R.A. Mac Avoy Stelldichein beim schwarzen Drachen Scan: dago33 Korrektur: dago33 Version 1.0, Dezember 2003
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R.A. Mac Avoy Stelldichein beim schwarzen Drachen Scan: dago33 Korrektur: dago33 Version 1.0, Dezember 2003
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Martha Macnamara wollte ihrer Tochter nur einen Besuch abstatten. Doch als sie nach San Francisco kam, war Liz auf mysteriöse Weise verschwunden. Stattdesssen traf Martha auf jemanden, der ihr Leben verändern sollte: einen schwarzen Drachen in Gestalt eines chinesischen Gentlements namens Mayland Long. Dann fand Martha heraus, daß ihre Tochter in der Gewalt von Verbrechern war. Und von dem Augenblick an wußte sie, daß Mayland der einzige war, der ihr wirklich helfen konnte...
Buch »Die bizarre Mischung einer mittelalten exzentrischen Heldin, Martha Macnamara, eines chinesischen Drachen in höchst ungewöhnlicher Gestalt und eines Computerskandals in Silicon Valley verleihen diesem Buch ein einzigartiges neues Flair.« LOCUS
»Ein Juwel der gegenwärtigen Fantasy.« CHICAGO SUN TIMES
»Ein wunderbares Buch, mit schön gezeichneten Charakteren und einer erstaunlich vielschichtigen, verblüffenden Handlung. Ich wünschte, ich hätte es geschrieben.« ELIZABETH A. LYNN Autorin Rita A. MacAvoy veröffentlichte im Goldmann Verlag die vielbeachtete Trilogie »Die Parabel vom Lautenspieler«, mit den Bänden »Damiano« (23.866), »Saara« (23.867) und »Raphael« (23.868). Sie lebt mit ihrem Mann auf einer Farm in Kalifornien, wo sie Ponys züchtet und an einem neuen Buch arbeitet.
ROMAN Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übertragen von Mechtild Sandberg-Ciletti Titel der Originalausgabe: Tea with the Black Dragon Originalverlag: Bantam Books, New York
Made in Germany • 10/86 • 1. Auflage © der Originalausgabe 1983 by R. A. MacAvoy »Published by arrangement with Bantam Books, Inc. New York« © der deutschsprachigen Ausgabe 1986 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Boris Sokolow, Hamburg Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 8543 Lektorat: C. Göhler Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-08543-8
1 Martha Macnamara stand am Pazifischen Ozean und streckte die Zehen in den Schaum der Brandung. Mit dem Flugzeug hatte sie an einem Tag das ganze Land überquert und konnte kaum glauben, daß dies ein anderes Meer war. »Na los schon, gib es zu«, brummte sie, während sie den elfenbeinfarbenen Schaum von einem Fetzen Tang wischte, »ihr seid alle vom selben Wasser.« Vielleicht aber doch nicht. Sie blickte in die Ferne zu der Linie, wo das Eisenblau des Himmels mit dem zart getönten Wasser zusammenstieß. Ein derart wolkenloser Himmel leuchtete nicht über Coney Island. Kaum zehn Meter von Martha entfernt stieß eine Möwe herab, schien das Wasser zu küssen und drehte mit Schwung nach rechts ab, um davonzufliegen. Martha hob den Kopf und folgte ihrem Flug mit den Augen. Als ob sie den Flügelschlag des Vogels nachahmen wollte, winkelte sie die Arme ab, und einen Moment lang schien es tatsächlich, als wolle die kleine Gestalt im grauen Kostüm und mit dem ergrauenden Haar nach Westen davonsegeln – oder auch nach Norden, den Strand entlang zur Golden Gate Brücke. Doch das war nur ein flüchtiges Bild; dann berührten Marthas Hände die Zöpfe, die um ihren Kopf gewunden waren und ihr über die Ohren zu rutschen drohten. »Willst du den Weg wissen«, deklamierte sie für sich selbst, »so beachte die Feinheit des Was-
sers.« Martha dachte über diese Worte nach, während sie zusah, wie die Wogen sich tosend auf den Sand warfen. Was war fein an einer solchen Demonstration von Macht? Ruhig blickten die runden blauen Augen in dem kleinen rundlichen Gesicht, während Martha Macnamara das Meer betrachtete. Dann lächelte sie. Wo mochte Liz jetzt wohl sein – an ihrer Arbeitsstelle? Sollte sie noch einmal anzurufen versuchen oder abwarten, bis ihre Tochter sich meldete? Schließlich hatte ja Elizabeth die Reservierung vorgenommen. Martha Macnamara wäre es nie in den Sinn gekommen, in einem Hotel wie dem James Herald abzusteigen. Oh, es war zweifellos komfortabel, und der einzige Mensch, mit dem sie bisher im Hotel gesprochen hatte – ein Barkeeper –, hatte sich als überaus freundlich erwiesen. Sie hatte ihm, während sie umrahmt von dunkler Eichentäfelung und Messing auf einem roten Lederhocker saß, beim Mittagessen – das eigentlich ihr Abendessen war, wäre nicht die Zeitumstellung gewesen – vierzig Minuten lang etwas vorgeschwatzt, von Flugzeugen, die mit der Sonne um die Wette flogen, und von der Geschichte der Geige, die sich aus der Viola entwickelt hatte, als die Europäer sich Teppiche und Vorhänge leisten konnten… Aber mit dem Geld, das eine Übernachtung im James Herald kostete, hätte sie den Baßbogen kaufen können, den sie sich seit Juni wünschte. Martha sagte sich, statt Liz so viel Geld ausgeben zu lassen, hätte sie auch bei ihr auf der Couch schlafen können. Es war alles sehr sonder-
bar. Das Lächeln schwand von ihren Lippen, als sie sich klarmachte, wie sonderbar. Sie wandte sich vom Wasser ab und stieg den sandigen Hang hinauf. »Geheimnisvolle Zusammenkünfte an kostspieligen Orten«, murmelte sie, während sie landeinwärts kletterte, und ihre Schuhe, die vorn offen waren, sich mit Sand füllten, »Spannung und Intrigen… Schalten Sie sich heute abend ein, und Sie werden Atemberaubendes erleben!« Die Sohlen ihrer Schuhe knirschten auf Beton. Sie blieb auf der betonierten Straße oberhalb des Strandes stehen und leerte den Sand aus ihren Schuhen. Abgesehen von ihrer grauen Gestalt, so unauffällig wie ein Fels, war der Strand an diesem Nachmittag mitten in der Woche menschenleer. Leer und kalt. Martha fröstelte leicht in dem Wollkostüm, das sie seit Mai nicht mehr hatte tragen können. Der Highway trennte Strand und Ozean so scharf wie der Schnitt eines Rasiermessers. Ein Junge, der ganz in Weiß gekleidet war, rannte den Bürgersteig entlang, und seine Füße machten ein Geräusch wie Taubenflügel. Bei dem Gedanken an Taubenflügel hob sich Marthas Stimmung wieder. Optimismus lag in Marthas Natur. Sie lief über die Fahrbahn, daß ihr Faltenrock flatterte, und nahm das Hupen der Autofahrer mit freundlicher Gelassenheit hin. Auf der anderen Seite – der Stadtseite – stand ein Bretzelverkäufer. Seine weißen Zähne blitzten in dem kräftigen, südländischen Gesicht, als er sie anlächelte. Sie kaufte eine Bretzel, gab Senf darauf
und aß sie an Ort und Stelle. Drei Männer kamen Arm in Arm vorüber, dann eine junge Frau mit brandrotem Haar. Ein kleiner Junge mit nacktem Oberkörper führte auf der Straße Kunststücke mit seinem BMX-Rad vor. Wieder wildes Hupen. Martha war begeistert. San Francisco versprach so verrückt zu sein wie New York. Und das hier war eine gute Ecke, an Wochenenden wahrscheinlich brechend voll. Nahe der Stadt und doch mit Sicht auf das Wasser. Sie wünschte, sie hätte ihre Geige mitgenommen. Wie anregend, sich neben dem Bretzelverkäufer niederzusetzen und eine Bach Passacaglia oder vielleicht eine Gigue zu spielen. Neben sich den Hut. Liz würde das grauenvoll finden. Liz benahm sich so, wie es sich gehörte. Martha Macnamara lächelte wieder. Sie leckte sich den Senf von den Fingern und machte sich auf den Weg zum Hotel. Sie nahm die langgliedrige Hand des Fremden in die ihre und schüttelte sie. »Wie prachtvoll! Ihre Spannweite reicht weit über zwei Oktaven.« Die Hand wurde zurückgezogen, sobald die gute Sitte es erlaubte. Der Mann, dem sie gehörte, blieb stehen, eine dunkle Gestalt im Schatten einer holzgetäfelten Wand. Er verneigte sich leicht vor Martha. »Mayland Long – Martha Macnamara…« stellte der junge Barkeeper vor. »Ich fand, Sie beide müßten sich kennenlernen.«
Beide sahen sie ihn überrascht an. »Wegen der Geige«, erklärte er. »Aber Sie spielen doch gewiß ein Tasteninstrument«, meinte Martha. »Bei dieser Spannweite…« Mayland Long wies mit einer einladenden Geste zum Tisch und setzte sich erst wieder, nachdem Martha auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen hatte. »Entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich habe spät gegessen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, während leere Teller und silbernes Besteck vor ihm abgeräumt wurden. »Bitte trinken Sie eine Tasse Tee mit mir.« Himmel, dachte Martha. Diese Stimme! So schönes Englisch. Wunderbar. »Ich mache selbst keine Musik«, bemerkte Mayland Long. »Ich höre sie mir nur gern an.« Er saß im Schatten an seinem Ecktisch und betrachtete sie im Schein des Lichtstrahls, der auf sie fiel. Er sah eine schlanke Frau von etwas mehr als fünfzig Jahren vor sich. Ihre Gesichtszüge waren zierlich und regelmäßig. Das graumelierte Haar war in Zöpfen um den Kopf geschlungen. Das Haar und das graue Wollkostüm wurden von hinten beleuchtet, so daß es aussah, als wäre Martha Macnamara von einem Strahlenkranz umflossen. Sie sah einen hageren Mann vor sich, der dunkel gekleidet im Dunkel verborgen war. Die Hände hoben sich vom weißen Leinen ab. Auch sie waren sehr dunkel, ungewöhnlich dunkel, wenn dieser Mann in der Tat Engländer sein sollte. Die schönen Stimmen der Westindischen Inseln fielen ihr
ein. Schön ja, aber in der Aussprache nicht korrekt. Mayland Longs Aussprache jedoch war makellos. »Sie hingegen, Madam«, sagte er gerade, »sind eine schöpferische Person. Ich kenne Sie«. »Das bezweifle ich.« »Ich habe oben bei mir eine Schallplatte. Eine Achtundsiebziger. Auf der Hülle steht, glaube ich, Seraphim. Da spielen Sie neben anderen Stücken die Chaconne aus der Partita für Solovioline in dMoll von Bach. Ich habe das Stück nie besser gehört.« Er hatte sich beim Sprechen vorgebeugt, und Martha sah sein Gesicht. Die Vorstellungen, die sie sich gerade erst von ihm gemacht hatte, verflogen, als sie Mayland Long ansah. Der Mann war Orientale. Zumindest nach den Augen zu schließen. Alles übrige allerdings –. Eine zu lange Nase. Zu ausgeprägte Wangenknochen. Sie versuchte gar nicht mehr, herauszubekommen, woher es stammen mochte. »Sie müssen Historiker sein«, sagte sie lachend. »Wie lange ist es her, daß man achtundsiebziger Platten preßte?« Er lächelte, antwortete aber nicht. Der Tee wurde serviert. Mayland Long schenkte erst ihr ein, dann sich selbst. Statt die weiße Porzellantasse beim Henkel zu fassen, nahm er sie in die gerundete Hand. Der Daumen reichte über die anderen Finger hinaus. Martha wollte es ihm nachmachen, um zu sehen, wie weit um die Tasse ihre Finger reichten. »Au! Ist das heiß!«
»Verbrennen Sie sich nicht, Mrs. Macnamara«, sagte Mayland Long, und sein Lächeln gab makellose Zähne frei. »Ich bin kein Historiker – jedenfalls nicht im wissenschaftlichen Sinne. Wenn Sie mir sagen, wo ich Ihre neueste Langspielplatte in Stereo oder Dolby bekommen kann, bringe ich meine mittelalterliche Sammlung auf den aktuellen Stand.« Jetzt lächelte Martha – nicht, um sich für die Schmeichelei zu revanchieren, sondern wie ein Kind, das sich anschickt, ein ungehöriges Geheimnis preiszugeben. Es war ein Lächeln, das ihr rundes Gesicht noch runder machte. »Suchen Sie unter dem Etikett Ceirnini Claddagh. Ich geige bei einem irisch-amerikanischen Cei li Orchester.« Nachdem sie das preisgegeben hatte, lehnte sie sich zurück und überlegte, ob sie durch ihr Musikerleben, das sich zum großen Teil in der Öffentlichkeit abspielte, mittlerweile schon so abgebrüht war, daß es ihr gar nichts mehr ausmachte, allein an fremden Orten mit fremden Männern zu sprechen. Und wenn sie abgebrüht war, wieso waren ihr dann Mayland Longs Aufmerksamkeiten so angenehm? »Thar Ci’onn! Wie schön.« Er lachte. »Oh, Sie dürfen mir nicht auf den Zahn fühlen. Ich spreche sehr schlecht irisch, obwohl ich bei einem Mann, der aus Meath stammt, Unterricht nehme. Er meint, mein Geist sei zwar willig, aber mein Akzent äußerst schlecht. Aber die Musik ist ja international, und mit der Geige unterm Kinn kann ich ohnehin nicht sprechen.«
Sie hörte das Echo ihrer Stimme im leeren Speisesaal. »Und das ist, fürchte ich, auch so ziemlich die einzige Zeit, wo ich nicht spreche. – Aber, Mr. Long, ich muß Sie einfach fragen: Woher kommen Sie?« Er sah in seine Teetasse, dann blickte er ihr in die blauen Augen. Er schien durch die direkte Frage nicht vor den Kopf gestoßen. »Ich bin in China geboren«, antwortete er. »Aber ich bin kein ganzer – Chinese.« Er faßte die Teekanne um ihre stattliche Mitte und schenkte sich nach. »Wie heißt Ihr Ensemble?» »Es heißt Linnet’ Wings nach einem Gedicht von Yeats.« Sie seufzte. »Dabei hat Yeats dieses Gedicht gehaßt –« »Ich kenne es«, sagte Mayland Long. »›There midnight’s all a glimmer, and noon a purple glow, and evening full of the linnet’s wings.‹ Zwanzig Jahre lang mußte er sich das von Schulkindern herunterleiern lassen, da ist sein Abscheu vielleicht verständlich.« »Ich war nie in Innisfree«, bemerkte Martha nachdenklich, während sie durch den Speisesaal zu der schummrigen Bar hinübersah. Sie unterdrückte ein Gähnen. »Ich weiß nicht einmal, ob es den Ort wirklich gibt.« Die Leuchter waren aus Kristall. Die kleinen Tropfen funkelten in ihrem eigenen Licht. Müdigkeit nach einem langen Tag ließ die Bilder vor ihren Augen verschwimmen, und das Spiel des Lichts erinnerte sie an Schnee, der in die hellen Lichtkreise von Straßenlampen hineinfiel.
Aber hier in San Francisco gab es keinen Schnee. Niemals. Nur Nebel und Meer. Wie seltsam. Unwirklich. Die Stimme rief sie zurück. »Es gibt ihn wirklich«, sagte Mayland Long. Sie kehrte zurück. Er meinte natürlich Innisfree. Nicht San Francisco. »Waren Sie schon einmal in Irland?« fragte sie. Doch sie erriet seine Antwort, ehe er etwas sagen konnte. »Was haben Sie dort getan?« Er zog die Augenbrauen hoch, und das schmale Gesicht wurde weich in den Erinnerungen. »Ich suchte etwas.« Es folgte eine Stille, die Martha nicht brechen wollte. Dann sprach er wieder – lebhaft. »Mrs. Macnamara – Mrs. Macnamara ist doch richtig, nicht wahr?« »Es war einmal richtig.« Er ließ sich nicht ablenken. »Mrs. Macnamara, kennen Sie die Geschichte von Thomas Reimer?« »Ich kenne die Ballade«, antwortete sie, »aber das ist keine irische.« »Die Ballade? Nein, die ist von Walter Scott. Aber die Legende selbst stammt aus Irland, glaube ich. Jedenfalls wurde sie mir von einem Iren erzählt. Also, hören Sie zu«, begann er, und während er sprach, rührte er mit einem Löffel in der Tasse, daß silberner Klang ertönte. Martha beobachtete es amüsiert. Sie war ganz sicher, daß Mayland Long keinen Zucker genommen hatte. »Sie haben davon gehört, wie Thomas Reimer von der Königin der Elfen auf ihrem Pferd mit den
neunundfünfzig Glöckchen entführt wurde. Wie sie den blutigen Fluß durchschwammen, und wie sie ihm die Straßen zum Himmel und zur Hölle zeigte, jedoch beide mied und eine dritte einschlug. Wie er ihr sieben Jahre lang Minnedienst leistete und am Ende armselig belohnt wurde: mit der Unfähigkeit zu lügen nämlich. Soviel wußte auch Scott.« »Ist das denn nicht alles?« »Aber nein. Die Ballade schließt genau da, wo es interessant wird. Sie geht überhaupt nicht auf das Dilemma eines Barden ein, dem man gewissermaßen sein Betriebskapital geraubt hat – die Schmeichelei. Und den Sohn des Reimers erwähnt sie mit keinem Wort.« Mayland Long setzte sich gerade auf und verschwand wieder im Schatten. Er legte die Hände zusammen und öffnete sie wieder, als setze er einen Vogel frei. »Thomas Reimer«, erklärte er, »hatte mit der Elfenkönigin einen Sohn. Der Knabe war fünf Jahre alt, als sein Vater fortgeschickt wurde, weil seine Zeit abgelaufen war.« Mayland Long machte eine Pause. Er holte tief Atem und starrte in die Luft. »Thomas ging fort. Aber er kehrte zurück. Er durchquerte den blutigen Fluß und erkämpfte sich einen Weg durch das grüne Dickicht, das die Straße dem Auge der Sterblichen verbarg. Es war keine vergnügliche Reise für einen Mann ganz allein, aber Thomas Reimer fand zurück zum Land der Nicht-Gesegneten und stahl seinen kleinen Sohn.«
»Nein, das habe ich nie gehört,« flüsterte Martha. »Haben Sie das Lied?« Er hielt inne. »Es gibt die Legende als Lied«, bestätigte er, »aber ich bin kein Sänger. Haben Sie Nachsicht mit mir.« Und dann fuhr er fort. »In die Welt der Menschen zurückgekehrt, nahm Thomas Reimer sein Handwerk auf, und sein Sohn begleitete ihn. Doch das Glück war ihm nicht mehr hold.« »Weil er nicht lügen konnte.« »Wahrscheinlich, Mrs. Macnamara. Und noch ehe das Jahr um war, begann der Reimer das Klagen der Sidhe in der Nacht zu hören und wußte, daß er ein Verfolgter war.« »Nein« rief Martha unwillkürlich, sehr bewegt, beinahe geängstigt. Es war diese Stimme… »Er versteckte den Knaben im Kloster in Lagan – es war zu der Zeit, als Cormac O’Dubh der Abt war – und ritt davon, um die Verfolger in die Irre zu führen. Crofters hörten am frühen Abend den lauten Hufschlag seines Pferdes, doch in der kältesten Stunde sahen sie eine Schar von Reitern vorbeigaloppieren, die lautlos durch die Nacht flogen, Reiter, deren Gesichter weiß wie Kreide waren, und Pferde, die leuchteten, obwohl kein Mond schien. An diesen Teil der Legende erinnert man sich im Lagan Tal noch heute. In der letzten Stunde vor der Morgendämmerung versammelte sich diese schreckliche Gesellschaft vor den Toren des Klosters, und ihre Anführerin schleuderte den Körper des Reimers ins Gras. Sie wußte, daß sie diese Festung des neuen
Glaubens nicht stürmen konnte, daher bot sie einen Tausch an: ihren Sohn für das kleine Flämmchen Leben, das im Vater noch brannte. Cormac selbst stand am Tor. Er war ein bulliger Mann. Er rief, er wolle für die Seelen beten, aber verkaufen könne er sie nicht. Aber da zwängte sich der Knabe selbst zum Tor hinaus und lief zu seinem Vater und kniete neben ihm nieder. Die Königin gab ihrem Pferd die Sporen und hob ihren Sohn zu sich in den Sattel. Im selben Moment stürzte Abt Cormac O’Dubh zum Klostertor hinaus und eilte zu Thomas Reimer. Er hob ihn auf und trug ihn hinter die sicheren Mauern. Aber auch das ist noch nicht das Ende der Legende. Denn die Königin der Elfen, kreideweiß auf ihrem falben Pferd, ließ einen Schrei des Zorns hören, und sie hielt den Knaben auf Armeslänge von sich ab und stieß ihn von ihrem Pferd. ›Er stinkt‹, rief sie. ›Er stinkt nach der Taube. Mein Sohn! Ma’cushla. Herz meines Herzens, man hat ihn in die verseuchte Schale getaucht.‹ Und die glänzenden Pferde bäumten sich auf und versanken in der Erde, und die Sidhe waren verschwunden. Der Abt nämlich hatte den Knaben auf alle Zeit dem Volk seiner Mutter entzogen. Er hatte ihn getauft.« »Natürlich!« Martha schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die naheliegende Lösung. Darauf bin ich gar nicht gekommen.« Sie sah Mayland Long an. »Aber was geschah mit Thomas Reimer? Blieb er danach am Leben?«
»Ja, er blieb am Leben. Er war in späteren Jahren ein sehr stiller Mann.« Mayland Long starrte in seine leere Tasse. »Ich glaube, Sie haben die Geschichte von Thomas Reimer selbst erfahren«, sagte Martha. »Sie erzählen Sie mit solcher – Autorität.« Sie seufzte, der Zeitumstellung wieder gewahr. Solange Mayland Long gesprochen hatte, hatte sie vergessen, daß sie müde war. »Vom Reimer selbst?« Er beugte sich vor und zog in gespieltem Erstaunen die Brauen hoch. »Wie könnte das sein? Er war bewußtlos, als die entscheidenden Ereignisse der Geschichte sich abspielten. Ich hörte die Geschichte natürlich von dem Knaben. Vom Sohn des Reimers. Ein schöner Junge«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Hatte Ähnlichkeit mit seiner Mutter.« Martha blinzelte verwirrt. Stunde und Augenblick überwältigten sie. Sie legte den Kopf auf die Arme und lachte, bis sie der Schluckauf überkam. »Verzeihen Sie – ich bin müde. Ich gehe jetzt besser zu Bett. Ich muß um fünf aufstehen.« Das letzte Wort ging in einem Gähnen unter. Mayland Long erhob sich mit ihr. »Aber Sie sind doch morgen noch hier?« Aus seiner Frage sprach eine gewisse Beunruhigung. »Ich habe Sie gar nicht von Ihrer Musik erzählen lassen. Ich würde gern mit Ihnen zu Abend essen.« Sie hob die Hand zum grauen Zopf über ihrem Ohr und strich sich nachdenklich darüber. »Morgen soll ich eigentlich meine Tochter treffen. Deshalb bin ich hierher gekommen. Aber sie
hat noch nicht angerufen, und ich kann sie nicht erreichen. Kann ich Sie gegen Mittag anrufen?« »Selbstverständlich. Ich habe keinen gedrängten Terminplan. Wenn ich nicht in meiner Suite sein sollte, können Sie am Empfang eine Nachricht hinterlassen.« Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als seine Stimme sie noch einmal aufhielt. »Mrs. Macnamara, warum so früh?« fragte er. »Warum fünf Uhr?« »Ich meditiere«, antwortete sie. »Zazen.« Mayland Long blieb allein zurück. »Zazen?« flüsterte er vor sich hin. Der Ausdruck seines dunklen Gesichts wurde von einer Belustigung erhellt, die wuchs und sich vertiefte. Der Barkeeper hielt sie auf der Treppe auf. »Hallo, Mr. Trough«, grüßte sie und ging weiter. »Jerry«, korrigierte er. »Haben Sie zwei Minuten Zeit?« »Mit Müh’ und Not«, sagte Martha lächelnd. Sie schob den Schlüssel ins Türschloß und bat den jungen Mann herein. Marthas Zimmer war nicht das größte und auch nicht das luxuriöseste im James Herald Hotel. Wäre es nach Martha gegangen, so hätte sie das billigste genommen. So aber hatte sie ein Zimmer mit drei Sesseln, die allesamt zu groß und zu weich waren, um bequem zu sein, und ein Himmelbett von so gewaltigen Ausmaßen, daß sie sich darin wie eine Zwergin vorkam. Jerry Trough hielt ein feuchtes Geschirrtuch in der Hand. Er suchte nach einem geeigneten Platz,
um es ablegen zu können. Der Walnußtisch, die Satinsteppdecke, die Brokatlehne eines der Sessel kamen nicht in Frage. Schließlich ließ er es einfach auf den Boden fallen, wo es neben einem geöffneten Koffer mit weißer Unterwäsche und vielen Taschenbüchern landete. Er räusperte sich. »Ich sah Sie aus dem Speisesaal kommen und wollte Sie noch sprechen, ehe Sie zu Bett gehen. Es handelt sich um den Herrn, mit dem ich Sie heute abend bekannt gemacht habe.« Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich um und lehnte sich mit der Hüfte an die imitierte Chippendalekommode. »Um Mr. Long? Ja, wir haben uns gut unterhalten. Was ist denn mit ihm?« »Wie fanden Sie ihn?« Sie lächelte über die Dreistigkeit der Frage. »Ich fand ihn kenntnisreich und unterhaltsam. Um nicht zu sagen exotisch. Vielleicht esse ich morgen mit ihm zu Abend.« »Seien Sie vorsichtig«, murmelte Jerry, der Barkeeper. »Ich weiß Bescheid. Er kann ein richtiger – Komödiant sein und so. Unheimlich lustig. In gewisser Hinsicht ist er auch mein Freund.« Trough trat von einem Fuß auf den anderen. »Nur in gewisser Hinsicht?« Sie zog fragend die Brauen hoch. Trough zuckte mit den Schultern. »Okay, er ist ein Freund von mir. Aber ich muß sie bitten, vorsichtig zu sein, Martha. Ich glaube, er ist nicht ganz – da.« »Mr. Long?« Aus ihrer Stimme klang die Verblüffung. »Ich habe selten jemanden kennengelernt,
der – der mehr da war. Ich meine, präsent.« Sie sah den Barkeeper mit zornigem Blick an. »Wenn der Mann schizophren ist oder so etwas, warum haben Sie mich dann mit ihm bekannt gemacht?« Als hätte ihm Marthas Entrüstung den ganzen Mut genommen, hockte sich Trough auf dem Bettrand nieder. Sein Blick huschte verlegen durchs Zimmer, und er verschränkte die Hände ineinander. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Wegen der Geige. Und weil Sie beide einander in anderer Hinsicht sehr ähnlich sind.« »Ach. Bin ich auch übergeschnappt?« Martha machte noch größere Augen und stemmte die Hände in die Hüften. Jerry Trough seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch das lockige schwarze Haar. »Nein, natürlich nicht. Sie mißverstehen mich. Ich meine, ich hab’ den Eindruck, daß Sie beide – das Gespräch lieben. Einen großen Wortschatz haben. Und Sie sind beide allein – Sie, weil Sie gerade erst angekommen sind, und er, weil – nun, er ist eben allein. Und wenn ich sehe, wie Sie sich für Kleinigkeiten begeistern können… Wie Sie mir beispielsweise erzählten, Sie wären im Flugzeug mit der Sonne um die Wette geflogen und hätten beinahe gewonnen, wenn Sie nicht an der Grenze des Landes hätten anhalten müssen. So ähnlich ist Mr. Long auch. Er hat so ein paar alte chinesische Gedichtbände, die völlig zerfleddert sind und, wie er sagt, noch nie übersetzt wurden. Die bringt er immer mit in die Bar und legt sie vor sich hin, und dann kritzelt er unaufhörlich in klei-
ne Hefte. Er ist mit großer Begeisterung bei der Arbeit, aber ich hab’ noch nie gehört, daß seine Übersetzungen irgendwo gedruckt worden sind. Also, ich weiß nicht… Ich dachte früher immer, er wäre richtig steif und zugeknöpft, bis mir auffiel, daß fast alles, was er sagt, ein Wortspiel oder ein Scherz ist. Sie dürften so ungefähr im gleichen Alter sein – glaube ich…« Hier verstummte Trough. Er wußte, daß er sich auf unsicherem Boden befand, wenn er vom Alter sprach. »Also, ich dachte einfach, er würde Sie interessieren – Sie würden sich ganz gern ein paar Minuten mit ihm unterhalten… Eines müssen Sie wissen«, fügte Trough hinzu, »wenn der alte Mr. Long betrunken ist, behauptet er, er sei früher mal ein Drache gewesen. Und er meint es gar nicht witzig.« Martha entfernte sich von der Kommode und blieb neben dem verlegenen jungen Mann stehen. Auf ihrem Gesicht breitete sich langsam ein triumphierendes Lächeln aus. Trough starrte auf seine Füße, als er weitersprach. »Er erzählte mir, er sei zehn Meter lang gewesen, kohlschwarz, mit einem Kopf wie der einer Chrysantheme. Keinesfalls wie der irgendeiner anderen Blume – nein, genau wie der einer Chrysantheme, darauf legte er großen Wert. Und er hielt es für wichtig, mich darauf hinzuweisen, daß er an jedem Fuß fünf Zehen hatte. Als Drache, meine ich.« Martha lächelte jetzt über das ganze Gesicht.
»Ach so«, meinte sie. »Ich verstehe. Tja, Jerry, mein Junge, mir hat er heute abend erzählt, er sei mit Thomas Reimer persönlich bekannt. Oder kenne zumindest seinen Sohn«, zwang ihre Aufrichtigkeit sie hinzuzufügen. Trough starrte sie verständnislos an. »Und das stimmt gar nicht?« »Wohl kaum. Aber ist Ihnen nicht klar, wo er mit seinen Gedanken ist, wenn er solche Dinge sagt?« »Nein. Wo denn?« Sie vollführte eine Geste in der Luft, als wolle sie alle Musen zu Hilfe rufen. »Er – nun, er läßt seine Gelehrtenphantasie spielen. Er zertrümmert die Welt, um sie nach seinen eigenen Vorstellungen neu zu erschaffen. Der Mann ist ein Künstler, und das Gespräch ist sein Medium. Wenn er ein wenig verrückt wirkt, so kommt das nur daher, daß er zuviel allein ist«, schloß sie. »Ich verstehe ihn. Zumindest glaube ich es. Besser kann ich es nicht erklären.« Sie starrte auf den Teppich, die Stapel von Büchern, das feuchte Geschirrtuch aus der Bar… Trough stand auf. »Trotzdem, seien Sie vorsichtig, Martha. Letztes Jahr hat man im Korridor vor seiner Zimmertür einen Toten gefunden.« Martha ließ sich aufs Bett fallen. »Was? Einen Toten? Wer war er?« »Wie ich hörte, soll es ein Junkie gewesen sein. Mit einer ellenlangen Vorstrafenliste. Sicher kein Verlust für San Francisco, aber die Art und Weise, wie er aufgefunden wurde, war wirklich bizarr. Keine Kampfspuren, kein Blut, nur ein gebroche-
nes Genick. Der Coroner kam zu dem Schluß, er müsse gestürzt sein. Aber was er überhaupt da im Korridor zu suchen hatte und wieso er so schwer stürzen konnte, daß er sich gleich das Genick brach…« Trough ließ seine Erzählung in ominösem Schweigen verklingen. »Sie halten den armen Mr. Long also für einen heimlichen Killer? Hm, in seinen Adern fließt chinesisches Blut – vielleicht kennt er eine geheime orientalische Methode, einen Menschen durch eine Holztür hindurch zu töten. Vielleicht ist er der Anführer eines Tong!« Mit blitzenden Augen sprang Martha auf. »Ich mag den alten Mr. Long«, erklärte sie. »Vielleicht wird er mir erzählen, daß er früher ein Drache war oder am kommenden Dienstag einer sein wird oder unter seinem Jackett und seiner weißen Hemdbrust in Wirklichkeit ein Drache ist. Ich werde mich bemühen, solches Vertrauen mit Vertrauen zu erwidern.« Sie hielt einen Augenblick inne, und ihre glühende Empörung verrauchte. Sie betrachtete Jerry Trough gelassener. »Und ich bezweifle sehr, daß Sie mich tot und ohne Zeichen von Gewaltanwendung vor seiner Zimmertür finden werden.« Trough quittierte ihre Worte mit einem scheuen Schulterzucken. »Klar. Sie haben wahrscheinlich nichts zu befürchten. Außerdem trinkt er zum Abendessen nie viel.« Marthas verärgertes Stirnrunzeln trieb Jerry Trough zur Tür hinaus.
Sie steckte ihr Gesicht zwischen die Schals des Vorhangs und drückte ihre Stirn an kühles Glas. Draußen dehnte sich die Stadt mit flimmernden Lichtern nach Norden und Westen zum Meer hin. Kein Schnee. Und auch kein Nebel. Dieses Gespräch hatte ihr beinahe die Stimmung verdorben. Sie beschloß, das einfach nicht zuzulassen. Schließlich war sie nicht zu Streit oder Vergnügen nach San Francisco gekommen, sondern um mit Liz zu sprechen, die offensichtlich Probleme hatte und ihren Rat einholen wollte. Martha hatte ihrer Tochter wenig genug geben können, als diese noch ein Kind gewesen war; da konnte sie ihr doch jetzt mindestens eine Woche ihrer Zeit und ein wenig mütterliche Fürsorge widmen. Ohne Rücksicht auf dummdreiste Barkeeper. Ohne Rücksicht auf faszinierende Männer. Wo hatte Liz gleich wieder ihre Wohnung? In San Mateo. Das war im Süden. Hinter dem Hotel. Sie konnte sich also nicht damit vergnügen, so zu tun, als mache sie das Zuhause ihrer Tochter unter all den Lichtern zu ihren Füßen ausfindig. Ob Liz jetzt wohl auch nervös war? Schlaflos? Ob sie Angst hatte vor dem Gespräch, zu dem sie die Mutter über den ganzen Kontinent hinweg gerufen hatte? Das sah Liz nicht ähnlich. Sie schlief wahrscheinlich tief und fest, in der Meinung, daß ihre Mutter mit einem Nachtflug ankommen würde. Oder sie war mit einem Freund aus, oder, was am wahrscheinlichsten war, sie saß mitten unter ratternden Computern an ihrem Arbeitstisch. Liz würde sich schon melden. Sie wandte sich vom Fenster ab und gähnte. Ih-
re Gedanken kehrten zu dem Mann zurück, den sie an diesem Abend kennengelernt hatte. Was für eine wundervolle Stimme! Unglaubliche Hände. Und dieses eigentümliche Halbblutgesicht im Spiel von Licht und Schatten. Es war leichter, an diese kurze Bekanntschaft zu denken als an ihre Tochter. Leichter und weit vergnüglicher. Flüchtig sah sie ihr Bild im Ankleidespiegel. Einer der Zöpfe hing ihr über das Ohr. Sie schüttelte mit zweifelnder Miene den Kopf, als sie sich sah. Als bemerkenswerte Schönheit konnte sie sich nicht betrachten. Dennoch mochte Mayland Long sie – das spürte sie. Er wußte, wer sie war. Er wollte mehr erfahren. Ihr Blick forschte im Spiegel. Na schön, er hat also eine alte Platte und ein gutes Gedächtnis, sagte das Spiegelbild zu ihr. Und er hört sich gern reden. Ihre Schultern wurden schlaff, als sie die Schuhe abstreifte. Doch innerhalb von Sekunden verflüchtigte sich diese depressive Stimmung, fortgespült von den Wellen ihres Frohsinns. Sie schlüpfte aus ihrem Kostüm und legte ihre Unterwäsche ab. Nackt rief sie die Zentrale an und bat, um fünf Uhr geweckt zu werden. Mayland Long lehnte in der Dunkelheit an einer Wand von rotem Brokat und wartete auf den Aufzug. Er lächelte, und seine Zähne blitzten im grünlichen Licht der Kontrollknöpfe. Zen… so weit war er gereist, bis in diese steinerne Stadt, wo das Meer auf der falschen Seite der Sonne lag, um zu warten und sich selbst,
fremd an Gestalt, an Sprache, an Gefühl, dabei zuzusehen, wie er mit grausamer Schnelligkeit alterte… Hier endlich hatte er auf seiner endlosen Suche, die nicht mehr war als ein Tappen im dunklen, wieder die Spur gefunden. Und in so unwahrscheinlicher Gestalt wie der von Martha Macnamara. Ch’an. Sie hatte diesen Duft an sich: nicht eigentlich eine Süße, sondern eine Ungezähmtheit, bei der einem der Wind in den Sinn kam, der kaltes Wasser und lebendiges Holz berührt hat. Die Luft, die Martha Macnamara umhüllte, war mit – Wirklichkeit geladen. Unaussprechliche Wirklichkeit: Long konnte ihre Wirklichkeit wie Sonnenlicht oder Regen auf seinem Gesicht spüren. Jede ihrer Gesten hatte mit Gewißheit zu ihm gesprochen, und doch hatte sie keine Meinung geäußert, sondern ihm solche Bekundungen überlassen. Martha hatte etwas an sich, das ihn zu ihr hinzog, so wie ein wildes Tier von der Neugier zu den Feuern der Menschen hingezogen wurde. Sie besaß, was ihm fehlte, in ihrem Lachen, ihrer Einfachheit, ihren schnell entflammten Leidenschaften, ihrer Gewißheit. Es war der Geschmack des Seins. Es war das Tao. Sein Atem entwich langsam seinem Mund. Er wollte sie wiedersehen und fürchtete, das Schicksal würde es nicht gestatten. Aus Gewohnheit dämpfte er dieses Verlangen, versuchte, es zu ersticken, ehe es ihm weh tun konnte. Er würde sie wiedersehen oder auch nicht; Schmerz war für
die Zukunft unerheblich. Der Aufzug kam und öffnete sich. Die Kabine war hell erleuchtet und leer. Er trat hinein und drückte auf den Knopf für den siebten Stock. Das Summen des Fahrstuhls begleitete die aufsteigenden Erinnerungen. Alte Hände. Der Geruch von Regen – der Geruch von Ch’an. Leise Worte in rauhem Kantonesisch. »Ich soll dein Meister nicht sein. Dein Meister muß stärker sein als du – muß dir sagen, daß du ein Narr bist und dich dazu bringen, daß du dir dessen bewußt wirst. Und muß dich dazu bringen, daß du es zufrieden bist, ein Narr zu sein. Wie könnte ich das für dich tun? Ich bin alt. Du bist zu stark für mich: du bist voller chi.« Danach hatte der Alte eine Pause gemacht und sich im Wind zusammengekauert, während über ihnen die Wolken sich dichter zusammengeballt hatten. »Dies will ich dir sagen, Long«, fuhr er dann fort. »Ehe du dich selber findest, wirst du dein chi verlieren. Auch wirst du allen körperlichen und geistigen Hochmut fahrenlassen. Du wirst ausgeschmolzen sein. Wie ich.« Der Alte schloß die Augen. Der Regen trommelte auf sein graues, kurz geschorenes Haar. Er zog seinen Mantel enger um sich. Plötzlich riß er die Augen auf und sah Long ins Gesicht. »Du mußt aus China fortgehen. Reise über das Meer. Dort wirst du deinen Meister finden.« Mit zittriger Hand stellte er seine Teetasse nieder. Seine Stimme schwoll an, wurde heftig. »Ich sage dir dies, hochgeehrter und beeindruckender Gast. Du bist ein Narr, ja, aber du wirst genau das finden, was du suchst. Du wirst die
Wahrheit finden.« Mayland Long trat aus dem Aufzug. Die Worte des Alten verklangen. Durch ständige Wiederholung in seinem Geist waren sie geschliffen worden, bis sie grau glänzten; Kettenglieder aus Eisen, Perlen an einer Schnur. Sie waren ein Perlenkranz, den Long sich täglich hersagte, während er wartete und studierte und nachdachte. Gähnend tastet er nach seinem Schlüssel. Er wollte nicht mehr nachdenken. Viel lieber wollte er Martha Geschichten erzählen. 2 Das James Herold Hotel stand an einem hohen Hang von Nob Hill. Der Meereswind brach sich an ihm, wie der Pazifik sich an den Küstenfelsen brach, die von den oberen Fenstern des Hotels aus zu sehen waren. Es war aus Backstein erbaut, doch das Erdgeschoß war mit Teakholz und Messing verkleidet. Seine zahllosen Fenster blitzten. Das James Herald war nicht das älteste der erstklassigen Hotels von San Francisco, und es war auch nicht das größte. Aber es war alt genug und groß genug. Und nach Martha Macnamaras Meinung war es weiß Gott auch teuer genug. Die Glastür zum Speisesaal stand offen. Spätsommerliches Abendlicht, das durch die hohen bleiverglasten Fenster auf der anderen Seite hereinfiel, floß bis in den Korridor, wo sie stand. Die Kanten im geschliffenen Glas der Tür brachen das Licht, und auch die Kristallüster funkelten an die-
sem Abend mit schmerzhafter Schärfe und Präzision. Kleine Gehänge versprühten ein Spektrum von Farben. Sie würden ihr an diesem Abend keine weichen Bilder von Schnee vorgaukeln. Sie sah sich suchend im Saal um. Ihr Blick glitt über die weißgedeckten runden Tische, während sie nach einem allein sitzenden Mann Ausschau hielt. Es waren nur wenige einzelne Männer da; der Kristallsaal war nicht der Ort, wo man allein zu speisen pflegte. Doch er tat es. Mayland Long wohnte im James Herald Hotel und nahm seine Mahlzeiten im Speisesaal ein. Beides war sonderbar. Martha fielen auf Anhieb Lokale ein, wo sie in San Francisco lieber gegessen hätte – das Herny Africa, wo auf dem Fenster in goldenen Lettern das Motto prangte: Vive la mort, vive la querre, vive la légion étrangère, und wo kühle, elegante junge Männer mißtrauisch um die Tür standen, oder der Schnellimbiß in Japantown, wo die Kekse in Form eines Fischs gebacken wurden. Und Martha war erst am Tag zuvor in San Francisco angekommen. Es sprach nicht unbedingt für Mayland Long, daß er jeden Abend in der eisigen Pracht des Kristallsaals speiste. Wo war er überhaupt? War sie das zweitemal an einem Tag versetzt worden? Als sie durch die offene Tür schritt, trat eine dunkle Gestalt aus den Schatten. »Ah!« begann sie, aber es war nicht Mayland Long, sondern der Oberkellner. »Ich suche nur jemanden«, erklärte sie, als der Mann sich mit steifem Rücken vor ihr verneigte wie ein langbeiniger Vogel. Sie mußte einen Impuls unterdrü-
cken, die Verbeugung zu erwidern. »Mrs. Macnamara?« fragte er. »Bitte folgen Sie mir.« Mit zusammengezogenen Brauen folgte sie ihm. Martha Macnamara hatte es nicht gern, wenn Leute sie kannten, die sie selbst nicht kannte. Sie fühlte sich dann auf unangenehme Weise wie ein Kind. Sie erwog, den Oberkellner nach seinem Namen zu fragen, doch sie war sicher, wenn sie das tat, würde er ihr nur seinen Vornamen nennen, und dann würde sie darauf bestehen müssen, daß er sie Martha nannte. Und eigentlich wollte sie von diesem Mann nicht mit dem Vornamen angeredet werden, wenn er alle anderen Gäste bei ihren Nachnamen nannte. Sie schwieg also. Mayland Long saß an einem Tisch unter einem Fenster, das den Blick auf den Himmel freigab. Es war ein »sehr guter« Tisch, und das zeigte Martha, daß Mayland Long ein wohlhabender Mann sein mußte. Er erhob sich, als er sie kommen sah, und auch er verbeugte sich vor ihr. Martha Macnamara gab alle Zurückhaltung auf. Sie legte ihre Hände aneinander und verbeugte sich ebenfalls. Der Oberkellner rückte ihr einen Stuhl zurecht. Sie begrüßte Mayland Long mit einem Lächeln. »Herrliches Wetter heute«, begann sie. »Klar und frisch.« Er nickte freundlich. »Natürlich. Die regnerische Jahreszeit hat noch nicht angefangen.« »Hab’ ich den armen Mann mit meiner Verneigung schockiert?« fragte sie, sobald sie allein wa-
ren. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, als habe sie ein tiefschürfendes Thema angeschnitten. »Schockiert? Wie kann man einen Oberkellner in einem großen Hotel schockieren? So ein Mann hat schon alles einmal gesehen. Und selbst wenn es gelänge, ihn zu schockieren, glaube ich nicht, daß sein Gesichtsausdruck etwas von seinen Gefühlen verraten würde. Hatten Sie denn die Absicht, Jean-Pierre zu schockieren?« Die Stimme war dieselbe. Ihre Erinnerung hatte nichts verklärt. »Nein. Aber wenn sich dauernd jemand vor mir verbeugt, muß ich mich einfach auch verbeugen. Heißt er wirklich Jean-Pierre?« Er überdachte die Frage. »Soviel ich weiß, ja. Jean-Pierre Burrell. Vater von fünf Kindern, kanadischer Herkunft. Ich glaube, er ist seit mehr als zehn Jahren Oberkellner im Kristallsaal.« Mayland Long lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete Martha Macnamara. Sonnenlicht fiel schräg über seine Gesichtszüge. Seine Augen, dachte sie. Am vergangenen Abend hatte sie den Eindruck gewonnen, sie seien von einem unergründlichen Schwarzbraun. Chinesische Augen. Jetzt waren sie nicht undurchlässig. Licht drang in die Iris ein und fing sich leuchtend in ihr. Beinahe bernsteinfarben, wie Sonnenlicht durch eine Bierflasche wahrgenommen. Und er zeigte sich ihr – die Hände, das Gesicht, alles. Er kokettierte nicht mit Geheimnistuerei. Darüber war Martha sehr froh; sie hatte für Geheimniskrämerei nicht viel übrig.
»Es tut mir sehr leid, daß Ihre Tochter sich nicht gemeldet hat«, bemerkte Long, während er seinerseits Martha ansah. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, und auch ihre Augen waren blau. Ob Sonnenschein oder Mondlicht, Marthas Augen waren immer blau. »Kann man so etwas bei ihr normalerweise erwarten?« Das runde, unschuldige Gesicht verzog sich nachdenklich. »Nein, keineswegs. Liz ist sehr – zuverlässig. Beinahe zu zuverlässig. Bei ihr soll immer alles ganz perfekt sein. Ihre Schuhe stecken alle in den Taschen eines großen Plastiksacks, der in ihrem Schrank hängt. Und sie ist für die Unabhängigkeit der Frau.« Sie starrte auf die Speisekarte, ohne etwas zu sehen. »Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb wir nicht miteinander auskommen.« Mayland Long lächelte still. »Sie sind mit den Ansichten Ihrer Tochter nicht einverstanden, Mrs. Macnamara? Ich hätte gedacht, eine Frau von so unabhängiger Wesensart –« Sie fegte seine Worte beiseite. »Nein, nein, ich bin völlig einverstanden mit Liz. Etwas anderes würde ich gar nicht wagen. Sie ist es, die mit mir nicht einverstanden ist.« Er zog die Brauen zusammen. »Das verstehe ich nicht. Bitte, erklären Sie es mir.« Sie atmete tief, während sie mit ihrem Wasserglas spielte. Es war selbstverständlich geschliffenes Kristall.
»Liz fand es nicht richtig, daß ich meine – meine Karriere als Musikerin aufgab, um ein Kind großzuziehen.« Erheiterung zeichnete sich auf Mayland Longs schmalem Gesicht ab. »Ein Kind? Meinen Sie Elizabeth selbst?« »Ganz recht. Sie sieht sich als eine Art unfreiwillige Komplizin bei meiner Unterdrückung. Und sie ist der Ansicht, ich hätte klein beigegeben, wo ich hätte kämpfen sollen.« »Wie hätten Sie denn kämpfen sollen?« Die gefalteten Hände auf dem Tisch, beugte er sich vor. Er kann nicht älter sein als sechzig, dachte Martha. Wahrscheinlich ist er jünger, obwohl das bei Eurasiern schwer abzuschätzen ist. Zu jung jedenfalls für den Ruhestand. Zu jung, um in einem Hotel zu wohnen und jeden Abend im Kristallsaal zu speisen. »Ich hätte meinen erlernten Beruf nicht aufgeben sollen. Ich hätte mich weiterhin in lange Abendkleider werfen und Bach und Berlioz spielen sollen. Ich hätte mir für sie ein Kindermädchen nehmen oder gleich abtreiben sollen, was damals allerdings sehr viel schwieriger war als heute. Auf jeden Fall sollte ich ihrer Meinung nach nicht meine Zeit damit verschwenden, in einem irischen Orchester zu fiedeln, dauernd umherzureisen und bei Freunden im Klappbett zu schlafen. Nicht in meinem Alter.« »Und was ist das für ein Alter?« erkundigte er sich freundlich. Eine Herausforderung lag in der Frage, und seine braunen Augen verbargen sich in ihren Fältchen.
Unbefangen antwortete sie: »Ich bin fünfzig. Wie alt sind Sie?« Mayland Long warf den Kopf zurück und lachte. Seine Zähne hoben sich sehr weiß von seiner dunklen Haut ab. »Älter als Sie, Mrs. Macnamara. Und eitler. Ich möchte diese Frage im Moment nicht beantworten.« Dann beugte er sich wieder vor. Seine langen Finger ruhten auf der Speisekarte, die er nicht aufgeschlagen hatte. Flüchtig berührte er ihre Hand. »Aber ich könnte es mir herrlich vorstellen, mit den Linnet’s Wings zu fiedeln und zu schlafen, wo sich gerade ein Plätzchen findet. In jedem Alter.« Ohne zu überlegen, erwiderte sie: »Warum tun Sie es dann nicht, Mr. Long? Ich weiß, Sie sind kein Musiker. Das meine ich auch nicht. Ich meine – warum wohnen Sie hier, in diesem prachtvollen, langweiligen Hotel? Und warum essen Sie – hier? Im Kristallsaal. Jeden Abend. Wo Sie doch –«, schloß sie leise, aber mit betontem Ausdruck, »– der sind, der Sie sind.« Er wich zurück, beide Hände flach auf der weißen Tischdecke. Ich habe ihn beleidigt, dachte Martha. Sie beobachtete ihn. »Und wer bin ich?« fragte er leise, ließ ihr jedoch keine Zeit für eine Antwort. »Alles zu seiner Zeit«, fuhr er im gleichen Ton fort; leise, sehr leise. »Auch für das James Herald gibt es in einem langen Leben eine Zeit. Manchmal muß man warten können.« Warten worauf? dachte sie, setzte jedoch ihre Attacke nicht fort.
»Verzeihen Sie, wenn ich zu weit gegangen bin. Ich habe einem Impuls gehorcht.« Draußen brach die Dämmerung herein. Die Lüster zauberten Lichtkringel an die Balkendecke. Mayland Long nickte. »Aus Impuls oder Instinkt. Ich bin nicht verstimmt, Mrs. Macnamara.« Sie verstand nicht ganz. Sie schlug ihre Speisekarte auf und studierte sie. »Formalitäten haben etwas Großartiges«, murmelte sie. »Begrüßungen. Verbeugungen. Und Nachnamen.« Sie gab ihre Suche zwischen Rind und Lamm auf und sah wieder ihn an. »Aber ich bin im Grund eine richtige Landpomeranze. Wenn ich länger als eine halbe Stunde Mrs. Macnamara genannt werde, wird mir schwummerig.« Sie sprach die Worte, die sie vorher dem Oberkellner gegenüber hinuntergeschluckt hatte. »Bitte, nennen Sie mich Martha.« Ihr sank der Mut, als er schwieg, und ihr wurde klar, daß sie diesen Mann unmöglich beim Vornamen nennen konnte. »Ich verlange nicht, daß Sie mir das gleiche Angebot machen«, schränkte sie ein. »Insbesondere, da Sie ja älter sind als ich.« Jetzt war er es, der mit dem Wasserglas spielte. Er hielt es ins letzte Tageslicht. »Warum nicht? Wirke ich denn so spießig, Martha?« »Nein. Nicht spießig.« Sie legte die Stirn in Falten, suchte nach dem richtigen Wort. »Ich finde Sie einschüchternd.« »Aber doch nicht so einschüchternd, daß Sie mir
nicht Ihr Mißfallen darüber bekunden, daß ich in einem komfortablen Hotel wohne. Daß ich Abend für Abend in demselben Lokal esse.« Er stellte das Glas wieder auf dem Tisch ab. Seine Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln. »Es gibt nur sehr wenige Menschen, die mich bei meinem Vornamen nennen. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so.« »Wollen Sie es denn nicht so?« Er schüttelte den Kopf. Das Lächeln wurde breiter. »Ich – habe in der Sache keine Meinung. Und Sie« – er nahm die ausdruckslose Miene eines Bühnenchinesen an – »müssen für mich entscheiden, wie ich von diesem Moment an heißen soll. Und wo ich –« Der Kellner kam dazwischen, und Martha errötete einigermaßen unbemerkt. Sie wählte Hummer. Wenn sie die Wahl hatte, entschied sie sich fast immer für Hummer. Mayland Long wollte Steinbutt. Steinbutt stand nicht auf der Karte, doch der Kellner nickte nur und fragte nach den Weinwünschen. Draußen war die Dunkelheit hereingebrochen. Das Fenster war glänzend schwarz, und wenn eine Verstimmung sich zwischen ihnen angebahnt hatte, so hatte sie sich wieder aufgelöst. Mayland Long sprach mit Eifer über den Buddhismus. Martha versuchte zuzuhören, aber ihre Gedanken schweiften ab zu Liz. Sie schwankte zwischen Verärgerung über dieses unbekümmerte Verhalten und Besorgnis um ihre Tochter. Die Verärgerung war weitaus das angenehmere Gefühl.
»Ich besaß früher eine ziemlich große Sammlung der Kommentare von Nagarjuna«, bemerkte er. »Interessieren Sie sich für die Inder?« Sie schüttelte den Kopf. »Für Philosophie reicht’s bei mir nicht. Das verwirrt mich nur.« Er legte ordentlich Messer und Gabel beiseite. Martha ließ ein paar Sekunden schweigender Musterung über sich ergehen. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Zen.« »Man kann es nennen, wie man will. Ich sitze still, oder ich versuch’s jedenfalls. Die Wahrheit ist das Wichtige, und lange Abhandlungen – schlagen mich nur in die Flucht. Ich finde, Bodhidharma hat die richtige Einstellung, wenn er neun Jahre lang vor einer Mauer saß. Die Wahrheit!« sagte sie seufzend mit einer Geste der Ratlosigkeit. Ihre Gabel fiel klirrend in ihre Salatschüssel. »Er fasziniert mich«, bekannte Mayland Long. Er starrte über seine Schulter hinweg in das schwarze Glas. »Ich pflegte ihn von einer Stelle aus zu beobachten, wo er mich nicht sehen konnte. Bildete ich mir jedenfalls ein.« »Was sagten Sie?« fragte Martha, deren Gedanken ständig abschweiften, während sie zuzuhören versuchte. »Bodhidharma. Wie er in Honan vor der Felswand einer Höhle hockte. Manchmal nahm er die Lotushaltung ein, aber häufiger schob er seinen rechten Fuß unter. Manchmal wickelte er sich in eine Decke, und der Schnee sammelte sich auf seinem Kopf. Aber er verbrannte. Der Schnee – oder auch der Regen, je nach Jahreszeit – schmolz und ver-
dampfte, und die Decke roch dann nach versengter Wolle. Dadurch fiel mir der Mann wahrscheinlich überhaupt erst auf. Wie er den Schnee ›verbrannte‹.« Mayland Long öffnete seine Augen weit, während sein Blick vom Fenster zu dem aufmerksamen Gesicht Marthas wanderte. »Ich war nicht immer – feinfühlig – wissen Sie. Das kommt mit dem Alter, wenn wir Glück haben. Aber zwei Dinge habe ich von jeher hoch geachtet – Wärme und die Fähigkeit, still zu sitzen.« Martha lauschte ihm. Sie hatte eine eigene Art zuzuhören, die auf keinen Fall mit einer Abneigung, selbst zu sprechen, zu verwechseln war. Ihr Zuhören war von einer Intensität, die in den Sprechenden hineinspürte und ihm die wahre Bedeutung seiner Worte entlockte. Sie hörte zu wie sie sich bewegte – mit Grazie. Und ihr fiel ganz nebenbei auf, daß Mayland Long seinen Wein kaum angerührt hatte. »Ich weiß nicht, wo die Geschichte ihren Ursprung hatte, daß der Mann namens Bodhidharma ein froschgesichtiges Monstrum sei. Er war ein kleiner Mensch – ein Inder natürlich. Aber er war durchaus höflich. Höflich zumindest zu mir«, fügte er hinzu. Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis wieder der sanfte Zug von Marthas Zuhören sich bemerkbar machte. »Ich wartete, daß er sprechen würde.« Er lachte leise und berührte die blitzende Klinge des Buttermessers. »Ich schnitt mir nicht den Arm ab, um ihn zu beeindrucken. Ich weiß nicht, wer das war, der das getan hat, wenn diese Geschichte
nicht überhaupt reine Erfindung ist. Ich wartete lediglich darauf, bemerkt zu werden. Den ganzen Winter und einen großen Teil des Frühlings. Ich wartete…« Mayland Long hob den Kopf und sah in die friedvollen blauen Augen seiner Zuhörerin, der nicht zu entrinnen war. »Ich habe so lange gewartet, Martha«, sagte er. Sie nickte nur. Wieder wurden sie durch das Erscheinen des Kellners, der das Hauptgericht brachte, gerettet – oder gestört. Mit dem Servieren der Speisen ging eine gewisse geräuschvolle Geschäftigkeit einher. Teller wurden hochgehoben und wieder niedergestellt. Silber blinkte im Licht, und die Messer klirrten leise und melodisch, wenn sie aneinanderstießen. Und Mayland Long, der ein Geständnis gemacht hatte und mitansehen mußte, wie dieses Geständnis von den Ereignissen gelöscht wurde, saß still und geduldig da. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das Gefühl des Verlusts wider. Auf der anderen Seite des Tisches saß Martha. Ihr Lächeln wurde heller, als der Kellner ging. Es war ein Lächeln, das Mayland Long zu nichts verpflichtete, zu allem einlud. Er blickte auf seinen Teller hinunter. Das Fischfilet steckte zusammengerollt an einem Spieß und war mit Paprika bestäubt. »Wann müssen Sie weg?« fragte er. Martha betrachtete ihren Hummer mit echtem Interesse. Er war riesengroß und rot. Sie erkannte, was für eine Dummheit sie da gemacht hatte, und wünschte, sie hätte ein Lätzchen. »Ich verschwinde hier, sobald ich sie gefunden
habe.« Sie sprach mit grimmiger Entschlossenheit, die teilweise in ihren Gefühlen für den toten Hummer begründet war, der vor ihr lag. »Dann werde ich sie vielleicht entführen lassen.« Mayland Long sprach leise, beinahe wie zu sich selbst. Martha, die sich über eine dicke, rote Schere hermachte, schien ihn nicht zu hören. »Wo wohnt sie?« »Puh! Das ist ja unmöglich«, brummte Martha, als das Steakmesser ihrer jetzt fettigen Hand entglitt. »So ein vornehmer Laden ist nichts für mich. Warum drücken die einem nicht gleich einen Nußknacker in die Hand?« »Erlauben Sie.« Er zog ihren Teller in die Tischmitte und mit den Fingerspitzen die Schale vom Fleisch, als wäre sie Papier. »Eine feine Art, Hummer zu essen, gibt es nicht. – Wo wohnt Ihre Tochter, Martha?« Martha stocherte lustlos in ihrem Essen herum und seufzte. »Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Sie hat mal bei FSS gearbeitet, in San Mateo. Jedenfalls erzählte sie mir das. Ich habe dort angerufen. Die Telefonzentrale gab mir die Auskunft, es gäbe in der Firma niemanden mit Namen Macnamara.« Mayland Long zog die Augenbrauen hoch, und in seinen Augen blitzte ein härteres Licht auf. »Ah«, meinte er. »Wir stehen also vor einem Rätsel. – Sagen Sie, Martha, was arbeitet Elizabeth?« Martha schluckte einen Bissen von dem Hummer hinunter. Es schmeckte sehr gut, aber es war ein Hummer aus Maine, nicht aus dieser Gegend. Er
war eingeflogen worden, genau wie Martha. Vielleicht mit derselben Maschine. Ein komischer Gedanke. »Sie ist Systemanalytikerin. FSS heißt Financial Systems Software. Sie hat an der Stanford Universität Mathematik studiert.« Mayland Longs Gesicht, eben noch so offen, wurde gänzlich unergründlich. Es erinnerte Martha daran, daß er Chinese war. Sie sah ihn an und wartete. »Systemanalytikerin? Hm. Systemanalytikerinnen rufen nur höchst selten wegen geheimnisvoller Probleme ihre Eltern von der anderen Seite des Landes zu sich. Noch seltener verschwinden sie. Die Mentalität des Technikers neigt nicht zu Rätselhaftigkeit. Was wollen Sie unternehmen, um sie aufzustöbern?« Marthas unauffälliges kleines Kinn versuchte, sich Geltung zu verschaffen. »Zunächst einmal werde ich mir ein Auto mieten und mir einen Plan von der Stadt und ihrer Umgebung besorgen. Dann fahre ich zu Financial Systems Software. Wenn man mir dort nicht helfen kann oder will, fahre ich zur Stanford Universität und versuche, alte Freunde aufzutreiben. Von ihr, nicht von mir. Wenn ich da ebenfalls keinen Erfolg habe, versuche ich mein Glück bei einer alten Adresse, die ich habe. Liz zog vor ungefähr sechs Monaten um und wohnte bei einer Freundin aus der Universitätszeit, während sie sich nach einer Eigentumswohnung umsah. Ich habe die Telefonnummer des Mädchens, aber da meldet sich nie jemand.«
Sie schüttelte voller Bewunderung den Kopf. »Man muß sich das einmal vorstellen! Sie ist noch keine fünfundzwanzig und kann sich schon eine Eigentumswohnung kaufen. Ohne Hilfe natürlich – ich besitze keinen Penny.« Martha schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort: »Wenn das alles nichts bringt und sie mich innerhalb der nächsten Tage nicht anruft, gehe ich zur Polizei.« »Ist es so ernst?« fragte er. »Sie sagte mir, sie stecke in Schwierigkeiten. Sie sagte, ich solle besser nicht wissen, wo sie wohnt, weil sie – nun, sie hatte Angst vor irgendwelchen Belästigungen. Was soll ich davon halten? Daß es sich um einen hartnäckigen Verehrer handelt? Oder unbezahlte Rechnungen? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, schloß sie. Mayland Long faltete die Hände. »Es hat keinen Sinn, bei einem solchen Mangel an Informationen irgendwelche Schlüsse zu ziehen.« Er blickte eindringlich ins Leere. »Martha, was wissen Sie über den Beruf Ihrer Tochter? Was wissen Sie über die Arbeit mit Computern?« »Ich? Gar nichts. Sie schicken einem Rechnungen. Sie schnappen meine Scheckkarte und geben mir dafür Geld – wenn sie funktionieren.« »Würden Sie mir dann gestatten, Ihnen zu helfen?« Sie hob überrascht den Kopf. »Bei der Suche nach Elizabeth? Das wäre wirklich zuviel…« Sie sah ihn staunend an. »Kennen Sie sich denn außer in Irland und China auch noch mit Computern aus?« Er zuckte mit den Schultern, die schmal unter
dem hervorragend sitzenden Jackett hervortraten. »Sprache ist Sprache.« Mayland Long betrat seine Suite und schloß die Tür hinter sich. Der Salon war ein sparsam eingerichteter Raum – beim Erkerfenster zwei Ohrensessel im Queen-Anne-Stil, ein Sofa gleichen Stils vor dem gesäuberten und offensichtlich benutzbaren offenen Kamin, ein schwarzer Lacktisch zwischen den beiden Sesseln. Auf diesem Lacktisch standen auf einer Unterlage aus Öltuch eine Heizplatte, ein roter Kessel und eine jadegrüne Teekanne. Das Auffallende in dem Raum waren die vielen Bücher. Es gab kaum ein Fleckchen freie Wand. Überall dort, wo Platz dafür war, standen hohe, schwere Bücherschränke, manche von ihnen mit Glastüren versehen. Ansonsten waren einzelne Borde in die Wand eingedübelt, und oben, auf den Schränken, türmten sich die Bücher flach aufeinandergestapelt fast bis zur Decke. Die Bücher in Mayland Longs Zimmer waren ein buntes Völkchen, manche alt, manche neu, manche abgegriffen und schmutzig, andere steif und sauber, Lederbände standen neben bunten Taschenbüchern. Noch ein bemerkenswerter Gegenstand fiel in diesem Raum persönlicher Eigenart auf: eine ein Meter hohe Bronzestatue, die in Augenhöhe auf einem Bord stand. Sie stellte einen chinesischen Drachen dar. Das Fabelwesen hockte in einer Manier, die an die Raupe in Alice im Wunderland erinnerte, auf seinen Hinterbeinen. In seiner linken Klaue hielt es eine erlesene kleine Teetasse, in der
rechten eine Untertasse. Sein Schwanz war nach vorn gerollt und hielt, wie eine dritte Klaue, ein aufgeschlagenes Buch. Die Figur war glänzend schwarz bis auf die Augen, die geschliffen und lackiert waren und wie Gold leuchteten. Mayland Long ging zu den niedrigen Regalen unter dem Fenster hinüber. Langsam sah er die Reihen von Büchern durch und nahm nacheinander mehrere Bände heraus. Zuerst entdeckte er die drei Bände von Knuths Die Kunst des Programmierens und das Konferenzprotokoll der dritten Computermesse in Kalifornien. Mit diesen Büchern auf dem Arm stand er auf und trat zu einem großen Zeitschriftenständer, wo er Dr. Dobb´s Journal of Computer Calisthenics and Orthodontia herausholte. Er legte diese Sammlung technischer Fachliteratur auf den Sitz eines der beiden Ohrensessel, hob den Sessel hoch, um den türkischen Teppich nicht zu beschädigen, und stellte ihn dicht neben den anderen, in dem er sich dann niederließ. Er schaltete die Stehlampe ein, die an seiner Seite stand. Mit einem kurzen Brummen, einem vergnügten Laut der Zufriedenheit, schlug er den ersten Band des Knuth, Fundamentale Algorithmen, auf. 3 Marthas Finger röteten sich immer mehr, während sie mit einiger Kraftanstrengung ihren Schlüsselring auseinanderdrückte, um die Schlüssel des
Mietwagens daran zu hängen. Sie hatte den Absatz zwischen dem zweiten und dem dritten Stock erreicht und legte eine kurze Verschnaufpause ein, ehe sie ihren Anstieg fortsetzte. Sie fragte sich, welcher Teufel sie geritten hatte, zu Fuß vom Foyer in den siebten Stock hinauf zu stiefeln, wo Mayland Long wohnte. Ganz gewiß tat sie es nicht zur körperlichen Ertüchtigung. Sie hatte es bisher nicht nötig gehabt, auf ihre Gesundheit zu achten. Sie prustete verächtlich vor sich hin, als sie sich über ihr Motiv klar wurde. Sie war auf dem Weg, ganz allein einen Mann in seiner Wohnung aufzusuchen und hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein, sichergestellt, daß sie nicht beobachtet wurde. Was hast du nur für eine absurde rechte Gehirnhälfte, schalt sie sich selbst. Hinterhältig und lächerlich… Geschieht dir ganz recht, wenn du jetzt diese Klettertour machen mußt. Als sie oben angekommen war, blieb sie stehen. »Na bitte«, murmelte sie. »Siehst du jetzt, wozu du mich gezwungen hast?« Auf dem schlichten Metallschild stand: ›Siebte Etage‹. Ihr Gesicht war heiß, und sie lehnte sich einen Moment lang an den Treppenpfosten, der einen Aufsatz in Form einer Buchecker hatte. Dann trat sie durch die schwere Eisentür in den Korridor. Hier, auf dem rostbraunen Läufer mit dem türkischen Muster, hatte man die Leiche gefunden. Den Junkie. Mit gebrochenem Genick. Am besten, sie fragte ihn nach der Geschichte – dann hatte
sie es hinter sich und konnte sie sich aus dem Kopf schlagen. Es kostete sie eine starke Willensanstrengung, die Hand zu heben und an die Tür mit der Zahl 714 zu klopfen. Eine schwere Tür. Massiv. Ihr Gesicht war immer noch heiß; er würde glauben, sie erröte. Vielleicht war es auch so. Auf keinen Fall würde sie nach der Leiche fragen. Sie lauschte, ob sich drinnen etwas rührte, und hörte nichts. Dann wurde die Tür leise geöffnet, und Mayland Long stand vor ihr. In der linken Hand hielt er eine Untertasse mit einer Tasse. Im Morgenlicht sah er noch schmaler aus und weniger exotisch. Wie er da in Hemdsärmeln zwischen Martha und dem Fenster stand, wirkte er in der Tat sehr schmächtig. »Suchen Sie die Blutspuren?« fragte er freundlich lächelnd und lachte über ihre Reaktion. »Verzeihen Sie mir, Martha. Dieser unglückselige Zwischenfall ist unsere einzige Sensation im James Herald. Jeder, der sich mit Jerry Trough unterhält, bekommt davon zu hören.« »Haben Sie den Toten gesehen, Mayland? Er muß direkt vor Ihrer Tür gelegen haben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die ganze Episode verschlafen. Ich war am Abend vorher lange aus gewesen und erwachte erst, als die Polizei bei mir klopfte. Leider konnte ich ihr nicht helfen.« Sie blieb an der Tür stehen und sah sich in dem mit Büchern gefüllten Zimmer um. Mayland Long nahm sein Jackett vom näherstehenden der beiden Ohrensessel und forderte sie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen.
Sie bemerkte die Teetasse und die Tatsache, daß seine Hemdsärmel nicht zugeknöpft waren. »Tut mir leid. Ich bin anscheinend wieder mal auf die Minute pünktlich.« Sie verzog abschätzig den Mund, während sie sich in dem anmutigen Sessel niederließ. »Das ist schon beinahe unverzeihlich. Man hat sich so daran gewöhnt, daß die Leute immer zwanzig Minuten zu spät kommen, daß man diese Spanne unwillkürlich an die verabredete Zeit anhängt, und dann kommt jemand wie ich dazwischen und verpfuscht alles mit seiner Pünktlichkeit. Das kommt daher, daß ich immer alles wörtlich nehme, wissen Sie.« »Sie sollten sich nie entschuldigen«, meinte Long. »Schon gar nicht für Pünktlichkeit. Ich war heute morgen nicht so früh auf den Beinen wie Sie, aber das müßte Ihnen Anlaß zum Groll geben, nicht mir.« Er stellte Untertasse und Tasse auf den zweiten Band des Knuth ab, der auf dem Boden lag. »Ich komme gerade aus der Dusche«, bemerkte er. »Bitte, schenken Sie sich eine Tasse Tee ein. Ich mache inzwischen etwas Ordnung. Es ist kein schwarzer, sondern chinesischer.« Er kniete unter dem Fenster nieder und schob mehrere Bücher sorgfältig in ihre Regale. Der Tee war es, wie sie entdeckte, der nicht schwarz, sondern chinesisch war. Er roch nach Pfirsichen. Hatte einen leicht salzigen Geschmack. Während sie da saß und den Hals reckte, um alles zu betrachten, begann sie, mit den Beinen zu baumeln. Der Sessel war zu hoch für sie. Sie kam sich darin wie ein kleines Mädchen vor.
Das ganze Zimmer hatte diese Wirkung auf sie; es schien ihr so alt – so altmännerhaft, genaugenommen, aber so ungemein geschmackvoll. Und nach ihren Maßstäben beinahe bedrückend ordentlich. Wenn ein paar Bücher auf dem Fußboden lagen, bewies das doch nur, daß die Bücher an den Wänden echt waren und nicht Staffage. Martha Macnamara hatte sich damit abgefunden, zu früh gekommen zu sein. Sie saß da und baumelte mit den Beinen, und ihre Zehen streiften über das feine cremefarbene und rostbraune Muster des Teppichs. Mayland Long sagte nichts davon, daß er selbst in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, und wenn ihn Schläfrigkeit überkam, als er vor dem Zeitschriftenständer kauerte und Dr. Dobbs’ zwischen das Donleavy’s und das Forbes vom 4. September steckte, so hätte dieser Anfall von Müdigkeit auch durch das erste Sonnenlicht hervorgerufen sein können, das plötzlich den Morgendunst durchdrang und ihn in eine Art friedlicher Trance versenkte. Die Lider glitten über seine bernsteinhellen Augen, und seine Hand fiel an den Fächern des Ständers herab, als er Marthas unterdrückten Aufschrei hörte. Hastig drehte er den Kopf. »Das ist Oolong«, erklärte er. Tasse und Untertasse auf ihrem Schoß klirrten. »Nein«, flüsterte sie hingerissen. »Die Figur. Diese herrliche Figur.« Er wandte sich wieder zum Fenster und wischte imaginären Staub von seiner Hose. »Ja. Das ist der Name. Oolong.«
Seine wundervolle Stimme hatte sich zu einem Murmeln des Desinteresses gesenkt, während er zum Himmel hinausblickte, wo ihn irgendein Spiel von Sonne und Morgendunst fesselte. »Ist das der Name der Figur, des Bildhauers oder des Drachen, der für die Statue Modell gestanden hat?« Reglos antwortete er: »Ganz wie Sie wollen.« Und darauf gähnte er herzhaft, wobei seine Zunge sich rollte wie die einer Katze. Doch als er sich ihr wieder zuwandte, drückte seine Haltung Lebhaftigkeit und Entschlossenheit aus. »So, liebe Martha, jetzt habe ich genug herumgetrödelt. Jetzt können wir gehen.« »Ah. Okay.« Sie stellte ihre Tasse auf das Öltuch neben die grüne Teekanne und den roten Kessel. Neugierig hob sie den Deckel der Kanne, und der Duft der Blätter entstieg ihr. Sie war ganz sicher, daß es Oolong-Tee war. Hießen sowohl der Tee als auch die Figur Oolong? Der Tee, die Figur und der Drache? Das Wort schwoll in ihrem Geist an und nahm grauenvolle Proportionen an. Wenn sie ihn nach dem Namen des schwarzen Lacktisches fragen würde, würde er vielleicht wieder ›Oolong‹ antworten. Sie hatte einmal einen solchen Meister gehabt. Ganz gleich, was sie ihn gefragt hatte, seine Antwort hatte stets gelautet, Staub auf dem Boden. Nachdem sie das ein Jahr lang mitgemacht hatte, war sie zur Rebellion übergegangen und hatte geschrien, in dir ist nichts außer Staub auf dem Boden! Das hatte sich als die rechte Reaktion erwiesen; von da an waren sie prächtig
miteinander ausgekommen. Sie begegnete Longs herausforderndem Blick mit einer größeren Herausforderung. »Oolong«, sagte sie. »Der Tee, die Figur, der Drache – und Sie dazu. Dasselbe Wort gilt für alle.« Und sie lachte, bis der nackte Schock auf seinem Gesicht alle Erheiterung verscheuchte. »Ich bin wirklich nicht verrückt«, erklärte sie mit Bedacht. »Das war nur ein kleiner Witz aus der Welt des Zen. Ein sehr kleiner. – Und jetzt, Mr. Holmes! Auf zur Jagd! Oder das Spiel ist aus oder – na, so etwas Ähnliches.« Sie ging einem nachdenklichen Mayland Long voraus zur Tür hinaus. »When Thou hast done, Thou art not done, for I have more – Wenn du fertig bist, bist du nicht fertig, denn ich habe mehr«, verkündete er und ließ sich in die Polster des Mitfahrersitzes sinken. Braune Finger griffen wie von selbst zum Griff der Tür und zogen sie zu. Martha war niedergeschlagen, nachdem die Besuche bei der Firma FSS und bei der Stanford Universität ergebnislos geblieben waren. Noch schlimmer, Judy Freeman, Liz’ Freundin von der Universität, auf die Martha die meisten Hoffnungen gesetzt hatte, war schon vor Monaten nach Seattle umgezogen. Sie ließ den Motor des Mercury Zephyr an und fuhr mit einem Ruck an. Mayland Long ließ sich durch den Ruck nicht erschüttern; er stützte sich mit der Hand am Armaturenbrett ab. Es war nicht
der erste Ruck des Tages. »Ach ja, das ist ein Spruch von John Donne, nicht? Er ist ja ein Meister des Wortspiels. Als ich zur Schule ging, war er unglaublich beliebt. Jetzt kräht kein Hahn mehr nach ihm. Ein Zeichen der Zeit, vermute ich.« Mayland Long warf ihr einen kalten Blick zu. »Sie wollen mir unbedingt mein Geburtsdatum entlocken, Madam.« Mit völliger Offenheit antwortete sie: »Ja, ich würde schrecklich gern Ihr Alter wissen. Ich hasse Geheimnisse, und Sie sind eines. Aber ich mag die Gedichte von Donne – ehrlich. Nur sagen Sie mir eines, Mayland: Was ist das für ein Mehr? Ich stelle fest, daß mein einziges Kind keine Stellung, keine Freunde, keine Adresse hat. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden, scheint nicht mehr zu existieren. Wie sollen wir sie finden?« Long sah ihr ins Gesicht und erkannte ihre Besorgnis darin. Er antwortete nicht gleich. Die Dattelpalmen des Palm Drive glitten an den Wagenfenstern vorüber; hohe und niedrige, die kranken und die gesunden, tote Zwerge und majestätische Riesen. Er blickte zwischen ihnen hindurch auf die Straße, die sich vor ihnen dehnte. »Bitte, biegen Sie am El Camino rechts ab«, sagte er. »Ja, Sir.« Sie tat es. »Sie werden sie finden, Martha«, sagte Long ruhig. »Man findet das, was man sucht, immer dort, wo man zuletzt nachsieht.« Sie mußte plötzlich lachen. »Du lieber Himmel, schauen Sie sich diese Radfahrer an«, staunte sie, während sie die Spur wechselte. »Wie hübsch sie
sind. Alle blond. Und diese Muskeln! Stanford beherbergte immer schon gutaussehende Studenten. Ganz im Gegensatz zur Columbia Universität. Es würde mich interessieren, ob man dem Aufnahmeantrag immer noch ein Foto beilegen muß.« Er ließ sie ungehindert plaudern, bis er plötzlich scharf sagte: »Da ist ein Parkplatz. Rechts.« Sie steuerte den Wagen hinein. »Sind wir da? Wo denn?« »Bei einem Geschäft mit Namen ›Der Computer, dein Freund‹«, antwortete er, während er schon zielstrebig über die Straße ging. »Der Computer, dein Freund? Das ist ja was ganz Neues.« »Das wird sich zeigen. Vorsicht, Martha, ich möchte nicht, daß Sie in der Unfallstatistik landen.« Er nahm sie beim Ellbogen und zog sie mit sich zur Tür des Geschäfts. Der kleine Laden war vollgestopft mit Zeitschriften und Fernsehschirmen, die, wie Liz ihrer Mutter einmal erklärt hatte, mit richtigem Namen Braunsche Röhren hießen. An den Wänden hingen dicht an dicht leuchtende Poster und Schaubilder, die Martha, dem absoluten Laien, nichts sagten. Hinter der Theke saß ein junger Mann mit einem Apparat in der Hand, der wie ein Walkie-talkie aussah. Während sie den jungen Mann noch musterte, stupste sie etwas gegen den Fuß. Es war ein Spielzeug-Rennauto. Sie hob den Fuß, um Platz zu machen, und das kleine Ding prallte sofort gegen ihren anderen Fuß. Es schien ganz von allein
herumzukurven. »Möchten Sie’s probieren?« Der junge Mann lächelte sie an. »Das Auto zu steuern?« fragte sie ungläubig. »Das kann ich nicht. Ich hab’ sowas nie gekonnt. Mit Maschinen hab’ ich’s nicht.« Er hielt ihr den kleinen Kasten unter die Nase. »Sagen Sie ›vorwärts‹.« »Vorwärts?« »Noch mal, ohne den fragenden Unterton.« »Vorwärts«, sagte Martha. Dann mußte sie »rechts« und »links«, »halt« und »rückwärts« sagen. Schließlich drückte er ihr den Kasten in die Hand. »Und jetzt?« Der junge Mann strahlte vor Stolz. Er war blond. Sah gut aus. Wahrscheinlich studierte er an der Stanford Universität. »Jetzt geben Sie dem Wagen über das Gerät Ihre Befehle.« Martha wußte, daß man sich über sie lustig machte. Sie wartete auf das Gelächter. Sie blickte Mayland Long an, der ihr mit sachlichem Interesse zusah. Niemand hätte es gewagt, ihm ein Walkietalkie in die Hand zu drücken und ihm zu befehlen, »vorwärts«, »rechts«, »links« und »rückwärts« zu sagen. Wirklich schade. Das hätte ihm wahrscheinlich ganz gut getan. Sie räusperte sich. »Rechts«, befahl sie. Das Auto rührte sich nicht. »Vielleicht muß es fahren, ehe es abbiegen kann«, meinte Mayland Long. Sie versuchte es. »Vorwärts.« Das kleine Fahr-
zeug sauste über den Teppich und prallte gegen ein Tischbein. »Super!« rief sie augenblicklich begeistert. »Das ist ja toll.« Sie befahl eine Rechtskurve, dann eine Linkskurve und produzierte dann eine Serie von Bocksprüngen, die an ihre Begegnungen mit der Kupplung des Mercury erinnerten. Fasziniert zog sie sich zu einem Stuhl zurück, der vor einem vielfarbigen Reklameaufbau stand, und setzte von dort ihren wortarmen Monolog fort. Mayland Long wandte sich an den Verkäufer. »Modistics?« fragte er. »Größtenteils. Ich hab’ das Markenschild runtergemacht, weil ich in dem Kasten einiges verändert hab’. Aber wie haben Sie das gesehen?« Long zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Werbung gelesen.« »Ach so. In Byte oder Kilobaud’?« Die Augen des jungen Mannes blickten mit durchdringender Schärfe. Er taxierte den Kunden genau, nach Kriterien, die nur ihm bekannt waren. »In beiden«, antwortete Mayland Long. »Aber das war schon in den Maiheften. Ich weiß, daß ich gelesen habe, die Spracherkennungsfähigkeit sei unzulänglich. Daß das Gerät durch Labiale leicht durcheinanderkommt.« Ein dicker Mann in weißem Hemd kam durch die Tür. Er ignorierte Martha und ihr Spielzeugauto, und die beiden ignorierten ihn ebenfalls. Schnurstracks ging er zum Zeitschriftenständer und pflanzte sich davor auf. »Stimmt schon, ich hab’ einiges geändert. Zum
Beispiel hab’ ich einen Filter eingebaut und eine Geschichte zur Geräuschdämpfung.« »Sie sind Fred Frisch?« Er hatte einen blonden Schnurrbart von stattlicher Größe, an dem er jetzt zupfte. »Stimmt. Kennen wir uns?« »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie.« Mayland Longs wohlmodulierte Stimme, bisher von unpersönlicher Höflichkeit, nahm einen etwas wärmeren Klang an. Er lehnte sich an die Theke. »Aus Mr. Dobbs’. Ich habe Ihren Artikel über Finanzsysteme für den Heimcomputer mit einer 8080 Implementation gelesen. Hochinteressant! Aber doch eigentlich beinahe Verschwendung, diese eleganten Algorythmen für ein 16K Gerät…« Fred Frisch reagierte auf dieses Lob. Er straffte die Schultern. Sein seidiger Schnurrbart bauschte sich förmlich. Seine Finger drehten ein schwarzes Stromkabel auf der Theke in Kreise. »Haben Sie es versucht?« Longs Augen flackerten nur flüchtig. »Ich habe leider kein…« Der Dicke am Zeitschriftenständer schob ein abgegriffenes Exemplar von Byte wieder in sein Fach und seufzte tief dabei. »Oh. Hm, naja, dann natürlich«, meinte Frisch. »Mit Unterbrechern wäre das Ding schneller gelaufen, aber so viele Leute haben –« »Sie waren wohl in Stanford«, meinte Mayland Long, während er zu Boden blickte, wo das Spielzeugauto in Kreisen um seine Füße herumflitzte. Martha Macnamara bewies beachtliche Geschicklichkeit.
»Woher wissen Sie das? Das stand doch nicht in dem Artikel, oder?« fragte Frisch und beantwortete sogleich selbst seine Frage. »Nein. Sie drucken nur Namen und Adresse, aber keine Biographie. Das weiß ich, weil ich noch monatelang danach Briefe von Leuten bekam, die kostenlose Bänder haben wollten.« »Aber Sie dankten einem Professor Carlo Peccolo für seine Unterstützung und wiesen darauf hin, daß Sie einige Ihrer Ideen ihm zu verdanken hätten. Professor Peccolo hat aber in EDN veröffentlicht, und sein Artikel war sehr wohl von einer Biographie begleitet. Wie hätten Sie seine Unterstützung bekommen sollen, wenn Sie nicht sein Schüler gewesen wären? Da er in Stanford lehrt, müssen Sie –« »Klar, jetzt versteh’ ich«, unterbrach Fred Frisch. »Ich dachte nur einen Moment lang, Sie könnten sowas an der Aura erkennen oder so.« Mayland Long stellte seine Zehe auf die Kühlerhaube des faszinierenden kleinen Rennautos, das darauf mit dem Gebrumm einer zornigen Biene protestierte. »Aber, ich nehme an, ohne meine Zufallslektüre hätte mir Liz Macnamara sagen können, wer Sie sind.« Er sah auf, und sein Blick traf den Frischs. »Woher wissen Sie, das ich Liz kenne?« »Sie waren in derselben Fakultät. Sie sind in einem Alter.« »Wer sind Sie?« konterte Frisch. »Arbeiten Sie mit Liz zusammen?« »Nein.« Er schob seine Hand in die obere Ja-
ckentasche, als wolle er eine Karte herausziehen. Als er keine fand, klopfte er sich mit gerunzelter Stirn auf die beiden Seitentaschen. Schließlich sagte er: »Verzeihen Sie. Mein Name ist Long, Mayland Long. Ich weiß sehr wenig über Miß Macnamara und versuche, mehr zu erfahren.« »Sie sind wohl Kopfjäger?« fragte Frisch mit Verachtung. Mayland Long lachte. »Sie meinen, ein Talentsucher der Industrie? Nein, keineswegs. Ich vertrete rein persönliche Interessen.« Er senkte die Stimme, bis sie beinahe nur noch ein Flüstern war. »Die Dame, die da so talentiert Auto fährt, ist Elizabeth Macnamaras Mutter.« Verstohlen musterte Frisch Marthas gesenkten Kopf und die gekrümmten Schultern. »Warum redet sie nicht selbst mit ihrer Tochter?« brummte er mit Unbehagen. »Ich kenne Liz kaum.« »Elizabeth ist verschwunden, Mr. Frisch.« Frisch riß erstaunt die Augen auf. »Verschwunden? Wahnsinn!« »Mrs. Macnamara lebt in New York und hat den Kontakt mit Liz verloren, die offenbar ihre Stellung aufgegeben hat und von ihrer letzten bekannten Adresse fortgezogen ist. Wir wissen nicht, wer ihre Freunde sind.« »Mich dürfen Sie da nicht fragen«, antwortete Frisch so leise, daß nur Long es hören konnte. »Liz ist so eine, die genau weiß, was sie will, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Long bekannte offen, daß ihm das nicht ganz klar sei. »Ich habe den Eindruck gewonnen, daß
Miß Macnamara eine ziemlich ehrgeizige junge Frau ist und dazu recht eigenbrötlerisch. Meinen Sie das?« Frisch zuckte seufzend mit den Schultern und lächelte halb entschuldigend. »Nicht ganz. Sie kann sehr nett sein, wenn sie will. Wenn Sie glaubt, jemand könnte ihr – könnte ihrer Karriere nützlich sein. Mit Peccolo kam sie ausgezeichnet aus.« Long machte große Augen. »Sie war seine Assistentin«, erläuterte Frisch hastig. »Eine Zeitlang waren die beiden ganz dick miteinander. Aber es hielt nicht an.« »Warum nicht?« Fred Frisch angelte mit einer Hand nach der Rückenlehne eines hohen Hockers und zog ihn zu sich heran. Als er saß, blieb er noch eine Weile in Gedanken versunken. Dann sagte er: »Ich glaube, es war so: Liz möchte gern manipulieren – sie möchte die Fäden in der Hand haben und die anderen nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Peccolo ist so ein Typ. Er kann das viel besser als sie. Er benutzte sie, und nicht umgekehrt, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie hockte Stunden und Stunden für ihn an der Maschine – entwarf seine Vorlesungen und Seminare, schliff seine Mathematik… Peccolo ist ein guter Lehrer, hervorragender Organisator und was sonst noch dazu gehört…« Frisch, der bisher zur Glasplatte der Theke gesprochen hatte, hob plötzlich den Kopf und suchte Longs Augen. »Aber das technische Verständnis hat Liz. Sie ist echt gut.« Sein Blick wanderte wieder weg. »Wirklich schade, daß Technik nicht
alles ist.« Mayland Long lächelte langsam, während er mit den Fingern auf die Glasplatte trommelte. »Sie sind mit ihr aneinander geraten? Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Sie mich verstimmen. Ich habe die junge Dame nie kennengelernt.« Frisch rutschte verlegen auf seinem Hocker hin und her. »Äh – nein. Ich nicht. Ich bin Liz aus dem Weg gegangen, wissen Sie. Damit eben das nicht passiert.« »Glauben Sie, Peccolo weiß, wo sie sich jetzt aufhält?« Wieder zuckte Frisch mit den Schultern. »Jedenfalls besser als ich«, antwortete er. »Was für eine Rolle spielen Sie überhaupt in der Angelegenheit? Den Detektiv?« Mayland Long lachte. Martha blickte auf. »Das wird ja immer schlimmer. Da wäre ich lieber noch ein Kopfjäger!« Frisch wirkte nicht überzeugt. »Sehen Sie, Mrs. Macnamara spricht den Jargon nicht, und mein Gebiet sind Sprachen.« Long merkte, daß Martha neben ihn getreten war. Behutsam nahm er ihr das Kontrollgerät für das Rennauto aus der Hand und gab es Frisch zurück. »Der junge Mann hat in Stanford studiert, nicht wahr?« fragte Martha, während sie sich über die belebte Straße schieben ließ. Mayland Long wartete in Umkehrung herkömmlicher Höflichkeitsregeln an ihrer Seite, bis sie sich
hinter das Steuer gesetzt hatte, dann ging er um den Wagen herum und ließ sich von ihr die Tür von innen öffnen. »Sie haben also zugehört?« erwiderte er, als sie in der Stille des geschlossenen Wagens saßen. »O nein. Als ich Sie das Wort Modistics sagen hörte, habe ich sofort abgeschaltet, weil ich wußte, daß ich von Ihrem Gespräch sowieso kein Wort verstehen würde. Ich weiß, daß der junge Mann in Stanford war, weil er blond ist und vor dem Laden ein Fahrrad stand.« Ihre Stimme war immer leiser geworden. Es ging ihr deutlich etwas durch den Kopf. »Nun, ganz gleich, wie Sie darauf gekommen sind, Ihre Vermutung ist richtig. Er war in Stanford und kennt Ihre Tochter flüchtig.« Martha nickte. »Nur flüchtig?« »Er hat uns einen anderen Namen genannt. Einen wichtigeren vielleicht. Zurück zur Universität«, befahl er, und der Wagen sprang gehorsam an. »Mayland«, sagte Martha, als sie eine Lücke im Verkehrsfluß entdeckte und sich mit unerwarteter Sicherheit hineinschob, »ich habe mich vorhin in dem Laden wirklich amüsiert. Ich glaube, ich habe meinen Beruf verfehlt.« Long lächelte, und sein Arm, der sich gegen das Armaturenbrett stützte, entspannte sich. »Sie hätten Computerfachfrau werden sollen?« »Lieber Himmel, nein. Ich hätte Spielzeug verkaufen sollen.«
4 »Es tut mir leid. Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erklärte der Professor. Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, bis die Federn quietschten, und trommelte mit bleichen Fingern auf die Platte seines Mahagonischreibtischs. Es sah ganz so aus, als sei das Gespräch vorzeitig beendet. Martha krauste die Stirn. Ihre blauen Augen glänzten wie Perlen. Mayland Long und sie waren mindestens eine halbe Stunde lang ganz romantisch zwischen den roten Sandsteinbauten spanischen Stils und den staubigen Eichen des Campus umhergeirrt. An der Kapelle hatten sie Halt gemacht, um einen Blick auf die goldenen Wandgemälde und das kitschige grelle viktorianische Glas zu werfen, und hatten in befriedigender Einträchtigkeit ihre vernichtende Kritik über dieses Bauwerk abgegeben. Jetzt wurde es heiß, und sie war müde. Peccolos Haltung war auch nicht geeignet, sie aufzumuntern. Mayland Long holte gemächlich Atem und begann zu sprechen. »Wenn ich nicht irre«, sagte er, »arbeitete sie bis vor kurzem bei Ihrer Forschungsarbeit mit Ihnen zusammen…« Seine Ruhe hatte eine Schärfe, die es Martha geraten erscheinen ließ, den Mund zu halten und ihm die Angelegenheit zu überlassen. Auf Peccolo hatte sie eine andere Wirkung. »Bis vor kurzem? Aber nein, keinesfalls. Sie ist jetzt seit beinahe zwei Jahren nicht mehr bei
mir.« Er richtete sich wieder gerade auf und fixierte über seinen breiten Schreibtisch hinweg Mayland Long. Peccolo war ein weit wuchtigerer Mann als Long, blond und stämmig. »Lassen Sie mich kurz etwas zu unseren Studenten hier sagen, Mr. – äh – Long. Übrigens, sind Sie Jurist?« Die Antwort war knapp. »Nicht direkt.« »Also zu den Studenten hier. Sie kommen und gehen. Sehr schnell. Wir haben einen ständigen Wechsel. Für den Magister arbeitet man zwei Jahre. Eine Promotion – nun, Elizabeth Macnamara wollte nicht promovieren. Sie arbeitete für mich; sie übernahm das Benoten von Arbeiten, kodierte, erledigte technische Korrespondenz. Seit sie ihren Magister gemacht hat, habe ich schon zwei andere Studentinnen in dieser Position beschäftigt – jeweils ein Jahr. Ich hatte keine Veranlassung, mit ihr in Verbindung zu bleiben. Tut mir leid.« Lediglich die drei letzten Worte waren an Martha gerichtet, die etwas seitlich von den beiden Männern saß, zwischen einem Holztisch, auf dem sich Berge von Printouts stapelten, und einer blitzenden Glasvitrine, die neben anderen interessanten Dingen ein Diplom vom Massachusetts Institute of Technology enthielt, eine Ehrenurkunde von einer Firma namens Advanced Micro Devices und einen goldenen Pokal auf marmornem Sockel, in den die Worte Denver Invitational 1959 eingraviert waren. Martha hätte liebend gern gewußt, was für ein Einladungsturnier das gewesen war, an dem Dr. Peccolo im Jahr 1959 in Denver teilgenommen
hatte. Sie hörte seine Worte nur wie aus der Ferne. Mayland Long ließ sich die Zügel des Gesprächs nicht entgleiten. »Liz Macnamara gehörte doch in diesem reichlich fließenden Strom von Studenten gewiß zu den wertvolleren Funden, nicht wahr?« Das Gesicht Peccolos färbte sich rot, und die Muskeln an seinem Kiefer traten plötzlich hervor. »Wie meinen Sie das?« knurrte er, während er mit der rechten Hand einen Füller vom Schreibtisch nahm und die Finger zur Faust darum ballte. Mayland Long war dank Hautfarbe und Erziehung im Vorteil. Wenn diese plötzliche Konfrontation ihn in irgendeiner Weise erregte, so war ihm das nicht anzumerken. »Ich habe gehört, daß Miß Macnamara eine sehr begabte Studentin war. Und gewissenhaft. Das kann man wahrhaftig nicht von allen Auszubildenden behaupten; es sei denn, die Dinge hätten sich seit meiner Jugend grundlegend geändert.« »Sie war auf dem Arbeitsgebiet, das ich ihr zugeteilt hatte, recht tüchtig«, gab Peccolo offensichtlich nicht gern zu. »Es handelte sich dabei, wie ich Ihnen schon sagte, um Kodierungsarbeit und die Erledigung der Korrespondenz. Sie besaß Fähigkeiten, die gut verkäuflich waren – zumindest heutzutage, in einer Gesellschaft, wo die Nachfrage nach technischem Fachwissen in einem Computer Ghetto wie dem Santa Clara Tal weit größer ist als das Angebot… Ich habe ihr dabei geholfen, diese Fähigkeiten zu entwickeln, und ich
bezahlte sie während dieses Prozesses. Ich half ihr bei der Arbeitssuche und verschaffte ihr ihre erste Stellung bei Floyd Rasmussen. Ich riet ihr davon ab, sie aufzugeben, als sie um Rat zu mir kam. Sie hat keinen Grund zur Beschwerde.« Mayland Long betrachtete ihn zerstreut. »Die junge Dame beschwert sich nicht«, hielt er Peccolo vor. »Sie ist verschwunden. Sie wollte sich also bei Ihnen Rat holen, ehe sie bei FSS wegging?« Peccolo nickte. »Danach habe ich nicht wieder von ihr gehört. Es ist mehr als ein Jahr her. Sie wollte sich als freiberufliche Beraterin niederlassen. Ich sagte ihr, daß man so eine Beratungstätigkeit erst aufnimmt, wenn einem die Leute die Tür einrennen. Wenn man sich einen Ruf geschaffen hat.« »Sie sind doch sicher als Berater tätig, Professor.« »Ich genieße einen gewissen Ruf.« Mayland Long faltete mit einer freundlichen Geste die Hände. »Dann hatte sie also keine besondere Begabung?« Peccolo stand auf und hätte dabei beinahe seinen Sessel umgestoßen. »Wir haben zweifellos alle etwas Besonderes«, erwiderte er. »Für unsere Mütter.« Auch Martha stand auf. Sie stemmte sich mit einer energischen Bewegung aus ihrem Sessel. Langsam hob sie die Hände und stemmte sie in die Hüften. Und so trat sie ihm gegenüber. Lächelnd sah sie den stämmigen Mann an, der sie
um einiges überragte. Dann begann sie zu lachen. »Ich weiß, wie aufreizend Liz sein kann«, sagte sie endlich. »Aber Sie hätten sie nicht so fortgehen lassen sollen. Neid wirkt bei großen Männern so lächerlich.« Mayland Long saß noch in seinem Sessel. Sein Gesicht war teilweise hinter dem steilen Giebel seiner Hände verborgen, deren Fingerspitzen sich vor seinem Mund berührten. Er sah mit Interesse, vielleicht mit Belustigung, zu, wie Peccolo vor Marthas Erheiterung zurückfuhr und mit wedelnden Armen nach hinten griff, um den umstürzenden Sessel abzufangen. Als Martha zur Tür hinausrauschte, stand auch Mayland Long auf, geschmeidig, ohne die Armlehnen des Sessels zu berühren. Flüchtig sah er Peccolo ins wütende Gesicht, dann schweifte sein Blick zu der Glasvitrine. »Denver neunzehnhundertneunundfünfzig«, meinte er nachdenklich. »Schach?« Die Antwort wurde widerwillig gegeben. »Schlagball.« Mayland Long nickte, dankte Peccolo, daß er sich die Zeit genommen hatte und schloß die Tür leise hinter sich. »Ist das nicht interessant?« Mit blinzelnden Eulenaugen musterte Martha ihre Umgebung; den Tisch mit den Dosenkeksen, den auf Leinen gemalten Plan der schottischen Clans und das schwarze Maul des offenen Kamins, der einen angenehm kühlen Luftzug in den Raum blies. »Das Londoner Teehaus. Eigentlich erinnert es
mich mehr an Kent. Was meinen Sie?« Mayland Longs Musterung war umsichtiger. »Ich habe keine Einwendungen. Es könnte Kent sein. Oder Sussex. Sogar Cornwall könnte man schlucken. Jeden Landkreis und jede Stadt außer London könnte eine solche Blüte getrieben haben.« Draußen vor den Glastüren schien die kalifornische Sonne auf terrassenförmig gruppierte Geranientöpfe. Eine junge Frau in einem hellen Trägerrock und Sandalen ging vorüber, an der Hand ein sauberes blondes Kind. Das Licht, das von den Fenstern der vorüberfahrenden Autos sprühte, tanzte über die Wände der Teestube. Während Martha die Straße draußen betrachtete, dachte sie nicht an England, sondern an die italienische Riviera, die sie nur von Bildern kannte. Ihr Blick wanderte zu ihrem Gegenüber. Er hielt die unwahrscheinlichen Hände muschelförmig aneinandergelegt vor sich in der Luft. Sie dampften. Martha war nicht überrascht, denn sie hatte gesehen, wie die blaugemusterte Teetasse aus Royal Doulton in der Umschließung seiner Hände verschwunden war. Er war müde und ein wenig niedergeschlagen, und sie hielt es daher für ihre Pflicht, Mayland Long aufzumuntern. Sie faßte ihre Flasche Bier um den Hals und hielt sie hoch. »Sehen Sie?« Sie wies auf die winzige Harfe auf dem Etikett. »Das Original ist ungefähr siebenhundertfünfzig Jahre alt. Es steht im Trinity College in Dublin.« »Ah ja.« Mayland Long sprach in mildem Ton,
doch seine Stirn krauste sich leicht, und die Lider senkten sich über seine Augen. Er seufzte, ehe er zu sprechen begann. »Meine liebe Martha«, sagte er, »es tut mir leid, daß unsere Sondierungen heute morgen nicht – produktiv waren.« Sie sah ihn mit weit geöffneten Augen an. »Bitte, seien Sie mir gegenüber ehrlich. Sie waren sogar sehr produktiv. Wenn auch nicht beruhigend.« »Wir haben Ihre Tochter nicht gefunden. Und wir haben keine Anhaltspunkte mehr.« »Wir haben ein Stück Geschichte, Mayland. Wir wissen, daß sie vorhatte, sich selbständig zu machen – als Beraterin. Wir haben zwei Leute aufgestöbert, die mit Liz zu tun hatten – und einer davon hat immer noch nicht genug Distanz zu ihr, um bei dem Thema Liz nicht empfindlich zu reagieren. Ha!« Hier hob Martha den Kopf zum Himmel. Sie war ein Bildnis in Blau mit rosigen Wangen. »Wenn wir diesen Carlos Peccolo an seinen Schweinsledersessel gefesselt hätten und jeder ihn mit einem heißen Schürhaken gepiekt hätte…« Long lachte mit blitzenden Zähnen. »Und wie hätten wir uns hinterher seiner entledigt? Keinesfalls hätten wir ihn freilassen können. Aber ich bin ganz Ihrer Meinung – der gute Dr. Peccolo ist eine Informationsquelle, die wir noch nicht ganz ausgeschöpft haben.« Er blickte eine Weile aufmerksam in seine Tasse, als sei sie die Informationsquelle. »Aber ganz gleich. Es gibt andere Möglichkeiten.« Er hob die Hände zum Mund und leerte die
Tasse. Beim Trinken hielt er die Lider gesenkt, und sein Gesicht war halb abgeschirmt. Martha beobachtete ihn und sah, wie alles Westliche mit der einfachen Konzentration auf den Tee von ihm abfiel. Sie hielt sich vor, daß es nicht Sache dieses Mannes war, an diesem Tag mit ihr herumzuziehen und auf der Suche nach einer jungen Frau, deren Bekanntschaft ihn wahrscheinlich nicht einmal interessierte, mühsame Kleinarbeit zu leisten, Wortgefechte mit unliebenswürdigen Menschen auszutragen, Meilen durch brütende Hitze zu fahren. Und ihr fiel außerdem ein, entfernt, wie aus einem Märchen, das sie als Kind einmal gelesen hatte, daß Mayland Long ein reicher Mann war. Sie schüttelte den Gedanken ab. Er erzählte mit einer wunderbaren Stimme wunderbare Geschichten. Das war weit wichtiger. Er hatte eine Neigung, in der Sonne vor sich hin zu dösen – sie hatte es an diesem Tag zweimal beobachtet; einmal am Fenster seines Salons und einmal im Auto. Sie erinnerte sich seiner Worte – ›Wärme und die Fähigkeit, still zu sein, habe ich immer geachtet.‹ Vielleicht döste er auch jetzt hinter der leeren Tasse, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, während die nachmittägliche Stille der Teestube ihn einhüllte. Er war ein Mensch. Er ermüdete. Er war verletzbar. Sie dachte über diesen letzten Gedanken nach; er war verletzbar. Plötzlich erhob sich vor ihr das Gespenst der Trennung, so bedrohlich wie der Schatten einer erhobenen Axt. Sie schreckte zusammen. Mayland
Long bemerkte ihre Bewegung. Er hatte nicht gedöst. »Ich werde mich erst dann beunruhigen«, erklärte Martha, »wenn ich etwas tun kann. Wenn meine Beunruhigung nützlich ist. Und ich werde diesen Punkt erreichen. Ich werde Liz finden.« Er akzeptierte ihre Gewißheit mit einem Nicken. »Vielleicht ist es an der Zeit, die Polizei um Hilfe zu bitten.« »Nein. Noch nicht. Ich habe einfach nicht das Gefühl.« Sie schob die Lippen vor, während sie nach Worten der Erklärung suchte. Sie hob ihr Glas und trank einen kräftigen Schluck von dem dunklen Bier. »Sehen Sie, Liz kennt keine Angst. Sie fürchtet weder Gott noch den Teufel. Wenn sie jetzt sagt, sie sei in Schwierigkeiten – tja, ich weiß nicht, mit wem sie Schwierigkeiten hat. Ob mit Gott oder dem Teufel.« »Gehört die Polizei zu einer der genannten Parteien?« erkundigte er sich und legte seinen Arm auf die Rückenlehne des Stuhls. »Hätte sie Sie um Hilfe gerufen, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre?« »Ich bezweifle es. Aber mein Zögern hat noch einen anderen Grund.« Martha zog die Brauen zusammen, während sie zu erklären versuchte. »Als Liz neun Jahre alt war, wurde sie einmal am Riverside Drive von einem Polizisten mitgenommen, der meinte, sie sähe wie ein verlorengegangenes Kind aus. Sie hatte sich natürlich gar nicht verlaufen. Wir wohnten damals in einem Haus gleich um die E-
cke, in der 106. Straße. Aber das verriet Liz ihm nicht. Sie war der Meinung, das ginge ihn nichts an. Sie saß drei Stunden auf dem Revier und sagte den Leuten weder, wer sie war, noch wo sie wohnte. Stur wie ein Panzer, und nur weil sie zornig war. Und sie hat auch nicht bei mir angerufen, obwohl die Beamten sie mit Freuden hätten telefonieren lassen. Ich erfuhr von der Geschichte erst, als sie zum Abendessen nicht nach Hause kam und ich die Polizei anrief. Aber das war typisch für sie. Seitdem hat sie eine starke Abneigung gegen blaue Uniformen. Sie würde es mir nicht danken, wenn ich sie vermißt melden würde.« Long zuckte mit den Schultern. Sein Jackett raschelte wie Papier. »Dann müssen wir als nächstes mit Floyd Rasmussen von FSS sprechen. Er weiß vielleicht etwas über die Beratungstätigkeit, die sie plante.« »Das werde ich morgen tun«, antwortete Martha, die in ihrer Tasche kramte. »Vielleicht kann ich mich zum Mittagessen mit ihm verabreden.« »Es wäre vielleicht einfacher, wenn ich anrufe und das Zusammentreffen unter einem technischen Vorwand arrangierte«, schlug er vorsichtig vor. Mit einem leisen Knall klappte sie die große Handtasche mit dem Blumenmuster zu. »Nein, Mayland. Ich halte es für besser, wenn Sie sich nicht noch tiefer in diese Sache verstricken.« Das dunkle Gesicht war ernst, als er die Hände flach auf den Tisch legte und ein wenig zurück-
wich. »Ich gebe zu, ich habe mich in Dinge eingemischt, die mich nichts angehen, meine liebe – Martha. Aber Sie haben mich davon überzeugt, daß hier ein Element der Gefahr vorhanden ist.« Sie nickte mit solchem Nachdruck, daß der graue Zopf herunterzurutschen drohte. »Eben deshalb sollen Sie sich aus der Sache heraushalten.« Sein Gesicht wurde ausdruckslos – so leer wie zuvor, als sie ihn wegen des Wortes Oolong geneckt hatte. Dann lachte er, wie ein tiefes Gewitterrollen, das die Wände des Raums entlanglief, in den Ecken widerhallte und sich zwischen den Stuhlbeinen verfing. Die Kassiererin in der Ecke hob den Kopf. Als das Gelächter verstummte, blieb ein breites Lächeln zurück. »Sie machen sich Sorgen um mich? Um meinen guten Ruf vielleicht? Um meine Sicherheit?« Marthas Nasenflügel blähten sich. Mit der Faust klopfte sie auf ihre Handtasche. »Warum nicht? Sind Sie Supermann? Sind Sie allwissend?« Das Lächeln erstarb. »Nein. Das bin ich nicht. Ich bin nur Mayland Long, und wie ich Ihnen schon früher erklärte – Sie müssen mir sagen, was ich tun soll, wie ich mein Leben richtig leben soll.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, während sie auf die Pointe wartete. »Soll ich in meine Suite im James Herold Hotel zurückkehren und dort mit Kanne und Kessel, mit vielen Büchern und einem Bronzedrachen herum-
sitzen und sie nur verlassen, um Barnes und Noble einen Besuch abzustatten oder im Kristallsaal am weiß gedeckten Tisch zu speisen?« Sie öffnete den Mund, schwieg dann aber. »Ich will es Ihnen ganz offen sagen, Martha: Ich bin nach San Francisco gekommen, weil ich erwartete, daß etwas geschehen würde. Etwas, was mir vor Jahren in Taipei prophezeit wurde. Ein Zeichen. Ein Erwachen. Es ist vielleicht der reine Aberglaube von mir, diese Prophezeiung ernst zu nehmen, aber als Folge von ihr habe ich mein Leben geändert, meine Sprache, mein –« Er brach ab und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich habe mich in vieler Hinsicht verändert.« Flüchtig trafen sich ihre Blicke, dann sah er weg. »Es ist schwer, sich zu ändern, wenn man alt ist. Da ist es beinahe leichter, einfach aufzugeben und zu sterben. Beinahe.« »Können Sie überhaupt aufgeben?« fragte Martha leise. »Nein.« Er lächelte ein wenig traurig und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ist das etwas, was ich lernen muß?« Er ließ ihr nicht die Zeit zu einer Antwort. »Aber Sie dürfen von mir nicht erwarten, daß ich mich verhalte wie ein Mensch des Westens, Martha, nur weil ich die Sprache beherrsche. Oder wie ein – ein Mensch der Gegenwart.« Martha beugte sich vor. Auf ihrem kleinen, runden Gesicht lag ein Buddhalächeln, als sie sich mit der Verstohlenheit einer Verschwörerin nach allen Seiten umsah. »Mein lieber Mayland«, flüsterte sie, »ich erwar-
te alles und nichts von Ihnen. Und es würde mich nicht wundern, wenn Sie jetzt von diesem Tisch aufsteigen und über die Hängegeranien hinweg davonfliegen würden. Ich würde davon ausgehen, daß Sie einen Grund haben. Und ich nehme an, Sie hatten einen Anlaß, nach San Francisco zu kommen und einen Grund, sich im James Herald niederzulassen. Wenn Sie aufgrund einer Prophezeiung kamen – nun, dann haben Sie ein klareres Ziel vor Augen als die meisten Menschen.« Sie wich ein wenig zurück, doch ihr Blick ruhte unverwandt auf ihm. »Was suchen Sie?« Mayland Long hob den Kopf, und während er sprach, fiel Licht auf sein Gesicht, so daß seine Augen in der Farbe von hellem Eichenholz leuchteten. »Unter anderem – die Wahrheit.« »Unter anderem!« Martha legte die Hände ineinander. »Was gibt es denn noch?« Lachend ahmte er ihre Bewegung nach. »Stellen Sie mir nicht solche Fragen. Mit dem Paradoxon konnte ich nie viel anfangen. Ist es Ihnen nicht genug, daß ich Ihnen das Kernstück des Aberglaubens offenbart habe, der im Herzen dieses Mannes im dunklen Anzug verborgen liegt? Aber ich will etwas mit Ihnen teilen, was ich gelernt habe – was ich noch jetzt zu lernen im Begriff bin. Ich erfahre, daß man auf verschiedene Arten warten kann. Und daß die Stille viele Erscheinungsformen hat – ebenso wie die Wärme. Ihre eigene Art der Stille, zum Beispiel, Martha, kann volle Bewegung sein, wie ein Baum voller
Vögel. Und doch empfinde ich es als Stille. Und Ihre Wärme – ach, sie ist wunderbar wie die Farbe Ihrer Augen.« »Meine Augen?« rief sie unwillkürlich. »Wunderbar?« »O ja. Blau ist eine kalte Farbe, doch je heller die Sonne scheint, desto tiefer ist das Blau des Himmels.« Er schwieg einen Moment und betrachtete ihre blauen Augen, ihr errötendes Gesicht. »Martha, ich bin es überdrüssig, untätig herumzusitzen. Die Erkenntnis ist keine zahme Taube, die einem auf die Hand fliegt, wenn man nur lange genug lockt. Sie findet einen, oder sie findet einen nicht. Und außerdem – was ist, wenn meine Chance zu begreifen längst da war, und ich sie vorübergehen ließ, weil ich sie nicht erkannte? Was ist, wenn Zeichen und Ereignisse aller erdenklichen Färbungen und Bedeutungen – Freuden, Kümmernisse, Überraschendes und Verwunderliches – sich mir boten und verloren sind, weil ich nur von der Suche nach einem Kasten mit der Aufschrift ›Wahrheit‹ besessen war? Ich möchte Ihnen bei der Suche nach Elizabeth helfen – nicht aus Nächstenliebe, sondern weil ich neugierig und allein bin. Ich habe eine Vorliebe für Rätsel, und ich bin gern mit Ihnen zusammen. Ich glaube, ich kann Ihnen nützlich sein, wenn Sie es mir gestatten.« Sie drückte die Hände an ihre Schläfen. »Ich verstehe nicht mal die Hälfte von dem, was Sie sagen. Und was kann ich schon entgegnen? Sie verwenden meine eigenen Argumente gegen mich.«
Er lächelte. »Sie können einer Zusammenarbeit zustimmen. Gemeinsam werden wir Ihre Tochter finden.« Sie berührte seine Hand. Martha stellte den Wagen auf einem Parkplatz in einiger Entfernung vom Hotel ab, wo es billiger war. Dann gingen sie los. In San Francisco war es um einiges kühler als auf der Halbinsel, obwohl hier dieselbe dörrende Sonne vom Himmel brannte. Eine Möwe, die im Tiefflug über die Autos auf dem Van Ness Boulevard segelte, schoß an ihnen vorüber. Als sie die Turk Street überquert hatten, sah Mayland Long etwas auf dem Bürgersteig liegen und bückte sich, um es aufzuheben. Es war eine knospende rote Rose. Die Blütenblätter waren geknickt, der Stengel halb durchgerissen. Vor sich hin brummend strich er die Blütenblätter glatt, als seien sie aus zerknittertem Stoff. »Die Rose«, verkündete, »schönste und edelste Blume. Wappenzeichen von York und Lancaster. In mittelalterlicher Zeit Symbol Jesu. Immer stand sie für Schönheit, Liebe, Frieden…« Er überreichte sie Martha. Sie lag auf seiner langfingrigen Hand, bis Martha sie nahm. Sie roch daran und hielt sie ans Licht. »Symbol? Was ist ein Symbol? Das ist eine Rose.« Lächelnd ging sie weiter. Mayland Long war wie vom Donner gerührt. Ein Dröhnen schien ihm in der Luft, als sei der ganze Himmel ein einziger riesiger Gong, den Martha
angeschlagen hatte. Er stand wie erstarrt, während die graue steinerne Stadt sich um ihn drehte. Die vier Worte schallten ihm in den Ohren. »Das ist eine Rose.« Ihre schlichte Wahrheit kündete das Universum. Eine kleine Ewigkeit – vielleicht nur zwei oder drei Sekunden nach der Uhr – stand er so, ein hagerer Mann im dunklen Anzug, nicht mehr jung, elegant, schmächtig, und strich mit dem Daumen über seine Handfläche, um die Erinnerung an eine Rose zu spüren. Dann ging er rasch weiter, den Blick auf das verschwindende blaue Kleid geheftet. Sie wußte, wer er war. Sie hatte ihm sein eigenes Gesicht gezeigt, das sich in der ganzen Schöpfung spiegelte. Aber wußte sie auch, wer sie war? Ob sie nun allein, in eigener Vollkommenheit, oder ob sie an seiner Seite stand – wußte sie, was sie für ihn war? Er eilte die menschenbevölkerte Straße entlang, beflügelt von dem Verlangen, es ihr zu sagen. Martha erreichte die Straßenecke genau in dem Moment, als die Fußgänger Grün bekamen. Sie schien nicht zu bemerken, daß sie ihren Begleiter hinter sich gelassen hatten. Sie trat auf die Fahrbahn. Ein Bus schob sich hinter ihr auf den Überweg und entzog sie so Mayland Longs Blicken. Ein schwarzer Lincoln hielt an der Ecke parallel zu ihrer Wegrichtung, bog dann rechts in den Überweg ab. Die Ampel schaltete um, als Mayland Long die Ecke erreichte. Er spähte über die Wagendächer
hinweg, um nach dem blauen Kleid Ausschau zu halten. Sie war nicht da. Martha Macnamara war nirgends auf dem Stück Straße zwischen Mayland Long und dem James Herald Hotel zu sehen. Und sie war auch nicht im Foyer. Und nicht in ihrem Zimmer. Sie war verschwunden. 5 Die frühe Morgensonne sah zum Fenster herein. Sie zählte die Bücher in Mayland Longs Salon. Die schwarze Statue an der Seitenwand trank das Licht der Sonne in sich hinein und gab es nur durch die Augen zurück. Einer der beiden Ohrensessel im Raum war dem nackten Fenster zugekehrt; er glänzte matt golden. Matt golden war auch die Haut des Mannes, der in dem Sessel schlief. Sein Kopf ruhte in der Ecke, wo Backe und Rückenlehne zusammentrafen. Das Jackett aus dunkler Seide, das er am Tag zuvor getragen hatte, lag über der Armlehne des Sessels; ein Ärmel hing schlaff zu Boden. Mayland Longs seltsame Hände und Gesichtszüge verlangten jetzt, da er schlief, keine Erklärung. Sie waren einfach; natürliche Tatsachen wie knorrige Baumwurzeln, wie das Gesicht eines Tigers, wie die eigenartig geformten, vom Wasser blank gespülten Steine auf dem kalten Strand, der von seinem hochgelegenen Fenster aus sichtbar war. Der Strahl blendenden Lichts ließ das Bücher-
bord zurück und kroch über den Teppich zum Sessel. Er berührte Mayland Longs Gesicht und Hände, und der Schlafende gab sich ihm entspannt hin. Sein Kopf fiel nach hinten, und seine Augen öffneten sich einen Spalt, um das Funkeln des Lichts aufzunehmen. Er blinzelte. Gähnte. Räkelte sich. Schließlich blickte er sich in dem ruhigen, aufgeräumten Zimmer um, als könne es ihm sagen, weshalb er sich völlig angekleidet im Salon befand. Dann fiel es ihm ein, und als die Erinnerung kam, umfaßte er mit beiden Händen die Armlehnen des Sessels. Das Holz protestierte leise knarrend. Am Abend vorher hatte er bei der Polizei angerufen, hatte höflich in endloser Wiederholung erklärt, wer er sei, wer Martha Macnamara sei und warum er befürchtete, daß ihr etwas zugestoßen sei. Er hatte der Polizei nicht alles gesagt, was er wußte; denn trotz seiner Sorge – nein, er wollte das Kind beim Namen nennen! – trotz seiner Angst um Martha hatte er auf Marthas Entschlossenheit Rücksicht nehmen müssen, ihrer Tochter die Konfrontation mit der Polizei zu ersparen. Er konnte nur berichten, daß Mrs. Macnamara mit ihm zusammen den Van Ness Boulevard hinuntergegangen war und an der Ecke Fell Street plötzlich verschwunden war, wie vom Erdboden verschluckt; daß sie nicht in ihr Zimmer im Hotel zurückgekehrt war, obwohl sie sich dort nicht abgemeldet hatte; daß der Empfangsangestellte sie nicht gesehen hatte. Daß irgend etwas ihr Sorgen gemacht hatte.
Es war keine zwingend überzeugende Geschichte. Sie ließ die Interpretation zu, daß Martha Macnamara verschwunden war, um ihn loszuwerden, und sein Anruf bei den Behörden förderte nur den Eindruck, daß er so ein lästiger Wichtigtuer war, dem jeder am liebsten aus dem Weg ging. Der Beamte hatte ihm erklärt, man müsse mindestens den Verlauf eines Tages abwarten, ehe man die Frau als vermißt betrachten könne. Er hatte sich Longs Namen und Adresse geben lassen. Long hatte erkannt, wie sinnlos sein Bemühen war, und hatte keinen weiteren Versuch unternommen, die Polizei für den Fall zu interessieren. Er wußte um die Diskrepanz zwischen seiner Stimme und seiner Erscheinung; wenn seine Worte nicht überzeugen konnten, würde sein persönliches Auftreten erst recht nichts fruchten. Wenn Martha Macnamara von den Leuten, die sie entführt hatten – bestimmt niemand aus dem Bus; die Insassen des schwarzen Lincoln vielleicht? –, getötet worden war, sagte er sich, dann war sie ohnehin nicht zu sprechen, weder von der Polizei noch von sonst einer Macht. Wenn sie hingegen am Leben war, irgendwo versteckt, dann wurde sie in Verfolgung eines bestimmten Ziels am Leben gehalten und würde zweifellos am Leben bleiben, bis dieses Ziel erreicht war. Auch in diesem Fall war die Polizei keine große Hilfe; eine andere Macht jedoch würde eventuell etwas erreichen. Bar jeder Arroganz bezog Mayland Long diese Bezeichnung auf sich. Eine andere Macht.
Und er wußte mit absoluter Gewißheit, daß Martha nicht tot war. Er hätte es gespürt, wenn sie tot gewesen wäre. Denn wenn sie starb, dann starb auch die Hoffnung, und sein eigenes Dasein zerfiel in Asche. Und während er jetzt auf die graue, langsam erwachende Stadt hinaussah, auf den stillen Spiegel der Bucht, die bewegte Oberfläche des Meeres, fühlte er sich weder tot noch ausgebrannt. Er spürte nur – er betrachtete die unvertraute Emotion mit intellektueller Neugier, während er versuchte, ihr einen Namen zu geben – er spürte Zorn. Er stand aus dem Sessel auf und streifte über das zerknitterte Jackett, ohne es zu sehen. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letztemal zornig gewesen war. Drei Jahre in San Francisco. Eines in Kyoto. Davor Taipei – zwei Jahre. Schmerz und Verlustgefühl überkamen ihn. Auch Furcht. Zorn? Nein. Niemand, der ihn an jenem Abend in Taipei zornig gemacht hatte. Nicht einmal er sich selbst. Und vor Taipei hatte überhaupt keine Veranlassung zu Zorn bestanden. Er brach dieses Wühlen in der Erinnerung ab. Überflüssig. Er wußte, was Zorn war. Er war heiß. Floyd Rasmussen war wie Carlo Peccolo ein blonder, stämmiger Mann, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden. Peccolo verwahrte seine Referenzen hinter Glas, während Rasmussen eine ganze Wand mit Cartoons aus den Sonntagszeitungen bespickt hatte. Peccolo
war ernst und nüchtern, während Rasmussen lachte. Er lachte, daß die Fensterscheiben klirrten. Er lachte, als Long sich vorstellte. Er lachte bei dem Namen Peccolo. Er brach in schallendes Gelächter aus, als Long auf Liz Macnamara zu sprechen kam. Mit seinem krausen gelben Bart und dem krausen gelben Haar, das sein Gesicht umstrahlte, sah Floyd Rasmussen aus wie das Abbild eines in Gold gegossenen aztekischen Sonnengottes. »Liz? Ja, sie hat einiges für mich gearbeitet. Ich hoffe, es war nicht das letztemal, wenn auch die Preise, die sie inzwischen verlangt… Himmel, ja, natürlich kenne ich Liz Macnamara. Das ist ungefähr so, als fragten Sie mich, ob ich Blanco, meinen Kater, kenne. Liz ist eine Kämpfernatur, blitzgescheit, mutig, ehrgeizig. Sie hat bei RasTech Leben in die Bude gebracht…« Kühl fragte sich Mayland Long, wieviel mehr ›Leben in der Bude‹ RasTech vertragen konnte. Floyd Rasmussen schien sämtliche verfügbaren Ecken und Winkel mit seiner ihm eigenen besonderen Vitalität zu füllen. Long lenkte das Gespräch in die von ihm gewünschte Richtung. »Blitzgescheit, sagen Sie – heißt das, daß ihre technischen Fähigkeiten über dem Durchschnitt liegen?« »Ach, das Wort Durchschnitt kann man in Bezug auf Liz Macnamara kaum in den Mund nehmen. Sie ist eine schöpferische, absolut eigenständige Person. Mit einem soliden Wissen. Ob es große oder kleine Systeme sind, Software oder Hard-
ware – man braucht ihr nur einen Packen bipolare Chips in die Hand zu drücken, und schon geht’s los. Sie kann gelegentlich sogar einen Termin einhalten. Und das kann ich nur von den wenigsten meiner Freunde behaupten.« Die letzten Worte gingen in polterndem Gelächter unter. Floyd Rasmussen strahlte Mayland Long an. Es gab keinen Schreibtisch in dem Büro. Rasmussen arbeitete an einem Zeichentisch, der an der Wand stand. Es bestand daher keine Schranke zwischen der dröhnenden Herzlichkeit des Präsidenten der Firma RasTech und der vornehmen Zurückhaltung seines Gastes. Mayland Long hatte nicht den Eindruck, im Vorteil zu sein. »Dann war es also nicht unrealistisch von ihr, sich als Beraterin niederzulassen – sich selbständig zu machen?« Rasmussen prustete von neuem los. »Was hätte sie denn sonst tun sollen? Eine Hälfte ihres Gehalts für Sozialabgaben hinlegen und die andere für Onkel Sam? Sie hat das einzig Gescheite getan, indem sie sich selbständig machte.« Long bohrte geduldig weiter. »Obwohl sie noch so jung ist und wahrscheinlich kaum Kontakte hat? Dr. Peccolo glaubt –« »– an den Weihnachtsmann. Es gefällt ihm nicht, feststellen zu müssen, daß so ein junges Ding, dem er was beibringen wollte, in Wirklichkeit mehr auf Draht ist als er.« Rasmussen zog die buschigen Augenbrauen zusammen und verzog leicht abschätzig den Mund.
»Carlo ist ein Freund von mir. Ich sag’s nicht gern, aber so eine Koryphäe ist er auch wieder nicht.« Man merkte ihm nicht an, daß es ihm weh tat, das zu sagen. Mayland Long ließ Worte und Verhalten einen Moment auf sich wirken. »Mr. Rasmussen, würden Sie mir erklären, was Elizabeth Macnamara bei FSS für Sie gearbeitet hat? Es muß ja sehr gut gewesen sein, wenn es Sie bewog, sich ihre Mitarbeit hier in Ihrer eigenen Firma zu sichern.« »Hm?« Rasmussen überlegte. Einige Augenblicke war es still in dem Büro. »Also, sie hat alles mögliche gemacht. Ein Schnittstellenbrett für Kassiererterminals auf Z80 Basis. Ein Debitorenpaket in Assembler. Ein halbes Sicherheitssystem für eine Bank, ein –« »Ein halbes Sicherheitssystem?« Rasmussen zuckte brummend mit den Schultern. »Unser Vertrag war nur für ein halbes System. Das wird häufig so gehandhabt. Kann ja sein, daß der Programmierer des Kunden mittendrin aufhört und sie nicht einen neuen ganz von vorn einarbeiten wollen, oder – naja, da gibt’s viele Möglichkeiten. Dann, hm, lassen Sie mich überlegen – sie schrieb ein Kontrollprogramm für uns.« Rasmussen schwieg. Er kniff die kleinen Augen hinter den hellen Wimpern zusammen. Es war schwer zu sagen, welche Farbe diese Augen hatten. »Sind das die Dinge, die Sie interessieren?« Mayland Long wandte den Blick von Rasmussen
ab und ließ ihn einmal durch den quadratischen, aufdringlichen Raum schweifen. Eine Wand war orangefarben; das war die mit den Ausschnitten aus den Comicserien. Eine Wand hatte einen einzigen, nach links geneigten Diagonalstreifen in Schwarz. Vor dieser Wand stand ein blitzendes weißes Modellsegelboot, dessen verzweigte Takelage sich in den Zacken mehrerer Hirschgeweihe zu wiederholen schien, die über ihm angebracht waren. Der Teppich war grün und orange. Der Plastiksessel, auf dem Long saß, war gelb. In seinem gedeckten grauen Anzug wirkte er in diesem Raum wie ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat. »Ja, Mr. Rasmussen, das ist zumindest ein Teil dessen, was mich interessiert. Und da Sie weder Adresse noch Telefonnummer der jungen Dame haben, muß ich mich damit begnügen.« Er stand auf. Rasmussen erhob sich ebenfalls von seinem Zeichenhocker. »Sie ruft mich bestimmt an, wenn sie sich in ihrer neuen Wohnung eingelebt hat. Wenn man umzieht, dauert es immer eine Weile, ehe man der Umwelt seine neue Adresse bekannt geben kann. Das ist ein echtes Problem, wenn man selbständig ist. Ich weiß das aus Erfahrung.« Er streckte den Arm aus, um Mayland Long die Hand zu schütteln. Es war dies ein Ritual, das Floyd Rasmussen bei jeder Gelegenheit praktizierte, und irgendwie war es geschehen, daß dieser Fremde ihr Gespräch ganz ohne den Austausch eines Händedrucks begonnen hatte. Jetzt aber gelang es Rasmussen, Longs Hand zu ergreifen,
doch irgend etwas stimmte da nicht. Es war nicht das Übliche, was beim Händedruck nicht stimmen kann: kalte, feuchte Hand, schlaffer Zugriff oder eiserne Umklammerung. Die Hand, die er ergriffen hatte, war trocken und warm. Sie hielt die seine fest und sicher, ohne die Knöchel zusammenzupressen. Was nicht stimmte, war die Form. Er sah von dem dunklen Gesicht abwärts, doch die Hand war schon zurückgezogen worden. »Sie haben mich gar nicht gefragt«, bemerkte Mayland Long, »welcher Art mein Interesse an Miß Macnamara ist. Sind Sie nicht neugierig?« Rasmussen blickte überrascht hoch. »Ihr Interesse? Sie wollen ihr eventuell einen Auftrag geben, stimmt’s? Aber Sie waren nicht sicher, ob sie die Richtige für Sie ist. Peccolo gab ihr eine ziemlich lauwarme Empfehlung mit, und da wollten Sie sich eine zweite Beurteilung holen?« Mayland Long lächelte. Es war kein westliches Lächeln, sondern ein chinesisches. »Sie sind sehr nahe daran. Ich brauche sie, und ich möchte gern wissen, was sie bisher getan hat. Ich mache mir Sorgen, daß ich sie nicht rechtzeitig finden werde.« Er wandte sich zum Gehen. »Ach, da würde ich mich nicht beunruhigen«, rief Rasmussen ihm mit donnernder Stimme durch den Korridor nach. »Aber – äh – binden Sie sich nicht gleich. Sie taucht bestimmt bald auf.« Mayland Long trat auf die Mathilda Avenue hinaus. Er empfand die gerade, glatte, schattenlose Straße und den Abgasgestank direkt als Erleichterung nach Rasmussens bedrängender Jovialität.
Während er den Schlüssel seines Wagens herauskramte, eines kleinen grünen Citroen, siebte er Rasmussens Worte. Spreu und Weizen; wo war das eine vom anderen zu unterscheiden? Mit gedankenvoller Miene drehte er den Zündschlüssel und suchte den Zorn, den er früher in sich gespürt hatte. Er war noch da, und er hatte dieselbe Intensität und dieselbe Form wie zuvor. Unverändert. Gut. Wenn er schon zornig sein mußte, dann sollte sein Zorn wenigstens zuverlässig sein. An diesem Tag sauste kein brummendes Spielzeugauto in Fred Frischs Laden für den Computerfreund hin und her. Vielmehr war Fred Frisch in eine weitschweifige Diskussion mit einem Jungen verwickelt, der sowohl zu jung als auch zu arm schien, um in diesem Laden etwas zu suchen zu haben. Es ging dabei um Schaltbretter, von denen ein ganzes Sortiment über den Ladentisch verstreut lag. Mindestens die Hälfte der Ausstellungsgeräte an der Wand waren eingeschaltet. Bei einigen liefen die tollsten Farbsymphonien über den Bildschirm, während auf anderen Wörter blinkten. Ein Apparat gab ein ständiges, monotones Piep, Piep, Piep von sich, und gleichzeitig explodierten reihenweise winzige Raketen auf dem Bildschirm. Mayland Long versuchte nicht, das Gespräch zu stören, sondern ließ sich auf demselben Stuhl nieder, auf dem am Morgen zuvor Martha Macnamara gesessen hatte. Das sich ständig wiederholende vielfarbige Bild auf dem ihm nächsten Vi-
deoschirm zog sein Interesse auf sich. Mayland Longs Kenntnis der Computerwissenschaft war so umfassend wie der Bestand an Fachbüchern in seiner Bibliothek, und das war die einzige Ebene, auf der sie existierte. Er drückte versuchsweise auf einen Knopf. Das Bild verschwand. An seiner Stelle erschien eine Liste möglicher Spiele zusammen mit der Anweisung zur Einstellung. Er drückte ein Spiel mit dem schlichten Namen ›Leben‹ herbei. Das Bild, das auf dem Schirm erschien, war beeindruckend. Von gegebenen Punkten aus verbreiteten sich wuchernd kleine weiße Zellen über den Schirm. Sie wuchsen wie Flechten, und wie Flechten starben sie mittendrin ab. Mayland Long erfaßte das mathematische Prinzip und die Metapher des Spiels. Er sah zu, wie winzige Kolonien wuchsen, sich vermehrten, mit anderen um Raum kämpften, infolge geheimer innerer Prozesse verfielen und starben – wie die Gesellschaften der Menschen. Es war ein Spiel, das ihm aus distanzierter Beobachtung der Menschheit vertraut war: Kulturen, Stämme, Individuen… Wie immer verspürte er das Verlangen einzugreifen. Er richtete sein Augenmerk auf einen weißen Punkt, der sich in nichts von den anderen unterschied. Es war einer der wenigen stabilen Punkte, in eine kleine pulsierende Kolonie eingebettet. Er konnte ewig bleiben oder mindestens bis zum nächsten Stromausfall. Aber Moment mal – nein. Am äußeren Rand des Schirms bewegte sich eine merkwürdig geformte
Kolonie nach außen. Sie verschwand auf der rechten Seite vom Bildschirm und tauchte links außen wieder auf. Ihr Weg würde sich in – hm, in wie vielen Schritten wohl? – mit dem der pulsierenden kleinen Kolonie kreuzen. Mayland Long versuchte, die Aufgabe im Kopf zu lösen. Er sah jeden Schritt voraus, der den Angreifer der kleinen Kolonie näherbringen würde. Er errechnete den Zusammenprall und sah im voraus das Ende dieses kleinen Lichtpunkts, der sich in nichts von den anderen auf dem Bildschirm unterschied. Reglos saß er da und beobachtete das Geschehen. Seine Augen wirkten tief schwarz, sein Gesicht war ausdruckslos. Doch einen Augenblick bevor der Angreifer mit der kleinen Kolonie zusammenstieß, drückte er auf die Tastatur des Computers und fror das Geschehen ein. »Leben«, flüsterte er dem kleinen Lichtpunkt zu. Er nahm Bewegung hinter sich wahr. Fred Frisch stand dort, mit einem grünen Plastikbrett in der Hand. »Haben Sie das schon mal gespielt?« fragte er. »Leben?« Long sah sich in dem leeren Laden um. »Diese Implementation nicht.« »Wahrscheinlich hat jeder eine«, meinte Frisch. »Aber die hier ist schneller. Die meisten sind in BASIC geschrieben.« Mayland Long sagte nichts darauf. Er sah sich um, zog einen zweiten Plastikstuhl neben den seinen. Fred Frisch setzte sich gehorsam. »Sie haben sie wohl nicht gefunden?«
Mayland Long lächelte bekümmert. »Statt Fortschritten habe ich Rückschritte gemacht. Jetzt ist auch die Mutter verschwunden.« Frisch starrte ihn verblüfft an. »Vielleicht hat sie die Suche aufgegeben und ist nach Hause gefahren.« »Dann aber ohne ihr Gepäck.« Longs Hand beschrieb Kreise in der Luft. »Mr. Frisch –« »Fred.« »Würden Sie mir noch einige Fragen beantworten? Ich weiß, Sie haben zu tun, und ich bin lästig…« Frisch kaute auf der Unterlippe und zupfte gleichzeitig seinen Schnurrbart. »Ich habe nichts zu tun«, bekannte er. »Und ich unterhalte mich gern mit Ihnen. Aber wie ich Ihnen gestern schon sagte, im Grunde kenne ich Liz nicht.« »Meine Fragen sind technischer Natur. Sehen Sie, ich schätze die Bandbreite Ihrer Interessen. Sie verstehen etwas von Methode und haben einen Blick für Menschen. Ich denke mir, Sie kennen Floyd Rasmussen.« »RasTech«, versetzte Frisch prompt, offensichtlich geschmeichelt von Longs Kompliment. »Aber ich kenne ihn nicht. Ich weiß nur einiges über ihn.« »Dann erzählen Sie. Ich kenne ihn zwar, aber ich weiß nichts über ihn.« Frisch holte einmal tief Atem. »Rasmussen. Ein Dynamiker. Auf Draht. Kein Techniker, aber ein Unternehmer erster Ordnung. Hat eine Menge Geld gemacht.«
»Auf eigene Faust?« Frisch nickte. »Er hat in den letzten zehn Jahren mindestens ein halbes Dutzend Firmen gegründet.« »Wieso arbeitete er dann im vergangenen Jahr als Abteilungsleiter bei FSS?« »Na, er hat natürlich auch eine Menge Geld verloren. Seine beiden letzten Geistesblitze schlugen nicht ein; kleine Systeme für kleine Unternehmen.« Frisch starrte aus zusammengekniffenen Augen durch das Fenster seines Ladens auf die Straße hinaus, während er unbarmherzig seinen Schnurrbart bearbeitete. »Aber ich glaube, er selbst hat beide Male keine Verluste erlitten. Nur die Anleger mußten bluten. Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß es schwierig ist, neues Kapital aufzutreiben, wenn man zweimal pleite gemacht hat.« »Aber offenbar ist es ihm gelungen«, bemerkte Long. Er seufzte und murmelte: »Interessant.« Dann fragte er: »Sagen Sie – Fred, was kann es für einen Grund haben, daß eine Bank nur ein halbes Sicherheitssystem ausarbeiten läßt?« Freds Antwort kam ohne Zögern. »Damit die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Das wird häufig so gemacht. Wie zum Beispiel bei den kleinen Plastikkarten, die man heute allgemein benutzt. Verstehen Sie? Angeblich weiß kein Mensch den Algorhythmus, mit dem der Kartencode entweder aus der Kontonummer oder dem Namen des Kunden abgeleitet wird. Das ist so, weil zwei Programmierer ihn ausgearbeitet
haben. Jeder von beiden kennt nur die Hälfte des Programms. Die Banken achten sehr auf eine zufallsmäßige Auswahl der Leute. Sie nehmen beispielsweise einen Mann hier aus der Gegend und einen zweiten aus New York, oder sie setzen zwei oder drei Programmierer aus verschiedenen Sektoren – Industrie, Forschung, Lehre ein.« »Haben Sie schon einmal an einem solchen Projekt mitgearbeitet, Fred?« »Nein, ich nicht.« Er schüttelte den Kopf und ließ den geplagten Schnurrbart los. »Da nehmen die schon andere Leute. Nicht so einen Hansdampf wie mich, der den Kopf voll neuer Ideen hat und die ganze Computerwissenschaft am liebsten als Hobby sieht.« Frisch krauste die Stirn, während er sprach, doch der Ausdruck in seinen Augen, in denen sich der Himmel durch das Fenster spiegelte, blieb vage: fern, nachdenklich, ohne Neid oder Bitterkeit auf andere. Er war sehr jung. Mayland Long fand ihn interessant. »Aber Peccolo hat Sicherheitssysteme entwickelt. Einen Auftrag übernahm er, während ich in Stanford war. Das weiß ich noch. Von der North Bay Savings Bank.« Long beugte sich etwas vor. »Während Sie in Stanford waren. Das muß – hm – ungefähr zwei Jahre her sein, wie? Wenn man bedenkt, daß Sie erst vor zwei Jahren von der Universität abgegangen sind, haben Sie es zu einigem gebracht. Dieser Laden voll teurer Spielsachen, Kontakte in allen Bereichen der Elektronik…«
Frisch legte die Hände hinter seinen Kopf und lehnte sich zurück. »Hm, ja, stimmt wahrscheinlich. Der Laden hier? Ja, der ist schon was Besonderes.« Frisch stand auf und nahm die Reihe von Bildschirmen vor sich in Augenschein. Einige waren staubig, andere voller Fingerabdrücke. Er wandte sich dem Regal mit den Fachzeitschriften zu und trat dann an den Ladentisch, wo unter Glas Schachteln mit Zubehör- und Bauteilen standen, Rollen farbiger Kabel und kleine Chips lagen, die wie tote Asseln auf dem Rücken aussahen. »Nur verkaufe ich leider kaum was. Ich führe immer nur interessante Gespräche.« Long lachte. Dann aber verneigte er sich mit aneinandergelegten Händen vor Frisch. »Mögen Sie noch viele solche Gespräche führen«, sagte er, »und mögen Sie für die Menschen, mit denen Sie sie führen, von gleichem Wert sein.« Danach verabschiedete er sich. Als die Tür hinter ihm zufiel, neigte sich Fred Frisch über das Schaltbrett und drückte auf den Knopf. Das Bild geriet wieder in Bewegung. Die Angreiferkolonie stieß mit der kleinen pulsierenden Kolonie zusammen, und ein besonderer Lichtpunkt erlosch. Es wurde von niemandem beobachtet, den das interessiert hätte. 6 Im Norden hingen Wolken über der Stadt. Sie
verdunkelten den Rückspiegel, während Mayland Long der späten Nachmittagssonne entgegenfuhr. Sie erinnerten ihn daran, daß es langsam Herbst wurde. Und mit dem Herbst kam der Regen. Er holte tief Atem und stieß die Luft langsam wieder aus. Er hatte für Regen nichts übrig. Doch er wußte, daß dem Wasser bestimmt war, am Ende zu siegen. Zumindest am Ende des Menschen. Kein Grabgewölbe und kein Mausoleum konnten Nässe und Feuchtigkeit ewig abhalten, und selbst Asche löste sich in Wasser auf. Doch nicht philosophische Überlegungen dieser Art waren schuld daran, daß er mit düsterer Miene in den Spiegel sah, während er im Schatten der Bäume durch die Alma Street nach Süden fuhr. Er parkte den Wagen so, daß er vom Firmengebäude der RasTech aus nicht gesehen werden konnte, und schlenderte die Straße hinunter. Die Mathilda Avenue war breit und von Verkehr überlastet. Das Land zu ihren beiden Seiten war – wie das ganze Tal – eben und trocken, mit Mühe der Wüste abgerungen. Ein schändlicher Sieg in Mayland Longs Augen. Die Betonbauten rundum deprimierten ihn; sie schienen aus einem Niemandsland emporzuwachsen, phantasielose Kästen und Zylinder, denen man nicht einmal einen Farbanstrich gegeben hatte. Zu jedem dieser lieblosen Gebäude mit den kahlen Fassaden gehörte ein kleines, sorgsam gehütetes Stück Rasen und ein riesiger Parkplatz. Der einzige andere Grünschmuck der Straße bestand aus einem gelegentlichen mit Efeu bewachsenen Beet und einigen jungen Olivenbäumen, die an
der Ecke, wo eine wuchtige Holztafel mit der Aufschrift ›Industriepark Sunnyvale‹ stand, ums Überleben kämpften. Der Bau, in dem die RasTech ihre Büros hatte, war bis auf die Betonpfeiler, die seitlich der Fenster im Erdgeschoß hervorsprangen und vor der Eingangstür eine Art Veranda bildeten, so charakterlos wie ein Schuhkarton. Das Gelände bot kaum Möglichkeiten zum Verstecken. Dennoch gelang es Mayland Long, sich beinahe unsichtbar zu machen, indem er in den schrägen Nachmittagsschatten des Vordachs über der Haustür trat und dort reglos stehenblieb. Hinter ihm stieg die glatte Hauswand in den Höhe. Zu seiner Linken war der Türvorsprung. Vor ihm stand ein von Efeu überwuchertes Spalier. Seine Kleidung war dunkel; seine Haut und sein Haar ebenfalls. Die Schatten wurden langsam länger. Leute kamen aus dem Gebäude – es war fast fünf Uhr. Bei RasTech war nur ein geringer Teil der Angestellten beschäftigt, die das Gebäude verließen und zum Parkplatz liefen oder auf dem gepflasterten Weg vor der Tür noch einen Moment stehenblieben und frische Luft schöpften, ehe sie sich in das Getümmel des Berufsverkehrs stürzten. Long musterte sie aus dem Schatten seines Verstecks; er hatte sehr gute Augen. Er wartete auf Rasmussen, obwohl er wußte, daß er vielleicht sehr lange würde warten müssen. Er wollte Informationen vom Präsidenten von RasTech, dem letzten bekannten Auftraggeber Elizabeth Macnamaras. Er glaubte nicht, daß er diese Informationen auf Anfrage bekommen würde. Deshalb hatte er vor, ihm zu folgen. Mayland
Long war müde. Abgesehen von den wenigen Stunden Schlaf im Sessel an diesem Morgen, war er nun seit drei Tagen wach. Hungrig war er auch, da er seit dem gemeinsamen Mittagessen mit Martha am Vortag nichts mehr zu sich genommen hatte. Die Art und Weise, wie sein Körper zweidreimal am Tag Nahrung verlangte, ärgerte ihn. Doch den Schlaf nahm er ernst. Er schlief gern, und er würde heute nacht schlafen müssen, sonst würde sein Geist ihm den Dienst versagen. Das sagte er sich, während er im Schatten stand und Wache hielt. Drei Frauen in engen Hosen kamen aus dem Haus. Sie unterhielten sich auf spanisch. Mit halbem Ohr folgte er ihrem Gespräch. Dann kam ein Mann allein; zu hager für Rasmussen. Danach erschien eine junge Frau. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und blieb unschlüssig auf dem Treppenabsatz stehen. Sie war groß und blond und trug ein streng geschnittenes Kostüm aus marineblauem Gabardine. Sie blickte nach rechts und nach links, als könne sie sich nicht erinnern, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Mayland Long trat einen Schritt aus dem Schatten und erstarrte. Sie hatte wunderschönes glattes Haar und eine Kinnpartie, die von Entschlossenheit und Energie zeugte. Und sie hatte die blauen Augen ihrer Mutter. Sie war größer, ja. Nicht so zierlich. Höchstwahrscheinlich war Martha Macnamara nie so schön gewesen. Und wahrscheinlich war sie auch niemals so von stummer Angst gefoltert gewesen. Das Gesicht,
das Mayland Long von der Seite sah, war weiß und schweißfeucht. Nur mit Mühe verbarg es eine furchtbare Angst. Die vollkommen gezeichneten Lippen bebten. Er sah diese junge Frau und sah zugleich Martha, deren Art ihm zuzuhören ihm mehr entlockt hatte, als er zu wissen geglaubt hatte, die ihm gesagt hatte: »Das ist eine Rose« und damit alle Schranken in seinem Leben durchbrochen hatte, und sein Zorn flammte wieder auf. Mit einer Hand griff er in das Holzspalier, das vor ihm stand. Holz splitterte. Sie ging zur Straße. Zwischen hupenden Autos hindurch, die rücksichtslos den Ausfahrten zustrebten, eilte sie über den Parkplatz. Sie kletterte die grasbewachsene Böschung hinauf und hatte die Straße erreicht. Mayland Long folgte ihr. Er trat aus dem schützenden Schatten und glitt unbemerkt durch die Gruppen schwatzender Leute vor der Tür. Er verfolgte Liz Macnamara in einigem Abstand. Sie blieb neben einem weißen Mercedes stehen und ging dann um den Wagen herum zur Fahrerseite. Mayland Long, der ein ganzes Stück entfernt stand, lächelte, als er sich Martha am Steuer dieses Wagens vorstellte. Dann machte er kehrt und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Sie verriegelte die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Augenblicklich wurde das Zittern heftiger. Sie biß sich auf die Unterlippe, bis sie ihren Körper wieder in der Gewalt hatte. Sie hörte das Plätschern des Brunnens im Hof und ging zum Wohnzimmerfenster. Sie schlug
mehrmals mit dem Handballen gegen den unteren Rahmen, um das Fenster hochzuschieben. Kühle Luft, die leicht nach frischem Wasser roch, wehte ins Zimmer. Das wohlgepflegte Gras im Hof bewegte sich mit silbrig grünem Schimmer. Möwen hockten am Brunnen. Sie hörte das Schlagen ihrer Flügel. Liz hatte einmal eine Geschichte von einem Land gehört, wo man Gänse als Hüter und Wächter eingesetzt hatte, damit sie vor Eindringlingen warnten. Wo war das gewesen? In Griechenland? Würden diese Möwen anfangen zu schreien, wenn eine der Wohnungen hier überfallen werden sollte? Sie sah zu dem Weg hinunter, der sich zwischen den Rasenflächen hindurchschlängelte, und blickte auf die Schindeln der Hausmauer. Schließlich wandte sie sich ab und ging vom Fenster weg. Sie öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und legte ihr Kostüm ab. Mit der Sorgfalt täglicher Gewohnheit hängte sie es über einen Bügel. Aus der Schublade der Kommode nahm sie eine Blue Jeans und schlüpfte hinein. Dazu zog sie ein TShirt an. Dann warf sie sich auf ihr Bett. Fünf Minuten lang schüttelte herzzerbrechendes Schluchzen ihren Körper, während das Bett sie wiegte und schaukelte. Dann brach sie abrupt ab. Ganz gleich, wie sehr sie klagte und jammerte, ihre Augen blieben trocken. Sie konnte nicht um ihre Mutter weinen. Sie konnte nicht um sich selbst weinen. Plötzlich fuhr sie mit einem Ruck vom Bett hoch. Hatte sie etwas gehört? Fast eine Minute lang stand sie da und lauschte. Aber warum sollten sie
bei ihr einbrechen? Sie wußten doch, daß das, was sie haben wollten, hier nicht zu finden war. Und so dumm, ihr persönlich etwas anzutun, waren sie nicht. Sie seufzte unterdrückt. Hysterie war nutzlos; sie mußte nachdenken. Mit den Fingern strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Der einzige Gedanke, der ihr kam, war, daß sie durstig war. Barfuß lief sie in die Küche. Sie reichte mühelos zu dem hochhängenden Schrank hinauf. Jahrelang hatte ihre Mutter sich darauf verlassen, daß sie ihr Geräte, wie den Fleischwolf aus dem Schrank über dem Kühlschrank herunterholen würde. Jetzt schloß sie die Finger um eine Flasche Whisky. Nachdem sie sie auf den Holztisch gestellt hatte, öffnete sie den Geschirrschrank, wo die Teetassen in zwei Reihen an kleinen Haken hingen, und nahm ein Glas mit dickem Boden heraus. Sie schenkte ein und kippte den Whisky hinunter, ohne ihn zu schmecken. Eigentlich mochte Liz Scotch gar nicht. Sie schenkte sich einen zweiten Schluck ein und starrte sinnend ins Glas. Nach ein paar Minuten schraubte sie die Flasche zu und ging zum Spülbecken, um das Glas auszugießen. Da hörte sie hinter sich einen Schritt. Nur ein Gedanke durchfuhr sie – daß die Gänse sie im Stich gelassen hatten. Aber es waren natürlich keine Gänse. Es waren ja Möwen. Sie fuhr herum und hob den rechten Arm. Gut gezielt warf sie die Whiskyflasche nach dem Geräusch. Und starrte fassungslos auf die Erscheinung in ihrer Küche: ein elegant gekleideter, dunkelhäuti-
ger Mann mit schwarzem Haar, der die Flasche geschickt auffing; der lächelte und beinahe schüchtern sagte: »Danke. Im allgemeinen trinke ich aus dem Glas.« Liz’ Lunge füllte sich mit Luft, aber der Schrei brach nicht aus ihr hervor. »Mist!« rief sie statt dessen. »Wer, zum Teufel, sind Sie denn?« Einen Moment lang stand er mit gerunzelter Stirn und der Whiskyflasche in der Hand schweigend da. Es war, als erforderte ihre Frage Überlegung. »Ich bin – kein Feind, Miß Macnamara«, antwortete er dann. »Im Gegenteil, ich bin wahrscheinlich Ihre einzige Hoffnung.« »Wer sind Sie?« wiederholte sie mit dünner Stimme – mit Kinderstimme. Dann wurde sie voller, zornig. »Wer sind Sie? Rasmussen sagte kein Wort –« »Rasmussen? Nein, Miß Macnamara, ich vertrete nicht die Interessen Floyd Rasmussens.« Mit Gelassenheit stellte er die Flasche wieder auf den Tisch, während er sie scharf beobachtete. »Wen vertreten Sie dann?« fragte sie, während ihre Hände sich wiederholt ballten und entspannten. »Woher sind Sie gekommen? Wie sind Sie hier rein gekommen?« Liz Macnamara pirschte sich näher an ihn heran, als Verwunderung und Zorn die Oberhand über ihre Furcht gewannen. Mayland Long lehnte sich unbekümmert an den Tisch. »Mein Name ist Long – Mayland Long«, erklärte
er. »Ihre Mutter hat mich geschickt.« Sie kam noch einen Schritt näher. Erregt faßte sie nach Longs Arm, umfaßte seine Hand und hielt sie fest. »Dann ist ihr gar nichts passiert? Dann wird sie also gar nicht festgehalten…« Sie verstummte, als sie auf die dunklen Finger hinuntersah, die die ihren umschlossen. Verwundert betrachtete sie die Hand. Long seufzte. »Doch, es ist ihr leider sehr wohl etwas zugestoßen. Sie ist verschwunden, und wenn man Ihnen gesagt hat, daß sie irgendwo festgehalten wird, so ist das wahrscheinlich keine Lüge.« Der schwache Hoffnungsschimmer auf Liz Macnamaras Gesicht erlosch. Ohne einen weiteren Blick für Long ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich auf das helle Sofa mit dem blitzenden Chromgestell. Stumm starrte sie zum Fenster hinaus. Inzwischen ging er rasch quer durch das Zimmer und zog die Vorhänge zu. Feiner Spitzenstoff filterte das Licht und verbarg sie fremden Blicken von außen. An den weißen Wänden flirrte ein Muster aus leuchtenden Quadraten. Long war beinahe unsichtbar in dem dämmrigen Licht, doch Liz Macnamaras Haut leuchtete wie blaues Glas. Ein leichter Wind bewegte die Vorhänge, und die Lichtquadrate an den Wänden tanzten. Long setzte sich neben Liz auf das Sofa. »Elizabeth, Ihre Mutter wurde entführt, aber sie ist nicht tot. Wir haben keine Zeit zu tiefsinnigem Grübeln.«
Erschrocken sah sie auf. Sie starrte in das fremde Gesicht, das ihrem eigenen so nahe war. »Herrgott noch mal!« flüsterte sie. »Ich kann nicht glauben, daß das alles Wirklichkeit ist.« Sie hatte ein ausdruckstarkes Gesicht, glatt, mit schmalen Zügen. Ein Wikingergesicht. Unterdrückte Wut zeichnete sich darin ab. »Ich habe ihr das angetan – ich!« Er zog die Augenbrauen hoch, während er sich vorsichtig tief in das moderne Sofa sinken ließ. »Ja, das haben Sie leider getan«, pflichtete er ihr mit schrecklich sanfter Stimme bei. Die Seide seines Anzugs raschelte, als er sich ihr zuwendete. »Sie haben mit den großen Jungen gespielt, Miß Macnamara.« Diese Worte durchdrangen Liz’ Angst. Ihr Gesicht straffte sich, und sie richtete sich auf. »Darf ich fragen, was das heißen soll? Warum sollte ich nicht mit den großen Jungen spielen?« Er legte die Hände auf seinem Knie übereinander und überlegte. »Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Sie es nicht tun sollten. Aber bei einem Spiel dieser besonderen Art ruft man nicht die Mama zu Hilfe, wenn etwas schiefgeht. Verstehen Sie?« Liz senkte die Lider. »Sie haben recht. Wie kann ich es erklären? Es kam mir vor wie ein Alptraum, wissen Sie, und Mutter war mir immer so ein Trost, wenn ich früher Alpträume hatte. Meine Mutter hat die Gabe, die Dinge wieder in die richtige Perspektive zu rücken… Sie ist so – Sie hat solches Selbstvertrauen. Ich glaubte, nichts Böses könnte sie berühren.«
Unvermittelt ballte sie die Hände zu Fäusten. »Aber Sie können von alledem nichts wissen. Es sei denn, Sie gehören zu ihnen: zu Rasmussen und Threve. Aber ich verstehe nicht, warum sie Sie geschickt haben. Was wollen sie denn noch von mir? Den Brief besorge ich morgen; heute haben die Banken schon geschlossen.« Mayland Long vermerkte diese verwirrenden Informationen. »Ihre Mutter ist in ihren Stimmungen auch so sprunghaft; schwebt in der Luft wie ein Stäubchen und plumpst dann plötzlich mit krachender Wucht herunter. Ich dachte eigentlich, das wäre Teil ihrer spirituellen Entwicklung, aber vielleicht wurde sie so geboren.« Er sah die Verwirrung und die Ablehnung in Liz’ Gesicht und seufzte. Schweigend blickte er sich in dem kühl möblierten Zimmer um. Liz Macnamaras Zuhause war von eisiger Blässe und voll scharfer Kanten. Die Wände waren nicht cremefarben oder perlgrau, sie waren von einem so reinen Weiß, daß sie einen Blauschimmer zu haben schienen. Auf dem nackten, gebleichten Eichenholzboden lagen wie hingeworfen mehrere kleine kobaltblaue Teppiche. Sie wirkten wie Löcher in glattem Eis. Auf dem Tisch in der Eßnische stand eine Schale aus schwedischem Glas, glatt, durchsichtig, glänzend. Long seufzte. »Wie kann ich Sie nur überzeugen? Lassen Sie mich überlegen… Sie kommen mit Ihrer Mutter nicht sehr gut aus. Sie geht Ihnen auf die Nerven; ruft in Ihnen Schuldgefühle hervor. Sie glauben, daß sie ihretwegen ihre wahre Berufung als Konzertgeigerin aufgegeben hat.«
Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Das haben Sie von Rasmussen erfahren. Ich habe ihm das alles vor langer Zeit einmal erzählt.« Er seufzte wieder, hob die Hand und strich sich mit einem überlangen Finger über den Kopf. Liz starrte diesen Finger fasziniert an. »Haben Sie ihm auch erzählt, daß Ihre Mutter jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht, um Zazenübungen zu machen? Daß sie die Gedichte von John Donne mag? Daß sie einem Menschen zuhören kann, bis die Wahrheit aus ihm hervorquillt? Und manchmal ist es eine Wahrheit, die nie zuvor Wahrheit war.« Liz’ Mund zuckte. Es war, als kaue sie an dem, was Long gesagt hatte. Gewißheit suchend sah sie ihm in das ausdruckslose Gesicht. »Wissen Sie diese Dinge überhaupt von ihr?« fragte er, und seine Stimme verklang. Es war sehr still im Zimmer. Plötzlich sprang Liz auf und ging zum Fenster. Die Vorhänge wirbelten hoch, während sie zu den Möwen am Brunnen hinuntersah. »Wie sind Sie hier hereingekommen?« Er zögerte kurz, ehe er antwortete. »Durch das Fenster.« »Hier?« Sie beugte sich hinaus. »Das sind mehr als drei Meter bis zum Boden«, erklärte sie ungläubig. »Die Mauer ist aus Holzschindeln.« Er verzog den Mund, als zwänge man ihn, über etwas zu sprechen, was er geschmacklos fand. »Nur die letzten anderthalb Meter bestehen aus Schindeln. Der Sockel ist aus Backsteinen.« Als er
den Zweifel in ihren Augen sah, zuckte er mit unverhohlener Gereiztheit die Schultern. »Glauben Sie, was Sie wollen. Ich bin jedenfalls hier. Und mein Hiersein hat einen Grund. Gestern noch war mein Ziel lediglich, Sie ausfindig zu machen, Miß Macnamara. Ich versprach Ihrer Mutter, ihr zu helfen. Jetzt müssen Sie mir bei der Suche nach ihr helfen.« Mit gerunzelter Stirn stand Mayland Long vom Sofa auf; in seinen weichen Tiefen konnte er nicht klar denken. Er schritt durch das Zimmer und setzte sich in einen weißen Korbsessel. Sein Rücken war gerade aufgerichtet. Seine Finger ruhten auf den Armlehnen. »Es ist an der Zeit, daß Sie mir berichten, was Sie wissen«, bemerkte er. Elizabeth setzte sich nieder und starrte an die im Dunkel liegende Wand. »Ich habe mich als Bankräuberin betätigt.« »Das dachte ich mir schon.« In seiner Stimme schwang nüchterner Triumph. Sie warf den Kopf herum, ihn anzusehen. Ihr Haar bildete einen schwach leuchtenden Schein um ihr Gesicht. »Sie dachten es sich? Wie – wie kamen Sie darauf? Was sind Sie? Ein Detektiv? Oder kommen Sie von der Polizei?« Ihre irrigen Vermutungen erheiterten Long, doch Liz sah sein Lächeln nicht. »Nein, Miß Macnamara, ich bin kein Detektiv. Und ich bin auch nicht von der Polizei. Ihre Mutter wollte die Polizei nicht einschalten.« Liz wurde wieder ruhiger, blieb jedoch auf der
Hut wie ein furchtsamer Vogel. »Woher wissen Sie es dann? Wissen Sie auch, wie ich es angestellt habe?« Es war schwierig, Long im Dunklen zu erkennen. Er saß regungslos. »Ich glaube, ja. Als Sie bei FSS tätig waren, arbeiteten Sie für die North Bay Savings Bank ein halbes Sicherheitspaket aus. Die Bank wußte nicht, daß Sie Dr. Peccolo von der Stanford Universität bei der Ausarbeitung der anderen Hälfte geholfen hatten.« Liz schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Von wegen geholfen! Ich habe die ganze Sache ausgearbeitet. Er behauptete, das wäre für mich eine wertvolle Erfahrung.« »Und war es das?« fragte Mayland Long. Seine Zähne blitzten flüchtig auf. Liz stöhnte leise. Als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, schien sie das Licht um sich zu sammeln. Draußen schrien die Möwen. »Ach, Scheiße! Eine Lüge führt zur anderen. Das war Carlos Lüge – daß er das System ausgearbeitet hätte. Es war die erste faule Stelle in der ganzen üblen Geschichte. Ich hatte fast das ganze letzte Jahr meines Studium ein – ein Verhältnis mit ihm. Heimlich natürlich. Er ist verheiratet. Aber während ich an dem Sicherheitspaket arbeitete, machte ich Schluß mit ihm. Ich erkannte, daß er mich ausnutzte und das machte mich wütend, verstehen Sie?« Long antwortete nicht. »Und wie er mich ausnutzte!« fuhr sie fort. »Anfangs hielt ich Carlo für den reinsten Hexer. Er
spielte sich als mein – mein Mentor auf. Er sagte, er würde mich fördern, mich ganz nach oben bringen. Ich wollte auch so hexen können wie er.« Sie prustete voller Verachtung. »Ich war vielleicht naiv.« »Ein Hexer«, wiederholte Long nachdenklich. »Merkwürdiges Wort in Verbindung mit Computern. Ich habe immer wieder festgestellt, daß bei Hexern so viel – Hokuspokus im Spiel ist, und ich kann mir nicht vorstellen, wie man damit in der Computerwissenschaft durchkommen kann. Aber vielleicht ist das wieder meine Naivität. Wie dem auch sei, wenn die Meister in Ihrer Kunst Hexer genannt werden, dann verdienen Sie selbst diese Bezeichnung ganz sicher, denke ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe vieles über Sie gehört, Miß Macnamara. Man hat mir erzählt, daß Sie auf Ihrem Gebiet Hervorragendes leisten. Und jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe, bin ich mit zwei Computerhexern bekannt.« Long lachte leise. Sie kämpfte gegen Eitelkeit und Neugier an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete sie unwillig. »Ich sagte Ihnen, ich bin nicht –« »Ich meine gar nichts«, versetzte Long. »Erzählen Sie weiter. Sie sagten niemandem etwas davon, daß Sie und nicht Peccolo das System ausgearbeitet hatten? Nicht einmal später, als Sie so – verbittert und wütend waren?« »Er wußte es ja. Das genügte.« Ihre Stimme war ein Zischen. Sie stand auf und ging einige Schritte auf Long zu. In dem schwachen Licht, das durch das Fens-
ter hereinsickerte, blieb sie stehen. Ihre Gestalt war nur eine Silhouette im Dunkel, doch der Triumph in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ich wußte, daß er es wußte. Und er konnte niemals sicher sein, ob ich es nicht jemandem erzählt hatte. Ich ließ ihn schmoren.« Mayland Long setzte sich in seinem Sessel ein wenig auf. »Eine subtile Art der Rache.« Sein Tonfall war leidenschaftslos. »Aber Rasmussen sagten Sie die Wahrheit.« »Ja. Weil ich mußte. Als Floyd mir im vergangen Winter den Auftrag der Bank anvertraute, erklärte ich ihm, warum ich ihn nicht übernehmen konnte. Er reagierte großartig. Er lobte mich über den grünen Klee wegen meiner Integrität und ging. Ich dachte, es sei alles gelaufen, und er würde sich jemand anderen suchen. Aber schon am nächsten Tag kam er wieder und meinte, er hätte niemanden, der das Projekt übernehmen könne, und die Abteilung könne sich einen solchen Vertrag einfach nicht entgehen lassen. Er versicherte, die Tatsache, daß ich ihm reinen Wein eingeschenkt hatte, sei Beweis genug, daß man mir ruhigen Gewissens die Verantwortung übertragen könne. Die einzige echte Absicherung im Leben sei persönliche Integrität, salbaderte er. Die Bank habe Vertrauen zu FSS, und FSS habe unbedingtes Vertrauen zu mir. Während ich an dem Programm arbeitete, machten wir noch unsere Witzchen darüber, was für eine Macht ich über all die kleinen Geldautomaten an jeder Straßenecke hätte; daß ich sie mit einem Federstrich dazu bringen
könnte, eines schönen Samstags punkt zwölf Uhr mittags in ganz Oakland Zwanzig-Dollar-Scheine am laufenden Band auszuspucken. Daß die ganze mächtige Bundesversicherungsbehörde von mir abhing. Daß ein falsches Zweigprogramm die gesamte Chefetage veranlassen könnte, sich aus dem zehnten Stock zu stürzen. »Ich kam mir wirklich toll vor«, flüsterte sie. »Es waren zwei herrliche Monate.« Liz griff mit einer Hand nach dem Vorhang und lehnte den Kopf an die Wand. »Und ich arbeitete ein echt gutes Stück Software aus. Keiner hätte es entschlüsseln können. Keiner – außer mir.« Mayland Long streckte einen Arm aus und knipste eine Lampe an. Im weichen gelben Licht sah Liz Macnamara wunderschön aus. Ihre Gliedmaßen betonten die gertenschlanke Anmut ihres Körpers. Ihr Haar war wie flüssiges Glas. Doch die angespannten Hände, die sich in den Stoff des Vorhangs krampften, waren wie die ihrer Mutter, kantig und gewöhnlich. Long brach das Schweigen. »Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Vater, Miß Macnamara.« Sie hob erstaunt den Kopf und blinzelte. »Weshalb? Ich habe ihn seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Er ist für diese Geschichte ohne Belang.« Er legte die langen Hände auf seine charakteristische Weise zu einem spitzen Giebel aneinander. »Ich behalte mir das Recht vor, belanglose Fragen zu stellen. Auch unverschämte. Sie brauchen
sie selbstverständlich nicht zu beantworten.« »Mein – mein Vater heißt Lars. Neil Lars. Ich lehne es ab, seinen Namen zu tragen. Er war Bläser. Ist es wahrscheinlich immer noch, wenn er noch lebt.« »Bläser?« »Ja«, bestätigte Liz mit einer vagen Geste. »Er war Flötist, aber er spielte auch andere Blasinstrumente, recht und schlecht Oboe, auch Klarinette. Er verließ uns, als ich noch sehr klein war. Er hat mit dieser Geschichte hier nichts zu tun.« »Sind Ihre Eltern geschieden?« bohrte Long hartnäckig weiter. »Ja. Mutter ließ sich in seiner Abwesenheit von ihm scheiden. Wegen böswilligen Verlassens. Er nahm ihr ganzes Geld mit, als er abhaute. Sie sagte immer, es wäre alles ›wie weggeblasen‹.« Long nickte. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Das ist typisch. Erzählen Sie mir mehr, Miß Macn, – Elizabeth. War Ihr Vater ein großer Mann? Blond? Mit langen Gliedmaßen?« Sie nickte verwundert. »Er war sehr groß, ein phantastisch aussehender Schwede. Und er wußte genau, wie gut er aussah.« »Warum hat Ihre Mutter nie wieder geheiratet?« Ein Lichtstrahl fing sich plötzlich in Longs Augen, und sie leuchteten auf wie blankes Messing. Liz trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hatte sie einfach zuviel um die Ohren. Ich bin froh, daß sie es nicht getan hat. Alle Männer, die sie kannte, waren Versager, und ihre Musik ist wichtiger… Warum fragen Sie?« Long lächelte über ihre Verwirrung.
»Ich möchte alles über Ihre Mutter wissen. Es kann uns vielleicht helfen, sie zu finden. – Aber ich habe vorhin eine sehr interessante Geschichte unterbrochen. Sie arbeiteten also die zweite Hälfte des Sicherheitsprogramms aus und gaben es an Rasmussen weiter.« Sie nickte. »Dann wollte er einen Printout des Programms sehen, das ich für Carlo erstellt hatte. Behauptete, er wolle sehen, was der alte Narr daran auszusetzen gehabt hätte. Ich hätte eigentlich keinen haben dürfen – einen Printout des Codes, meine ich –, aber ich besaß trotzdem einen. Ich hatte ihn nur aus Wut auf Carlo behalten. Er war chaotisch; keine Struktur, keine Erklärungen. Das ist an sich nicht mein Stil, aber als ich das Programm ausarbeitete, habe ich mit allen möglichen Tricks gearbeitet, weil ich wußte, daß ich keine Anerkennung für die Arbeit ernten würde. Carlo verstand nichts von dem, was der Printout enthielt. Ich glaube, keiner außer mir konnte das. Aber er hatte nicht die Zeit, das Programm neu zu erarbeiten, deshalb mußte er sich blind auf mich verlassen und hoffen, daß es in Ordnung war.« »Sie sind wirklich raffiniert«, bemerkte Long. »Und diesen unverständlichen Printout gaben Sie dann Rasmussen?« »Ja. Ich erklärte ihm, warum ich ihn so abgefaßt hatte, und er fand das einen unheimlich guten Witz. Dachte ich. Er war es dann, der auf die Idee kam, einen Wurm in das Programm einzubauen und zu sehen, ob jemand es bemerken würde.« »Was für einen ›Wurm‹?« Liz ging zum Sofa. Sie nahm eines der Kissen
und drückte es fest an sich. »Ich zauberte eine falsche Kontonummer, die der Bank jeden Monat tausend Dollar abknöpfte. Rasmussen sagte, wir sollten das einfach so laufen lassen und zusehen, wie der Betrag auf dem Konto sich vergrößerte, bis es jemandem auffiel. An diesem Punkt war es noch kein Diebstahl. Wir hoben das Geld nicht vom Konto ab. Wir ließen es darauf liegen.« »Und es fiel niemandem auf?« Elizabeth hob den Blick von dem Kissen. »Doch. Es fiel Dough Threve auf. Er arbeitet bei der North Bay Savings Bank in der Datenverarbeitung. Er entdeckte das falsche Konto, aber er ist kein Analytiker und konnte den Code nicht entschlüsseln, um festzustellen, was da los war. Er suchte also Rasmussen auf, und ich vermute, da ließ Floyd die Katze aus dem Sack.« »Erkannte Threve – das – nun das Belustigende an der Situation?« Unversehens flog das Kissen durch das Wohnzimmer und riß ein Bild von der Wand. »Was meinen Sie wohl? Ha! Sie haben ja keine Ahnung, wie gut wir uns alle verstanden, Threve, Rasmussen und Macnamara! Die drei lustigen Bankräuber.« Sie sprang auf und schüttelte die Fäuste. Ihr Haar verhüllte wie ein Schleier ihr Gesicht. Mayland Long räusperte sich. »Herkneth, felowes, we thre been al ones, Lat ech of us holde up bis band til other, And ech of us bicomen otheres brother.«
Diese Worte rissen sie aus dem Gewittersturm ihrer Gedanken. »Was haben Sie gesagt?« »Das war Chaucer. Hört, Burschen, wir waren alle drei allein, soll jeder dem anderen die Hand reichen und jeder des anderen Bruder werden. Eine üble Angewohnheit, ich weiß, das Zitieren.« »Es klang wie Holländisch.« Elizabeth ging durch das Zimmer zu dem heruntergefallenen Bild. Glas klirrte. Er schätzte sorgfältig ihre Stimmung ein, ehe er wieder sprach. »Aber ich habe wieder unterbrochen. Auch so eine schlechte Angewohnheit von mir. Kann ich davon ausgehen, daß es Mr. Threves Einfall war, sich den Gewinn aus diesem kleinen Aderlaß zu teilen? Lieferte er die nötigen Papiere für das falsche Konto? Unter wessen Namen?« »Der Name lautete Ima Heller«, erklärte sie widerwillig. »Der Name steht auch auf Ihrem Briefkasten«, bemerkte Long. »Richtig. Es ist der Name, auf den ich diese Eigentumswohnung gekauft habe. Mit dem Geld von ›meinem‹ Konto bei der North Bay Savings Bank. Ich war in letzter Zeit sehr häufig Miß Heller. Da das Konto auf den Namen einer Frau lief, brauchten wir natürlich eine Frau für die persönlichen Auftritte. Und zur Übernahme des Risikos selbstverständlich. Aber das ging mir erst später auf. Können Sie sich vorstellen, daß ich da mitgemacht habe?« fragte sie rauh, die muschelförmig aneinandergelegten Hände voller Glasscherben.
Long hielt die Hände vor sein Gesicht und betrachtete sie. »Wie kann ich es bezweifeln, wenn Sie mit solcher Aufrichtigkeit darüber sprechen?« Er begegnete ihrem zornigen Blick und hielt ihm lächelnd stand. »Aber, das war nur der Anfang. Wir räumten das Konto ab und verreisten. Hatten eine Menge Spaß. Damals war es noch nicht ernst.« Sie schwieg einen Moment. »Danach zeigte ich Threve, welche Veränderungen er im Programm vornehmen mußte, um mehr abzusahnen. Wir schufen falsche Firmenkonten.« Sie näherte sich dem Sessel, in dem er saß. Die Glasscherben in ihren Händen funkelten, als hielte sie Diamanten. »Im Lauf des letzten Jahres haben wir der Bank zwei Millionen Dollar abgenommen. Ich tat es nie mit bewußtem Entschluß. Ich dachte immer noch darüber nach, ob es recht oder unrecht war, und da hatte ich es schon getan. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, warum.« »Elizabeth«, rief Mayland Long dazwischen. »Sie haben sich an den Scherben geschnitten.« 7 Liz Macnamara hielt eine Hand unter das fließende Wasser. Das Wasser, das in den Abfluß strömte, hatte eine rosarote Färbung. »Das mit dem Brief?« erwiderte sie auf seine Frage. »Das tat ich, als vor ungefähr einem Monat
die ersten Schwierigkeiten auftraten.« »Schwierigkeiten – inwiefern?« Mayland Long stand hinter ihr in der Küche. Zerstreut hob er die Flasche hoch, die er auf dem Tisch hatte stehen lassen. Goldene Flüssigkeit spritzte in die Höhe und rann an der Flaschenwand wieder hinunter. Elizabeth sah es. »Oh, entschuldigen Sie. Wie kann man nur so unhöflich sein! Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Das liegt daran, daß ich durchs Fenster kam. Für Gäste, die durch das Fenster einsteigen, gelten die Anstandsregeln nicht.« Ein Lächeln huschte über sein hageres Gesicht, kein chinesisches, sondern ein sehr englisches Lächeln; scheu und zurückhaltend. »Ja, ich hätte ganz gern einen Schluck von Ihrem ausgezeichneten Scotch.« Der Whisky schwappte leicht auf und nieder. »Ist das nicht hübsch«, meinte Long sinnend. »Wie in Flaschen abgefüllter Sonnenschein. – Und im allgemeinen trinke ich ihn tatsächlich aus dem Glas«, fügte er heiter hinzu. »Lieber Gott, erinnern Sie mich nicht daran. Ich hätte Sie ja umbringen können.« Long schüttelte den Kopf. »So leicht geht das nicht.« Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand, holte ein frisches Glas aus dem Schrank und schenkte ihrem Gast ein. Dabei fiel ihr ein, daß er vielleicht auch hungrig war. »Möchten Sie nicht auch etwas essen?« fragte sie. »Ich habe kaltes Huhn im Kühlschrank…« Sie öffnete die Tür. »Und Baquette. Und Kuchen.«
»Sie sind sehr aufmerksam«, meinte Long mit einem Seufzen. Er setzte sich auf den Küchenstuhl und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Seine Fingerspitzen waren im schwarzen Haar verborgen. Dann seufzte er wieder und hielt das Glas mit dem Scotch nachdenklich ans Licht. »Kommen wir noch einmal auf den Brief zurück«, sagte er. »Als die ersten Schwierigkeiten auftraten…« Sie stellte einen weißen Teller mit einem breiten blauen Rand vor ihn hin. Finnisches Porzellan, erkannte er. So weiß wie ein nordischer Winter. Ein Gedicht von Rupert Brooke fiel ihm ein, in dem von gleißendem weißem Geschirr und wohltuenden weißen Laken die Rede war, von der rauhen Berührung der Decken, von Schlaf… Unwillkürlich schloß er die Augen. Liz Macnamara stand aufmerksam neben ihm, ihren eigenen Teller in der Hand. »Was sagten Sie eben? Nachdem Sie mich nach dem Brief gefragt hatten. War das auch Chaucer?« Long fuhr hoch und öffnete die Augen. »Verzeihen Sie. Nein, das war Rupert Brooke. Ich war mir nicht bewußt, daß ich laut sprach. Ich möchte alles über den Brief wissen.« Er rieb sich energisch die Augen, als wolle er sie für ihren Verrat bestrafen, und blinzelte ein paarmal. In der Mitte des Tisches stand auf einem Untersetzer ein Schokoladenkuchen. Und neben dem Kuchen lag ein geschwungenes, großes Messer mit einem Rosenholzgriff und einer mindestens zwölf Zentimeter langen Klinge.
Das Messer fiel Long auf. Er fand es verwunderlich, daß Liz Macnamara, die ihn vor einer halben Stunde noch für ihren Todfeind gehalten hatte, ihm jetzt schon so weit vertraute, daß sie eine solche Waffe auf dem Tisch liegen ließ. Hatte sie das Messer hingelegt, um ihn auf die Probe zu stellen, nachdem sie selbst sich zuvor heimlich mit einer Pistole bewaffnet hatte? Oder ging sie fatalistisch davon aus, daß er seine eigene Waffe mitgebracht hätte, wenn es in seiner Absicht gelegen hätte, sie anzugreifen? Long beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie sie dasaß: groß, das Gesicht hart, der Rücken kerzengerade. Gehörte sie zu den kühlen Spielernaturen, bei denen es nichts weiter als ein Zug in einem Strategiespiel war, dem Gegenspieler Kuchen hinzustellen und ein Messer dazu hinzulegen? Sie hatte sich an Peccolo für seinen Verrat auf bemerkenswerte Weise gerächt; Long wußte aus persönlicher Kenntnis, daß es Peccolo immer noch schmerzte. Und doch hatte sie sich innerhalb eines Jahres nach dieser Episode wiederum auf übelste Weise manipulieren und ausnutzen lassen. Von Rasmussen diesmal. Ein Lächeln zuckte um Longs Mund. Er sah Liz Macnamara als einen jungen Adler, bei dem die ersten Federn unter dem Daunenkleid hervortraten. Sie war halb rührend, halb gefährlich, linkisch und leicht verletzlich in diesem Stadium ihres Lebens, doch sie versprach stark und kraftvoll zu werden. Vorausgesetzt natürlich, sie überlebte. Und irgendwie war es zu Longs Pflicht geworden,
ihr Überleben zu sichern. Er betrachtete sie und fragte sich, wie es sein mochte, Vater eines Kindes zu sein. Sie begann zu sprechen. »Es ist eine Buchprüfung angesetzt. Für nächste Woche. Threve bekam es mit der Angst zu tun. Ich weiß nicht, warum; er hatte mir die ganze Zeit erklärt, uns könnte überhaupt nichts passieren. Kurz und gut, anstatt sich still zu verhalten, fingen sie an, die Bank wirklich in großem Stil bluten zu lassen. Keine persönlichen Abhebungen mehr. Es lief alles über die Firmenkonten. Sie hoben Hunderttausende von Dollars auf einmal ab. Und das tagtäglich. Ich tobte. Ich sagte, damit würden sie praktisch dafür sorgen, daß wir die Buchprüfung nicht überleben. Daraufhin fuhr Rasmussen mich an, ich solle gefälligst den Mund halten, ich hätte sowieso nichts mehr zu melden. Ima Heller würde nicht mehr gebraucht. Und er sagte außerdem, es wäre nicht sehr lustig, dauernd ein nörgelndes Weibsbild um sich herum zu haben.« Sie sprach den Satz mit eiserner Ruhe. Der Hühnerflügel in ihrer Hand splitterte knackend. »Floyd war immer schon ein ›wandelnder Schweinebraten‹.« Augenblicklich warf sie Long einen schuldbewußten Blick zu. »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen.« »Warum sollte mich das vor den Kopf stoßen?« versetzte er. »Mir ist auch schon aufgefallen, daß Mr. Rasmussen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Borstenvieh hat. Sowohl in körperlicher als auch in charakterlicher Hinsicht. Außerdem hat er ein unangenehmes Lachen. Bitte erzählen Sie weiter.« »Ja, also, da schrieb ich den Brief und hinterlegte ihn in meinem Schließfach. Darin erläuterte ich alles, was ich Ihnen eben erzählt habe. Den Schlüssel gab ich Ellie Haig von Surber und Haig. Sie ist meine Anwältin. Ich rufe sie jeden Montag an, um mich zu melden. Sollte ich einmal nicht anrufen, dann öffnet sie das Schließfach, in dem der Brief liegt. Er ist an die Polizei adressiert.« »Ich verstehe. Und Sie berichteten Rasmussen von dem Brief.« »Das war doch meine Trumpfkarte. Ich dachte, solange ich den Brief hätte, könnte er mir nichts anhaben.« Long nickte. Er riß ein Papier von der Küchenrolle ab und rieb sich zerstreut die Finger ab. »Ja, das klingt ganz vernünftig. Warum hielten Sie es dann für nötig, Ihre Mutter zu Hilfe zu rufen?« »Ich hatte Angst.« Sie fröstelte. »Sobald ich den Brief erwähnte, wurde Threve – ekelhaft.« Long zog die dunklen Brauen hoch. »Sie hätten doch einfach verreisen können.« »Und wäre spätestens bei der Buchprüfung m der Bank ins Gefängnis gewandert. Ich bin doch die naheliegende Verdächtige. Ich meine, sobald die Polizei Carlo unter Druck setzt, würde er alles ausplaudern. Und dann wäre es vorbei mit mir. Nicht Doug oder Floyd würde es treffen, sondern mich.
Oh, ich weiß, ich hätte selbst zur Polizei gehen und ein Geständnis ablegen sollen«, fuhr sie hastig fort. »Aber ich hoffte immer, ich würde einen Weg finden, um vorher alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich habe nicht so viel von dem Geld ausgegeben, wissen Sie – nicht wie Floyd, der sich eine Jacht gekauft hat, oder wie Doug mit seiner Cessna und seinen Partys. Mit ein paar Jahren Arbeit könnte ich den Schaden wiedergutmachen. Ich habe Angst vor dem Gefängnis.« »Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Menschen, der Angst hat«, bemerkte Long. Sie sah ihn an. »Ich weiß. Ich kann meine Angst einfach nicht zeigen. Ich habe es noch nie gekonnt. Ich kann die größte Scheißangst haben – so wie jetzt –, aber ich wirke immer nur sauer.« Liz machte ein finsteres Gesicht, während sie das Fleisch vom Flügelknochen nagte. »Tut mir leid, wenn meine Ausdruckweise Sie schockiert. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.« »Es gibt keine Ausdrucksweise, die mich schockiert«, erwiderte er. »Hauptsache, sie ist nicht langweilig. Aber, als ich Sie das erstemal sah, Elizabeth, merkte ich Ihnen die Angst ganz deutlich an.« »Vorhin, als Sie kamen? Naja, da haben Sie mich aber auch teuflisch erschreckt.« »Nein, ich sah Sie das erstemal draußen vor Rasmussens Büro. Ungefähr vor einer Stunde. Ich bin Ihnen dann hierher gefolgt.« Einen Moment lang starrte sie ihn verblüfft an. »Was hatten Sie denn bei RasTech zu tun?«
Er rieb sich das Fett von den Fingern, während er ihr antwortete. »Ich stand im Gebüsch und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Ich erwartete, daß Floyd Rasmussen erscheinen würde. Statt dessen tauchten Sie auf. Das war eine erfreuliche Wendung, Elizabeth.« »Liz. Ich kann Ihnen erklären, warum ich in dem Moment so schlimm aussah. Floyd hatte mir gerade mitgeteilt, daß Threve meine Mutter in seiner Gewalt hat und« – Liz brach ab und atmete schwer. Ihre Hände verkrampften sich. – »sie sie umbringen, wenn ich nicht morgen vormittag mit ihnen zur Bank gehe.« Longs dunkles Gesicht blieb ruhig. »Morgen vormittag«, wiederholte er. »Ich wußte nicht, daß wir so wenig Zeit haben. – Was glaubten Sie eigentlich, wie die Anwesenheit Ihrer Mutter ein Verbrechen ungeschehen und zwei Verbrecher kampfunfähig machen könnte?« Sein Ton war milde, nur Neugier schwang in ihm, und er sah Liz nicht an, während er sprach. »Wenn Sie meine Mutter kennen würden, brauchten Sie diese Frage nicht zu stellen. Aber ich erwartete gar nicht, daß sie das Verbrechen – ungeschehen machen würde. Ich wollte mich ihr nur anvertrauen, ehe ich zur Polizei ging. Ich wußte, daß sie zu mir stehen und moralische Unterstützung geben würde. Zuerst wollte ich nach New York fliegen und dort mit ihr reden, aber ich fürchtete, meine Reise würde Floyd und Doug stutzig machen und sie würden verschwinden, noch ehe ich zur Polizei gehen konnte. Und das
hätte einem freiwilligen Geständnis viel von seiner Wirkung genommen. Ich meine, wenn man festgestellt hätte, daß meine Komplizen mich bereits im Stich gelassen hatten und getürmt waren.« Liz schauderte. »Als ich letzte Woche meine Mutter anrief, wußte ich nicht, was für – Ungeheuer die beiden sind.« »Keine Ungeheuer, Elizabeth«, murmelte Long. »Schlicht und einfach Verbrecher.« »Kurz und gut, ich sagte mir, wenn ich meiner Mutter schon solchen Kummer machen müßte, dann wollte ich ihr wenigstens ein bißchen Luxus gönnen. Im Grunde genommen war das unsinnig, weil es meiner Mutter völlig schnuppe ist, ob sie auf Satin oder Sackleinen schläft; aber ich schickte ihr zweitausend Dollar und sagte ihr, sie solle erster Klasse hierher fliegen. Ich reservierte ihr für zwei Wochen ein Zimmer im elegantesten Hotel, das ich finden konnte. In der Stadt, meine ich, nicht hier draußen. Ich wollte sie nicht in der Nähe von Floyd und Doug wissen. Ich erklärte ihr, daß ich mit ihr reden müßte. Ich sagte ihr nicht, daß ich Angst hatte.« »Das war gar nicht nötig«, entgegnete Mayland Long. Er sprach so sanft, daß sie aufmerksam wurde und ihn ansah. Mayland Longs Gesicht hatte einen goldenen Schimmer. In seinen Augen blitzten goldene Lichter. Seine linke Hand bewegte sich in einer Wellenbewegung, als folge sie dem Muster in einem Teppich, das nur er sehen konnte. »Ihre Mutter kann Zeichen in der Luft lesen«, sagte er. »Die Winde sprechen zu ihr. Sie wußte,
daß Ihnen etwas sehr Schlimmes widerfahren war, und das ist der Grund, weshalb sie – mir erlaubte, ihr bei der Suche nach Ihnen zu helfen.« Sein Arm blieb reglos in der Luft hängen. Er sah Erinnerungen: ein blaues Kleid, blaue Augen. Liz gewahrte eine merkwürdige und unerwartete Schönheit in den Worten des Mannes und in dem Mann selbst. Sie wischte die Tränen fort, die die Angst allein nicht hatte hervorbringen können. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf. Seine Augen waren zusammengekniffen. Er dachte nach. Liz sah neugierig zu ihm auf. »Wo hat meine Mutter Sie aufgestöbert?« »Auf einem Regal«, antwortete er, mit seinen Gedanken woanders. »Meine Verwicklung in Ihre Schwierigkeiten verdanke ich dem Geschenk, das Sie Martha – das Sie Ihrer Mutter sandten.« Sie schüttelte den Kopf, da ihr unbegreiflich war, wie ein paar tausend Dollar den Mann, der hier vor ihr stand, herbeizitieren konnten. »Wenn Sie nur meine Mutter vor diesen beiden Halunken retten! Ich werde mein Leben lang schuften, um Sie zu bezahlen. Ich werden Ihnen alles geben, was ich habe. Ich werde alles tun.« Er wurde nur langsam gewahr, daß sie sprach. Seine strahlenden Augen sahen ihr forschend, verwundert ins Gesicht, ohne daß er ihren Worten folgte. Unversehens überkam ihn ein Gähnen. Er warf einen Blick auf die Flasche und lehnte sich mit einem Ellbogen an die Tür des Kühlschranks. »Alles, was ich jetzt brauche«, sagte er, »ist ein dunkles Eckchen. Und ich brauche es nur für einige Stunden.«
»Sie brauchen was? Wozu denn?« Er gähnte wieder. »Ich bin müde. Zu müde, um richtig denken zu können. Es dauerte einige Tage, Sie zu finden, Elizabeth, und in dieser Zeit habe ich nicht viel geschlafen. Heute nacht habe ich zu tun. Es ist eine Aufgabe, die für unsere Zwecke von entscheidender Bedeutung ist und sich am besten nach Einbruch der Nacht erledigen läßt. Bis dahin…« Er trat näher an sie heran und stützte die Hand auf die Rückenlehne ihres Stuhls. »Bis dahin muß ich schlafen. Und da ich nicht die Zeit habe, nach San Francisco in mein Hotel zu fahren, muß ich Sie bitten, mir hier eine Schlafgelegenheit zu überlassen.« »Aber natürlich.« Liz stand auf. »Aber doch nicht in einem Eckchen. Bitte. Lassen Sie mich nur rasch das Schlafzimmer aufräumen.« Sie warf ein benutztes Papiertuch in den Papierkorb und eilte aus der Küche. Entsetzt und fasziniert zugleich starrte er auf das Bett. »Ich – ich habe natürlich von diesen Dingern gehört, aber…« Elizabeth legte eine Hand auf die wogende Matratze, als wolle sie ein großes wildes Tier besänftigen. »Es ist doch nur ein Wasserbett. Es ist wirklich bequem. Und gar nicht kalt.« Als sie sah, daß sein Gesichtsausdruck unverändert blieb, lächelte sie. »Haben Sie keine Angst.« Damit ließ sie ihn allein und schloß die Tür hinter sich.
Er hatte seine Zweifel, doch er war auch sehr müde. Er kleidete sich also aus, legte seine Sachen ordentlich zusammen und gab sich der Umarmung der Wogen hin. Liz hockte die nächsten zwei Stunden am Küchentisch und versuchte nachzudenken. Doch ihre Gedanken rasten hin und her und ließen keine Klarheit zu. Um neun öffnete sie die Schlafzimmertür einen Spalt, um Mayland Long zu wecken. Der eindringende Lichtstrahl fiel auf die Gestalt auf dem Bett. Der Körper war bronzefarben wie eine Statue, und die Haut schien den Körper so straff zu umspannen, daß sie wie gegossen wirkte. Und der Mann lag auch mit der beeindruckenden Gleichgültigkeit einer Statue da. Der eine Arm war nach oben geschwungen und befand sich in einer Linie mit dem schlanken Torso; der geneigte Kopf lag im gleichen Winkel. Der andere Arm, der linke, war vom Körper abgespreizt, und die Finger schienen die Luft zu greifen. In der Pose lag Leidenschaft; Leidenschaft und eine Art von Hingabe, die mit dem Mann, der ihr Abendessen geteilt hatte, kaum vereinbar schien. Mehr diese Haltung als die Tatsache, daß der Schläfer das Laken abgestreift hatte und nackt im Licht lag, veranlaßte Liz, die Tür wieder zu schließen und anzuklopfen. »Danke«, sagte Mayland Long, als er völlig angekleidet zur Tür heraustrat. »Ich bin wirklich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, daß ich auf diesem schwankenden Ding tatsächlich einschlafen würde.« Er warf einen Blick zurück auf die Digitaluhr ne-
ben dem Bett. Dann suchte er in seiner Tasche nach Schlüsseln. »Seien Sie so gut und tun Sie mir noch einen Gefallen. Ich brauche die Adressen von Rasmussen und Threve.« Es versagte ihr fast die Stimme, als sie antwortete: »Müssen Sie sie aufsuchen? Heute abend noch?« »Ja. Aber es ist nicht nötig, daß die beiden Herren mich zu Gesicht bekommen. Einer muß mich zu Ihrer Mutter führen, Elizabeth. Und es muß heute nacht sein.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich komme mit.« Long runzelte die Stirn. »Ich habe drei Tage gebraucht, um Sie zu finden, Elizabeth. Wenn ich Sie wieder verliere…« »Das passiert bestimmt nicht. Ich möchte Sie begleiten. Ich halte es nicht aus, hier allein herumzusitzen.« Sie war fünf Zentimeter größer als Long. Ihre kühlen Augen blickten herausfordernd. »Warum sollten Sie gehen und ich bleiben?« »Ich halte es für wahrscheinlich, daß Rasmussen oder Threve anrufen oder vorbeikommen, um nachzuprüfen, was Sie tun. Wenn Sie dann nicht zu Hause sind, denken sie vielleicht, Sie hätten Ihre Mutter im Stich gelassen und wären geflohen. Oder sie glauben, Sie unternehmen etwas gegen sie, was ja auch stimmen würde. Auf beides würden sie meiner Ansicht nach damit reagieren, daß sie ihre Geisel töten.« Liz biß die Zähne aufeinander und schwieg. Stumm suchte sie Papier und Bleistift aus einer
Schreibtischschublade. »So. Rasmussen wohnt in Santa Clara. Es ist ein großes Haus. Er war mal verheiratet. Threve hat eine Wohnung. Ich habe Ihnen den Weg aufgezeichnet«, erklärte sie, während sie schrieb. Er nahm das Papier, betrachtete es ein paar Sekunden lang und legte es wieder beiseite. »Verbrennen Sie den Zettel«, befahl er. »Und klappen Sie Ihr Adreßbuch zu. Unter keinen Umständen dürfen die beiden Männer erfahren, daß Sie mit mir gesprochen haben.« Liz starrte Long an. Zweifel sprach aus ihren Augen. »Und so wollen Sie einbrechen?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das, Elizabeth? ›So‹?« »Ihr Hemd leuchtet geradezu im Dunklen.« Eine Idee kam Liz plötzlich, und sie erinnerte sich des schmalen dunklen Körpers auf ihrem Bett. »Warten Sie«, rief sie. «Gehen Sie noch nicht weg.« Als sie kurz darauf zurückkam, saß Mayland Long gehorsam noch an seinem Platz. Statt ihrer Jeans trug sie jetzt einen minzegrünen Morgenrock aus Satin. Grün war eine Farbe, die ihr gut stand. In der Hand hielt sie ein Kleiderbündel. »Hier«, sagte sie, »die Sachen sind – geeigneter, glaube ich. Das Sweatshirt ist grau, und Blue Jeans fallen im Dunklen nicht auf.« Er stand auf und protestierte: »Nein.« Er sagte es mit absoluter Entschiedenheit. »Doch. Es geht um meine Mutter«, widersprach sie. Sein Gesichtsausdruck war unnachgiebig. »Und was ist, wenn Sie über einen Zaun klettern müssen? Oder wenn Sie wirklich schnell laufen
müssen? Wenn Threve oder Rasmussen Sie einholen und Sie erschießen oder niederschlagen – finden Sie nicht, daß das ein hoher Preis für Ihre Eitelkeit wäre?« »Eitelkeit?« echote Long. Seine Augen sprühten gelbe Funken. »Ja, Eitelkeit«, beharrte sie. Die Kleider glitten ihr aus dem Arm und fielen zu Boden. »Bitte! Für meine Mutter!« Das verzweifelte Drängen in ihrer Stimme besiegte Mayland Long. »Sie sind Ihrer Mutter so ähnlich«, stellte er seufzend fest, während er sich bückte, um die Kleider vom Boden aufzuheben. »Und ich – ich bin beileibe nicht mehr der, der ich zu Beginn der Woche war.« Er sah die Sachen genau an. »Sie passen bestimmt nicht«, prophezeite er und verschwand wieder im Schlafzimmer. »Doch, sie passen«, rief Liz triumphierend. »Ja, ich muß es zugeben«, antwortete Long. Er schien ein ganz anderer zu sein in den ausgebleichten Jeans und dem Sweatshirt. In der saloppen Kleidung sah er nicht so gesetzt aus wie zuvor und auch nicht so unglaublich kultiviert. Vor allem aber sah er nicht mehr halb so selbstzufrieden aus. Mit der linken Hand zog er am rechten Ärmel, der ihm zu kurz war. »Ich finde, Sie sehen großartig aus«, erklärte Liz, während sie das Ergebnis ihres Einfalls musterte. »Und jetzt ist nichts mehr weiß an Ihnen. – Oh, entschuldigen Sie!« Er lachte. Seine Zähne straften ihre Worte Lügen. »Was hätten Sie getan, wenn ich Rasmussens
Haar und Teint gehabt hätte?« fragte er. »Oder Ihre helle Schönheit«, fügte er hinzu, den Blick auf das Gesicht der jungen Frau gerichtet. »Schuhcreme«, erwiderte sie und lächelte zum erstenmal, seit er mit ihr zusammen war. Er steckte seine Brieftasche in die Jeans. »Ah, weil ich gerade daran denke, Elizabeth.« »Liz.« »Liz. Ja. Sie sollen morgen diesen Brief übergeben. Tun Sie es nicht. Fertigen Sie eine Kopie an und übergeben Sie diese an Rasmussen.« »Das geht nicht. Daran habe ich auch schon gedacht. Rasmussen weiß, daß ich den Brief auf einem 8080 Gerät bei RasTech geschrieben habe. Ich kann mir keine Kopie beschaffen, ohne gesehen zu werden.« Dieses Hindernis hatte er nicht bedacht. Einen Moment lang stand er ratlos da. »Dann muß ich spätestens bei Morgengrauen zurück sein. Wenn ich Ihre Mutter bis dahin nicht gefunden habe, werde ich Ihnen eine Kopie des Briefs besorgen, die Sie dann übergeben können.« »Wie wollen Sie das machen?« »Ich werde eine drucken«, antwortete er zuversichtlich. »Sie – können mit dem System umgehen?« Seine Geste war beruhigend. »Das ist kein Problem. Aber wenn es Morgen wird und ich nicht komme…« »Nein!« rief sie. Dann wurde sie wieder ruhiger. »Was soll ich tun, wenn Sie nicht kommen?« »Dann gehen Sie zur Polizei.«
»Aber dann töten sie meine Mutter! Threve drohte, wenn die Polizei auftauchen sollte –« Sie drückte die Hand fest auf ihren Mund, um das Zittern ihrer Lippen zu verbergen. Mayland Long trat näher an sie heran. Sanft zog er ihren Kopf an seine Schulter. Er fühlte das Beben ihres Körpers. Langsam und deutlich flüsterte er an ihrem Ohr: »Elizabeth, diese Männer haben die Absicht, ihre Mutter zu töten. Nur wenn niemand mehr am Leben ist, der die Wahrheit weiß, können sie hoffen, ungeschoren davonzukommen.« Das Zittern hörte auf. Sie murmelte etwas, was sich undeutlich in den Falten von Longs Sweatshirt verlor. »Ich habe nicht verstanden«, flüsterte er und wurde sich plötzlich der Berührung ihres weichen Haars und ihres warmen feuchten Atems an seiner Wange und seinem Hals bewußt. Liz trat einen Schritt von ihm zurück und machte sich von ihm frei. »Ich sagte, das weiß ich. Sie haben vor, meine Mutter zu töten, sobald sie mich loswerden können. Und das werden sie tun, sobald sie den Brief in ihrem Besitz haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, daß sie jetzt noch am Leben ist. Ich bat darum, mich ihre Stimme hören zu lassen, und Floyd entgegnete, vielleicht später.« »Sie lebt«, behauptete Long. »Davon bin ich fest überzeugt.« Sie unterließ es, ihn um eine Erklärung für seine Gewißheit zu bitten. »Aber was soll ich tun, bis Sie zurückkommen? Ich meine, um zu helfen.«
Er lächelte. »Schlafen Sie, wenn Sie können. Wenn nicht, dann trinken Sie Scotch. Oder beten Sie. Stehen Sie es auf Ihre Weise durch. Ich kann nicht wissen, was für Sie das Beste ist, Elizabeth. Bis morgen«, schloß er und verneigte sich leicht. Er knipste das Licht aus und schob das Fenster zum Hof ganz in die Höhe. Kalter Dunst vom Brunnen wehte mit dem kühlen Hauch herein. Die Möwen, die schlafend im Gras saßen, rührten sich nicht. 8 Martha Macnamara erwachte mit heftig schmerzender Nase. Es war ein Gefühl, als wäre sie seit Wochen verstopft. Ihre Hände waren steif und verkrampft; wahrscheinlich hatte sie auf ihnen gelegen. Und noch etwas anderes bedrängte sie; in ihrer augenblicklichen Verwirrung brauchte sie ein paar Minuten, bis sie dahinterkam, was es war. »Oh!« rief sie. »Ich muß zur Toilette!« Sie öffnete die Augen, aber das, was sie sah, war so unerquicklich, daß sie sie rasch wieder schloß. Die Decke hatte furchtbar häßlich ausgesehen; und sie drehte sich mit rasender Geschwindigkeit über ihrem Kopf. Aber das rührte natürlich nur davon her, daß ihr so schwindlig war, wie damals, als man ihr den Weisheitszahn gezogen hatte. Und der Eindruck von Häßlichkeit mußte eine Folge von Übelkeit sein; Schwindel und Übelkeit gingen immer Hand
in Hand. Aber warum war ihr übel? Warum schwindlig? Und wieso wußte sie nicht, wohin diese Decke gehörte, die sie eben flüchtig gesehen hatte? Diese Decke mit den Dämmplatten und den Neonröhren. Wo bin ich? dachte sie. Wo müßte ich sein? Nicht zu Hause. Ihre eigene Zimmerdecke war verputzt und getüncht und hatte einen Riß, so gezackt wie ein Blitz. Und die Birnen hatten Maispapierschirme. Außerdem wußte Martha, daß sie nicht zu Hause war; sie wohnte im James Herald Hotel. Das aber mit diesem Raum hier nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Die Zimmerdecken im Hotel waren gewölbt und hatten schöne Stuckverzierungen. Sie fühlte sich so elend, daß sie vielleicht im Krankenhaus war. Ja. Sie war auf der Straße ohnmächtig geworden. Jemand in einem schwarzen Auto hatte ihren Namen gerufen… Und jetzt mußte sie unbedingt zur Toilette, ob ihr nun schwindlig war oder nicht. Mit großer Willensanstrengung öffnete sie die Augen. Wie merkwürdig! Sie lag ausgestreckt auf einem Tisch. Um ihre Handgelenke waren bunte Drähte geschnürt, die ihre Arme auf ihrem Bauch zusammenhielten. »Da zur Tür raus und dann links«, sagte ein Mann. Sie suchte den Sprecher. Er lümmelte in einem weißen Regiesessel inmitten eines wüsten Haufens von Zeitschriften. Er war klein mit schwarzem Haar, das glatt nach
hinten gekämmt war und sich an den Ohren kräuselte. Er trug ein weinrotes Hemd, das aufgeknöpft war, so daß man das goldene Medaillon auf seiner Brust sehen konnte. Dazu eine weiße Hose mit einem breiten schwarzen Gürtel. Seine Stimme paßte zu seiner Erscheinung. Martha versuchte, sich aufzusetzen. Es war ein hoffnungsloses Bemühen. »Ohne meine Hände zu gebrauchen, kann ich nichts tun.« Er musterte sie mit einem unverschämten Blick und schleuderte eine Zeitschrift auf den Boden. Dann schlurfte er durch den kahlen Raum zu ihr hin. In der Hand hielt er eine schwarze Stahlzange. Er knipste die dünnen Drähte um ihre Handgelenke durch. »Wenn Sie versuchen sollten, abzuhauen, brech’ ich Ihnen beide Beine«, drohte er, als sie von dem Holztisch glitt. »Außerdem kommen Sie hier sowieso nicht weg.« Das entsprach der Wahrheit. Der Raum, der etwas von einer Scheune an sich hatte, hatte keine Fenster und nur zwei Türen. Die eine bestand aus grüngestrichenem Eisen. Sie hatte ein Schloß und darüber ein Loch, in dem früher die Klinke gesteckt hatte. Die andere Tür stand offen, und als Martha durch sie hindurchging und sich dabei gegen den Pfosten lehnte, weil ihr immer noch so schwindlig war, sah sie, daß dahinter ein kurzer Korridor mit zwei weiteren Türen lag. Die eine sah genauso aus wie die Tür in dem großen Raum, nur hatte sie noch eine Klinke. Die andere war aus Holz.
Sie drückte auf die Klinke der grünen Tür. Sie war abgeschlossen. »Andere Tür«, rief der Mann hinter ihr. Er hatte einen gemeinen Ton an sich, einen Ton, der ein Kind zum Weinen gebracht hätte; einen Ton, dem anzuhören war, daß es dem Sprecher Freude gemacht hätte, ein Kind zum Weinen zu bringen. Martha machte kehrt und ging durch die andere Tür. »Sie sind auf der falschen Fährte«, wiederholte Martha. »Niemand, den ich kenne, hat mehr als vierhundert Dollar auf der Bank.« »Je weniger ich quatschen muß, desto besser für Sie«, knurrte der Mann, während er auf dem Boden herumwühlte. Er hatte sämtliche Zeitschriften durchgeblättert, während seine Gefangene bewußtlos gewesen war. Er hatte nicht darin gelesen, sondern nur die Untertitel unter den Fotos gelesen und sich damit jegliches Interesse an der Lektüre der Artikel genommen. Und nun hatte er nichts mehr zu lesen. »Das haben Sie im Verlauf der letzten Stunde zweimal gesagt. Sie müssen doch inzwischen gemerkt haben, daß mich das nicht zum Schweigen bringt.« Er hob den Blick. »Je weniger Sie quatschen, desto besser geht’s mir«, fügte er hinzu. Martha Macnamara saß nur ein kleines Stück von seinem Sessel entfernt. Gegen die Kälte des Bodens hatte sie sich einen dünnen Stapel Zeitschriften untergeschoben. Sie hatte die Beine ü-
berkreuzt, und ihre Füße lagen auf ihren Schenkeln. Sie saß im Lotussitz. Sie hatte einen großen Teil des Tages in dieser Stellung zugebracht, und jetzt wurde das Tageslicht, das durch die Ritze unter der grünen Tür hereinsickerte, langsam blasser. War wirklich erst ein Tag vergangen seit ihrer Fahrt zur Stanford Universität und ihrem Mittagessen mit Mayland Long in der Teestube? Sie erinnerte sich des Wagens, und wie ein Mann sich lächelnd herausgebeugt und ihre Hand genommen hatte. Sie erinnerte sich der offenen Tür. Wie man sie am Arm gezerrt hatte. Sie erinnerte sich des Taschentuchs mit dem Geruch nach Operationssaal. Deswegen tat ihre Nase so weh, sagte sie sich. Äther oder Chloroform. Oder sonst etwas. Hatte denn niemand das beobachtet? Wo war Mayland gewesen? Er war doch unmittelbar an ihrer Seite gewesen. Er hatte gerade die Blume gefunden und ihr überreicht. So romantisch, aber auch irgendwie albern, auf seine würdevolle, übertriebene Art. Hatten sie ihn auch entführt? Hatten sie ihn vielleicht getötet? Der Gedanke war unvorstellbar. Und was war mit Liz geschehen? Die Angst nahm Martha beinahe den Atem. Liz war der Mittelpunkt, um den sich diese ganze mysteriöse Geschichte drehte. Wenn Martha auch die Ahnungslose spielte und so tat, als glaube sie, man hätte sie entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, wußte sie doch ganz genau, daß ihre Entführung mit den Schwierigkeiten ihrer Tochter zusammenhing. O
Liz, Liz? Was hast du nur angestellt? Und welch schrecklichen Kummer es ihr bereiten würde zu erfahren, daß man ihre Mutter entführt hatte, nur weil sie sie um Hilfe gebeten hatte. Oder gar, daß ihre Mutter tot war. Auf dem Boden blitzten Messingschnipsel. Große, weiche Staubflusen rollten schwebend über den Boden, wenn der Mann wieder eine Zeitschrift zur Seite schleuderte. Abgesehen von dem Tisch, auf dem Martha erwacht war, einem schmutzigen weißen Kühlschrank und dem Regiesessel – ebenfalls weiß, ebenfalls schmutzig –, war der Raum leer. Kein Geräusch drang von der Außenwelt herein. Martha spürte, wie Verzweiflung sich ihrer bemächtigte und sich wie ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte. Sie ließ sie zu und versuchte ruhig zu atmen. Die ersten Regentropfen prasselten gegen die Windschutzscheibe. Long hatte es erwartet, seit der Wind von Norden gedreht hatte. Der Geruch der feuchten Luft löste eine Anzahl wechselnder Bilder in seinem Geist aus – die blanken, schwarzen Felsriffe in den Bergen über Taipei. Alte Augen, von einem Blaufilm überzogen, und ein Mund voll schlechter Zähne, der lachte. Der ihn auslachte, während der Regen herabströmte. Mit einem Kopfschütteln versuchte er, sich von diesen bruchstückhaften Erinnerungen zu befreien. Auf der Schnellstraße war es an diesem Donnerstag Abend um dreiviertel zehn Uhr ruhig, aber die Fahrbahn war glitschig vom ersten Regenguß
der Jahreszeit. Long hielt eine Geschwindigkeit um die 110. Die Neonreklamen von Kneipen und billigen Motels flogen farbsprühend vorüber. Er glaubte, daß Martha noch am Leben war. Er glaubte das ganz fest, aber es vermittelte ihm kein Gefühl der Sicherheit, weil es ein Glaube war, über den er keine Kontrolle hatte. Wenn dieser Glaube plötzlich erlöschen sollte, wie eine Kerze – eine Kerze im Regen… Er holperte in ein Schlagloch, schlitterte über die Fahrbahn und fing den Wagen ab. Seine Überzeugung, daß Martha am Leben war, war kein Gefühl wie sein Zorn, das er prüfen und dauerhaft befinden konnte. Es war vielmehr ein Geschenk von außen, und Long hatte Geschenken nie vertraut. Rosafarbene Wolken von Oleanderblüten schmückten den Mittelstreifen. Longs Gedanken schweiften zu Liz Macnamara. Er dachte an sein Gespräch mit ihr; an ihren Mut und ihre panische Angst, an ihre plötzlichen Stimmungswechsel, an die bemerkenswerten Zugeständnisse, die er ihr beinahe wider Willen gemacht hatte. Sie war ihrer Mutter sehr ähnlich, ja, aber viel heftiger. Und gleichzeitig zerbrechlicher. Er erinnerte sich an den Moment, als ihr Kopf an seiner Schulter gelegen, ihr Haar sein Gesicht berührt hatte. Er war verwirrt, aber nicht von der scheuen Vertrautheit, sondern von seiner Reaktion darauf. Aber so waren die Menschen immer gewesen, von ihrem Weg ablenkbar durch einen Schritt, durch den Schwung eines Mundes, durch einen heimlichen Blick oder duftendes Haar. Sollte er denn anders sein? War er anders? Er war allein
mit dem Zischen nasser Reifen auf nassem Beton. In der Dover Park Avenue schaltete er Scheinwerfer und Motor aus und ließ den Wagen am Bordstein ausrollen. Die Welt war grau und regenverhangen. Er fühlte sich wie auf einer Insel. Er hörte das Rauschen des Regens und lauschte auf andere Geräusche. Sein feines Gehör nahm das gedämpfte Dröhnen von Fernsehapparaten wahr. Es begleitete ihn von Haus zu Haus, während er die Straße hinunterging. Immer dieselbe Stimme. Kein Gespräch. Keine Musik. Regentropfen setzten sich auf sein dichtes schwarzes Haar und auf seine Wimpern. Solange die Luft warm war, war es nicht so schlimm, naß zu werden. An der Ecke, wo Rasmussen wohnte, fehlten Straßenlampen. Unsichtbar glitt Mayland Long die Straße hinunter, und der Regen verschluckte den Klang seiner Schritte. Langsam begann das Haus in der Dunkelheit Gestalt anzunehmen. Weitläufig stand es auf einem niedrigen Hügel, ein wenig abseits von seinen Nachbarn. Ein Schild, das an einem Pfosten an der Straße befestigt war, zeigte die Hausnummer an. Der schräg ansteigende Vorgarten war erst kürzlich mit Rasenstücken abgedeckt worden. Die Narben zwischen den einzelnen Bahnen waren noch nicht verwachsen; roter Lehm schimmerte wie Blut. Kein Blumenbeet, kein Busch, kein Baum störte die glatte Rasenfläche vor dem Haus. Die Tür saß kantengleich in der Mauer des Hauses,
und diese Mauer war weiß getüncht. Die Fenster waren dunkel, aber irgendwo im Inneren des Hauses brannte mindestens ein Licht. Long musterte das alles vom Bürgersteig aus, und sein Seufzen verschmolz mit dem Rauschen des Regens. Von hinten sah das Haus nicht viel anders aus als von vorn, nur leuchtete das Licht hier heller. Mayland Long kauerte sich nieder und stützte sich mit den Händen auf dem nässeglänzenden Bürgersteig ab. Eine Zeitlang prüfte er die Stille. Dann trat er auf den Rasen. Der dicke weiche Teppich aus Wurzelwerk und Halmen fühlte sich angenehm an unter seinen Händen, während er den Hang zum Haus hinauf kroch. Da er nicht wollte, daß seine Silhouette vor der hellen Wand womöglich gesehen wurde, drückte er sich tief ins Gras und robbte langsam an der Mauer entlang. In der hinteren Mauer waren fünf Fenster. Das mittlere hatte Milchglasscheiben; zweifellos das Badezimmer. Drei Fenster waren von gleich hoher, schmaler Form und hatten durchsichtige Scheiben. Schlafzimmer? Aus dem Fenster ganz hinten drang schwacher gelber Lichtschein. Es war breiter als die anderen Fenster. Er vermutete, daß sich dahinter die Küche befand. Diese Mauer stand über einer kleinen Seitenstraße. Gegenüber, auf einem Grundstück, das die Bauunternehmer verwüstet und brachliegen gelassen hatten, wucherte niedriges Gebüsch. Er erhob sich und spähte durch das regentriefende
Glas des Fensters ganz rechts. Dahinter lag ein Schlafzimmer, aber unbenutzt, wie es den Anschein hatte. Die Matratze auf dem schmalen Rahmen war nicht bezogen. An der Wand gegenüber vom Fenster stand ein kleiner Schreibtisch. Kein Spiegel. Vielleicht war es ein Jungenzimmer gewesen. Der Fensterrahmen war neu und hatte einen Riegel. Er blickte durch das Zimmer zur offenstehenden Tür, hinter der er einen Flur mit einer Treppe erkennen konnte. Gegenüber von dem Zimmer lag das Wohnzimmer. Er brummte befriedigt vor sich hin. Auf der anderen Seite des Wohnzimmers, in der gegenüberliegenden Hauswand, war eine Terrassentür. Wieder ließ er sich zum Boden hinunter und robbte weiter zu der Terrassentür. Unter dem Küchenfenster hielt er inne, um zu lauschen. Nichts rührte sich. Irgendwo miaute kurz eine Katze. Vielleicht bei den Nachbarn. Als er die Terrasse erreichte, zog er seine Schuhe aus und wischte sich im Gras die feuchte Erde von den Händen. Weder die Knie seiner Jeans noch sein Sweatshirt waren schmutzig geworden. Endlich stand er auf und warf einen Blick durch das Glas der Terrassentür, die von hellen bedruckten Vorhängen eingerahmt war, in das Wohnzimmer. Die Möbel waren alle vom gleichen Typ: Fichtenholz, schwer und kaum bearbeitet. An manchen Stücken hafteten noch Streifen von Borke. An der linken Wand hing der ausgestopfte Kopf eines Rehs, dessen Blick starr auf die Steine des offenen Kamins gerichtet war. Unter dem
Rehkopf stand ein leerer Zeitschriftenständer auf spindeldürren Beinen. Die Tür war mit einem Riegel abgesperrt. Doch sie war aus kleinen Scheiben zusammengesetzt, die von schmalen Holzleisten gehalten wurden. Mit den Fingerspitzen zog er erst eine dieser Latten hoch, dann eine zweite. Nachdem er die dritte Leiste entfernt hatte, konnte er die quadratische Scheibe herausnehmen. Er griff durch die Öffnung und schob den Riegel zurück. Dann stand er im Zimmer. Es war warm im Haus, und während er sich mit der Hand durch das nasse Haar fuhr und einen feinen Sprühregen freisetzte, wurde ihm bewußt, daß die wenigen Stunden Schlaf nicht ausgereicht hatten. Er war immer noch müde. Und dabei hatte er so viel zu tun. Da Rasmussen offenbar nicht zu Hause war, mußte er versuchen, hier im Haus die Adresse des Ortes ausfindig zu machen, wo Martha festgehalten wurde. Er mußte sie noch in dieser Nacht finden, ehe Threve und Rasmussen Liz’ Brief in die Hände bekamen und die beiden Frauen für sie überflüssig wurden. Und wenn er Marthas Aufenthaltsort hier nicht herausfinden konnte, dann mußte er es bei Threve versuchen. Aber das würde zusätzliche Zeit beanspruchen und das Risiko erhöhen. Er begann seine Suche in dem Raum, in dem er sich befand. Rasch schweiften seine scharfen Augen durch die Dunkelheit. In den barbarisch wirkenden Möbelstücken gab es kaum Schubladen oder sonstige Fächer. Der Kaminsims war leer. Zu Hause schien Rasmussen mehr auf Ordnung zu
halten als in seinem Büro. Aber vielleicht beschäftigte er eine Haushälterin. Ein durchdringendes Fauchen verriet ihm unversehens, daß er nicht allein im Zimmer war. Rasch drehte er den Oberkörper herum und sah eine erschrockene weiße Katze, die mit hohem Buckel und zuckendem Schwanz auf der Treppe stand. Sie fauchte den Eindringling an und hob eine schneeweiße Vorderpfote, als wolle sie ihre Krallen zeigen. Einen Moment lang standen sich Mensch und Katze erstarrt gegenüber. Dann entspannte sich der Mensch. Er ließ sich auf ein Knie hinunter und wandte seinen Blick ab. Ein kehliges Schnurren wie das einer Katze, die sich sehr wohl fühlt, klang durch den Raum. Der Schwanz der Katze hörte zu zucken auf. Die rosa geränderten Augen öffneten sich weiter. Vorsichtig pirschte sich die weiße Katze näher heran. Als die Katze Long erreichte, hielt er ihr seine Hand hin und sie stieß mit ihrem Kopf dagegen. »Ich will dir nichts, du kleiner Kämpfer«, flüsterte er, als seine braunen Augen in grüne tauchten. In diesem Moment flammte Licht auf. Die weiße Katze machte einen wilden Sprung, als Mayland Long herumwirbelte und erstarrte. Er blickte direkt in die Mündung eines Gewehrs. Martha hätte den Mann gern nach Mayland Long gefragt, aber es war möglich, daß der Kidnapper Long gar nicht bemerkt hatte, und wenn das zutraf, würde sie ihn mit ihrer Frage nur in Gefahr bringen. Liz, vermutete sie, steckte schon bis zum
Hals in dieser schlimmen Sache. Der Mann im roten Hemd steckte den Kopf in den alten Kühlschrank, der an der einen Wand stand. Martha sah, daß er auf dem Hosenboden einen Staubfleck von der Form eines auf den Kopf gestellten Herzens hatte. Bierdosen klapperten. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß sie sehr durstig war. »Kann ich ein Bier haben?« fragte sie. »Nein«, gab er mürrisch zurück. Er sah sie dabei nicht an. Diese kleine Gemeinheit erboste sie. »Warum denn nicht, zum Teufel? Sie haben ein ganzes Sechserpaket!« »Das ist mein Bier. Ich habe keine Lust, es zu verschwenden.« Bei diesen Worten spürte Martha mit eiskalter Gewißheit, daß der Kerl fähig war, sie zu töten. Sie hatte Angst vor dem Sterben. Sie war überzeugt, daß jeder, der das Gegenteil behauptete, log oder dem Tod noch nie nahe gewesen war. Doch ihre Angst war zu bewältigen; sie konnte sie aushalten. Aber wenn Liz sterben sollte, ganze vierundzwanzig Jahre alt, gesund und intelligent, nachdem sie in ihrem kurzen Leben so viel Mühsal und so wenig Spaß gekannt hatte… Martha wußte, daß man sie gefangenhielt, weil man sie als Köder brauchte, um Liz in eine Falle zu locken. Aber sie war nicht bereit, sich so mißbrauchen zu lassen. Lieber wollte sie sterben. Oder töten. Sie nahm wieder die Lotusstellung ein, die gefesselten Hände im Schoß, und sah sich in dem
schmutzigen, tristen Raum um, der so leer war wie ein ausgedörrter Totenschädel. Der kleine Mann im roten Hemd kam zu seinem Stuhl zurück. Er rülpste laut. Beinahe unvorstellbar, daß sie erst gestern (oder war es inzwischen schon vorgestern?) Mayland Long am Tisch gegenübergesessen hatte und daß sie beide so getan hatten, als sei die Welt im wesentlichen zivilisiert und wie um eines Spiels willen geschaffen worden. Sie erinnerte sich der funkelnden Lüster des James Herold Hotels. Sie erinnerte sich Mayland Longs eigenartiger, sich unablässig verändernder Augen. Lieber heute sterben und ihn gekannt haben, als vor einer Woche allein in der Augusthitze von New York gestorben zu sein. Und selbst wenn sie in dieser Nacht sterben sollte. Selbst wenn er schon tot sein sollte – die Tatsache, daß er gelebt hatte und der gewesen war, der er war: elegant, zurückhaltend, gütig, mit seinen seltsamen Händen und seiner wunderbaren vollen Stimme. Das bedeutete etwas. Auch daß sie einander begegnet waren, hatte eine Bedeutung, die der Tod nicht auslöschen konnte. Marthas Gedanken versanken in den Tiefen ihrer Seele, und sie wurde ruhig und aufmerksam. Der Mann im roten Hemd starrte sie an, und Mißtrauen lag auf seinen Zügen. Ihre Gelassenheit machte ihm Angst.
9 »Na sowas, das ist ja Mr. Long!« dröhnte Rasmussen mit einem, strahlenden Lächeln. »So eine Überraschung. Und sieht aus, als hätte er unter ‘ner Brücke geschlafen.« Er erhielt keine Antwort. »Konnten Sie sich nicht denken, daß das Haus mit einer Alarmanlage gesichert ist?« Long antwortete nicht gleich. »Das habe ich außer acht gelassen, Mr. Rasmussen«, sagte er dann. »Ich muß gestehen, ich habe Sie unterschätzt.« Naß stand er und blickte mit unnatürlicher Ruhe auf das drohende Gewehr. »Darf ich aufstehen?« Rasmussen spähte über das Zielfernrohr. Auf eine Entfernung von drei Metern war das Zielfernrohr mehr hinderlich als hilfreich. »Aber bitte, warum nicht?« Er trat ein paar Schritte zurück, um zu verhindern, daß Long ihn unterlief. »Und dann können Sie mir sicher erklären, was Sie in meinem Haus zu suchen haben. Unbefugterweise!« Mayland Long richtete sich auf. Seine Bewegungen offenbarten die Steifheit des Alters. »Wir wissen beide ganz genau«, entgegnete er, »daß ich Elizabeth Macnamara suche.« »Ich sagte Ihnen bereits gestern, daß ich nicht weiß, wo sie ist.« Rasmussens Stimme klang schärfer. Long blieb ruhig. »Es liegt wohl auf der Hand, daß ich Ihnen nicht glaubte.«
Der Lauf des Gewehrs bewegte sich ein wenig, als Rasmussen sein Ziel genauer anvisierte. Mit großer Willensanstrengung hielt Long den Blick auf Rasmussens gerötetes Gesicht gerichtet und versuchte, den Abzug zu übersehen. »Ja, das liegt auf der Hand.« Rasmussen schwieg dann, während er sich die Situation durch den Kopf gehen ließ. Dann fiel die Maske der Liebenswürdigkeit von seinem Gesicht ab. Long bemerkte es und verstand. »Ganz gleich, was man Ihnen gezahlt hat, alter Junge, es war nicht genug«, brummte Rasmussen. »Haben Sie die Polizei angerufen, als die Alarmanlage losging?« fragte Long, um Zeit zu gewinnen. »Oder haben Sie die Absicht, ihr ein fait accompli zu präsentieren: die Leiche eines alternden Einbrechers?« Der Gewehrlauf folgte Longs Bewegungen. »Ich habe noch nicht angerufen«, erwiderte Rasmussen. »Vielleicht tu’ ich’s später. Ich bin mir noch nicht schlüssig, was die sauberste Lösung ist.« Rasmussen setzte wieder sein breites Grinsen auf. »Ihnen ist wohl klar, Sportsfreund, daß Sie absolut im Unrecht sind. Ich meine mit Ihrem Einbruch in mein Haus. Im rechtlichen Sinn natürlich.« Mayland Long zog die Brauen hoch. Seine Augen waren unergründlich. »Im rechtlichen Sinn? Und wenn man es aus anderer Sicht betrachtet?«
Das Lächeln schien weiterhin auf Rasmussens Gesicht zu kleben, obwohl es gar nicht angebracht war. »Sie haben mich in die Situation gebracht«, knurrte er, die Wange am schwarzen Metall des Gewehrs. »Und jetzt muß ich das tun. Wenn Sie wüßten, wie unangenehm es mir ist.« Er atmete langsam ein, stieß die Luft wieder aus und hielt den Atem an. Der Schuß explodierte, aber Long stand nicht mehr vor der Mündung. Rasmussens Ausatmen war ihm Signal genug gewesen. Blitzschnell wie eine erschrockene Eidechse sprang er zur Seite und segelte einen Meter über dem Teppich durch die Luft. Dann jagte er die Treppe hinauf und verschwand. Rasmussen folgte ihm fluchend. Am Fuß der Treppe zögerte er und spähte in die Dunkelheit über sich. Mit der linken Hand kramte er in der Hosentasche nach zweiundzwanziger Patronen für sein Gewehr. Der erste Stock des Hauses bestand aus einem einzigen großen Raum, dem ursprünglichen Speicher. An jedem Giebelende war ein halbmondförmiges Fenster mit Bleiglas. Die einzigen anderen Öffnungen waren Oberlichte, die oben ins Dach eingelassen waren. In der Mitte des großen Raums standen eine samtbezogene Couch und ein zweisitziges Sofa. An der Wand befand sich eine Bar aus Eichenholz und Messing. An der einen Giebelwand unter einem Fenster, das rot und golden schimmerte, stand auf einem Podest ein Bett von riesigen Ausmaßen. Eine Ecke des Raums war
abgeteilt worden, um ein Badezimmer zu schaffen. Long nahm das alles mit einem raschen Blick auf, als er die letzten Stufen heraufkam. Das Badezimmer war eine Falle, da führte kein Weg mehr hinaus. Hinter dem Bartresen konnte er sich zwar verstecken, aber es blieb ihm keine Bewegungsfreiheit. Der Teppich war weiß. Wenn das Licht brannte, würde er sich in seiner dunklen Kleidung davon abheben wie ein Sperling im Schnee. Das Schlimmste war, daß es keine Fenster gab; aus diesem Raum war ein Entkommen unmöglich. Er hörte Rasmussen auf der Treppe. In der Wand zu seiner Linken war eine kleine Tür. Sie war keine anderthalb Meter hoch und sehr schmal. Mit einer raschen Bewegung riß er den Lichtschalter aus der Wand, dann rannte er zu der Tür hinüber. Vorsichtig suchte er sich in der schwülen Finsternis hinter der Wand seinen Weg. Der dreieckige Raum hatte keinen richtigen Boden. Stützbalken wechselten mit Streifen weichen Isoliermaterials ab. Wieder ließ er sich auf alle viere hinunter und kroch von der Tür weg. Der Gang endete über der Treppe. Es gab keine Ecken und es gab keinen Ausgang. Er drehte sich um und wartete. Rasmussen kam die Treppe herauf. Long konnte das Knarren der Stufen unter seinem gewichtigen Schritt deutlich hören. Oberhalb der Treppe blieb er stehen, griff mit der Hand zur Wand und fluchte laut. Das Gewehr an die Schulter gedrückt, be-
gann auch Rasmussen zu warten. Mayland Long kannte nicht das Gefühl der Beklemmung in engen, dunklen Räumen. In diesem dunklen, muffigen Loch fühlte er sich wohl. Er überlegte, was für Möglichkeiten er hatte. Bis zu diesem Moment waren ihm seine Entscheidungen aufgezwungen worden. Er war zur Treppe gelaufen, weil sie im Dunkel lag. Wäre Rasmussen dumm genug gewesen, dichter an ihn heranzutreten, so hätte er sich auf ihn gestürzt. So aber hatte er sich in diesem dunklen Loch verkriechen müssen, da es ein anderes Versteck nicht gab. Aber sein Gegner war jetzt leicht im Nachteil. Er hatte kein Licht. Sollte er versuchen, Long hinter die Wand zu verfolgen, so würde er noch mehr ins Hintertreffen geraten. Wenn Rasmussen in der Dunkelheit stolperte, hatte Long gewonnen. Die größte Gefahr lag darin, daß Rasmussen sich irgendwie eine Lichtquelle beschaffte. Doch es war zu bezweifeln, daß er im Schlafzimmer eine Taschenlampe aufbewahrte, und wenn er nach unten ging, um eine zu holen, so würde das für Long wertvollen Zeitgewinn bedeuten. Nicht Zeit, um zu fliehen, sondern Gelegenheit, um das Kräfteverhältnis zu verändern. Alte Instinkte regten sich in Mayland Longs Gedächtnis; alte Instinkte, die ihm nicht mehr recht vertraut waren. Er wußte, wie es war, der Jäger zu sein. Und er erinnerte sich, wenn auch nicht mehr so deutlich, wie es war, der Gejagte zu sein. Rasmussen lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er war sehr nahe. Long, der das Rascheln
seines Hemdes hören konnte, spielte mit dem Gedanken, die dünne Wand zu durchbrechen und Rasmussen bei der Kehle zu packen. Er entschied sich dagegen, weil es wichtiger war, Rasmussen Fragen zu stellen als ihn zu töten. Rasmussen schlich vorüber. Etwa einen Meter von der kleinen Tür entfernt hielt er an. Der gedämpfte Knall seines Gewehrs zerriß die Stille. Noch einer. Rasmussen durchlöcherte die Dunkelheit systematisch mit Kugeln. Eine der Kugeln bohrte sich in die Wand hinter der Bar, eine weitere zersplitterte Wandkacheln. Eine prallte von Metall ab und pfiff als Querschläger die Treppe hinunter. Und dann schlugen fünf Kugeln in rascher Folge durch die dünne Füllung der kleinen Tür. Pulvergeruch erfüllte die Luft. Rasmussen lud neu. Die Tür wurde aufgerissen. Rasmussen blieb unmittelbar davor stehen und feuerte diagonal in den Gang hinter der Wand, erst nach links, dann nach rechts. Long wagte keine Bewegung. Dann kroch Rasmussen herein, vertraute zögernd sein Gewicht einem Stützbalken an. Eine Kugel riß ein Loch in die Mauer hinter Long. Putz rieselte. Rasmussen hob den Lauf des Gewehrs über seinen Kopf und senkte ihn zur anderen Seite des schmalen Korridors. Er schoß und wechselte wieder die Seite. Long bewegte sich auf ihn zu. Sein Gesicht war nur Zentimeter über dem Isoliermaterial, das so fein war wie Engelshaar. Dieser systematische Feuerstoß war lebensge-
fährlich. Long hatte sich darauf verlassen, daß die Angst vor Entdeckung Rasmussen veranlassen würde, sparsam mit seiner Munition umzugehen. Das Krachen seines Gewehrs war jedoch kaum lauter als das Dröhnen der Fernsehapparate, das aus den Nachbarhäusern auf die Straße drang. Es würde im Rauschen des Regens untergehen. Wenn Rasmussen weiter so vorging, würde er früher oder später eine Kugel abbekommen. Doch Rasmussens Strategie hatte eine Schwäche. Er mußte immer die Seiten, die er mit Salven abdeckte, wechseln. Und jedesmal, wenn er sich von Long abwandte, kroch dieser ein Stück näher an ihn heran. Eine Kugel pfiff an Longs linkem Ohr vorbei. Der Knall war ohrenbetäubend. Dann wandte sich Rasmussen ab, und er konnte wieder ein Stück vorankriechen. Der Gewehrlauf schwenkte zurück, und Long erstarrte wieder in seiner Bewegung. Noch zweimal, dann war er an Rasmussen heran. Die Kugel traf Long in die rechte Schulter und zertrümmerte sein Schlüsselbein. Sie durchschlug Longs Körper und bohrte sich in den Holzpfosten hinter ihm. Weiße Zähne blitzten auf, als Long in lautlosem Schrei den Mund aufriß. Seine rechte Hand verlor den Halt an dem Holz, an dem sie sich festhielt. Sie blieb an Splittern hängen, als sie herabfiel und schließlich auf dem Isoliermaterial liegenblieb. Der Arm war nicht mehr zu gebrauchen; er war ihm geraubt und durch einen Quell brennenden Schmerzes ersetzt worden.
Allein der Instinkt veranlaßte Long, still zu verharren. Er verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite und zog sein rechtes Bein vor. Er hatte keine andere Wahl, als jetzt anzugreifen, bevor Rasmussen Gelegenheit hatte, sich wieder umzudrehen und nochmals zu feuern; wenig Hoffnung, aber keine Wahl. Long richtete sich auf dem Balken auf und blieb schwankend stehen. Er maß mit einem Blick die Entfernung und duckte sich zum Sprung. Doch Rasmussen stand reglos, das Gewehr an die Decke gerichtet. Sein Kopf war lauschend zur Seite geneigt. Auch Long hörte das Geräusch. Es kam von außerhalb des Ganges – aus dem Badezimmer. Er hatte keine Mühe, es zu lokalisieren. Rasmussen drehte sich um und hätte beinahe den Halt verloren. Er zwängte sich hastig durch die schmale Tür. Long sah seine Chance gekommen. Doch er griff nicht an. Er besann sich auf den Zorn, den er in sich eingesperrt hatte, befahl ihm, sich neu zu entzünden, aufzuflammen, seine Nerven anzuheizen, ihm den Impetus zur Gewalt zu geben – zu dieser zielgerichteten Gewalt eines verwundeten Tieres, das seine Wildheit mit Schmerz speist. Von innen kam keine Antwort. Nur Erkennen war da. Und Schmerz. Vielleicht war es die Unwürdigkeit seines Zustands – er war klatschnaß, geschwächt durch Schlafmangel, gekleidet wie ein Penner und barfuß –, die eine Reaktion blockierte. Vielleicht war
es das Blut, das durch das Isoliermaterial sickerte und sich an der Decke des Kinderzimmers darunter zu einem traurigen blaßroten Fleck ausbreitete. Vielleicht rührte es auch daher, daß die Zivilisierung zu tief in ihn eingedrungen war. Vielleicht aber lag es auch daran, daß er alt geworden war. Long schlich sich hinter Rasmussen aus dem Gang und glitt die Treppe hinunter. Er hörte drei Schüsse und ein schrilles Aufschreien, das jäh abbrach, gefolgt von Rasmussens Brüllen der Enttäuschung und der Wut. Er öffnete leise die Terrassentür und bückte sich nach seinen Schuhen. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Er hatte gewußt, daß es die Katze gewesen war. Der Regen strömte nicht mehr so stark. Ein paar Sterne leuchteten durch die Wolken. Mayland Long verbarg sich im Gebüsch gegenüber von Rasmussens Haus. Er lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum und wartete auf Rasmussens Erscheinen. Denn durch diesen kleinen Zwischenfall hatte sich an der Situation nichts geändert. Long wußte immer noch nicht, wo Martha Macnamara gefangengehalten wurde. Rasmussen mußte ihn zu ihr führen. Jetzt, da Long ihm entkommen war, mußte Rasmussen etwas unternehmen. Liz war noch in Sicherheit, da Rasmussen nicht wußte, daß Long sie gefunden hatte. Sie war nicht in Gefahr, bis die Banken am folgenden Tag öffneten. Martha mußte leben. Etwas anderes konnte er nicht denken. Kühle kroch aus der Erde und aus der Luft. Sie
drang in ihn ein. Blut und Wasser mischten sich unter dem Baum, wo er stand. Wie kam es, daß er sich selbst im Stich gelassen hatte? Er wußte, er hatte auf eine Art reagiert, die seiner Natur fremd war, und er war mit seiner Natur wohlvertraut; er kannte sie lange. Er hätte sich auf Rasmussen stürzen müssen, sobald dieser ihm den Rücken zugewandt hatte. Hätte er den Mann getötet, so wäre es unerfreulich, aber verständlich gewesen. Das wäre angemessenes Verhalten gewesen, bei dem die Logik und Leidenschaft des Tieres sich harmonisch ergänzten. Statt dessen hatte er das Weite gesucht. Er versuchte, sich über seine Gefühle Klarheit zu verschaffen. War er bereit, Rasmussen, wenn nötig, noch einmal gegenüberzutreten? Wo war sein Zorn geblieben? Als Belohnung für sein Forschen wurde ihm kalter, tödlicher Schmerz beschert. Sterne, die nichts bedeuteten, tanzten vor seinen Augen. Seine Ohren erfüllte ein Tosen wie das der Meeresbrandung. Unter den vor Nässe tropfenden Bäumen verlor Mayland Long das Bewußtsein. Martha hatte den Kasten vorher gar nicht bemerkt. Er lag versteckt in einem Berg von Abfällen, den der Mann im roten Hemd im Lauf des Tages angesammelt hatte: Schokoladenpapier, Limonadendosen, Zigarettenstummel. Er zog ihn jetzt heraus und fegte die Asche von dem schwarzen Plastikgitter. Sie starrte niedergeschlagen auf den Kassettenrecorder. Sie wußte, welchem Zweck er dienen
sollte, und sie hatte geahnt, daß es soweit kommen würde. Eine der Zeitschriften fiel ihr plötzlich ins Auge. »Dr. Dobbs’!« rief sie. »Ich kenne jemanden, der das auch liest.« In seinem Blick lagen nur Langeweile und Verachtung. Er machte sich an dem Gerät zu schaffen. Er nahm das Mikrophon aus seinem Etui und stöpselte den Stecker hinten am Apparat ein. »So, Lady, Zeit, daß Sie ein paar Worte mit Ihrer Tochter reden.« Sie starrte ihn mit dem unverwandten Blick eines Vogels an. Sein Gesicht lief rot an. »Sie brauchen ihr nur zu sagen, daß es Ihnen gutgeht. Und sagen Sie ihr, daß sie tun soll, was wir wollen.« Er drückte den Aufnahmeknopf. Das Surren des sich abspulenden Bandes war das einzige Geräusch im Raum. Martha Macnamara preßte ihre Lippen aufeinander, ein Bild rebellischen Trotzes. Er hielt das Band an. Schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Spulte zurück. Drückte wieder auf den Aufnahmeknopf. »Reden Sie«, knurrte er sie an. Sie starrte stumm ins Leere. Der Mann schlug Martha noch dreimal. Als er das letzte Mal zuschlug, tat er es mit der Faust. »Reden Sie!« brüllte er. Seine Stimme schnappte über. Das Band war zu Ende, und das Gerät schaltete aus. Unvermittelt begann Martha zu sprechen. »Sie geben viel Geld für Ihre Kleidung aus«,
stellte sie mit blutenden Lippen fest. »Aber Sie haben kein Gefühl für die Zusammenstellung. Zu einer weißen Hose sollten Sie kein knallrotes Hemd tragen. Außer vielleicht in Italien –« Sein Finger drückte auf den Rückspulknopf. Zähneknirschend sah er auf seine Gefangene hinunter. Er trat mit dem Fuß nach ihr. Er trat sie noch einmal, direkt unterhalb der mit Drähten gefesselten Hände. »Au! Auaauaaua! Auaa!« schrie Martha. »Aua! Aua!« Bei jedem Tritt schrie sie laut auf. Er schaltete wieder auf Aufnahme, und das Band füllte sich mit unartikuliertem Geheul und Gejaule. Mit hochrotem Gesicht wandte er sich ab. Er lehnte sich an die Mauer und strich sich das Haar zurück. Er sah nicht, wie Martha mühsam und schwankend aufstand, den Kassettenrecorder am Mikrophonkabel in die Höhe zog und ihn einmal über ihrem Kopf schwang. Krachend traf ihn der Apparat im Genick. Er taumelte und stürzte. Doch das Gerät war aus leichtem Kunststoff gefertigt, deshalb verlor er nicht das Bewußtsein. Als Martha sich über ihn beugte und seine Taschen nach Schlüsseln und der Drahtzange durchwühlte, riß er beide Arme hoch und schloß seine Hände um ihren Hals. »Ich bring dich um, du Miststück«, brüllte er. Marthas Kopf flog vor und zurück, so heftig schüttelte er sie. Ihr Gesicht wurde bleich unter dem Druck seiner Hände an ihrem Hals. Plötzlich wurde die grüne Tür aufgestoßen. Der kleine Mann im roten Hemd blickte auf und sah in die Wieseläuglein eines mißvergnügten azteki-
schen Sonnengottes. »Heiliger Strohsack, Threve, was treibst du denn da?« fragte Floyd Rasmussen zähneknirschend. 10 Mayland Long erwachte unter einem kalten, klaren Himmel. Mit einer Kraftanstrengung, die ihm heftige Schmerzen verursachte, stand er auf. Vorsichtig ging er den Bürgersteig vor Rasmussens Haus entlang und sah, daß Rasmussen sich davongemacht hatte. Im Haus brannte kein Licht, und die Terrassentür war wieder geschlossen. Weiß glänzte das verletzte Holz rund um das Quadrat, wo Long die Glasscheibe herausgebrochen hatte. Er ersparte es sich, sich für dieses neueste Versagen seines Körpers Vorwürfe zu machen. Er ging einfach die Straße hinunter zu seinem Wagen – Schritt für Schritt, langsam und mit Bedacht… Long fühlte sich so elend, wie sich ein Mensch nur fühlen kann, auch wenn er noch auf den Beinen steht. Klamme Kälte fraß sich in seine Lunge; sein Atem dampfte. Er hielt seinen rechten Arm an die Brust gedrückt. Ein dumpfes Tosen in den Ohren war ihm aus wilden Träumen in einen qualvollen Wachzustand gefolgt. Das dumpfe Pochen verwirrte ihn, obwohl er wußte, daß es sein eigener Herzschlag war. Schlimmer als die Kälte, schlimmer als die Verwirrung, beinahe schlimmer als der brennende Schmerz in seiner Schulter war der Durst. Wenn
er Wasser finden könnte, dann würde er die Kälte und den Schmerz ertragen. Ölschimmernde Pfützen auf der Straße lockten ihn. Wären sie tiefer gewesen, er hätte sich vielleicht hinuntergebeugt, um aus ihnen zu trinken. Der Wagen. Gab es in ihm irgendwo Wasser? Vielleicht im Kühler. Aber nein. Das Wasser darin war sicher mit einem Frostschutzmittel gemischt. Nachdenklich betrachtete er die dunklen Häuser, an denen er vorüberkam. Wasser in den Außenhähnen an einem Haus? In den grünen Plastikschläuchen, die eingerollt im Gras lagen? Sein Schritt wurde langsamer – hielt an. Er wagte es nicht. Wenn er ertappt wurde, von irgendeinem schlaflosen Hausbesitzer entdeckt wurde, wie er bluttriefend und durchgefroren durch ein Blumenbeet torkelte, oder wenn ein Hund anschlug… Er mußte ohne Wasser auskommen. Eine Weile wenigstens. Der Citroen glänzte im Sternenlicht. Er suchte den Schlüssel heraus, aber seine Hand zitterte, und es bereitete ihm Schwierigkeiten, die Tür aufzuschließen. Er zog sie auf und ließ sich in den Ledersitz sinken. Überall, wo er das Leder berührte, färbte es sich dunkel; braun vom Wasser, rostrot vom Blut. In der Behaglichkeit des Wagens ruhte er sich aus, bis Schwäche ihn zu überwältigen drohte. Worte dröhnten in seinem Kopf. Blechern, fern, ohne Sinn… »Willst du das werden, was du nicht bist, so mußt du einen Weg beschreiten, auf dem du nicht bist.«
Wessen Worte? Wer hatte das gesagt? Sein wirrer Geist verfolgte die Frage. Donne? Nein. Das klang nicht nach Donne. Sie stammten aus einem Gedicht von Eliot. Oder – hatte der Mann aus Formosa sie ausgesprochen? Der alte Mann im Regen. Wieder Regen… Wer auch immer, sie ergaben keinen Sinn. Bedeuteten ihm nicht die geringste Hilfe. Hatten nie geholfen. Worte. Und was würde helfen? Er brauchte – Ruhe. So viele Nöte bedrängten ihn. Schmerz, Durst, Kälte, Sorge, Verlust. Es tat weh zu denken. Es tat weh zu atmen. Scheitern. Plötzlich ging Mayland Long auf, daß er keine Ahnung hatte, was er als nächstes tun sollte. Er konnte sich nicht erinnern. Er starrte in die Dunkelheit, aus der sich der bleiche Bogen des Steuerrads vor ihm heraushob, und schauderte. Ja, Ruhe brauche ich, sagte er sich. Er würde Erinnerung und Kraft wiedergewinnen, wenn er sich ausruhen konnte. Doch wo sollte er die Ruhe finden? Long konnte sich nicht an seine Kindheit erinnern, an keine Zeit, in der er unter der Obhut anderer gestanden hatte. Er war viele Jahre nicht krank gewesen. Er beschwor ein Bild seines Salons herauf, einem Tier ähnlich, das sich nach seiner Höhle sehnt, doch innerhalb dieser mit Büchern bestückten Wände war nichts, was die Macht hatte, ihn jetzt zu trösten. Nichts lockte ihn als der Schlaf. Auf Eulenschwingen senkte sich Vergessen auf ihn herab.
Er riß die Augen auf und hob mit einem Ruck den Kopf. Er erinnerte sich seiner Verpflichtungen. Er hatte sowohl Martha als auch Elizabeth ein Versprechen gegeben. In China geboren, hatte er große Achtung vor Versprechen. Da er sie immer eingehalten hatte, glaubte er fest an seine eigenen Versprechen und wußte, daß ein Versprechen, das er nicht erfüllte, sich an ihm erfüllen würde. Ob tot oder lebendig, kein Wesen konnte seinen eigenen Handlungen entkommen. Er ließ den Motor an. Und die Heizung. Die Nachttischlampe in Elizabeths Schlafzimmer spendete ein weiches Licht, wie gefiltertes Sonnenlicht, das auf einen Waldboden fällt. Die Lampe, der Tisch, die Toilettenkommode, der Rahmen des hohen Ankleidespiegels – alles war aus goldenem Eichenholz. Das Schlafzimmer war genauso, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Es war eines der wenigen Dinge in ihrem Leben, die genau ihren Wünschen entsprachen. Sie suchte Trost in diesem Zimmer, unter den zerknitterten Decken des großen Wasserbetts. Wie sie Mayland Long versichert hatte, war das Bett ganz warm. In sich spürte sie die Wärme des Whiskys. Sie drückte ihr Daunenkopfkissen an sich. Ihre Gedanken kreisten unablässig um eine einzige Frage: Wie war sie nur in diesen Alptraum hineingeraten? Die Frage war ihr zum Ritual geworden, denn die Antwort wußte sie längst: Es war ein Zusammenwirken von philosophischer
Überlegung und Habsucht. Woran lag es, daß die Übertragung von Eigentum manchmal moralisch vertretbar, manchmal aber Diebstahl war? Gegenseitigkeit war ein gutes Kriterium. Wenn man nur nahm und nichts gab, so war das Diebstahl. Aber die Bank durfte einem das Auto wegnehmen, wenn man ins Unglück geraten war und einen Kredit nicht mehr abzahlen konnte. Das war von seiten der Bank zwar gesetzlich vertretbares Verhalten, war es aber auch moralisch zu rechtfertigen? Und wenn die Übertragung von Eigentum vertretbar war, wo saß dann die Wurzel des Problems? Im Konzept der Übertragung oder im Konzept des Eigentums an sich? Der Pragmatismus war ein Schwert, das solche Knoten durchschlug; eine Handlung war allein an ihren Konsequenzen zu messen. Mit dieser Philosophie war Liz als mittellose Studentin zu Beginn ihres Studiums bekanntgemacht worden und hatte nach ihr gelebt. Eine Tat, die niemandem weh tat, war nichts Schlechtes und tat dem Täter häufig sehr gut. Liz’ raffinierter Diebstahl war von dieser Art. Keinem, außer der Bundesversicherungsbehörde, wurde damit weh getan, und Liz’ persönliche Situation verbesserte sich dadurch ganz entscheidend. Natürlich, wenn alle ihrem Beispiel folgten, würde es zu einem Bankkrach kommen, und einzelne würden Schaden erleiden, aber es war ja nicht so, daß alle Welt die Bank bestahl. Nur Liz Macnamara bestahl die Bank, und jetzt, da sie etwas älter war und nicht mehr mittellos, paßte ihr das ganz gut.
Das Problem bestand darin, daß Floyd Rasmussen kein Philosoph war, sondern ein Verbrecher. Er war ein wetterwendischer Mensch. Er liebte seine Katze und schaute sich gern Walt-DisneyFilme an. Er ging gern auf die Jagd und schoß Rehwild, Schnepfen, ja, sogar Wildkatzen. Man wußte nie recht, woran man bei ihm war, da sich bei ihm alles nur um seine eigennützigen Interessen drehte. Anfangs hatte sie Floyd gemocht, wenn auch nie genug, um mit ihm zu schlafen, wie er das gewollt hatte. Jetzt wollte sie ihn nur noch tot sehen. Und Threve? Bei dem Gedanken an Threve krampfte Liz die Finger fester in ihr Kissen und drückte ihr Gesicht in die weiße Baumwolle. Threve war der Teufel persönlich. Ohne Threve wäre Rasmussen keine Bedrohung für sie, aber Rasmussen hatte selbst Angst vor Threve. Warum? Auf den ersten Blick war er nichts Besonderes. Er war wesentlich kleiner als Liz, und er kleidete sich wie ein Gigolo, so daß die Leute in den teuren Lokalen und Klubs, wo er gern seine Zeit verbrachte, die Augenbrauen hochzogen. Liz hatte sich in Threves Gesellschaft nie wohl gefühlt, aber aus Angst vor seinem Jähzorn hatte sie nicht gewagt, ihn zu meiden. Die drei waren mit Banden der Schuld aneinander gefesselt; es war eine Situation, wo Kameradschaft sauer wurde und statt ihrer das Mißtrauen regierte. Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens in der Gesellschaft von Menschen zugebracht, die sie nicht mochte und denen sie dennoch nicht aus dem Weg gehen konnte. Das galt beispielsweise
für die Freunde ihrer Mutter. Sie erinnerte sich ihrer frühen Jahre mit glasklarer Schärfe. Ihr Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie sechs Jahre alt war. Jahrelang bildete sie sich ein – weiß der Himmel, von wem sie diese Vorstellung hatte, gewiß nicht von ihrer Mutter –, er wäre körperlich in den Himmel geholt worden. Ihre Mutter ließ sie in dem Glauben. Erst als sie einmal zufällig ein Telefongespräch mit anhörte und auf diese Weise erfuhr, daß er sämtliche Ersparnisse hatte mitgehen lassen, als er verschwunden war, erkannte sie die Wahrheit. Ihre Mutter jobte, um sich und ihr Kind durchzubringen. Sie spielte Mendelssohn und Wagner auf Hochzeiten, Cole Porter gelegentlich in der Bar Mitzvah. Night and Day, der Hochzeitsmarsch aus Lohengrin, Miß Otis Regrets… Liz konnte diese Stücke niemals ohne Schaudern hören. Es gab keine Musik, die ihr Freude bereiten konnte. Ihre Mutter, die im Jazzcafe den Baß spielte, hatte auch nachts arbeiten müssen. Immer kam sie erst in den frühen Morgenstunden nach Hause, und ihre Kleider rochen dann nach Rauch und Bier. Manchmal, wenn der Babysitter sie versetzte, mußte sie Liz mitnehmen. Das Kind rollte sich dann auf dem Tisch in der Anrichte vor der Küche zusammen, wo der chinesische Geschirrspüler unaufhörlich im Kanton-Dialekt vor sich hin babbelte, fremd und bedrohlich für das Kind. Nichts von alledem trug sie ihrer Mutter nach. Martha hatte ja keine Wahl gehabt. Sie hatte geschuftet wie ein Pferd, und kein Mensch hatte ihr geholfen.
Die schmerzhafte Liebe, die Liz für ihre Mutter empfand, wallte in ihr auf, bis sie kaum noch atmen konnte. Das war der Grund, warum sie es in Martha Macnamaras Nähe nicht aushalten konnte; warum sie quer durch das ganze Land geflohen war, um eine Universität zu besuchen; warum sie seitdem nie wieder nach Hause zurückgekehrt war. Immer hatte sie um ihre Mutter gekämpft, immer hatte sie verloren. Liz schluchzte auf, und das Bett wogte unter ihr wie ein warmer mütterlicher Busen. Die Jahre ihres Zusammenlebens waren gekennzeichnet vom ständigen Kommen und Gehen fremder Menschen in ihrer gemeinsamen Wohnung: Vegetarier und Musikexperten, Frauen mit kahlrasierten Köpfen und Männer mit politischen Überzeugungen. Das waren alles Freunde, die Martha irgendwo auftat – nach Kriterien ausgewählt, die niemandem außer Martha bekannt waren. Liz erinnerte sich an die Dicke, die ihr gesagt hatte, sie solle sie Bagheera nennen. Sie hatte jeden Sommer eine Woche lang im Eßzimmer genächtigt. Dann der große Flötist namens Hamish, der immer nach Schweiß gerochen hatte und es sich nicht nehmen ließ, mit seiner Flöte das Quietschen eines Schweins nachzuahmen, weil er das kleine Mädchen zum Lachen bringen wollte. Einmal hatte sie ihn halb versehentlich Anus genannt, worauf ihre Mutter einen Teller mit Tomatenscheiben hatte fallen lassen. Bei der Erinnerung mußte Liz lächeln. Eines hatten alle Freunde Marthas gemeinsam:
Sie fühlten sich von Martha unwiderstehlich angezogen. Sie kamen wegen ihrer plötzlich aufblitzenden Erkenntnisse, wenn sie unversehens den Kopf hob und mit ein paar Worten, die bewiesen, daß sie sehr wohl verstanden hatte, was der Sprecher in einem einstündigen wirren Monolog von sich gegeben hatte, die riesige Blase der Verwirrung mit einem Pfeil aus gesundem Menschenverstand durchbohrte. Sie kamen wegen Marthas Anmut der Bewegung. Sie kamen, weil sie Unterricht haben wollten, neue musikalische Arrangements, ein Bett, etwas zu essen… Sie kamen mit zerplatzten Träumen, mit gerissenen Saiten, mit leeren Taschen… Alle, ohne Ausnahme, nahmen mehr als sie gaben, und Martha, die eine echte Musikerin war und ein Mensch, hatte sie um sich herum ihre Spielchen spielen lassen, als sähe sie sie gar nicht. Liz ballte die Fäuste vor Zorn auf diese Leute. Und in Stanford wimmelte es, wie sie bald feststellte, von der gleichen Sorte egozentrischer Verrückter. Sie kleideten sich geschmacklos, in ihren Zimmern stank es nach Hasch, und sie quatschten ohne Punkt und Komma. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß ihre Kommilitonen am freundlichsten waren, wenn sie von ihr Geld borgen wollten. In diesem ersten Jahr an der Universität lernte sie, sich vor Schmarotzern zu schützen: vor Schnorrern, vor ›grapschigen‹ jungen Männern, vor ›Freunden‹, die nur von ihr abschreiben wollten. Sie verstand sich bald sehr gut darauf und
hatte als Folge nur noch wenige Freunde. Sie beneidete die Studenten der betriebswirtschaftlichen Fakultät. Die standen morgens zu einer vernünftigen Zeit auf, kleideten sich so gut, wie ihr Portemonnaie es ihnen gestattete, und konzentrierten sich mit gemäßigtem Fleiß auf ihr Studium, da sie wußten, daß es sich lohnen würde. Natürlich waren sie ein anderer Schlag und in gewisser Weise ein minderwertiger Schlag, denn Liz war Ingenieurin. Doch sie hielt sich so strikt an die Diät, wie ihr durstiger Geist es erlaubte. Wenn sie erst Geld hatte, konnte sie Mist auch Mist nennen. Wenn sie erst Geld hatte, würde ihre Mutter Zeit haben, wieder richtige Musik zu machen – in Konzertsälen statt Kneipen. Der Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit war so qualvoll, daß sie aufschrie. Sie sprang aus dem Bett. Dort, vor ihren Augen, lagen Mayland Longs säuberlich gefaltete Kleider. Sie waren ihr die einzige Bestätigung, daß der seltsame Mann wirklich hier gewesen war – und daß er jetzt irgendwo draußen in der Nacht versuchte, ihre Mutter zu finden. Sie berührte das weiße Hemd. Das Material fühlte sich trocken und glatt an. Seide wahrscheinlich. Das gleiche mit dem Anzug: Rohseide, ungefärbt. Sie rief sich ein Bild von ihm ins Gedächtnis, wie er gelassen und ruhig an der Küchentür stand und die Flasche hochhielt wie eine Laterne. Auch sein Verhalten war trocken und glatt gewesen. Sie war vor ihm zusammengeklappt – etwas, was ihr seit ihrer Ankunft in Stanford niemals vor
anderen passiert war. Sie hatte sich erboten, ihm alles zu geben, was sie besaß, und es war ihr ernst damit gewesen. Es war ihr immer noch ernst – Geld, guten Ruf, ihren Körper, ihre Zukunft – all das war wenig für das Leben ihrer Mutter. Und er hatte das Gespräch sanft in andere Bahnen gelenkt. Sie hatte das Gefühl, daß Mayland Long sie nur zurückgewiesen hatte, weil er bereits alles hatte, was er wünschen konnte oder brauchte. Alles war genauso, wie er es wünschte. Kleidung, Benehmen, Selbstvertrauen. Und doch war dies der Mann, den Martha Macnamara für ein paar tausend Dollar engagiert hatte. Damit er sein Leben riskierte. Natürlich mochte er Martha. Das war an der Art und Weise, wie er von ihr sprach, klar zu erkennen. Aber jeder redete so über Martha. Liz betrachtete es als ganz normal. Aus dem Augenwinkel gewahrte sie Bewegung – sich selbst im Ankleidespiegel. Sie mochte ihren Körper nicht. Er war linkisch, und die Gliedmaßen waren zu groß. Sie wandte sich wieder dem gefalteten Hemd zu. Es war Seide. Es gab ihr Hoffnung. 11 Myland Long passierte die kleinen, an der Schnellstraße gelegenen Ortschaften der Halbinsel. Die Scheinwerfer seines Wagens durchschnitten die trübe Dunkelheit. Seine gesunde Hand
umschloß das Steuerrad. Der linke Arm hing schlaff herunter, die Hand ruhte auf seinem Oberschenkel. Als er über eine Straßenkuppe fuhr, verrutschte sie. Das bereitete ihm einen derart stechenden Schmerz, daß er unwillkürlich das Steuerrad losließ und der Citroen aus der Spur geriet. Zum Glück war er das einzige Fahrzeug auf der Straße. Die nächste Ausfahrt kam näher. Er nahm die Kurve langsam, wurde aber dennoch an die Wagentür gedrückt. Kies knirschte unter den Rädern. Die linke Seite des Wagens neigte sich, als dieser von der Fahrbahn abkam. Doch er warf sich gegen das Steuerrad und gewann wieder die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Wagen holperte über die Schienen der Southern Pacific Railroad. Nur die gute Federung des Citroen machte das Schaukeln erträglich. An der University Street bog er rechts ein, schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus und ließ den Wagen ausrollen. Das Gebäude, in dem Threve wohnte, stand wie ein Storch in einem Ententeich inmitten einer Schar heruntergekommener Holzhäuser. Das Hochhaus funkelte im gedämpften Mondlicht; der Beton seiner Mauern war mit Glas durchsetzt. Es war ein weißer, abweisender Bau, der im Erdgeschoß keine Fenster hatte. Auf der schmalen Rasenfläche ging Long um das Haus herum. Müde lehnte er sich an den Stamm eines kleinen Ölbaums, dessen silbern glänzende Blätter seine Gestalt vor dem Mondlicht verbargen. Er spürte die Kälte nicht mehr.
Auf der Rückseite hatte das Haus zwei Türen. Die eine war aus Glas und hatte ein blitzendes Messingschloß. Die andere war aus Stahl mit einem passenden Schloß. Mayland Long ging zu der Glastür. Er brauchte seine gesunde Hand, die bis jetzt den verwundeten linken Arm gehalten hatte. Mit Mühe schob er die linke Hand in die Hosentasche. Mayland Long glaubte, daß es ihm gelingen würde, den Aluminiumrahmen der Tür zu sprengen, wenn sich das Schloß als zu widerstandsfähig erweisen sollte. Dennoch hielt er inne, als seine Finger schon um den Türknauf lagen. Ihm war eingefallen, welchen Fehler er bei Rasmussen begangen hatte. Er untersuchte die andere Tür. Müllgeruch drang durch die Ritzen. Dieses Schloß war nicht aufzubrechen. Long hätte zwar gern versucht, es zu demontieren, schon um zu sehen, ob es ihm gelingen würde, doch zu einem solchen Unternehmen hatte er weder die Zeit noch die Werkzeuge. Versuchsweise drehte er den Türknopf, und die Tür öffnete sich. Ein Klumpen Kaugummi verstopfte das Schloß. Er trat in einen stinkenden Raum voller Müll. Er hob einen schwarzen Plastikbeutel auf, der bei flüchtiger Inspektion weniger ekelhaft schien als die übrigen, und marschierte weiter durch die Verbindungstür zum Haus. Threves Wohnung hatte die Nummer 10-10. Long nahm den Aufzug; er hätte die Treppen nicht hinaufsteigen können. Als der Aufzug anhielt, drückte Long den weichen Beutel an seine
Brust und trat in den Korridor. »Halt!« rief eine Frau. »Warten Sie!« Sie trug Schwesterntracht. Mayland Long schob den Beutel ein Stück höher, so daß er sein Gesicht verbarg und hielt die Tür zum Aufzug mit dem Fuß auf. Sie hatte rotes Haar. Sie lächelte. »Vielen Dank«, sagte sie ruhig. »Tut mir leid, daß ich so laut war. Ich vergesse immer, daß andere Leute nachts schlafen.« Die Tür schloß sich, und das freundliche Gesicht verschwand. »Schlafen Sie wirklich?« flüsterte Long im leeren Korridor. Threves Wohnung befand sich am Ende des Flurs. Neben der Tür stellte Long den Müllbeutel nieder; er hatte seinen Zweck erfüllt. Jetzt kam es auf Schnelligkeit an, nicht auf Heimlichkeit. Mayland Long wollte von Threve gesehen werden, denn er wollte mit ihm reden. Er wollte Antworten von ihm, um jeden Preis. Der Türpfosten von 10-10 splitterte mit einem einzigen explosionsartigen Knall. Long trat in die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Die Wohnung war verlassen. Er schlich vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer. Er trat mit dem Fuß die Tür zum Badezimmer auf. Nichts. Als letztes betrat er die Küche, schob den Mund unter den Wasserhahn und trank. Trank ausgiebig. Und nun? Sollte er auf die Rückkehr des Mr. Threve warten? Lange konnte er keinesfalls warten, denn es war bereits nach Mitternacht, und die Sache mit dem Brief mußte noch erledigt wer-
den… Er beschäftigte sich so produktiv wie nur möglich, indem er Threves Wohnung durchsuchte. Seine Nase in die privaten Angelegenheiten anderer zu stecken, war ein Zeitvertreib, den Mayland Long immer schon hochinteressant gefunden hatte, und jetzt lenkte ihn diese Beschäftigung von seinen körperlichen Beschwerden ab. Unter dem Telefon im Schlafzimmer entdeckte er ein Adreßbuch, das mit Zetteln und Papierfetzen vollgestopft war. Er nahm es ins Wohnzimmer hinüber und machte sich daran, es durchzusehen, während er nach Geräuschen vom Aufzug lauschte. Die ältesten Eintragungen, wenn man danach gehen konnte, wie stark verblichen die Tinte war, betrafen Adressen in Detroit. Auch andere Städte waren vertreten, unter anderem Austin, Texas und Baton Rouge. Mr. Threve reiste offensichtlich gern und war erst vor kurzem in Kalifornien eingetroffen. Das war hilfreich; so war nämlich die Zahl relevanter Eintragungen nicht allzu groß. Long setzte sich auf ein kastenförmiges weißes Sofa unter dem großen Fenster des Wohnzimmers. Er las beim Licht des Vollmonds. Er legte einen Finger auf einen verheißungsvollen Zettel und fuhr zusammen, als er am anderen Ende des Zimmers sich etwas bewegen sah. Er stand auf und ging einer Gestalt entgegen, die ihm entgegen kam. Es war ein dunkler Mann in nachlässiger Kleidung, eine Hand lässig in der Hosentasche. Die ganze Wand des Zimmers war mit Spiegel-
glas ausgelegt. Dort, wo sich die Scheiben trafen, hüpfte und tanzte das Bild. Er blieb respektvoll vor dem Spiegelbild stehen, als warte er darauf, daß es ihn ansprechen würde; als wüßte dieses gesichtslose, düstere Geschöpf etwas, was er nicht wußte. Mit der rechten Hand faltete er den Zettel mit der Adresse zusammen und steckte ihn ein. Das Spiegelbild hatte nun beide Hände in den Hosentaschen, oder sie waren möglicherweise auf dem Rücken gefesselt. Es stand mit gesenktem Kopf; ein Gefangener, der das Urteil erwartet. Diese traurige Gestalt war niemand, den er kannte. Vor der aufgebrochenen Tür lag noch immer seine unangenehm riechende Tarnung. Er hob den Müllbeutel auf und machte sich auf den Weg zum Aufzug. Er wußte, daß seine Erscheinung einer genaueren Musterung nicht standhalten würde. Rostrote Flecken bedeckten beinahe überall sein graues Sweatshirt. Der Stoff war ganz steif geworden und klebte ihm am Rücken. Er konnte das gerinnende Blut riechen. Ihm war sehr warm, und mit der Wärme kam das Verlangen nach Schlaf. Dieses Verlangen wurde gemildert vom fernen weißen Schein des Mondes. Er hörte wieder das Dröhnen, doch es schien ihm zu langsam für seinen Herzschlag. Es war dem Tosen des Meeres zu ähnlich. Der Motor sprang an, und das Gebläse blies ihm warme Luft ins Gesicht. Er stellte es ab. Er hatte das Gefühl, den ganzen Tag und die ganze Nacht gefahren zu sein. Bald würde er tanken müssen. Er verlor langsam die Geduld zum
Autofahren. Bis zu der Adresse, die auf dem Zettel in seiner Tasche stand, war es nicht weit. Er brauchte nur über die Eisenbahngeleise nach Sunnyvale hineinzufahren. Er fuhr den El Camino hinunter, direkt auf den Mond zu. Das Gebäude war ein niedriger Betonkasten. Rundherum war Kies aufgeschüttet. Es stand auf einem Industriegelände, das bei Nacht menschenleer war. Die Worte Rasmussen Mos prangten in orangefarbenen Lettern auf der Fassade, doch das Gebäude schien seine ursprüngliche Funktion jetzt nicht mehr zu erfüllen. Malven und Sauerampfer wucherten zwischen den Steinen des Parkplatzes, und die welken Köpfe von Vogelmiere bildeten eine trostlose Rabatte am Fuß der Mauer. Es schien sich hier um eine von Rasmussens früheren Fehlkalkulationen zu handeln – vorausgesetzt, seine Konkurse waren wirklich unbeabsichtigt gewesen. Nirgends war ein Auto zu sehen. Die zwei Türen, die in das Gebäude hineinführten, bestanden aus grünem Stahl. Nirgends gab es Fenster. Kein Geräusch drang aus dem Inneren. Selbst als er das Ohr an die Metalltür drückte, hörte er nichts. Seufzend lehnte er sich an den Stahl der Tür und sammelte alle Kraft, die ihm noch, geblieben war. Im Kies konnte er Spuren erkennen; von einem Fahrzeug, das bis an die Tür herangefahren und dann rückwärts wieder davongefahren war. Aber es ließ sich nicht ausmachen, wie alt die Spuren schon waren. Die Fabrik glich einer Festung, aber Festungen
konnten Mayland Long nicht sonderlich beeindrucken. Er schloß die Augen, umfaßte den Türknauf und zog daran. Der Knauf sprang mitsamt seinen Innenteilen aus der Tür. Die Falle fiel in das runde Loch, das der Knauf hinterlassen hatte, und die Tür öffnete sich knarrend. Sie war nicht verschlossen gewesen. Er trat in einen großen leeren Raum, den nur das Licht aus einem offenstehenden Kühlschrank erhellte. In dem Raum standen ein Holztisch und ein schmutzstarrender weißer Klappstuhl. Auf dem Boden lagen Berge von Zeitschriften. Als er weiter in den Raum hineinging, entdeckte er in einer Ecke weitere Zeitschriften, die in drei Stapeln aufgehäuft waren. Der eine Stapel war etwa zehn Zentimeter hoch; die beiden anderen bestanden je aus einem Playboy und einem Dr. Dobbs’. Diese drei Stapel bildeten ein Dreieck mit einer Seitenlänge von etwa fünfundvierzig Zentimetern. Nicht weit von dieser geometrischen Figur lagen die traurigen Überreste eines zertrümmerten Kassettenrecorders. In seinem Inneren war eine kleine weiße Kassette. Mayland Long hätte viel darum gegeben zu wissen, was das Band enthielt. Er nahm die Kassette an sich. Dann durchstreifte er weiter den Raum und näherte sich dem offenen Kühlschrank. Er hielt die gesunde Hand hinein. Die Regale waren noch kalt. Er setzte seine Inspektion des Gebäudes fort und stieß auf den Toilettenraum neben der Hintertür. Er ging hinein und knipste das Licht an. Der Boden des Waschbeckens war feucht.
Auf die Wand hatte jemand inmitten von Graffiti einen großen roten Kreis gemalt. Er begann und endete oben. Es war ein großer, offener Kreis, mit frischem Lippenstift gezogen. In der Tradition des Zen Buddhismus bedeutete er nichts. Wortwörtlich nichts – Null, die Leere. Für Mayland Long sagte er sehr viel aus. Er stürzte aus dem Gebäude, daß der Kies unter seinen Füßen aufflog. Schweratmend lehnte er sich an die Wagentür. Als er den Schlüssel herausziehen wollte, riß er die Kassette mit heraus, und beides fiel zu Boden. Er bückte sich und lag plötzlich, von der Gewißheit seines Fehlschlags überkommen, auf allen vieren auf dem Beton. Eine wortlose Klage entrang sich seinem Mund. Zu spät… zu langsam… zu spät… Keuchend hob er die Kassette und den Schlüssel vom Boden auf. Dann stand er auf und blieb ein paar Sekunden lang reglos stehen. Dann stieg er in den Wagen. Das Klopfen hörte nicht auf. Fred kroch benommen aus dem Bett. Auf seiner Uhr sah er, daß es zwei Uhr 45 war. So ein verdammter Mist. Er hatte in seiner Unterhose geschlafen. Ohne etwas überzuziehen, ging er zur Wohnungstür. »Wer ist da?« krächzte er. »Frisch? Fred? Ich bin es, Mayland Long. Ich hoffe, Sie erinnern sich an mich.« Selbst wenn Frisch den Namen vergessen hätte, die Stimme hätte er gleich erkannt. Er schloß auf und öffnete die Tür.
Long trat in die Wohnung. »Verzeihen Sie. Ich weiß, es ist mitten in der Nacht. Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche, Fred. Liz und Martha Macnamara sind in sehr großer Gefahr, und ich weiß niemanden, an den ich mich sonst wenden könnte.« Fred blinzelte verwirrt und starrte ihn an. »Sie sind weiß wie ein Leinentuch«, war alles, was er hervorbrachte. »Setzen Sie sich.« »Bin ich wirklich weiß?« fragte Long leise, während er sich setzte. »Wie merkwürdig. Ich dachte immer, an mir wäre nichts weiß.« Plötzlich fuhr er wieder in die Höhe. »Ich ruiniere Ihre Möbel.« »Die sind längst ruiniert«, erwiderte Fred. »Seit Jahren schon.« Er kauerte neben Long nieder und zupfte an dem vom Blut steifen Hemd. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« Long entzog den Stoff vorsichtig Freds Fingern. »Bitte, lassen Sie das. Ich habe eine Schußverletzung in der Schulter.« Fred richtete sich auf. »Dann müssen Sie sofort ins Krankenhaus, Mann. Ich fahr’ Sie hin.« »Nein. Dazu reicht die Zeit nicht. Martha Macnamara ist entführt worden. Die Männer wollen sie töten. Ich muß auf einem Textverarbeitungsgerät bei RasTech – einem 8080 – einen Brief fälschen und ihn Elizabeth vor morgen früh übergeben.« »Wenn Sie verbluten, können Sie überhaupt nichts mehr tun«, entgegnete Fred, ohne auf Longs Erklärung einzugehen. Er stand auf und
ging hinüber ins Badezimmer. »Die Blutungen haben aufgehört, glaube ich«, versetzte Mayland Long. »Und ich kann mit dem Gerät nicht umgehen. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.« Frisch kehrte mit einer Schere zurück. Er kniete wieder neben Long nieder. Vorsichtig durchschnitt er den Stoff des Sweatshirts. »Ich war früher bei den Pfadfindern. Da hab’ ich Erste Hilfe gelernt.« Er schnitt vom Bund zum Hals hinauf, während Long ihm zusah. Als Fred daranging, den linken Ärmel aufzuschneiden, unterdrückte Long nur mühsam einen Aufschrei. Fred entschuldigte sich, doch er schnitt weiter. Oben an der Schulter klebte der Stoff an der Wunde. Fred schnitt um das verklebte Stück herum, und die Reste des grauen Sweatshirts fielen auf die Polster des Sessels. Fred pfiff durch die Zähne. »Mann o Mann. Das sollten Sie mal sehen.« »Das muß nicht sein.« Fred legte die Schere auf den abgetretenen Teppich. »Wer hat auf Sie geschossen?« Long lehnte sich zurück. »Floyd Rasmussen. Mit einem Jagdgewehr.« Seine Augen funkelten grimmig. Er rieb sie mit einer Hand. »Ich wußte nicht, daß es Gewehre gibt, die so wenig Lärm machen.« Mayland Long wirkte in Fred Frischs schäbigem altem Sessel mit dem zerschlissenen grünen Bezug ganz grau. Die Augen fielen ihm zu. Wie aus weiter Ferne hörte er Fred Frisch hantieren und
das Rauschen fließenden Wassers. »Es ist heiß hier drinnen«, bemerkte er. »Ich dachte, der Regen würde die Luft abkühlen.« Mörderischer Schmerz biß sich in seine Schulter, schlimmer als der Schmerz, den die Kugel ihm verursacht hatte. Long schlug mit der Hand nach der Quelle und packte zu. Fred Frisch schrie auf. Ein dampfendes Tuch fiel Long auf den Schoß. »Loslassen!« schrie Fred. »Lassen Sie los! Bitte! Sie brechen mir den Arm.« Erstaunt ließ Long los. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er. »Ich wußte nicht, was Sie taten.« Fred bewegte skeptisch seine Finger hin und her. »Du lieber Gott, Mr. Long, wo haben Sie denn das gelernt? Sie packen ja zu wie der Teufel.« »Das habe ich nicht gelernt. Zupacken gehört zu meinem Naturell.« Er versuchte zu lächeln. »Aber ich werde es nicht wieder tun, das verspreche ich Ihnen.« Fred Frisch tauchte das Tuch wieder ins heiße Wasser. »Es wird gleich wieder sehr weh tun«, warnte er und legte den Waschlappen auf die verschmutzte Wunde. Long hielt sich an sein Versprechen und schlug nicht zu. Er verlor das Bewußtsein. 12 Fred wusch die Wunde mehrmals mit heißem
Wasser aus, dem er ein Desinfektionsmittel zugesetzt hatte. Endlich löste sich der zerfetzte Stoffrest. Das Austrittsloch der Kugel war dunkel verfärbt, der Wundrand sauber. Fred Frisch schob seine Hand hinter Longs Rücken und drückte seinen Oberkörper vorsichtig nach vorn, um ihm ein Sofakissen in den Rücken legen zu können. Bei jedem unbewußten Zusammenzucken seines Patienten fuhr Fred zurück. Die Sehnen seines Unterarms schmerzten immer noch, wenn er die Hand zur Faust ballte. Eine Kraft hatte dieser Mensch… Mußte das Adrenalin gewesen sein. Er sollte wirklich die Polizei anrufen. Der Mann war nicht in der Verfassung, in dieser Nacht noch irgend etwas auf die Beine zu stellen. Entführung. Mordversuch. Vielleicht war dieser Mayland Long schlicht und einfach ein Verrückter. Vielleicht war die Geschichte, die er ihm im Laden erzählt hatte, die reine Erfindung; die Frau, die ihn begleitet hatte, die mit der Gretchenfrisur, die angeblich Liz Macnamaras Mutter sein sollte, hatte sich ja an dem Gespräch überhaupt nicht beteiligt. Sie hatte im übrigen selbst ein bißchen verdreht gewirkt. Aber wer schießt einen Verrückten in die Schulter? Und dann noch von oben. Hatte Rasmussen auf einem Baum gelauert, als er auf Long geschossen hatte? Tatsächlich zweifelte er jedoch nicht an der Wahrheit der Geschichte, die Long ihm erzählt hatte. Er hätte nur zu gern daran gezweifelt. Und er dachte, daß er wirklich die Polizei anrufen sollte.
Statt dessen träufelte er Wasserstoffsuperoxid in die beiden Wunden und verzog den Mund, als er sah, wie die Flüssigkeit aufschäumte. Long biß die Zähne zusammen und hielt die Augen geschlossen. Fred fielen Longs Zähne auf – weiß, ebenmäßig, kräftig. Zähnen schenkte er immer besondere Beachtung; er hatte vier Jahre Zahnmedizin studiert. Er kramte in seinem Arzneischrank. Als er dort nicht alles fand, was er brauchte, suchte er in den Küchenschubladen. Schließlich plünderte er noch seinen Werkzeugkasten. Die Wunde deckte er mit Gazebäuschen ab, die er mit Heftpflaster überklebte. Den angeschlagenen Arm beugte er am Ellbogen und legte ihn flach gegen den Magen des Patienten. Dann stellte er ihn ruhig, indem er Isolierband um Arm und Körper wickelte. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Brauchbar. Ein Blumentopf war zwar nicht damit zu gewinnen, aber der Mann war jetzt einigermaßen versorgt. Doch Longs Gesichtsfarbe war noch immer leichenblaß. Behutsam neigte er sich hinunter und hob Mayland Long hoch, indem er eine Hand unter seine Knie, die andere unter seine Schultern schob. Es ging viel leichter, als er gefürchtet hatte. Mayland Long hatte ein geringes Gewicht. Vielleicht hatte er leichte Knochen. Warum nicht? Er sah auch in anderer Hinsicht merkwürdig genug aus. Diese Hände zum Beispiel. Vielleicht war er ein Außerirdischer, der sich als Mensch tarnte. Ein außerirdischer Detektiv. Von
einem anderen Planeten. Und Rasmussen war der meistgesuchte Verbrecher der Milchstraße. Die Vorstellung gefiel ihm. Er konnte sich mit ihr eher anfreunden als mit dem Gedanken, daß jemand Liz Macnamara entführt hatte. Oder war die Mutter entführt worden? Sanft ließ er Long auf den Teppich hinunter. Danach holte er die Rückenpolster der Couch und schob sie dem Patienten unter die Knie. Er überlegte, ob Long vielleicht Marathonläufer war und deshalb so leicht und so stark war. Er selbst joggte. Er ging ins Schlafzimmer und zog die Decke vom Bett. Doch als er neben Long niederkniete, zögerte er mit der Decke in der Hand. Er legte seine Hand behutsam auf die straffe trockene Haut der Stirn. Gott, war der Mann heiß… Der brannte ja fast. Der brauchte keine Decke; der brauchte Eiskompressen. Und einen Arzt und ein Krankenhaus. Fred schwankte unschlüssig, während seine Hand zu Longs Nacken wanderte. Er spürte, wie sich die Muskeln spannten, noch ehe er sah, wie sich die braunen Augen öffneten. »Wie bin ich hier auf den Boden gekommen?« erkundigte sich Mayland Long schwach. »Oh. Hm, Sie sahen ziemlich übel aus, und da fiel mir aus meinen Pfadfindertagen ein, daß man die Beine hochlegen soll, wenn das Gesicht blaß ist.« »Aha.« Long sah sich um, bemerkte die schäbigen Möbel, den abgetretenen Teppich, die Berge rätselhafter elektronischer Geräte, die sich in den
Zimmerecken häuften und sich den Tisch mit zwei Birnen und einem Laib Vollkornbrot teilten. Keines der Geräte schien in betriebsfähigem Zustand zu sein, dem Gewirr von Drähten nach zu schließen, die aus Löchern und geplatzten Nähten heraushingen, den schwarzen Löchern, wo eigentlich Schalter oder Knöpfe hätten sein müssen… »Wie spät ist es?« fragte Long. Fred trottete ins Schlafzimmer hinüber. »Zwanzig nach drei«, rief er zurück. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, war Long auf den Beinen. »Ich habe keine Zeit mehr, Fred. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Sind Sie bereit, auch das zu tun, worum ich Sie gebeten habe?« Unter dem eindringlichen Blick Longs wurde sich Fred seiner beinahe völligen Nacktheit bewußt. Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Sollen wir nicht die Polizei anrufen?« »Wenn wir den Brief haben, können wir die Polizei unterrichten. Der Brief wird vielleicht mein Druckmittel gegen Rasmussen und seinen Komplizen werden. Ich habe herausgefunden, wo sie Martha Macnamara versteckt gehalten haben, aber sie hatten sie noch vor meinem Eintreffen an einen anderen Ort gebracht.« »Das könnte bedeuten – daß – ich meine –« »Daß sie tot ist? Ja, das könnte es bedeuten, aber ich glaube es nicht.« Long erklärte seine Gründe dafür nicht näher, sondern fügte statt dessen hinzu: »Ich weiß nicht, wie ich sie ausfindig machen soll. Ich glaube nicht, daß die Polizei bessere Möglichkeiten hätte. Nur Rasmussen oder
Threve können mich jetzt zu Martha führen, und als Köder werde ich vielleicht den Brief brauchen. Wenn Sie nicht in die Sache hineingezogen werden wollen, werde ich in Elizabeths Wohnung zurückkehren und den Burschen dort auflauern.« »Sie wollen ihnen auflauern?« rief Fred. »Sie können sich ja kaum auf den Beinen halten!« Long lächelte dünn. »Ich glaube kaum, daß akrobatische Kunststücke notwendig werden«, sagte er. »Aber ich kann es Ihnen nicht übelnehmen, wenn Sie sich nicht in dieses Unternehmen – hineinbegeben wollen. Es ist gefährlich und von zweifelhafter Legalität. Und Sie haben bereits Ihren gesunden Schlaf geopfert, um einem Menschen zu helfen, der keinen Anspruch an Sie hat – « »Moment mal! Ich habe nie gesagt, daß ich Ihnen in der Sache mit dem Brief nicht helfen will. Ich meine nur…« Fred blickte um sich. Sein blonder Schnauzer zitterte unter der Wucht der Gedanken, die in seinem Kopf schwirrten. Er hob die Hände und ließ sie hilflos wieder sinken. »Also ich sage nur… Warten Sie, ich zieh’ mich nur rasch an.« »Toller Wagen!« Mayland Long nahm die anerkennenden Worte mit einem Nicken auf. »Es gibt nicht viele davon in Kalifornien.« Langsam und vorsichtig schob er sich hinter das Steuer. Er trug jetzt ein rotes Flanellhemd von Fred, weich und weit geschnitten wie eine Bluse,
so daß es sich über dem an den Körper gepreßten Arm leicht zuknöpfen ließ. Der leere Ärmel war in den Bund seiner Jeans gestopft. Flüchtig sah er sich im Spiegel. »Ich sehe aus wie ein einarmiger Holzfäller.« Fred war neben der Tür stehengeblieben und beugte sich zum offenen Fenster ins Wageninnere. »Keine Spur«, widersprach er. Er suchte nach Worten, um Long zu erklären, wie schwierig es für ihn sein würde, wie ein Holzfäller auszusehen. »Keine Spur«, wiederholte er. »Vielleicht ist es besser, wenn ich fahre, hm?« fügte er hinzu. »Nein«, antwortete Long. Es klang, so wie er es sagte, eher wie die freundliche Antwort auf eine Frage, denn nach glatter Ablehnung, die es tatsächlich war. Er wartete, bis Fred Frisch eingestiegen war. »Jetzt erzählen Sie«, drängte der junge Mann, als sie losfuhren. »Was hat das alles zu bedeuten? Was ist in Floyd Rasmussen gefahren, daß er plötzlich unschuldige Bürger entführt und mit einem Jagdgewehr rumballert?« Long berichtete. Er erzählte nicht aus seiner Sicht, sondern er erstattete einen chronologischen Bericht. Er begann mit der Beziehung zwischen Carlo Peccolo und Liz Macnamara und Liz’ nachfolgender Ernüchterung und gelangte dann über die verschiedenen Stationen der Ereignisfolge zu der Entdeckung des zertrümmerten Kassettenrecorders und dem Kreis an der Wand im Toilettenraum. Er wollte Fred Frisch ganz klarmachen, worauf er sich einließ, doch in seinen Worten
wurde der Bericht zu seiner Schauergeschichte von Blut und Verrat. Fred saß mit offenem Mund da, als Long geendet hatte. »Heiliger Strohsack! Wie kam Liz auf die Idee, so eine Dummheit zu machen?« Long brummte und leckte sich die aufgesprungenen Lippen. »Ich glaube, sie wollte eine Hexenmeisterin werden. Das sagte sie zumindest.« »Puh!« Fred streckte sich in seinem Sitz und faltete die Hände hinter seinem Kopf. »Jeder will ein Hexer sein. Ich meine, jeder Ingenieur. Das paßt zu Einhörnern und Drachen. Aber die Techniker sehen sich am liebsten als Hexer – das ist eine geheime Phantasie von allen. Wirklich albern, nicht? Hexer! Aber Ingenieure können in bezug auf ihre eigene Person wirklich naiv sein; sie bilden sich ein, nur weil sie die raffiniertesten Programme entwerfen können, und sie richtig funktionieren, wäre auch alles andere, was sie tun oder was sie glauben, goldrichtig. Besser als das, was die Masse auf der Straße tut oder glaubt. Und da sind wir schon bei den Hexern. Geheime Methoden. Geheimes Wissen. Nicht an normale Regeln gebunden. Liz ist ein bißchen so, nicht wahr?« Long lächelte traurig. »Ja, sie wollte eine Hexerin werden«, bekannte er. »Ganz anders als ihre Mutter.« Fred nickte zum Zeichen seines Verstehens. »Ich persönlich bemühe mich, mich nicht – nicht zu ernst zu nehmen, wissen Sie. Aber ich rutsch’ da auch schon mal rein; nachts, wenn ich an der Arbeit bin und die vielen bunten Lichter blinken
und so eine Maschine alle meine Befehle ausführt. Das ist so ein richtiger Macht-Trip.« Fred rutschte tiefer in seinen Sitz und schwieg. Der Wagen brauste die einsame Straße entlang. Der Mond stand jetzt direkt über ihnen. Long brach das Schweigen. »Ich verstehe. Damit wären die Hexer erklärt. Was ist mit den Einhörnern?« Es fiel Fred nicht leicht, die Frage zu beantworten. »Ich weiß nicht. Ich hab’ mal gehört, daß sie vor Hunderten von Jahren als Symbole der Jungfräulichkeit galten. Aber von den Leuten, die ich kenne, hat keiner für Jungfräulichkeit viel übrig.« Long lachte, und brennender Schmerz durchzuckte seine Schulter. Sein Bewußtsein trübte sich. Er versuchte, Fred zum Weitersprechen zu animieren. »Und Drachen?« »Macht«, erklärte Fred mit Entschiedenheit. »Reine Macht.« »Ist das alles?« fragte Mayland Long. »Ist das alles, was das Wesen eines Drachen ausmacht?« »Ist das nicht genug? Terror auf Fledermausflügeln. Feuer und kalter Stein. Gold und Geschmeide in Bergen. Die reine Macht!« Er schwieg nur einen Moment. »Ich kann nur sagen, Vorsicht, wenn einem einer über den Weg läuft, der auf dem Drachentrip ist.« Mayland Long wandte den Blick kurz von der Straße, um Fred anzusehen. Der saß tief in den Sitz gedrückt, die Hände im Nacken gefaltet. Das blonde Haar fiel ihm wellig auf die Schultern.
Dieses rosige Gesicht schimmerte im Mondlicht wie das eines Engels. Er schien jetzt noch ein Knabe zu sein. Long fühlte sich von den Grausamkeiten der Zeit geschüttelt. Er ergriff nach einer Weile das Wort. »In China war es anders. Denke ich. Chinesische Drachen waren nicht immer solche Untiere. Sie lebten jahrhundertelang und genossen den Ruf, weise zu sein.« Fred senkte seine Arme. »Haben sie keine Menschen gefressen?« Long lächelte. »Manchmal schon. Und manchmal aßen auch Menschen Drachen. Es hieß, daß Puder aus Drachenblut einen Menschen vom Rand des Todes zurückholen könne.« Fred warf Long einen zweifelnden Blick zu. »Sind Sie – Chinese?« fragte er. »Mehr oder weniger.« Long unterdrückte ein Gähnen, da er Angst vor der Wirkung auf seine Schulter hatte. Sein Gesicht fühlte sich heiß und trocken an. Seine Lippen bluteten. »Der chinesische kaiserliche Drache hat fünf Zehen an jedem Fuß. Alle anderen haben nur drei oder vier.« »Und warum ist da so ein Unterschied?« »Es erleichtert ihm das Umblättern beim Lesen ungemein. Und das Schreiben von Briefen an seine Freunde auch«, antwortete Mayland Long. »Lachen Sie nicht. Es ist wahr.« Zu ihrer Überraschung war das Gebäude, in dem die Büros von RasTech untergebracht waren, hell erleuchtet. Auf dem Treppenabsatz vor dem Haus
hockten mehrere Männer und tranken Limonade, während sie sich unterhielten. Am Ende des Wegs blieben Long und Fred Frisch unschlüssig stehen. »Das ist eine zusätzliche Komplikation«, flüsterte Long. »Vermutlich arbeitet eine Firma da drinnen in drei Schichten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es RasTech ist. Die Männer da sehen wie Mexikaner aus. Wahrscheinlich arbeiten sie am Fließband.« »Einer von ihnen ist geborener Mexikaner.« Long sprach zerstreut. »Die übrigen scheinen dem Akzent nach aus dem Central Valley zu stammen. Aber die Tatsache, daß ein paar und der Wachmann sich im Foyer aufhalten, zwingt mich, meine Strategie zu überdenken. Ich hatte eigentlich vor, das Schloß aufzubrechen.« »Na, das ist jetzt nicht mehr nötig«, meinte Fred und lief frischfröhlich auf die Tür zu. Long folgte ihm. Der Wachmann hatte ein sonnengebräuntes Gesicht und war von etwas behäbiger Gestalt. Als die beiden Männer eintraten, legte er einen Liebesroman aus der Hand. Fred wirkte wie der Inbegriff blonder Unschuld. Vor dem Wachmann machte er halt und beugte sich über den Schreibtisch. »Ich bin hier mit Floyd Rasmussen verabredet«, erklärte er. »Aber ich hab’ mich ein bißchen verspätet.« Der Wachmann blinzelte verwirrt. Er sprach nicht allzu gut englisch. »Kein Mister Rasmussen hier. Nicht in der Nacht.
Morgen wieder zurückkommen.« Fred fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Das geht nicht. Wir müssen das System lüften. Comprende? Wir müssen das System lüften.« Der Wachmann räusperte sich und warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Roman. »Lüften nicht meine Sache. Morgen wiederkommen.« »Aber wenn wir das System nicht sofort lüften, läuft es heiß. Es tritt Überhitzung ein. Muy caliente und kostet einen Haufen Geld.« In dem Gesicht des Mannes zeigte sich Beunruhigung, und er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann nicht lüften. Was soll ich tun?« »Sie haben doch die Schlüssel. Lassen Sie uns hinein, damit wir es tun können.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht«, erklärte er. »Ist nicht erlaubt.« Freds Schnauzer sträubte sich förmlich. »Haben Sie schon mal einen Computer explodieren sehen?« fragte er. »Schauderhaft, sag’ ich Ihnen. Alles kaputt. Da wird von Rasmussens Firma nicht viel übrigbleiben.« Widerstrebend stand der Wachmann auf. Unschlüssig sah er sich um, als sei in den Ecken des Foyers Rat zu holen. Er schob seine Hand in die Tasche seiner Uniformjacke und zog einen Schlüsselbund heraus. »Sie kommen«, befahl er mit großer Bitterkeit. »Wenn Sie gehen, ich Sie durchsuchen.« »In Ordnung«, sagte Fred, als sich die Tür vor ihnen öffnete. Long enthielt sich eines Kommen-
tars. 13 Rasmussens Büro wurde nur von dem Licht erhellt, das durch die Fenster hereinfiel. Die Schatten des Modellschiffs bildeten bizarre Muster auf dem Teppich. Fred inspizierte das kleine Kunstwerk, während Mayland Long vor die Wand mit den Comic Strips trat und den Geschmack des Mannes beurteilte, der ihn beinahe getötet hätte. Offensichtlich hatte er eine Vorliebe für Hägar den Schrecklichen und eine Serie mit dem Namen Garfield. Er mochte alles von Kliban. Alles, was mit Katzen zu tun hatte. Long erinnerte sich des Schreis der Katze im Badezimmer. Die Katze hatte ihm Rasmussen verraten – nicht absichtlich natürlich. Und er wiederum hatte den Tod der Katze verursacht. Ebenfalls unabsichtlich. Rasmussens Geschmack war gewöhnlich – keiner der Ausschnitte an der Wand stellte ihn als Mörder bloß. Aber auch Mayland Long konnte lachen. Und Menschen töten. Er lehnte sich an die Wand und wartete auf Fred. Das Stehen machte ihm Mühe. Auch das Schlucken wurde immer schwieriger. »Das Ding ist ein Prachtstück. Mögen Sie Schiffe?« rief Fred. »Nein.« Die Müdigkeit, die sich in diesem einen Wort ausdrückte, riß den jungen Mann aus seiner Ver-
sunkenheit. »Entschuldigen Sie«, murmelte er und spähte durch die Dunkelheit. »Ich seh’ mir jetzt das System an.« Long folgte Fred von einem Raum zum anderen, während dieser nach einem Gerät suchte, das Ähnlichkeit mit einem Mikroprocessor mit Drucker hatte. Leicht war es nicht zu finden. Nach ein paar Minuten merkte Long, daß seine Bemühungen die Suche behinderten. Er kehrte in den Empfangsraum zurück und ließ sich in den Drehsessel der Sekretärin sinken. Wenigstens sah man im Dunklen nicht, daß die Wände orangefarben waren. Das flache Schaltbrett jedoch war grün und ebenso der Terminalbildschirm neben dem Schreibtisch der Sekretärin. Dies war offensichtlich ein ›papierloses‹ Büro; Long hatte im EDN Magazin über solche Büros gelesen. Das bedeutete, daß alle Korrespondenz auf Platten oder Bändern gespeichert war, die an den Drucker geschickt wurden, wenn Kopien gebraucht wurden. Er versuchte, Fred zu rufen, aber seine Stimme versagte. Beim zweiten Versuch gelang es. Fred kam. Long deutete auf den Kasten, der vor ihm stand. »Ist das ein Mikroprocessor?« Fred schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Bin ich ein Idiot! Da renn’ ich wie ein Wilder durch die Hinterzimmer und such’ was ganz Esoterisches, und da steht das Ding. Klar. Der Kasten ist ein Vector – ein 8080, und der Rest des Systems – hm, ich weiß nicht.« Long stand vorsichtig auf. »Ich hatte gehofft, Sie kennen sich aus.«
»Nein.« Fred erforschte mit flinken Fingern den Schreibtisch, um festzustellen, wo die verschiedenen Schalter sich befanden. »Können Sie damit umgehen?« »Weiß ich auch noch nicht«, brummte Fred. Ein Ventilator begann zu surren. Nach fünf Minuten gelang es ihm, den Bildschirm zu erleuchten. Unverständliche Zeichen und Zahlen erschienen. Ein trockenes, röchelndes Seufzen drang an Freds Ohren. Er fuhr in dem Drehsessel herum. Was er sah, sprengte seine Konzentration. Mayland Long kauerte hinter dem Schreibtisch auf dem Boden. Die Knie hatte er hochgezogen, und sein Kopf ruhte zwischen ihnen. Mit dem gesunden Arm hielt er beide Beine umschlungen. Die Räder des Sessels quietschten, als Fred aufsprang. Verlegen trat er zu Long und legte seine Hand auf das glänzende schwarze Haar. »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte er. »Wenn ich sage, daß ich mich da nicht auskenne, heißt das noch lange nicht, daß ich’s nicht herausfinden kann. Im Improvisieren war ich immer schon ganz gut. Und Sie wissen ja, was man sagt: Wenn man weiß, was man tut, ist es nicht Forschung.« Long hob den Kopf. Seine Augen glänzten in goldenen Facetten. Fred lächelte. »Achten Sie nicht auf die Geräusche, die ich von mir gebe. Das kommt nur daher, daß ich die Stimme verliere«, erklärte Long heiser. Plötzlich zog er die Augenbrauen hoch und fügte hinzu: »Mir scheint, Sie haben für jede Lebenslage ein Sprüchlein parat, Fred.«
Fred lachte. »Würde es Sie wundern zu hören, daß ich auch den Don Quichote gelesen habe? Ich fand immer, ich würde einen guten Sancho Pansa abgeben.« Er wischte sich über die Knie und kehrte an den Schreibtisch zurück. »Eigentlich bin ich gar nicht der typische Nordkalifornier mit Holzkopf und ›Atomtod den Walen‹-Aufkleber am Auto.« Fred tippte, während er sprach, und versuchte, eine Verbindung mit dem grünen Kasten herzustellen. »Ich stamme nicht mal aus Kalifornien. Aber wer stammt schon von hier? Ich bin ein braver halbjüdischer Junge aus Shaker Heights in Ohio. Ich hatte Angst, es meinen Freunden hier zu sagen, aber ich glaube nicht an die Reinkarnation.« Fred runzelte die Stirn und rückte seinen Sessel zurück. »Das klappt nicht. Ich glaube, dieses verdammte Ding – wer, zum Teufel, kann heutzutage noch so dämlich sein…« Sein Blick huschte über den Schreibtisch, den Tisch, der daneben stand, die Aktenschränke an der Wand. Schließlich bemerkte er einen Kasten von der Größe eines Toaströsters, dem man eine Haube mit der gestickten Inschrift ›Gott segne den Verhau‹ übergestülpt hatte. Mit einer schwungvollen Geste zog er die Haube ab. Darunter kam ein Lochstreifenlesegerät zum Vorschein, in das vorn eine Reihe von Spulen eingebaut war. »Weiße Bänder! Welch ein Anblick! Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.«
Er hielt drei der aufgespulten Bänder ans Licht. Er suchte sich das aus, das am abgegriffensten aussah, und schob es in das Gerät. Dann schaltete er den Strom ein und drückte auf den Knopf für die Lesefunktion. Augenblicklich sauste der Lochstreifen durch den Schlitz in das Gerät hinein und tauchte auf der anderen Seite wieder auf. Fred rannte rechtzeitig zum Sessel zurück, um den Text lesen zu können. ›Pandemanic Wortverarbeitungssystem‹ hieß es da. ›Ablage- und Redaktionsprogramm. Eingabezeit und -datum wie folgt: MM/DD/YY/. HH/MM.‹ Fred Frisch juchzte triumphierend und ging dann daran, dem Gerät seine Fragen zu stellen. Nach ein paar Minuten drehte er sich nach Long um. Doch der lag schlafend auf dem Boden. »Ich wollte, ich müßte Sie nicht wecken, alter Junge«, murmelte er. »Sie haben ganz schön was aushalten müssen. Sie müssen sich Ihr Geld wirklich sauer verdienen, hm? Aber das geht wahrscheinlich den meisten Leuten so. Zuviel Arbeit, die entweder langweilig oder gefährlich ist, und nie genug Kohle. Da kann ich echt von Glück reden.« Fred wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Vielleicht brauche ich Sie doch noch nicht zu wecken. Mal sehen, ob ich das Archiv finden kann. – Ah, hier…« Er tippte ein paar Fragen, und die Antworten befriedigten ihn. »Ich jogge, wissen Sie«, flüsterte Fred dem Schläfer zu. »Eher, um nach der Arbeit wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nicht der Muskeln wegen. Ich laufe von der Grünanlage beim Rat-
haus von Menlo die Gleise entlang nach Stanford. Unten bei der Eisenbahnbrücke steht ein alter Baum, der Palo Alto seinen Namen gegeben hat: der ›Hohe Pfahl‹. Jeder hier in der Gegend kennt den Baum, aber keiner nimmt sich die Zeit, ihn anzusehen – wenigstens bin ich immer der einzige dort. Ich bin kein Dynamiker, wissen Sie. Mich treibt nichts. Jedesmal, wenn ich an dem Baum vorbeikomme, bleibe ich stehen und fasse ihn an, und wenn ich so richtig schlapp bin, umarme ich ihn, verschwitzt wie ich bin, und lehne mich eine Weile an ihn. Er ist das älteste Lebewesen hier in der Gegend. Er ist bestimmt fünfhundert Jahre alt.« Wieder tippte Fred ein paar Fragen, und der Bildschirm füllte sich mit gedrucktem Text. »Nicht, daß ich eine bestimmte Philosophie hätte oder sowas«, murmelte er weiter, »aber ich finde, alte Dinge strahlen einen Frieden aus. Man spürt ihn. Wenn man ihnen nahe kommt, kann man ihn teilen.« »Alt zu sein, ist nicht immer eine Garantie für Frieden«, entgegnete hinter ihm Long mit trockener, rauher Stimme. Verdutzt drehte sich Fred herum. »Entschuldigen Sie. Ich hab’ eigentlich nur mit mir selber geredet«, sagte er. Mayland Long versuchte, sich aufzusetzen. Sein Gesicht war bleich und glänzte. Fred neigte sich über ihn, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Noch nicht. Lassen Sie mir noch ein paar Minuten Zeit. Es klappt alles wie geschmiert. Schlafen Sie ruhig noch eine Runde. Ich wecke Sie, wenn
ich Sie brauche.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Schnell fand er, was er gesucht hatte. Er gab dem Gerät einen freundlichen Puff. »Außerdem meinte ich wirklich alte Dinge – so wie Bäume zum Beispiel. Hunderte von Jahren alt.« »Ich bin ein sehr alter Wurm«, meinte Mayland Long seufzend, die fieberglänzenden Augen zur Decke gerichtet. »Ich suche seit langem nach einem flüchtigen Ding, das sich Wahrheit nennt. Jetzt, denke ich, würde ich mich mit Schlaf begnügen, wenn ich die Wahl hätte.« Fred hatte seinen Worten mit halbem Ohr gelauscht. Er fürchtete schon, daß er Long zum Wagen würde tragen müssen. »Für einen Wurm wären Sie echt uralt. Aber fünfundvierzig, fünfzig oder so – also, das würde ich nicht alt nennen. Und schlafen können Sie jetzt, Mr. Long. Ganz beruhigt. Wir sind hier sicher, und die Maschine frißt mir aus der Hand.« Er betätigte den Wagenrücklauf des Druckgeräts, dann stand er auf und streckte seine Glieder. Neben dem Druckgerät stand ein Getränkeautomat. Fred kramte Münzen aus seiner Tasche. Mit einem dampfenden Plastikbecher in der Hand trat er wieder zu Mayland Long. »Bitte sehr.« Er bot ihm den Becher an. »Ich weiß nie, wie ich Sie nennen soll. Ich meine, ich kann Sie natürlich immer schön brav Mister Long nennen, aber mir kommt’s einfach komisch vor, sonst nichts zu wissen. Ist Long Ihr chinesischer Name?«
Mayland Long setzte sich auf und griff nach dem Becher. Seine Hand zitterte. Nach dem ersten Schluck blickte er überrascht drein. »Was ist das?« »Kakao.« »Ah.« Long umschloß den Becher mit beiden Händen. »Mein – chinesischer Name lautet einfach Oolong. Ich gebrauche einen Vornamen, der eine lateinische Übersetzung des Originals ist. Oder war; er ist im Lauf der Jahre entstellt worden.« Er hustete, und Kakao spritzte auf den Teppich. Fred hielt den Becher mit einer Hand ruhig. »Eine Übersetzung. Das ist interessant. Und was bedeutet der Name?« Mayland Long sah Fred lächelnd an. »Ich zögere, Ihnen das nach unserer Unterhaltung im Auto zu sagen. Oolong hat zwei Bedeutungen. Es ist eine bestimmte Sorte von Tee, und es heißt außerdem schwarzer Drache. Aber ich versichere Ihnen, Fred, ich habe mir den Namen nicht selbst gegeben.« Wieder schlug sich Fred mit der Hand vor die Stirn. »Ich hab’ ein loses Mundwerk. Vergessen Sie das, was ich im Auto gesagt habe. Ich hab’ doch von China keine Ahnung. Trinken Sie.« Fred riß den Printout ab und begann zu lesen. Sein Interesse wuchs. An die Wand gestützt, stand Long langsam auf. »Was ist das?« »Der Brief.« Mit zusammengezogenen Brauen näherte sich Long ihm. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn diktiert zu haben. War ich so übel dran –«
»Er war gespeichert«, erklärte Fred Frisch. »Sie hat ihn in der Programmbibliothek der Sekretärin gelassen, und keiner dachte daran, dort nachzusehen. Nicht einmal die Sekretärin.« Er reichte Long das Papier. »Ein hochinteressantes Dokument«, bemerkte er. »Sie nennt Namen, Daten, Orte und Beträge. Sie hat einen ausgeprägten Ordnungssinn.« Long las. Er nickte zustimmend. »Liz und ich hatten dieselben Kurse belegt, als wir zu studieren anfingen. Ich war unheimlich in sie verknallt«, gestand Fred impulsiv. Long blickte von seiner Lektüre auf. »Ich verstehe. Und sie erwiderte Ihre Gefühle nicht?« »Nein. Für kleine Fische wie mich hatte sie nichts übrig.« »Das hat sie Ihnen gesagt?« Fred strich sich verlegen durch das Haar und errötete. »Ich hab’ darüber nie mit ihr gesprochen. Hätte keinen Sinn gehabt.« Long betrachtete ihn aufmerksam. »Deshalb also waren Sie bereit, mir zu helfen.« Fred wich dem Blick nicht aus. »Nein. Nein, ich glaube nicht, daß das der Grund ist. Ich – ich denke – ich meine, glauben Sie nur nicht, ich täte es nur, weil…« Damit verstummte er und machte sich daran, die Geräte abzuschalten. Mayland Long las den Brief schweigend zu Ende. Der Wachmann klopfte einmal jede von Freds Ta-
schen ab, ehe er zur Seite trat. Dann näherte er sich Long, der aus unendlichen Höhen zu ihm hinunterblickte. »Yo no tengo nada,«, sagte er. Sekundenlang starrten die beiden Männer einander an. »Le creo«, murmelte der Wachmann endlich und schlurfte zurück zu seinem Tisch und seinem Liebesroman. Der Himmel hatte sich in ein lichtes Grau verfärbt, während Fred gearbeitet hatte. Ein kühler Morgenwind schlug ihnen in die Gesichter, als sie aus dem Gebäude traten. Long atmete tief ein. »Ich fühle mich wesentlich besser, Fred. Der Kakao war ein rettender Gedanke.« Fred eilte voraus und war vor Long am Citroen. Mit gespreizten Beinen baute er sich vor der Fahrertür auf. »Lassen Sie mich fahren.« Long schüttelte den Kopf. »Der Wagen ist kompliziert.« Fred ließ nicht locker. »Aber Sie wissen doch – ich bin der Junge, der so schnell lernt.« »Haben Sie kein Vertrauen zu meinen Fähigkeiten als Autofahrer?« Longs Tonfall war leicht ironisch. Freds dagegen nicht, als er antwortete. »Nein. Sie fühlen sich nicht wohl, und diese Geschichte ist gefährlich genug, da möchte ich nicht auch noch Angst haben müssen, daß wir bei der nächsten Kurve im Graben landen.« Long übergab Fred die Schlüssel. »Sie haben natürlich recht.« Er ging um den Wagen herum. Fred hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, als er sich hinter das Steuer setzte und das Armatu-
renbrett inspizierte. Als der Motor ansprang, hob die Hydraulik die Karosserie des Wagens merklich an. Fred hatte davon schon gehört, dies jedoch war seine erste eigene Erfahrung mit dieser Raffinesse. Nun, wenigstens waren die Armaturen vertraut. Vorsichtig ließ er die Kupplung kommen. Mayland Long entspannte sich. »Sie lernen wirklich schnell«, bemerkte er. »Ich hatte eigentlich einen ungestümeren Start erwartet.« Fred zuckte mit den Schultern. »Und wohin fahren wir jetzt?« fragte er. »Wir?« »Natürlich wir. Sie glauben doch nicht, daß ich mich nach der ganzen Aufregung wieder ruhig aufs Ohr legen kann, Mr. Drache?« Longs Lächeln vertiefte sich und wurde zu Gelächter. »Fred! Haben Sie solche Lust auf Abenteuer? Aber ich vergaß – ich habe ja einen jungen Mann vor mir. Fahren wir erst einmal zurück zu Ihrer Wohnung. Ich muß telefonieren.« »Mit wem?« »Das sage ich Ihnen, wenn wir da sind.« Fred warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist kurz nach vier. Sie sagen, Liz ist so lange sicher, bis die Banken aufmachen?« »Ich hoffe es. Rasmussen und Threve werden nicht wagen, sie zu töten, solange sie den belastenden Brief nicht haben.« »Aber was ist mit – Mrs. Macnamara?« Longs Antwort ließ etwas auf sich warten. »Sie schwebt in großer Gefahr. Diese Verbrecher haben nur einen Grund, sie am Leben zu lassen: um mit der Drohung, sie zu töten, die Tochter unter Druck zu setzen. Sollten sie das nicht mehr für
nötig halten, oder sollte Martha sich dazu nicht benützen lassen, so ist damit zu rechnen, daß sie sie töten werden. Sie müssen sie auf jeden Fall töten, wenn sie Martha nicht mehr brauchen. Martha ist eine neugierige und intelligente Frau, die wahrscheinlich mindestens einen von ihnen von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Da können sie sie nicht am Leben lassen!« Freds Gesicht verdüsterte sich, als er sich der Frau im blauen Kleid erinnerte und des Vergnügens, das Martha Macnamara gezeigt hatte, während sie das kleine Rennauto in seinem Laden hatte herumflitzen lassen. »Kann die Polizei denn gar nichts tun?« fragte er. »Wie denn? Sagen Sie mir, wie, Fred, und ich fahre schnurstracks mit Ihnen zum nächsten Polizeirevier. Ich kann weder Rasmussen noch Threve finden –« »Von Threve habe ich nie gehört. Wie sieht der aus?« »Wie der Teufel persönlich, scheint mir. Elizabeth fürchtet ihn weit mehr als Rasmussen. Abgesehen davon, weiß ich nur, daß er ziemlich klein ist und sich auffallend kleidet. Ich glaube, er fährt einen schwarzen Lincoln. Zumindest habe ich den Verdacht, daß ein solcher Wagen bei der Entführung eingesetzt wurde, und vor RasTech habe ich ihn nicht stehen sehen. Jetzt sagen Sie mir, wie die Polizei mit Hilfe dieser dürftigen Information Martha Macnamara ausfindig machen soll. Das heißt, wie die Polizei sie rechtzeitig finden soll. Ihre Leiche würden sie sicher früher oder später
aufstöbern.« Fred schauderte. »Mein Gott! Sie sind wohl mit der Zeit gegen solche Dinge richtig abgestumpft?« »Wer? Ich?« fragte Long. »Je länger man lebt, desto mehr erlebt man, das ist schon wahr, aber abgestumpft komme ich mir nicht vor. Ganz im Gegenteil. In meiner Jugend war ich viel unsensibler und brutaler.« »Dann haben Sie den falschen Beruf«, behauptete Fred. »Nichts für ungut, aber ich glaube, ein Mensch, der in so einer heimtückischen Welt gedeihen kann, unter Gangstern und Betrügern, immer an der Grenze des Gesetzlichen – also der muß schon was von einer Schlange haben.« Long neigte sich neugierig zu ihm hinüber. »Von was für einer Welt sprechen Sie, Fred? Was meinen Sie?« »Ich spreche von der Welt des Privatdetektivs. Oder des Kriminalbeamten.« »Ach so.« Mayland Long begann wieder zu lachen, ohne auf den stechenden Schmerz in seiner Schulter zu achten. »Sie halten mich für einen Privatdetektiv.« »Sind Sie denn keiner?« Verblüfft starrte Fred in das lächelnde, müde Gesicht an seiner Seite und sah dann hastig wieder auf die Fahrbahn. »Was – wer sind Sie dann? Wie sind Sie in diese Sache hineingeraten?« Mayland Long seufzte. »Fangen wir damit an, was ich bin. Mein Gebiet sind Sprachen, aber ich habe mich jetzt zur Ruhe gesetzt. Das Wer ist gleichermaßen leicht zu erklären. Ich bin ein Freund von Martha Macnamara. Wie? Das ist am
leichtesten überhaupt. Ich habe ihr versprochen, ihre Tochter zu suchen. Da haben Sie’s. Sie haben einem tölpelhaften Amateur dabei geholfen, unbefugterweise fremde Räume zu betreten und fremde Dokumente zu stehlen. Bereuen Sie das jetzt?« Fred war nicht so leicht zu erschüttern. »Ach wo. Ich bin froh. Ich meine, Hilfsbereitschaft des Geldes wegen hat irgendwie was Schäbiges. Aber Martha – ich meine, Mrs. Macnamara. Das tut mir echt leid. Sie war eine nette Person.« »Bitte noch keine Nachreden«, knurrte Long. »Ich glaube nicht, daß sie tot ist. Erlauben Sie mir das.« Der Wagen hielt vor Freds Haus an. Er stellte ihn in zweiter Reihe ab. Die beiden Männer stiegen aus. Fred fühlte, wie ihm die Wagenschlüssel aus der Hand genommen wurden. Noch etwas in Verlegenheit wegen seiner vorausgegangenen Machtdemonstration, ließ er sie sich abnehmen und kramte seinen Wohnungsschlüssel heraus. Als er die Haustür aufgeschlossen hatte, drehte er sich um und stellte fest, daß Mayland Long nicht an seiner Seite stand, sondern dabei war, den Citroen auf der Fahrseite aufzuschließen. Fred rannte über den Rasen hinüber. »Was tun Sie da?« protestierte er. »Wollen Sie mich vielleicht abwimmeln?« »Ja, Fred. Genau das«, bekannte Long und wehrte den jungen Mann sanft ab. »Ich hatte gehofft, Sie würden es nicht gleich merken.« »Das kommt nicht in Frage. Ich lasse Sie nicht
allein fahren.« Long legte Fred die rechte Hand auf die Schulter. Es war eine herzliche, onkelhafte Geste, und Fred stellte fest, daß sie ihn absolut bewegungsunfähig machte. »Sie können mich nicht daran hindern, Fred.« Fred wehrte sich gegen Longs Hand, doch er mußte sich geschlagen geben und versuchte es wieder mit Worten. »Wenn Sie mich nicht mitnehmen, rufe ich die Polizei.« Long wandte das Gesicht ab, und die Hand fiel herab. »Das kann ich nicht verhindern«, sagte er. »Jedenfalls nicht, ohne Ihnen Schaden anzutun oder Sie einzusperren. Und das werde ich nicht tun.« Er rutschte hinter das Steuer. Fred zwängte sich zwischen Tür und Rahmen. »Aber Sie brauchen mich! Die Kerle sind zu zweit, und Sie haben nur einen gesunden Arm.« »Akrobatische Kunststücke werden vielleicht nicht nötig sein«, wiederholte Mayland Long. »Vielleicht doch. Vielleicht würde gerade ich dann die entscheidende Rolle spielen. Vielleicht hängt es von mir ab, ob ein Leben gerettet wird oder – oder nicht. Ich kann wirklich sehr wichtig sein.« Fred umklammerte den Türgriff. Sein helles Haar leuchtete im Licht der Straßenlampe. »Sie sind wichtig, Fred«, flüsterte Mayland Long. »Und gerade deshalb werde ich Sie nicht tiefer in diese Sache hineinziehen.« Mit unwiderstehlichem Druck drängte er Fred auf
die Straße hinaus. 14 Martha Macnamaras ganze Welt bestand aus dem Ächzen und Knarren von Holz und der klammen Kälte feuchter Luft. Wäre sie fähig gewesen, klar zu denken, so hätte vielleicht gerade die Tatsache, daß sie sich so schlecht fühlte, sie davon überzeugt, daß sie noch am Leben war. Doch dieser Trost war ihr verwehrt, da sie nur am Rand des Bewußtseins schwebte, und ihre Gedanken in einer rhythmischen Bewegung von Auf und Nieder gebunden waren. Das Tempo war molto lento, und sie hätte eigentlich im Takt dazu irgend etwas tun sollen. Aber was? Die Frage ließ sie nicht los. Sie versuchte, im Takt zu atmen – es gelang nicht. Du kannst deinen Atem nicht zwingen, ermahnte sie sich. Was dann? Singen? Ihr fiel kein Lied ein, das einen so gemessenen Rhythmus hatte, in dem die Welt jetzt schlug, und außerdem konnte sie ohnehin ihre Stimme nicht finden. Und ihre Hände konnte sie auch nicht finden. Sie konnte also nicht Geige spielen. Das Staccato schneller Schritte überlagerte den schwerfällig schwankenden Rhythmus. Sie achtete aufmerksam auf die Schritte. Gut. Percussion rundete das Werk richtig ab. Es war jemand da, der sich um alles kümmerte. Martha war zufrieden.
Er fuhr auf Reserve. Das war unangenehm, aber zu dieser frühmorgendlichen Stunde ließ es sich nicht ändern. Vielleicht konnte er von Elizabeths Wagen Benzin abzapfen. Er fühlte sich, wie er es Fred gesagt hatte, tatsächlich viel besser. Diese schreckliche Nacht blieb hinter ihm zurück. Und auch etwas anderes blieb zurück: eine Gefahr oder ein Elend, das er fühlen, dem er aber keinen Namen geben konnte. Vielleicht war es Hoffnungslosigkeit. Er hatte seine Versprechungen zum Teil erfüllt, aber Versprechungen waren nicht mehr das einzige, was ihn am Leben hielt. Er spürte das Drängen der aufgehenden Sonne, die im Osten die Nacht aufsog. In zwei Stunden würde sie über Kalifornien aufgehen. Die Sonne war ihm immer eine Quelle starken Trostes gewesen. Doch er verdankte die Erneuerung seiner Kraft nicht dem langsamen Verstreichen der Zeit, sondern der spontanen Hilfsbereitschaft Fred Frischs. Wäre der junge Mann nicht gewesen, so hätte er wahrscheinlich nicht überlebt. Das Wunder dieser Menschenliebe war wie ein Leuchten in seinem Geist. Long konnte auf seine spröde, zurückhaltende Art mitfühlend sein. Er hatte seine vielseitigen Kräfte ein- oder zweimal in den Dienst anderer gestellt. Aber selten hatte er das Mitgefühl der Menschen zu spüren bekommen. Er hatte es auch selten gebraucht. Freds Reaktion auf einen Menschen, der ihm
praktisch völlig fremd war, ging über landläufige Freundlichkeit hinaus. Er hatte seinen Schlaf geopfert und sein Mobiliar ruiniert. Long hatte ihm starken körperlichen Schmerz zugefügt, und dennoch hatte er ihm weiterhin geholfen. Er war bereit gewesen, Gefängnis zu riskieren. Er war bereit gewesen, sein Leben in Gefahr zu bringen. Wie konnte Long so viel Zuwendung begreifen, geschweige denn, sich dafür revanchieren. Ebenso wie Musik ließ sich Freds Verhalten nicht in Begriffe von Gewinn oder Verlust fassen. Und es unterlag auch nicht den Begriffen der Logik. Es hatte keinen anderen Sinn als den seiner eigenen Existenz. Doch weil er ein methodisches Wesen war, das sehr wohl in Begriffen von Gewinn und Verlust dachte, begann Long nun, die Verluste und Gewinne der letzten Tage zu berechnen. Verlust an Macht. Verlust von Blut. Verlust von neuer Hoffnung. Verlust von Gewißheit. Auf der Habenseite stand nur diese Begegnung mit einem jungen Mann, der für Mayland Long seinen Schlaf aufgegeben hatte; der die lästigen Pflichten eines Krankenpflegers auf sich genommen hatte; der ihm ein Hemd geliehen hatte. Der es gewagt hatte, Long die Hand auf den Kopf zu legen und zu erklären, es sei alles in Ordnung. Wie kam es, fragte sich Mayland Long, daß er sich angesichts einer solchen Bilanz so viel kräftiger fühlte, während er jetzt dem Sonnenaufgang entgegenfuhr?
Der Citroen schoß auf die Schnellstraße, und er wurde gegen die Rückenlehne seines Sitzes gedrückt. Dies war die letzte kurze Etappe der Reise dieser Nacht – die Fahrt zu Elizabeth Macnamaras Wohnung. Er konnte nur hoffen, daß ihm das Benzin nicht ausging. Die kühle Luft verhieß später Nebel, doch in diesem Moment, als die Nacht sich ihrem Ende zuneigte, war der Himmel scharf und klar. Long rutschte etwas nach rechts und merkte, daß sein Hemd am Lederbezug klebte. Nun, wenigstens hatte sein Hemd die richtige Farbe. Er verließ die Schnellstraße und bog nach Norden ab. Als er an dem Haus vorüberfuhr, in dem Liz ihre Wohnung hatte, bemerkte er in einem Fenster gelben Lichtschein. Er bog um die Ecke und parkte in einer Seitenstraße. Flüchtig überlegte er, ob der Wagen wieder anspringen würde. Unwichtig. Er würde ohnehin so bald nicht wieder fahren. Ein steinerner Turm verdunkelte das Licht der Sterne. Er hatte vor einer Kirche angehalten. Er war ein Kenner der Architektur, und Kirchen waren seine besondere Leidenschaft, doch dieser Bau war eine Enttäuschung. Er war offensichtlich neu, und der Stein war nur Attrappe. Dreieinigkeitskirche stand auf dem Hinweisschild. Er blieb auf dem kalten Rasen stehen und gähnte. »De profundis clamor ad te«, knurrte er zu dem Kreuz auf dem Turm hinauf. »Aus den Tiefen ein Ruf zu dir.« Er wußte selbst nicht recht, zu wem
er sprach. Von der Anstrengung mußte er husten. Er wandte sich von der Straße ab und überquerte den Friedhof. Aber auf dem Friedhof der Dreieinigkeitskirche war niemand begraben. Das Gelände war zubetoniert. Hinter dem Kirchplatz stand eine Eibenhecke. Als er sich zwischen ihren Zweigen hindurchzwängte, hörte er das Plätschern von Wasser. Der Brunnen war von unten angestrahlt. Die Fontäne sprühte in einem gewölbten Kreis in die Höhe und fiel, feinzerstäubt und silbern glänzend, auf die Rücken der schlafenden Möwen herab. Kalte Wassertropfen spritzten ihm ins Gesicht. Er trat zwischen die Möwen, und die Vögel rührten sich nicht. Er ging um den Brunnen herum, wobei er das Licht mied, und erreichte den mit weißen Platten belegten Weg, der sich zwischen den Gebäuden hindurchwand. Aus den Wohnungen drang kein Geräusch, nicht einmal das gedämpfte Dröhnen eines Fernsehapparats. Unter dem Fenster von Liz Macnamaras Wohnung blieb er stehen. War es wirklich erst Stunden her, seit er dort hinaufgeklettert war? Das Fenster war noch offen. Gut. Hätte Elizabeth es geschlossen gehabt, so hätte er die Kletterpartie nicht wagen können – nur mit einem gesunden Arm. Trinken Sie, schlafen Sie oder beten Sie, hatte er gesagt. Ganz nach Ihrem Naturell. Was war Elizabeths Naturell? Eine Ahnung davon würde er bald bekommen. Er sprang leicht gegen die Mauer und klemmte seinen linken Fuß in den Spalt zwischen zwei So-
ckelquadern. Ehe er den Schwung verlor, stieß er sich nach oben ab und packte mit der gesunden Hand den Fenstersims. Durch die ungleiche Gewichtsverteilung geriet er ein wenig aus der Balance und schlug mit der linken Schulter mit dumpfem Aufprall an die Mauer. Doch er ließ im Schmerz das Fensterbrett nicht los, sondern krampfte seine Finger nur noch fester darum und zog sich hoch. Kopf voraus rollte er ins Zimmer und landete rücklings auf dem weißen Teppich. Liz Macnamara war wach. Sie saß, so wie er sie vorher schon einmal gesehen hatte, zusammengekuschelt auf dem Sofa, und ihr Gesicht war weiß und voll Angst, wiederum wie zuvor schon einmal. Doch ihre Hände und Füße waren mit Heftpflaster gefesselt, und auf ihrem Mund klebte ebenfalls ein Streifen Pflaster. Todesangst stand in ihren Augen; kein Wunder, denn Floyd Rasmussen hielt sie mit einer Hand am blonden Haar gepackt, während er ihr mit der anderen eine Pistole an die Schläfe drückte. Seine kleinen, farblosen Augen waren auf Long gerichtet. Der lag so still wie eine Bronzestatue. »Sie haben heute abend mein Selbstvertrauen arg ins Wanken gebracht, Sportsfreund«, bemerkte Rasmussen. »Aber auf diese Entfernung kann ich, denke ich, nicht verfehlen. Ich spreche von unserer Lizzie hier, nicht von Ihnen.« Long sah Liz an und fand in ihrem Blick ein stummes Flehen um Verzeihung. »Warum? Was soll das hier?« fragte Long. Als er aufstehen wollte, hielt Rasmussen ihn mit einer
Bewegung der Pistole davon ab. »Ich weiß von Ihren finanziellen Abenteuern, aber zwischen Diebstahl und Mord besteht doch ein gewisser Unterschied. Das sind Verbrechen unterschiedlicher Qualität.« Rasmussen ließ sich auf das Sofa fallen, ohne Liz’ Haar loszulassen. »Stimmt, aber die Brücke haben wir bereits überquert«, versetzte Rasmussen. »Ich hab’s zwar nicht persönlich getan, aber das spielt jetzt auch schon keine Rolle mehr.« Liz schloß die Augen, als würde der Schmerz übermächtig. Longs Miene war ausdruckslos. »Mrs. Macnamara ist tot?« »Mein – äh – Partner verlor die Beherrschung.« Wut und Groll sprachen aus Rasmussens Worten. »Sind Sie sicher?« drängte Long. Sein Stirnrunzeln ließ ungläubige Verwunderung erkennen. »Er hat sie geschlagen und erdrosselt«, gab Rasmussen heftig zurück. »Ich kam einen Moment zu spät. Ihr Gesicht war blau angelaufen, und sie war schlaff wie ein toter Fisch. Brr!« Liz Macnamara schwankte und sank unter seiner brutalen Hand in sich zusammen. Er achtete nicht auf sie. »Wie unglückselig für alle Beteiligten«, flüsterte Mayland Long. »Genau. Ich hatte nicht die Absicht, irgend jemanden umzubringen. Ich wollte unsere gute Lizzie hier nur ein paar Wochen aus dem Verkehr ziehen, um in Ruhe verschwinden zu können. Aber wie das Leben so spielt! Lizzie schrieb einen belastenden Brief, und dann rief sie ihre Mut-
ter an. Und Doug, mein Partner, der ist ein ganz fieser kleiner Halunke. Da gibt man ihm einen total simplen Job, und er macht nichts als Quatsch. Tja, Lizzie und Doug haben mich ganz schön in Verlegenheit gebracht. Und Sie auch! Mein ganzes Haus ist voll Blut. Jetzt muß ich Sie beide loswerden, bevor ich mich aus dem Staub mache.« »Wohin wollen Sie?« Rasmussen lachte verächtlich. »Warum sollte ich Ihnen das auf die Nase binden?« »Weil es keine Rolle mehr spielt«, antwortete Long gelassen und wandte den Blick von Liz’ Gesicht. »Wenn Sie uns ohnehin umbringen wollen, können Sie es mir ruhig erzählen.« Er musterte die Eßnische, wo die schwedischen Gläser wie eine Schar von Geistern leuchteten. Nirgends in der Wohnung waren Spuren eines Kampfes zu entdecken. Die Sicherheitskette an der Tür war unversehrt. Aber Liz Macnamara hatte ja auch geglaubt, völlig sicher zu sein. Das weiße Heftpflaster verdeckte einen großen Teil ihres Gesichts, aber Long sah, daß ihr Kiefer verkrampft war. Die blauen Augen starrten ins Leere. Sie wirkte hart und zornig. Long fiel ein, was sie ihm am vergangenen Abend über sich selbst erzählt hatte, und er vermutete, daß sie tatsächlich große Angst hatte. Rasmussen zuckte mit den Schultern. »Okay, ich hab’ eine Jacht – die Caroline. Erinnern Sie sich an das Modell in meinem Büro? Und Threve hat eine Cessna. Sie steht draußen in Marin im Hangar. Heute nachmittag sind wir schon in Mexiko und morgen in São Paulo. Für zwei Millio-
nen Dollar lohnt sich’s schon, eine fremde Sprache zu lernen, noch dazu steuerfrei.« »Warum lassen Sie uns dann nicht einfach gefesselt hier zurück?« fragte Long ruhig. »Bis wir uns befreien können, sind Sie längst in Sicherheit.« »Ach, tatsächlich?« Rasmussens Stimme troff vor Sarkasmus. »Daran glaub’ ich nicht, alter Freund. Ich hab’ gesehen, was Sie mit dem Lichtschalter im Bad angestellt haben, und wie Sie die Tür auseinandergenommen haben. Nach den Mengen von Blut, die Sie in meinem Haus hinterlassen haben, müßten Sie längst tot sein – ich hab’ genug Wild ausgenommen, ich weiß, wovon ich rede.« »Dann müssen Sie auch wissen, daß ich nicht in der Verfassung bin, weitere Türen auseinanderzunehmen«, entgegnete Long seufzend. Ohne Rücksicht auf die Waffe in Rasmussens Hand setzte er sich auf. »Jedenfalls nicht heute.« »Das weiß ich absolut nicht«, knurrte Rasmussen. Er grub seine Finger noch fester in Liz’ Haar. »Sie sind ein ganz unheimlicher Bursche. Ich weiß nicht, was es ist, Meditation, Karate oder Hypnose, aber ich habe keine Ahnung, wo Ihre Grenzen liegen. Ich traue Ihnen nicht. Außerdem haben Sie mich dazu gebracht, Blanco abzuknallen. Ich mag Sie nicht.« Longs Lächeln sagte, daß er die Abneigung erwiderte. »Aber Miß Macnamara – von ihr wissen Sie doch, daß Sie keine Yoga-Anhängerin ist. Sie brauchen Sie nicht zu töten.«
Rasmussen lachte. Mit seiner feisten Hand riß er Liz’ Kopf herum. »Liz? Liz lebt schon seit Monaten gefährlich. Sie hat plötzliche Gewissensbisse bekommen. Außerdem kenne ich unsere kleine Lizzie. Sie ist ein nachtragendes Wesen. Sie würde mich bis in die Hölle verfolgen, und wenn nur aus dem Grund, um dem Teufel zu helfen, das Feuer zu schüren.« Er seufzte. »Nein. Ich kann weder Leichen noch Zeugen zurücklassen.« Long zog die Augenbrauen hoch. »Wie wollen Sie das denn vermeiden?« »Ganz einfach. Wir nehmen Sie mit. Auf der Caroline. Ein Stück wenigstens. Los, auf die Beine!« Er stand auf und zog Liz mit sich hoch. Sie schlug und trat nach ihm, unter dem Heftpflaster drangen gedämpfte Beschimpfungen hervor, aber gefesselt wie sie war, konnte sie im Grund nichts tun. Long sah Rasmussen an, ohne sich zu rühren. »Weshalb sollte ich es Ihnen leichtmachen?« fragte er. »Sie bieten mir keinen Anreiz.« Rasmussen grinste und hielt Liz die kalte Pistolenmündung an die Schläfe. »Sie werden tun, was ich sage, weil sich, solange Sie noch am Leben sind, vielleicht eine Chance bietet zu entkommen. So einfach ist das. Selbstverständlich habe ich nicht die Absicht, Ihnen diese Chance zu geben, aber man muß immer auf die Mannschaft setzen, zu der man gehört.« Long erhob sich. Im Lampenlicht standen die beiden Männer einander gegenüber. »Bilden Sie sich ein, Sie könnten uns beide er-
schießen, ehe ich Ihnen etwas anhaben könnte?« fragte er ruhig. »Das brauche ich gar nicht«, erwiderte Rasmussen, und sein Gelächter schallte durch das Zimmer. »Wenn Sie den Mumm hätten, unsere kleine Lizzie zu opfern, wären Sie schon längst auf mich losgegangen. Soviel wissen wir doch voneinander, Mr. Long. Sie wissen, daß ich fähig bin, sie zu töten. Ich weiß, daß Sie dazu nicht fähig sind. Deshalb habe ich die Macht.« Longs Panzer der Gelassenheit wurde bei Rasmussens letzten Worten einen Moment lang brüchig, und ein wildes, ungezügeltes Feuer blitzte in seinen schmalen Augen auf. Rasmussen zuckte zurück. Er wedelte mit der Waffe. »Gehen Sie. Hinten raus, durch die Garage.« Das Feuer schwand, als wäre die Ofentür zugeschlagen worden. Long drehte sich um und ging Rasmussen voraus in die Küche. Von dort führte eine Tür in die Garage. Die Garage war so leer und so sauber, daß sie unbenutzt schien. Weder Kartons standen an den Wänden aufgestapelt noch ausrangierte Möbelstücke, nicht einmal eine Trittleiter. Liz Macnamara hatte keine alten Besitztümer, nichts von dem, was man nicht mehr gebrauchen kann, aber auch nicht wegwerfen möchte. Bis vor kurzem war sie es gewöhnt gewesen, überhaupt keinen Besitz zu haben. In dieser leeren Garage stand in einsamer Pracht der Mercedes. Rasmussen warf Long die Schlüssel zu. »Machen Sie den Kofferraum auf«, befahl er.
Long gehorchte. »Helfen Sie ihr hinein.« Long blieb reglos stehen, die Schlüssel in der Hand. »Nein.« Rasmussens Hand glitt von Liz’ Haar zu ihrem Hals. Sie drückte langsam zu. Liz’ Augen wurden immer größer, je stärker der Druck wurde, doch sie sah Mayland Long nicht an. Der Atem drang pfeifend aus ihrer Nase, und dann hörte dieses Geräusch plötzlich auf. »Schluß!« sagte Long. »Das ist nicht nötig.« Rasmussen grinste breit. Er ließ Liz’ Hals los, als Long sich bückte, um ihm zu helfen, Liz in den Kofferraum des Mercedes zu verfrachten. Mit einer raschen Bewegung schwang er die Pistole und schlug Long damit auf den Hinterkopf. Der Kofferraum klappte über seinen beiden Gefangenen zu. »Gottverdammich«, brummte er vor sich hin, »wollen doch mal sehen, was da mit Hypnose noch zu machen ist.« 15 Dumpf knallend fiel der Kofferraumdeckel herab und schloß sie beide in Dunkelheit ein. Long stöhnte und wälzte sich von der Wand weg, die gegen seine verwundete Schulter drückte. Mit seiner gesunden Hand suchte er Liz’ Gesicht und fand es. Vorsichtig löste er das Heftpflaster von ihrem Mund und machte sich dann daran, ihre Hände zu befreien.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir wahnsinnig leid.« »Was denn?« Die Pflasterstreifen lösten sich nur schwer von ihren Armen. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei. »Was denn?« wiederholte Long. »Ich bin es, der Sie im Stich gelassen hat, wie mir scheint. In der Pose des Retters bin ich auf der Bildfläche erschienen und habe nichts weiter zustande gebracht, als alles noch schlimmer für Sie zu machen.« Mit ihren freien Händen fing Liz an, die Fesseln um ihre Beine zu bearbeiten. »Floyd kam vor ungefähr zwei Stunden. Ich ließ ihn herein. Ich war überzeugt, er würde es nicht wagen – Oh, verdammt!« Die Stimme versagte ihr. »Er sagte«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »Sie wären in sein Haus eingebrochen, weil Sie mich suchten. Ich wußte natürlich, daß Sie meine Mutter suchten. Er behauptete dann, er hätte sie niedergeschossen und Sie wären ins Gebüsch geflohen, um dort zu sterben wie ein Tier. Er sagte, seine Zimmerdecke wäre blutdurchtränkt.« »Sind Sie schwer verletzt?« Ihre Hände irrten durch die Finsternis. Fanden ihn. »Die Wunde ist verbunden«, antwortete Mayland Long. Eine schmale Hand berührte seine verletzte Schulter, er umschloß sie mit seiner eigenen Hand
und schob sie sachte beiseite. »Wir müssen jetzt an wichtigere Dinge denken.« »Es tut mir so leid«, wiederholte Liz hilflos. »Wenn ich mich nicht mit Rasmussen eingelassen hätte…« »Wenn ein beliebiges aus einer unendlichen Zahl von Ereignissen sich nicht so oder so zugetragen hätte, wäre die Gegenwart ein anderer Raum.« Er gähnte. Es wurde merklich wärmer im Kofferraum. »Elizabeth, Selbstvorwürfe sind sinnlos. Bedauern ist noch schlimmer. Dennoch bedaure ich es, daß ich so schwach und müde bin, daß es mir vielleicht nicht gelingen wird, das Schloß des Kofferraums aufzubrechen.« Während er sprach, klopfte er mit den Fingern das Metall ab, um die Stelle zu finden, wo das Schloß einhakte. »Das Schloß aufbrechen? Das ist doch klar, daß Sie das nicht schaffen. Es ist aus Stahl.« »Ich beherrsche ein paar Zauberkunststückchen«, erwiderte Long trocken. »Sogar mit Stahl. Aber jetzt…« Er legte seine flache Hand an die Rückwand ihres Gefängnisses. »Ich kann mich nirgends richtig abstemmen.« »Warten Sie.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die hintere Wand und drückte ihm die Hände ins Kreuz. »Ich glaube, Ihre Knochen würden eher brechen als das Schloß«, meinte Long, und in diesem Augenblick machte der Wagen eine scharfe Rechtskurve. Liz und Long wurden seitwärts geschleudert und landeten in enger Umarmung.
Die vertrauliche Nähe war unfreiwilliger Art. Als der Wagen wieder geradeaus fuhr, rückten sie wieder voneinander ab. Einen Moment lang war es ganz still in der Dunkelheit. Dann begann Mayland Long zu lachen. Es war ein polterndes, aus der Tiefe kommendes, spontanes Gelächter, das zu einem so schmächtigen und hageren Menschen gar nicht zu passen schien, von einem so schwer verletzten Menschen eigentlich gar nicht kommen konnte. Mayland Longs Gelächter war wie der kühle Donner eines Sommernachmittags, und Liz mußte inmitten all ihrer Angst und ihres Grauens unwillkürlich lächeln. »Ach, Elizabeth! Es ist schon etwas sehr Seltsames, ein Mensch zu sein.« Ohne Warnung schlug Long mit der flachen Hand krachend gegen den Kofferraumdeckel. Das Schloß zerbrach, und ein Lichtstrahl schob sich in ihr Gefängnis. »Leichter als ich dachte«, sagte er. Elizabeth vergeudete keine Zeit mit staunender Anerkennung. Sie spähte durch den offenen Spalt. »Wir sind auf der zwo-achtzig«, stellte sie fest. »Und fahren nach Norden.« »Wo liegt die Caroline?« »North Beach. Die Jachthäfen hier unten konnten sie nicht aufnehmen.« Sie lehnte sich wieder zurück. »Und was tun wir jetzt?« Die Füße gegen die hintere Kofferraumwand gestemmt, rückte Long näher. »Wir warten auf eine Gelegenheit, aus dem Wagen zu springen.« »Während der Fahrt?«
»Besser während eines Halts.« Flüchtig sah sie seine Zähne im Dunklen aufblitzen. »Man sieht, daß Sie nie mit Floyd Rasmussen im Auto gefahren sind«, entgegnete sie ein wenig pikiert. Dann fiel ihr seine frühere Bemerkung ein, und sie fragte: »Was meinten Sie eigentlich vorhin – als Sie sagten, es sei seltsam, ein Mensch zu sein?« Er antwortete nicht gleich, sondern wälzte sich von der Seite auf den Rücken. Den Blick zur Metalldecke gerichtet, sagte er: »Der Mensch ist ein ungewöhnliches Wesen. Er besitzt die Fähigkeit, ungeheuer präzise zu denken. Mehr noch, er ist schöpferisch, er schaffte Sprachen, Philosophien, Lyrik… Kurz, er ist das Höchste aller Wesen. Und doch ist er so ungemein – hm, was wäre das richtige Wort – leicht ablenkbar. In den Augenblicken höchster Konzentration kann er davonflattern wie ein Schmetterling und alles, was er gewonnen hat, in die vier Winde verstreuen. Aber das ist kein Makel im Menschen, denke ich. Das ist es, was ihn zum Menschen macht. Und ich muß daran glauben, daß darin ein Wert liegt.« »Sprechen Sie von mir oder von der Menschheit im allgemeinen?« fragte sie gekränkt. Er wandte sich ihr zu. »Ich spreche von mir, Elizabeth.« Als er den Zweifel in ihrem Gesicht bemerkte, fuhr er fort: »Sehen Sie, ich war immer ein Sammler – einer, der die Gedanken und Ideen anderer gehortet hat. Ich war von Natur aus nicht kreativ. Nicht – ablenkbar. Das war etwas, was mir fehlte. Aber in den letzten Tagen habe ich gelernt, was es heißt,
ein Mensch zu sein. Gelernt, aber nicht verstanden. Es scheinen viel Elend und Not dazu zu gehören, die in eine sehr kurze Lebensspanne hineingepreßt sind.« Der Ton seiner Stimme war drängend, beinahe fordernd, als er Liz in die Augen sah. »Warum ist das so?« fragte er. »Das fragen Sie mich?« »Warum nicht, Elizabeth? Sie sind ein Mensch. Und vielleicht sind Sie der letzte Mensch, den ich noch fragen kann.« Lächelnd berührte sie sein Gesicht. »Sie hätten meine Mutter fragen sollen. Ich denke, sie wüßte die Antwort darauf.« »Ah ja, aber ich habe meine Zeit mit Geringerem vergeudet. Obwohl – vielleicht hat sie es mir doch gesagt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte, ich könnte klarer denken.« »Ihre Augen«, flüsterte sie plötzlich. »Sie glühen im Dunklen.« »Keine Ahnung.« Sie küßte ihn. »Doch, sie glühen tatsächlich. Wie hat meine Mutter Sie gefunden?« Langsam zog er den Kopf zurück. »Wir wurden von einem Barkeeper im James Herold Hotel miteinander bekanntgemacht, der eleganten Absteige, die Sie für Ihre Mutter ausgesucht hatten, Elizabeth. Ich wohne dort.« »Bekommen Sie so Ihre Klienten? Über den Barkeeper?« Einen Moment lang sah er sie verständnislos an. »Elizabeth«, fragte er dann, »halten Sie mich auch für einen Privatdetektiv?« »Sind Sie denn keiner?« Liz schlug sich den Kopf
am Kofferraumdeckel an. »Was sind Sie dann?« Mayland Long seufzte und lächelte. »Ich bin ein Freund. Ein Freund Ihrer Mutter. Ich habe überhaupt keinen Beruf. Ich habe einfach genug Geld, um bequem leben zu können.« »Genug Geld, um bequem leben zu können!« rief Liz. »Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe. Woher haben Sie es?« Er zögerte einen Moment. Die Geräusche der Straße drangen in die Stille ein. »Aus einem Loch in der Erde«, antwortete er schließlich. »Öl?« »Nein, Elizabeth. Gold.« »Oh! Wie müssen Sie frei sein!« Sie hörte ihre eigenen Worte. »Es tut mir leid. Ich bedaure es tiefer, als ich sagen kann. Das Schönste in meinem Leben war meine Mutter, und durch meine Schuld ist sie jetzt tot.« Long warf ihr einen zweifelnden Blick zu, hüllte sich aber in Schweigen. »Und Sie –« »Ich bin noch nicht tot«, unterbrach er mit einem Anflug von beißender Schärfe. »Und auf keinen Fall möchte ich Ihrer Schuldenliste angefügt werden. Ich habe ein langes Leben gesehen, Elizabeth – ein längeres, als irgendein Wesen auf dieser Erde erwarten kann. Während dieser letzten Jahre habe ich auf die Erfüllung einer Prophezeiung gewartet.« »Einer was?« »Einer Prophezeiung. Und sie hat sich erfüllt. Ich begreife ihren Sinn nicht, aber es wurde mir ja
auch nie verheißen, daß ich verstehen würde – nur, daß ich einem Geschöpf begegnen würde, das mir die Wahrheit zeigen würde, und daß ich dadurch alles, was ich besitze, verlieren würde.« Liz zog die Brauen zusammen. »Was? Wer war das, der Ihnen die Wahrheit zeigen und Ihnen alles nehmen konnte –« »Martha Macnamara zeigte mir eine Rose…« Seine Stimme war leise, ging beinahe unter im Brummen des Motors. Sein Gesicht war halb abgewandt. Sie starrte ihn an. »Sind Sie – Haben Sie meine Mutter geliebt?« flüsterte Liz. Das Wort überraschte Long. »Geliebt?« Er betrachtete es. »Ja«, antwortete er dann. »Ihre Mutter war das Ende meines Wartens. Doch selbst wenn sie keine Meisterin der Wahrheit gewesen wäre, selbst wenn sie nur die Musikerin gewesen wäre, der Mensch, der sie war…« Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist alles eins. Ja, ich liebe Ihre Mutter, Elizabeth. Auch jetzt noch, in diesem Moment.« Er hielt sich die ineinander verschränkten Hände vor das Gesicht, so daß nicht mehr zu sehen war als seine schwarzen unergründlichen Augen. »Ich –« »Und wenn Sie jetzt noch einmal sagen, es tut mir leid, kann es geschehen, daß ich Sie aus dem Auto werfe.« Er wandte seine Aufmerksamkeit der äußeren Umgebung zu. »Er überfährt Ampeln«, stellte Long fest.
»Genau das meinte ich, als ich Floyds Art Auto zu fahren, erwähnte. Wenn er keine Angst haben muß, erwischt zu werden, beachtet er niemals die Regeln. Und er rast immer.« »Wir sind jetzt in der Nineteenth Avenue, Elizabeth. Wenn ich den Kofferraum aufmache, können Sie sich vielleicht an einer Ecke herausrollen lassen.« »Das sieht er doch!« »Um so besser. Um uns an der Flucht zu hindern, müßte er den Wagen anhalten, und ich bin sicher, ich könnte ihn aufhalten, während Sie fliehen.« »Meine Beine sind beide eingeschlafen. Bis zu den Knien.« Long lachte wieder – als hätte er ein ganzes Leben vor sich; als wäre es ein strahlender Tag. »Wir sind ein feines Paar«, stellte er fest. »Zu zweit haben wir drei Arme und zwei Beine. Aber das läßt sich nun mal nicht ändern. Wir wollen mal sehen, wie unser Freund reagiert.« Er stieß den Kofferraumdeckel auf. Die Reaktion erfolgte prompt. Mit einem Ruck schoß der Mercedes vorwärts. Long wäre beinahe auf die Fahrbahn hinausgeschleudert worden. Er hielt sich im letzten Moment an der Dichtungsleiste fest und zog sich zurück. »Jetzt wissen wir’s«, meinte Liz niedergeschlagen. »Möchten Sie sich lieber das Genick brechen oder ertrinken?« »Eine sehr begrenzte Wahl!« rief Mayland Long. Er setzte sich aufrecht und streckte erleichtert seinen Rücken. Der Zugwind blies ihm das
schwarze Haar ins Gesicht. »Kommen Sie, Elizabeth, setzen Sie sich ein Weilchen zu mir.« Liz Macnamara richtete sich mühsam auf und setzte sich neben ihn. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen. Unter ihnen glitt mit rasender Geschwindigkeit das graue Band der Nineteenth Avenue dahin; Straßenlampen, Schilder und Autos versanken in der Vergangenheit. Die Straßenbahnschienen klopften gegen die Räder des Mercedes. Rasmussen raste mit mehr als hundert Kilometern in der Stunde durch die leere Straße. »Da ist ein Mann – zu Fuß!« Liz winkte erregt und rief um Hilfe. Die kleine Gestalt verschwand hinter ihnen. Rasmussen reagierte auf das Geschrei mit einem Schlingern quer über die Fahrbahn, so daß sie mit den Rippen gegen die Metallwand krachte. »Der Teufel soll ihn holen!« schrie sie, Tränen des Zorns in den Augen. Long zog sie tröstend an sich. Seine Hand war warm. »Warum sind Sie nicht vor fünfzehn Jahren gekommen?« fuhr Elizabeth ihn an. »Wir hätten Sie gebraucht.« Er neigte sich ein wenig zurück, um sie anzusehen; vollkommene Züge, glänzendes Haar, Augen weit wie das Meer. »Sie sind eine schöne Frau, Elizabeth. Wie ein Gemälde, das ist Schönheit der Farbe, und wie eine Skulptur, das ist Schönheit der Form. Aber Sie sind lebendig und besitzen eine Anmut der Bewegung, die mehr ist als diese beiden. Viel-
leicht ist sie die Schönheit der Musik.« Ehe sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Erinnern Sie sich an Fred Frisch?« »Fred? Natürlich erinnere ich mich an Fred. Der Klassenclown. Wir hockten vier Jahre lang in denselben Seminarsälen. Und bekamen die gleichen Noten, glaube ich. Woher kennen Sie Fred?« Er gähnte und drückte sie an seine gesunde Schulter. »Ich lernte ihn vor ein paar Tagen kennen, als wir auf der Suche nach Ihnen waren. In der vergangenen Nacht hat er mich am Leben erhalten, glaube ich.« »Fred?« fragte sie verwundert. »Ich mag Fred Frisch«, erwiderte Mayland Long. Fred Frisch saß an seinem Küchentisch und versuchte die blutbefleckten Sesselpolster zu säubern. Die Polster waren mittlerweile völlig durchnäßt von seinen diversen Reinigungsversuchen. Wahrscheinlich würden sie stockig werden. Fred seufzte tief. Er legte das Polster weg und seufzte wieder. Auch den rötlich verfärbten Putzlappen legte er aus der Hand. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte einen raschen Verstand und ein einfaches Gemüt. Er wollte Mayland Long gegenüber loyal sein. Er empfand Hochachtung vor diesem Mann, der solches Leiden und solchen Schmerz ertragen konnte, ohne zusammenzubrechen; der selbst im Delirium noch fähig schien, Entscheidungen zu treffen; der dem Tode nahe in seinem schäbigen Wohnzimmer gelegen und Rücksicht-
nahme und natürliche Höflichkeit an den Tag gelegt hatte; der sich bei Fred dafür entschuldigt hatte, daß er ihn zu fest beim Arm gepackt hatte. Und, Mann, der Arm tat immer noch weh. Er wäre gern wie Mayland Long gewesen, aber er wußte, aus welchem Holz er selbst geschnitzt war. Er war schlicht und einfach Fred, und das Beste, was er tun konnte, war, sich loyal zu verhalten und dem anderen nicht in die Quere zu kommen. Er starrte zu einer Spinnwebe hinauf, die oben in der Ecke über dem Fenster hing, und überlegte, ob es Chinesen vielleicht überhaupt leichter hatten. Er trug die Polster zum Sessel zurück. Muß daran denken, mich da in den nächsten Tagen nicht hinzusetzen, sagte er sich. Dann sah er die kleine weiße Kassette, die auf dem hellen Stoff lag, wo eigentlich das Polster hingehörte. Es fiel ihm wieder ein: der zertrümmerte Recorder und der Kreis auf der Wand in der Toilette – ein Zeichen, das er nicht verstanden hätte, hätte Long es ihm nicht in seiner buddhistischen Bedeutung erklärt. Dies war das Band aus dem Versteck der Entführer. Er hob es vorsichtig, als habe er Angst, es könnte beißen, an einer Ecke auf und nahm es mit in die Küche. Er hatte vier Kassettenrecorder in seiner kleinen Wohnung. Auf dem einen konnte man nur große Bänder abspielen, und zwei funktionierten überhaupt nicht. Der letzte nahm nicht richtig auf, aber die Wiedergabe war einigermaßen. Er holte den Apparat aus einer Ecke und schloß ihn an. Nachdem er das Band zurückgespult hatte, ließ er
es abspielen. Nach wenigen Minuten schlug er mit zitternder Hand auf den Hebel, wo man das Gerät abstellte. »Mein Gott…« Die Schreie, die Flüche, die untermalt wurden von dumpfen klatschenden Schlägen, die unverkennbar nacktes Fleisch trafen… Das war ja wie in einer Folterkammer. Das war versuchter Mord! Das Bild Martha Macnamaras trat ihm vor die Augen – die altmodischen Zöpfe, die an einen Vogel erinnernde Neigung ihres Kopfes, während sie dem Spielzeugauto zusah, das auf dem Boden hin und her flitzte. Die blauen Augen, wie Liz’ Augen. Das Gesicht veränderte sich in das von Liz Macnamara, zarter Alabaster, doch vom Zorn gerötet, als sie sich umdrehte, um die freche Bemerkung eines Mitstudenten zu erwidern. Die Erinnerung währte nur kurz; sie dauerte so lange wie die Handlung, die sie beinhaltete; Liz in Aktion, daran konnte man sich am ehesten erinnern. War es möglich, daß sie tot war? Und ihre Mutter auch? War diese Stimme auf dem Band die Stimme einer Toten – die vielleicht gerade in den Momenten gestorben war, als das Band ablief? Freds Vorstellungskraft schreckte davor zurück, und die Bilder versanken in Dunkelheit. Er schauderte, er sah Mayland Long – den Schwarzen Drachen –, wie er bewußtlos auf dem Teppich im Wohnzimmer gelegen hatte. Auch einer, der vielleicht inzwischen schon tot war. Oder bald tot sein würde. Doch die Nische seiner Erinnerung öffnete sich. Braune, schwerlidrige Augen sahen ihn an. Sie
blickten ruhig und direkt. Sie fixierten Fred, als wäre er ein Kaninchen. Nein. Fred schüttelte den Kopf. Nein, Loyalität war schön und gut, aber das Leben war wichtiger. Viel wichtiger. Fred ließ das Band zurücklaufen. Er nahm den Recorder samt dem Band an sich und steckte seine Schlüssel ein. Während er die Tür hinter sich verschloß, überlegte er, was er der Polizei sagen wollte. »Das Meer«, flüsterte Mayland Long. »Ich rieche es. Und – hören Sie nur.« »Ich höre nur das Auto«, antwortete Liz. »Und ich rieche das Benzin, das aus dem Tank schwappt. Er fährt wie ein Wahnsinniger um die Kurven.« Er zog sie dicht an sich und umfaßte mit seiner gesunden Hand ihren Leinengürtel. Auf der linken Seite, dicht neben dem Wagen, tauchte eine Loorbeerhecke auf. Die Blätter bewegten sich im leichten Wind – einer Meeresbrise, die die Morgendämmerung ankündigte. »Es ist Zeit, daß wir uns trennen«, sagte Long. »Bitte, machen Sie einen Doppelknoten in Ihren Gürtel, damit er nicht aufgeht.« Verwundert kam Liz der Aufforderung nach. »Wie meinen Sie das – Zeit, daß wir uns trennen? Wir fahren immer noch viel zu schnell. Und was ist mit Ihnen? Ich bin überzeugt, Sie könnten so einen Sprung aus einem fahrenden Auto eher überleben als ich.« Der Druck an ihrer Taille verstärkte sich. Sie
wurde hochgehoben. »Aua! Bitte! Sie verdrehen mir den Gürtel. Was tun Sie da überhaupt?« »Es tut mir leid«, murmelte Mayland Long, unbewußt Liz’ Redewendung wiederholend. »Es ist etwas schwierig mit nur einem gesunden Arm.« »Was meinen Sie überhaupt?« begann sie, als der Mercedes, der Straße folgend, in eine scharfe Rechtskurve einbog. Long stemmte seine Füße gegen die rechte Wand des Kofferraums und schleuderte Liz aus dem Wagen in die dicht gewachsene Lorbeerhecke. Ihr Aufschrei der Überraschung verhallte – wie alles andere – in der Vergangenheit. 16 Die Anfahrt zum North Beach Jachthafen führte mitten durch eine gepflegte Rasenfläche. Der Mercedes raste mit so hoher Geschwindigkeit hinein, daß der Kies aufspritzte. Der Himmel über dem Meer war klar und schwarz; der Mond, von einer senfgelben Färbung, war im Begriff unterzugehen. Im Osten jedoch, wo die gegenüberliegende Küste der Bucht verborgen lag, war die Dunkelheit trübe und dunstig. Die Sterne begannen zu verblassen. Auf der Fahrt zu den Piers gab der Mercedes mit seinen Scheinwerfern drei Blinksignale. Rasmussen behielt auf dem schnurgeraden Fahrweg seine halsbrecherische Geschwindigkeit bei und trat dann hart auf die Bremse. Noch ehe
der Wagen stand, sprang er heraus und rannte los. Hinter dem offenen Kofferraum ließ er sich auf ein Knie nieder und stützte seine Pistole mit dem Unterarm. Ein kleinerer Mann sprintete die Straße herauf, um sich zu ihm zu gesellen. In der Ferne begannen Hunde zu bellen. »Los, Herrschaften! Raus jetzt!« befahl Rasmussen scharf. Threve, der neben Rasmussen stand, zischte: »Was, zum Teufel, ist denn passiert, Floyd? Hast du Liz da drinnen?« »Nein. Nur mich«, antwortete Long und stieg müde aus dem Kofferraum. Er ignorierte Rasmussen, um sich Threve genauer anzusehen. Threve seinerseits blickte über den blitzenden Lauf einer Automatic hinweg wütend auf Long. »Wir kennen uns noch nicht«, sagte Mayland Long. »Mein Name ist Mayland Long. Ich weiß, daß Sie Threve heißen. Und wie ich höre, sind Sie ein Verbrecher und Mörder.« Er sprach ruhig, freundlich, beinahe jovial. »Ich bin hergekommen, um mich zu vergewissern, ob es wahr ist.« Threve rückte näher an Rasmussen heran. »Das ist – ist das dieser unheimliche Bursche?« Rasmussen nickte. »Wo ist Liz?« fuhr er Long an. »Weit fort«, antwortete Long gelassen. Er hob seinen Kopf in die kühle Brise. Das Mondlicht schimmerte auf seinem glänzenden schwarzen Haar. Rasmussen knirschte hörbar mit den Zähnen.
»Dann ist sie tot«, stellte er fest. »Ich bin auf der ganzen Fahrt nicht unter achtzig runtergegangen.« »Warum, zum Teufel, hast du den gottverdammten Kofferraum nicht abgeschlossen?« brüllte Threve, wütend über Longs Haltung und ebenso wütend auf Rasmussen. Das Hundegebell schwoll an. Rasmussen mußte seine Aufmerksamkeit beiden schenken; er traute keinem der beiden Männer. »Ich glaube, sie wurde nicht einmal verletzt«, widersprach Long. »Sie landete genau in einem Gebüsch.« »Scheiße! Du hast gesagt, du hättest sie, Floyd? Wieso hast du sie wieder abhauen lassen?« Floyd Rasmussen antwortete nicht. Sein Blick bohrte sich in den von Long. Der lächelte kalt. »Warum Liz und nicht Sie?« fragte Rasmussen. Long wandte sein Gesicht dem Wasser zu. »Meine Absicht ist, Mrs. Macnamara zu finden. Solange ich sie nicht gefunden habe, bin ich mit Ihnen nicht fertig.« »O doch, Sie sind schon jetzt fertig«, knurrte Rasmussen und faßte seine Pistole fester. In seinen Augen spiegelten sich Zweifel. »Ein verdammt hoher Preis.« Long lächelte. »Sie wissen noch nicht einmal, was ich überhaupt kaufe.« Die Hunde verstummten plötzlich; vielleicht war ihr Herr aus dem Haus gekommen, sie zum Schweigen zu bringen. Nur einen Chor von Grillen hörte Rasmussen ganz entfernt über das Dröhnen in seinen Ohren hinweg. Die Pistole in seiner Hand
zitterte nicht, doch er fixierte Long voller Mißtrauen, als habe er Angst, dieser könne Pläne haben, die er – Rasmussen – nicht verstand. Threve antwortete an Stelle von Rasmussen. »Fehlen nur noch die Flügel und der Heiligenschein! Leg ihn um, Floyd, damit wir hier endlich verschwinden können. Wenn dieses Luder zur Polizei geht…« Rasmussen zögerte, während er im Licht des Mondes in die hellbraunen Augen blickte. Douglas Threve war ein wenig komplizierter Mensch und daher weniger anfällig für Zweifel. Er stieß einen Fluch aus und hob seine eigene Waffe. Blitzartig versetzte Long ihm einen heftigen Stoß gegen die Brust. Threve stürzte auf den Kiesweg, und seine Automatic segelte ins Gebüsch. Long stürzte sich auf ihn und packte ihn bei der Kehle. Threves Aufschrei der Überraschung und der Wut brach plötzlich ab. Vergeblich faßten seine Hände wie Klauen nach Longs Gesicht, während er mit den Fersen auf den Kies trommelte. Nachdem Long in Aktion getreten war, fiel die Lähmung von Rasmussen ab. Er sprang zu dem kämpfenden Paar hin und schwang seine Pistole in die Höhe. Der erste Schlag mit dem Kolben traf Long an der rechten Schulter. Long ließ Threve los und richtete einen haßerfüllten Blick auf Rasmussen. Wieder schwang Rasmussen die Pistole in die Höhe. Da hob Long den Arm. Es hätte eine Geste der Abwehr, ebensogut aber auch eine Geste der Verwünschung sein können. Longs Finger waren weit gespreizt, und im Mondlicht sah seine Hand wie die Klaue
eines gigantischen Raubtieres aus. Rasmussen fiel ein, wie seltsam sich Longs Hand in der seinen angefühlt hatte, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, und er schauderte. Er hatte das Gefühl, nicht zu wissen, wogegen er da kämpfte. Doch die Pistole in seiner Hand sauste herab und traf Long über der Schläfe. »Siehst du’s jetzt?« zischte Rasmussen Threve an, der benommen am Rand des Rasens lag und nach Luft schnappte. »Wer ist jetzt der Idiot? Ich hab’ dir doch gesagt, was das für ein komischer Kerl ist.« »Leg ihn jetzt endlich um«, stieß Threve hervor. »Wenn du’s nicht tust, tu ich’s.« »Womit denn?« Rasmussen schob seine Pistole in seine Jackentasche. »Wir können nicht noch mehr Getöse gebrauchen.« Er hockte sich rittlings auf Long und riß sein Hemd auf. Er sah den Verband. »Aha, da hab’ ich ihn also erwischt. Er kroch im Dunklen auf mich zu wie eine Riesenechse. Würde mich interessieren, ob er das selbst verbunden hat. Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Rasmussen schwieg und überlegte. »Gefällt mir gar nicht«, sagte er dann. »Bei der Polizei kann er nicht gewesen sein. Die hätten ihn in so einem Zustand nicht wieder laufen lassen. Das heißt, daß er irgendwo Hilfe bekommen hat.« Aus seiner anderen Tasche zog Rasmussen ein kurzes Messer und eine Rolle Heftpflaster. Er schnitt Fred Frischs Verbände auf und fesselte Longs beide Arme aneinander, indem er sie bis fast zum Ellbogen hinauf mit Pflaster umwickelte.
»Leg ihn schon um«, verlangte Threve wieder, während er versuchte aufzustehen. »Keine Schießerei. Ich könnte ihm hier und jetzt die Kehle durchschneiden, wenn ich wollte. Vielleicht ist er sogar schon tot. Müßte er eigentlich sein. Aber ich sag’ dir, Doug, der Bursche ist wie eine Schlange. Ganz gleich, was man mit ihm anstellt, er krümmt sich bis zur Nacht.« »Es ist bereits Nacht«, stellte Threve mit einem höhnischen Lachen fest. »Es ist beinahe Morgen«, fügte er dann wütend hinzu. »Was machen wir jetzt?« Rasmussen schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel und stand auf. »Wir gehen vor wie geplant. Bei den Farallons schmeißen wir die beiden mit Betonblöcken beschwert ins Wasser. Ganz gleich, ob der Kerl bis dahin noch lebt, dann kann er auf jeden Fall mit den Fischen spielen.« Rasmussen bückte sich, um Long aufzuheben. »Hilf mir beim Tragen«, brummte er. Doch als er Long die Arme untergeschoben hatte und merkte, wie leicht der Mann war, sagte er: »Nein, ist schon gut. Mach du alles fertig zum Auslaufen.« Den schlaffen Körper Longs wie einen Sack über der Schulter, stand er auf und ging leicht schwankend in Richtung zum Wasser davon. Staubwölkchen stoben bei jedem seiner Schritte hinter ihm auf. »Ach, ich brauch’ nur meine Kanone zu verlieren, und schon fängst du an, mich rumzukommandieren, wie?« schimpfte Threve. Er betastete vorsichtig seinen schmerzenden Hals.
Rasmussen seufzte. »Willst du ihn schleppen?« Threve spie auf den staubtrockenen Kies. »Ich mußte mich schon mit der Mutter abschleppen.« »Das wäre nicht nötig gewesen, wenn du sie nicht zu Tode geprügelt hättest. Oder erdrosselt.« Seine Schritte widerhallten auf Holz. Threve schluckte seine Wut hinunter und ging über den Pier voraus. Die Caroline war ein stattliches Boot, selbst wenn alle ihre Segel fest zusammengerollt waren; ein schnittiges Boot aus Teakholz und blitzendem Messing, und wenn sie auch in erster Linie zum Segeln gedacht war, so besaß sie doch auch einen Motor, der so stark war, daß sie bei ruhiger See gut ihre fünfzehn Knoten laufen konnte. Die Nacht war im Schwinden, als Long die Augen öffnete. Die ersten Möwenschreie übertönten das tiefe Brummen der Maschine. Er hatte Kopfschmerzen, und die Bilder, die er um sich herum wahrnahm, waren verschwommen. Er betrachtete seine Arme, die in einem engsitzenden Schlauch aus weißem Pflaster steckten. Bei jedem Versuch, sie auseinanderzuziehen, schossen unerträgliche Schmerzen durch seinen linken Arm bis zu seiner Schulter hinauf. Er versuchte, seine Beine unter sich anzuziehen und stellte fest, daß sie ebenfalls gebunden waren – mit Draht an einen großen Betonklotz gefesselt. Neben ihm lag ein Bündel in grünem Öltuch. Es war ebenfalls an dem Betonklotz festgemacht. Nach einem Moment der Verwirrung war ihm klar, was das für ein Bündel sein mußte. Er setzte sich
auf und betrachtete es näher – zwang sich, es endlich zu glauben. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Also war er auch in dieser Hinsicht wie jeder andere Mensch. Er glaubte, was er glauben wollte; was er meinte, glauben zu müssen. Bis ihn die Zeit schließlich in die schreckliche Wahrheit schleuderte. Martha war tot, und er würde auch sterben. Selbst ohne diese Männer, diese mörderischen Verbrecher und Diebe, würde er bald sterben, denn er war alt, und seine Suche war beendet. Er hatte gefunden, was er suchte: die Wahrheit. Er hatte keine Fragen mehr. Es war nicht das, was er sich wünschte, sagte eine leise Stimme in ihm, aber es war das, dem er so lange nachgejagt war. Der kleine Mann bei der Höhle in Honan mußte verrückt gewesen sein, daß er so glücklich hatte sein können. Das Wissen um die Wahrheit führte nur in die Verzweiflung. Er streckte seine Arme aus, und schreiender, stechender Schmerz mischte sich in das Kreischen der Möwen. Behutsam zog er das Öltuch von Martha Macnamaras Gesicht. Das Gesicht war voll offener Wunden und violetter Blutergüsse, und um Mund und Nase waren Male wie von einem Sonnenbrand. Das lange, leicht ergrauende Haar lag ihr wirr auf der Stirn. Er strich das Haar zur Seite. »Ach, Martha«, flüsterte er. »Ich kann nicht glauben, daß drei Tage genug waren.« Er streichelte das traurige, entstellte Gesicht. »Ich hatte eine Frage. Ich sparte sie mir
jahrhundertelang auf. Als ich dir begegnete, vergeudete ich meine Zeit mit Spiel und stellte die Frage nicht. Aber es macht nichts.« Er schluckte mühsam. »Das Spiel war wichtiger.« Die Caroline tauchte in ein Wellental, als sie das geschützte Wasser der Bucht verließ und aufs offene Meer hinausglitt. Long richtete sich auf und blickte aufmerksam nach Westen, in den Wind. Dies war nun also die Begegnung mit dem Meer, die er so lange gemieden hatte. Wellen schlugen an das Holz des Bootsrumpfes. Long begriff das Wasser immer noch nicht. Er hatte seine Zukunft vergeben für eine Chance, von einer Frau Abschied zu nehmen, die schon tot war. Dieser Abschied war wichtig gewesen. Aber warum? War denn hier, am Rand des unwiederbringlichen Verlusts, irgend etwas wichtig? Kalte Luft strömte in seine Lunge. Sein Atem dampfte. Er hörte die beiden Männer im Bug des Boots rumoren, doch er wandte den Blick nicht vom Meer. Der Horizont auf der rechten Seite und hinter ihm war von leuchtenden Lichtstreifen durchzogen. Auf den Wellen lag ein blitzender Glanz. Er saß in einer Stille, die ihn sowohl von Freude als auch von Schmerz befreite. Selbst seine Neugier hatte ihn verlassen. Nackte schwarze Felsen brachen in der Ferne aus dem Wasser empor. Einige Schiffe waren fern am Horizont helle Punkte auf den Wellen. Er nahm Marthas kalte Hand und sah ihr wieder ins Gesicht. Plötzlich erstarrte er, hielt den Atem an, beugte sich dicht über sie. Und wieder sah er
das Wölkchen weißen Dampfes, das sich bei der Berührung mit dem grünen Öltuch auflöste. Er hob ihren Kopf ein wenig an. »Martha?« Die blauen Augen öffneten sich. Sie glänzten heller als der neue Tag. »Wer?« »M-Mayland Long«, flüsterte er und stolperte dabei über seinen eigenen Namen. Ihre Hände bewegten sich unter dem Öltuch wie die eines Säuglings im Steckkissen. »Oh!« Auch ihre Augen waren so blau und so unbestimmt wie die eines Säuglings. »Ich – ich habe mir solche Sorgen gemacht. Um Sie.« Er streifte das Öltuch ab und rüttelte sie sachte, um sie wachzuhalten. »Ich muß Sie etwas fragen«, begann er. Mit großer Anstrengung hob sie den Kopf. »Wegen Liz? Meiner Tochter? Haben Sie die Polizei unterrichtet?« Mit einem schwachen Lächeln hob sie den Kopf noch ein Stück höher. »Was ist denn mit Ihren Armen los?« Martha blinzelte verwirrt und sah sich um. »Ihre Tochter ist in Sicherheit, hoffe ich.« Er sprach überhastet, Unsicherheit in der Stimme. »Ich habe sie in einem Gebüsch abgesetzt. Die Polizei habe ich nicht unterrichtet, aber vielleicht hat Fred es inzwischen getan. Ja, ganz sicher. Aber hören Sie mich an, Martha. Was ich Ihnen sagen möchte ist, daß ich Sie liebe. Haben Sie das gewußt?« Martha Macnamara nahm seine Worte auf, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Lächeln war ein mühsamer, entstellter Abklatsch ihres früheren
Lächelns. »Natürlich, Mayland. Ich bin glücklich, das zu hören, denn ich liebe Sie auch.« Sie wollte lachen und sank von Schwindel übermannt zu Boden. »Hast du das nicht gemerkt?« Er schloß die Augen und stieß einen Seufzer aus, der beinahe ein Knurren war. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf. Der Draht um seine Knöchel behinderte ihn, und plötzlich fiel ihm ihre bedrohliche Situation ein. Ohne weitere Überlegung bückte er sich und zerriß den Draht. Mayland Long lächelte, und die rote Sonne stieg im Südosten über den Hügeln empor. Immer noch lächelnd, streckte er seine gefesselten Arme vor sich aus. Das neue Tageslicht fing sich im weißen Pflaster, und seine Haut leuchtete bronzefarben. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte – ein Lachen, das erfüllt war von tiefer Freude. Das Heftpflaster leuchtete rot im morgendlichen Sonnenlicht. Er stemmte sich dagegen, und es fiel von seinen Armen ab wie verkohltes Papier. Sein verletzter Arm sank an seiner Seite herab. Den rechten streckte er in die Höhe, die langen Finger weit gespreizt, als wolle er die Sonne ergreifen. Aller Schmerz und alle Schwäche waren verflogen, ertränkt in einer Flut schlichter Freude. Er hörte schnelle Schritte und drehte sich um. »Also tot ist er eindeutig nicht!« schrie Douglas Threve und blieb mit einem schweren Schraubenschlüssel in der Hand vor Long stehen. »Aber das wird sich gleich ändern.« Long wich dem Schlag geschickt aus und ließ seine Hand auf Threves Arm niedersausen. Klir-
rend fiel der Schraubenschlüssel zu Boden. Noch einmal schlug Long zu. Er legte seine Finger um Threves Hals und drückte dem Mann den Daumen unter das Kinn. Blitzschnell hob er Threve hoch, und mit einer kurzen Bewegung brach er dem Mann das Genick. Er schleuderte den Körper von sich weg. Floyd Rasmussen baute sich drohend vor ihm auf. Mit dem Rücken stemmte er sich an die Kabinenwand. Der Lauf der Pistole, die er in der Hand hielt, zitterte. Long sah ihn an. »So dumm können Sie nicht sein.« Er sprach in freundlich vorwurfsvollem Ton. Er hörte, wie hinter ihm Martha aus ihrem Öltuchkokon kroch. Rasmussen leckte sich über die Lippen und rutschte an der Wand herunter. »Guter Gott! Sind Sie denn nicht totzukriegen?« »O doch«, antwortete Long. »Aber nicht aus dem Weg zu räumen. Wenn Sie mich töten, werden Sie mich ewig auf dem Hals haben.« »Hypnose«, stellte Rasmussen resignierend fest. »Hier ist niemand außer diesem Mann getötet worden. Und diesen Mann habe ich getötet.« Long sprach in gemessenem Ton. Rasmussen hockte wie festgenagelt an der Wand. »Jetzt haben Sie die Gelegenheit, die Sie für immer vergeben glaubten. Kein früherer Mord zwingt Sie zu schießen. Wenn Sie es doch tun, so ist es eine neue Entscheidung, die von neuem Ihre Zukunft besiegeln wird.« Wellen schlugen gegen das führerlose Boot und trugen es aus seinem Kurs. Der Wind pfiff in der
Takelage. »Es ist niemand tot? Die Mutter –« Mit wilden Blicken sah Rasmussen sich um. Long trat zur Seite, so daß die leere Hülle sichtbar wurde. »Sie ist auferstanden. Sie ist nicht hier«, flüsterte er. Rasmussen ließ die Pistole fallen und drückte beide Hände vor das Gesicht. Augenblicklich stürzte sich Long auf ihn und riß ihn zu Boden. Vergeblich zerrte Rasmussen, dieser große, kräftige Mann, an der schmalen braunen Hand, die sich um seinen Hals legte. Er schluckte und würgte. Longs Gesicht war hart und entschlossen. Er drückte Rasmussen den Daumen unter das Kinn. »Oolong. Nein.« Martha Macnamara sprach mit Bestimmtheit. »Alles, was du zu ihm gesagt hast, ist wahr. Ich möchte nicht, daß du seinen Tod für den Rest deines Lebens mit dir herumträgst.« Er hob den Kopf und sah sie an. Seine Augen flammten gelb auf; wild, erbarmungslos. Marthas Augen waren halb geschlossen in dem verschwollenen Gesicht. »Das wird mir nichts Neues sein.« »Nein!« wiederholte sie mit Entschiedenheit. Die Blicke trafen sich; zwei Farbflammen. »Alles ist immer neu«, erklärte sie. »Es ist immer das erste Mal.« Long senkte die Lider und neigte den Kopf. Martha faßte sich mit beiden Händen vorsichtig an ihren Kopf. Sie verzog das Gesicht und stöhnte. Mayland Long räusperte sich. »Dann schlage ich vor, Martha, du durchsuchst Mr. Rasmussens Taschen nach dem Heftpflaster,
das er bei sich trägt… Du wirst außerdem ein kleines Jagdmesser finden. Sei vorsichtig.« Sie fesselte Rasmussen, während Long ihn am Hals gepackt hielt und zu Boden drückte. Als Martha fertig war, standen sie beide auf und gingen zum Heck. »Kannst du mit einem Boot umgehen?« fragte Martha. »Überhaupt nicht«, war die prompte Erwiderung. Sie lächelte mit aufgerissenen Lippen. »Ich kann gar nicht glauben, daß es etwas gibt, was du nicht kannst.« »Ich habe Reisen auf dem Wasser immer vermieden«, erklärte Long, als die Dünung die Caroline auf die Seite warf. »Auch wegen einer Prophezeiung?« »Nein, sondern weil ich seekrank werde«, erwiderte er. Die Iris seiner Augen war nur ein schmaler dunkler Streifen, als er sein Gesicht zu einem Lächeln verzog, das von seinen Augen zu seinem Mund reichte. »Und weil ich das Wasser fürchte. Kannst du es denn, Martha? Mit einem Boot umgehen? Die Frage hat mehr als nur akademische Bedeutung.« Sie zuckte mit den Schultern. Ihr blaues Kleid war zerknittert und schmutzig. Die Hälfte der Knöpfe fehlte. »Ich kann das Steuerrad halten.« Liz Macnamara saß vor dem Schreibtisch des Sergeants, als die Männer von der Tagschicht kamen. Der Sergeant selbst saß in einem anderen Raum
hinter einer Glastür und führte ein Telefongespräch. Er war seit mindestens zehn Minuten in dem Nebenzimmer. Sie hörte, wie die Tür sich öffnete. »Miß Macnamara«, sagte der Sergeant. »Stimmt das, M-a-c-n-a-m-a-r-a?« »Ja, ja, das habe ich Ihnen doch alles schon gesagt.« »Regen Sie sich nicht auf, Miß.« Er nahm einen Bleistift und klopfte einige Male auf die Löschunterlage. »Was soll das heißen?« rief Liz erregt. »Sie haben meine Mutter umgebracht. Sie töten bestimmt auch –« »Mr. Long. Mayland Long. M-a-y-l-a-n-d«, fuhr der Sergeant dazwischen. Er hatte schläfrige Augen und einen dicken Bauch. »Ja, so heißt er.« »Und der Vorname Ihrer Mutter ist Martha?« »Mein Gott, ja, was ist daran so wichtig? Unternehmen Sie doch endlich etwas.« »Wir haben schon etwas getan«, entgegnete der Polizeibeamte. »Vor zwei Tagen meldete ein Mr. Mayland Long Ihre Mutter als vermißt. Er konnte uns nicht viel mehr sagen, als daß sie verschwunden war, und da konnten wir natürlich nicht viel tun. Aber vor ungefähr einer Stunde tauchte auf der Dienststelle in Palo Alto ein junger Mann auf und erzählte den Kollegen dort eine wirre Geschichte über diesen Mister Long. Außerdem brachte er ein Tonband mit. Seitdem sind alle Dienststellen auf
der Halbinsel in Alarmbereitschaft. Auf den Gedanken, uns in der Bucht umzusehen, waren wir allerdings nicht gekommen. Bis Sie mit Ihrer Geschichte hier erschienen, Miß Macnamara. Ins Gebüsch hat er Sie also geworfen?« Er legte den Bleistift aus der Hand. Liz rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. In ihrem Haar hing ein langes, schmales Blatt, ihre Arme waren voller Kratzer, und der Bademantel, den sie übergeworfen hatte, war viel zu groß. Der Sergeant liebte alte Filme. Er konnte sich nicht schlüssig werden, ob Liz Macnamara mehr wie Marlene Dietrich oder Greta Garbo aussah; fest stand, daß sie trotz ihrer zerrauften Haare und der Schmutzflecken im Gesicht einfach toll aussah. »Ja, in einem Lorbeerbusch. Im Golden Gate Park. Was spielt das schon für eine Rolle?« Liz verschränkte ihre Arme und drückte sie eng an ihren Oberkörper. »Das mit Ihrer Mutter tut mir leid«, bedauerte der Sergeant. Liz nickte unglücklich. »Und in Anbetracht dessen, was Sie über Ihr Verhältnis zu den beiden Entführern ausgesagt haben, brauchen Sie meiner Ansicht nach einen Anwalt.« »Ach, zum Teufel damit«, jammerte Liz. Der Sergeant machte ein teilnahmsvolles Gesicht. »Aber ich habe nichts weiter mit Ihnen zu besprechen, wenn Sie nicht durch einen Anwalt vertreten sind.« In diesem Augenblick trat Fred Frisch in den Dienstraum. In der einen Hand trug er einen Kassettenrecorder, mit der anderen zupfte er sich wie
immer an seinem blonden Schnauzer. Kaum sah er Liz, da befreite er sich von der führenden Hand des Beamten, der ihn auf die Dienststelle begleitet hatte, und eilte zwischen den Schreibtischen hindurch zu ihr hin. »Es tut mir alles so leid, Liz«, begann er. »Ich habe versucht – ich meine, erinnerst du dich überhaupt noch an mich?« Sie stand auf und musterte ihn aufmerksam. Schlaksig, mit glatt herabhängendem blondem Haar und traurigen Augen wie ein Bassett. War das der Mann, der Long das Leben gerettet hatte? »Natürlich, Fred. Mr. Long hat heute abend von dir gesprochen. Er sagte du – du hättest ihn am Leben erhalten.« »Du hast ihn danach noch einmal gesprochen? Ist er –« Sie schüttelte den Kopf. »Inzwischen haben sie ihn sicher getötet. Meine Mutter haben sie schon ermordet.« Sie sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen. »Und es ist alles meine Schuld.« Fred schluckte. »He, so ist es ja gar nicht. Ich weiß über alles Bescheid. Ich habe deinen gespeicherten Brief bei RasTech gefunden und ausgedruckt.« Überrascht sah sie auf, und Fred trat vor lauter Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen. »Er bat mich darum. Mr. Long – der Schwarze Drache.« »Der was?« Ohne sich um den Sergeanten hinter dem Schreibtisch zu kümmern, zog Fred sich einen
Stuhl heran und setzte sich nieder. »Sein Name heißt im Chinesischen in Wirklichkeit Schwarzer Drache. Ehrlich, ich bewundere den Mann.« »Er hat dich gemocht«, sagte Elizabeth mit Tränen in den Augen. »Sagte er das?« »Ja. Und daß er meine Mutter geliebt hat. Aber sie werden ihn umbringen. Selbst er war davon überzeugt, als er mich aus dem Auto warf.« »Ich weiß nicht recht«, meinte Fred mit gerunzelter Stirn und blähte die Wangen auf. »Mr. Long ist schwer totzukriegen.« Liz wandte sich ihm mit erwachender Neugier zu. »Hast du den Schnauzer eigentlich immer schon gehabt?« fragte sie. »Äh-hm!« machte der Sergeant hinter seinem Schreibtisch. Martha hielt das glänzende Steuerrad mit beiden Händen. Die Sonne war inzwischen etwas höher gestiegen, und Martha hielt mit der Caroline direkt auf sie zu. Das Tageslicht berührte das Wasser. Leichter Nebel stieg auf und machte die Luft milchig. Mayland Long trat mit einem Glas Wasser in der Hand neben Martha. Sie fuhr zusammen, denn sie hatte ihn nicht kommen hören. Dankend nahm sie das Glas und trank daraus. »O ja, das ist viel besser«, sagte er. Er stellte sich hinter sie. »Erzähl mir etwas, Mayland. Ich habe Kopf-
schmerzen.« Er ließ einen Moment verstreichen, ehe er antwortete. »Mir fällt nichts ein, was ich dir erzählen könnte.« Vorsichtig strich er mit seinen Fingern durch ihr offenes Haar. Marthas zerschundenes Gesicht leuchtete in einem Lächeln auf. »Ohne meine andere Hand kann ich es dir nicht flechten.« »Das tut unglaublich gut«, murmelte sie, während sie durch die blassen Nebelschleier auf kleine dunkle Dinger im Wasser blickte, die eben noch nicht da gewesen waren. Waren es Felsen? Sie fröstelte. »Ich fühle mich so, als hätte ich dauernd nur gefroren.« »Da kann ich helfen«, meinte Mayland Long mit einem leisen Lachen. Er legte ihr den Arm um die Taille und drückte ihren Körper an den seinen. »Oh!« rief sie. »Du bist ja der reinste Backofen.« Erstaunt berührte sie seinen bloßen Arm. Er war glatt, ohne eine Spur des Heftpflasters. Er strahlte Hitze aus. Auch Longs Gesicht war sehr warm, als er es über das ihre neigte. »Wie heiß du bist. Du hast dich völlig verausgabt«, sagte Martha. Er hob den Kopf und blickte in die Ferne. »Nein, ich habe Reserven. Heute morgen allerdings dachte ich schon, ich sei am Ende. Ich –« Eine Bewegung auf dem Wasser lenkte ihn ab. »Schau!« Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Einer der dunklen Gegenstände auf dem Wasser hatte sich als Boot entpuppt, als ein Kutter der
Küstenwache. Er drehte vor dem Bug der Caroline ab, die im Kielwasser des schnelleren Bootes schaukelte. Mayland Long ging ins Heck, um den Motor auszuschalten, während Martha Macnamara sich glättend über ihr blaues Kleid strich. Mit altmodischer Höflichkeit und einem gewissen Maß von Selbstzufriedenheit hießen sie ihre Retter auf der Jacht willkommen. 17 Martha klopfte dreimal, und die Tür wurde geöffnet. Regen prasselte an die Fenster von Mayland Longs Salon. Eine hohe Stehlampe tauchte die beiden altmodischen Ohrensessel in ein weiches Licht. »Ich habe eben im Krankenhaus angerufen, und man sagte mir, du wärst auf eigenen Wunsch entlassen worden. Das hättest du nicht tun sollen. Die Ärzte sagten, du bist noch gar nicht soweit hergestellt.« Mayland Long lächelte still, beinahe scheu und führte Martha ins Zimmer. Abgesehen von der Schlinge, in der sein rechter Arm lag, sah er nicht anders aus als eine Woche zuvor: ein schmächtiger Eurasier unbestimmbaren Alters, dessen dunkle Gesichtszüge mit den Schatten des Zimmers verschmolzen. »Ihnen gefielen die Untersuchungsergebnisse nicht«, sagte er, »und mir gefielen die Untersuchungen nicht. Wir waren nicht besonders vonein-
ander angetan. Darum bin ich nach Hause gegangen. Hast du Elizabeth heute gesehen? Hat man schon eine Kaution festgesetzt?« Martha ließ sich in den nächsten Sessel sinken. »Sie haben sie aufgrund einer schriftlichen Verpflichtung freigelassen, weil sie sich selbst gestellt hat. Ich war heute morgen bei ihr, ehe es anfing zu schütten. Der junge Mann war auch da – der mit dem sprechenden Auto – ich meine, das Auto, mit dem man sprechen kann. Ich hoffe nur, Liz muß nicht ins Gefängnis.« Martha krauste voller Sorge die Stirn. »Aber ich denke doch, daß der Richter unter den gegebenen Umständen nachsichtig sein wird.« Im Licht der Lampe zeigte ihr Gesicht alle Spuren der Mißhandlung, die ihr widerfahren war. Sie lächelte, als er seinen Sessel neben den ihren rückte und ihre Hand nahm. »Wie lange bist du schon – ein Mensch?« fragte sie ihn. Er blickte von ihrem Gesicht in das Grau der Welt vor dem Fenster. »Weniger als eine Woche, glaube ich.« Sie lachte. »Du weißt, was ich meine.« Er richtete seinen Blick wieder auf sie. »Vor sechs Jahren begegnete ich in den Hügeln vor Taipei einem alten Mann. Er war ein Meister des Tao; nicht mein Meister, wie er mir mitteilte, aber dennoch war er sehr weise.« Martha Macnamara runzelte die Stirn. »Erzähl mir mehr. Ich mag keine Geheimnisse.« Long sah auf seine Hände hinunter. Sein schmales Gesicht drückte Zweifel aus. »Was weißt du über Drachen, Martha?« »›Wie
oft‹«, zitierte sie, »›habe ich die Höhle des grünen Drachen betreten!‹« Er drehte sich ein wenig herum und wandte dem trüben Wetter hinter dem Fenster den Rücken. »Wahn. Ja. Aber ich spreche nicht von einem grünen Drachen, sondern von einem schwarzen.« »Von einem kaiserlichen Drachen?« fragte sie. Er wandte sich ihr ganz zu. »Du weißt also von dem Drachen mit den fünf Fingern?« Sie lachte über den Eifer in seiner Stimme. »Oh, ich habe einiges auf dem Kasten. Der Schwarze Drache ist ein Gelehrter. Jede herrschende Familie Chinas beanspruchte ihn als ihren Vorfahr. Der Schwarze Drache lebt ewig.« Er sah ihr in die Augen und sagte: »Aber ich nicht.« Martha hob das runde Kinn und sprach mit Überzeugung. »Dieses ›ewig leben‹«, begann sie, »ist es, was alle Drachen zum Wahn macht, ganz gleich, ob sie grün, rot oder schwarz sind. Das Leben ist nur einen Augenblick lang, mehr nicht. Wenn man es festhält, ist man verloren.« Sanft entzog er ihr seine Hand und ließ sie auf seinem Schoß liegen. Er lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen. »Ich halte alles fest«, bemerkte er. »Das war schon immer so.« »Auch damals, als du Bodhidharma kanntest?« »Ja, Martha.« Er öffnete die Augen und zog eine Braue hoch. »Dachtest du, ich hätte dich belogen?« »Und den Sohn Thomas Reimers? Die Elfenschar?« bohrte sie weiter. »Ich behauptete nicht, diese Ereignisse aus eigener Anschauung miterlebt zu haben. Ich wie-
derholte nur die Geschichte, wie sie mir erzählt worden war.« Er lächelte breit. »Die Begegnung mit dem Mann, der vor einer Mauer saß – der, den du Bodhidharma nennst – veränderte ein Leben, das bis dahin ausschließlich den traditionellen Beschäftigungen von Drachen gewidmet war –« »Und was sind das für welche?« »Hm. Gelehrsamkeit, Kalligraphie, das Sammeln von Kunstgegenständen –« »Und das ist alles? Klingt ziemlich gewöhnlich.« »Außerdem das Verschlingen von Ochsen, Tigern und ab und zu auch Menschen.« Er lächelte noch immer. »Das klingt schon besser – so zu leben, dagegen hätte ich nichts einzuwenden«, erklärte Martha. »Ja, es ist angenehm, oberflächlich betrachtet. Aber ich entwickelte eine Faszination für den Menschen – dieses winzige, hilflose, kurzlebige Wesen –, weil er die schönen Dinge schuf, die ich nur nachahmen konnte. Und horten konnte. Drachen sind nämlich nicht sehr kreativ, weißt du. Wir waren nie große Maler oder Dichter, dafür aber große Sammler. Ich wollte wissen, was das ist, was dem Menschen die Macht verleiht, das zu tun, was er tut – zu malen, zu dichten, neun Jahre lang vor einer Mauer zu sitzen…« Seine Worte verklangen. »Bodhidharma sagte mir, Martha, er suche die Wahrheit. Ich ließ mir das lange durch den Kopf gehen. Ich wanderte von Lehrer zu Lehrer. Anfangs war es mein Bemühen herauszufinden, was im Menschen es war, das ihn veranlaßte, so selt-
sam zu handeln: ein abstraktes Nichts mit einer Leidenschaft zu begehren, die dem Gold vorbehalten sein sollte. Aber mit der Zeit konnte ich sehen, daß ich die Wahrheit über den Menschen nur erfahren würde, indem ich die Wahrheit des Menschen selbst fand.« Long spielte mit der Pfeife des Teekessels. Seine Zähne blitzten, und in seinen unergründlichen Augen tanzten glänzende Lichter. »Hundezüchter werden mit der Zeit Hunden immer ähnlicher«, fuhr er fort. »Und langsam, im Lauf von Jahrhunderten, wurde ich das Wesen, das ich studierte und entfernte mich von meiner eigenen Art. Wenn ich heute einem Drachen begegnete, so hätte ich ihm nichts zu sagen.« »Katzen mögen andere Katzen nicht«, warf Martha ein. Mayland Long warf ihr einen spitzbübischen Blick zu. Er lächelte über das ganze Gesicht. »Ich habe Jahrzehnte in eisigen Höhlen jenes Gebiets zugebracht, das heute Nepal ist«, erklärte er. »Ich habe auf Felsen in Leicester gelegen. Ich habe mit dem Dekan von St. Paul’s in Briefwechsel gestanden. Natürlich nicht mit dem derzeitigen –« »Natürlich nicht. Du meinst Donne.« Er brummte zustimmend. »Die Menschen, die ich aufsuchte, waren solche, die anscheinend gefunden hatten, was Bodhidharma unter der Höhlenmauer entdeckt hatte. Dieses unbeschreibliche formlose Etwas – die Wahrheit! Rund um mich herum starb meine Art aus. Ich bemerkte es kaum. Drachen sind von Natur aus keine sozialen
Wesen. Ich bin die Ausnahme. Mein Interesse – meine Besessenheit – hielten mich am Leben. Aber ich fand die Wahrheit nicht«, schloß er bedrückt. Martha Macnamara legte ihre Hände um sein Gesicht. »Weißt du nicht, daß du selbst die lebendige Wahrheit bist?« Er küßte erst die eine, dann die andere Hand. »Ein Drache kann eine solche Erklärung nicht begreifen«, sagte er. »Aber jetzt…« In die eintretende Stille klang das einschläfernde Rauschen des Regens. Der Kreis von Licht, den die Lampe verbreitete, war klein. »Ich weiß«, begann er langsam, »daß du meine Meisterin bist.« Sie lachte. »Wenn du unbedingt willst. Aber ich wäre lieber deine Geliebte.« »Das auch.« In der Ferne donnerte es. Mayland Long wandte sich wieder zum Fenster. Er stand auf, ging hin und drückte die Hand auf das Glas. »Es donnert selten in Kalifornien. In der Nacht, als ich – als ich ein Mensch wurde – donnerte es unaufhörlich. Ich hatte von einem Tao Lehrmeister gehört, der sehr weise war. Er hieß Yung Chung-jo; er war ein Offizier im Ruhestand. Als ich ihn fand, saß er auf dem kahlen Gipfel eines Berges. Er trug seine alte Paradeuniform, die in Fetzen an ihm herabhing. Er war dorthin gegangen, um zu sterben. Er hatte keine Angst. Ich umschlang ihn mit meinem Leib und schützte ihn
vor dem Regen. Ich erzählte ihm von meiner Suche, wo sie begonnen und wohin sie mich geführt hatte. Ich erzählte ihm, welche Schriften ich gelesen hatte. Ich hatte nämlich alle bedeutenden Sprachen der Menschen erlernt, um meine Aufgabe besser bewältigen zu können. Ich zählte die Namen aller Lehrer auf, bei denen ich vorher in die Schule gegangen war und wiederholte ihm die Ratschläge, die sie mir gegeben hatten. Ich wollte Yung gegenüber ganz klar und genau sein, weil ich bei so vielen zuvor versagt hatte. Und der alte Mann lachte mich aus – er lachte wie, glaube ich, nur die Chinesen lachen können, wenn sie sich über einen Menschen lustig machen. Es ist schrecklich, wie sie lachen können. Es kann einen so klein machen, daß –« Er warf einen Blick auf Martha und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Du lachst mich jetzt aus, Martha. Das macht nichts. Ich weiß, was für ein Narr ich bin. Dann sagte er mir, er sei nicht dazu bestimmt, mein Lehrmeister zu sein, weil er bald stürbe. Er erklärte, mein Meister würde einer sein, der mehr chi – mehr Kraft – besäße als ich. Und er prophezeite mir, daß mir, wenn ich meinem Meister begegnete, alles genommen werden würde, was ich angesammelt hatte. Er saß die ganze Nacht im Regen, während ich um seinen Körper geschlungen schlief. Am Morgen, als ich erwachte, sah ich so aus, wie ich jetzt aussehe, und in meinen Armen hielt ich einen toten Menschen.« »Es muß weh getan haben, ein Mensch zu werden«, flüsterte Martha und bot ihm ihre Hand. Mayland Long kehrte in den Lichtkreis zurück.
»Es tut immer noch weh«, gestand er. Ein Blitz jagte zuckend über den Himmel, und wieder grollte der Donner. »Was soll ich tun, Martha? Wo soll ich leben? Wie soll ich meine Zeit verbringen?« Martha Macnamara holte tief Atem und setzte sich in ihrem Sessel kerzengerade auf. »Ich bin nicht die Königin der Elfen«, begann sie. »Du bist schöner, Martha. Und du besitzt mehr chi.« Sie ließ die Zwischenbemerkung unbeachtet. »Aber wenn du zu mir kommst, werde ich dich besser behandeln, als sie es mit dem Reimer tat.« Er zog sie aus dem Sessel und küßte sie langsam und mit zarter Behutsamkeit. Ihre Hände waren von gelbem Licht überflutet. Ihre Gesichter schwammen im Schatten. »Trotzdem«, flüsterte er ihr ins Ohr, »kam er mit der Wahrheit auf der Zunge zurück.« Sie kicherte. »Da gehört sie nicht hin.« »Was wird meine Meisterin mich dann lehren?« Er küßte ihre Wange, ihre Augen, ihre Stirn… Martha Macnamara trat auf einen Schritt zurück und sah zu Mayland Long auf. »Das Klavierspielen natürlich!« Sie hielt seine schlanke, dunkle Hand hoch. »Einfach wunderbar!«