Matthias Hoffmann „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“
Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich ...
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Matthias Hoffmann „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“
Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“ Die Angst vor dem „sozialen Sterben“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation am Fachbereich IV der Universität Trier, 2010
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Dr. Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17704-5
Danksagung
Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich am 05.01.2010 im Fachbereich IV der Universität Trier eingereicht, und die am 15. Februar, einem kalten Rosenmontag, ebendort nach der Disputation, erfreulicherweise „summa cum laude“, angenommen wurde. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Axel Haunschild für die freundliche Übernahme des Prüfungsvorsitzes. Herzlicher Dank gebührt meinem Zweitgutachter Prof. Hans Braun, der stets sehr interessiert und mit wohlwollendem, immer sehr präzisem Rat das Entstehen der Arbeit begleitet hat. Den größten Dank für das Zustandekommen der Arbeit schulde ich Prof. Alois Hahn. Bei ihm habe ich das soziologische Handwerk gelernt. Man kann sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand keinen Chef und Doktorvater mit mehr Interesse an der Sache, mit mehr Verständnis für die (Zeit)-Nöte eines jungen Vaters und mit mehr Nachsicht für die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Lebens im Allgemeinen vorstellen. Technisch gesehen war die Einrichtung des Manuskripts nicht möglich ohne die unendlich geduldige und unermüdliche Hilfe von Rebecca Weber und Fabienne und Jean Philippe Décieux. Ein besonderer Dank geht an meinen Freund Martin Schmidt, der in einer entscheidenden Phase der Arbeit einen ganz besonderen Schreibtisch an einem ganz besonderen Ort bereitgestellt und mit seiner Präsenz dafür gesorgt hat, dass die Arbeit fertig wird. Meinen Eltern und meiner Schwester danke ich für die unverbrüchliche Unterstützung, deren ich mir immer sicher war. Ehrlich und innig bedanke ich mich bei Carina Hornung, für die die Jahre meiner Dissertation sicher oft genug ein Grund für Desertion gewesen wären und bei meiner Tochter Frieda, durch die mir immer klar vor Augen stand, dass es eine ganze Menge Wichtigeres gibt als eine „Diss“.
Trier, September 2010
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung .................................................................................................. 11
2
Die problematische Ausgangssituation ................................................... 21
3
Das Sterben in Institutionen .................................................................... 27
4
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8
Kliniken ........................................................................................... 32 Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung..................................... 35 Aspekte guter Sterbebegleitung ....................................................... 40 Zeitmanagement .............................................................................. 42 Arbeitszufriedenheit ........................................................................ 43 Rechtliche Bestimmungen der Sterbebegleitung ............................. 45 Patientenverfügungen in der Arbeit der Sterbebegleitung ............... 47 Leitlinien zur Pflege Schwerstkranker und Sterbender .................... 49 Passive und aktive Sterbehilfe ......................................................... 50
3.2
Altenheime....................................................................................... 54
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Hospize ............................................................................................ 69 Natürlichkeit als Resultat der „Backstage" ...................................... 69 Hospize in der Lehrbuchliteratur ..................................................... 71 Stationäre Hospize als formale Organisationen ............................... 74 Stationäre Hospize als totale Institutionen? ..................................... 77 Arbeit im stationären Hospiz: Notwendigkeit der Inszenierung ...... 79 Die Ressource „Nähe“ als Problem ................................................. 85
Montaigne: Philosophie und Soziologie .................................................. 89
8
Inhaltsverzeichnis
5
Drei literarische Verarbeitungen .......................................................... 105
6
7
5.1
Gottfried Benn: Die Krebsbaracke................................................. 105
5.2
Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch .......................................... 110
5.3
Exkurs: Heidegger ......................................................................... 117
5.4
Alter und Sterben bei Philip Roth .................................................. 125
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ ........................................... 131 6.1
Struktur der Stichprobe (Rahmendaten) ........................................ 131
6.2
Verlust eines nahe stehenden Menschen........................................ 134
6.3
Verlust der Eltern........................................................................... 135
6.4
Verlust des Lebenspartners ............................................................ 137
6.5
Miterleben des Sterbens: „Direkter Todkontakt“........................... 138
6.6
Lebensbedrohlicher Unfall und schwere Krankheit....................... 140
6.7
Todeskontaktindex und Todesbewusstseinsindex ......................... 142
Hahn: „Einstellungen zum Tod“........................................................... 145 7.1
Die Kritik von Nassehi und Weber ................................................ 149
7.2
Verdrängung des Todes? ............................................................... 152
7.3
Die Studien von 1968 und 2006/07 im Vergleich.......................... 158
Inhaltsverzeichnis 8
9
Die Welt der Individuen......................................................................... 165 8.1
Der Boulevard und der öffentliche Diskurs ................................... 165
8.2
Fäkalgestank und Exkremente – Eine Nasenfrage ......................... 173
8.3
Goffmans „Territorien des Selbst“................................................. 179
8.4
Der soziale Tod .............................................................................. 184
8.5
Elias: „Scham“ und „Peinlichkeit“ ................................................ 197
8.6
Elias: „Einsamkeit der Sterbenden“ ............................................... 202
8.7
Schlingensief, Leinemann, Diez .................................................... 205
9
Fazit ......................................................................................................... 213
10
Epilog....................................................................................................... 215
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 217
1
Einleitung
Gefragt, ob sie eher Angst vor dem Tod oder eher vor dem Sterben haben, antworten in einer Telefonumfrage aus dem Jahre 20061 60 Prozent der Befragten mit „vor dem Sterben“. Hingegen nur 7 Prozent der Befragten geben an, eher Angst vor dem Tod zu haben (N=313). Auf die Frage, wie sie sterben möchten, sagen 80 Prozent der Befragten, dass sie „plötzlich und unerwartet“, und nur 20 Prozent, dass sie „auf den Tod vorbereitet und bewusst“ sterben möchten (N=289). Hinter diesen unscheinbaren Umfragedaten verbirgt sich ein tiefgreifender Wandel in der Einstellung zu Tod und Sterben, der sich in Europa im zwanzigsten Jahrhundert vollzogen hat. Für einen langen Zeitraum war die Doppelgesichtigkeit des „mors certa, hora incerta” ein schwerwiegendes Problem für die Menschen des Abendlandes, und zwar nicht in erster Linie wegen des Todes an sich, sondern wegen der unsicheren Stunde seines Eintretens, die womöglich keine Zeit zur Vorbereitung auf das Sterben ließ. In einer christlich geprägten Welt war der „gute“ Tod mit Vorbereitungen verbunden, mit religiösen und davon abgeleiteten säkularen Handlungen, die vollzogen sein wollten, um das diesseitige Leben abschließen und im Vertrauen auf das jenseitige Leben den Tod als Durchgangsstation hinnehmen zu können. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass der Tod ohne das Sterben das gefürchtete Übel war. Das Normale war, dass auf eine kurze Sterbephase, in der man seine Angelegenheiten regeln konnte, absehbar der Tod folgte. Das lateinische „mors“ bedeutet sowohl „der Tod“ als auch „das Sterben“ und beide waren als Abfolge im Normalfall zeitlich nahe beieinander. Aber nicht nur Sterben und Tod hat man immer zusammengesehen, sondern auch das Sterben und das Alter, das heißt das Sterben im Alter. Dass man als alter und nicht als junger Mensch zu sterben habe, war als normative Vorstellung immer schon so, allerdings waren die realen Zustände während des Großteils der 1
Telefonumfrage zum Thema „Schwere Krankheit und Tod“ bei der erwachsenen Bevölkerung in Trier und Trier/Saarburg. Es handelte sich um ein Forschungspraktikum an der Universität Trier unter der Leitung von Alois Hahn, Rüdiger Jacob und Matthias Hoffmann. Diese Umfrage wurde nicht als graue Literatur veröffentlicht. Es existieren nur die Beiträge der einzelnen Arbeitsgruppen. Die Daten werden erstmals in der vorliegenden Arbeit publiziert. Die Umfrage wird ausführlich in Kapitel 6 „Die Studie schwere Krankheit und Tod“ dargestellt.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
Einleitung
Menschheitsgeschichte andere. Die Trias von Krieg, Hunger und Seuchen war die Ursache dafür, dass eine hohe Sterblichkeit auch von Kindern und jungen Menschen alltäglich war, wenn auch diese Tode selbstredend nicht als natürlich angesehen wurden. Die katastrophischen Zustände waren eben normal.2 Nachdem sich diese äußeren Bedingungen geändert hatten und es zum Normalfall wurde, dass man nicht im Kindesalter starb, sondern das Erwachsenenalter erreichte und auch hier zusehends höheres Alter, wurde der Tod junger Menschen damit auch immer stärker zu einem skandalösen „verfrühten“ Tod. Es ist für die Menschen der Gegenwart der normale Lauf der Dinge, und das heißt: des Lebens, dass man im Alter stirbt. Was die westliche Welt und Europa angeht, wird für das Skandalon des „verfrühten“ Todes neben der Klage über Unfälle und Naturkatastrophen (Tsunami) seit dem Durchbruch der modernen Medizin eben diese samt den Medizinern für verantwortlich gehalten. Der Tod eines jungen Menschen gilt mehr oder weniger als ein Versagen der Medizin. Und dies nicht nur auf der Seite der Laien. Es ist noch immer die dominierende Auffassung unter Ärzten, den Tod eines Patienten als persönliches Versagen zu werten. Man erwartet eigentlich, dass die Medizin es zuwege zu bringen habe, Neugeborene, Kinder und junge Menschen am Leben zu erhalten. Nun ist es allerdings bei weitem nicht so, als würden nur verstorbene Kinder oder junge Erwachsene als „zu früh verstorben“ angesehen. In unserer empirischen Studie „Schwere Krankheit und Tod“ haben wir den Befragten zwei Todesanzeigen vorgelegt und sie schätzen lassen, wie alt die Verstorbenen waren. Die eine Todesanzeige lautete: „Du bist zu früh verstorben“, die andere: „Du hattest ein langes, erfülltes Leben.“ Im statistischen Mittel bedeutet „zu früh verstorben“ bei unseren Befragten rund „48 Jahre alt“ (s=14,927; N=267). Dabei ist bemerkenswert, dass nur zwei Befragte ein Alter unter 18 Jahren schätzen (einmal 5 Jahre und einmal 6 Jahre) und die dann nächste Altersnennung „18 Jahre“, das Alter der Volljährigkeit, von 6 Personen genannt wird. Praktisch niemand assoziiert mit der Formulierung „zu früh verstorben“ den Tod von Kindern oder gar Säuglingen oder Neugeborenen. Wahrscheinlich wird diese Formulierung dafür als zu nüchtern empfunden, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Tod von Neugeborenen und von Kindern in einem Maße als nicht nur außergewöhnlich, sondern skandalös empfunden wird, dass er in einer Todesanzeige einer Formulierung bedarf, die das Entsetzen darüber ausdrückt. Die normative Vorstellung, als alter und nicht als junger Mensch zu sterben, ist also weitestgehend Realität geworden und der frühe Tod zum Skandal. Realität ist 2
Vgl. dazu Arthur Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren, München 1981 sowie ders.: Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien, Darmstadt 1988.
Einleitung
13
damit aber auch geworden, dass es Formen des Alters gibt, die nur sehr schwer und oft an sich gar nicht von Formen des Sterbens zu unterscheiden sind. Und diese Formen des Alters sind mit Angst besetzt. Mit der Entkopplung der Einheit von Sterben und Tod nun wird die eingangs zitierte Frage nach der Angst vor dem Tod oder dem Sterben erst wirklich sinnvoll. Heute ist der erhoffte Tod der sich nicht ankündigende, plötzlich über einen kommende Tod, also gerade das, was vordem das am meisten Gefürchtete war. Aber weniger die soziologische Analyse der Gründe für diesen Wandel ist das Thema der folgenden Ausführungen, sondern vor allem die Beschreibung dessen, was die Menschen als „Sterben“ fürchten. Es wird sich zeigen, dass das gefürchtete Sterben „das lange Sterben“ ist. Der exemplarische Typus dieses Sterbens ist hierbei das Sterben an einer Krebserkrankung, das sich häufig über Jahre erstreckt. Es ist ein Sterben, in dessen Verlauf die Menschen ihre Identität eines zivilisierten Individuums zunehmend zerstört sehen. Wir werden dieses Sterben als das „soziale Sterben“ beschreiben. Nun kann man diese Analyse nicht leisten, ohne dabei der Entwicklung der Medizin und den medizintechnischen Neuerungen im zwanzigsten Jahrhundert einen zentralen Platz zuzuweisen. Aber diese Entwicklungen sind selbst noch keine sozialen Phänomene, sondern sie sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich soziale Phänomene ausbilden konnten. Dass die alte Einheit von Sterben und Tod auseinandergebrochen ist, hat seinen alleinigen Grund im medizinischen Fortschritt. Dass sich daran eine Verschiebung der individuellen Ängste knüpft, hat ein Bündel von Gründen, die aber alle mit der medizinischen Dimension nichts mehr zu tun haben. Diese Verschiebung hängt zum einen, und entscheidenden, von der Art und Weise ab, wie die Gesellschaft auf diese Entkopplung von Tod und Sterben reagiert und das heißt: Wie sie diese Entkopplung institutionell auffängt. Es ist eine simple Weisheit, dass Fortschritte in der Medizin nicht notwendig sofort Fortschritte für die Gesellschaft als Ganze bedeuten. Unter Umständen müssen zuerst gesellschaftliche Veränderungen und Umstellungen vonstatten gehen, damit die Gesellschaft sich die medizinischen Fortschritte nutzbar machen kann. Im zwanzigsten Jahrhundert war mit der Entkopplung von Sterben und Tod ein solcher Umschlagpunkt erreicht, an dem die immense Entwicklung der Medizin ein massives gesellschaftliches Problem zeitigte und Veränderungen erzwang. Ganz im Sinne von Ivan Illich konnte man von einer „Nemesis der Medizin“3 sprechen. Die erzwungenen Veränderungen lassen sich im Begriff der „Hospizbewegung“ bündeln. Aber zum einen ist die Hospizbewegung rein quantitativ noch heute nicht mächtig genug, um die Situation grundlegend zu verän3
Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek 1977.
14
Einleitung
dern und zum anderen hat sich das Wissen um diese Situation tief im Bewusstsein der Menschen eingenistet und ist damit zum stabilen Ausgangspunkt für die veränderten Ängste der Menschen geworden. Hinsichtlich der für zentral gehaltenen Veränderungen in der Medizin steht eine soziologische Analyse der Einstellungen zu Tod und Sterben nun vor einem Problem. Mit welchem Instrumentarium soll sie diese Veränderungen beschreiben oder gar bewerten? Welches Instrumentarium steht ihr überhaupt zu Gebote? Die Antwort kann nur lauten: mit dem Begriffsinstrumentarium der Soziologie. Das bedeutet zum einen, dass eine medizinhistorische Analyse nicht geleistet werden kann, und zum anderen auch, dass die anzusprechenden Veränderungen als medizinische überhaupt nicht von Interesse sind. Sie interessieren nur insofern als Daten, als sie Gegenstand signifikanter gesellschaftlicher Reaktionen geworden sind. Wieder anders gewendet bedeutet dies für die folgende Darstellung, dass sie diese Daten bloß anzitiert, ohne sie in medizinisch-fachliche Zusammenhänge einbinden zu können und einbinden zu wollen. Die medizinischhistorische Rekonstruktion der Ursachen des hier zu behandelnden Phänomens ist also eine hochgradig selektiv vorgehende Darstellung eines komplexen Ganzen. Zu den medizinischen Veränderungen, die dazu führen, dass sich die Ängste der Menschen vom Tod weg und auf das Sterben hin verschieben, kommt flankierend selbstredend das Phänomen der Säkularisierung hinzu.4 Wenn der Glaube an Himmel und Hölle abnimmt, nehmen damit auch die Ängste ab vor dem, was nach dem Tode kommen mag, wenn denn überhaupt geglaubt wird, dass nach dem Tode noch irgendetwas kommt. Möglicherweise also hätten sich die Ängste auch ohne die Veränderungen in der Medizin ceteris paribus vom Tod auf das Sterben verlagert und hätte das Wegbrechen der transzendenten Dimension ohnehin die Ängste auf die immanente Dimension umgelenkt. Aber bekanntlich lassen sich ceteris paribus-Spekulationen für die Sozialwissenschaften nicht klären und eine Klärung hätte tatsächlich für die hier verhandelte Thematik keine Bedeutung, weil die Analyse von den Veränderungen in der Medizin als gegeben ausgeht. Dennoch ist aber die religiöse Dimension für unsere Betrachtung von Bedeutung. Denn das Schwinden der religiösen Verankerung der Gesellschaft führt auch dazu, dass ehedem mögliche Weisen des Verhaltens zu oder des Reagierens auf konkrete Phänomene nicht mehr in gesellschaftlich relevantem Maße und in verbindlicher Weise zur Verfügung stehen. Das ist durchaus nicht wertend gemeint. Es heißt nicht, dass religiös motivierte Demut die richti4 Vgl. dazu Alois Hahn (unter Mitarbeit von Matthias Hoffmann): Religiöser Wandel in der deutschen Gegenwartsgesellschaft - Kontroversen um seine religionssoziologische Interpretation. In: Matthias Koenig et al. (Hg.): Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008, S. 239 – 270, dort auch weitere Literatur.
Einleitung
15
ge, oder gar einzig richtige Art wäre, langes Siechtums und Sterben zu ertragen, es heißt nur, dass im beobachtbaren gesellschaftlichen Repertoire der Antworten auf bestimmte Probleme die Religion offenkundig zusehends fehlt. Die Rekonstruktion dieser Entwicklung dient der Vorbereitung der eigentlich zu analysierenden Situation. Und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist die Rekonstruktion notwendig, um die ambivalente Struktur dieser Entwicklung herauszuarbeiten: Wenn im Folgenden von einer „Institutionalisierung des Todes/ Sterbens“ und einer „Auslagerung der Sterbenden“ gesprochen wird, auch wenn die Untersuchung die so genannte „Verdrängungsthese“ streifen wird, dann ist es wichtig zu sehen, dass diese „Auslagerung“ der Sterbenden aus dem Alltag in Krankenhäuser in dieser Art ein ursprünglich nicht beabsichtigtes Nebenprodukt von anderen Zielen war. Die Schwerkranken wurden, gerade aufgrund neuer medizinischer Möglichkeiten, in die Krankenhäuser gebracht und nicht zu Hause gepflegt. Daraus ergab sich zu einem gewissen Zeitpunkt die Tatsache, dass die meisten Menschen nicht mehr zu Hause, im Umfeld der Familie, starben, sondern in Krankenhäusern. Weiterhin hieß das, dass das Erleben des Todes Anderer, und insbesondere das Erleben des Todes eines nahen Angehörigen, vor allem aber das Miterleben des Sterbens eines Angehörigen, in der Alltagswirklichkeit der meisten Menschen nicht mehr vorkam. Die über lange Zeit fortgesetzte Tradierung von Umgangsmöglichkeiten und Verhaltensweisen beim Sterben Anderer riss, als nicht-intendierte Folge davon, ab. Und damit veränderte sich nun allerdings in der Tat die Motiv-Struktur, durchaus im außermoralischen Sinne, in Bezug auf die Frage, wann ein kranker oder sterbender Angehöriger in ein Krankenhaus eingewiesen werden sollte. Nun ohne erlernte und daher abrufbare Verhaltensmöglichkeiten fühlten sich die Menschen von der Situation überfordert, einen Angehörigen im Sterben zu begleiten. Das Motiv für eine Einweisung in die Klinik hatte sich verändert. Mit der Einweisung in die Kliniken ergibt sich für die Sterbenden allerdings nicht bloß eine örtliche Veränderung, sondern eine qualitative Veränderung ihres Daseins. Es handelt sich, jedenfalls zu Beginn der Entwicklung und bis Mitte der 70er Jahre, bei Krankenhäusern um Einrichtungen, die starke Züge von totalen Institutionen tragen. Unter anderem diese Tatsache macht die Situation der Sterbenden so schwierig und provoziert Veränderungen. Soweit handelt es sich also um die Rekonstruktion einer Entwicklung, die man als „Veränderung von Motiven“ bezeichnen kann. Der andere Aspekt, der die Rekonstruktion notwendig macht, liegt darin, dass man das Aufkommen der Hospizbewegung nur vor dem Hintergrund der Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern verstehen kann. Die Institution Krankenhaus geriet in einem Maße unter Druck, dass es zur Ausbildung einer neuen Institution, nämlich zur Einrichtung von Hospizen, kam.
16
Einleitung
Krankenhäuser sind ihrem Selbstverständnis gemäß nicht auf die Betreuung Sterbender ausgerichtet. Das gilt sowohl für die organisatorische Struktur der Institution Krankenhaus, wie auch für die fachlichen Qualifikationen des medizinischen Krankenhaus-Personals aller Hierarchien. Dass die Menschen ab einem bestimmten Zeitpunkt mehrheitlich in Krankenhäusern sterben, führt also schon auf der rein organisatorischen Ebene zu einem immensen Problem: Bereits die Betreuung eines einzigen Sterbenden stört empfindlich die Ablaufzyklen einer Krankenhausstation; die Betreuung einer Mehrzahl von Sterbenden ist keineswegs handhabbar. Glaser und Strauss nennen Sterben eine „non-scheduled status passage“.5 Aber jenseits der quantitativen Problematik ist es die fehlende Ausbildung, die dem Personal die Arbeit mit sterbenden Personen erschwert. Entscheidend ist hier wiederum der Akzent auf den langen Sterbephasen. Mag die Institution Krankenhaus auch immer schon darauf ausgelegt gewesen sein, die Patienten zu heilen und möglichst gesund oder doch mit der Perspektive einer Genesung wieder zu entlassen, so war das natürlich niemals für die Gesamtheit der Patienten möglich. Ein bestimmter Anteil der Patienten starb immer im Krankenhaus. Aber auch hier stellte das die Institution so lange nicht vor größere Schwierigkeiten, als die Sterbephasen relativ kurz blieben. Ein Patient war nach erfolgloser Therapie „moribund“, was bedeutete, dass er in absehbarer Zeit starb. Sterben und Tod waren also auch in Krankenhäusern anfangs noch zeitlich beieinander liegende Phasen. Und darauf war die Institution Krankenhaus auch angewiesen. Wie jede formale Organisation verfügt auch das Krankenhaus nur über begrenzte Ressourcen. Aber das Krankenhaus als Ort der medizinischen Praxis ist selbstredend auch der erste Ort, an dem sich die Entwicklungen der Medizin zeigen. Das heißt, die Konsequenzen des medizinischen Fortschritts, oder das, was Illich als die „Nemesis der Medizin“ bezeichnet, zeigen sich zuerst im Krankenhaus. Definitiv ausgerichtet auf das Heilen und Therapieren, verfängt sich die Institution Krankenhaus zwangsläufig im Netz der medizinischen Logik und findet sich in der aporetischen Situation wieder, ein Sterben ohne einen Tod zu produzieren. Das medizinische Personal kann nicht auf Ausbildungsinhalte zurückgreifen, die ihm die Bewältigung dieser Aufgabe ermöglichten, und es kann auch nicht, sowenig wie jeder andere Mensch auch, auf außerprofessionelle Erfahrungen zurückgreifen, weil diese, wie erwähnt, im Normalfall nicht mehr zur Alltagswirklichkeit des modernen Menschen gehören. Nicht nur sind die Krankenpflegekräfte vom reinen Organisations- und Arbeitsaufwand der Sterbebegleitung überfordert, sondern sie sind es auch hinsichtlich ihrer Qualifikation. Das ist der zweite 5 Barney G. Glaser and Anselm L. Strauss: Temporal Aspects of Dying as a Non-scheduled Status Passage, in: American Journal of Sociology (June 1965).
Einleitung
17
Pol, von dem aus die Institution Krankenhaus massiv unter Druck gerät und der mit zur Bildung der Hospizbewegung führt. Es ergibt sich also die Situation, dass die Menschen in großer Zahl in Krankenhäusern sterben, dass sich Tod und Sterben im Normalfall nun in einer einzigen Institution abspielen. Man muss zum Krankenhaus auch Alten- und Pflegeheime zählen. Aber diese Einrichtungen entstehen später und vermutlich selbst unter dem Druck der demographischen Entwicklung, die ihrerseits immer wieder entscheidende Impulse erhält durch die Veränderungen in der Medizin. Die Menschen werden immer älter, aber eben auch älter und hinfälliger, ohne konkrete therapierbare Krankheit. Das Krankenhaus ist daher der falsche Ort für sie, und sofern sie keine Angehörigen haben, die sie pflegen könnten und auch pflegen wollten, sind sie auf Alten- und Pflegeheime angewiesen. Bei der Frage nach den pflegenden Angehörigen findet sich die gleiche Zirkelsituation wieder: Weil man keine Erfahrung mehr mit der Pflege hat, sieht man sich auch recht schnell außer Stande, die Pflege eines Angehörigen zu übernehmen. Soziologisch interessant ist nicht das Erleben des eigenen Todes, sondern das Erleben des Todes Anderer oder die Reaktionen darauf. Für das Sterben gilt das gleiche in noch verstärktem Maße. Denn die Ängste, die das eigene Sterben betreffen, speisen sich ja aus dem Wissen um das Sterben der Anderen. Die soziologische Relevanz ergibt sich aus der Kommunikation über das Sterben. Unter anderem ist es die Vernachlässigung dieses Punktes, nämlich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, Angst vor dem Tode zu haben, die Georg Simmels klassische Arbeit „Über die Metaphysik des Todes“ zu einer philosophischen und nicht zu einer soziologischen Arbeit macht.6 Die 60 Prozent derjenigen, die sagen, dass sie mehr Angst vor dem Sterben haben als vor dem Tod, müssen ja irgendeine Vorstellung davon haben, was es heißt, zu sterben. Tod und Sterben haben sich voneinander entkoppelt, weil sich das Sterben verändert hat. Der Tod ist demgegenüber gleich geblieben. Durchaus hat sich das definitive Kriterium für die gesicherte Feststellung des Todes verändert und ist überdies immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Das Stichwort „Hirntoddebatte“ mag hier als Hinweis genügen, um das Problem zu benennen.7 Aber das Sterben ist zu einer eigenen Phase geworden und diese ist es auch, welche sowohl die 6 Georg Simmel: Zur Metaphysik des Todes, in: ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957. Vgl. dazu auch Alois Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, in: Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz (Hg.): Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes, Frankfurt am Main 1995, S.80-96. 7 Vgl. hierzu Gesa Lindemann: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2002, dies.: Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts, Konstanz 2003, sowie Werner Schäfer: „So tot wie nötig, so lebendig wie möglich!“ Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Eine Diskursanalyse der öffentlichen Diskussion um den Hirntod in Deutschland, Münster 1999.
18
Einleitung
Gesellschaft vor institutionelle Zwänge stellt als auch die je einzelnen Menschen auf ganz spezifische Weise ängstigt. Auf eine Weise nämlich, die mit der Spezifik des modernen Menschen zusammenhängt. Denn die Anforderungen und Erwartungen, die er an andere und vor allem aber auch an sich selbst stellt: Beherrschung und Domestikation der Körperfunktionen, Neutralisierung des Körpergeruchs, Vermeidung von Peinlichkeiten und dergleichen mehr, werden unter den Bedingungen langer Sterbeverläufe höchst prekär. Der zivilisierte Mensch, dessen Genese Norbert Elias beschreibt, dessen sinnliche Sensibilität Georg Simmel eindrücklich schildert und dessen stetigen Kampf um eine reibungslose Interaktion Erving Goffman vor Augen führt, dieser zivilisierte Mensch ist in der Phase seines Sterbens von permanentem Scheitern an seinen Ansprüchen bedroht. Er ist nicht nur für die Anderen ein Sterbender, mit dem man nicht mehr so interagieren kann, wie man es normalerweise tat, sondern er ist für sich selbst als Sterbender auf schwer erträgliche Weise ein Anderer geworden als der, der er zu sein gewohnt war. Mit dem Begriff des „sozialen Sterbens“ soll diese Perspektive auf das eigene Sterben beschrieben werden. Das Untersuchungsmaterial, auf das sich die Arbeit im Kern stützt, sind zwei eigene Studien, deren Ergebnisse als Leitfaden dienen. Zum einen handelt es sich um eine Umfrage, die im Auftrag des Hospizvereins Trier durchgeführt wurde und die als Grundgesamtheit alle Personen anvisierte, die im Raum Trier und Trier/Saarburg beruflich mit sterbenden Menschen oder deren Angehörigen zu tun haben: Ärzte, Pflegepersonal in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Seelsorger, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in Beratungseinrichtungen, Psychologen und Hospizhelfer. Diese Untersuchung versuchte, die institutionelle Situation abzubilden, wie sie sich gegenwärtig im Bereich des Umgangs mit Sterbenden zeigt.8 Zum anderen handelt es sich um die bereits eingangs erwähnte Telefonumfrage zum Thema „Schwere Krankheit und Tod“, die in Trier und Trier/Saarburg durchgeführt wurde. Sind dies beides nun Untersuchungen, die sich auf einen relativ kleinen geographischen Raum beziehen, so lassen sich doch an ihren Ergebnissen Entwicklungen und Tendenzen ablesen, die sich mit Befunden fremder Arbeiten decken, wie wir zeigen werden. Die Studie von Alois Hahn „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“9 von 1968 dient uns als Bezugspunkt empirischer Daten. Die Untersuchung war die erste und für lange Zeit auch die einzige soziologische Studie, die sich des Themas „Tod“ mit quantitativen Methoden annahm. Aber wie an ihrem Titel schon ersichtlich, ging es damals um die Einstellungen zum „Tod“ und nicht um Einstel8 Alois Hahn, Rüdiger Jacob, Eva Eirmbter-Stolbrink und Matthias Hoffmann: Sterbebegleitung in Trier. Bestandsaufnahme 2003 (Eigenveröffentlichung des Hospizvereins Trier). 9 Alois Hahn: Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968.
Einleitung
19
lungen zum „Sterben“. Denn die Frage, ob sich für die Menschen zwischen den Einstellungen und Ängsten in Bezug auf den Tod und in Bezug auf das Sterben Differenzen zeigen und ob eine Analyse der Gründe soziologisch interessant sein könnte, stellte sich damals noch nicht mit gleicher Dringlichkeit wie heute. Daher war die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ teilweise als Re-Study der Hahn’schen Studie angelegt, um an den Gemeinsamkeiten, mehr aber noch an den Unterschieden in den Ergebnissen die charakteristischen Veränderungen herauszuarbeiten, die sich seitdem in den Einstellungen zu Tod und Sterben gezeigt haben.
2
Die problematische Ausgangssituation
Eine der bemerkenswertesten, aber auch dramatischsten und folgenreichsten Beschreibungen der Situation der Sterbenden hat für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Philippe Ariès in seiner „Geschichte des Todes“10 geschrieben. Der rote Faden seiner monumentalen, einen Zeitraum von rund 2000 Jahre umspannenden Untersuchung ist die Entwicklung von einem öffentlichen Tod hin zu einer Privatisierung des Sterbens und des Todes. Der Endpunkt der von ihm beschriebenen Entwicklung ist der um seinen Tod betrogene einsam Sterbende. Um den Tod betrogen sein heißt, über das Sterben bewusst im Unklaren gehalten zu werden und somit ohne Möglichkeit zu sein, in Würde zu sterben. Diesen Typus des Todes nennt Ariès den „ins Gegenteil verkehrten Tod“ und beschreibt ihn als Kontrapunkt zum „gezähmten Tod“, dem Typus, den er für den Beginn seines Untersuchungszeitraums in der Antike als dominanten Typ zu erkennen glaubt. Grob gesprochen bezeichnet dieses Gegensatzpaar mit dem „gezähmten Tod“ einen Tod, der dadurch, dass er zum alltäglichen Erleben gehört, keinen besonderen Schrecken verbreitet. In Ariès’ Schilderung, die mitunter durchaus romantisierend ist, herrscht ein tiefes Einverständnis, ihn als zur conditio humana gehörig zu akzeptieren. Die Gesellschaft als ganze nimmt den Tod eines ihrer Mitglieder hin und stützt dabei sowohl den Betreffenden in seinem Sterben als auch seine Angehörigen in ihrer Trauer. Der „normale Tod“ (auf Fälle „verfrühten Todes“, etwa das Sterben von Kindern oder jungen Erwachsenen kommen wir noch zurück) gefährdet nicht die Stabilität der Gesellschaft und ist auch für die Angehörigen kein katastrophaler Einschnitt. Der Tod und die Verarbeitung der durch ihn hervorgerufenen Trauer finden in der Gesellschaft statt. Das heißt: Der Sterbende, seine Angehörigen und die Personen des näheren Umfeldes bilden eine Gruppe, die sich zusammenfindet, wenn sich der Tod ankündigt und ihn als Gruppe erträgt. „Der ins Gegenteil verkehrte Tod“ entbehrt den Rückhalt in der Gruppe, entbehrt auch eine würdige Vorbereitung auf das Sterben. Und vor allem ist er ein aus der Gesellschaft in die Krankenhäuser ausgelagerter Tod, von dem die Gesellschaft so gut wie möglich ferngehalten werden muss. Bis zum „ins Gegenteil verkehrten Tod“ setzt Ariès drei weitere eigene Typen des Todes an, die, mehr oder minder scharf voneinander getrennt, eine 10
Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 2002.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die problematische Ausgangssituation
chronologische Abfolge bilden. Es sind dies „der Tod des Selbst“, „der lange und stets nahe Tod“ und „der Tod des Du“.11 Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist die große Neuerung, die Ariès im achtzehnten Jahrhundert aufkommen und in der Hauptsache im neunzehnten Jahrhundert sich durchsetzen sieht. Am „Tod des Du“ beschreibt Ariès die nun an den Anderen gekoppelte hohe Affektivität, die dazu führt, dass im Falle seines Todes Trauer in bisher ungeahntem Ausmaß hervorbricht. „Die einst freischwebende, diffuse Affektivität hat sich auf einige wenige Wesen konzentriert, von denen getrennt zu werden man nicht mehr erträgt: die Trennung löst eine dramatische Krise aus, die wir den Tod des Anderen genannt haben.“12 Aber nicht die neue große Trauer ist das für unser Thema wichtige Novum, sondern die Reaktion auf den als Trauma erlebten Verlust des geliebten Anderen: die Verschleierung der Agonie des Todes. Sie wird durch die Glorifizierung des Todes als Schönheit geleistet: „(...) der Tod hat aufgehört, traurig zu sein, und wird als geradezu ersehnter Moment verherrlicht. Er ist die Schönheit. (...) Der Tod ist nun nicht mehr vertraut und gezähmt wie in den traditionellen Gesellschaften, doch er ist auch nicht mehr absolut wild.“13 Dass er trotz Verschleierung der Agonie „nun nicht mehr vertraut und gezähmt“ ist, darin liegt für unser Thema die Bedeutung. Denn die Unvertrautheit und Ungezähmtheit wird er von nun an nicht mehr verlieren bis in die Gegenwart. Da eine solch enorme Affektivität sich nur auf wenige Andere, auf die Kernfamilie beziehen kann, kommt zur Unvertrautheit des Todes im neunzehnten Jahrhundert ein weiterer Aspekt neu hinzu, der sich als wichtige Kontinuität zum „ins Gegenteil verkehrten Tod“ im zwanzigsten Jahrhundert erweisen wird: das Ideal der „privacy“. Sie besetzt den Platz, den im Typus des „gezähmten Todes“ die traditionelle Gemeinschaft innehatte.14 Es ist also eine Bewegung aus der Öffentlichkeit in die Sphäre der Privatheit, die sich bei der Herauskristallisierung des „Todes des Du“ vollzieht. Es ist die Vorlage für die im zwanzigsten Jahrhundert massiv einsetzende Ausbürgerung des Todes aus der Öffentlichkeit und die Verlagerung des Sterbens in die Kliniken. Die chronologisch letzte Form des Todes ist für Ariès der „ins Gegenteil verkehrte Tod“, der wenigstens seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun11
Für eine eingehendere Beschreibung der Typen und eine kleine Rezension des Buches im Rahmen soziologischer Todes- und Weiterlebensvorstellungen vgl.: Alois Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, in: Jan Assmann und Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg/ München 2002, S.55-89. Dort findet sich auch ein Überblick über neuere französische Arbeiten zur Thematik des Todes. 12 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.783. (Hervorhebungen im Original, MH) 13 Ebd., S.783f. (Hervorhebungen im Original, MH) 14 Die Zwischenepochen lassen wir hier außer Acht. Da es uns um die Beschreibung des „ins Gegenteil verkehrten Todes“ geht, beziehen wir uns auf seinen Antipoden, den „gezähmten Tod“.
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derts für ihn die dominante Form ist. Die enorme Affektivität in Bezug auf die Familienmitglieder ist geblieben und damit das Ideal der Privatheit. Untergegangen ist aber die Glorifizierung des Todes als Schönheit. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts sieht man nach Ariès, „wie sich die scheußlichen Bilder der makabren Epoche (...) wieder Geltung verschaffen.“15 Der Tod ist schmutzig geworden, unanständig und unschicklich. Aus diesem Grund kann er nun auch auf gar keinen Fall mehr ein öffentlicher Tod sein. Das Ideal der Privatheit rückt allerdings nur scheinbar stärker in den Vordergrund, bis erkenntlich wird, dass diese Privatheit einen anderen Grund hat und damit auch eine völlig anders gelagerte Intention verfolgt. War die „privacy“ in der Epoche des „Todes des Du“ deshalb wichtig geworden, weil die enorme Affektaufgeladenheit der Beziehung zu den Allernächsten Abgeschiedenheit von der Öffentlichkeit benötigte, um das Moment der Schönheit des Todes zelebrieren zu können, so darf nun die Öffentlichkeit nicht teilhaben am Sterben, weil es als ekelhaft empfunden wird. Diesen Ekel aber empfinden die Angehörigen selber, und daher ist es keine weitere Intensivierung der Form der Privatheit, die den Tod aus der Öffentlichkeit verschwinden lässt, sondern seine Auslagerung in die Kliniken. Aus der umfassenden Geborgenheit der Familie ist der Sterbende nun in eine Institution verlegt, die an ihm als Person kein Interesse mehr hat, sondern nur noch an ihm als Träger der Patientenrolle. Die Reduzierung der Perspektive von der Person auf eine Rolle ist freilich kein Spezifikum der Institution Krankenhaus. Es gilt für alle Institutionen, dass sie Personen nur unter der für sie je spezifischen Perspektive betrachten und damit nur einen Aspekt der Person wahrnehmen. Ariès urteilt hart, die Klinik sei letztlich „für die Familien ein Asyl, wo sie ihren lästigen Kranken, den weder sie selbst noch die Umwelt länger ertragen mögen, einliefern und verstecken können (...)“16 Es ist das Gegenteil des Bildes vom „gezähmten Tod“. Das Herausfallen der Sterbetechniken aus der Sozialisation, weil das zugehörige Phänomen, der Tod, aus dem Alltag verschwindet, hat große Konsequenzen. Aber nirgendwo erwähnt Ariès, dass sich diese Sterbetechniken in den Kliniken erhielten. Die Klinik ist für ihn ein aseptischer Ort technischer Abläufe; man denke an das von ihm als „klassisch“ bezeichnete Bild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten Sterbenden. Das heißt demnach, dass es in diesem Sinne keine Spezialisten im Umgang mit dem Tod gibt, wie es die Redewendung von der Abgabe des Todes in die Hände von Spezialisten (etwa Ärzte und Pflegekräfte oder Seelsorger) unterschwellig suggeriert. Die Daten unserer Untersuchung werden das Problem benennen: Die Techniken, die im Krankenhaus für den Umgang mit dem Tod vorgesehen sind, machen den Tod nicht wieder zu einem gezähmten Tod im Sinne von Ariès. Der 15 16
Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.728. Ebd.
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Tod im Krankenhaus ist mit Schrecken beladen, der aber, und das ist die entscheidende Dimension, keinen ausreichenden Platz der Thematisierung hat. Nicht für den Sterbenden und nicht für den Pflegenden.17 Auch dieses Ungleichgewicht zwischen hochentwickelten medizinisch-technischen Fähigkeiten einerseits und nur marginal ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten andererseits werden wir an unseren Daten belegen. Auf diese Situation bezieht Ariès die dritte und letzte Stufe der Inversion des Todes, die er den „Triumph der Medikalisierung“ nennt.18 Die enormen Neuerungen in der Medizin haben dazu geführt, dass der Tod immer weiter hinausgeschoben und zurückgedrängt werden kann. Intravenöse Infusionen, künstliche Ernährung durch eine Magensonde, hochpotente Analgetika und dergleichen mehr, was die moderne Intensivmedizin zu bieten hat, führen dazu, dass der Tod als natürlicher Endpunkt des menschlichen Lebens aus dem Blick gerät. Fast könnte man sagen, dass es den Tod als Tod nicht mehr gibt. Heutzutage stirbt man nicht einfach, sondern man stirbt „an etwas“. Und dieses Jeweilige, an dem man stirbt, ist für die Medizin immer ein vorläufig noch zu überwindendes Hindernis. „Der Tod wird nicht als solcher beseitigt, sondern in einer seiner jeweiligen Erscheinungen bekämpft. Gegen den Tod kann man nichts machen, aber Aids (Krebs, Syphilis, Cholera...) kann man überwinden.“19 Ariès fasst denselben Umstand wie folgt: „Unmerklich und immer schneller wurde der normale Sterbende einem Schwerkranken nach der Operation gleichgestellt.“20 Hat es die Medizin aber mit einem Schwerkranken zu tun, ist sie gehalten, alle ihre technischen Mittel auszuschöpfen, um ihn zu heilen. „Der Tod hat aufgehört, ein natürliches und notwendiges Phänomen zu sein. Er ist ein Fehlschlag, ein business lost. (...) Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefaßt, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit, das es schleunigst zu vergessen gilt.“21 Mit der Identifizierung von todkrank mit schwerkrank, also von Sterbender mit Patient, wird der medizinische (und wir dürfen hinzufügen: der pflegerische) Umgang mit dem Tod und dem Sterben mehr und mehr ein rein technischer. Diese Verdeckung des Phänomens des To17
Seit der Beschreibung durch Ariès hat sich in manchen Krankenhäusern die Möglichkeit der Supervision für die Pflegekräfte durchgesetzt. Aber die Verbreitung ist sehr gering. In unserer Untersuchung geben lediglich 10 Prozent der Befragten in allen Berufsgruppen an, an einer Supervision teilzunehmen. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, ob es an einem mangelnden Angebot liegt oder ob bestehende Angebote nicht genutzt werden können, weil z.B. die Kosten vom Arbeitgeber nicht übernommen werden, die Pflegekräfte für die betreffende Zeit nicht vom Dienst freigestellt werden oder ähnliches mehr. Vgl. dazu Hahn et al.: Sterbebegleitung in Trier, a.a.O., S.37f. 18 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.747. 19 Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, a.a.O., S.88. 20 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.748. 21 Ebd., S.751.
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des führt auch dazu, dass es eine Komplikation darstellt, den Tod zu verbalisieren. Es wird, auch rein sprachlich, schwer, den Patienten, oder eben besser: den Sterbenden, zu sagen, dass sie Sterbende sind. So zitiert Ariès einen Arzt mit den Worten: „Es passiert uns aber auch (uns Ärzten), das sei eingestanden, dass wir vor der Wahrheit fliehen, dass wir uns hinter unserer Autorität verschanzen, dass wir Versteck spielen. Es gibt Ärzte, die nie etwas sagen.“22 Zusammenfassend kann man also sagen, dass Ariès den „ins Gegenteil verkehrten Tod“ hauptsächlich an folgenden Punkten festmacht: Die alte Einheit des Ortes von Leben und Sterben ist mit der Auslagerung des Todes in die Krankenhäuser auseinander gebrochen. Das Krankenhaus wird zum Ort des normalen Todes, was zur Folge hat, dass sich der Umgang und die Verhaltensweisen zum Phänomen Tod grundsätzlich verändern. Da der Tod aus dem Kreis der Familie in den Bereich der Medizin verlagert wird, findet er sich in einer technisch bestimmten Sphäre wieder. Die Weisen des Umgangs mit Tod und Sterben, die sich über nahezu zwei Jahrtausende tradiert haben, geraten mit dem Verschwinden des Todes aus der Alltagswirklichkeit in Vergessenheit. In den Krankenhäusern wird der Sterbende nach Maßgabe medizinisch professioneller Standards behandelt und das heißt, es wird nicht ausgesprochen, dass er ein Sterbender ist, sondern ihm wird die Rolle des zu behandelnden und behandelbaren Patienten übergestülpt. Im Krankenhaus aus dem Kreise seiner Nächsten entfernt und über seinen Zustand nicht aufgeklärt, beschreibt Ariès den am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sterbenden Menschen als einsam und um seinen Tod betrogen. Wir wollen in der Analyse unserer Umfragedaten zeigen, dass sie ihrem latenten Gehalt nach das von Ariès gezeichnete Bild stützen.23
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Ebd., S.754. Mit Ausnahme der Beschreibung des Krankenhauses als Abschiebestation für Familien, die ihre sterbenden Angehörigen nicht mehr ertragen. Die Behauptung kann durch unsere Daten weder verifiziert noch falsifiziert werden, weil danach nicht gefragt wurde. 23
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Das Sterben in Institutionen
Die Lage, von der wir nun auszugehen haben, ist demnach die, dass das Sterben mehrheitlich in Institutionen stattfindet. In der Hauptsache sind das die Krankenhäuser, hinzu kommen Alten- und Pflegeheime. Wie häufig bei groß angelegten, illuster und differenziert vorgetragenen Untersuchungen (Ariès’ Untersuchungszeitraum beträgt wie erwähnt rund zweitausend Jahre) setzen sich im Zuge der Rezeption die Ergebnisse in etwas vergröberter Weise im Diskursbewusstsein fest. Die von Ariès für die westliche Welt des späten zwanzigsten Jahrhunderts herausgearbeitete Dominanz des Sterbens in Institutionen ist gängige Münze geworden als die These, dass „die Menschen schlechthin“ nunmehr in Institutionen stürben. In dieser absoluten Fassung ist dem sicher nicht so, aber eine Reihe von empirischen Untersuchungen in europäischen Ländern und den USA hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sich die von Ariès ohne statistische Daten präsentierte Analyse halten lässt.24 Die wohl erste Studie, die auf den Umstand aufmerksam machte, dass die Menschen mehrheitlich in Krankenhäusern sterben, stammt von 1970 und bezieht sich, mangels für die ganze USA gültiger Statistiken, auf New York City.25 Zwischen 1955 und 1967 sank der Anteil derjenigen, die zu Hause („Privatwohnung“) starben, von rund 30 auf rund 24 Prozent, während der Anteil derjenigen, die in Krankenhäusern starben, von rund 66 auf rund 73 Prozent stieg. Selbst für den gesamten Untersuchungszeitraum gilt also, dass die Mehrheit der Menschen in New York City in Institutionen starb. Ebenfalls für die USA gibt eine Studie von 199726 an, dass 77 Prozent aller Todesfälle in der gesamten USA sich in Institutionen ereignen und nur 20 Prozent in Privatwohnungen. Das gleiche Ver-
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Die im Folgenden aufgezählten Studien werden zitiert nach Randolph Ochsmann et al.: Sterbeorte in Rheinland-Pfalz: Zur Demographie des Todes. Beiträge zur Thanatologie des Interdisziplinären Arbeitskreises Thanatologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Heft 8, 1997. Die Beiträge sind auf der Homepage des Arbeitskreises frei verfügbar: http://www.psych.uni-ainz.de/abteil/soz/thanatologie/Literatur/beitraege.htm. 25 Lerner, M: When, why, and where people die, in: O.G. Brim et al.: The dying patient. New York 1970. 26 Edmondson, B.: The facts of Death. In: American Demographics, April 1997 (ohne Seitenangaben).
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hältnis zeigt sich in einer Untersuchung von 1991 für England und Wales27 und in einer vom St.Christopher-Hospiz für England und Wales zusammengestellten Statistik des Jahres 199728: Nur 24 bzw. 22 Prozent der Menschen sterben zu Hause. Für die Schweiz hat Streckeisen die Daten für die Orte des Sterbens für den Zeitraum von 1969 bis 1986 errechnen lassen.29 Über den gesamten Zeitraum sterben mehr als die Hälfte aller Personen in Krankenhäusern. Der prozentuale Anteil bleibt mit einer sehr kleinen Schwankungsbreite konstant zwischen 54 und 56 Prozent. Die separat betrachtete Kategorie „Altersheim“ verzeichnet von 1979 bis 1986 einen schwachen Anstieg von 12 auf 14 Prozent. Demgegenüber steht ein Rückgang der Personen, die zu Hause sterben, von 1969 bis 1986 um 10 Prozent von 38 auf 28 Prozent.30 Für Deutschland referiert Streckeisen Daten von Mischke, wonach von 1954 bis 1978 der Anteil der im Krankenhaus Gestorbenen von 27,5 Prozent auf 59,3 Prozent steigt.31 Diese kursorisch zitierten Studien deuten ganz offensichtlich darauf hin, dass man mit Ariès’ These vom epochentypischen „Sterben in Institutionen“ arbeiten kann. Wenn im Folgenden mittels unserer selbst erhobenen Daten die Situation der Sterbenden in den Institutionen, vor allem in den Krankenhäusern, analysiert werden soll, so ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass es sich um Daten handelt, die für ein sehr lokal begrenztes Gebiet Gültigkeit beanspruchen. Es wurde auch nicht eigens systematisch nach der Verteilung der Sterbeorte gefragt. Um aber für unser Gebiet, Stadt Trier und Kreis Trier-Saarburg, sicherzustellen, dass man von einem mehrheitlichen Sterben innerhalb von Institutionen sprechen kann, sei eingangs auf die Untersuchung „Sterbeorte in Rheinland-Pfalz. Zur Demographie des Todes“ verwiesen, in der Randolph Ochsmann die Situation für Rheinland-Pfalz darstellt.32 Ochsmann will dezidiert „für eine bestimmte Region und für einen bestimmten Zeitpunkt“33, die Studie ist repräsentativ für 27
Cartwright, A: Changes in life and care in the year before death 1969-1987. Journal of Public Health Medicine, 13, 1991, S.81-87. 28 The Hospice Information Service: Hospice facts and figures. St.Christopher’s Hospice, London 1997. 29 Die Berechnungen mussten eigens vom schweizerischen Bundesamt für Statistik durchgeführt werden, denn „der Ort des Todeseintritts („Sterbeort“), der auf jeder Sterbekarte vermerkt ist, ist eine statistisch vernachlässigte Variable. Wie alle anderen Informationen der Sterbekarte ist er beim Bundesamt für Statistik seit 1969 auf Magnetband aufgenommen, doch Auswertungen gibt es bislang kaum. (...) das Altersheim (kann) aufgrund der vorliegenden Daten erst seit 1979 separat betrachtet werden. (...) Informationen zum Sterbeort (werden) seit 1987 aus Spargründen überhaupt nicht mehr erhoben.“ Vgl. Ursula Streckeisen: Die Medizin und der Tod. Über berufliche Strategien zwischen Klinik und Pathologie, Opladen 2001, S.49. 30 In diese Kategorie fallen auch alle „im Freien“ gestorbenen Personen. 31 Marianne Mischke: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Geschichte, Berlin 1996, S.222, zitiert nach Streckeisen, a.a.O., S.50. 32 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O. 33 Ebd., S.4.
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1995, kritisch prüfen, ob die Ariès’sche These von der Verschiebung des Todes in die Krankenhäuser stimmt und zitiert als heuristischen Anlass dazu eine „Spiegel“-Meldung, wonach „von den 900000 Bundesbürgern, die jährlich sterben, (...) 70 Prozent in Krankenhäusern dem Jenseits entgegen (siechen)“34. Ochsmann wendet sich dabei gegen Annahmen, die „auf nicht nachvollziehbaren Schätzungen“35 beruhten, wie etwa die von Kirschner, der in „Die Hospizbewegung in Deutschland am Beispiel Recklinghausen“36 ebenso wie Müller in einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebenen Band zu „Sterben und Sterbebegleitung“37 die These vertrete, „dass in der Bundesrepublik Deutschland das Sterben weitgehend in die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen verlagert sei“38. Tatsächlich werden solche Zahlen auch gegenwärtig immer wieder in die Diskussion gebracht, ohne auf statistische Belege rekurrieren zu können. Noch allerjüngst haben Hanfried Helmchen und Hans Lauter in einem Band zu den „Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft“ die „70-Prozent-Angabe“ ohne Verweis auf eine Quelle verwendet.39 Nach einer sehr sorgfältigen statistischen Analyse kommt Ochsmann nun zu folgendem Resumée: „Im Jahr 1995 starben in Rheinland-Pfalz in den ausgewählten Regionen 44,1% der Menschen im Krankenhaus, 12,8% im Altenheim, 37,3% in der eigenen Wohnung, 2,5% in einer anderen Wohnung und 1,7% an sonstigen Orten. Bei 1,7% der Fälle fehlen die Angaben zum Sterbeort. Zusammengefasst: Die Todesfälle ereigneten sich zu 56,9% in einer Institution und zu 39,8% in einer Privatwohnung. Da die Zahlen für die Todesfälle in Krankenhäusern mit denen der Statistik des Landes Rheinland-Pfalz (44,5%) weitgehend übereinstimmen, können auch die Ergebnisse für die anderen Sterbeorte als repräsentativ für das Bundesland betrachtet werden.“40 34
Sag lächelnd good bye. In: Der Spiegel, 6, 1995, S.114-121. Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.4. J. Kirschner: Die Hospizbewegung in Deutschland am Beispiel Recklinghausen. Frankfurt am Main 1996. 37 M. Müller: Sterben Zuhause und wie zu Hause. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Sterben und Sterbebegleitung. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart 1996, S.103-105. 38 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.4 (Hervorhebung MH). 39 „Während die meisten Menschen bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts im Kreis ihrer nächsten Angehörigen und in ihrer häuslichen Umwelt sterben konnten, wurde der Tod in den modernen Gesellschaften an medizinische und pflegerische Institutionen delegiert und damit persönlich unvertraut und sozial weitgehend unsichtbar. Dies geht auch aus einer repräsentativen Untersuchung hervor, wonach innerhalb eines Jahres fast 50% der Menschen im Krankenhaus und weitere ca. 20% in Alten- und Pflegeheimen starben.“ Hanfried Helmchen und Hans Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod aus ärztlicher Sicht, in: Cornelia Klinger (Hg.): Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft. Wien/ Berlin 2009, S.145-183, hier S.152. 40 Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.3. „Für die im Jahr 1995 erhobenen Daten wurde die Verteilung der Todesfälle auf fünf unterschiedliche Sterbeorte ermittelt. Kategorie 1 („Altenheime“) umfasst alle 35 36
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Das Sterben in Institutionen
Angesichts dieser Ergebnisse kommt es ihm nun vor allem darauf an, die Aussage empirisch fundiert zurückweisen zu können, dass „weitgehend“ in Krankenhäusern und Pflegeheimen gestorben werde: „Es sterben also viel mehr Menschen zu Hause, als Schätzungen vermuteten und internationale Vergleiche erwarten ließen.“41 Ochsmann sieht allerdings innerhalb der Institutionen eine Trendverlagerung des Sterbens, „von den Kliniken weg in die Einrichtungen der Altenhilfe“.42 Diese Trendwende setze aber erst bei den Über-80Jährigen ein. Über alle Altersklassen hinweg gelte, dass die meisten Tode in den Institutionen Altenheim/ Krankenhaus stattfänden, wobei bis einschließlich der Klasse der 70-79Jährigen die Institution Krankenhaus alleine über 50 Prozent ausmache. Tabelle 1:
Sterbeorte in Rheinland-Pfalz (1995) nach Altersgruppen43 Altenhilfe
Säuglinge 1 bis 59 Jahre 60 bis 69 Jahre 70 bis 79 Jahre 80 bis 89 Jahre Ab 90 Jahren Gesamtstichprobe
0,0 1,1 3,1 7,8 18,6 29,8 12,8
Krankenhaus 76,6 50,0 52,9 52,6 38,8 25,0 44,1
Privatwohnung 19,1 38,3 39,8 37,7 40,7 43,0 39,8
Sonstiges 4,2 10,6 4,0 1,9 1,9 2,2 3,4
N= 100% 47 1509 1819 2900 4544 1398 12217
Man mag sich über diese Akzentuierung bei der Interpretation der Ergebnisse wundern, zumal Ochsmann unmittelbar anschließend prognostiziert, dass „die gefundenen Zusammenhänge zwischen der Verteilung der Sterbeorte und demographischen Variablen, Todesursachen sowie soziostrukturelle Faktoren die
Einrichtungen der Altenhilfe, und zwar Altenheime, Altenwohn- und Altenpflegeheime sowie die Tagespflege- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Krankenhäuser sowie Kurkliniken werden in Kategorie 2 („Krankenhaus“) zusammengefasst. Kategorie 3 („Eigene Wohnung“) meint als Sterbeort die Privatwohnung des/der Verstorbenen und Kategorie 4 („Andere Wohnung“) fasst alle sonstigen Privatwohnungen zusammen, die nicht gleichzeitig Wohnung des/ der Verstorbenen waren. Alle anderen Orte (z.B. auf der Straße, Freizeiteinrichtungen) werden in Kategorie 5 („Sonstiger Ort“) aufgeführt. In Kategorie 6 („fehlende Angaben“) werden alle Fälle erfasst, in denen keine eindeutige Angabe zum Sterbeort aus den Leichenschauscheinen zu entnehmen war.“ Ebd., S. 13. Die Stichprobe betrug N=12217. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Zitiert nach Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.15. (Tabelle eigene Erstellung, MH)
Das Sterben in Institutionen
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Vermutung nahe (legen), dass in den nächsten Jahren das Sterben in Institutionen durch die bekannten gesellschaftlichen Entwicklungen eher noch zunehmen wird.“44
Für die soziologische Analyse des Sterbens und für die Verwendung der Ariès’schen Großthese ist es aus unserer Sicht ein hinlänglich belastbares Datum, dass mehr als die Hälfte der Tode in einer Institution stattgefunden hat. Es ist dabei, wie im Übrigen auch für die Ariès’sche These, nachrangig ob es sich um ein Krankenhaus oder ein Altenheim handelt. Für die nähere Analyse der strukturellen Situation der Sterbenden in den Institutionen muss an dieser Stelle mit Nachdruck auf die Hauptthese dieser Arbeit hingewiesen werden: dass Tod und Sterben historisch zum ersten Mal als eigene Phasen auseinander fallen. Das bedeutet, dass die Situation in den Institutionen Krankenhaus und Altenheim fast unabhängig von der Zunahme der absoluten Zahl derer, die in ihnen sterben, unter enormen Druck gerät, weil sich die Phase, in der die Menschen in hohem Maße auf fremde Hilfe angewiesen sind, sehr verlängert. Es steht also die Frage im Raum, an welchen Erkrankungen die Menschen mehrheitlich sterben. Bereits für das Jahr 1980 schreibt Schmied, dass „über 20% aller Todesfälle (...) auf bösartige Neubildungen zurückzuführen (waren), bei denen in der Mehrzahl ein langes Leiden zu erwarten ist. Ähnliches gilt für manche Krankheiten des Kreislaufsystems, die die häufigste Todesursache darstellen.“45 Für 2003, den Zeitpunkt unserer Untersuchung für den Hospizverein, referiert Helmchen46, dass von den über 850.000 Gestorbenen dieses Jahres fast die Hälfte an Herzkreislauferkrankungen, ein weiteres Viertel an Krebserkrankungen zu Tode kamen. Der Mediziner Helmchen verweist allerdings darauf, dass sich diese Zahlen aus den auf dem Totenschein vermerkten ärztlichen Diagnosen ergeben mit der Folge, dass sie „meist keine genaue Auskunft über die Krankheiten, die dem Tod vorausgegangen sind oder über deren namentlich bei älteren Patienten sehr häufige Kumulation, die so genannte Multimorbidität“ geben.47 Helmchen verweist daher auf eine Studie des Medizinhistorikers Nuland48, wonach die meisten Men44
Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.3. Gerhard Schmied: Sterben und Trauern in der modernen Gesellschaft. Opladen 1985, S.19. 46 Helmchen/ Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, a.a.O., S.151. 47 Ebd.. Auf ein weiteres Problem, das sich bei einem blinden Folgen der Angaben auf den Totenscheinen ergibt, macht Ochsmann aufmerksam. Um zu prüfen, ob die Sterbeorte von der Todesursache abhängen, hat auch er Totenscheine ausgewertet und hat Gründe zu der Vermutung, dass die darauf gemachten Angaben nicht zuverlässig sind: „Ein erster Blick in die Tabelle („Sterbeorte der über 59jährigen in Rheinland-Pfalz (1995) nach Todesursachen“, MH) läßt bereits die Daten über die Todesursachen als höchst problematisch erscheinen. (...) Zum anderen scheinen die Verantwortlichen, die den Tod in Altenheimen oder in Privatwohnungen feststellen, das Diagnoseinstrument anders zu handhaben als diejenigen in der Klinik. Auffällig ist jedenfalls, dass „sonstige Todesursachen“ sehr viel häufiger von den Klinikärzten angegeben wird.“ Ochsmann: Sterbeorte, a.a.O., S.23. 48 Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. München 1994. 45
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Das Sterben in Institutionen
schen an Arteriosklerose, Bluthochdruck, Krebs, Diabetes, Übergewicht, Alzheimerkrankheit und Schwächung der Immunabwehr sterben.49 „Es handelt sich hierbei überwiegend um Erkrankungen, die sich über ausgedehnte Zeiträume hinziehen und eine lange Leidensphase mit sich bringen. Dagegen ist ein plötzlicher Tod (...) sehr viel seltener und betrifft weniger als ein Siebtel der Verstorbenen.“50
Vor dem Hintergrund dieser beiden Rahmenbedingungen, dass erstens die Annahme eines mehrheitlichen Sterbens in Institutionen gerechtfertigt ist und dass zweitens der typische Sterbeverlauf sich über längere Zeiträume erstreckt, soll im Folgenden die Situation der Sterbenden in diesen Institutionen: den Kliniken, den Altenheimen und in den Hospizen dargestellt werden. 3.1 Kliniken Zur folgenden Darstellung der Situation der Sterbenden in den Kliniken beziehen wir uns ausschließlich auf die Daten, die wir im Sommer 2003 für den Hospizverein Trier erhoben haben.51 Vorweg ist eines wichtig noch einmal zu bemerken: Unsere Daten sind nicht aus Befragungen von Patienten oder Heimbewohnern gewonnen, sondern ausschließlich aus schriftlichen Befragungen derjenigen Personen, die mit Sterbenden beruflich zu tun haben. Ziel der Untersuchung war es, eine Bestandsaufnahme der Praxis der Sterbebegleitung in der Region Trier/Trier-Saarburg zu gewinnen. Es sollte dargestellt werden, in welchem Maße die Vorstellungen und Ideale der Hospizbewegung in den Institutionen, in denen Sterbebegleitung geleistet wird, präsent sind und inwieweit sie sich unter den herrschenden Arbeitsbedingungen umsetzen lassen. Daraus ableitend lässt sich umgekehrt wiederum darstellen, wie die Situation der Sterbenden und Patienten in den Institutionen ist. Geplant war eine Vollerhebung, d.h. es sollten alle diejenigen befragt werden, die in Trier und Trier-Saarburg beruflich mit der Begleitung von Sterbenden zu tun haben. Befragte waren alle Angehörigen der folgendermaßen zusammengefassten Berufsgruppen: 1. 2. 49
Pflegekräfte (im ambulanten und stationären Bereich) Ärzteschaft (niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte)
Zitiert nach Helmchen/ Lauter: Krankheitsbedingtes Leiden, a.a.O., S.151. Ebd. 51 Vgl. Hahn et al.: Sterbebegleitung in Trier, a.a.O. 50
Das Sterben in Institutionen 3. 4. 5. 6.
33
Seelsorger ehrenamtliche Hospizhelfer Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen Leitendes Personal52
Der Fragebogen deckte die folgenden Themenkomplexe ab: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Demographie Aspekte guter Sterbebegleitung Aus- und Weiterbildung Zeitmanagement und Arbeitszufriedenheit Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen Rechtliche Bestimmungen Die Einstellung zu lebensverlängernden Maßnahmen Aktive Sterbehilfe Errichtung eines stationären Hospizes in Trier Erwartungen an den Hospizverein
Ein Großteil der Fragen wurde allen beteiligten Berufsgruppen in gleicher Weise gestellt, daneben gab es aber in jeder Fragebogenversion auch gruppenspezifische Fragen. Alle Fragebögen sind im Anhang dokumentiert. Der Beginn des Projektes war im Frühjahr 2002. Der Konzeption der Fragebögen, die im Herbst/Winter 2002/03 erfolgte, gingen intensive Gespräche mit Mitgliedern des Hospizvereins voraus. Alle Fragebögen haben vor Beginn der Feldphase den Vertretern der jeweiligen Berufsgruppe vorgelegen und sind mit den Mitgliedern der Forschungsgruppe diskutiert worden. Nach Durchführung eines Pretests fand die Befragung vom 19.05. bis zum 16.06.2003 statt. Die Fragebögen wurden den Einrichtungen zur Verfügung gestellt und wurden dort von den jeweiligen Stationsleitungen oder Verwaltungen an die Mitarbeiter ausgeteilt. Die Fragebögen sollten allein ausgefüllt und bis zum 23.06.2003 in eigens aufgestellte Sammelboxen eingeworfen werden. Die ausgefüllten Bögen wurden dann von Studenten in den Einrichtungen wieder abgeholt. Niedergelassene Ärzte und Seelsorger wurden angeschrieben, die Hospizhelfer über den Hospizverein kontaktiert. Die Organisation der Feldarbeit und die Feldvorbereitung (Kontaktaufnahme mit den ausgewählten Institutionen, Information der Leitungsebenen und der Mitarbeiter) wurde vom Hospizverein übernommen. Insgesamt wurden 3281 Fragebögen ausgegeben, 1050 sind ausgefüllt zurückgeschickt worden. Die Rücklaufquote 52
Die Auswertung der Fragebögen der Leitungsebene in Einrichtungen konnte aus organisatorischen Gründen im Rahmen des Projektes nicht erfolgen. Anzahl und Ergebnisse der Befragung dieser Gruppe finden folglich an keiner Stelle dieses Berichtes Berücksichtigung.
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Das Sterben in Institutionen
beträgt damit 32 Prozent, das Ziel einer Vollerhebung wurde somit nicht erreicht. Die Gründe dafür lagen in der mangelnden Kooperationsbereitschaft verschiedener Institutionen. In manchen Fällen zogen Einrichtungen ihre Teilnahme an der Umfrage zurück, in anderen Fällen wurden bereits ausgefüllte Fragebögen nicht oder nur teilweise herausgegeben. Da die Erhebungsdaten daher aber auch nicht auf einer Zufallsauswahl beruhen, sind keine Generalisierungsschlüsse möglich. Aufgrund der hohen Fallzahlen scheint es uns aber gerechtfertigt, die Ergebnisse der Datenanalyse zur Kenntnis zu nehmen und ihnen einen gewissen Informationsgehalt zuzusprechen. Die Aussagen und Interpretationen gelten somit nur für die Befragten, sie lassen aber recht starke Vermutungen für die Grundgesamtheit zu. Deutliche Differenzen der Rücklaufquoten gibt es allerdings zwischen den einzelnen Berufsgruppen. Die Hospizhelfer liegen mit 61,3 Prozent an der Spitze. Die sehr niedrige Rücklaufquote bei Pflegekräften und Ärzten in stationären Einrichtungen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass einzelne Einrichtungen nach anfänglicher Zusage die Mitarbeit vollständig abgelehnt haben oder aber nur einen Teil bereits ausgefüllter Fragebögen zurückgegeben haben. Tabelle 2:
Rücklaufquote in den einzelnen Berufsgruppen
Hospizhelfer: Ambulante Pflege Seelsorger Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Niedergelassene Ärzte Stationäre Pflege Krankenhausärzte
61,3% 44,8% 42,0% 37,8% 30,9% 27,3% 18,8%
Das Sterben in Institutionen Tabelle 3:
35
Verteilung der Berufsgruppen in der Befragtenpopulation53 Anteil in Prozent
Pflege Ärzte Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Seelsorger Hospizhelfer Gesamt
N
68,5 14,2 7,9
682 141 79
5,5 3,8
55 38 995
Aufgrund dieser Verteilung werden wir vornehmlich die Gruppe der Pflegekräfte in den Blick nehmen, die sich folgendermaßen zusammensetzt: Tabelle 4:
Differenzierung Pflegekräfte Anteil in Prozent
Krankenhaus Altersheim Pflegeheim Ambulanter Pflegedienst
55,5 18,1 5,3 21,1
N 379 123 36 144 N=682
Die stärkste Gruppe sind hier die Pflegekräfte im Krankenhaus. Wir werden daher im Zusammenhang mit der Darstellung des Pflegealltags in Institutionen die Gesamtgruppe der Pflegekräfte für die Darstellung der Krankenhaussituation heranziehen. 3.1.1 Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung Die Antworten auf die Frage, inwieweit die Pflegekräfte auf den Umgang mit Sterbenden in ihrer Ausbildung vorbereitet werden, sind trügerisch. Im Fragebogen für den Hospizverein war die Frage schlicht: „War der Umgang mit Sterbenden ein Thema in Ihrer Ausbildung?“ 80 Prozent der befragten Pflegekräfte bejahten diese Frage. Aus der Korrelation dieser Frage mit der Dauer der Berufstä53 Auf 100 fehlende Prozente hängen mit Rundungen im Dezimalbereich zusammen. In der Gruppe „Pflege“ sind die Pflegekräfte der Krankenhäuser, die der Alten- und Pflegeheime und die der ambulanten Pflegedienste zusammengefasst. Dabei teilen sich die 682 Befragten wie folgt auf: Krankenhaus 55,5 Prozent, Alters- und Pflegeheime 23,4 Prozent und ambulante Pflegedienste 21,1 Prozent.
36
Das Sterben in Institutionen
tigkeit wurde erkennbar, dass sich dieses Thema in den letzten zwanzig Jahren zunehmend in den Ausbildungen durchgesetzt hat. Tabelle 5:
Pflegekräfte: Umgang mit Sterbenden als Thema in der Ausbildung in Abhängigkeit von der Berufsdauer
Angaben in % Umgang mit Sterben- Nein den als AusbildungsJa thema N
Bin noch Weniger als 2 bis 5 6 bis 10 11 bis 20 Schüler 2 Jahre Jahre Jahre Jahre 1,0 6,5 9,8 13,6 31,1 99,0
93,5
90,2
86,4
68,9
97
31
92
154
286
Cramer’s V= .301
Objektiv und formal wird also nun jede in Ausbildung befindliche Pflegekraft auf den Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung vorbereitet. Die Frage ist bloß, wie diese Vorbereitung inhaltlich aussieht. Darüber lässt sich ohne Kenntnis der Curricula natürlich nur spekulieren, aber für diese Spekulationen gibt es doch handfeste Gründe. Im Sinne unseres jetzigen Blickes auf die Bedingungen, unter denen in der modernen Gesellschaft gestorben wird und wie diese Gesellschaft darauf eingerichtet ist und wie sie damit umgeht, ist es von großer Bedeutung, welche Themengebiete in der Ausbildung fehlten oder zu kurz kamen. Die mitgeführte Annahme unserer Untersuchung geht ja von einem Überhang der medizinisch-technischen pflegerischen Kompetenzen aus, denen nur marginal ausgebildete kommunikative Fähigkeiten gegenüberstehen. Für die Pflegekräfte ergibt sich dann nämlich folgendes Bild:
Das Sterben in Institutionen Tabelle 6:
37
Welche Themengebiete fehlten in Ihrer Ausbildung oder kamen zu kurz?
Gesprächsführung mit Angehörigen Palliativmedizin Psychische Betreuung sterbender Patienten Gesprächsführung mit Patienten Informationen zu Fragen wie Pflegerichtlinien, Pflegeversicherung oder Sterbegeld Rechtliche Grundlagen der Sterbebegleitung Schmerztherapie Minimalmedizin Sonstiges Informationen zur nachstationären Versorgung N
Angaben in % 50,5 50,2 46,5 45,2 43,5 39,7 38,3 31,4 6,0 5,9 630
Teilt man die Items einmal grob danach auf, ob sie technische oder kommunikative Kompetenzen benennen, so ergibt sich erstens, dass die technischen Kompetenzen nicht so häufig als fehlend beurteilt werden wie die kommunikativen Fertigkeiten. Eine große und wichtige Ausnahme ist allerdings auch dort zu verzeichnen: Immerhin die Hälfte der Befragten findet das Thema Palliativmedizin in der Ausbildung unterrepräsentiert. Aber auch dies hängt davon ab, wie lange die Ausbildung zurückliegt. Palliativmedizin ist heute in nahezu drei Viertel aller Ausbildungen integriert. Tabelle 7:
Palliativmedizin als fehlender Ausbildungsinhalt in Abhängigkeit von der Berufsdauer
Angaben in % Palliativmedizin fehlend N Cramer’s V= .278
Nein Ja
Bin noch Schüler 72,4 27,6 76
Weniger als 2 Jahre 72,4 27,6 29
2-5 Jahre 6-10 Jahre 61,2 38,8 85
54,0 46,0 150
11-20 Jahre 36,1 63,9 285
Auf der technischen Seite des Berufsbildes kann die Ausbildung also als adäquat bezeichnet werden. Der Umgang mit Sterbenden betrifft nun aber gerade nicht nur die technische Seite. Gerade im Gegenteil ist die technische Seite die „Repräsentantin“ der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die das Individuum nicht auffängt in seinem Sterben. Ins Gewicht fallen hier also die kommunikati-
38
Das Sterben in Institutionen
ven Fähigkeiten, und genau diese werden mehrheitlich als fehlend oder als zu kurz gekommen qualifiziert. Für die Hälfte der Befragten ist das Thema „Gesprächsführung mit Angehörigen“ zu kurz gekommen und für jeweils rund 45 Prozent der Befragten die Themen „Psychische Betreuung sterbender Patienten“ und „Gesprächsführung mit Patienten“. Es lässt sich noch ein Schluss aus diesen Antworten ziehen: Man gibt auf die Frage, was nach eigener Meinung zu kurz kam oder fehlte, nur Inhalte an, die einem tatsächlich nützen würden, wenn man sie gelernt hätte. Wenn also je rund 45 Prozent der Befragten sagen, dass sie in der psychischen Betreuung Sterbender und bei der Gesprächsführung mit Patienten nicht genügend ausgebildet wurden, ist das keine Beurteilung der Ausbildung gleichsam „im luftleeren Raum“, sondern es ist eine Erfahrung der alltäglichen Arbeit, dass man mit den Patienten Gespräche führen muss und man damit nicht zurecht kommt. Auch der Ausdruck „Gespräche führen“ kann etwas genauer gedeutet werden. Es ist wohl mit Fug und Recht anzunehmen, dass nicht gemeint ist, nackte Zahlen, Untersuchungswerte oder Entlassungstermine mitzuteilen. Die Gesprächsthemen, die Sorge machen sind: eine schlechte Diagnose, die Erkenntnis der Unheilbarkeit der Krankheit, Fragen nach dem Sterben, den Schmerzen und dem nahen Tod. Dies jedenfalls legen die Antworten auf die Frage nach besonders belastenden Situationen nahe. Wir hatten die Pflegekräfte gefragt: „Welche Situationen in der Sterbebegleitung sind für Sie bei Ihrer Arbeit besonders belastend?“ Tabelle 8:
Pflege „Besonders belastende Situationen“
Sterben von Erwachsenen jüngeren Alters Starke Schmerzen der Patienten Verzweiflung und Todesangst von Patienten Emotionale Verbundenheit mit Patienten Nicht mehr helfen zu können Sterben von Erwachsenen mittleren Alters Nicht erfüllbare Erwartungen an die Pflege Gespräche mit Angehörigen Gespräche mit Patienten Patienten verweigern Therapie Sterben von Erwachsenen höheren Alters Sonstiges N
Angaben in % 72,0 70,9 62,7 56,0 50,4 38,5 30,4 29,2 18,5 7,7 7,6 7,3 671
Das Sterben in Institutionen
39
Das Sterben von jungen Menschen ist eine immer als schlimm, wenn nicht als skandalös empfundene Situation, und dies unabhängig von kommunikativen Fähigkeiten oder einer ausgebildeten „ars moriendi“. Denn diese richtete sich auf den Umstand, dass am Ende jedes Lebens der Tod steht und dass dies akzeptiert werden muss. Das schloss nicht aus, dass es Tode gab, die als zu früh und damit als Skandal empfunden wurden. Der Tod des jungen Menschen ist ein solcher Skandal, auf den sich eine Gesellschaft nicht einstellen kann. Es geht in unserer Fragestellung auch dezidiert nicht darum, das Verhalten und die Einstellungen zu Tod und Sterben angesichts von Katastrophen oder Ausnahmefällen zu untersuchen, sondern darum zu zeigen, dass die Gesellschaft auf die normale Tatsache des Sterbens eines jeden Menschen keine passenden Verhaltensroutinen hat. Jedenfalls keine solchen, die das Phänomen des Sterbens thematisierbar werden ließen. Routine meint hier nicht die Abläufe, die vonstatten gehen, wenn jemand gestorben ist: Denn die gibt es. Auch die 70 Prozent der Befragten, die starke Schmerzen der Patienten als besonders belastende Situation empfinden, sind kein Beleg für einen inhaltlichen Mangel in der Ausbildung, sondern eher ein Hinweis darauf, dass sich das Wissen um Möglichkeiten der Schmerztherapie in Ärztekreisen noch nicht ausreichend durchgesetzt hat. Schmerzen müsste bei den hochpotenten Analgetika der modernen Medizin kein Mensch mehr haben. Dass es belastend ist, einen Menschen körperliche Qualen ausstehen zu sehen, muss nicht begründet werden. Bei den rund 63 Prozent der Befragten, für die Verzweiflung und die Todesangst von Patienten eine belastende Situation darstellen, liegt der Fall etwas anders. Erstens wäre zu fragen, warum rund 37 Prozent der Befragten diese Situation nicht als belastend empfinden. Darauf aber geben die Daten der Umfrage keine Hinweise. Zweitens aber können Gespräche bei Verzweiflung und Todesangst eine helfende Wirkung entfalten, die bei körperlichen Schmerzen nicht zu erreichen ist. Es taucht hier wie ein Echo das beanstandete Defizit der Ausbildung wieder auf: Die psychische Betreuung Sterbender hätte genau dies als zentralen Inhalt. Sterben ist, jedenfalls phasenweise, immer mit Verzweiflung und Todesangst verbunden. Dies ist auch historisch immer so gewesen. Wenn auch die Angst im Mittelalter eher auf die Furcht vor der Hölle bezogen gewesen sein mag als auf das Ende des irdischen Lebens. Das belegen gerade die „artes moriendi“. Auf die Konfrontation mit solchen Phasen müsste eine Ausbildung vorbereiten.
40
Das Sterben in Institutionen
3.1.2 Aspekte guter Sterbebegleitung Um nun die Differenz deutlich zu machen, die von den Befragten selbst zwischen Anforderung (auch von sich an sich selbst) und Kompetenz gesehen wird, lohnt ein Blick auf die Aspekte der Sterbebegleitung, die von den Befragten für wichtig gehalten werden. Wichtig bei der Analyse der Antworten ist, dass die Liste eine von Experten erarbeitete, normativ gemeinte Liste ist, das heißt, die Items benennen samt und sonders Aspekte, die als sinnvoll erachtet werden. Jemand, der eine umfassend korrekte Einstellung zur Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung hat, müsste theoretisch jedes Item angekreuzt haben. Tabelle 9:
„Was gehört zu einer guten Sterbebegleitung?“
Schmerzfreiheit Eine den Bedürfnissen und Wünschen der Patienten angepasste Pflege Für ein angenehmes und würdevolles Umfeld sorgen Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige Für Patienten „nur da sein“ Gespräche mit Patienten Gespräche mit Angehörigen Seelsorgerische Betreuung der Patienten Patienten kleinere Wünsche erfüllen Patientenwünsche auch dann respektieren, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind Wahrheit am Krankenbett Sedierung bei Bedarf Symptomkontrolle Formelle Angelegenheiten für Patienten erledigen Sonstiges N
Angaben in % 96,8 90,5 88,7 85,2 85,0 84,8 80,1 75,1 62,3 60,4 46,8 44,4 27,3 24,8 9,1 682
Man mag sich fragen, warum nicht 100 Prozent der Befragten „Schmerzfreiheit“ als zu guter Sterbebegleitung gehörig gezählt haben. Die Ursache für das Fehlen von Konstanten im Antwortverhalten liegt wohl in einem Missverständnis.54 54
Denn in fast allen Berufsgruppen liegen bei allen Items die Zustimmungsquoten unter 100 Prozent. Lediglich für die niedergelassenen Ärzte gehört „Schmerzfreiheit“ ausnahmslos zur „guten Sterbebegleitung“. Bei den anderen Befragten gibt es dagegen unterschiedlich große Minderheiten, die dies
Das Sterben in Institutionen
41
Hier soll nur die Komplementärfolie dargestellt werden: Aspekte und Tätigkeiten, denen sich die Befragten bei der Sterbebegleitung nicht gewachsen fühlen, werden gleichwohl von ihnen mehrheitlich für wichtig gehalten. „Für Patienten nur da sein“, „Gespräche mit Patienten“, „Gespräche mit Angehörigen“ werden jeweils von rund 85 Prozent der Befragten zu einer guten Sterbebegleitung gezählt. Gleichzeitig werden die dazu nötigen Kompetenzen als fehlend erkannt. Die Annahme, dass die Pflegekräfte sich des Missverhältnisses zwischen der hohen Ausdifferenzierung ihrer medizinisch-technischen Fähigkeiten und der niedrigen Ausbildung von kommunikativen Fähigkeiten bewusst sind, lässt sich anhand dieser Daten belegen.
nicht als unbedingt erforderlich ansehen. Es wurde zwar gefragt, was nach Meinung der Befragten ganz allgemein zu einer guten Sterbebegleitung gehört. Offensichtlich wurde von einigen Befragten aber verstanden, dass sie angeben sollten, welche der genannten Tätigkeiten in ihren Aufgabenbereich bei der Sterbebegleitung fallen. Beispielsweise stimmen in der Gruppe der Seelsorger 90,9 Prozent der Aussage zu, dass „Seelsorgerische Betreuung“ zu einer guten Sterbebegleitung gehört, aber nur 76,4 Prozent meinen dies von der „Schmerzfreiheit“. Hier zeigt sich aber auch, dass die Annahme dieses Missverständnisses nicht für alle Befragten zutrifft, denn Patienten Schmerzfreiheit zu gewähren, ist nicht Aufgabe der Seelsorger. Einige Befragte haben also angekreuzt, was ihrer Meinung nach generell zu guter Sterbebegleitung gehört. Das Problem besteht darin, dass es keine datenanalytische Möglichkeit gibt, die beiden Gruppen, d.h. Befragte, die die Frage im Sinn allgemeiner und grundlegender Standards beantwortet haben und Befragte, die ihre Antwort auf ihr eigenes Tätigkeitsfeld bezogen haben, zu trennen. Aber auch wenn man dieses Missverständnis bei der Interpretation der Daten berücksichtigt, bleiben die Zustimmungsraten hinter den erwarteten Werten zurück. Die Befragten hätten dann doch zumindest die Aufgaben, die zum Aufgabenbereich ihrer jeweiligen Berufsgruppe gehören, sämtlich zu einer guten Sterbebegleitung rechnen müssen. Aber auch dies ist nicht der Fall, wie die Antworten in den einzelnen Berufsgruppen zeigen.
42 3.1.3
Das Sterben in Institutionen Zeitmanagement
Betrachten wir zuerst, welche Aufgaben in der Arbeit der Pflegekräfte viel Zeit kosten: Tabelle 10: Zeitintensive Aufgaben der Pflegekräfte Pflege Gespräche mit Angehörigen Seelische Unterstützung des Patienten Gespräche mit dem Patienten Dokumentation Ernährung Gespräche mit Ärzten Gespräche mit Kollegen Gespräche mit Seelsorgern Gespräche mit Hospizhelfern Sonstige Aufgaben N
Angaben in % 86,4 66,0 60,1 57,8 51,3 31,6 18,3 18,0 8,0 5,9 3,6 661
Fragt man, für welche Aufgaben die Pflegekräfte gerne mehr Zeit hätten, stellt man fest, dass hier eine Kontraposition auf den ersten Rängen vorliegt.
Das Sterben in Institutionen
43
Tabelle 11: Pflegekräfte hätten gerne mehr Zeit für: Angaben in % 81,9 72,7 62,8 56,5 21,1 16,0 14,8 14,4 13,6 9,4 1,8 667
Gespräche mit dem Patienten Seelische Unterstützung des Patienten Gespräche mit Angehörigen Pflege Gespräche mit Kollegen Gespräche mit Seelsorgern Gespräche mit Hospizhelfern Gespräche mit Ärzten Ernährung Dokumentation Sonstige Aufgaben N
Die Pflegekräfte mobilisieren schon jede verfügbare Ressource für die Kommunikation mit den Patienten (so darf man die Antworten auf die Status-Quo Frage interpretieren), empfinden aber immer noch ein Gefühl des Ungenügens. Unter den gegebenen Umständen sind sie ihrer eigenen Einschätzung nach weder zeitlich, noch in Bezug auf ihre erlernten Kompetenzen in der Lage, die Arbeit mit Sterbenden befriedigend leisten zu können. 3.1.4 Arbeitszufriedenheit Diese Kontraposition lässt auch einen genaueren Rückschluss auf die Gründe der mangelnden Arbeitszufriedenheit bei den Pflegekräften zu. Wenn sich Arbeitsunzufriedenheit einstellt, wenn man (unter anderem) aufgrund von permanentem Zeitmangel das Gefühl hat, eine suboptimale Arbeit zu leisten, dann lässt sich an den Bereichen, für die man gerne mehr Zeit zur Verfügung hätte, ablesen, woher inhaltlich die Unzufriedenheit rührt. Tabelle 12: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeitssituation? Angaben in % Pflegekräfte
Sehr zufrieden 12,0
Zufrieden 65,2
Weniger zufrieden 19,5
Nicht zufrieN den 3,3 667
44
Das Sterben in Institutionen
Wenn nun 65,2 Prozent der Befragten angeben, sie seien mit ihrer Arbeitssituation „zufrieden“, ist das ein trügerisches Bild. Denn bei Zufriedenheitsmessungen gilt es generell, zweierlei zu bedenken. Zum einen wird die Zufriedenheit leicht über- und die Unzufriedenheit eher unterschätzt, da es bei den Befragten eine generelle Tendenz zur Meidung extremer Urteile gibt. Jenseits von Extremurteilen ist zum anderen aber bei Zufriedenheitsmessungen auch zu beachten, dass die Befragten zu einem inhaltsunabhängigen positiven Antwortverhalten neigen.55 Dies hat zur Konsequenz, dass der Begriff der Zufriedenheit unterschiedlich konnotiert wird. Bei Zufriedenheitsurteilen ziehen die Befragten eine mehr oder weniger ausführliche Bilanz der positiven und negativen Aspekte ihrer Arbeit und ordnen sie dann einer der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten zu. Jede Kategorie hat daher eine gewisse Spannbreite dessen, was mit ihr bezeichnet wird. „Zufrieden“ ist man daher zum einen, wenn zwar auch negative oder nicht sehr angenehme Aspekte in der Arbeitssituation vorhanden sind, die positiven Aspekte aber (deutlich) überwiegen. Als „zufrieden“ stufen sich aber auch manche Befragte ein, wenn die negativen Aspekte überwiegen, man sich aber im Vergleich zu anderen Beschäftigten immer noch als besser gestellt sieht. „Zufrieden“ meint dann, dass man angesichts der schlechteren Alternativen schon noch zufrieden ist, aber vieles gerne anders hätte. Zufrieden ist man in Relation zu anderen, aber nicht in Bezug auf die Arbeitssituation als solcher. Symptomatisch für diese Haltung sind Äußerungen wie „Man muß ja zufrieden sein, dass man überhaupt Arbeit hat“ oder „Anderen geht es wesentlich schlechter“. In jedem Fall impliziert ein Zufriedenheitsurteil, dass es durchaus noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt, ansonsten wäre man „sehr zufrieden“. Die Antwort „bin weniger zufrieden“ ist ein klarer Indikator für Unzufriedenheit und die explizite Nennung der Kategorie „bin nicht zufrieden“ ist ein eindeutiger Ausweis dafür, dass der Befragte seine Arbeitsbedingungen als absolut unzureichend einstuft. Wirklich zufrieden sind mithin diejenigen, die sich sehr zufrieden äußern und ein Teil der Personen, die die Option „zufrieden“ gewählt haben. Sehr zufrieden sind nur Minderheiten; besonders klein ist diese Gruppe bei den Vertretern der medizinischen Berufe. Umgekehrt ist das Potential und auch der Anteil der dezidiert unzufriedenen Personen hier ausgesprochen groß, was mit den eingangs kurz skizzierten Arbeitsbedingungen zusammenhängen dürfte. 55 Für diesen methodischen Hinweis danke ich Yasemin Mehmet. Sie weist darauf hin, dass sich bei Untersuchungen zur Patientenzufriedenheit selten weniger als 90 Prozent der Befragten als „sehr zufrieden“ oder „zufrieden“ bezeichneten. Demgemäß seien Zufriedenheitsanteile (wohlgemerkt: bei Patientenbefragungen) deutlich unter 90 Prozent als problematische Ergebnisse einzustufen. In Bezug auf Befragungen von Pflegekräften oder von Angestellten allgemein bezüglich ihrer Arbeitszufriedenheit, ist diese Aussage sicherlich stark zu relativieren. Gleichwohl untermauert sie unsere Annahme, dass es sich um ein trügerisches Bild handelt, wenn 62 Prozent der von uns befragten Pflegekräfte sagen, sie seien mit ihrer Arbeitssituation zufrieden.
Das Sterben in Institutionen
45
Es ist also festzuhalten, dass die Pflegekräfte für die „Pflege“ erst an vierter Stelle, nach den „Gesprächen“ mehr Zeit haben möchten. In einer Situation, die generell von großer Zeitknappheit dominiert ist, ist den Pflegekräften gerade an einem Mehr an Zeit für Gespräche und dergleichen wichtig. Der hierbei derzeit herrschende Mangel ist der Grund der Unzufriedenheit. Es ist wohl auch einleuchtend, dass die Pflegekräfte nicht um ihrer selbst willen ein Mehr an Gesprächen wollen, sondern den Bedarf beim Patienten sehen. Es ist für sie sicher eine alltägliche Erfahrung, sich aus einem Gespräch, das sich während der Pflege ergibt, im Wortsinne losreißen zu müssen, um den nächsten Patienten versorgen zu können. Es kann natürlich sein, dass dies, ist das Bewusstsein erst einmal für diese Frage sensibilisiert, sich rückkoppelt und verselbständigt: Dann wird die Notwendigkeit für Gespräche ein Apriori und man hätte dafür gerne mehr Zeit, auch wenn der Patient in der gegebenen Situation nicht unmittelbar ein Gespräch einfordert. Das würde aber dann bedeuten, dass bereits eine Änderung in der Auffassung der Pflege stattgefunden hat, die ganz im Sinne des Hospizvereins und im Sinne unserer These ist. 3.1.5 Rechtliche Bestimmungen der Sterbebegleitung Die Grenze zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe (passiv, indirekt) ist sehr schwammig und möglicherweise auch nicht exakt zu definieren. Insbesondere das Praktizieren von Minimalmedizin und der Verzicht auf medizinisch indizierte Maßnahmen, weil der Patient dies wünscht, können gleichwohl im Zweifelsfall juristisch als unterlassene Hilfeleistung bewertet werden. Entsprechend groß ist die Rechtsunsicherheit, wie die Befragung sehr deutlich gezeigt hat. Hier ist ein Blick auf die Antworten aller Berufsgruppen der Befragung erhellend. In allen Berufsgruppen sieht sich über die Hälfte der Befragten außerstande zu beurteilen, ob die rechtlichen Bestimmungen ausreichend sind oder nicht. Die jeweils andere Hälfte hält die rechtlichen Bestimmungen mehrheitlich für nicht ausreichend. Nur eine Minderheit glaubt, dass die Rechtslage in Deutschland eindeutig und ausreichend geklärt ist.
46
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 13: Halten Sie die bestehenden rechtlichen Bestimmungen zum Thema Sterbebegleitung in Deutschland für ausreichend? Angaben in % Seelsorger Ärzte Hospizhelfer Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Pflege
24,1 20,9 13,9 10,7
13,0 25,9 30,6 33,9
Kann ich nicht beurteilen 63,0 53,2 55,6 55,4
10,2
34,7
55,2
Ja
Nein
N 54 139 36 56
640
Im Folgenden sind Antworten der Befragten in ihrer originalen Version wiedergegeben.
Patientenverfügungen nach wie vor rechtlich umstritten, wie ist der mutmaßliche Wille der Patienten jetzt im Augenblick? In der Entscheidung, wann ein würdevolles Leben aufhört/ aktive Sterbehilfe gibt es rechtlich gesehen nicht passive Sterbehilfe: da ist Schmerzmedikation unzureichend Die Interessen der Individuen werden nicht genug berücksichtigt Sterbehilfe für Schwerstkranke, die zu einem schmerzvollen Tod verurteilt sind In der Selbstbestimmung des Patienten Wünsche der Sterbenden werden nicht ausreichend akzeptiert. Besonders bei der Sterbehilfe. Wenn ein Mensch aktive Sterbehilfe möchte, sollte er sie erhalten Angehörige sollten mehr Mitspracherecht haben, wenn der Patient dazu nicht mehr in der Lage ist Bei der aktiven Sterbehilfe Rechtliche Grundlagen der Patientenverfügung Wünsche der Patienten/ Angehörigen werden nicht respektiert. Wenn keine Besserung, sollte man das Leben nicht unnötig verlängern Patientenverfügung (wird von Klinikärzten nicht akzeptiert) Wünsche der Patienten/ Angehörigen werden nicht respektiert Die rechtlichen Bestimmungen sind im Allgemeinen den Pflegekräften, ja oft sogar den Ärzten nicht bekannt. Bilden einer Grenze würde helfen, würdevolles Sterben zu ermöglichen
Das Sterben in Institutionen
47
Hickhack Patientenverfügung verwirrt alle Durchsetzung des Patientenwillens nach wie vor schwierig bis unmöglich es bestehen Unsicherheiten bei Patientenverfügungen, Vollmachten, etc. keine einheitlichen Vorgehensweisen Unsicherheit für Ärzte und Pflegekräfte, wenn es um den Wunsch geht, lebensverlängernde Maßnahmen zu beenden
Defizite bei der Rechtslage werden von Angehörigen aller Berufsgruppen vor allem in zwei Punkten gesehen. Der erste betrifft die Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe. Entsprechend der großen Anzahl der Befragten, welche nicht beurteilen können, ob die rechtlichen Bestimmungen zum Thema Sterbebegleitung ausreichend sind oder nicht, besteht keine Klarheit bezüglich der Definition und Abgrenzung von aktiver und passiver Sterbehilfe. Darin wird deutlich, dass viele Ärzte und Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in der Sterbebegleitung mit großer Handlungsunsicherheit konfrontiert sind. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Befolgung und Umsetzung des Patientenwillens. Dessen Befolgung ist ein zentrales Anliegen in der Sterbebegleitung, wobei die Patientenverfügung der Artikulation dieses Patientenwillens dienen soll. Die Ergebnisse der Befragung zeigen aber, dass gerade in Bezug auf die Verlässlichkeit und juristische Eindeutigkeit der Patientenverfügung gegenwärtig große Unsicherheiten bestehen 3.1.6 Patientenverfügungen in der Arbeit der Sterbebegleitung Diese Unsicherheiten scheint es übrigens auch auf Patientenseite zu geben – oder aber nach wie vor große Informationsdefizite. Die Konfrontation mit Patientenverfügungen stellt für die Ärzte in ihrer Tätigkeit der Sterbebegleitung immer noch eher die Ausnahme dar. Im Schnitt haben die befragten Ärzte im Jahr 2002 rund 15 sterbende Patienten betreut. In ihrer gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn wurden die Ärzte aber im Schnitt nur mit rund 9 Patientenverfügungen konfrontiert. Ob die Patientenverfügungen sich in der Praxis als hilfreich erwiesen, hing in der Mehrzahl der Fälle vom Einzelfall ab.
48
Das Sterben in Institutionen
Tabelle 14: Waren diese Patientenverfügungen für Ihre ärztlichen Entscheidungen hilfreich? Angaben in % Ja, immer Nein, nie Das hing vom Einzelfall ab N
29,3 11,1 59,6 99
Rund 60 Prozent der Ärzte sagen, dass es vom jeweiligen Einzelfall abhing, ob eine Patientenverfügung für ihre ärztliche Entscheidung hilfreich war. Entsprechend haben die Ärzte auch mehrheitlich den unklaren rechtlichen Status der Patientenverfügung als Defizit in der Sterbebegleitung genannt. Vermutlich kam also in den „Einzelfällen“, in denen die Patientenverfügung hilfreich war, noch eine andere Komponente dazu. Entweder war der Austausch mit den Angehörigen des Patienten hilfreich, die noch einmal den in der Verfügung niedergelegten Willen des Patienten bestätigt haben, oder aber der Arzt hatte den Patienten selbst schon längere Zeit betreut und war von daher über dessen Einstellung informiert. Auf anders gelagerte Fälle, in denen es zu einem Konflikt zwischen Angehörigen und Arzt kam, haben die Ärzte häufiger angesichts der mangelnden Verbindlichkeit von Patientenverfügungen hingewiesen. Als Resümee bleibt, dass bei dem Umgang mit Sterbenden in der beruflichen Praxis der Ärzte gegenwärtig Patientenverfügungen nicht als ausreichende und verlässliche Entscheidungshilfen angesehen werden können und zudem zu bedenken ist, dass es grundsätzlich individuell zu entscheidende ethische Situationen sind. Aus Sicht der Ärzte ist eine eindeutige Klärung des rechtlichen Status der Patientenverfügungen erforderlich. Es ist zu vermuten, dass die Unsicherheiten im Zusammenhang mit Patientenverfügungen auch dazu geführt haben, dass gerade die befragten Ärzte und Pflegekräfte selbst nur in geringem Maß eine eigene Patientenverfügung verfasst haben. Eigene Ängste in Bezug auf die eigene letzte Lebensphase mögen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen.
Das Sterben in Institutionen
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Tabelle 15: Haben Sie für sich selbst eine Patientenverfügung verfasst? Angaben in % Hospizhelfer Seelsorger Ärzte Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Pflege
Ja
Nein
N
47,4 25,9 18,8 14,5
52,6 74,1 81,2 85,5
38 54 138 76
13,9
86,1
653
3.1.7 Leitlinien zur Pflege Schwerstkranker und Sterbender Jenseits der rechtlichen Bestimmungen, die der Mehrzahl der Befragten nicht bekannt sind, stellen „hausinterne" Leitlinien zur Pflege schwerstkranker und sterbender Patienten ein geeignetes Mittel dar, um den Pflegekräften in der Sterbebegleitung Orientierung zu bieten. Gegenwärtig gibt aber erst die Hälfte der Institutionen ihren Mitarbeitern solche Leitlinien an die Hand. Tabelle 16: Gibt es in Ihrer Einrichtung Leitlinien zur Pflege schwerstkranker und sterbender Patienten?56 Angaben in % Ja Nein Weiß ich nicht N
49,8 26,7 23,5 651
Diese werden allerdings überwiegend als hilfreich angesehen.
56 Diese Frage und die Folgefrage: „Wie hilfreich sind diese Leitlinien für ihre pflegerische Tätigkeit?“ waren nur im Fragebogen für die Pflegekräfte enthalten.
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Das Sterben in Institutionen
Tabelle 17: Wie hilfreich sind diese Leitlinien für Ihre pflegerische Tätigkeit? Angaben in % Hilfreich Weniger hilfreich N
63,9 36,1 321
Analog zu den Pflegeleitlinien in den Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen existieren für die Ärzteschaft Richtlinien der Bundesärztekammer. Die Mehrzahl der Ärzte kennt diese Richtlinien jedoch nicht. Tabelle 18: Wie hilfreich sind die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung für Ihre ärztliche Tätigkeit? Angaben in % Hilfreich Weniger hilfreich Ich kenne die Richtlinien nicht N
23,6 18,6 57,9 140
3.1.8 Passive und aktive Sterbehilfe In der Diskussion um Sterbehilfe wird zwischen den Begriffen der passiven, indirekten und der aktiven Form unterschieden. Um die Einstellung zu passiver Sterbehilfe zu messen, wurde den Befragten ein Fallbeispiel vorgestellt: „Angenommen, auf der Intensivstation wird nach einem schweren Unfall ein junger Mann eingeliefert, der ins Koma fällt. Es stellt sich heraus, dass er schwer hirngeschädigt bleiben wird. Die Eltern fordern daraufhin die Einstellung der künstlichen Ernährung, da sich der Sohn bereits vor Jahren für einen solchen Fall gegen jegliche lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen habe, um „in Würde sterben zu können“.
Wie sollte Ihrer Meinung nach verfahren werden?
Der Patientenwille sollte hier maßgeblich sein, deshalb sollte die künstliche Ernährung eingestellt werden. Medizin und Pflege sollten grundsätzlich der Aufrechterhaltung von Leben dienen, deshalb müssen alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden.
Das Sterben in Institutionen
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Die Antworten sind hier eindeutig. 89,7 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass der Patientenwille hier maßgeblich sein sollte, d.h. die künstliche Ernährung ist einzustellen. Nur 10,3 Prozent sind der Meinung, dass alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden sollten. Entgegen den Erwartungen liegt der Anteil der Antwortverweigerungen bei nur 11 Prozent, das heißt 90 Prozent der Befragten haben in dieser Frage eine dezidierte Meinung und äußern diese auch. Tabelle 19: Soll der Patientenwille maßgebend sein? Angaben in % Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Hospizhelfer Pflege Ärzte Seelsorger N Gesamt
Patientenwille Maßgebend 91,7
Alle lebenserhaltenden Maßnahmen 8,3
48
91,4 90,9 90,2 69,6
8,6 9,1 9,8 30,4
35 635 122 46 886
N
Mit Ausnahme der Gruppe der Seelsorger halten in allen Berufsgruppen jeweils über 90 Prozent der Befragten den Patientenwillen für maßgeblich. Selbst in der Gruppe der Seelsorger liegt die Zustimmung zur Befolgung des Patientenwillens mit rund 70 Prozent sehr hoch. Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass zwar einerseits nach christlicher Auffassung allein Gott die Entscheidung über das Ende eines Menschenlebens zukommt. Andererseits ist es aber auch theologisch durchaus umstritten, ob die Aufrechterhaltung basaler Vitalfunktionen durch Apparate (oder auch: die Reduzierung des menschlichen Lebens auf künstlich erhaltene Vitalfunktionen gegen den Willen des Patienten und ohne dass er bei Bewusstsein ist) noch als Leben zu bezeichnen ist, oder ob der als Gottes Wille erachtete und von dem Menschen akzeptierte Tod hier nicht durch andere Menschen künstlich hinausgezögert wird. Festzuhalten bleibt, dass eine sehr große Mehrheit im Fall einer medizinisch weitgehend hoffnungslosen Lage der Patienten für den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen plädiert, wenn dies dem klaren und eindeutig erkennbaren Willen des betroffenen Patienten entspricht. Ein Problem in der Praxis dürfte allerdings sein, dass eben dieser Patientenwille häufig nicht so klar und eindeutig zu erkennen ist.
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Die Frage zu aktiver Sterbehilfe wurde sehr eindeutig gestellt und lautete: In der Schweiz existiert seit einigen Jahren die Organisation „Dignitas“57, die Patienten im finalen Stadium aktive Sterbehilfe leistet. Dieses Angebot wird in zunehmendem Maß auch von deutschen Patienten in Anspruch genommen. Würden Sie es begrüßen, wenn es in der Bundesrepublik eine vergleichbare Institution gäbe? Ja Nein Dazu habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet. Im Unterschied zu der Einstellung zu passiver Sterbehilfe, wie sie im vorhergehenden Abschnitt diskutiert wurde, gibt es in Bezug auf aktive Sterbehilfe keine eindeutige Tendenz. Insgesamt überwiegt zwar die Zustimmung zu einer Organisation wie „Dignitas“. Der Prozentsatz der Antwortverweigerungen ist wegen der explizit vorgegebenen Kategorie: „Dazu habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet“ mit 2,4 Prozent gering. Der Anteil der Unentschiedenen entspricht zahlenmäßig aber in etwa dem Anteil der Personen, die eine Institution wie „Dignitas“ auch in Deutschland begrüßen würden. Rund ein Viertel der Befragten ist dagegen, Angebote aktiver Sterbehilfe auch in Deutschland zu etablieren. Tabelle 20: Würden Sie eine Institution wie „Dignitas“ in Deutschland begrüßen? Angaben in % Ja, würde eine solche Institution begrüßen Nein, würde Institution nicht begrüßen Keine abschließende Meinung N
57
39,0 23,7 37,3 971
Bei „Dignitas - Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“ handelt es sich um einen schweizerischen Verein, der 1998 von Ludwig A. Minelli gegründet wurde. Der Verein steht seinen Mitgliedern auf deren Wunsch beim Suizid beratend, helfend und begleitend zur Seite, sofern das jeweilige Mitglied „an einer unfehlbar zum Tode führenden Krankheit oder an einer unzumutbaren Behinderung leidet und seinem Leben und Leiden deshalb freiwillig ein Ende setzen möchte.“ Vgl. auf der Homepage des Vereins: http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&task=view&id=82&Itemid=123. Der Verein verfolgt nach eigener Aussage keine finanziellen Interessen, war gleichwohl aber gerade wegen solcher Vorwürfe des Öfteren in den Schlagzeilen. Die deutsche Sektion mit Sitz in Hannover wurde 2005 unter dem Namen „Dignitate“ gegründet.
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Schlüsselt man die Antworten nach den Berufsgruppen getrennt auf, zeigt sich, dass rund die Hälfte der Pflegekräfte eine Organisation wie „Dignitas“ befürwortet. Zentraler Grund dürften hier die Erfahrungen in der Konfrontation mit dem Leiden durch den alltäglichen pflegerischen Umgang mit Sterbenden sein. Die Pflegekräfte agieren in der unmittelbaren Nahzone der Sterbenden. Zum anderen aber ist sicher die oben beschriebene Handlungsunsicherheit in der Arbeit der Sterbebegleitung der gewichtigste Faktor dafür, dass man eine Institution wie „Dignitas“ begrüßt. Diese Handlungsunsicherheit ergibt sich, wie geschildert, aus dem Zusammenspiel von unklarer rechtlicher Lage und der Unkenntnis der tatsächlich bestehenden Richtlinien (z.B. Richtlinien der Bundesärztekammer, möglicherweise auch Unkenntnis bzw. Unklarheit hinsichtlich der verschiedenen Begrifflichkeiten in der Sterbehilfe). Anders ausgedrückt heißt das: Entweder sind die Inhalte der Hospizbewegung nicht genügend bekannt oder sie sind rechtlich nicht genügend greifbar, wie im Falle der Patientenverfügungen. Dieses empfundene Fehlen von klaren Strukturen, die Orientierung bieten könnten, kann ein Grund für die Zustimmung zu „Dignitas“ sein. Diejenigen, die einer Organisation wie „Dignitas“ zustimmen, sehen in ihr vermutlich eine radikale, aber dafür eindeutige und klare Alternative zu einem mit hoher Handlungsunsicherheit belasteten Arbeitsalltag in der Sterbebegleitung. Zu bedenken ist auch, dass für die Ärzte, die Seelsorger und die Hospizhelfer fachspezifische Verpflichtungen und Überzeugungen eine stärkere Rolle spielen können, die einer Zustimmung zu einer Organisation wie „Dignitas“ entgegenstehen und die so für Pflegekräfte und für Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen nicht gelten. Die Ärzte bindet der hippokratische Eid. Die aktive Tötung wird von Seiten der Ärzte nicht als Ziel ihrer Tätigkeit angesehen, da der Schutz menschlichen Lebens als im Vordergrund stehend erachtet wird. Aus Sicht der Seelsorger ist die aktive Beendigung menschlichen Lebens, gleich unter welchen Umständen, eine Sünde.
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Tabelle 21: Zustimmung zu „Dignitas“ nach Berufsgruppen Angaben in %
Pflege Psychologen/ Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen Ärzte Hospizhelfer Seelsorger
Ja, würde eine solche Institution begrüßen 49,2 23,1
Nein, würde eine solche Institution nicht begrüßen 13,6 19,2
Keine abschließende Meinung
N
37,2 57,7
662 78
21,0 7,9 5,5
40,6 68,4 78,2
38,4 23,7 16,4
138 38 55
3.2 Altenheime Da in unserer Befragung die Gruppe der Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen recht klein war, stützen wir uns im Folgenden auf eine von Reimer Gronemeyer geleitete Studie über „Das Begleiten von Sterbenden in hessischen Altenpflegeheimen".58 Nimmt man diese Studie zur Kenntnis auf dem Hintergrund der von uns erhobenen und oben vorgetragenen und interpretierten Daten, dann wird man an ihren Ergebnissen schwer wiegende Kritikpunkte anbringen müssen. Das betrifft nicht die Art und Weise der Datenerhebung als solche, wohl aber die mitunter geradezu naive und unreflektierte Interpretation der gewonnenen Daten. Aus zwei Gründen ist es dennoch sinnvoll, die Analyse von Gronemeyer ihrerseits wieder zu analysieren. Erstens lassen sich die Erfahrungen unserer eigenen Studie und die bereits dort geleisteten methodenkritischen Überlegungen zur Interpretation der Daten teilweise übertragen. Zum anderen ergeben sich aus der Studie selbst Gründe, die Sinnhaftigkeit einer Interpretation in Zweifel zu ziehen. Denn bei diesem Punkt ist im Besonderen, wie bei allen Auftragsuntersuchungen im Allgemeinen, der Sinn und Zweck der Studie aufschlussreich. Auftraggeber der Studie war die „Unterarbeitsgruppe Sterbebegleitung in Altenpflegeheimen", die sich aus Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Verbesserung der Sterbebegleitung in Hessen" bei der Hessischen Landesregierung zusammensetzt. Zu dieser Arbeitsgruppe gehören Vertreter der Wohlfahrtsverbände, der Pflege, der
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Reimer Gronemeyer et al.: Das Begleiten von Sterbenden in hessischen Altenpflegeheimen. JustusLiebig-Universität Gießen 2006. http://www.reimergronemeyer.de/bilder/das%20begleiten%20von%20sterbenden-11.12.06.pdf
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Landesarbeitsgruppe Hospize, der Heimaufsicht, der Wissenschaft und des Sozialministeriums Hessen.59 Ziel der Studie war es, eine Übersicht über die Situation der Sterbebegleitung in den hessischen Altenpflegeheimen zu geben, Bereiche zu benennen, in denen die Sterbebegleitung verbessert werden kann oder muss, und dafür auch sowohl für die Einrichtungen selbst als auch für die politischen Entscheidungsträger Empfehlungen zu erarbeiten.60 Es heißt nun nicht, den Autoren Beliebigkeit oder Willfährigkeit zu unterstellen, wenn man anmerkt, dass die „Interpretation" der Daten gelegentlich so gut wie nicht über die reine Deskription hinauslangt. Unseres Erachtens handelt es sich dabei um strategische Zwänge bezüglich der weiteren Kooperation und der Feldpflege (eine qualitative Nachfolgestudie ist geplant61), wenn sich kritische Interpretation der Daten auf moderate und konsensfähig formulierte Empfehlungen im Fazit der Autoren beschränkt. Das Gegeneinander-Abwägen der rein deskriptiven Daten mit den Empfehlungen der Autoren auf der einen Seite und die grundsätzliche Betrachtung der Daten auf dem Hintergrund der Ergebnisse unserer eigenen Studie auf der anderen Seite ergeben unseres Erachtens einen durchaus beachtenswerten Erkenntniszugewinn hinsichtlich der Situation der Sterbebegleitung in Altenheimen. Betrachtet man zuerst die ohne weitere Kommentare referierten Ergebnisse, so scheint die Situation für die Sterbenden in hessischen Altenheimen sehr gut zu sein. Die Autoren schreiben im Fließtext: „In nahezu allen Einrichtungen werden die Bedürfnisse der Bewohner erfüllt (97 %) werden die Bedürfnisse nach religiösem und spirituellem Beistand erfüllt (96%) werden die pflegerischen Maßnahmen durchgeführt, ohne den sterbenden Menschen unnötig zu belasten (94,5%) werden die Angehörigen und Bezugspersonen über den Zustand der Bewohner informiert (93,5%) und zur Sterbebegleitung ermutigt (92,5%) wird die Schmerztherapie mit dem Arzt abgesprochen (84,1%)"62
Abgesehen davon, dass ein Unterschied besteht zwischen der Formulierung im Fließtext „Die Bedürfnisse der Bewohner werden erfüllt" und der Formulierung des zu bewertenden Items im Fragebogen „Bedürfnisse von sterbenden Men59
Vgl. ebd., S.4. Ebd., S.5. 61 Vgl. ebd., S.6. 62 Ebd., S.28. 60
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schen werden wahrgenommen und soweit möglich erfüllt", sind diese Zahlen derart nah an einer Idealsituation, dass sie allem widersprechen, was über die Situation in Heimen geäußert wird und zwar sowohl in den immer wieder aufbrandenden öffentlichen Debatten, Stichwort Pflegenotstand, als auch der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur. Die genannten Zahlen werden denn auch im Schlusswort der Autoren, allerdings ohne direkten Bezug, stark relativiert: „Ebenso ist gemeinhin bekannt, dass fehlende und gekürzte finanzielle Mittel die Pflegesituation belasten - Zeit und Ruhe im persönlichen Umgang mit den Bewohnern wird immer mehr zu einer wichtigen Forderung, das überlastete und unterbezahlte Personal kann diesen Forderungen jedoch nicht ohne Hilfe gerecht werden."63
Die Anregungen, die als offene Antworten von den Befragten formuliert wurden, sprechen eine ähnliche Sprache: „Mehr Zeit aufwenden, um Wünsche etc. zu erfassen", „Ruhe für die Pflege, damit sie sich der Begleitung der Sterbenden besser widmen können (sic!); weitere Schulung aller Mitarbeiter"64 Diese Aussagen sind bekannt und decken sich mit unseren eigenen Ergebnissen. Insofern sind die oben genannten Zahlen sicherlich mit Vorsicht zu genießen. Es stellt sich nun die Frage, ob sich methodische Gründe finden lassen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben. Aus unserer Sicht liegt der Hauptgrund in der Auswahl der Befragten selber. Die Studie war als Vollerhebung konzipiert, 199 Einrichtungen wurden kontaktiert und 203 Fragebögen kamen zurück. Das bedeutet im günstigsten Falle, dass mehr oder weniger von jeder Einrichtung nur ein Fragebogen zurückkam. Von diesen Fragebögen wurden 56 Prozent von der jeweiligen Heimleitung und 50 Prozent von der jeweiligen Pflegedienstleitung ausgefüllt (offensichtlich hatten manche Befragten mehrere Funktionen). Das heißt, im Befragtensample ist eigentlich nur die Leitungsebene vertreten.65 Das aber führt, so ist doch jedenfalls stark zu vermuten, zu einem grundsätzlichen und gravierenden Bias, denn für Angehörige der jeweiligen Leitungsebenen kommt die Beantwortung des Fragebogens einer Selbstdarstellung gleich. Aber jenseits dieser Trivialität, die im Kern bedeutet, dass Antworten mehr oder minder geschönt werden, führt diese Auswahl an Befragten unseres Erachtens auch zu einer verzerrten Beschreibung der Wirklichkeit, die schlicht damit zusammenhängt, dass die Aufgaben von Angehörigen der Leitungsebene eben nicht mehr die gleichen Tätigkeiten sind wie die Aufgaben der reinen Pflegekräfte. Die Kritik als These formuliert lautet kurzum: Je weiter sich die Tätigkeit von der 63
Ebd., S.39. Ebd., S.35. 65 Ebd., S.14. Die Pflegekräfte sind als Befragte durchaus als eigene Gruppe vertreten: vgl. S.17. 64
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konkreten Arbeit am Patienten entfernt, desto mehr kann die Präzision der Antworten in Zweifel gezogen werden. Ein von uns erhobenes Datum mag, bei aller Methodenkritik, die daran zu üben wäre, diesen Problemkomplex doch annähernd gut beschreiben. In der Studie für den Hospizverein hatten wir die Pflegekräfte, die Ärzte allerdings nicht, gefragt, ob sie denn selbst gerne in der Einrichtung sterben würden, in der sie als Pflegekraft beschäftigt sind, wenn sie nicht zu Hause sterben könnten. Die große Mehrheit von rund 64 Prozent möchte dies allerdings nicht. Nur 1,4 Prozent der befragten Pflegekräfte möchte im Krankenhaus sterben, nur 2,6 Prozent im Altersheim, hingegen rund 41 Prozent in einem stationären Hospiz und rund 55 Prozent haben sich zu dieser Frage noch keine Gedanken gemacht. Die Ärzteschaft gibt sehr ähnliche Antworten auf diese Frage: Je rund 3 Prozent wollen in einem Krankenhaus oder einem Altenheim sterben, 40 Prozent in einem stationären Hospiz, und auch in dieser Befragtengruppe haben sich rund 54 Prozent über einen Ort des Sterbens noch keine Gedanken gemacht. Man darf nun die sehr geringen Raten derer, die in einem Krankenhaus oder in einem Altenpflegeheim sterben wollten, nicht überinterpretieren, angezeigt werden sollte hier lediglich, dass das Pflegepersonal von Krankenhäusern wie auch Altenheimen nicht in der eigenen Einrichtung sterben wollte, sie die dort herrschenden Zustände (über Verantwortlichkeiten für diese Zustände ist damit noch nichts gesagt) also kritisch sehen. Sieht man sich die von Gronemeyer erhobenen Daten weiterhin kritisch an, und immer bezogen auf die zu Anfang referierten Aussagen über den angeblich hervorragenden Zustand in hessischen Altenheimen, so lässt sich auch an folgender Stelle der Verdacht erhärten, dass die Lage erheblich kritischer ist als vorgegeben. In Bezug auf die „Gestaltung der Pflege und Begleitung sterbender Menschen“ sollten die Befragten fünfzehn Items bewerten.66 Dabei ist in den Antworten unseres Erachtens ein klarer Schnitt zu sehen zwischen den Items, die vage und sehr dehnbar formulierte Aspekte der Pflege bezeichnen und denjenigen, welche kosten- oder zeitintensive Aspekte der Pflege darstellen. Die erste Kategorie ist eher niedrig, die zweite Kategorie sehr hoch bewertet (N=201). Nur rund 11 Prozent der Befragten sagen, dass in ihrer Einrichtung „besondere Verfahren für Demente“ angewandt werden, nur rund 13 Prozent geben an, dass bei sterbenden Menschen die „Nachtwachen personell verstärkt“ werden, jeweils rund 26 Prozent berichten, dass die Pflegenden nach „Grundsätzen von Palliativmedizin und Palliativpflege“ handeln, bzw. dass „Pflegende mit besonderer Weiterbildung“ einbezogen werden (was im einen Falle zeit- und im anderen Falle kostenintensiver ist als eine herkömmliche, nicht spezialisierte Pflege), 34 Prozent der Einrichtungen kooperieren mit einer ambulanten Hospizgruppe, in rund 36 Prozent der Einrich66
Für die im Folgenden referierten Daten vgl. ebd, S.30.
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tungen werden die Bewohner „bei ihrer Lebensrückschau unterstützt“ (sehr zeitintensiv) und in rund 40 Prozent der Einrichtungen werden „Sitzwachen“ gehalten.67 Direkt 30 Prozent mehr Zustimmung erfährt das nächste zu bewertende Item, das nun das erste in der Reihe derer ist, die unseres Erachtens eine sogenannte „low-cost-situation“ für die Befragten darstellt. „Sterbebegleitung hat Vorrang im Pflegeprozess“ bejahen für ihre Einrichtung rund 70 Prozent der Befragten. Die Frage ist, ob sich das auf die Handlungsnorm bezieht oder auf die Handlungsrealität. Dass eine „Schmerztherapie mit (einem) Arzt abgesprochen und durchgeführt“ würde, sagen rund 84 Prozent der Befragten. Diesen Punkt muss man sich etwas genauer betrachten. Er fällt an sich aus der Reihe der „vage und dehnbar“ formulierten Items heraus. Es ist eine konkrete und klar formulierte Aussage. Fraglich ist allerdings, wie denn eigentlich die abgesprochene Schmerztherapie durchgeführt wird, ob also eine genügend ausgebildete und damit autorisierte Pflegekraft zur Verfügung steht, um die notwendigen Schmerzmittel verabreichen zu dürfen. Denn dem gegenüber steht die bereits referierte Aussage, dass jeweils lediglich in einem Viertel der untersuchten Altenheime die „Pflegenden nach Grundsätzen der Palliativmedizin und der Palliativpflege“ handeln (s.o.), bzw. nur in einem Viertel der Altenheime „Pflegende mit besonderer Weiterbildung“ in die Pflege einbezogen werden. Selbst wenn man auf eine frühere Stelle der Studie rekurriert, wonach „in 41 Prozent der hessischen Altenpflegeheime (...) der Expertenstandard Schmerzmedizin angewandt (wird)“68, so ist auch das lediglich nicht einmal die Hälfte der rund 85 Prozent Altenheime, die eine Schmerztherapie mit dem Arzt absprechen und durchführen. Dieser innere Widerspruch, jedenfalls diese stark auffallende Ungereimtheit in den erhobenen Daten lässt sich unseres Erachtens nur dadurch erklären, dass die Aussagen zu fast 100 Prozent von Angehörigen der Leitungsebene der befragten Einrichtungen getroffen wurden. So banal es klingen mag: Der Grund für diese sehr hohe Zustimmungsrate bei diesem Item liegt unter den erkennbar gegebenen Umständen unseres Erachtens schlicht und ergreifend darin, dass es sich ein Altenheim (diese Hypostasierung meint selbstredend: die Angehörigen der Leitungsebene) heutzutage nicht mehr leisten kann, Schmerztherapien nicht standardmäßig mit einem Arzt abzusprechen und durchzuführen. Auch wenn dies nicht der Alltagsrealität entspricht, ist der soziale Zwang zur Aufrechterhaltung eines günstigen Selbstbildes in der
67 Vgl. ebd., S.30. Wir lassen hier einmal vollkommen unberücksichtigt, dass sich auch hier natürlich nicht sagen lässt, was genau sich hinter der angegebenen „Kooperation“ mit Hospizvereinen verbirgt und wie genau die „Unterstützung bei der Lebensrückschau“ sich gestaltet. 68 Ebd., S.19. (Hervorhebung im Original, MH)
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Befragungssituation zu groß, als dass darauf dann verzichtet würde. Wir glauben also in der Tat, dass diese Zustimmungsrate ein Artefakt ist. Die letzten sechs zu bewertenden Items erreichen gar Zustimmungsraten sämtlich über 90 Prozent. Sie sind einfach als entweder zeitunaufwendig oder ungenau beziehungsweise dehn- und interpretierbar formuliert, dass sich eine nähere Kommentierung fast erübrigt. Dass „Angehörige/ Bezugspersonen zur Sterbebegleitung ermutigt“ werden, was rund 93 Prozent der Befragten angeben, kann ein sehr zeitintensives Einbinden und Heranführen der Angehörigen an die Sterbebegleitung bedeuten, was unwahrscheinlich ist, es kann aber auch bedeuten, dass man den Bezugspersonen einfach (mündlich in einem Nebensatz) mitteilt, dass sie gerne auch an der Sterbebegleitung mithelfen können, was immer das dann heißen mag. Dass „Angehörige/ Bezugspersonen umgehend informiert werden“, wie rund 94 Prozent der Befragten sagen, kann ohne weiteres stimmen, ist aber erstens nicht zeitaufwendig (dadurch natürlich nicht weniger wert), lässt aber zweitens vollständig offen, „wie“ die Angehörigen informiert werden. Dabei steht nicht nur die Frage im Raum, ob man sich um eine persönliche Kontaktaufnahme mit den Angehörigen bemüht, oder ob einfach etwa einmalig eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen wird, sondern weiterhin auch die Frage, die sich in unserer Hospizstudie für die Pflegekräfte als überaus problematisch und auch belastend herausgestellt hat. Sind Pflegekräfte in den untersuchten Altenheimen kommunikativ in der Lage, Angehörigen und Bezugspersonen den Tod eines Menschen mitzuteilen? Fühlen sie sich der Situation gewachsen? Zum Vergleich sei hier noch einmal auf unsere eigenen Daten diesbezüglich hingewiesen: Immerhin ein Drittel der Pflegekräfte (N=671) hält die „Gespräche mit Angehörigen“ für „besonders belastend“, 66 Prozent stufen sie als „zeitintensiv“ ein und dementsprechend wünschen sich rund 63 Prozent unserer befragten Pflegekräfte auch mehr Zeit dafür. Dass „pflegerische Maßnahmen so durchgeführt werden, dass sie sterbende Menschen nicht zusätzlich belasten“, sagen rund 95 Prozent der Befragten. Kontrastierend dazu steht, dass nur in wenigen Altenpflegeheimen die Mitarbeiter eine Zusatzqualifikation in Palliative Care haben. Der Anteil dieser Mitarbeiter liegt im Mittel bei 2,8 Prozent.69 Aber auch hier muss man sich die konkreten „Entstehungsbedingungen“ dieses Datums vor Augen halten. Wie bereits eingangs des Kapitels gesagt, liegt für jede Einrichtung des Samples etwa 1 ausgefüllter Fragebogen vor, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer Person in leitender Stellung ausgefüllt wurde. Diese Person hat dann bei diesem Item nur die Möglichkeit, und zwar bezogen auf die gesamte Einrichtung, zu ent69
Ebd., S.21.
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scheiden, ob sie zustimmen soll, dass die durchgeführten Pflegemaßnahmen die sterbenden Menschen nicht zusätzlich belasten oder nicht. Selbst bei einem unterstellten Bemühen um wahrheitsgetreue Beantwortung müsste die Situation ja geradezu katastrophal sein, wenn man sich nach Abwägung der sicher vorkommenden Fälle von Handlungen wider diese Norm dazu durchränge, diesem Item nicht zuzustimmen. Es lässt sich für unseren Zusammenhang daher durchaus mit großem Recht der Schluss ziehen, dass in der Realität durchaus bei weitem nicht in nahezu allen Fällen die Pflegemaßnahmen so durchgeführt werden, dass sie den sterbenden Patienten nicht zusätzlich belasten. Ein hier wie auch fast überall sonst bedeutender Umstand ist sicher der bereits oft erwähnte, im Pflegealltag omnipräsente Zeitdruck.70 Auch auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken, ist es auch hier wichtig, sich plastisch vorzustellen, was der Terminus „pflegerische Maßnahmen“ bedeutet. „Maßnahmen“ generell bedeuten nicht nur die Auswahl von Handlungen, sondern auch die Festlegung des „Wie“, der „Art und Weise“ dieser Handlungen und Handgriffe. Eine Maßnahme in der Altenpflege besteht zum Beispiel darin, bettlägerige Patienten regelmäßig „umzulagern“, sie also in ihrer Liegeposition von einer auf die andere Seite zu drehen, um dem Wundliegen vorzubeugen („Dekubitusprophylaxe“). Diese alltägliche und mehrmals am Tag durchgeführte Pflegemaßnahme birgt aber ein großes Potential an Unannehmlichkeiten und Schmerzen für den Patienten. Denn Umlagerungen von Patienten, die dabei kaum mehr mithelfen können, erfordern eine besondere Sorgfalt, um Verzerrungen oder gar Knochenbrüche zu vermeiden. Führt man sich nun vor Augen, dass diese auch physisch für die Pflegekraft anstrengende Arbeit mehrmals täglich bei vielen Patienten durchzuführen ist, ist leicht einzusehen, dass die gebotene Sorgfalt des Umgangs wie auch der Lagerung nicht wird eingehalten werden können. Dies ist ein gewichtiges Indiz für die Infragestellung der Angabe, dass in rund 85 Prozent der untersuchten Altenheime die „pflegerischen Maßnahmen die sterbenden Patienten nicht zusätzlich belasten“. Bei den gegebenen und von den Autoren als beklagt referierten Umständen ist dies nicht zu leisten. Die letzten Items betreffen den „religiösen und spirituellen Beistand“ der Patienten und deren „Bedürfnisse“ im Allgemeinen. Dass die „Bedürfnisse nach religiösem und spirituellem Beistand wahrgenommen und nach Möglichkeit erfüllt“ werden, sagen 96 Prozent der Befragten, und dass dies für die „Bedürfnisse von sterbenden Menschen“ im Allgemeinen gelte, sagen gar 97 Prozent. Dass ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden, ist für die Bedürftigen nur ein schwacher Trost, wenn die Mittel ihrer Befriedigung nicht gegeben sind. Und das Hauptmittel ist auch hier zweifelsohne „Zeit“. Der Mangel an ihr lässt auch 70 Vgl. die oben zitierten Passagen aus dem Fazit der Autoren, die zu den referierten Daten im Hauptteil der Arbeit nicht so recht passen wollen.
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die Wirkung von Fortbildungsveranstaltungen schrumpfen. Eingedenk der Aussage von Hospizfachkräften, dass ein wesentliches Moment guter Sterbebegleitung das schiere „da-sein“ sei, der Arbeitsalltag aber unter dem Diktat knapper Zeitressourcen steht, ist fraglich, wie die Erkenntnisse und Lerninhalte von Schulungen für die Sterbebegleitung umgesetzt werden sollen, die 70 Prozent der Mitarbeiter hessischer Altenpflegeheime zuteil wird.71 Explizit genannt wird in diesem Zusammenhang auch (wie bei unserer Studie) die starke Zunahme an Dokumentationsverpflichtungen der Arbeit, was die ohnehin schwierige Zeitsituation verschärft.72 Will man die Ergebnisse der Studie zusammenfassen, so lohnt nach der von uns vorgebrachten Kritik wohl eher ein Blick in das Kapitel „Perspektiven und Zukunftspläne“.73 Denn dort lassen sich aus der Perspektive des für die Zukunft Gewünschten die Rahmenbedingungen und Zustände des gegenwärtig Gültigen erkennen. Die erhobenen Daten erfahren dort eigentlich die angebrachte Kritik und eine umfängliche Relativierung. „Als verbesserungswürdig bei der Begleitung sterbender Menschen erachten die Altenpflegeheime vor allem Aspekte wie Ausbildung in Palliative Care, Kooperation mit ambulanten Hospizdiensten, Begleitung der Pflegekräfte, der Angehörigen und der sterbenden Menschen, sowie eine bessere Ausbildung und Weiterbildung des Personals. Die Mehrzahl der Heime beklagt die mangelnde Zeit im Umgang mit den Bewohnern. (...) Hauptsächlich werden Wünsche nach mehr Zeit für das Pflegepersonal und deren (sic!) Möglichkeit, eine „Auszeit“ nehmen zu können, geäußert. Zudem fordern die Heime mehr Zeit für eine intensivere Begleitung der Sterbenden, das genauere Erfassen von Wünschen und die Möglichkeit, zeitliche Ressourcen flexibler gestalten zu können. (...) Sitzwachen werden von den Heimen als sehr wichtig angesehen, können aber oftmals nicht wegen des Personalmangels wahrgenommen werden.“74
Für unseren Zusammenhang lässt sich an diesem Punkt resümierend festhalten, dass es um eine gute Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung in den Altenheimen ebenso schlecht bestellt ist wie in den Krankenhäusern. Diese Einschätzung bestätigt sich auch, wenn man sich auf die Pfade einer ethnologischen Beschreibung der Situation begibt. Sehr plastisch hat Corina Salis Gross die Arbeit mit den Sterbenden in „Der ansteckende Tod. Eine ethnologische Studie 71
Vgl. ebd., S.21. Dort findet sich auch ein Beispiel für eine schwammige und damit nichts sagende Formulierung für rund 60 Prozent der Altenheime, dass die Mitarbeiter „mit dem Ziel einer kultursensiblen Altenpflege fortgebildet werden.“ 72 Ebd., S.38. Das führe dazu, dass „die Zeit für die inhaltliche Arbeit immer weniger (werde)“. 73 Vgl. ebd., S.35ff. 74 Ebd., S.35.
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zum Sterben im Altersheim“75 dargestellt. Dabei wird in ihrer Beschreibung interessanterweise deutlich, dass die Arbeit im Altenheim in ganz anderem Ausmaße eine Arbeit mit Tod und Sterben bedeutet, als dies für die Arbeit in Krankenhäusern gilt. Gross beschreibt die Struktur dieser Arbeit mit guten Gründen als paradox. Führen wir uns die Situation der Pflegekräfte in den Kliniken noch einmal kurz vor Augen, um dann die Unterschiede zu der Situation in den Altenheimen herauszuarbeiten. Die Pflegekräfte in den Kliniken sind damit überfordert, mit Sterbenden zu arbeiten. Die Gründe dafür liegen in der nicht adäquaten Ausbildung und in den Rahmenbedingungen des Krankenhausalltags. Es steht zu wenig Zeit zur Verfügung und die Ziele der Handlungen sind ganz andere, nämlich (natürlich) nach wie vor die Heilung und Genesung der Patienten. Das Sterben eines Patienten ist in dieser Struktur eine Niederlage und entsprechend schwer ist es daher, die Arbeit darauf einzustellen bzw. auszurichten, dass ein Patient nicht mehr interventionell behandelt wird, sondern die gesamte Arbeitsstrategie auf „Begleitung“ umzustellen. Das schiere „Da-sein“ ist in der gegebenen Struktur so gut wie nicht umzusetzen. Auf den Punkt gebracht, könnte man sagen: In die Organisation „Krankenhaus“ gehören grundsätzlich keine Sterbenden, sondern zum Krankenhaus gehört an sich immer die Perspektive, es zu einem bestimmten Punkt lebend zu verlassen. Damit ist nicht gesagt, dass dies bedeutet, das Krankenhaus geheilt zu verlassen. Aber strukturell vorgesehen ist das Verlassen. Dass das Krankenhaus ab einem gewissen (historischen) Zeitpunkt für eine zunehmende Zahl von Patienten diese Perspektive verloren hatte, ist ja gerade der Kern des Problems und die grundsätzliche Ursache für die ganze Entwicklung der Hospizbewegung, die wir bereits dargestellt haben. Für das Altenheim liegen die Dinge in diesem Punkt grundlegend anders. Corina Salis Gross charakterisiert die Arbeit im Altersheim bezüglich dieses Gesichtspunktes an drei Dilemmata, welche die Arbeit stark hemmen. Zentral sei, dass die Pflegenden im Altersheim auf die Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit vorbereitet seien, faktisch aber das Sterben zu „bearbeiten" hätten.76 Geradezu absurderweise stehe im Altenheim das Sterben und der Tod auf der Tagesordnung, wobei diese Phänomene von der Struktur her gar nicht vorgesehen seien. Der Umgang mit Sterbenden werde damit zur „double-bindSituation.“77 Für die Pflegenden heiße das, dass sie Beziehungen zu den Betagten eingingen, deren Ende immer schon absehbar sei, ihre Arbeit also auch darin bestehe, den Abbruch dieser Beziehungen vorzubereiten und dann zu vollziehen. 75
Corina Salis Gross: Der ansteckende Tod. Eine ethnologische Studie zum Sterben im Altersheim, Frankfurt am Main/ New York 2001. 76 Vgl. Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.301. 77 Vgl. ebd., S.220.
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Hier sieht Gross den entscheidenden Unterschied zu Spitälern, in denen ein großer Teil der Patienten geheilt werde und die Institution verlassen könne. Im Altenheim dagegen seien Trennungen „ausschließlich endgültige, vom Tod bestimmte.“78 Im Krankenhaus ist die Tatsache, dass man heilen soll, der Grundparameter der Organisation. In der Mehrheit der Fälle werden die Patienten ja auch wieder geheilt, oder zumindest mit einer Perspektive auf Heilung entlassen. Die Schwierigkeit im Krankenhaus liegt also darin, dass für manche Patienten diese Perspektive nicht besteht und man diese Gruppe nicht recht einfügen kann in die Struktur. Im Altersheim aber sind alle Bewohner dauerhaft. Sie wohnen und leben dort auf Dauer, in den meisten Fällen nämlich bis zum Tode. Schon die gebräuchlichen Begrifflichkeiten zeigen es an: Man spricht von Bewohnern und von Heimen. Ein Heim ist der Ort, an den man gehört und nicht ein Ort, den man übergangsweise bezieht, um ihn dann wieder zu verlassen. Und auch ein Bewohner ist eben nicht ein Patient. Scharf formuliert heißt das: Es gibt im Altenheim nicht mehr die Differenzierung in Bewohner, deren Gesundheit man erhalten muss, weil sie wieder aus der Einrichtung entlassen werden, und andere, für die das nicht gilt, sondern es gibt nur Bewohner, die sterben werden. Es gibt in diesem Sinne überhaupt keine Perspektive mehr, die Gesundheitsdimension aufrecht zu erhalten. Und insofern ist die double-bind-Situation verschärft. So betrachtet, müsste sich der Fokus in der gesamten thanatosoziologischen Literatur, sofern sie sich verstärkt auf das Sterben in Institutionen richtet, viel mehr auf die Organisation „Altenheim“ richten. Vermutlich handelt es sich aber auch hier um einen Hysteresis-Effekt. Die thanatosoziologische Analyse von Institutionen und Organisationen nahm ihren Anfang nun einmal mit den (bereits erwähnten) Arbeiten von Sudnow sowie Glaser und Strauss und deren ethnographischen Arbeiten in den Kliniken. Überdies ist es die Entwicklung der Medizin, vor allem der Intensivmedizin, die in ungemein rasanter Weise vorangeschritten ist und damit die Situation der „um ihren Tod betrogenen Sterbenden“ heraufbeschwor. In mehrerer Hinsicht marginal blieb von Anfang an die Situation in den Altenheimen. Ein kurzes Nachdenken über das für lange Zeit gesellschaftlich und wissenschaftlich relativ ausgeprägte Desinteresse an den Altenheimen führt uns direkt zum Kern unseres Problems. Zum einen gilt, dass das Sterben der alten Menschen erst einmal nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, weil es normal ist, dass alte Menschen sterben. Der Tod junger Menschen ist in viel größerem Maße, bis hin zum Skandal, ein Aufmerksamkeit generierendes Phänomen.79 Dazu kommt, 78 79
Ebd., S.302. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit der Analyse von Todesanzeigen zurück.
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dass alte Menschen keine Lobby haben, die sich für ihre Probleme und Belange massiv einsetzt. Zumindest hatten sie eine solche nicht für lange Zeit, mittlerweile hat sich das etwas gewandelt. Bei diesen Rahmenbedingungen sind auch die Fortschritte, welche die Gerontomedizin zweifelsohne in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen hat, nicht oder nur sehr sparsam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt.80 Warum, so müsste man konsequent fragen, wird das Sterben in Altenheimen nun, das heißt seit dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, doch zu einem Thema, dessen sich die Soziologie annimmt? Auch hier liegt ein Bündel von denkbaren Gründen vor. Primär sind hier wohl die irgendwann auch an die Öffentlichkeit gelangten unhaltbaren Pflegezustände zu nennen, die zu einem Skandal geführt haben. Daneben aber, und das führt uns in die richtige Richtung, ist auch zu nennen, dass sich die älteren Menschen zunehmend organisieren und dies auch zum Ausdruck bringen. Sie kümmern sich um die Geschicke ihrer Generation immer massiver und sind im Übrigen dazu auch immer besser in der Lage. Hans Braun erläutert dieses Phänomen an der Gruppe der „sogenannten ,neuen Alten’. Damit ist jener Typ des alten Menschen gemeint, der sich körperlich fit hält, der reiselustig ist, der am kulturellen Leben teilnimmt, der mit einem Wort aktiv ist und der darüber hinaus auch über die finanziellen Mittel verfügt, die ihm einen anspruchsvollen Lebensstil erlauben. Die Medien bemächtigen sich dieser so umschriebenen Gruppe alter Menschen, Sportvereine richten sich auf sie als neue Mitglieder ein, Volkshochschulen und Universitäten sehen eine neue Zielgruppe, vor allem aber hegt die Wirtschaft die Hoffnung, neue Märkte erschließen zu können, auf denen alte Menschen als zahlungskräftige Nachfrager auftreten.“81
Mit den demographischen Veränderungen, mit dem Umdrehen der Bevölkerungspyramide, sind die Alten zu einem zusehends gewichtigeren Faktor geworden. Diese Gründe gelten sicher für die Erklärung der verstärkten Wahrnehmung der älteren Menschen im öffentlichen Diskurs. Aber vor allem, weit weniger spektakulär, ist die Tatsache der immer weiter zunehmenden Lebenszeit und die damit einhergehende stark verlängerte Phase des Alters ein Grund dafür, das Alter als eigene Phase wahrzunehmen, die man nicht mehr einfach als Vorstufe des baldigen Todes interpretieren kann. Ähnlich wie in unserer zentralen Trennung von Tod und Sterben gewinnt auch das Alter ein eigenes Recht. Damit ist ein wichtiger Punkt angezeigt, die Frage nämlich, woran man extremes Alter/ 80 Und damit auch nur sehr sparsam in das Bewusstsein soziologischer Analyse, die sich als Fach wenigstens luxurierende Themen suchen muss, wenn sie schon ohnehin im Vergleich mit den Naturwissenschaften weder hinsichtlich des zu erlangenden Prestiges noch in der Höhe der Fördergelder konkurrieren kann. 81 Hans Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung. Regensburg 1992, S.29f.
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natürliche Hinfälligkeit und extrem lange Sterbephasen definitorisch unterscheiden kann. Und überdies, ob denn, selbst wenn man ein Distinktionskriterium fände, diese Distinktion auch in der sozialen Wirklichkeit durchzuhalten wäre. Salis Gross gibt für die Dauer des Sterbens eine auf den ersten Blick recht praktikable Definition: „(...) die zwischen der medizinischen Diagnose eines Beginns des Sterbeprozesses aufgrund von Alterung, von einer letalen Krankheit oder einem Befund mit wahrscheinlich tödlichem Verlauf und dessen Ende verstreichende Zeit.“82 Wahrscheinlich aber sind es soziale Aushandlungsprozesse, die dazu führen, dass man jemanden als sterbend ansieht. Zumindest kann man dies vielleicht für ein Setting wie das Altenheim sagen. Es bedarf in diesem Sinne eines Stabes (im Goffman’schen Sinne), der solche Definitionsprozesse vornimmt. In der Realität außerhalb von Organisationen oder Institutionen wie Altenheimen oder Krankenhäusern, wo ein solcher Stab fehlt, können solche Entscheidungen nur sehr schwer oder gar nicht getroffen werden. Dennoch betrachtet die Soziologie auch diesen Bereich und es fällt schwer, hier eine klare Distinktion zu treffen. Aber auch für die Entscheidungsprozesse eines Stabes in einer Organisation gilt „ein grundsätzliches Merkmal von Sterbeprozessen, das bestimmend ist für die Unsicherheit der Pflegenden (und aller anderen Personen, die an einem Sterbeprozess beteiligt sind). Nicht nur die Art des Sterbeverlaufs ist erst im Nachhinein bestimmbar, auch die Frage, ob jemand tatsächlich stirbt, ist immer erst nachträglich zu beantworten83: ,Es lässt sich nämlich immer nur post mortem (Hervorhebung im Zitat, MH) entscheiden, ob der beobachtete und erfahrene Prozess als Sterbeprozess qualifiziert werden darf oder nicht. Das Sterben wird von seinem Ende her als Sterben begreifbar, niemals zuvor. Woher sollen wir aber nun wissen, wann dieses Sterben begonnen hat, welche Erfahrungen also dem (reversiblen) Zustand schwerster Krankheit [oder eben der „Abgebautheit“ im Alter] und welche Erfahrungen dem (irreversiblen) Prozess des Sterbens selbst zugerechnet werden dürfen?’ (Macho 1987,28)“84
Hier allerdings wird das Problem nicht wirklich gelöst, sondern nur verschoben. Denn die Einfügungen von Gross in das Macho-Zitat sind gerade für uns das Problem: Welche Erfahrungen sind dem Zustand schwerster Krankheit zuzurechnen und welche dem Zustand körperlichen Niedergangs im Alter? 82
Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.59. Wir werden dieser Problematik im Kontext der Hospizarbeit wieder begegnen. Dort spielt sie eine entscheidende Rolle, weil an der Beantwortung der Frage, in diesem Falle, wie konkret das Sterben für einen betreffenden Menschen ist, die Handlungen oder eben Nicht-Handlungen der Hospizkräfte hängen. Es ist DIE vitale Frage. 84 Salis Gross: Der ansteckende Tod, a.a.O., S.199, Fn.12. Das Macho-Zitat entstammt: Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt am Main 1987. 83
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Hier muss man konzedieren, dass diese Frage nicht zweifelsfrei und endgültig zu klären ist. Die Übergänge zwischen Alter und Sterben sind fließend. Weiter unten werden wir den Begriff des „sozialen Sterbens" diskutieren und einen Vorschlag machen, wie dieser Begriff im Gegensatz zu seinem bisherigen Gebrauch erweitert werden müsste. Wir werden unter anderem vorschlagen, ihn als vom Sterbenden bewusst wahrgenommenen Verlust von zivilisatorischen Kompetenzen zu verstehen. Der Sterbende, der in unserem Sinne einen „langen" Sterbeprozess durchläuft, verliert zusehends die Fähigkeit, sich dem zivilisatorischen Niveau konform zu verhalten und ist sich dessen auch schmerzlich bewusst. Besonders drastisch wird dies deutlich am Verlust der Fähigkeit, alleine für seine Körperhygiene sorgen zu können oder seine Körperausscheidungen zu kontrollieren. Nun sind diese Phänomene als solche aber auch bei alten Menschen häufig vorzufinden. Gerade weil sich die Lebenszeit aufgrund der Fortschritte in der Medizin im zwanzigsten Jahrhundert enorm verlängert hat, gibt es auch immer mehr alte Menschen, die bettlägerig und pflegebedürftig sind. Auf der Phänomenebene alleine also lässt sich kein belastbares Differenzierungskriterium zwischen Alter und Sterben finden. In seiner Arbeit über das „Alter als gesellschaftliche Herausforderung"85 hat Hans Braun schon früh alterstypische Situationen beschrieben, die sich aus unserer Perspektive passagenweise wie eine Vorwegnahme dessen lesen, was wir für das Sterben ebenso beschreiben wollen. Das ist umso bemerkenswerter, als es Braun gerade nicht um eine Betrachtung des Themas „Alter" geht, welche „Alter" primär verknüpft sähe mit Sterben, sondern um eine Betrachtung, die „Alter" und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Herausforderungen als eine vom Sterben gerade getrennt zu betrachtende Lebensphase sieht. So kontraintuitiv das auf den ersten Blick scheinen mag, so einleuchtend ist es doch auf den zweiten. Unabänderlich unscharf ist nämlich die Grenze zwischen Alter und Sterben. Wie für unsere Betrachtung des „sozialen Sterbens" gewissermaßen die „Untergrenze", die Eintrittsschwelle oder das Differenzierungskriterium problematisch sind, ab wann man vom Sterben sprechen soll, ist für Brauns Beschreibung des „Alters" die Abgrenzung zum Sterben problematisch. Das liegt aber bei beiden Beschreibungen nicht etwa an mangelndem Bemühen um begriffliche Präzision, sondern daran, dass sich die Realität einer trennscharfen Begrifflichkeit bisweilen verweigert. Ein möglichst präziser Begriffsapparat ist für eine analytische Betrachtung der Realität wichtig, was aber nicht notwendigerweise heißt, dass sich empirische Phänomene einzig nach Maßgabe der verwendeten Begrifflichkeit kategorisieren ließen. Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass sowohl Braun als auch wir die gleichen Phänomene mit gleicher Legitima85
Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung, a.a.O.
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tion als zu unserer Thematik gehörend behandeln müssen. Entscheidend ist, an welcher Stelle sie sich in den jeweiligen Beschreibungen finden, wie zentral sie dort jeweils sind. So ist das, was wir als eines der zentralen Bestimmungskriterien für das „soziale Sterben" anführen werden in Hans Brauns Beschreibung des Alters notwendigerweise ein Aspekt unter anderen: „Auch eine Seite der Realität: Krankheit und Pflegebedürftigkeit" ist das Kapitel überschrieben, in dem die in Rede stehenden Phänomene beschrieben sind.86 Wenn wir unten die verschiedenen Fassungen des Begriffs „soziales Sterben" betrachten werden, die in den Sozialwissenschaften bisher vorgeschlagen wurden, werden wir all diesen Phänomenen von zunehmender Isolierung und Einsamkeit bis zu drastischen Inkontinenzproblemen wieder begegnen. „In unserer Untersuchungsgruppe konnten nach Auskunft der befragten Angehörigen vier von zehn pflegebedürftigen alten Menschen das Haus nicht mehr verlassen. Ebenfalls vier von zehn Pflegebedürftigen waren auf Hilfe beim An- und Auskleiden angewiesen."87
Noch enger mit der Dimension zivilisatorischer Kompetenzen verknüpft sind Probleme, die zu Verunreinigungen oder Verschmutzungen führen. In der Literatur, die wir über Sterbende betrachten werden, finden sich immer wieder Passagen, die beschreiben, als wie schwerwiegend und beschämend es von den Sterbenden empfunden wird, nicht mehr alleine essen zu können, ohne Essen zu verschütten und sich zu beflecken. Auch Braun weist auf die Bedeutung des Verlusts dieser Fähigkeit hin, wenn er ihn als einen „Schwellenwert" im Prozess des Alters bezeichnet: „Ein sowohl für den alten Menschen als auch für seine Angehörigen wichtiger Schwellenwert persönlicher Abhängigkeit stellt das Angewiesensein auf Hilfe beim Essen und Trinken oder beim Waschen und Baden dar."88
Um noch einmal deutlich zu machen, dass sich gleiche Phänomene sowohl in einer Beschreibung des Alters als auch in einer zeitgemäßen Beschreibung des Sterbens finden (man könnte geradezu sagen: finden müssen), dass es aber auf die Zentralität der Phänomene in der jeweiligen Beschreibung ankommt, sei noch eine weitere Phänomen-Parallele angeführt. Was für unsere Beschreibung im Folgenden eine zentrale Rolle spielen wird, nämlich Inkontinenz und damit
86
Vgl. ebd., S.41ff. (Hervorhebung MH) Ebd., S.50. 88 Ebd. 87
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zusammenhängende Selbstbeschmutzung89, findet sich auch in der Analyse von Hans Braun, dort aber als ein weiterer, nochmals extremerer, Schwellenwert: „Ein für die Beteiligten noch gravierenderer Schwellenwert wird dadurch markiert, daß der alte Mensch Hilfe beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen benötigt. (...) Es ist eben ein Unterschied, ob es darum geht, einem alten Menschen beim An- oder Ausziehen zu helfen oder ihn im Falle von Inkontinenz mehrmals am Tage zu säubern. Auch der alte Mensch selbst wird im ersten Falle seine Lage anders wahrnehmen als im zweiten und auch das Tun der Pflegeperson anders einschätzen."90
Diese klar benannten und für die Betroffenen schambeladenen Probleme, die sich durchaus bei vielen alten Menschen einstellen, werden zu einem der entscheidenden Charakteristika, wenn wir unsere Fassung des Begriffs des „sozialen Sterbens" vorschlagen. Es ist also die Perspektive, die das gleiche Phänomen einmal in die Peripherie und einmal ins Zentrum einer Beschreibung setzt. Gibt es aber darüber hinaus denn keinerlei Differenzierungskriterium, um in einem gegebenen Falle die adäquate Perspektive zu bestimmen? Als hinlänglich belastbares Kriterium für unsere Abgrenzung des Sterbens vom Alter wollen wir ein dem problematischen Zustand vorangegangenes Trauma (im medizinischen Sinne) oder die Diagnose einer mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlichen Krankheit ansehen. Wir schließen uns also weitgehend einem Definitionsvorschlag von Wolfgang Drechsel an, der diesen für die seelsorgerische Arbeit mit Sterbenden entwickelt hat: „Wenn also im Folgenden von Sterbenden bzw. dem Umgang mit Sterbenden die Rede ist, so bezieht sie sich grundsätzlich auf einen Prozess des Lebens, der dadurch gekennzeichnet ist, dass bei den Betroffenen das Ende ihres Lebens aufgrund ihrer körperlichen Befindlichkeit abzusehen ist und somit das eigene Sterben zu einem explizit bewussten Thema des Lebens wird bzw. als implizites oder unbewusstes Thema je eigenes Leben und Handeln prägt. Es handelt sich um einen Prozess, der z.B. schon mit einer medizinischen Diagnose beginnen kann, die die Selbstverständlichkeit des alltäglichen Lebens zerbricht und die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Sterbens erzwingt und der sein Ende findet in der konkreten Situation am „Sterbebett“, wo der Eintritt des Todes eine Frage von Tagen oder Stunden ist.“91
89
Vgl. unten die Kapitel „Goffmans 'Territorien des Selbst'" und „Scham und Peinlichkeit in der Theorie von Norbert Elias". 90 Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung, a.a.O., S.50f. 91 Wolfgang Drechsel: Seelsorgerische Perspektiven zum Umgang mit Sterbenden – am Beispiel der Krankenhausseelsorge, in: Caroline Y. Robertson - von Trotha (Hg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Baden-Baden 2008, S.105-125, hier S.107.
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3.3 Hospize Um Einblick in diese Sphäre zu gewinnen, in die unsere eigene Forschung nicht hineinreicht, stützen wir uns nun, wie bereits erwähnt, auf in der jüngeren Vergangenheit erschienene Arbeiten, die einen ethnographischen Bericht aus stationären Hospizen liefern.92 Diese Ethnographien, die einen alle Facetten umfassenden Einblick in die Welt der Hospize liefern, sollen unter der Perspektive gelesen werden, welche strukturellen Maßnahmen und Kommunikationstechniken im Arbeitsalltag eines stationären Hospizes existieren, um zweierlei zu gewährleisten: den angesprochenen Raum struktureller Offenheit herzustellen und die Mitarbeiter soweit zu stützen, dass sie die Anforderungen ihrer Arbeit bewältigen können. 3.3.1 Natürlichkeit als Resultat der „Backstage" Das Gebiet der hospizlichen Sterbebegleitung, in welches wir eintreten wollen, ist im stärksten Kontrast gegen das Krankenhaus die Wiege der theoretisch und praktisch am strengsten patientenzentrierten Formen von pflegerischer Ethik, welche das späte zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat. Ebenso ist hier die entsprechende „Technik“ am höchsten entwickelt. Der Begriff „Technik“ wirkt im Kontext der Hospizbewegung auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper. Wollte sie nicht gerade das Gegengewicht sein zu den technisch dominierten Umgangsformen, denen die Sterbenden in den Krankenhäusern ausgesetzt waren? Es soll gezeigt werden, dass auch in der Sterbebegleitung, wie sie die Hospizbewegung praktiziert, ein hohes Maß an „Technik“ erforderlich ist, um die Anforderungen zu erfüllen, welche sie sich selbst gesetzt hat. Welchem Zweck dienen die „Techniken“ in der Sterbebegleitung? Die spontane Antwort ist sicherlich: den Patienten. Und diese Antwort ist im Endeffekt sicher richtig. Die Würde der Sterbenden soll gewahrt bleiben, es soll ihnen Raum gegeben werden, Aspekte aller Dimensionen des Menschen (sozial, körperlich, psychisch und spirituell) zu artikulieren: „Die Pflege von Sterbenden soll eben nicht nur
92 Stefan Dreßke: Sterben im Hospiz. Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung, Frankfurt am Main/ New York 2005; Christine Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“: Zur Dynamik von Individualisierung und Nähe in der Pflegearbeit stationärer Hospize, in: Hubert Knoblauch und Arnold Zingerle (Hg.): Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin 2005, S.103-125; Nicholas Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung als handlungsleitende Haltung in der Hospizpflege, in: Knoblauch/ Zingerle (Hg.): Thanatosoziologie, a.a.O., S.189-207.
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funktional angemessen sein und handwerklichen Qualitätsansprüchen genügen, (...), sondern sie soll ihre Würde, Humanität und Persönlichkeit anerkennen.“93 Dennoch greift die Antwort zu kurz. Obwohl die Frage des „guten Todes“ bzgl. des Gelingens auch und vielleicht sogar in großem Maße am Patienten selbst liegt, ihm jedenfalls eine Mitverantwortung zum „Gelingen“ auferlegt wird, hängt doch vieles von der Art des Umgangs der Hospizhelfer mit den Sterbenden ab. Dem funktional spezifischen Umgang, wie er in den Krankenhäusern stattfindet, soll wieder ein funktional diffuser Umgang entgegengestellt werden. Ähnlich wie in einer Familie soll dann alles das kommunikativ relevant sein, was für den Patienten relevant ist. Man könnte also von einem strukturell offenen Zustand sprechen. Wenn dieser Zustand erst einmal inhaltlich nicht weiter spezifiziert ist, so ist es gerade deswegen für den Hospizbeistand sehr schwierig, sich in ihm zu bewegen. Es handelt sich dabei differenzierungslogisch eben nicht um einen Schritt zurück in Richtung einer Entdifferenzierung, sondern es handelt sich um etwas wie eine neue Leitdifferenz: die Relevanz des Kommunizierten für den Patienten. Der Unterschied zur Familie fällt direkt ins Auge. Dort ist alles kommunikativ relevant, was für einen, egal wen aus der Familie, relevant ist. Im Hospiz ist „nur“ das kommunikativ relevant, was für den Patienten relevant ist. Die symmetrische Relevanzstruktur der Familie verschiebt sich hier zu einer vollständigen Asymmetrie. Die Sicherung dieses strukturell offenen Raumes ist nun hoch voraussetzungsvoll, weil die Relevanzbedingung nur die Sicht des Patienten betrifft und dabei aber in ihrer Auswahlmöglichkeit total ist. Die Art des Umgangs mit den Patienten soll in einem Hospiz dem natürlichen Umgang in einer Familie gleichen. Aber es soll hier gezeigt werden, auf welch radikal anderen Grundlagen der Umgang im Hospiz beruht und welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssen. Kurzum: wie hochgradig artifiziell diese „Natürlichkeit“ ist. Die These lautet nun, dass es sich bei diesem „natürlichen“, offenen Raum um eine „Frontstage" im Sinne Goffmans handelt, deren kunstfertige Herstellung sich auf einer „Backstage" verbirgt, die vom Patienten nicht einsehbar ist.94 Dieser Hinterbühne, so die These weiter, kommt für die Hospizarbeit eine weit entscheidendere Bedeutung zu, als allgemein angenommen wird. Die Tätigkeit des Hospizbeistandes als solche ist selbstredend die Interaktion mit dem Patienten, aber diese ist nur erfolgreich möglich, wenn auf der Hinterbühne kontinuierlich eine ganze Reihe an Voraussetzungen geschaffen wird. Die Rahmenbedingungen müssen so angelegt sein, dass die Hospizmitarbeiter ihre Arbeit gut verrichten können. Sie müssen in ihren Ressourcen geschützt werden, sie müssen unter93
Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.13. Zum Konzept von Front- und Backstage vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2003. 94
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stützt werden in Supervisionen und klärenden Gesprächen mit Kollegen. Kann das nicht gewährleistet werden, läuft die ganze Sterbebegleitung Gefahr, abgebrochen werden zu müssen. Umgekehrt ergibt sich, gewissermaßen als Effekt guter Bedingungen für die Hospizhelfer, eine größere Wahrscheinlichkeit, dass der Sterbende zu einem guten Sterben findet. Dass die strukturellen Gegebenheiten entscheidend sind für eine gute Sterbebegleitung, lässt sich auch, sozusagen negativ, an dem Befund erkennen, den eine Umfrage unter Krankenhauspflegekräften erbrachte. 3.3.2 Hospize in der Lehrbuchliteratur Was kennzeichnet eigentlich ein Hospiz, was war die Neuerung, die sie radikal von Krankenhäusern unterschied? Der Kern liegt wohl darin, dass hier zum ersten Mal „der Sterbende ernst genommen wurde als Person und menschliches Gegenüber; dass Sterbende nicht mehr ins Abseits gedrängt wurden, den sozialen Tod schon vor dem körperlichen erlitten; dass mit ihnen und nicht nur über sie gesprochen wurde. Am deutlichsten ist dieser Wandel wohl daran zu erkennen, dass jetzt die Wünsche sterbender Menschen entdeckt wurden.“95 Einer dieser wiederkehrenden Wünsche der Patienten ist es, die „Sinnfrage (Sinn des Lebens, Sinn des Sterbens u.ä.) stellen und besprechen zu dürfen.“96 Auf diese Frage hat die klassische Medizin typischerweise keine Antwort. Medizin als Wissenschaft ist an Sinnfragen nicht interessiert, was bereits Max Weber gesehen hatte: „Medizin will keine existenziellen Fragen beantworten, sondern Dinge wissenschaftlich behandelbar lösen.“97 Noch eine Spur radikaler liest sich folgende Charakterisierung: „Hospize mischen sich nicht ein in das Sterben. Nicht die Begleitenden, sondern der sterbende Mensch gestaltet den Tod.“98 Es ist sofort erkennbar, dass der sterbende Mensch ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Agierens der Hospizkräfte steht.99 Aber es stellt sich ebenso sofort die Frage: Welchen Agierens eigentlich? Welches Maß an Agieren bleibt innerhalb der gesetzten Grenzen des Sich-Nicht-Einmischens? Oder ist es keine Frage des Maßes, 95 Johann Christof Student: Was ist ein Hospiz?, in: ders.: Das Hospiz-Buch, 4. erw. Auflage, Freiburg i.Br. 1999, S.22. 96 Ebd. 97 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 582-613, hier S.589. 98 Franco Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit. Handbuch für den stationären und ambulanten Bereich, 5. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2006, S.24. 99 Hier sei erwähnt, dass wir auf unserer abstrahierten Ebene keine weiteren Differenzierungen nach Hospizkraft, ehrenamtlicher Hospizhelfer und Palliativfachkraft machen. In den unten genannten hervorragenden Ethnographien zum Thema wird dies ausführlich durchexerziert.
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sondern eine Frage der Art des Agierens, also keine quantitative, sondern eine qualitative Unterscheidung? Vielleicht kommt man einer Antwort näher, wenn man sieht, in welcher Hinsicht sich das hospizliche Agieren vom Agieren der Pflegekräfte im Krankenhaus absetzen will: „Dem künstlichen System (der Fachkräfte) steht ein natürliches Beistandssystems gegenüber, welches seine Kraft allein oder wesentlich aus dem menschlichen Kontakt zieht. Das künstliche System hat Grenzen, die nur das natürliche System überwinden kann. Das natürliche System handelt aus Anteilnahme, nicht aus Pflicht.“100
Die Benennung „natürliches System“ lässt die Nähe zum familiären Umgang mit dem Patienten im Hospiz im Sinne der oben beschriebenen Analogie zwischen Hospiz und Familie ahnen. Hier erscheint in der Tat eine qualitative Unterscheidung zwischen künstlichem und natürlichem Beistandssystem, zwischen „Agieren“ und „Kontakt haben“. „Kontakt-haben“ ist hier analog zu Anteilnahme gebraucht. Diese Analogführung lässt den Unterschied zwischen Agieren und Kontakt-haben nun besser fassen: Agieren kann man auch, ohne dieses Agieren notwendig auf einen Anderen auszurichten. Agieren kann gewissermaßen leer laufen. Es kann sich im Hantieren mit Gerätschaften, im Einstellen von Instrumenten erschöpfen, die zwar ihrerseits auf einen Menschen hin ausgerichtet sein mögen, die sich selbst aber nicht auf einen Anderen beziehen können. Die Ausrichtung auf einen Anderen kann nur durch einen Menschen erfolgen. Auch wenn die Justierung eines Instrumentes schließlich auf einen Menschen bezogen ist, ist mit der Ausführung der Justierung noch nicht notwendig ein auf einen Anderen bezogener Kontakt hergestellt. Genau diese Situation ist gemeint, wenn vom „instrumentellen Handeln“ der traditionellen Pflegeberufe in Krankenhäusern gesprochen wird. Deren Helferrolle wird als „undialogisch definiert“ verstanden. Eine dialogisch definierte Helferrolle im Sinne der Hospizbewegung ist ausgezeichnet durch Gegenseitigkeit, Unmittelbarkeit, Ausschließlichkeit und damit durch: Verantwortung.101 Wie kann aber Verantwortung übernommen werden, wenn gleichzeitig das Gebot des Nicht-Einmischens Gültigkeit behalten soll? Entweder wäre es eine unbedingte Verantwortung, was den Begriff ad absurdum führte, oder aber es ist eine Verantwortung gemeint, die sich nicht auf das Verhalten des Patienten bezieht, sondern auf die Gestaltung seiner lebensweltlichen Umgebung, auf seine Situation. Es ist wohl die Verantwortung für die Herstellung und Aufrechterhaltung des oben skizzierten strukturell offenen Raumes. 100 101
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.228. Ebd., S.169.
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Noch komplizierter wird die Situation, wenn gefordert wird, „dass der Beistand sowohl seine Unverfälschtheit, seine Echtheit behält, als auch sein Verhalten an der Einfühlung und weniger an der Bewertung des Verhaltens des Patienten ausrichtet.“102 Das, ernst genommen, hat zur Konsequenz, dass die Erfüllbarkeit aller drei Gebote (Nicht-Einmischung, Verantwortung, Behalt der Unverfälschtheit und Echtheit des Beistandes) davon abhängig wird, dass die Beistandsperson und der Patient zueinander passen. Und tatsächlich wird auf die passende Paarung von Patient und Beistand geachtet.103 Es ist bereits an dieser Stelle deutlich, dass die Qualität der Sterbebegleitung in hohem Maße von der Person des Beistandes abhängt. Eben dies ist bei einer Behandlung im Krankenhaus nur in viel geringerem Maße der Fall. Dort existieren möglichst genau zu verfolgende und umzusetzende Therapieanordnungen, bei denen es nebensächlich ist, wer vom Personal diese durchführt. In dieser Tatsache wiederum gründet die undialogische Helferrolle. Hospizliche Begleitung verneint nun keineswegs die instrumentell-technische Seite der Medizin, sie hält sie aber für die Sterbebegleitung für nicht hinreichend. Von den vier Dimensionen menschlicher Existenz ist durch die Schulmedizin nur die körperliche abgedeckt. Insofern alle vier Dimensionen befriedigend abgedeckt sein müssen, werden die Möglichkeiten der Schulmedizin als notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen in der Hospizpflege vorausgesetzt.104 „Hospize leben also ganz entscheidend von ihrer inneren Qualität. Das bedeutet, dass sie vor allem von der persönlichen Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben.“105
Dass persönliche Einstellungen der MitarbeiterInnen für die Hospize von größter Bedeutung sind, ist unbestritten, aber es gilt zu zeigen, dass zur Erhaltung dieser Einstellung bestimmte Voraussetzungen geschaffen sein müssen. Nachdem die Ideen, die Ideale und die selbstgestellten Anforderungen, gewissermaßen also die Theorie eines Hospizes, dargestellt worden sind, soll nun die empirische Wirklichkeit der Hospize geschildert werden. 102
Ebd., S.227. Wir kommen im Zusammenhang mit der Ethnographie von Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., darauf zurück. 104 Student gibt als ein Qualitätskennzeichen von hospizlicher Begleitung an: „Gute Kenntnisse und Fertigkeiten der Symptomkontrolle. Hier wird in Deutschland zwar immer zuerst an die Schmerztherapie gedacht. Ebenso wichtig ist aber die Behandlung anderer, das Sterben belastender Beschwerden, wie Atemnot, Verdauungsstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Juckreiz – kurz gesagt, das gesamte Gebiet dessen, was als palliative Medizin im engeren Sinne gilt.“ Johann Christof Student et al. (Hg.): Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care. München 2004, S.28. 105 Student: Was ist ein Hospiz?, a.a.O., S.33. 103
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3.3.3 Stationäre Hospize als formale Organisationen Es gibt zwischen Krankenhäusern und stationären Hospizen strukturelle Ähnlichkeiten. Beide sind formale Organisationen. Das heißt, sie müssen eine Ordnung aufweisen, die so gut wie möglich an ihre Anforderungen angepasst ist. Wenn als starker Kontrast zur Organisation eines Krankenhauses vorgebracht wird, dass dort die strategische Ausrichtung der Anforderung genügen muss, viele Patienten gleichzeitig auf dem höchsten erreichbaren Niveau zu versorgen, sodass die Begleitung eines Einzelfalles diese Ordnung schnell an ihre Leistungsgrenzen bringen kann, dass also ungeplante und nicht planbare Sterbeverläufe die Struktur des Ganzen gefährden, so besteht dieses Problem an sich auch in einem stationären Hospiz. Genau genommen besteht dieses Problem überall dort, wo es um den Umgang mit Abläufen und Verläufen geht. Diese Einsicht ist so entscheidend wie banal. Es ist vornehmlich eine quantitative Frage von Ressourcen. Denn auch in einem stationären Hospiz stehen Abläufe im Zentrum dessen, was organisiert werden muss. Eigentlich sind die Anforderungen hier noch viel größer als in einem Krankenhaus. Dort hat man als Primärziel die Entlassung des genesenen Patienten. Nach der Festlegung der Therapie ist ein Weg vorgezeichnet, der erst einmal als zielführend erachtet wird und als solcher in seinem gewünschten Verlauf auch bekannt ist. Alle weiteren auszuführenden Maßnahmen richten sich nun danach, diesen Weg möglichst nicht zu verlassen und somit den vorgegebenen Ablauf einzuhalten. Bekanntlich ergeben sich häufig Komplikationen, das heißt Störungen im Verlauf, für die aber in der Regel ein souverän beherrschtes Repertoire an therapeutischen Antworten bereitsteht. Die Komplikationen können auch derart schwerwiegend sein, dass die angesetzte Behandlungsstrategie aufgegeben werden muss. Allerdings wird sie in der Regel nicht ersatzlos aufgegeben, sondern durch eine andere ersetzt. Entscheidend ist also, dass auch dann nicht von der Überzeugung abgewichen wird, dass sich eine voraussehbare Behandlungsstrategie findet lässt, wenn bereits viele andere aufgegeben werden mussten. Es ist eine strukturelle Eigenheit der Schulmedizin, kontrafaktisch an der Planbarkeit und Beherrschbarkeit von Therapieverläufen festzuhalten.106 Sterben als prinzipiell nicht vorauszuse106
In der modernen Gesellschaft finden sich noch andere Beispiele für kontrafaktisches Reagieren: Etwa im Erstellen von und im Vertrauen auf Prognosen (Wirtschaftsprognosen und ähnlichem). Die moderne Gesellschaft ist geradezu darauf angewiesen, Prognosen kontrafaktisch zu vertrauen. Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften erfährt die moderne Gesellschaft Zukunft nicht mehr als etwas, zu dessen Deutung die Erfahrung der Geschichte Entscheidendes beitragen kann, sondern als etwas, das Folge von hier und jetzt getroffenen Entscheidungen ist. Einerseits also werden die Zukunftsperspektiven unschärfer, gleichzeitig aber steigt andererseits der Entscheidungsdruck in der Gegenwart. Prognosen führen zu einer Entlastung von diesem Druck, wobei ihre Geltung notwendig immun ist gegenüber permanenten Enttäuschungen. Auch wenn sich Prognosen wiederholt als falsch
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hender Verlauf führt diese Annahme ad absurdum und bringt damit die darauf aufbauende Ordnung einer Krankenstation durcheinander, wenn nicht zu Fall. Aber Sterben folgt natürlich auch dann keinem Verlaufsplan, wenn es sich in einem stationären Hospiz vollzieht. Hospize tragen dem Rechnung, indem sie, ihrer Idee nach, nicht versuchen, das Sterben in einen Ablauf zu zwingen. Es gibt auch keine Handlungs- oder Ablaufpflichten mehr, die einer Behandlungsstrategie geschuldet wären. Wo es keinen vorgegebenen Ablauf gibt, kann auch keine Vorgabe verfehlt werden. Aber da es ja gerade nicht vorhersehbare Verläufe sind, eben Sterbeverläufe, denen die Arbeit des Hospizes gilt, ist eine viel komplexere organisatorische Leistung zu erbringen als in einem Krankenhaus. Es ist gewissermaßen die paradoxe Situation des erwarteten Unerwarteten. Man ist darauf eingestellt, dass sich unvorhersehbare Situationen ergeben, auf die flexibel reagiert werden muss. In diesem Sinne unterscheidet sich ein stationäres Hospiz stark von einem gewöhnlichen Krankenhaus. Aber von Verlaufsschwierigkeiten an einem Ort ohne festgelegte Verläufe zu sprechen, ist nur auf der Formulierungsebene eine Paradoxie. In der empirischen Realität handelt es sich schlicht um Ressourcenprobleme. Gestört wird die Möglichkeit, die selbstgewählte Verpflichtung, jedem einzelnen Sterbenden die für ihn notwendige Zuwendung zu geben. Wählt man andere Formulierungen, wird das Gemeinte schnell einsichtig: Es kommt zu einem „Schlamassel“, zu einer unglücklichen Situation, einer Situation, in der man das nicht mehr leisten kann, für das man angetreten ist.107 Wenn im Zusammenhang mit Krankenstationen von einer Schlamasselsituation gesprochen wird, so ist eher die Konnotation des „Unzeitigen“ im Vordergrund. Da die Begleitung eines Sterbenden nicht die zentrale Aufgabe auf einer Krankenhausstation ist, führt sie dazu, zumal sie zwangsläufig unplanmäßig akut wird, dass die Aufgaben, für die die Station eigentlich ausgelegt ist, vernachlässigt werden müssen. Der Schlamassel, wenn man so sagen darf, liegt darin, dass durch die hohen Anforderungen einer Sterbebegleitung die anderen Patienten vernachlässigt werden. Schlamasselverlauf in einem Hospiz dagegen ist gut beschrieben als „prekäre Versorgungssituation“. Das Prekäre besteht dann nicht in erster Linie darin, dass die bestehenden anderen Aufgaben vernachlässigt würden, sondern darin, dass das Ziel, welches man bei der betreffenden Person verfolgt, nicht erreicht wird.
herausstellen, lässt die Notwendigkeit der Orientierung in der Gegenwart zum Vertrauen in eine neue Prognose keine Alternative zu. Vgl. hierzu Alois Hahn: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Opladen 2003. 107 Schlamassel: von jiddisch Schlimásl, Schlemásl: Pech. Aus den Bestandteilen: Schli/Schle für nicht gut / schlecht und Másl (hebr. Masál): Sternzeichen, Gestirn, Glücksstern, Glück. Vgl. Leo Rosten: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie, München 2002, 528ff.
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Dreßke beschreibt in seinem Feldbericht den Fall einer Frau Ellwanger.108 Sie ist eine Patientin mit einem Hirnkarzinom und wird von den Pflegekräften als „aufwendige Person“ beschrieben, weil sie viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Verlaufe ihres Aufenthaltes verschlechtert sich ihr Zustand zusehends. Sie erkennt bei sich selbst eine „Jammerdepression“ und gerät in einen Zustand stärkster Unruhe. Ihr Wach-Schlaf-Rhythmus wird völlig unregelmäßig und sie betätigt mit extremer Häufigkeit die Notrufklingel. Was die Pflegekräfte belastet, ist die Tatsache, dass alle durchgeführten Linderungsmaßnahmen keinen Effekt zeigen. Sie leiden mit Frau Ellwanger: Schlamassel als Unglück, weil man den Zweck seiner Tätigkeit nicht erfüllen kann. Diese Situation des prekären Betreuungsverhältnisses hat aber, wie von Dreßke berichtet wird, noch eine andere Dimension, die sowohl in ihrer Interpretation als auch in ihrer Beantwortung an die Schlamasselsituation im Krankenhaus erinnert. Ihr, sich in der Notruffrequenz zeigendes, enorm gesteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis wird von den Pflegekräften zusehends als Gefährdung der ruhigen Atmosphäre empfunden. Dies allerdings bezieht sich auf die anderen Patienten des Hospizes, die dieser Atmosphäre bedürfen. Hier wird nun auch das Verhalten eines einzelnen Patienten in einen Sanktionszusammenhang gestellt, der sich aus der Sorge um die Mitpatienten legitimiert sieht. „Im Prinzip muss der Fall von Frau Ellwanger als ein Schlamasselverlauf gedeutet werden. Ihre ständige Unruhe und ihre Suizidabsichten stören das Gebot des ruhigen Arbeitens. Frau Ellwanger installiert eine Ordnung der Dringlichkeit, obwohl es nicht um Rettung oder gar Genesung gehen kann. Demzufolge treten Disziplinierungsversuche in Kraft. Es werden Beruhigungsmittel gegeben, deren größte Wirksamkeit sich nur durch die Infusion entfalten kann. Damit ist es trotz der Suizidabsicht fast unabdingbar, dass eine neue Nadel gelegt wird. An dieser Stelle entscheiden sich die Pflegekräfte zwischen dem Risiko durch unablässige Unruhe oder einem möglichen Suizid für die größtmögliche Ruhe.“109
Man traut seinen Augen kaum. Da es keinen erkennbaren Grund gibt, in Zweifel zu ziehen, dass der Ethnograph hier genau das zu Papier gebracht hat, was er zu Papier bringen wollte, dokumentiert das Zitat Ungeheuerliches: Die Sicherung des ruhigen Arbeitens wird als so wichtig eingestuft, dass ein möglicher Selbstmord (Dreßke schreibt nicht: ein möglicher Suizidversuch!) in Kauf genommen wird. Es wird allerdings der personale Einsatz mit dem Ziel des Beobachtens und Aufpassens erhöht.110 108
Vgl. Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.80ff. Ebd., S.81. 110 Vgl. ebd. 109
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„Die Geschichte von Frau Ellwanger ist also die eines prekären Verlaufs, der Einbrüche in Versorgungsroutinen und des Schlamassels. Ihr wird mit den Praktiken des Disziplinierens, Beruhigens und Aufpassens begegnet. Es ist die Geschichte eines professionellen Pflegearrangements, bei dem es darum geht, Defizite, Störanfälligkeiten und Gefahren zu antizipieren, aufzuspüren und zu beseitigen.“111
Dies ist nicht das einzige ausführlich verzeichnete Beispiel für eine „Güterabwägung“, wie man sie nach Lektüre der einschlägigen Hospizlehrbücher nicht erwartet. Auch am Falle von Frau Montag lässt sich sehen, wie die Verabsolutierung eines an sich sinnvollen Gebotes einen Effekt produziert, der in strengem Gegensatz zu zentralen Grundsätzen einer Hospizstation steht. Das Gebot lautet: „Es darf keine Hektik aufkommen.“ Man will ihr eine Atmosphäre präsentieren, die sich unterscheidet von der keine Ruhe zulassenden Betriebsamkeit der Krankenhausstation. Allerdings ergibt sich eine Situation, in der eine ruhige Atmosphäre nicht durchzuhalten ist. Da Frau Montag einen Anfall von Atemnot erleidet, schließt der Pfleger eine Sauerstoffflasche an, die sich aber sehr bald als leer herausstellt. Daraufhin erleidet Frau Montag eine Panikattacke. In der Schilderung von Dreßke offenbart sich aber eine absurd anmutende Beurteilung der Situation durch den Pfleger. Dieser resümiert, dass so etwas nicht passieren dürfe, meint aber damit, dass man eine solche Panikattacke um der ruhigen Stimmung willen vermeiden müsse: „Interessant erscheint an diesem Beispiel, dass sich das Handeln nicht explizit auf die Beherrschung der Atemnot richtet, sondern auf die Herstellung einer „ruhigen Stimmung“, die als Gefühlsregel für das Hospiz gelten kann. Der Skandal im Falle der Patientin Frau Montag liegt (es ist wohl gemeint: aus Sicht der Hospizpflegekraft, M.H.) nicht in den unzureichenden Vorkehrungen für die Beherrschung der Atemnot, vielmehr werden durch die Panik der Patientin die Gefühlsregeln ‚ruhige Stimmung’ und ‚ruhiges Arbeiten’ verletzt.“112
3.3.4 Stationäre Hospize als totale Institutionen? Es sei trotz aller Unterschiede festzuhalten, resümiert Dreßke, „dass auch das Hospiz eine im Sinne Goffmans totale Institution ist.“113 Ein gewichtiger Unterschied besteht zweifelsohne darin, dass niemand gezwungen werden kann, in 111
Ebd., S.82. Ebd., S.55 Ebd., S.91. Zum Begriff der „totalen Institution” vgl.: Erving Goffman: On the Characteristics of Total Institutions, in: ders.: Asylums. Essays on the social situation of mental patients and other inmates, New-York 1962, S.1-124. Im Kapitel „Der soziale Tod“ kommen wir darauf zurück
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einem stationären Hospiz zu bleiben. Schon Else Ephrem Lau114 hat in einer Krankenhausethnographie aus den 70er Jahren darauf hingewiesen, dass Charakteristiken totaler Institutionen in solcher Drastik wie bei Goffman bei ihren Studien in Krankenhäusern nicht zu beobachten waren.115 Auch Dreßke verweist auf die eher in milder Form auftretenden Ähnlichkeiten zwischen stationärem Hospiz und harten totalen Institutionen (Gefängnisse und Psychiatrien). Im Gegensatz zu diesen ist es gewollt, dass Patienten persönlichen Kontakt zum Personal haben und zwar auch in dem Sinne, dass die Intensität des Kontaktes nicht zu jedem Mitglied des Personals gleich groß ist. Wie Dreßke berichtet, ist dies keine Seltenheit und es „wird als Zeichen des Erfolgs angemerkt, wenn auf den Übergaben berichtet wird, dass sich ein Patient ‚auf Schwester Norma freut’. Unter Umständen verbringt eine Pflegekraft mit dem Patienten zwei bis drei Stunden pro Schicht. Während der Pflegetätigkeiten kann sich für den Patienten ein intensiver Kontakt entwickeln. Ein Aspekt dieser Beziehungen zwischen Patient und Pflegekraft ist, dass der Inhalt der Gespräche ‚im Zimmer bleibt’, wie Pflegekräfte es selbst formulieren. Auf diese Weise wird eine Charakteristik totaler Institutionen abgemildert, nämlich, dass die Patienten gegenüber allen Mitgliedern des Personals gleichermaßen eine Art variationslose Gesamtpersönlichkeit zeigen.“116
Patienten können somit ihre Persönlichkeit differenziert darstellen. Was zwischen ihnen und einem Mitglied des Personals gesprochen wird, ist damit nicht automatisch jedem anderen Personalmitglied bekannt. Auf die Anbahnung solch persönlichen Kontaktes wird ab der Aufnahme in das stationäre Hospiz hingearbeitet. Die Pflegekräfte tauschen sich bewusst untereinander darüber aus, zu welchem der Patienten wer vielleicht einen besonders guten „Draht“ hat und derjenige übernimmt dann soweit als möglich allein die Betreuung des betreffenden Patienten, so dass „Nähe zum Patienten“ zu einer „Arbeitsressource“ wird117. Auf die beträchtlichen Gefahren, die in dieser Ressource lauern, kommen wir weiter unten zurück. Die für Goffman wichtige Charakteristik totaler 114
Else Ephrem Lau: Tod im Krankenhaus. Soziologische Aspekte des Sterbens in Institutionen, Köln 1975. 115 „Totale Institutionen sind für Goffman – so eine seiner Thesen – soziale Umwelten, in denen Persönlichkeiten verändert werden (...) Die Berechtigung dieser These in der Anwendung auf die Situation des Sterbenden im Krankenhaus läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nur mangelhaft nachprüfen. Allerdings kann gesagt werden, daß sich Praktiken, die Goffman für Anzeichen eines ‚Diskulturationsprozesses’ hält, im Krankenhaus durchaus finden lassen, wenn auch nicht so ausgeprägt, wie etwa in dem von Goffman zum Ausgangspunkt genommenen Beispiel der psychiatrischen Klinik.“ Ebd., S.44. 116 Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.75. 117 Vgl. Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.115.
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Institutionen, die fundamentale Trennung zwischen Insassen (Patienten) und Personal, soll bewusst überwunden werden. Eine direkte Konsequenz aus der Tatsache, dass auch stationäre Hospize formale Organisationen sind, zeigte sich bereits oben in der Anwendung disziplinarischer Maßnahmen. Wenn es zu einer formalen Organisation gehört, dass sie sich eine Ordnung gegeben hat, deren Einhaltung ihrer Anpassung an die gestellten Anforderungen geschuldet ist, hat sie auch ein Interesse daran, Störungen dieser Ordnung zu ahnden und abzustellen (s. oben den Fall Frau Ellwanger). 3.3.5 Arbeit im stationären Hospiz: Notwendigkeit der Inszenierung Wenn man zu einer Hospizkraft sagte, dass ihr Handeln in der Sterbebegleitung einer Inszenierung folge, wäre sie vermutlich nicht sehr erfreut. Warum eigentlich? Vermutlich deshalb, weil Inszenierung als „jemandem-etwas-vorspielen“ verstanden wird. Spielen aber heißt: unernst sein, etwas nicht so meinen, wie es scheinbar gemeint ist. Hinter dem Schein gibt es ein anderes Sein. Die Dinge lägen noch schlimmer, wenn man sie nach der Theatralität ihrer Handlungen fragte. Eine der ehernen Säulen, auf denen die zeitgemäße Hospizarbeit ruht, ist die Wahrhaftigkeit der Hospizkraft im Umgang mit den Sterbenden. Dem Gegenüber nichts vormachen, an seiner Situation nichts beschönigen und sein Hadern, seine Furcht und seine Wut angesichts des nahen Todes ernst nehmen und ertragen, sie zulassen anstatt sie zu bekämpfen und nicht davor ausweichen - das alles fordert wahrhaftiges Verhalten. „Werte wie Selbstbestimmtheit, Bewusstheit und Individualität, das Fördern aktiven Erlebens und reflexiver Bezüge auf die eigene Situation und Biographie bestimmten die Atmosphäre in der Pflege im Hospiz am Stadtwald.“118
Auf den ersten Blick scheint hier nichts ferner zu liegen als eine Theatralisierung des Umgangs mit dem Sterbenden. Inszenierung und Theatralisierung müssen so als Verrat an den Idealen der Hospizbewegung erscheinen. Aber auch hier ist zu fragen: Gibt es ein Sein hinter dem Schein? Hospizliches Handeln ist naturgemäß soziales Handeln. Denn soziales Handeln ist nach dem berühmten Wort Webers „ein solches Handeln (...), welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a nder er bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“119 Das eigene Tun am Anderen, am Patienten, zu 118
Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S. 191. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte und erweiterte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (zuerst 1922), S.1.
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orientieren, gilt auch zentral für die Hospizbewegung: „Wenn wir einen würdigen Lebensraum für Sterbende in unserer Gesellschaft schaffen wollen, dann müssen wir unser Tun an den Wünschen der Sterbenden selbst orientieren.“120 Vermutlich hat das „soziale“ in Webers Definition nicht die normative Implikation des Helfens, und es ist hier nicht das Handeln der Sozialarbeiter heutiger Tage gemeint. Es ist eine Form des Alltagshandelns, die inhaltlich nicht weiter bestimmt ist. Dennoch scheint einem Weber in unserem Kontext hier fast als ein Hospiztheoretiker „avant la lettre“. In einem Lehrbuch zu Hospiz und Palliative Care liest man: „Der sterbende Mensch und seine Angehörigen stehen im Zentrum des Hospizdienstes. Das bedeutet, dass die Kontrolle über die Situation ganz bei den Betroffenen liegt. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu herkömmlichen Institutionen des Gesundheitswesens, die viel eher das Handeln nach abstrakten Therapiekonzepten oder Krankheitsvorstellungen ausrichten.“121
Das Handeln des Hospizhelfers richtet sich, wörtlich, nach dem Verhalten des Anderen, also des Patienten. Hospizliches Handeln balanciert aber immer auf dem schmalen Grat zwischen struktureller Offenheit der Situation und der Tendenz, allzu strikt an normativen Erwartungen fest zu halten. Dass diese Gefahr besteht, liegt wohl im nicht völlig zu unterdrückenden Bedarf nach Erwartungen, die eine offene Situation dennoch irgendwie strukturieren helfen und sie erwartbar werden lassen. „So ermöglichte das andauernde Ansprechen selbst halb komatöser Patientinnen, auch den kleinsten Hinweis auf mögliche Wünsche und vielversprechende Narrativierung aufzunehmen – beim ersten Anzeichen von Herrn Krieger hätte ich ihm mehr oder andere Kekse geholt, ihm mehr Kaffee gegeben oder irgendeinen anderen Wunsch von ihm verfolgt, wenn er nur einen geäußert hätte.“122
Es ist deshalb ein schmaler Grat, weil die Umsetzung in ein Verhalten immer schnell Gefahr läuft, in einen instrumentellen Aktionismus umzukippen. Eschenbruch formuliert, wohl als ein Ergebnis seiner Feldstudien, das Grundanliegen der Hospizpflege so: „den sozialen Tod, das Ende aller bedeutungsvollen Beziehungen, soweit wie möglich hinauszuzögern, und ihn idealerweise nicht vor dem biologischen Tod stattfinden zu lassen.“123 Noch immer ist hier das Gebot gewahrt, sich in das Sterben nicht einzumischen, denn analog zum sozialen Tod ist 120
Student: Was ist ein Hospiz?, a.a.O., S.21f. Student: Soziale Arbeit in Hospiz und Palliative Care, a.a.O., S.28. 122 Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.199. 123 Ebd. 121
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es hier das soziale Sterben, das vermieden werden soll. Keineswegs soll das biologische Sterben aufgehalten oder manipuliert werden. Solange der Patient noch lebt, geht es um die Aufrechterhaltung einer dialogischen Situation: „Durch mein Verhalten konstruiere ich aktiv kommunikative und praktische Situationen, in denen es möglich ist, ihn (den Patienten, MH) nicht als sozial tot zu behandeln.“124 Das Problem, die Nicht-Einmischungs-Regel einzuhalten, stellt sich aber schnell, weil diese konstruierten kommunikativen und praktischen Situationen auch bedeuten, dass man den Patienten zu etwas ermuntern will, zu etwas aktivieren will, was dieser von sich aus nicht mehr täte. Der Verlust der Lebenswelt des Patienten, dem man sich entgegenstellen will, ist in den von Eschenbruch gegebenen Beispielen primär ein Verlust an aktivem Tun. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Aufrechtherhaltung von Handlungsfähigkeit unstrittig begrüßenswert ist. Die Frage ist nur, wieviel man den Patienten zumutet, bis sich herausstellt, ob in diesem Punkt der Verlust der Lebenswelt noch etwas aufgehalten werden kann oder nicht. Von vornherein lässt sich das nicht ohne weiteres sagen. Hier ist Erfahrung entscheidend: „Wenn es im Hospizkontext bei der Narrativierung darum ging, sich dem unabwendbaren Verlust der Lebenswelt von Patientinnen noch eine Weile entgegenzustellen, dann illustriert diese Geschichte auch, dass Erfahrung und Urteilsvermögen notwendig waren, um eine Situation korrekt einzuschätzen und den richtigen Handlungsverlauf zu entwerfen und durchzuführen.“125
Liegt eine Fehleinschätzung vor, werden also Bemühungen gestartet, den Patienten zu aktivieren und müssen diese nach einigen Anläufen eingestellt werden, weil der Patient eben doch nicht mehr dazu in der Lage ist, dann ist eine Situation hergestellt, die derjenigen in den Kliniken nicht unähnlich ist, in der wiederholt Maßnahmen angesetzt werden in der Hoffnung, noch etwas zu bewirken. Ein gewisses Maß an Hartnäckigkeit ist notwendig, wenn man sich dem Verlust an Lebenswelt entgegenstellen will. Nur läuft man schnell Gefahr, die Aktionen zu einem Selbstzweck werden zu lassen. Eschenbruch beschreibt Situationen, die man durchaus als übergriffig bezeichnen könnte, wenn man für einen Augenblick die Intention der Pflegekräfte vergisst: „Sie wollten mehr von Herrn Tanner, nämlich, dass er ein Frühstück genieße, wie er es normalerweise tat. Er sollte aus seiner Gleichgültigkeit herausgelockt werden. (...)“126
124
Ebd. Ebd., S.198. 126 Ebd., S.195. 125
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Das gegebene Beispiel stößt sicherlich auf Verständnis beim Hörer: Was soll an einem Genuss eines Frühstückes schlecht sein, zumal, wenn dies den einstigen Gewohnheiten entspricht? Aber, so könnte man fragen, mit welchem Recht eigentlich wird die Gleichgültigkeit von Herrn Tanner als nicht hinnehmbar angesehen? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, von dem ab man ernstmacht mit dem Vorsatz, sich ganz und ausschließlich nach den Wünschen des Patienten zu richten? Die Hospiztheoretiker haben hier keine einheitliche Position. Es wird deshalb nicht selten der naheliegende Vorwurf artikuliert, dass die Wünsche der Patienten dann akzeptiert werden, wenn sie in Einklang stehen mit den Vorstellungen der Sterbebegleiter, im anderen Falle aber, vorgeblich im Interesse des Patienten, gegen deren Wünsche gehandelt wird oder diese nicht umgesetzt werden. Angesichts mancher Formulierungen hat man den Eindruck, dass es sich um wohlklingende Leerformeln handelt. Etwa in der interessanten Unterscheidung von tatsächlicher Bedürftigkeit und Bedürfnis: „Wenn nun tatsächlich Bedürftigkeit besteht, muss ohne Bedenken eine Befriedigung erfolgen. Bedürftig ist jemand, der einen erkennbaren Mangel leidet und die Behebung dieses Mangels braucht zur Sicherstellung seiner körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit. (...), oberhalb der tatsächlichen Bedürftigkeit besteht aber für niemanden ein rechtlicher oder sittliche Zwang, dem geäußerten Bedürfnis zu entsprechen.“127
Im zitierten Falle ist dies unter anderem darauf bezogen, dass manche Menschen sich nach der Gegenwart ihrer Haustiere sehnen, man aber dennoch die Hospizeinrichtung nicht zu einem Tierasyl umfunktionieren könne, um dieser Sehnsucht, diesem Bedürfnis des Patienten nachzukommen. Unter Verweis auf die strukturellen äußeren Zwänge wird diesem Bedürfnis nicht nachgegeben. Die Gefahr, bestimmte normative Orientierungen beim Patienten vorauszusetzen oder sie als unverzichtbar zu erachten, zeigt sich aber dort, wo der Grund für die Zurückweisung einer Bedürfnisbefriedigung nicht in strukturell-äußeren, sondern in normativen Überzeugungen liegt. Dazu heißt es im gleichen Lehrbuch wenige Zeilen weiter: „Es kann sein, dass schwerkranke Kinder oder auch Erwachsene nach vielen Spielsachen in ihrem Bett verlangen; aber gerade diese können auch eine Ablenkung vom Ernst der Situation sein und einem falschen „Luxus“ dienen.“128
127 128
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.184. Ebd.
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Es scheint fast zynisch, den Wunsch nach Spielzeug angesichts des Todes als „falschen Luxus“ zu bezeichnen. Ihre Erklärung findet eine solche Position in einem „übergeordneten Interesse“. Dieses misst sich an der Übereinstimmung mit der anthropologischen Bedingtheit des Menschen. Allerdings ist diese hier theologisch konnotiert: „Dieses übergeordnete Interesse ist die Übereinstimmung mit der allgemeinen Bestimmung des Menschenwesens gegenüber sich selbst und gegenüber seinem Gott.“129 Nicht jeder Patient aber ist stimmt einer solch gläubigen Position zu. Wenn auch in der Hospizbewegung von der Helferrolle zu der dialogisch definierten Rolle des Freundes übergegangen werden soll130, so kann auch das nicht verhindern, dass die Dialogbereitschaft von Patientenseite nicht angenommen wird oder angenommen werden kann. Auch der Ansatz der therapeutischen Narrativierung131 findet seine Grenzen an einem Patienten, der zur Kooperation nicht fähig ist. Die Frage, ob er nicht fähig oder nicht willens ist, lässt sich eben nur sehr schwer entscheiden oder ist gar nicht entscheidbar. Selbst in reflektierten Situationen, etwa dort, wo ein Forscher teilnehmende Beobachtung treibt, schimmert ein Überbleibsel von der Versuchung durch, eine Situation instrumentell abzuarbeiten, wie im zitierten Beispiel im Falle von Herrn Krieger, den man gerne mit Kaffee und Keksen bedient hätte, wenn er nur irgendwie einen Wunsch danach geäußert hätte. Da es keine festen, per se richtigen Phasenverläufe des Sterbens gibt, kann auch vorher nie sicher gewusst werden, ob eine Offerte zur Rekonstruktion der Lebenswelt des Patienten zu einem „Happy-End“ im Sinne Eschenbruchs132 führt oder nicht. Man wird sich hier die Augen reiben: Happy-End und Offerten? Angesichts des eingangs zitierten Gebotes, sich nicht einzumischen, scheint man sich hier davon erheblich entfernt zu haben. Es werden Offerten gestartet, man versucht, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen und konstatiert einen Erfolg, wenn Herr Krieger doch wieder am Mittagessen teilnehmen kann. Aber in der Tat ist das ein Erfolg und es wäre widersinnig und nachgerade inhuman, solches um des Gebotes der NichtEinmischung willen nicht zu realisieren. Allein: Ob etwas zu einem Erfolg wird oder nicht, lässt sich nur in der Rückschau feststellen. Die nüchterne Einsicht des 129
Ebd. Vgl. dazu generell ebd. 131 „Therapeutische Narrativierung“ ist Eschenbruchs Übersetzung des Ausdrucks „Therapeutic Emplotment“ von Cheryl Mattingly. Im Kern geht es bei diesem Konzept darum, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen, den Alltag in Geschicht(ch)en einzubauen, um über eine solcherart erreichte Strukturierung der Zeit die Patienten wieder zu Handlungen anzuregen, von denen sie glaubten, nicht mehr zu ihnen fähig zu sein. „Die Narrativierung der chronologischen Zeit zu Erzählzeit macht Veränderung und bedeutsame Erfahrung möglich und verstärkt das Wünschen nach mehr Veränderung und Erfahrung.“ Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.193. 132 vgl. Eschenbruch: Therapeutische Narrativierung, a.a.O., S.196. 130
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Lehrbuchs in die Unvermeidbarkeit des menschlichen Loses kann eben in der Situation der Sterbebegleitung nur allzu leicht aus dem Blick verloren werden. „Das aber bedeutet auch, dass wir bei aller „Kunst“ (ars moriendi) dem Sterbenden eigentlich doch nichts ersparen können; der „Fluch der Unausweichlichkeit“ kann nicht wegdiskutiert oder wegtherapiert werden: „Wir sind allesamt zum Tod gefordert und wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person wird mit dem Tod kämpfen.“ (Martin Luther) Es wäre eine Illusion für den Sterbebeistand, wenn er den Sterbenden glauben machen möchte, es könnte ihm gelingen, das Unangenehme angenehm, den Fluch in Segen, alle Erschütterungen umzugestalten. Hier entsteht hektische und sinnlose Betätigungswut oder Betriebsamkeit für hochqualifizierte Arbeitslose, die einer Illusion nachrennen wegen einer Idee, die letztlich doch nur jenseits menschlicher Verfügung erfüllt werden kann.“133
Dreßke beschreibt das Hospiz als ein „Labor guten Sterbens“. 134 Von diesem Labor werden von der Gesellschaft Erfolge erwartet. Nach Dreßke sind die Hospize mit einem ideologischen Überschuss ausgestattet und das heißt auch: belastet. Von zwei Seiten bestehen Erwartungen: seitens der Patienten und Angehörigen sowie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Ohnehin sieht Dreßke die Hospize als Ergebnis der Medizinkritik und in der Stellung des Garanten für ein gutes Gewissen der Gesellschaft gewissermaßen als Feigenblatt und als immerwährend möglicher Verweis darauf, dass die Gesellschaft sich um die Situation der Sterbenden kümmert.135 Der „Abgrund“ lauert auch hier: Als Ergebnis dieses Druckes gerät das Hospizpersonal unter den „Zwang“ (jedenfalls der eigenen Empfindung nach), seine „Leistung“ zu dokumentieren. Einerseits nach innen, das heißt für die Patienten, Dreßke spricht von „Inszenierungsleistungen“, um den Patienten deutlich zu machen, dass etwas für sie getan wird, auch wenn es nicht (immer und sofort) zu sehen ist. Hier spiegelt sich der oben beschriebene Umstand, dass „Sich-nicht-Einmischen“ nicht gleichzusetzen ist mit Passivität. Aber wie erwähnt, fehlt die Möglichkeit, durch das technische Abarbeiten einer Situation zu dokumentieren, dass man kompetent zu handeln versteht. „Nicht mehr das Dringlichkeitsgebot ist leitend, sondern die Aufnahme umfassender Bedürfnisse des Patienten unter der Rubrik der ganzheitlichen Betreuung. (...) Damit steht das Hospizpersonal allerdings vor dem Problem, wie es seine gute Arbeit gegenüber dem Patienten repräsentieren kann. Im Krankenhaus ist das Vermögen, prompt und sicher zu reagieren, das 136 Professionalität kennzeichnende Kriterium.“
133
Rest: Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, a.a.O., S.277. Dreßke: Sterben im Hospiz, a.a.O., S.7. 135 Ebd., S.7ff. 136 Ebd., S.55. 134
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Die große Leistung liegt in der Aufspannung und Aufrechterhaltung des hospizlichen Raumes. Dieser muss immer neu aufgespannt werden und ist ständig von Labilität bedroht. Ist er aufgespannt, zeigt er sich in seinen Auswirkungen, wenn das „gute Sterben“ gelingt. In nicht-akuten Phasen, die es sehr wohl auch im Hospiz gibt, bleibt er gewissermaßen unsichtbar. 3.3.6 Die Ressource „Nähe“ als Problem Die Nähe zu den Patienten wird von den Pflegekräften aus dem Grund gesucht, weil so die individuellen Bedürfnisse und Probleme der Patienten besser erkannt und bearbeitet werden können. Sie ist deshalb eine Arbeitsressource.137 Allerdings birgt sie auch die Gefahr in sich, dass die zugelassene Nähe in einen unkontrollierbaren Distanzverlust übergeht. Sie ist daher „zentrales Merkmal und Problem in der Pflege und Sterbebegleitung (nicht nur) in stationären Hospizen.“138 Sobald keine Distanz mehr zum Patienten gewahrt bleiben kann, kann ihm auch kein Beistand mehr geleistet werden, weil dann die „Überlegenheit über das Leiden verloren geht.“139 Die Rollen desjenigen, der Beistand gibt und desjenigen, der Beistand erfährt, sind hier eindeutig verteilt und eine Umkehrung soll mit allen Mitteln ausgeschlossen werden. Gleichwohl kann eine solche Umkehrung der Rollen in einer Situation vorkommen, denn die Dialektik der Ressource „Nähe“ besteht ja gerade darin, dass das Einfühlungspotential zunimmt in dem Maße, wie die Gefahr des Umkippens in Distanzverlust wächst.140 Hinzu kommt, dass die Hospizhelfer sich nicht nur einer zugelassenen Nähe aussetzen sollen, die zu einer unter Umständen zu engen Bindung zum Patienten führen kann, sondern es sind ihnen keine Möglichkeiten gegeben, in einer dramatischen Situation ihre emotionale Aufgewühltheit durch technischinstrumentelles Handeln (auch im Sinne einer Leerlaufhandlung, siehe oben) zu kompensieren, wie dies die technisch dominierten Krankenhausstationen bieten. Was im Krankenhaus in solchen Situationen als sogenanntes Notfallhandeln abläuft, wird im Hospiz unter der Maxime des „Zulassen statt Bekämpfen“ durch 137
Vgl. Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.115. Ebd., S.104. 139 Streckeisen: Die Medizin und der Tod, a.a.O., S.91, Fn.87. 140 Darin der berühmten „Paradoxie der Machtsteigerung“ ähnlich. Wenn der Herr seine Macht steigern will, muss er dem Knecht einen Zuwachs an Kompetenzen zugestehen. Mit jedem Machtzuwachs des Knechtes wiederum aber wird der mögliche Einsatz der Machtmittel gegen den Herrn immer verheerender. Vgl. dazu Alois Hahn: Herrschaft und Religion, in: Joachim Fischer und Hans Joas (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main/ New York 2003, S.331-346. 138
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existentielle Nähe ersetzt. 85 Prozent der Pflegekräfte in unserer Umfrage hatten das einfache „da-sein“ zur guten Sterbebegleitung gezählt. Hier also taucht es im realen Hospizkontext auf. Aber man sieht direkt, dass das Beiwort „einfach“ sehr leicht täuschende Konnotationen heraufbeschwört. Denn in der Tat ist die „Pflegekraft (...) jenseits ihres Berufs als ein Mensch gefordert, der bleibt und nicht geht“141, aber andererseits muss sie sich der nicht zu unterschätzenden Gefahren dieser existentiellen Nähe bewusst sein, die einen nur allzu schnell in emotionale Situationen und Problemzonen bringen, für die man nicht so ohne weiteres gerüstet ist und die mit Alltagserfahrungen von Nähe nur wenig mehr gemeinsam haben. Das Auftauchen solcher Probleme muss möglichst frühzeitig erkannt und es müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Die täglichen Übergabegespräche haben neben dem Informationsaustausch über die Patienten die eminent wichtige Funktion, auch die (psychisch-emotionale) Situation der Hospizhelfer zu reflektieren. Sei es, dass die entsprechende Person von sich aus ihre Schwierigkeiten benennt oder sei es, dass sie von ihren Kollegen auf etwaige Vermutungen hin angesprochen wird. In ihrer Arbeit zur Beziehungsdynamik in stationären Hospizen stellt Christine Pfeffer drei Strategien der Kontrolle von Nähe vor: „Drei Strategien lassen sich identifizieren, die den Pflegekräften eine Distanzierung innerhalb einer Beziehungsordnung der Nähe erlauben und es ihnen ermöglichen, Nähe zu Patienten zu kontrollieren, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen oder zu vermeiden: Tauschen als erwünschter Betreuungsabbruch, Distanz durch Abstraktion und Rekonzentration auf die Physis.“142
Die radikalste Maßnahme stellt der Betreuungsabbruch dar. Ebenso wie zu Beginn einer Sterbebegleitung passende Paarungen gesucht werden, werden diese Paarungen wieder gelöst, wenn die Situation für die betreuende Person nicht mehr zu bewältigen ist. Der Abbruch einer Betreuung ist selbst eine schmerzliche Entscheidung, da er einen Abschied von einer Person bedeutet, zu der nunmehr eine (zu starke) Nähe aufgebaut worden ist und weil es bedeutet, dass man nun das Ziel der Betreuung, das einzige Ziel der ganzen Sterbebeistandsarbeit, die Betreuung des Patienten bis zu seinem Tod, hat aufgeben müssen. Auch diese Situation ist eine Schlamasselsituation im obigen Sinne. „’Tauschen’ ist deshalb für viele Pflegekräfte eine emotionale Notbremse.“143 Zur zweiten Strategie führt Pfeffer aus, dass sie einen Versuch darstelle, die Arbeit rational zu durchdringen und somit eine Distanzierung zu gewinnen. 141
Pfeffer: „Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie ich da reingezogen wurde“, a.a.O., S.110. (Hervorhebung MH) 142 Ebd., S.119. 143 Ebd., S.120.
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„Diese Distanzierung durch Abstraktion ist eher ‚Distanz im Kopf’ als ‚Distanz am Bett’. Es ist eine Bewältigungsstrategie, die gleichzeitig retrospektiv wie antizipatorisch ausgerichtet ist, denn sie ermöglicht es, die derzeitigen Beziehungen zu kontrollieren und nimmt gleichzeitig schon zukünftige Beziehungen in den Blick. Diese Strategie hilft, zu verhindern, dass sich etwas ‚verknotet, verknäult und zum Kloß’ wird, wie es diese Krankenschwester beschreibt. Nur wenn es gelingt, emotionale Verstrickungen zu verhindern, kann auch dem nächsten Patienten wieder Nähe angeboten werden.“144
Die „Rekonzentration auf die Physis“ als dritte Distanzierungsstrategie führt wieder nahe an das Phänomen eines technisch-instrumentellen Abarbeitens einer Situation. Im gegebenen Beispiel konzentrieren sich die Pflegekräfte wieder und wieder auf die Behandlung eines durch langes Liegen entstandenen Druckgeschwürs, „das für den Patienten allerdings nicht beeinträchtigend war, denn er war bewusstlos und stand unter Schmerzmitteln. In langfristiger Perspektive war diese offene Stelle ebenfalls zu vernachlässigen, denn es gab schlicht keine langfristige Perspektive mehr.“145
Strukturelle Offenheit und existenzielle Nähe liegen unvermeidlich sehr nahe beieinander, sie bedingen sich vielleicht sogar gegenseitig. In dieser existenziellen Nähe verbirgt sich aber ein Gefahrenpotential, das die Bedingung der Möglichkeit vernichten kann, den strukturell offenen Raum zu erhalten. Um diesen offenen Raum auf der Vorderbühne zu erhalten, müssen kontinuierlich auf der Hinterbühne Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden. Unter Umständen fällt dort auch die Entscheidung, das Offenhalten des hospizlichen Raumes und die Arbeit auf der Vorderbühne an einen anderen abzugeben.
144 145
Ebd. (Hervorhebung im Text, MH) Ebd., S.121.
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Montaigne: Philosophie und Soziologie „Montaigne hat gesagt, dass das Alter den Menschen jeden Tag ein bisschen mehr reduziert und der Tod nur noch ein Viertel oder die Hälfte eines Menschen dahinrafft. Montaigne starb mit 59 Jahren und konnte sich zweifellos keine Vorstellung machen vom extremen Alter, in dem ich mich heute befinde. In diesem hohen Alter, das ich nicht zu erreichen dachte und das eine der merkwürdigsten Überraschungen darstellt, habe ich das Gefühl, ein zerstörtes Hologramm zu sein.“ Claude Lévi-Strauss (1908-2009)
Denkt man darüber nach, warum sich nur noch 20 Prozent unserer Befragten vor dem Tod fürchten und lässt für einen Augenblick einmal außer Betracht, dass aber 80 Prozent sich vor dem Sterben fürchten, dann könnte man für den nämlichen Augenblick dem Reiz des Gedankens verfallen, die Menschen seien nun auf dem Niveau philosophischer Einsichtigkeit angelangt, das die klassische meditatio mortis seit langem propagierte. Man muss allerdings der bereits beschriebenen Situation eingedenk bleiben, dass es über Jahrhunderte hinweg eigentlich keinen Unterschied machte, ob man über den Tod oder über das Sterben sprach, eben weil beide nahe beieinander lagen. Dennoch zeigen sich auf den zweiten Blick auch schon in den frühen Überlegungen gewissermaßen Repliken auf Kritikpunkte oder Vorwürfe, die sich auf die Frage beziehen, ob nicht doch zwischen Tod und Sterben unterschieden werden müsste, wenn man über die Angst philosophiert, die für den Menschen von der Vorstellung seines eigenen Todes ausgeht. Der Tod, so heißt es im berühmten Spruch Epikurs, könne uns keine Angst machen, denn er gehe uns nichts an. Epikurs Überzeugung gründet sich auf die stimmige Annahme, dass alles Üble auf Empfindungen beruhe und daher derjenige, der keiner Empfindung mehr fähig sei, deswegen auch kein Übles erleiden könne. „So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.“146
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Epikur: Brief an Menoikeus. Zitiert nach: Epikur. Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften übersetzt, erläutert und eingeleitet von Johannes Mewaldt, Stuttgart 1973, S. 40-42.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Den Einwand, der Tod mache aber doch bereits während des Lebens Sorge und Angst und bereite deshalb (durchaus empfindbare) Schmerzen, weist Epikur zurück, da nur ein Tor behaupten könne, „daß etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird!“ 147
Epikurs Ausspruch ist berühmt und verdient eine ernsthafte Analyse, zumal auch heutzutage noch in der thanatologischen Literatur auf ihn als grundlegend zu empfehlende intellektuelle Position Bezug genommen wird.148 Dass der Tod nicht da ist, wo wir sind, ist nicht zu bestreiten. Aber es gilt leider auch, dass sterben nur der kann, der lebt. Die in Epikurs Ausspruch einzig beschriebenen Zustände sind das Totsein, das den Lebenden nichts angehe, und die reine Erwartung. Epikur meint offensichtlich das Denken an den Tod („solange es nur erwartet wird“ s.o., Hervorhebung MH). Das Denken an den Tod macht uns Angst. Nicht in Betracht gezogen wird von ihm die Möglichkeit, dass sich ein Mensch in einem Zustand befinden könnte, in dem der Tod nicht bloß erwartet wird, sondern in dem er sich ankündigt, nämlich über körperliche Schmerzen; dass der Tod als Sterben in den Bezirk, das Leben, hineinreichen kann, der für ihn als solchen unzugänglich ist. Epikurs Argumentation der Unmöglichkeit des Empfindens von Üblem im Augenblick des Todes, vollkommen präzise im Sinne der Prämissen durchgeführt, kann demnach nur für genau den Fall den Trost Suchenden zur angestrebten Ataraxia führen, wenn sich seine Ängste tatsächlich daraus speisen, dass man nicht wissen kann, was im Augenblick des Todes geschieht und was es heißt, tot zu sein. Umgekehrt formuliert verliert seine Überlegung genau in dem Moment ihr Beruhigungspotential, in dem Tod und Sterben als zwei voneinander getrennte Zustände zu betrachten sind und die Angst vor dem Sterben zentral wird. Die entscheidenden Positionen der abendländischen Philosophie zu Fragen des Todes ähneln, wie wir noch sehen werden, der Position Epikurs.149 147
Ebd. So jüngst noch der renommierte, wegen seiner Arbeiten zur Gruppentherapie berühmt gewordene Psychotherapeut Irvin D. Yalom, der sich mit seinem Ratgeber „Wie man die Angst vor dem Tod überwindet“ sowohl an das große Laienpublikum als auch, nach eigener Aussage, an ein Fachpublikum wendet. Die epikureische Axiomatik wird direkt zu Beginn prominent entfaltet und bildet die Basis für das weitere Vorgehen. Vgl.: Irvin D. Yalom: Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. München 2008. 149 Selbstredend kann es hier nicht darum gehen, die europäische Philosophiegeschichte auf diese Fragen hin neu durchzusehen und bisher verkannte oder nicht bekannte Stellen hervorzuheben. Wohl aber sollen die Passagen kritisch betrachtet werden, die geradezu kanonischen Status erlangt haben, wo immer es darum ging, die Angst vor dem Tod philosophisch rational zu bändigen. Für grundständige Abhandlungen zur europäischen Tradition der philosophischen Thanatologie vgl. die ihrerseits 148
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Wie man an der von Epikur vorauseilend gegebenen Antwort an die „Toren“ sehen kann, hat es Einwände gleichwohl immer gegeben. Philosophiegeschichtlich vollständig uninteressant, für unsere Frage aber von Bedeutung, lässt sich bei einem Anhänger Epikurs, bei Lukrez, ein Hinweis entdecken, der unserer heutigen Sichtweise auf Epikurs Fragestellung entspricht. In seinem Lehrgedicht „De rerum natura“, macht sich Lukrez die Position Epikurs zu eigen. Offensichtlich sieht er sich genötigt, auf genau den Vorwurf, der Tod komme mit Schmerzen, zu antworten. Denn, wie Scherer schreibt, hat Lukrez den Einwand, „der Tod sei mit Schmerzen verbunden, mit der Begründung zurückgewiesen, er träte schnell und schmerzlos ein.“ 150 Methodisch gesehen wird hier also ein theoretisch möglicher Einwand mit dem Hinweis auf die andersgeartete Realität pariert. Anders gewendet bedeutet die Antwort von Lukrez, dass der Tod tatsächlich mit Schmerzen verbunden ist (und das heißt: zu Recht Ängste bei den Lebenden hervorruft, die mit Epikurs Gedankenmodell nicht wirksam bekämpft werden können), wenn er nicht schnell und schmerzlos eintritt. Aber diese Linie wird nicht weiter verfolgt, sondern in einer Welt, in der Mythen und der Glaube an Götterstrafen noch lebendig sind, diskutiert Lukrez die Frage, ob denn eigentlich die Furcht vor den Schmerzen oder die Furcht vor der Strafe der Götter die Quelle der Todesangst sei. Die historisch nächste prominente Auffassung zum adäquaten Umgang mit Tod und Sterben findet sich bei Michel de Montaigne. Für unsere Betrachtung besonders von Bedeutung ist hierbei die überaus interessante und instruktive Wendung, die Montaignes Auffassung im Laufe seines Lebens erfährt und die sich signifikant in seinen „Essais“ niederschlägt. Montaigne gibt 1570 seine politisch-juristische Laufbahn auf und zieht sich, 37jährig, auf sein Landgut zurück. Dort schreibt er in den folgenden Jahren seine „Essais“, die erstmalig in zwei Bänden 1580 erscheinen. Im ersten Band findet sich das berühmte neunzehnte Kapitel „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Der dort vorgeschlagene Umgang mit der Angst vor dem Tod wird für gewöhnlich zitiert, wenn es um Montaignes Auffassung zum Thema geht. Aber wie zu zeigen sein wird, hat man damit nur die Auffassung Montaignes zitiert, die dieser zu Beginn seiner Essais zeigt. Kurz gesagt besteht sein Ratschlag darin, jeden Tag an den Tod zu denken, so dass im tatsächlichen Falle seines Eintretens die Angst sozusagen bereits abgenutzt und stumpf geworden ist. Die grundsätzliche Differenz zu Epikur und bereits klassische Arbeit von Georg Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979, sowie Hans Ebeling (Hg.): Der Tod in der Moderne. Königstein i.Ts. 1979, und auch die ausführliche Darstellung von Armin Nassehi und Georg Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989. 150 Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie, a.a.O., S.110.
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Lukrez ist, dass hier der Tod den Menschen durchaus angeht, weil der Mensch den Tod gewissermaßen „erlebt“. Die logisch radikale Trennung zwischen Leben und Tod, die bei Epikur und Lukrez dazu führt, dass der Tod den Menschen nichts angeht, ist hier aufgehoben. Wie wir sehen werden, ist genau diese Anlage des Montaigne’schen Ansatzes das Einfallstor für seine spätere, sehr bezeichnende Rücknahme eben dieser Position. Aber machen wir uns zuerst vertraut mit dem Vorschlag des „Philosophieren heißt sterben lernen“151. Der Tod ist für Montaigne wegen seiner Unvermeidlichkeit das Ziel des Lebenslaufes. Die Verhaltensweise des gewöhnlichen Menschen, das Denken an ihn einfach zu verweigern, hält Montaigne für eine „grobe Verblendung“, zu der es überhaupt auch eines „tierischen Stumpfsinns“152 bedürfe. Aber auch, sich auf die beruhigenden Worte der Ärzte zu verlassen, man brauche in jungen und mittleren Jahren noch nicht an den Tod zu denken, weil man noch viele Jahre vor sich habe und doch gerade ganz gesund sei, weist Montaigne zurück. Hier zeigt sich ein charakteristischer Zug von Montaignes Philosophie, von seiner grundsätzlichen Haltung der Welt gegenüber, nämlich Distanz zu wahren: „Grob kann dieses Denken als Einsatz dessen gedeutet werden, was als „Moralistik“ verstanden wird, das heißt als Versuch möglichst normfreier Beobachtungen unseres Verhaltens und unserer Einstellungen als Beitrag zur Aufklärung über unsere conditio humana. (...) Über seine Philosophie kann im Allgemeinen nur negativ etwas ausgesagt werden: Sie ist bestrebt, Distanz zu halten (a) zu allen dogmatischen Positionen einschließlich eines dogmatisierenden Skeptizismus und (b) zu allen Formen alltäglicher Vorurteile, Illusionen und Ideologie.“153
Diese Distanz gegenüber Meinungen anderer lässt später auch eine Wendung seiner Argumentation zu, wenn sich die gemachten Erfahrungen gegen die behaupteten Argumente wenden. Anders nämlich als die abstrakt analysierenden Philosophen Epikur und Lukrez rät der Autor des sechzehnten Jahrhunderts, sich in solchen Fragen nicht auf Lehrmeinungen zu berufen, sondern er empfiehlt, der eigenen Erfahrung zu trauen: „Du stützt dich auf die Märchen der Ärzte: sieh lieber hin, wie es wirklich aussieht und was die Erfahrung lehrt. Im Vergleich mit dem Durchschnitt ist dir schon seit einiger Zeit eine ungewöhnliche Gunst zuteil geworden, daß du noch lebst: du hast die normale Lebensfrist schon überschritten. Wenn du dich überzeugen willst, dass
151
Michel de Montaigne: Philosophieren heißt sterben lernen, in: ders.: Die Essais. Stuttgart 1984, S.52-62. 152 Ebd. S.52. 153 Bernhard H.F. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? Frankfurt am Main 2004, S.129f.
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das wirklich so ist, zähle einmal unter deinen Bekannten nach, wie viel zahlreicher die sind, die vor deinem Alter gestorben sind als die, die es erreicht haben.“154
Die Augen offen für das, was sich in der empirischen Welt zeigt, kann Montaigne nicht umhin, den Blick auf alles zu richten, was sich als mit dem Tod zusammenhängend deuten lässt. Was sich seinem wachen Blick auch zeigt, ist ein Phänomen, das ein Jahrhundert später in der Fassung von Pascal berühmt werden wird. Das von Pascal als feiges Fliehen vor dem Tod entlarvte „Divertissement“, die Zerstreuung, wird auch schon von Montaigne als solches erkannt. Wie gesagt, vertritt Montaigne hier noch die Auffassung, dass man sich auf den Tod vorbereiten könne. Ablenkung und der Versuch, nicht an den Tod zu denken, sind für ihn gerade deswegen keine lohnende Strategie. Aber nicht etwa, weil sie nicht für den Moment helfen, sondern ganz im Gegenteil, weil sie dazu führen, im entscheidenden Augenblick des Todes nicht vorbereitet zu sein. „Aber es wäre Torheit, zu denken, man könne auf diesem Wege das Ziel erreichen (nämlich wirklich die Angst vor dem Tode zu verlieren, MH). Solche Menschen laufen hin und her, sie rennen, sie tanzen; aber vom Tod ist nicht die Rede. Soweit ist es ganz schön; aber dann, wenn der Tod kommt, zu ihnen oder zu ihren Frauen, Kindern und Freunden, und sie plötzlich überfällt, ohne daß es eine Deckung gibt, da krümmen sie sich und schreien vor Wut, weil die Verzweiflung sie packt.“155
154
Ebd. Montaigne: Essais, a.a.O., S.54. In den „Pensées“ von Blaise Pascal wird es von der Zerstreuung heißen: „Da die Menschen nicht Tod, Elend und Unwissenheit heilen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, auf den Einfall gekommen, nicht daran zu denken (133/168). (...) Ungeachtet jenes Elends will er glücklich und nur glücklich sein, und er kann nicht umhin, es sein zu wollen. Doch wie soll er es anfangen? Um es ganz zu erreichen, wäre es notwendig, daß er sich unsterblich machte, doch da er das nicht kann, ist er auf den Einfall gekommen, sich den Gedanken daran zu versagen (134/169). (...) wenn der Betreffende ohne Zerstreuung ist und man ihn Betrachtungen und Überlegungen darüber, was er ist, anstellen läßt (...), er wird notgedrungen in Gedanken über jene Geschehnisse verfallen, die ihn bedrohen, über die Empörungen, die eintreten können, und schließlich über den Tod und die Krankheiten, die unausbleiblich sind (...) Das einzige Gut der Menschen besteht also darin, daß sie von den Gedanken an ihre Lage abgelenkt werden, und das entweder durch eine Beschäftigung, die sie davon abbringt, oder durch irgendeine angenehme und neue Leidenschaft, die sie ausfüllt, oder auch durch das Spiel, die Jagd, irgendein anziehendes Schauspiel und schließlich durch jenes, was man Zerstreuungen nennt. Daher kommt es, daß das Spiel und der Umgang mit Frauen, der Krieg und die hohen Ämter so begehrt sind. Das ist nicht etwa deshalb, weil wirklich Glück darin läge, oder weil man sich vorstellte, die wahre Seligkeit sei es, das Geld zu besitzen, das man beim Spiel gewinnen kann (...) (Man sucht, MH) die Unruhe, die uns abhält, an unsere Lage zu denken, und die uns zerstreut. Aus diesem Grunde hat man die Jagd lieber als die Beute. (136/139)“ Blaise Pascal: Gedanken. Stuttgart 1997, S.93ff. Die Zahlen in Klammern sind die Nummerierung der Lafuma- bzw. Brunschvig-Ausgabe.
155
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Dieser Verzweiflung gilt nun Montaignes Augenmerk, denn er meint, dass man sie bändigen könne: Man könne sterben lernen, wenn man gerade den umgekehrten Weg gehe. Wenn man nämlich fortgesetzt an ihn denke und sogar von ihm spreche, wie er, Montaigne, es zu tun pflege, könne man es zu Stande bringen, dem Tod „seine furchtbare Fremdartigkeit zu nehmen“156. Nun ist für unseren Zusammenhang, für die Unterscheidung von Tod und Sterben, allerdings entscheidend, dass diese Differenz von Montaigne an dieser Stelle der Essais gerade nicht gemacht wird: „Nichts mehr ist schlimm im Leben für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben. Sterbenkönnen befreit uns von aller Knechtschaft, von allem Zwang.“157
Für unsere Frage fällt hier in eins, was gerade die entscheidende Differenz ausmacht und warum wir gesagt haben, dass die epikureische Position keine Antwort auf unser gegenwärtiges Problem geben kann. Das gegenwärtige Problem besteht eben in der Angst vor dem Sterben und gerade nicht in der Angst vor dem Tod. Die zitierte Passage Montaignes lässt sich jedoch mühelos epikureisch verstehen: Wie und für wen soll etwas ein Unglück sein können, wenn die Fähigkeit nicht mehr besteht, Unglück oder Glück überhaupt zu empfinden? Derjenige, „dem aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben“, ist ein Epikuräer. Um einen dritten Band und viele Zusätze erweitert erscheinen die Essais 1588 in einer zweiten Auflage. In diesen acht Jahren ändert Montaigne in eklatanter Weise seine Ansicht zum „Sterbenlernen“. Nun ist es an sich nichts Außergewöhnliches, dass man seine Meinung zu einer Sache oder einem Gegenstand ändert. Man gelangt zu Einsichten, aus eigener Erkenntnis oder im Gespräch oder im intellektuellen Diskurs mit anderen, die einen die eigene Meinung überdenken oder gar revidieren lassen. Etwas anders liegt der Fall, wenn man seine Meinung gegenüber Praktiken und Verhaltensweisen verändert, wenn sich diese Verhaltensweisen als nicht mehr vorteilhaft oder adäquat erweisen. Dabei muss man nicht sofort an das gar zu schlichte Modell des homo oeconomicus denken, wonach der Mensch erst nach sorgfältiger Kosten-NutzenKalkulation handelt und auch seine Alltagshandlungen aufgrund rationaler Überlegungen jederzeit zu optimieren gewillt ist. Auch ohne großen reflexiven Aufwand ändert man etwa seine Meinung zum Beispiel zur Akupunktur, wenn man danach schmerzfrei ist. Oder man fängt doch vielleicht damit an, Sport zu treiben und schränkt einen bis dato vehement verteidigten hedonistischen Lebenswandel 156 157
Montaigne: Essais, a.a.O., S.54. Ebd., S.55.
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ein, wenn man merkt, dass man „so nicht weitermachen kann“. Allerdings besteht ein feiner, fast sophistisch anmutender Unterschied zwischen den genannten Situationen und dem hier bei Montaigne sich zeigenden Fall, dass dieser seine Meinung darüber ändert, wie oder ob man das Sterben lernen könne. In den genannten Fällen hat man eine Meinung zu einer Situation, zu einem Zustand oder zu einer Lebenslage, die man erlebt hat oder in der man sich gerade befindet: „Ich treibe (derzeit) keinen Sport, weil ich dazu keine Notwendigkeit sehe“, „Ich hatte so starke Migräne, dass ich es doch einmal mit Akupunktur versuchte, und tatsächlich, ich hätte es nicht für möglich gehalten, geht es mir besser.“ Montaignes Ratschlag, nur immerzu an den Tod zu denken, dann verliere man mit der Zeit die Angst vor ihm, dann verliere er seine angsteinflößende Fremdheit, bezieht sich aber auf etwas Zukünftiges. Er bezieht sich auf etwas, was der Erfahrung definitiv noch entzogen ist.158 Gerade an diesem Punkt trifft sich die Veränderung von Montaignes Auffassung mit dem, was für unsere heutige Gegenwart dargestellt werden soll. Der Ratschlag aus dem ersten Buch der Essais bezieht sich ja noch auf eine Situation, in der Sterben und Tod als gleich angesetzt waren. Im Laufe seines zur Rüste gehenden Lebens beginnt Montaigne zu erkennen, was ihn eigentlich schreckt und ängstigt. Man kann sich ja vorstel158
Dass es per definitionem der Erfahrung sogar entzogen sein müsse, macht, wie gesehen, ja gerade die Position Epikurs aus. Es muss die Position des frühen Montaignes aber genau unterschieden werden von auf den ersten Blick ähnlichen Positionen bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Ausführlich und sehr instruktiv dazu Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.119ff.: Die genannten Philosophen sagen, „man solle so leben, dass man alles in dem Bewusstsein tut, als sei es das Letzte, was man tut, als habe man den Tod vor Augen. (...) Epiktet fordert, vor allem der Tod soll dir täglich vor Augen sein. Eine plausible Begründung dafür ist, dass wir davon abgehalten werden sollen, Dinge zu wollen, die nicht in unserer Macht stehen. (...) Am weitesten geht Marc Aurel, wenn er in seinem Tagebuch notiert: Im Gedanken an die Möglichkeit, gleich jetzt aus dem Leben zu scheiden, alles tun, sagen und denken. Es scheint, dass mit diesen Forderungen eines erreicht werden soll: ein Lernen des Sterbens auf dem Wege der Befolgung eines Imperativs. Nennen wir dies ein imperativisches Sterbenlernen. Es stellt eine provozierende Ansicht dar, die zu prüfen ist. Um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden, sei die fragliche Ansicht von zwei Auffassungen unterschieden, auf die wir noch zuückkommen werden. (Uns geht es hier erst einmal um die Unterscheidung des imperativischen Sterbenlernens von der Position Montaignes, MH). Zum einen ist das imperativische Sterbenlernen nicht zu verwechseln mit einem Vorausbedenken des Todes (praemeditatio mortis). Zum anderen ist es nicht zu verwechseln mit einer Bejahung des bisherigen Lebens im Bewusstsein der Ungewissheit über seine Fortsetzung. Wir geben dem imperativischen Sterbenlernen folgende Form: Man soll jederzeit zu sterben bereit sein, denn: Wenn man jederzeit zu sterben bereit ist, dann lernt man zu sterben. Was heißt es nun, „jederzeit“ zum Sterben bereit zu sein? Betrachten wir dies im Hinblick auf die Zukunft. Jeder weiß spätestens seit dem Ende seiner Kindheit, dass er einmal sterben wird. Doch dieses Wissen schließt noch keine Bereitschaft ein, da diese sich auf nahe Bevorstehendes bezieht. Daher ist es unsinnig, zu sagen, jemand sei jetzt bereit künftig zu sterben. Denn seine jetzige Bereitschaft verpflichtet ihn zu nichts, solange das Künftige nicht da ist, was aber zum Begriff des Künftigen gehört. Es nützt auch nichts, hinzuzufügen, dass jemand künftig bereit sein wird zu sterben. Denn wir kennen die Bedingungen nicht, unter denen er künftig zu sterben bereit sein wird.“ (Hervorhebungen im Original, MH).
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len, dass der Ratschlag Montaignes funktioniert und man mit diesen Exerzitien des sich den Tod unablässig Vorstellens die Angst vor dem Tod im Leben in den Griff bekommt, dass sie tatsächlich während des Lebens verschwindet. Dann wäre schon viel gewonnen und vielleicht hatte Montaigne nicht mehr erreichen wollen. Immerhin sagt er im dritten Buch: „Leidet einer früher als nötig, so mehr als nötig.“159 Aber die Revision seiner Ansicht zum Sterbenlernen verläuft nicht über diese Überlegung. Es ist womöglich nicht allein die Einsicht, jedenfalls findet sich dazu keine Äußerung, dass sich die Angst vor dem Tode nicht stumpf machen ließ durch beständiges Denken an ihn, dass sich seine Fremdheit nicht verscheuchen ließ, sondern es kommt nun genau die Differenz in die Argumentation, die für unseren Zusammenhang zentral ist: die Differenz zwischen Tod und Sterben. Und ganz im Sinne unserer soziologischen Betrachtung folgt diese Erkenntnis wohl eigenen Erfahrungen. Eine Stelle aus dem zweiten Buch, die man gegen diese unsere Interpretation der Montaigne’schen Meinungsänderung anführen könnte, weil sie sich ja beim „frühen“ Montaigne findet, erweißt sich bei genauerer Lektüre als nicht stichhaltig. Gemeint ist zum einen das sowohl im zweiten wie im dritten Buch sich findende Zitat Caesars, wonach er sich „den unverhofftesten und kürzesten“ Tod als den wünschenswertesten vorstellt160, und zum anderen die eigens von Montaigne hervorgehobene Aussage: „Das Sterben find ich hassenswert, das Totsein läßt mich unbeschwert“161 Auf den ersten Blick scheint dies unsere Interpretation zunichte zu machen, ist es dem Wortlaut nach doch genau auch die heutzutage geäußerte Auffassung. Aber nicht nur sticht diese Stelle nicht gegen unsere Argumentation, es habe einen fundamentalen Wandel in den Auffassungen vom gewünschten Tod gegeben (früher „darauf vorbereitet sterben“ versus heute „plötzlich und unerwartet sterben“), weil der Horror vor dem unverhofften Tod ja bereits als abhängig vom christlichen Kontext beschrieben wurde, wovon bei Caesar naturgemäß keine Rede sein kann, sondern der nähere Kontext des Zitats legt eine andere Interpretation der Stelle nahe. Die Stelle lautet im Ganzen: „Der Tod ist wahrhaftig ein Brocken, den man ungekaut schlucken muss, wenn man nicht Zähne aus Eisen hat. Und daher auch antwortete Caesar auf die Frage, welchen Tod er am wünschenswertesten fände: „Den unverhofftesten und kürzesten.“ Wenn Caesar das zu sagen wagte, empfinde ich es nicht mehr als feige, dasselbe zu sagen. Plinius behauptet sogar: „Ein kurzer Tod ist die glücklichste Fügung im Menschenleben.“ Den Menschen widerstrebt es, dem Tod ins Antlitz zu schauen. (...) Jene, die 159
Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Eichborn, Frankfurt am Main 1998, 3 Bde., hier Bd. 3, S.418. (Im Folgenden zitiert als Stilett, Bandnummer, Seitenzahl). 160 Stilett, Bd.2, S.421. 161 Ebd. (Hervorhebungen im Original, MH)
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man bei Hinrichtungen auf einen schnellen Vollzug drängen sieht, tun dies mitnichten aus wahrer Entschlossenheit – sie wollen, daß ihnen keine Zeit bleibe, ihn zu bedenken. Nicht das Totsein ist ihnen zuwider, wohl aber das Sterben. Das Sterben find ich hassenswert, das Totsein läßt mich unbeschwert.“162
Auch hier wird das Sterben nicht als eine eigene Phase aufgefasst, sondern der Tod soll deswegen möglichst kurz sein, damit keine Angst vor ihm aufkommen kann, ganz im Sinne des frühen Montaigne, es sei die Angst vor dem Tod (oder seine Fremdheit), die man fürchte. Den Verurteilten auf dem Schafott plagt die Sorge, der Scharfrichter könnte beim ersten Schlag nicht treffen; „ein Brocken, den man ungekaut schlucken muss“ heißt hier, man soll direkt sterben. Die Kontextuierung mit Hinrichtungen deutet recht eindeutig darauf hin, dass es sich um die aufkommende Angst vor dem Tod handelt, die sich einstellt, wenn man sein Sterben miterlebt, etwa weil der Scharfrichter zweimal zuschlagen muss. Aber in eine ganz andere Richtung bewegt sich Montaigne dann tatsächlich im erst 1588 veröffentlichten dritten Buch der Essais, nun immerhin 55jährig und vier Jahre vor seinem Tod. Und es scheint uns bei diesem Autor und diesem Thema keine zufällige Verschiebung der Ansicht zu sein. Was das Thema angeht, so sind hier unabhängig vom Autor Objekt und Subjekt der Reflexion enger miteinander verknüpft als bei anderen Themen. Der Nachdenkende hat ein ihn selbst betreffendes Phänomen zum Gegenstand seiner Reflexion. Was den Autor betrifft, so scheint hier durchaus ein erwähnens- und bedenkenswerter Aspekt mitzuspielen. Wir wissen von Montaigne selber, dass sich seine Essais als recht ungebrochene Widerspiegelung seiner Erfahrungen verstanden wissen wollen. Erich Auerbach macht darauf in seinem Montaigne-Aufsatz „L’humaine condition“ direkt zu Beginn explizit aufmerksam, indem er zuerst Montaigne selbst zu Wort kommen lässt: „(...) die Züge meines Bildes, ob sie sich gleich wandeln und verschieben. (...) Ich male nicht das Sein, ich male den Wechsel; nicht den Wechsel von einem Lebensalter zum anderen, oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. Ich muss meine Geschichte der jeweiligen Stunde anpassen; sehr bald könnte ich mich verändern; nicht nur mein Schicksal, sondern auch meine Gesinnung. (...) Soviel ist ausgemacht: Ich widerspreche wohl mir selbst gelegentlich, aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich niemals.“163
162
Ebd. (Hervorhebungen im Original, MH) Zitiert nach Erich Auerbach: L’humaine condition, in: ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/ Basel, 10.Aufl., 2001 (zuerst 1946), S.272ff, Fn.1.
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Auch wenn er hier sagt, er male nicht den Wechsel der Lebensalter und wir ihn dennoch gerade dafür als Gewährsmann in Dienst nehmen, so doch wohl legitimerweise. Denn das angeführte Zitat liegt im Schwerpunkt nicht auf der Verneinung, den Wechsel der Lebensalter darzustellen, sondern vielmehr darauf, dass die Essais jeweils das spiegeln, was ihr Verfasser in der Zeit ihres Verfasstwerdens empfindet. Mag es auch in Widerspruch stehen zu dem, was er vordem empfand. Der Philologe Auerbach fasst diese Eingangssequenz des zweiten Essais des dritten Bandes, dem das Zitat entnommen ist, in folgende analytische Form: „Es ist eine der zahlreichen Stellen, an denen Montaigne von dem Gegenstand der Essais spricht, von seiner Absicht, sich selbst darzustellen. Zunächst hebt er das Schwankende, Unbeständige, Wechselnde seines Gegenstandes hervor; hierauf beschreibt er das Verfahren, das er bei der Behandlung eines so schwankenden Gegenstandes anwendet. (...) Die Gedankenführung läßt sich bequem in einen Syllogismus fassen: ich schildere mich selbst; ich bin ein Wesen, das sich ständig verändert; also muß sich auch die Schilderung dem anpassen und sich ständig verändern.“164
Wenn unsere obigen Ausführungen stimmen, dass es also einen Unterschied bedeutet, zu was man sich einschätzend verhält, dann ist es unausweichlich, dass Montaigne im Laufe seines Lebens, oder man könnte auch sagen, je näher er seinem Lebensende kommt, Erfahrungen macht, die ihn seine Meinung ändern lassen. Wir werden nun im folgenden ein Beispiel dafür sehen, wie sich der „Gegenstand“ verändert hat und wie der Autor über diesen neuen Gegenstand, sich selbst, spricht. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was der Ausgangspunkt Montaignes in „Philosophieren heißt sterben lernen“ war: Das Ziel unseres Lebenslaufes ist der Tod. Deswegen geht er uns an und deswegen müssen wir ihn zwangsweise in den Blick nehmen. Aber wenn wir das tun, erschrecken wir vor seiner Fremdheit. Und diese Fremdheit muss stumpf gemacht werden durch kontinuierliches Denken an den Tod. Dann verlieren wir die Angst vor ihm. Der Tod und die von ihm ausgehende Angst regieren also in das Leben hinein und das Leben steht im Zeichen der Angstbekämpfung.165 Ganz anders der Montaigne des dritten Buches:
164
Ebd., S.273. „Es ist die Maske selbst, die alle Merkmale des Schauerlichen aufweist. Der darunter liegende Tod bereite weniger Angst als sie.“ Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.137. Das Montaigne-Zitat dazu ist der Schluss des „Philosophieren heißt sterben lernen“: „Man muss den Dingen und den Personen die Maske abnehmen: ist sie abgenommen, so werden wir darunter nur denselben Tod finden.“ Zitiert nach Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.136, Fn.99.
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„Das ganze Leben der Philosophen ist eine Vorkehrung auf den Tod. Damit mögen sie sich brüsten, soviel sie wollen. Ich hingegen meine, daß der Tod zwar das Ende des Lebens ist, nicht aber dessen Ziel; zwar sein Schlusspunkt, seine äußerste Grenze, nicht aber sein Zweck. Es muss vielmehr auf sich selber gerichtet sein, sich selber wollen.“166
Das Leben, das mit dem Tod als Ziel gelebt wird, ist ihm hier das vertane Leben. Und insofern verbietet sich auch der Versuch, die Fremdheit des Todes zu vertreiben, indem man ihn gedanklich in das Leben hineinnimmt. Das Leben soll nicht auf den Tod hingeordnet werden, sondern „seine (des Lebens, MH) wahre Aufgabe besteht darin, sich seine eigne Ordnung und Führung zu geben, mit sich ins Reine zu kommen.“167 Wenn Philosophieren Sterbenlernen bedeutet, dann wendet sich Montaigne hier von der Philosophie ab und einer Kunst des Lebens zu.168 Gewinnt das Leben eine eigene Ordnung, dann soll es auch nicht mehr durch den Gedanken an den Tod verdorben werden: „Durch die Sorge um den Tod trüben wir das Leben“169, aber auch „durch die Sorge um das Leben den Tod.“170 Das Ziel liegt für Montaigne nun darin, möglichst alle Gedanken auszuschalten, die Angst, Sorgen oder Trauer verursachen. Für das Leben gilt, „daß die Zurüstung auf den Tod die meisten bisher mehr gemartert hat als er selbst“171 und daher ist solches zu lassen und selbst den Tod, der vordem als solcher keine 166
Stilett, Bd.3, S.418. (Hervorhebungen im Original, MH) Ebd. In diesem Zusammenhang ist auf einen bemerkenswerten Fehler bei Taureck: Philosophieren, a.a.O., aufmerksam zu machen. Taureck gibt eine eigene Übersetzung: „Doch ich bin zu der Ansicht gelangt, dass er wohl das Ende („bout“), nicht jedoch das Ziel („but“) des Lebens sei; es [das Sterben, das Todesereignis] ist sein Ende, seine Extremität, nicht jedoch sein Gegenstand (object). Er (sic!) muss sein Ziel für sich selbst sein, seine Absicht“, S.144 (alle Klammern außer „(sic!)" im Zitat). Das „Er“ zu Beginn des letzten Satzes kann sich nur auf den Tod beziehen. Taureck gibt als Beleg die französische Stelle: „estre a soy sa visée, son dessein“, was aber keine Klärung bringt, weil sowohl der Tod als auch das Leben im Französischen weiblich sind. Man ist also geneigt, es schlicht für einen Druckfehler zu halten. Aber Taureck weiter: „Tod und Lebensziel sind voneinander zu entkoppeln. Der Tod als Lebensziel verwaist. Er muss, wie Montaigne (in III.12) nicht ohne Ironie bemerkt, nunmehr sein eigenes Ziel werden.“ Ebd., S.140. (Klammer im Zitat) Es gibt, soweit ich sehe, keine sinnvolle Erklärung für diesen Bezug auf den Tod anstatt auf das Leben. Einzig die von Taureck bemerkte „Ironie“ verdankt sich dieser Übersetzung, denn was daran sollte ironisch sein, dass nun ein Bezug auf das Leben anstatt auf den Tod angeraten wird? Arthur Franz gibt in der Stuttgarter Reclam-Ausgabe von 1969 eine den eindeutigen Bezug auf das Leben noch stärker betonende Übersetzung: „Aber ich denke doch, daß der Tod wohl das Ende, aber nicht das Ziel des Lebens ist; er ist der Schluß, die Grenze, aber nicht der Inhalt des Lebens. Das Leben muß seinen Augenpunkt, seinen Sinn in sich selbst haben; die eigentliche Aufgabe, die es stellt, ist: Lebensordnung, Lebenshaltung und Lebensleid zu gestalten.“ Vgl. Michel de Montaigne: Die Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz, Stuttgart 1969, S.355. 168 Vgl. dazu noch einmal die Übersetzung von Arthur Franz in Fn.166. 169 Stilett, Bd.3, S.417. 170 Ebd. 171 Stilett, Bd.3, S.416. 167
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Rolle spielte, selbst die Minuten des Todes(eintritts) kann man sich leichter oder schwerer machen: schwer jedenfalls, wenn man in ihnen dem Leben nachweint, leichter, wenn man den Tod „als Brocken ungekaut schluckt“. Für das Leben predigt Montaigne nun Indifferenz gegenüber dem Tod. Es bleibt dennoch dabei, dass wir nicht den Tod fürchten, sondern dass wir eigentlich die Angst vor ihm fürchten: „(...) der Tod schreckt uns. Dennoch rüsten wir uns nicht fürs Sterben – es geht ja im Nu vorbei: Eine Viertelstunde Hinnahme ohne schmerzliche Folgen bedarf keiner besondren Vorkehrungen. Die Wahrheit zu sagen: Wir rüsten uns dagegen, uns für den Tod zu rüsten.“172
Warum und wie kommt er zu diesem Sinneswandel im dritten Buch? Die Antwort auf diese Frage nun verlangt, dass wir Montaigne von jetzt an nicht weiter als in der philosophischen Tradition stehend lesen, sondern ihn soziologisch interpretieren. Dass sich „kein Mensch mehr darauf bereitet (habe), die Welt reiner und williger zu verlassen und sich völlig derselben (zu) entschlagen, als ich nach meiner Erwartung tun werde“173, ist noch die Überzeugung des jungen Montaigne. Aber schon hier lässt er einen Ausweg, bleibt er auch sich selbst gegenüber Skeptiker: „als ich nach meiner Erwartung tun werde.“ Nun, 1588, stellt sich ihm ein anderer Bezug zum Tod her. Zu der philosophischen Perspektive der gedanklichen Auseinandersetzung über den Tod, und mehr kann ein Umgang mit dem Tod ja nie sein, kommt die Erfahrung körperlichen Leides und zwar in Form des Alters. Insofern stellt sich genau genommen kein anderer Bezug zum Tod her, sondern nun beginnt Montaigne, so unsere Interpretation, Tod und Sterben als zwei getrennte Phänomene zu betrachten. Auch wenn sich diese 172
Stilett, Bd.3, S.417. Franz (s.Fn.166), S.354 übersetzt „eine Viertelstunde leidenschaftlichen Schmerzes, der dann nicht weitergeht und uns nichts mehr anhaben kann, verdient nicht, dass wir dafür besondere Lehren aufstellen; in Wirklichkeit rüsten wir uns gegen das, was dem Tod vorausgeht.“ Taureck weist darauf hin, dass sich die hier eindeutige Rücknahme der früheren Zentralthese vom „Philosophieren gleich Sterbenlernen“ tatsächlich bereits schon im gleichnamigen Essay finde, also These und Widerruf in einem. Dem ist sich nicht so ohne weiteres anzuschließen. Taureck zitiert: „Ich will wohl, dass man tätig sei, dass man die Pflichten des Lebens so weit ausdehne, wie man kann; und daß der Tod mich dabei antreffe, daß ich meinen Kohl pflanze, aber gleichgültig über seinen Zuspruch und noch mehr darüber, daß mein Garten nicht völlig in Ordnung ist“, um den Widerspruch zu zeigen. Aber besteht denn wirklich ein Widerspruch zwischen der Aufforderung, dem Tod die Fremdheit durch immerwährendes Denken an ihn zu nehmen und der Forderung, den Pflichten des Lebens so weit als möglich nachzukommen, so dass der Tod einen sozusagen mitten im Alltag antreffe? Das schließt sich keineswegs aus, sondern passt eher komplementär zusammen. Warum sollte man die Angst vor dem Tod im Leben zu vertreiben suchen, wenn man dann aus diesem Leben nichts machen wollte? 173 Hier zitiert nach der Ausgabe: Michel de Montaigne: Essais. Hg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt am Main 1976, S.19. (Hervorhebung MH)
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begriffliche Differenzierung nirgendwo expressis verbis findet, lässt sie sich doch unseres Erachtens interpretatorisch recht einfach verfolgen. Die An- und Hinfälligkeiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die das Alter mit sich bringt, zwingen ihm Schmerzen und Sorgen als Alltagserfahrung auf, die es ihm lächerlich, wenn nicht absurd erscheinen lassen, nun dennoch kontinuierlich an den Tod zu denken, um ihm seine Fremdheit zu nehmen. Die, modern gesprochen, bewusstseinsaufdringliche Empfindung von Schmerzen macht eine willentliche Imagination des Todes obsolet. In einer als fiktives Zwiegespräch mit seinem Geist aufgezeichneten Passage beschreibt Montaigne seine Leiden: „Man sieht ja, wie dir vor Qual der Schweiß ausbricht und wie du erbleichst, wie du hernach rot anläufst und erzitterst, wie du alles bis auf Blut ausspeist und dich in unheimlichen Zuckungen und Krämpfen windest, wie dir zuweilen große Tränen aus den Augen quellen und du einen dicken, schwarzen, widerwärtigen Urin ausscheidest (wenn er nicht von einem gezackten und scharfkantigen Stein aufgehalten wird, der dir das Innere deiner Rute grausam wundscheu174 ert und zersticht)(...).“
Es ist ein Nierenstein, an dem Montaigne arg zu leiden hat. Man kann deutlich erkennen, wie er nun, da er real an einer konkreten Krankheit leidet, seine frühere Strategie aufgibt, etwas durch permanente Fokussierung zu mildern. Natürlich ist der Hinweis trivial, dass die stete Vergegenwärtigung des Nierensteins die verursachte Pein nicht lindern kann, aber gemeint ist folgende Überlegung: Die vom Stein verursachten Schmerzen sind typischerweise ja nicht persistente Schmerzen, sondern treten anfallsartig auf. Warum also nicht hier wie im Falle des Todes, der ja auch per definitionem einmal auftritt, sagen: Was mich schreckt, ist die Angst vor dem Eintreten der Schmerzen, also nehme ich ihnen die Spitze, indem ich sie mir beständig imaginiere? Die Absurdität dieses Gedankens ist offenkundig: Es ist eben nicht nur die Angst vor den Schmerzen, sondern es sind die Schmerzen, vor denen Montaigne Angst hat. Oder schlicht: die ihn schmerzen. Was oben über „Künftiges“ gesagt wurde, lässt sich hier ex negativo zeigen. Die Schmerzen sind gemachte Erfahrung. Über sie muss nicht spekuliert werden, oder umgekehrt: bestimmte Spekulationen über sie verbieten sich, weil die gemachte Erfahrung anderes lehrt. Man soll an die Schmerzen nicht denken, denn sie stellen sich früh genug wieder ein: „Ich spüre also, daß etwas zerfällt? Glaubt ja nicht, daß ich deswegen meine Zeit mit der Beobachtung meines Pulses und meines Urins vergeude, nur um irgendwelche lästige Vorsorge treffen zu können. Ich werde das Übel noch lange genug spüren, auch ohne es um das Übel der
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Stilett, Bd.3, S.482.
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Montaigne: Philosophie und Soziologie Angst zu verlängern. Wer sich davor fürchtet zu leiden, leidet bereits, eben weil er sich davor 175 fürchtet.“
Entscheidend für unseren übergeordneten Zusammenhang, die Unterscheidung von Tod und Sterben, auf welche die ganze Montaigne-Exegese hinauszulaufen hat, ist allerdings die von ihm explizit formulierte Erfahrung des Alters. Dabei bewahrheitet sich in der Interpretation der einschlägigen Stellen die Feststellung Taurecks, Montaigne sei „durchaus einfach zu lesen und schwer zu deuten.“176 Zu betrachten sind im Folgenden zwei Textstellen, die beide erst in der zweiten Auflage der Essais 1588 erscheinen. Darauf ist wichtig hinzuweisen, weil sonst unsere These nicht gestützt würde, dass sich die veränderte Auffassung zu Tod und Sterben bei Montaigne dem eigenen Erfahren des Alters, des Leids und der Schmerzen verdankt. Die beiden Stellen scheinen auf den ersten Blick Gleiches auszudrücken, sind aber auf den zweiten Blick doch different und finden sich vor allem an zwei thematisch nahen, aber sozusagen editorisch völlig verschiedenen Stellen, wozu keine Erklärung zu finden ist. Im dritten Buch lautet die explizit auf das Altern gemünzte Passage: „Gott zeigt sich denjenigen gnädig, denen er das Leben schrittweise entzieht; dies ist der einzige Segen des Altwerdens. Das letzte Stück Sterben wird dadurch um so weniger umfassend und zerstörerisch sein – es tötet nur noch einen halben, ja einen Viertelmenschen. (...) So schwinde ich dahin und entgleite mir. Wie töricht wäre mein Verstand, wenn er mir einreden wollte, ich würde diesen Sturz in seiner letzten kleinen Spanne genauso schmerzlich wahrnehmen, als erfolgte er aus voller Höhe! Ich hoffe, er wird verständiger sein.“177
Altwerden wird hier als Segen dargestellt, weil es den Schritt zum Tode verringert, also entdramatisiert. Entscheidend ist aber, dass sich hier eine Differenzierung zwischen Tod und Sterben findet. Montaigne spricht vom „letzten Stück Sterben“, was sogar impliziert, dass er für das Sterben einen Zeitraum in Anschlag bringt, der eine Unterteilung in Phasen zulässt. Hinsichtlich der frühen Rede vom Tod, der als einmaliger Moment in der Zeit und als vollkommen ohne vorhergehendes Sterben beschrieben wurde, ist das eine erstaunlich weitgehende Veränderung. Die Abnahme der Lebenskräfte erfährt hier keine kritische Beschreibung, sondern es ist das harmonische Bild des Entgleitens. Das Argument besagt eigentlich, so paradox es klingen mag: Weil wir sterben (und so zu „halben" oder gar „Viertelmenschen" werden), ist der Tod nicht so schlimm. Das ist 175
Ebd., S.489. Mit „Zerfall“ ist der sich ankündigende Zerfall eines Nierensteins gemeint, dessen Ausscheiden dann schmerzhaft sein wird. 176 Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.129. 177 Stilett, Bd.3, S.500.
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nun in der Tat die Umkehrung des epikureischen Satzes: Weil wir nicht empfinden können, wenn wir tot sind, geht uns der Tod nichts an. Aber die zweite Stelle, die in der späten Ausgabe sich auf das Alter bezieht, ist eine Einfügung in den (frühen) Essay „Philosophieren heißt Sterbenlernen“178: „Die Natur führt uns in diesen elenden Zustand und macht uns mit ihm vertraut; wenn wir keine Erschütterung spüren, sobald die Jugend in uns stirbt, was wesentlich und wahrhaftig ein härterer Tod ist als der vollständige Tod eines sich dahinschleppenden Lebens, was der Tod durch Altersschwäche ist. Dies gilt umso mehr, als der Sprung vom schlechten Dasein in das Nichtsein nicht so schwer ist wie von einem sanften und blühenden Sein zu einem kränklichen und schmerzvollen Dasein.“179
Wenn diese Passage dazu dienen sollte, uns die sanfte Weise der Natur darzustellen, mit der sie uns auf den Tod vorbereitet, dann kann man zu Recht mit Taureck sagen, dass dieses Argument unter der Hand zu seinem Gegenteil wird.180 „Aus einem tröstlichen Argument ist der Schrecken des Alterns geworden, das in der Metapher des Todes erscheint.“181 Es ist ein „elender Zustand“, mit dem wir vertraut gemacht werden. Und „vertraut machen“ bedeutet, ganz im Sinne der bisher dargestellten Ansätze, dass etwas über längere Zeit besteht. Der weniger schwere Sprung vom schlechten Dasein ins Nichtsein entspricht dem vorher gegebenen Zitat. Was hier allerdings neu auftaucht, ist die Beschreibung einer Lebensphase, die sich „dahinschleppt“, bis sie im Tod durch Altersschwäche endet. Und schlussendlich die genauere Charakterisierung der Phase, in die das einst sanfte und blühende Leben fällt: eine Phase des „kränklichen und schmerzvollen Daseins.“ Nicht mehr der Tod steht jetzt mehr im Zentrum der Beschreibung, sondern die Phase des Sterbens und der Schmerzen, die man erfährt. Das ist es, wovor sich der alte Montaigne fürchtet. Bei keinem anderen Philosophen findet sich eine solche Wandlung in den Gedanken zu diesem Thema und keiner auch schließt an diese Position an. Sie geht verschüttet, und zum Allgemeingut wird die frühe Position Montaignes. Allerdings führen die gesellschaftlichen und namentlich die medizinischen Veränderungen in den folgenden Jahrhunderten und speziell im 20.Jahrhundert dann dazu, dass sich rund 420 Jahre später die Position des alten Montaigne unphilosophisch, aber eindeutig in den Antworten unserer Befragten wiederfindet. 178
Vgl. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen?, a.a.O., S.143: „In der 1588er Edition (…) fügt Montaigne das bezeichnete Argument hinzu, dass die Natur uns auf dem Wege des Alterns sanft auf den Tod vorbereitet.“ 179 Zitiert nach Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? a.a.O., S.143. 180 Ebd. 181 Ebd.
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Bevor gesellschaftliche Veränderungen Eingang in wissenschaftliche Analysen finden, haben sie sich oftmals schon eine geraume Zeit früher in der Literatur angedeutet. Das gilt selbstredend auch für die sich ändernden Sterbeprozesse und die Abkoppelung des Sterbens vom Tod. Bei den drei literarischen Beispielen aus unterschiedlichen Epochen kommt es uns nicht auf die Chronologie an. Sie zeigen je ein Merkmal, das für unsere Beschreibung des „sozialen Sterbens“ wichtig ist: Siechtum (Gottfried Benn: Krebsbaracke), langes Sterben (Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch) und der als beschämend empfundene Verlust des zivilisatorischen Niveaus (Philipp Roth: Mein Leben als Sohn). 5.1 Gottfried Benn: Die Krebsbaracke Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh: dieser Klumpen Fett und faule Säfte das war einst irgendeinem Manne groß und hieß a u c h Rausch und Heimat.Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat so viel Blut.Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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für den Besuch läßt man sie etwas wacher.Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.- Gottfried Benn: Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke (1912)
Vieles, was in der thanatosoziologischen Literatur ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben wird, findet bereits in diesem frühen Gedicht Benns eine expressive poetische Fassung. Der Titel der in kleiner Auflage erschienenen Gedichtsammlung ist Programm: „Morgue und andere Gedichte“. Seinem Verleger Alfred Richard Meyer, der nach eigenem Bekunden bei der ersten Lektüre „aufschrie“, ist sofort deutlich, dass der, der das geschrieben hatte „nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufes“ kam.182 Diese Empfindung wird er mit vielen Rezensenten geteilt haben, denn, so Meyer weiter: „Wohl nie in Deutschland hat die Presse in so expressiver, explodierender Weise auf Lyrik reagiert wie damals in Berlin.“183 Und in der Tat, als Benn „die ,Morgue’ schrieb (...), war es abends, ich wohnte im Nordwesten von Berlin und hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskurs gehabt.“184 Benn war Praktiker, blieb es als praktizierender Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten auch bis zum Schluss, und beschrieb seinen beruflichen Alltag zwar als Dichter, aber mit einer expressiv-drastischen Detailgenauigkeit, die ihm einen Skandalerfolg bescherte, der zum Beginn seiner Karriere als Dichter wurde, die aber für die Thanatosoziologie gerade wegen der realistischen Schilderungen von Erkenntnisinteresse ist. Es sind Krebspatienten, die hier dahinsiechen. Es scheinen nicht wenige zu sein, sondern es ist wohl eine bereits häufige Art des Sterbens, sonst gäbe es wohl keine eigene Baracke dafür. Es ist ein „schmutziger Tod“, wie Ariès das genannt hat, und das Sterben an Krebs ist ein langes Sterben. Darum ist schon hier eine „Medikalisierung“ des Sterbens zu beobachten: „Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht“. Allerdings wird man damals kaum davon gesprochen haben, dass man die Sterbenden um ihren Tod betrüge. Im Gegensatz zu heute bestand 182
Zitiert nach: Gottfried Benn: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 2006, S.617. 183 Ebd. 184 Gottfried Benn: Lebensweg eines Intellektualisten. Zitiert nach Hillebrand, a.a.O., S.617.
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damals die einzige Möglichkeit, die qualvollen Schmerzen zu lindern darin, die Menschen über massive Morphiumgaben „schlafen“ zu lassen. Gerade auch diese Tatsache, dass die Medizin kurz vor dem ersten Weltkrieg dieses kann und selbstverständlich zu ihrem Instrumentarium zählt, kann man an der Biographie Benns sehen. Denn das Glück, den Schmerzen enthoben schlafen zu dürfen, das er für seine Patienten beschreibt, wird seiner eigenen Mutter nicht zuteil, die einen Monat nach Veröffentlichung der „Morgue“ an Krebs stirbt: „Selbstverständlich eilte der junge Arzt sofort nach Mohrin (im Kreise Königsbergs, Neumark, wo Pastor Benn seit 1906 amtierte), doch der Brustkrebs war viel zu spät diagnostiziert worden, zwei Operationen hatten nur einen kurzen Aufschub bedeutet. Die qualvoll Dahinsterbende blickte erwartungsvoll auf ihren Ältesten, den frischgebackenen Arzt, und der wußte natürlich, daß es hier nur noch Schmerzen zu lindern galt, also Morphium zu geben, wie es in Berlin sogar bei den ärmsten Spitalinsassen in solchen Fällen längst üblich geworden war. Aber er hatte nicht mit der kindlich-verstiegenen Religiosität seines Vaters, dem Pastor, gerechnet. Nein, sagte dieser, kein Linderungsmittel, wir hoffen zu Gott, vielleicht erhört er unsere Gebete. So mußte also der Sohn und Arzt hilflos zusehen, wie seine Mutter unter Qualen starb. Am 9. April trat endlich der Tod ein (...).“185
Sieht man einmal von der individuellen Situation Benns ab, kann man an dieser Episode gut die Motivstruktur erkennen, die Ärzte und Angehörige dazu brachte, die Patienten zu morphinisieren und damit eine Entwicklung in Gang zu bringen, die später in der „totalen Medikalisierung“ (Ariès) enden sollte. Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte der Medizin ist die Möglichkeit der Medikalisierung noch ein ungebrochener Fortschritt für die Menschen. Ohne das Gedicht überstrapazieren zu wollen, lohnt sich eine genaue thanatosoziologische Lektüre der „Krebsbaracke“ noch aus einer Reihe weiterer Gründe. Einige der beschriebenen Phänomene finden sich später wieder in den berühmten ethnographischen Studien von Sudnow und Glaser und Strauss; entweder unverändert oder aber auf eine höhere Ebene transformiert, strukturell aber identisch. Andere zeigen bereits damals körperliche Verunstaltungen, die sich aus einem langen Sterben ergeben und die für die Menschen des späten zwanzigsten Jahrhunderts zum Zentrum der Ängste werden. Das Gedicht schildert eine Zeit, in der die Medizin einer so schweren und damals noch unbedingt tödlichen Krankheit wie Krebs durchaus schon etwas entgegenzusetzen hat. Neben der palliativen Maßnahme der Morphinisierung ist man offensichtlich schon in der Lage, einer moribunden Frau kurz vor ihrem Tod noch ein Kind per Kaiserschnitt lebend zu entbinden („Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind 185
Walter Lennig: Benn. Reinbek 1962, S.28.
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aus dem verkrebsten Schoß“). Am Duktus des Mannes, der eine Frau durch die Krebsbaracke führt, zeigt sich schon die technische kalte Fachsprache der Mediziner, die zur affektiv-neutralen Ausübung des Berufs verhelfen soll, indem sie sich auf die „Physis konzentriert“, wie das bereits oben selbst noch bei den Hospizhelfern als Strategie beschrieben wurde, um emotionale Stabilität zu bewahren. Das Individuum soll hinter seinem affektiv-neutral beschreibbaren Krankheitsbild verschwinden: „Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust.“ Man findet auch schon die „paternalistische“ Haltung des Personals gegenüber den Patienten. Diejenigen, die in die Krebsbaracke eingeliefert oder dorthin verlegt werden, hält man über die wahre Situation im Unklaren („Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund“). Dabei wird die Krebsbaracke als eine Institution beschrieben, die primär gegen die Umwelt abgeschlossen ist, zu genau bestimmten Zeitpunkten aber selektiv Zutritt gewährt und dazu auch, wenn man so will, inszenatorische Maßnahmen ergreift: „Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher.“ Diese Phänomene finden sich bei Sudnow sowie bei Glaser und Strauss mehr oder minder unverändert wieder. Was sich nicht ungebrochen wiederfindet, sondern eine Transformation erfahren hat, ist die Situation des Ekels. Wie wir aber sehen werden, handelt es sich dabei nicht um eine strukturelle Transformation. Es geht um Situationen in der Arbeit mit Sterbenden, die bei den Pflegenden an Ekelgrenzen stoßen bzw. Ekel und Abscheu hervorrufen, die über verschiedene Maßnahmen und professionelle Strategien bekämpft werden müssen. „Bett stinkt an Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.“ Das ist zum einen die Beschreibung des „schmutzigen Todes“, des Gestanks und der Gerüche. Aber die Szene spielt bereits in einer Gesellschaft, in der diese Gerüche nicht mehr einfach ertragen werden, weil sie im normalen Alltag nicht mehr vorkommen. Weswegen es auch in einer solchen Gesellschaft allein die Kranken und Sterbenden sind, von denen solche Gerüche ausgehen, und die daher in Krankenhäuser eingeliefert werden. Ariès spricht, wie wir noch genauer sehen werden, von einer im neunzehnten Jahrhundert sich entwickelnden „Wohlanständigkeit“, welche die Reinlichkeit zu einem bürgerlichen Wert habe werden lassen, wobei dennoch während dieser Entwicklung für das neunzehnte Jahrhundert durchaus noch eine Gewöhnung an die üblen Gerüche und die abstoßenden Seiten des Sterbens zu erkennen sei.186 Das heißt also für die Schwestern der „Krebsbaracke“, dass sie 1912 nicht mehr an Gestank und üble Ausscheidungen gewöhnt sind, sondern dies ein Phänomen ist, dem sie während ihrer Arbeit ausgesetzt sind. So wie für die Krankenpflegekräfte unserer Zeit der Umgang mit Sterbenden (und Toten) eine berufliche Herausforderung 186
Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.726f.
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darstellt, für die sie in ihrer Sozialisation und ihrem Alltagserleben keine Umgangsformen erlernen konnten, gilt für die Krankenschwestern im Jahre 1912, dass sie mit dem Gestank der Sterbenden nicht oder nur schwer zurechtkommen und daher stündlich abgelöst werden. Natürlich gibt es in den Krankenhäusern unsere Tage (in der westlichen Welt) keine Fliegen mehr und die Waschungen der Patienten erfolgen regelmäßig. Aber das Wundliegen der Sterbenden und Intensivpatienten ist auch im 21.Jahrhundert ein persistentes Problem. Und dass unter den Bedingungen von Zeitdruck und Personalknappheit die Pflege der Patienten bisweilen so routinisiert durchgeführt werden muss, dass sie gewaschen werden, so „wie man Bänke wäscht“, mag zwar nicht die Regel sein, dürfte aber häufig genug vorkommen, um es nicht als bloß reißerische Story des Boulevards abzutun.187 Beenden wir nun die Lektüre von Benns „Krebsbaracke“, aber bleiben wir noch eine Zeit lang bei der Literatur. Sie stellt für große Zeitabschnitte oft die einzige Quelle zu unserem Thema dar. Soweit ich sehe, sind für die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg keine Studien der damals ja schon als akademische Disziplin institutionalisierten Soziologie zu Tod und Sterben bekannt. Für die Wissenschaft ist Gottfried Benn ein Glücksfall, allerdings nicht für seine eigene akademische Disziplin: Als niedergelassener Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist er für die medizinische Forschung nicht weiter in Erscheinung getreten. Aber als Dichter, der seine Arbeit als praktizierender Arzt verarbeitet, ist er, neben dem selbstredend überragenden Beitrag zur Lyrik, für die Thanatosoziologie fruchtbar zu machen. Offensichtlich findet sich die Beschrei187
Dass sich drastische Szenen dazu eignen, verzerrende Darstellungen von Studien zu geben, ist eine bekannte Gefahr, auf die Streckeisen im Anschluss an Seale hinweist: „Seale zufolge (Clive Seale: Constructing Death. The Sociology of Dying and Bereavement, Cambridge University Press, 1998, p.102ff.) sind die klassischen mikrosoziologischen Studien über das Sterben im Krankenhaus (Glaser/Strauss und Sudnow) zur fruchtbaren Quelle von ,atrocity stories’ geworden, die den damals wiedererwachenden Diskurs über den Tod im anglophonen Raum nährten. Im westdeutschen Raum scheint sich im vergangenen Jahrzehnt Ähnliches zugetragen zu haben. In der kulturhistorisch angelegten Arbeit von Mischke zum Beispiel sind Literaturzusammenfassungen zu finden, die beim Leser und der Leserin vor allem Empörung auslösen dürften: ,Oft gibt es im Krankenhaus überhaupt keinen Platz für sterbende Patienten. Er wird dann heimlich hinter Paravents, in provisorisch abgeschirmte dunkle Flure, Winkel, Abstellkammern oder sterile Badezimmer und Waschräume abgeschoben, und nur hin und wieder wird nachgeschaut, ob er wirklich gestorben ist.’ (Marianne Mischke: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel der abendländischen Geschichte, Berlin: Reimer 1996, S.226) Bei Sudnow zum Beispiel steht zum Problem ‚Abschieben von Sterbenden’ etwas viel Komplexeres: Im untersuchten Unterschichtenkrankenhaus wird für Sterbende vom Stationspersonal ohne Rücksicht auf deren Wünsche ein Einzelzimmer angeordnet, damit die Arbeit problemloser verrichtet werden kann. Falls kein Einzelzimmer frei ist, werden stattdessen die Bettvorhänge (Paravents) gezogen. Im untersuchten Mittelschichtkrankenhaus dagegen werden moribunde Patienten, die allein sein möchten, aus Diskretionsgründen in ein Einzelzimmer verlegt.” Streckeisen: Die Medizin und der Tod, a.a.O., S.93, Fn.91.
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bung gesellschaftlicher Entwicklungen, Veränderungen und Neuerungen häufig zuerst in Romanen und Gedichten und erst später in wissenschaftlichen Abhandlungen. Und oft verwendet die Wissenschaft die literarischen Produkte als gesellschaftliche Artefakte und somit als Objekte ihrer Forschung. In diesem Sinne kann die Poesie durchaus eine „Erkenntnisquelle der Soziologie“ sein, wie der Dichter und Philosoph Lars Gustafsson dies in einem Vortrag prägnant beschrieben hat.188 Philippe Ariès hat sich auf eine überaus elegante und inspirierte Weise des an sich hinlänglich bekannten Kanons der Weltliteratur angenommen, um aus ihm Hinweise und Beschreibungen zu destillieren, die dann in der von ihm präsentierten Form und Zusammensetzung eine „Geschichte des Todes“ ergeben. Das für unser Thema wichtigste Beispiel in seinem opus magnum ist ohne Zweifel seine Lektüre von Leo Tolstois Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Ariès präsentiert sie im letzten Kapitel seiner chronologisch-historisch vorgehenden Studie. Die Erzählung spielt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und Iwan Iljitsch stirbt somit am Anfang der Epoche, in der sich der „ins Gegenteil verkehrte Tod“ herausbildet. Am Ende der Epoche steht die „Medikalisierung“, an ihrem Beginn steht die „Lüge“. Die Erzählung ist für viele Autoren wichtig gewesen und daher wollen wir, bevor wir Ariès Interpretation betrachten, erst einen eigenen Blick auf Tolstois Erzählung werfen. 5.2 Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch Iwan Iljitsch, richterliches Mitglied des Gerichtshofs, stirbt im Alter von 45 Jahren 1882 nach längerer, qualvoller Krankheit. Tolstoi charakterisiert das Leben seiner Hauptfigur als „einfach, gewöhnlich und doch entsetzlich“.189 Iljitsch macht als Jurist zuerst eine reibungslos und relativ schnell verlaufende Karriere. Er ist der Sohn eines unfähigen, aber doch zu auskömmlichem Posten gekommenen Beamten, und es zieht „ihn von frühester Jugend an zu den Begünstigten des Lebens.“190 In allem ist er bestrebt, „comme il faut“ zu handeln; er heiratet durchaus nicht ungern, seine Frau ist „lieb, hübsch und wohlerzogen“, hat aber auch „einflußreiche Verwandte“.191 Iljitsch „tat damit zugleich etwas, das ihm angenehm war, und er tat damit zugleich etwas, das die Höhergestellten für rich188
Der Vortragstitel war als Frage formuliert, die der Vortrag dann allerdings eindeutig positiv beantwortete. Vgl.: Lars Gustafsson: „Kann die Poesie eine Erkenntnisquelle für die Soziologie sein?“ Vortrag in Trier am 08.11.2007. 189 Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 2002, S.28. 190 Ebd., S.30. 191 Ebd., S.38.
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tig hielten.“192 Sein ganzes Verhalten und Agieren bewegt sich auf diesem Grad, möglichst das Angenehme mit dem gesellschaftlich Nützlichen zu verbinden. Wobei Iljitsch keineswegs der innerlich von der Gesellschaft distanzierte, rein zweckrational handelnde Karrierist ist, sondern sich bei ihm stets eine Art Ehrfurcht vor den gesellschaftlichen Konventionen findet. In diesem Sinne trachtet Iljitsch immer danach, das Angenehme mit dem gesellschaftlich Akzeptierten zu verbinden, denn die Eigenschaften, in denen Iljitsch „das Eigentümliche am Leben überhaupt“ sieht, sind das Leichte, das Angenehme, das Heitere und: das durchaus Schickliche und von der Gesellschaft Gebilligte.193 Mit dem Aufbau einer fein komponierten Gegenbewegung treibt Tolstoi seine Erzählung nun in die Peripetie. Auf der einen Seite steht die sich weiter entwickelnde berufliche Karriere und auf der anderen Seite die familiäre Situation, deren Zentrum die sich ins Grausame verschlechternde Beziehung zu seiner Gattin ist. Nicht zufällig beginnt die Zerrüttung der Ehe, und damit der Kern der allgemeinen Zerrüttung seiner Existenz, mit der ersten Schwangerschaft der Frau.194 Offenkundig aufgrund einer durch die Schwangerschaft ausgelösten Wesensveränderung wird sie mürrisch und gereizt und macht ihm Szenen. Iljitsch sieht das „Eigentümliche am Leben“ bedroht, nämlich seine öffentliche Existenz „comme il faut“ leicht und angenehm aufrechterhalten zu können. Der unheilvolle Drang beider Ehepartner, unbedingt zur besseren Gesellschaft zu gehören, lässt Iljitsch einen Ausweg darin sehen, sich in den Dienst zu flüchten: „Sein Dienst war das einzige, was Praskowja Fjodorowna imponierte. Iwan Iljitsch spielte also den Dienst und die sich aus diesem Dienst ergebenden Pflichten gegen seine Frau aus, indem er hier seine Welt, die Welt seiner Unabhängigkeit abgrenzte.“195
Die Geburt des Kindes und die Streitereien über dessen Erziehung verstärken seine Flucht in die dienstlich-öffentliche Sphäre. Es beginnt sich die Kluft zwischen öffentlicher und privater Existenz zu entwickeln, aus der sich das Ehepaar nicht wird befreien können und deren zwanghafte Leugnung in der öffentlichen Sphäre die „Lüge“ ist, die Iljitsch als Sterbender erkennen und für seine Seelenqualen verantwortlich machen wird. Die Wahrung der äußeren Form wird das wichtigste:
192
Ebd. Ebd., S.39. 194 Und selbstredend ist es Teil der literarischen Komposition, den privaten Niedergang des (Anti)Helden, der letztlich zu der ganz eigenen Art des Sterbens führen wird, sich in der Geburt seines Kindes ankündigen zu lassen. 195 Ebd., S.41. 193
112
Drei literarische Verarbeitungen „Er verlangte von der Ehe nur noch jene Vorteile, die sie ihm gewähren konnte: Essen, Führung der Wirtschaft, Bett, vor allem aber die Wahrung der äußeren Formen, die von der öffentlichen Meinung ein für allemal festgesetzt waren.“196
Mit der Verschlechterung der häuslichen Situation lässt Tolstoi Fortschritte in der Karriere einhergehen: Iljitsch wird „Zweiter Staatsanwalt“. Es werden weitere Kinder geboren, die Frau wird immer mürrischer und gereizter, Iljitsch schließt sich immer hermetischer in die Welt seines Dienstes ein: Er wird „Erster Staatsanwalt“. Diese Beförderung ist mit einer Versetzung in ein neues Gouvernement verbunden. Dort aber ist das Leben teurer, selbst das nun höhere Gehalt reicht dafür nicht hin, und der neue Wohnort missfällt der Ehefrau. „Außerdem starben zwei Kinder, und das Familienleben wurde Iwan Iljitsch noch unangenehmer.“197 Die auseinanderstrebenden Linien der privaten und der öffentlichen Entwicklung haben ihre Extrempunkte erreicht. Aber bevor Tolstoi die unausweichliche Katastrophe hereinbrechen lässt, verharrt er in der Beschreibung dieser Situation der fast vollständig voneinander entkoppelten Lebensbereiche. Sowohl die Erzählung wie in ihr auch Iljitschs Leben erfahren ein stark retardierendes Moment. Das Leben der Hauptfigur hat in dieser umfassenden Flucht in die Welt des Berufsdienstes und der Abschottung von der Familie Stabilität gefunden: „Die Hauptsache war, daß Iwan Iljitsch den Dienst hatte. Auf diese Welt des Dienstes konzentrierte sich nun sein ganzes Interesse. (...) Und so verlief dieses Leben auch weiter so, wie es nach der Ansicht von Iwan Iljitsch verlaufen mußte: angenehm und in den Grenzen des guten Tons. So verbrachte er noch sieben Jahre.“198
In diesen sieben „angenehmen“ Jahren stirbt ein weiteres Kind und die ehelichen Zwistigkeiten nehmen nicht ab, aber alles das erreicht den sich davon abschließenden Iljitsch nicht mehr. An diesem Punkt könnte die Erzählung enden: Die handelnden Personen haben sich den gesellschaftlichen Konventionen bis zur Erstarrung eingefügt. Aber tatsächlich ist damit erst ein Drittel der Erzählung vorbei und die folgenden zwei Drittel zeigen die letzten beiden Lebensjahre und mit aller Wucht das Sterben des Helden. Das ruhige und „angenehme“ Leben Iljitschs wird nun durch eine rasante Folge von Ereignissen erschüttert. Wie sich aus der offensichtlich unproblematischen Koexistenz von Kindstoden und angenehmem Leben schnell schließen lässt, finden die Erschütterungen in der dienstlichen Sphäre statt. Eine als sicher angesehene Berufung auf den Posten eines 196
Ebd., S.42. (Hervorhebung MH) Ebd., S.43. 198 Ebd., S.45. 197
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Gerichtspräsidenten in einer Universitätsstadt, mithin also die Krönung der Karriere, bleibt aus, man zieht ihm jemand anderen vor, Iljitsch überwirft sich mit dem Konkurrenten und in der Folge auch mit seinem Vorgesetzten. „Man wurde kühl gegen ihn und überging ihn auch bei der nächsten Versetzung. Das war im Jahre 1880, dem schwersten Jahr in Iwan Iljitsch Leben.“199
Die Kompensation ermöglichende und Stabilität garantierende Welt des Dienstes ist schwer beschädigt und Iljitsch ist zurückgeworfen auf die traurigen Umstände seiner Existenz: Geldknappheit und gesellschaftliche Marginalisierung. Es ist eine, zwar noch nicht unmittelbar physisch, aber doch existenziell bedrohliche Situation. Tolstoi lässt seinen Helden hier zum ersten Mal die Kehrseite einer Gesellschaft spüren, die sich mit dem Anschein von Verhältnissen zufrieden gibt und in der Interesse am Anderen, Bekenntnisse von Solidarität und freundschaftlichen Bindungen lediglich geheuchelt werden, in der allein die Beachtung der „Grenzen des guten Tones“ leitend ist. In dieser ersten Katastrophe in Iljitschs Leben finden sich bereits die Strukturen, die dann sein Sterben zur zweiten Katastrophe werden lassen. Iljitsch muss nämlich erkennen, dass sich niemand für seine Situation interessiert. Wobei er gepeinigt ist vom Argwohn darüber, ob seine Umgebung nichts von seiner Situation wissen will oder ob sie tatsächlich nichts weiß. „In diesem Jahre wurde es einerseits ganz klar, dass sein Gehalt zu klein sei, andererseits aber auch, dass alle ihn eigentlich vergessen hatten und dass dem, was ihm als die größte und grausamste Ungerechtigkeit erschien, von den anderen nicht die geringste Bedeutung beigemessen wurde. Sogar sein Vater hielt sich nicht für verpflichtet, ihm hier zu helfen. Iwan Iljitsch fühlte, dass alle ihn damit im Stich ließen, dass sie seine Lage mit dreitausendfünfhundert Rubel Gehalt für durchaus normal, ja für glücklich hielten. Er allein wusste, dass mit dem Bewusstsein der erlittenen Ungerechtigkeit, mit den ewigen Quälereien der Frau, mit den Schulden, die er zu machen gezwungen war, da er über seine Mittel lebte – er allein wusste, dass seine Lage eben ganz und gar nicht normal war.“200
Das finanzielle Desaster ist nur der erste Rahmen, in dem der eigentliche Kern der Tragödie Iljitschs, das Alleinsein und der Argwohn gegen die Umwelt, beschrieben wird. Bis in die Wortwahl des „er allein wusste“ wird sich diese Konstellation beim Sterben wieder finden. Mit einer grandiosen erzählerischen Bewegung beginnt nun der Niedergang und das physische Leiden und Sterben Iljitschs. Vollständig illusionslos und auf der Suche nach egal welchem Posten in 199 200
Ebd., S.46. Ebd., S.47. (Hervorhebung MH)
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der Juristerei, wenn er ihm nur das benötigte Gehalt sichere, erreicht er durch einen unfassbaren Zufall (ein Revirement im Ministerium) nun doch noch die erträumte, aber verloren geglaubte Stellung. Er sieht sich am Ziel seiner Karriere, mit seiner Frau schließt er Frieden, seine Feinde, die „sich blamiert hätten“ schmeichelten sich bei ihm ein, jedermann beneide ihn, so Iljitsch und er sei in Petersburg beliebt. „Iwan Iljitsch war glücklich.“ Ebenso wie Tolstoi seinen Helden dafür bezahlen ließ, dass er sein Leben für glücklich hielt, nachdem er sein Privatleben so arrangiert hatte, dass es kompatibel war mit den gesellschaftlichen Grenzen des guten Tones, so lässt er ihn jetzt dafür bezahlen, dass er sich von der Heuchelei der neuen Freunde blenden lässt und abermals den Schein mit dem Sein verwechselt. Iljitsch stürzt von einer Leiter, daraus entwickeln sich zunehmend starke Schmerzen, die Diagnose bleibt unklar und er stirbt nach langen qualvollen Wochen. Die Heuchelei und die Lüge, die Überanpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen, die sich während des ganzen ersten Drittels der Erzählung bis zum Karrierehöhepunkt als dominantes Strukturmerkmal von Iljitschs Leben zeigen, setzen sich auch in seinem Sterben fort. Sein Kontakt zu seinen Mitmenschen ist in seinem Sterben genauso wie in seinem Leben oberflächlich, formelhaft und verlogen. Mit dem perspektivischen Unterschied, dass Iljitsch nun von Argwohn erfüllt über diese Heuchelei nachzudenken und sie zu verabscheuen beginnt. Die restlichen zwei Drittel der Erzählung, die das Sterben aus seiner Sicht schildern, spielen an dieser Extremsituation des Lebens noch einmal das durch, was sich während des ganzen Lebens in dieser Gesellschaft permanent zeigte. Ziehen wir hier eine kurze Zwischenbilanz, bevor wir uns dem Sterben Iljitschs zuwenden. Das erste Drittel der Erzählung bereitet das Tableau für das Kommende. Es stellt die Gepflogenheiten des Umgangs in der gesellschaftlichen Oberschicht der Zeit dar. Dem Hinweis darauf kommt eine starke Bedeutung zu, denn eine soziologische Analyse des Sterbens kann allein von den gesellschaftlichen Bedingungen ausgehen und hat die anthropologische Verfasstheit „bloß“ als Bedingung der Möglichkeit jeder Form menschlichen Sterbens im Auge. Wenn wir im Folgenden auf Heideggers Interpretation des Textes von Tolstoi zu sprechen kommen, werden wir genau die Frage danach beantworten müssen, was bei Heidegger wirklich auf das menschliche Sterben überhaupt bezogen werden darf und was eigentlich Zeitdiagnose ist. Halten wir fest, dass in der Welt Iwan Iljitschs „die Grenzen des guten Tones“ das maßgebliche Kriterium für das Verhalten darstellen und dass, sofern diese gewahrt sind, das gesellschaftliche Leben oberflächlich, aber eben problemlos abläuft. Was sich hinter dem Schein an Schwierigkeiten, Hass oder Ängsten auch immer verbergen mag, spielt so lange gesellschaftlich keine Rolle, wie es eben verdeckt werden kann. Kann es dies nicht mehr, ist die Konsequenz allerdings keineswegs eine Aktivierung einer
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interessierten oder gar hilfsbereiten Umgebung, sondern die gesellschaftliche Meidung. Was Tolstoi in diesem ersten Drittel, dem eigentlichen ersten Teil der Erzählung, an der finanziellen Problematik vorführt, aber vorläufig zum guten Ende führt, zeigt sich im zweiten Teil um ein Vielfaches verschärft am Sterben Iljitschs. Die dominante Struktur des gesellschaftlichen Umgangs in Tolstois Erzählung ist die Heuchelei und die Lüge und damit eine große Einsamkeit des Einzelnen in Krisenzeiten. Dass sich Iwan Iljitsch die Wahrung seiner gesellschaftlichen Rolle mit einer nahezu vollkommenen Entfremdung von seiner Ehefrau erkauft, kommt erschwerend hinzu. Der kurze zweite Ehefrühling zum Zeitpunkt der Berufung in das Ministerialamt kann die über lange Jahre gewachsene Distanz nicht nachhaltig überbrücken, und sie bricht in der Krise unmittelbar wieder auf. Es ist wichtig, die generellen gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit vor Augen zu haben, oder zumindest die Bedingungen so, wie Tolstoi sie uns vorführt, um nicht in die Gefahr zu geraten, bei der Analyse von Iljitschs Sterben die ganze Szenerie umstandslos auf unsere Zeit zu übertragen. Die Erzählung Tolstois kann man durchaus als Kritik seiner Zeit lesen, und von daher kann man sie auch problemlos benutzen, um eine Epochenschwelle zu markieren. Aber sie ist auch die Geschichte eines Einzelnen, der sich aufgrund seiner eigenen Entscheidungen und Präferenzen in eine heillose Situation verstrickt; in eine Situation allerdings, deren Entstehen zugegebenermaßen durch die Gesellschaft stark begünstigt wird. Es macht einen Unterschied, ob eine Gesellschaft, die alles das im Unsichtbaren halten will, was nicht ihren Erwartungen entspricht, auch das Sterben Anderer so wenig als möglich beachten will, oder ob man von einer Gesellschaft, in der Krisen kommuniziert und in der Öffentlichkeit verhandelt werden, annimmt, sie verdränge den Tod. Der Verdrängung des Todes kommt im ersten Falle eine geringere Bedeutung zu als im zweiten. Dort gewinnt die (unterstellte) Todesverdrängung Singularität und damit an Gewicht für die Charakterisierung einer Gesellschaft. Ariès interpretiert die Erzählung natürlich von ihrem Ende her mit der Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, in der man so sterben muss, wie Iljitsch stirbt? In seiner Interpretation ist es die Vorläufergesellschaft unserer gegenwärtigen Gesellschaft, auf dem Wege zur Verdrängung des Todes. Der Grund für die dargebotene ausführliche Darstellung des ersten Teils der Erzählung sollte gerade der Illustration der gegenteiligen Annahme dienen: dass Tolstoi am Sterben, einem menschlichen Extrem, ausführt, was für diese spezielle Gesellschaft im allgemeineren Rahmen gilt. Der Bereich des öffentlichen Lebens, des Lebens, das sich an die Berufsrollen und ihre Erwartungen an Lebensstil und „guten Geschmack und Ton“ anlagert, ist in dieser Zeit (Ende des neunzehnten Jahrhunderts), in dieser Gesellschaft (Russland) und in dieser Schicht (Oberschicht)
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so zentral, dass alles, was als störend empfunden werden kann, das heißt alles, was das leichte und angenehme Leben stören kann, kommunikativ marginalisiert oder weggedrängt wird: peinliche Eheszenen, finanzielle Unzulänglichkeiten, Krankheiten und, natürlich verstärkt, Sterben und Tod. Dennoch aber ist die in der Erzählung dargestellte Art des Reagierens auf Sterben und Tod neu (gleichviel für welche Schicht das gilt). Auch wenn man nicht auf Ariès rekurrieren will, ist doch unmittelbar augenfällig, dass diese Form des Verhaltens nur in einer Gesellschaft vorkommen kann, die eine Trennung von öffentlich und privat kennt und die darüber hinaus einen hochaufgeladenen Begriff von Karriere hat. Will man doch auf Ariès rekurrieren, dann ist das epochenmäßige Vorgängermodell bei ihm die Verklärung des sterbenden nahen Anderen. Davon wiederum kann im Falle von Iwan Iljitsch beim besten Willen nicht die Rede sein. Vor allem aber ist das „Iljitsch-Modell“ einflussreich und hat seine Ausläufer in der „Medikalisierung“ und der „Einsamkeit“ der Sterbenden im Sinne von Norbert Elias. Wie sieht das Sterben des Iwan Iljitsch nun aus? Im Sinne unserer Unterscheidung von Sterben und Tod geht es uns bei der Analyse der Erzählung im Folgenden dezidiert um sein Sterben. Tolstoi hat seinen Text zwar „Tod“ des Iwan Iljitsch genannt, aber der Schwerpunkt der Beschreibungen liegt doch, und zwar sowohl rein vom Seitenumfang her als auch der Sache nach, auf den individualpsychologischen Vorgängen des sterbenden Iljitsch. Auch wenn der Text als eine „präzise Studie einer individualpsychologischen Verdrängung (des Todes, MH) gelesen werden“201 kann, behandelt er, muss er behandeln, gerade deshalb einen Sterbenden und keinen Toten. Verfolgen wir also zuerst kurz im Sinne eines Plots den Leidensweg und Tod des Helden, um dann verschiedene Interpretationen der Erzählung zu präsentieren.202 Auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, stürzt Iljitsch beim Einrichten des neuen Hauses von der Leiter und fällt auf die Seite. „Es tat weh, doch der Schmerz verging bald.“203 Aber nach einiger Zeit, Wochen oder Monaten, stellt er einen merkwürdigen Geschmack im Mund und leichte Schmerzen in der Magengegend fest.204 Dieses unangenehme Gefühl wird schlimmer und be201
Frank Kelleter: Die Moderne und der Tod. Das Todesmotiv in moderner Literatur, untersucht am Beispiel Edgar Allen Poes, T.S. Eliots und Samuel Becketts, Frankfurt am Main u.a. 1997, S.40. 202 Es mag merkwürdig erscheinen, dass gerade der Teil der Erzählung „kurz“ betrachtet werden soll, der sich im engeren Sinne mit Tod und Sterben befasst. Aber die Begründung dafür ist oben schon implizit angeklungen: In den zahlreichen Arbeiten, die sich mit der Erzählung befassen, oder sie im Anschluss an Ariès behandeln, ist immer Wert gelegt worden auf die Beschreibungen des Sterbens und immer wurde der innere Zusammenhang zwischen der weiteren gesellschaftlichen Verfasstheit und der besonderen Weise des Umgangs mit dem Sterben vernachlässigt. 203 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.53. 204 Vgl. ebd., S.62.
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einträchtigt nachhaltig seine Gemütsverfassung. Damit brechen die ewigen Streitereien mit seiner Frau wieder auf, und nachdem Iljitsch in einem Streit entschuldigend erklärte, er sei aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung in solch reizbarer Stimmung, besteht seine Frau auf einem Arztbesuch. Die Konsultation ergibt, dass es der Blinddarm sei. Eine Medikation wird angeordnet und im Glauben an die Wirkung fühlt sich Iljitsch besser. „Der Schmerz ließ nicht nach, aber Iwan Iljitsch zwang sich, selber zu glauben, dass es ihm besser gehe. Der Betrug gelang ihm auch so lange als ihn nichts aufregte. Bei dem ersten Streit mit seiner Frau jedoch, bei einer Unannehmlichkeit im Dienst, bei schlechten Karten fühlte er sofort die Macht des Schmerzes.“205
An keinem Punkt der Erzählung finden sich Hinweise auf ein konkretes Krankheitsbild. Iljitsch zieht andere „Kapazitäten“ zu Rate, diese kommen zu anderen Schlüssen (vielleicht ist es doch die Niere?), die für den Leser aber unspezifiziert bleiben. Alle Medikation und selbstredend auch der Besuch bei einer Heilerin mit Heiligenbildern bleiben erfolglos. Die Krankheit schreitet voran, die Schmerzen werden unerträglich und schließlich stirbt Iljitsch unter grausamen körperlichen Qualen, drei Tage schreiend. Das ist der Plot des zweiten Teiles der Erzählung und das Uninteressante daran. Die Intention Tolstois und das soziologisch Bedeutende an der Geschichte ist alles das, was sich an den so nüchtern beschreibbaren Krankheitsverlauf sozial anlagert. Iwan Iljitsch ist sicher nicht der erste Mensch (ob fiktiv oder real), der einen schmerzhaften Tod sterben muss. Aber die Figur Iwan Iljitsch ist die erste, deren Sterben stellvertretend für eine Art des Sterbens in einer ganz bestimmten Gesellschaft steht. Für welchen Tod Iljitsch steht, soll uns nun im Folgenden beschäftigen, indem wir uns die Parallelen ansehen, die sich zwischen der Schilderung Tolstois und der Darstellung öffentlicher Todesverdrängungsmechanismen bei Heidegger finden und die „fast Punkt für Punkt derjenigen Tolstois in Der Tod des Iwan Iljitsch nachgebildet (sind).“206 5.3 Exkurs: Heidegger Martin Heidegger ist sicher der bedeutenste Rezipient von Tolstois Erzählung. Der Verweis in dem „sonst mit externen Verweisen eher geizende(n)“207 epochalen Werk „Sein und Zeit“ von 1927 springt direkt ins Auge. Die Fußnote Hei205
Ebd., S.70. Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.67. (Kursivsetzung im Original, MH) 207 Ebd. 206
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deggers rechtfertigt bereits die oben ausführlich vorgebrachte Darstellung des ersten Teils der Erzählung: „L.N. Tolstoi hat in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ das Phänomen der Erschütterung und des Zusammenbruchs dieses „man stirbt“ dargestellt.“208 Es kann hier nicht der Ort einer ausführlichen Beschäftigung mit Heideggers Philosophie sein, aber einige Punkte sollen genannt werden, um die Analyse Heideggers zu problematisieren. Dieses „Man“, der zentrale Begriff in Heideggers Philosophie des Todes, gehört in die öffentliche Sphäre des Lebens und ist der Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Verdrängung des Todes, wie Heidegger sie zu erkennen meint. Schon hier ist wichtig darauf hinzuweisen, und wir werden darauf ausführlich zurückkommen müssen, dass Heidegger die Verdrängung des Todes eigentlich nicht als gesellschaftliches Phänomen begreift, welches in der einen Gesellschaft vorkommt und in einer anderen nicht, sondern dass er diese Verdrängung des Todes generell für eine anthropologische Konstante hält. Im berühmten Paragrafen 51 von „Sein und Zeit“ kommt Heidegger auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Tod zu sprechen: „Die Öffentlichkeit des alltäglichen Miteinander „kennt“ den Tod als ständig vorkommendes Begegnis, als „Todesfall“. Dieser oder jener Nächste oder Fernstehende „stirbt“. Unbekannte „sterben“ täglich und stündlich. „Der Tod“ begegnet als bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis. Als solches bleibt er in der für das alltäglich Begegnende charakteristischen Unauffälligkeit. Das Man hat für dieses Ereignis auch schon eine Auslegung gesichert. Die ausgesprochene oder auch meist verhaltene „flüchtige“ Rede darüber will sagen: man stirbt am Ende auch einmal, aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen. (...) Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: „man stirbt“, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich“209
In genau diesem Sinne hat das „Man“ in Tolstois Novelle bei Iljitsch sein ganzes Leben gewirkt, also ihm im Heidegger’schen Sinne „geholfen“, den Tod zu verdrängen und macht es ihm nun nahezu unmöglich, das wirklich zu begreifen, was er „in der Tiefe seiner Seele“ weiß, nämlich, dass es nun ans Sterben geht: „In der Tiefe seiner Seele wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, aber er hatte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnt, sondern begriff ihn einfach nicht und konnte ihn nicht begreifen.“210
208
Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen, 18. Auflage 2001 (zuerst 1927), S.254. (Kursivsetzung im Original, MH) 209 Ebd., S.252f. 210 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.87.
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Was Iwan Iljitsch hier am Begreifen hindert, ist, in Heideggers Worten, die Auslegung dieses bevorstehenden Sterbens durch das Man.211 Es ist die „Zweideutigkeit der Rede vom Tod“ (Heidegger), die dazu führt, dass gerade das „wesenhaft unvertretbar(e)“ Sterben in ein „öffentliches Ereignis“ verkehrt wird, „das dem Man begegnet“ und nicht einem konkreten Menschen, denn: „dieses Man ist das Niemand“.212 Die „Zweideutigkeit“ besteht also darin, etwas als Allgemeinaussage eindeutig auszusprechen, aber zu unterschlagen, dass dieses Allgemeine abstrakt bleibt und nur als je Besonderes konkret zu Tage treten kann. Diese Auslegung des Man ist Iljitsch so selbstverständlich („geworden im Zuge seiner Sozialisation“ müsste der Soziologe dazufügen), dass er fassungslos nun auf sich bezogen das nicht mehr begreifen kann, was ihm als Abstraktum lebenslang eindeutig war: „Jener bekannte Syllogismus, (...): Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich -, war ihm sein ganzes Leben lang sehr richtig in bezug auf Cajus erschienen, in keinem Falle aber in bezug auf sich selber. Cajus – das war der Mensch, der Mensch im allgemeinen, (...). Aber er war gar nicht Cajus und durchaus nicht der Mensch im allgemeinen, sondern er war immer ein ganz und gar besonderes, von allen anderen verschiedenes Geschöpf.“213
Dieses von allen anderen verschiedene Geschöpf stirbt somit auch seinen eigenen Tod, der in diesem Sinne von allen anderen Toden verschieden ist. Da sich die Herrschaft der Daseinsauslegung des Man auf alle anderen Menschen („Daseine“ in der Heidegger’schen Terminologie) gleichermaßen bezieht, ist selbst der Augenblick, in dem Iljitsch, also das je besondere Dasein, sein eigenes Sterben klar erkennt, dennoch durch das Man „verseucht“, weil „die „Nächsten“ gerade dem „Sterbenden“ oft noch einreden, er werde dem Tod entgehen und demnächst wieder in die beruhigte Alltäglichkeit seiner besorgten Welt zurückkehren. Solche „Fürsorge“ meint sogar, den „Sterbenden“ dadurch zu „trösten““.214
Ariès nennt das in seiner Analyse der Novelle, bezeichnenderweise ohne Heidegger zu erwähnen, das „Umsichgreifen der Lüge“215, die er als Historiker aber gerade nicht zu den Charakteristika der anthropologischen Ausstattung des Men211
Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle terminologisch nicht zwischen Tod und Sterben unterschieden werden muss. 212 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.253. (Hervorhebungen MH) 213 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.87. 214 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.253. (Alle Anführungszeichen im Zitat, MH) 215 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.723.
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schen zählt, sondern für die Zeit ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts für typisch hält.216 Und bei Tolstoi liest sich die vermeintliche „Tröstung“ so: „Die Hauptqual für Iwan Iljitsch lag in der Lüge, in der von allen anerkannten Lüge, daß er nur krank und nicht ein Sterbender sei, daß er sich nur ruhig verhalten und die Medizin nehmen solle und alles dann wieder gut werde.“217
Wenn Ariès auch auf merkwürdige Weise ein Anhänger der Verdrängungsthese sein mag, man vergleiche dazu noch einmal seine eigenen Einlassungen zur Paradoxie einer solchen gesellschaftlichen Verdrängung, so zeigt er doch explizit an, dass sich diese Verdrängung gesellschaftlich entwickelt hat und nicht zur Grundausstattung des Menschen gehört: „Jeder ist also Komplize in einem Lügengewebe, das sich in eben dieser Zeit (Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, MH) zu entwickeln beginnt und den Tod von nun an immer entschiedener in den Untergrund verdrängt.“218
Der Historiker Ariès scheint uns mit seiner „Indienstnahme“ der Novelle Tolstois näher an dessen eigener Intention zu sein als der Philosoph Heidegger mit der seinen. Ariès ist es vor allem darum zu tun, darzustellen, wie ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Umgang mit dem Sterben die Aufrechterhaltung einer Illusion Platz greift.219 Der Tod (hier müsste Ariès eigentlich vom Sterben sprechen) wird in den „Untergrund“ gedrängt, nicht weil man sich vor ihm fürchtet, was in Richtung der klassischen Verdrängungsthese ginge, sondern weil das Sterben bereits Formen anzunehmen beginnt, die man als „schmutzig“ und „widerlich“ empfindet. Denn in diesen Zusammenhang ordnet Ariès die Novelle Tolstois ein. Es ist von daher kein Widerspruch, die Schilderungen Tolstois als speziell für seine Gesellschaft, und in ihr die Oberschicht, zu lesen und die Kritik in der Novelle auf diese Zustände zu begrenzen. In diesem Sinne schreibt auch Frank Kelleter in seiner Studie „Die Moderne und der Tod“220, die Erzählung Tolstois sei „die umfassendste literarische Kritik des ordnungsgemäßbürgerlichen Sterbens“.221 In Kelleters literaturwissenschaftlicher Analyse „moderner Todesrede“222 findet sich „Der Tod des Iwan Iljitsch“ denn auch zusam216
Vgl. ebd., S.717. Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.99. 218 Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.718. 219 Vgl. ebd., S.718. 220 Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O. 221 Ebd., S.39. (Hervorhebung MH) 222 Vgl. dazu speziell ebd., S.36ff. 217
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men mit Werfels „Tod eines Kleinbürgers“ und Waughs „The Loved One“. Es geht ihm darum, herauszustellen, „daß besagte Texte im geschichtlichen Moment des bürgerlichen Sterbens eine neue historische Manifestation thanatologischer Inauthentizität erblicken. Hierbei soll dargelegt werden, daß der Begriff des bürgerlichen Sterbens sich nicht allein auf den Augenblick des individuellen Ablebens bezieht, sondern vielmehr ein Alltagssterben bei lebendigem Leib beschreibt, eine Art gesellschaftlicher thanatomimesis oder Todeswelt.“223
Kelleter zufolge handelt es sich bei Tolstoi mehr um eine Kritik der herrschenden bürgerlichen Gesellschaft als um eine grundsätzliche Kritik der menschlichen Einstellung zum Tod als solcher, als was bei Heidegger die Vorstellung von der Verdrängung des Todes erscheinen soll. Heidegger hebt die Passage selbst durch Kursivsetzung hervor, die darauf hinweist, dass er nicht eine bestimmte (historische) Gesellschaft im Blick hat, sondern den Menschen als solchen: „Dem Dasein (also: Dem Menschen, MH224) geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und unüberholbare Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit g e g e n die äußerste Möglichkeit seiner Existenz.“225
Der Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit meint die (permanente) Verdrängung des Todes. Wir blenden hier die weitere Thanatologie Heideggers aus. Die Darstellung der Verdrängung des Todes ist für ihn der Ausgangspunkt, auf den seine ganze weitere Philosophie der Überwindung dieser Verdrängung, oder mit einem anderen Wort: der Todesflucht, aufbaut. Unser Ziel war es, angesichts der großen Rezeptionsgeschichte, die sich in der Thanatosoziologie mit der Heideggerinterpretation des „Iwan Iljitsch“ ergeben hat, darauf hinzuweisen, dass die Novelle sehr stark die spezifischen Bedingungen einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation darstellt, in der die beschriebene Verschleierung des Todes, die „Lüge“ in Bezug auf den Tod sich einreiht in eine generelle gesellschaftliche Lüge: Die Aufrechterhaltung der sozialen Fassade unter allen Konsequenzen ist das, was Tolstoi im Allgemeinen anklagt. Die spezielle Bezugnahme auf den Tod ist dabei das gravierendste Bei223
Ebd., S.S37. Zum Terminus „Dasein“, den Heidegger für „Mensch“ gebraucht, vgl. etwa „Sein und Zeit“, a.a.O., S.11: „Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Diese Seiende fassen wir terminologisch als Dasein.“ (Klammer und Kursivsetzung im Zitat, MH) 225 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.254f. 224
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spiel. In seiner Interpretation überträgt Heidegger diese spezielle gesellschaftliche Konstellation auf das menschliche Verhältnis zum Tod als solchen. Genau darin liegt die soziologische Kritik an Heidegger begründet: Er meint die menschliche Bezogenheit auf den Tod als solche und beschreibt aber eigentlich doch nur die bürgerliche Bezogenheit auf den Tod: „Denn was ist laut Heidegger zu überwinden, wenn die öffentlich-verdrängende Todeshaltung zu überwinden ist? Es stellt sich heraus: eine konkrete geschichtliche Existenzweise, der das Dasein in seiner Alltäglichkeit „verfällt“ und die Heidegger als das „Man“ bezeichnet. Dieses „Man“ indessen ist – auch wenn Sein und Zeit wieder und wieder die Möglichkeit einer ontischen Auslegung des Begriffes bestreitet – nichts anderes als die bürgerlich-individualistische Gesellschaft in ihrer modernen, industrialisierten Erscheinungsform.“226
Auch Alois Hahn sieht in der Heidegger’schen Analyse des Daseins eher eine Zeitdiagnose von dessen Gegenwart: „Man könnte vermuten, daß Heidegger eine sehr spezifisch moderne Situation, nämlich die der radikal entzauberten Welt, in der es, zumindest für viele Menschen, keine Sinngebung, weder des Lebens noch des Todes gibt, zum menschheitsuniversalen Existenzial hochstilisiert, ohne darauf zu reflektieren, daß er nicht Analyse des Daseins betreibt, sondern Zeitdiagnose, die sich selbst nicht als solche durchschaut.“227
Es mag manchen Philosophen ohnehin nur ein müdes Lächeln abringen, es für eine neue, noch dazu bemerkenswerte Entdeckung zu halten, dass das Sterben während des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer langen Phase im menschlichen Leben geworden sei. Hatten nicht gerade sie mit theoretischen Modellen operiert, die eine maximale Länge des Sterbens beinhalteten, nämlich von der Geburt an bis zum tatsächlichen physischen Tode? Schon bei Augustin ist in seinen Bekenntnissen zu lesen, „daß ich nicht weiß, wie ich hierhergekommen bin, ich meine: in dieses tödliche Leben, in diesen lebendigen Tod.“228 Das Leben als 226
Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.66. Alois Hahn: Heideggers Philosophie des Todes im Diskursfeld seiner Zeit (Weber, Simmel und Scheler). In: Johannes Weiß (Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft. Konstanz 2001, S.105-128, hier S.105. 228 Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, erstes Buch, V,6, S.36. In der Anmerkung zu dieser Stelle schreiben Flasch und Mojsisch: „Die Stelle ist überdies charakteristisch für Augustins pessimistische Bewertung des Lebens als eines lebendigen Todes.“ Ebd., S.409. Alois Hahn verweist auf die Übersetzung der Stelle von Joseph Bernhart, der hier „Sterbeleben“ und „Lebesterben“ schreibt. Vgl. Alois Hahn: Tod, Sterben, Jenseits- und Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt am Main 2000, S.119-197, hier S.124. 227
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Sterben zu betrachten hat in der Philosophiegeschichte eine gewisse Tradition. Die Soziologie interessiert sich aber für das Sterben als lange Dauer im menschlichen Leben nicht in Form abstrakter Konzeptionen, sondern als Dauer, die konkret physisch und sozial von den Sterbenden erlebt wird. Oder anders formuliert: wenn sich die Menschen wirklich als Sterbende empfinden, weil sie eine konkrete Veranlassung dazu haben. Wir haben uns im Kapitel über das soziale Sterben dazu ja ausführlich geäußert. Georg Simmel ist, genau umgekehrt wie Montaigne, ein ausgezeichnetes Beispiel für einen Autor, der in seinen Denkbewegungen den Weg von der Soziologie zur Philosophie gemacht hat. Alois Hahn zeigt in seinem Aufsatz229 über Simmels „Metaphysik des Todes“230, dass diese zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, als sich Simmel schon von der Soziologie gelöst und mehr der Philosophie zugewandt hatte.231 Simmel jedenfalls nimmt eine ähnliche Verknüpfung von Leben, Sterben und Tod an: „In jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben werden, und es wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, in ihm irgendwie wirksame Bestimmung wäre. So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke.“232
Wie Hahn ebendort erwähnt, finden sich viele von Simmels Ideen später in Heideggers „Sein und Zeit“ wieder: „Der Ausgangspunkt ist für Simmel – wie danach für Heidegger - , daß der Tod nicht lediglich ein einmaliges Ereignis ist, das in einem bestimmten Augenblick auftaucht und mehr oder minder zufällig das Leben beendet. Der Tod ist viel mehr als nur das Lebensende. Unser ganzes Leben ist durchdrungen vom Tod, ja, in gewisser
229
Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O. Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O. 231 Im Zusammenhang mit den Simmel’schen Überlegungen zur Trennung von den Inhalten unseres Bewusstseins bzw. Lebens und diesem Bewusstseins bzw. Leben selber („erst die Erfahrung unseres Todes wird jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben“ Simmel, Metaphysik des Todes, a.a.O., S.34), schreibt Hahn: „Kühner kann man kaum spekulieren. Deutlicher kann auch die Abkehr von soziologischem Denken kaum dokumentiert werden. (...) Dafür (für die vom einzelnen Leben unabhängige Existenz von Gedankeninhalten, MH) hat der Soziologe Simmel selbst eindrucksvolle Formulierungen gefunden, auf die aber der Metaphysiker Simmel nicht zurückgekommen ist.“ Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.91. 232 Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O., S.13, zitiert nach Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.80. Noch einmal findet sich dieses Bild, welches das ganze Leben als eine Bewegung auf den Tod zu akzentuiert in der Formulierung: „Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen.“ Simmel: Zur Metaphysik des Todes, a.a.O., S.32. 230
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Drei literarische Verarbeitungen Weise läßt sich sagen, daß Leben und Sterben identisch sind. Der Mensch ist auch für Simmel ein ,Sein zum Tode’.“233
Die implizite Annahme, der Tod dehne sich maximal über das ganze Leben aus, lässt sich auch aus der Heidegger’schen Idee des „Vorlaufens in den Tod“ ableiten. Der Tod wird durch die Möglichkeit des in ihn Vorlaufens für Heidegger zu etwas „Erfahrbarem“. Was Heidegger erfahrbar nennt, hat allerdings nichts mit dem zu tun, was bei Montaigne „Erfahrung“ bedeutet. Montaigne meinte damit ja gerade das, was man konkret und körperlich spürbar erlebt. Bei Heidegger geht es auch nicht, wie beim frühen Montaigne, darum, die Angst vor dem Tod zu verlieren, sondern darum, diese Angst auszuhalten. Theoretisch kann man jederzeit vom Tod ereilt werden, auch unmittelbar nach der Geburt schon. Der Tod ist also eine permanente Möglichkeit. In Heideggers schwieriger Terminologie wird daraus die stete „Möglichkeit der Unmöglichkeit von Existenz überhaupt“234. Wenn sich nun ein Mensch diese Möglichkeit bewusst macht, dann „läuft er vor“ in den Tod und erfährt ihn: als Möglichkeit. „Ein solches Aushalten nennt Heidegger‚ Vorlaufen’.“235 Die ganze Distanz zu einer soziologischen Analyse von Tod und Sterben wird hier deutlich. Die soziologische Betrachtung nimmt die Ängste, Schmerzen und Sorgen der Menschen in den Blick, die sich aus dem ergeben, was im wirklichen Sinne „erfahren“ wurde. Der in den Tod Vorlaufende bei Heidegger läuft beständig „in ein Kommendes vor, ohne dieses doch jemals als Etwas zu erreichen, gleichzeitig aber auch ohne dessen immer gegebene Nähe abzuleugnen.“236 Im soziologischen Sinne ist der Tod bei Heidegger damit gerade etwas NichtErfahrbares. Wegen der apriori jederzeit gegebenen Möglichkeit des Todes den Beginn des Sterbens mit der Geburt anzusetzen, macht eine soziologische Analyse des Sterbens unmöglich. Dessen eingedenk muss die Soziologie einen viel engeren Begriff vom Sterben haben.
233
Hahn: Tod und Zivilisation bei Georg Simmel, a.a.O., S.80. Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S.262. 235 Kelleter: Die Moderne und der Tod, a.a.O., S.67. 236 Ebd. 234
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5.4 Alter und Sterben bei Philip Roth „Deswegen braucht man sich nicht zu schämen.“ „Doch, doch“, schluchzte sie. „Daß man nicht für sich selbst sorgen kann. Das jämmerliche Bedürfnis nach Trost...“ „Unter diesen Umständen ist nichts davon ein Grund, sich zu schämen.“ „Sie irren sich. Sie kennen das nicht. Die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit, die Isolation, die Angst – das ist alles entsetzlich, und man schämt sich deswegen. Die Schmerzen sind so, daß man Angst vor sich selbst bekommt. Das Anderssein, daß man so anders ist, das ist furchtbar.“ Philip Roth – Jedermann -
Philip Roth ist schon einmal als Referenz in einem soziologischen Werk erschienen. Wenn es sich auch nur um eine Fußnote handelt, so stellt sie ihm doch immerhin ein nahezu unüberbietbar gutes Zeugnis aus. Es ist Erving Goffman, der in seinem Aufsatz über „die Territorien des Selbst“ im Zusammenhang von Reinlichkeitspraktiken, die dem Schutz vor Selbstbeschmutzung dienen, auf Roth verweist: „In Portnoy’s Complaint (...), hat Philip Roth eine literarische Darstellung der rituellen Arbeit, die mit den Darmbewegungen verknüpft ist, gegeben – eine Darstellung, die sicherlich für lange Zeit definitiv sein wird, vielleicht für immer.“237
„Portnoy’s Complaint“ ist die rasante und haarsträubende Geschichte der erwachenden und mit unendlich vielen Schwierigkeiten beladenen Sexualität der Hauptfigur. Der ganze Roman, mit seinem blitzenden Witz ständig auf der Grenze zur Pornographie und Obszönität, ist der Durchbruch für Roth, die Reaktionen reichen von Bewunderung bis Hass, und entsprechend deftig geht es zu. Die von Goffman angeführte Stelle beschreibt die Verdauungsprobleme des Vaters der Hauptfigur: „Er trank (...) Paraffinöl und Magnesium-Lactat, kaute Ex-Lax, aß morgens und abends Kleieflocken und verdrückte pfundweise gemischtes Trockenobst. Er litt – und wie er litt! – an Verstopfung. (...) Er machte sich in einer Kasserolle ein Gebräu aus getrockneten Sennesblättern - dieses und das unsichtbar in seinem Rektum schmelzende Suppositorium waren seine Zauberkünste: er überbrühte die geäderten grünen Blätter, rührte mit einem Löffel in dem übelriechenden Sud und seihte das Ganze sorgfältig durch, um es schließlich mit gespanntem, bedrücktem Gesichtsausdruck seinem blockierten Körper einzuverleiben. Anschließend kauert er vor dem leeren Glas, als lausche er weit entferntem Donnergrollen, und wartet auf das Wunder... (...) Doch das Wunder kam nie (...). Ich erinnere mich daran, daß er, bei der 237
Erving Goffman: Die Territorien des Selbst, in: ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main 1982, S.86, Fn.41.
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Drei literarische Verarbeitungen Radiomeldung von der Explosion der ersten Atombombe, laut sagte: „Vielleicht hätte die es geschafft.““238#
Nun geht es uns nicht um die Probleme der adoleszenten Hauptfigur in „Portnoy’s Complaint“, sondern um das Sterben, aber die von Goffman anzitierte Stelle mutet in der Rückschau merkwürdig an, weil ihr aus unserer Perspektive eine viel später im Werk von Roth auftauchende Stelle korrespondiert, die für uns von zentraler Bedeutung ist, weil sie, natürlich in literarisierter Form, dennoch aber eine reale Situation schildert, die bis in die Details dem entspricht, was wir mit unseren eigenen Daten belegen wollen. Nämlich das Bild eines Menschen, der eine, wie man ex post feststellen kann, lange Phase des Sterbens hat durchleben müssen. Wenn man Strukturanalogien zwischen den beiden Szenen nennen will, so sind es diese: In beiden ist der Vater des Erzählers das Zentrum, beide haben mit Defäkation zu tun. Aber im ersten Falle ist der Vater noch jung, im zweiten alt; im ersten Falle ist die Beschreibung lustig, im zweiten Falle gewissermaßen todernst; im ersten Falle ist es ein fiktiver Vater eines fiktiven Erzählers, im zweiten der wirkliche Vater des Autors Philip Roth.239 Dieser Vater ist an einem Hirntumor erkrankt und infolge der Erkrankung und einer Operation stark in der Kontrolle seiner Körperfunktionen eingeschränkt. In der beschriebenen Szene findet Philip Roth ihn im Badezimmer. Sowohl das Badezimmer als auch der Vater sind über und über verschmiert mit 238
Philip Roth: Portnoys Beschwerden. Reinbek, 25.Aufl., 2008, S.8f. (Im Original: Portnoy’s Complaint. Harmondsworth 1967) Es ist erstaunlich, dass Goffman zwar auf diese Passage verweist, an einer vorhergehenden Stelle seines Aufsatzes aber den offensichtlichen Fundort seines skurrilen Beispiels nicht nennt. Es geht um „Mittel und Formen der Verletzung“ von sozialen Grenzen des Individuums: „Drittens ein geringfügiger Faktor: Die Körperwärme – die man zum Beispiel auf den Bettüchern von Stundenhotels, auf Toilettenbrillen, in Badezimmern, an ausgeliehenen oder versehentlich angezogenen fremden Jacken oder Pullovern antreffen kann.“ Goffman: Territorien des Selbst, a.a.O., S.78. Eine Nachfrage im Bekanntenkreis des Autors der vorliegenden Arbeit ergab erwartungsgemäß, dass niemand weder auf Bettüchern von Stundenhotels noch auf Toilettenbrillen je die Wärme des Vorbenutzers gefühlt hatte. Woher mag Goffman diese Beispiele haben? Es spricht einiges dafür, dass zumindest das „Toilettenbrillenbeispiel“ von Philip Roth stammt. Nämlich ebenfalls aus der vollkommen überdrehten und hysterischen Handlung in „Portnoys Beschwerden“: „Als Nächstes habe ich mich zu entscheiden, ob ich Toilettenpapier auf die Brille lege oder nicht. Mit Hygiene hat das nichts zu tun; ich bin sicher, dass hier alles sauber ist, makellos sauber (...) Bloß, was ist, wenn die Brille noch warm ist, von einem Campbell-Hintern (der Familienname der Freundin des Protagonisten, MH) – von ihrer Mutter! (...) Ich werde es wissen! Also lasse ich mich nieder – und sie ist warm!“, a.a.O., S.221. Im Übrigen hätte Goffman an gleicher Stelle noch ein weiteres Beispiel für seinen systematischen Zusammenhang finden können: „Bei Gott! Die Seife ist noch schaumig von irgendwelchen Händen.“ Ebd., S.220. 239 Philip Roth: Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte, 11.Auflage, München 2008. Jenseits aller Überlegungen darüber, in welchem Maße die Erzählung fiktionalisierten Charakters ist oder real, lesen wir sie schlicht als Tatsachenbeschreibung. So oder so dient sie vollkommen passend unserem Argument.
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Kot, weil der Vater seine Ausscheidungen nicht mehr ausreichend kontrollieren kann und es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette geschafft hat. Der Versuch, das Unglück zu bereinigen, führt zu der genannten heillosen Situation. Der Vater bricht angesichts der Situation und der Tatsache, so von seinem Sohn gesehen zu werden, vor Scham zusammen. Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat aus einem späteren Buch von Roth könnte hier genauso gut eingefügt werden: „Deswegen braucht man sich nicht zu schämen“ möchte man zu Roths Vater sagen. Aber für diesen gilt eben: „Doch, doch (...) Daß man nicht für sich selbst sorgen kann. (...) Die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit (...), das ist alles entsetzlich. (...) Das Anderssein, daß man so anders ist, das ist furchtbar.“ Es ist der Verlust der Autonomie, das Gezwungensein, ein für selbstverständlich gehaltenes zivilisatorisches Lebensniveau verlassen zu müssen, der Ekel vor sich und der Ekel davor, von anderen so gesehen zu werden, was das soziale Sterben in unserer Zeit charakterisiert und wovor, zusammen mit den Schmerzen, die Menschen sich fürchten. Roth zeigt ein bemerkenswertes Gespür für die Thematik des Alterns, der damit verbundenen Malaisen und für das Sterben. Wie auch bei Montaigne zeigt sich in seinem Werk, dass im Laufe des Lebens andere Probleme in den Fokus rücken und strukturell gleiche Situationen anders bewertet werden. Am markantesten lässt sich das sehen an seiner Figur des Nathan Zuckermann. Über dreißig Jahre hinweg taucht sie immer wieder in seinen Texten auf, und aus der Rückschau des Lesers gibt sie für den Soziologen unserer Tage das ähnlich geeignete Studienobjekt ab wie Ivan Iljitsch für Philippe Ariès. Ein junger Schriftsteller am Anfang, sieht ihn der Leser im vorletzten Buch von Roth als verfallenden alten Mann, der nach einer Prostataoperation an Impotenz und Inkontinenz leidet.240 Auch er leidet sehr unter seiner Situation und auch mit der gleichen Reflexionsfigur: Er gäbe alles daran, „wieder ganz zu sein“241. Zuckermann, den Roth in seinem vorletzten Buch242 als Ich-Erzähler auftreten lässt, spricht von einer „underlying humiliation“ angesichts der „dailiness of the routine necessary to keep myself clean and odor-free“, er kann sich nicht daran gewöhnen „to wearing the special undergarments and changing the pads and dealing with the ,accidents’ (i.e. der Inkontinenz, MH)”243 und das ganze gewohnte Leben und Veröffentlichen steht ihm in Zweifel: „What does it matter any longer if I’m incontinent and impotent?“244 240
Nach wie vor lesen wir die Romane und Geschichten von Roth vollkommen ohne literaturwissenschaftlich-analytischen, sehr wohl aber mit einem soziologisch-analytischen Anspruch. 241 Zitiert nach Jordan Mejias: Auf den Schlachtfeldern von Lust und Alter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.11.2007. 242 Philip Roth: Exit Ghost. New York 2008. 243 Ebd., S.2. 244 Ebd., S.5.
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Fiktiv zwar, aber ganz im Zentrum der Handlung, steht das Sterben in Roths „Jedermann“. Die Novelle zeigt eine Geschichte der Krankheit und des Sterbens der Hauptperson, die unter anderem eine Frau kennenlernt, „die das Leben nur noch als physischen Schmerz wahrnehmen kann und sich darum vor sich selbst und dem unerträglich anderen in sich fürchtet“245 und sich selbst tötet: die Frau des Eingangszitates. Roth selbst zeigt sich in einem Interview zu diesem Buch soziologisch auf der Höhe der Zeit: „Es ist einfach so, dass wir heutzutage meistens am Leben bleiben, wenn wir krank werden. Wir machen daher weitaus mehr Erfahrung mit Krankheit als die Menschen im 15. Jahrhundert. Wer damals richtig krank wurde, der starb. (...) Der Tod kommt natürlich auch heute noch unerwartet, aber im großen und ganzen werden Menschen eine ganze Weile am Leben erhalten, bis eine Krankheit sie am Ende tötet.“246 Roth ist der Autor der Stunde für die vorliegende Studie und sollte ein zukünftiger Philippe Ariès eine neue „Geschichte des Todes“ schreiben und sich dafür noch einmal so elegant in der Weltliteratur bedienen wollen, müsste er für das späte zwanzigste und frühe einundzwanzigste Jahrhundert Philip Roths Beschreibung des Sterbens seines Vaters zitieren. Jedenfalls für das, was die vorliegende Studie anhand empirisch erhobener soziologischer Daten zeigen will, findet sich bei ihm eine literarische Darstellung, die sicherlich für lange Zeit definitiv sein wird, vielleicht für immer: „Gegen Ende der Mahlzeit schob er seinen Stuhl zurück und ging in Richtung der Stufen zur Küche. Es war das dritte Mal, daß er während des Essens vom Tisch aufstand, und ich erhob mich ebenfalls, um ihm die Treppe hinaufzuhelfen. Er wollte jedoch nicht, daß ich ihm half, und da ich mir vorstellte, daß er wiederum einen Versuch machte, seinen Darm zu entleeren, wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem ich mich aufdrängte. Wir tranken unseren Kaffee, als mir auffiel, daß er immer noch nicht wiedergekommen war. Ich verließ still den Tisch und schlich mich ins Haus, während die anderen miteinander sprachen, in der Gewißheit, daß er tot sei. Er war es nicht, doch er mochte durchaus wünschen, er wäre es. Ich roch die Scheiße auf der halben Treppe zum oberen Stockwerk. Als ich zu seinem Badezimmer kam, stand die Tür weit offen, und auf dem Fußboden des Ganges vor dem Badezimmer lagen seine Jeans und seine Unterhose. In der Badezimmertür stand mein Vater, völlig nackt; er war gerade aus der Dusche gekommen und tropfnaß. Der Gestank war überwältigend. Bei meinem Anblick brach er fast in Tränen aus. Mit einer Stimme, so verloren, wie ich sie nur je von ihm oder irgend jemand anderem gehört hatte, sagte er, was zu vermuten nicht schwer gewesen war. „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er. Die Scheiße war überall, auf der Badematte unter den Füßen verschmiert, über den Rand der Toilettenschüssel verteilt und unterhalb der Schüssel auf dem Fußboden in einem Haufen. Sie war über das Glas der Duschkabine versprenkelt, aus der er gerade herausgekommen war, und die Klumpen klebten an den Kleidungsstücken, die im Flur abgeworfen lagen. Sie war auch an einem Zipfel des Badetuchs, mit dem er sich abzutrocknen begonnen hatte. Er hatte in diesem kleinen Badezimmer, das 245
Zitiert nach Jordan Mejias: Wann ist genug genug?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.07.2006. 246 Zitiert nach: Interview mit Philip Roth: Alter ist ein Massaker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.08.2006.
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normalerweise das meine war, versucht, sich allein aus seiner mißlichen Lage zu befreien, doch da er nahezu blind war und gerade erst aus dem Krankenhausbett aufgestanden war, hatte er, indem er sich entkleidete und unter die Dusche ging, es geschafft, die Scheiße überall auszubreiten. Ich sah, daß sie sogar an den Spitzen der Borsten meiner Zahnbürste war, die im Halter über dem Waschbecken hing. (...) „Du hast dich wacker geschlagen“, sagte ich, „doch ich fürchte, die Situation war nicht zu meistern.“ „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er, und jetzt löste er sich in Tränen auf.“
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Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ schloss thematisch an die Studie für den Hospizverein an. An Stelle der professionell mit Sterbenden arbeitenden Gruppen in den Institutionen war die Grundgesamtheit hierbei die deutsche Bevölkerung über achtzehn Jahren in den Privathaushalten der Stadt Trier und der Region Trier-Saarburg. Die Themenkomplexe der Untersuchung, zu denen die Einstellungen der Bevölkerung gemessen werden sollten, waren folgende:
Schwere Krankheit Pflegebedürftigkeit Sterbebegleitung Sterbehilfe
Der Pretest wurde im September und Oktober 2006 durchgeführt und die Umfrage selbst, nach einer Ankündigung in der lokalen Presse, in der Zeit vom 15.11. bis zum 16.12.2006. Die Umfrage wurde als Telefonbefragung mit zufallsgenerierten Telefonnummern des ZUMA durchgeführt und es wurden 317 Zielpersonen telefonisch befragt. Die Interviewzeiten waren von montags bis freitags zwischen 16:30 Uhr und 21 Uhr und samstags zwischen 10 und 17 Uhr. Um die Zielperson zu ermitteln, wurde die „Last-Birthday-Methode“ verwendet.
6.1 Struktur der Stichprobe (Rahmendaten) Der weibliche Anteil der Befragten lag bei 52,4 Prozent (N=166), der männliche entsprechend bei 47,6 Prozent (N=151). Mit Personen, die in Trier wohnhaft sind, wurden 141 Interviews geführt, mit Personen aus der Region TrierSaarburg 176 Interviews. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 45 Jahren. Die jüngste interviewte Person war 18, die älteste 86 Jahre alt. Die Verteilung in den Altersklassen sieht wie folgt aus:
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 22: Alter der Befragten klassifiziert (in Prozent) Altersklassen 18-30 31-50 51-60 61-89 N
Stadt 29,0 40,6 16,7 13,8 157
Land 14,9 46,3 25,1 13,7 156
Gesamt 21,1 43,8 21,4 13,7 313
Da wir nur die deutsche Wohnbevölkerung über 18 Jahren befragt haben, ist ein Vergleich mit der allgemeinen Altersstruktur in Rheinland-Pfalz nicht ohne weiteres herzustellen, aber es lässt sich nährungsweise sagen, dass sich die Altersstruktur in unserer Stichprobe mit der in Rheinland-Pfalz deckt.247 Bezüglich der Zugehörigkeit zu Konfessionen allerdings liegt der Anteil der Befragten römisch-katholischen Glaubens weit über dem Anteil in RheinlandPfalz und auch über dem Anteil der Katholiken im Bistum Trier. Auf dem Gebiet des Bistums Trier sind bei 2,5 Millionen Einwohnern 1,6 Millionen Katholiken (64 Prozent). Da unsere Umfrage nur die Stadt Trier als Bistumsstadt und den Landkreis Trier-Saarburg betraf, ist der höhere Anteil in der Stichprobe gegenüber dem Bistum nicht verwunderlich. Tabelle 23: Zugehörigkeit der Befragten zu Konfessionen (in Prozent) Konfession Römisch-katholisch Evangelisch Andere christliche Glaubensgemeinschaften Keine Religion N
Stadt 75,2 21,1 2,8
Land 89,8 9,6 0,6
Gesamt 83,8 14,3 1,5
0,9 132
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0,4 266
Bezüglich der Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Konfession liegt also ein Bias vor. Allerdings ist die Einschätzung der Verbundenheit der Befragten mit ihrer Konfession nicht in gleichem Maße hoch:
247
Die Daten des statistischen Landesamtes Rheinland-Pfalz sind zudem in andere Altersklassen aufgeschlüsselt. Danach sind 20,8 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahren, 54,4 Prozent zwischen 20 und 60 Jahren und 24,9 Prozent 61 Jahre und älter. Vgl.: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz unter: http://www.infothek.statistik.rlp.de/lis/MeineRegion/index.asp, Stand: 18.04.07.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
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Tabelle 24: Verbundenheit mit der Kirche (in Prozent) Verbundenheit Sehr stark Stark Weniger stark Gar nicht N
Stadt 6,5 29,9 47,7 15,9 132
Land 11,4 27,8 52,5 8,2 133
Gesamt 9,4 28,7 50,6 11,3 265
Überdies zeigt sich hierbei, nicht unerwartet, ein Alterseffekt. Sowohl in der Kategorie „sehr starke Verbundenheit mit der Kirche“, als auch in der Kategorie „starke Verbundenheit mit der Kirche“ nimmt der Anteil der Befragten mit den höheren Altersklassen zu, wie er auch komplementär dazu in den Kategorien „weniger starke Verbundenheit“ und „gar keine Verbundenheit mit der Kirche“ mit den höheren Altersklassen abnimmt. Tabelle 25: Verbundenheit mit der Kirche nach Altersklassen (in Prozent) Verbundenheit 18-30 Jahre Sehr stark 6,3 Stark 14,6 Weniger stark 62,5 Gar nicht 16,7 N 67 Sig.: .000 Pearson’s-R: .233
31-50 Jahre 7,0 27,8 54,8 10,4 66
51-65 Jahre 8,2 29,5 49,2 13,1 66
66 u.ä. 21,1 44,7 28,9 5,3 63
Gesamt 9,2 28,2 51,1 11,5 262
Die hier referierten Daten der Studie „Schwere Krankheit und Tod“ sind auch von Bedeutung für die oben dargestellte Untersuchung der Praxis der Sterbebegleitung („Hospizstudie“), denn die dort befragten, professionell mit Sterbebegleitung befassten Personen gehören eben der gleichen Grundgesamtheit an, welche der Untersuchung „Schwere Krankheit und Tod“ zu Grunde liegt. Das Ziel der hier vorzulegenden Analyse ist es, das Gesamtpanorama der Situation von Tod und Sterben darzustellen, wie es sich uns heute bietet. Die grundlegende These hierbei ist es, dass sich die Trennung von Tod und Sterben als zwei voneinander grundsätzlich zu unterscheidenden Phasen in ihrer Auswirkung sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene der Institutionen als auch auf der Ebene der Allgemeinbevölkerung zeigt. Daher sollen im Folgenden nun die Punkte vorgestellt werden, die den Perspektiven und Aspekten der für die Institutionen analysierten Themenkomplexe korrespondieren.
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Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
6.2 Verlust eines nahe stehenden Menschen Um überhaupt die Einstellungen zu „Tod und Sterben“ in einen interpretationsfähigen Rahmen zu stellen, muss allererst geklärt werden, in welchem Maße der Tod oder das Miterleben des Sterbens für die Allgemeinbevölkerung ein erlebbares Phänomen darstellt. 248 Aber nicht nur das quantitative Maß ist hierbei von Interesse, sondern auch, auf welche Art und Weise man mit dem Tod oder dem Sterben konfrontiert ist. Auch hierin, so ist zu vermuten, besteht ein Unterschied zwischen den Befragten der beiden Untersuchungen (professioneller versus nicht-professioneller Umgang). Auf die Frage, ob sie schon einmal einen ihnen nahe stehenden Menschen aus dem Familien- oder Freundeskreis verloren haben, antworten lediglich 8 Prozent, dass dies nicht der Fall sei. Hingegen geben 62 Prozent der Befragten an, bereits mehrere nahe stehende Menschen und 30 Prozent, einen nahe stehenden Menschen verloren zu haben (N=315). Was aber heißt „nahe stehend“ und wie ist es zu interpretieren? Aufgrund der Tatsache, dass später nur wenige Befragte angeben, das Sterben „eines“ Menschen miterlebt zu haben (es war nicht nach einem „nahe stehenden Menschen“ gefragt), kann man vermuten, dass „nahe stehend“ in der ersten Frage von den Befragten „formal“ aufgefasst wurde. Man hat die Formulierung „einen nahe stehenden Menschen aus dem Familienoder Freundeskreis“ gewissermaßen tautologisch verstanden und jeden Familienangehörigen auch als nahe stehend qualifiziert. Wenn dem so war, hatte das zur Konsequenz, dass jeder Todesfall, den es im Familien- oder Freundeskreis zum Zeitpunkt der Befragung bereits gegeben hatte, hier genannt wurde. Das wiederum sagt aber recht wenig darüber aus, wie präsent im Leben des Befragten dieser Todesfall war. Die Interpretation dieses Datums gewinnt etwas mehr Kontur, wenn man es mit dem Alter der Befragten korreliert.
248
Im Folgenden wird hierfür der Terminus „Todkontakt“ verwendet. Die Begriffsschöpfung stammt von Alois Hahn, der ihn in seiner Arbeit „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“, a.a.O., erstmalig verwendet und dazu anmerkt: „Mit dem freilich sehr unschönen Ausdruck „Todkontakt“, der im folgenden der Abkürzung wegen häufiger benutzt wird, soll die aktuelle Begegnung eines Menschen mit dem Tod gemeint sein, also Art und Häufigkeit des Erlebnisses des Todes und Sterbens anderer.“ Ebd., S.16, Fn.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
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Tabelle 26: Verlust eines nahe stehenden Menschen aus dem Familien- oder Freundeskreis Verlust von Angehörigen Nein
Altersklasse 18-30 Jahre 10 15,6% Eine Person 27 42,2% Mehrere Per- 27 sonen 42,2% Gesamt 64 100% Sig.=.000, Gamma=.461
31-40 8 10,3% 19 24,4% 51 65,4% 78 100%
41-50 8 13,6% 15 25,4% 36 61,0% 59 100%
51-60 0 0% 7 14,0% 43 86,0% 50 100%
61-70 0 0% 5 13,9% 31 86,1% 36 100%
71 u.ä. 0 0% 2 8,7% 21 91,3% 23 100%
Gesamt 26 8,4% 75 24,2% 209 67,4% 310 100%
Es zeigt sich dann der erwartete Zusammenhang (Gamma=.461), dass es sich um den gewöhnlichen Umstand handelt, dass junge Menschen noch nicht so viele Familienmitglieder und auch, ebenso altersbedingt, noch nicht so viele Freunde verloren haben wie ältere Menschen. Diese Aussage ist banal und gilt in der Form auch für alle früheren Zeiten. Insofern kann hier nicht eine bedeutsame Differenz zu früheren Zeiten erwartet werden. Der normale Verlauf sieht vor, dass man zuerst die Großeltern, dann die Eltern und dann die Angehörigen der eigenen Generation verliert. Dass es sich auch bei unseren Daten so verhält, dass es sich bei den hier genannten „nahe stehenden Menschen aus dem Familienkreis“ wohl vor allem um die Großeltern handelt, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass zum Beispiel in der Altersklasse von 41-50 Jahren nur 13,6 Prozent sagen, dass sie noch keinen nahestehenden Verwandten verloren haben (und für alle Befragten, die den höheren Altersklassen angehören gilt, dass dort noch niemand keinen Angehörigen verloren hat), bei der Frage nach dem Verlust der Eltern aber in der gleichen Altersklasse (41-50 Jahre), 61 Prozent angeben, dass bei ihnen noch immer beide Elternteile am Leben seien (N=59). 6.3 Verlust der Eltern In der folgenden Altersklasse der 51-60jährigen bricht dieser hohe Wert ein und nur noch 16 Prozent haben noch beide Eltern (N=50).249 Allerdings finden sich 249
In diesen Beispielen ist die absolute Zahl der Befragten sehr gering: Hinter den 16 Prozent der 4150jährigen verbergen sich ja nur 36 Personen und hinter den 16 Prozent der 51-60 Jährigen gar nur 8 Personen. Aus diesem Grund können die in diesem Zusammenhang referierten Zahlen nur ein erstes
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Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
auch noch in allen weiteren Altersklassen jeweils, wenn auch wenige, Personen, deren Eltern noch beide am Leben sind. Tabelle 27: Verlust der Eltern nach Alter Verlust der Eltern Nein
Altersklasse 18-24 Jahre
35 94,6% Ein 2 Elternteil 5,4% beide 0 0% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.701
25-30
31-40
41-50
51-60
61-70
71-90
26 89,7% 2 6,9% 1 3,4% 29 100%
66 84,6% 10 12,8% 2 2,6% 78 100%
36 61,0% 19 32,2% 4 6,8% 59 100%
8 16,0% 27 54,0% 15 30,0% 50 100%
7 19,4% 17 47,2% 12 33,3% 36 100%
7 29,2% 9 37,5% 8 33,3% 24 100%
Gesamt 185 59,1% 86 27,5% 42 13,4% 313 100%
In Bezug auf die Frage, welches Gewicht man der Tatsache wohl beizumessen habe, dass bereits über 90 Prozent unserer Befragten wenigstens einen „nahe stehenden Menschen“ verloren haben, haben wir hier nun ein Datum vor uns, welches größere Bedeutung verdient. Ist man geneigt, den Tod der Großeltern für nicht weiter bedeutsam für das Leben der heutigen Menschen und für ihre Vorstellungen vom Tod zu halten, und ist dies auch nicht einmal klar zu benennen für diejenigen, die ihre Eltern verloren haben250, so ist es doch eine wichtige Feststellung, dass in der Klasse der 41-50 Jährigen mehr als die Hälfte der Befragten, 61 Prozent, noch nicht in der Situation waren, Vater oder Mutter beerdigen zu müssen. Denn die Annahme, dass die Erfahrung des Todes eines signifikanten Anderen mit jedem Generationenschritt (Großeltern-Eltern-Gleichaltrige) eine größere Wirkung hat, gilt vermutlich nur dann, wenn der Tod der Eltern in einer Lebenssituation eintritt, in welchem sie im ganz realen Sinne noch signifikante Andere sind. Für Menschen im fünften Lebensjahrzehnt, die in den allermeisten Fällen selbst nicht mehr am Ende der Generationenfolge stehen, da sie
(Zahlen)Gerüst sein, an dem sich unsere Untersuchung orientieren kann. Letztlich kann bei dieser Datenbasis nur das Ineinandergreifen von Zahlen und aus weiterer Literatur (wissenschaftlich, belletristisch und journalistisch) zusammengetragener Deskription aussagekräftig sein. 250 Die Wirkung, welche das Miterleben des Sterbens eines Menschen hat, werden wir weiter unten noch diskutieren. Aber nach dem bereits ganz zu Anfang referierten Datum, dass sich nur 7 Prozent der Befragten vor dem Tod, aber 60 Prozent vor dem Sterben fürchten, ergibt sich schon die noch zu belegende Vermutung, dass dies eine ungleich stärkere Wirkung hat.
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
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bereits selbst Kinder haben, dürfte das nur noch schwerlich gelten.251 In genau diesem Sinne ist der Tod für die heutigen Menschen (gemeint sind natürlich immer die „westlichen Menschen“) nicht nur kein alltagsaufdringliches Thema mehr, sondern dort, wo es den Alltag betrifft, betrifft es ihn in einer überaus abgemilderten Form im Vergleich zu früheren Zeiten. 6.4 Verlust des Lebenspartners Im Gegensatz zum Tod der Eltern ist der Tod des Lebenspartners sicher ein einschneidendes Ereignis, unabhängig davon, in welchem Alter dies erlebt wird. Härter zu verkraften ist wahrscheinlich nur noch der Tod des eigenen Kindes.252 Ein Verlust eines Kindes wurde von den Befragten nur in fünf Fällen berichtet. Hierbei ist aber festzuhalten, dass dabei ungeklärt bleiben muss, ob es sich um den Tod eines eigenen Kindes handelt oder um den Todesfall eines Kindes im „Familien- oder Freundeskreis“, auf den sich die Nachfrage „In welcher Beziehung stand diese verstorbene Person zu Ihnen?“ bezog. In Bezug auf den Verlust des Lebenspartners ist nun für die interessante Gruppe der 41-50jährigen, die mehrheitlich noch kein Elternteil verloren haben, zu sagen, dass sie auch noch nicht ihren Lebenspartner verloren haben. Bei einem Altersdurchschnitt von rund 45 Jahren in unserem Sample gilt das im Übrigen für 93 Prozent (N=291) unserer Befragten.
251 Nach eigenen Kindern wurde in unserer Untersuchung nicht gefragt, aber von den betreffenden 59 Personen sind 50 bereits eine eigene Ehe eingegangen (die allerdings nicht in allen Fällen gehalten hat: 7 sind wieder geschieden, 2 sind zwar noch verheiratet, aber getrennt lebend), bei 39 von ihnen lebt wenigstens 1 Kind im Haushalt (eigen oder das des Partners). 252 Vgl. dazu das Kapitel „Alter und Sterben und der ,verfrühte Tod’“ der vorliegenden Arbeit.
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Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 28: Verlust des Lebenspartners nach Alter Verlust des Lebenspartners Nein
Altersklasse 18-24 Jahre 36 97,3% Ja 1 2,7% Mehrmals 0 0% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.771
25-30 31-40 41-50 51-60 61-70 71-90 Gesamt 29 100% 0 0% 0 0% 29 100%
77 98,7% 1 1,3% 0 0% 78 100%
59 100% 0 0% 0 0% 59 100%
46 92% 4 8% 0 0% 50 100%
30 83,3% 6 16,7% 0 0% 36 100%
14 58,3% 9 37,5% 1 4,2% 24 100%
291 93% 21 6,7% 1 0,3% 313 100%
6.5 Miterleben des Sterbens: „Direkter Todkontakt“ In der Altersgruppe von 18-24 Jahren haben 73 Prozent der Befragten noch keine Erfahrung mit direktem Todkontakt. Dies fehlt also ganz eindeutig als Sozialisationsinhalt. Tabelle 29: Direkter Todkontakt nach Alter Direkter Todkontakt Nein
Altersklasse 18-24 Jahre 27 73% Ja, einmal 6 16,2% Ja, mehr- 4 mals 10,8% Gesamt 37 100% Sig.=.000, Gamma=.332
25-30 20 69% 6 20,7% 3 10,3% 29 100%
31-40 41 52,6% 23 29,5% 14 17,9% 78 100%
41-50 24 40,7% 17 28,8% 18 30,5% 59 100%
51-60 15 30% 21 42% 14 28% 50 100%
61-70
71-90
11 30,6% 16 44,4% 9 25% 36 100%
6 25% 10 41,7% 8 33,3% 24 100%
Gesamt 144 46% 99 31,6% 70 22,4% 313 100%
Dazu passend wird von unseren Daten auch die bereits von Ochsmann nolens volens bestätigte These einmal mehr bestätigt, dass die Menschen eher in Institutionen sterben als zu Hause: 45 Prozent im Krankenhaus, 5 Prozent im Altenheim und 41 Prozent zu Hause. Die restlichen 9 Prozent sterben im Straßenverkehr, im Urlaub oder am Arbeitsplatz. Die Kategorie „im Urlaub“ fällt aus der Reihe und ist an sich sinnlos, weil die interessierende Frage wäre, ob die Betref-
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fenden im Urlaub in einem Krankenhaus gestorben waren, oder, was vielleicht noch eher wahrscheinlich ist: im Straßenverkehr während des Urlaubs (sicher wird der Hin- und der Rückweg auch zum Urlaub gezählt und die Sterberate im Urlaubsverkehr schlüge hier sicher zu Buche). Wenn die Befragten also weder einen signifikanten Anderen verloren haben (wobei hier die Frage nach dem Miterleben des Sterbens nicht miteinbezogen war) und auch das Sterben eines Menschen großenteils noch nicht miterlebt haben (wobei hier wiederum nicht das Kriterium des „nahen Menschen“ bestand), wenn dazu passend die Menschen nach den Angaben unserer Befragten zu 50 Prozent in Institutionen gestorben sind, dann liegt die Vermutung nahe, dass in den Fällen, in denen das Sterben miterlebt wurde, dies im Rahmen der beruflichen Tätigkeit der Befragten stattfand. Ein weiterer Hinweis auf diese Vermutung liegt in dem Umstand, dass die Anzahl der Befragten, die bereits mehrmals das Sterben eines Menschen miterlebt haben, nicht von Altersklasse zu Altersklasse zunimmt (s.o.). Eine Korrelation mit dem Alter scheint hier also nicht vorzuliegen. Tabelle 30: Direkter Todkontakt und Beruf im Pflegedienst Direkter Todkontakt Nein
123 51,5% Ja, einmal 75 31,4% Ja, mehrmals 41 17,2% Gesamt 239 100% Sig.=.000, Cramer’s V=.251
Beruf im Pflegedienst Nein Ja 20 26,7% 26 34,7% 29 38,7% 75 100%
Gesamt 143 45,5% 101 32,2% 70 22,3% 314 100%
Die berufliche Tätigkeit (gefragt war, ob die Befragten „beruflich mit Sterbenden oder Schwerkranken zu tun“ haben) ist das ausschlaggebende Kriterium dafür, dass die Befragten das Sterben eines Menschen ein- oder mehrmals miterlebt haben. Für die Befragten unter 25 Jahren ist dieser Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Erleben des Sterbens eines anderen besonders stark ausgeprägt253:
253
Wenn auch die Fallzahlen hier gering sind.
140
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 31: Direkter Todkontakt der bis 25jährigen nach Beruf Direkter Todkontakt
Beruf im Pflegedienst Nein Ja Nein 25 2 83,3% 28,6% Ja 5 5 16,7% 71,4% Gesamt 30 7 100% 100% Sig.=.003, Cramer’s V=.483
Gesamt 27 73% 10 27% 37 100%
Wenn wir an dieser Stelle ein vorläufiges Fazit ziehen wollen, so lässt sich festhalten, dass ganz offensichtlich sowohl der Tod als auch das Sterben im Leben der Normalbevölkerung, sofern die Menschen nicht beruflich damit befasst sind, nur eine eher marginale Rolle spielt. Bezogen auf die oben aufgeworfene (alte) Frage nach gesellschaftlichen Verdrängung des Todes bedeutet dies, dass es keine Notwendigkeit gibt, den Tod zu verdrängen. 6.6 Lebensbedrohlicher Unfall und schwere Krankheit Nun wäre es zu kurz gegriffen, gewissermaßen ein positivistischer Fehler, wenn man nur die tatsächlichen Todesfälle in Betracht zöge um zu ermessen, ob für die Menschen „Bewusstseinsaufdringliches“ zu verarbeiten ist. Wenn man von der These ausgeht, dass sich ein Bewusstsein für etwas, in diesem Falle für die Tatsache, dass wir alle sterblich sind und irgendwann unseren Tod zu vergegenwärtigen haben, an real Erlebtem entzündet und bildet, dann muss man zu den erlebten Todesfällen auch solche Lebenssituationen hinzuziehen, in denen man sich vom Tod bedroht fühlt, sei es durch eine schwere Krankheit oder einen erlittenen Unfall. Näher betrachtet erscheinen Erfahrungen solcher Art unter Umständen sogar häufig schwerwiegender und für den Einzelnen mit größerer Erschütterung verbunden zu sein als Todesfälle anderer. Zumindest muss man dies aus methodenkritischer Sicht in Bezug auf die Aussagekraft der hier referierten Umfragedaten konzedieren. Wie bereits gesagt, sind die gewonnenen Daten sowohl zu der Frage nach dem „Tod einer nahestehenden Person aus dem Familien- oder Freundeskreis“ als auch nach dem „Miterleben des Sterbens“ je mit einer Unschärfe behaftet. Im einen Falle bleibt unklar, was genau „nahe stehend“ bedeutet, so dass hier durchaus auch solche Todesfälle mitgezählt wurden, die innerhalb des Familienkreises stattgefunden haben. Des Weiteren wurden hier die näheren Umstände nicht in Betracht gezogen, die aber für uns gerade
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
141
von entscheidendem Interesse sind. Denn die Frage sollte dazu dienen, einen „Todeskontaktindex“ der Befragten abzubilden. Die Wirkung oder der Eindruck, den ein Todesfall hinterlässt, hängt nun aber entscheidend von Faktoren ab, wie etwa, in welchem Alter eine Person starb, wie eng der Kontakt zu ihr war, ob die Person nach langer Krankheit, ob sie unter Schmerzen starb. Im Falle der Frage nach dem Miterleben des Sterbens eines Anderen wiederum bestand die Unschärfe darin, ob dieses Miterleben in einem beruflichen Kontext stattfand oder ob es eine wenigstens irgendwie geartete privat-persönliche Verbindung gab.254 Daher ist es für eine Einschätzung des „Todesbewusstseins“ unserer Befragten wichtig, auch die Erfahrungen von schwerer Krankheit und erlittenen Unfällen zu berücksichtigen. Keine großen Schwierigkeiten dürfte die Beantwortung der Frage gemacht haben, ob man bereits einen „lebensbedrohlichen Unfall“ hatte. Denn dass man einen Unfall „lebensbedrohlich“ nennt, verdankt sich sicher nicht, oder nur in den allerseltensten Fällen, rein subjektiver Empfindung. Ein lebensbedrohlicher Unfall ist wohl in aller Regel verbunden mit dem Einsatz eines Arztes oder gar Notarztes und der Rettungsdienste oder der Feuerwehr. Ob im Sinne einer medizinischen Diagnose dann die Situation des Unfallopfers tatsächlich lebensbedrohlich war, spielt für unsere Frage wiederum keine Rolle. Für uns entscheidend ist hier allein, dass die betroffene Person ihr Leben in Gefahr, oder, unvermeidbar pathetischer ausgedrückt, den Tod nahen sah. 255 Kurz gesagt: Wir gehen davon aus, dass sich die Befragten zweifelsfrei darüber im Klaren waren, ob sie bereits einmal einen lebensbedrohlichen Unfall hatten. Es zeigt sich, dass dies lediglich auf rund 10 Prozent der Befragten zutrifft und die überaus große Mehrheit sich noch nicht in einer durch einen Unfall hervorgerufenen lebensbedrohlichen Situation befand (N=280). Rund 88 Prozent der Befragten geben auch an, noch keine „schwere Krankheit“ gehabt zu haben (N=317). Als „schwer“ bezeichneten die Befragten folgende Krankheiten256:
254
Dass es durchaus auch beruflich-persönliche Beziehungen gibt, die überdies höchst problematisch sein können, ist ja gerade Quintessenz des Kapitels über die Arbeit im stationären Hospiz. Ein exotisch anmutender Sonderfall, der aber gleichwohl für uns auch keine Rolle spielte, wäre dann gegeben, wenn eine objektiv lebensbedrohliche Situation von demjenigen, der sie überstand, nicht für lebensbedrohlich gehalten wurde. An diesem Extrem wird klar, dass es uns nur auf die Wahrnehmung bzw. die Empfindung des Betreffenden ankommt. 256 Die Frage war offen gestellt, Mehrfachnennungen waren erlaubt und die Antworten wurden später zu den aufgeführten Kategorien zusammengefasst. 255
142
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 32: „Welche Krankheiten sind für Sie schwere Krankheiten?“ Krankheit Krebs AIDS, HIV u.a. Infektionskrankheiten Herzerkrankungen Körperliche Behinderungen Erkrankungen des Gehirns Chronische Erkrankungen Depressionen u.a. psychische Erkrankungen Geistige Behinderungen Sonstiges N
Prozent 85,9% 28,7% 22,9% 15,8% 13,5% 8,7% 6,5% 3,9% 2,9% 317
6.7 Todeskontaktindex und Todesbewusstseinsindex Zieht man nun alle die Fragen zusammen, die sich auf den Tod im näheren Sinne und auf Unfälle und schwere Krankheiten beziehen, so lässt sich bei entsprechender Gewichtung ein Index bilden, der den „Todkontakt“ der Befragtenpopulation darstellt.257 Die beruflichen Erfahrungen mit Tod und Sterben werden in den Index nicht hineingerechnet, weil es uns an dieser Stelle gerade nicht um die professionelle Seite des Umgangs mit der Thematik geht (Stichwort „Spezialinstitutionen“), sondern um die Situation des „durchschnittlichen Laien“, wenn man das einmal so nennen darf.
257
Diese Berechnungen, ebenso wie die Berechungen zum sogenannten „Todesbewusstseinsindex“ hat die Arbeitsgruppe um Ulrich Nöll und Jonny Laberenz zum Thema „Der eigene Tod“ im Zusammenhang mit der Umfrage durchgeführt. Vgl. Ulrich Nöll und Jonny Laberenz et al.: Der eigene Tod. (Unveröffentlichtes Manuskript, Trier 2007).
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
143
Tabelle 33: Todeskontaktindex Frage Haben/ Hatten Sie bereits eine schwere Krankheit? Ist das schon länger her? Hatten Sie schon einen lebensbedrohlichen Unfall? In welcher Beziehung stand die verstorbene Person zu Ihnen?
Haben Sie das Sterben eines Menschen schon einmal miterlebt?
Antwort Ja, und zwar...
3
Nein Ja
3 3
„Kind“ „Lebenspartner“ „Ein Elternteil“ „Familienangehörige“ „Ein Großelternteil „Sonstige Familienangehörige“ „Freunde“
3 2 1,5 1 0,5 0,5
Ja, mehrmals Ja, einmal
Gewichtung
0,5 3,5 2
Es sind also Werte zwischen 0 und 21,5 realisierbar.258 Wie nach der ganzen vorherigen Analyse der einzelnen Aspekte nicht anders zu erwarten, ergibt sich mit einem Durchschnittswert 4 für unsere Befragtengruppe, dass der „Todkontakt“ gering ist. Wenn es also für unsere Befragten eher selten, das heißt im Alltag unwahrscheinlich ist, mit dem Tod oder dem Sterben konfrontiert zu werden, dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch anzunehmen, dass sich bei den Befragten kein besonders ausgeprägtes Bewusstsein hinsichtlich des eigenen Todes findet, oder einfacher ausgedrückt: dass das Thema „der eigene Tod“ keine große Rolle in ihrem Leben spielt. Auch zum Todesbewusstsein lässt sich ein Index bilden, in den die folgenden Variablen und Gewichtungen eingegangen sind:
258
Der Wert 21,5 könnte nur realisiert werden, wenn es sich für den Befragten in allen drei erlebten Todesfällen um ein Kind gehandelt hätte. Dieser Wert wurde allerdings nie realisiert.
144
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“
Tabelle 34: Todesbewusstseinsindex Frage Antwort Haben Sie sich schon einmal Ja Gedanken über Ihren eigenen Tod gemacht? War das eher häufig oder Eher häufiger eher selten?
Gewichtung 1
1
Haben Sie sich schon einmal Ja mit anderen Personen über Ihren eigenen Tod unterhalten?
1
War das eher häufig oder eher selten?
Eher häufiger
1
Haben Sie Vorbereitungen getroffen, die sich auf Ihr Lebensende beziehen?
Festlegung der Bestattung Testament Patientenverfügung Organspendeausweis Sterbeversicherung Lebensversicherung
2,5 1,5 1,5 1,5 2 1
Bei möglichen Werten zwischen 0 und 14 ergab sich bei unseren Befragten hinsichtlich des Todesbewusstseins ein Mittelwert von 3,4. Man muss also sagen, dass ein geringes Todesbewusstsein vorliegt. Fasst man dies alles in allem in einfachen Worten zusammen, muss man sagen, dass der „durchschnittliche Laie“, wie wir diesen Personentyp oben genannt haben, selten mit Tod und Sterben konfrontiert wird und sich daher keine großen Gedanken über diese Thematik macht, sie auch nicht zum Gegenstand von Gesprächen in der Familie oder mit Freunden macht. Diesen Zusammenhang hatte schon Alois Hahn in seiner Untersuchung „Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit“ von 1968 herausgearbeitet. Sein Erkenntnisinteresse war seinerzeit auf eine Falsifizierung der Verdrängungsthese gerichtet.
7
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
Die Studie „Schwere Krankheit und Tod“ war in Teilen als Re-Study dieser Untersuchung von 1968 gedacht. Oft als eine der Gründungsstudien der deutschen Thanatosoziologie bezeichnet259, jedenfalls in einem Falle aber auch kritisiert wegen ihrer schmalen empirischen Basis260, bot sich der Versuch einer Verifizierung ihrer Daten im Rahmen einer neueren Untersuchung mit einem größeren Sample an. Dass die Menschen nicht über den Tod sprechen, weil es zum Sprechen keinen Anlass gibt, war die eine von zwei zentralen Aussagen der Studie.261 Die andere war, dass diejenigen, die Anlass zum Sprechen über den Tod haben, auch über den Tod sprechen. Wo er erlebt wurde, als Todesfall im Familien- oder Freundeskreis, da wurde auch über ihn gesprochen. „Zumindest bei den von uns untersuchten Personengruppen nahm die Beschäftigung mit dem eigenen Tod zu, je häufiger man dem Tod an anderen begegnet war oder ihn als akute eigene Bedrohung erfahren hatte.“262 Beide Aussagen lassen sich nicht mit der gängigen Vorstellung in Einklang bringen, die gegenwärtige moderne Gesellschaft (als deren pars pro toto die Befragtengruppen fungieren) habe über die Themen Tod und Sterben Redetabus errichtet. Dass die Menschen, die den Tod bei anderen erlebt haben, häufiger über ihn reden als diejenigen, die eine solche Erfahrung nicht gemacht haben, heißt hingegen nicht, dass generell viel über den Tod gesprochen würde. Das ist 259
Vgl. Klaus Feldmann: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, Wiesbaden 2004, S.15: „Ein moderner sozialwissenschaftlicher Todesdiskurs hat erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen, in den USA u.a. durch R. Fulton, B.G. Glaser, A.L. Strauss, D. Sudnow, T.Parsons und in Deutschland durch Ch.v.Ferber, A.Hahn und W.Fuchs geleitet,“ und Nassehi/ Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, a.a.O., S.12: „Die neuere deutschsprachige Soziologie des Todes nimmt ihren Anfang hauptsächlich in der empirischen Untersuchung von A. Hahn, die Ergebnisse über die bewußtseinsmäßige und materiale Präsenz des Todes in der modernen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit archaischen Kulturen präsentiert.“ 260 Eben auch von Nassehi und Weber. Wir kommen unten ausführlich darauf zurück. 261 „Eine unserer Grundannahmen lautet nun, daß der Anteil der Personen, bei denen eine relativ große Zahl „todbezogener“ (bzw. den eigenen oder fremden Tod planend ins Handeln einbeziehender) Verhaltensweisen nachweisbar ist, am größten in den Gruppen ist, die einen relativ großen Todkontakt aufweisen, also in der Gruppe derer, die den Tod und das Sterben anderer sowohl zahlenmäßig oft, als auch direkt als auch qualitativ intensiv erlebt haben.“ Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.19f. 262 Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.34.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
146
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
allein schon deswegen so, weil von den 105 Personen, die Hahn für die von ihm selbst durchgeführte Untersuchung interviewte, nur 52 „intensiven Todkontakt“ im Sinne seiner Definition hatten. „Intensiven Todkontakt“ operationalisierte er dabei folgendermaßen: „Als Personen mit „intensivem Todkontakt“ wurden diejenigen aufgefaßt, die wenigstens einmal in ihrem Leben entweder Zeuge des Sterbens irgendeines Menschen waren oder selbst bereits wenigstens einmal in ihrem Leben für längere Zeit so krank waren, daß sie selbst glaubten, sterben zu müssen.“263
Das heißt also, dass gerade bei strenger Gültigkeit dieses Zusammenhangs die Kommunikation über den Tod in der Befragtengruppe nicht sonderlich hoch sein würde. Ebenso wie die latente Variable „Todkontakt“, so spaltet Hahn auch die latente264 Variable „Todesbewusstsein“ auf in die Ausprägungen „intensives“ und „nicht-intensives“ Todesbewusstsein und unterstellt bei allen Personen ein „intensives Todesbewusstsein“, die „ihren eigenen Angaben zufolge entweder 1. häufig an ihren eigenen Tod dachten oder 2. darüber mit anderen sprachen und schließlich 3. ständig in starker Furcht vor ihm lebten.“265 Um einem Befragten „intensives Todesbewusstsein“ im Sinne dieser Definition zusprechen zu können, muss er sich also zu einem dieser Indikatoren „bekannt“ haben. Das heißt also, schon bevor man Korrelationen mit der Variable „intensives Todesbewusstsein“ berechnet, hat man bereits auf einer „vorgelagerten“ Ebene, wenn man so will, ein Gegenargument zur Verdrängungsthese. In einer Gesellschaft, die den Tod wirksam verdrängt, ließe sich auf diese Art und Weise der Operationalisierung keine unter Umständen dennoch bestehende latente Variable „intensives Todesbewusstsein“ ausfindig machen. Zuerst ist nun festzuhalten, dass sich ein signifikanter Zusammenhang zeigen lässt zwischen „Todkontakt“ und „Todesbewusstsein“. Wäre dies nicht gegeben, bräche das Fundament weg, auf dem die ganze empirische Beweisführung ruht. Es zeigt sich, dass von den Menschen mit intensivem Todkontakt auch 73 263
Ebd. „Es bliebe somit noch die Aufgabe, geeignete Indices für das Bewußtsein der Realität des Todes in der modernen Gesellschaft zu finden. Die dieser Arbeit zugrundeliegenden (...) Daten über die Häufigkeit des Denkens an den eigenen Tod, das Sprechen über ihn und der ständigen Furcht vor ihm können z.B. als solche Indices dienen. Aber auch die Daten über Testaments- oder Lebensversicherungsabschluß u.a.m. können als Index für die Dringlichkeit und Wichtigkeit, die der Gedanke des Todes für bestimmte Menschen hat, gewertet werden.“ Ebd., S.19. Deshalb sind in der Studie „Schwere Krankheit und Tod“ auch die Antworten auf die Frage: „Haben Sie Vorbereitungen getroffen, die sich auf Ihr Lebensende beziehen?“ mit den Antwortmöglichkeiten „Festlegung der Bestattung“, „Testament“, „Patientenverfügung“, „Organspendeausweis“, „Sterbeversicherung“, „Lebensversicherung“ in den dortigen Todesbewusstseinsindex eingegangen. 265 Ebd., S.34. 264
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
147
Prozent ein intensives Todesbewusstsein aufwiesen, und umgekehrt 88,7 Prozent derer, die keinen intensiven Todkontakt hatten, auch kein intensives Todesbewusstsein zeigten. Tabelle 35: Todkontakt und Todesbewusstsein (Hahn) Intensität des Todesbewußtseins Intensiv
73%
Todkontakt nicht intenGesamt siv 11,3% 41,9%
Nicht intensiv
27%
88,7%
58,1%
52
53
105
N 2
Ȥ =41,12; p<0,00001
Todkontakt intensiv
266
Die empirischen Nachweise für die Unhaltbarkeit der Verdrängungsthese bestehen bei Hahn des Weiteren im Wesentlichen in drei Korrelationen, wobei bei allen die grundlegende Annahme ist, dass sich eine Verdrängung des Todes überhaupt nur dort sinnvoll bilden könne, wo es etwas zu verdrängen gibt, d.h. dort, wo der Tod im Sinne des definierten „Todkontaktes“ erlebt wurde. Es handelt sich um die Korrelationen der Variablen „Todkontakt“ mit „jedem der drei einzelnen Indikatoren für die Intensität des Todesbewußtseins“267: 1. Denken an den eigenen Tod, 2. Sprechen über den eigenen Tod und 3. Furcht vor dem eigenen Tod. Die positive Korrelation im Sinne der Annahme hält sich auch in diesen Einzelkorrelationen durch, wenn auch „naturgemäß (...) geringer ausgeprägt als in der Tabelle, die den aggregierten Effekt der Todesbegegnung auf das Todesbewußtsein insgesamt festhält.“268 Diejenigen, die dem Tod intensiv begegnet sind, denken auch häufiger über ihn nach:
266
Ebd. Ebd., S.37. 268 Ebd., S.38. 267
148
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
Tabelle 36: Todkontakt und Denken an eigenen Tod (Hahn) Denken an eigenen Tod (jetzt) Häufiger Selten Nie N Ԟ2=36,00; p<0,001
Todkontakt intensiv 51,9% 36,5% 11,6% 52
Todkontakt nicht intensiv 7,5% 30,2% 62,3% 53
Gesamt 29,5% 33,3% 37,2% 105
Sie sprechen häufiger über ihn mit anderen (weil als Befragte nur verheiratete Männer zwischen 30 und 45 Jahren ausgewählt wurden, handelt es sich bei den „Gesprächspartnern“ hauptsächlich um die Ehefrauen): Tabelle 37: Todkontakt und Sprechen über eigenen Tod (Hahn) Sprechen über eigenen Tod mit anderen Ja Nein N Ԟ2=13,31; p<0,001
Todkontakt nicht intensiv
Todkontakt intensiv 34,6% 65,4% 52
5,7% 3,021 94,3% 53
Gesamt 20% 80% 105
Und schließlich fürchten sie sich auch stärker vor ihm als die Befragten mit nicht-intensivem Todkontakt269: Tabelle 38: Todkontakt und Todesfurcht (Hahn) Todesfurcht des BefragTodkontakt nicht intenTodkontakt intensiv Gesamt ten siv Starke oder schwache 70,8 27,5 48,5 Furcht Keine Furcht oder Gleich- 29,2 72,5 51,5 gültigkeit
N Ԟ2=18,63; p>0,001
48
51
99
Nun ist an der empirischen Basis der Untersuchung in einer späteren, im thanatosoziologischen Diskurs viel beachteten Arbeit, stark kritisiert worden und 269
Vgl. ebd. die Tabellen 2.1, S.38, 3.1, S.40 und 4.1, S.47.
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
149
manches daran ist sicher auch kritikwürdig. Zum einen sind die Fallzahlen sehr klein und zum anderen lässt sich darüber streiten, wie genau die Indikatoren das abbilden, was sie messen sollen. 7.1 Die Kritik von Nassehi und Weber Weil uns insbesondere die Kontroverse interessiert, die sich in der Frage der Todesverdrängung zwischen Alois Hahn und Armin Nassehi ergeben hat, wobei sich Nassehis Position merkwürdigerweise später in ihr Gegenteil verwandeln sollte, soll hier seine Kritik an der Untersuchung dargestellt werden. Es verwundert wenig, dass ein „Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung“ bei der Fülle an vorgebrachten philosophischen Argumenten für die Verdrängungsthese die einzige soziologische Studie mit quantitativ-empirischen Befunden, welche gegen die Verdrängungsthese sprechen, möglichst eliminieren muss.270 Dabei vermeiden es die Autoren geschickt zu erwähnen, dass Hahn selbst klar die Grenzen der Aussagekraft seiner Daten benennt und deren Platz im Gesamtgefüge der Arbeit deutlich macht: „Die Arbeit (i.e. „Einstellungen...“ als Ganzes, MH) stützt sich in der Hauptsache auf bekannte Daten. Es sind dies einmal die zahlreichen amerikanischen Untersuchungen, welche hier allerdings neu interpretiert werden. Es handelt sich zum anderen um das umfängliche, im wesentlichen ältere ethnologische Material (...). Die Befragung, über welche diese Arbeit berichtet, wurde daher von mir von vornherein nur als Ergänzung und im Zusammenhang dieser Daten ins Auge gefaßt und von mir so durchgeführt. (...) Selbstverständlich ist die Aussagekraft eines nur 105 Interviews umfassenden Samples begrenzt. Insbesondere die Aufschlüsselung der Variablen läßt sich bei quantifizierender Betrachtungsweise nicht allzuweit treiben, so daß die Kategorien entsprechend weitmaschig definiert werden müssen, um statistische Signifikanzen erzielen zu können (Fn.: Das erwies sich z.B. besonders bei den Korrelationen mit der „Todesfurcht der Befragten“(...)).“ 271
Insofern erübrigte sich ihre eigene Einschätzung der Untersuchung, dass, nehme man „die geringe Anzahl der Interviews und die äußeren Umstände der Befragung (vgl. Hahn 1968:146ff.) hinzu“, die „Aussagekraft der Analyse mit den sehr undifferenzierten Variablen (gemeint sind hier: „Todkontakt“ und „Todes-
270
Wir kommen im folgenden Kapitel „Verdrängung des Todes?“ noch näher auf das Werk von Nassehi und Weber zu sprechen. Hier interessieren uns nur deren speziell an der Untersuchung von Hahn geübten Kritikpunkte 271 Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.146-148.
150
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
bewusstsein“, MH) doch nur sehr bedingt Gültigkeit beanspruchen“272 könne. Der Verweis ist dabei geschickt platziert: Korrekt zitiert, wird doch nicht erkennbar, dass am angezeigten Orte nicht nur die „äußeren Umstände der Befragung“ erläutert werden, sondern eben auch die oben zitierten Einlassungen des Autors selbst zur Erklärungskraft seiner Daten. Ihre, von ihnen für schwerwiegend gehaltene Kritik an der Operationalisierung der latenten Variablen „Todesbewusstsein“, bezieht sich darauf, dass „allein die Tatsache, daß man an den eigenen Tod denkt, noch kein ausreichender Indikator für „Todesbewusstsein“ sein (kann). Ähnlich verhält es sich mit der Tatsache des darüber Sprechens.“273
Wie scharf man auch immer diesen Indikator beurteilen mag, so darf man eben nicht übersehen, dass in, oder besser: mit genau den Daten, die ein Denken der Befragten an den Tod markieren, eben mehr dargestellt ist, als ein „reines Denken“. Wie bereits oben gesagt, wird dieses Denken an den Tod gegenüber dem Interviewer in einer face-to-face Situation explizit bejaht. So betrachtet, gewinnt der Indikator „Denken an den Tod“ ein gutes Stück mehr an Dignität. Der gleichen Logik folgend, bedeutet dann auch das Datum, dass jemand über seinen eigenen Tod spricht, dass dieses „Sprechen über den eigenen Tod“ ja immerhin in der Interviewsituation von den Befragten als solches erinnert und erwähnt wird. Eine gewisse „Bewusstseinsbeständigkeit“ wird man diesem Sprechen über den Tod also offensichtlich zusprechen müssen. Und gerade das galt es ja zu beweisen. Es scheint uns hier das Problem vorzuliegen, auf das wir im Zusammenhang mit Montaignes Wandlung vom Philosophen zum Soziologen bereits zu sprechen gekommen waren. Die Frage nämlich, welches Gewicht eigentlich den tatsächlich erlebten Situationen (etwa der Tod von anderen oder die eigene oder an anderen erlebte schwere Krankheit) zukommt. Montaigne hatte seine frühe (theoretische) Position, die er ja gar mit dem Kernbestand aller Philosophie identifizierte („Philosophieren heißt sterben lernen“), dass man nur jeden Tag an den Tod denken müsse, dann sei man auf sein Eintreffen stets vorbereitet und er verlöre seinen Schrecken, in genau dem Moment revidiert, als er die Schmerzen des Alterns und des Sterbens erfuhr und dann gegen die (empirisch gesättigte) Position getauscht, man solle in guten Zeiten nur möglichst wenig an den Tod denken, denn sein Eintreffen erfolge noch früh genug. Genau umgekehrt ist es doch daher ohne weiteres denkbar, dass Menschen, zumal, wenn sie sich nicht wie Montaigne mit großem Reflexionsaufwand eine philosophische Position zu eigen gemacht haben, sich ohne die entsprechenden Erfahrungen keine Gedan272 273
Nassehi/ Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, a.a.O., S.41, Fn. Ebd.
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
151
ken über den Tod machen. Dass sie, um es pointiert zu sagen, schlicht und ergreifend nicht auf den Gedanken kommen, sich Gedanken über den Tod zu machen. Wenn also Nassehi und Weber gegen Hahn einwenden, dass man nicht davon ausgehen könne, „dass angesichts der analysierten Strukturen ein intensiver Umgang mit dem bevorstehenden Tod funktional nicht erforderlich sei“, sondern dass dies ihres Erachtens nach „differenzierter gefasst werden“274 müsse, dann ist hier allererst einzuwenden, dass für die große Mehrheit der Menschen der Tod eben nicht konkret „bevorsteht“ und, um es differenzierter zu fassen, dies unter Umständen noch nicht einmal für ihre Elterngeneration gilt, wenn man das oben referierte Datum mit ins Kalkül ziehen will, wonach in der Altersklasse zwischen 40 und 50 Jahren mehr als die Hälfte der Befragten noch beide Elternteile hat. Wenn mit „bevorstehend“ allerdings die anthropologische Konstante der Sterblichkeit eines jeden Menschen gemeint ist, dass einem jeden der Tod einmal „bevorsteht“, dann scheint uns dies gerade der Unterschied zwischen einer philosophischen und einer soziologischen Betrachtung der Dinge zu sein, wie wir ihn im Kapitel über Montaigne darzustellen versucht haben.275 Aber das einmal außer Acht gelassen, muss man sich fragen, was denn nun genau die Verdrängungsthese sagen will. Kommen wir zurück auf die hier zur Debatte stehende Frage nach der Verdrängung des Todes. Hahn resümiert seine Daten: „Zunächst einmal zeigt schon der Befund dieser Tabellen selbst, daß die Tabu-These nicht viel erklärt. Wenn wirklich Furcht vor dem als bedrohend erfahrenen Tod einen Menschen dazu treibt, den Tod aus dem Bewußtsein zu verdrängen, oder ihn doch wenigstens aus den Gesprächen zu bannen, dann müßten diejenigen, die sich vor ihm am meisten fürchten (...), die ihm am intensivsten begegnet sind, am wenigsten von ihm sprechen. Genau das ist aber nicht der Fall. Vielmehr erscheint es eher umgekehrt: Diejenigen, die dem Tod kaum je ernsthaft begegnet sind, seine unbarmherzige Gegenwart nie konkret an sich selbst als die Gefahr des als unmittelbar bevorstehend geglaubten Endes erlebt haben oder die nie den Anblick qualvoller Agonie anderer Menschen, deren Leid ihnen naheging, deren Verlust sie vielleicht 274
Ebd., S.43. Nur am Rande sei erwähnt, dass Nassehi und Weber die so arg kritisierten Hahn’schen Daten bedenkenlos verwenden, sofern sie sich ihnen als nützlich herausstellen. Im langen Kapitel zur „Verdrängung des Todes“ (gehörig zu: „III.Teil: Die Thanatopraxis der Moderne“ in „Tod, Modernität und Gesellschaft“ a.a.O., S.157-207) stellen Hahns Daten die einzigen quantitativ-empirischen Belege für „todesverdrängende“ Verhaltensweisen dar. Die „sehr undifferenzierte Variable“ (Nassehi/ Weber) des „intensiven Todkontaktes“ spielt hier eine zentrale Rolle: „Ferner ist durchaus eine bewusste, willentliche Leugnung und Verdeckung des Todes denkbar, ohne dass ein psychodynamischer Verdrängungsmechanismus eingesetzt hat. So belegt (sic!) A.Hahn, dass sogar Menschen mit intensivem Todkontakt zu 47,8% (=Landbevölkerung; 36,4%= Stadt) „keinen Anlaß“ sehen, sich mit ihrem Tod zu beschäftigen; 13,0% geben „Fatalismus“ an (da Nassehi/ Weber es unterlassen, das bei Hahn immer angegebene „N“ zu zitieren, bleibt unerkennbar, dass es sich bei den 13% auch um genau 13 Personen handelt, MH).“ Nassehi/ Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, a.a.O., S.162.
275
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Hahn: „Einstellungen zum Tod“ betrauerten, ertragen mußten, gerade diejenigen können den Tod verständlicherweise viel weniger leicht als entscheidende oder fürchterliche oder als nur irgend sie betreffende Bedeutsamkeit begreifen, über die zu sprechen es sie innerlich drängte. Der eigene Tod ist nicht interessant genug, nicht nahe genug, nicht wichtig genug, als daß über ihn zu reden sich lohnte oder danach ein subjektives Bedürfnis bestünde. So wie man sich nicht gezwungen fühlt, öfter über ihn nachzudenken, besteht noch viel weniger Anlaß, darüber zu reden.“276
Wir werden sehen, dass das zwar immer noch gilt, aber nicht mehr das zentrale Thema für die Befragten ist. An seine Stelle ist das Sterben getreten. Doch zunächst wollen wir uns die These von der Verdrängung des Todes und, wenn man das einmal so formulieren darf, ihr „letztes Kapitel“ anschauen. 7.2 Verdrängung des Todes? Ist die moderne Gesellschaft eine todesvergessene Gesellschaft, die den Tod verdrängt? Das angeblich verdrängte Thema Tod zeigt eine erstaunliche Präsenz im öffentlichen Diskurs. Ariès verwendet des Öfteren die Termini „Tabuisierung“ und „Verdrängung“, allerdings findet sich an einer Stelle bemerkenswerterweise folgender Hinweis: „Die Schnelligkeit und Schroffheit dieses Wandels hat ihn uns bewußt gemacht. Was die Erinnerung an die Vergangenheit nicht zu erfassen vermochte, ist mit einem Schlage bekannt und Gegenstand der Diskussion geworden, Thema für soziologische Untersuchungen, Fernsehsendungen, medizinische und juristische Debatten. Aus der Gesellschaft vertrieben, ist der Tod durch die Hintertür wieder hereingekommen, ebenso plötzlich, wie er verschwunden war.“277 Die Paradoxie, auf die Ariès hier bereits in den späten siebziger Jahren hinwies, hat sich in der Zeit seither sicher eher verschärft. Dennoch und trotz aller vorgebrachten Gegenargumente ist die Verdrängungsthese in der soziologischen Diskussion immer wieder vertreten worden. Armin Nassehis und Georg Webers Werk278 war der bis dato letzte Großversuch, die These noch einmal zu belegen. Erklärtes Ziel des Buches ist die Thematisierung dessen, was für die Autoren „alltagssprachlich bereits eine Trivialität“279 darstellt, nämlich die Verdrängung des Todes. Dezidiert weisen sie es in ihrem Programm zurück, in der zu behandelnden Frage als Optionsmöglichkeiten nur die Alternative zwischen einer konservativ-theologischen oder einer kulturkritischen Position zu haben. Vielmehr wollen sie ihren Fokus auf die „zu 276
Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S41. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.717. (Hervorhebungen MH) 278 Nassehi/ Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, a.a.O. 279 Ebd., S.12. 277
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
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beobachtende ,Unterbelichtung’ des Todes in der Wirklichkeitsstruktur moderner Individuen und Gesellschaften“280 richten und „mit gesellschaftstheoretischen Mitteln (...) erhellen“281. Dabei spannen sie einen vorzüglich formulierten weiten Bogen von der Erkenntnistheorie des Todesbewusstseins über die Geistesgeschichte des Todes bis zur Thanatopraxis der Moderne und der Genese moderner Todesbilder bis hin zur Rekonstruktion des „memento mori“. Nassehi und Weber arbeiten als zentrale Erkenntnis heraus, dass sich die Verdrängung des Todes aus der Struktur der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft notwendig ergibt. Da die gesellschaftliche Kommunikation durch die ausdifferenzierten Funktionssysteme bestimmt sei, könne sich das Individuum mit den es als Individuum betreffenden Bedürfnissen und Problemen nicht mehr ausreichend in dieser Kommunikation wiederfinden. Die existentielle Dimension des Menschen gehe so verloren, und in Besonderheit sei damit die Thematisierung der unabänderlichen Tatsache des Todes und Sterbens nicht mehr kommunizierbar. Die Verdrängung des Todes sei die daraus logisch resultierende Konsequenz. Nun gilt es nicht nur unter Systemtheoretikern als ausgemacht, dass die Gesellschaft unserer Gegenwart funktional ausdifferenziert ist. Theorietechnische Gründe führen bei Niklas Luhmann dazu, das Individuum als „Umwelt der Systeme“ zu denken282. Einerseits ist dies eine Konsequenz des Umstandes, dass die Gesellschaft als Gesamtheit von ausdifferenzierten Funktionssystemen gedacht wird. Andererseits aber ist diese Entscheidung der innersystemtheoretischen Funktionalität geschuldet. Denn nähme man den Menschen als Ganzen als Element innerhalb der Systeme, wäre nicht auszumachen, welches seine spezifische Operation sein sollte. Man hätte es mit einem Überhang an Abläufen zu tun, die in dieser Fülle nicht in ein Funktionssystem integrierbar wären. Wo und wie beispielsweise sollte die Verdauung funktionstechnisch untergebracht werden? „Der Mensch ist also kein System, weil keine Operation existiert, die dem Menschen als Menschen eigen wäre.“283 Der Mensch operiert als Ganzer nicht in einem der Funktionssysteme. Das hat Auswirkungen auf die Bestimmung von Individualität: Das Individuum ist nicht mehr, wie noch in stratifizierten Gesellschaften, über seine Inklusion in eine bestimmte Schicht zu bestimmen, sondern aufgrund der potentiellen Inklusion in alle Funktionssysteme nur noch über seine Exklusion. Wie bereits erwähnt, widmet sich der Beschreibung dieser Exklusi280
Ebd., S.13. Ebd. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt am Main 1989, S.149-258; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde., Frankfurt am Main 1998 und Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg, 2. Aufl., 2004. 283 Alois Hahn: Der Mensch in der deutschen Systemtheorie, in: Ulrich Bröckling et al. (Hg.): Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne, München 2004, S.279-290, hier S.287. 281 282
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Hahn: „Einstellungen zum Tod“
onsindividualität ein großer Teil gegenwärtiger soziologischer Forschung.284 Luhmann beschreibt die Prämissen einer funktional-ausdifferenzierten Gesellschaft an zentraler Stelle seines Aufsatzes über „Individuum, Individualität, Individualismus“ wie folgt: „Die Einzelperson kann nicht mehr einem und nur einem gesellschaftlichen Teilsystem angehören. Sie kann sich beruflich/ professionell im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem, in der Politik, im Erziehungssystem usw. engagieren (...), aber sie kann nicht in einem Funktionssystem allein leben.“285
Das ist die Beschreibung der Situation einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Die radikale Folge daraus für die soziologische Bestimmung des Individuums ist die Exklusionsindividualität, denn: „Da die Gesellschaft aber nichts anderes ist als die Gesamtheit ihrer internen System/Umwelt-Verhältnisse und nicht selbst in sich selbst als Ganzes nochmals vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als „gesellschaftliches Wesen“ existieren kann. Er kann nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren, wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist. Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden.“286
Wenn das Individuum als Ganzes in keinem Subsystem zu finden ist, so werden doch die dasselbe Individuum betreffenden Dinge und Umstände in je verschiedenen Subsystemen verhandelt. Die umgangssprachliche Rede vom „atomisierten Individuum“ ist also, legt man die Bedeutung dieses griechischen Adjektivs zugrunde, fatal falsch: Das moderne Individuum ist in einem Maße „tomisiert“ 284
Vgl. zur Inklusions- und Exklusionsthematik weiterhin: Cornelia Bohn: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006; Cornelia Bohn und Alois Hahn: Inklusions- und Exklusionsfiguren, in: dies. (Hg.): Prozesse von Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung/Processi di inclusione ed esclusione: identità ed emarginazione, Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 16 (2006), Trient 2006, S. 141-175; Alois Hahn: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten, in: Lutz Raphael und Herbert Uerlings (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/ Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike, Frankfurt am Main 2008, S. 65 – 96; Rudolf Stichweh: Inklusion/ Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3, 1997, S.123-136; Rudolf Stichweh und Paul Windolf (Hg.): Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, VS Verlag 2009 und Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S.237-264. 285 Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, a.a.O., S.158. 286 Ebd., S.158. Auch wenn in dem Zitat der „Einzelne“ als „System eigener Art“ bezeichnet wird, ist hier dennoch nicht ein „System“ im systemtheoretisch-terminologischen Sinne gemeint, denn der Mensch besitzt keine eigene Operation (s.o.).
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
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wie kein historisch anderes vor ihm. Nicht zufällig spricht bereits Georg Simmel vom Individuum als dem „Schnittpunkt sozialer Kreise“287. Für die heutige Gesellschaft den Primat bei der funktionalen Differenzierung zu sehen, heißt allerdings nicht, damit zu behaupten, dass alle Funktionssysteme in gleichem Maße ausdifferenziert wären. Schon hier allerdings ist eine exakte Beschreibung der Verhältnisse wichtig. Denn zu sagen, dass das Feld, innerhalb dessen der Tod und das Sterben thematisiert werden könnten, bisher nur in sehr kümmerlichem Maße ausgebildet wäre, ginge an der Wirklichkeit vorbei. Denn es gibt ja bereits eine Reihe von Institutionen, in denen sich das Individuum zum Thema machen kann. Indem es sich selbst thematisieren kann, kann es natürlich dort auch seinen eigenen Tod zum Thema der Kommunikation machen. Solche „Selbstthematisierungs-Institutionen“ sind etwa die Beichte oder die Psychoanalyse.288 Man denke des Weiteren an die Institutionen, die sich um die Trauerbewältigung kümmern. Wiewohl der Mensch also in keinem Funktionssystem als Ganzer operiert, gibt es innerhalb der Funktionssysteme doch Räume, in denen der Mensch zum Thema der Kommunikation gemacht werden kann. Allerdings sind es nicht die dominanten Funktionssysteme, innerhalb derer sich diese Räume befinden. Daran aber machen Nassehi und Weber ihre Verdrängungsthese fest: Dadurch, dass in der Kommunikation der dominanten Funktionssysteme der Tod nicht thematisiert wird, ergibt sich für sie eine „gesellschaftliche Verdrängung“ des Todes. Richtig ist ja, dass sich bisher kein eigens ausdifferenziertes Funktionssystem findet, welches die Thematik von Tod und Sterben zum Gegenstand seiner Kommunikation hat. Aber ebenso richtig ist die Feststellung, dass gerade dieses Fehlen eines solchen Funktionssystems große Probleme bereitet, die als Probleme ausführlich thematisiert werden. Die Rede von der „gesellschaftlichen Verdrängung des Todes“ kann schwerlich einer Situation angemessen sein, in der ständig darüber geklagt wird, dass es für die Menschen keine hinreichende Möglichkeit gibt, ihr memento mori zu kommunizieren. Um es noch einmal deutlich zu formulieren: Die Befragten verdrängen den Tod in keiner Weise, beklagen aber sehr drastisch, dass es für die Sterbenden keine adäquate Möglichkeit gibt, ihr Sterben und die existentielle Bedeutung ihres Todes zu thematisieren. Das ist der Kern des Problems: Den Sterbenden sind die existierenden Möglichkeiten der Selbstthematisierung und damit auch der möglichen Thematisierung des je eigenen Todes nicht in ausreichendem Maße zugänglich.
287
Vgl. Georg Simmel: Die Kreuzung sozialer Kreise, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Bd.11 der Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1992, S.456-511. Zur Beichte als einer Möglichkeit der Selbstthematisierung vgl. Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, a.a.O, S.197-237.
288
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Hahn: „Einstellungen zum Tod“
Unsere Umfragedaten haben gezeigt, dass die Befragten sich dieser Situation durchaus bewusst sind und sie als Problem, als drängendes Problem ihrer täglichen Arbeit wahrnehmen. Diese Arbeit geht also folglich davon aus, dass der Tod nicht gesellschaftlich verdrängt wird. Sie muss davon ausgehen, da der Tod, das Sterben und der Umgang damit explizit in der zugrundeliegenden Umfrage thematisiert wurden und die Befragten sich ausführlich dazu geäußert haben. Nähme man eine gesellschaftliche Verdrängung des Todes dennoch an, hieße das entweder, dass die Befragten eine Minderheit darstellen, die gesellschaftlich nicht gehört und wahrgenommen wird, sondern nur durch den Zugriff der Untersuchung vernehmbar ist, oder es hieße, dass auch die Befragten normalerweise im Alltag den Tod ebenso verdrängen und der Fragebogen eine quasi psychoanalytische Wirkung entfaltet hat, die tief verborgene, eben verdrängte Bewusstseinsinhalte reaktualisiert hat. Von beidem ist wohl nicht auszugehen und ohnehin: Welch schizophrene Gesellschaft sollte das sein, die zwar den Tod verdrängt, aber andererseits eine Hospizbewegung gebiert? Alois Hahn hat in seiner Kritik289 der Arbeit von Nassehi und Weber darauf hingewiesen, dass, wenn „das Thema des Todes aus der Kommunikation verdrängt worden wäre, (...) der Tatbestand nicht mehr mitgeteilt werden (könnte). Und wenn etwas aus dem Bewusstsein verdrängt wird, merkt man es selbst nicht.“290 Man darf hinzufügen, dass aber in der Alltagskommunikation unserer Gesellschaft der Tod ein Phänomen ist, das tagein, tagaus Gegenstand von Kommunikation ist, allein schon deswegen, weil es in Fernsehen und Nachrichten permanent präsent ist. Hahn hat bereits in seiner Untersuchung von 1968 auf diese Tatsache aufmerksam gemacht: „Die Kommunikationssysteme einer Gesellschaft, die auch die Chance bestimmen, wie oft Ego vom erfolgten Tod anderer informiert wird, sind in komplexen Gesellschaften umfassender als in einfachen, d.h. sie informieren über größere Räume und über zahlreichere Personen. Aber der Modus der Kommunikation ist jeweils ein anderer. (...) Für die Verbreitung des Wissens vom Tode heißt das, daß in der modernen Gesellschaft die Kenntnis des Faktums eines Todesfalles ungemein verbreitet sein kann. Wir erfahren über Zeitungen, Rundfunk, Illustrierte usw. täglich von Todesfällen aller möglichen Menschen in aller Welt, bekannter und unbekannter, ohne daß wir z.B. des Leichnams direkt ansichtig würden.“291
Nassehi selbst schlägt wiederum in einer nach seinem opus magnum veröffentlichten kleinen Arbeit ganz andere Töne an und verweist dort ebenfalls auf die ausgeprägte gesellschaftliche Kommunikation über den Tod. In einem Artikel 289
Alois Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, a.a.O. Ebd., S.88. 291 Alois Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.16. 290
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
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über die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung deutschsprachiger Ratgeberliteratur zu Sterben, Tod und Trauer schreibt er: „Die deutschsprachige Ratgeberliteratur zum Thema ist bis heute soziologisch unbeachtet geblieben. Das ist Grund genug, das Material darauf zu sichten, wie es unter Bedingungen eines offenkundigen Verlustes an rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten möglich ist, Tod und Sterben öffentlich zu thematisieren und wie sich solche Thematisierungsformen als Beratung profilieren können. Auffallend ist in jedem Fall, dass der Erfolg jener Literaturform davon zeugt, dass von einer öffentlichen Nichtbeachtung, Kommunikationshemmung oder gar Verdrängung kaum gesprochen werden kann. Im Gegenteil ist derzeit geradezu eine Renaissance des Themas zu beobachten.“292
Hier liegt die Betonung auf verloren gegangenen „rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten“ und gerade nicht mehr auf „Verdrängung“. Dies wiederholt fast wörtlich einen Kritikpunkt, den Hahn gegen Nassehis und Webers Werk über die Verdrängung des Todes vorgebracht hatte: „Wahr scheint mir auch - und auch hier sehe ich keinen Dissens - dass unsere Gesellschaft nicht über verbindliche Sinngebungen für individuelles Sterben verfügt. Der Ton liegt hier auf „verbindlich“. Sinngebungen gibt es nämlich in großer Fülle. Sie sind auch durchaus kommunikabel, und über sie wird auch gesprochen, sonst wäre der große Erfolg therapeutischer und religiöser Institutionen gar nicht erklärbar.“293
Die inhaltliche Nähe der beiden Zitate zueinander ist mit Händen zu greifen. „Keinen Dissens“ sieht Hahn, weil auch Nassehi und Weber dieser Auffassung zustimmen. Dennoch aber halten sie an der These von der Todesverdrängung fest. Bei gleicher Ausgangslage, sieht man recht, rückt Nassehi in seinem späteren Artikel von der Verdrängungsthese ab. Dezidiert und selbstkritisch, ohne allerdings zu erwähnen, dass die „Selbstkritik“ die Übernahme der Position seiner Kritiker ist, verabschiedet Nassehi die Verdrängungsthese in einer unmittelbar aktuellen Veröffentlichung: „Freilich wird das Motiv einer Verdrängung des Todes innerhalb der Soziologie kaum noch vertreten (...) - wenn auch die Idee der quasi extrasozietalen Bearbeitung der Individualität nach wie vor eine Art nicht thematisierte communis opinio darstellt. Übrigens: Auch der von Armin Nassehi und Georg Weber (1989) vorgelegte Versuch einer Theorie der Todesverdrängung, der dezidiert nicht modernitäts- und 292
Armin Nassehi et al.: Beratung zum Tode. Eine neue ars moriendi?, in: Berliner Journal für Soziologie, 1 (2002), S.63-87, hier S.64. 293 Hahn: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, a.a.O., S.86.
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Hahn: „Einstellungen zum Tod“ kulturkritisch argumentiert und von der strukturellen, zugleich aber funktional notwendigen Verdrängung des Todes ausgeht, darin sogar eine Chance für individuelle Bewältigungsformen des Todes sieht, atmet noch den Geist jenes bürgerlichen Unbehagens an den Entzweiungen der Moderne, an dem Verlust synchroner Lebensformen und an der normativen Desintegriertheit der Moderne. Es sind deshalb einige erhebliche Korrekturen vorzunehmen, ohne freilich das Grundmotiv ganz fallen lassen zu müssen.“294
7.3 Die Studien von 1968 und 2006/07 im Vergleich Zu allererst ist festzustellen, dass die grundlegende Annahme, der Todkontakt sei für das entwickelte Todesbewusstsein entscheidend, bei genauerem Ansehen als bestätigt betrachtet werden kann. Tabelle 39: Todkontakt und Todesbewusstsein (Studie 2006/07) Intensität des Todesbewusstseins Intensiv Nicht intensiv N Ȥ2=18,1; p<0,00001
Todkontakt intensiv 42,9% 57,1% 126
Todkontakt nicht inGesamt tensiv 20,0% 29,7 80,0% 70,3 170 296
Der Zusammenhang ist zwar schwächer als in der Studie von 1968 und allgemein finden sich in unserem Befragtensample auch weniger Menschen mit „intensivem Todesbewusstsein” (rund 30 Prozent heute, rund 40 Prozent damals), aber das für die Hauptannahme wichtigste Datum dieser Korrelation ist, dass diejenigen Personen, die keinen intensiven Todkontakt hatten, zu 80 Prozent auch kein intensives Todesbewusstsein vorweisen. Wenn gesagt wurde, dass der Todkontakt für das „entwickelte“ Todesbewusstsein wichtig ist, dann trägt das dem Umstand Rechnung, dass zwar die Beziehung: „kein intensiver Todkontakt - kein intensives Todesbewusstsein“ sich großenteils bestätigt, nicht aber die Beziehung „intensiver Todkontakt – intensives Todesbewusstsein“. Das niedrigere Niveau des Todesbewusstseins in unserer Befragtengruppe kann damit zusammenhängen, dass unser Index aus mehr Variablen besteht als der Hahn’sche Todesbewusstseinsindex, nämlich aus allen Variablen aus unserer Untersuchung, die mit einem möglichen Bewusstsein vom Tode zu tun haben. Hier muss man 294
Armin Nassehi und Irmhild Saake: Kontexturen des Todes, in: Knoblauch/ Zingerle (Hg.): Thanatosoziologie, a.a.O., S.31-54, hier S.37 Fn.8. (Hervorhebungen im Original, MH)
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
159
sich nun wie angekündigt die Verteilung der fünf Variablen im Einzelnen ansehen, die in den Index eingegangen sind. Tabelle 40: Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren eigenen Tod gemacht? Ja Nein Gesamt
83% 17% 316
Tabelle 41: War das eher häufig oder eher selten? Eher häufig Eher selten Weiß nicht Gesamt
35% 64% 1% 262
Tabelle 42: Haben Sie sich schon einmal mit anderen Personen über ihren Tod unterhalten?295 Ja Nein Gesamt Tabelle 43: Eher häufig Eher selten Weiß nicht Gesamt
295
66% 34% 262 War das eher häufig oder eher selten? 23% 77% 0% 175
Nicht eingerechnet in den Todesbewusstseinsindex wurde, mit wem man sich über den Tod unterhalten hatte.
160 Tabelle 44:
Hahn: „Einstellungen zum Tod“ Haben Sie Vorbereitungen getroffen, die sich auf Ihr Lebensende beziehen?
Keine Testament Festlegung der Bestattung Organspendeausweis Patientenverfügung Sterbeversicherung Sonstige Gesamt
48% 26% 16% 16% 15% 14% 1% 313
In Bezug auf die Frage, warum der Todesbewusstseinsindex in der Studie von 2006/07 niedriger ist als in der Studie von Hahn ist also vor allem zu bemerken, dass die „Vorbereitungen auf den eigenen Tod“ im Index stark gewichtet sind, aber knapp die Hälfte der Befragten keine davon vorzuweisen hatte. Wenn man die Ergebnisse unter der Perspektive einer Re-Study der Studie von Hahn betrachtet, was bedeutet, die Ergebnisse vor allem vor dem Hintergrund der Frage zu interpretieren, ob man von einer gesellschaftlichen Verdrängung des Todes sprechen kann, dann sind, nach allem, was wir darüber ausgeführt haben im Kapitel über die Todesverdrängung selbst und auch über die Aussagekraft der Variablen (s.o. vor allem „Denken an den Tod“ und „Sprechen über den Tod“), die Daten von Alois Hahn aus dem Jahre 1968 in dieser Hinsicht bestätigt worden. Allerdings erhebt sich nun auch ein Block nicht-signifikanter Korrelationen, hinsichtlich derer sich die Studie von Hahn nicht bestätigen lässt. Die Frage, ob man selbst schon einmal das Sterben eines anderen Menschen miterlebt hat, spielt offensichtlich keine Rolle dafür, wie man selber sterben möchte. Tabelle 45: Vorstellungen vom eigenen Sterben nach Miterleben des fremden Sterbens Vorstellung, wie Sterben eines Menschen schon einmal miterlebt? man sterben möchGesamt Nein Ja, einmal Ja, mehrmals te Plötzlich und un- 78,8 83,5 73,8 79,2 erwartet Bewusst und auf 21,2 16,5 26,2 20,8 den Tod vorbereitet Summe 132 91 65 288 Cramer’s V=.087; X2= 2,171; Sig.=.338
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
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Es spielt für diese Entscheidung auch keine Rolle, welcher Glaubensgemeinschaft man angehört. Tabelle 46: Vorstellung, wie man sterben möchte und Glaubensgemeinschaften Vorstellung, wie Römischman sterben Evangelisch katholisch möchte Plötzlich und 78,9% 72,7% unerwartet Bewusst und auf 21,1% 27,3% den Tod vorbereitet Summe 204 33 Cramer’s V=.086; X2=1,763; Sig.=.632
Andere christliche keine Glaubensgemeinschaft
Gesamt
100%
100%
78,4%
0%
0%
21,6%
3
1
241
Und selbst wenn man nur die Gruppe der Katholiken ins Auge fasst, die in Trier die größte Gruppe sind, und sich den Zusammenhang zwischen dem Grad der Verbundenheit zur Konfession und der Frage nach dem gewünschten Sterben betrachtet, ergibt sich auch nur ein schwacher Zusammenhang. Tabelle 47: Verbundenheit zur römisch-katholischen Kirche und Vorstellungen, wie man sterben möchte Vorstellung, wie man Sehr stark sterben möchte Plötzlich und unerwar- 73,7 tet Bewusst und auf den 26,3 Tod vorbereitet Summe 19 Cramer’s V=.075
77,6
Weniger Gar nicht stark 81,6 73,9
78,8
22,4
18,4
26,1
21,2
58
103
23
203
stark
Gesamt
Die Gründe für die Antwortverteilung müssen also anderswo liegen. Vielleicht ist die eigentliche Frage die, ob sich die Menschen wirklich einen plötzlichen Tod wünschen, oder ob sie, vor die gegebene Alternative gestellt, deswegen die Option „plötzlich und unerwartet“ wählen, weil sie mit der Vorstellung, „bewusst und auf den Tod vorbereitet“ zu sterben etwas Grauenhaftes verbinden: Nämlich, dass das auch bedeuten muss, längere Zeit zu sterben. „Bewusst“ und „vorbereitet“ an sich wären dann nicht die Kategorien, die abgelehnt würden, sondern das, was sich in der Vorstellung der Menschen damit verknüpft. Denn wenn unsere Befragten doch nur zu 7 Prozent sagen, dass der „Tod“ sie ängstigt,
162
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
warum sollte dann die große Mehrheit derer, die sich nicht vor ihm fürchten, ihn gerade dann fürchten, wenn sie in bewusstem Zustand und auf ihn vorbereitet sind? Immerhin möchten die Menschen im Vorfeld doch ganz genau wissen, wie es um sie steht, also durchaus bewusst behandelt werden. In ihrer Studie zu „Krankheit und Gesellschaft“ hat eine Forschungsgruppe um Alois Hahn und Rüdiger Jacob die Frage gestellt: „Wenn Sie eine schwere Krankheit hätten: Wäre es Ihnen lieber, dass die Ärzte Ihnen die volle Wahrheit sagen oder möchten Sie lieber nicht so genau wissen, wie es um Sie steht?“ 296 Dazu sagten 84,7 Prozent der Befragten, dass die Ärzte ihnen die volle Wahrheit sagen sollten und nur 15,3 Prozent antworteten darauf, dass sie dann lieber nicht so genau wissen wollten, wie es um sie steht. Diese Angaben sind oft als ein gewisser Widerspruch gegenüber dem Wunsch nach einem plötzlichen und unerwarteten Tod interpretiert worden. Wenn man sich aber unsere obige Überlegung dazu zu eigen macht, löst sich der Widerspruch schnell auf. Natürlich will der moderne, aufgeklärte Mensch so viel als möglich über sich und seine Krankheit wissen, und von seinem Arzt verlangt er gerade dies, aber auf keinen Fall möchte er lange sterben oder gar dahinsiechen. Nach allem Gesagten mag man auf den ersten Blick mehr als überrascht sein, wenn man feststellt, dass es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang gibt zwischen der Frage, wovor man sich mehr fürchtet, dem Sterben oder dem Tod, und der Frage, wie man sterben möchte. Tabelle 48: Angst vor Tod/ Sterben und Vorstellungen wie man sterben möchte (Studie 2006/07) Vorstellung, wie Angst vor man sterben dem Tod möchte Plötzlich und 76,2% unerwartet Bewusst und auf 23,8% den Tod vorbereitet Summe 21 Cramer’s V=.05
Angst vor dem Sterben
Angst vor beidem
Keine Angst
Gesamt
78,2%
83,8%
80,0%
79,1%
21,8%
16,2%
20,0%
20, 9%
179
37
50
287
Intuitiv möchte man sagen, dass hier ein starker Zusammenhang bestehen müsste, denn alle diejenigen, die sich vor dem Sterben fürchten, müssten doch einen 296
Frank Lettke, Willy H. Eirmbter, Alois Hahn, Claudia Hennes und Rüdiger Jacob: Krankheit und Gesellschaft. Zur Bedeutung von Krankheitsbildern und Gesundheitsvorstellungen für die Prävention, Konstanz 1999, Anhang S.11.
Hahn: „Einstellungen zum Tod“
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schnellen Tod wünschen. Aber muss das auch im Umkehrschluss bedeuten, dass diejenigen, die sich vor dem Tod fürchten, deshalb notwendigerweise bewusst und auf ihn vorbereitet sterben möchten? Doch wohl kaum. Viel eher ist es doch ein nachvollziehbarer Wunsch, das, was einen (stark) ängstigt, schnell hinter sich zu bringen. Insofern ist es völlig einleuchtend, dass sowohl diejenigen, die das Sterben fürchten, als auch diejenigen, die den Tod fürchten, auf jeden Fall schnell: plötzlich und unerwartet sterben möchten. Denn die erklärende Variable, im nicht-statistischen Sinne, ist hier nicht Tod/ Sterben, sondern Angst. Dazu passt, dass 82 Prozent unserer Befragten sagen, dass es „bei ihren Verwandten, Freunden oder Bekannten jemanden gibt, der an einer schweren Krankheit leidet oder gelitten hat“. Man muss sich dazu noch einmal die verzerrte Wahrnehmung der Befragten bezüglich schwerer Krankheiten vor Augen führen. Eine schwere Krankheit ist für sie vor allem Krebs. Rund 86 Prozent nannten dies. In der genannten Studie von Hahn und Jacob wiederum wurden die Personen gefragt, was denn für Sie an einer schweren Krankheit das „Allerschlimmste“ sei. Und die Antworten auf diese Frage, die man mit sehr guten Gründen auch als für unsere Befragten für gültig befinden kann, führen uns auf die Spur, die wir nun die weitere Analyse verfolgen müssen. Das Schlimmste für die Befragten ist der körperlich-geistige Verfall: Tabelle 49: Was ist für Sie das Allerschlimmste an einer schweren Krankheit?297 Keine Kontrolle mehr über meine Körperfunktionen zu haben Drohender geistiger Verfall Die Bedrohung durch den Tod Sehr starke Schmerzen zu haben Von anderen gemieden zu werden Körperlich entstellt zu sein N
29,2% 27,3% 19,5% 14,0% 5,8% 4,1% 2494
Die Angst vor dem Tod ist durchaus präsent, aber es dominiert doch die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen und die Angst vor dem geistigen Verfall. Wir werden im Folgenden zu zeigen versuchen, dass gerade diese Phänomene, der Verlust der Körperkontrolle und der geistig-körperliche Verfall, die entscheidenden Charakteristika der gegenwärtigen langen Sterbeprozesse sind, die wir als das „soziale Sterben“ beschreiben wollen. 297
Ebd.
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Hahn: „Einstellungen zum Tod“
Wenn man nach einer paradigmatischen Stelle sucht, in der sich die Unterschiede in den gesellschaftlichen Situationen zeigen, deren Abbild die Studie von Hahn von 1969 und unsere Studie „Schwere Krankheit und Tod“ von 2006/07 doch sein wollen, dann findet sie sich in einer resümierenden Feststellung, die sich nach Lage der Daten für die damalige Situation ergab: „Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Medizin während der letzten Generationen gilt es an dieser Stelle noch einen anderen Punkt zu unterstreichen: Die Möglichkeit, selbst im Falle unvermeidlichen Todes, doch den damit früher meist verbundenen Schmerz zu lindern oder aufzuheben. Die Agonie entfällt oder verliert doch den Charakter unerträglicher physischer Qual. Der Tod ist nicht mehr ein Prozeß, der schon wegen der dabei auftretenden Schmerzen Angst und Schrecken auslösen könnte. Die Angst vor dem Tod, soweit es sie also gibt, dürfte zunehmend weniger Angst vor den damit verbundenen physischen Qualen (vor der Todesart) sein, da diese ja zunehmend unter medizinische Kontrolle zu bringen sind.“298
Natürlich verfügt die gegenwärtige Medizin über hinreichend potente Medikamente, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Eine Agonie im Sinne eines qualvollen Todeskampfes kann wahrscheinlich vermieden werden, aber die Angst vor der Todesart bleibt. Bloß bezieht sich die Angst vor der Todesart nicht mehr auf die Qualen der Todesart, sondern auf deren Dauer und die damit verbundenen Verluste an Körperkontrolle und auf den geistigen Verfall. Der Tod ist zwar unter Umständen nicht mehr ein Prozess, der wegen der dabei auftretenden Schmerzen Angst und Schrecken auslöst, aber er ist ein Prozess, der Angst auslöst, weil er ein langer und mit den genannten Phänomenen verbundener Prozess ist. Die Ängste der Menschen richten sich (wieder) auf den Tod als Prozess und die Errungenschaften der neueren Medizin haben daran gerade wenig ändern können. Schmerzen kann die Medizin den Menschen nehmen, verlorene kulturell-zivilisatorische Kompetenzen kann sie ihnen nicht ersetzen.
298
Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O., S.33.
8
Die Welt der Individuen
Die mühsame und kleinteilige Analyse unserer Umfragedaten ließ das Hahn’sche Aperçu von der empirischen Sozialforschung als der natürlichen Tochter der heiligen Inquisition299 in geradezu doppelter Weise wahr werden: Nach der Befragung der Befragten mussten auch die gewonnenen Daten geradezu „inquisitorisch“ befragt werden. Nun können wir den Blick wieder ins Weite wenden und den soziologischen Unterbau liefern für die These, dass es für den modernen Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts das Sterben und der Verfall ist, was ihm mehr zu schaffen macht als den Menschen in den vorangegangenen Jahrhunderten. 8.1 Der Boulevard und der öffentliche Diskurs Was sich uns bei der Analyse der Daten peu à peu als Bild vor Augen zusammensetzt, findet sich von Zeit zu Zeit immer auch in den Medien wieder. Oder vielleicht sollte man genauer formulieren: Es setzt sich ein Bild zusammen aus den analysierten Daten, wobei diese Interpretation gleichzeitig zu ihrem Entstehen Außenhalte im öffentlichen Diskurs findet. Dabei ist natürlich völlig deutlich, dass man Umfragedaten aus der Allgemeinbevölkerung nicht losgelöst sehen darf von den Themen, die im Fernsehen, der Presse und im Radio verarbeitet werden. Die in den Umfragedaten sich spiegelnden Meinungen und Einstellungen der Menschen speisen sich ja nur zum Teil aus eigener Erfahrung. Bei bestimmten Fragen ist dies auch eindeutig zu bestimmen. So etwa, wenn man jemanden fragt, ob in seinem Bekanntenkreis jemand an einer schweren Krankheit leidet. Aber schon die Vorstellung davon, was eine schwere Krankheit ist, verdankt sich wohl nur in den allerseltensten Fällen einer eigenen fachlichen Expertise der Befragten, sondern meistens den gerade genannten Informationsmedien. Wie wir bereits am Beispiel „Krebs“ gesehen haben, entfaltet dieses medial stark präsente Krankheitsbild einen viel größeren Wirkungsgrad im allgemeinen Bewusstsein der Menschen, als ihm aufgrund seiner faktischen Prävalenz zukommt. 299
Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte, a.a.O., S.197.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Welt der Individuen
Generell verdankt sich die Tatsache, dass man weiß, was man empfindet gesellschaftlicher Kommunikation. Diese macht „aus Gefühlen kommunikative Wirklichkeiten, die auf das, was man individuell empfinden kann, zurückwirken“, wie Alois Hahn in einem Text über die in Gesellschaften überhaupt verfügbaren Emotionen schreibt.300 Er zitiert dabei den Aphorismus La Rochefoucaulds, es gebe Leute, „die nie verliebt gewesen wären, wenn sie nie von der Liebe hätten reden hören“. Ähnliches gilt auch für unser Thema. Natürlich erkrankt niemand an Krebs, weil er davon hat reden hören, aber nur wenige hätten eine Vorstellung davon, was das Erkranktsein an Krebs bedeutet, wenn sich diese Vorstellungen ausschließlich dem eigenen Erleben oder der eigenen Anschauung bei anderen verdankten. In den Feuilletons der Zeitungen und Magazine ist in der jüngsten Vergangenheit viel über Tod und Sterben geschrieben worden, und wir werden die entsprechenden Passagen genau in den Blick nehmen. In der Boulevardpresse hingegen wird immer viel über Tod und Sterben geschrieben. Allerdings ist für den Boulevard, ebenso wie für die Öffentlichkeit, nicht jede Form des Sterbens interessant. Einmal mehr zeigt sich hier das unausweichliche und auch letztlich unauflösbare Zirkelverhältnis zwischen öffentlicher Meinung und Aufbereitung eines Themas in den Medien: Sind nur deswegen manche Formen des Sterbens für die Medien interessant, weil diese die Öffentlichkeit interessieren, oder interessiert sich die Öffentlichkeit deswegen für manche Formen des Sterbens mehr als für andere, weil diese in den Medien stärker präsent sind? Vermutlich liegt das Verhältnis doch so, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit der Wirkung medialer Inszenierung von Themen verdankt.301 Dabei gibt es für den Boulevard gute Gründe, sich bestimmter Formen des Sterbens und bestimmter Krankheiten anzunehmen. Abgesehen von den schockartigen Wirkungen, die sich Anfang der achtziger Jahre durch das Aufkommen von AIDS entfalteten, steht im Interessenfokus der Boulevardmedien eindeutig die Krankheit „Krebs“. Das galt auch schon in der Zeit vor AIDS. Immerhin nannte man die Immunschwächekrankheit zu Anfang „Schwulenkrebs“. Dies verdankte sich hauptsächlich dem im Verlauf der AIDS- Erkrankung auftretenden Kaposi-Sarkom, einer seit langem bekannten Hautkrebsart und der bis dahin fehlenden korrekten medizinischen Bezeichnung, aber es dürfte nicht ganz von der Hand zu weisen sein, dass in dieser Bezeichnung auch ein Widerhall zu hören ist vom Schrecken dieser damals neuen bedrohlichen Krankheit, einzig dem Schrecken von Krebs vergleichbar.
300
Vgl. Alois Hahn: Emotion und Gedächtnis. Paragrana 2009 (im Erscheinen). Hahn zitiert dort auch das strukturell gleich gebaute Wort Stendhals, in Paris sei die Liebe „das Kind von Romanen“. 301 Zu öffentlichen und medialen Inszenierungen vgl. allgemein: Herbert Willems und Martin Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998.
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Todesfälle gehören hingegen in eine andere Kategorie der Meldungen. Als sich am 10. November 2009 Robert Enke, der Torwart der deutschen Nationalmannschaft, das Leben nahm, erreichte die öffentliche Anteilnahme und Trauer ein seit langem nicht gekanntes Ausmaß. Die öffentliche Trauerfeier im Stadion seines Vereins in Hannover war die größte Trauerfeier in Deutschland seit dem Tod Adenauers, als 300.000 Menschen am Sarg vorbei defiliert waren. Allein im Stadion in Hannover nahmen 45.000 Trauernde Abschied. Christian Wulff – damals noch als Ministerpräsident von Niedersachsen - hielt eine Trauerrede, vor dem Stadion fanden sich weitere zehntausende Fans ein, und zusätzlich wurde die Trauerfeier im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen.302 Das „Skandalon des verfrühten Todes“, zumal bei einer Identifikations- und Idolfigur, ruft Schrecken hervor. Hinzu kommen im Falle von Robert Enke aber mindestens noch zwei Aspekte. Zum einen die Tatsache, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Zum anderen sind es die Unerwartetheit und Plötzlichkeit des Ereignisses, welche die Öffentlichkeit nur schwer verarbeiten kann. Man hat den Eindruck einer merkwürdigen Perspektivenverschränkung: War für den mittelalterlichen Bauern der plötzliche Tod, die mors repentina, in Bezug auf sich selbst das größte Übel, so scheint es heute, dass die Menschen, die mehrheitlich von sich selbst sagen, dass sie „plötzlich und unerwartet“ sterben möchten, den plötzlichen Tod anderer als schrecklich empfinden. Die öffentliche Trauer und Ratlosigkeit angesichts der Tode von Robert Enke, Michael Jackson und Lady Diana erinnern stark an die Reaktionen des mittelalterlichen Menschen auf den plötzlichen Tod, die uns Ariès eindringlich beschrieben hat: „Er (der plötzliche Tod, MH) setzte dann die Ordnung der Welt, an die jedermann glaubte, außer Kraft, absurdes Instrument eines zuweilen als Zorn Gottes sich verkleidenden Zufalls.“303 Der Tod von Michael Jackson war das traurige Ende einer tragischen Figur, eines gefallenen Idols von Millionen Anhängern. Im Ausmaß weltweiter öffentlicher Anteilnahme ist sein Tod nur vergleichbar mit dem Tod von Lady Diana, bei dem als dynamisierender Faktor für die öffentliche Trauer hinzukam, dass Lady Diana, von der Öffentlichkeit zur „Königin der Herzen“ gekrönt, unschuldig verstrickt schien in ein Geflecht von Umständen: Gejagt von den Paparazzi, verlor ihr alkoholisierter Bodyguard und Fahrer bei überhöhter Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug und prallte frontal auf einen Betonpfeiler.304 302
Vgl. die Ausgabe des „Stern“ vom 13.11.2009. Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.19f. 304 Vgl. dazu Christine Mielke: Kollektive Trauer als massenmediales Phänomen, in: Robertson - von Trotha (Hg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft, a.a.O., S.193-221, bes. S.212ff: „Der Tod von Lady Diana zeichnet sich in seiner Erregung der massenmedialen Aufmerksamkeit durch seine Plötzlichkeit aus, seine ungewöhnliche Brutalität (des am Betonpfeiler zerschmetterten Autos) und die „Unschuldigkeit“ seiner Opfer. Da Lady Diana und ihr Lebensgefährte von Paparazzi ver303
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Alle drei Fälle sind ein „Tod ohne ein Sterben“, der perhorreszierte Tod der Vormoderne. Die Bedingung der Möglichkeit für das Aufkommen massenhaftöffentlicher Trauer ist selbstredend die Berühmtheit der Gestorbenen. Sie sind Personen des öffentlichen Lebens, deren Biographie bereits zu Lebzeiten ausführlich dargestellt wurde oder, im Falle Enkes, zumindest auch hinsichtlich privater Schicksalsschläge bekannt war: Diana Spencer, die zur Märchenprinzessin, der Kinderstar Michael Jackson, der zum erfolgreichsten Solokünstler seines Jahrhunderts wird, und der erfolgreiche Fußballer und Nationaltorwart Robert Enke, der eine Tochter durch eine Herzerkrankung verliert. Solche Todesfälle haben Ereignischarakter. Krebs als Krankheitsbild und als eine schreckliche Form des Sterbens dominiert das Interesse des Boulevards aber permanent. „Das Thema betrifft jeden, direkt oder indirekt“ urteilt der Journalist Richard Kämmerlings in einem mit Verve geschriebenen Artikel über die Gründe, „warum wir keine Krebsliteratur mehr lesen wollen.“305 Eben aus dem Grund, weil es jeden direkt oder indirekt betreffe, sei „es logisch, dass Krebs auch ein Boulevardstoff ist. (...) Denn ihn bekommt ja tatsächlich jedermann, (fast) ohne Rücksicht auf den Lebenswandel. Es vergeht kaum eine Woche ohne eine Krebsschlagzeile.“306
Für den Boulevardjournalismus, dessen innerste Form für Kämmerlings im Vortäuschen eines allgemeinen Interesses besteht, in einem beständigen „Tua res agitur“, sei Krebs insofern ein gutes thematisches Trägermedium. Da der typische Verlauf der Krankheit aber bekannt, ihre Heimtücke geradezu selbst zu einem Topos geworden sei, „die Crux beim Krebs (...), publizistisch gesehen“307, komme es dem Boulevard viel stärker auf die Individualität des Kranken an als auf den Verlauf der Krankheit. Zynisch und in der kalten Logik des Boulevards formuliert, könnte man sagen: Auf die Darstellung der Biographie ist der Boulevard zurückgeworfen, wenn eine berühmte Person plötzlich vom Tod ereilt wird, ohne dass ihr Sterben hätte publizistisch ausgeschlachtet werden können. Kann der Boulevard aber das Sterben (fortgesetzt) zum Thema machen, dann wird es in allen Einzelheiten, individuell, ausgebreitet. Die Darstellung der Biographie gehört zum Tod, die Darstellung des Sterbens zur Krankheit. Gerade das Herausstellen von Details sei die typische Dramatisierungsform der Sensationspresse, folgt wurden, also indirekt – so die anschließende Diskussion um die Methoden des Fotojournalismus – von diesen getötet wurden, erfüllen sie die (...) Kriterien eines Ereignisses, das besonderes massenmediales Aufsehen erregt.“ 305 Richard Kämmerlings: Der Schleier über den letzten Dingen. FAZ vom 13.08.2009, S.27. 306 Ebd. 307 Ebd.
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so Kämmerlings: „die Resultate einer Punktierung, die Zahl der Tumormarker und der exakte Verlauf der Chemotherapie mit ihren schrecklichen Nebenwirkungen.“308 Die Crux von Kämmerlings Artikel, wissenschaftlich gesehen, besteht nun aber darin, dass er immer dort, wo solche Details aufgeführt werden, den Text per se als „mit dem Boulevard kontaminiert“309 sieht. Wenn wir nun aber hier ein Bild des „sozialen Sterbens“ zusammensetzen wollen, wenn wir davon ausgehen, dass Sterben und Tod zwei getrennte Phasen werden und es der körperliche und geistige Verfall ist, vor dem sich die Menschen beim Sterben fürchten, dann muss man sich die Frage vorlegen, ob Kämmerlings mit seiner Identifikation von Mittel und Boulevard Recht hat oder ob es sich anders verhält. Ob nicht vielmehr in dem Darlegen von Details, auch und gerade intimen Details, eine neue Form der Angst vor dem Sterben gezeigt werden soll. Oder anders formuliert: ob das, was beschrieben wird, vielleicht nur auf diese Art und Weise beschrieben werden kann. Kämmerlings’ Artikel nun bezieht sich nicht auf den Boulevardjournalismus, sondern auf zwei Bücher mit durchaus literarischem Anspruch: Auf Georg Diez’ „Der Tod meiner Mutter“ und Christoph Schlingensiefs „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“310 Beide sind 2009 erschienen, beide haben den Krebs zum Thema. Einmal ist es ein autobiographischer Bericht von Erkrankung und Leiden, einmal ein Buch über das Sterben an Krebs. Dabei zeigt sich bei Kämmerlings ein offenkundiges Abgestoßensein von der Machart des Geschilderten, die er dem Boulevard zugehörig fühlt: „Was aber berührt nun an diesen Beispielen (die Bücher von Diez und Schlingensief, MH) trotzdem so unangenehm? Es ist die Kontamination mit dem Boulevard, der niemand entgeht, der die Tatsachen und Details der Krankheit nicht aussparen kann, selbst wenn er doch eigentlich eine ganz andere Geschichte erzählen will. Um das Verhältnis zu verstorbenen Mutter zu klären, muss ich nicht die Resultate einer Punktierung, die Zahl der Tumormarker und den exakten Verlauf der Chemotherapie mit ihren schrecklichen Nebenwirkungen beschreiben. Man leiht sich dann nämlich, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, die Dramatisierungsformen der Boulevardpresse.“311 308
Ebd. Ebd. 310 Georg Diez: Der Tod meiner Mutter. Köln 2009; Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln 2009. 311 Kämmerlings, Der Schleier über den letzten Dingen, a.a.O. Bemerkenswerterweise gilt dennoch für seinen Artikel: „fortiter in modo, suaviter in re“. Zwar darf man nicht vergessen, dass es ein Artikel des Feuilletons ist, aber auch für diese Verhältnisse schlägt er aggressive Töne an: „Lasst mich mit eurem Krebs in Ruhe. Ich kann es nicht mehr hören. Und lesen.“ Aber dennoch bleibt er von den Büchern beeindruckt: „Auch dieses Erinnerungsbuch (Diez: „Der Tod meiner Mutter“, MH) verspricht ein Erfolg zu werden. Und zu Recht, denn es ist (unter anderem) ein sehr schönes, einfühl309
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Aber welche „Geschichte“ soll denn erzählt werden? Georg Diez selbst hat im „Spiegel“ auf den Artikel von Kämmerlings in einer Mischung aus Unverständnis und Verärgerung geantwortet.312 Liest man seine Replik, gewinnt man nicht den Eindruck, es gehe einzig um die Klärung eines Mutter-Sohn-Verhältnisses. Vielmehr gehe es ihm, so Diez, um die Darstellung des Sterbens seiner Mutter und den damit verbundenen Komplex an Autonomieverlust und körperlichem Verfall. Das gelte auch für zwei andere Autoren, die ihre Krebserkrankung in Büchern verarbeiteten: für den bereits erwähnten Christoph Schlingensief und für Jürgen Leinemann, dessen Buch Kämmerlings allerdings noch nicht kennen konnte.313 „Das Buch (Diez‘ eigenes, MH) trägt den Tod zwar im Titel, es geht aber eigentlich ums Sterben.314 (...) Darf man über Krebs öffentlich reden und schreiben? Die drei Bücher erzählen genau davon: vom Ich des Kranken, der um Autonomie und Selbstbestimmung ringt.“315
In der Hauptsache geht es Diez darum, die Dignität dieser Bücher zu verteidigen, indem er darauf hinweist, dass die Schilderung gerade des privaten Erlebens „für andere die Möglichkeit bietet, die jeweils eigene Geschichte, das eigene Leiden zu ergründen, dafür Worte zu finden, sich an einer fremden Geschichte entlang wieder ins eigene Leben zurück zu hangeln. Je präziser und privater die Geschichte, desto zugänglicher wird sie für andere.“316 sames und berührendes Porträt einer bemerkenswerten Frau. Und auch Schlingensiefs Buch ist ja ein bemerkenswertes Dokument einer radikalen Künstlerexistenz, die im Angesicht des Todes Bilanz zieht und sich buchstäblich mit Gott und der Welt auseinandersetzt.“ 312 Georg Diez: Die Krebsattacke. Darf man Bücher schreiben über die Krankheit und das Sterben?, in: Der Spiegel, Nr.42, S.138-139. 313 Jürgen Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall. Hamburg 2009. 314 Dass es nicht um den Tod gehe, hatte auch Kämmerlings erkannt, aber dann ohne weitere Begründung geschrieben: „So hat das Buch schon den falschen Titel. ,Der Tod meiner Mutter’ ist gar nicht sein Thema, nicht einmal das Sterben.“ Kämmerlings: Der Schleier über den letzten Dingen, a.a.O. Man kann das für Chuzpe halten. 315 Diez: Die Krebsattacke, a.a.O., S.138. Gegen den Vorwurf des Boulevardjournalismus wendet Diez ein, diese Bücher seien „erkennbar ohne missionarischen Eifer geschrieben, sehr private Vorhaben, die sich der Reaktion nicht sicher sein konnten, die sie jetzt ausgelöst haben. (...) Die Bücher, über die diskutiert wird, sind alle autobiografische Erzählungen, sie machen das Private öffentlich. Weil das aber auch bei RTL oder in der „Bild“-Zeitung geschieht, die immer häufiger neben dem obligaten Busen den aktuellsten Fall von Brustkrebs auf Seite eins zeigt, war der einfache Schluss mancher Kommentare: Auch diese Bücher zeugen vom Verfall der Sitten, scheuen sich nicht, das Intimste zu entblößen.“ Ebd., S.139. 316 Ebd., S.139. Ebenso geht es ihm aber auch um die Dignität der entsprechenden Autoren, die, allerdings nach Diez’ Artikel, von Christiane Hoffmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ohne Anführungszeichen und in eindeutig pejorativem Kontext als „Krebsautoren“ bezeichnet
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Für unseren Zusammenhang viel interessanter als der etwaige Nutzen für andere Betroffene ist die Feststellung, dass sich bei Diez eine Perspektivenübernahme findet. Er nimmt die Perspektive seiner Mutter ein, der Kranken. Nicht die Frage, wie schwer es ihm fällt, seine Mutter verfallen zu sehen, sondern die Frage, wie seine Mutter es empfinden mag, nun nicht mehr selbstbestimmt leben zu können, scheint ihn umzutreiben: „Sie hatte ihr Leben geändert, ein-, zwei-, dreimal, sie wollte immer selbst bestimmen, wer sie ist. Aber als sie krank wurde, sah sie, wie das schwer und immer schwerer wurde. Wer kauft ein, wer wäscht den Rücken, will man das überhaupt? Sie ist daran fast verzweifelt.“317
Die Parallelen zu Philip Roths Vater sind mit Händen zu greifen. Es deutet sich hier immer eindringlicher die Perspektive an, dass das „soziale“ Problem des Sterbens nicht einzig, vielleicht nicht einmal vordringlich, darin besteht, dass die Sterbenden allein gelassen würden, einsam seien, wie Elias das noch formulierte.318 Auch nicht, dass es den Angehörigen peinlich oder unangenehm sei, die Sterbenden zu pflegen, scheint das Problem zu sein, sondern es ist vornehmlich für die Sterbenden selbst überaus problematisch, sich so zu sehen und so von ihren Angehörigen gesehen zu werden. Dass diese Aussage keine Banalität ist, sondern mit einem historisch nicht selbstverständlichen Typus Person zusammenhängt, werden wir noch im Zusammenhang mit Elias’ Zivilisationstheorie sehen. „Wenn wir darüber reden, wer wir sind oder wer wir sein wollen, hilft es manchmal, auch daran zu denken, wer wir als Kranke sind, nicht als Gesunde. Es geht um diesen Perspektivenwechsel.“319
In der ganzen Debatte darüber, ob man diese Bücher hat schreiben dürfen, in der „Debatte um die Grenzen der Selbstentblößung“, in der Verärgerung über das „Pathos der Authentizität“, mit dem die Autoren „das Grauen von Diagnose,
werden. Ganz offensichtlich Kämmerlings sekundierend und dessen Bild vom „Schleier über den letzten Dingen“ aufgreifend, brandmarkt auch sie die in Rede stehenden Bücher als Produkte einer sensationsgierigen Medienöffentlichkeit: „Alles, was in die Klauen der Talkshows und auf die Polster der Buchmessesofas gerät, fällt aber genau jener Banalisierung anheim. Früher einmal gab es ein Gefühl, das dem Schutz des Intimen diente: die Scham. Seit es peinlich wurde, sich zu schämen, ist nichts mehr heilig.“ Christiane Hoffmann: Das große Sprechen. FAS vom 18.10.2009, S.10. 317 Diez: Die Krebsattacke, a.a.O., S.138. 318 Vgl. Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt am Main 1982. Wir kommen in den Kapiteln 12.5 und 12.6 ausführlich darauf zu sprechen. 319 Diez: Die Krebsattacke, a.a.O., S.138.
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Todesangst und Therapie gänzlich unverdaut vor dem Leser“320 ausbreiteten, übersehen auch die wohlwollenden Rezensenten den neuen Aspekt in der Schilderung der Sterbefälle. Auch Iris Radisch, die in der „Zeit“ zumindest die Frage stellt, was sich aus den Büchern über das Sterben lernen lässt, präsentiert am Ende nur das abgeschmackte Stereotyp, das Lesen über das Sterben solle demütig machen. „In dem Erscheinen der vielen neuen Sterbebücher drückt sich ein neuer Existenzialismus aus. Dieser Existenzialismus ist wie der Tod – zu nichts weiter nutze. Außer vielleicht dazu, uns demütig zu machen. Und uns zu heilen vor dem Wahn, Herr im eigenen Haus zu sein.“321
Diese Mahnung, pathetisch das Pathetische von Diez’ Buch beklagend, ebnet eine Differenz ein, die doch von großer Wichtigkeit ist. Denn dem Wahn zu verfallen, man sei der Herr im eigenen Haus, ist durchaus nicht das Gleiche wie das eigene Verfallen sehen zu müssen und ebendieses zu beklagen. Man hat auch an anderer Stelle den Eindruck einer Renaissance ehemals sogenannter „konservativer Kulturkritik“, die sich hier immer als erkenntnishemmend erweist. Christiane Hoffmann hält das fehlende medizinisch-wissenschaftliche Wissen über die Ursachen von Krebs für das, was „für den selbstbestimmten Individualisten von heute (...) so perfide, so gänzlich unzumutbar ist (...). Leben ist schließlich wertlos ohne Selbstbestimmung. (...) Wo sollte da noch Platz sein für so etwas wie Schicksal?“322 Auch wenn darin sicher ein Kern an Wahrheit steckt, so liegt unserer Ansicht nach das für den heutigen westlichen Menschen gänzlich Unzumutbare darin, sich selbst als Verfallenden erleben zu müssen. Und das bliebe auch so, wenn er um die Ursachen wüsste. Unserer Auffassung nach ist es in keiner Weise ein „Jenseits“, weder im Sinne einer religiösen Transzendenz, noch im Sinne einer „Metaphysik des Tumors“, noch im Sinne einer nicht erkennbaren Ätiologie, was für die Menschen das Sorgen machende Motiv darstellt, sondern tatsächlich ist es das zutiefst diesseitige Schrecknis, in der Krankheit und im Sterben nicht mehr der Mensch auf dem Niveau seiner zivilisatorischen Fähigkeiten zu sein, als der man sich selbstverständlich geworden ist. In Diez’ Worten ist das Problem „nicht das Jenseits, wo die Deutungen wohnen, sondern das Diesseits, wo die Demütigungen warten.“323 Es ist dies ein Problem, das in seinem Ausmaß für den modernen Menschen existiert, wie es historisch für keinen anderen Menschen je existiert hat, wie wir zeigen werden. Merkwürdigerweise, 320
Hoffmann: Das große Sprechen, a.a.O. Iris Radisch: Die Metaphysik des Tumors, in: Die Zeit, 2009, Nr.39, S.47. 322 Hoffmann: Das große Sprechen, a.a.O. 323 Diez: Die Krebsattacke, a.a.O., S.139. 321
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man könnte es fast für eine List der Vernunft halten, ist in den Artikel von Kämmerlings von den Lay-Out-Verantwortlichen der FAZ ein Gedicht einmontiert worden, das in poetisch verdichteter Form unsere soziologische These formuliert, die genau das benennt, was Kämmerlings hätte in seiner Lektüre erkennen können, aber vollständig übersehen hat: Heimweh Ich vermisse dich Sagte sie zu ihrem Photo von vor Ungefähr zwanzig Jahren du fehlst Mir und dann vor Dem Spiegel aktuell War sie es nicht. -Gabriele Wohmann-
Es ist unklar, ob sich das Gedicht tatsächlich auf eine Sterbende bezieht. Veränderungen, die einen sich fremd werden lassen, können durchaus auch andere Gründe haben, aber es ist wohl nicht ohne Grund von den Machern des Feuilletons an diese Stelle gesetzt worden, und es lässt sich vollständig auf unsere Thematik beziehen. 8.2 Fäkalgestank und Exkremente – Eine Nasenfrage In seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ hält es Georg Simmel für eine „noch gar nicht genug beachtet(e) Bedeutung für die soziale Kultur, daß mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt.“ 324 Alsdann formuliert er die auf den ersten Blick höchst erstaunliche These, dass er glaube, „daß die nach dieser Seite gesteigerte Sensibilität im Ganzen sehr viel mehr Leiden und Repulsionen als Freuden und Attraktionen“ mit sich gebracht habe.325 Soll das bedeuten, dass der Prozess der Zivilisation, der nach langen Zeiträumen der Disziplinierung der Körper, der immer genaueren Wahrnehmung und Einhegung ihrer Regungen endlich den „modernen Menschen“ (Simmel) hervorge324
Vgl. Georg Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders.: Soziologie, a.a.O., S.722742, hier S.734. 325 Ebd.
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bracht hatte, durch diese Veränderungen dem Menschen nun nicht ein Mehr an Freiheit, sondern ein Mehr an Belastung aufgebürdet hat? In seinen frühen ökonomisch-philosophischen Manuskripten hatte Karl Marx noch vor Simmel die Bildung der fünf Sinne „eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte“ genannt. In seiner so wirkmächtigen Entfremdungstheorie war doch als das Ziel der wirklichen positiven Aufhebung der Entfremdung die Entstehung des totalen Menschen gefeiert worden, der sich sein allseitiges Wesen auf allseitige Art aneigne. Die geradezu berauschende Passage dieser Utopie beschreibt dieses „ultimum potentiae“ des Menschen: „Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe (sic!) sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben, die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit; ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit (sie ist daher eben so vielfach, wie die menschlichen Wesensbestimmungen und Tätigkeiten vielfach sind), menschliche Wirksamkeit und menschliches Leiden, denn das Leiden, menschlich gefasst, ist ein Selbstgenuß des Menschen.“326
Aber selbst wenn man die Bildung des allseitigen Menschen nicht im Sinne der Marx’schen Entfremdungstheorie in den Blick nehmen will, so kann man dennoch die Stellen bei Marx und Simmel insoweit analog interpretieren, als beide davon sprechen, dass im Zuge einer Entwicklung des Menschen (zivilisatorisch bei Simmel wie später bei Elias, kommunistisch bei Marx) sich aus einem undifferenzierten (Körper)-Sinn ein differenzierter entwickelt. Wenn Marx an gleicher Stelle schreibt: „Es versteht sich, dass das menschliche Auge anders genießt als das rohe, unmenschliche Auge, das menschliche Ohr anders als das rohe Ohr etc.“327 meint dieses „anders“ ausschließlich eine Verbesserung. Bei Simmel hingegen rückt die Kehrseite dieser Entwicklung stark in den Blick: „Der moderne Mensch wird von Unzähligem chockiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere Empfindungsweisen ohne irgend eine Reaktion dieser Art hinnehmen. Die Individualisierungstendenz des mo-
326
Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: ders.: Die Frühschriften. Herausgegeben mit Einleitung von Siegfried Landshut. 7.Auflage, neu eingerichtet von Oliver Heins und Richard Sperl. Mit einem Geleitwort von Oskar Negt. Stuttgart 2004, S.313. 327 Ebd., S.314.
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dernen Menschen, die größere Personalität und Wahlfreiheit seiner Bindungen muß damit zusammenhängen.“328
In seinem Aufsatz über die „Großstädte und das Geistesleben“329 war genau dies die Erklärung für die charakteristische Blasiertheit des Großstädters, der für Simmel der typische Exponent des modernen Menschen darstellt. Weil in der Zusammenballung der Großstädte die Anzahl der Kontakte zu anderen Menschen geradezu explosionsartig zunimmt, muss sich der moderne Mensch gegen die Überfrachtung, die ihn schon als solche „chockiert“, wehren, indem er sich in prinzipielle Distanz zu allem begibt, indem er blasiert wird. „Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft - mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens - stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewusstseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes. (...) So schafft der Typus des Großstädters - der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist - sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande (...)Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit.“330
Was für Simmel dort noch das bewusst angestrebte Ziel ist, die Abschottung gegen andere, taucht im „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ in gleicher Weise als notwendige Folge der Sensibilisierung auf: „Mit seiner teils unmittelbar sensuellen, teils ästhetischen Reaktionsweise kann er sich nicht mehr ohne weiteres in traditionelle Einengungen, in enge Bindungen begeben, in denen nach seinem persönlichen Geschmack, nach seiner persönlichen Empfindlichkeit nicht gefragt wird. Und unvermeidlich bringt dies eine größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre mit sich.“331
328
Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, a.a.O., S.734. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, S.192-205. 330 Ebd., S.193. 331 Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, a.a.O., S.734. 329
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Als später Schüler Simmels baut Erving Goffman auf genau dieser Aussage seine Theorie von den „Territorien des Selbst“332 auf, bei der es dann um die Verletzung eben dieser Umgrenzungen geht. Wie wir oben bereits am Beispiel der Szene mit Philip Roths Vater gesehen haben, ist es das schwer kranke oder sterbende Individuum selbst, das sein Territorium verletzt. Im Gegensatz zu Goffman, bei dem eine systematische Verknüpfung der Weisen der Übertretung von Territoriumsgrenzen mit den Sinnen, mit denen wir diese wahrnehmen, fehlt, wird bei Simmel sofort darauf hingewiesen, dass die schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre eng mit der Entwicklung des Geruchssinns verknüpft ist: „Vielleicht ist diese Entwicklung am Geruchssinn die bemerklichste: die hygienischen und Reinlichkeitsbestrebungen der Gegenwart sind davon nicht weniger Folge als Ursache.“333 Simmel spricht überaus treffend von der Kurzsinnigkeit des modernen Menschen, die das Nahfeld des Menschen umso intensiver wahrnimmt: „Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so sensibler.“334
Wir werden sehen, dass für den Menschen in der besonderen Situation, in der wir ihn thematisch betrachten, nämlich als Kranker und Sterbender, eben genau dieser Umstand von schwer wiegender Bedeutung ist. Wenn man überhaupt von räumlicher Distanz zu sich selbst sprechen kann, was Goffman tut, wie wir sehen werden, dann ist diese Distanz die kürzest denkbare, und insofern werden wir in Bezug auf uns selbst am sensibelsten. Im nicht-räumlichen Sinne hingegen ist es gerade die hochsensibilisierte Fähigkeit, sich selbst mit allen Sinnen wahrzunehmen, welche die schwer auszuhaltende Distanz zu der Person produziert, die man als man selbst ansehen muss, auch wenn sie von dem Bild abfällt, das man von sich hat. Simmel hat die Lebenssituationen im Allgemeinen im Auge, wenn er schreibt, dass „ein Mensch mit besonders feiner Nase durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeiten als Freuden (erfährt).“335 In ungleich stärkerem Maße gilt das natürlich für den schwerkranken Menschen und für den Sterbenden, auch schon zu Simmels Zeiten. Aber jetzt verknüpfen sich langsam die bisher verfolgten Spuren zu dem Komplex an Zusammenhängen, der dargestellt werden soll: Die Sensibilität der Sinne dürfte sich seit Simmels Zeiten nicht qualitativ verändert haben. Aber die Sterbeverläufe 332
Vgl. Goffman: Die Territorien des Selbst, a.a.O. Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, a.a.O., S.734f. 334 Ebd. 335 Ebd., S.735. 333
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haben sich überaus stark verändert. Wobei Quantität und Qualität in eins fallen: Extrem verlängerte Sterbeverläufe, die Rede ist von Jahren, wie wir sie für die Gegenwart sehen, sind in ihrer Qualität andere als die für damalige Verhältnisse langen Verläufe von Wochen oder wenigen Monaten. Anders ausgedrückt: Das kurze Sterben, das typischerweise mit einem schnell folgenden Tod verbunden war, ist ein anderes Sterben als das Sterben, das sich als eigene Phase vom Tod entkoppelt hat. Wenn wir mit Goffmans Modell von den „Territorien des Selbst“ arbeiten, trifft uns eine zweifache Kritik nicht, die an diesem Modell, als Teil von Goffmans gesamtem Interaktionsmodell, geübt worden ist. Jürgen Raab, auf den wir uns hier weitgehend beziehen, und der seinerseits für seine „Soziologie des Geruchs“336 auf Goffman zurückgreift, referiert die Kritik folgendermaßen: „Die Kritik an Goffmans Interaktionsmodell setzt vor allem an zwei Punkten an (...). Der erste Kritikpunkt ist der des statischen, ahistorischen, rein situativen Ansatzes, der die historischen Veränderungen und den sozialen Wandel in ihren Auswirkungen auf soziale Interaktionen ignoriert. Der zweite Vorwurf zielt ebenfalls auf die Situationsbezogenheit des Modells und beinhaltet, dass Goffman nicht nur begrenzte Zeiträume betrachtet, sondern auch nur partielle Sektoren der Gesellschaft. So wird die Gesellschaft von ihm nicht mit ihren Schichten-, Klassen- und Einkommensstrukturen analysiert, sondern für ihn ist nur punktuelles, episoden- und szenenhaftes Verhalten von Individuen von Interesse, und zwar das der gebildeten amerikanischen Mittelschicht.“337
Zum einen beziehen auch wir uns hier auf einen zeitlich und geografisch recht genau abzugrenzenden Personentypus, nämlich auf den Menschen der gegenwärtigen westlichen Moderne, dessen Voraussetzungen und Genese wir in einem Rekurs auf Norbert Elias darstellen wollen. Wir haben also von vorneherein nicht Differenzen, sondern Gemeinsamkeiten im Blick. Gewissermaßen unterhalb von schicht- oder klassenspezifischen Differenzen gehen wir davon aus, dass die dargestellten Sterbesituationen für diesen „modernen Menschen als solchen“ in spezifisch anderer Weise belastend sind als für den vormodernen Menschen. Unsere Thematisierung des Geruchs ist ausschließlich die Thematisierung des schlechten Geruchs, des Gestanks. Raab hat in seiner Soziologie des Geruchs die gesamte Bandbreite der Gerüche zum Untersuchungsgegenstand und formu-
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Jürgen Raab: Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung, Konstanz 2001. 337 Ebd., S.211.
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liert darauf bezogen auch seine forschungsleitende Hypothese, dass die „riechende Sozialordnung sozialstrukturell differenziert (ist).“338 Er geht davon aus, „dass die Wahrnehmung, die Interpretation, die Vermeidung und die Hervorbringung von Gerüchen in der modernen Gesellschaft auch sozial-strukturell differiert, d.h. abhängig ist von einem Lebensstil bzw. von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu. (...) Der Lebensstil, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu, hat Einfluß auch auf die Wahrnehmung und die ästhetische Bewertung von Gerüchen und läßt sich erkennen, z.B. im praktischen Umgang mit diesen, d.h. konkret: in der milieuspezifischen Hervorbringung bestimmter bzw. in der Vermeidung anderer Gerüche.“339
Lässt sich also unsere Annahme angesichts dieser Vermutung überhaupt aufrechterhalten? Man muss sich nun dazu vor Augen halten, um welche Gerüche und Formen des Gestanks es uns in der Hauptsache geht. Die Gerüche, die wir im Zusammenhang des Sterbeprozesses behandeln, sind fast ausschließlich Exkrementgerüche. Diese Kategorie von Gerüchen aber ist als Ganze im Zuge des Zivilisationsprozesses unter Vermeidungsgebot gestellt worden und hat als solches Eingang gefunden in die Sozialisation der Menschen, unabhängig von Schicht- und Klassenfragen. Dass sich jenseits von Fäkaliengestank aber gravierende Differenzen in der Bewertung von Gerüchen finden, steht damit nicht in Frage. Für Simmel noch war gar die soziale Frage eine „Nasenfrage“, wie er in einer berühmten Stelle im „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ ausführt: „Die für die soziale Entwicklung der Gegenwart oft so lebhaft befürwortete persönliche Berührung zwischen Gebildeten und Arbeitern (...) scheitert einfach an der Unüberwindlichkeit der Geruchseindrücke. Sicher würden viele Angehörige der oberen Stände, wenn es im sittlich-sozialen Interesse gefordert wird, erhebliche Opfer an persönlichem Komfort bringen, auf vielerlei Bevorzugungen und Genüsse zugunsten der Enterbten verzichten (...). Aber alle solche Verzichte und Hingaben würde man sich tausendfach eher zumuten, als die körperliche Berührung mit dem Volke, an dem „der ehrwürdige Schweiß der Arbeit“ haftet. Die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage. (...) kein Anblick der Proletariermisere (...) wird uns (...) so sinnlich und unmittelbar überwältigen, wie die Atmosphäre, wenn wir in eine Kellerwohnung oder in eine Kaschemme treten.“340
Auch für unser in Rede stehendes Thema des Sterbens lässt sich sagen, dass es heute eine „Nasenfrage“ ist. Aber nicht mehr im Sinne der Trennung von Proletariern und Bürgern, sondern in dem Sinne, dass für alle gilt, dass die Gerüche, 338
Ebd., S.266. Ebd., S.266. 340 Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, a.a.O., S.733f. (Hervorhebung im Original, MH) 339
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die das Sterben begleiten, als beschämend empfunden werden. Daher resümiert auch Raab für die Moderne allgemein: „Somit ist der Prozeß der Zivilisation und damit auch die Moderne vor allen Dingen gekennzeichnet durch die Abtrennung und Vermeidung aller natürlichen, d.h. unbelassenen, ,nicht-modellierten’ Gerüche und damit aller unkontrollierten Geruchsverhältnisse, die auf Unzivilisiertheit und letztlich Animalität verweisen.“341
Was also „nach oben hin“ in immer feinere Unterschiede ausdifferenziert wird, hat seinen gemeinsamen Ausgangs- und Bezugspunkt doch in der Perhorreszierung von Exkrementen und ihren Gerüchen. 8.3 Goffmans „Territorien des Selbst“ Von den acht verschiedenen Territorien, die Goffman identifiziert, interessiert uns vor allem das, was er die „Hülle“ nennt: „Die Hülle: die Haut, die den Körper schützt, und, in geringem Abstand davon, die Kleider, die die Haut bedecken. Zweifellos kann die Körperhülle auch als der kleinste aller möglichen persönlichen Räume und als in dieser Hinsicht minimale Konfiguration fungieren; sie kann aber auch als ein selbständiges Reservat fungieren. Natürlich wird den verschiedenen Teilen des Körpers verschiedene Bedeutung zugemessen – wodurch übrigens teilweise die begriffliche Aufteilung des Körpers in verschiedene Segmente erklärt wird. In der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft zum Beispiel gibt man sich wenig Mühe, die Ellbogen vor Berührungen zu schützen, während auf die Körperöffnungen in der Regel besonders achtgegeben wird.“342
Mehr wird zu dieser „Hülle“ bei Goffman nicht ausgeführt. Nun geht es ihm in seinem Text um die verschiedenen Arten der Aufrechterhaltung dieser Territoriumsgrenzen, respektive um die Arten, wie in der sozialen Interaktion diese Grenzen verletzt werden. Raab schreibt hierzu, dass die „Markierung von Reservaten und deren rituelle Achtung durch die sozialen Anderen in der Interaktion (...) grundlegende Voraussetzungen für die Entwicklung und den Erhalt des Selbst (sind).“343 Wenn diese Reservate/ Bereiche verletzt werden, wird damit auch das Individuum in seinem Persönlichkeitswert verletzt. Als Beispiele für „Markierungen“ dieser Territorien, als notwendige Voraussetzung ihrer späteren Beschützung, gibt Goffman im Falle der Hülle nur den Namen, der früher 341
Raab: Soziologie des Geruchs, a.a.O., S.350. Goffman: Die Territorien des Selbst, a.a.O., S.67. 343 Raab: Die Soziologie des Geruchs, a.a.O., S.195. 342
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den Sklaven in die Haut gebrannt wurde.344 Bei den Mitteln und Formen der Verletzung zählt er „Eindringen, Einfall, Eingriff, Anmaßung, Übergriff, Beschmutzung und Kontamination“345 auf. Bei den Exkrementen unterteilt er die Übertretungen in vier Kategorien: „Erstens: Körperliche Ausscheidungen, die bei unmittelbarer Berührung zur Verunreinigung führen: Speichel, Nasenschleim, Schweiß, Nahrungsteile, Blut, Sperma, Erbrochenes, Urin und Fäkalien. (...) Zweitens: Gerüche: Blähungen, schlechter Atem und Körpergerüche. (...) Drittens ein geringfügiger Faktor: Die Körperwärme (s.o. Toilettenbrillen bei Philip Roth, MH) (...). Schließlich der harmloseste Fall: vom Körper zurückgelassene Markierungen (...) ein Beispiel sind Speisereste auf einem Teller.“346
Hauptsächlich interessiert sich der Interaktionssoziologe Goffman selbstredend für Grenzverletzungen bei „Ansammlungen von mehreren Personen“347, dennoch aber hat er auch Selbstverletzungen dieser Territorien im Blick, die er danach unterscheidet, ob die Quelle des Schmutzes das Individuum selbst ist oder ob es sich mit Schmutzstoffen anderer Personen verunreinigt. Zu dieser zweiten Kategorie, die er auch als „Entwürdigung“ bezeichnet, zählt er zum Beispiel das Leertrinken stehen gelassener Bierkrüge, das Verzehren von Essensresten wie aber auch rituelle Handlungen wie die traditionelle Fußwaschung junger Priester durch den Papst während der Gründonnerstagsmesse.348 Für uns von größtem Interesse ist hingegen die Kategorie von Selbstverschmutzung, bei der „das Individuum als Quelle der Kontamination (sich selbst) als ein Reservat verunreinigt.“349 Allerdings ist die einzige Form, die Goffman in den „Territorien des Selbst“ hierzu aufführt, die extreme und „in unseren psychiatrischen Anstalten immer seltener“ werdende Ausprägung, dass eine Person „sich mit den eigenen Fäkalien beschmiert und sie ißt.“350 Folgerichtig bezeichnet Goffman diese Praxis auch als eine „heroische Perversion“.351 Es ist also eine Form, in der man die sich selbst verschmutzende Person für nicht zurechnungsfähig hält. In seiner früheren Arbeit über „Stigma“352 hingegen hatte er Lebenssituationen beschrieben, in denen sich voll zurechnungsfähige Personen zu ihrem Leidwesen immer 344
Goffman: Die Territorien des Selbst, a.a.O., S.72. Ebd., S.74. 346 Ebd., S.78. 347 Ebd., S.74. 348 Ebd., S.87. 349 Ebd., S.85. 350 Ebd. 351 Ebd. 352 Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967. 345
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wieder selbst beschmutzen oder doch ständig Gefahr laufen, sich selbst zu beschmutzen und größte Vorsichtsmaßnahmen dagegen ergreifen. Patienten etwa, die nach einer Operation einen künstlichen Darmausgang eingesetzt bekamen. Das Buch über „Stigma“ verweist im Untertitel, „Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“, darauf, dass diese Vorsichtsmaßnahmen nicht „bloß“ einzig dazu dienen, eine unangenehme Situation zu vermeiden, wie zum Beispiel, wenn man auf Festen als Gast angesichts einer alten Toilettenanlage gut beraten ist, durch sparsamen Gebrauch von Toilettenpapier eine Verstopfung des Abflusses zu vermeiden, sondern dass es hierbei um identitätsrelevante Verhaltenstechniken geht. Eine Person mit einem künstlichen Darmausgang hat eine „beschädigte Identität“, deren Auswirkungen auf die Interaktion mittels bestimmter Techniken bewältigt werden sollen. Goffman nennt diese permanente Selbstregulierung durch Vorsichtsmaßnahmen die Praxis des „an-der-LeineLebens“.353 Die diskreditierbare Person, also eine Person, deren Stigma noch nicht bekannt ist und die dieses auch vor Entdeckung schützen will, steuert ihr Leben in ganz bestimmter Weise. Wobei „steuern“ geradezu wörtlich zu verstehen ist: Sie teilt sich ihr Leben in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ein, „wobei die diskreditierbare Person in der Nähe des Ortes bleibt, an dem sie ihre Verkleidung auffrischen kann und wo sie sich davon ausruhen kann, sie tragen zu müssen; sie entfernt sich von ihrer Ausbesserungsstation nur um die Distanz, aus der sie zurückkehren kann, ohne die Kontrolle über die Information über sich zu verlieren.“354
Diese Techniken werden von Goffman nicht im Kontext von schwerer Krankheit oder Sterben aufgeführt, sondern in den angezeigten Beispielen sind es Personen, die in der Lage sind, diese identitätssichernden Techniken selbst auszuführen. In unserem Zusammenhang von Sterben und schwerer Krankheit ist es in den allermeisten Fällen den betroffenen Personen nicht mehr möglich, solche Techniken einzusetzen, sondern sie sind meistens auf andere Personen angewiesen, um sich von ihrer Selbstbeschmutzung zu reinigen. In der Terminologie Goffmans sind sie nicht mehr diskreditierbare, sondern immer schon diskreditierte Personen hinsichtlich ihrer Identität. Wenn wir die Problematik der neuen Sterbeverläufe auf den Begriff bringen wollen, bietet sich dazu methodisch Goffmans Modell der Hülle zusammen mit seiner Stigma-Theorie an. Die Hülle, also vor allem die Haut der Personen wie auch ihre Kleidung, ist das engste und auch intimste Reservat, von dessen Sicherung die Aufrechterhaltung der Identität abhängig ist. Die Beschreibungen, die 353 354
Ebd., S.115. Ebd.
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sich in den bereits angesprochenen „Krebsbüchern“ finden, zeigen gerade überaus häufig Verletzungen und Verschmutzungen dieses Territoriums. Der Komplex aus Gestank und Verschmutzung durch Fäkalien oder Schleim ist in allen zum Thema herangezogenen Büchern und Berichten stets präsent, wie wir an der unabweisbar nahe gehenden Passage über den Zusammenbruch von Roths Vater gesehen haben und wie wir weiterhin in den Büchern von Schlingensief, Leinemann und Diez sehen werden. Wenn sich die Menschen also wünschen, „plötzlich und unerwartet“ zu sterben, wie unsere Umfragedaten zeigen, dann ist das Ausdruck von tiefer Furcht davor, solchen Situationen ausgesetzt zu sein, die sie mit den langen Sterbeverläufen und einem Siechtum verbinden. Das schwer zu Ertragende liegt dabei darin, den eigenen Körper, der einem normalerweise selbstverständlich vertraut ist, plötzlich als fremd zu empfinden. Die Gewissheit der eigenen Identität gerät dabei in größte Gefahr. In seiner Arbeit über die Interaktionsordnung stellt Goffman fest, dass soziale Situationen dadurch definiert sind, „daß wir an ihnen nur dann teilnehmen können, wenn wir unseren Körper und seine dazugehörige Ausstattung einbringen“355. Die sich-einbringenden Individuen werden bei Goffman in den „Territorien des Selbst“ als „bewegliche Einheiten menschlicher Art“ bezeichnet und ihre Körper als Fortbewegungseinheiten. Der Körper ist dabei „ein Gehäuse, das (gewöhnlich von innen) von einem menschlichen Piloten oder Navigator gelenkt wird.“356 Jürgen Raab gibt zu dieser knappen Aussage eine für unseren Zusammenhang sehr instruktive Interpretation: „Mit dieser Formulierung deutet Goffman vermutlich an, daß der menschliche Körper vom Individuum u.U. als etwas Fremdes, Eigenständiges, vom Geist Losgelöstes und Unabhängiges erfahren wird, als etwas, das ein Eigenleben führt bzw. führen kann. Dies wird z.B. dann offensichtlich, wenn der „Navigator“ die Kontrolle über seine „Fortbewegungseinheit“ verliert, diese sich in irgendeiner Form selbständig macht, sich aufgrund ihrer ,Biologie’ in den Vordergrund der Wahrnehmung drängt, von Außen manipuliert oder gewaltsam – z.B. durch einen Unfall – in ihrer äußeren Form verändert wird.“357
Das von Goffman selbst dazu gelieferte Beispiel ist das der nach einem Unfall verunstalteten Frau, die sich im Spiegel betrachtet und über das, was sie dort erblickt, voll Schrecken sagt: „Das da im Spiegel konnte ich nicht sein.“358 In 355
Erving Goffman: Die Interaktionsordnung, in: ders.: Interaktion und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, S.50-104, hier S.60, zitiert nach Raab: Soziologie des Geruchs, a.a.O., S.161. 356 Goffman: Die Territorien des Selbst, a.a.O., S.27, zitiert nach Raab: Soziologie des Geruchs, a.a.O., S.162. 357 Raab: Soziologie des Geruchs, a.a.O., S.162, Fn.8. 358 Goffman: Stigma, a.a.O., S.27. (Hervorhebungen im Original, MH)
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Goffmans Begrifflichkeit aus den „Territorien des Selbst“ ist also die Angst vor der Verschmutzung oder gar Zerstörung des „leibgebundenen Territoriums“ der Hülle das, was die Menschen an ihrem Sterben ängstigt und weshalb sie sich einen plötzlichen und unerwarteten Tod wünschen. Das gilt für den heutigen modernen Menschen auf dem aktuell erreichten Niveau des zivilisatorischen Prozesses. Nimmt man die beiden gerade dargestellten Texte Goffmans als theoretisch-methodischen Ausgangspunkt für unsere weitere Analyse des Sterbens oder besser: für unsere Analyse dessen, was das eigentlich Bedrohliche und Gefürchtete für die Menschen ist, dann ist damit schon angezeigt, dass die soziale Problematik des Sterbens aus der Perspektive des Sterbenden gesehen werden muss. Dabei ist nicht die Selbstverständlichkeit gemeint, dass natürlich er es ist, der einsam ist, der in die affektiv-neutrale und funktional-spezifische Welt der Institutionen abgeschoben ist, sondern gemeint ist, dass man die Perspektive des Sterbenden einnehmen muss, wenn man verstehen will, worin das Spezifikum des gegenwärtigen „Sterbens ohne Tod“, wie wir das eingangs genannt haben, besteht. Ariès noch beschreibt nämlich den „schmutzigen“ Tod als deswegen in die Institutionen abgeschoben, weil „die Gesellschaft“ solcherlei anzusehen nicht mehr ertragen könne.359 Erstaunlicherweise findet sich auch bei dem großen Theoretiker des Zivilisationsprozesses, bei Norbert Elias in seinem Buch über die „Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“360, gerade keine systematische Verknüpfung mit seiner eigenen Theorie der Bildung von Ekel- und Schamgefühlen. Eine solche Verknüpfung nämlich müsste zu der Tatsache, dass die gegenwärtige „Gesellschaft“ in extrem ausgeprägterer Weise auf Gestank und Fäkalien reagiert als noch die Gesellschaft des Mittelalters oder der frühen Neuzeit, auch genauso selbstverständlich in Betracht ziehen, dass sich doch eben diese gesellschaftlichen Hygiene- und Reinlichkeitsstandards notwendigerweise in den Individuen als Scham- und Ekelgrenzen selbst auch fest verankert finden. Gerade das ist ja der Kern der Elias’schen Zivilisationstheorie. Auf den gesamten Prozess der Zivilisation gemünzt schreibt Elias: „Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt
359
Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.783. Gleichwohl hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass sich die Gründe für die Einlieferung ins Krankenhaus ursprünglich nicht dem Wunsch nach Abschiebung der Kranken und Sterbenden verdanken, sondern den einzig in diesen Institutionen gegebenen therapeutischen oder kurativen Möglichkeiten. Hier geht es aber um die Perspektive von Ariès. 360 Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, a.a.O.
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Die Welt der Individuen sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.“361
Daraus ergibt sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Für Elias müssen im Mittelpunkt aller soziologischen Forschung Menschen und die gesellschaftlichen Verflechtungen stehen. „Es ändert sich die Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewusstsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes. Die ,Umstände’, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ,außen’ an den Menschen herankommt; die ,Umstände’, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“362
Hermann Korte bringt es auf den Punkt, dass Elias dadurch mit der langgehegten Vorstellung breche, es gebe „die Gesellschaft“ auf der einen und „das selbständige Individuum“ auf der anderen Seite.363 Wie zu zeigen sein wird, lässt Elias in seinem berühmten Buch über die Einsamkeit der Sterbenden deren Perspektive hinsichtlich verletzter Scham- und Ekelniveaus merkwürdig unterbelichtet. Aber bevor wir uns der Situation der Sterbenden aus zivilisationstheoretischer Perspektive nähern (worauf es ja vor allem ankommt, wenn man deutlich machen will, warum sich die gegenwärtige Situation für den gegenwärtigen Menschen so besonders schwierig gestaltet) und von dort ausgehend dann den Begriff des „sozialen Sterbens“ in einer leicht modifizierten Weise in die Diskussion bringen wollen, ist es notwendig, sich das Konzept des „sozialen Todes“ vorgängig genau anzusehen. 8.4 Der soziale Tod Wie eingangs zitiert, geben in der von uns durchgeführten Telefonumfrage 60 Prozent der Befragten an, Angst vor dem Sterben zu haben, hingegen nur rund 7 Prozent sagen, dass sie sich vor dem Tod fürchten (N=313). Wie ebenfalls erwähnt, korrespondiert dem die Aussage von 80 Prozent der Befragten, lieber „plötzlich und unerwartet“ anstatt „auf den Tod vorbereitet und bewusst“ sterben zu wollen (N= 289). Dass die Menschen eher nicht auf den Tod „vorbereitet und 361
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., Frankfurt am Main 1997, hier Bd. 2, S.324f. Ebd., S.388. 363 Vgl. Hermann Korte: Norbert Elias, in: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd.1, München 1999, S.315-334, hier S.327. 362
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bewusst“ sterben möchten, ist unseres Erachtens nicht so zu interpretieren, dass man eine Vorbereitung oder eine Bewusstheit als solche ablehnte, sondern wohl eher so, dass Vorbereitung und Bewusstheit bedeuten, dass man sich in einer längeren Sterbephase befindet, was in der Tat ja auch das realistische Szenario ist. Wahrscheinlich würde kaum jemand einen „bewussten und vorbereiteten“ Tod ablehnen oder fürchten, wenn sich Bewusstheit und Vorbereitung unabhängig oder außerhalb der Sterbephase gewinnen ließen. Die Vorgeschichte des Terminus „sozialer Tod“ beginnt in den Sozialwissenschaften mit Erving Goffman: „Although some roles can be re-established by the inmate if and when he returns to the world, it is plain that other losses are irrevocable and may be painfully experienced as such. It may not be possible to make up, at a later phase of the life cycle, the time not now spent in educational or job advancement, in courting, or in rearing one’s children. A legal aspect of this permanent dispossession is found in the concept of ,civil death’: prison inmates may face not only a temporary loss of the rights to will money and write checks, to contest divorce or adoption proceedings, and to vote but may have some of these rights permanently abrogated.”364
Bei dem von Goffman beschriebenen „bürgerlichen Tod“ ist es sowohl eine soziale als auch eine materiale Schranke, welche den betroffenen Menschen von einem Teil seines Rollenrepertoires abschneidet. Die materiale Schranke findet sich auch bei Patienten im Krankenhaus, selbst wenn man Krankenhäuser nicht als totale Institutionen bezeichnen will.365 Es ist für den Patienten im Krankenhaus beispielsweise nicht vorgesehen, seine Sexualität mit seinem Partner ausleben zu können. Auch hier gibt es sicherlich ein „Underlife“ genau im Goffman’schen Sinne, aber wie in den Gefängnissen auch, ist ein „Underlife“ eine Reaktion auf Restriktionen und Verbote.366 Aber auch wenn hier der Tagesablauf der Patienten strikt vorgegeben ist, auch wenn es keine oder nur eine sehr eingeschränkte Privatsphäre gibt, ist der zentrale Unterschied zu totalen Institutionen formal doch der, dass man sich „gegen den ärztlichen Rat“ selbst entlassen kann, sofern man keine Gefährdung für die Gesellschaft darstellt. Der qualitativ entscheidende Unterschied aber ist, dass im Falle des Krankenhauses die soziale Schranke fehlt. Die soziale Schranke, in verschiedenen Formen, wie wir sehen werden, ist verantwortlich für das Phänomen, dem unsere Untersuchung nachgehen muss: Dem Phänomen des „sozialen Todes“. Dieser Begriff hat eine Geschichte, der wir eine kleine Modifikation hinzufügen wollen. Der Begriff taucht 364
Goffman: On the Characteristics of Total Institutions, a.a.O., S.15f. Vgl. auch hier wieder die Einschätzung von Lau: Tod im Krankenhaus, a.a.O. 366 Vgl. Erving Goffman: The Underlife of a Public Institution: A Study of Ways of Making Out in a Mental Hospital, in: ders.: Asylums, a.a.O., S.171-320. 365
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nun interessanterweise aber dennoch zum ersten Mal im Zusammenhang einer Krankenhausstudie auf. David Sudnow, ein Schüler Goffmans, prägt ihn in seiner Arbeit „Passing on“367, einer ethnographischen Studie zum Umgang mit Sterbeprozessen und Tod in zwei Krankenhäusern. Sudnow bezeichnet mit dem Terminus die von ihm beobachtete Tatsache, dass moribunde Patienten, es handelte sich hauptsächlich um Krebspatienten, ab einem gewissen Zeitpunkt so behandelt wurden, als seien sie bereits tot. Er unterscheidet („tentative“, wie er sagt) drei Typen des Todes: den „klinischen Tod“, hier zeigt der Mensch TodesZeichen, dann den „biologischen Tod“, gekennzeichnet durch das Ende der Zellaktivität, und schließlich den „sozialen Tod“, den er folgendermaßen definiert: „,social death’ which, within the hospital setting, is marked by that point at which a patient is treated essentially as a corpse, though perhaps ,clinically’ and ,biologically’ alive.”368
Jemand ist dann „sozial tot“, wie Sudnow weiter ausführt, wenn sozial relevante Attribute der Person dauerhaft aufhören, eine Rolle im Umgang mit ihr zu spielen. Daher kann der Begriff an spezifischen und beobachtbaren Weisen des konkreten Umgangs mit einer Person aufgezeigt werden. Den Terminus „tot“ fasst Sudnow daher auch dezidiert eng, um zu vermeiden, dass damit alles bezeichnet werden könnte, was man umgangssprachlich vielleicht unter der Metapher „jemanden wie tot behandeln“ fassen würde: Etwa, dass jemand von seiner Familie verlassen wird. In diesem Falle gibt es eben keinen konkreten Umgang. Allein die Tatsache, dass eine Person „radikal asozial“ behandelt wird, bedeutet nicht, dass sie im Sudnow’schen Sinne „sozial tot“ ist.369 Dabei wird die Differenz zu Goffmans „civil death“ („bürgerlicher Tod“) deutlich, auf die Sudnow selbst hinweist.370 Die Gefängnisinsassen sind aus der Gesellschaft als Internierte ausgeschlossen und interagieren gar nicht oder nur mehr sehr eingeschränkt in oder mit der Gesellschaft. Zwischen ihnen und der Gesellschaft besteht ebenso ein Nicht-Umgang wie zwischen dem von seiner Familie im Stich gelassenen Menschen. Aber sowohl der Gefängnisinsasse als auch der von der Familie Verlasse367
David Sudnow: Passing on. The Social Organization of Dying, New Jersey 1967. Ebd., S.74. 369 Vgl. Sudnow: Passing on, a.a.O., S.75, der gerade diese Verhaltensweisen nicht mehr unter seinen Begriff des „social death“ zählt: „It is perhaps analytically tempting to conceive of social ,death’ as any instance of radically asocial treatment of a person, but such a usage would be, at the same time, analytically ambiguous, permitting such things as desertion by one’s family, ,nonperson treatment’, and the like, to be so conceived.” 370 „During the course of observations in a mental institution, Erving Goffman observed predeath treatments of patients. It was he who first directed my attention to the notion of ,social death’. My restricted usage of the notion does not necessarily coincide with his intended interest in it.” Sudnow: Passing on, a.a.O., S.72, Fn.10. 368
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ne werden in dem sozialen Umgang, den sie ja durchaus haben mit anderen Menschen, Nachbarn, Bekannten oder mit den Gefängnisgenossen oder dem Gefängnispersonal, gerade nicht als „sozial tot“ behandelt. Innerhalb der „totalen Institution“ sind die Insassen absolut „sozial lebendig“, wie die mitunter schillernden Ausführungen Goffmans zum „Underlife“ und zur Interaktion zwischen Insassen und Stab zeigen. Allein die Interaktion mit der Gesellschaft ist durch die Kluft des „bürgerlichen Todes“ weitestgehend abgebrochen. Die extreme Form solcher bürgerlich Toten sind die Verbannten, wie etwa der als vermeintlich prodeutscher Verräter verurteilte Hauptman Alfred Dreyfus, oder der damit nachmals als Bestseller-Autor berühmt gewordene „Papillon“ Henri Charrière. Wobei man bei beiden sehen kann, dass ein bürgerlicher Tod nicht in jedem Falle irreversibel sein muss: Der eine wurde rehabilitiert, dem anderen gelang nach vielen vergeblichen Versuchen die Flucht, und er konnte schließlich seine Unschuld beweisen und ein erfolgreiches Buch darüber schreiben.371 Für die Gefängnisinsassen Goffmans und auch für die heutigen Insassen bestehen durchaus Verbindungen zur Außenwelt des Gefängnisses, zur Gesellschaft, wenn auch in eingeschränkter Form.372 Im Terminus „sozialer Tod“ zielt Sudnow auf einen eingeschränkteren, nahe an der wortwörtlichen Bedeutung liegenden Sinn von „tot“ ab: „i.e., where death is the warrantable basis for doing such things as planning an autopsy, disposing of personal effects, contracting mortuary institutions, putting a body in the morgue, informing insurance companies, remarrying, grieving, announcing the contents of a will, preparing obituary notices, transferring properties to another name, and, generally, engaging in those organizational, ceremonial, and economic activities associated with death, those matters which mark the end of social existence.”373
Es geht also eindeutig um Handlungen, die jemand anderes an oder mit einer Person vollzieht. Der betreffende Patient in Sudnows Beobachtungen wird zum Objekt des Handelns des Krankenhauspersonals und der Umgang des Personals mit dem Patienten kann nur unter der Prämisse verstanden werden, dass der 371 Vgl. Henri Charrière: Papillon. Frankfurt am Main 2003 und zur Affäre Dreyfus den berühmten Artikel von Émile Zola „J’accuse“. Auf solche Fälle bürgerlichen Todes bezieht sich auch Feldmann, wenn er schreibt: „Dass es trotz großer Machtfülle und Skrupellosigkeit schwierig ist, ein unwiderrufliches Ende der sozialen Existenz eines Verhassten zu erreichen, zeigen die Versuche der physischen und sozialen Vernichtung missliebiger Personen, die dann rehabilitiert werden.“ Klaus Feldmann: Sterben und Tod. Sozialwissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse, Opladen 1997, S.84. 372 Vgl. dazu auch Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994. 373 Sudnow: Passing on, a.a.O., S.75.
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Patient vom Personal als „eigentlich schon tot“ betrachtet wird. Sudnow illustriert das am Beispiel einer Krankenschwester, die einer „im Sterben liegenden“ Patientin mehrfach die Augenlider zusammendrückt, weil, wie sie erklärt, den Toten die Augen geschlossen werden müssen und das bei noch Lebenden leichter gehe, offenbar, weil die Totenstarre das Unterfangen kompliziert: „A nurse on duty with a woman who she explained was ,dying’, was observed to spend some two or three minutes trying to close the woman’s eyelids. This involved slowly but somewhat forcefully pushing the two lids together to get them to adhere in a closed position. After several unsuccessful moments she managed to get them to stay shut and said, with a sigh of accomplishment, ,Now they’re right’.”374
Gerhard Schmied hält Sudnows Fassung des Terminus für die „allein angemessene“ mit dem Hinweis darauf, der „soziale Tod“ stehe „dem medizinisch festgestellten Tod, der in der Regel den Verlust einer Person gültig anzeigt, zeitlich sehr nahe.“375 In Sudnows Beschreibung spielt die zeitliche Nähe eine wichtige Funktion für die Handlungsroutinen im Krankenhaus. Wenn ein Patient als „sozial tot“ angesehen wird, hat das nicht nur die beschriebenen Auswirkungen im Umgang des Personals mit ihm, sondern Patienten mit diesem Status werden auf einer Liste vermerkt („posted on the ,critical patients’ list’“376), die in die Leichenhalle des Krankenhauses weitergegeben wird, um den dort Beschäftigen die erwartete Arbeit der Woche einschätzen zu helfen:
374
Ebd., S.74. Fast schon skurril ist das extremste Beispiel, das Sudnow für die realen Konsequenzen des Urteils „sozial tot“ gibt: „A typical instance of ,social death’ involved a male patient who was admitted to the Emergency Unit with a sudden perforation of a duodenal ulcer. He was operated upon, and, for a period of six days, remained in quite critical condition. His wife was informed that his chances of survival were poor, whereupon she stopped her visits to the hospital. After two weeks, the man’s condition improved markedly and he was discharged in ambulatory condition. The next day he was readmitted to the hospital with a severe coronary. Before he died, he recountes his experience upon returning home. His wife had removed all of his clothing and personal effects from the house, had made preliminary arrangements for his burial with the mortuary establishment (she had written a letter which he discovered on his bureau, requesting a brochure on their rates), she no longer wore his wedding ring, and was found with another man, no doubt quite shocked at her husband’s return. He reported that he left the house, began to drink heavily, and had a heart attack.” Ebd., S.77. 375 Schmied: Sterben und Trauern in der modernen Gesellschaft, a.a.O., S.116 (Hervorhebung MH). Dieser Meinung sind auch Ursula Streckeisen et al., wenn sie schreiben, „dass der Terminus sozialer Tod nur im Zusammenhang mit dem unwiderruflichen Ende der sozialen Existenz verwendet werden sollte. Sozialer Tod wäre sonst eine Metapher, denn es ginge dann nur um gesellschaftliche Marginalisierungsprozesse oder Rollenverlust.“ Vgl.: Ursula Streckeisen et al.: Die berufliche Konstruktion des Lebensendes. Thanatopraktische Handlungsweisen in explorativer Sicht, Forschungsbericht, Universität Bern 1992, hier zitiert nach Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.84. 376 Sudnow: Passing on, a.a.O., S.72.
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„Posting also serves as an internally relevant message, notifying certain key hospital personnel that a death may be forthcoming and that appropriate preparations for that possibility are tentatively warranted. In the hospital morgue, scheduling is an important requirement.”377
Für die von Sudnow beschriebenen Abläufe wäre ein Begriff von sozialem Sterben, der sich über nicht absehbare Zeiträume ausdehnte, vollkommen unbrauchbar. Da wir aber gerade darauf abzielen zu zeigen, dass sich in und durch diese langen Phasen des Sterbens, die sich von einem schnell zu erwartenden Tod abgekoppelt haben, eine Form des sozialen Sterbens vollzieht, kann dies als ein erster Hinweis darauf interpretiert werden, dass der Begriff in gewisser Hinsicht modifizierungsbedürftig ist. Auch wenn diese Verwendung des Begriffs, meist mit direktem Rekurs auf Sudnow, sich häufig findet, verfügt die Thanatosoziologie nicht über eine im Forschungsfeld allgemeinverbindliche Definition des Terminus. Zur begrifflichen Verwirrung trägt auch bei, dass es keine sprachliche Möglichkeit gibt, die Begriffe „Tod“ und „Sterben“ im Falle des „sozialen Todes“ sauber getrennt zu verwenden. Die „sozial tote“ Person ist ja noch nicht „real tot“, insofern also „stirbt“ sie. Dies führt dazu, dass der Begriff des „sozialen Sterbens“ gelegentlich synonym zum Begriff des „sozialen Todes“ verwendet wird. Etwa, wenn Klaus Feldmann auf die uneinheitliche Verwendung des Begriffs „soziales Sterben“ (!) hinweist, sich aber an diesem Punkt zumindest auch auf Sudnow bezieht: „Der Ausdruck „soziales Sterben“ wird in der Fachliteratur nicht einheitlich verwendet. (...) Der physisch Sterbende kann kurz vor seinem Lebensende von anderen wie ein Toter behandelt werden (Sudnow 1973, 96ff.) Angehörige, Krankenschwestern oder Ärzte sprechen von dem (...) Sterbenden, als stünden sie vor einer Leiche.“378
Feldmann hingegen hält die Sudnow’sche Fassung des Begriffs „für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung (für) zu eingeschränkt.“379 Ohne dass er selbst diese systematische Beziehung herstellte, ist er geradezu gezwungen, sich von Sudnows Begriffsfassung zu distanzieren, denn er verweist dezidiert auf die historisch neuen langen Sterbeverläufe, die er gerade als „soziales Sterben“ beschreibt:
377
Ebd. Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.81. Die angesprochene sprachliche Verquickung von „sterben“ und „tot sein“ ist hier deutlich zu sehen. 379 Feldmann: Tod und Gesellschaft, a.a.O., S.147. 378
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Die Welt der Individuen „Die mittlere produktive Lebensphase hat sich in modernen Gesellschaften im Vergleich zu der unproduktiven ersten (...) und der unproduktiven dritten Phase (...) verkürzt. Aufgrund dieser Tatsache und des medizinisch-technischen Fortschritts ist eine in der Geschichte der Menschheit bisher einmalige Phase des langen sozialen Sterbens entstanden.“380
Die für Sudnow wichtige Signalfunktion des „sozialen Todes“ für die Gewährleistung von Handlungsroutinen im Krankenhaus ist damit, wie erwähnt, unvereinbar. Feldmann hingegen referiert eine Reihe von Phänomenen, die in der Literatur unter dem Rubrum „soziale Sterbeerfahrungen“ („quasi-death experiences“) gefasst werden: „Sitzenbleiben, Scheidung, Pensionierung, Verwitwung, Migration, Verlust der Möglichkeit der Ausübung des gewohnten Berufes, Obdachlosigkeit, Unfälle mit bleibenden Schädigungen und ähnliche schwerwiegende Veränderungen im Leben.“381
Wenn man für alle diese Phänomene tatsächlich den Begriff des „sozialen Sterbens“ ansetzen will, dann gilt für ihn, was Max Weber für den Begriff „Macht“ festgestellt hat: Er ist soziologisch amorph.382 Weitaus tragfähiger und für unseren Zusammenhang instruktiv, ist allerdings Feldmanns Versuch einer Taxonomie verschiedener Formen des Sterbens in modernen Gesellschaften. Neben die Formen des „physischen Sterbens“ und des „sozialen Sterbens“ tritt hier das „psychische Sterben.“383 Das „physische Sterben“ fasst er als Krankheit, Alter und Schmerz. Das „soziale Sterben“ wird hier nicht mehr so weit gefasst wie in der obigen Form, wenngleich noch immer bedeutend weiter als bei Sudnow: 380
Ebd., S.152. Ebd., S.153. In einer Fußnote wird dieser Liste noch Norbert Elias’ Verwendung des „traditionellen“ Begriffs „Einsamkeit“ hinzugefügt. Nicht mehr referierend schließt sich Feldmann offensichtlich einer solch extrem weitgefassten Begriffsverwendung an: „Soziales Sterben wird frühzeitig eingeübt durch die Schwankungen im Status innerhalb von Gruppen, den Verlust von Rollen, durch Wechsel von Orten und Organisationen. (...) Im deutschen Schulsystem werden soziale Sterbeerfahrungen durch eine veraltete Struktur (frühzeitige Notengebung, Selektion nach der 4. Klasse, mehrgliedriges Schulsystem, Sitzenbleiben, Hauptschulabschlussverweigerung etc.) in besonderem Maße gefördert.“ Diese Phänomene scheinen uns adäquater als Exklusionsphänomene beschrieben zu sein. Man vermeidet damit die Aufweichung des Begriffs „Sterben“ und kann doch die schmerzlichen Verlust- und Trennungserfahrungen begrifflich gut fassen. Vgl. die oben dazu aufgeführte Literatur. 382 Vgl. dazu Webers Kommentar zu §16 seiner Soziologischen Grundbegriffe: „Der Begriff ,Macht’ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“ Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S.28f. 383 Vgl. Klaus Feldmann: Physisches und soziales Sterben, in: Ulrich Becker, Klaus Feldmann, Friedrich Johannsen (Hg.): Sterben und Tod in Europa. Neukirchen-Fluyn 1998, S.94-108, hier S.95. 381
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„In modernen Gesellschaften tritt soziales Sterben in vielen Gestalten auf. In den öffentlichen Diskursen wird gemäß der subsystemspezifischen und beruflichen Differenzierung dieser Ausdruck allerdings kaum verwendet: Man spricht von Pensionierung, Dauerarbeitslosigkeit, Vereinsamung, Marginalisierung, Abschieben, Ausgliedern, Einweisen, Vergessen, lebenslänglicher Haft usw.“384
Die nähere Beschreibung des Begriffs wird hier also, in einer etwas schiefen Analogisierung, an die entsprechenden Subsysteme oder Berufe gebunden, in denen der Begriff Verwendung findet. Eine strukturelle Beschreibung dessen, was er unter dem „sozialen Sterben“ versteht, gibt er in Abgrenzung zum „Altern“: „,Altern’ und ,soziales Sterben’ sind zwar häufig parallelisiert, sollten jedoch nicht gleichgesetzt werden. Soziales Sterben ist kein physiologisch oder biologisch definierbarer Vorgang, sondern bezieht sich auf die soziale Identität, auf Rollen und die Teilnahme an institutionellen und organisatorischen Aktivitäten. Alte Professionelle oder Politiker, die noch hochbewertete Tätigkeiten durchführen, sind oft sozial lebendiger als junge Menschen, die sich in Haftanstalten oder psychiatrischen Kliniken befinden.“385
Abgesehen davon, dass es hier keine Verknüpfung mit der zeitlichen Nähe von sozialem und realem Sterben gibt, liegt diese Operationalisierung des Begriffs der Sache nach doch recht nahe an der Sudnows. Auch bei ihm ist ja das soziale Sterben nicht eigentlich ein biologisch oder physiologisch ausgezeichneter Vorgang (er hatte ja gerade den „social death“ unterschieden sowohl vom „clinical death“ als auch vom „biological death386), sondern die Patienten werden dann als „sozial tot“ bezeichnet, wenn sie die ihnen zugesprochene Krankenrolle nicht mehr ausfüllen können, nicht mehr aktiv in die institutionellen oder organisatorischen Abläufe eingebunden werden können und wenn man davon ausgeht, dass sie die sie umgebenden Aktivitäten des Personals nicht mehr wahrnehmen. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass aus Feldmanns Definition des Begriffs die physiologisch-biologischen Veränderungen eindeutig ausgeklammert sind, weil er sie exklusiv zum „physischen Sterben“ zählt. Die dritte Form des Sterbens, das „psychische Sterben“ ist bei Feldmann charakterisiert durch „Identitätserosion, Bewusstseinsverlust und Verzweiflung“387, wobei
384
Ebd. Ebd., S.85. 386 Vgl. Sudnow: Passing on, a.a.O., S.74 und unsere Ausführung oben. 387 Vgl. Feldmann: Physisches und soziales Sterben, a.a.O., S.95. 385
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Die Welt der Individuen „der zentrale Unterschied zwischen sozialem und psychischem Sterben im Anteil der Fremddefinition (liegt). Das soziale Sterben ist primär durch andere Personen oder institutionell definiert, während das psychische Sterben primär durch die Person selbst bestimmt ist. Ein weiterer Unterschied besteht in der personalen bzw. strukturellen Definition. Psychisches Sterben ist primär personal und soziales Sterben primär strukturell und institutionell bestimmt.“388
Was hier mit dem höheren „Anteil der Fremddefinition“ bezeichnet ist, findet sich als Strukturmerkmal des Begriffs in den meisten Definitionen des sozialen Sterbens. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es unserer Meinung nach eines Perspektivenwechsels bedarf, um die Problematik der heutigen langen Sterbeverläufe wirklich zu verstehen. Die Perspektive der Sterbenden muss mehr in den Vordergrund der Analysen gerückt werden. Das aber findet sich in den einschlägigen Fassungen des Begriffs, wie gesehen, gerade nicht. Wenn die Kategorie des „sozialen“ Sterbens verhandelt wird, sind es jeweils „Andere“, die einen Sterbenden als „sozial tot“ behandeln. Auch Feldmann selbst weist darauf hin, „dass in all diesen Bestimmungen des sozialen Sterbens ein gemeinsames zentrales Element des sozialen Lebens identifiziert werden (kann): Die soziale Anerkennung durch (signifikante) andere.“389
Selbstverständlich können auch diese „Anderen“ einen Sterbenden als „psychisch tot“ behandeln, etwa im Umgang mit einem schwer an Alzheimer erkrankten Menschen, worauf Feldmann auch explizit hinweist: „An der Alzheimerschen Krankheit Leidende sterben psychisch (und physisch), ihr Selbstbewußtsein wird zerstört, doch durch die pflegende Bezugsperson wird eine sozial konstruierte fremdbestimmte Identität aufrechterhalten (...).“390
Aber damit wäre kein Perspektivenwechsel in unserem Sinne verbunden. Es handelt sich hier immer noch um die durchgängig verwendete Perspektive der „Anderen“, die einen Sterbenden unter je gegebenen Umständen als „sozial“ oder als „psychisch“ tot behandeln. Feldmann lehnt seine Differenzierung der Begriffe „soziales“ und „psychisches“ Sterben an eine Unterscheidung von Robert Kalish an, der zwei Formen des sozialen Sterbens unterscheidet.391 Nach 388
Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.86. Vgl. Feldmann: Physisches und soziales Sterben, a.a.O., S.99. (Hervorhebung im Original, MH) 390 Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.86. 391 Vgl. Robert A. Kalish: Life and death. American Psychological Association, New York 1966, zitiert nach Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.86. Bei Sudnow findet sich allerdings keine Bezugnahme auf Kalish. 389
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Kalish definiert sich in der einen Form das Individuum selbst als tot oder so gut wie tot und in der anderen Form sind es „Andere“, die das Individuum als einen Toten behandeln. Feldmann meint, diese Abgrenzung könne „zur Unterscheidung von psychischem und sozialem Sterben verwendet werden“392, und so verstanden werden nun die zwei unterschiedlichen Perspektiven sehr deutlich: Einmal ist der Sterbende das Subjekt der Perspektive (psychisches Sterben, geringer Anteil der Fremddefinition), einmal das Objekt der Perspektive (soziales Sterben, hoher Anteil der Fremddefinition). Wir werden aber zu zeigen versuchen, dass ein zeitgemäßer Begriff des „sozialen Sterbens“ an zwei Punkten diese Dichotomie (Kalishs und Feldmanns) aufbrechen muss. Zum einen scheint uns Kalishs Differenzierung von zwei Arten des sozialen Sterbens geeigneter zu sein als Feldmanns daran angelehnte Unterscheidung des sozialen Sterbens vom psychischen Sterben. Beide Perspektiven gehören zum sozialen Sterben, wie wir ausführen wollen, und es ist nicht zu sehen, wieso die Seite mit dem geringen Anteil der Fremddefinition einem psychischen Sterben zugerechnet werden soll. Wie wir gesehen haben, ergibt sich im häufigen Falle der an Alzheimer erkrankten Menschen die Zuschreibung als „psychisch tot“ ja gerade nicht aus einer Eigendefinition der Erkrankten, sondern aus dem Wissen der Anderen um deren Krankheit. Zum anderen ist die bei Feldmann strikt vorgenommene Abspaltung aller körperlichen, biologisch-physiologischen Aspekte vom Begriff des sozialen Sterbens nicht realistisch durchzuhalten. Es ist unbestritten, dass man körperlich-physische Vorgänge des Sterbens trennen muss von den Vorgängen, die mit Rollenverlust und ähnlichem zu tun haben. Aber das soziale Sterben besteht eben nicht nur aus dem Verlust von Rollen und Positionen, wie auch das soziale Leben nicht nur aus dem Besitz von Rollen und Positionen besteht. Wenn Feldmann, wie oben zitiert, ein zentrales Element des sozialen Lebens in der sozialen Anerkennung durch signifikante Andere sieht, dann ist damit doch direkt deutlich, dass diese soziale Anerkennung nicht nur an Rollensets geknüpft ist, sondern zu gleichen Teilen doch auch an Verhaltens- und Umgangsformen. Oder anders formuliert: Das Erreichen von Positionen und das Innehaben und Innehalten von Rollen ist (gerade) auf der sozialen Dimension, die sich nicht über inhaltlich-sachliche Kompetenzen definiert, in den allermeisten Fällen abhängig von der souveränen Verfügung über gesellschaftlich gebotene Verhaltensstandards. Aber auch jenseits einer vertikalen Rollendifferenzierung ist die soziale Anerkennung abhängig von einer im Allgemeinen glatt ablaufenden Interaktion, und das heißt bei allen denkbaren Schwierigkeiten im Einzelnen, dass wir bis auf weiteres davon ausgehen, dass unsere Interaktionspartner sich auf dem gleichen 392
Feldmann: Sterben und Tod, a.a.O., S.86.
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gebotenen zivilisatorischen Niveau bewegen wie wir. Wie Norbert Elias dargestellt hat, bedeutet das in erster Linie eine souveräne Verfügung über den eigenen Körper. Wir werden darauf ausführlich zurückkommen. Hier soll dieser Hinweis nur insoweit in Anschlag gebracht werden, als damit der starke Zusammenhang von Rollen und Körper aufgezeigt werden kann und - so ist die Argumentation - damit eben auch von sozialer Anerkennung und Körper. Wenn für die soziale Anerkennung der Körper wichtig ist, dann kann für das soziale Sterben und den damit zusammenhängenden Verlust der sozialen Anerkennung der Körper nicht unwichtig sein. Zum sozialen Sterben gehört also auch der Verfall des Körpers, nämlich als Zerstörung dessen, was als zivilisatorisches Niveau in Interaktionen und Rollenübernahmen notwendig ist. Aber, und das ist der zweite Punkt, an dem wir uns von Kalish und Feldmann unterscheiden, dies gilt es auch in den zwei genannten Perspektiven zu betrachten. Einmal aus der Perspektive des Sterbenden und einmal aus der Perspektive der Anderen. Die für Elias in seinen Ausführungen zum Prozess der Zivilisation so eminent wichtige Kategorie der „Scham“ wird dort maßgeblich aus der Sicht der sich schämenden Individuen entwickelt und nicht aus der Sicht einer Gesellschaft, die sich angesichts individuellen Fehlverhaltens schämte.393 Halten wir an dieser Stelle als Zwischenergebnis fest, dass unsere Definition des sozialen Sterbens beide Perspektiven einbeziehen muss und die körperliche Dimension des Sterbens im gerade genannten Sinne nicht ausschließt. Hans-Joachim Weber kommt in seiner Studie zum „sozialen Tod“ unserer Auffassung schon recht nahe, wenn er davon ausgeht, „daß in der Gegenwart nicht der „reale Tod“ problematisch ist, sondern der „soziale Tod“. Der „soziale Tod“ kennzeichnet genau das Phänomen, daß man aus einer Gesellschaft als Person heraussterben kann, daß einem der Ausschluß aus einer Gemeinschaft drohen kann, daß man einer Gesellschaft entfremdet und diese einem selbst fremd wird.“394
Bei Weber ist nicht geklärt, ob es ihm bei seiner Verwendung der Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ gerade auf die Tönnies’sche Unterscheidung ankommt395, aber man kann diese Unterscheidung durchaus verwenden. Der Ausschluss aus der Gesellschaft wäre die „Einsamkeit der Sterbenden“, das Ster393
Auf die Unmöglichkeit einer Trennung von Individuum und Gesellschaft für Elias wurde oben schon hingewiesen. 394 Hans-Joachim Weber: Der soziale Tod. Frankfurt am Main 1994, S.15f. 395 Vgl. zur Begriffsgeschichte dieser Unterscheidung Alois Hahn und Matthias Hoffmann: Artikel „Gemeinschaft/ Gesellschaft“, in: Sonderheft zum 50jährigen Bestehen des ‚Archivs für Begriffsgeschichte’: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von Christian Bermes und Ulrich Dierse, Hamburg (im Erscheinen 2010).
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ben in Institutionen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft ließe sich als das Phänomen identifizieren, dass man sich vor den einem nahen Menschen schämt und, gewissermaßen als Selbstausschluss, sich vor sich selbst ekelt. Bei diesem „Heraussterben aus der Gemeinschaft“ handelt es sich um eine Art und Weise des Sterbens, welche die bisherige Identität und das zivilisatorische Niveau, das einem selbstverständlich war, zerstört. „Gemeinschaft“ kann hierbei die Familie bedeuten, es kann aber auch die Beziehung zu den Pflegekräften der ambulanten Hospizdienste bedeuten, ebenso wie es diejenige zum Pflegepersonal in einem Krankenhaus bedeuten kann. Dazu steht keineswegs im Widerspruch, dass die Arbeit des Krankenhauspersonals (übrigens ebenso die Arbeit der ambulanten Pflegedienste) an der Handlungsnorm der affektiven Neutralität und funktionalen Spezifizität ausgerichtet ist. Es spielt auch nur eine untergeordnete Rolle, dass der Sterbende oder der Patient die Pflegekräfte in den meisten Fällen nicht kennt und sich von daher nicht vor ihnen schämen müsste. Die „affektive Neutralität“ der Parsons’schen „Pattern Variables“ bezieht sich ja als normativ gemeinte Handlungsanweisung auf diejenigen, die professionell engagiert sind in den betreffenden Situationen.396 Der Arzt, das Pflegepersonal soll affektiv neutral handeln, und selbst das fällt allzu oft schwer. Für die Patienten bleibt die Situation belastend, auch wenn sie davon ausgehen können (oder zumindest: sollen), dass sie als je individuelle Person den Arzt nicht interessieren, dass sie keine Kontakte neben den professionellen mit den Ärzten haben und sich insofern eigentlich nicht zu schämen bräuchten. Der Prozess der Zivilisation hat den modernen Menschen die sich bildenden Verhaltensnormen und Schamgrenzen, speziell in Bezug auf die Intimsphäre, derart tief verinnerlichen lassen, dass er zwangsläufig in einer Situation wie der geschilderten Krankenhausinteraktion zwischen Patient und Pfleger, den Patienten diese Situation als merkwürdige Vermischung von Gemeinschaft und Gesellschaft, als Gemeinschaftlichkeit in der Gesellschaft empfinden lässt.
Auf die sprachlichen Schwierigkeiten bei der Verwendung der Begriffe „sozialer Tod“ und „soziales Sterben“ haben wir oben schon hingewiesen. Hier aber soll nun eine terminologische Differenzierung vorgeschlagen werden: Der Begriff „sozial tot“ scheint uns nicht adäquat zu sein, weil wir ihn auch für solche Situationen verwenden wollen, in denen Angehörige oder Pflegepersonal noch fast uneingeschränkt mit den Sterbenden interagieren können. Es scheint uns treffender zu sagen, man „stirbt sozial“, weil die betroffenen Menschen wahrnehmen, dass sie nicht mehr der sind, der sie waren und vor allem, dass sie nun jemand sind, der sie nicht sein wollen. Es ist also hier, analog zu der von uns getroffenen 396 Vgl. dazu Talcott Parsons: The Social System. New York 1951; Toward a General Theory of Action, ed. by Talcott Parsons and Edward Shils, New York 1962, sowie Talcott Parsons: Pattern Variables Revisited: A Response to Robert Dubin, in: ders.: Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, 192-220.
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Unterscheidung zwischen Tod und Sterben bei der Frage, wovor die Menschen sich fürchten, eine Unterscheidung zwischen „sozialem Totsein“ und „sozialem Sterben“ zu machen. Jemand, der für tot gehalten wird, oder es tatsächlich schon ist, kann nur noch Objekt von Handlungen sein, keinesfalls aber mehr Subjekt.397 Der Sterbende hingegen kann Objekt von Handlungen sein, wie jeder andere Mensch auch, er kann aber auch noch Subjekt von Handlungen sein, insofern er ja noch lebt. Aber problematisch ist die Art und Weise, in der ihm diese Handlungen noch möglich sind. Die Betrachtungsweise, die wir hier entwickeln wollen, rückt gerade die Situationen in den Fokus der Aufmerksamkeit, bei denen der Sterbende nicht so behandelt wird, als wäre er schlicht nicht vorhanden, sondern bei denen die Problematik gerade in der Interaktion besteht und zwar für den Sterbenden. Insofern trifft Hans-Joachim Weber unseres Erachtens den Kern der gegenwärtigen Problematik nur zum Teil: „Es fällt schwer, dem Sterbenden die Hilfestellung zu geben, die er braucht, und es fällt dem Sterbenden schwer, im Gefühl der Scham über sein Ausgeliefertsein das Bedürfnis nach Hilfestellung und Trost nach außen hin zu zeigen. Beides, Individualisierung und gegenseitige Vereinsamung hängen miteinander zusammen. Die Möglichkeit des gegenseitigen Anerkennens wird in dieser entfremdeten Situation verhindert, damit aber auch die Möglichkeit, die Angst vor dem Sterben zu überwinden. Das Allein-Sterben ist aus psychologischer und psychopathologischer Sicht dasjenige Element am Sterben, welches – jedenfalls im Vorausschauen – am schwersten wiegt.“398
Er hat hier, ganz im Sinne der Unterscheidung von „Gesellschaft und Gemeinschaft“, die „gesellschaftlich“ bedingte Problematik im Auge: das Sterben in Institutionen, die Einsamkeit und die Fremdheit zwischen Patient und Personal, welches zusammen zu einer entfremdeten Situation führt.399 Uns interessiert an diesem Zitat aber vielmehr die Verbindung von Scham und Ausgeliefertsein. Bei Weber ist es offensichtlich die Scham darüber, überhaupt an eine Institution ausgeliefert zu sein. Aber die Wortwahl Webers führt uns zu dem von uns fokussierten Problem: der Scham des sterbenden Individuums. Oder genauer formuliert: der spezifisch modernen Scham des zivilisierten Individuums. Denn darin 397
Zumindest gilt dies für alle modernen Gesellschaften. In vielen Stammesgesellschaften hingegen ist es durchaus üblich, dass die Toten Subjekt von Handlungen sein können, weshalb man sie fürchtet und mit diversen Riten zu besänftigen sucht. Literatur hierzu schon früh und ausführlich bei Hahn: Einstellungen zum Tod, a.a.O. 398 Weber: Der soziale Tod, a.a.O., S.30. 399 Vgl. ebd.: „Der moderne Tod in unseren Großstädten ist Ausdruck der Anonymität und der Entfremdung der Menschen untereinander. Damit ist dieses Verhalten (...) auch Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Lebensform. (...) Man kennt einander kaum noch und natürliche Bindungen und Freundschaften werden immer seltener.“
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besteht, wie bereits mehrfach angedeutet, unseres Erachtens nach neben der historisch neuen Länge der Sterbeverläufe der andere wichtige Aspekt, den man herausheben muss, wenn man analysieren will, warum sich die Menschen vor dem Sterben und nicht vor dem Tod fürchten. Sie fürchten sich vor der Zerstörung ihres zivilisierten „Ich“. Dieses zu verlieren macht die Furcht vor dem Sterben so groß: „Die Furcht vor dem Sterben betrifft die Sorge um das ,wie’ des Lebensendes: Sterben in großer Hilflosigkeit, bei vollem Bewußtsein, unter qualvollen Schmerzen, entstellt, fern von der Familie. ,It is not the actual dying but the sadness of loosing.’”400
Was aber ist nun die spezifisch moderne Scham des zivilisierten Individuums? Betrachten wir dazu nun die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in der den Kategorien „Scham“ und „Peinlichkeit“ zentrale Bedeutung zukommt. 8.5 Elias: „Scham“ und „Peinlichkeit“ Unabhängig von der Frage, ob „Scham“ zur anthropologischen Ausstattung des Menschen gehört oder nicht, und auch unabhängig davon, dass selbstverständlich auch in vormodernen Gesellschaften „Scham“ eine große Rolle gespielt hat, liegt unser Interesse auf der ungemein folgenreichen Verschiebung der Scham- und Peinlichkeitsschwellen, die Norbert Elias in seiner Arbeit „Über den Prozeß der Zivilisation“401 so eindrucksvoll beschrieben hat. Elias verstand Zivilisation ja gerade vor allem als einen über lange Zeiträume sich erstreckenden Prozess der Selbstdomestikation. Alles, was triebbedingt und damit unreglementiert am menschlichen Verhalten zu Tage tritt, wird einer kulturellen Überformung unterworfen. Die körperlichen Regungen wie Niesen, Schwitzen, Defäzieren und dergleichen werden unter Kontrolle gestellt. Der Körper soll dem Individuum gefügig gemacht werden. Zu dieser äußeren kommt die innere Selbstbeherrschung des Menschen: Der ganze Gefühlshaushalt, vornehmlich von Hass oder Liebe gespeiste Regungen, wird kontrolliert. Damit ist nicht zu verwechseln, dass er eo ipso auch als gehemmt oder gedämpft anzusehen wäre. Es ist gerade das Verfügen über den Gefühlshaushalt, die Fähigkeit zur Kontrolle der Affekte, was eine immense Steigerung derselben ermöglicht. Kontrolle und Exzess stehen hier in einem dialektischen Verhältnis. Oder poin400
J.E.Meyer: Todesangst und das Todesbewußtsein der Gegenwart. Berlin/ Heidelberg/ New York 1982, zitiert nach Weber: Der soziale Tod, a.a.O., S.30. 401 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O.
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tierter ausgedrückt: Der Exzess ist selbst das Resultat der Kontrolle, denn die Kontrolle dieser Empfindungen ist die Bedingung der Möglichkeit ihres exzessiven Einsatzes.402 Als Grund oder als Motiv für diesen entbehrungsreichen und schwierigen Prozess der Selbstzucht hatte Elias zum einen die langen Interdependenzketten und komplexen Handlungsgeflechte genannt, die im Zuge der Entwicklung des Gewerbes und des sich bildenden globalen Handels entstehen: „Von der abendländischen Gesellschaft aus hat sich ein Interdependenzgeflecht entwickelt, das nicht nur die Meere weiter umspannt als irgendein anderes in der Vergangenheit, sondern darüber hinaus auch mächtige Binnenlandsgebiete bis zum letzten Ackerwinkel. Dem entspricht die Notwendigkeit einer Abstimmung des Verhaltens von Menschen über weite Räume hin und eine Voraussicht über weite Handlungsketten, wie noch nie zuvor. Und entsprechend stark ist auch die Selbstbeherrschung, entsprechend beständig der Zwang, die Affektdämpfung und Triebregelung, die das Leben in den Zentren dieses Verflechtungsnetzes notwendig macht.“403
Zum anderen aber sah er als Ursache dieser zivilisatorischen Entwicklung die Situation am Hofe im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts an, die den Höfling einer permanenten sozialen Kontrolle durch die anderen Höflinge aussetzt. Die Regeln der Etikette nicht zu verletzen und bei Intrigen möglichst erfolgreicher Intrigant, keinesfalls aber Opfer zu werden, sind die Bedingungen sozialen Erfolgs bei Hofe. Daher ist die innere wie die äußere Domestikation des Körpers notwendig. Diese Bedingungen sind dem Höfling wie äußere Zwänge, die er, ganz wie der Insasse des von Foucault beschriebenen Bentham’schen Panoptikons, als Selbstzwänge in das eigene Innere verlagert und die derart verinnerlicht (im wahren Wortsinne „inkorporiert“) dort als handlungsleitende Instanz fungieren.404 Genau in diesem Zusammenhang nun kommt es zur Bildung von „Scham“ und „Peinlichkeitsempfinden“ in Bereichen, die vorher, wenn überhaupt, so nur in sehr geringem Maße mit einer Möglichkeit für Scham verknüpft waren. Wichtig ist aber auch hier, dass es nicht einfach eine quantitative Zunahme an Scham in einer Gesellschaft ist, sondern eine Neubestimmung der sozialen Schamareale.405 „Nicht weniger bezeichnend als die ,Rationalisierung’ des Verhaltens ist für den Prozeß der Zivilisation zum Beispiel etwa auch jene eigentümliche Modellierung
402
Darauf hat Alois Hahn (gegen Elias gewendet) mehrfach hingewiesen. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O., Bd.2, S.337. 404 Vgl. dazu auch Foucault: Überwachen und Strafen, a.a.O. 405 Darauf hat Alois Hahn hingewiesen. 403
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des Triebhaushaltes, die wir als ,Scham’ und ,Peinlichkeitsempfinden’ zu bezeichnen pflegen.“406
Das Gefügigmachen des Körpers, die Zurichtung der Natur durch die Kultur, gepaart mit dem Entstehen von Scham und Peinlichkeitsgefühlen machen die Zivilisation aber zu einer „unter Umständen zweischneidigen Waffe“ wie Elias selbst in anderem Zusammenhang schreibt. In einer weitgehend pazifizierten Welt, in welcher der König das Gewaltmonopol innehat, verschafft ein höheres Maß an Langsicht und Dämpfung der momentanen Affekte, vor allem der aggressiven, der einen Gruppe womöglich einen entscheidenden Vorteil gegenüber der anderen. „Aber ein höheres Maß von Rationalität und von Triebdämpfung kann sich in bestimmten Situationen auch als Schwächung und damit zum Nachteil derer auswirken, die es besitzen.“407 Etwa genau dann, wenn doch wider Erwarten eine reale körperliche Bedrohung besteht. Wenn, um mit Hobbes zu reden, der Naturzustand hervorbricht, weil der Herrscher sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen kann. Bei Elias wie bei Hobbes, der den Begriff nicht verwendet, ist die Zivilisation deshalb „unter Umständen eine zweischneidige Waffe“, weil sie auf zivilisierte Umstände angewiesen ist. Wenn Hermann der Cherusker klagend feststellt: „Die Zeiten, Kinder, ach die sind verroht“, dann sind seine Feinde gut beraten, die Dämpfung ihrer Triebe abzulegen, wenn sie bestehen wollen. Wenn die zivilisatorische Einhegung der Natur brüchig wird, sind die zivilisatorischen Errungenschaften dem Individuum unter Umständen eine Erschwernis. Wie wir bei Simmel gesehen haben, ist der mit einem hochsensiblen Geruchssinn ausgestattete moderne Mensch höchst „chokiert“, wenn er mit Fäkalgestank konfrontiert ist. Elias verweist ausdrücklich darauf, dass dies für die vormoderne Welt in Europa keineswegs in dem Maße galt: „Weder die Verrichtungen selbst, noch das Sprechen darüber oder Assoziationen dazu sind in dem Maße intimisiert, privatisiert, mit Scham- oder Peinlichkeitsgefühlen belegt, wie später.“408 Für unseren Zusammenhang des Sterbens nun wollen wir gerade zeigen, dass hier analog genau das Gleiche gilt. Nun könnte man sagen: Der Tod ist immer ein Sieg über die Kultur. Wenn man über diesen Satz ohne weitere Reflexion hinweggeht, scheint er zwar zu stimmen, aber banal zu sein. Bei näherem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass er schon deswegen nicht banal sein kann, weil er nicht stimmt. Denn was da als Sieger über die Kultur annonciert wird, ist selbst Resultat von Kultur. Was wir „Tod“ nennen, ist abhängig von kulturellen Definitionen und innerhalb derer unter Umständen von den neuesten Erkenntnis406
Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O., Bd.2, S.408. Ebd., S.398. 408 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O., Bd.1, S.272. 407
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sen der Medizin. Wir hatten oben schon auf die Hirntoddebatte hingewiesen.409 Am „Tod“ zeigt sich hier wieder das generelle Verhältnis von Natur und Kultur in der Moderne. Was wir Natur nennen, verdanken wir der Kultur, ist definierte, kulturelle Natürlichkeit.410 Wenn also auch der Tod keineswegs über die Kultur siegt, so verliert das sterbende Individuum doch gleichwohl in den langen Phasen des Sterbens zusehends die Kraft, die kulturelle Überformung und Einhegung seiner natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen aufrechtzuerhalten. Aber gleichzeitig kann es sich nicht vom inkorporierten Zwang zu eben dieser Einhegung befreien. Der Körper entgleitet der Verfügbarkeit des Individuums, dieses aber hält am Anspruch der Verfügung über sich fest und gerät mit sich darüber in einen schwer erträglichen Widerspruch. Denn die bestehende Drohung ist die soziale Degradierung durch Andere, der originäre Fremdzwang, der zum verinnerlichten Selbstzwang geworden war. „Das Schamgefühl ist (...), oberflächlich betrachtet, eine Angst vor sozialer Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer; aber es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, daß der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muß, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann. Diese Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit Anderer, dieses völlige Ausgeliefertsein an sie stammt nicht unmittelbar aus der Bedrohung durch die physische Überlegenheit Anderer, die hier und jetzt gegenwärtig sind, obwohl sie ganz gewiß auf physische Zwänge, auf die körperliche Unterlegenheit des Kindes gegenüber seinen Modelleuren zurückgeht. Beim Erwachsenen aber kommt diese Wehrlosigkeit daher, daß die Menschen, deren Überlegenheitsgesten man fürchtet, sich in Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangapparatur, die dem Individuum durch Andere (...) herangezüchtet worden ist.“411
Das ist der Aspekt, auf den es uns mit unserem Vorschlag zum Begriff des „sozialen Sterbens“ ankommt. Man muss sich noch einmal vor Augen führen, dass für 30 Prozent der Befragten412 der Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen das Schlimmste an einer schweren Krankheit war und dass diese Angst der dominierende Aspekt der Furcht vor dem Sterben war. Die Scham-Erregung erhält ihre besondere Färbung dadurch, daß der, bei dem sie sich einstellt, etwas getan hat oder etwas zu tun im Begriff ist, durch das er zu gleicher Zeit mit Menschen, mit denen er in dieser oder jener Form ver409
Vgl. dazu Schneider: „So tot wie nötig – so lebendig wie möglich!“, a.a.O. Auch darauf hat Alois Hahn in der Diskussion des Materials mit Nachdruck hingewiesen. 411 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O., Bd.2, S.408. 412 In der Studie von Hahn/ Jacob et al.: Krankheit und Gesellschaft, a.a.O. 410
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bunden ist oder war, und mit sich selbst, mit dem Sektor seines Bewußtseins, durch den er sich selbst kontrolliert, in Widerspruch gerät; der Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an. Er fürchtet den Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen, an deren Liebe und Achtung ihm liegt oder gelegen war.“413 Aus dieser Beschreibung ergibt sich auch, dass die von uns in den Blick gefasste Form des „sozialen Sterbens“ in dieser Hinsicht gerade unabhängig ist vom tatsächlichen Verhalten der Angehörigen oder Hospizkräfte oder allgemein von der Umwelt. Dass das Miterleben von Sterbeprozessen bei Anderen, das Ertragen von Gestank und optischer Entstellung für den derart psychisch modellierten Menschen selbst auch ein Problem ist, liegt auf der Hand. Diese Empfindungen benennt Elias dann allerdings nicht als Scham, sondern als „Peinlichkeitsgefühle“: „Sie bilden ein unabtrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen. Wie diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst – nach Art eines „bedingten Reflexes“ – bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.“414
Wenn von Abschiebung der Sterbenden in Institutionen im Zusammenhang mit sozialem Sterben gesprochen wird, dann ist es diese Kategorie an Empfindungen, die man zivilisationstheoretisch dafür verantwortlich machen muss. Es ist die gleiche Kategorie, die bei Ariès im Kapitel über den „schmutzigen Tod“ entscheidend ist: „Der Tod flößt nicht mehr nur wegen seiner absoluten Negativität Angst ein, sondern verursacht auch geradezu Übelkeit, genau wie irgendein ekelerregendes Schauspiel. Er wird unschicklich, wie die biologischen Vorgänge im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es ist unanständig, ihn vor der Öffentlichkeit aus-
413 414
Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, a.a.O., Bd.2, S.408f. Ebd., S.415.
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Die Welt der Individuen zubreiten. Man erträgt es nicht mehr, daß jeder beliebige in ein Zimmer eintreten kann, das nach Urin, Schweiß, Wundbrand oder schmutzigen Bettlaken riecht.“415
8.6 Elias: „Einsamkeit der Sterbenden“ Es ist nun höchst erstaunlich, dass Norbert Elias angesichts seiner eigenen Zivilisationstheorie mit der gerade referierten feinen Unterscheidung von Scham und Peinlichkeit in seinem Buch über das Sterben fast ausschließlich die Seite der Peinlichkeitsgefühle in den Blick nimmt.416 Der Titel seines Buches lässt aber schon darauf schließen, dass es ihm um die Ausgliederung, die Abschiebung der Sterbenden geht: „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“.417 Elias gibt sich hier als Anhänger der Verdrängungstheorie des Todes zu erkennen. Allerdings weist er darauf hin, dass man den Begriff der Verdrängung des Todes im Allgemeinen in einem doppelten Sinne verwendet, man habe nämlich „eine Verdrängung auf der individuellen und auf der sozialen Ebene im Auge (...). Im ersten Falle gebraucht man den Begriff mehr oder weniger im Sinne Sigmund Freuds.“418 Diesen Begriff haben wir oben bereits ausführlich diskutiert und für unseren Zusammenhang als inadäquat verworfen. Wir haben bereits in der Bemerkung Feldmanns gesehen, dass der „klassische Begriff“ der Einsamkeit in der Verwendung von Elias eine „soziale Sterbeerfahrung“ meint. Neben der klassischen Verdrängungstheorie arbeitet Elias also hier auf einer zweiten Ebene einen Begriff des „sozialen Sterbens“ heraus: „Aber Hand in Hand mit solchen individuellen Problemen der Verdrängung des Gedankens an den Tod gehen spezifische soziale Probleme. Der Begriff der Verdrängung hat auf dieser Ebene eine andere Bedeutung.“419
Er verweist auch ausdrücklich darauf, dass man die Eigentümlichkeiten des gegenwärtigen Umgangs mit dem Tod (schon hier deutet sich die Perspektive der Anderen auf den Sterbenden an) nur im Verhältnis zu früheren Zeiten wahrnehmen könne. Erst wenn man diese „Verhaltenswandlungen“ in einen umfassende415
Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S.783. (Hervorhebungen im Original, MH) Es ist darüber hinaus bemerkenswert, dass selbst Autoren, die sein Buch über die Sterbenden explizit mit seiner Zivilisationstheorie in Verbindung bringen, diese fehlende systematische Verknüpfung nicht kritisieren. Vgl. etwa Weber: Der soziale Tod, a.a.O., S.15: „Schließlich möchte ich noch auf das Buch Die Einsamkeit der Sterbenden von Elias hinweisen, der das Todesthema sehr eindrucksvoll in den Rahmen seiner Zivilisationstheorie stellt.“ (Hervorhebung im Original, MH) 417 Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, a.a.O. 418 Ebd., S.18. 419 Ebd., S.21. 416
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ren theoretischen Zusammenhang einbaue420, könne man sie einer Erklärung zugänglicher machen: „Der Wandel im gesellschaftlichen Verhalten der Menschen, auf den man hinweist, wenn man in diesem Sinne von der „Verdrängung“ des Todes spricht, ist ein Aspekt des umfassenderen Zivilisationsschubes, den ich ausführlich an anderer Stelle untersucht habe.421 In dessen Verlauf werden alle elementaren, animalischen Aspekte des menschlichen Lebens, die ja fast ausnahmslos für das Zusammenleben der Menschen wie für den Einzelnen selbst Gefahren mit sich bringen, umfassender, gleichmäßiger und differenzierter als zuvor von gesellschaftlichen Regeln und dann zugleich auch von Gewissensregeln eingehegt.“422
Und dann folgt eine bemerkenswerte Stelle, die nach dem, was wir gerade von Elias selbst zu den Begriffen „Scham“ und „Peinlichkeit“ gehört haben, beide Perspektiven ankündigt, dann aber ausschließlich diejenige der Peinlichkeit weiterverfolgt. Die vertane Gelegenheit, seine Darstellung des sozialen Sterbens mit seiner großen Zivilisationstheorie systematisch zu verknüpfen, wird hier sehr deutlich: „Sie (die elementaren, animalischen Aspekte, MH) werden je nach den Machtverhältnissen mit Scham (sic!)- und Peinlichkeitsempfindungen belegt und in bestimmten Fällen, besonders im Rahmen des großen europäischen Zivilisationsschubes, hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlagert oder jedenfalls aus dem öffentlichen Gesellschaftsleben ausgesondert. Der langfristige Wandel des Verhaltens der Menschen zu den Sterbenden geht in diese Richtung. Der Tod ist eine der großen bio-sozialen Gefahren des Menschenlebens. Gleich anderen animalischen Aspekten wird auch der Tod als Vorgang (das kann nur das „Sterben“ meinen, MH) und als Gedanke während dieses Zivilisationsschubes in höherem Maße hinter die Kulissen des Gesellschaftslebens verlegt. Für die Sterbenden (sic!) selbst bedeutet dies, daß auch sie in höherem Maße hinter die Kulissen verlagert, also isoliert werden.“423
Bei dieser Betrachtungsweise des Sterbens bleibt Elias in seiner Darstellung der Situation der heutigen „einsam“ Sterbenden. Sehr wohl sieht er den Aspekt der qualvollen langen Dauer424, und er kritisiert auch die Romantisierung des „fried-
420
Vgl. ebd., S.21. Elias setzt an dieser Stelle selbst eine Fußnote, in der er auf genau die Stellen in seinem „Prozeß der Zivilisation“ verweist, die wir oben dargestellt haben. 422 Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, a.a.O., S.22. 423 Ebd. 424 Vgl. ebd., S.24. 421
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lichen Todes“ früherer Zeiten bei Ariès425. Aber immer wieder endet die Beschreibung in der Perspektive auf die Sterbenden: „Das Sprechen von Tod, Grab und von all den Einzelheiten dessen, was im Grabe mit dem toten Menschen vor sich geht, unterlag noch nicht einer so strikten sozialen Zensur. (...) Heute verhält sich das anders. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden Sterbende so hygienisch aus der Sicht der Lebenden hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft (...)“426
Wenn die Sterbenden mit einem solchen Aufwand an Diskretion aus der öffentlichen Sicht herausgehalten werden, weil „man“ einen solchen Anblick nicht mehr erträgt, dann wird doch die Frage um so dringlicher, wie sich die Situation für denjenigen darstellt, der auf dem gleichen zivilisatorischen Stand wie die ihn umgebende Gesellschaft ist und für den der unerträgliche Anblick, er selbst nämlich, weiterhin bestehen bleibt. Besonderen Nachdruck legt Elias auf den verkümmerten Sprachschatz, welcher der Gesellschaft angesichts von Sterbenden heute (im Gegensatz zu früher, wie gerade gesehen) nur noch zur Verfügung steht. Er spricht von der „eigentümlichen Verlegenheit“ der Lebenden in der Gegenwart der Sterbenden: „Sie wissen oft nicht recht, was zu sagen. Der Sprachschatz für den Gebrauch in dieser Situation ist verhältnismäßig arm. Peinlichkeitsgefühle (sic!) halten die Worte zurück. Für die Sterbenden selbst kann das recht bitter sein. Noch lebend sind sie bereits ausgeschlossen.“427
Das klingt so, als bestünde die Gesprächshemmung nur auf der Seite der Angehörigen. Für die Sterbenden ist es bitter, dass mit ihnen niemand mehr spricht und sie deswegen ausgeschlossen sind. Wieso soll es aber nicht für die Sterbenden ebenso schmerzhaft und schwierig sein, über ihre Situation zu sprechen? Wieso erwähnt Elias nicht, dass „Schamgefühle“ die Worte hemmen. Da er ja selbst auf seine im „Prozeß der Zivilisation“ geleistete Definition der Begriffe Scham und Peinlichkeit verweist, kann dies hier nicht einfach mitgemeint sein. Peinlichkeitsgefühle treten auf, wie bereits dargestellt, „wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.“ Diese Konstellation ist hier unzweifelhaft gegeben. 425
Ebd. Ebd., S.38. An dieser Stelle findet sich auch eine Verbindung zur olfaktorischen Dimension der Zivilisation. Wenn Simmel schreibt, dass der moderne Mensch durch Gerüche in hohem Maße „chokiert“ sei, dann wundert es nicht, wenn Elias an angezeigter Stelle vermerkt, dass „niemals zuvor (...) menschliche Leichen so geruchlos (sic!) aus dem Sterbezimmer ins Grab expediert (wurden).“ 427 Ebd., S.39. 426
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Aber dass der sterbende moderne Mensch „mit sich selbst, mit dem Sektor seines Bewußtseins, durch den er sich selbst kontrolliert, in Widerspruch gerät“, dass also Scham-Angst sich entwickelt, stimmt für die dargestellte Situation genauso. Aber davon findet sich bei Elias kein Wort. Ein einziges Mal, am Schluss, klingt die Perspektive des Sterbenden implizit an: „Was Menschen tun können, um Menschen ein leichtes und friedliches Sterben zu ermöglichen, bleibt noch herauszufinden. Die Freundschaft der Überlebenden, das Gefühl der Sterbenden, daß sie ihnen nicht peinlich sind, gehört sicher dazu.“428
Wenn Elias im „Prozeß der Zivilisation“ schreibt, dass Scham- und Peinlichkeitsgefühle unabtrennbare Gegenstücke sind, was wir ja gerade für die Situation der Sterbenden in Anschlag bringen wollen, dann lässt sich aus dem gegebenen Zitat ableiten, dass sich im Gefühl der Sterbenden, den Überlebenden peinlich zu sein, Scham ausdrückt. Aber eine explizite Bezeichnung der Seite der Sterbenden in den gegebenen Situationen unterlässt Elias gänzlich. Der Nachdruck liegt auf der Klage über die Situation der auf viele Weisen sozial ausgegrenzten, als sozial tot betrachteten, in Elias’ Terminologie: einsam Sterbenden. 8.7 Schlingensief, Leinemann, Diez Nun soll nicht bestritten werden, dass viele Menschen, die in Institutionen sterben, einsam im Elias’schen Sinne sterben. Aber wenn man nur die Einsamkeit als das Hauptproblem des Sterbens annimmt und dies als das Hauptcharakteristikum des sozialen Sterbens ansetzt, hat man keine begrifflichen Möglichkeiten mehr, auch diejenigen als sozial sterbend zu beschreiben, die nicht einsam, sondern durchaus im Kreise von Familie und Freunden sind. Wenn wir nun zurückkommen auf die erwähnten Werke, die das eigene Sterben oder das eines engen Angehörigen zum Thema haben, so sieht man, dass „Einsamkeit“ dort nicht ein zentral verhandeltes Thema ist. Man mag einwenden, dass es sich bei den drei in Rede stehenden Personen (Christoph Schlingensief, Jürgen Leinemann und die Mutter von Georg Diez) um privilegierte Ausnahmen handelt. Das ist in vieler Hinsicht, allein schon in ökonomischer, sicher der Fall. Aber dies zeigt gerade, dass eben wie auch immer privilegierte Menschen ebenso vom sozialen Sterben in unserem Sinne bedroht sind. Die von uns vorgeschlagene Fassung dieses Begriffs als Konflikt des Individuums mit sich und der Umwelt angesichts der Zerstörung seines zivilisatorischen Niveaus ist gerade von ökonomischen und sozialstrukturellen Schranken unabhängig. Bei unserer Lektüre der Bücher von 428
Ebd., S.100. (Hervorhebung MH)
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Schlingensief, Leinemann und Diez sollten wir nun die Ausführungen zu „Scham und Peinlichkeit“ bei Elias, zur „Soziologie der Sinne“ bei Simmel und zu den „Territorien des Selbst“ bei Goffman immer vor Augen haben. Unser Begriff des sozialen Sterbens, den wir an den Beispielen der genannten Autoren illustrieren wollen, ergibt sich als Verknüpfung dieser drei theoretischen Modelle. Die genannten Bücher sind keine soziologischen Abhandlungen oder Beschreibungen und legen daher keinen Wert auf analytische Begriffstrennungen. Das aber macht sie für unsere soziologische Analyse so ergiebig: Gerade da, wo man davon ausgehen kann, dass Texte nicht auf die Etablierung eines Begriffsinstrumentariums hin geschrieben sind, sondern die Sterbeverläufe „einfach“ so beschrieben sind, wie sie sich dem Autor darbieten, kann man in der Melange der Aspekte und Begriffe, die wir oben voneinander geschieden und diskutiert haben, ersehen, welche „Gewichtung“ ihnen in den einzelnen Beschreibungen zukommt. Überdies bekräftigt die Lektüre dieser Texte auch unsere Überzeugung, dass unser Vorschlag, „soziales Sterben“ als Verlust des zivilisatorischen Niveaus zu sehen, nicht die älteren Begriffsfassungen ersetzen, sondern sie um diesen Aspekt erweitern soll. Bei Diez, Leinemann und Schlingensief finden sich Aspekte nahezu aller referierten Begriffsfassungen. So liest man zum Beispiel bei Diez eine interessante Variation der Sudnow’schen Fassung des „sozialen Todes“. Seine Mutter empört sich über eine Äußerung, die sie den Eindruck bekommen lässt, bereits als tot angesehen zu werden: „Es konnte ein Satz sein, einfach so dahingesprochen, und schon war eine Freundschaft, die gut und kräftig schien, dahin. „Das lohnt sich doch nicht mehr“, das war so ein Satz, eine Freundin hatte ihn gesagt (...), richtig verstanden habe ich (Diez, MH) das nie, als meine Mutter mir davon erzählte. Für sie klang dieser Satz jedenfalls wie „Du wirst eh bald sterben“, und jeder Mensch, der diesen Satz im Gesicht trug, wurde von meiner Mutter aussortiert.“429
Aus Sicht von Diez’ Mutter ist die Parallele zu Sudnow in dem beklagten Satz eindeutig. Aber ebenso ist es die Differenz zu ihm, denn einerseits war der Satz von der genannten Freundin nicht so intendiert und zweitens ist Diez’ Mutter noch bei klarem Bewusstsein und durchaus interaktionsfähig. Sie ist anschließend auch diejenige, die daraufhin die Freundschaft beendet. Systematisch betrachtet findet sich hier also die ältere Fassung des Begriffs vom sozialen Tod gemischt mit dem, was Feldmann „Quasi-Todes-Erfahrungen“ genannt hat. Ebenso finden sich bei Diez die durch Ariès zu trauriger Bekanntheit gelangten Bilder des mit „Schläuchen gespickten Sterbenden“ und des „Um-den-Tod429
Diez: Der Tod meiner Mutter, a.a.O. S.148.
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Betrogenen“. Bis in die Wortwahl gleicht seine Beschreibung der des Historikers: „Hier will ich sterben“, hatte sie immer wieder gesagt, „und nicht in einem Krankenhaus, mit Schläuchen im Arm und all dem anderen. Ich will daheim sterben, versprich mir, dass du dafür sorgst.“430
Vielleicht muss man dies als unbewusstes Echo eines überaus wirkmächtigen Werkes verstehen. Der Topos ist vielleicht in einem Maße geistiges Allgemeingut geworden, dass er sich als Formulierungen entsprechender Situationen geradezu selbst aufdrängt. Man mag einwenden, dass es nicht unbedingt der Ausweis eines Topos sein muss, wenn sich jemand davor fürchtet, im Krankenhaus einen oder mehrere „Schläuche“, also Infusionen, angelegt zu bekommen. Aber in dem Zusatz „und all dem anderen“ scheint doch etwas mitgemeint zu sein, das man vielleicht nicht genau benennen kann, von dem man aber dennoch eine Vorstellung hat, und zwar eine Vorstellung, die einen ängstigt. „Die Schläuche und all das andere“ sind das, was man mit der Sterbesituation in einem Krankenhaus verbindet: Ein bestimmter Topos. Dazu scheinen sich die beiden Bilder auch miteinander zu verbinden. Denn wiederum im Kontext körperlichen Elends, also im Kontext einer Situation, die Infusionen unabdingbar werden lässt, wird das „Um-den-Tod-Betrogensein“ genannt: „Ja, ja“, hatte sie gesagt, als habe sie schon geahnt, dass sie am Ende doch noch verraten werden würde, um ihr Sterben betrogen. (...) „So soll ihre Mutter nicht sterben“, hatte Doktor Koschine gesagt, und er meinte damit das Röcheln und Schnaufen und die Atemnot und die Angst und das Wasser in der Lunge.“431
Bei anderen Bildern, die einer langen Tradition entstammen, erschrickt man wegen des neuen Charakters, den sie jetzt tragen, wegen der veränderten Bedeutung. Die Beschreibung des Sterbenden, der sich mit dem Gesicht zur Wand dreht, steht sowohl in den alten Sagen um den Rolandsmythos, die wiederum Ariès zitiert, als auch bei Tolstoi am Ende seines „Iwan Iljitsch“ für eine Versöhnung mit dem Tod. Bei Tolstoi lesen wir: „In der traditionellen Pose des mit seinem Tod Versöhnten hörte er auf zu weinen und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.“432 Bei Diez aber heißt es:
430
Ebd., S.11. Ebd., S.41. 432 Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, a.a.O., S.135. 431
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Die Welt der Individuen „Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, sie starrte an die weiße Wand oder auf das Bild, das schräg über ihr hing (...)“;„Sie lag im Bett und starrte an die Wand, den Kopf zur Seite gedreht, leer der Blick.“433
In beiden Situation geht es noch keineswegs um die Sterbestunde als solche, wie bei Tolstoi oder den Rolandssagen. Diez verwendet dieses Bild zur Beschreibung des Alltags seiner Mutter während der Krankheit. Sie ist durchaus bei klarem Bewusstsein, ist auf dieser Ebene eindeutig zu normaler Interaktion in der Lage. Diez erwähnt, dass sie vielleicht gerade vorher mit einer ihrer Freundinnen telefoniert hat. Vermutlich nimmt sie diese Haltung ein, weil sie sich abwenden will von der Welt und ihren Angehörigen und Freunden, die sie so sehen. Das Wissen um den eigenen Zustand, um die Krankheit, die äußeren Veränderungen und die Hilflosigkeit und das Wissen um das Wissen der Anderen lässt sie sich zurückziehen und lässt sie „verzweifeln“. Dieser selbstgewählte Rückzug durch das sich-zur-Wand –drehen liegt auf einer anderen Ebene als das praktische und konkrete Gezwungensein, sich nur noch in einem bestimmten Rahmen bewegen zu können oder an einen Platz – nahezu wörtlich- gefesselt zu sein. Goffman beschreibt in seinem Buch über Stigmata ein „Leben-an-der-Leine“. Die „Leine“ meinte dabei bildlich ein Angebundensein, ein Abhängigsein von Rückzugsmöglichkeiten, etwa um einen Urinbeutel entleeren zu können. Bei Leinemann ist diese Metapher auf andere Art real geworden: „Durch die massive Bestrahlung war der Tumorbereich im Hals so verätzt und vernarbt, dass ich zunächst einmal nicht schlucken konnte. So blieb ich auf künstliche Nahrung angewiesen. An einem Ständer neben meinem Schreibtisch hingen jeweils ein Beutel mit geschmackloser, gelblicher Astronautenpampe und ein Sack mit Wasser. Das (...) alles (...) kleckerte mir tropfenweise so langsam über ein Schlauchsystem in den Magen, dass ich täglich bis zu sechs Stunden an meinen Schreibtischstuhl gefesselt war.“434
Aus der zwar permanent vorliegenden, dennoch aber nur punktuell sich zeigenden Angewiesenheit auf Rückzugsmöglichkeiten ist hier das umgekehrte Verhältnis geworden: Leinemann muss täglich für Stunden dauerhaft an einem Platz verharren um dann ein paar Stunden sich mehr oder minder frei bewegen zu können. Denn zu der Notwendigkeit, über eine Infusion ernährt zu werden, ist seine Bewegungsfreiheit zusätzlich dadurch extrem eingeschränkt, dass die Luftwege durch Schleim verstopft werden könnten und daher immer ein Absauggerät in der Nähe sein muss: 433 434
Diez: Der Tod meiner Mutter, a.a.O., S.8 und S.30. Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall, a.a.O., S.30.
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„Auf meinem Schreibtisch stand jetzt ein Befeuchtungsapparat, der dreimal täglich bei Kanülenwechsel die Luftröhre am Einschnitt mit warmen Dämpfen versorgte, damit der Schleim sich nicht allzu sehr verfestigte. Im Bad wartete ein weiterer Apparat, mit dessen Hilfe bei Bedarf auch Schleim abgesaugt werden konnte.“435
Wo es noch nicht zur realen Komponente des Alltags geworden ist, lässt das Wissen um diese drohende Wirklichkeit die Betroffenen das „Leben-an-derLeine“ fürchten: „Ich würde gerne noch so viel machen. Die Frage ist nur, muss ich das dann mit einem Sauerstoffgerät machen, oder mit irgendwelchen Kanülen oder irgendwelchen Kacktaschen am Bauch oder so.“436
In beiden Fällen ist das Leben damit in einer Art und Weise beeinträchtigt, dass die eigene Identität Schaden leidet und sich zumindest Schlingensief die Frage vorlegt, ob er ein solches Leben noch leben will. Es ist die Konfrontation mit den permanenten Schmerzen auf der einen und dem zerstörten zivilisatorischen Niveau auf der anderen Seite, was ihn verzweifeln lässt: „Natürlich will ich betäubt werden, natürlich habe ich Angst vor den Schmerzen (...). Denn die Nummer hier durchzuziehen, mit einem Rohr im Arsch, einem Röhrchen im Kopf und noch irgendwelchen anderen Schläuchen, damit ich (...) den Leuten erzählen kann, ja, ja, das lohnt sich, das Leben – das ist ja grauenhaft. Das kann es doch nicht sein.“437
Neben der Angst vor den Schmerzen ist es auch hier die Furcht davor, zu einem Leben gezwungen zu sein, dass man eigentlich nicht leben will, weil man es im Vergleich zum früheren Leben fast nicht für lohnenswert halten kann. Einmal mehr ist es die Verbindung der beiden Ariès’schen Topoi, die ins Auge springt: Man ist lebend um das Leben betrogen durch die ganzen „Röhrchen und anderen Schläuche“. Dass man nicht mehr das Leben leben kann, das man gewohnt ist, das einen ausgezeichnet hat, dass eben auch Ausweis der eigenen Kultiviertheit war, ist ein Aspekt, der sich auch bei Leinemann und Diez findet. Führt man sich noch einmal die großartigen Passagen von Marx über die allseitige Entwicklung des allseitigen Menschen vor Augen und die Simmel’schen Überlegungen über die hoch ausdifferenzierten Sinne des modernen Menschen, dann wird nachvollziehbar, wie gravierend der Verlust dieser kulturellen Kompetenzen sein muss. Georg Diez schreibt über seine Mutter: 435
Ebd., S.202. Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, a.a.O., S.40. 437 Ebd., S.50. 436
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„Es waren die ganz normalen Dinge, die sich veränderten. Am deutlichsten wurde das beim Essen. (...) Sie war (...) immer gern in Restaurants gegangen, Essen war ein sozialer Gradmesser, ein Akt der Selbstverwirklichung (...). Sie hatte auch immer gern gekocht, aber schließlich konnte sie ein Gewürz nach dem anderen nicht mehr verwenden (...). Es war, als ob das Leben, das in mancher Hinsicht an Intensität zunahm mit der Krankheit, beim Essen immer fader wurde und langsam jede Konsistenz verlor.“438
Verblüffend ähnlich liest man bei Leinemann: „Zwar konnte ich inzwischen wieder riechen, aber Geschmacksempfindungen hatte ich nicht, Süßes und Fruchtiges brannte mir im Mund wie Feuerwasser. Die rigorose Bestrahlung hatte offenbar jeden kulinarischen Nerv in mir abgetötet.“439 Er hat die Fähigkeit verloren, Geschmack zu empfinden. Das ist der Verlust einer feinen, kulturell hervorgebrachten und dann tief internalisierten Kompetenz einer Empfindungsfähigkeit. Noch dramatischer wird die Situation, wenn zudem die motorische Fähigkeit verlorengeht, die Verrichtungen und Handlungen überhaupt auszuführen, die dazu nötig sind. Die Nahrungsaufnahme als solche wird bei Leinemann problematisch. Da er das Essen nicht mehr gut schlucken kann, wird er über eine Kanüle ernährt. Das Wassertrinken gelingt anfangs noch, aber auch das wird problematisch und führt dazu, dass er sich beschmutzt: „Die Nahrungsaufnahme lief ausschließlich über die Sonde. Beim Schlucken von Wasser verschluckte ich mich, nach dem Husten trat Flüssigkeit aus dem Tracheostoma. Dasselbe ereignete sich nach dem Schlucken breiiger Substanzen.“440
Neben der Tracheostoma, die stigmatisierend wirken muss, handelt es sich hier also um die Verschmutzung der „Territorien des Selbst“ im Goffman’schen Sinne. Hier ist es Wasser und das verabreichte Essen, mit dem Leinemann sich verschmutzt. Ungemein gravierender aber ist die Selbstverschmutzung mit Schleim. Bei Leinemann ist das geradezu ein an mehreren Stellen wiederkehrender Topos: „Schleim, Schleim, Schleim, ich hustete mir die Seele aus dem Leib.“441 An die gleiche systematische Stelle treten auch Eiter und Blut: „Am Mittwoch, dem 23. April, erwachte ich am Morgen mit blutdurchtränktem TShirt und Pyjama. Auch Hals und Gesicht waren – zum Entsetzen der diensthabenden Schwester – blutverschmiert und verkrustet. Da ich keine Schmerzen hatte und 438
Diez: Der Tod meiner Mutter, a.a.O., S.72. Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall, a.a.O., S.208. 440 Ebd., S.172f. 441 Ebd., S.33. 439
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keine äußere Verletzung, war mir das alles verborgen geblieben, und ich hatte Blut und Eiter auch ins Bett und an den Körper gewischt. Als ich mich im Spiegel sah, hätte ich fast vor Schreck aufgeschrien – ich sah aus wie ein irrer Lustmörder in einem Fernsehkrimi.“442
Neben der „Körperhülle“ im Sinne Goffmans, also der Haut und der Kleidung, wird auch das umgebende Terrain verschmutzt. Hinzu kommt, dass dies eben im Beisein von anderen passiert, sodass zum Aspekt des Ekels auch der Aspekt der Scham in der sozialen Interaktion tritt. Im Sinne von Elias findet sich Leinemann in einem Zustand wieder, der ihm über die Maßen unangenehm ist, den er gleichwohl nicht unterbinden kann: „In dem schlicht ausgestatteten Wagen kam ich mir vor, als wäre ich ein beschädigtes Warenpaket im Versandhandel. In jeder Kurve suppte aufs Neue Blut und Eiter aus dem Tracheostoma, Susanne fing den Sud mit vorsorglich mitgenommenen Papiertüchern auf.“ (...) Die Ärzte diagnostizierten eine eitrige Bronchitis und den Beginn einer Lungenentzündung. (...) Bräunliche eitrige Sekrete sonderte ich in der Folgezeit weiter ab (...).“443
Seine Tochter hilft ihm, sich zu säubern, das Blut und den Eiter aufzuwischen, aber ganz im Elias’schen Sinne ist es für ihn beschämend wegen der Anwesenheit der Tochter; trotz der Fürsorge. Fürsorge kann auch als Hilflosigkeit wahrgenommen werden. Und Hilflosigkeit bedeutet, dass man nicht in der Lage ist, die Unversehrtheit der eigenen Territorien des Selbst zu gewährleisten. Die eigene Hilflosigkeit führt zu einer Verletzung dieser Territorien und es macht dabei nur einen graduellen Unterschied, von wem die Territoriumsgrenzen in guter Absicht überschritten werden. Ein unabwendbares Eindringen in ehemals geschützte Intimbereiche muss als überaus beschämend empfunden werden: „Vielleicht war sie auch auf der Toilette, als ich kam, und durch die Tür waren nur die wütenden Worte zu hören, mit denen sie sich gegen das wehrte, was sie so verzweifeln ließ, die Abhängigkeit, die körperliche Abhängigkeit, die Unfreiheit, die mit der Krankheit kam.“444
Es ist der Verlust der Autonomie und die damit einhergehende Erkenntnis, das eigene zivilisatorische Niveau verlassen zu müssen, was so schwer zu ertragen ist. Zumal in solchen Situationen, in denen der Verlust der eigenen Handlungsfä442
Ebd., S.175. Ebd., S.176ff. 444 Diez: Der Tod meiner Mutter, a.a.O., S.8. 443
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higkeit dazu führt, intime Handlungen von andern ausführen lassen zu müssen und in denen dennoch das wache Bewusstsein einen zwingt, dies wahrzunehmen: „meine Mutter, die mich bitten musste, sie auf die Toilette zu begleiten und vor der Tür zu warten, die stöhnte und jammerte, die sich zusammenriss und leise fragte: „Kannst du mir hochhelfen?““445 Will man also anhand der Texte dieser drei Autoren den Test auf unseren Begriffsvorschlag des „sozialen Sterbens“ machen, so dürfte mit diesen Zitate deutlich geworden sein, dass sich die theoretischen Überlegungen Simmels, Goffmans und Elias’ in den Darstellungen der Autoren eindeutig wiederfinden. Wie zu erwarten, finden sie sich nicht als reine Begriffe und auch nicht gesondert nach einem der drei Autoren. Gerade das aber ist unseres Erachtens der Nachweis für die Stimmigkeit und die Berechtigung dafür, die Modelle von Simmel, Elias und Goffman, die im engeren Sinne sämtlich nichts mit Tod und Sterben zu tun haben, zum Zwecke der Begriffsbildung des „sozialen Sterbens“ zusammenzubinden. Ebenso finden sich viele der Aspekte, die wir im Zusammenhang der Begriffsgeschichte des Terminus „sozialer Tod“ erörtert haben. Es scheint also angemessen, den Begriff des „sozialen Sterbens“ in unserem Sinne zu erweitern. Und zwar um die Dimension der Bedrohung oder gar Zerstörung des zivilisatorischen Niveaus, die man vor allem auch selbst wahrnimmt und von der man zudem aber noch weiß, dass sie auch von den Anderen wahrgenommen wird. Mitansehen zu müssen, wie die Anderen sehen, dass man sich nicht mehr als der betrachten kann, der man sein will und der man einmal war: das meint „soziales Sterben.“
445
Ebd., S.57.
9
Fazit
Wie bereits gesagt, sind unsere Ausführungen nun keineswegs so zu verstehen, als fände sich etwa die „Einsamkeit der Sterbenden“ nicht mehr in der Wirklichkeit. Wir haben ja ausführlich das Sterben in den Institutionen dargestellt. Auch die Fassung des Begriffs des „sozialen Todes“ bei Sudnow ist unseres Erachtens nicht obsolet geworden. Zwar geben unsere eigenen Daten keinen Hinweis auf solche von ihm beschriebenen Vorgänge, aber das ist schlicht deswegen so, weil wir danach nicht gefragt hatten. Unser Vorschlag zur Begriffsgeschichte des „sozialen Todes“ geht also dahin, die Erosion der zivilisatorisch-sozialen Identität, und zwar die von den Sterbenden selbst wahrgenommene Erosion dieser Identität, als wichtigen Aspekt des Sterbens begrifflich zu integrieren. Die Bedingung der Möglichkeit, den Begriff so zu verstehen, sind zum einen die langen Sterbeverläufe, die sich massiv in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts durch den medizinischen Fortschritt ergeben haben. Im Falle der Mutter von Georg Diez etwa liegen zwischen der Diagnose des Tumors und ihrem Tod zwölf Jahre. Zum anderen aber ist entscheidend, dass diese langen Sterbephasen typischerweise fast bis zum Schluss bei zumindest immer wieder klarem Bewusstsein durchlebt, eben er-lebt werden. Das ist der grundlegende Unterschied etwa zu Wachkomapatienten, und nur dadurch entsteht die Entfremdung von der eigenen Identität. Nur im bewussten Zustand und in der Interaktion, zumindest im wahrgenommenen Beisein von anderen, kann sich die Beschämung des Sterbenden ob seiner Beschmutzung des „Territoriums des Selbst“ einstellen. Diese Aspekte, die entlang der theoretischen Modelle von Georg Simmel, Norbert Elias und Erving Goffman herausgearbeitet werden sollten, um sie dann bei der soziologischen Analyse der Krankheitsdarstellungen von Georg Diez, Jürgen Leinemann und Christoph Schlingensief erkennen zu können, gehören unseres Erachtens zu einem Begriff des „sozialen Sterbens“, welcher der gegenwärtigen Situation angemessen ist. Die anderen Formen des Begriffs sind dabei keineswegs hinfällig geworden. Insofern schlägt diese Arbeit eine Erweiterung des Begriffs des „sozialen Sterbens“ vor und nicht dessen grundsätzliche Revision.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
10 Epilog
Während der Arbeit an der Druckfassung des Manuskripts haben sich ein paar Dinge ereignet, die das Buch in der einen oder anderen Weise betreffen. Zum einen, für die verhandelte Thematik vollständig irrelevant, höchstens interessant wegen des sich darin niederschlagenden Zeit-Colorits, ist das die Tatsache, dass der im Kapitel über den Boulevard erwähnte Ministerpräsident von Niedersachen mittlerweile Bundespräsident ist. Zum anderen, nun thematisch interessant, ist es ein ebenfalls in diesem Jahr erschienenes Buch, dessen Einarbeitung nicht mehr möglich war, auf das daher aber zumindest summarisch hingewiesen werden soll: „Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin“ des Internisten und Notfallmediziners Michael de Ridder stellt viele der hier verhandelten Themen und Zusammenhänge sehr plastisch und anschaulich, nun aus medizinischer Sicht, dar. Unabhängig von der Frage, ob man sich seinem Plädoyer anschließen will oder nicht, lohnt die Lektüre allein schon wegen des lebendigen Eindrucks von den medizinischen Abläufen in Bezug auf Tod und Sterben, der sonst vielleicht nur über aufwendige Hospitationen zu gewinnen wäre. Auf ganz andere, traurige Art und Weise ist noch eine weitere Anmerkung zu einem Kapitel des vorliegenden Buches zu machen. Am 21. August starb Christoph Schlingensief. Aus den Nachrufen auf seinen Tod ließ sich noch einmal herauslesen, auf welch besondere, schmerzliche und auch demütigende Weise dem heutigen Menschen die langen Phasen des Sterbens zu schaffen machen. Dem Andenken Schlingensiefs soll das Kapitel gewidmet sein.
M. Hoffmann, „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet“, DOI 10.1007/978-3-531-92662-9_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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