe ich so, als sei alles wie immer? Ich forsche, aber dem, dem ich helfen möchte, werde ich keine Rettung bringen. Ich bewege mich durch Räume, die ich nicht entworfen und verwirklicht habe. Es sind seine Räume, seine Ideen. 80. Tag: So wie heute war der CC noch nie. Er sprach nicht, betrachtete nur immer wieder verstohlen die Kurven. Wenn er mir sagte, daß Viktor sterben müßte, es wäre grauenhaft. Und doch: Gibt es noch eine andere Erlösung für ihn? Kann es etwas geben, was ihm hilft? 109. Tag: Ich bin leer, ausgelaugt, verloren. Ich weiß nicht mehr, was für ein Datum heute ist. Hat es gestern nicht geregnet? Blüht da draußen die Steppe? Wahrhaft unvorstellbar. Es kann keine blühende Steppe mehr geben und keinen vollen, runden Mond... Der Prozeß hat nun die Schultern und den Brustbereich betroffen. Das war es, was die Szintigramme des CC andeuteten, was er aber noch nicht sagen wollte, weil die Anzeichen zu gering waren. Nun steht es fest. Jede meiner Hoffnungen war eine Lüge. Da ist eine grauenhafte Krankheit, über die man nicht Herr werden kann. Sie hat mit mir gespielt wie die Pantherkatze mit der Chinchilla. Es gibt keine Hoffnung. 118. Tag: Ich habe dir, lieber Viktor, versprochen, die Bäume zu pflegen. Ich habe dir versprochen, die Medikamente zu schaffen. Ich habe das Geheimnis des Tyrsoleen lüften wollen. Aber wenn du stirbst, entbindest du mich von dem Schwur. Ich weiß keinen Weg mehr. Warum gibt es keinen Menschen in meiner Nähe? 152. Tag: Viktor besitzt noch den Kopf und die sauber präparierten Nervenbahnen, mehr nicht. Sie lassen mich nicht zu ihm. Sie sagen, ich könnte es nicht mehr ertragen. Sie werden recht haben. Ich hoffe nur
dies: Möge er nichts empfinden, nichts spüren und erst recht nichts träumen. Nichts anderes wünsche ich für ihn. Sie sagen mir immer, daß auch sein Hirn schläft. Tauchen in diesem Hirn keine Träume auf? Wirklich nicht? Ich möchte es glauben; aber wenn nicht ein anderes Organ der Sitz unserer Träume ist, dann entbindet wohl nur der Tod ihn von Träumen. 153. Tag: Der CC sagte, seiner Ansicht nach sei in einem Monat alles vorbei. Ich frage mich, was ist vorbei? Oh, diese verfluchte Frucht... Raapita, Tyrsos, O'Delta - und Viktor Sebal. Im Kampf um eine Frucht gestorben. Wie sich das anhört. Schrecklich. Wenn die Lebensflamme flackert und erlischt... 196. Tag: Wieder war ich in Gingivaal. Sie haben dort einen neuen Ober verwalter. Ein besonnener, älterer Mann. Klein, sehr freundlich und voller Wärme. Der Rat der Weltgesundheit und die medizinische Akademie haben zugestimmt, hat er mir gesagt. Alles liege jetzt in meiner Hand. Sie wollen mir Viktor wiedergeben, wenn ich will. Sein Nervensystem ist bis hin zur neuromuskulären Endplatte erhalten und intakt. Ich könnte ihn wiederhaben. Ich habe geschrien und getobt, habe die Blumen heruntergerissen und mit meinem Stuhl Fenster eingeschlagen. Ich soll einen plastenen Viktor haben. Einen, der wie Ucki einen Kodiak niederboxen könnte. Nein! Nein! Nein! 210. Tag: Es ist nicht mehr viel von ihm übrig. Ich warte auf seinen Tod. Auf den letzten und endgültigen Tod Viktor Sebals. Komm doch endlich, du Endpunkt zwischen Licht und Nacht. Komm endlich... 218. Tag: Das Hirn und die Nerven leben in der Sielow-Gelantine noch immer. Ich weiß jetzt, daß auch der Schrecken seine Grenzen hat. Es gibt einen Punkt, und dieser ist jetzt bei mir erreicht, da wird aus Angst und aus Verzweiflung Sachlichkeit. Natürlich werde ich meinen Schwur einhalten. Ich löse das Rätsel Tyrsoleen. Was ist geschehen? Einer mehr in der langen Kette derer, die man Wegbereiter nennt. Tragisch ist, daß er ein Langlebiger ist, weil wir jetzt nur noch eine Minderheit von einem einzigen Menschen sind, und tragisch auch, daß er nicht mehr sehen konnte, wie das Kaltaanlicht aus winzigen Pflanzen mächtige Bäume gemacht hat. Man kann in ihrem Schatten sitzen und durch die Äste schauen und träumen, daß gleich die Archimedes kommen und aufsetzen wird. Und dann, Arpje, wird ein Gärtner da sein, der euch zur Ernte auffordert, aber ein Kilo Früchte schenkt er dir nicht. Das ist gefährlich, Junge, gefährlich...
305. Tag: Ich habe mich in dieser Nacht entschlossen: Sie sollen für dieses tapfere Hirn einen neuen Körper schaffen. Sie sollen mir wenigstens seinen Verstand, seine Worte und Ratschläge zurückgeben. Ich werde mit diesen Gedanken leichter leben. Und ich werde Viktors Bild vor mir haben... 333. Tag: Als ich anrief, kamen sie am selben Tag. Sie haben alles mitge nommen, was von ihm existierte. Sie sagten mir auch, daß andere an anderen Orten ebenfalls nach Fotos und Dokumenten von ihm suchten. Der Intrapolator wird alle Fotos vergleichen und so die äußere Gestalt festlegen. Olfaktometer messen die Art seiner Ausdünstungen, um auch olfaktorisch ein präzises Double zu schaffen. An seinen Schuhen wollen sie feststellen, wie er sein Gewicht verlagerte und sich bewegte. Von Papieren, die nur er berührt hatte, haben sie die Papillarlinien abgenommen, und in einer alten Mütze haben sie ein einzelnes Haar entdeckt, Muster für einen dichten Schopf wachsender Haare, wie mir einer versicherte... 372. Tag: Heute haben sie mich aus Gingivaal angerufen. Es sei nicht schneller gegangen, sagten sie; weil noch eine zweite Operation im Hirngebiet vonnöten gewesen ist. Viktor habe es so verlangt, nachdem er das erste Mal erwachte. Aber nun sei alles in Ordnung. Ja, er fühle sich sehr wohl. Wahrscheinlich werde er in wenigen Tagen entlassen. Mir fällt die falsche Sternschnuppe ein. Sie hat uns unsere Wünsche nicht erfüllt. Meine jedenfalls nicht. Ich bin eine Frau ohne Tod, und Viktor ist ein Mann ohne Blut. Zwei Minderheiten unter einem Dach. Zwei Verlorene in der Zeit...
Der Nebel Zeit Sie hatten die Bolidenbahn verlassen und flogen, sanft schaukelnd, über dem Meer dahin. Amon Hater schwieg, und auch Ainina, die Medizinerin, sprach nicht ein Wort. Sie sahen sich an, hatten sich während der Erzählung wohl verloren und fanden sich nun wieder. Ein Mann und eine Frau, ein Erzähler und eine Zuhörerin, eine Mutter, die ihr Kind retten, und ein Wissenschaftler, der nichts Halbfertiges verantworten wollte.
„Nach alldem“, Haters Gesicht wurde angespannt, „könnte man meinen, daß sie nun still vor sich hinlebten, daß sie eine Idylle ge schaffen hatten und sorglos forschten und experimentierten, aber es war ganz anders. Nora Sebal nahm drei Eigenarten an, von denen sie nie mehr loskam. Zuerst einmal war es der Keller, das Archiv. Sie stieg einfach nach unten und ließ die alten Filme ablaufen, sah wieder und wieder zu, wie Markus O'Delta kommandierte und die Mannschaft von ihren Pflichten entband. Sie mußte es tun. Es wurde für sie zur einzigen Realitätskontrolle. Nora glaubte nicht, daß alles tatsächlich so war, wie es sich nun einmal abgespielt hatte. Mehr noch, sie glaubte nicht, daß sie einmal eine unbekümmerte Nora Pergond gewesen sein sollte, die Eltern, Geschwister und Freunde hatte, die lachen und Witze machen konnte, deren Energie man rühmte und die jeden kleinkriegte. Sie glaubte es nicht. Sie fühlte sich ein wenig wie eine von der Zeit überholte Maschine, wie ein ewiges Anhängsel dieses austrasischen Anwesens, wie eine funktionierende Einheit, die einst von einer unlängst stillgelegten Zentrale aus gesteuert wurde. Und immer dann, wenn dieses Gefühl übermächtig war, wenn es meine Mutter zu überschwemmen drohte, dann stieg sie in das Archiv hinunter, sah Filme und Bilder, hörte Berichte und Tagebücher und rettete sich so vor ihren Gedanken. Dann glaubte sie wieder zu wissen, daß sie Nora Pergond war. Dann kam eine zweite Eigenheit dazu: Nora verschloß sich allen Aktualitäten, die an ein Datum geknüpft waren, und ich frage Sie, Ainina, welche Aktualität ist nicht an ein Datum geknüpft! Sie fürchtete täglich aufs neue, mit ihrem eigenen Alter konfrontiert zu werden. Sie riegelte sich gegen die Gegenwart ab und zugleich, ohne es zu wissen, von anderen Menschen. Es interessierte sie überhaupt nichts mehr außer den Filmen. Sie wollte der Zeit entkommen und lieferte sich ihr geradezu aus. Sie dürfen nicht denken, ich sage das, weil ich ihr Vorwürfe mache, nein, das nicht. Ich weiß selbst nicht, wie man reagieren müßte. Die Genetiker haben ermittelt, daß ich ungefähr zweihundertfünfzig Jahre Zeit haben werde. Die Hälfte ist also um. Das ist nichts, im Vergleich zu Nora. Nichts, sage ich Ihnen. Gegen ihre DNS-Umdrehung ist die meine ein rasender Lauf. Man spricht davon, daß noch heute einige dieser Hofmantratten leben. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber man sagt es. Das mag Noras Situation charakterisieren. Kein Genetiker hat sich geäußert. Vielleicht hat sie drei- oder viertausend Jahre Zeit. Oder mehr. Nur eins ist klar: Ihre DNS-Spirale dreht sich langsamer und langsamer. Die Zeit, die sie hat, nimmt also unaufhörlich zu. Und eines fernen Tages wird sie äußerlich erstarren, die anderen werden kein Lebenszeichen mehr
entdecken, und sie wird nach einer Phase der Katalepsie, die sicher Jahrzehnte andauern kann, in Todesstarre verfallen...“ „Das haben Sie ermittelt“, die Ärztin hatte unerwartet Tränen in den Augen, „das wissen Sie... als ihr Sohn?“ „Soll ich sie mit dem Feuerrohr erschießen, dann, wenn meine Zeit abgelaufen ist?“ erkundigte sich Hater, und seine Stimme klang hart. „Soll ich das tun? Was wollen Sie?“ „Verzeihen Sie...“ „Ja, ich habe das ermittelt“, fuhr Hater fort, „weil meine Hypothese richtig war. Aber ich werde es ihr nie sagen. Außerdem glaube ich nicht, daß sie überhaupt verstehen würde, was ich ihr da offenbare. Sie kann es nicht verstehen, denn die Zeit ist ein Nebel für sie geworden, ein Nebel, durch den sie hindurch muß. Wissen Sie, was die merkwürdigste Erkenntnis war, die ich gewonnen habe? Wir haben Wünsche, weil es uns an Zeit mangelt. Unsere Wünsche sind Produkte der begrenzten Zeit. Nehmen wir einen primitiven Wunsch aus grauer Vorzeit: Die Menschen wünschten sich Reichtum. Eine Million nannten sie das. Ohne Zeitlimit ist das für viele ein leicht erfüllbarer Wunsch. Wer zehntausend Jahre arbeiten könnte und immer nur ein klein wenig auf die hohe Kante legte, würde eines Tages zwangsläufig reich sein. Sie können Berufswünsche oder sonst etwas nehmen. Es sind Wünsche, Sehnsüchte, weil manchmal die Zeit fehlt, sie zu realisieren. Unsere Wünsche werden durch das Zeitlimit erst geboren. Für den aber, für den es dieses Limit nicht gibt, kann es eines Tages auch keine Wünsche mehr geben. Er ist einfach wunschlos. Viktor und Nora haben auf Archimedes ganz von vorn begonnen und hatten Mühe, sich gegen die Natur zu behaupten. Aber sie hatten Zeit. Sie konnten sich in aller Ruhe einrichten und darauf warten, daß ihnen die menschliche Technik das lieferte, was sie benötigten. Und Wissenschaft und Technik haben geliefert. Immer vollkommenere Geräte. Einst beobachtete der Mensch den Vogel und beneidete ihn. Der Vogel flog über ein Tal, der Mensch mußte hinabsteigen und auf der gegenüberliegenden Seite wieder nach oben klettern. Hätte der Mensch endlos Zeit, würde er heute noch nicht fliegen, denn er wäre nie ein Risiko eingegangen. Aber all die tapferen Männer wie Lilienthal, Kreß, Wright, Lindbergh, Gagarin - und wie sie alle hießen - die wußten nur zu gut, daß nach einer bestimmten Anzahl von Jahren ihr Körper für fliegerische Experimente unbrauchbar sein würde. Und dieses Wissen erzeugt die Ungeduld. Der Mensch ist ein ungeduldiges, vorwärtsdrängendes Wesen. Sicher, eine solche Ungeduld erfordert auch Opfer, und die Liste der Wissenschaft und Technik ist voll davon. Bergbezwinger, Leute, die die Pole betraten, die meisten von ihnen sind
dort geblieben. Und jeder, der nach ihnen ging, hat es gewußt und es doch wieder gewagt. Das ist die menschliche Ungeduld, die ihn zwingt, das Neue in Angriff zu nehmen, um seine Wünsche zu erfüllen. Das gilt nicht für Nora. Wozu soll sie ungeduldig sein? Alles wird kommen, und sie wird es haben. Sie weiß, daß sie es haben wird, demzufolge hat sie es ja schon. Es ist eine Frage der Zeit, sagen wir, aber für Nora gibt es keine Zeit. Ein unbeweglicher, wohltemperierter Nebel umgibt sie. Wunschlosigkeit, Wunschunfähigkeit. Und das hat ihr die Freude an den Aktualitäten genommen. Viktor wußte schnell, daß ihr das, was ihr anfangs eine Freude war, er hatte sie jedes Jahr mit einem kleinen Geburtstagsgeschenk überrascht, zur Qual wurde. Für Nora und für ihn. Er unterließ es, sie an den Lauf der Zeit zu erinnern. Der Geburtstag wurde nicht einmal mehr erwähnt. Noras Mißtrauen dem Kalender gegenüber weitete sich zu einem Unmutsgefühl aus. Nicht einmal Uhren konnte sie arglos ansehen. Nach und nach wurden alle Chronometer entfernt. Nur in den Forschungsräumen, weil sie dort unabdingbar waren, blieben sie. Und nun die dritte Eigenheit: Nora konnte stundenlang, manchmal sogar tagelang in ihrem Sessel sitzen und Gedichte lesen. Sie wie derholte wieder und wieder denselben Text, denselben Wohllaut, schien hineinzuwachsen, sich mit den Satzgebilden zu verranken. Dann wieder stand sie unbeweglich am Fenster, nahm immer dasselbe Panorama in sich auf. Träumte offensichtlich. Oder auch nicht. Ich meine, ich wäre erschrocken, wenn ich durch ihre Augen hätte sehen können... Was resultierte daraus? Sie wissen es schon, Ainina. Nora schloß sich mehr und mehr ab, wich den Menschen aus. Viktor war anders. Körperlich verband ihn nichts mehr mit den Menschen, denn ohne Tastkörperchen und nur mit elektronischen Anzeigen versehen, kann man nicht unterscheiden, ob man gestreichelt oder geschlagen, mit Wasser begossen oder angesengt wird. Der körperhafte Mensch war die Quelle seines Schmerzes. Denn er mußte ja selbst ohne natürlichen Körper leben. Aber er suchte den Gedankenaustausch, war tagelang unter Wissenschaftlern, debattierte mit ihnen, tauschte Hypothesen aus oder suchte auch nur den Meinungsstreit. Er war nie so vereinsamt wie Nora. Und vielleicht doch viel einsamer. Viel weiter weg von allem. Ich dachte schon: Wenn Viktor seinen Leib behalten hätte, wäre Nora nicht die geworden, die sie ist. Er hätte sicher den Prozeß der Lethargie und Abkapselung verzögern können. Dann aber denke ich daran, daß auch die Bewegungen seiner DNS langsamer geworden sind und daß diese negative Beschleunigung zugenommen hat. Er würde den gleichen Prozeß erleben wie Nora. Der fremde Körper hat ihn gerettet...
Einmal, es war um Noras dreihundertsten Geburtstag, da fühlte sie sich unerwartet als Frau. Ihre Geschlechtlichkeit erwachte, wurde ihre Triebfeder. Nora verließ Archimedes. Sie ging, ohne Viktor auch nur die kleinste Erklärung abzugeben. Sie fürchtete wohl, ihn in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Es gibt keine Worte für diesen Bereich, die sie beide verstehen könnten. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß dieser Vertrauensbruch Viktor schwerer treffen mußte als jedes Wort, und wäre es noch so peinigend. Nora kam nach Euras. Sie hat mir nicht ausführlich erzählt, was sie erlebte. Wie sollte sie auch. Ich weiß nicht einmal genau, wie lange sie dort war. Vielleicht drei Monate? Zwei Jahre? Aber es zahlte sich jetzt aus, daß ihr jedes Zeitgefühl verlorengegangen war. Sie stand wie ein Kind vor der ihr neuen Welt, begriff nicht mehr die Grüße und Zeremonien, tastete sich mühsam vor. Ich weiß nicht, was ihr an unserer Welt gefallen hat und was nicht, nur dieses eine vermute ich: Die erste Phase ihres Besuchs war sicher atemberaubend, denn Nora war gezwungen zu lernen, sich neu anzupassen. Aber Tyrsoleen erhöht die Lernrate. Man begreift in unglaublichem Tempo. So ließ die zweite Phase nicht lange auf sich warten. Die Anpassung war vollkommen, der Reiz des Neuen dahin. Sie konnte sich selbstsicher, vielleicht auch ein wenig gelangweilt durch Euras bewegen. Sie genoß diese Welt voller Freundlichkeiten und ohne Gefahren. Dann aber kam es zu einem Zwischenfall, der sie erneut zur Ein siedlerin machte. Etwas, was weder Sie, Ainina, noch mich berühren würde. Nora lernte einen jungen Mann kennen, der sich, wie sie sagte, unsterblich in sie verliebt hatte. Als der erste gemeinsame Morgen dämmerte, im diesigen Nebellicht die Welt vor dem Fenster fern und flächig erschien, da hatte der Mann eine Idee. Einen Einfall. Einen Traum, der im Glück des Augenblicks geboren worden war. Er trug den Lichter in das Ruhezimmer und führte Nora die Fa milienbilder seiner Ahnen vor. Das heißt, er begann bei sich, seinen Geschwistern und seinen Eltern. Dann kamen die vergangenen Generationen. Schließlich entstand auf der Lichterfläche ein Bild, das Nora nur zu gut kannte. Da war sie abgebildet. Zusammen mit den beiden Brüdern und den Schwestern. Dahinter die Eltern. Sie erinnerte sich aller Einzelheiten jenes Familienausflugs. Na, sagte der junge Mann, sieh doch nur. Gleicht sie dir nicht? Wer auch immer von ihr sprach, ob es Vater oder Großmutter war, sie nannten sie die verlorene Prinzessin. Aber du kannst mit ihr konkurrieren. Du bist schöner als sie. Du hast sie übertroffen... Ich liebe dich.
Nora floh aus der Wohnung, hastete in ihren Wohnkomplex zurück, lag zitternd auf ihrem Bett. Ich bin eine uralte Frau, dachte sie immer wieder, ich habe hier nichts zu suchen. Dabei ist es das Törichste, was es gibt - nach dem kalendarischen Alter zu leben, sich einreden zu lassen: Bis jetzt war das möglich, ab nun nicht mehr, und von hier ab mußt du so sein, weil du eben alt bist. Es ist das selbstzerstörerische Denken der Leute vom GeLaDeAl-Planeten. Und Nora dachte so. Begriff nicht die Liebe, die den jungen Mann zu seinem Kurzvortrag, zu seinem Antrag getrieben hatte. Nora konnte sich nicht mehr freuen, nicht genießen. Der Kontinent mit den unbekümmerten Menschen erschreckte sie. Sie wollte zurück nach Austras, nach Archimedes. Sie wollte zu Viktor, den sie verlassen hatte. Sie machte sich bittere Vorwürfe. Sie lernte sogar noch einige Menschen kennen, einfach so, wenn sie durch die Straßen ging, aber sie war von nun an abwesend, konnte nichts mehr mit ihrem Leib beginnen, beobachtete ihn forthin mißtrauisch und fürchtete eine ähnliche Situation wie die von mir geschilderte. Der Wunsch, zu Viktor zurückzukehren wurde stärker, und das Interesse an den anderen Menschen verlosch. Nora nahm Abschied von Euras. Sie flog zurück nach Archimedes. Mit dem Aer, der damals das Neueste war, was es gab. Und so wie Viktor mich abgeholt hatte, holte er auch Nora ab. Er hatte den größten Blütenstrauß im Arm, so sagte es wenigstens Nora, der je in Austras eins gepflückt wurde. Er überschüttete sie geradezu mit Blumen, nahm sie in seine Arme und ließ sie lange Zeit nicht los. Jetzt wußte sie auch, daß ihre Flucht nach Euras niemals das bringen konnte, was sie sich gewünscht hatte: Sie suchte den einen Menschen, der bereit gewesen wäre, ganz allein für sie alles aufzugeben und ihr zu folgen. Wo aber sollte es diesen Menschen geben, der, selbst alternd, neben sich ein ununterbrochen junges Mädchen sehen würde...? Nein, die Flucht war sinnlos gewesen. Als sie in Viktors Armen lag, hat Nora geweint. Was konnte sie auch anderes tun? Sie hat geweint. Und vielleicht war das der schrecklichste Augenblick ihres Lebens, denn Viktor sagte ihr, und er war dabei sehr ruhig und gefaßt, daß er auf alle Früchte des Teufelsbaumes verzichten wolle, wenn er nur einmal eine herabfallende Träne oder einen Regenguß so auf der Haut erleben könnte, wie das in seiner Erinnerung war. Viktor führte Nora zurück in das Haus, zeigte ihr, was er in der Zwischenzeit zuwege gebracht hatte. Nein, hat er ihr gesagt, ich habe nie eine Pause gemacht, nicht einen Tag, denn ich verliere mein Ziel nicht aus den Augen. Sein Ziel.
Sie müssen wissen, Ainina, daß die zweite Operation in Gingivaal, die Nora in den Tagebuchaufzeichnungen erwähnt, mit seinem Ziel zusammenhängt. Als sie Viktor erweckten, als sie ihm einen Spiegel gaben, damit er sich betrachten konnte, da erst konnten sie den Mann selbst fragen, dessen Einverständnis sie ebenfalls brauchten, um ihre Arbeit zu vollenden: Viktor Sebal. Nein, hat er den Medizinern gesagt, nein, ich will nicht. Nicht so. Ich gebe nur dann mein Einverständnis, wenn Sie mir eine kleine Zeitbombe oder etwas Ähnliches einbauen und mir den Tod für dann garantieren, wenn die Tyrsoleenformel gefunden ist. So etwas muß doch elektronisch zu machen sein. Immer sind die Schutzreflexe schneller, wollten sie sich herausreden. Aber er blieb hart. Lachte über ihre Ausflüchte. Es blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als sich seinem Wunsch zu beugen. Sie taten es unter seiner Aufsicht, denn wenn man an einem solchen Körper hantiert, ist eine Anästhesie völlig unnötig. Das ist Viktor Sebals Ziel geworden: die Formel finden und dann alles beenden. Das wurde der Motor seines Handelns. Der unermüdliche Antrieb, die Motivation und der Wille des Viktor Sebal. Deshalb wurde er nie müde, trieb Nora immer wieder an, forschte und forschte... Und dann kam ihm eine Erkenntnis. Einen ganzen Tag war ich unterwegs, sagte er zu Nora, habe Verhandlungen geführt, bin von einer Behörde zur anderen gegangen. Habe gesucht, mich erkundigt, verhandelt. Einen ganzen Tag lang. Etwas Gutes? Nora fragte es freundlich, ahnungslos. Ich habe, fuhr Viktor in seinem Bericht fort, noch einmal den O'DeltaRapport zur Hand genommen und ihn aufmerksam studiert. Ich bin ihn Detail für Detail durchgegangen. In meiner Erinnerung war etwas, das noch unklar und nebelfern, aber doch von Wichtigkeit schien. Vielleicht hatte ich es in der Klinik geträumt, oder es war tatsächlich auf Band gespeichert. Ich fand meine Ahnung bestätigt. Es ist das ZZ RUV. Du erinnerst dich, Nora, das ZZ RUV. Du hast als ganz junges Mädchen den Wunsch geäußert, einen Sohn von Markus O'Delta auszutragen. Ich war dort. Mejoora heißt die Stadt jetzt. Prinzipiell wäre es möglich. Die Samen sind noch lebensfähig. Da es ja dein Wunsch ist, ein getreues Abbild von O'Delta zu gebären, hieße das, daß die die genetischen Erb anlagen von Markus betonen und dafür sorgen, daß das Baby ein Junge wird. Du bist körperlich so gesund, wie es eine Frau nur sein kann, die ein Kind zur Welt bringen will. Aber jetzt kommt der Pferdefuß der Geschichte: Dein Psychogramm ist gestört. Du bist oft melancholisch, abwesend, desinteressiert. Da könnte deine Erziehung dem Kind schaden. Du darfst den Jungen sechs Monate lang stillen, und dann mußt du ihn nach Mejoora zurückgeben und wirst nie erfahren, was aus
ihm geworden ist. Du mußt ihn einfach aus den Augen verlieren, und der Tag wird kommen, da du in jedem Eurasiaten deinen Sohn erblicken wirst. Das ist dann ein schönes Gefühl, Nora. Du wirst glücklich sein und den Menschen mit Freundlichkeit begegnen. Du wirst öfter zu ihnen reisen, und wer weiß, ob du nicht an der Mutterrolle Gefallen finden wirst. Du kannst viele Kinder haben... Das ist die Forderung des ZZ RUV. Nora war augenblicklich einverstanden, und die Freude auf das Kind riß sie tatsächlich aus der Apathie. Es geschah alles so, wie es abgesprochen war. Sie gebar mich, stillte mich ein halbes Jahr und gab mich dann nach Mejoora. Doch sie verlor mich nie aus den Augen. Sie kam immer wieder. In der Rolle der Touristin. Sie schaffte es, Stunden oder auch Minuten mit mir zusammen zu sein. Schweigend, mich an sich gedrückt. Und genau das waren die Bilder, die ich bewahrte. Nicht das erste halbe Jahr, sondern die heimlichen, manchmal qualvollen, aber immer stürmischen und lautlosen Begegnungen. Die Möglichkeit, in jedem Jungen von Euras ihren Sohn zu erblicken, gefiel Nora, aber das ist schließlich nur ein Bild, und sie war eine Mutter... Immer wieder forschte sie, brachte immer in Erfahrung, wo ich mich befand und welche Ausbildung mir zukam. Viktor war ihr Werkzeug. Er verfolgte mich, fotographierte mich unbemerkt, brachte Nora Bilder und Berichte. Übertrieb wohl auch ein wenig, um ihr zu sagen, wie prächtig es um mich bestellt sei. Ich wurde größer, und Nora wollte mich jetzt in ihrer Nähe haben. In ihren Träumen war ich Markus O'Delta. Wieder kam Viktor nach Euras. Er hat dann all das inszeniert, was mich, den Heranwachsenden, fesselte. Und so führte mich mein Weg schließlich nach Austras. Es ist verständlich, daß Nora verzweifelt war, als sie mich in meinem papageienfarbenen Anzug sah, mich, der ich die Gestalt des Markus O'Delta erhalten hatte. Sie werden jetzt auch verstehen, Ainina, wie meine dummen An näherungen auf Nora gewirkt haben mußten. Ich, den sie in sich wachsen gespürte, den sie genährt hatte und der äußerlich Markus glich, behandelte sie wie eine Libelle. In dieser Zeit haßte sie ihren Körper. Da wünschte sie sich Runzeln, Falten, weiße Haare, weil sie verstand, daß dieser Körper log, falsche Signale aussandte, und sie konnte nichts dagegen tun. Als dann alles klar war zwischen uns und ich in die Forschung einstieg, erlebte sie einen letzten Aufschwung, wurde sie noch einmal wach und lebendig und half mir, wo immer sie konnte, war an meiner Seite und beobachtete, wie ich vorankam. Ich dachte damals, daß es keinen besseren Helfer als sie geben könnte, und ich habe mich darin geirrt wie sonst nie in meinem Leben. Sie war alles andere, aber nicht mein Helfer. Doch das begriff ich erst später...“
Das Kelvinfeldphänomen Das Gefährt verlor an Höhe, näherte sich in einem weiten, flachen Bogen der Erde, rüttelte ein wenig, setzte dann jedoch weich auf. „Sie sollten es überholen lassen“, sagte Ainina lächelnd, „wäre doch schade, wenn Ihnen etwas zustoßen würde, Hater.“ „Das ist kein Defekt“, erwiderte der, während die Seitenklappen herabglitten, „es war der Wechsel der beiden Energiequellen.“ Ainina sah sich mit geweiteten, erstaunten Augen um. Der leise winselnde Wind trug Sand und staubige welke Blätter heran. „Austras eins“, sagte die Frau und verstummte ergriffen. „Sie waren noch nie in einer Wildnis, was?“ „Nein“, entgegnete Ainina und verließ das Gefährt, stakste die ersten Schritte ungelenk über den Sand. „Ist das da“, fragte sie dann, „Archimedes?“ „Ja“, Hater nickte schwermütig, „das habe ich daraus gemacht. Es war die Bedingung meiner weiteren Mitarbeit.“ Ein zweistöckiges, fast vollverglastes Haus und ein hoher schlanker Turm reckten sich in den taubenblauen Himmel. Hier duckte sich nichts mehr unter Bäumen, das Bauwerk überragte stolz die Gebilde der Natur, kündete von der Menschen Werk in dieser Einöde. „Und was ist das?“ Ainina deutete auf eine hölzerne Ecke im Erdgeschoß, in der sich ein dreifaches Fenster befand. „Noras Bedingung für die Veränderungen“, Amon Hater kniff die Augen zusammen, „wir durften ihr Zimmer nicht anrühren. Ich mußte es so lassen, wie es seit Anbeginn ihrer Zeit war. Eine für den Architekten unproblematische Geschichte. Dieses Holzimitat trägt mehr als der einstige Gigaton.“ „Es gibt, wie ich sehe, auch Gästezimmer?“ „Viele“, erläuterte Hater, „Ainina, Sie wissen sicher von den Be strebungen, wieder Parks anzulegen, in denen die Natur ungehemmt wachsen kann, und Sie wissen auch, daß man sich Gedanken darüber macht, ob nicht eine schrittweise Annäherung der anderen Kontinente an Austras eins und umgekehrt, die Besiedelung dieses Raumes hier stattfinden sollte. Man könnte dann die Tiere und Pflanzen, die aus anderen Teilen der Welt stammen, wieder in ihr natürliches Biotop überführen. Es stirbt hier vieles aus, was sich nicht anpassen kann. Austras eins könnte erneut und endgültig besiedelt werden. Die Experten kommen und gehen also. Immer wieder findet sich jemand ein, der einige Tage oder auch Wochen die Natur und die allgemeinen Gegebenheiten studiert und dann wieder abreist.“
„Ich möchte auch zwei Tage hierbleiben“, sagte Ainina, „jedenfalls, wenn Sie nichts dagegen einwenden.“ „Ich dachte, Sie würden länger bleiben“, sagte Hater. Aininas Gesicht verfinsterte sich. „Gern“, sagte sie leise, „sehr gern, Amon Hater, aber meine Tochter, verstehen Sie? Zwei Tage will ich verantworten. Zwei Tage wünsche ich ihr nicht gute Nacht und nicht guten Morgen, weil sie mich schon nicht mehr erkennt, aber dann muß ich zurück, weil ich sie noch immer als meine Soyosa erkenne. Ich werde eines Tages wiederkommen, und dieser Tag wird nicht einmal weit sein, und ich werde Ihnen dann zwei Fragen vorlegen, aber solange Soyosa lebt, solange ihr Körper noch lebt, zieht es mich zu ihr.“ Hater schien einen Augenblick betrübt. Dann wandte er sich ab, bot dem Wind sein Gesicht. „Hier hat es begonnen, Ainina“, sagte er, „und ich fürchte, hier wird es enden. Die Amon-Deltar-, Amon-HaterGeschichte. Ja, ich weiß es jetzt wieder, es war ein denkwürdiger Tag. Das Kelvinfeld. Ich wollte Erinnerungen löschen. Ein phantastisches Projekt. Ein ungeheuerliches Projekt, aber ich wollte es tun, meinte es tun zu müssen. Eine sehr umständliche Geschichte. Dieser Amon Deltar hatte einen Primatenversuch gemacht und einen glänzenden Trugschluß daraus gezogen. Die Anordnung war simpel: Drei Affengruppen in drei Käfigen. Die erste Gruppe hat Beton um sich und weiter nichts. Die zweite Gruppe ist umgeben von vier dreidimensional reproduzierenden Filmwänden, während die dritte Gruppe einen riesigen Käfig mit Bäumen, Sträuchern, Pflanzen und allem hat, was sie auch in der Natur vorfindet. Das war der Ausgangspunkt. Nun hatte ich natürlich nicht Jahrzehnte Zeit, um festzustellen, was ich wollte. Ich kürzte das Verfahren mit einem Tyrspleenderivat, dem Wetdaridin, ab. Es ersetzte mir die Zeit und wirkte auf die Affen so, als existierten sie schon viele Jahre unter den Bedingungen, die ich gerade erst geschaffen hatte. Die Betongruppe zeigte typische Kaspar-Hauser-Verhaltensweisen. Die Tiere waren apathisch, dumm und an nichts mehr zu interessieren. Die Weibchen stießen die Jungen weg, nichts stimmte. Sie waren. bemitleidenswert. Die dritte Gruppe, jene in der natürlichen Umgebung, lebte ein dreifach verlängertes Leben beinahe normal. Ich dosierte das Wet daridin so, daß es in der Affenpsyche aussah, als würden alle Tiere schon fünfzig oder sechzig Jahre leben. Die Alten wurden als Erfahrenste geachtet, die Jüngsten als Nesthäkchen verwöhnt und die anderen lebten wie immer. Alles in Ordnung.
Die zweite Gruppe, die mit den Filmdarbietungen, die rund um die Uhr liefen, waren am schlimmsten dran. Sie wurden hektisch und apathisch. Sie konnten sich kaum aufraffen, sich zu erheben und zum Wassernapf zu gehen, und dann wieder schienen sie die aufgestaute Energie in einer einzigen wahnsinnigen Entladung abzubauen. Sie bissen und kratzten sich, daß so mancher von ihnen chirurgisch versorgt werden mußte. Die Art, wie sie die Informationen verarbeiteten, ähnelte der Wirkung mancher Drogen, die Halluzinationen erzeugen. Ich mußte nach vier Wochen den Versuch abbrechen, weil die beginnende Herzverfettung, die ersten Infarktanzeichen und die ständig zunehmende Aggressivität nicht mehr in erträglichen Grenzen zu halten waren. Ich entließ also die Tiere in einen Lernkäfig, wo es noch immer neun Monate dauerte, ehe sie Normalverhalten gelernt hatten. Die KasparHauser-Tiere hatten dasselbe Programm in vier Wochen absolviert. Das waren die Versuche. Durchaus legitim, wie Sie zugeben müssen. Nicht aber die Schlußfolgerungen, die ich daraus ableitete. Nora, so dachte ich, ist ein wenig in der Situation der Gruppen eins und drei. Sie lebt isoliert, fernab der Menschen. Das hat sie mit der Betongruppe gemein. Und sie lebt aber auch wie die Filmwandgruppe, denn bei ihrem Alter hat sie schon eine derartige Flut von Informationen aufgenommen, ähnlich den armen Affen, vor der Leinwand. Und so meinte ich nicht anders, als daß es einen Weg geben könnte, einen Teil der Ballastinformation aus Noras Speicher zu verbannen, sie einfach zu löschen, um ihr wieder Interesse und Freude am Leben zu geben. So war meine Gedankenkonstruktion. Ja, ich sehe, Ainina, wie Sie lächeln. Lächeln Sie nur; im nachhinein war auch mir klar, wie dumm das war. Hätte ich nur einmal den Fungi den Rücken gekehrt, hätte ich einmal wieder in meine KFAAufzeichnungen geschaut, mir wäre wieder eingefallen, daß das Unsinn ist. Nie kann der menschliche Speicher überfordert sein, weil der Mensch einfach alles löscht, was er nicht braucht. Aber Sie wissen, wenn sich eine falsche Idee einmal festgesetzt hat, kommt man schwer von ihr los. Man sieht manchmal das Einfachste nicht. Und so ging es mir. Nun ist mir ebensogut wie Ihnen bekannt, daß der Mensch die Summe seiner Erlebnisse ist. Er ist faktisch das Produkt seiner Vergangenheit. Das erschwerte mir die Sache, denn wenn ich O'Delta und Viktor und mich bei ihr gelöscht hätte oder ihr Wissen um ihre Eltern, dann wäre das einem seelischen Mord gleichgekommen, es wäre unausdenklich. Das wußte ich. Die Sache schien erst einmal undurchführbar. Bis mir das Kelvinfeld zu Hilfe kam. Im Hyadenbereich, so erfuhr ich einmal, herrscht ein zwanzigtausendmal so hohes Kelvinfeld als auf der Erde. Und bekannt ist auch, daß sich um jede Kaltaan-Lichtquelle ein feines Kelvinfeld
aufbaut. Ich glaubte verstanden zu haben, warum aus Kleinstbäumchen mächtige Gewächse geworden waren: durch das Kelvinfeld. Als ich selbst die Früchte mit einem extrastarken Kelvinfeld behandeln wollte, um die gesuchte Droge zu bekommen, wurde mir mitgeteilt, ich müsse sehr vorsichtig mit dem Kelvinfeld sein, weil inzwischen der Kelvinschock bekannt geworden sei, bei dem der Mensch bei scheinbar vollem Bewußtsein Millionen Informationen verliert. Das war also bekannt. Und ich glaubte mich meinem Ziel nahe. Ich wollte mit einem kleinen Versuch beginnen. Demzufolge wählte ich den unteren Grenzbereich, bereitete die Millisekundenumschaltung vor und suchte mir ein Objekt, bei dem ich versuchsweise sehen konnte, ob alles so sein würde, wie ich es plante. Die Wahl fiel auf den mir bekannten Robby, dessen überfüllte und völlig veraltete Speicher mir ein ideales Feld boten. Stellen Sie sich einen der Nebengänge des Labors im Innern der Erde vor, eine gutgetarnte Versuchsanlage, einen Antikelvinschild - und dahinter Amon Deltar... Ruhig brannten die Lichter im Gang, und das gleichmäßige Summen des Stromes erfüllte die unterirdische Welt. Aus der Ferne, jetzt besonders deutlich zu hören, drangen die Laute der Affen, Ratten und Meerschweine, aber auch die Töne einiger extraterrestrischer Tiere an mein Ohr. Eigentlich hörte ich nun zum erstenmal die Stimmen der ewigen Nacht. Verschlüsse knackten, und Relais schalteten sich ein. Es zischte in Schläuchen, und metallene Schleusen glitten dann und wann zur Seite. In den Decken knackte es immer wieder einmal. Die Zeit verging, ohne daß sich etwas ereignete. Ich hatte auch nicht vor, den armen Robby restlos zu verärgern. Ich durfte ihn also nicht per Anlage, rufen. Er wußte, daß ich hier unten bin, und einmal würde er mit seinem Gefährt kommen, um mich zu suchen. Das war dann der Augenblick. Sollte er hinterher wissen, was mit ihm geschehen war, dann konnte ich das als Zufall hinstellen. So lag ich und wartete, fühlte, wie bald eine Hand und bald wieder ein Bein einschlief, fürchtete zuletzt, daß dem ganzen Amon Deltar dieses Schicksal bestimmt sein würde. Schließlich hatte ich genug. Ich erhob mich, klopfte umständlich den Staub von meinen Sachen, wollte noch die Automatik außer Betrieb setzen, dann nach oben gehen und erst am folgenden Tag den Versuch fortsetzen, als ich metallene Schritte hörte. Sofort ließ ich mich wieder fallen, kroch in mein Versteck und spähte durch den Sichtstreifen. Er kam, aber er kam nicht allein. An seiner Seite lief ein ebenso veraltetes
Modell eines Chemierobbys, der mir manchmal zur Hand gegangen war. Die beiden Maschinen waren in ein intensives Gespräch verwickelt und würden die Falle überhaupt nicht bemerken, und wenn alles so sein würde, wie ich es mir dachte, wüßte keiner der beiden mehr, was er zuletzt gesagt hatte. Das ließ sich bei einem Gespräch sehr leicht feststellen. „Ich meine“, sprach der Gangrobby, und seine Kameraaugen starrten gegen die Decke, „wir sollten allen Ernstes ihnen klarmachen, daß es an der Zeit ist, uns in ein Reservat zu entlassen. Ich habe es absolut satt, diesen hageren Asthmatiker zu fahren. Er ist sehr primatoid.“ „Ja“, stimmte ihm der Chemierobby zu, „er soll laufen. Ist er tat sächlich Asthmatiker?“ Sie meinten anscheinend mich. „Natürlich nicht“, antwortete der Gangrobby „leider, möchte ich sagen, ist er es nicht. Und er ist so schön dürr. Ich wünschte es ihm. Aber wie das so ist, ich kenne keine Schimpfwörter, die ich benutzen könnte.“ „Aber ich kenne eins“, der Chemierobby glänzte den Gangrobby freudig an, „du Oxid.“ „Oxid“, der Gangrobby richtete seine Objektive auf die des anderen, „ein mächtiges Wort. Es klingt nach einem steppenbewohnenden Horntier...“ Die Kameraaugen des Chemierobbys blitzten verschmitzt auf. „Oryx“, erklärte er, „nicht Oxid. Es ist ein Schimpfwort. Wie auch: du Redundanz...“ Der Gangrobby war nun von der Überlegenheit seines Kollegen aus dem Bereich der Wissenschaft überzeugt. Ehrfürchtig klappte er mehrmals mit dem Programmatorscharnier. „Soll das hagere Oxid-Redundanz laufen“, schrie jetzt der Che mierobby, um dem Gangrobby zu zeigen, wie man diese Begriffe verwenden muß. Irgend etwas in der Tiefe des Gangrobbys klackte metallisch. „Oh!“, rief er nun, „oh, oh..., wie ist mir? Mir fällt auch eins ein. Ja, jetzt: du Hofmant.“ „Hofmant“, echote der Chemierobby ehrfurchtsvoll, „ein unge wöhnliches Wort, das ich nicht gehört habe. Und wir müssen es den Hofmanten... äh... Hofmants..., wir müssen ihnen klarmachen, daß alles schon einmal da war, und jetzt ist es genug mit der Umherfahrerei...“ „Richtig“, sagte der Gangrobby, „nieder mit ihren oxidierten Ge danken. Es war alles schon einmal da.“ „Natürlich, natürlich“, der Gangrobby begann vor Aufregung zu stottern, Wörter zu wiederholen, „nieder also mit allen diesen hofmantschen asthmatisiert-oxydierten Verfahrensweisen der drei aus dem Holzhaus. Es lebe Stein und Metall! Sie hängen mir schon zum
Hauptgang heraus, wenn ich sie nur kommen höre. Entweder sie wissen, was sie wollen, oder sie übertragen uns die Forschung.“ „Na klar, es war schon einmal da, wie ich es erwähnte“, murmelte der Chemierobby, dem sein Kollege offensichtlich zu radikal war, „auch die Tyrsoleenformel. Nur hat sie einer gelöscht. Auch aus meinem Bewußtsein gelöscht. Weil er es als Mensch konnte.“ „War das der Asthmatiker?“ wollte der Gangrobby wissen. „Nein, nein“, sagte der Chemierobby, „der war noch nicht konstruiert, würde ich annehmen. Ich weiß nicht, wer es war. Die Formel ist jedenfalls weg... Am Anfang war ein Isotop. Ein radioaktives Isotop. Ein Hexa... Ein Hexa...“ „Hexameter“, vermutete der Gangrobby. „Nein.“ „Ein Hexenschuß...“, der Gangrobby dachte nach, „das würde dann auch den Löschvorgang erklären...“ „Redundanz“, erklärte der Chemierobby sehr von oben herab, „was hat die Tyrsoleenformel mit dem Löschen zu tun? Dein Wissen scheint aus der Zeit der langen Feuerrohre zu stammen. Es ist ein radioaktives Hexa... Hexa... Hexa...“ „Übermangansaures Kali“, der Gangrobby gab den einzigen che mischen Begriff preis, den er im Speicher besaß. Mich überkam in meinem Versteck eine unheimliche Ahnung. Wie, wenn Nora die Formel schon lange gefunden hatte und sie nur vernichtete, damit Viktor leben blieb, bei ihr war...? Mußte ich am Beginn des Gesprächs einigemal an mich halten, um nicht laut loszulachen, so zeigte mir der letzte Teil der Unterhaltung, daß in diesen Räumen ein Geheimnis ruhte, das man nicht aufdecken durfte. Und jetzt wurde mir einiges klar: Ich wußte, wer seine Finger im Spiel hatte, wenn plötzlich ein Rattenstamm ausgetauscht war, wer dafür sorgte, daß wir uns immer wieder einmal im Kreis drehen. Ich wußte, daß Nora nicht die hilfsbereite Freundin war, sondern heimlich die Experimente störte, daß sie bereit sein würde, alles zu tun, um Viktor bei sich zu behalten. Das war mir in diesem Augenblick klar. Und noch mehr. Es war Wahnsinn, ihr Informationen nehmen zu wollen. Das Ergebnis würde immer schrecklich, depersonalisierend sein. Es mußte einen anderen Weg geben. Und dieser andere Weg hieß Viktor. Sie hing an ihm, also mußte er sie dazu bringen, mit ihm gemeinsam andere Dinge zu unternehmen. Sie sollte Archimedes für einige Jahre den Rücken kehren, und ich konnte unterdessen weiterarbeiten. Außerdem mußte ich alles erfahren, was dieser Chemierobby wußte. Zum Teufel mit der Falle! Ich richtete mich auf, doch es war zu spät: Die Falle schnappte zu. Ein bohrender Schmerz riß mir die Beine unter dem Leib weg, und ich stürzte hinter die Schutzwand. Das Licht flackerte beängstigend, eine Folge der kurzzeitigen Umpolungen.
„Jod“, plapperte der Chemierobby wie aufgezogen, „Jod ist tot. Not im Lot. Brot ist rot, und Sod ist got. Jod... jodeln... knödeln... knödeln mit den Mädeln bis zu ihren Fädeln. Eben.“ Dann schwieg er verwirrt, horchte seinen Wortkombinationen hinterher und drehte sich zweimal im Kreis, als sei da irgendwo die Logik, die ihm abhanden gekommen war. Ich lief auf ihn zu, packte ihn, schüttelte ihn. „Was für ein Hexa isotop?“ schrie ich, „Uranhexafluorid?' Plutoniumhexabromid? Americumhexajodid? Rede doch schon! Erinnere dich! Was weißt du?“ „Die asthmatische Redundanz“, jammerte der Gangrobby, „beim heiligen Hofmant...“ „Jedes Isotop“, belferte derweil der Chemierobby, und ich stieß ihn, daß er gegen die Wand polterte, „sagt stopp oder landet im Pott und verdient so das Lob vom Mob...“ „Hoppla“, kommentierte der Gangrobby den Vorgang. Dann trat er dicht an mich heran, blinzelte mich kurzsichtig mit seinen Objektiven an, verneigte sich, bis sein Kopfblech gegen die Beinmetalle knallte, und fragte so, ohne hochzukommen: „Sie haben Befehl für eine auf zwei von uns... Ich wollte Sie fahren...“ Er fiel längelang hin, rappelte sich mühsam auf, starrte unsicher um sich. Ich erinnerte mich des Namens, den er am Anfang seiner Karriere getragen hatte. „Ucki“, sagte ich zu ihm, „ich weiß, daß du einmal einen Kodiak niedergeboxt hast. Du bist schon ein tapferer Kerl.“ Er betrachtete mich aus blöden Augen. „Sie müssen mich mit je mandem verwechseln“, sagte er, „ich bin nicht der lange Asthmatiker... Bei allen Hofmants...“ Er drehte sich um, schlurfte mit hängendem Kopf davon. Wahrscheinlich folgte er dem Befehl eines zentralen Sicherheitsrelais, das ihn zur Generalreparatur oder zum Schrottplatz dirigierte. Es war das letztemal, daß ich ihn in Archimedes sah. Er ist nicht mehr zurückgekehrt. Sie werden ihn kaum erneuert haben. Die fünfte oder sechste Generation der Robbys, kleine schweigsame, aber hochenergetische Maschinchen, war an die Stelle der humanoformen getreten. Weder Nora noch Viktor fragten je nach dem Verbleib von Ucki, aber ich sah es an Noras Augen, daß ich ihr etwas genommen hatte, etwas, was zu ihrer Welt gehörte... Ich habe natürlich die Früchte mit dem Kelvinfeld behandelt, aber auf die Idee, in das Hirn des Menschen einzugreifen, auf diese Idee, Ainina, bin ich nie mehr gekommen.
Hyanodendron tyrsoleenii Sie schritten, die Medizinerin Ainina und der Wissenschaftler Amon Hater, geehrt mit dem Namen der Weise, durch das Ovale Gartentor. Die Luft war samtweich. „Oh“, sagte Ainina, „wie schön.“ „Ein Bakterienfilter und eine Staubberuhigungsanlage“, erklärte Hater und sah die Frau an, „sorgen dafür, daß wohl alle Aromen und Essenzen der Steppe zu uns gelangen, aber nicht der unangenehme Wind mit seinen Wagenladungen voll Sand. Im Haus sind auch ein Badebassin und eine Sauna. Man verweichlicht beileibe nicht, wenn man sich die Annehmlichkeiten der Technik ins Haus holt. Nur wenn man sich aus ihnen die Welt nachbauen will, dann schwächt es einen... Das Nora klarzumachen, war nicht leicht. Sie wollte es nicht einsehen...“ „Wir werden sicher ins Haus gehen“, sagte Ainina, „und ich werde Ihre Mutter kennenlernen. Das haben Sie doch vor? Wollen wir uns nicht vorher ein wenig auf diese Bank dort setzen?“ Hater führte Ainina zu der kleinen Bank. „Was ist denn das für Material“, fragte Ainina, nachdem sie sich gesetzt hatte, „das scheint etwas für Automaten zu sein. Menschen dürften hier kaum sitzen, was?“ „Sagen Sie das nur nicht meiner Mutter“, Hater lachte, „es ist unsere altehrwürdige Familienbank. Sie soll schon im Pergond-Sebalschen Lager in Austras gestanden haben und Zeuge des ersten Kusses der beiden gewesen sein. Auf dieser Bank wurde ich gestillt. Sie hat Tradition. Nichts gegen die Bank...“ „Kein Wunder“, sagte sie, „daß Sie nicht seßhaft geworden sind...“ Sie lachte kurz auf. „Höre ich jetzt den Schluß?“ „Sie werden ihn hören“, sagte Hater. Im Sternbild des Taurus gibt es zwei mit bloßem Auge sichtbare Lichtergruppen, die Plejaden und die Hyaden. Von den Plejaden, dem Siebengestirn, so wollten es die Indianer Mittel- und Südamerikas wissen, war der rotbärtige Gott Quetzalcoatl gekommen, hatte ihnen das Leben und ihre Gesetze gebracht. Hatte sie gelehrt, farbige Baumwolle zu züchten, und ihre Kultur zu einer nie gekannten Blüte gebracht. Aus den Plejaden war auch die Urmutter aller Indios, Orjana, gekommen, war auf dem Titicacasee gelandet, hatte achtzig Kinder geboren und war dann zu den Sternen zurückgekehrt... Aus dem Regengestirn, den Hyaden, kam eine Frucht. Die Frucht des Baumes Hyanodendron tyrsoleenii. Diese Frucht hatte alles versprochen und nichts gehalten. Es gibt wohl jene grazilen Wesen mit den blaßblauen Haaren, der gackernden Stimme und den gefächerten Federschwänzen, die hüpfend die Parks durcheilen, sieben bis elf Eier legen und die Küken säugen, die Urogallo quadrupedus deltarii, die man
allgemein die vierfüßigen Auerhühnchen nennt. Es gibt sie, weil ich einmal Birkhuhneier mit einem Tyrsoleenabkömmling beimpft habe, um das Präparat zu testen. Statt die Eier zu vernichten, wie ich es gedacht, aber nicht aufnotiert hatte, legte der Automat sie in den Brutschrank zu anderen Eiern, meist Findlingen aus der Steppe, und so schlüpften die kleinen Vierfüßer eines Tages aus, lehnten Körner und Insektenpellets ab und wuchsen erst, als es der Automat mit Milch versuchte. Ein Ge danke, der mir beispielsweise nie gekommen wäre. Milch für Vögel. Aber der Automat ist wahrscheinlich von der Vierfüßigkeit und den Haaren ausgegangen. Nebenbei sind diese Tiere langlebiger als sonst ein Vogel. Sie übertreffen selbst Papageien und Kolkraben. Was aber ist ein anmutiges Tier in einem gepflegten Park, wenn nicht weit davon, jenseits aller Freude, in einem Haus Menschen liegen, die an Hyperverpilzung und Zellkernverklebung sterben, wenn sich das beginnende Alter nicht mehr mit Runzeln und Lachfältchen ankündigt, sondern durch höllische Schmerzen, Leid, Apathie und innere Lysierung? Was ist das eine gegen das andere? Und eine neue Krankheit beginnt ihren mörderischen Siegeszug: die Zellkernermüdung... Die Frucht hatte nicht gehalten, was sie versprochen hatte. Ich ließ im Computer alle radioaktiven Isotope, die eine HEXA-Bindung eingehen können, durchspielen, denn die letzten Sätze des Chemierobbys, vor seiner Speicherzertrümmerung, waren in mir haften geblieben. Die Zahl der möglichen Verbindungen war groß und der Computer zeigte an, daß eine dieser Varianten unmöglich in der gesuchten Verbindung enthalten sein konnte. Ich kam nicht einmal darauf, daß die Maschine ihrem Programm, das ihr jemand mit voller Absicht eingegeben haben konnte, blind folgte. Ich nahm es erst einmal an, bis ich darauf kam, daß der Chemierobby ja auch eine Maschine war und ebensowenig lügen konnte. Ich wurde skeptisch, betrachtete den Computer mit Mißtrauen und rechnete fortan mit einem kleinen Handrechner, der auch mündliche Befehle entgegennahm. Den holte ich mir aus Wendynck, damit ich die Gewißheit hatte, daß sich niemand an ihm zu schaffen gemacht haben konnte. Mit diesem Gerät ging ich noch einmal den Bericht der Boje 14 222 durch und den Markus-O'Delta-Rapport. Und siehe da, mein Gerät detektierte einige gelöschte Werte, die ursprünglich einmal vorhanden gewesen waren. Die gesuchten Daten waren nicht im Speicher, aber ihre Passagespuren waren in den Leitungen, und von ebendort holte ich sie mir. Einmal hatte O'Delta sehr präzise Werte betreffs des Kelvinfeldes gegeben, und dann hatten alle drei Flugeinheiten, die Boje 14222, die Archimedes und die Spindel, die Passage eines Newtonstrudels registriert. Newtonstrudel sind schon lange bekannt. Kelvinfelder sind neu. Newtonstrudel...
Das bedeutete, da diese Newtonstrudel immer nur als Milliarden feinster Verästelungen auftreten, daß ein Teil der Früchte mit dem Strudel Kontakt hatte, während ihn ein anderer Teil unbehandelt passierte... Also Kelvinfeld und Newtonstrudel... Winzigste Mengen eines Isotops mußten da von allein entstehen. Etwas, was in unserer Atemluft war. Also Cl zum Beispiel. Wir würden ja sehen. Als ich mich belesen hatte, zweifelte ich daran, daß unser guter alter Aktor die Mengen Energie produzieren konnte, die ich benötigte. Aber auch das würde kein Hindernis sein. Zuerst einmal galt es, die komplizierte Apparatur aufzubauen, die beide Kräfte gleichzeitig erzeugen sollte. Es war das Werk von Monaten, obwohl ich eine Anzahl modernster Robbys angefordert und auch bekommen hatte. Das Komplizierte war eigentlich, daß die eine Apparatur erst bei plus 1200 Grad Celsius funktionierte, während die anderen bei minus 123 Grad ihre Tätigkeit schon einstellte. Zudem mußten beide Apparate ziemlich dicht beieinander stehen, damit ihre Kräfte einen gemeinsamen Fokus fanden. Wie gesagt, es dauerte Monate. Aber schließlich war alles vorbereitet, und ich flog hinüber nach Euras, um bei der Weltbehörde einen dreiminütigen zusätzlichen Energiestrom zu beantragen. Es ging alles sehr unbürokratisch zu, und schon am späten Nachmittag hatte ich jene Karte in der Hand, die ich nur in den Weltkommunikator von Archimedes zu stecken brauchte, um genau zwölf Stunden später mit der Energie versorgt zu werden. Ich blieb noch die Nacht über in Euras, sah mir vieles an, unterhielt mich mit tausend Leuten und flog am Morgen zurück nach Austras eins. Das Kettenfahrzeug stand nicht in der Garage. Viktor war also unterwegs. Ich sprang in den Aufzug, fuhr hinunter. Eine unglaubliche Spannung war in mir. Ich stürmte den Hauptgang entlang, gefolgt von dem neuen Gangrobby, einem spinnenbeinigen, stummen Kasten - und blieb wie angewurzelt stehen. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Meine Versuchsanordnung war zerstört. Man hatte alles umgekippt und zerschlagen und zuletzt mit dem Fädner zerglüht. Da lagen Trümmer, Scherben, Asche und Staub. Nichts von dem war noch zu gebrauchen. Ich wandte mich ab, und nun war ich es, der Tränen vergoß. Es tröstete mich nicht, daß ich wußte, wer es getan hatte, und daß ich die Triebfeder meiner Mutter kannte. Dann verließ ich das Labor, stieg durch den Notausstieg nach oben und hatte eigentlich vor, fortzulaufen, hinaus in die Steppe. Aber ich konnte nicht einmal das. Meine Füße trugen mich, scheinbar gegen meinen Willen, in das Zimmer von Nora. Sie saß wie immer in dem Sessel und hatte das unvermeidliche Buch in der Hand. Ich nahm es ihr
ab, und sie leistete keinen Widerstand. Ich riß daß Fenster auf und warf die Seiten hinaus. Ich ließ sie davonflattern, und der Wind bemächtigte sich ihrer. „Laß dieses Buch“, schrie ich dabei, „laß es, und fahre einmal hinüber, fliege einmal nach Euras. Sieh dir die Krankenhäuser an. Geh in die Kinderstationen. Sieh dir an, wie Tausende kämpfen, so wie du einst um Viktor gekämpft hast. Und ihnen allen bleibt nichts anderes als das, was dir auch blieb: Hirnmasse. Nervenstränge. Keine Menschen mehr. Sieh sie dir doch an, ehe du dein grausiges Versteckspiel fortsetzt. Nur damit er bei dir bleibt, ein paar Jahrzehnte, ein Jahrhundert, nur damit er nicht erlangt, was er schon lange verdient hat, opferst du mein Leben und das Leben von hunderttausend anderen. Ich weiß jetzt, wie es gemacht wird. O ja, ich weiß es. Und ich lade mir das Kettenfahrzeug voll Teu felsfrüchte und mache meine Versuche anderswo. Aber du, du bist blind. Denn du verlierst dann nicht nur ihn, sondern auch mich und die anderen Menschen. Alles verlierst du. Ich will dir noch etwas sagen, etwas, was du selbst nicht weißt: Die Formel ist die Vorstufe für das Präparat. Es wird noch Jahre dauern, bis das Medikament da ist, das die Krankheit beseitigt, ohne das endlose Leben zu bescheren. Die Formel ist nicht der Stein der Weisen. Sie ist eine Etappe in die richtige Richtung... Mein Gott, man kann doch aus rein persönlichen Gründen nicht die Menschheit in den Krankenhäusern vergehen lassen...“ Der leere Buchdeckel folgte den Seiten und flatterte davon. Meinen Zorn und meine Verzweiflung hatte ich hinausgeschrien, den Gedichtband zerfetzt. Ich stand mit einemmal ausgehöhlt und leer in dem Zimmer. Sah auf diesen trügerischen Leib, der so schlecht zu Nora paßte, in das verzweifelte Gesicht, in dem die Tränen in den Augen schimmerten und doch kein Laut die Lippen durchdrang. Sie saß, starrte mich an. „Ich weiß jetzt“, sagte sie nach einer ganzen Weile, „wie er war. Ich hatte über die trennende Zeit hinweg eine Begegnung mit deinem Vater ... Er hat zu mir gesprochen. So wie kein anderer Mann mit mir reden würde. Nur er durfte das, denn es ist sein Kind, das ich austrug.“ Sie sagte das alles so ruhig und sachlich, als ginge es sie schon nichts mehr an. Dann stand sie auf und verließ den Raum. Ich wußte genau, was sie tun würde. Ich ging ihr nicht hinterher, und es interessierte mich nicht einmal, wo sie die Karte, das Kristall oder das Diarium versteckt, wie sie es abgesichert hatte. Es war mir in diesem Moment gleichgültig wie alles, was um mich her geschah.
Ich sah aus dem Fenster, bemerkte den Kuskus und die Känguruhs, sah die Kakadus und Sittiche, die Vielfalt des Lebens. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, vielleicht so: Als ich ankam, da war mir Archimedes ein gigantischer Ort, eine neue, eine unheimliche Welt. Jetzt aber, als ich hier am Fenster stand, wurde dieser Ort klein und kleiner, winzig. War nichts als ein unauffindbares Staubkorn im Getriebe der Weltordnung. Dann kam Nora zurück. Ich hatte nicht gehört, wie sie in den Raum kam, denn ich war ganz auf die verschiedenartigen Töne und Geräusche der Steppe konzentriert. Meine Gedanken waren weit weg in der Welt. Ich hörte wohl das ferne Arbeiten aller lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten und das mächtige Donnern der Raketentriebwerke. Nora bewegte sich außerhalb meiner Aufmerksamkeit. Erst als sie ihre Hände auf meine Schultern legte, als sie sich an mich schmiegte und mich fragte, ob ich wenigstens so lange in Archimedes bleiben würde, wie mir Lebenszeit vergönnt sei, da wurden mir ihre Nähe, ihre Einsamkeit und ihre Verzweiflung bewußt. Sie reichte mir wortlos ein altes Diarium. Ich schlug es auf und fand auf der ersten Seite die Formel, die ich so lange gesucht hatte. Ich erkannte sie sofort. Wußte, daß sie es war. Das war der Ausgangspunkt für die weitere Forschung. Eines Tages würden alle Krankheiten überwunden sein... Am frühen Abend, die Sonne war gerade untergegangen, trat ich hinaus auf die Terrasse. Es war mir, als hätte mich jemand gerufen. Ich blickte mich um und sah auf der Bank Viktor sitzen. In dem Freudentaumel, der mich ergriffen hatte, war mir sein Schicksal entfallen. Er sah nach dorthin, wo ein letzter roter Streifen die Gewächse der Steppe als Silhouetten hervortreten ließ. Über uns, unerwartet hell und glänzend, stand der volle runde Mond. Sein immer stärker werdendes silbriges Licht machte aus dem Haus eine metallische Burg. Die Nacht war weit und klar, und die Zikaden begannen soeben ihr betäubendes Lied, und das Schnarren der Nachtschwalben und Baumfrösche wurde lauter und lauter. Ich setzte mich neben Viktor auf einen Stuhl. Sah ihn an, dann wieder an ihm vorbei und beobachtete das Kreuz des Südens, das in seiner funkelnden Pracht alles übrige überstrahlte. Viktor lächelte mir zu. Lächelte anders als sonst immer. Er sah aus wie ein Mensch, der nach einem langen und schweren Tag den verdienten Feierabend genießt. „Nun“, Viktors Lächeln hielt an, erschien mir mit einemmal weich und ohne den üblichen Spott, „hast du deine Mutter überzeugt? Es war sicher nicht leicht. Aber das spart so viel Zeit und ungezählte Menschenleben. Du warst auf dem rechten Weg, Junge...“
Ich mußte schlucken, denn ich erkannte in dem Wort Junge und auch in der Art, wie Viktor sprach, meinen Instrukteur wieder. Jetzt waren sie beide zu einem Menschen zusammengeflossen und der war mein Vater. Mehr, als der mir sonst so unbekannte Commander. „Du bist auf dem rechten Weg, Amon“, fuhr er fort, „aber vergiß nie, was du hier erlebt hast. Du ahnst nicht, wie alt man werden kann. Und wie tot man dabei sein kann ... Eine Menschheit von Autisten würde in einer Generation ausgestorben sein. In einer einzigen Generation ... Wie sollten sie zueinander finden? Wie könnten sie etwas schaffen? Du sollst es nie mehr vergessen, Amon...“ Das ist nicht der Viktor, den ich kenne, habe ich gedacht, das ist ein Mensch, der schon lange nicht mehr bei uns lebt. „Du hast die Formel nie gesehen?“ fragte ich erschüttert. „Nein“, sagte er, „bis heute Abend. Jetzt kenne ich sie. Es ist eine Formel, die sie schon vor langer Zeit entwickelt hat. Ich weiß, wann sie sich das Diarium besorgte, und weiß, wann wir diesen Weg beschritten haben. Ich war unterwegs, als sie experimentierte. Klüger als du, Amon, denn sie benötigte keine Zusatzenergie. Als ich zurückkam, sah es ebenso aus, wie es war, als du heimkehrtest. Nur: Sie hatte die Formel. Sie hat dann nur noch gelogen - aus Verzweiflung. Und ich habe mich belügen lassen. Sie hat Computerprogramme gefälscht, Ratten vergiftet, und immer wenn ich einen erfolgversprechenden Ansatz hatte, hat sie abgeraten. Ich hätte mich auch weiter belügen lassen. Daran siehst du, daß ich ein Mensch bin, keine Maschine. Ich lasse mich belügen...“ Das letzte klang unerwartet hastig, angstvoll, als wollte er in dieser letzten Stunde einen Verdacht in mir zerstreuen. „Wenn mich ein Fremder fragen würde“, sagte ich da und sah ihn gerade an, „wer du bist, ich würde ihm sagen: mein Vater.“ „Du weißt“, sagte Viktor mit belegter Stimme, „daß ich nicht weinen kann. Ich sehe die Welt nicht durch meine Augen ... Aber ich möchte es jetzt. Weinen...“ Erschwieg eine mir endlos erscheinende Zeit. „Ich habe mich schon von Nora verabschiedet“, sagte er dann, „und habe dich gerufen, um mich nun auch von dir zu verabschieden. Die Formel hast du. Austras ist dir eine Heimat. Jetzt braucht mich keiner mehr. Leb wohl, Amon, leb wohl. Paß gut auf deine Mutter auf. Wenn ihr jemand helfen kann, dann du. Sie hat dich nötig...“ „Ich weiß“, sagte ich und spürte eine unbekannte Trauer in mir aufsteigen, „ich weiß...“
Viktors Gesicht erschien mir nun eigenartig milchig übergossen, und ich konnte nicht sagen, ob dies der Mond oder etwas anderes war. Er sah jung und freundlich aus, und ich vermochte mir den Mann vorzustellen, den meine Mutter geliebt hatte. Das hier, das war er. „Du weißt, Amon“, sagte er, „daß dies damals meine Forderung war. Ich wollte nicht einige zehntausend Jahre existieren oder vielleicht hunderttausend. Es ist grauenhaft, sich so etwas vorzustellen. Und ich habe es ausgehandelt, wie du auch weißt. Und ich bin froh, daß ich morgen früh nicht mehr erwachen werde und feststellen muß, daß ich meine Haut, meinen Körper nicht fühlen kann. Darüber bin ich froh. Du ahnst nicht, wie müde ein Menschenhirn sein kann. Amon ..., Amon ...“ Er sagte jetzt nichts mehr. Er blieb so sitzen, wie er gesessen hatte. Aber er wirkte fremd. Es war nicht mehr Viktor. Es war eine Maschine. Ein Maschinenmensch mit gläsernen, leblosen Augen, in denen sich der Mond ungebrochen spiegeln konnte, ohne daß ein lebendes, fühlendes Hirn etwas hinzufügte...
Umwege und Wege „Kommen Sie“, sagte Amon Hater, „wir gehen ins Haus.“ Ainina stand auf, strich sich über die Haare, folgte dem Mann. Eine Gruppe Frauen und Männer kamen ihnen entgegen, grüßten und verschwanden nach draußen. Die Medizinerin folgte Amon Hater dichtauf. Am Ende des Korridors, den sie entlanggingen, war eine alte hölzerne Tür. Die Zeit hatte sie dunkel, fast schwarz werden lassen. Amon klopfte leicht an und öffnete. Ainina sah den Sessel und die blauschwarzen Haare, die ihn überragten. Hater schloß leise die Tür. „Mutter“, sagte er laut, „ich habe Besuch mitgebracht.“ „Schön“, sagte eine kindlich-helle Stimme, sagte es gelangweilt. „Es ist eine Medizinerin, Mutter“, sagte Hater, „sie will Tyrsoleen, weil ihr Kind sonst sterben wird. Bald sterben wird.“ Hater nahm Ainina bei der Hand und führte sie um den Sessel herum. Ainina sah das junge zierliche Mädchen, sah die schönen Züge, die großen glänzenden Augen und die vollen Lippen, die schimmernden Zähne, und sie blieb fasziniert stehen. „Darf ich Sie anfassen?“ fragte sie leise.
„Wenn es Ihnen Spaß macht“, Nora schaute unverwandt aus dem Fenster, nahm keine Notiz weiter von den Eingetretenen. „Würdest du ihr Tyrsoleen geben“, fragte Hater, „wenn du wüßtest, daß das Mädchen das gleiche Schicksal erwartet, das dir widerfährt?“ „Ich habe ein schönes Gedicht gefunden“, sagte Nora, „du müßtest auch Gedichte lesen, Amon.“ Amon trat dicht an Ainina heran. „Ich habe Ihnen die Apokalypse versprochen“, sagte er, „die Apokalypse, durch Tyrsoleen ausgelöst. Das hier ist sie... Nun, wollen Sie das Präparat für Ihre Tochter?“ „Haben Sie es denn schon als Stoff, Aininas Augen flackerten, „steht es nicht nur auf dem Papier?“ „Gehen wir davon aus, daß eine kleine Menge schon existiert“, erklärte Hater ruhig, „wollen Sie diese Nebenwirkungen in Kauf nehmen?“ „Tränen schössen der Medizinerin in die Augen. „Bitte“, sagte sie, „geben Sie es mir. Ich bitte Sie...“ „Sie lassen sich von diesem Leib da täuschen, wie ich mich allzulange von Viktors Plasthülle habe betrügen lassen. Er war so wenig Maschine, wie sie Mensch ist...“ „Sie sind verrückt“, schrie Ainina, „Sie sind ein alter, wahnsinniger Lügner und Betrüger. Sie ist ein Mensch, und wenn meine Tochter lebt, ist sie erst recht ein Mensch, und die Zeit, die Zeit wird diesmal für sie arbeiten. Es wird das andere Mittel geben, das alles auf ein normales Maß bringt. Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie daran arbeiten wollen. Und wenn Sie nur ein Wort sagen, werden Hunderte zu Ihnen kommen, Tausende, die redlich bemüht sein werden, die Versuche schnell zu beenden. Auch für Ihre Mutter...“ „Sie werden kommen“, sagte Hater grob und provokativ, „um sich das anzueignen.“ „Was sind Sie für ein Mensch“, empörte sich Ainina, „haben es sich Nora und Viktor wissentlich angeeignet? Haben es sich O'Delta und Oskuse angeeignet? Haben es sich Tyrsos und Janka aneignen wollen? Hat es sich einer von denen aneignen wollen? Und das war damals. Damals, Hater, als noch ein Hofmant möglich war. Sie haben viele Menschen kennengelernt. War ein Hofmant unter ihnen? Einer? Und wenn schon neben Hofmant ein Rabause und ein Oskuse möglich waren, wie viele mag es dann jetzt geben? Wie viele, Hater?“ „Ach“, Nora hob lächelnd den Kopf, nickte der erbitterten Ainina freundlich zu, „kennen Sie auch Herrn Hofmant?“
„Nein, nein, nein“, rief Ainina erbost, „mir reicht es, daß ich ein Exemplar eines prähistorischen Menschen kennengelernt habe, Ihren Sohn nämlich. Der reicht mir ganz und gar...“ „Sehr eigenartig, Mutter“, wandte sich Hater an Nora, „dabei hat sie mir vorhin noch erklärt, daß sie meine Partnerin werden möchte. Ich finde das eigenartig...“ „Ich“, Ainina lachte grellend auf, „die Partnerin eines Selbstgerechten, der nichts verantworten will. Der nur an sich denkt? Wissen Sie eigentlich, warum Ihre Mutter so allein ist? Ich will es Ihnen sagen: Weil sie damals mit Viktor unterwegs war und nicht mit einer ganzen Schulklasse! Einer allein ist immer verloren. Und wenn die Umwelt sich wandelt und die Menschen sich wandeln, dann ist diese Umwelt fremd für ihn. Aber eine Gruppe, eine ganze Gruppe, wie klein sie auch sein mag, die besteht. Die besteht immer und überall. Aber darauf kommen Sie ja nicht. Und wenn es Geheilte gibt, dann können sich diese solange mit Ihrer Mutter zusammenschließen und über ihre gemeinsamen Erlebnisse sprechen, bis das Mittel da ist, das alles wieder reguliert. Nein, soweit können Sie nicht denken. Für Sie ist jeder Umweg ein Weg...“ „Ich stelle mir Ihre Welt lustig vor“, spottete Hater, „ein langer Gang. Hunderttausend Sessel. Hunderttausend Fenster, und vor jedem sitzt einer mit einem Buch. Hübsch, wie?“ „Er versteht mich nicht“, die Medizinerin stampfte mit dem Fuß auf, „können Sie ihm nicht sagen, was ich meine? Das ist doch nicht so schwer verständlich. Einer allein geht psychisch zugrunde. Schon fünf oder noch mehr tauschen sich aus... Das meine ich, und das begreift er nicht...“ Sie wurde unvermittelt ruhiger. Fast leise. „Und die Toten“, sagte sie, „diese endlose Opferkette... Wofür sind denn alle diese Leute gestorben? Wofür denn? Dafür, daß ein Mann das Tyrsoleen vor der Welt verschließt und wartet, bis ein anderer eine andere hervorragende Substanz gefunden hat, um sie dann mit ihm zu tauschen? Das hatten wir vor vielen hunderttausend Jahren. Das war die Urgesellschaft. Oder was wollen Sie?“ „Ich will keine Welt, die angefüllt ist mit vergreisten Menschen, die wie Jungen und Mädchen aussehen“, sagte Hater nur. „Und wenn Ala Rabause so argumentiert hätte“, Ainina dachte nach, sah Hater nicht mehr an, „und Jaun und Sey 127, wenn die alle so argumentiert hätten? Sie selbst haben das Wort von der Ungeduld gebraucht, haben gesagt, daß es unser Menschsein ausmacht, Wünsche zu haben, ungeduldig zu sein und auch loszufliegen, wenn der Apparat noch nicht sicher ist, wie man sich so etwas vorstellen kann. Und nun, wo ist Ihre Ungeduld? Wo ist sie? Wo ist das Drängende in Ihnen? Ein Geheimniskrämer sind Sie... Verzeihen Sie...“
Hater sah die Frau groß an. Lange und durchdringend. „Finden Sie“, sagte er, „daß ich mehr Zweifel habe, als es gut ist?“ Ainina antwortete nicht, winkte nur ab. Sie hielt den Kopf gesenkt. „Sie wollen nicht mehr antworten“, sagte der Wissenschaftler, „Sie sind enttäuscht von mir... Verständlich...“ „Ich hatte tatsächlich vor“, Ainina preßte die Lippen kurz zusammen, ehe sie fortfuhr, „Ihnen anzubieten, mich bei Ihnen mitarbeiten zu lassen. Mehr noch, ich wollte bei Ihnen sein. Bei Amon Hater... Ich möchte es nun nicht mehr. Nicht das eine und nicht das andere.“ „Mutter“, sagte Hater leise, „wir lassen dich jetzt einmal allein. Bis nachher also...“ Er führte Ainina hinaus, und sie traten beide in den Aufzug, und es ging tief hinunter. Sie waren in einem Bettentrakt. Über eine Spiegelanlage wurden alle Räume mit hellem Tageslicht beleuchtet. Die Betten in den Zimmern waren leer. „Hier werden die ersten Patienten liegen“, erklärte Hater, „die ersten, die von der Hyperverpilzung befreit werden. Dann, wenn es soweit ist...“ Ihre Schritte hallten in den menschenleeren Räumen überlaut. Ainina spürte, wie ihr Herz heftig zusetzte. Es schlug anders als normal. Dunkler, dumpfer... Am Ende des langen Traktes kam ihnen eine Schwester entgegen. Eine andere blieb auf ihrem Sesselschweber sitzen. „Nun“, fragte Hater, „was ist?“ „Es ist wunderbar“, sagte die Frau, „einfach wunderbar. In sechs Stunden ist alles abgeschwollen. Der Patient schläft seiner Genesung entgegen.“ „Fein“, sagte Hater, „übrigens kann ich mir vorstellen, daß dies hier Ihre Chefin wird. Sie heißt Ainina.“ Die Frauen gaben sich die Hand. „Nur eine Komplikation wird sich ergeben“, sagte Hater, „sie werden lange Jahre ohne mich auskommen müssen.“ Die Schwester zuckte sichtlich zusammen. „Was ist denn geschehen?“ fragte sie. „Ich habe mich gegen die allgemeinen Regeln des menschlichen Zusammenlebens gewandt, habe diese Regeln und Normen auf das gröblichste gebrochen. Man wird mich normalisieren müssen. Und das dauert bekanntlich lange...“ „Was..., was haben Sie denn getan?“ fragte Ainina verstört. „Ich habe ohne Einwilligung der Mutter ein hyperverpilztes Kind aus einer anderen Einrichtung hierherverlegen lassen. So etwas wird bestraft...“
„Und“, fragte Ainina und spürte, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte, fühlte, wie die Welt runder und runder wurde und ihr keinen Halt mehr bot, „und wo ist...ist...ist das...“ Sie konnte nicht weitersprechen, schrie etwas, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie sah erst jetzt, wer auf der Schäumermatte lag: Es war Soyosa, und sie sah aus wie ein ganz normales neunjähriges Kind und schlief mit einem freundlichen Lächeln dem Wunderland entgegen, das man Gesundheit nennt...