C.H.Guenter
Sterben
ist kein
Zeitvertreib
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR
Mit einem Kommandounternehmen beispi...
23 downloads
693 Views
706KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H.Guenter
Sterben
ist kein
Zeitvertreib
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR
Mit einem Kommandounternehmen beispielloser Art führten mittelalterliche Mönche in Irland den katholi schen Glauben ein. Dies zu einer Zeit, als jenseits der rauhen See, in England, noch finsteres Heidentum herrschte. Stark war dieses England jedoch, was seine Flotte und seine Armee betraf. In einem blutigen Feldzug unter warf Königin Elizabeth die Erste die Insel. Britische Grundherren brachten das Land an sich. Die Einwohner wurden entrechtet, Hunger und Elend ve rtrieb viele von ihnen. Hinzu kamen die religiösen Gegensätze. Wäh rend die englische Kirche sich reformierte, blieben die Iren streng katholisch. Jahrhundertelange Aufstände führten erst im Jahre 1937 zu einem souveränen irischen Staat. Aber ein Fünftel der Insel mit einem Drittel der Bevölkerung blieb weiterhin ein Teil des britischen Königreichs. Um dieses Nordirland mit der Hauptstadt Belfast ent brennen seitdem bürgerkriegsähnliche Auseinanderset zungen. Trotz Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft und Nato schwören irische Freiheitskämpfer, nicht zu ruhen, bis der letzte Engländer von der Gr ünen Insel vertrieben ist. In diesem Jahr bekam der Kampf um die Freiheit eine andere Qualität. Während er bisher hauptsächlich von den sozialen Unterschichten getragen wurde, faßte nun eine Gruppe von Männern aus der geistigen Elite des Landes einen verwegenen Plan… 3
1.
Der alte McIntire galt als der Bastler der Gruppe. Ei gentlich hatte er nie einen Beruf erlernt, brachte aber jeden Motor, jedes Auto, jedes Schiff, jede Maschine, und sei das Gerät noch so kaputt und verrostet, wi eder zum Laufen. Ebenso verstand McIntire sich auf den Umgang mit Waffen und Radiogeräten. Wenn einer eine Waschmaschine erbte oder einen Fernseher und die Fachwerkstatt ihm riet: „Am besten, Sie werfen den Schrott in den Shannon River“, dann ging er damit zu McIntire. Irgendwie hauchte er dem Patienten neues Leben ein. Deshalb nannten sie McIntire auch den Inge nieur. Im Krieg hatte McIntire einen deutschen Kapitänleut nant am Strand gefunden, dessen U-Boot die Engländer im North Channel tauchunklar geschossen hatten. In seinem Kahn hatte er ihn bei Nacht über den Lough Foyle nach Greencastle gerudert. Greencastle lag auf dem Gebiet der Republik, und die war neutral. Wieder zurück in seinem Dorf hatten die Engländer ihn verhaf tet und verhört. Dabei waren die Beine von McIntire, der damals ein Junge von siebzehn Jahren gewesen war, zu Bruch gegangen. Seitdem hinkte er. Bis zu den Fol ternächten in der britischen Kaserne hatte er die Eng länder nur verachtet. Nun haßte er sie. Nach dem Krieg trat er der IRA bei. In den vierzig Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er für die Freiheit Nordirlands vom britischen Joch gekämpft. An diesem Spätsommertag, als sein alter Kumpel Cul lican ein Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein Koffer geschnallt war, in seine Werkstatt schob, hatte der alte McIntire für Sekunden ein gemischtes 4
Gefühl. Zum einen wußte er, daß die Kameraden wi eder einmal etwas Kompliziertes von ihm wollten, und zum anderen ahnte er, daß es der letzte Dienst sei, den er ihnen erweisen würde. Cullican, ebenfalls ein Veteran, lehnte das Fahrrad an die Wand, hockte sich auf die Werkbank und schaute McIntire bei der Arbeit zu. Dabei rauchte er Pfeife und nahm ab und zu einen Schluck Selbstgebrannten aus einer Aluminiumfeldflasche. „Machst ‘n da?“ fragte er, nachdem eine Viertelstunde vergangen war. ,,’ne Orgel“, antwortete McIntire und versuchte wei ter, dem Kolbenfresser des Brix-&-Stetton-Grasmäher motors mit Lösungsmittel und Holzhammerschlägen beizukommen. „Dachte schon, das wird ‘ne Nähmaschine.“ Wieder vergingen zehn Minuten. Dann bückte der Mechaniker auf. „Idiot“, sagte er, legte das Werkzeug zur Seite, drehte sich eine Zigarette, nahm einen Schluck aus Cullicans Whiskyflasche und wischte sich die Lippen am Overall ärmel ab. „Was willst du? Bloß gaffen?“ Der Besucher deutete zur Schuppenwand, wo das Fahrrad mit dem Koffer stand. Es war ziemlich neu und gewiß funktionsfähig. Es war der Vulkanfiberkoffer, der McIntire mißfiel. „Was ‘n drin?“ „Fünf Kilo C-vier“, erklärte Cullican, als ginge es um Nudelteig. „Aha“ „Plastiksprengstoff.“ „Woher?“ „Belfast. Vierte britische Panzerbrigade.“ McIntire nickte. „Zünder?“ 5
„Alles dabei.“ „Geklaut?“ Der rothaarige Cullican winkte ab. „Wo denkst du hin. Nur geliehen. Wo wir es wegge nommen haben, da kommt es auch wieder hin. Bißchen verändert.“ McIntire konnte sich denken, wie die Veränderung aussehen sollte. Cullican erklärte es ihm mit wenigen Worten. „Den Sprengstoff in den Fahrradrahmen und in die Reifen. Den Zünder ins Tretlager.“ „Ist das alles?“ höhnte McIntire. „Bis morgen.“ Der Mechaniker kalkulierte die Arbeit überschlägig: Den knetgummiartigen Sprengstoff zu Würsten zu dre hen und die Reifen damit auszustopfen, das ging ja noch. Aber um den stählernen Rahmen damit zu füllen, mußte er das Fahrrad zerlegen, die Rohre an mindestens zwei Stellen aufsägen, später wieder zusammenlöten, darüber lackieren und so weiter. „Du spinnst“, sagte er. „Unmöglich. Und wenn ich die ganze Nacht dranhänge,“ „Einen Tag“, schätzte Cullican, „brauchen sie, um das Fahrrad neben die Offiziersbaracke zu bringen. Und genau übermorgen, also Donnerstag, erwarten sie Be such aus London. Einen General, zwei bis drei Abge ordnete, vielleicht sogar einen Minister. Außerdem ist das Offizierscorps der Vierten Panzerbrigade versam melt.“ Der Mechaniker nahm die lederne Six-Pence-Mütze ab und kratzte sich. „Das wäre schön. Verflucht schön wäre das.“ „Ja, mal wieder ein richtiger Haufen Scheiße, statt immer nur Hammelkacke.“ McIntire machte den Grasmäher fertig, schob ihn ins 6
Freie und widmete sich dann dem Fahrrad. Wie er feststellte, besaß der militärische Sprengstoff bereits runde Stangenform, und die Stangen paßten knapp in den Fahrradrahmen. Nur der Zünder war Mist. Er arbeitete lieber mit Uhrwerkzündern als mit Säurezündern. Uhrwerke funk tionierten auf die Sekunde genau. Bei chemischen Zün dern mußte man eine Säurekapsel zerdrücken. Die Säure durchfraß einen Spanndraht, der den Schlagbolzen frei gab. Säurezünder hatten Toleranzzeiten bis zu fünf Minuten. Aber das Uhrwerk war nicht unsichtbar einzubauen. Außerdem tickte es. „Was gefällt dir nicht?“ fragte Cullican. „Alles“, brummte McIntire. „Dann wird es gut. Immer wenn dir was nicht ge fällt…“ „Du redest zuviel“, sagte McIntire und machte sich an die Arbeit.
Der Sprecher von BBC London TV machte das übli che traurige Gesicht für schlechte Nachrichten. „Heute in den Mittagsstunden“, begann er, „wurde ein neuer Anschlag auf die britische Ulster-Armee verübt. Durch eine Bombenexplosion in der Kaserne der Vier ten Panzerbrigade in Belfast sind mehrere Tote und Verletzte zu beklagen. Die Gebäude wurden erheblich beschädigt.“ Fotos wurden gezeigt. Dem Trümmerhaufen war le diglich zu entnehmen, daß hier eine erhebliche Menge Sprengstoff am Werk gewesen war. Die Ecke eines flachen Gebäudes fehlte ganz, und das Dach war eingestürzt. In der Times stand es dann schon genauer. 7
Der Pressesprecher der britischen Armee in Nordir land hatte erklärt, daß elf Personen, darunter ein Gene ral, getötet und weitere zweiundzwanzig verletzt wo r den seien. In der Hauptsache handelte es sich um Offi ziere und zwei weibliche Kasinobeschäftigte. Aus Kreisen des Inlandgeheimdienstes MI-5, der die Ermittlungen übernahm, verlautete, daß der Sprengsatz von der Irisch Republikanischen Armee (IRA) stamme. Die Bombe sei wahrscheinlich in einem Fahrrad, das am Offizierskasino abgestellt worden war, versteckt gewe sen. Wie Reporter ermittelten, handelte es sich um einen Sprengsatz mittlerer Größe. Durch die Explosion war ein Eckpfeiler der Kasinobaracke geborsten, was das Dach der O-Messe zum Einsturz brachte. In einer an grenzenden Lagerhalle war militärisches Gerät von erheblichem Wert zerstört worden. In Belfast, dem bevorzugten Territorium für Anschlä ge der IRA war die Hölle los. Die Polizeikräfte hatten Ringfahndung ausgelöst. Ganz Belfast galt als Sperrge biet. Mehrere verdächtige Personen wurden festgeno m men. Die Tatsache, daß von den zwanzig Offizieren inzwi schen weitere acht ihren Verletzungen erlegen waren, heizte die Verbitterung der Briten auf eine Weise an, daß sie alles verhafteten, was in Nordirland greifbar war und in Verdacht stand, mit der IRA zusammenzuarbei ten. Egal, ob Mann, Frau, alt oder jung. Colonel Liston war der Schärfste von allen. Er befeh ligte die Fahndungsgruppe mit den spektakulärsten Erfolgen. Er wählte seine Männer danach aus, ob sie die Iren nur haßten oder ob sie sie bis aufs Blut haßten. Selbstverständlich nahm er nur letztere auf. Sie nannten 8
sich die Liston-Boys und waren eine gefürchtete Bande. Sie kannten keine Gnade. Selbst der tapferste und mu tigste IRA-Kämpfer bekam in ihren Händen weiche Knochen. Männer aus Beton schmo lzen hin wie Butter in der Sonne, Wer lebend Listons Verhöre überstand, galt als Maso chist oder als Verräter. Auch zwei alte Veteranen waren ihnen diesmal in die Hände gefallen. McIntire und Cullican. „Die Sauerei mit der Fahrradbombe konnte nur dir einfallen“, sagte der Colonel und drückte seine Zigarette auf Mclntires Handrücken aus. Dazu erklärte er: „Hände sind relativ schmerzunempfindlich. Die Zun ge weniger. Wir ziehen sie dir mit der Zange raus und schneiden die Spitze ab, wenn du nicht redest.“ Da der Ire nur grinste, deutete der Colonel auf den Tisch, wo Reste des Fahrrades lagen. Aufgebauschte und zerfetzte Rahmenrohre, Felgenblech, ein Stück vom Tretlager. Jeder, der sich mit Explosionen auskannte, wußte, daß Fahrräder nur dann so zugerichtet wurden, wenn sie als C-4-Träger dienten. „Das ist deine Arbeit, McIntire.“ „Sir“, sagte der Ire, „wenn ich etwas nicht mag, dann ist es Fortbewegung durch Muskelkraft.“ „Du bist ja nicht damit gefahren. Du hast es repa riert.“ Dann schrie Liston, daß McIntire zusammenfuhr. „Vierzehn Tote!“ „Dachte es sind neunzehn“, sagte der Ire, stur wie nur was. Nach Stunden gab der Colonel auf. Ein Mann, ein Ko loß mit hundert Kilo Muskeln, nahm sich den Alten vor. Der Colonel ging hinaus. Als er sich ein Stockwerk höher eine Zigarette ansteckte, hörte er das Wutgeschrei des Folterknechts. Oben im Kasino sagte Liston zu seinem Adjutanten, 9
einem Captain: „So kommen wir nicht weiter.“ „Nein, so nicht, Sir.“ „Es ist wie mit Unkraut. Sie ziehen es heraus, daneben sprießt neues.“ „Und wenn er nichts zugibt, muß man ihn laufen las sen.“ „Wir haben Beweise.“ „Die taugen nichts, Sir. Selbst wenn sie was taugen, was passiert mit diesen Bastarden. Sie werden einge sperrt, man muß sie bewachen und durchfüttern. Jahr zehntelang.“ „Sollen wir Ulster etwa räumen?“ fragte der Colonel verbittert. Der Captain antwortete nicht. Wozu auch. England hatte nie auch nur einen Quadratfuß Boden freiwillig preisgegeben. Und seitdem die Juwele des Empires – Indien und Neuseeland, Australien und Ka nada – praktisch aus der Krone ausgebrochen waren, verteidigte man den Rest mit Zähnen und Klauen. „Man muß mal wieder ein Exempel statuieren“, sagte der Colonel. „Man muß sie verschwinden las sen.“ „Das führt nur wieder zu Gerüchten.“ „Je schlimmer, desto abschreckender.“ „Also wie immer, Sir.“ „Ja, wie immer“, entschied der Colonel. Colonel Liston and his boys brachten es fertig, daß der Zerstörer der Royal Navy, der die zwei Dutzend IRA-Verdächtigen nach London bringen sollte, nicht zur Verfügung stand. Dies aus guten Gründen. Denn die Iren mit einem Kriegsschiff Ihrer Majestät auf den Grund der See zu schicken, wäre nicht möglich gewe 10
sen. Die Häftlinge wurden also auf einen irischen Fisch kutter gebracht, der am Abend auslief. Sein Ziel war Liverpool. An Bord befanden sich außer dem Skipper noch Joe, der Maschinist, die Gefangenen und ein Sergeant aus Colonel Listons Einheit als Begleiter. Die Gefangenen waren im Laderaum untergebracht. Er stank noch immer nach Kabeljau, obwohl der Kutter seit zehn Jahren nicht mehr zum Fischen benutzt wurde. Er transportierte hauptsächlich Stückgut zur Isle of Man und anderen Inseln. Die Gefangenen waren doppelt gefesselt. Sie trugen sowohl an den Handgelenken als auch an den Fußgelenken Stahlachter. Kaum hatte der Kutter sich auf die hundertfünfzig Seemeilen lange Reise gemacht, als von Nordosten her schlechtes Wetter aufkam. Der Sergeant, der im Ruderhaus auf einer Backskiste hockte und Zigaretten rauchte, hielt sein Transistorradio ans Ohr. „Wetterbericht?“ fragte der Skipper, am Ruder dre hend. „Tanzmusik.“ Der Skipper zog den Stöpsel aus dem Sprachrohr und gab einen Befehl in den Motorraum. „Dreißig weniger, Joe.“ Der Diesel wurde leiser. Der Kutter verlor an Fahrt. Dafür arbeitete er weniger hart gegen die See. Außer dem änderte der Skipper den Kurs. Er schlug den Bogen nach Liverpool weit nördl icher. „Kehrst du um?“ fragte der Sergeant. „Zu spät.“ „Was dann?“ „Halte mich näher an die Küste ran.“ „Du machst also einen Umweg und fährst langsamer. 11
Was kostet das an Zeit?“ „Vier Stunden“, rechnete der Skipper. „Also zwanzig Stunden im ganzen.“ „Vor morgen mittag sind wir nicht da. Mehr als acht Knoten kann ich bei dem Wetter nicht laufen. Denk an die Gefangenen, Mann. Die armen Schweine da unten, die kriegen sonst das Kotzen.“ „Gefangene Schweine sind mir persönlich egal“, er klärte Colonel Listons Sergeant. „Aber mir ist mein Schiff nicht egal, Mann.“ „Dein Schiff ist stabil, Käpten.“ „Mit ‘nem Nordost ist nicht zu spaßen um diese Jahreszeit.“ Der Sergeant drehte an seinem Transistor einen ande ren Sender rein. Im Rhythmus der Musik wiegte er den Oberkörper. „Wie alt ist dein Kutter?“ wollte er wissen. „Mein Vater hat ihn vor dreißig Jahren, bauen lassen. Ich habe nur ‘nen neuen Perkins-Diesel eingebaut.“ „Na bitte.“ „Was, na bitte?“ fragte der Skipper. „Dann hat er tausend Stürme abgeritten und wird auch diesen überstehen. Oder?“ Der Mann am Ruder zuckte mit den Schultern. „Einer ist immer der letzte.“ Es lag nicht an dem Sturm, daß der Kutter nie mehr einen Hafen sah. Um fünf Uhr morgens – die Dämmerung hatte gerade eingesetzt, und an Backbord konnte man die Küste von Cumberland ausmachen – ließ der Sturm nach. Der Sergeant saß noch immer auf der Backskiste und hörte Radio. Doch mit einemmal – der Skipper dachte schon, er sei eingeschlafen – stand der Sergeant auf und trat hinaus an Deck. 12
„Ich muß mal“, sagte der Sergeant. „Aber bitte nicht gegen den Wind!“ rief der Skipper. Er sah den Sergeant auf Luvseite nach vorne wanken. Vor dem Mast – er trug schon lange keine Segel mehr und diente nur noch als Ladebaum für schweres Gut – geriet der Sergeant außer Sicht. Eine Minute später tauchte er wieder auf, kam aber nicht mehr ins Ruderhaus. Wie immer hielt er sein klei nes Radio ans Ohr und schien den Text eines Liedes mitzusingen. Wenige Sekunden später war es, als würde ein Blitz im Bug des Kutters einschlagen und dort eine Ladung Benzinfässer zünden. In der Luft hing aber gar kein Gewitter, und es gab auch keine explosive Ladung auf dem Kutter. Der Skipper fand also keine Erklärung dafür. Und schon kam es mit voller Wucht. Grellweiß wie die Sonne platzte etwas aus dem Laderaum. Der Kutter wurde hochgehoben, als würde ein Riesenwal ihn auf den Rücken nehmen. Nach kurzem Schweben krachte er in ein Wellental. Wie bei einem Papierschiff ging alles in Fetzen. Der Bug und das Mittelschiff barsten ausein ander. Wie bei einem Tornado in der Holzhandlung wirbelten die Planken hoch. Der Mast brach ab und zerschmetterte das Ruderhaus. Der Skipper sah den Sergeant durch die Luft fliegen und über Bord gehen. Er selbst wühlte sich aus den Trümmern des Ruderhauses, bekam einen Stahlschäkel auf den Schädel und erwachte erst wieder im eiskalten Wasser der Irischen See. Zwanzig Minuten später wurden der Skipper und der Sergeant von einer zufällig vorbeikommenden Motor yacht gerettet. Der Sergeant aus Colonel Listons Truppe war der ein zige Überlebende der Katastrophe, denn der Skipper erlag seinen Verletzungen, ehe die Yacht den nächsten 13
Hafen erreichte. Da der Sergeant aus Colonel Listons Truppe keine Meldung erstattete – schließlich war er es gewesen, der die Sprengladung an Bord des Kutters gebracht und gezündet hatte –, blieb das Schicksal des Kutters und der Gefangenen ziemlich rätselhaft. Zwar wurden noch tagelang Nachforschungen ange stellt, aber sie waren nicht sonderlich intensiv. Man nahm an, der Kutter sei auf eine alte Grundmine aus dem Zweiten Weltkrieg gelaufen. Das kam hin und wieder, wenn auch höchst selten, vor. 2. In dem hanseatischen Edelpuff, der im Veranstaltungs kalender Wohin in Hamburg bei Nacht nicht verzeichnet war, gingen allmählich die Kronleuchter aus. Gegen zwei Uhr morgens nahm eine dunkelblaue Li mousine die Parkeinfahrt am Uhlenhorst. Ihr Schein werferlicht wanderte über die riesigen Stämme alter Buchen und wurde von der weißen Villenfassade grell zurückgeworfen, bis der Fahrer es löschte. Zwischen den Porsche, den Mercedes-Coupes und den Rolls-Royce kam sich der Gast mit dem alten Jagu ar ein wenig schäbig vor. Aber schließlich konnte nicht jeder Bankier, Fabrikant oder Reeder sein. Der Kies unter seinen Schritten knirschte nur ge dämpft. Das kam von der Nässe des niederschlagenden Alsternebels. Der späte Gast nahm die breite Steintreppe bis zum säulengetragenen Vordach, suchte den Klingelknopf und drückte. Ein Eierblonder mit Catcherfigur öffnete und musterte den großen, schlanken Gast in seinem leicht zerknitter ten grauen Maßanzug. 14
„John Waxford.“ „Sir?“ schaltete der Leibwächter auf englisch um. „Aus Bonn. Ich bin angemeldet.“ „A moment, please“, bat der Leibwächter des Luxusetablissements. Er ließ den Gast herein, aber nur bis ins Entree. Dann verschwand er. Man hörte etwas flüstern. Schon kam er eilfertig wieder. Er trug hautenge Lederhosen, dazu ein Seidenhemd mit Rüschen, offen bis zum Nabel. Auf der gebräunten Brust hing ein Kettchen mit goldenem Kreuz. Der Rest waren Muskeln. „Sie hatten um dreiundzwa nzig Uhr eine Verabredung mit Omnia, Sir.“ „Ja, mit der Negerin.“ „Sie hat gewartet.“ „Tut mir leid, ich wurde aufgehalten.“ „Ich fürchte, Omnia ist schlafen gegangen, Sir“, sagte der Hausbursche mit der Bodyguard-Funktion. Der Besucher strich sein schmales Lippenbärtchen und lächelte, als mache er sich über den Jungen lustig. „Sie sind wohl noch nicht lange hier.“ „Erst diese Woche.“ „Drei Tage also. Nun, dann kennen Sie mich nicht. Bitte melden Sie mich Lady Buttertopf.“ Die Chefin des Luxusbordells hatte einen so ausgefal lenen Namen, daß sogar arabische Scheichs und japani sche Geschäftsleute ihn auf Anhieb behielten. Wieder verschwand der Leibwächter, Nun erschien Madame, Typ harte Blondine. Überschwenglich begrüß te sie ihren Gast. „Mein lieber Mister Waxford, Bitte verzeihen Sie die Ungeschicklichkeit meines jungen Mitarbeiters. Bernie ist neu hier. Natürlich steht Ihnen Omnia zur Verfü gung.“ Sie gab dem Jungen einen Wink. Sein Schatten be 15
wegte sich an der Treppenwand nach oben. Wie üblich in diesem Laden bat die Chefin den Gast an die Bar. Dort wurde er mit einem Glas Champagner willkommen geheißen. Genaugenommen hieß das aber, erst mal zahlen bitte, mein Freund. Wie stets entrichtete Waxford den Oebeslohn für eine Nacht in bar. Gleich zu Anfang hatte man ihm zu ver stehen gegeben, daß man Schecks ablehne. – Ein Tau sender im Sakko trug ja auch weniger auf als ein Scheckbuch. Wie es sich gehörte, legte Waxford den Tausender in einem Umschlag auf die Bar. Madame Buttertopf nahm den Umschlag. Allein der kurze Griff genügte ihr, um sicher zu sein, daß der Inhalt stimmte. „Warum Omnia heute, Sir?“ fragte sie. „Waren Sie mit Sibylle und Kiki nicht zufrieden?“ „O doch, Gnädigste, natürlich“, äußerte der Freier aus Bonn, der angeblich in diplomatischen Diensten stand. „Beide sind absolute First-class-Mädchen, Aber“, er räusperte sich, „im Wechsel liegt nun einmal der Reiz.“ „Sie hatten Geschäfte in Hamburg?“ „Meine Regierung ist an den deutschen FlachwasserU-Booten interessiert.“ Breitbeinig kam der blonde Muskelprotz die Treppe, die an ein St.-Pauli-Revuetheater erinnerte, herunter. „Omnia ist in fünf Minuten bereit, Sir. Sie badet nur noch.“ „Ausgeschlafen und frisch gebadet“, schwärmte der Gast. „So mag ich es.“ „Wünschen Sie einen Imbiß nach oben“, fragte Ma dame, „oder nur Champagner?“ „Erst zum Frühstück“, antwortete Mister Waxford und verabschiedete sich. „Dann bis morgen.“ Er eilte hinauf. Der Leibwächter folgte ihm. „Ich finde alleine meinen Weg“, bemerkte der Gast, 16
„Salon Nummer elf. Stimmt’s?“ „Ich begleite Sie, Sir. Omnia hat ein neues Apartment. Nummer vierzehn.“ Treppen und Böden aus weißem Carrara-Marmor, be legt mit azurblauen Veloursteppichen. Die Türen zu den Räumen der Mädchen in lackiertem Weiß hatten Mes singbeschläge. Bei Nummer vierzehn klopfte Bernie, öffnete und ließ den Gast an sich vorbei eintreten. „Isch gomme – gleisch!“ rief die Kreolin aus Martini que vom Badezimmer her. Der Gast schaute sich um. Kein Nuttengeruch, keine Bordellatmosphäre, stellte er fest. Alles wirkte gedie gen. Die rote Seidentapete, der Barockspiegel vor dem riesigen Rundbett und die vielen Kristalleuchter. Unan genehm empfand er nur den Leibwächter hinter sich. Vermutlich erwartete er ein Trinkgeld. – John Waxford fand aber, daß tausend Mark für ein paar Stunden genug seien. Immerhin kostete das Frühstück extra. Er drehte sich um und schnarrte: „Danke, gehen Sie jetzt.“ Doch da blickte er in den Schalldämpfer einer Pistole mit einem Kaliber von mindestens neun Millimeter. Der Blonde hielt sie mit beiden Händen. Der Schall dämpfer mochte zwei Handbreiten von Waxfords Stirn entfernt sein. Verdattert setzte Waxford zu einer Frage an, kam aber nicht dazu, sie zu formulieren. Das letzte was er sah, war nicht Omnias kaffeebrauner Körper, sondern ein Loch in einem runden Stück Eisen. Es machte plopp. Nicht lauter, als wenn man vorsich tig einen Korken aus der Flasche zog. Als Waxford fiel, fing der Blonde ihn auf und legte ihn vorsichtig aufs Bett. Da war der Diplomat schon tot. Nun trat der Blonde ins Badezimmer, 17
Omnia stand nackt vor dem Spiegel und bürstete das blauschwarze Haar. Sie erschrak, als sie Bernie sah. Mit der flachen Linken preßte er ihren Mund zu. „Ein winziger Ton“, sagte er, „vor neun Uhr, und du triffst ihn im Jenseits.“ Sie nickte mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Von einer Blechrolle riß Bernie einen halben Meter Leukoplast der breiten Sorte und verklebte ihr die Lip pen. Sie mußte sich hinlegen. Er umwickelte auch ihre Hand- und die Fußgelenke mit mehreren Lagen des zähen Verbandmaterials. Dann legte er den Zeigefinger senkrecht an den Mund. Sie nickte abermals in tödlicher Panik. Der blonde Leibwächter ging hinunter. Die Chefin saß hinter der Bar und pichelte Whisky. „Alles klar?“ fragte sie. „Wird ‘ne ruhige Nacht. Von überall her nur blase balgartige Geräusche.“ „Du kannst schlafen gehen“, erlaubte die Chefin. Der Leibwächter verließ die Villa. Er und das übrige Personal waren im Nebenhaus untergebracht. Die Chefin sperrte hinter ihm ab. Acht Stunden später brach der Hausmeister die Tür von Salon Nr. 14 auf. Als Omnia um zehn Uhr noch immer kein Frühstück bestellt hatte und auch über Haustelefon keine Antwort gab, hatte man geklopft, es dann mit dem Schlüssel versucht und schließlich die Tür mit dem Brecheisen aufgestemmt. Der Hausmeister – ein ruhiger alter Fahrens mann, der in der Villa und im Garten seine Rente aufbesserte – sah alles mit einem Blick. „Rufen Sie die Polizei“, riet er Madame Buttertopf. 18
Erst sorgte die Chefin dafür, daß der letzte Freier ge gangen war, dann holte sie die Kripo. Um Mittag herum war das Haus voller Beamter in Uniform und in Zivil. Mordkommission, Spurensicherung, Amtsarzt, Leichen träger. Sie fotografierten, fertigten Skizzen an, began nen mit den Verhören. Ihre beste Zeugin war die Schöne aus der Karibik. „Bernie war es“, sagte sie und gab zu Protokoll was sie wußte. „Und wo ist Bernie?“ „Verschwunden“, erklärte die Bordellunternehmerin. „Hab’ ihn um halb drei zum letztenmal gesehen.“ „Und zum erstenmal?“ fragte der Kommissar. „Montag. Sein Vorgänger fuhr wieder zur See. Bernie meldete sich auf die Anzeige hin. Er gefiel mir. Ein sportiver, adretter Junge. Bißchen einsilbig vielleicht, aber das ist gut fürs Geschäft. Ich stellte ihn sofort ein.“ „Gibt es ein Foto, Madame Buttertopf?“ „Nein, wie auch.“ „Doch“, rief eines der Mädchen. „Ich halte ‘ne Pola roid für Freier, die gerne Fotos machen, bereit. Die Kamera war kaputt. Irgendwas am Auslöser. Ich brachte sie weg. Als sie repariert war, machte ich ein, zwei Probeaufnahmen, und zwar von Bernie bei der Garage, wie er seinen Wagen wusch.“ Der Kommissar bekam das Sofortbild. Bernie und sein VW Polo waren gut zu erkennen. Die Fahndung nach Bernie und seinem Auto ging so fort hinaus. Zwei Weißkittel trugen den Blechsarg mit dem Toten vorbei. „Schrecklich“, jammerte die Puffinhaberin. „Sie meinen die Auswirkung aufs Geschäft.“ „Was sonst.“ Der Kommissar blätterte im Paß des Toten. 19
„John A. Waxford aus Dublin. Legationsrat bei der irischen Botschaft in Bonn. Führt ein CD Schild am Wagen. Es wird in die Presse kommen. Man wird be haupten, die Hamburger Unterwelt habe ihn umgelegt.“ „Warum?“ „Raubmord, was sonst, Gnädigste?“ „Mein Gott! Ein so netter, feiner Gentleman.“ „Raubmord wäre mir das allerliebste“, gestand der Kommissar. „Bloß keine politischen Hintergrunde, bloß keine diplomatischen Verwicklungen. Raubmord, das wäre sauber und glatt. Nun ja, Bernie wird uns die Wahrheit schon sagen.“ „Sie werden ihn fassen?“ „Wir kriegen jeden.“ Der Kommissar trank von dem Bier, das man ihm hingestellt hatte. „Und wenn nicht?“ fragte die Chefin der weißen Vi l la. „Dann nicht“, meinte der Kommissar. „Wäre viel leicht auch gar nicht so fürchterlich schlimm. Oder?“ Sein Mitarbeiter kam, flüsterte ihm etwas zu, und der Kommissar lüftete das Gesäß vom Barhocker. Es kam, wie es zu erwarten gewesen war. Die erst bundesweit, dann europaweit ausgeschriebe ne Fahndung nach dem blonden Bernie verlief ergebnis los. In der Hamburger Unterwelt war er ein absolut Unbekannter. Trotzdem beließ man es offiziell bei dem, was die Medien verbreiteten, nämlich bei der Raub mordversion. Die Experten der Hamburger Kripo hätten die Akte gerne geschlossen, denn sie fürchteten, daß die Wahr heit ein heißes Eisen sei. Nicht nur rot, sondern weiß glühend und schlecht zum Anfassen. Inzwischen beschäftigten sich aber auch Bundeskr i minalamt und Interpol mit dem Mord an John Waxford. 20
Man wälzte verschiedene Theorien. War er sexuell abartig? – Warum war er mit fünfundvierzig Jahren noch unverheiratet? – Warum verkehrte er in Luxusbor dellen? – Woher hatte er die Mittel dazu? - Als Diplo mat im höheren Dienst verdiente er nicht soviel, um wöchentlich einen Tausender mit Freudenmädchen zu verjubeln. Der Schluß, Waxford könne seine diplomatische Im munität für den Schmuggel von wer weiß was ausge nutzt haben, lag nahe. Devisengeschäfte, Rauschgift, illegaler Goldtransport – alles schien möglich zu sein. Spuren dieser Art wurden so hartnäckig verfolgt, wie man politische Gründe hartnäckig von der Hand wies. Vielleicht begannen die Geheimdienste sich gerade deshalb für den Hamburger Diplomatenmord zu interes sieren. Der BND-Agent Robert Urban, Codenummer 18, war im Durchschnitt dreihundert Tage pro Jahr auf Achse. So konnte er an den Frühkonferenzen nur sporadisch teilnehmen. An diesem Montag hatte er zur Proletenzeit, um 9.30 Uhr, sein kleines Büro neben der Operationsabteilung betreten, den Stapel Papierkram überflogen und sich entspannend hingepflanzt, als ihn die Lautsprecher durchsage vom Beginn der Frühkonferenz aufschreckte. Jetzt saß er im kleinen Sitzungssaal an dem ovalen Tisch mit der ovalen Glasplatte und hörte sich an, was der Kollege referierte. Bei der Erwähnung des Diplomatenmordes in Ham burg wäre er eingeschlafen, hätte nicht der Vizepräsi dent das Wort an ihn gerichtet. Urban reagierte erst beim zweitenmal. „Und was halten Sie davon, Oberst Urban?“ 21
Urban schrak auf. Was sollte er sagen, was wollten sie hören? „Er war Ire. Iren sind und bleiben unberechenbar.“ „Er stammte aus Dublin.“ „Für die Republikaner gilt das ganz besonders.“ „Inwiefern?“ „An jedem haftet ein Hauch von IRA“, erklärte Ur ban. „Auch wenn die Regierung offiziell die Verträge mit London einhält und gottbewahre nichts mit der Befreiung Nordirlands von den Torytypen am Hut hat, sind doch alle – dafür.“ „Wofür?“ „Daß Gott England strafe und ihm Ostfriesland, aber nicht Nordirland schenke.“ „Ich bitte um ernsthafte Behandlung des Themas“, ermahnte der Vizepräsident seinen Bestman. „Ich zitiere nur“, entschuldigte Urban sich. „Wen?“ Ja wen? Aber wer in diesem Kreis war schon litera turbewandert. „George Bernard Shaw“, fiel Urban gerade noch ein. Er steckte sich eine Goldmundstück MC an und schalte te wieder ab. Für ihn war klar, daß der Mord an John Waxford poli tische Hintergründe hatte. Aber was ging ihn das an. Er arbeitete für den Bundesnachrichtendienst, und der war im Inland nicht zuständig. Auch wenn er natürlich alles wissen wollte, was zwischen Flensburg und Berchtes gaden vorging. „Der Täter ist ein gewisser Bernie“, fuhr der Referent fort. „Vor- oder Nachname?“ „Wer heißt schon Bernie mit Familiennamen. Hier ist ein Foto. Ich lasse es herumgehen.“ „Wozu?“ 22
„Warum nicht? Das BKA ist der Meinung, wenn ge nug Leute das Foto sehen, besteht ein Schimmer Hoff nung, ihn zu kriegen.“ „Dann sollen sie das Foto doch veröffentlichen.“ „Das ist beabsichtigt.“ „Die Polizei murkst herum“, kommentierte Urban, „tut sich wichtig wie immer. Die Zeitungen schreiben, wie mies die Polizei ist, und das BKA wartet auf einen Schimmer Hoffnung.“ Seine Rede war noch nicht beendet, da wurde das Fo to des vermutlichen Mörders Bernie an ihn weiterge reicht. Urban warf nur einen kurzen Blick darauf und glaubte, Bernie zu kennen. – Das verschlug ihm die Sprache. Er war dem Burschen schon einmal begegnet. Aber wo und unter welchen Umständen bloß? – Er war dicht daran, er würde es herausfinden. Er konnte sich auf sein Gedächtnis verlassen. – Sollten die verflixten BKABurschen mit ihrem Hoffnungsschimmer etwa doch noch recht behalten? Schon durchfuhr es ihn wie ein Blitzstrahl. Aber es äußerte kein Wort. Mit dem ratlosen Gesicht eines Mi men, der seinen Text vergessen hat, reichte er das Foto weiter. Von jetzt ab interessierte ihn die Frühkonferenz über haupt nicht mehr. Er hörte Worte, nahm sie aber nicht auf, so sehr beschäftigte ihn dieser blonde Hamburger Killer. Als sich die Runde auflöste, machte Urban sich un auffällig an den Vizepräsidenten heran. „Muß Sie sprechen.“ Der Vize, schlank, grauhaarig, kühlwirkend und doch sensibel, schaute auf die Uhr. „Sollte eigentlich schon in Bonn sein.“ „Es ist dringender als Bonn.“ 23
Der Vizepräsident des BND verstand sich mit Urban so perfekt, daß er zu ahnen schien, um was es ging. Es mußte von äußerster Wichtigkeit und nicht für jeder manns Ohren bestimmt sein. „Bis gleich in meinem Büro.“ Eine Zigarettenlänge später fuhr Urban hinauf in die Chefetage. Ein Blickwechsel mit der Sekretärin genüg te. Er ging einfach durch und schloß die dicken Polster türen hinter sich. Der Vize kam aus seinem Waschraum. Statt Sport sakko und gestreiftem Hemd mit Rundkragen trug er Dunkelgrau, wie man es im Kanzleramt schätzte. Damit änderte sich auf erstaunliche We ise auch sein Profil. Es war nicht mehr das eines Habichts, sondern das einer Friedenstaube. „Ihretwegen werde ich mir einen Rüffel wegen Verspätung holen“, rief er. „Hoffe, es lohnt sich.“ Wegen der paar Sätze, die zu sagen waren, blieb Ur ban stehen. Ich weiß, wer der Mörder des irischen Diplomaten ist.“ „Dachte ich mir. Ich habe Sie beobachtet.“ „Kein Zuhälter, kein Knochenbrecher irgendeines Rauschgiftbosses.“ „Aber ein Killer“, bemerkte der Vize. „Machen Sie es bitte nicht gar so spannend, Bob.“ „Ein Killer“, bestätigte Urban. „Aber in der Schule eines berühmten Geheimdienstes für diese Arbeit aus gebildet.“ Der Vize hatte zu seinen ägyptischen Zigaretten geta stet, zog aber die Hand zurück. , „Doch nicht etwa … nein, das doch bitte nicht.“ „Leider ja“, bestätigte Urban den Verdacht. „Bernie gehört zum MI-six, dem Auslandsgeheimdienst Ihrer britischen Majestät.“ 24
Trotz seiner Zeitnot setzte sich der Vizepräsident. Dann pfiff er tonlos. „Kein Irrtum möglich?“ „Ausgeschlossen.“ „Hat man da noch Worte.“ Urban faßte zusammen: „John Waxford war Ire. Vermutlich hatte er Kontakte zur IRA oder gehörte ihr selbst an. Wenn er nach Ham burg kam, dann gewiß nicht nur, um dort rumzupim pern. Wahrscheinlich kurbelte er eine Aktion gegen die Engländer an. MI-six bekam es spitz und legte ihn um. Dann war das nicht der letzte tote Ire der gehobenen Kategorie.“ „Verdammt, verdammt“, fluchte der Vize. Und dann: „Das muß unter uns bleiben. Vorerst. Bis wir mehr wissen. Sonst zertrampeln uns diese genialen Fahnder noch die Meinen zarten Gemüsepflänzchen in unserem Garten.“ „Das war alles.“ Urban wünschte guten Flug. – Der Vize hielt ihn zu rück. „Das war es nicht, Bob. Können Sie etwas tun damit die zarten Gemüsepflänzchen nicht vom Nachtfrost beschädigt oder von Schnecken gefressen werden?“ Urban verstand. „Nachfassen also.“ „Nicht offiziell. Sie wissen, auf dem Boden der Re publik haben wir keinen Dienstauftrag.“ „Ich werde mir eine Mickey-Mouse-Maske aufset zen.“ Urban war schon an der Tür, als der Vize – ein stets modebewußter Mann – etwas an ihm feststellte: „Sie haben einen neuen Schneider.“ „Mein alter in der Londoner Saville Row hat die Na del endgültig aus der Hand gelegt. Wegen Gicht. Ich 25
meine, wenn er für Prinz Charles nicht mehr näht, wie sollte er es dann für Urbans Robert tun.“ „Aber das ist ein Klassesakko, das Sie da tragen.“ „Brunoni“, sagte Urban. „Handgearbeitet. Von Jung frauen.“ „Wo kriegt man das?“ „Man muß sich persönlich zu Brunoni in die italieni schen Abruzzen begeben. Mit Voranmeldung und sechs Monate im voraus.“ „Und Empfehlung“, flüchtete der Vize, Stoff und Verarbeitung von Urbans seidenem Glenchecksakko musternd. „Fabelhafte Arbeit. Können Sie mich dort einführen?“ „Ich rufe den Maestro mal an“, versprach Urban.
Soviel hatte die Kripo immerhin ermittelt, daß der ermordete Legationsrat der irischen Botschaft, John Waxford, nicht in Hamburg bestattet werden sollte. Ein Familienmitglied war angereist, um die Überfüh rung nach Irland in die Wege zu leiten. Das Familien mitglied aus dem Waxford Clan hieß Iren MacBride, eine Witwe, Ende Zwanzig und Waxfords Schwester. Urban rief sie aus der Hotelhalle an. Sie reagierte un freundlich, „Sie sind nach Kripo, Interpol, Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und einem Dutzend Reporter der absolut überflüssigste Nachzügler. Ich empfange Sie nicht.“ Urban hatte sie leider nur am Telefon. Und Telefone waren höchst sensible Instrumente. Man legte auf, und der andere stand stumm da. Er mußte also einen Haken auswerfen, bei dem sie anbiß. „Bernie, der Killer, war auch noch nicht da.“ 26
„Wollen Sie mich verarschen?“ fragte sie verärgert. „Und der britische Geheimdienst ebenfalls noch nicht“, fuhr Urban fort. „Was haben dieser Bernie und der MI-six gemein sam?“ „Die Sache läuft doch auf einer höheren Ebene ab“, deutete Urban an. „Mit Mord im Puff hat das nichts zu tun.“ „Sondern?“ „Nicht per Telefon, Lady MacBride.“ „Wer sind Sie?“ „Urban, Bundesnachrichtendienst. Ich will hier nicht olle Kamellen neu einwickeln. Unser Gespräch ist rein privat. Aber ich habe noch etwas für Sie.“ „Verstehe, die höhere Ebene. Also gut, kommen Sie rauf.“ Sie knallte den Hörer auf. Wenig später betrat er ihr Apartment im Atlantic, sah sie aber nicht. Sie war im Bad. Die Dusche rauschte. Nachdem abgestellt worden war, dauerte es nur kurz, und eine splitternackte Frau lief durchs Zimmer. Sie schritt nicht, sie schlich wie eine Tänzerin, die eine Katze darstellte. So ungeniert wie unbekleidet griff sie nach den Zigaretten, steckte sich eine an und ve r schwand. Als sie wiederkam, trug sie einen Bademantel. Jetzt fand Urban Zeit, nicht nur ihren Hintern und ih ren Busen zu bewundern. Sie war gebaut wie ein Man nequin, groß, schlank, hatte karottenfarbene Locken und grüne Augen. Der Mund war vollippig und weich. Jetzt, im Herbst, wirkte sie noch ziemlich gebräunt, was die Augen noch heller erscheinen ließ. „Kaffee?“ fragte sie. „Gern.“ „Leider nicht in Whisky gekocht wie zu Hause.“ „Wo?“ 27
„In Dublin“, sagte sie und korrigierte sich sofort: „Mein Bruder lebte dort. Ich lebe in London. Ich heira tete irgendwann mal einen Briten, eine Jugendtorheit. War der Fehler meines Lebens. Völlig unbedeutender Bursche, der bei einer alltäglichen Zugkatastrophe ums Leben kam. Als Erinnerung hat er mir Schulden hinter lassen und den Tripper. Aber beides ist inzwischen behoben. Nur leider blieb ich in London hängen, mit einem Job bei BBC, der so gut bezahlt wird, daß es mir schwerfällt, nach Irland zurückzukehren.“ Mehr war in zwei Sätzen kaum über ein Leben zu sa gen. „Waxford war verheiratet?“ „Nicht im geringsten“, antwortete sie. „Wir sind die letzten aus dem Waxford Clan.“ Schon kam sie zum Kernpunkt. „Wer ist Bernie?“ Urban wollte es noch für sich behalten und antwortete mit einer Frage: „Ihr Bruder war Aktivist. Ich meine, er gehörte zur IRA?“ Sie zögerte. „Kann sein. Wir sprachen nie darüber. Wir hatten längst aufgehört zu diskutieren, ob Ulster, ich meine Nordirland, befreit werden müsse. Ich arbeite seit sieben Jahren in London und sehe das alles anders. Welche Farbe die Uniform von Polizisten hat, ob im Parlament ein Lord sitzt oder ein irischer Sozialist, das ist doch zweitrangig, wenn man dieselbe Sprache spricht, sein Leben leben und seine Religion frei ausüben kann, finde ich. – Und wie finden Sie es?“ Er gab sich schnoddrig. „Ich würde lieber auf Beten verzichten als auf Whis ky, Nikotin und Weiber.“ „Okay, das sind Sie.“ Sie lachte laut und falsch. „Und 28
wer ist Bernie, der Mörder von John?“ „Wir vermuten, daß er einer Organisation angehört, deren Ziele gegen die der IRA gerichtet sind.“ „Engländer also.“ „Vermutlich.“ „Geheimdienst?“ „Wohl kaum“, log Urban. „Vielleicht einer von Colonel Listons Boys.“ Urban hatte von dieser Brutalo-Elite gehört. Auf Li stons Fahne stand: Nur ein toter Ire ist ein guter Ire. „Keine Beweise“, wich er aus. Sie stand auf und schien wütend zu sein. „Warum, zum Teufel, sind Sie dann hier?“ Er holte etwas aus. „Irland kann sich zu einem europäischen Problem hochschaukeln. Irland gehört der EG und der Nato an. Wenn es da kracht, schadet das uns allen. Man muß entsprechend gegensteuern. Die Aufgabe der NatoGeheimdienste ist es, Klarheit zu schaffen, wenn schon nicht die Wahrheit, dann doch etwas mehr zu wissen als andere.“ Sie setzte sich wieder, lehnte sich zurück, umschlang eines ihrer Knie mit beiden Händen und begann, sich zu wiegen. Dabei rauchte sie und blickte Urban durch den Rauch der Zigarette an. Sie ist leicht zu verführen, dachte er, aber es war ihm nicht danach. „Wir gefallen uns“, erklärte sie unumwunden. „Und mit einem Mann ins Bett zu gehen ist für mich etwas anderes als Unzucht treiben. Trotzdem tun wir es lieber nicht.“ „Einverstanden, Lady.“ „Sie müssen mich mal in London besuchen. Natürlich nur, um festzustellen, daß ich mit diesen IRA-Leuten nichts zu tun habe. Für mich sind das verwirrte Spinner, 29
die, wenn schon nicht mittelalterlichen, so doch histori schen Ideen nachjagen, die nicht mehr in dieses Jahr hundert passen.“ Sie hatte die sinnliche Ausstrahlung eines gesunden frischen Bauernmädchens. Urban sah zu, daß er we g kam. „In London“, rief sie, „kriegen Sie meine Adresse über die BBC-Zentrale. Ich bin dort der Persönlichkeit nach bekannt, als eine Frau, die in dem Ruf steht, in jeder beliebigen Nacht jede beliebige Anzahl von Ma trosen zu vernaschen.“ Er glaubte ihr nicht ein Wort. „Ja, in London“, versprach er. „Ich komme bestimmt vorbei, wenn ich kann.“ Da wußte er schon, daß er es niemals tun würde. Der stets beherrschte O’Hara rief bei Timberlake an. Seine Stimme klang wie das Hecheln eines Terriers. „Vergiß Waxfords Beerdigung“, sagte er. „Ich will ihm die letzte Ehre erweisen. Er war einer unserer Besten.“ „Damit erweisen wir aber uns die allergrößte Dumm heit. Er wurde nicht wegen einer Weibergeschichte umgelegt. Es waren die Engländer.“ , „Geheimdienst?“ „Oder Colonel Listons Leute.“ „Diese Hundesöhne“, kommentierte der sonst eher vornehme Timberlake, ein Sproß alten irischen Adels „Angenommen, wir gruppieren uns feierlich um Wax fords Grab, dann wird man uns nicht nur fotografieren, sondern ganz feierlich festnehmen. Die Polizei kann gar nicht anders.“ „Das wird sich ändern“, bemerkte Timberlake. „Daß Männer, die einen Teil des Landes von der Besetzung befreien wollen, von der eigenen Regierung…“ 30
Er sprach nicht weiter. Das Thema war millionenmal durchgekaut. Es stand also fest, daß sie bei der Beerdi gung ihres alten Freundes Wax nicht dabeisein würden. Aber sie würden seiner bei Whisky pintenweise geden ken. Sie trafen sich in ihrer Kneipe in der Altstadt von Du blin. Der dritte Mann des ehemaligen Viererbundes, Fitz maurice, wie seine Freunde an der Universität tätig, kam zu spät. Kaum, daß er sich die Zeit nahm, sie zu begrü ßen. „Los, mitkommen! Aber dalli!“ Sie folgten ihm einzeln, so daß es nicht auffiel, nach hinten. Er wartete nicht auf der Herrentoilette, sondern im Hof. Dort stand sein Renault 25 mit laufendem Mo tor. „Einsteigen!“ drängte er. „Es geht um Minuten. Und von der letzten hängt Leben oder Tod ab.“ „So schlimm wird’s schon nicht werden.“ „Für mich wäre Kerker das Ende“, sagte Fitzmaurice, der Professor für Geschichte. Er wirkte heute verändert. Nicht was den kurzge schnittenen Kopf betraf, der hatte noch seine Kugel form, aber sein breites, gutmütiges Lächeln war ve r schwunden und merkwürdigerweise auch seine So m mersprossen. „He, was läuft denn?“ fragte O’Hara, Dozent für Ma schinenbau. „Schief läuft es. Sie sind hinter uns her. Eben kam ein Anruf aus dem Innenministerium. Wegen des Anschlags auf die Panzerkaserne in Belfast fordern die Engländer, daß Köpfe rollen. Sie behaupten, Timberlake hätte es ausgeklügelt, O’Hara die Bombe konstruiert, und mir trauen sie die Organisation zu.“ „Das müssen sie erst beweisen“, wandte Timberlake 31
ein. „Wir haben Alibis.“ „Willst du, daß es dir geht wie McIntires Gruppe? Zwanzig der Besten haben sie ersäuft wie die Ratten.“ Der Wagen raste durch die Nacht, durch die Fabrik stadt, die von Autos und Menschen wimmelte, hinaus Richtung Killinea, wo die Küste einsam war. „So geht es nicht weiter“, sagte Timberlake. „So nicht.“ „Den Spruch höre ich schon seit meiner Pennäler zeit.“ „Jetzt ist es soweit.“ „Was?“ „Daß ein paar intelligente Burschen wie wir den Krieg anders aufziehen. Und zwar ganz anders.“ Fitzmaurice drückte den Renault in eine Kurve, ohne vom Gas zu gehen. Die Reifen pfiffen auf dem Asphalt. „Plan eins, also.“ „Nennen wir ihn Plan Waxford, zu Ehren von John.“ „Wir haben“, bemerkte O’Hara in präziser Einschä t zung der Lage, „in Ulster mehr Brunnen vergiftet, als es dort Quellen gibt. Aber sie haben gelernt, das Wasser abzukochen, ehe sie es trinken; Auf die Dauer ist das Vergiften also zu wenig. Es ist nötig, daß wir die große Idee verwirklichen, die zündende, die einmalige, die alle aufrüttelt, damit die Iren marschieren wie ein Mann.“ Fitzmaurice nahm jetzt eine Nebenstraße. Der Renault wirbelte Staub auf. Das gab ihnen die Tarnung einer Nebelbank. „Wir gehen alle zum Teufel, wenn wir dableiben“, sagte er und erzählte ihnen, daß er ein Schiff organisiert habe, das sie wegbringe. In ein anderes Land, wo sie ungehindert an ihrem großen Plan arbeiten konnten. „Wie stehn die Finanzen?“ fragte Timberlake. Zwar stammte er vom Adel, war aber verarmt und immer am Rande der Pleite. 32
„Zwei Monate können wir in jedem Land der Erde le ben.“ „An welches Land dachtet ihr?“ „Wo sich Männer, die man aus der Heimat vertreibt, immer hinbegaben. Weit genug, um sicher zu sein, und nahe genug, um rasch zurückzukehren, we nn die Stunde schlägt.“ Sie kannten dieses Land, und O’Hara sagte: „Gib mir was von deinem sechsunddreißigprozentigen Spülwasser, Maurice.“ Davon war immer eine Pinte an Bord. Die zerbeulte Aluminiumflasche ging von Mund zu Mund. Dann wurden sie still. Jeder hatte mit dem Problem zu kämp fen, wie er der Familie, den Freunden, sein Verschwi n den erklären würde. Zum Glück waren gerade Semesterferien. Bis die Wintervorlesungen begannen, mußten sie es geschafft haben, also bis Oktober. Wenige Stunden später, als sie ihre Heimat Irland ver ließen, holte der Whisky verschüttete sentimentale Ge fühle an die Oberfläche. Sie sangen, als sie durch die Dünen zum Strand mar schierten. Draußen lag der Kutter ohne Licht. Man sah nur seine Umrisse. „Irland, wir kommen niemals wieder!“ rief O’Hara. „Es sei denn als Sieger!“ „Muß es wirklich sein, daß wir abhauen wie Verbre cher in der Nacht?“ fragte Timberlake. „Die Freiheit fällt dir nicht wie eine Tonne Ziegel steine in den Schoß, Mann. Man muß darum kämpfen.“ Sie krempelten die Hosenbeine hoch, schoben das Schlauchboot in die Dünung, bis es schwamm, und sprangen hinein. Die Nacht war klar und frisch mit einem Halbmond 33
hoch am Himmel. In Frankreich hatten sie sich getrennt und verschiedene Wege genommen. O’Hara fuhr mit dem Zug immer an der Küste ent lang. Timberlake wollte einen Verwandten in Paris anpumpen und mit dem Flugzeug nachkommen. Fitz maurice traf sich mit einem Mann aus Mallorca in Bar celona. O’Hara war als erster in Lissabon. Dort mietete er in der Altstadt drei bescheidene Zimmer und hinterließ die Adressen in zwei Briefen, hauptpostlagernd unter Kennwort Lula. Der Lula war ein portugiesischer Ti n tenfisch, der sich besonders gut einzunebeln verstand, wenn er angegriffen wurde. In den zwei Briefen stand auch, daß er jeden Abend ab 23.00 Uhr in einer Bodega am Rosso zu finden sei, auf der rechten Seite des großen Platzes, dort wo man von der Alfama herunterkam, Nach zwei Tagen trudelte Timberlake ein. Die Nächte in Paris hatten ihn ein wenig mitgenommen. Er sah noch blasierter aus als sonst, beinahe britisch. Der Biologe hatte sich auch äußerlich verändert. Sonst eher konser vativ gekleidet – man sah ihn nie ohne Hemd, Schlips und Pepitaeinreiher – , stellte er nun in Jeans, T-Shirt und Lederjacke eine nahezu revolutionäre Erscheinung dar. O’Hara musterte ihn mißtrauisch, „Kaffee, Wein oder Schnaps?“ Timberlake legte einen Umschlag auf die Marmor platte des Stehtisches. „Fünfzigtausend.“ „Und das hat deine Tante rausgerückt?“ „Nur Francs. Aber ich erzählte ihr, warum ich we g mußte. Wie unsere ganze Familie, hat auch sie den 34
Engländern den Verlust ihrer Güter und die Emigration zu verdanken. Sie verkaufte einen Brillantring, küßte mich zum Abschied und wünschte mir von Herzen zehn Engländer auf einen Hieb.“ „Das hilft uns über die Runden“, sagte O’Hara. Sie tranken, rauchten, beobachteten und redeten we nig. „Hast du es schon ausgearbeitet?“ wollte Timberlake wissen. O’Hara nickte. „Ist es zu machen?“ „Es ist zu machen. Aber ob wir es machen, hängt von Fitzmaurice ab und von dem, was er mitbringt.“ Der Cognac heizte ihnen ein. In der Kneipe war es stickig. Also gingen sie hinaus und schlenderten durch die Stadt. O’Hara brachte Timberlake zu der Pens ion, wo er dessen Zimmer gemietet hatte. Dort trennten sie sich. Am nächsten Abend waren sie dann komplett. Fitz maurice, den alle nur Maurice nannten, wartete schon auf sie. Er war gut durchgekommen, hatte immer aufgepaßt und glaubte nicht, daß er verfolgt wurde. „Wir haben sie abgehängt“, frohlockte er. „Freut euch nicht zu früh“, warnte O’Hara. „Ich habe Informationen, daß sie jetzt gemeinsam hinter uns her sind. Der Yard, MI-six, Interpol und die NatoGeheimdienste. Vergeßt nicht, Portugal gehört auch zur Nato.“ Sie blickten Maurice an und warteten auf dessen Be richt. Der kugelköpfige Professor für Geschichte faßte sich kurz. „Er war da. Pünktlich wie der Sonnenuntergang.“ „Dafür ist Strangos bekannt.“ 35
Obwohl Timberlake leise gesprochen hatte, zischte O’Hara: „Keine Namen. Erwähnt nie wieder seinen Namen. Der Bursche ist ein Markenbegriff.“ „Und unverschämt“, fuhr Fitzmaurice fort. „Pünktlich wie die Sonne, aber unverschämt wie eine alte Hafenhu re.“ „Macht er es?“ fragte Timberlake. Denn nur darauf kam es an. Maurice trug immer ein ernstes Gesicht zur Schau, als hätte man ihm schon als Kind das Lächeln gestohlen. Und wenn er einmal lachte, dann bedeutete es nichts Gutes. Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grin sen. „Für eine Million Dollar!“ Daraufhin starrte jeder in sein Glas. Sie tranken und ließen nachfüllen. Als erster faßte sich O’Hara. „Experten sind nicht für einen feuchten Händedruck zu kriegen.“ „Wenn einer es schafft, dann er.“ „Genaugenommen ist er nicht zu teuer. Aber auch nicht zu billig. Er liegt in der Mitte. Sonderangebote machen mich immer mißtrauisch.“ „Eine Million Dollar“, wiederholte Timberlake. „Was sind da meine lumpigen Francs dagegen.“ „Sie geben uns Beweglichkeit“, sagte O’Hara. „Aus Münzen mache einen Schein, aus einem Schein ein Pfund, aus dem Pfund das große Geld.“ Maurice holte gebratene Garnelen. Sie knabberten daran, während O’Hara seinen Plan zu erläutern begann. Es war wie beim erstenmal, als er davon gesprochen hatte. Sie bezweifelten, daß die Durchführung je gelin gen würde. Aber die sachliche Darstellung O’Haras 36
flößte ihnen Ve rtrauen ein. Erst recht, als er sagte: „Ob du ein Brillantkollier abstaubst oder einen ganzen Juwelierladen, es ist immer das gleiche Delikt. Doch je größer eine Sache ist, desto weniger glaubt man, daß sich einer heranwagt. Ein Flugzeug, in dem zwei To n nen Barrengold befördert werden, zu berauben, ist ein so wahnsinniger Coup, daß man sicher ist, keiner traut ihn sich zu. Es können sogar vier Tonnen Gold sein.“ „Wieviel sind zwei Tonnen Barrengold wert?“ fragte Timberlake, der als Biologe bei Finanzen nicht auf der Höhe war. „Der Kilopreis liegt heute bei fünfzehntausend Dol lar“, sagte Maurice. „Mal zweitausend.“ „Macht dreißig Millionen.“ „So weit kann ich nicht rechnen“, gestand Timberla ke. „Und es wird tatsächlich von London nach Frankfurt geflogen?“ „Am Montag.“ „Das ist in einer Woche.“ „Wozu und warum fliegen sie es nach Frankfurt? Das verstehe ich nicht.“ „Es geht von der Britischen Staatsbank zur Deutschen Bundesbank.“ „Dachte immer, Gold läßt man dort liegen, wo es ist und verpfändet es nur.“ O’Hara berichtete, daß er den Plan von Waxford übernommen und einiges dazu erfahren habe. Der Gold transport sei der Anfang einer Reihe von weiteren Liefe rungen zum Zwecke des Zahlungsausgleichs. „Als das britische Pfund im Frühjahr immer tiefer ab rutschte, kaufte die Deutsche Bundesbank Sterling auf, um sie zu stützen. Nun steigt das Pfund, und sie verkau fen, um es nicht zu hoch klettern zu lassen. Die britische Regierung möchte aber ein starkes Pfund und das An gebot am Devisenmarkt gering halten. Das bedeutet 37
kaufen. Aber kaufen womit? – Die Deutschen nehmen gerne das Gold. Die Flugzeugladung am Montag ist die erste eines Milliardendeals.“ Kopfschüttelnd kaute Maurice Garnelen, spuckte die Schalen aus und sagte: „Wie soll das laufen, bitte?“ „Danach hatte David auch nicht gefragt, als er den Stein in die Schleuder legte, um Goliat zu schlagen. Er tat es einfach.“ „Gold ist Gold“, betonte Maurice. „Es wird nicht befördert wie Frühkartoffeln.“ „Es wird doch wie Frühkartoffeln befördert“, erklärte O’Hara. „Nur unter Geheimhaltung. Das garantiert unser Mann am Flughafen in London. Das Gold kommt unter Bewachung zum Flugplatz und wird am Zielort unter Bewachung in den Banksafe transportiert. Doch das interessiert uns nicht mehr.“ „Klar, kein Zug wird am Bahnhof beraubt, sondern unterwegs. Flugzeuge bewegen sich aber in der Luft, wie ich mich erinnere.“ „Dieser Transport-Airbus wird sogar von einer Staffel Abfangjäger begleitet.“ „Na bitte. Und wie viele Flakkanonen haben wir?“ „Sie eskortieren ihn über den Ärmelkanal. Von der französischen Grenze bis zum Rhein fliegt er ohne Be gleitschutz.“ Als Wissenschaftler und Universitätslehrer waren sie studierte Zweifler. Doch für jeden Einwand hatte O’Hara eine Erwiderung, auf jede Frage eine Antwort. „Verstehe“, sagte Timberlake endlich. „Es ist wie bei einem Mann, der vor Kraft und Energie nur so strotzt. Du kannst ihn nur von innen heraus zerstören. Psycho logisch.“ „Oder durch eine Infektion, durch Viren oder durch Chemie, indem man Gifte, gegen die sein Organismus 38
machtlos ist, in ihn hineinbringt.“ Fitzmaurice kamen wieder Zweifel. „Ein Airbus ist ein perfektes technisches System. Die Piloten sind zuverlässig, hochtrainierte Angestellte ihrer Luftfahrtgesellschaft. Ich kenne keinen Virus, der so etwas im richtigen Moment in Unordnung bringen könnte.“ „Ich kenne einen“, beharrte O’Hara. „Mich!“ Sie hatten einen Mann beim Bodenpersonal in Hea throw. Dieser Mann war bereit, O’Hara an Bord der Transportmaschine zu schleusen. Mehr aber nicht. Wie er es machen würde, das war allein O’Haras Problem. „Das Gold wird in Containern auf Paletten verladen“, führte O’Hara aus. „Die Paletten sind auf Rollen im Laderaum beweglich. Es gibt eine Frachtluke, durch die müssen die Paletten hinein und wieder heraus. Wir bedienen uns ihrer. Gold braucht keinen Fallschirm. Wenn es nach einem Absturz aus große Höhe auf schlägt, wird es bestenfalls ein wenig eingedellt,“ „Und das soll an Bord keiner merken?“ staunte Mau rice. „Es gibt Betäubungsgas. Sie werden schlafen. Alle drei.“ „Und wer fliegt die Maschine weiter?“ „Der Autopilot,“ „Aber wie kriegst du das Flugzeug dorthin, wo du das Gold haben willst?“ „Bei Autopiloten lassen sich Kurs und Flughöhe ein stellen.“ „Wie geht das vor sich?“ „Ich habe mich damit befaßt.“ „Aber“, wandte Maurice ein, „es gibt noch Funk, und jedes Flugzeug besitzt einen Transponder, der eine Kennung ausstrahlt.“ „Elektronik läßt sich lahmlegen. Außerdem fliegt die 39
Maschine ja noch ein gutes Stück weiter.“ „Wohin?“ „Nach Frankfurt. Die Besatzung wird nach etwa zwanzig Minuten wieder aufwachen.“ Allgemeines Kopfschütteln. „Das klappt nie und nimmer“, befürchtete Timberla ke. „Klingt zu fantastisch. Das ist Kino, aber keine Reali tät.“ „Abwarten“, bat O’Hara. „Ihr werdet es sehen. Viel mehr, ihr werdet zur Stelle sein und den Goldregen auffangen.“ Timberlake und Maurice bückten sich an. „Wahnsinn.“ „Stimmt“, sagte O’Hara. „Ist reiner Wahnsinn. Aber auch einfacher, als eine Bank zu überfallen, auf der zufällig eine Million Dollar liegt. Vergeßt nicht, daß unser Mann ohne Geld keinen Finger rührt. Und nur mit seiner Hilfe geben wir dem Kampf eine neue Qualität.“ „Das ist ein wunderbarer, genialer, aber gänzlich un durchführbarer Plan“, bemerkte Timberlake. „Und des halb bin ich dafür, daß wir es versuchen.“ „Wenn es schiefgeht, dann gottbewahre!“ „Gott bewahre uns zweimal“, sagte O’Hara und schlug das Kreuz. 4. Der BND-Agent Robert Urban wußte nur zu gut, daß er die Fähigkeit hatte, bei anderen Übelkeit hervorzurufen. Das lag an einem Zug seines Charakters, an seiner Hart näckigkeit. Wenn er von einer Sache überzeugt war, dann hätte er am liebsten ein Maschinengewehr benutzt, um sie zu verteidigen. 40
In diesem Fall war es die Kausalkette von John Wax ford, Diplomat, aber auch Angehöriger einer IRAGruppe, über Bernie, den Killer – entweder MI-6-Agent oder von Colonel Ostens Einheit – , bis zu dem Mord in Hamburg. Daß Waxford umgebracht worden war, um einen ge fährlichen Mann auszuschalten, davon ließ Urban sich nicht abbringen. Auch wenn der Rest der Welt anderer Meinung war. Ein ziemlich berühmter Kriminalist hatte eine ganz andere Theorie aufgestellt. Der BND-Vize zeigte Urban das Gutachten. Urban las und legte es weg. „Bernie ein eifersüchtiger Triebtäter. – Unsinn! Wenn Null immerzu mit zehn multipliziert wird“, lautete sein Kommentar, „dann bezeichnet die Summe in etwa die Bedeutung dieses Mannes als Experte.“ Der Vizepräsident legte das Papier zur Seite, faltete die Hände, lehnte sich zurück und nickte. „Einverstanden. Aber bringen Sie mir Fakten. – Dann müßte die Bundesregierung nämlich auf irgendeine Weise handeln. Also bitte, liefern Sie die Beweise – oder nein, liefern Sie sie lieber nicht.“ Urban fühlte sich bald wie in einem Tunnel, dessen beide Enden man zugemauert hatte. Jeder andere hätte mit dem Zitat des Götz von Berlichingen reagiert. Auch Urban war nahe daran, es zu tun, da rief London an. Es war einer seiner wenigen vertrauenswürdigen Freunde beim britischen Geheimdienst „Was höre ich da?“ fragte der Engländer gerade her aus. „Du beschuldigst uns, Waxford umgelegt zu ha ben?“ Urban kannte diese britischen Tricks und wandte ei nen deutschen Trick an. „Ich behaupte nur, dem blonden Bernie in eurer Zen 41
trale begegnet zu sein.“ „Es gibt viele blonde Bernies.“ „Ihr fühlt euch also verleumdet.“ Der Engländer lachte kehlig. „Kannst du schweigen, Bob?“ „Ich habe auch diese Agenten-Killer-Theorie nicht hinausposaunt. Das waren andere.“ „Das wissen wir. Nun behalte bitte auch folgendes für dich: Du hast recht. Es stimmt alles. Bernie, der Wax ford tötete, ist britischer Agent. Allerdings nicht unser Mann. Aber wir hätten ihn gern bei uns. Okay, Bernie ist also ein Killer, aber Waxford ist hundertfacher Kil ler. Als führender Kopf einer gefährlichen Intellektuel lengruppe, hat er eine Reihe von Anschlägen ausgekno belt. Zuletzt das Massaker bei der Vierten Panzerbriga de in Belfast.“ „Was bedeutet schon ein Kopf bei der Hydra“, be merkte Urban. „Ihre Köpfe wachsen, kaum sind sie abgeschlagen, in Sekundenschnelle nach.“ „Jetzt sind es nur noch drei“, frohlockte der Brite. „Ihr kennt sie?“ „Solltest du je etwas von ihnen hören“, fuhr der Brite fort, „ihre Namen sind Timberlake, ein fades Adligen gesicht, O’Hara, mehr ein Boxertyp, und Fitzmaurice, Rundkopf mit Sommersprossen. Sie sind die Kreativen, die Vordenker, die Auslöser, die Männer von morgen mit den neuen Ideen. Alles Burschen von der Universi tät Dublin, Dozenten, Professoren. Wenn es jemandem gelingt, in Ulster tatsächlich den großen Rabatz zu ve r anstalten, dann ihnen. Die irische Regierung, die Frie den halten möchte, war nahe daran, sie zu kriegen. Di e Polizei kam um Minuten zu spät. Sie wurden gewarnt und verließen bei Nacht und Nebel das Land.“ Bei den Anstrengungen, die die Briten unternahmen, mußten sie eigentlich zu finden sein. 42
Urban kombinierte sofort: „Was kommt in Frage, Die USA, die klassische Fluchtburg für verfolgte Iren.“ „Zu weit entfernt. Von den USA aus ist es schwer, ak tiv zu werden.“ „Was befürchtet ihr also?“ „Daß sie bald etwas tun, und daß wir dann wirklich und endgültig unseren Humor verlieren.“ „Ich melde mich, wenn ich etwas höre“, versprach Urban. Der Kollege warnte ihn noch; „Streck den Kopf nicht zu weit hinaus, du könntest sehr rasch einen gehabt haben.“ Nachdem er aufgelegt hatte, fühlte Urban sich noch mehr gebremst. Ganz typisch für die Entwicklung be stimmter Fälle. Er kannte die Branche. Der Geheim dienst war die einzige Branche, die er wirklich gut kannte. Darüber hinaus kannte er nur noch ein paar Kneipen. In der Kneipenbranche lebte man länger. Und Leberkrebs war nicht schmerzhaft. Im Agentenjob hin gegen stand die Chance, daß man sauber und schnell umkam, eins zu zehn. Daß man schmutzig und langsam krepierte, hingegen zehn zu eins. Also bemühte er sich zu vergessen, was ihn im Grun de gar nichts anging.
Und dann meldete sich das karottenhaarige, grünäugi ge Weib aus Irland. Sie weilte zur Beerdigung ihres Bruders in Dublin und litt offenbar an Langeweile. „In Hamburg“, sagte sie, „warst du so bissig und ge fährlich wie ein Hund, für den man nie eine Leine braucht. Komm her, und ich zeige dir, was eine Frau aus Whisky mit Pfeffer ist.“ „Mehr Zucker mit Zimt“, verbesserte er, ebenfalls ins 43
Du verfallend. „Du übertreibst, Lady.“ „Ich habe fast nichts an“, sagte sie. „Ist das ein Ange bot?“ „Was willst du, Iren MacBride?“ fragte er. „Das Ferngespräch kostet ein paar Groschen.“ „Jetzt, um Mitternacht, ist Nachsaison“, entgegnete sie. „Was ich will? Dich, Dynamit.“ Sie kannte seinen Kampfnamen. Das gab dem Ge spräch eine neue Richtung. „Du hast Erkundigungen über mich eingezogen?“ „Ich bin TV-Reporterin. Ich recherchiere Hintergrün de. Warum brachte man meinen Bruder um? Wer ist Bernie? Was weißt du von Bernie? Du arbeitest doch weiter an dem Fall?“ „Nein. Er liegt nicht in der Kompetenz des BND.“ „Auch nicht, wenn ich dir sage, daß dieser Bernie erst ein Viertel seines Jobs erledigt hat?“ „Umgerechnet“, sagte Urban, „würde das bedeuten, daß er noch drei Männer töten muß.“ „Meines Bruders Freunde.“ „O’Hara, Timberlake und Fitzmaurice?“ fragte er. ,,Du kennst sie?“ „Man hört so manches.“ „Wenn man es hört, dann ist es schon weit herum.“ „Die drei sollen unauffindbar sein.“ „Ich finde sie“, erklärte Iren MacBride. „Nicht, daß ich mit diesen Fanatikern einer Meinung wäre, aber Politik ist Politik, Mord ist Mord, und Job ist Job.“ Urban reichte den Rat, den er aus London erhalten hatte, an sie weiter. „Das ist kein Geschäft für Ladies“, warnte er, „Diese Leute kennen keine Gnade. Weder die Briten noch die andere Seite. Auch der beste TV-Bericht ist kein von Säure entstelltes Gesicht wert. Ob so schön wie deines oder weniger.“ 44
„Danke“, sagte sie. „Ich beherzige es.“ Je mehr Urban über das Gespräch nachdachte, desto stärker empfand er dessen Sinnlosigkeit. Warum rief sie an? Um was aus ihm herauszuholen, um zu erfahren, ob er noch dabei war? „Laß dich mal blicken“, sagte sie noch. „Ich weiß, daß man dir ein Rückgrat nachsagt, das von Ostern bis Pfingsten reicht, aber sei nicht sonderlich stolz darauf. Stur sind nur die Dummen.“ Danach brauchte Urban einen Drink. Was war das für eine Frau. Sie hatte einfach zuviel Spannung für sein Stromnetz.
Es war, als hätte man Hunde auf ihn gehetzt. Erst ka men Anrufe, aber niemand meldete sich. Immer wurde aufgelegt. Anwesenheitskontrolle? Dann, eine Nacht später. – Es war auf dem Heimweg. Urban fühlte noch das angenehme Essen im Magen. Ein einfaches Mahl: Langustencocktail, Salat mit Roquefort, Steak mit winzigen Maltakartoffeln, Rotwein, Kaffee. – Und nun das. Erst die Schritte hinter ihm im einsamen Englischen Garten, dann die Hand auf seiner Schulter. Breitbeinig stand einer hinter ihm. – Kaum hatte Ur ban sich umgedreht, rückte er ihm auf den Leib und grub ihm die Rechte voll in den Magen. Urban knickte ein. Der andere tänzelte einen Schritt zurück und landete eine scharfe Linke auf Urbans Kinn. Urbans Kopf schnellte regelrecht in den Nacken. Aber dann war er soweit. Er nahm den Gegner aufs Korn und schlug zurück. Mitten in dessen Gesicht Sofort schoß dem anderen Blut aus der Nase. Mit die sem blitzartigen Konterschlag hatte er wohl nicht ge rechnet. Er taumelte. Wütend und wie blind schlug er 45
um ach, hämmerte auf Urban ein. Ziellos. Urban nahm ihn wieder aufs Korn und machte Klein holz aus ihm. Scheit um Scheit. Er wollte es rasch been den, also holte er aus. Seine Faust krachte aufs Kinn des unbekannten Angreifers. Man hörte es bestimmt bis nach Schwabing hinein krachen, als er den Kiefer des Mannes traf, Stöhnend ging der Angreifer zu Boden. Er lag da, und Urban faßte ihm in die Sakkotasche. Der Mann aus dem Dunkel hatte einen irischen Namen, Sal Givern, aber einen britischen Paß. Dazu ein Flugticket LondonMünchen-Paris. Aus dem Paß fiel das Foto einer Frau. Mausgesicht, Mäusehaar, mausgrauer Mausepelz. – Hinten eine Adresse: Rue Urbain 37. Fast sein Name, beinah sein Alter. Das merkte er sich, steckte den Paß zurück, ließ den Burschen liegen und ging nach Hause. Irgend jemand hatte hier verdammt schnell reagiert. 5. Auf dem Londoner Flughafen Heathrow herrschte ab 23.00 Uhr Nachtbetrieb. Nur Post- und Transportflug zeuge starteten noch. Mitunter kam es vor, daß um diese Stunde eine ve r spätete Chartermaschine ankam. Aber nur im Sommer. Jetzt war Herbst. Alles lief in geregelter Routine. Die Postflugzeuge landeten, luden aus, luden um und rollten wieder zum Start. Draußen, in einem abgesperrten Bereich der CargoHallen, stand ein Airbus A 300-600 unter Flutlicht. Das Mittelstreckenve rkehrsflugzeug, ausgelegt für die Beförderung von dreihundertfünfzig Passagieren, diente nachts als Frachtmaschine. Offensichtlich handelte es sich heute um ein sehr wertvolles Transportgut. Der Airbus parkte in einem mit 46
Scherengittern gesicherten Viereck. An allen Seiten der Absperrung ging je ein Polizist mit Stahlhelm und Ma schinenpistole auf und ab. Zwei von ihnen führten Hun de an der Leine. Außerdem stand noch ein Achtradpanzer in der Nähe. Wenige Minuten nach 23.00 Uhr näherte sich ein Ka stenlieferwagen dem Airbus. Er war dunkelblau und von jenem Typ, wie er zum Geldtransport von Bank zu Bank Verwendung fand. Die Initialen B.T.C.L. (Bank Trans port Corporation London) bestätigten es. Im Scherengitter wurde eine drei Meter breite Ein fahrt geöffnet. Der Transporter rollte hindurch, wendete vor dem Airbus und stieß rückwärts an einen der Con tainerkrane. Zwei schwerbewaffnete Begleiter stiegen aus, schau ten sich um und meldeten etwas über Sprechfunk, Nun öffnete sich die Stahljalousie an der Seitenwand des LKW. In seinem Inneren wurden zwei plombierte, rotlackierte Kästen sichtbar. Ihre Abmessungen entspra chen dem eines internationalen Achtelcontainers. Das hydraulische Ladegerät schob seine Gabel hinein, packte den ersten Stahlbehälter von unten und zog ihn heraus. Schon beim Hinüberfahren zum Airbus hob es den Container auf die Höhe der Ladeluke. Dort ve r schwand der Container auf einer Rollenpalette im Inne ren. Ebenso wurde mit dem zweiten Container verfah ren. Aus dem Halbschatten tauchte ein Mann in Lufthan sa-Uniform auf. Er trug drei goldene Ärmelstreifen, war also der Copilot des Frachtflugzeugs. Der Beifahrer aus dem BTCL-Laster reichte ihm Pa pier um Papier. Der Copilot unterzeichnete. Dann kam noch ein Wagen mit zwei Zollbeamten, die ebenfalls Dokumente mit ihm austauschten. Die Gentlemen grüßten einander durch Handanlegen 47
an die Mützenschirme. Der Geldlaster fuhr weg, die Zollbeamten folgten ihm. Oben an der A 300-600 ging das Schott zu. Der Copilot stieg ein, die Triebwerke wurden angelassen. Während der relativ kurzen Wannlaufphase für Man telstromtriebwerke, wurde die Südseite der Absperrung zurückgeklappt. Ungefähr eine Minute später bekam der Airbus Roll freigabe. Mit erhöhtem Turbinensingen setzte er sich Richtung Startpiste in Fahrt und erreichte deren Ende um 23.35 Uhr. Mit der Startfreigabe für den Flug London-Frankfurt, unter Angabe von Kurs, Luftstraße und einzuhaltender Höhe, übermittelte der Tower noch eine zusätzliche Meldung. Sie lautete: „Begleitschutz erwartet Sie im Raum Al dershot.“ „Roger!“ bestätigte der Airbuskapitän und drückte die Gashebel nach vorn. Der Airbus beschleunigte rasant. Bald erreichte er ei ne Geschwindigkeit von hundertsechzig Knoten und hob ab. Zügig und steil ging er auf Reiseflughöhe, zog das Fahrwerk und die Klappen ein. Kurs 110 Grad. Der dritte Mann im Cockpit rechnete, „Voraussichtliche Ankunft Frankfurt: null Uhr fünf zig.“ „Geben Sie es durch“, sagte der Kapitän. Sie umflogen London mit einem nordöstlichen Vier telkreis. Das Lichtermeer der Stadt tauchte in Dunst und lag schon hinter ihnen, als ein Anruf über Sprechfunk erfolgte. Der Copilot deutete auf seiner Seite durch die Cock 48
pitscheibe nach unten. „Die Nachtjäger“, sagte er. Auch der Kapitän sah jetzt die Positionslampen eines Tornados, „Wir bleiben bis Calais bei Ihnen“, meldete die Air Force. „Verstanden und roger“, bestätigte der Kapitän. Wenig später erreichten sie die Küste bei East-burne und hatten nun für etwa sieben Minuten den Ärmelkanal unter sich. Im Radar tauchten schon die Konturen von Cap GrisNez auf. Bald verabschiedete sich der Major der Be gleitrotte. „Wir machen kehrt“, gab er durch. „Guten Weiter flug.“ „Danke und glatte Landung.“ Die Tornados kippten über die Flächen weg. Sie wa ren im Nu außer Sicht. Der dritte Mann im Airbus-Cockpit deutete auf das Wetterradar. „Das erwartete Sturmtief über Luxemburg.“ „Es reicht weiter hinauf als angekündigt“, stellte der Kapitän fest. Der Copilot mit den Hörern auf den Ohren bekam ein langes Gesicht. „Frankfurt meldet Orkanstärke und zunehmend.“ Sie berechneten einen Ausweichkurs und erhielten die Erlaubnis, ihn zu nehmen. Der neue Kurs führte sie am südlichen Rand des Orkantiefs vorbei über die französi schen Departements Aisne, Ardennes und Meuse. – Nahe Metz wollten sie wieder auf Kurs Frankfurt ein schwenken. Für erfahrene Flieger wie die Airbusbesatzung war das reine Routine. Alle Systeme an Bord, die Triebwe r ke, die Avionik, der Funk, arbeiteten einwandfrei. 49
Doch mit einemmal, östlich von Amiens, fiel mit ei nem Schlag der Funk aus. Es begann zu stinken, als schmore etwas hinter den Geräten. „Was ist passiert?“ wandte sich der Kapitän an den Flugingenieur. „Bitte um Schadensmeldung.“ Doch vom dritten Mann kam nichts. Der Copilot drehte sich um und sah den Flugingenieur wie leblos in seinem Sessel hängen. Im selben Moment zog auch der Copilot keuchend Luft, als ersticke er. „Sauerstoffmasken!“ rief der Kapitän. Er kam nicht mehr dazu, die aus der Klappe fallende Maske aufzusetzen. Ihm wurde so übel wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er konnte nicht mehr atmen. Es war ihm, als wäre sein Zwerchfell gelähmt. Der Magen inhalt drohte hochzukommen. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Er fühlte bereits die schwarze Wolke der Ohnmacht und konnte gerade noch den Autopiloten zuschalten, der die Maschine auf Höhe, Kurs und Ge schwindigkeit hielt.
Der Airbus A 300-600 landete auf dem Flughafen Frankfurt/Main mit fünfunddreißig Minuten Verspä tung. Er kam herunter wie eine angeschossene Ente, setzte hart links auf und schien ausbrechen zu wollen. Um dem Schleudern vorzubeugen, riß der Pilot ihn noch einmal hoch und knallte ihn dann brutal auf alle Räder. Immerhin war die Transportmaschine jetzt unten. Aber noch zu schnell. Viel zu spät setzte der Umkehr schub ein. Die zwei Triebwerke heulten auf, die Bremsen griffen endlich, und die Reifen malten schwarze Gummistriche auf den Beton. 50
Nahe dem Pistenende kam das hundertsechzig To n nen schwere Flugzeug in einer Rauchwolke von schwe lendem Reifengummi zum Stehen. „Die müssen stinkbesoffen sein“, bemerkte der Con troller im Tower, als er über Sprechfunk ein Lallen vernahm. „Den Rettungswagen… den Arzt… aber schnell!“ „Was ist los bei Ihnen?“ Da nicht geantwortet wurde, löste der Tower Alarm aus. Der Sankawagen, gefolgt von Feuerwehr und Polizei, raste übers Vorfeld hinaus zu dem Airbus. Als sie hinkamen, sahen sie die Bescherung. Zwei Reifen des Fahrwerks waren geplatzt und in Fetzen. Der Airbus hatte offenbar eine der Rumpfluken verloren. Die Retter kletterten durch das offene Schott. „Gas!“ rief einer, „Achtung, Gas!“ „Als würde Kunststoff schmoren.“ „Das kann tödlich sein.“ Die Männer vorn im Cockpit lebten, aber nur noch zu dreißig Prozent. Ein Wunder, daß es dem Kapitän ge lungen war, Anflug und Landung durchzuführen. Die Retter mußten Sauerstoffmasken aufsetzen, als sie die Besatzung aus den Gurten zogen und ins Freie brachten. Inzwischen schauten die technischen Experten sich an Bord um. Der Funk war ausgefallen, aber die anderen Systeme arbeiteten noch. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, daß es Feuer an Bord gegeben hatte. Als sie die Ladepapiere studierten, stellten sie das Fehlen von zwei stählernen Achtelcontainern fest. „Inhalt?“ fragte einer der Beamten seinen Kollegen. Ehe dieser antwortete, schaute er sich um. „Sie müssen die Dinger verloren haben.“ 51
„Hier scheint alles ordnungsgemäß verzurrt.“ „Empfänger der Container: Deutsche Bundesbank.“ „Inhalt?“ fragte der andere noch einmal. „Je hundert Zehnkilobarren Feingold.“ „Das sind ja… mindestens fünfzig Millionen Mark, sind das ja.“ „Kopfrechnen stark, he?“ „Die haben sich nicht vo n allein hier wegbewegt.“ Sie prüften die Gurte. Eine Reihe von ihnen war glatt durchgeschnitten. Die Beamten meldeten es ihrem Vorgesetzten. Der ließ den Airbus in einen leeren Hangar schleppen und den Hangar versiegeln. Offenbar lag hier eine neuartige Variante von Bankraub vor. Da es Spuren der Täter geben mußte, wurde das Ein treffen der zuständigen Bundeskriminalbeamten abge wartet. Sie kamen am Morgen aus Mainz herüber. Inzwi schen waren die drei Airbusmitglieder soweit, daß sie verhört werden konnten.
In Faissault, einer französischen Kleinstadt am Nord rand der Ardennen, saßen Fitzmaurice und Timberlake in einer Wohnung und warteten darauf, daß das Telefon ging. Es war schon früher Morgen und der Anruf längst überfällig. „Spätestens um Mitternacht bliesen sie das Gas aus“, sagte Maurice. „Abwurf und Absprungzeit etwa null Uhr zwanzig. Jetzt geht es auf halb drei.“ „Sie sind in den Hochwald eines Mittelgebirges ge sprungen“, gab Timberlake zu bedenken. „Es regnet, und sie sind keine geübten Springer.“ „Der Flughafenmann schon.“ 52
„Er hat Probleme mit den Zähnen“, sagte Timberlake. „Außerdem müssen sie das Gold erst finden.“ „Die Container senden ein Peilsignal aus wie Ret tungsboote auf See.“ „Selbst wenn sie sie glatt rausbekamen, können die Positionen kilometerweit auseinanderliegen.“ „Du hast recht“, sagte Maurice und massierte das pelzartige Haar auf seinem Kugelkopf. „Du hast ja recht. Und dann müssen sie noch ein Telefon finden.“ Jetzt stürmte es auch in Faissault. Der Wind peitschte den Regen ans Fenster. Immer wieder hob Maurice das Telefon ab, um sich zu überzeugen, daß der Orkan die Leitung nicht beschädigt hatte. „Du kannst einen verrückt machen“, sagte Timberla ke. „Vergiß nicht, was davon abhängt.“ „Läuft doch optimal, oder? Wie Sal Givern diese Wohnung fand und wie wir den LKW bekamen. Die letzte Meldung aus London klang ebenfalls zuversicht lich.“ Timberlake warf sich auf die eiserne Bettstelle. Aber so ruhig, wie er sich gab, war er nicht. Trotzdem wurde sein Atem bald regelmäßig. Kaum war er eingeschlafen, summte das Telefon. Fast im selben Moment hob Fitzmaurice ab. „O’Hara“, meldete die andere Seite sich. „Bis auf ei nen verstauchten Knöchel ging alles glatt. Die Container liegen im Unterholz eines Bannwaldes am Rande einer Bergwiese. Kommt nach Chemery-sur-Bar. Ich wieder hole: Chemery-sur-Bar.“ Maurice hatte die Karte des ganzen Distrikts im Kopf. „Das liegt ja in den Argonnen.“ „Rund dreißig Kilometer entfernt. Nehmt die Straße einundfünfzig. Kurz vor Sedan geht es links ab. Ich warte am Ortsausgang.“ 53
„Und wo ist Givern?“ „Bei den Kisten. Eine davon ist aufgeplatzt. Er sam melt die Barren ein und bringt den Container notdürftig in Ordnung.“ „Wir kommen.“ „Beeilt euch. In zwei Stunden beginnt die Dämme rung.“ „Wir sind schon unterwegs“, versicherte Maurice. Timberlake brauchte er nicht zu wecken. Er stand schon da, steckte seinen Revolver hinten in den Hosen bund und zog die Stiefel an. Sie gingen. Der dreiachsige Renault, ein Baustellenfahrzeug mit hydraulischem Ladearm, parkte in einer Nebenstraße. Sie ließen an und fuhren durch die schlafende, kleine Stadt. „Es ist genau die andere Richtung“, sagte Fitzmauri ce. „So präzise ließ sich das eben nicht berechnen.“ „Wo verstecken wir den Schrott jetzt?“ „Wie vorgesehen, denke ich.“ „Gutes Stück entfernt. Fahr schneller!“ Es regnete, die Wischer arbeiteten, die Scheiben be schlugen. Allmählich lieferte der Diesel Wärme ins Fahrerhaus. „Bei dem Wetter“, sagte Timberlake, „sind nicht mal die Bauern unterwegs. Du wirst sehen.“ „Das können wir gut gebrauchen.“ Sie erreichten die Abzweigung vor Sedan um drei Uhr vierzig. Trotz des Regens wallte Dunst aus der Flußnie derung. Im letzten Moment sahen sie eine Gestalt wi n kend am Straßenrand stehen. Sie bremsten scharf und ließen O’Hara zusteigen. Als erstes bat er um einen Schluck Whisky und um eine Zigarette. „Meine eigenen sind nur noch Tabakmatsch“, sagte 54
er. Als er getrunken hatte und auch nicht mehr fror, be gann er, wie ein nasser Hund zu stinken. „Wie geht’s?“ „Bis auf meinen Knöchel und Giverns Zahne fast glatt“ „Und das Flugzeug?“ „Entweder es fliegt, bis die Tanks leer sind“, schätzte O’Hara, „oder sie kamen zu sich und brachten es run ter.“ Er sagte ihnen, wie sie fahren sollten. Es ging auf immer mieseren Straßen, dann querfeldein, bis dichter Wald um sie war. Schmale Wege kamen, Hohlwege, Lehm, schweres Gelände. Bald ging es nur noch mit Allradantrieb auf drei Achsen weiter. Einmal fand O’Hara die Abzweigung nicht. Sie mußten wenden und zurück. Dabei gruben sie sich nabentief ein, so daß sie nur mit Kette und Winde wieder freikamen. Endlich glaubte O’Hara, die weite Lichtung gefunden zu haben. „Da ist sie!“ Die Reifen wühlten sich den schmierigen Hang hin auf. Aus dem Unterholz trat Givern, der Mann vom Bo denpersonal in Heathrow. Die Scheinwerfer erfaßten die roten Container. Givern winkte den LKW ein. Dann kam er zur Fahrerseite. Er tat sich schwer beim Sprechen. „Mit dem zweiten Container müssen wir aufpassen. Habt ihr ein Stahlseil?“ „Auf der Pritsche.“ „Das binden wir herum.“ Sie hängten die Container an den Haken der Hydrau lik und lifteten sie auf die Brücke des Baustellenfahr 55
zeugs. Wo sonst Ziegelsteine, Zementsäcke und Ar mierstahl lagen, standen jetzt zwei Tonnen Barrengold, tausend Tausendstel fein, mit dem Stempel der Bank of England auf jedem der Zehnkilobarren. Es wurde schon hell, als sie nach der Generalstabskar te von den Argonnen wieder querbeet in die Ardennen rollten. Sie begegneten kaum Fahrzeugen. Tief im Waldgebirge bei dem verfallenen Welt-kriegII-Bunkerwerk war niemand zu sehen. Nicht einmal Vögel zwitscherten. Sie luden das Gold ab und versteckten es, perfekt ge tarnt, in einer Kasematte, die halb unter Wasser stand. „Gold rostet ja nicht“, sagte Timberlake. Dann planten sie den Ablauf der kommenden Woche. „Maurice, Timberlake und ich“, sagte O’Hara, „fah ren für eine Weile in die Normandie. Ist das Haus si cher, Givern?“ Der Ire, der bis gestern am Flughafen in Heathrow gearbeitet hatte, hob die Rechte und streckte den Dau men ab. „Top. Liegt abseits am Wald und hat zwei Fluchtwe ge.“ O’Hara wollte sich am Bahnhof Sedan absetzen las sen, Maurice und Timberlake bei der Bushaltestelle in Charleville. „Und du bringst den LKW zurück“, sagte Fitzmaurice zu dem meist schweigsamen Givern mit dem Wollschal um beide Kiefer. „Wie steht es mit Geld?“ fragte Givern. „Der LKW ist bezahlt.“ „Ich bin ziemlich blank“, gestand er. „Wo hast du die Zehntausend hingebracht?“ Ein wenig hilflos schaute Givern sich um. Wie immer fühlte er sich von den drei Intellektuellen nicht für voll genommen und überwacht, 56
„Du mußt warten“, entschied O’Hara. „Mit den Millionen im Kreuz?“ „In einem Monat fangen wir an, umzutauschen. Okay?“ „Schon okay“, gab Givern sich zufrieden und senkte den Blick. Er wollte sich nicht anmerken lassen, daß er gegen die Abmachungen verstoßen hatte. Einen der Barren, nur einen Barren von zweihundert, hatte er verschwinden lassen. Vergraben im Unterholz lag er droben an der Waldlichtung. Wenn es wirklich knapp wurde, würde er ihn holen, die Stempel heraushämmern, den Barren mit der Flex in Kilo-scheiben zersägen und dann verscheu ern. In Paris gab es genug Händler, die Gold für den halben Preis kauften. Mit Kußhand sogar. Als O’Hara in Sedan am Bahnhof ausstieg, sagte er: „Bis heute abend in der Normandie.“ „Viel Glück!“ wünschten sie ihm. „Glück ist das letzte Prozent Perfektion, das auf hun dert fehlt“, sagte der Techniker der Gruppe. „Es gibt den Ausschlag. Denkt immer daran. – Denn auch die anderen sind verdammt gut drauf.“ Er haute den Schlag zu, tippte mit zwei Fingern einen Gruß an die Mütze und humpelte davon. 6. Die Konferenz hatte geheimen Charakter und fand im Büro des Präsidenten der Deutschen Bundesbank statt. Zu den Anwesenden, dem Bankchef und dem BNDVizepräsidenten, stieß in letzter Minute der Agent Ro bert Urban, Codenummer 18. Seine Entschuldigung, das Flugzeug hätte wegen Luftstau nicht landen können, wurde akzeptiert. Aber der Vize sagte: 57
Jeder in diesem Lande glaubt, daß man Entfernungen von dreihundert Kilometern aufwärts unbedingt fliegen muß. Gibt ja noch die Bundesbahn, oder?“ Urban, bekannt dafür, daß er selbst Distanzen von tausend Kilometern noch gerne mit dem Auto zurück legte, verzichtete auf eine Antwort Im Spessart hatte Nebel tiefgehangen. Selbst mit dem günstigsten Interci ty wäre er erst in einer Stunde in Frankfurt angekom men. Nicht er hatte diese Sitzung für lebenswichtig gehalten, sondern die zwei Herren Präsidenten auf der anderen Seite des Tisches. Der Bundesbänker begann: „Meine Herren, es geht um rund fünfzig Millionen Mark in Gold. Ein Geschäft zwischen der Bank of Eng land und uns. Verladen in zwei Containern auf Paletten, kam es während des Lufttransports von London nach Frankfurt abhanden. Vermutlich geschah es über Nord frankreich.“ Der zweite Mann im BND unterbrach den ersten Mann der Bundesbank. „Wir kennen die Protokolle“, sagte er. „Dann kann ich gleich zum Schluß meiner Ausfüh rungen kommen“, bemerkte der Bankchef spöttisch. „Beschaffen Sie uns das Gold wieder, nachdem Bun deskriminalamt und Interpol offensichtlich am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt sind.“ Urban wollte nicht unbedingt Kompetenzfragen erör tern, deshalb erklärte er: „Wiederbeschaffen werden wir die zwei Tonnen Gold keinesfalls. Aber wir können sie vielleicht finden.“ Der Bundesbänker blickte die BND-Leute erstaunt an. „Wo liegt da der Unterschied, bitte?“ „Es gibt kaum einen“, zeigte der BND-Vize sich di plomatisch. „Wenn das Gold in Frankreich liegt, und wir finden es, dann wird es Frankreich selbstverständ 58
lich herausgeben. Gar keine Frage.“ „Und wie beurteilen Sie die Aussichten?“ „Wir beurteilen prinzipiell keine Aussichten“, meinte Urban, „solange nicht feststeht, wer den Raub durch führte. Wie es gehandhabt wurde, ist relativ neu.“ „Wäre das nicht schon ein Hinweis?“ „Keineswegs“, bedauerte Urban. „Ob Unterwelt, or ganisiertes Verbrechen wie Mafia und Cosa Nostra oder Terroristen, sie alle arbeiten heute mit einem hochmo dernen, sehr perfekten Instrumentarium.“ ,Ja dann“, meinte der Bänker, „ist es wohl aussichts los. Und Sie waren unsere letzte Hoffnung. Das heißt, der Kanzleramtsminister, der ja wohl Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, verwies mich an Sie.“ Der Bankchef nahm einige Fernschreiben aus seiner Mappe und reichte sie an die Besucher weiter. „Die französische Polizei, die Sûrete nationale, ver mutet, daß das Gold, sofern über Frankreich, dann in der westlichen Fortsetzung des Rheinischen Schiefergebir ges, genannt Ardennen, abgeworfen wurde. Dort müßte demnach zumindest eine Spur davon zu entdecken sein.“ „Kennen Sie die Ardennen?“ erkundigte Urban sich. „Was sollte ich da. Ich bin weder Wandersmann noch Jäger.“ „Die Ardennen stellen allein in Nordostfrankreich ei ne etwa sechshundert Quadratkilometer große, bergige Hochfläche dar, mit Hochmooren, dichten Wäldern, Steinbrüchen und Erhebungen bis zu siebenhundert Meter. Unzählige enge Täler gibt es dort, Höhlen, Grot ten, Stellen, wo selten eines Menschen Fuß hinkommt.“ Der BND-Vize winkte ab. „Verzeihung, aber den Bankpräsidenten interessiert nicht, ob man in den Ardennen gut Indianer spielen kann, sondern wo sein Gold liegt.“ 59
„Unser Gold“, wurde er sofort verbessert. „Es ist Bundeseigentum.“ „Die Ardennen“, machte Urban unbeirrt weiter, „set zen sich nach Südosten hin in den Argonner Wald fort. Er umschließt das Pariser Becken zwischen Aisne und Aire. Auch eine hübsche Gegend zum Indianer spielen. Speziell im Winter, auf den wir jetzt zumarschieren, lassen sich sogar Eskimospiele veranstalten.“ Etwas pikiert zog der Bundesbankchef ein letztes Blatt aus dem Ordner. „Vielleicht hilft Ihnen das weiter. Eine Mitteilung von Scotland Yard. Ein Mann des Bodenpersonals am Flug hafen Heathrow, der bei der Abfertigung des TransportAirbus eingesetzt war, ist nicht mehr zum Dienst er schienen. Er hat sich krank gemeldet. Kriminalbeamte suchten ihn auf, aber er ist verschwunden. Möglicher weise hat er mit der Sache zu tun. Sein Name ist Sal Givern.“ „Klingt irisch“, bemerkte der BND-Vize und schaute Urban dabei an. Der bat, Einblick in die Meldung nehmen zu dürfen, und überlas sie schräg. „Die Iren, die IRA, wäre das ein neuer Aspekt?“ frag te der Bankchef. „Vielleicht“, äußerte Urban. „Das ist alles noch zu dünn, noch zu wenig.“ „Machen Sie mehr daraus“, bat der Bänker. „Es ist Ihr Job, wie es unserer ist, mehr aus Geld zu machen. Als die BND-Experten nach Beendigung der Konfe renz mit dem Lift in die Tiefgarage fuhren, sagte der Vize zu Urban: „Das war keine brillante Vorstellung.“ „Haben Sie erwartet, daß ich den Finger auf die 60
Landkarte lege und sage: Dort ist das Gold vergraben. – Bin ich Hellseher? Bin ich der große Hanussen?“ „Sie könnten ein wenig mehr Zuversicht ausstrah len.“ Urban verteidigte sich. „Man wirft mir immer Präpotenz vor. Irgendwann wirkt das mal.“ Als der Lift unten angekommen war und sie den Dienstwagen suchten, hielt der BND-Vize Urban am Ärmel fest. „Warum haben Sie gezuckt?“ „Weil ich schreckhaft bin.“ „Sie haben gezuckt, als der Bankchef einen Namen nannte.“ „Sie merken auch wirklich alles.“ „Ich kenne Sie gut, Bob. Sie zuckten bei Sal Givern, diesem Mann vom Bodenpersonal im Londoner Flugha fen. Sie kennen ihn?“ Sie fanden den dunkelblauen Mercedes. Der Fahrer ließ an. Sie fuhren die Rampe hinauf und durch die Kontrolle. „Zum Flughafen“, wünschte Urban, „Warum fahren wir nicht zusammen nach München zurück?“ „Wegen Sal Givern“, sagte Urban. „Ob er mit dem Mann identisch ist, der mich letzte Woche im Engli schen Garten angriff, kann ich nicht garantieren, aber der hieß auch Sal Givern und hatte ein Flugticket Lon don-München-Paris in der Tasche.“ „Der Mann ist verschwunden.“ „Aber offenbar ein Außendienstmitarbeiter der IRA. Ein Handlanger. Man schickte ihn nach München, um mir eine warnende Abreibung zu verpassen. Er lief mir in die geballte Faust. Nun hat es den Anschein, als sei er an der Goldraubgeschichte beteiligt. Andererseits hat 61
man uns mit der Wiederbeschaffung betraut. Schließlich sind wir die Organisation zur diskreten Erledigung ex tremer Fälle.“ Der Vize schaute noch nicht ganz durch. „Sie fliegen also nach London?“ „Nach Paris.“ „Um dort diesen Sal Givern…“ „Nein, eine gewisse Danielle. Ich habe mir ihre Adresse deshalb gemerkt, weil der Straßenname Ähn lichkeit mit meinem Namen hat und die Hausnummer mit meinem Alter. Rue Urbain Nummer siebenunddrei ßig. Ihr Foto fiel aus Giverns Paß.“ Kopfschüttelnd lehnte der Vizepräsident sich zurück. „Wenn sie Giverns Mädchen ist, schreibt sie hinten nicht die Adresse drauf. Die wird er wohl noch behalten können.“ „Das fiel mir sofort auf. Ich halte sie für eine Anlauf adresse. Eine IRA-Sympathisantin vielleicht.“ Damit hatte sich für den BND-Vize der Kreis ge schlossen. Er hob das Autotelefon ab, tastete eine Nummer ein, die ihn mit dem BND-Hauptquartier in Pullach vor München verband und verlangte das Reise büro. Dort machte er der Angestellten Dampf, daß sie einen Platz in der nächsten Maschine buchte, die von Frank furt nach Paris ging. „Ich versuche, was ich kann“, erklärte sie. „Nein, nicht versuchen“, befahl der Vize scharf, „son dern buchen. Jetzt. Wir sind in fünfzehn Minuten am Flughafen.“ Dann wandte er sich an Urban. „Man sollte MI-six, Scotland Yard und auch das iri sche Innenministerium davon verständigen.“ „Und die Sûrete und Interpol und Moskau“, spottete Urban. „Und wen noch, bitte?“ 62
„Bloß nichts Illegales.“ „Was ist daran illegal, wenn ich mir diese graue Maus in Paris vorknöpfe?“ „Angenommen, sie weiß, wo Givern und seine IRAKomplizen stecken. Wollen Sie das Nest alleine aushe ben?“ „Ich würde mir gern diesen Givern schnappen.“ ,,Der legt Sie bei der nächsten Begegnung eiskalt um. Bob, ich möchte Sie nicht verlieren. Ich verständige also unsere Freunde.“ Urban schaute auf die Uhr. „Aber bitte nicht vor meiner Landung in Paris plus eine Stunde.“ „Einverstanden“, erklärte sein Vorgesetzter.
Es war schon Nacht in Paris, als Urban im Taxi vom De Gaulle-Flughafen in die Stadt hinein, über die schwarzglänzende, kaum fließende Seine, ins siebente Arrondissement fuhr. Es gehörte zu den besseren Vier teln und das Haus wiederum zu den besseren. Jetzt stand Urban im vierten Stock vor der Wohnung einer gewissen Danielle Pierrot. Für hundert Francs hatte die Concierge ihm bestätigt, daß es sich um ein mausgraues weibliches Wesen mit Mäusehaarschnitt handle und daß sie aus der Bibliothek, in der sie arbeitete, soeben nach Hause gekommen war. Urban hörte ein Radio spielen. – Er läutete. Das Radio wurde abgestellt. Eine Stimme fragte: „Ja, bitte?“ Er läutete noch einmal und länger. „Wer ist da?“ „Ein Freund von Givern.“ „Wer ist Givern?“ 63
„Sal Givern aus London.“ Der Schlüssel sperrte, die Tür ging auf. Sie war hübscher als auf dem Foto. Das überraschte Urban. Sie musterte ihn streng. „Sie sind nicht sein Freund, Monsieur.“ „Sehe ich zu wenig irisch aus?“ Schon war er drin und drückte die Tür gegen ihren Widerstand zu. Sie zeigte nicht die Spur von Angst. Also tat er nicht lange herum. „Geheimdienst“, sagte er. „Givern wird verdächtigt, an dem Fünfzigmillionen-Goldraub beteiligt zu sein. Sie haben gewiß davon gehört.“ Sie reagierte überhaupt nicht. „Wann war Givern da?“ Sie strich das Haar zurück. „Schon lange nicht mehr.“ Urban steckte sich eine MC an, denn im Ascher glomm ebenfalls eine Zigarette, Sie rauchte also auch. „Danielle Pierrot“, nahm er sie härter ran. „Sie sind eine Anlaufadresse für die IRA in Paris. Das kann Ärger geben. In Zahlen ausgedrückt, locker zehn Jahre Zucht haus.“ „Mich ängstigen Sie nicht“, erklärte sie, wieder mit ihrem Haar beschäftigt. „Kostet mich einen Anruf, und die politische Abtei lung der Sûrete nimmt Sie fest. Die verhören Sie glatt hundert Stunden hintereinander.“ „Ich habe nichts damit zu tun“, beharrte sie. „Womit nichts zu tun, meinten Gnädigste?“ Ihre Augen nahmen einen Richtungswechsel vor. Aber wohin, zum Teufel, blickte sie. Zum Fernseher? Durch den Rundbogen in den Nebenraum, wo ihr Bett stand? Zum Bücherregal, zu den Blumen in der Vase? 64
In ihrer deutlichen Abweisung wurde sie immer hüb scher. Die offene Bluse zeigte einen niedlichen kleinen Busen. Urban nahm sie beim Handgelenk und hielt sie fest, während er sie mit sich zog und den Schrank öffne te. Sie sträubte sich heftig. „Verdammt, was suchen Sie?“ fluchte sie. „Weiß ich nicht.“ Er hob die Polster von Sessel und Sofa und tastete sie ab. Das gleiche machte er mit dem Bett. In der kleinen Wohnung war er rasch durch. Zum Schluß holte er noch die Blumen aus dem Ton krug. Papierblumen. Sie brauchten kein Wasser. Trotz dem war der Krug ungewöhnlich schwer und stand fest auf dem Boden. Er stieß dagegen. Ein ziemlich dumpfer Ton erklang. Nun hob er den Krug an. Ungefähr wußte er, wie schwer ein kniehoher Tonkrug sein durfte. „Was ist da drin?“ „Ein Ziegelstein. Damit die Katze ihn nicht umwirft.“ Er schaute sich um. „Wo ist die Katze?“ „Gestorben.“ Ohne sie loszulassen, nahm Urban die Papiermargeri ten aus dem Krug, griff hinein und hatte den Ziegelstein in der Hand. Er war in Zeitungspapier gewickelt. Ein sehr kompak ter, schwerer Ziegelstein. Mindestens zwanzig Pfund, schätzte er. Die Pierrot versuchte sich loszureißen. Es gelang ihr auch. Aber als sie die Waffe aus dem Kühlschrank hol te, brachte Urban sie wieder in seine Gewalt. Er nahm ihr die 7,65er weg und warf sie in den Müllschlucker. „Soll ich Sie fesseln?“ „Merde!“ zischte sie. „Scheiße! Scheißbulle!“ In aller Ruhe wickelte er den Ziegelstein aus der Ze i 65
tung. Er war aus Gold. Ein DreihundertdreiunddreißigUnzen-Barren 1000/1000stel fein – mit dem Stempel der Bank of England. Der Barren war stark verschmutzt, als habe er in der Erde gelegen. Urban putzte den Barren mit dem Ta schentuch blitzblank, faltete das Taschentuch zusammen und steckte es vorsichtig ein, als komme es ihm vor allem auf den daran haftenden Dreck an. Danach schien das Gold ihn nicht mehr zu interessie ren. „Givern war also nicht hier?“ „Doch, vorgestern abend.“ „Was wollte er?“ „Er lieh sich meinen Wagen aus, für ein paar Stun den.“ „Als er zurückkam, deponierte er diesen gelben Zie gelstein in der Vase.“ Sie nickte, machte aber glaubhaft, daß sie nicht wuß te, was im Papier war. Sie dachte an Handgranaten oder eine Pistole. „Benutzen Sie den Wagen in der Stadt?“ „Nur am Wochenende mal zum Rausfahren, für grö ßere Einkäufe und im Urlaub“, erklärte sie bereitwillig. „Wie kamen Sie zu diesen irischen Kontakten?“ woll te Urban wissen. „Ich habe in Belfast studiert. Die Iren waren immer sehr gut zu mir.“ „Und wer war böse zu Ihnen?“ „Ich liebte da einen Kerl. Die Engländer haben ihn eingesperrt. Er starb im letzten Winter an Tb – Kennen Sie das britische Gefängnis in Ulster?“ „Bin nicht scharf darauf, gestand Urban. „Seitdem bieten Sie den IRA-Leuten also Hilfe und Unter schlupf.“ „Ist das etwa unehrenhaft?“ begehrte sie auf. 66
„Was“, fragte Urban, „ist bitte durch und durch eh renhaft, Madame. Ich kenne nichts dergleichen. – Also, wo steckt Sal Givern?“ „Eher würde ich mich vierteilen lassen, als Ihnen das zu sagen. Das verstehe ich unter Ehrenhaftigkeit.“ Urban schaute sich noch ein wenig um. In einer Scha le lagen Autoschlüssel mit einem Blechanhänger. Dar auf die Prägung des Kennzeichens. „Man wird Givern finden“, sagte er. „Aber vorher findet man Sie.“ „Wo?1 „Andere. Und die werden Sie vielleicht töten, wenn Sie nicht aussagen, Danielle. Aber nicht sofort, sondern langsam, peu à peu.“ „Es ist mein Tod, oder?“ „Und Ihre Schmerzen“, ergänzte Urban. „Aber wenn man die Wahl hat, sollte man den einfachen Weg vo r ziehen. Geben Sie mir Giverns Adresse, und ich werde mich darauf beschränken, das Versteck des Goldes aus ihm herauszuquetschen. Es gehört uns.“ Sie lachte geringschätzig. „Gold liegt in der Erde und gehört allen oder keinem. Wie die Luft zum Atmen und das Wasser.“ „Vorsicht“, warnte Urban. „Die werden auch bald rationiert.“ Er wußte, daß ohne Gewaltanwendung nichts von ihr zu erfahren war. Deshalb begnügte er sich mit dem, was er hatte. Mit dem Lift fuhr er in die Tiefgarage und suchte den Wagen mit dem Kennzeichen am Zündschlüsselbund. Es war ein weißer R 4. – Dreckmäßig gab er nichts her. Offenbar hatte Givern ihn nach der nächtlichen Fahrt gewaschen. Aber daß Givern den R 4 benutzt hatte, um den Gold barren zu holen, stand für Urban fest. Wahrscheinlich 67
hatte er einen Teil der Beute für sich privat beiseite geräumt. Urban trat dicht an den R 4 heran und versuchte, den Tacho abzulesen. Der Tageszähler stand auf 386 Kilometer. Wenn die Pierrot den Tacho vorher auf Null gestellt und den Wa gen nicht benutzt hatte – und so sah es aus – , dann war der Ort, wo Givern den Barren ausgebuddelt hatte, die Hälfte von 386, also 193 Kilometer, entfernt. Man wü r de eine Generalkarte von Nordfrankreich nehmen und mit dem Zirkel einen Kreis schlagen. Sollte die Auswe r tung des Schmutzes am Barren noch Hinweise auf die Bodenbeschaffenheit liefern, dann… Urban dachte vorerst nicht weiter. Er ging ein Stück, rief ein Taxi und ließ sich zu sei nem Hotel bringen. Im George V war ein Zimmer M. Noch vor dem Abendessen rief er in München an. „Ich hoffe“, sagte er, „wir finden das Gold auch ohne diesen Givern. Dann gäbe es keine Komplikationen.“ Gewiß würde es zu einer Schießerei kommen, wenn er Givern und seine Freunde in ihrem Versteck aufstö berte. Das war wie im Krieg, da wurde auch zurückge schossen. Und es war sein Hintern, den er da hinhalten mußte, und nicht der der Bundesbankdirektion. 7. Für dieses Kommandounternehmen hatte Colonel Li ston den harten Kern seiner Truppe über den Ärmelka nal beordert. Seit dem sensationellen Goldraub in der Luft war Li ston der Überzeugung, daß die Täter sich in Frankreich aufhielten, und daß sie der IRA angehörten. Denn auch Sal Givern hatte eine IRA-Vergangenheit. 68
Bis zu diesem Abend hatte Liston nur nicht gewußt, wo er sie finden konnte und wo es sich zuzuschlagen lohnte. Aber nach dieser heißen Information, die vom BND München über MI-6 London zu ihm gedrungen war, schöpfte er Hoffnung. „Ich sehe rot“, sagte er. „Rot geht die Sonne auf. Knöpft euch dieses Weib in Paris vor. Macht sie zu Tatar, notfalls zu Mus, aber bringt mir Informationen. Mister Dynamit gegenüber war sie noch ziemlich keusch. Aber dieser Junge hält es immer mit ‘ner ko misch verqueren Art von Moral. Er will alles partout mit dem Kopf und nicht mit der Faust schaffen. Typisch neudeutsches Verhalten.“ Das Dreierkommando machte sich fertig. „Wir warten hier in Rouen“, fuhr Liston fort, „und halten uns bereit. Bis Paris sind es hundertzehn Kilome ter. Eine Stunde Fahrt. Rogers kennt sich aus. In der Rue Urbain Nummer siebenunddreißig, siebtes Arron dissement, wohnt die Lady. Ein IRA-Weib. Bringt mir die Information oder sie. Am besten beides.“ Der Colonel schaute auf seine Marine -Taucheruhr mit dem schwarzen Zifferblatt und den grünen Leuchtzei gern. „Es ist jetzt zweiundzwanzig Uhr. In vier Stunden seid ihr zurück. Dann bleiben uns noch mal vier Stun den, bis es hell wird.“ Das Dreierkommando fuhr los. Liston steckte sich eine Zigarette an und kaute, wie es seine Art war, beim Rauchen darauf herum. Er wälzte seine drahtige Zehnkämpferfigur auf das Bett und unterdrückte beim Hinlegen ein Stöhnen. Ir gendwie hatten die Kämpfe der letzten zwanzig Jahre ihn kaputtgemacht. In einem offiziellen Krieg ging man drauf, oder man 69
überlebte. Wurde man verwundet, dann flickten sie einen wieder zusammen. Aber dieser hundsgemeine Krieg an dieser brutalsten aller Fronten machte einen Mann von innen heraus fertig. Bevor man gegen die IRA-Bastarde antrat, hatte man noch Vorstellungen von Fairneß, von einem Kampf Mann gegen Mann, ohne List und Heimtücke. Aber schnell erkannte man, daß es nur eines gab: Sie oder du. Und es gab keine Gnade, denn sie übten auch keine Gnade. Egal, ob bei Überfäl len, beim Sprengen von Kinos, Schulen, Krankenhäu sern, Kasernen oder im Untergrundkampf. Also, kein Erbarmen mit Skorpionen. Man mußte sie ausrotten, verbrennen, zerschlagen. Das war seine Erfahrung – seine bittere. Und wie es in ihm aussah, das war das Abbild dieser Erfahrung. Er nahm einen Schluck Scotch, versuchte zu entspan nen. Aber da war eine Uhr auf irgendeinem Kirchturm. Sie schlug jede Stunde und jede halbe. Um Mitternacht war er noch hellwach. Um 1.00 Uhr rechnete er, daß seine Leute auf dem Rückweg sein müßten. Um zwei Uhr wurde er unruhig. Aber wozu. Seine Männer waren die besten. Er konn te sich blind auf sie verlassen. Wenn sich durch Paris auch nur die Duftspur dieser Danielle Pierrot zog, dann hatten sie sie erschnüffelt. Das Telefon ging. „Rogers“, meldete sich sein Capo. „Wir sind an der Autobahnausfahrt Rouen, Sir.“ „Habt ihr es?“ „Sie spuckte es aus“, sagte Rogers, „kurz bevor sie in der Badewanne abnippelte. Sie hat es uns noch aus dem Jenseits herübergeflüstert. Sie stand schon auf der ande ren Seite des Flusses, Sir.“ „Wo stecken diese Bastarde?“ „In einem einsamen Gehöft zwischen Epouville und 70
Criquetot. Die Nebenstraße nach Fecamp verläuft an der Küste entlang. Eine halbe Meile landeinwärts davon liegt nur dieses eine Gehöft. Gar nicht zu verfehlen.“ „Mit wie vielen Gegnern müssen wir rechnen?“ „Soweit ich die Pierrot verstand, sind es vier. O’Hara, Timberlake, Fitzmaurice und Givern.“ „Damit hätten wir den Gehirntrust vollzählig be i sammen. Wir brechen sofort auf. Treffpunkt Goderville. In vierzig Minuten. Drei Uhr.“ „Wir sind da, Sir“, bestätigte Rogers. Der Colonel weckte seine Männer. Sie verließen das Quartier, trafen sich am RangeRover und quetschten sich hinein. Alle fünf. Hinten lagen die Waffen. Ein Arsenal, ausreichend, um Bunker zu sprengen. Auf der Generalkarte war das Gehöft eingezeichnet. Sie fuhren mit den zwei Geländewagen nur soweit her an, daß die Motoren nicht zu hören waren. Am Rande eines Birkenwaldes luden sie die Waffen aus. Acht Maschinenpistolen, die Bazooka, eine Kiste Handgranaten und den Sprengstoff. „Was ist mit dem Brandkanister?“ fragte Rogers. „Mitnehmen!“ befahl der Colonel. „Und zieht Split terschutzwesten über. Es wird Zunder geben.“ Als sie auf den Hügel, hinter dem das Gehöft liegen mußte, zumarschierten, war der Mond am Untergehen. Er stand hinter ihnen wie eine zitronenfarbige Laterne. Oben am Hügel gab der Colonel das Zeichen. Sie warfen sich hin. Das Nachtsichtgerät machte alles deutlich. Die Mau ern der zwei Gebäude, Haus und Stall, den Tümpel neben dem Haus, die Remise. „Es gibt zwei Wege“, sagte der Colonel. „Den, den 71
wir benutzen und einen, der nach Osten in den Wald führt. Simpson, Sie umgehen das Gehöft und knallen alles ab, was zu entkommen versucht.“ Simpson richtete sich auf und verschwand fast unhör bar. „Im Hof steht ein Wagen“, fuhr der Colonel mit sei ner Zielansprache fort. „Ein VW-Bus. Nur ein Fahr zeug, das ist leichtsinnig. Und weil sie das nicht sind, schätze ich, daß sie noch etwas Fahrbares in der Scheu ne haben. Also aufpassen. – Smith, Sie bleiben hier, genau in dieser Mulde, und sperren die Westseite. Aber totalissimo.“ „Verstanden, Sir.“ Von seiner insgesamt acht Mann starken Truppe hatte er jetzt noch sechs. Je zwei Mann sollten sich dem Ge höft von Nord und Süd nähern. Er selbst wollte mit Rogers, von Westen kommend, den Laden aufrollen. „Wir gehen als erste los“, entschied er. „Bin sicher, die Iren haben eine Wache aufgestellt. Im Abstand von fünfzig Metern folgen. Angriff auf Blinksignal. Sofort volles Feuer auf Türen, Fenster, auf jedes Loch. Häu serkampf, wie geübt.“ Noch einmal blickte er durch das InfrarotNachtsichtgerät und sah Simpson, wie er die Wiese rechts vom Haus überquerte. – Und dann entstand Be wegung am Haus. Liston fluchte leise. „Die Wache! Verdammt, er hat Simpson bemerkt. Und er hat ein Gewehr. Los, nichts wie los, Rogens!“ Sie waren noch keine fünfzig Meter weit gekommen, als ein Schuß fiel. Die Männer, welche das Gehöft von der Flanke her nehmen sollten, schwärmten aus. Trotz der schweren Waffen und der Munition legten sie Mittelstreckentem po vor. – Nur noch zweihundert Meter. 72
Im Haus wurde es hell. Unten und oben. „Licht aus!“ schrie jemand. Der Strahl einer Taschenlampe geisterte im Hof beim Tümpel herum. Und dann sprang die Tür auf. Zwei Männer stürmten aus dem Haus. Was sie riefen, war nicht zu verstehen. Sie hatten Stablampen und leuchteten damit die Um gebung des Gehöftes ab. Colonel Liston und Rogers waren inzwischen so nahe, daß sie sich in Deckung werfen mußte. „Warum hast du geschossen?“ hörten sie einen der Iren fragen. „Ich sah etwas.“ „Ein Stück Wild, ein Nachtvogel.“ „Quatsch!“ „Oder ein Wiesel. Schau im Hühnerstall nach.“ Die Iren standen herum und wirkten ratlos. „Im Stall war es nicht.“ „Falscher Alarm.“ „Ich hau’ mich wieder hin.“ Liston und Rogers hatten sich kurz verständigt. Drei der vier IRA-Männer waren jetzt im Freien. Der Au genblick zum Angriff war günstig. Gleichzeitig setzte auch von den Flanken das Feuer ein. Sie sahen, wie die Lampe in der Hand eines Iren in weitem Bogen davonflog. Ein Körper klatschte in den Tümpel. Eine Türe knallte zu. Dann herrschte für Se kunden Stille. Im Haus wurde das Licht gelöscht. Eine Fenstersche i be barst. Wieder Stille. „Er verschafft sich freies Schußfeld“, flüstere Liston. „Jetzt die Bazooka.“ „Ich muß näher ran.“ Rogers robbte bis zu dem verfallenen Zaun. Ein Lichtkegel fiel auf ihn. Aber im selben Moment war das 73
fauchende Wumm der Panzerfaust zu hören. Die schwe re Granate zischte durch das Fenster ins Haus. Ein Blitz, Detonation, schmetterndes Krachen. Die ganze Seiten front des Hauses platzte heraus. Ein Loch, so groß daß ein Regiment hätte durchmarschieren können, entstand. Drinnen brannte es. Ein Verwundeter schrie. Die zwei an der Nordflanke schalteten ihre Handlam pen ein. Ein Ire taumelte verletzt aus dem Haus. Mit MPi-Garben mähten sie ihn nieder. Stille. Nur das Feuer knisterte. Die brennenden Bal ken begannen zu stinken. „Das waren mit Sicherheit drei“, sagte Rogers. „Fehlt noch einer.“ Liston sprang aus der Deckung und gab Signal zum Sammeln. „Zählt die Toten durch!“ befahl er. „Brandkanister in die Scheune und nichts wie weg.“ Sie suchten überall. „Zwei Mann nur“, rief Smith. „Und der im Tümpel?“ „Ja, einer liegt noch im Tümpel.“ „Zieht ihn raus und werft ihn auf den Scheiterhaufen.“ Sie bargen den dritten Toten aus der Jauche, als ein merkwürdiges Geräusch entstand, ein ratschendes Rat tern. Noch einmal, nach Sekunden wieder. „Ein Motorrad!“ schrie Rogers. Der Motor sprang an. Es war im Stall. Rogers riß zwei Handgranaten ab und warf sie. Die Explosion fetzte das Tor heraus. Man konnte durch die Scheune hindurchsehen. Also hatte sie hinten ein zwe i tes Tor. Schon fingen Heu und Stroh Feuer. Im Qualm sahen sie den vierten Iren nicht mehr. Sie hörten nur, wie er draußen auf den Wald zuhielt. Aber da oben stand Simpson und ließ keinen ent 74
kommen. Prompt hörten sie seine MPi bellen. Er schoß das ganze Magazin leer und warf zwei Handgranaten. Aber der Motorradmotor lief weiter. „Er muß ihn erwischt haben“, sagte Rogers. „Der Motor läuft immer noch.“ „Die laufen oft noch eine Weile.“ Sie lauschten angestrengt. Und dann schien es Colo nel Liston, als entferne sich das Motorengerätisch. „Verdammt! Einer kam durch“, fluchte er. „Smith und Burner, holt die Wagen, Den kriegen wir.“ Sie bekamen nur seine Spur. Neben den Reifenabdrücken fanden sie hin und wi e der einen Tropfen Blut. „Er ist verletzt“, sagte der Colonel. „Weit kommt er nicht.“ Sie folgten der Spur bis zur Straße nach Fecamp. Auf dem Asphalt war nichts mehr zu erkennen. Sie teilten sich und rasten nach beiden Richtungen davon. Ohne Erfolg. Als es dämmerte, trafen sie sich in Bolbec. „Wer sind die Toten?“ fragte der Colonel. „Den Fahndungsfotos nach zu urteilen, haben wir O’Hara, Timberlake und Givern erledigt.“ „Dann ist Fitzmaurice entkommen“, stellte Liston fest. Nicht, daß ihm das gefallen hätte, aber gefährlicher wäre O’Hara gewesen. „Der Kugelkopf ist Professor für Geschichte“, sagte er. „Er hat mehr Sommersprossen als Initiative. Allein ist er aufgeschmissen. Guter Mann, ja, aber kein Strate ge.“ Sie versetzten sich wieder in den Zustand von Zivili sten und fuhren nach Rouen zurück. 75
Fitzmaurice tankte in Duclair die Honda randvoll. Im Supermarkt nebenan kaufte er Klebeverband, Mull, Wundalkohol und Puder. Dann fuhr er über die Seine brücke und drüben ans Flußufer. Die Jeans mußte er aufschneiden. Sie war unten zu eng und ging nicht über die Streifschußwunde. Es sah schlimm aus. Die Socke war rot von Blut, im Schuh stand Blutschmiere. Die wässernde Wunde hatte schwarze Krusten. Er reinigte den fingertiefen Fleischspalt, der wieder zu bluten anfing. Er puderte die Wunde mit Penicillin, stopfte Mull hinein und klebte sie zu. Socken und Schuh wusch er im Fluß. Blut war im kalten Wasser löslich und leicht zu entfernen. Dann fuhr er weiter, immer auf Nebenstraßen, nach Paris. Wem dieser Überfall zu verdanken war, das wußte er. So brutal gingen nur die Liston-Boys vor. Die Adres se mußten sie von der Pierrot haben. Von wem sonst. – Frauen waren meist das schwächste Glied in der Kette. – Aber woher hatten sie den Hinweis auf die Pierrot? Er kannte Paris kaum und brauchte eine geschlagene Stunde, bis er sich ins siebte Arrondissement durchge fragt hatte. Das Motorrad stellte er zwei Straßen entfernt ab, schlenderte, ein wenig hinkend, in die Rue Urbain, ging an der Nr. 37 vorbei, blieb an der Ecke stehen und war tete. Dann betrat er ein Bistro und rief bei der Pierrot an. Niemand meldete sich. Er beobachtete das Appartementhaus und rauchte da bei eine Zigarette. Es gab nichts, was ihm mißfallen hätte. Es herrschte normaler Nachmittagsverkehr. 76
Hinter einem Mädchen, das aus der Schule kam, wischte er ins Haus. Ohne daß die Concierge ihn sah, kam er bis zum Lift und fuhr in die Garage. Danielle Pierrots weißer R 4 stand hinten links. Fitz maurice tastete die Dachrinne ab, fand den Schlüssel und sperrte auf. Im Handschuhfach lagen die Papiere. Er ließ an, fuhr ein Stück, zog an der Kette für den Toröffner und rollte Minuten später in Richtung Osten. Im Grunde war die Pierrot eine zuverlässige Mitarbe i terin. Das hatte schon Sal Givern bestätigt. Der R 4 war in gutem Zustand und vollgetankt. Auf der Fahrt nach Osten machte Fitzmaurice hinter Reims Pause. Er nahm eine Kleinigkeit zu sich und schlief bis zum Abend. Von Sedan ab, das er gegen 19.00 Uhr erreichte, kannte er den Weg. Er hoffte, ihn auch bei Dunkelheit zu finden. Im Wald war es trocken. Seit der Nacht, in der sie das Gold geraubt hatten, hatte es nicht mehr geregnet. Er kam bis wenige Meter an den Bunker heran. Dann aller dings schafften die schmalen Reifen des Fronttrieblers die Steigung nicht mehr. Bei Batterielicht, mehr tastend als sehend, suchte Fitz maurice nach der Kaverne, wo das Gold lagerte. Dann schleppte er sieben Zehnkilobarren herauf und verstaute sie in dem kleinen Kombi. Ein Zehnkilobarren war derzeit hundertfünfzigtausend Dollar wert. Bankeinkaufspreis. Er wollte seinen Mann in Mallorca nicht übervorteilen. Nachdem er das Buschzeug und die Felsbrocken wi e der als Tarnung vor den Bunkereingang gepackt hatte, fuhr er durch den Wald, durch das Tal, am Fluß entlang, bis zur Straße nach Châlon. Er wurde müde, die Schußwunde pochte. Trotzdem tankte er noch einmal und kaufte eine Lacksprühdose 77
Bleigrau. Die Nacht verbrachte er in einem Hotel in St. Dizier. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn ihm Colonel Liston bis hierher gefolgt wäre. Sehr früh brach er auf. Unterwegs nahm er einen Café noir und ein Brioche. Abseits der Straße nach Dijon lackierte er die Goldbarren grau. An der Grenze wurde kaum kontrolliert. Spanien gehörte inzwischen auch zur EG, Wenn man die Barren fand, würde er sagen, es handle sich um Bleiballast, damit der R 4 besser auf der Straße lag. Das Pochen in der Wunde hatte nachgelassen. Sie fühlte sich allerdings pelzig an. Fitzmaurice tankte und fuhr und tankte und kam am zweiten Tag seiner Flucht bis Perpignan in Südfrank reich. Von dort rief er Strangos in Mallorca an. Fitzmaurice erreichte Strangos, den Fachmann für be sonders schwierige Fälle, wie er sich nannte, erst beim dritten Versuch. „Ich habe alles bei mir“, sagte er. „Wie vereinbart.“ ,,Das wundert mich“, gestand Strangos. „Sie glauben mir nicht?“ „Wenn Sie es sagen, dann schon. Aber eine Menge spricht dagegen, daß aus unserer Abmachung etwas wird.“ „Wie kommen Sie auf diese Idee?“ Strangos war ein ungewöhnlich offener Mann. Er antwortete, als habe er sich irgendwann einmal ge schworen, nie wieder im Leben zu lügen. „Will nicht behaupten, es sei mein siebter Sinn gewe sen“, antwortete er. „Ich hörte nur, daß Ihre Gruppe aufgerieben wurde.“ 78
Das beunruhigte Fitzmaurice. „Woher wissen Sie das?“ „Ich habe meine Quellen und alten Verbindungen“, erwiderte der Exagent irgendeines Geheimdienstes. „Morgen steht es vermutlich in den Zeitungen.“ „Was?“ „Irisches Terroristennest von britischer Kommando einheit in der Normandie zerschlagen.“ „Ich konnte entkommen“, erklärte Fitzmaurice. „Zu frieden?“ „Man jagt Sie aber.“ „Vermutlich.“ „Ich schätze, Colonel Liston ist hinter Ihnen her. Mei ne Villa in Mallorca scheidet als Treffpunkt mithin aus. Wo sind Sie jetzt?“ „Bei Perpignan.“ Strangos schien nachzudenken. „Kommen Sie nach Barcelona.“ „Wann?“ „Ich fliege morgen in aller Frühe rüber.“ Strangos besaß eine Sportmaschine und nannte Fitz maurice einen kleinen Flugplatz bei Barcelona, wo sie sich treffen konnten. „Dort läßt sich ungestört reden.“ „Es sind sieben Zehnkilobarren“, gab Fitzmaurice zu bedenken. „Kein Problem. Wir laden einfach um. Der Flugplatz hat nicht einmal einen Zaun. Und Zoll gibt es auch keinen. Barcelona – Mallorca ist ein Inlandflug. Bis wann können Sie dasein?“ „Mittag.“ „Ich warte“, sagte Strangos. „Gute Fahrt. Und seien Sie vorsichtig.“
79
Obwohl Strangos unter der grauen Lackschicht die Prägung der Bank of England und den Feinheitsstempel erkannte, kratzte er die Farbe von den Barren und mach te mit Säure die Echtheitsprobe. „Wissen Sie, Professor“, erklärte er, „man wird zu oft beschissen.“ Nachdem die Barren in die einmotorige Piper umge laden waren, hörte der blonde Huhne sich Fitzmaurices Wünsche an. „Wie wir bisher kämpften“, begann der Ire, „das war Kinderkrieg mit Holzschwertern und Gummischleuder.“ „Sie haben sich recht gut geschlagen“, äußerte der bri kettköpfige Strangos. „Aber die Wirkung wurde stets verschenkt.“ „Weil Ihre Regierung nicht hinter der IRA steht.“ „Nicht offiziell“, schränkte Fitzmaurice ein. „Die Minister, die Abgeordneten sind alle tapfere, heimattreue Iren. Aber sie sind an Verträge gebunden. Sie denken anders, als sie reden. Deshalb muß man vollendete Tatsachen schaffen.“ „Was sie sich vorstellen, wurde bis jetzt noch nicht versucht.“ „Doch, einmal schon“, erwiderte der Geschichtspro fessor. „Bei Lord Mountbatten. Die Entführung miß lang. Man mußte ihn töten. Er war wohl auch eine Nummer zu klein.“ „Und wer ist Ihrer Meinung nach die richtige Num mer?“ Fitzmaurice, der den Vertrag mit dem Killer als abge schlossen betrachtete, sagte es ihm. Er nannte den Na men und dazu den Titel. Strangos zog die Mundwinkel kritisch nach unten. „Halten Sie das für undurchführbar, Strangos?“ 80
„Es gibt Probleme, aber keine unlösbaren, Professor.“ „In Oslo also.“ „Ja, dort ist es wohl möglich.“ „Und es darf nicht laufen wie bei Mountbatten. Wir brauchen das Objekt lebend. Nur so ist England erpreß bar.“ Darüber mußte ein Mann wie Strangos nicht aufge klärt werden. „Was mir an Ihnen gefällt“, sagte der Killer, „ist, daß Sie niemals aufgeben. Nicht einmal jetzt, wo Ihre Freunde tot sind und Sie über Gold im Wert von – na, sagen wir fünfzig Millionen Franken verfügen.“ „Ich bin es meinen Kameraden schuldig“, antwortete der Ire. „Schön.“ Strangos hatte Zweifel im Ausdruck. „Sie sind der Auftraggeber, und ich bin das ausführende Organ.“ Sie sprachen noch lange und diskutierten jedes Detail. Dann war es soweit, daß Strangos starten mußte, wenn er noch unter Sichtflugbedingungen die Insel erreichen wollte. Sie gaben sich die Hand. „Das ist so viel wert wie ein gesiegelter Vertrag“, sag te Fitzmaurice. „Sie haben nicht den Ruf, jemals ein Abkommen gebrochen zu haben.“ „Was bedeutet schon der schlechte Ruf eines Man nes“, bemerkte Strangos kühl und ironisch. „Ihnen geht weltweit der Ruf voraus, eine Sache, die Sie übernahmen, auch erfolgreich zu beenden.“ „Weil ich einen Job professionell angehe“, erwähnte Strangos. „Dazu gehört, vorher alles zu wissen.“ Nun hatte Fitzmaurice noch eine Frage. „Strangos“, setzte er an, „Woher beziehen Sie Ihre verdammt guten Geheiminformationen?“ „Mit der Nachrichtenbeschaffung“, antwortete Stran 81
gos ausweichend, „ist es wie mit einem guten Parfüm. Wenn man erst preisgibt wie es gemacht wird, dann will es keiner mehr haben.“ Sie trennten sich wie Partner, die für ihre gemeinsa men Geschäfte an eine erfolgreiche Zukunft glaubten. Strangos flog nach Mallorca, und Fitzmaurice fuhr nach Barcelona hinein. In dieser betriebsamen, südli chen Stadt fühlte er sich sicher. Er suchte sich ein kleines Hotel links von den Ram blas. Dort blieb er zwei Tage, dann beschloß er, an der Küste entlang nach Tarragona zu fahren, um sich in einem romantischen Fischerhafen zu erholen. Im Moment gab es nichts für ihn zu tun. Der ent scheidende Schlag würde erst in zwei Wochen erfolgen. Bis dahin hoffte Fitzmaurice, daß die Schußwunde geheilt und er in der Lage sein würde, das nervenaufrei bende Pokerspiel durchzustehen. An einem Abend – es war von Freitag auf Sonnabend – starb der Ire Fitzmaurice auf dem Heimweg von einer Bodega in der Gasse zu seinem Hotel. Er hatte einen Liter Wein intus und war in gehobener Stimmung, wie schon lange nicht mehr, als die Kugel aus einer schallgedämpften Waffe seine Stirn traf und den Kopf von vorne nach hinten durchbohrte. Er war auf der Stelle tot. 8. In Kreisen der Nato-Geheimdienste verbreitete sich die Beunruhigung wie ein ansteckendes Fieber. Die Nervosität schlug bis Bonn durch. Der Kanzleramtsminister vertraute sich dem BNDChef an. „Und wissen Sie, worauf es hinausläuft? Die Englän der behaupten, die Bundesrepublik würde den irischen 82
Terrorismus gegen Ulster finanzieren und damit zu einem Zerwürfnis innerhalb der Nato beitragen.“ „Das ist ja wohl das Höchste“, bemerkte der BNDVizepräsident. „Das hat man nun davon.“ Seit Tagen schon machte er sich die bittersten Vo r würfe. Aus Kollegialität dem britischen MI-6 gegenüber hatte er London informiert und ihnen die Adresse der irischen Sympathisantin Danielle Pierrot geliefert. Das Massaker in der Normandie war das Ergebnis. „Unsere Schuld“, versuchte der Minister die Verant wortung mitzutragen. „Allein meine Schuld“, erklärte der BND-Vize. „Der Agent Nummer achtzehn, Urban, der den Fall bearbei tet, warnte mich. Jetzt sind alle tot, die vom Verbleib des Goldes wußten.“ „Bis auf einen“, wandte der Minister ein. Er kannte den Fall in- und auswendig. Schließlich forderte man von ihm und seinem Geheimdienst Aktivi täten, was die Wiederbeschaffung der zwei Tonnen Gold betraf. „Aber der letzte Ire ist flüchtig“, bedauerte der Exper te aus München. „Als die Sache in der Normandie be kannt wurde, meldete ich sofort schwere Bedenken gegen das Vorgehen der Engländer an. Die Franzosen protestierten scharf, und Lord Babington von MI-six bedauerte aufs tiefste. Die Sache sei ihnen ein wenig außer Kontrolle geraten.“ „Man behauptet“, äußerte der eher kleine und nervig wirkende Minister, „also man behauptet, eine als brutale Schlägertruppe berüchtigte Einheit habe das Abschlach ten besorgt.“ ,Ja, Colonel Listons Männer.“ „Was ist das für ein Haufen?“ „In etwa mit unserer GSG-neun oder mit dem sowj e tischen Spetznaz vergleichbar. Hochtrainierte Speziali 83
sten, ausgebildet für Terrorbekämpfung. Im Laufe jahre langer Einsätze in Nordirland sind diese Leute brutali siert worden. Für sie gibt es, außer den Gegner suchen, finden und töten, keine Alternative.“ „Damit grub man uns die letzte Spur ab und verbreitet nun in den Medien, wir würden die IRA finanzieren. Ich habe den Ausdruck verräterisches Albion nie benutzt, aber jetzt liegt er mir doch auf der Zunge. Was, mein Lieber, können wir überhaupt noch tun?“ Der BND-Vize war ebenfalls am Ende. Er hob die Hände, zuckte mit der Schulter und steckte sich eine von seinen flachen ägyptischen Zigaretten an. „Ich setze wie immer auf einen Mann. Auf Urban.“ „Einer allein, ist der nicht maßlos überfordert?“ „Er ist eine Armee, Herr Minister.“ „Auch nur so ein Schlagwo rt.“ „Wenn er in Form ist, werden andere zu Gartenzwe r gen.“ Der Minister wärmte den Rücken an der Heizung. „Verständlich, daß Sie ihn so hochschätzen. Er ist of fenbar Ihre, vielmehr unsere, einzige Hoffnung derzeit.“ „Er arbeitet mit Hochdruck daran, das Goldversteck zu finden.“ „Was selbst den Franzosen, obwohl sie in den Arden nen Heimvorteil genießen, nicht gelang.“ „Warum sollten sie sich Mühe geben. Sie kriegen nicht mal Prozente“, wandte der BND-Vize ein. „Wenn wir das Gold endlich wiederhätten, würde das den Vorwürfen natürlich den Wind aus den Segeln nehmen“, meinte der Minister. „Wie steht es mit dem letzten Mann aus der irischen Intellektuellengruppe? Wenn er selbst Colonel Listons Sonderkommando ent wischte, muß er ein toller Bursche sein und wird mögli cherweise allein weitermachen. Schon deshalb, damit seine Kameraden nicht umsonst starben.“ 84
„Liston wird ihn jagen und zu Tode hetzen“, befürch tete der BND-Präsident. „Nun, Europa ist groß.“ „Aber schon ein winziger Fehler genügt, um Listons Bluthunden eine Fährte zu bieten.“ „Bin nicht sicher, was ich mir wünschen soll und was unser Vorteil wäre. Daß sie ihn bald kriegen oder daß sie ihn nicht kriegen.“ „Am besten wäre, wir bekämen ihn“, bemerkte der BND-Vize. „Liston stellt keine Fragen. Er tötet sofort.“ Die Besprechung näherte sich ihrem Ende. Der BNDVize hatte referiert, und sie hatten die aktuellen Proble me als unlösbar erkannt. Der Mann aus München verab schiedete sich. „Urban soll sehen, daß er klarkommt“, bat der Mini ster. „Denn eines ist sicher, und in diesem Punkt haben die Engländer recht, daß die IRA diesen sensationellen Goldraub beging, um damit ihre Kampfkraft zu stärken. Was damit auf uns zukommt, daran will ich gar nicht denken.“ „Ja, Geld macht gefährliche Leute noch gefährlicher“, befürchtete der BND-Mann. Die grobe Lage des Goldverstecks bestimmte Robert Urban dadurch, daß er einen Zirkel aufspreizte und damit vom Kartenrand eine 193-Kilometer-Distanz abnahm. Genau die Hälfte der Kilometerangabe, die er dem Tageszähler des weißen R 4 in der Pariser Tiefga rage abgelesen hatte. Indem er den Zirkel im siebten Pariser Arrondisse ment einstach, schlug er von Norden bis Osten einen Halbkreis. Die Bleistiftkurve führte von Arras zur Gren ze von Luxemburg, durch die Ardennen und am Rande des Argonner Waldes entlang bis Reims. 85
Auf dieser Linie mußte das Gold liegen, denn Givern hatte in der Nacht die Strecke zurückgelegt, um den Barren zu holen. Urban ging damit ins Labor. „Irgendwo von da“, sagte er, „stammt der Dreck. Was ergeben die Schmutzproben?“ „Erdreich und Humus“, lautete die Auskunft. „Nichts Typisches entdeckt?“ „Du meinst, typisch für die Ardennen?“ Voller Hoffnung blickte Urban den Experten an. Doch der machte Urbans Zuversicht zunichte. „Lehmiger Löß, Spuren von Gras und vermoderten Tannennadeln, durchmischt mit feinem, aber sehr spär lichem Steinpulver.“ „Granitpulver, Kalk, Basalt oder was?“ drängte Ur ban. „Ich komme noch dahinter“, versprach der Experte. Urban verließ das Labor. Im Vorraum traf er mit dem Vizepräsidenten zusammen. Wenn der ins Labor herun terkam, dann bedeutete das nichts Gutes. „Ich suche Sie“, sagte er. „Komme gerade aus Bonn zurück.“ „Kacke am Stock?“ fragte Urban. „Scheiße am Knüppel“, stellte der Vize klar und weihte Urban in den Stand der Dinge ein. „Sie sind eben doch faire Burschen, unsere Bundes genossen in London“, lautete Urbans zynischer Ko m mentar. „Es gerät ihnen außer Kontrolle.“ „Mir gerät bald auch was außer Kontrolle“, bemerkte Urban und hatte den Eindruck, daß das noch nicht das Ende der Hiobsbotschaften war. Aber erst fragte sein Boß: „Wie sieht es bei uns aus?“ „Wir stützen uns auf drei Säulen. A – die Entfernung 86
von Paris, B – die Bodenverhältnisse, und C – daß In terpol den vierten Iren findet.“ „Fitzmatirice?“ „Er wird nicht sitzenbleiben wie eine verschreckte Maus. Er wird sich bewegen. Grenzen überschreiten.“ Der Vize faßte Urban bei der Schulter. „Schreiben Sie die Position C ab. Eben kam es durch. Fitzmaurice wurde in einem Fischernest bei Tarragona gefunden. Tot. Kopfschuß.“ Urban stand einen Moment fassungslos da. „Na fabelhaft.“ „Sieht ganz nach Colonel Liston aus. Aber wie gelang diesen Teufeln etwas, was in Europa weder die Franzo sen noch die Spanier noch die anderen Bundesgenossen schafften, nämlich den Iren zu finden?“ Urban beantwortete diese Frage nicht, weil er über Nebelhaftes nicht gerne sprach. Er fuhr in sein Büro in der Operationsabteilung und zapfte in Spanien die beste Quelle an, die es dort gab: Coronel Erneste Segovia, Chef der BIS Madrid. Erneste war nicht erreichbar. Urban informierte sei nen Adjutanten und wollte am Morgen wieder anrufen. Segovia meldete sich schon zwei Stunden später. Er hatte sich die Akte vorlegen lassen, einiges über Telex nachgefragt und berichtete nun: „Fitzmaurice stand wegen terroristischer Machen schaften auf der Fahndungsliste von Scotland Yard,“ „Heißt das, daß ihr ihn unter Beobachtung hattet?“ „Leider nur in Barcelona“, bedauerte Erneste Segovia. „Aber man hätte seinen Tod wohl in keinem Fall ver hindern können. Es war Profiarbeit. Eine dunkle, men schenleere Gasse, Gewehrschuß mitten ins Schwarze.“ „Listons Handschrift?“ „Ja, Liston kennt keine Gnade.“ „Aber wie, zum Teufel, machte er Fitzmaurice binnen 87
einer Woche in Spanien ausfindig?“ „Von uns wußte er es nicht“, versicherte Segovia. „Keine unserer Polizeidienststellen hat die Sache we i tergemeldet. Wir beschränkten uns auf Beobachtung. Aber ich muß zugeben, Fitzmaurice verhielt sich recht merkwürdig.“ Urban ließ den Chef der spanischen Brigada investi gación erzählen und unterbrach ihn nur selten. „Die Rekonstruktion seines Aufenthaltes in Barcelo na, die wir nach der Todesmeldung vornahmen, ergab folgendes: In seinem Hotel fragte der Ire nach dem Weg zu einem Sportflugplatz in Baladona. Das liegt südlich Blanes am Meer. – Mit seinem R 4 fahr er dorthin. Beim Aero-Club in Baladona, dem der Platz gehört, fragten wir nach. Der Platzwart erinnerte sich an Fitz maurice und beschrieb ihn als einen kugelköpfigen Burschen mit Sommersprossen. Der Ire traf dort einen Mann, der mit einer einmotorigen Piper landete. Sie luden etwas aus Fitzmaurices Wagen um, gingen in die Cafeteria und redeten dort. Gegen Abend startete die Cessna wieder. Und jetzt kommt der Hammer: Weißt du, woher sie kam und wohin sie flog? – Nach Mallor ca. Genaugenommen nach Palma.“ „Ihr habt das Kennzeichen der Piper und die Be schreibung des Piloten“, vermutete Urban. „Leider“, antwortete Segovia in einem Ton, der nichts Gutes verkündete. „Ein Bursche wie ein Kleide rschrank, kantiger Schädel, blonde Bürstenfrisur, Kinn wie ein Amboß, Nase wie ein Stilett.“ ,,Doch nicht etwa…?“ „An wen dachtest du?“ „In Mallorca kenne ich nur einen auf den die Be schreibung paßt. Und vermögend genug, um sich ein Flugzeug zu halten, ist er auch. – Ivan Strangos.“ „Ja, Ivan Strangos“, bestätigte der Spanier. 88
Urban schwieg so lange, daß Segovia fragte, ob er noch am Apparat sei. „Strangos ist Experte für jede Sauerei größerer Dimensionen.“ „Was glaubst du, haben sie am Flugplatz umgela den?“ „Gold“, sagte Urban…Das Honorar für Strangos.“ „Honorar, wofür?“ „Frag mich nach der Quadratur des Kreises“, bat Ur ban, „aber nicht danach.“ „Man kann Strangos nicht festnehmen“, erklärte Se govia „Er hat sich auf spanischem Territorium nie das Geringste zuschulden kommen lassen. Er parkte nicht einmal falsch.“ „Er ist eben ein Superprofi.“ „Er hat auch mit Fitzmaurices Tod nichts zu tun.“ „Warum sollte er. Eines muß man Strangos lassen. Er ist ein Killer, aber er haut seine internationale Klientel nicht übers Ohr. Er zieht jeden Auftrag durch, oder er übernimmt ihn gar nicht erst.“ Daß aus der Richtung Strangos etwas auf sie zukam, war Urban jetzt klar. Aber noch kaute er an der Frage herum, wie Liston Fitzmaurice hatte finden können. „Welches Auto benutzte der Ire?“ „Einen weißen R 4“, sagte der Spanier. „Mit Pariser Nummer, Endziffern fünfundsiebzig.“ Da war es Urban, als ginge ein Scheinwerfer an. Der R 4 war das Auto von Danielle Pierrot. Fitzmaurice hatte von dem Wagen gewußt und ihn für seine Flucht und den Goldtransport benutzt. Aber auch Liston mußte die Existenz des R 4 bekannt gewesen sein. Als er ihn in der Tiefgarage in der Rue Urbain nicht mehr fand, zählte er zusammen. „Ihr habt den Renault durchsucht?“ „Erkennungsdienstmäßig“, bestätigte Coronel Sego 89
via „Abrieb von Gold?“ „Nur von grauer Farbe. Autolack aus einer Sprühdose, in der Form von sieben Briketts.“ „Damit hat er die Barren getarnt.“ Damit stand für Urban fest, daß es losging. Er bedankte sich bei Erneste Segovia, versicherte, je derzeit zu Gegendiensten bereit zu sein und ging in die Zentralkartei. Im elektronischen Datenspeicher war Ivan Strangos aufgeführt. Wie die Dossiers aller wichtigen und gefähr lichen Leute wurde auch seines stets auf dem neuesten Stand gehalten. – Im letzten Jahr war allerdings nicht viel dazugekommen. Es schien, als habe Strangos eine schöpferische Pause eingelegt. „Vielleicht ist er schon auf Rente“, spottete der EDVSachbearbeiter. „Strangos und in Pension? Er holt bestenfalls Atem. Mit vierzig steht einer wie er in voller Blüte.“ Urban ließ alles über Strangos ausdrucken und nahm es mit zum Vortrag beim Vizepräsidenten. „Fitzmaurice traf sich wenige Tage vor seinem Tod mit Strangos“, berichtete er in der Chefetage. „Und wer ist Strangos?“ Urban faßte sich kurz. „Im Rang eines Oberst quittierte er den Dienst beim sowjetischen Geheimdienst KGB.“ Dem Vize mißfiel das sofort. Er erhob Einspruch. „Bei uns kann einer vielleicht kündigen, beim KGB nie.“ „Stimmt. Die Russen würden ihn sofort als Verräter auf die Abschußliste setzen. Also stimmt an dem Bur schen etwas nicht. Der KGB hat ihn beurlaubt, quasi als 90
freien Künstler im Killergewerbe. Eine äußerst subtile Art der Spionage. Dieser Strangos ist ein gesuchter Experte. Finanzgrößen, Industrielle und Politiker bedie nen sich seiner. Er gilt als verschwiegen, erfahren und zuverlässig. Durch die weltweiten Kontakte mit seinen Auftraggebern liefert er dem KGB mehr geheime Inter nas als ein Dutzend mittelklassiger Spione. So sehe ich seine Rolle.“ „Und nun fürchten Sie, arbeitet Strangos für die IRA.“ „Wenn ja, dann in einem höchst schwierigen Sonder auftrag. Die Spanier fanden Lackspuren, die auf sieben Zehnkilobarren Gold hindeuten. Wert: mindestens eine Million Dollar. Und für eine Million wird einiges von Strangos gefordert.“ Der Vize ließ sich den Russen beschreiben. In groben Zügen zeichnete Urban Umrisse dieses Mannes, seine Ausbildung, seine Fähigkeiten. „Was hat er im einzelnen gemacht?“ „Darüber ist wenig bekannt.“ „Ein Beweis für sein Talent.“ „Möglich, daß er die Finger beim Multero-Mord im Spiel hatte und bei der mysteriösen Schiffskatastrophe vor Karatschi. Seitdem ist dort das Meer mit Radioakti vität verseucht.“ Statt der Frage, wie und wo Strangos für die IRA tätig werden könnte, stellte der Vize eine andere: „Wo hält er sich auf?“ „Nach Auskunft unseres Mannes in Palma, den ich sofort anrief, sitzt er in seiner Luxusvilla. Morgens, wenn es kühl ist, spielt er Tennis. Mittags raucht er im Schatten der Arkaden Zigarren und labt sich an Cham pagner. Wenn es ihm zu heiß wird, schwimmt er im Pool ein paar Runden oder begibt sich in sein klimati siertes Schlafzimmer.“ 91
„Das deutet nicht gerade auf erhöhte Aktivitäten hin“, bemerkte der Vizepräsident. „Ein Mann wie Strangos wird sich nie so benehmen, daß sein Verhalten auf irgend etwas hindeutet“, betonte Urban, „Außerdem verfügt er stets über brandaktuelle Informationen. Er holt sie über den Antennenmast auf dem Dach seiner Villa herein. Ich bin sicher, daß Stran gos längst vom Tode seines Auftraggebers Fitzmaurice erfuhr.“ Der Vize zog daraus die Schlußfolgerung. „Und betrachtet den Vertrag damit als beendet.“ „Möglich.“ „Sind das die Regeln?“ „Wenn es keinen Nachfolger für Fitzmaurice gibt, keinen Erben oder Interessenvertreter, dann wäre Stran gos wohl aus dem Kontrakt entlassen.“ „Was ihm nicht unangenehm sein dürfte.“ „Männer wie Strangos“, erwähnte Urban, „haben eine eingeschränkte Gefühlswelt. Sie unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse, störend und nichtstörend. Sie machen ihren Job. Nur dabei erreichen sie einen Zu stand von Wohlbefinden. Aber eine Million für nichts wäre natürlich ein gutes Geschäft.“ „Strangos weiß gewiß, daß Fitzmaurice der letzte der Gruppe war.“ „Anzunehmen“, bemerkte Urban. „Strangos dürfte noch immer mit KGB-Informationen gefüttert werden.“ Wie es aussah, hagelte es in den folgenden Tagen nur so auf sie nieder. „Gibt es auch mal eine gute Nachricht?“ fragte der Vize seufzend. Urban bedauerte. Und dann gab es doch einen Lichtblick. Das Labor meldete Ergebnisse bei der Erdprobenun tersuchung. 92
„Wir fanden Vulkanstaub, Reste von zerriebenem Vulkangestein, wie es sich beim Übergang zu Humus darstellt.“ „Und wo kommt das vor?“ hakte Urban sofort nach. „In den Argonnen eigentlich häufiger als in den Ar dennen.“ „Eigentlich mehr am Nanga Parbat als am Kiliman dscharo“, spottete Urban. – Es war die Enttäuschung, die daraus sprach. „Allerdings läßt sich eine ziemlich scharfe Linie zie hen, wo man geologisch gesichert reine Vulkanböden antrifft.“ „Im Argonner Wald?“ „So ist es.“ „Wie weit entfernt ist das von meiner Kreisbogenli nie?“ „Nicht weit. Maximal dreißig Kilometer“, lautete die Auskunft. „Mann“, stöhnte Urban. „Hast du eine Vorstellung, was dreißig Kilometer in einem Waldgebiet bedeuten? Das sind nahezu tausend Quadratkilometer.“ Doch dann versuchte Urban logisch zu denken. „Ich möchte auf einer Hunderttausenderkarte die Li nie, vielmehr den Streifen von mit Vulkanerde ve r mischtem Humus eingezeichnet haben.“ „Wird geliefert“, bestätigte das Labor. „Ich ziehe aber noch einen Geologen zu Rate.“ Urban ging davon aus, daß Abwurfpunkt, Landepunkt und Versteck des Goldes nicht identisch zu sein brauch ten. Aber wenn er den Landepunkt der Container hatte, fand er vielleicht Spuren. Um zwei Tonnen Gold im Gelände zu bewegen, benötigte man ein Allradfahrzeug, wenn nicht gar einen Dreiachser. Ware er sehr fromm gewesen, hätte er jetzt gebetet, – Er tat es schon deshalb nicht, weil er himmelwärts ge 93
richtete Bitten um geldwerte Vorteile für unmoralisch hielt. Und zwei Tonnen Gold haben oder nicht haben war, wie es im Beamtendeutsch so schön ausgedrückt wurde, ein geldwe rter Unterschied. 9. Nie und nimmer hatte Ivan Strangos damit gerechnet, den Oslo-Job antreten zu müssen. Nach seinem Ve r ständnis war der Kontrakt mit dem Tod des Geschäfts partners Fitzmaurice erledigt. Als er die Nachricht vom Ableben des Iren bei Tarra gona erhalten hatte, begann er, neue Angebote zu sortie ren. Das sah so aus, daß er sie studierte, kalkulierte und die Auswahl seinem Instinkt überließ, der irgendwo im Unterbewußtsein nistete. Er hatte die Abmachung mit der IRA fast schon ve r gessen, als ihn eines Abends dieser Anruf erreichte. Zweifellos kam er von weit her. Man erkannte es schon am Durchläuten. – Dann wurde Strangos an einen amerikanischen Weltraumfilm erinnert, wo die Compu ter sich mit den Astronauten zu unterhalten pflegten. Die Stimme des Anrufers klang wie durch Stahlwolle gefiltert. In diesem Fall war sie wohl elektronisch er zeugt oder verändert. „Mister Strangos“, schepperte es blechern aus dem Hörer. „Sie sind doch Ivan Strangos?“ „Eigentlich“, entgegnete Strangos verärgert, „gehört es sich, daß man seinen Namen nennt und sein Begehr, wenn man fremde Menschen um Mitternacht stört.“ „Verzeihen Sie die späte Stunde“, fuhr der Computer fort, „aber es war mir nicht eher möglich, mich zu mel den.“ „Also, wo sind Sie?“ „Ein Freund von O’Hara, Timberlake, Fitzmaurice, 94
Givern und Waxford“, zählte die Stimme auf. Die Namen hatte Strangos schon gehört, bis auf einen. „Wer ist Waxford?“ „Er mußte als erster sterben.“ „Was kann ich für Sie tun?“ wollte Strangos wissen. „Das brauche ich Ihnen wohl nicht lange zu erklären“, entgegnete die Sprechmaschine. Noch verhielt Strangos sich reserviert. Die Möglich keit, daß Colonel Listons Killertruppe, der es gelungen war, Fitzmaurice und alle seine Freunde auszuschalten, nun auch seine Adresse hatte und von der Abmachung wußte, war groß. „Können Sie nicht sprechen wie ein normaler Mensch?“ fragte der Russe. „Nein, bedauerlicherweise nein.“ „Was haben Sie bloß für ein merkwürdiges Organ. Telefonieren Sie aus der Bratröhre oder aus der Trom pete?“ Der Anrufer gab ein Quietschen von sich, als würde er eine Straßenbahn in der Kurve bremsen. Das war wohl seine Art zu lachen. „Ich muß mich leider eines künstlichen Kehlkopfes bedienen“, erklärte er. „Den mir angeborenen und von der Natur bestimmten hat leider ein Henker der ListonBande zerstört. Bei der Strangulation mit Klavierdraht wurde er durchschnitten. Seitdem bediene ich mich eines Kehlkopfmikrofons, und meine Stimme klingt nicht wie die von Mario del Monaco. Da Sie leider nicht in Oslo auftauchten und sich auch unter der vereinbarten Nummer nicht meldeten, zwingen Sie mich, aktiv zu werden. Ich muß Sie auffordern, Mister Strangos, daß Sie endlich Ihren Hintern in Richtung Norwegen in Bewegung setzen.“ Strangos war nur halb überzeugt. „Fitzmaurice sah es nicht vor, weitere Personen ein 95
zuweihen“, entgegnete er. Wieder das Schweinequietschen. „Er sah auch seinen Tod nicht vor, fürchte ich.“ „Wie kamen Sie zu den nötigen Informationen?“ „Ich bin der nächste Mann im Glied“, sagte der Anru fer. „Quasi der Erbfolgeberechtigte, Wenn ich ausfalle, stehen hinter mir noch andere und immer wieder noch einer.“ „Legitimieren Sie sich“, verlangte der erfahrene Strangos. „Wie wäre es damit“, quäkte der künstliche Kehlkopf. „Renault R 4. Weiß. Pariser Kennzeichen. Sieben Gold barren á zehn Kilogramm. Stempel der Bank of Eng land, Tausend tausendstel fein.“ „Das genügt mir nicht.“ „Mit bleigrauem Autolack getarnt“, fuhr der Anrufer fort. „Zufrieden jetzt?“ „Beschreiben Sie mir Fitzmaurice.“ Das tat der Anrufer genau und mit Einzelheiten, an die selbst Strangos sich kaum noch erinnerte. „Unser Kontrakt“, erklärte er, „war nie erledigt, er ruhte auch nicht. Sie haben wertvolle Zeit verstreichen lassen, Strangos, In einer Woche schlägt für Sie die Stunde X. Dann müssen Sie die vereinbarte Ware lie fern.“ „Und wohin?“ fragte Strangos. „Alles bleibt wie besprochen. Sie liefern das Objekt, Der Rest ist unsere Sache.“ Der Anrufer verhielt sich, als wolle Strangos auf ir gendeine Weise aus der Sache herauskommen, und warnte ihn. „Strangos“, sagte er. „Wir machen Sie fertig. Wir wis sen, wie gefährlich Sie sind, aber wir scheuen vor keiner Konsequenz zurück. Notfalls wird eine Gruppe todes mutiger Männer Sie daran erinnern, daß man mit der 96
der IRA nicht spaßt. Sterben ist kein Zeitve rtreib für uns, aber der Tod verliert seine Schrecken, wenn man ihm täglich gegenübersteht. Wann brechen Sie auf?“ „Morgen“, antwortete Strangos. „Ich melde mich un ter der vereinbarten Nummer.“ Der Computermensch legte auf.
Mit seinem Privatflugzeug flog Ivan Strangos bis zur Nordspitze von Dänemark. Auf dem Flugplatz des Kö niglich Dänischen Aeroclubs in Frederikshaven ließ er die Piper stehen und nahm die Abendfähre nach Norwe gen. Dort hatte er im Sheraton-Hotel am Oslofjord ein Zimmer bestellt. An der Rezeption legte er seinen britischen Paß vor. Der Angestellte verglich Paß und Buchungsliste. „Mister Patrik Stranger aus Halifax. Dreihundertsie ben.“ „Warum“, fragte der Killer, „hat man mir keine Suite reserviert?“ Der Angestellte schaute in seinen Unterlagen nach. „Für wie lange, Sir?“ „Zehn Tage.“ „Bedaure Sir, ich kann Ihnen die Suite nur für vier Tage geben. Ab Montag ist das Hotel ausgebucht.“ „Jetzt im Herbst?“ tat der Gast erstaunt, „oder viel mehr im Winter? Sie haben ja schon Frost in der Nacht.“ „Die Gipfelkonferenz, Sir.“ „Europäische Gemeinschaft?“ fragte der Gast. „Nein. Weltwirtschaftsgipfel. Ab Montag. Alle Suiten in den großen Häusern sind belegt. Sie werden kein Glück haben. In Drammen vielleicht, aber nicht in Os lo.“ „Und wer steigt in Ihrem ab?“ fragte Strangos. 97
„Traditionsgemäß die Amerikaner, Sir. Der Präsident, die Minister, die ganze Mannschaft. Vier Stockwerke sind reserviert.“ „Und meine Leute?“ erkundigte sich der Gast. „Ich meine die Engländer.“ „Traditionsgemäß im Royal Bristol. Premierministe rin und Gefolge. – Die Franzosen traditionsgemäß im Ritz-Hotel. Die Deutschen im Continental. Die Italie ner…“ „Traditionsgemäß“, höhnte der Gast. „Danke. Und ei ne Garage möchte ich bitte.“ „Sie sind mit dem Wagen da, Sir?“ „Ich werde mir einen mieten.“ „Wir sind Ihnen da gerne behilflich“, versicherte der Hotelangestellte. Auf seinem Zimmer telefonierte Strangos und taute die eingefrorenen Beziehungen auf. Erst sprach er mit Göteborg in Schweden. „Ist der Wagen noch verfügbar?“ „Ein Rolls, wie ihn der Botschafter fährt.“ „Farbe?“ „Natürlich Schwarz.“ „Kennzeichen?“ „Nach Wunsch. Wir bringen ihn mit dem Kennzei chen über die Grenze und montieren dort jedes ge wünschte Schild jedes Landes an.“ „Sie kriegen die Nummer“, versprach Strangos. ,,Den Wagen dann bis übermorgen.“ Er wählte eine andere vierzehnstellige Nummer, kam aber nicht durch. Deshalb packte er seine zwei Koffer aus. Neben der Kleidung, wie man sie von einem briti schen Geschäftsmann erwartete, führte Strangos noch andere Ausrüstung mit. Unter anderem auch eine Perük ke und die Uniform eines Chauffeurs. Im Zwischenboden des großen Koffers lag eine umfangreiche Fotoausrüstung. 98 Dabei handelte es sich
fangreiche Fotoausrüstung. Dabei handelte es sich um sein als Fotoapparat und Kamera getarntes Waffenarse nal. Diesen Koffer sperrte er ab und brachte ihn im Schrank unter, den er ebenfalls absperrte. Er kannte die Neugier vom Hotelpe rsonal. Bei der vierzehnstelligen Nummer kam er auch beim zweitenmal nicht durch, also verschob er es auf den nächsten Tag. Er speiste spät, delektierte sich an dem üppigen skan dinavischen Büffet, schlief gut und ließ sich am Magen nach dem Frühstück von einem Taxi in die City bringen. In dem gepflegten Park vor der Britischen Botschaft bezog er Stellung, las eine Zeitung und wartete. Seine Geduld lohnte sich. Gegen elf Uhr ging drüben das Tor auf. Der Botschafter-Rolls-Royce fuhr heraus. Es war ein 75er Phantom VI in der langen Ausführung, in Schwarz, mit einem feinen silbernen Streifen von vorne bis hinten entlang der Kotflügelsicke. Ein drei zehn Jahre altes Auto war für die Verhältnisse im di plomatischen Dienst Ihrer Majestät, der Königin von England, ein geradezu neuwertiges Fahrzeug. In ande ren Ländern fuhren die Botschafter noch Rolls-Royce aus der Vorkriegszeit. Strangos notierte die Nummer. Im Hotel rief er Göteborg an, gab das Kennzeichen durch und die Besonderheit mit dem Silberstreifen. „Den kleben wir auf“, versprach man ihm. „Wie breit?“ „Einen halben Finger.“ „Also fünf bis sieben Millimeter. Wir nehmen lieber sieben Millimeter.“ Wieder versuchte Strangos die vierzehnstellige Num mer. Endlich kam er durch. Moskau und seine Bezugs person, General Maximov, war dran. Er klemmte den Verzerrer, wie auch Maximov ihn 99
benutzte, vor Muschel und Hörer. Dadurch war das Gespräch nicht abhörbar. Sie kannten sich zu lange und zu gut, um die Zeit mit formalen Höflichkeiten zu vergeuden, „Oslo läuft“, erklärte Strangos. „Ich brauche also die angeforderten Informationen.“ „Soweit wir sie haben“, sagte der General. „Wir sind bei dem Weltgipfel bekanntlich nicht dabei. Die klein sten Kanakenrepubliken aus der Südsee werden einge laden, aber nicht die große Sowjetunion. Nun gut. Ge ben Sie Störfeuer, Genosse Strangos.“ „Offene Fragen sind die Kleidung des Objekts, der Terminplan, genaue Stärke der britischen Leibwache und der norwegischen Sicherheitsgruppe.“ „Das ermit teln wir über die Botschaft.“ „Wie steht es mit Transporthilfe, Genosse General?“ Maximov erinnerte, daß die Sache eigentlich Stran gos’ privates Geschäft sei. „Genosse Maximov“, erwiderte Strangos. „Mein Ein satz wird zu äußersten Spannungen zwischen England und Irland führen, möglicherweise sogar zu einem Bür gerkrieg. Das beeinträchtigt Homogenität, Gefüge und Einheit der Nato aufs Entscheidende. Ich bezweifle, daß die Nato nach dieser Sache noch das sein wird, was sie vorher war.“ „Hoffentlich“, äußerte der KGB-General. „Und das kommt unserer UdSSR zugute. Okay, ich halte meinen Kopf hin. Nicht zuletzt aus eigennützigen Gründen, aber für den strategischen Nutzen, den Sie daraus ziehen, können Sie mich wohl ein wenig unter stützen…“ „Was brauchen Sie?“ fragte der General kurz. „Ein Schiff.“ „Ein Fahrzeug der roten Marine? Das schlagen Sie sich besser aus dem Kopf.“ 100
„Ein Frachter wäre besser.“ „Wir überprüfen, was nächste Woche in Norwegen liegt. Notfalls beordern wir einen Frachter oder einen Trawler hin. Aber wie bringen Sie das Objekt an Bord? Angenommen, das Schiff läuft durch den Oslofjord schon seewärts, oder es liegt in Bergen oder in Stavan ger?“ „Ich muß einen Hubschrauber chartern.“ „Wir haben Einfluß auf eine kleine Lufttransportfir ma. Der Manager wird sich melden. Noch etwas?“ Strangos sagte nicht mehr viel. Aber für den Schluß hob er sich das auf, was ihm Sorgen bereitete. „Ich dachte schon, Oslo sei abgeblasen, da meldete sich ein IRA-Typ mit Computerstimme. Angeblich benutzt er einen künstlichen Kehlkopf, weil Listons Henker ihm den Hals ansägten. Wer ist dieser Mann?“ „Ich lasse es von unseren Leuten in Irland überprü fen.“ „Ein neuer Name kam hinzu. Waxford. Ein Freund der Leute, die Colonel Liston auf dem Gewissen hat.“ „Wird ebenfalls überprüft“, versicherte der General. „Kein grundsätzliches Problem.“ „Letzte Frage. Werden Liston und seine Einheit in Oslo dabeisein?“ „Schätze, daß die britische Regierungsdelegation nicht mit Schlägern und Rowdies anreisen wird.“ „Die Engländer taten, tun und werden immer nur ma chen, was ihnen frommt“, wandte Strangos ein. „Wird ebenfalls überprüft“, versprach der General. Sie vereinbarten die nächste Kontaktzeit. Strangos legte sich hin. Gewöhnlich hielt er zwei Stunden Siesta. Doch vorher nahm er einen doppelten Cognac. Seitdem er in Mallorca lebte, mochte er keinen Wodka mehr. 101
10.
Elf Stunden lang, einen Tag und einen halben, solange das Licht es zuließ, suchte der BND-Agent Urban mit dem Hubschrauber die Grenzen des Argonner Waldes ab. Sie waren zu zweit in dem Bo-105. Einmal flog der BND-Chefpilot Bubi Spiegel, und Urban hatte das Fernglas vor den Augen, dann machten sie es umge kehrt. „Dieses Zwölf-mal-siebzig von Herrn Zeiss zieht dir die Pupillen von der Pipulle“, sagte der Stabsoberfeld webel. Sie kontrollierten den auf der Karte staffierten Geländestreifen schon zum x-ten Male, aber Urban gab nicht auf. „Ich würde mich hier ansiedeln“, bemerkte Spiegel, „an deiner Stelle.“ „Die Sonne steht immer anders“, erwiderte Urban. „Das ergibt ständig neue Schatten. Verdammt, es müs sen Spuren vorhanden sein.“ Sie hatten die abfallende Wiese, eher eine sportplatz große Lichtung, schon mehrmals überflogen, aber jetzt erst sah Urban das Doppelband, das sich über die Wiese hinzog. Es kam aus dem Hohlweg, führte bergaufwärts zum Waldrand und dann zum Bach, wo es zwischen Wipfeln verschwand. „Gibt es Tannen hier“, fragte Urban, „und Vulkanbö den?“ „Unser Sprit geht zu Ende.“ „Siehst du die Spur?“ „Ein fröhlicher Landmann hat seine Wiese gemäht.“ „Dann gäbe es kreuz und quer Spuren.“ 102
Urban setzte zur Landung an und prüfte die Abdrücke aus der Nähe. Sie stammten nicht von einem Traktor, eher von einem militärischen Dreiachser. In der Kurve liefen die hinteren Zwillingsreifen aus der Spur und hatten dabei stark gemahlen. „Die Spuren sind doch uralt“, meinte Spiegel. „Fast schon historisch.“ „Wer ist der Trapper, du oder ich?“ „Ich sehe keinen Trapper“, sagte Spiegel, „und keinen Indianer. Die Spur ist mindestens aus der Postkutschen zeit, wenn nicht aus der Römerzeit.“ „Wenn es regnet, wächst das Gras ziemlich schnell darüber.“ Urban maß das Reifenprofil grob mit der Hand nach. „Geländestollen.“ „Klar, daß sie hier keine Rennslicks verwenden.“ Urban ging in den Wald hinein. Unterholz war geknickt. Aber das hatte wenig zu bedeuten. Es gab auch geknickte zehnjährige Stämme. „Die hat unser Bauersmann als Kaminholz umge sägt.“ „Kohlen, Gas und Kerosin sind heute billiger. Wer fährt noch in den Wald, um Kaminholz zu machen.“ Urban wühlte mit dem Absatz hier und dort den Bo den auf. „Tannennadeln. Und siehst du den schwarzen Glim mer, das ist Vulkangestein.“ ,,Das findest du in der Rhön auch.“ „Aber in der Rhön kamen nicht zwei Tonnen Gold abhanden.“ Urban suchte im Wald herum, bis die Sonne sank. Im schrägen Licht glaubte er noch etwas gefunden zu ha ben. Er kratzte es mit dem Fingernagel von einem Stamm. Es klebte dort an einem hellen Streifen, wo die Rinde weggerissen und Harz ausgetreten war. 103
„Und was ist das?“ Schminke“, beurteilte Spiegel die rote Farbe. „Lack. Es waren zwei rotlackierte Achtelcontainer.“ Während Urban überzeugt war, daß hier der Platz war, wo das Gold vom Himmel gefallen war und Givern seinen Barren versteckt gehabt hatte, fühlte Spiegel sich eher gelangweilt. „Das ist doch wie im Urwald.“ „Mit einem Auto kommst du leicht her.“ „Na schön, dann laß uns die Spur weiterverfolgen.“ Sie starteten und flogen so tief, wie es der Wald zu ließ, über der Spur. Sie führte nach Nordwesten, mitten durch den Fluß, auf der anderen Seite die Böschung hinauf, Holzziehwege und Hohlwege entlang, dann wieder folgten sie dem Rand von Hochweiden. Doch plötzlich verschwand sie im Wald und war vom Heliko pter aus nicht mehr zu sehen. Urban fluchte. „Ende der Durchsage“, frohlockte Spiegel. „Bring mich nach Germont.“ Urban hatte vor dem Hotel seinen MercedesGeländediesel stehen. „Du suchst auf der guten alten Erde weiter.“ „Und du fliegst nach Hause.“ „Jetzt, wo es so spannend wird“, maulte Spiegel, „daß ich es kaum ertrage.“ „Ich kann deine saublöden Bemerkungen nicht mehr hören. Genaugenommen bist du nur zu faul und zu bequem für Knochenarbeit. Alle Piloten werden mit der Zeit träge, verfressen und oberschlau.“ „Und versoffen“, ergänzte Spiegel. „Das hast du ve r gessen. Du bist echt undankbar, Oberst, und du bist präpotent. Urban der Besserwisser, Urban der Experte für alles, Urban der Mann mit dem selbstgesäten Haar auf der Brust.“ 104
„Zieh Leine“, konterte Urban. „Du polierte Laus, du polierte.“ „Du wirst noch an mich denken, wenn du mit deiner Karre im Dreck steckst.“ „Lieber laß ich mich von zwei furzenden Kühen raus ziehen als von einem idiotischen Luftkutscher, der nicht mal in der Lage ist, in sieben Sprachen Frühstück zu bestellen.“ Sie schimpften sich den Frust von der Seele, und sie waren die einzigen, die so miteinander umgehen konn ten, ohne es übelzunehmen. Als sie gelandet waren, wünschte Spiegel: „Mach’s gut, Oberst.“ „Fahr zur Hölle“, rief Urban. „Und schließ die Tür hinter dir.“ Er stapfte zu dem grünen Mercedes G, stieg ein und glühte den Diesel vor. Weil er immer nur geackert hatte und nicht weiterge kommen war, hatte Urban zuviel getrunken. In der Nacht hatte er von undurchdringbarem Dschungel geträumt und daß er das Goldland Eldorado nie gefunden hatte. Mit Kopfschmerzen erwachte er. Nun gab es zwei Möglichkeiten: Einen Doppelten statt Zähneputzen oder so ein kleines weißes rundes Ding. Er war gefräßig an diesem Morgen, drückte zwei Thomapyrin aus der Folie und ließ sie mit Bourbon hinunterrutschen. Dreifach genäht war besser als eine Doppelnaht Urban zahlte seine Rechnung, warf die Klamotten hinten in den G und tankte voll. Man wußte nie, was kilometermäßig auf einen zukam. Im kleinen Gelände gang soff jeder Motor das Dreifache. Dann rollte er von 105
dannen. Nach wenigen Kilometern lag die Zivilisation so weit entfernt wie eine Badewanne vom Kaffernkral. Es hatte schon Nachtfrost gegeben. In den Spurrillen war das Wasser zu dünnem weißen Eis gefroren. Der Himmel war zu wie ein grauer Leinensack, der kaum Licht durchließ. Urban drosch den Mercedes in immer kleineren Gän gen durch Wald und Flur, mußte bald auf Allradantrieb schalten und auf Geländeübersetzung. Dicke Laubschmiere auf Lehm war der vorherrschen de Bodenzustand. – Irgendwann, nach Stunden langer Kurbelei, fand er Reste der LKW-Spur wieder. Ein Wegweiser deutete nach links. Doucy hieß der Ort. Er tauchte wieder ein in das dunkle Grün, das jetzt an vielen Stellen bunt wurde. Scheinwerfer an. Die Augen immer nach vorn über die Kühlerhaube auf die Spur gerichtet. Es wurde Mittag. Er hielt an, reinigte die Frontscheibe seines Autos, prüfte die Spur, bei der er allmählich zweifelte, ob es noch die war, die er im Argonner Wald ausgemacht hatte. Der Weg wurde schmal bis hüfteng. Wurzelwerk machte ihn stufenförmig. Schon kam nackter Fels. Es ging hinab in eine feuchte Senke, die irgendwann ein mal von der Forstbehörde mit einer Kiesaufschüttung befahrbar gemacht wo rden war. – Im Kies verlor sich die Spur endgültig. Urban fuhr weiter. An einer Felswand, gut drei Meter hoch, war die Welt zu Ende. Links eine Böschung, rechts Tannen, wo man gerade noch mit der Endura durchkam. Der LKW mußte abgebogen sein, vermutlich schon auf der anderen Seite des Baches. Er versuchte zu wenden. Unmöglich. 106
Einen Kilometer rückwärts fahrend, fand er eine Stel le, wo er mit Millimeterarbeit vor und zurück den G herumbrachte. – Pause. – Er stieg ab – wie ein Trapper vom Pferd – , um die verlorene Spur zu suchen. Die Sonne stand hoch, drang aber kaum bis zum Waldboden durch. Fluchend suchte er in einer spiraligen Linie. Hoch oben zog ein Linienflugzeug in Richtung Ruhrgebiet. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und nahm einen Schluck Bourbon. Dabei studierte er die Karte. Überall waren alte Festungswerke eingetragen, besonders hier, nahe der Flußgabel, wo die beiden Meuses zusammen flossen. Er rauchte eine MC. Einen so stillen Mittag ohne fer ne Glocken, ohne Tierlaute, ohne Verkehrsgeräusche erlebte man selten. Die totale Stille eines fernen Plane ten. Doch es blieb nicht so. Wenig später schon glaubte er, wieder ein Flugzeug zu vernehmen. Diesmal eine klei nere Maschine, tiefer fliegend. Aber er irrte sich. Flugzeugmotore brummten meist monoton und wechselten nicht ständig die Drehzahlen. Es mußte ein Straßenfahrzeug sein, das unregelmäßig schnell fuhr. Dem Ton nach kein Motorrad, sondern ein wassergekühlter, gut gedämpfter Vierzylinder. Das Geräusch kam so nahe, daß Urban glaubte, es müsse sich um einen kleinen Tausender handeln. Er schwang sich auf das Dach des G und stellte das Zeissglas scharf. – Nichts war zu sehen. Er hörte das Fahrzeug, konnte es aber nicht ausmachen. Zu viele Bäume. Und wo, zum Teufel, lief hier ein befahrbarer Weg? Er sprang zur Erde, versuchte, die Richtung zu bestimmen, und hastete durch den Wald. Das Geräusch entfernte sich. Mit einemmal hörte es 107
ganz auf. Entweder war der Wagen in einen Hohlweg getaucht, oder er war abgestellt worden. Die flimmernden Lichtflecke am Waldboden machten die Orientierung schwierig. Dafür bekam Urban etwas in die Nase. Auspuffgase, die noch unter den Baumkro nen hingen. Er erkletterte eine Höhe. Nichts. – Er kehrte um, bekam den Gestank wieder auf die Geruchsnerven. Nach einem halben Kilometer tauchte am Rande eines Tales, das sich trichterförmig nach Osten hin weitete, eine Felsformation auf. Bald sah er, daß die Felsen viel zu gradkantig waren und zu grün, um nicht ein Festungswerk zu sein. Nur Bunkerbeton veralgte auf diese Weise. Auch daß der Bunker hier stand, war taktisch richtig. So konnte er das ganze Tal sichern. Urban kletterte hinauf. Oben wölbte sich eine Stahl platte wie die Rundung eines riesigen Stahlhelms. Durchmesser vier Meter. – Die Kuppel eines ausfahrba ren Geschützturmes. Auf der anderen Seite beim Bunkereingang stand ein kleiner brauner Peugeot. Ein zweitüriger Zweihundert fünf mit Pariser Kennzeichen. Die Tür auf der Fahrerseite stand offen. Der Fahrer hatte Gebüsch weggeräumt und offenbar die bemooste Treppe zum Bunkereingang genommen. Urban stieg hinab und schaute sich den Wagen an. Hinten lag eine Fotoausrüstung, ein Kamerakoffer aus Aluminium, eine Nicon, eine 8-mm-Filmkamera, Film dosen, Batteriekoffer, e in Stativ. Plötzlich eine Stimme, ohne daß er vorher ein anderes Geräusch vernommen hätte. „Hände hoch und keine Bewegung! Hände auf das Wagendach! Wird’s bald!“ Er drehte sich um. Auf Schußdistanz, einen Browning in der Rechten, 108
stand eine Frau. Karottenrotes Haar unter einem grünen Stretchband, smaragdfarbene Augen, wildlederner, grüner Hosenanzug. „Du wolltest, daß wir uns wiedersehen“, reagierte Ur ban. „So nicht“, sagte Iren MacBride. Er schob die Hände in die Taschen. Er hatte sie gar nicht erst gehoben.
Er half ihr, die Halogenlampen, das Stativ und die Kamera in den Bunker zu schleppen. „Du spionierst hinter mir her“, griff sie ihn an. „Nur hinter dem Gold“, sagte er. „Es gehört uns.“ Ein zweifelnder Blick streifte ihn. „Meinst du mit uns nicht etwa dich?“ „Du glaubst also, ich versuche, es mir…“ „… unter den Nagel zu reißen“, ergänzte sie. Er schüttelte den Kopf, ohne zu lachen. Dabei leuch tete er auf den säuberlich geschichteten Barrenstapel. „Zwei Tonnen. Bißchen viel für einen allein.“ „Dir genügt schon der Finderlohn. Zehn Prozent von fünfzig Millionen, das ist mehr, als auf die Hand ge spuckt.“ „Das ist bei mir im Lohn enthalten“, bedauerte er. „Aber wir können halbe-halbe machen. Ich erkläre, du hättest mir den Tip gegeben.“ „Ist es nicht so?“ „Früher oder später wäre ich drauf gestoßen.“ Sie fotografierte mit Blitz und aus allen Stellungen und Winkeln die feuchte Kasematte und die Goldbarren in der knöcheltiefen Grundwasserlache. Dann brachte sie die Filmkamera in Position. „Wie kommst du hierher, Iren?“ Sie ließ sich nicht unterbrechen. 109
,,Der Wind hat dir ein Lied erzählt, he?“ „Du wunderst dich, daß mir etwas gelang, woran Po lizei, Privatdetektive und Geheimdienste scheiterten. Ich habe eine Reporternase. Englische Zeitungsfrau findet den Sparstrumpf der IRA. Ist doch der absolute Hit des Jahres.“ Er setzte sich auf eine der morschen Munitionskisten. „Erst verkaufst du die Fotos an die Presse, die Filme an BBC und an die Bundesbank den Ort, wo das Geld liegt. Und ich bin dir dabei im Wege. Stimmt’s?“ „Ganz und gar nicht“, erklärte sie. „Du bist mein Zeuge.“ „Und woher hast du den Tip?“ Sie war mit dem Kameraaufbau fertig, leuchtete die Szene aus und stöpselte das Tonband in den Synchron stecker. Offenbar, um gleichzeitig den Kommentar zu sprechen. „John Waxford war mein Bruder.“ „Er starb lange vor dem Goldraub.“ „Aber es war seine Idee. Ich fand Skizzen, Notizen und Berechnungen in seinem Nachlaß. Er und O’Hara haben das zusammen ausbaldowert.“ Sie schaltete die Filmkamera ein und sprach ihren Text. „Wir befinden uns hier in einem alten Bunkerwerk der französischen Maginot-Linie…“ Sie schwenkte die Kamera vom Gold auf Urban. Der hob geistesgegenwärtig die Hand vors Gesicht und brachte sich mit einem Sprung seitwärts in Sicherheit. Bloß auf keinem Foto oder auf einem Film ersche i nen. Das hätte ihn für seinen Beruf unbrauchbar ge macht. Er ging hinaus. Es war kühl geworden. Er sammelte Holz, trug es in den vorderen Bunker, der oben ein Luft loch hatte, und steckte ein Feuer an. 110
Später kam die Irin zu ihm. ,Jagdhüttenromantik“, spottete sie. „Kamin aus Beton, verrostete Gewehrständer, fehlt nur noch ein Geweih an der Wand und am Boden ein Tigerfell. Der Rauch kann uns verraten, mein Freund.“ „Hier kommt keiner her.“ „Und wenn doch?“ Er legte die Hand an die Ohren und bildete zwei Mu scheln. Sie verstand das Zeichen und lauschte. „Es regnet.“ „Und wie.“ „Dann komme ich mit meinen Sommerreifen nicht mehr aus dem Wald.“ „Jetzt nicht.“ Sie ging in die Hocke und stocherte im Feuer. Die Rinde eines Birkenastes begann, sich aufzurollen und zu knistern. Sie stand auf und trat rückwärts ans Feuer. „Warum frieren Frauen eigentlich immer hinten?“ fragte Urban. „Damit du es weißt“, entgegnete sie. „Meine Story lasse ich mir von dir nicht kaputtmachen.“ „Wer will das denn?“ „Du“, erklärte sie so überzeugt, als könnte sie seine Gedanken lesen. Der Regen verstärkte sich zu einem Gewitter, das Gewitter zu einem wolkenbruchartigen Unwetter. Es ging auf 17.00 Uhr. „Wir werden die Nacht hier bleiben müssen“, fürchte te Urban. „Ich nicht“, entschied sie. „Das Material muß nach London zur Redaktion. Ich bin nicht so fein raus wie du, bin kein Gehaltsempfänger, sondern freie Mitarbeiterin auf Honorarbasis.“ Hastig packte sie zusammen und schleppte ihr Mate 111
rial hinaus. Er hörte den Peugeot anspringen. Sie fuhr weg. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Er folgte ihr bis zum Bunkereingang und hörte den Motor. Er heulte immer wieder auf. Die Räder drehten durch. Nach einer Viertelstunde etwa kam sie an. Durchnäßt, verdreckt, erschöpft und fluchend. „Verdammt, ich sitze fest. Warum hilfst du mir nicht?“ „Weil es keinen Sinn hat.“ „Und was hast du vor?“ „Holzsammeln für die Nacht“, sagte er. Sie fror nicht nur hinten, sondern überall. Sie nahm von seinem Bourbon, von seinen Zigaretten, und schließlich suchte sie die Wanne seines Körpers. Sie lagen an einer trockenen Stelle auf der Decke, die Urban aus dem Peugeot geholt hatte. Ihr nasser Wildle deranzug trocknete am Feuer. Auch der Pullover, eben so die Schuhe und die Halbstrümpfe. Selbst der BH und das Höschen fühlten sich feucht an, behauptete sie. Vielleicht war es nur ein Vorwand. Völlig nackt drückte sie sich an ihn. Die einzige Textilie war das grüne Stretchband um das karottenrote Haar. „Die Menschen sind doch bescheuert“, sagte sie. Bei ihr hatte er nicht den Eindruck. Angeblich sollte man nicht in nassen Kleidern schla fen. Man holte sich zu leicht die Grippe. Also wärmten sie sich gegenseitig. „In London wäre es einfacher gewesen“ begründete sie ihre Behauptung von der bescheuerten Menschheit. „Oder in München.“ „Du hast mich nicht eingeladen.“ „Du wärst nicht gekommen.“ „Vielleicht doch.“ „Wir sind beide zu beschäftigt. Keine Zeit für die 112
Liebe.“ „Liebe!“ Sie lachte. „Wer spricht von Liebe. Es ist pure Lust. Ich bin scharf auf dich, das gebe ich zu, bin geil auf dein Fleisch.“ „Dann sollten wir unser Fleisch nicht mehr allzulange warten lassen“, schlug er vor. „Okay, Schluß mit der Theorie.“ Sie gehörte zu den Frauen, die von Natur aus sinnlich waren und es nicht spielten, weil man es von ihnen erwartete. Trotzdem war sie dafür, es gemütlich ange hen zu lassen. „Man steigt langsam auf den Berg.“ „Heute fliegt man mit dem Hubschrauber auf den Gipfel.“ „Mit dem Hubschrauber erst dann, wenn du den Gip fel zum erstenmal erobert hast.“ Sie war verspielt wie eine Katze, doch dann wurde aus dem Spiel Ernst. Der Katze fiel ein, daß sie ein Panther war und Hunger hatte. Sie fraß ihn schier auf. Ihre Lungen keuchten, ihr Herz schlug fühlbar. Endlich ganz oben, genoß sie die Aussicht, rannte am Grat ent lang zum nächsten Gipfel und weiter zum nächsten. „Und dann“, flüsterte sie, „kommt der Sprung ins Un gewisse.“ „Das Ende ist immer gleich“, warnte er. „Man schlägt auf.“ „Tot?“ „Meistens.“ Das Wort Ungewisse verfolgte Urban noch, als sie schon regelmäßig atmete und schlief. Merkwürdig, daß sie sich ausgerechnet hier getroffen hatten. - An die Version mit der Reportage für ein Magazin glaubte er nicht unbedingt. Auch nicht, daß sie den Hinweis im Nachlaß ihres Bruders gefunden haben wollte. Er schlief darüber ein. 113
Am Morgen war er als erster wach. Noch im Halb schlaf tastete sie nach ihm, um mit ihm wieder und noch einmal einen Gipfel zu erklettern. Doch statt weiterzu schlafen, war sie es, die danach aufstand. „Jetzt ein Bad.“ „Stell dich in den Regen“, schlug er vor. „Es hat zu regnen aufgehört.“ „Wann?“ „Schon um Mitternacht“, sagte sie. „Bad und Früh stück fallen aus.“ „Zigarette?“ „Das Feuer ist auch aus.“ Er stieß eine Goldmundstück-MC aus der Packung, fand aber das Feuer nicht. „Meine Urgroßmutter“, erzählte er, „verkaufte noch Streichhölzer im Schnee. Mein Großvater stellte schon Streichhölzer her, und mein Vater fabrizierte fast alle die in Europa verwendet wurden - bis die Feuerzeuge aufkamen.“ „Dann ging er pleite“, sagte Iren, sich ankleidend. Erst zog sie die weiße Spitzenwäsche über den Po, dann den Pullover über die Brüste. „Nein, dann machte er Feuerzeuge.“ „Und sein Sohn versorgt Europa mit allen Münchhau senmärchen, die erzählt werden.“ „Du glaubst mir nicht?“ Er tat erstaunt. Sie schlüpfte in die Hose und schnallte den Gürtel eng. „Ich glaube, daß du ein notorischer Lügner bist“, sag te sie. „Du bist mir gefolgt, hast mich beobachtet, und du wirst dir das Gold unter den Nagel reißen, so wie du mich heute nacht unter deinen Nagel gerissen hast.“ „Verzeihung, Lady“, protestierte er. „War es nicht umgekehrt?“ Sie ging hinaus, und er folgte ihr. 114
Der kleine 205 stand schräg an einer Böschung. Die Erde war jetzt trocken. Als Iren angelassen hatte, mahlte sie sich bis zu dem Waldweg durch. Urban stand neben dem Peugeot. Hinten hatte sie die schottische Decke über die Fotoausrüstung gelegt. Doch unter der Decke lugte ein Goldbarren hervor. – Woher hatte sie gewußt, daß der Regen um Mitternacht aufge hört hatte. Sie war aufgestanden und hatte Gold in ihren 205 gebaggert. „Moment mal, Lady“ rief er. Da hielt sie ihm den Browning ins Gesicht. „Weg vom Wagen! Mach, daß du weiterkommst, du Bastard, oder hier bleibt eine Leiche zurück.“ Sie hatte den zweiten Gang eingelegt, ließ die Kupp lung kommen und gab Gas. Der Wagen machte einen Sprung. Er hielt sich fest. Sie schoß, ohne zu treffen. Er ließ sich fallen, sprang wieder auf und rannte hin ter dem Peugeot her. Der Wagen wurde schneller, zu schnell für ihn. Sie schoß noch einmal. Keuchend blieb er zurück. Dich kriege ich, dachte er, na warte! Aber dann… Von seinem Hotel, das er gegen Mittag erreichte, rief Urban in München an. Dort organisierten sie den Ab transport des Bundesbankgoldes. Eine Pioniereinheit der französischen Armee holte es aus dem Bunker und beförderte es bis zur Grenze. Dort übernahm es der Bundesbankbeauftragte. Wie sie feststellten, fehlten insgesamt elf Barren – Ein Verlust, der zu verschmerzen war. Damit war jenen Kreisen, die die Schuld an ihrer fal schen Politik gerne anderen in die Schuhe schoben, das Maul gestopft. Niemand konnte weiterhin behaupten, 115
die Bundesrepublik finanziere den illegalen Kampf der IRA in Nordirland. Urban hatte dem Hauptquartier eine Frage gestellt, auf deren Beantwortung er noch wartete. Am Abend meldete sich der Operationschef, Oberst a. D. Sebastian. „Madrid“, sagte er. „Ihr Blutsbruder Coronel Segovia hat etwas für Sie.“ „Soll ich ihn anrufen?“ „Nicht nötig. Nur eine Neun-Silben-Nachricht: Stran gos hat Mallorca verlassen.“ Urban verspürte nicht einmal das Bedürfnis zu flu chen. „Es läuft also wirklich.“ „Was läuft?“ „Strangos ist angetreten, um den Kontrakt mit der IRA zu erfüllen.“ „Das ist Ihre Theorie“, entgegnete der Alte unfreund lich wie immer. „Ich denke, die Experten der IRA sind nicht auf dubiose Typen wie russische Exagenten ange wiesen.“ „Wenn eine Sache zu groß für sie ist, dann heuern sie schon mal Fachleute an.“ „Sie übertreiben.“ Urban hatte eher das Gefühl, das Gegenteil zu tun. „Es läuft“, wiederholte er, „und ist wohl nicht mehr aufzuhalten.“ „Na schön, wenn es läuft, dann würde ich an Ihrer Stelle mich ebenfalls in Trab setzen. Sie stehen doch mitten im Geschehen.“ „In den Ardennen geht nichts mehr“, bemerkte Urban. „Vielleicht in Paris. – Wem gehört der braune Peugeot, dessen Nummer ich Ihnen durchgab, und wie ist die Adresse?“ „Wir arbeiten noch daran. Sie kennen doch die Be 116
hördenwege. Bis die in Paris mal was herausrücken…“ Warum hatte er sich nicht direkt an die Sûrete ge wandt, Kommissar Boulanger oder Gil Quatembre vom SDECE hätten es binnen Minuten beschafft. „Ich warte“, sagte Urban. „Wir haben das Gold zwar wieder gefunden, aber mit dem, was fehlt, mit diesen drei Millionen, läßt sich einiges finanzieren. Und am Ende kann es wieder nur einer gewesen sein, nämlich wir.“ Er legte auf. In Paris waren weder Quatembre noch Boulanger zu erreichen. 11. Zwei kurz aufeinanderfolgende Anrufe im SheratonHotel Oslo brachten die Pläne von Strangos durchein ander. Sie kamen beide um die Mittagsstunde. Es kam ihm vor, als säße der Mann mit dem defekten Kehlkopf neben ihm im Sessel, so deutlich vernahm er sein ble chernes Organ. „Ich habe nichts von Ihnen gehört, Strangos“, begann er. „Die alte Nummer ist tot. Wie sollte ich Sie erreichen. Sie wollten sich melden.“ „Wie ist das Wetter in Oslo?“ „Günstig.“ „Das Objekt trifft am Montag pünktlich mit dem Flugzeug ein.“ „Das ist nichts Neues.“ „Wann schlagen Sie zu?“ „Sofort. Noch am Airport.“ „Wie machen Sie es?“ „Das überlassen Sie bitte mir. Aber teilen Sie mir 117
endlich mit, wohin ich das Objekt liefern soll.“ „Es sind zwei Verstecke vorbereitet. Sie erfahren es rechtzeitig.“ „Wann rechtzeitig?“ fragte Strangos ungehalten. „Montag früh.“ „Ist ja wohl ein verdammter Unterschied“, fluchte der Russe, „ob Sie es in Norwegen haben wollen, in Schweden, in Dänemark oder anderswo.“ Der Anrufer mit dem künstlichen Kehlkopf schien an seinem Gerät zu drehen, denn es pfiff. „Auch wir haben unsere Probleme“, äußerte er. „Das sind doch wohl nur Flöhe gegen die, die ich ha be.“ „Wir werden ständig beobachtet, verfolgt, gejagt. Laufend muß ich das Quartier wechseln.“ „Warum soll es Ihnen besser gehen als mir“, entgeg nete Strangos. „Wann höre ich also von Ihnen?“ „Montag“, wiederholte der elektronische Kehlkopf. „Aber für Notfälle gebe ich Ihnen eine neue Rufnum mer.“ „Ich notiere.“ „Nein, nichts Schriftliches.“ „Ich bin Profi“, erinnerte Strangos. „Wenn ich etwas notiere, dann immer im Kopf.“ Er erhielt eine vierteilige Nummer. „Das ist nicht die Vorwahl für Irland.“ „Ich bin derzeit in Paris untergetaucht.“ „Nur für den Fall, daß sich etwas dramatisch ändert“, schränkte der Russe ein. „Ansonsten Funkstille.“ „Noch etwas“, fuhr der Sprechcomputer fort. „Als Al ternative, wenn dies oder jenes nicht klappt und mehr schiefgeht, als wir befürchten.“ „Also, wohin dann mit dem Objekt?“ „In den Hades“, forderte der Anrufer, „oder Orkus oder Hölle, wenn Ihnen das ein Begriff ist.“ 118
Der Russe war für klare Abmachungen, „Sie meinen, ich soll es umlegen.“ „Das genau meine ich.“ „Warum sagen Sie das nicht gleich. Es ist um ein Vielfaches leichter. Ich war nie ein schlechter Schütze. Allerdings muß ich mir eine Präzisionswaffe besorgen.“ „Sie haben noch vier Tage Zeit.“ Plötzlich hatte der Anrufer es eilig. „Wir bleiben in Kontakt.“ Damit legte er auf. Kaum hatte Strangos die veränderte Lage zu Ende durchdacht, als sein Telefon wieder ging. Moskau war am Apparat. General Maximov faßte sich auffallend kurz. „Bei der IRA gibt es keinen Mann mit Kehlkopfscha den“, übermittelte er. „Unsere Leute in Belfast müßten das wissen.“ „Er ist Chef der neugebildeten Intellektuellengruppe.“ „Trotzdem. So was spricht sich herum. Das ist kein Defekt wie eine künstliche Hand oder ein Holzbein.“ Strangos kaute stumm die Lippen. „Sind Sie noch da? Was haben Sie, Oberst?“ „Ob mich der britische Geheimdienst schon an der Leine hat?“ „Möglich ist alles.“ „Die IRA-Forderung spricht allerdings dagegen. Das Objekt kann auch ausgelöscht werden, wenn die Entfüh rung schiefgeht.“ „Gefällt mir nicht“, gestand der General. „Niemand ändert in letzter Minute die Aufgabenstellung, wenn keine Notwendigkeit dafür besteht. – Was werden Sie tun, Ivan?“ „Ich brauche ein Gewehr mit Zielfernrohr, Spezial munition und so weiter. Haben Sie etwas in Oslo?“ „Nein, aber wir können es beschaffen.“ 119
„Wie lange dauert das?“ „Mindestens achtundvierzig Stunden.“ „Zu lange“, entschied Strangos. „Ich fliege sofort nach Paris. Dort kenne ich einen erstklassigen Büch senmacher. Außerdem möchte ich eine Nachprüfung vornehmen.“ „Vorsicht!“ riet der General. „Und vermeiden Sie al les, was Ihre Verbindung zu uns verraten könnte.“ „Bin ich ein Anfänger?“ „Viel Glück, Oberst.“ Ivan Strangos, laut Paß Patrik Stranger aus Halifax, bestellte ein Flugticket nach Paris. Die Air France-Maschine war ausgebucht. Er bekam aber einen Flug mit der SAS über Amsterdam. Er sah kein Problem, Oslo für vierundzwanzig Stunden den Rücken zu kehren. Die Konstruktion stand, das Gebäu de war, nach seinen Erfahrungen, gut gefügt und erdbe bensicher. Er nahm nur die Reisetasche mit. Das Gewehrmodell, an das er dachte, ließ sich so zerlegen, daß es in einen Schuhkarton paßte. Ein Taxi brachte ihn von Orly in die City. „Rue Bergerac“, wünschte er. „Neuilly“, sagte der Fahrer. „Besseres Viertel. We l che Hausnummer, Monsieur?“ Strangos nannte ihm nicht die Nummer, die er sich von der Telefonauskunft unter falschen Angaben er schlichen hatte, sondern subtrahierte zehn Nummern. Gegen 22.00 Uhr war er am Ziel. Als das Taxi weitergefahren war, suchte er eine Tele fonzelle und rief an. Aber niemand meldete sich. Sein letztes Problem bestand nun darin, daß er nicht wußte, wie der Mann mit dem künstlichen Kehlkopf 120
hieß. Nie hatte er seinen Namen genannt. – Aber mit Geld bekam man nach seiner Erfahrung alles. Er läutete die Concierge des vornehmen fünfstöckigen Wohnhauses heraus. Sie hatte offenbar am Fernseher gesessen und ein wenig gepichelt. Sie betätigte den Türöffner und schaute aus ihrem Kabinett. Strangos schob einen zusammengefalteten Fünf hundert-Francs-Schein durchs Fenster. Sie war überrascht und mißtrauisch. „Nichts Ungesetzliches bitte, Monsieur.“ Er reichte ihr einen Zettel. „Wem gehört diese Nummer?“ „Hier im Haus?“ Sie las, verschwand und kam wieder. „Dritter Stock bei O’Hara. Ist aber keiner da.“ „Kann ich oben warten?“ Sie nickte. „Von mir aus. Aber bitte nichts Ungesetzliches.“ Der Lift knarrte aufwärts. Im dritten gab es zwei Wohnungen. An der linken war kein Schild. An der anderen hing eine Visitenkarte. Dr. Raoul Morreau, Avocat et Maître du Grande Cour. Anwalt also. – Der kam wohl nicht in Betracht. Das Licht ging aus. Strangos suchte den Knopf. Dann läutete er. – Niemand öffnete. Entschlossen holte er sein Werkzeug heraus. Die Dietriche hingen an einem Ring wie ein Schlüsselbund und steckten in einem Lederfutteral. Beim zweiten Ve r such knackte es. Er war drin. Normalerweise hätte er dafür nur zwanzig Sekunden benötigt, aber lautlose Arbeit kostete immer Zeit. Der Russe drückte die Tür zu und machte Licht. Eine herrschaftliche Etagenwohnung mit hohen Zimmern und Stuck an den Wänden. Es duftete nach Parfüm, aber 121
mehr nach Frau als nach Mann. Der Kamin war schon lange nicht mehr benutzt wo r den, der Ascher überhaupt nicht. In der Bar gab es nur irischen Whisky. Am Schreibtisch stand das weiße Telefon. Seitlich vom Adapter lief ein Kabel in die Schublade. Strangos zog sie auf und sah einen grauen Kasten und einen Federbügel. Am Bügelende klemmten zwei Kehlkopfmikrofone, wie sie bei der Luftwaffe Verwendung fanden. Der graue Kasten war ein Frequenzmodulator. Damit konnte man jede Stimme in Richtung hell, dunkel, hart, weich, dröhnend, mit Echo oder ohne verändern. Und natürlich auch von hölzern bis blechern. Kein Wunder, daß sie den kehlkopfgeschädigten IRAMann nicht hatten finden können, wenn er die Behinde rung nur vorspielte. – Aber warum spielte er sie vor? Um sich nicht zu erkennen zu geben? Strangos trat ins Schlafzimmer. Im Schrank lag Da menwäsche und im Bad standen Kosmetika, wie sie nur Frauen oder Schwule verwendeten. In diesem Moment schreckte ihn ein Geräusch. Erst dachte er, die Tür sei gegen den Puffer gestoßen, aber es kam von draußen. Als erstes knipste er die Badezimmerlampe aus. Wieder ein Geräusch, diesmal ein Knarren, wie es alte Parkettböden von sich gaben. Ein Schatten bewegte sich, ein Körper, der einer Frau. Sie trug einen Ledermantel, schwarz. Ein Band hielt karottenrotes Haar. In der Rechten hatte sie eine Waffe. Ihr Gesicht zeigte die Entschlossenheit, die Waffe auch zu benutzen. Sie bewegte den Schalldämpfer der Waffe wie eine Wünschelrute. Dann riß sie den Lauf hoch. Sie hatte Strangos gesehen. „Liston!“ rief sie und schoß. 122
Sie hielt ihn für den Colonel der Spezialeinheit. Strangos spürte das Brennen des Streifschusses am Oberarm. Aber Treffer, die sich so anfühlten, waren nicht lebensgefährlich. Sie feuerte noch einmal. Die Distanz zu ihr ließ ihm keine andere Wahl, als zurückzuschießen. In einer ein zigen runden Bewegung, tausendmal allen nur denkba ren Situationen geübt, riß Strangos die Makarow aus dem Hosenbund und zog zweimal durch. An der Auto matik der antrainierten Abwehrreaktion lag es, daß er sie nicht nur außer Gefecht setzte. Sie taumelte und stürzte. Als sie auf dem Teppich lag, sah er, daß er sie tödlich verletzt hatte. Er versuchte, noch eine Frage an sie zu richten, aber der Trefferschock hatte ihr das Bewußtsein genommen. Er stieg über sie hinweg, eilte durch die Wohnung. Im Treppenhaus lauschte er. Nichts war zu hören. Nicht einmal die Concierge kam aus ihrem Kabinett, als er das Haus verließ.
Wenige Stunden später betrat der BND-Agent Robert Urban die Wohnung in der Rue Bergerac im Stadtteil Neuilly von Paris. Weil auf sein Klingeln niemand öffnete und die Tür sich aufdrücken ließ, sagte ihm seine Erfahrung, daß etwas geschehen sein müsse. Er verfluchte die Langsamkeit der Bürokratie. Fast zwölf Stunden hatten sie gebraucht, um ihm die Adresse des Fahrzeughalters zu liefern. – Und jetzt stank es verdächtig süßlich. Sein hochentwickelter Geruchssinn war es, worunter er oft litt. – Der Geruch führte ihn durch Salon und Bibliothek ins Schlafzimmer. Dort lag sie in einer Lache getrockneten, an den Rändern wäßrig verfärbten Blutes. 123
Aber Iren MacBride atmete noch. Gewöhnlich hieß es, wer atmet, der lebt. Hier bedeu tete das Heben und Senken der Brust wenig. Er holte ein Kissen und bettete ihren Kopf höher. Dann untersuchte er sie. Sie hatte zwei Treffer. Einen im Bauch, den anderen in der Lunge in der Nähe des Herzens. Urban überlegte, wie er sie klarbekam. Er riß die Blu se auf und legte seine eiskalte Hand auf ihre Brust. Ein Muskel an ihrem Gesicht zuckte. Sie öffnete die Augen und bewegte die Lippen. „Du Bastard“, murmelte sie. „Ich war es nicht.“ „Liston war es.“ Sie schien aber nicht sicher zu sein. „Oder Strangos. „ „Strangos in Paris?“ „Nein, Liston war es, Strangos ist in Oslo.“ Er sah, wie sie ihm wegstarb. Ein Wunder, daß sie bei dem Blutverlust überhaupt noch lebte. „Strangos in Oslo?“ „Diese Schweine, diese elenden. Ich trat an Fitzmau rices Stelle, wir hatten Kontakt bis zu seinem Tode. Ich tat mein Bestes. Aber irgendeiner hat mich verpfiffen. Jetzt verpfeife ich sie. Alles scheitert immer an Verrat. Letzten Endes… Verrat.“ „In Oslo ist Weltwirtschaftsgipfel“ erwähnte Urban. „Sie glauben doch…“ „Sie denken, wenn sie die Premierministerin hätten...“ Das war es. Darum ging es also. Die Premierministe rin als Geisel, um neue Verhandlungen zu erpressen. „Ich habe nie daran geglaubt“, gestand sie. „Aber Waxford.“ „Natürlich stand ich immer auf ihrer Seite“, flüsterte sie. „Sie brauchten jemand, der für sie in London die Augen offenhielt.“ 124
Urban hatte es vermutet, war sich aber nie sicher gewesen. Iren MacBride war also eine IRA-Kämpferin. „Wie soll Strangos es machen?“ Sie sprach schon sehr leise, kaum noch verständlich. Es war, als hätte sie versucht, am Leben zu bleiben, bis einer kam, der ihr das Geheimnis abnahm. „Entführung“, sagte sie, „oder Todesschuß.“ „Entführung in welches Versteck?“ versuchte Urban zu erfahren. „Oder Todesschuß“, wiederholte sie. „Besser als nichts. Sie sollen unsere Macht spüren, unsere Ent schlossenheit, unsere…“ Längst war er sicher, daß ihr kein Arzt mehr helfen konnte. Sie tastete nach seiner Hand, fand sie. Die letzten Worte strengten sie an: „Es ist vorbei.“ „Nein, es ist nie vorbei“, antwortete Urban, „Es fängt erst an.“ Minuten später war Iren MacBride tot. Urban mußte sie zurücklassen. Er verließ das Haus, verließ Neuilly und Paris. Aus sicherer Distanz rief er die Sûrete an. Müdigkeit überkam ihn. Totale Erschöpfung. Das Ge fühl ausgehöhlter Knochen, das er manchmal am Mor gen hatte, wenn die Nacht mit einem Mädchen nur Lust gewesen war, aber nicht gut. Er war total ausgepumpt und verbraucht. 12. Die Frau in Paris hatte ihn für Colonel Liston, den IRAJäger gehalten und deshalb geschossen. Ob sie der neue IRA-Boß mit dem Kehlkopfmikrofon war, das wußte Strangos nicht. Es spielte auch keine 125
entscheidende Rolle. Daß sie den Kehlkopfdefekt vo r getäuscht hatte, weil sie glaubte, als Frau würde sie zu wenig Autorität besitzen, war lediglich eine Vermutung. Er hatte sie tödlich getroffen, aber an ihre Stelle wü r den andere IRA-Leute rücken und ihn zur Erfüllung des Kontraktes zwingen. – Also erfüllte er ihn. Zurück in Oslo besorgte Strangos sich erst einen Leihwagen, dann mietete er ein Haus draußen am Fjord. Jetzt im Herbst hatte er die Auswahl. Wichtig an dem Haus war, daß es unweit einer asphaltierten Straße lag, daß es Telefon hatte und daß in die Garage ein sechs Meter langer einsachtzig hoher Rolls-Royce paßte. Als es dunkel wurde, rief er ein Taxi und ließ sich zum Sheraton fahren. Dort bezahlte er die Rechnung des Mister Patrik Stranger aus Halifax. Die Koffer trug er eigenhändig in die Tiefgarage und fahr mit dem RollsRoyce weg. Damit hoffte er, vor wem auch immer, abgetaucht zu sein und in Ruhe den Job erledigen zu können. In dem gemieteten Haus stellte er die Heizung an, denn es war kalt und klamm. Als die Radiatoren wann wurden und das Feuer im Kamin brannte, bereitete er sich ein Abendessen, indem er den Inhalt einer Corned beefbüchse mit Zwi ebeln in der Pfanne briet. Dazu gab es Brot, Bier und Käse. Danach befaßte er sich mit dem Spazierstock, den er aus Paris mitgebracht hatte, und mit der Kamera. Auf den Schreibtisch in der Wohnhalle richtete er das Licht von zwei Lampen so, daß es für einen Uhrmacher ausgereicht hätte. Vom Spazierstock schraubte er den Handgriff und die Spitze ab. Was übrigblieb, war ein Rohr aus Stahl mit einer 9-mm-Bohrung. Bei der Bohrung handelte es sich allerdings um den gezogenen Lauf eines Präzisionsge wehrs. 126
Die Kamera ließ sich in zwei Hälften zerlegen. Aus dem unteren, kastenförmigen Teil ragte ein Haltegriff und eine Schulterstütze. Der obere Teil bestand nur noch aus dem Objektiv. Nachdem der Russe auf den vier Fuß langen Lauf das Objektiv montiert hatte, das als Zielfernrohr diente, befestigte er unten, mit Hilfe von Bajonettverschlüssen, das Kameragehäuse. Es enthielt auch den Schließme chanismus, das Patronenmagazin, Abzug, Sicherung et cetera. Wie ein herkömmliches Gewehr sah das Ganze nicht aus. Aber ein olympischer Hochleistungsbogen hatte mit einem Indianerbogen auch nichts mehr gemeinsam. Im Keller des Hauses feuerte Strangos den ersten Schuß in eine alte Matratze, um sich von der prinzipiel len Funktion der Waffe zu überzeugen. Wieder in der Halle, machte er sich einen Drink und rief Moskau an. „Noch sechzig Stunden“, sagte er und gab seine neue Nummer durch. „Bitte um Nachricht, wenn sich Grund sätzliches ändern sollte.“ General Maximov fragte: „Kennen Sie diesen Dynamit?“ „Sie meinen den BND-Oberst Urban.“ „Könnte sein, daß er jetzt hinter Ihnen her ist. Auf jeden Fall war er hinter der MacBride her. Auch das Gold hat er seiner Staatsbank zurückgebracht.“ „Ich werde mein Aussehen verändern.“ „Das ist das Mindeste, wenn Sie heil herauskommen wollen, Ivan.“ „Und auch den Plan werde ich ändern.“ „Man räumte Ihnen ja Spielraum ein“, erwähnte Ma ximov. „Bis jetzt hörten wir nichts davon, daß die offi ziellen Terminpläne umgeworfen worden seien.“ „Warum sollten sie das tun?“ 127
„Gehen wir davon aus, daß dieser Dynamit einiges aus der MacBride herausholte.“ „Sie ist tot, General.“ „Mit Sicherheit?“ „Ich habe sie so erwischt, daß sie es nicht lange über lebte.“ „Gehen Sie trotzdem davon aus, Ivan, daß Urban et was weiß und daß man möglicherweise Oslo auf den Kopf stellen wird, um Sie zu finden.“ „Davon bin ich längst ausgegangen“, sagte Strangos. „Deshalb meine neue Adresse.“ „Nächster Kontakt morgen zur selben Zeit.“ Strangos verbrachte eine traumlose Nacht. Vor Einsätzen, die seine ganze Kraft und Intelligenz forder ten, schlief er stets besonders gut. Eine Folge des jahre langen autogenen Trainings, zwe cks Entspannung zur Bewältigung großer Aufgaben. Am Morgen fuhr Strangos vierzig Kilometer nach Norden in Richtung Liliehammer. Am Ostufer des Mjö sa-Sees bog er in ein einsames Seitental zur schwedi schen Grenze hin ab. Die Straße war schmal und verkehrsarm. Beiderseits des Forellenflusses standen bewaldete Höhen, von de nen ab und zu ein Wasserfall schäumte. Selten sah man ein Haus. Oberhalb der Straße stellte Strangos den Leihwagen ins Unterholz und marschierte mit einem länglichen, in ein Leinentuch gewickeltes Paket bergwärts. Nach zwanzig Minuten fand er eine geeignete Stelle im Wald, eine Lichtung, von Tannen umgeben. Die selbstgemalte Zielscheibe heftete er an einen Stamm, nahm zweihundert Schritte Abstand, setzte das Präzisionsgewehr zusammen und schoß es ein. Das 128
Ergebnis kontrollierte er mit dem Fernglas. Erst kam er zu hoch und rechts ab, korrigierte das Zielfernrohr und traf dann die Zwölf, die Zehn und auf dreihundert Schritt noch die Elf. Nun vergrößerte er den Abstand auf fünfhundert Schritt, was nach seiner Erfahrung vierhundertzwanzig Metern entsprach. Selbst jetzt brachte er die Spezialku gel mit der Spezialkalibrierung immer noch in einen Kreis von der Größe eines menschlichen Kopfes. Zufrieden kehrte er zu seinem Mietwagen zurück. Bis auf vierhundert Meter würde er wohl an das Objekt herankommen. Es mußte schon mit dem Teufel zuge hen, wenn ihm das als britischer Gentleman mit RollsRoyce nicht gelingen sollte. Wieder in der Stadt kaufte er eine gestreifte Hose, ei nen schwarzen zweireihigen Mantel mit Samtkragen und einen steifen Hut, ebenfalls in Schwarz. Hemd, Krawatte und Schuhe hatte er schon. Beim Optiker suchte er sich eine Sonnenbrille mit goldenem Metallgestell und schwach getönten Gläsern aus. Die Brille tarnte ihn, ohne die Sicht zu beeinträch tigen. Beim Schuß würde er sie ohnehin abnehmen. In der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses an der Kristianias-Gate besorgte er sich französisches Scham pun, das beim Waschen das Haar tönte. Der Inhalt wü r de für drei Wäschen ausreichen. Danach war sein Haar angeblich nußbraun. Zuletzt deckte er sich mit Lebensmitteln für zwei Ta ge ein. Einmal hatte er daran gedacht, seine PiperSportmaschine nach Oslo zu holen. Daß man nach dem Anschlag mit allen Kräften nach dem Täter fahnden würde, stand fest. Doch heute war es leider so, daß sie den Luftraum besser unter Kontrolle bekamen als die Straßen, zumal in einem bergigen Land wie Norwegen. 129
Sicherheitshalber suchte er den schnellsten Weg nach Schweden heraus und fuhr die Strecke am Nachmittag bis Ingedal ab. Von seinem Unterschlupf am Oslofjord bis nach Schweden waren es genau fünfundneunzig Straßenki lometer, davon ein Drittel Autobahn, Das war auch unter erschwerten Bedingungen in neunzig Minuten zu schaffen. Die erste Schampunade färbte sein blondes Haar nur gelb. Mit der zweiten Wäsche war er zufrieden. Den Rest würde die dritte am Sonntag bringen. Zur Probe machte er volle Maske. Was ihm aus dem Spiegel entgegensah, war ein vollkommener britischer Gentleman. Er erkannte sich selbst kaum wi eder. Am Abend rief er General Maximov an. Aus Moskau kamen nur beruhigende Meldungen. „Keine Änderung der Lage.“ 13. Die Konferenz der Geheimdienst-Leute mit den norwe gischen Sicherheitskräften begann schon auf der Fahrt vom Flugplatz ins Hotel. „Foto und Beschreibung von Ivan Strangos“, bestätig te der norwegische Sicherheitschef seinen deutschen und britischen Kollegen, „ging an jeden mit dem Welt gipfel befaßten Beamten. Inzwischen liegen sie an jeder Hotelrezeption.“ „Ergebnis?“ fragte der Engländer, ein MI-6-Major. „Strangos ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Sheraton abgestiegen.“ „Ist abgestiegen oder ist abgestiegen gewesen?“ fragte Urban vom BND. Aus einer linkischen Bewegung des Norwegers las er die Antwort. 130
„Als Patrik Stranger, Halifax.“ „Importeur für geräucherten Lachs.“ „Nein, für Papierholz.“ „Sie haben seine Spur verloren“, half Urban dem Norweger aus der Verlegenheit. „Kein Wunder. Stran gos ist ein As, wendig, ein Meister der Tarnung. Er beherrscht jede Situation.“ „Nur mit der Fantasie hapert es ein wenig“, meinte der britische Kollege. „Strangos stieg als Stranger ab, und mit seinem blonden Brikettschädel ist er auf zehn Meilen zu identifizieren.“ „Er rechnete nicht damit, daß die kleine Gruppe seiner IRA-Auftraggeber auffliege n würde,“ „Als Spitzenmann mußte er an alles denken.“ „Nun, er hat den Fehler korrigiert“, erwiderte der Norweger und gab seinen Bericht. „Vor vier Tagen buchte Strangos einen Flug nach Pa ris. Als er zurückkam, beglich er im Sheraton die Rech nung und verließ das Hotel.“ „Mit welchem Ziel?“ „Was er auch genannt haben mag, es ist falsch“, be fürchtete Urban. „Wurde das Hotelzimmer durchsucht?“ „Sie haben es sofort wieder belegt. Aber wir taten, was wir konnten.“ Also keine Spur, dachte Urban und fragte: „Wie bewegte er sich in Oslo? Mit dem Taxi, mit ei nem Mietwagen, gab er ihn zurück, mietete er einen neuen? Wurde das überprüft?“ „Im Hotel hieß es, er habe nur Taxis benutzt. Aller dings kam er einmal mit einem schwarzen Rolls-Royce. Ein Rolls parkte auch zwei Tage in der Hotelgarage. Unklar ist, ob es sich um dieselbe Limousine handelte.“ „Farbe und Typ?“ wollte der Engländer wissen. „Schwarz, wohl ein Phantom-sechs. So genau kennt das Hotelpersonal diese Fahrzeugklasse nicht.“ 131
Urban faßte zusammen. „Und nun sind beide weg. Strangos und der Rolls.“ Der Norweger versicherte, daß sie nach ihnen fahnde ten, pausenlos, schon seit gestern, seit der Minute, als das Telex angetroffen sei. „Mehr als zweitausend Mann sind allein für den rei bungslosen Ablauf des Weltgipfels abgestellt“, betonte er. „Und die Hälfte davon sucht diesen Killer.“ „Ohne Ergebnis“, warf der Brite ein. „Falls dieser Mann kein Phantom ist.“ „Leider“, sagte Urban, „nein.“ Klar war ihm, daß sie Strangos finden mußten, bevor er aktiv wurde. Der Engländer sah alles ein wenig lockerer und sport licher. „Von drei Matches haben wir bereits zwei für uns ent schieden. Wir wissen, wer er ist, und kennen seinen Plan. Er heißt Ivan Strangos, Ex-KGB-Agent mit zwei fellos noch sehr engen Verbindungen zu seiner Zentrale. Sein Ziel ist die britische Premierministerin. Von der ursprünglichen Absicht, sie für die IRA zu entführen, ist Strangos wohl abgerückt.“ „Er wird sie nur töten“, erklärte Urban. „Falls Sie das für die feinere Art halten.“ Unbeirrt beendete der MI-6-Major seine Ausführung. „Ist also noch Match Nummer drei offen. Wo ist er, wo, wie und wann macht er es? Das werden wir, zum Teufel, doch in der uns verbleibenden Zeit von fast einem Tag herausfinden. – Oder?“ „Oder nicht“, bekräftigte Urban, „Es war schon im mer schwierig, unter einer halben Million Menschen einen bestimmten auszusortieren, erst recht, wenn der betreffende nicht aussortiert werden will und dafür ausgebildet ist, es zu vermeiden.“ „Was“, fragte der Norweger, „schlagen Sie vor, 132
Oberst Urban?“ „Wenn man den Jäger nicht daran hindern kann, auf das Wild zu schießen, muß man das Wild daran hindern, in die Schußbahn des Jägers zu geraten.“ „So einfach ist das“, spottete der Engländer. „Aber da kennen Sie unsere Premierministerin leider schlecht.“ „Alles eine Frage der richtigen Argumente“, erwiderte Urban.
Bei der Nachtkonferenz, wenige Stunden vor Beginn des Weltgipfels, erfuhr Urban, wie schwer es war, selbst mit den triftigsten Begründungen alteingefahrene Stur heit zu überwinden. „Gentlemen“, begann Urban, endlich zu Wort kom mend. „Es ist jetzt dreiundzwanzig Uhr. Noch elf Stun den bis zur Eröffnung des Weltwirtschaftsgipfels, noch neun Stunden bis zur Ankunft der Staatschefs. Und noch haben wir von dem Killer, der Ihre Premiermini sterin töten wird, keine Spur.“ „Zu töten versuchen wird“, schränkten die Engländer ein. „Unterschätzen Sie bitte Strangos nicht.“ „Und Sie bitte nicht unsere Sicherheitsmaßnahmen. Dichte Stacheldrahtsperren, Spanische Reiter, Panzer wagen, Kordons von Soldaten, von Posten, von zivilen Leibwächtern, alles per Sprechfunk koordiniert, das Vorfeld, das, ganze Gelände überwacht von Videoka meras – schätze, das reicht.“ „Vergessen Sie nicht auf den Dächern die Scharf schützen in Zehn-Meter-Abstand“, bemerkte ein Nor weger. „Die Maschine der Premierministerin erfährt außer dem eine Sonderbehandlung.“ „Das ist mir alles zu wenig“, wandte Urban ein. 133
Den Briten, die sich für ihre Regierungschefin allein verantwortlich fühlten, riß allmählich die Geduld. „Ist es nun unser Premier oder Ihr Kanzler?“ fragten sie zynisch. „Der Killer wurde mit deutschem Geld finanziert. Das sind morgen die Schlagzeilen, wenn der Dame auch nur eine ihrer blonden Locken gekrümmt wird.“ „Okay, was schlagen Sie also vor, Commander Ur ban?“ Urban rückte nun mit seiner Forderung heraus. „Dirigieren Sie Ihre Regierungsmaschine nach Drammen um.“ „Hat Drammen denn eine ausreichend lange Rollbahn für Jets?“ „Gehen Sie davon aus, daß ich das überprüft habe“, erwiderte Urban. „Kommt gar nicht in Frage“, äußerte der Oberst der britischen Sicherheitsgruppe. „Wie weit ist Drammen entfernt?“ „Achtunddreißig Kilometer.“ „Sagen wir vierzig. Also vierzig Kilometer, wo alle hundert Meter der Killer lauern kann…“ „Dann benutzen Sie einen Hubschrauber.“ „Den kann man leichter abschießen als einen gepan zerten Rolls.“ „Dann schweigen Sie über die Planänderung“, schlug Urban vor. „So etwas sickert immer durch. Zu viele Leute müs sen eingeweiht werden. Außerdem ändern wir unsere Pläne nie im letzten Moment. Ein alter Grundsatz der Kriegskunst. Bei spontaner Änderung we rden zu viele Dinge übersehen, schleichen sich zu leicht Fehler ein.“ Urban zog das nächste Angebot aus der Tasche. „Das alles weiß unser Killer auch. Er wird die Plan änderung, ich meine, die Landung in Drammen, für 134
Bluff halten, und irgendwo am Flugplatz in Oslo warten – während die Premierministerin wirklich in Drammen ankommt. Können Sie mir folgen, Gentlemen?“ Sie hörten nur halb zu. „Das würde erfordern, daß wir es diskret durchsickern lassen, quasi als geheime Kommandosache. Aber was, zum Teufel, nützt es uns dann noch. Vielleicht schlägt er dann in Drammen zu?“ Urban war anderer Meinung. „Ich weiß, wie solche Leute denken. Russen sind besonders unflexibel. Strangos weiß, was für komplizierte Maßnahmen erforderlich sind, um die Landung der britischen Regierungsmaschine nach Drammen umzulegen. Er wird also nicht nach Drammen fahren. Dort kennt er die Topographie nicht. Er müßte auch seinen Fluchtplan ändern und und und.“ Urbans Einwände machten sie nachdenklich, aber nicht einsichtig. „Strangos denkt konventionell. Aber er weiß auch, wie wir denken.“ „Auch konventionell“, fürchtete Urban. „Strangos kann nicht in Drammen und Oslo gleichzei tig sein.“ Urban packte seine Unterlagen zusammen. „War ja nur so eine Idee.“ Plötzlich kam einem der Engländer die Erleuchtung. „Wir lassen durchsickern, die Maschine käme nicht in Oslo an, sondern in Drammen, und im letzten Augen blick leiten wir sie wieder nach Oslo. Das muß er für einen Trick halten.“ „Und wo kommt die Premierministerin nun wirklich an?“ fragte Urban. Die Antwort war typisch britisch. „Verzeihen Sie, Gentlemen“, sagte der MI-6 Major, „daß wir die Entscheidung erst in letzter Sekun 135
de fällen und solange für uns behalten.“ „Aber natürlich“, erklärte Urban. „Ve rtrauen gegen Vertrauen. – In Oslo also. Guten Abend, Gentlemen.“ Als Urban ins Hotel fuhr, um ein paar Stunden zu schlafen, war er verwirrt. – Wenn er sich in die Lage von Strangos versetzte, wäre er ebenfalls verwirrt gewe sen. Denn inzwischen kam über alle Radio- und TVStationen die Meldung, daß die Landezeiten der Regie rungsmaschinen aus Sicherheitsgründen geändert wo r den seien. Wie inoffiziell aber aus gewöhnlich gut un terrichteter Quelle zu erfahren war, lege der USPräsident die letzten hundert Meilen an Bord eines Zer störers zurück. Der französische Premierminister bleibe wohl bei Oslo International Airport, die britische Staats chefin hingegen lande in Drammen. Verwirrspiele dieser Art hatten etwas für sich. Aber nicht für einen Killer wie Strangos. Urban war sicher, daß Strangos engen Kontakt mit Moskau hielt und von dort bis zur letzten Minute aktuelle Informationen be zog. Im Zweifelsfalle, ob nun Drammen oder Oslo, würde er seinen Plan ändern, vielmehr vereinfachen, dies aber im Rahmen der bereits erkundeten Möglichkeiten. Urban befürchtete, daß Strangos dem Objekt seiner Begierde weder am Flugplatz in Oslo noch in Drammen auflauern würde, sondern anderswo. Dies obwohl auch die Straßen von den Flugplätzen zu den Hotels abge sperrt und gesichert waren, es überall von Beamten, Abwehragenten, Soldaten der Antiterroreinheiten nur so wimmelte und ohne Sonderausweis keiner durchkam. Aber Strangos hatte einen. Ein schwarzer Rolls-Royce war besser als jedes Per mit mit Foto, Stempel und Unterschrift. Das war es. Das war die Linie, auf der professionelle Killer wie Strangos zu denken pflegten. 136
14.
Nach einem üppigen Frühstück, das er allerdings zu ungewohnt früher Stunde einnahm, und einer Platte von Tschaikowsky, verließ Strangos im Habit eines Bot schafters Ihrer britischen Majestät sein Haus in Lyan. Das Präzisionsgewehr trug er im Mantelfutter, sechs Schuß der Spezialmunition verteilte er auf die Sakkota schen. Gewählt hatte er Patronen, die einem Schwein den ganzen Kopf wegfetzten, wenn sie nur den Rüssel trafen. Der vorzüglich gewartete Rolls-Royce sprang auf Schlüsseldrehung an und lief, wie es die Legende ve r hieß, seidenweich und nahezu lautlos. Man hörte nur den Unterbrecher ticken. Strangos hatte genug Zeit. Also wartete er eine Minu te, bis der 220 PS starke V-8-Motor ein wenig warm geworden war. Dann bewegte er den schwarzen Phan tom IV aus der Garage hinauf zur Straße, wendete dort und fuhr nach Oslo hinein. Jeden der elf Kilometer genoß er. Obwohl der Rolls noch blattgefedert war wie zu Ur zeiten, verhalfen seine zweieinhalb Tonnen Gewicht ihm zu sagenhaft satter Straßenlage. Im zunehmenden Verkehrsstrom wurde ihm ehrfürch tig Platz gemacht. Neben sich hatte Strangos den Stadtplan von Oslo lie gen. Er kam über die Bispegata herein, fuhr um den Hafen und bog in Richtung Universitäts-Gate ab. Schon weit vor dem Royal Savoy Hotel war die Stra ße gesperrt. Er wurde angehalten, aber sofort weiterge winkt. Nach, vierhundert Metern kam die nächste Sper re. 137
Diesmal bestand der Offizier auf Legitimation. Strangos zeigte einen britischen Paß. „Sie kennen mich nicht?“ fragte er hochnäsig. „Doch, Sir.“ „Britische Botschaft.“ „Sie dürfen passieren, Exzellenz.“ Daß ein Botschafter Britanniens den Rolls-Royce ei genhändig lenkte, schien dem schlichten Norweger nicht weiter aufzufallen. In Norwegen galten Briten ohnehin als exzentrisch. Strangos fuhr in einem für einen Rolls-Royce ange messenen Tempo weiter, verringerte es auf Radfahrer geschwindigkeit als er sich dem Royal Savoy näherte und überlegte: Parkplatz oder Hotelauffahrt. – Frech wählte er die Auffahrt. Unter dem Säulenvordach hatte sich ein Wagenstau gebildet. Ein Zivilist kam zu ihm. „Können Sie meinen Rolls parkieren?“ erkundigte Strangos sich, bevor der andere etwas fragte. „Aber ja, Sir.“ Er stieg, den Mantel über dem Ann, ans und ging hin ein. Ein Sicherheitsbeamter öffnete ihm die Glastür. Drin nen schaute er sich um und eilte auf den Lift zu. Der nächste Kontrolleur sprach ihn an. „Britische Botschaft“, sagte Strangos. „Welche Suite hat Lady Thatcher?“ Er bekam die Nummer. Der Beamte drückte sogar die Etage an der Lichtleiste. Unterwegs änderte Strangos den Fahrbefehl für den Lift und ließ sich zum obersten Stockwerk bringen. Dort standen ebenfalls Sicherheitsmänner. „Britische Botschaft. Endkontrolle“, schnarrte Stran gos. „Keine besonderen Vorkommnisse“, meldete man 138
ihm zackig. „Wie sieht es auf dem Dach aus?“ „Wurde abgesucht. Die Zugänge sind versperrt, Sir.“ „Sie erlauben, daß ich das überprüfe?“ „Darf ich Ihren Mantel nehmen, Sir?“ „Danke, nein, es regnet.“ Es regnete zwar nicht, aber der Mann schien es zu glauben und gab seinen Kollegen ein heimliches Zei chen. Strangos ließ ihn stehen und täuschte Eile vor. Die langen Korridore waren leer. Nach sechzig Metern machte der Korridor einen Knick um neunzig Grad nach links. Strangos befand sich jetzt im Ostflügel. – Nur von hier hatte er freies Schußfeld. Offenbar hielten sie das obere Stockwerk für absolut steril. Niemand vom Hotelpersonal, niemand von den Sicherheitskräften war zu sehen. Wozu auch. Sie hatten die Etage zehnmal abgesucht. Strangos klopfte an die letzte Tür des Seitenflügels. Keine Antwort. Wie erwartet. Mit seinem Dietrich drang er ein und verriegelte die Tür hinter sich. Er schaute sich um, zog den Vorhang zurück und öffnete die Jalousie um einen Spalt Das Präzisionsgewehr nahm er aus dem Mantel, prüf te jede Patrone, die er ins Magazin drückte, legte die Waffe auf das Bett und stellte sein Transistorradio an. Die britische Premierministern war also doch in OsloFornebu gelandet. Bluff plus Bluff ergab noch lange keinen Bluff. Noch einmal verließ Strangos das Appartment und überzeugte sich, ob der Transportlift hinten in Funktion war. Er ließ die Kabine kommen Sie brachte einen Con tainer mit Schmutzwäsche herauf.
139
Beschlafene Bettbezüge waren nicht sonderlich hy gienisch, aber sie boten einem Mann auf der Flucht gute Tarnung. Im Radio kam durch, daß die Wagenkolonne der Pre mierministerin sich jetzt dem Royal Savoy näherte. Strangos stand etwa zwei Meter vom halboffenen Fenster entfernt im Zimmer und visierte. Ein Wagen der Sicherheitskräfte fuhr unter das säulengestützte Vordach der Auffahrt. Strangos hatte den Wagen im Zielfernrohr. Er sah einen Beamten aussteigen und war zufrieden. Der Winkel ließ genug Einblick unter das Vordach. Das Radio am Ohr haltend, wartete er. Immer wieder schaute er auf die Uhr. Er dachte jetzt weder an eine Zigarette noch an einen Cognac. Er war wunschlos. Er dachte nur an das Objekt, an diese Frau Mitte Fünfzig, blond, ein wenig korpulent, konservativ britisch gekleidet. Wahrscheinlich trug sie einen Hut. Man würde den Schlag öffnen und ihr heraushelfen. Im selben Moment würde er die Dame im Visier haben und abdrücken. Der Radiosprecher gab durch, wo die Kolonne sich jetzt befand. – Noch vier Minuten, schätzte Strangos. – Es waren nur drei. Erst sah er im Zielfernrohr die Motorräder der Poli zeieskorte um die Ecke biegen. Sie waren ungefähr noch einen Kilometer entfernt. Den Motorrädern folgten Polizei-BMWs. Und dann kam ein Begleitfahrzeug, dichtauf der schwarze Rolls der Botschaft. Sie fuhren mit etwa 60 km/h. Die Sperren standen of fen. Noch achthundert Meter. Zweite Sperre. Noch vierhundert Meter. Der Fahrer der schwarzen Botschaftslimousine lenkte schon nach links, um die Kurve zur Hotelauffahrt zu kriegen. Für einen Augenblick geriet der Rolls zwischen 140
Bäumen außer Sicht, Doch schon kam er wieder zum Vorschein, keine zweihundert Meter entfernt. Jetzt nur noch hundertfünfzig. Und dann, als er herumschwenkte, langsamer wurde, bremste und anhielt, waren es nur noch hundertzwanzig Meter Luftlinie. Eine traumhafte Treffdistanz für einen Superschützen. Um den Rolls standen ein Schwarm von Leuten. Offiziere, Sicherheitsbeamte. Zivilisten drängelten. Einer faßte an den Türgriff. Strangos hatte alles unter Kontrolle. Seine Nerven, seine Hände, seinen Finger am Abzug, das Auge am Okular. Noch hielt er den Atem nicht an. Die Fondtür am Rolls ging auf. Erst erschien der Botschafter. Ihm folgte ein Frauen bein, züchtig den Rock über dem Knie. Nun der Unter körper, der Kopf, die blonden Locken beiderseits vom Hutrand. Jetzt hielt Strangos den Atem an. Und dann der be täubende Schlag, als würde hinter ihm die Welt in Fet zen gehen. Es war aber nur die Zimmertür. Er hatte nicht damit gerechnet. Deshalb brachte es ihn aus der Fassung.
Noch ehe Strangos sich umdrehte, spürte er die An wesenheit von schwitzenden, abgehetzten Menschen. Drei, vier Uniformierte in Splitterschutzwesten und Gesichtsschutzmasken umringten ihn. Mitten unter ihnen ein Zivilist. Dunkelblaue Gabardinehose, Glen checksakko, weißes Hemd, einfarbige Strickkrawatte, den Kopf umrahmt von dunkelbraunem, dichten Haar, das ein wenig zu lang wucherte. Das sonnengebräunte Gesicht prägten graue Augen, eine gerade Nase, ein 141
Kämpferkinn. Strangos kannte diesen Mann. Seine Entscheidung dauerte nicht eine Mikrosekunde. Er oder du. – Das war dieser verdammte Dynamit. Ein Atemzug noch, und der Job wäre erledigt gewe sen. Da stoppte ihn dieser Hundesohn. Und dazu diese hämische Bemerkung: „Gib auf Killer!“ Wie ein rasender Film zog es an Strangos vorbei. Wie hatte Dynamit ihn entdeckt? Wie hatte dieser Bastard seinen Plan durchschaut? – Hatte er den Rolls gesehen und verfolgt, oder war er bis tief in seine Gedanken gedrungen? Strangos war nicht mehr in der Lage, dieses Rätsel zu lösen. Er wirbelte herum, visierte grob aus der Hüfte seinen letzten Gegner an und schoß. Noch während er abzog, erwischte es ihn. Es war wie ein Treffer mit der Axt. So mußte es einem Baum zu mute sein, wenn er gefällt wurde. Strangos riß noch durch, obwohl er wußte, daß er zu hoch abkam. Dann fühlte er nur noch rasenden Schmerz. So sehr, daß die Bilder kippten, daß die Sonne ganz grell wurde, bis die Überbelichtung den Film schwärzte. Noch stand er aufrecht. Er begann zu zucken. Erst fiel das Gewehr zu Boden, dann Ivan Strangos. „Danke“, sagte Urban zu dem Mann des Einsatz kommandos. „Perfekter Schuß.“ Drunten am Hoteleingang lief alles streng nach Proto koll ab. Begrüßung, Verneigung, Handküsse, Worte, Blumen. Niemand hatte von dem Vorfall auf Zimmer neun hundertsiebzehn etwas bemerkt. Wenig später kam der Arzt. Er untersuchte Strangos, stand auf und schüttelte den Kopf. „Wann“, fragte er, 142
„hat je ein Mann einen solchen Herzschuß überlebt.“ „Selten“, sagte Urban. „Fast nie.“ Das Flugzeug hätte ihn in zwei Stunden vo n Oslo nach München gebracht. Urban zog es vor, den längeren Weg zu nehmen. Er buchte eine Kabine auf der Princesse Ragnhild. Von Kiel aus würde er im Intercity ein Schlafwagenab teil nehmen. Er brauchte Ruhe, um die Überdrehzahlen abzubauen. Aber in der Nacht in der Kabine auf dem Schiff und eine Nacht später im Schlafwagenabteil, erschien ihm Iren MacBride in seinen Träumen. Trotz der Flasche Mumm, die er in sich hineingeschüttet hatte. Ihm blieb auch nichts erspart. Zweimal spielten die Träume ihm die letzten Minuten in Paris vor. Da war das Apartment in Neuilly, der chinesische Teppich, Iren in der Blutlache. Ihr ersterbendes Lächeln, die smaragdgrünen Augen, wie sie ihre Lippen bewegte und ihre letzten Worte geflüstert hatte. „Es ist vorbei.“ „Es ist nicht vorbei“, antwortete er im Traum. „Es fängt erst an.“ ENDE
143