Harry Harrison
STATIONEN IM ALL Die Geschichte des Materie-Transmitters
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 19 Ame...
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Harry Harrison
STATIONEN IM ALL Die Geschichte des Materie-Transmitters
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 19 Amerikanischer Originaltitel: One Step from Earth Deutsche Übersetzung: Walter Ernsting und Rosemarie Ott © Copyright 1970 by Harry Harrison Deutsche Lizenzausgabe 1972: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Printed in Western Germany Titelillustration: Eddie Jones Einbandgestaltung: Rosemarie Roden Gesamtherstellung: Moritz Schauenburg KG, Lahr/Schwarzwald ISBN 3-404-00.008 o Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
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INHALTSVERZEICHNIS Der Sprung zum Mars Opfer für Saturn Der Attentäter Die Braut des Gottes Die Last der Schwerkraft Weder Krieg noch Kampfeslärm… Wächter des Lebens Alpha und Omega
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Der Sprung zum Mars Die Landschaft war tot, und sie hatte niemals gelebt. Als sich die Planeten bildeten, war sie tot geboren worden – eine planetarische Totgeburt aus Felsen, Sand und Kies. Die Luft war so dünn und so kalt, daß sie dem Vakuum des Weltraums ähnlicher war als jede atembare Atmosphäre. Obgleich es beinahe Mittag war und die kleine, bleiche Sonnenscheibe fast im Zenit stand, blieb der Himmel dunkel. Im Sand der unebenen, toten Landschaft gab es keinen Fußabdruck, keine einzige Spur. Schweigen, Einsamkeit, Leere. Nur die Schatten bewegten sich. Während die Stunden vergingen, wanderte die Sonne über den Himmel und versank endlich unter dem Horizont. Mit der Nacht kam noch größere Kälte. Die Sterne zogen langsam ihren Bogen, und dann erschien die Sonne wieder am entgegengesetzten Horizont. Doch dann geschah etwas. Hoch oben am dunklen Himmel war ein Aufblitzen, als würde das Sonnenlicht von schimmerndem Metall zurückgeworfen. Etwas bewegte sich dort, wo noch niemals jemand gewesen war. Es wurde größer, verwandelte sich in einen Lichtfleck und dann in einen flammenden Feuerstrahl. Die Flamme wurde noch heller, als sie sich der Oberfläche näherte und dann dicht über ihr schwebte. Staub wirbelte davon. Felsbrocken zerschmolzen in der Glut – und dann erlosch der Feuerstrahl. Der wuchtige Metallzylinder fiel die letzten Meter und landete auf seinen weit auseinandergestreckten Beinen. Die Teleskopstützen federten aus, bis der Zylinder gerade stand. Dann bewegte sich nichts mehr. Die Minuten vergingen. Alles blieb ruhig, nur der Staub sank langsam wieder herab, und der geschmolzene Felsen erstarrte, wobei beim Erkalten breite Risse entstanden. Der scharfe Knall einer Explosion unterbrach die Stille, und die eine Seite des Zylinders wurde mehrere Meter weit weggeschleudert. Sie landete im Sand und blieb liegen. Der Zylinder vibrierte, beruhigte sich dann aber wieder. Dank der nun fehlenden Wand konnte man in das Innere der Kapsel blicken. Sie war mit Geräten und Instrumenten angefüllt, die alle um eine graue Platte geordnet lagen. Sie erinnerte an das trübe Bullauge eines Schiffes. Wieder geschah eine ganze Weile nichts, als müsse immer eine gewisse Zeit vergehen, ehe die Automatik eine Entscheidung fällte. Und genau das geschah auch, als plötzlich eine Antenne ausgefahren wurde. Zuerst glitt sie waagerecht zur Oberfläche dahin. Dann folgte ein gebogenes Teil, und sie stieg senkrecht nach oben. Noch während das geschah, erschien eine Fernsehkamera mit einer Halterung, bewegte sich unschlüssig hin und her, bis sie endlich einrastete und in Position blieb. Mit einem hellen Klicken verwandelte sich dann die runde Platte. Sie wurde
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tiefschwarz und schien verschoben zu werden, ohne daß sie sich bewegt hätte. Einen Augenblick später stand plötzlich auf ihr ein durchsichtiger Plastikbehälter, als sei er durch eine Tür gekommen. Er schwankte, verlor das Gleichgewicht und fiel aus der Kapsel auf den Boden. Die weiße Ratte im Innern des Behälters war sichtlich erschrocken, als ihr Käfig davonrollte und liegenblieb. Sie kam auf die Füße und versuchte, an den glatten Wänden emporzuklettern. Dann gab sie es auf und beruhigte sich. Mit ihren weißen Augen betrachtete sie die trostlose Landschaft um sich herum und begann sich dann zu putzen. Noch hatte die Kälte die Wände ihres Gefängnisses nicht durchdrungen. Das Bild auf dem Fernsehschirm war ziemlich verschwommen. Aber wenn man bedachte, daß es von der Oberfläche des Mars zu einer um den Planeten kreisenden Relaisstation gesendet und von dort zur Mondstation weitergeleitet wurde, die es dann zur Erde schickte, konnte man es nicht als schlecht bezeichnen. Trotz aller Störungen und »Schnee« war die Ratte in ihrem Behälter deutlich zu erkennen. »Erfolg?« fragte Ben Duncan. Er war ein drahtiger, kompakt gebauter Mann mit kurzgeschnittenem Haar und brauner lederartiger Haut. Die vielen kleinen Falten um die Augenwinkel herum zeugten davon, daß er viele Jahre in großer Kälte oder unter der Tropensonne zugebracht hatte. Beides stimmte. Seine ganze Erscheinung unterschied sich gewaltig von jener der bleichgesichtigen Techniker, die an den Kontrollständen saßen, wenn man von den Negern und Puertoricanern absah. »Bis jetzt sieht es gut aus«, meinte Dr. Thurmond. Er war Doktor der Physik für Materie-Transmission und mit Recht stolz darauf. »Wellenerscheinung in Ordnung, keine Verminderung, kaum Rückstrahlung. Das Versuchsobjekt ging mit dem Wert einskommadrei der MT-Skala durch. Es könnte also kaum besser sein.« »Und wann können wir durch?« »In einer Stunde, vielleicht etwas später. Die biologische Abteilung muß erst die Genehmigung erteilen. Sie wollen das erste Versuchsobjekt genau studieren, eventuell noch ein zweites. Dann erst können Sie mit Thasler durch den Materie-Transmitter. Sie gehen zusammen.« »Ja, natürlich, warum auch warten?« sagte Otto Thasler. Dann fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie mich, bitte«, und rannte davon. Er war von kleiner Statur und trug eine Brille mit dickem Rand. Sein Haar war dünn und sandfarben. Er sah älter aus, als er in Wirklichkeit war, weil er stark gebeugt ging. Das kam von der vielen Laborarbeit. Außerdem war er nervös. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn verrieten es. Er suchte nun schon zum drittenmal innerhalb einer Stunde die Toilette auf. Das hatte auch Dr. Thurmond bemerkt. »Otto ist aufgeregt«, stellte er fest. »Aber ich glaube nicht, daß Sie Ärger mit ihm haben werden.« »Wenn wir erst einmal dort sind, wird er sich beruhigen. Das Warten macht jeden Menschen nervös.«
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»Sie etwa auch?« erkundigte sich Dr. Thurmond mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme. »Natürlich«, gab Ben Duncan zu. »Aber schließlich habe ich schon oft genug warten müssen, um nicht daran gewöhnt zu sein. Allerdings bin ich noch nicht auf dem Mars gewesen. Dafür aber an einigen anderen, nicht weniger merkwürdigen Orten.« »Davon bin ich überzeugt. Sie scheinen mir mehr eine Art professioneller Abenteurer zu sein, nicht wahr?« Diesmal war der spöttische Ton unverkennbar. Er drückte das Mißtrauen eines Mannes, der das Befehlen gewohnt war, einem anderen Mann gegenüber aus, der nur ungern Befehle entgegennahm. »Das nicht gerade. Ich bin Geologe und Petrologe. Einige der wirklich seltenen Proben, mit denen Sie in Ihren Labors arbeiten, habe ich gefunden, und das nicht gerade an leicht zu erreichenden Stellen.« »Na, fein.« Der Tonfall seiner Stimme blieb ausdruckslos und unpersönlich. »Dann haben Sie ja eine Menge Erfahrungen sammeln können, um auf sich aufzupassen und im Notfall Otto Thasler behilflich zu sein. Er hat das Kommando und wird die Hauptarbeit leisten. Sie sind lediglich sein Assistent.« »Selbstverständlich«, erwiderte Ben, drehte sich um und ging davon. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, diese Wissenschaftler. Und sie machten kein Geheimnis daraus, daß sie ihn für einen Außenseiter hielten. Sie hätten ihn auch niemals für diesen Job geholt, wenn sie selbst einen unter sich wüßten, der ihn ausführen konnte. TRANSMUTER GMBH war reicher als manche Regierung und auch mächtiger. Sie kannten den Wert des richtigen Mannes in der richtigen Stellung. Ein einfacher MT-Ingenieur für das geplante Unternehmen konnte schnell gefunden werden, und Otto, der sein Leben lang Angestellter gewesen war, hatte so gut wie keine Chance, das Angebot abzulehnen. In der überbevölkerten Welt des Jahres 1993 gab es nur noch wenig unbekannte Regionen auf der Erde und noch weniger Männer, die sie zu betreten wagten. Ben hielt sich gerade im Himalaja auf, als der Hubschrauber ihn holen kam. Er brach seine Expedition sofort ab, denn TM GmbH setzte Druck dahinter und bot ihm den besseren Vertrag an. Sie drängten ihn zur Unterschrift, aber das hätten sie nicht einmal nötig gehabt. Er hätte auch für ein Zehntel der angegebenen Summe unterzeichnet. Diese Bürotypen würden nie begreifen, daß er sich dieses Abenteuer schon lange gewünscht hatte. Durch die Tür gelangte er auf einen Balkon, von dem aus er die ganze Stadt überblicken konnte. Behutsam stopfte er seine Pfeife voll Tabak, zündete sie jedoch nicht an. Er würde in der nächsten Zeit nicht rauchen dürfen und es war gut, sich schon jetzt allmählich daran zu gewöhnen. In dieser großen Höhe war die Luft noch einigermaßen frisch. Doch die Dunstglocke begann bereits einige Stockwerke tiefer. Die Straßen und Häuser erstreckten sich bis zum Horizont und waren vollgepackt mit Menschen. Alle Städte auf der
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Erde sahen so aus, eine wie die andere. »Kommen Sie, Mr. Duncan, man wartet auf Sie!« Der Techniker stand in der Tür. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. Ben lächelte ihm zu und gab ihm mit betonter Ruhe seine Pfeife. »Würden Sie die bitte aufbewahren, bis ich zurück bin?« Otto war bereits eingekleidet worden, und nun stürzten sie sich auf ihn, zogen ihm den Overall aus und halfen ihm in den Spezialschutzanzug. Zuerst warme Unterwäsche, dann hauchdünne Seide, eine heizbare Kombination und elektrische Socken und Stiefel. Es ging alles sehr schnell. Dr. Thurmond inspizierte ihn, während die Verschlüsse verschraubt wurden. Er nickte zufrieden. »Lassen Sie einen offen, bis Sie die Kammer betreten«, sagte er. »Kommen Sie jetzt!« Er ging voraus, und alle liefen hinter ihm her. Wie eine Henne mit ihren Küken, dachte Ben belustigt. Sie gelangten in den Transmitterraum, angefüllt mit Instrumenten, Geräten und der elektrischen Leitschiene für die Energiezufuhr. Techniker und Ingenieure sahen ihnen neugierig entgegen; aber als einer von ihnen Ben zuwinkte, scheuchte Thurmond ihn mit einem eisigen Blick zurück. Die drei Männer betraten die Druckkammer, deren schwere Tür hinter ihnen verschlossen und abgeriegelt wurde. Thurmond schloß den dicken Mantel, als kalte Luft in die Kammer geblasen wurde. »Der letzte Countdown beginnt«, sagte er. »Ich wiederhole noch einmal meine Instruktionen.« Ben kannte sie schon auswendig, aber er hielt den Mund. »Temperatur und Luftdruck in der Kammer werden nun den atmosphärischen Verhältnissen auf dem Mars angepaßt. Im Augenblick werden minus zwanzig Grad Celsius auf der Oberfläche des Planeten gemessen. Der Luftdruck liegt bei zehn Millimeter. Sauerstoff ist so gut wie keiner vorhanden. Sie werden also stets Ihre Atemmasken tragen müssen, vergessen Sie das nicht! Sie müssen sie aufsetzen, sobald Sie gehen…« Er gähnte, um den Druck in den Ohren anzugleichen. »Ich verschwinde jetzt in der Schleuse.« Von dort aus setzte er seinen Vortrag fort und beobachtete sie durch das kleine Zwischenfenster. Ben versuchte, die dröhnende Stimme zu ignorieren, und Otto war viel zu aufgeregt, um zuzuhören. Im Versorgungsteil des Anzuges klickte der Thermostat, und Sekunden später spürte Ben, wie ihm warm wurde. Vor seiner Brust baumelte die Sauerstoffmaske. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, nahm das Mundstück und atmete den reinen Sauerstoff ein. »Der erste Mann – fertigmachen!« sagte Dr. Thurmond mit seltsam quiekender Stimme. Zum erstenmal seit ihrem Aufenthalt in der Kammer sah Ben auf die runde, schwarze Scheibe des Transmitters. Er legte sich auf den Tisch. Zwei Techniker in Druckanzügen kamen durch die Schleuse, um ihm zu helfen. Sie schoben den Tisch auf die Transmitteröffnung zu. »Moment noch!« sagte Ben. Der Tisch hielt an. Otto Thasler drehte ihm den
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Rücken zu und starrte die gegenüberliegende Wand an. Ben konnte sich den entsetzten Gesichtsausdruck des Mannes gut vorstellen. »Otto, ruhig bleiben! Es ist alles halb so schlimm. Am anderen Ende warte ich auf Sie. Denken Sie daran, daß wir Geschichte machen werden!« Otto gab keine Antwort, und Ben hatte auch keine erwartet. Je schneller sie jetzt alles hinter sich bekamen, um so besser war es. Automatisch nahm er die tausendfach geübte Position auf dem Tisch ein – rechter Arm vorgestreckt, der linke dicht an den Körper gepreßt. Der Materie-Transmitter wurde größer, als der Tisch auf ihn zurollte – wie ein großes, schwarzes Auge, in das er hineinblickte. »Jetzt!« sagte er. Die beiden Männer drückten gegen seine Füße. Er rutschte, und sein ausgestreckter rechter Arm begann zu verschwinden. Er spürte nichts. Erst als der Kopf hindurchging, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Dann war auch das vorbei. Vor sich sah er die groben Sandkörner der Marsoberfläche. Mit den Händen schwächte er den kurzen Sturz ab und landete auf dem Plastikbehälter mit der Ratte. Sie war tot und steifgefroren – kein gutes Omen. Schnell wandte er sich ab und schaltete das Mikrophon ein, das er vom Bildschirm her kannte. »Ben Duncan an Kontrolle. Bin gut angekommen, keine Probleme.« Vielleicht hätte er noch ein paar geistreiche Worte zu diesem historischen Ereignis sagen sollen, aber ihm fiel nichts ein. Er sah nur die kahlen, dunklen Hügel, den kleinen Krater nebenan und die fahle, kleine Sonne. Was hätte er sagen sollen? »Schickt Otto! Ende.« Er erhob sich und klopfte den Staub vom Anzug. Dann betrachtete er voller Spannung den Transmitter. Die Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Aber dann kam endlich die Antwort: »Empfang gut. Wir schicken jetzt Thasler durch!« Noch ehe die Stimme ausgesprochen hatte, erschien Ottos Hand. Die Radiowellen benötigten immerhin vier Minuten, um den Mars zu erreichen, während der Materie-Transmitter nahezu zeitlos arbeitete. Raum und Zeit in gewohntem Sinne existierten nicht im Bhattacharya-Kontinuum. Ben sprang hinzu, als Ottos Körper materialisierte, um ihm den Fall zu ersparen. Behutsam ließ er ihn zu Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Die Augen des Mannes waren geschlossen. Er atmete regelmäßig und schien nur bewußtlos geworden zu sein. Transmitterschock, so nannte man es wohl. In wenigen Minuten würde er wieder zu sich kommen. Ben ließ ihn liegen und ging zum Radiogerät. »Otto ist hier. Bewußtlos, aber sonst heil. Ihr könnt jetzt das andere Zeug schicken.« Er wartete. Der Wind verursachte ein helles, dünnes Pfeifen, als er gegen die Atemmaske blies, und er war eiskalt. Ben spürte es an den Wangen, aber es war ihm egal. Für ihn war die Hauptsache, daß es den Wind gab, seine Füße
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auf festem Boden standen und über ihm die Sonne schien. Er hätte jetzt genausogut irgendwo auf der Erde sein können, auf einem hochgelegenen Plateau im Himalaja vielleicht. Er entsann sich an kühle Nebeltage, an denen er noch weniger von der Sonne gesehen hatte als jetzt. Die Schwerkraft? Die schwere Ausrüstung, die er jetzt mit sich herumschleppte, ließ keinen Unterschied aufkommen. Die roten Hügel voller Schatten, die dünnen Wolkenschleier am Himmel – es könnte wahrhaftig die Erde sein, ein unbekannter, menschenleerer Winkel vielleicht. Aber der Planet Mars? Er begriff es einfach nicht. Sicher, wäre er mit einem Raumschiff hierhergekommen, nach monatelanger Reise, dann wäre alles ganz anders gewesen. Aber so hatte er noch vor wenigen Minuten auf der Erde gestanden. Nun aber berührten seine Füße den groben Sand des Mars. Er sah den Käfig mit der zweiten Ratte. Sie lebte noch, aber nicht mehr lange. Sie atmete heftig, das Maul weit geöffnet und Todesangst in den kleinen Augen. Tausende solcher Versuchstiere starben täglich im Dienst der Wissenschaft; aber das war auf der Erde. Hier auf dem Mars war die Ratte außer ihm und Otto vielleicht das einzige lebendige Wesen. Es hatte die Wahl zwischen Erfrieren und Ersticken. Ben bückte sich und öffnete die Klapptür. Der Tod kam schneller, als er sich das erhofft hatte. Die Ratte atmete nur einmal die dünne Luft des Mars, dann streckte sie sich, zuckte noch einmal und lag dann still. Die Trockenheit der dünnen Luft war es, so wußte Ben von seinen Instruktionen her. Das absolute Fehlen jeglicher Feuchtigkeit würde die empfindlichen Schleimhäute von Nase und Rachen sofort verdorren lassen und die Lungen regelrecht verbrennen, als atme man Schwefelsäure ein. Ben war das übertrieben erschienen, aber nun hatte er selbst gesehen, wie schnell die Ratte gestorben war. Automatisch überzeugte er sich davon, daß seine Maske richtig saß. Dann ging er zu dem immer noch bewußtlosen Otto und überprüfte dessen Atemgerät. Nein, dies war nicht die Erde. Jetzt wußte er es. »Achtung!« kam die Stimme schrill und hell aus dem Lautsprecher. »Wir schicken die Ausrüstung. Ist Thasler noch immer bewußtlos? Schaffen Sie es allein?« Ben griff nach dem Mikrophon. »Schickt endlich das Zeug her, verdammt noch mal! Die unnötige Fragerei kostet uns hier oben zwölf Minuten. Wenn wirklich etwas kaputt geht, könnt ihr ja Ersatzteile besorgen, nicht wahr? Wir sitzen hier allein auf dem Mars. Außer Sauerstoff haben wir nichts. Fangt also endlich an!« Unruhig ging er hin und her, während er abermals wartete. Otto lag ganz still, als täte ihm die Ruhepause gut und als wolle er sie bis zur letzten Sekunde auskosten. Das fing ja wirklich gut an! Er zog Otto ein Stück zur Seite, damit nichts auf ihn fallen konnte, wenn der Transmitter anfing zu spucken. Als er zurückkam, schob sich gerade der
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erste Kanister aus dem Schirm. »Das wurde auch Zeit!« knurrte Ben. Er packte den Kanister und zog ihn heraus, bis er auf den Boden fiel. »Sauerstoff und Lebensmittel« stand in roten Lettern darauf. Na gut, wenigstens etwas, dachte Ben und schob ihn zur Seite, um Platz zu machen. Der Regler in seiner Atemanlage klickte reibungslos. Er bekam reinen Sauerstoff. Trotzdem fühlte er sich etwas müde. Kanister nach Kanister erschien. Sie hatten unterschiedliche Länge, aber alle den gleichen Durchmesser. Jemand klopfte ihm auf die Schulter, und Ben ließ den Gegenstand fallen, den er gerade in der Hand hielt. »Ich wurde bewußtlos, es tut mir leid. Ist alles soweit in Ordnung…?« »Helfen Sie mir lieber, Otto. Der Schirm muß frei sein, sonst kann nichts mehr durch!« Es kamen noch einige Behälter, dann fiel schließlich eine Duralschreibplatte auf den Boden. Jemand hatte mit roter Schrift darauf geschrieben: »Überprüfen Sie Ihren Sauerstoffvorrat. Unterkunft aufbauen und Tanks auswechseln!« »Die denken da unten noch für uns«, murmelte Ben und fragte: »Wie sieht es bei mir aus?« »Ein Viertel übrig.« »Gut. Fangen wir gleich mit dem Zelt an.« Otto hantierte mit den Kanistern, während Ben die große und unhandliche Plane ausbreitete. Er tat es genauso, wie er es wahrend des Trainings getan hatte – schnell und gekonnt. Der einzige Unterschied war nur der, daß er bei den Übungen nicht so erschöpft gewesen war wie jetzt. Außerdem trug er unbequeme Handschuhe, die ihn vor der Kälte schützten. Endlich hatte er es geschafft und sah schwer atmend zu, wie Otto einen Drucktank an ein Ventil anschloß. Plötzlich kam Bewegung in ihn. »Verflucht, was machen Sie denn da?« rief er und gab Otto einen Stoß, der diesen zu Boden stürzen ließ. Der Mann blieb ganz ruhig liegen, schweigend und mit weit aufgerissenen Augen. Er mußte annehmen, daß Ben verrückt geworden war. Aber Ben deutete nur auf den Tank und das Ventil. »Gebrauchen Sie doch Ihren Verstand, Mann! Sie bringen uns beide um, wenn Sie nicht aufpassen. Sie wollten die rote Leitung an das grüne Ventil anschließen.« »Es tut mir leid, aber ich achtete nicht auf…« »Natürlich nicht, Sie Kamel! Aber Sie müssen darauf achten! Rot bedeutet Sauerstoff, und damit wird das Zelt gefüllt. Grün ist ein harmloses Gas, mit dem die Zwischenwände aufgeblasen werden. Harmlos, aber hier auf dem Mars für uns absolut tödlich, weil wir es nicht einatmen können!« Ben ließ sich nicht davon abbringen, die Anschlüsse selbst vorzunehmen. Er scheuchte Otto einmal sogar mit dem Schraubenzieher davon, als dieser ihm helfen wollte. Einer der Tanks verwandelte die Plane in einen puddingförmigen Hügel, der mit Sauerstoff gefüllt war. Das nicht atembare
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Gas richtete die Plastikwände auf und gab dem Ganzen das Aussehen einer stabilen Kuppel. Auch der Boden war doppelt und hielt die Kälte ab. Ben wußte, daß der Sauerstoff in seinem Tank knapp wurde, aber er wollte zuerst mit dem Aufbau des Zeltes fertig werden. Er schleppte das Heizgerät in das Zelt. Aber als er in der kleinen Luftschleuse war, verlor er das Bewußtsein. »Noch Suppe?« fragte Otto. »Gute Idee, danke.« Ben leerte die Tasse und reichte sie Otto. »Tut mir leid, wenn ich Sie ausschimpfte. Immerhin haben Sie mir das Leben gerettet.« Otto sah noch ziemlich bekümmert aus, als er sich über den Ofen beugte. »Schon gut, Ben. Ich hatte die Strafpredigt verdient, weil ich nicht aufpaßte. Sie sind doch ein wenig erfahrener in diesen Dingen als ich.« »Ich war noch nie auf dem Mars.« »Sie wissen genau, wie ich es gemeint habe. Sie kennen die ganze Welt. Ich war lediglich auf der Schule und verbrachte dann meine Ferien auf den Bahamas. Das war so ziemlich alles, was ich erlebte. Ich bin ein Stadtmensch.« »Als ich ohnmächtig wurde, haben Sie das Richtige getan.« »Selbsterhaltungstrieb, nehme ich an. Um zu überleben, benötige ich Sie. Ich nehme an, es war der Sauerstoffmangel. Ihr Tank war leer. Im Zelt ist genug Sauerstoff. Also schleppte ich Sie hier herein. Ich nahm Ihnen die Atemmaske ab und heizte ein. Das ist eigentlich alles. Ich tat nur, was getan werden mußte.« Er schwieg. Mit seiner Brille sah er aus wie eine Eule. »Aber es mußte getan werden, Otto!« sagte Ben mit Betonung. »Und niemand hätte mehr tun können als Sie. Es wird allmählich Zeit, daß Sie Ihre Komplexe verlieren und nicht immer daran denken, daß Sie nur ein Stadtmensch sind. Sie sind einer der beiden einzigen Marsforscher, die es in unserem Sonnensystem gibt. Vergessen Sie das nicht.« Otto dachte darüber nadi. Er reckte sich ein wenig, als er meinte: »Das stimmt eigentlich. Da haben Sie recht, Ben.« »Vergessen Sie es nicht. Wir haben das Schlimmste überstanden. Der Transmitter hat funktioniert, und wir befinden uns auf dem Mars. Wir sind jetzt hier zu Hause, haben ein Zelt, Sauerstoff und zu essen. Die Vorräte reichen für ein paar Monate. Auch das Wasser. Wir haben nichts anderes mehr zu tun, als vorsichtig zu sein. Das ist alles. Wir erledigen unsere Arbeit, und dann kehren wir als Helden zur Erde zurück. Vergessen Sie nicht: als reiche Helden!« »Wir müssen noch den Transmitter aufstellen, aber das dürfte nicht zu schwer sein.« »Ich werde Sie an diese Worte erinnern«, sagte Ben und schlürfte die heiße Suppe. »Ehrlich gestanden, habe ich keine Ahnung davon, warum wir überhaupt noch einen aufstellen müssen, wenn wir doch schon einen hier haben. Ich weiß eigentlich auch gar nicht, wie so ein Ding funktioniert, denn bisher hat es mir noch niemand erklärt.« »Ganz einfach«, teilte Otto ihm mit. Er schien erleichtert zu sein, daß sie
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nun über ein Gebiet diskutierten, das er kannte. Das war auch der Grund, warum Ben ihn gefragt hatte. Er selbst wußte über den Materie-Transmitter gründlich Bescheid. »Erst die Entdeckung des Bhattacharya-Kontinuums machte den Materietransport in dieser Form möglich. Das B-Kontinuum ist dreidimensional, liegt jedoch außerhalb unseres eigenen Raumes. Wir können in das B-Kontinuum eindringen, und das Merkwürdige daran ist, daß wir immer an der gleichen Stelle in dem B-Raum landen, ganz gleich, an welcher Stelle unseres Universums wir in das B-Kontinuum hinübersteigen. Durch entsprechende Berechnungen ist es also möglich, zwei Transmitter so zu postieren, daß sie im B-Raum denselben Platz einnehmen. Vom B-Raum aus kann man dann an jeder beliebigen Stelle unseres eigenen Kontinuums wieder einsteigen. Die Schirme existieren, streng genommen, gar nicht mehr in unserem Raum. Was man in den einen Transmitter hineinschiebt, kommt beim zweiten wieder in unseren Raum. Transmitter sind gleichsam Doppeltüren einer anderen Dimension. So einfach ist das.« »Natürlich ist das sehr einfach, solange man nicht so ein Ding konstruieren muß. Aber trotzdem kapiere ich noch immer nicht, warum wir einen zweiten Transmitter aufstellen müssen, obwohl wir bereits einen haben.« »Dafür gibt es viele Gründe, Ben. Der wichtigste ist die Richtenergie und die Entfernung.« »Entfernung? Hatten Sie mir nicht erklärt, die Entfernung spiele keine Rolle?« »Tut sie auch nicht, aber sie beeinflußt die Richtung und macht dadurch die Berechnung so kompliziert. Der Transmitter, den wir hier haben, wurde mit einer Rakete zum Mars befördert. Sein Schirm hat nur einen halben Meter Durchmesser, und fast sämtliche Energie, die zur Verfügung steht, wird dafür benötigt, ihn stabil zu halten. Der Transmitter auf der Erde… nun, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll… schickt praktisch diese Energie hierher, stabilisiert den Empfang und ermöglicht ihn. Aber derselbe Vorgang ist umgekehrt nicht möglich.« »Was würde geschehen, wenn ich in unseren Transmitter etwas hineinstecke? Käme es nicht auf der Erde an?« »Natürlich nicht. Jeder Gegenstand würde sofort in Y-Strahlen verwandelt und im B-Raum zerstreut werden.« »Das hört sich nicht gerade gesund an.« Ben setzte die Tasse auf den Tisch zurück. »Was halten Sie davon, wenn wir den Rest der Sachen jetzt ins Zelt schaffen und dann ein wenig schlafen? Ich bin müde.« »Einverstanden.« Sie holten nur die wichtigsten Dinge herein – Lebensmittel, Wasser, Luftreiniger und ähnliches. Dann krochen sie in ihre Schlafsäcke. Am anderen Tag fühlten sie sich schon viel besser. Sie arbeiteten den ganzen Tag und bauten das Lager auf. Bereits am dritten Tag kamen die ersten Teile des zu errichtenden Rück-Transmitters durch den Schirm. Es war wie ein Alptraum. Keiner der Gegenstände durfte größer als einen halben Meter sein, was eine Unzahl von technischen Kompromissen zur
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Folge hatte. Nach vielen schlaflosen Nächten hatten die Ingenieure auf der Erde festgestellt, daß es unmöglich sei, ein Diesel-Elektro-Aggregat durch den kleinen Schirm zu schicken. Da kam ein namenloser kleiner Techniker auf den Gedanken, zuerst einmal so viele Batterien zum Mars zu schicken, daß man später den Zwei-Meter-Schirm lange genug aktivieren konnte, um das große Aggregat nachfolgen zu lassen. Der Rahmen stand bereits, und die Arbeit wurde zur Routine. Ben war kräftiger als Otto und schonte sich nicht. Er stellte die ganze Konstruktion fast allein auf, während der Ingenieur an der elektronischen Ausrüstung herumbastelte. Sie halfen sich gegenseitig, wo sie nur konnten. Endlich stand der Stahlrahmen, und Ben gab ihm einen freundschaftlichen Stoß mit dem Fuß. Morgen würden die benötigten Restteile eintreffen. Er ging zur Luftschleuse und rief Otto. Er bekam keine Antwort. Otto lag halb über der Werkbank, das Gesicht flach auf die Schaltpläne gepreßt. Seine Haut war stark gerötet und aufgedunsen. Seine Hand hielt den heißen Lötkolben fest. Es stank nach verbranntem Fleisch. Ben schleppte Otto zu seinem Lager und untersuchte ihn. Er war bewußtlos, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er atmete schwer und unregelmäßig. Ben verband die Brandwunde und dachte nach. Er war kein ausgebildeter Arzt, verstand jedoch genügend von Medizin, um sicher zu sein, daß Otto von einer ihm unbekannten Krankheit befallen worden war. Er gab ihm eine Injektion, maß die Temperatur und den Puls. Sorgfältig machte er sich Notizen, ehe er das Zelt verließ und zum Radiogerät draußen beim Transmitter ging. »Sie erhalten nun von mir einige Informationen. Antworten Sie nicht eher, bis ich damit fertig bin, und schicken Sie die Antwort schriftlich durch den Transmitter. Otto ist krank. Ich weiß nicht, was es ist. Hier die Daten…« Er ließ keine Einzelheit aus und beschrieb, was er unternommen hatte. Dann wartete er, bis seine Botschaft die Erde erreicht und die Antwort durch den Transmitter kam. Er las den Zettel, knüllte ihn wütend zusammen und sagte: »Ja, ich habe auch an eine Marskrankheit gedacht. Aber ich werde keine langwierigen Untersuchungen anstellen. Sie schicken mir sofort einen Arzt her. Das dürfte kein Problem für Sie sein. Bieten Sie ein gutes Honorar, dann bekommen Sie Ärzte genug. Die Ausrüstung müssen Sie schon jetzt zusammenstellen und senden. Auch ein Mikroskop mit Zubehör. Ich werde dann Bodenproben vom Mars untersuchen und Ihnen mitteilen, ob es Mikroorganismen gibt. Pflanzenähnliches Leben haben wir ja entdeckt, wie Sie wissen. Aber darum sollten sich Ihre Biologen kümmern. Ich kümmere mich um die Mikroben. Doch das tue ich nur, wenn Sie prompt erledigen, worum ich Sie gebeten habe.« Transmitter GmbH hatte verstanden. Für sie war der Erfolg der Expedition genauso wichtig wie für Ben. Außerdem hatten diese Leute eine Menge Geld investiert. Sie zögerten nicht, ein weiteres Menschenleben zu riskieren. Der Arzt, ein verwirrt wirkender junger Mediziner – er hatte gerade einige Dokumente unterzeichnet, die seine Frau für den Rest ihres Lebens
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finanziell unabhängig machten – kam eine halbe Stunde später aus dem Transmitter und rollte auf die Oberfläche des Mars. Ben nahm ihn in Empfang und führte ihn ins Zelt, wo die angeforderten Instrumente bereits gestapelt waren. »Ihr Patient wartet schon, Doktor. Dort ist die Ausrüstung!« »Mein Name ist Joe Parker«, sagte der Arzt. Er ließ seine ausgestreckte Hand aber wieder sinken, als er Bens Gesicht sah. Er kümmerte sich um Otto. Nach einer gründlichen Untersuchung konnte er nur unwillig feststellen: »Es scheint eine etwas ungewöhnliche Krankheit zu sein.« »Kennen Sie sie oder nicht?« »Nein, aber…« »Dachte ich es mir doch!« Ben setzte sich und griff nach dem Wasserglas voll Brandy, der für medizinische Zwecke gedacht war. Dann besann er sich und bot dem Arzt ebenfalls einen Drink an. »Kann es eine neue Seuche sein? Eine vom Mars?« »Wahrscheinlich. Es sieht wenigstens so aus. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Aber einen Erfolg kann ich nicht garantieren.« Sie wußten beide, was geschehen würde, aber sie gestanden es sich nicht ein. Trotz der eingegebenen Medikamente starb Otto zwei Tage später. Parker untersuchte den Toten und machte die Entdeckung, daß sein Gehirn von einem unbekannten Organismus zersetzt worden war. Während Ben weiter an der Fertigstellung des Transmitters arbeitete, fror er Proben ein und beschriftete sie. Die Nachricht von dem, was auf dem Mars geschehen war, schien auf der Erde durchgesickert zu sein; denn es dauerte vier Tage, bis Transmitter GmbH endlich einen neuen Ingenieur schicken konnte, der die Arbeit an dem neuen Gerät vollenden sollte. Der Neue machte einen verschüchterten Eindruck und war sehr wortkarg. Ben stellte auch keine Fragen, denn er wollte nicht wissen, mit welchen Mitteln man den Mann gezwungen hatte, das Wagnis auf sich zu nehmen. Mart Kennedy arbeitete schnell und gut, aber über ihnen allen lag der drohende Schatten des unbekannten Todes. Selbst beim Essen wurden kaum Worte gewechselt. Parker war ziemlich sicher, daß er den gefährlichen Organismus gefunden und isoliert hatte. Er bewahrte ihn in einem Gefäß mit klarer Flüssigkeit auf, das sie gut verpackten und versiegelten. Es sollte zur Erde geschickt und dort genau untersucht werden. An dem Tag, an dem die Testversuche beginnen sollten, stand Mart Kennedy früh auf, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Bisher war ihm keine Zeit geblieben, denn er hatte fast pausenlos gearbeitet, um den Transmitter fertigzustellen. Er wußte nicht einmal, wie es draußen aussah, denn er hatte kaum darauf geachtet. Er kannte eine Menge Zukunftsromane, aber er hätte nie gedacht, selbst einmal hierher zu gelangen. Nun aber war er hier, und der Tod wartete gleich in seiner Nachbarschaft. Als er ins Zelt zurückkehrte, machte er Kaffee und weckte die anderen. Ben
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war sofort wach und rüttelte Parker, der noch fest schlief. Aber der Arzt rührte sich nicht. Kennedy ging hin und zog die Decke weg, dann sprang er erschrocken zurück. »Ben!« Seine Stimme war laut und schrill. »Ben, kommen Sie her! Da stimmt etwas nicht!« »Dieselben Symptome, verdammt! Es hat ihn erwischt! Wir geben ihm eine Injektion und sorgen dafür, daß der Transmitter endlich funktioniert. Mehr können wir nicht tun.« Der große Transmitter war schon am Vortag betriebsfertig geworden, aber sie waren alle zu müde gewesen, ihn zu testen. Ben bettete den Kranken bequem und gab ihm die Injektion, die bei Otto nicht geholfen hatte. Dann ging er nach draußen, um Mart bei der Arbeit zu unterstützen. »Alles in Ordnung. Wir können das Gerät in Betrieb nehmen, sobald Sie es wünschen.« »Je eher, desto besser, Mart!« »Gut.« Der Schirm flimmerte und wurde dunkel. Ben hatte auf einen Zettel geschrieben: »Schickt den Generator!« Er warf den Zettel in den Schirm, worin er verschwand. Sonst geschah weiter nichts. Vielleicht war die Botschaft im B-Raum zerstrahlt worden, vielleicht auch nicht. Die Batterien würden nur für eine weitere Minute reichen. Dann erschien der Generator. Er war auf einer rollenden Plattform verschraubt, die leicht zu bewegen war. Die beiden Männer machten den Schirm frei und bemerkten, daß der Schirm abermals flimmerte und dann erlosch. »Befestigen Sie schon mal die Zuleitungen, ich bringe das Ding inzwischen in Gang«, sagte Ben. Zu seiner Überraschung sprang der Motor gleich an. Er gab sofort Energie ab, und wenig später arbeitete der Transmitter wieder. Als erstes kam ein Behälter mit einer Ratte. Ben schickte sie zurück. Auch die zweite und dritte. Erst als Ben eine Nachricht über den Zustand von Dr. Parker in den Schirm warf, kam eine schnelle Antwort. Sie lautete: »Wir holen euch alle heraus. Die Instrumente werden auf Automatik geschaltet und von hier aus gesteuert. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Transmission beginnt sofort. Schicken Sie Dr. Parker zuerst!« Ben schrieb: »Und was geschieht mit uns?« Die Antwort war: »Sie kommen in eine abgeschlossene Quarantänestation, die nur per Transmitter betreten werden kann. Es wird alles für Sie getan werden.« Ben sagte zu Mart: »Holen wir Parker!« Sie kleideten den Bewußtlosen an und überzeugten sich, daß die Atemmaske einwandfrei funktionierte. Dann legten sie ihn auf eine Tragbahre und schafften ihn hinaus. Die Luftschleuse lag voller Geräte und Kanister, aber sie kamen gut daran vorbei. Mart ging voran, auf den Transmitter zu, der groß genug war, sie alle zusammen aufzunehmen. Er blickte nicht ein
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einziges Mal zurück, als sie in den Schirm traten. Das Licht war heller, als sie es gewohnt waren, und Ben spürte sofort die größere Schwerkraft. Als er die Atemmaske abnahm, kam ihm die Luft dick und schwer vor. Es roch nach allen möglichen Dingen. Sie standen in einem Raum, dessen eine Seite transparent war. Dahinter bemerkten sie neugierige Gesichter. »Hier spricht Dr. Thurmond«, sagte eine Stimme laut. Sie kam aus einem Lautsprecher unter der Decke. »Meine Instruktionen sind folgende…« »Können Sie mich hören?« unterbrach ihn Ben. »Ja, aber nun warten Sie, bis ich…« »Halten Sie den Mund und hören Sie gut zu! Sie haben nun Ihre beiden Versuchskaninchen, ein krankes und ein gesundes. Das reicht. Ich gehe zurück zum Mars. Wenn ich schon sterben muß, dann wenigstens dort.« »Der Transmitter ist ausgeschaltet.« Thurmonds Stimme überschlug sich fast. »Es ist verboten, und ich befehle Ihnen…!« »Sie haben mir nichts mehr zu befehlen! Die Tage auf dem Mars haben mich zu einem neuen Standpunkt bekehrt. Ich hasse Menschen, die wie die Ratten leben müssen und sich immer weiter vermehren, bis die Erde von ihrem Abfall stinkt. Die Erde mag schön gewesen sein, als es noch keine Menschen gab. Ich werde auf dem Mars leben, der noch nicht vergiftet ist. Eine Ratte kam mit mir zum Mars, und sie starb. Ich war ein menschliches Versuchskaninchen, das man wieder zurückgeschickt hat. Ihr seid alle nur menschliche Versuchskaninchen. Ich habe davon genug. Lieber will ich der erste Marsianer sein.« Dr. Thurmond erschien auf der anderen Seite der Wand, nur wenige Zentimeter von Ben entfernt. Er war wütend, aber noch beherrschte er sich. Er hob das Mikrophon an den Mund und sagte: »Alles ganz gut und schön; aber Sie sind unser Angestellter. Noch bestimme ich, was zu geschehen hat. Sie bekommen Zimmer Nummer drei und werden…« »Ich gehe zurück auf den Mars!« Ben zog eine Kneifzange aus Chromstahl hervor und klopfte damit sachte gegen die durchsichtige Wand. Die Gesichter wichen entsetzt zurück. »Dies ist ein Werkzeug, und ich werde es benutzen. Die hübschen Marsmikroben werden euch fressen, einen nach dem anderen. Nun, Dr. Thurmond, Sie sind es, der keine andere Wahl hat. Sie müssen mich umbringen oder zum Mars zurückschicken. Überlegen Sie sich das genau!« Thurmonds Gesicht war haßerfüllt; aber seine Stimme blieb ruhig, als er sagte: »Es hat wenig Sinn, mit Ihnen über Loyalität zu reden, denn Sie wissen ohnehin nicht, was das ist. Aber vielleicht verstehen Sie, wenn ich Ihnen mitteile, daß dieses Projekt zuviel Geld gekostet hat, um durch Sie gefährdet zu werden. Sie tun das, was ich anordne.« »Ich werde es nicht tun!« rief Ben und schlug kräftiger mit der Zange zu. Ein Stück Plastik splitterte ab, und diesmal wich sogar Dr. Thurmond
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erschrocken zurück. »Begreifen Sie endlich, daß ich nicht hierbleiben möchte. Und begreifen Sie noch etwas anderes: Falls ich wirklich immun gegen die Marsmikroben bin, kann ich von größtem Wert für Sie und Ihre Forschungsabteilung sein. Denken Sie darüber nach, aber schnell!« Wieder splitterte ein Stück Plastik ab. Thurmond rührte sich nicht. Erst als Ben ein drittes Mal zuschlug, wandte er sich um. »Aktivieren Sie den Transmitter«, ordnete er an und sah wieder zu Ben hinein. Der Schirm wurde schwarz. Ben betrachtete ihn, bevor er sagte: »Machen Sie jetzt keinen Fehler, Dr. Thurmond. Ich weiß, daß Sie den Transmitter so einstellen können, daß ich im B-Raum lande und zerstrahlt werde – das wäre glatter Mord. Es gibt genug Zeugen, die unser Gespräch hörten, und Ihre Vorgesetzten werden nicht sehr erfreut darüber sein, wenn Sie einen so wertvollen Mitarbeiter wie mich opfern, nur weil Sie ihn hassen. Ich kann auf dem Mars leben, Sie nicht! Ich kann sogar der Verwalter Ihrer geplanten Marsstation werden, wer denn sonst? Also überlegen Sie es sich. Sie könnten genauso schnell aus der Firma gefeuert werden, wie Sie selbst Ihre Angestellten entlassen, nicht wahr?« Ben ging auf den schwarzen Rundschirm des Transmitters zu. Noch einmal drehte er sich um und sah in die Gesichter der schweigenden Männer. »Ich werde mir Mühe geben, in Ihrem Sinne auf dem Mars weiterzuarbeiten. Sie haben nichts verloren, wenn ich nicht zur Erde zurückkehre. Außerdem bin ich davon überzeugt, daß es Ihnen jetzt sehr schwerfallen wird, noch Freiwillige für eine Reise zum Mars zu finden.« Ohne auf eine Entgegnung zu warten, schloß er seine Atemmaske und ging in den Schirm hinein…
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Opfer für Saturn Die angespannte Atmosphäre innerhalb des Schiffes stieg im gleichen Maße, wie der Außendruck auf die Hülle größer wurde. Vielleicht kam das nur daher, weil Nissim und Aldo nichts zu tun hatten. Sie hatten zuviel Zeit zum Nachdenken. Immer wieder fielen ihre Blicke auf die Druckanzeiger – und immer wieder sahen sie dann schnell woanders hin. Dieser Vorgang wiederholte sich in regelmäßigen Abständen. Wenn Aldo seine Finger nervös verkrampfte, spürte er die kalte und unangenehme Feuchtigkeit. Nissim rauchte eine Zigarette nach der anderen. Lediglich Stan Brandon, der Mann mit der Hauptverantwortung, blieb äußerlich ruhig und gelassen. Wenn er die Instrumente und Skalen überprüfte, wirkte er fast gleichgültig, was sich jedoch abrupt änderte, wenn er eine Justierung vornahm. Dann wurden seine Bewegungen schnell und entschlossen. Seine Handlungsweise machte die anderen beiden Männer wütend, obwohl niemand von ihnen das zugegeben hätte. »Der Druckanzeiger ist ausgefallen!« rief Nissim plötzlich und schnappte nach Luft. Er beugte sich vor, soweit die Sicherheitsgurte das zuließen. »Der Zeiger steht auf Null!« »So wurde das Ding eben konstruiert, Doc«, erklärte Stan und lächelte flüchtig. Er betätigte den Schalter unter der Skala. Der Zeiger sprang wieder vor. »Nur gewisse Arten von Druck werden mit diesem Instrument gemessen. Es besteht aus nichts anderem als Metall und Kristallen in der Außenhülle mit unterschiedlicher Widerstandskraft gegen Druck. Wenn wir umschalten…« »Ja, schon gut, das weiß ich auch.« Nissim beherrschte sich. Er sog an seiner Zigarette. Natürlich hatte man ihm während der Unterrichtsstunden alles über die Funktion der Instrumente erklärt, aber in diesem Augenblick kam es ihm so vor, als hätte er das alles vergessen. Wieder beobachtete er die Zeiger. Dann sah er weg und dachte einige Sekunden darüber nach, was außerhalb der dicken, naht- und fensterlosen Hülle war, die aus undurchdringlichem Metall bestand. Seine Hände waren noch feuchter geworden. Nissim Ben-Haim, leitender Physiker der Universität von Tel Aviv, hatte eine zu starke Phantasie. Aldo Gabrielli ebenfalls, und er wußte das auch. Sein sehnlichster Wunsch war, jetzt etwas tun zu können, statt tatenlos herumzusitzen. Dunkelhaarig, braunhäutig und mit einer Hakennase ausgestattet sah er wie ein typischer Italiener aus. Er war Amerikaner. Bereits vor elf Generationen waren seine Vorfahren in die Staaten ausgewandert. Er war Elektroneningenieur und in seinem Fach mindestens so begabt wie Nissim in dem seinen. Man bezeichnete ihn seit der Konstruktion des Scantron-Verstärkers, der die Technik der Materietransmission revolutionierte, als ein Genie. Und jetzt hatte er Angst. Die C. HUYGENS drang immer tiefer in die dichter werdende Atmosphäre
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des Planeten Saturn ein. So lautete zwar der offizielle Name des Schiffes, aber jene Männer, die sie gebaut hatten, nannten das Schiff einfach den »Ball«. Diese Bezeichnung traf den Nagel auf den Kopf. Zehn Meter dichte Metallwände umgaben die relativ kleine Kabine im Zentrum der riesigen Kugel. Die keilförmigen Sektionen waren im Asteroidengürtel gegossen und dann zur Station »Saturn-I« gebracht worden. In der Umlaufbahn, zwischen der grandiosen Schönheit der schimmernden Ringe, waren die Sektionen zusammengesetzt und molekular verschweißt worden. Zuvor jedoch war der Schirm des Materie-Transmitters in der Kabine installiert worden. Es gab also keine andere Möglichkeit, in das Innere des »Balles« zu gelangen, als durch den Materie-Transmitter. Der Schirm lag unter dem Boden der Kabine. Darüber befanden sich die Instrumente, die Lufterneuerungsanlage, die Lebensmittel und alles, was für eine derartige Expedition notwendig war. Die Kontrollen, mit denen sich das atomgetriebene Schiff manövrieren ließ, wurden am Schluß eingebaut. Das Schiff fiel nun mit den drei Männern der Oberfläche des Ringplaneten entgegen. Noch vor acht Jahren wäre die HUYGENS ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, denn damals gab es die druckfesten Legierungen noch nicht. Zweiundvierzig Jahre vorher wäre es ebenso unmöglich gewesen, da das Molekularschweißen noch nicht erfunden worden war. Und vor zehn Jahren hätte man mit der kompakten Metallhülle noch nichts anfangen können, weil man damals noch nicht wußte, wie der Unterschied der Atome bei den verschiedenen Elementen elektronisch genutzt werden konnte. Keine einzige Leitung unterbrach die Kompaktheit der Hülle. Dafür verbanden chemisch und physikalisch gleichwertige Metallstreifen die Kabine mit der Außenhaut der Hülle, und jeder dieser Streifen war fähig, elektrische Kontrollimpulse zu leiten. Der »Ball« war das ausgereifte Meisterwerk menschlichen Erfindergeistes und das Ergebnis seines ungebändigten Forschungstriebes. Er nahm drei wagemutige Männer mit sich zum Grund der dreißigtausend Kilometer dicken Atmosphäre, und er war nichts anderes als die sicherste Gefängniszelle der Welt. Sie waren gegen Claustrophobie geschult worden, aber nun spürten sie alle die schleichende Gefahr der Platzangst. »Hallo, Kontrolle, hören Sie mich?« sagte Stan in das Mikrophon und schaltete dann hastig auf Empfang. Das Tonband rollte in den MT-Schirm, und bereits nach wenigen Sekunden kam das Antwortband und glitt automatisch in das Wiedergabegerät. »Eins und drei.« »Das ist der Anfang des Sigma-Effektes«, stellte Aldo fest. Er sah auf den Druckmesser. »Einhundertfünfunddreißigtausend Atmosphären – da fängt es gewöhnlich an.« »Ich möchte mir das Band gern einmal ansehen«, meinte Nissim und drückte seine Zigarette aus. Gleichzeitig löste er seine Haltegurte. »Lassen Sie das!« warnte Stan und hob die Hand. »Bis jetzt hatten wir einen
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ruhigen Fall, aber das kann sich bald ändern. Sie wissen, welche Stürme hier
auftreten können. Ich nehme an, wir befinden uns jetzt in einem
gleichmäßigen Wind, der uns mitnimmt. Doch das bleibt nicht so.«
»Es dauert ja nur einen Augenblick«, sagte Nissim, blieb aber sitzen.
»In noch kürzerer Zeit können Sie sich das Genick brechen«, lehnte Stan
abermals ab, und in der gleichen Sekunde geriet das Schiff in eine
entgegengesetzte atmosphärische Strömung, wurde hin und her geschaukelt
und drehte sich unkontrolliert nach allen Seiten. Die beiden Wissenschaftler
hielten sich mit aller Macht fest, während der Pilot den Fall stabilisierte.
»Sie sind ein richtiger Unglücksprophet«, knurrte Aldo. »Können Sie auch
positive Ereignisse voraussagen?«
»Nur dienstags«, erwiderte Stan unerschütterlich. Er sah, daß einer der
Druckanzeiger wieder auf Null zurückfiel, und aktivierte einen anderen.
»Wir sinken wieder gleichmäßig.«
»Das dauert aber verdammt lange, bis wir unten sind«, beschwerte sich
Nissim und nahm eine neue Zigarette.
»Dreißigtausend Kilometer, Doc. Wir wollen ja auch nicht zu hart auf
treffen.«
»Ich kenne die Stärke der Saturnatmosphäre«, hieb Nissim ärgerlich zurück.
»Und hören Sie endlich damit auf, mich >Doc< zu nennen. Wenn Sie das
mit Gabrielli auch machen, kommen wir total durcheinander.«
»In Ordnung, Doc«, sagte Stan und zwinkerte mit den Augen, als Nissim
auffahren wollte. »War doch nur ein Witz. Wir sitzen alle im selben Boot,
warum sollten wir uns streiten? Sagen Sie Stan zu mir, und ich werde Sie
Nissim nennen. Was ist mit Ihnen, Doc? Sind Sie Aldo für uns?«
Aldo Gabrielli tat so, als habe er nichts gehört. Er hatte sich schon genug
über den Piloten geärgert.
»Was ist denn das?« fragte er, als eine kaum spürbare Vibration den »Ball«
hin und her schaukeln ließ.
»Schwer zu sagen«, meinte der Pilot und betätigte einige Kontrollen. Er
beobachtete die Schirme, auf denen die Impulse hüpften. »Da draußen ist
etwas. Wolken vielleicht. Wir fallen durch sie hindurch. Ich kann
unterschiedliche Aufschlagwiderstände messen.«
»Kristallisation«, sagte Nissim und studierte die Druckanzeiger. »Die
Temperatur dürfte draußen etwa hundertfünfzig Grad minus betragen. Aber
der geringe Gasdruck in den oberen Schichten der Atmosphäre verhindert
ein Gefrieren der Partikelchen. Jetzt ändert sich das, der Druck wird größer.
Wir fallen durch Wolken von Methan und Ammoniak, die kristallisierten.«
»Das Radar ist ausgefallen«, stellte Stan fest.
»Wir sollten eine Fernsehkamera einschalten können«, knurrte Nissim,
»dann sähen wir wenigstens, was da draußen los ist!«
»Was wollen Sie denn sehen?« Aldo zuckte die Schultern.
»Wasserstoffwolken mit gefrorenen Kristallen? Jede Kamera würde sofort
zerstört werden. Der Radio-Höhenmesser ist das einzige Instrument, auf das
wir uns jetzt verlassen können.«
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»Und er arbeitet einwandfrei«, gab Stan fröhlich bekannt, »die Werte sind noch zu hoch; aber bald können wir sie ablesen. Muß auch so sein, denn die Außenteile gehören zur Hülle.« Nissim nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche neben seinem Sessel. Aldo sah es und fühlte, wie sein Mund plötzlich trocken wurde. Er trank ebenfalls. Der endlose Fall ging weiter. »Habe ich lange geschlafen?« erkundigte sich Nissim erstaunt darüber, daß er trotz der Spannung eingeschlummert war. »Ein paar Stunden immerhin«, erwiderte Stan. »Und zwar tief und fest. Sie haben geschnarcht wie ein Wasserbüffel.« »Meine Frau sagt immer, ich schnarche wie ein Kamel.« Nissim sah auf seine Uhr. »Was ist eigentlich mit Ihnen? Sie haben seit mehr als siebzig Stunden nicht geschlafen. Wie halten Sie das aus?« »Gut, keine Sorge. Ich werde das später nachholen. Außerdem habe ich einige Pillen eingenommen. Es ist nicht das erste Mal, daß ich so lange wach bin.« Nissim ließ sich in den Sessel zurücksinken. Er bemerkte, daß Aldo sich Notizen machte und an einem Problem arbeitete. Kein Gefühl kann ewig anhalten, dachte er bei sich – nicht einmal die Furcht. Und wir beide hatten ganz schön Angst, als der Flug begann. Ewig kann das ja nicht dauern… Und doch spürte er die Furcht wieder, als er auf die Druckmesser sah. Doch nur für einen Augenblick. »Die Instrumente verraten Materie, die nicht mehr gasförmig ist«, sagte Stan. »Die Höhe ist veränderlich.« Unter seinen Augen lagen dicke Ringe, denn schon mehr als dreißig Stunden hielt er sich mit Drogen wach. Nissim warf einen Blick auf die Skalen. »Wahrscheinlich flüssiges Methan und Ammoniak. Oder halbflüssig – mal Gas, mal Flüssigkeit. Weiß der Himmel, bei dem Druck ist so ziemlich alles möglich. Etwas unter einer Million Atmosphären – unglaublich!« »Ich glaube es«, sagte Aldo trocken. »Können wir das Schiff so lenken, daß wir vielleicht eine feste Oberfläche finden?« »Das versuche ich schon seit ein paar Stunden. Entweder tauchen wir in die Brühe hinab, oder wir müssen steigen und an anderer Stelle einen neuen Versuch unternehmen.« »Haben wir dafür genug Treibstoff?« »Das schon, aber eine Reserve wäre für den Notfall besser. Wir haben noch dreißig Prozent.« »Ich stimme für die Brühe«, rief Nissim laut. »Wenn jetzt unter uns Flüssigkeit ist, dann bedeckt sie auch aller Wahrscheinlichkeit nach die gesamte Oberfläche. Bei dem hohen Druck und den ständigen Stürmen wurden alle geologischen Unregelmäßigkeiten abgeflacht.« »Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung«, ließ sich Aldo vernehmen, »aber das kann ja ruhig jemand nach uns überprüfen. Ich stimme ebenfalls für die Landung hier, aber nur deshalb, weil sonst der Treibstoff zu knapp wird.«
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»Drei gegen null«, sagte Stan und grinste. »Also tauchen wir weiter.« Es war noch kein Tauchen im eigentlichen Sinne, denn noch immer wechselten Flüssigkeit mit Gas. Die Instrumente zeigten jedoch an, daß sie sich schnell einer »soliden« Flüssigkeitsoberfläche näherten. Es gab keine spürbare Erschütterung, als sie sie berührten und einsanken. Sie fielen weiter, immer weiter. »Ich habe endlich ein paar Daten«, gab Stan bekannt, und diesmal klang seine Stimme zum erstenmal richtig aufgeregt. »Feste Oberfläche in fünfzehn Kilometer Tiefe. Vielleicht haben wir doch noch Glück und können landen.« Die beiden Wissenschaftler verhielten sich schweigsam, während sie immer tiefer in den unbekannten Ozean hineinsanken. Sie wollten den Piloten nicht in seiner Aufmerksamkeit ablenken. Dabei war das Eintauchen in den Ozean der bisher einfachste Teil der gefährlichen Reise. Je tiefer sie sanken, desto weniger Strömungen gab es. Sie bewegten sich genau senkrecht nach unten, als der Grund noch einen Kilometer unter ihnen lag. Stan verlangsamte den Abstieg. Noch fünfhundert Meter. Stan schaltete die Landeautomatik ein und überließ die restliche Arbeit dem Computer. Wenn es Schwierigkeiten geben sollte, konnte er sofort wieder auf manuelle Bedienung umschalten. Der Fall kam zum Stillstand, dann sanken sie noch ein wenig, und schließlich setzten sie mit einem sanften Ruck auf dem Grund des Saturnmeeres auf. Stan schaltete den Antrieb aus. »So, das hätten wir«, sagte er und reckte sich. »Wir sind auf dem Saturn gelandet, und darauf sollten wir einen trinken.« Er grunzte erstaunt, als er seine schweren Glieder spürte. Es fiel ihm schwer, aus dem Sessel zu kommen. »Zweikommasechsvier G«, erinnerte ihn Nissim und vergewisserte sich an den Instrumenten, daß seine Angaben stimmten. »Die Arbeit wird uns nicht gerade leichtfallen.« »Sie wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen«, blieb Aldo optimistisch. »Ich bin für den versprochenen Drink. Danach kann Stan schlafen, während wir uns um den Transmitter kümmern.« »Damit bin ich einverstanden«, seufzte Stan müde. »Mein Job ist getan. Von nun an sehe ich euch bloß noch zu und warte, bis ihr mich heil nach Hause bringt.« Mit einiger Schwierigkeit hoben sie ihre Gläser, stießen an und tranken sich zu. Die mehr als doppelte Schwerkraft war keine Überraschung. Aldo und Stan wechselten die Plätze, so daß der Ingenieur die Instrumente und den MTSchirm besser sehen konnte. Außerdem wurden die Halterungen der Sessel gelöst. Nun konnte auch Nissim seinen Liegesessel herumschwenken und kam notfalls ebenfalls an die Kontrollen heran. In der Zwischenzeit lag Stan bereits lang und war eingeschlafen.
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Für die beiden Männer spielte das nun keine Rolle mehr. Jetzt begann ihr Teil der Gesamtaufgabe, und sie wußten, was sie zu tun hatten. Aldo, der MT-Spezialist, begann mit den Vorbereitungen für die ersten Versuche, während Nissim jeden seiner Handgriffe aufmerksam verfolgte. »Alle Fernsonden, die wir zur Oberfläche des Saturn hinabschickten, entwickelten den Sigma-Effekt, als sie etwa ein Fünftel in die Atmosphäre eingedrungen waren.« Aldo betätigte einige Schalter der Testanlage. »Wenn der Effekt zu stark wurde, verloren wir die Kontrolle und konnten die Sonden nur noch bis zur Hälfte der Gesamtstrecke verfolgen. Dann brach der Kontakt ab.« Er überprüfte die hereinkommenden Meßdaten und ließ das elektronische Impulsbild auf dem Schirm stehen. Erleichtert ließ er dann die Hände sinken und lehnte sich zurück. »Das Wellenbild sieht gut aus«, bestätigte Nissim. »Zum Glück, ja. Alles andere auch. Was bedeutet, daß zumindest die Hälfte Ihrer Theorie richtig ist.« »Wunderbar!« sagte Nissium und lächelte zum erstenmal, seit sie das Unternehmen gestartet hatten. Er konnte sich vorstellen, wie er später einmal vor den anderen Wissenschaftlern stehen und ihnen seine Beweise vorlegen würde. Sie hatten ihn zu voreilig verurteilt, diese Narren. »Der Fehler liegt also nicht beim Transmitter?« »Ganz sicher nicht.« »Dann versuchen wir es doch, Aldo! Wir werden dann sehen, ob er funktioniert. Der Empfänger ist eingeschaltet und wartet.« Aldo nickte. »Hier C. HUYGENS. Wir rufen Saturn-I. Bitte kommen! Wie empfangen Sie mich?« Beide sahen sie zu, wie das besprochene Band auf den Schirm des Transmitters rollte und in ihm verschwand. Aldo vergewisserte sich, daß der MT auf Empfang geschaltet war. Nichts geschah. Sie warteten eine volle Minute, ehe sie die Sendung wiederholten. Das Resultat war genau dasselbe. »Das ist der endgültige Beweis!« stellte Nissim befriedigt fest. »Der Transmitter ist in Ordnung, der Empfänger auch. Das ist sicher. Aber nichts kommt durch. Der von mir vorausgesagte Faktor der Raumverzerrung ist wirksam geworden. Wenn wir das korrigiert haben, erhalten wir Kontakt.« »Hoffentlich bald«, sagte Aldo ein wenig deprimiert und sah hinauf zu der gewölbten Decke ihres Gefängnisses. »Bis uns die Korrektur nicht geglückt ist, sitzen wir hier fest, mitten in einem Riesenball aus Metall, auf der Oberfläche eines unbekannten Planeten, dazu noch auf dem Grund eines Ozeans aus flüssigem Methan und Ammoniak. Selbst wenn es einen Ausgang gäbe, würde er uns nichts nützen. Allein der Druck würde uns sofort töten.« »Immer mit der Ruhe«, bat ihn Nissim. »Nehmen Sie einen Drink, während
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ich mit der Korrekturberechnung anfange. Sobald ich sie fertig habe, ist der Rest ein Kinderspiel.« »Ja, natürlich«, sagte Aldo, schloß die Augen und lehnte sich zurück. Stan war noch immer erschöpft, als er endlich aufwachte. Der Schlaf unter den erschwerenden Verhältnissen der höheren Gravitation war alles andere als eine Erholung. Er wechselte die Stellung, aber selbst das Liegen war mehr anstrengend als erleichternd. Er drehte sich schließlich zu den anderen um und sah, daß Nissim mit dem Computer beschäftigt war, während Aldo ein blutbeflecktes Taschentuch an die Nase hielt. »Gravitationsbluten?« erkundigte sich der Pilot. »Wäre Adrenalin angebracht?« »Keine Gravitation«, erwiderte Aldo wütend. »Der Kerl da hat mir auf die Nase geschlagen!« Er deutete auf Nissim. »Ja, genau mitten auf seine Gurke!« bestätigte Nissim. Er sah nicht von seinen Berechnungen auf. »Das Ding ist ja auch groß genug. Man kann es kaum verfehlen.« »Darf man auch den Grund erfahren?« erkundigte sich Stan. »Arbeitet der MT vielleicht nicht?« »Nein, das tut er allerdings nicht«, klärte Aldo ihn auf. »Und dieser Wüstling gibt mir die Schuld daran. Außerdem…« »Die Theorie stimmt, aber mit der Schaltung und Technik ist etwas nicht in Ordnung.« »… außerdem habe ich ihm nur vorgehalten, daß er sich bei den komplizierten Gleichungen vielleicht verrechnet haben könnte. Und was macht er? Er haut mich in kindischer Wut genau auf die Nase!« Stan bewegte sich erstaunlich schnell, um weitere Handgreiflichkeiten zu vermeiden. Seine laute Stimme übertönte die der anderen: »Ruhe jetzt! Redet wenigstens nicht beide auf einmal, sonst verstehe ich überhaupt nichts. Vielleicht ist jemand so freundlich, der Reihe nach zu berichten, damit ich weiß, was eigentlich hier gespielt wird.« »Aber gern«, erbot sich Nissim und wartete, bis Aldos Proteste verstummten. »Wieviel wissen Sie über die Theorie der MaterieTransmission, Stan?« »Die Antwort ist einfach: nichts! Ich bin Strahlenjockei, also Pilot, und dabei bleibe ich. Irgend jemand denkt sie sich aus, ein anderer baut sie, und ich fliege die Schiffchen. Machen Sie es also unkompliziert, wenn Sie mir etwas erklären wollen.« »Ich will es versuchen.« Nissim dachte angestrengt nach. »Ein Materietransmitter arbeitet nicht wie – nun, sagen wir mal wie das Fernsehen. Es wird kein Signal gesendet und empfangen. Bei einem MT wird die Materie des Schirms in einen Zustand versetzt, der kein Bestandteil unseres eigenen Raum-Zeit-Kontinuums ist. Der Schirm des empfangenden Transmitters befindet sich im gleichen Zustand, und sobald beide Geräte auf derselben Frequenz arbeiten, sind sie funktionsfähig. Mit anderen Worten: Beide Schirme sind praktisch Teile desselben Gerätes, und die
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dazwischenliegende Entfernung hat nichts zu bedeuten. Wenn Sie in den einen hineingehen, kommen Sie sofort aus dem anderen heraus. Weder Zeit noch Raum spielen dabei eine Rolle, Sie würden den Unterschied nicht einmal bemerken.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein schlechter Erklärer, Stan.« »Im Gegenteil, Nissim. Ich verstehe sehr gut. Ja, und was passiert noch?« »Wie ich betonte, hat die Entfernung überhaupt nichts mit der Funktion des Transmitters zu tun, wohl aber die zwischen Sender und Empfänger herrschenden Raumbedingungen.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich werde es Ihnen an einem Beispiel erklären. Lichtstrahlen bewegen sich gradlinig durch den Raum fort, es sei denn, sie werden durch physikalische Gegebenheiten abgelenkt – Brechung, Reflektion und so weiter. Sie können aber auch von ihrer Richtung durch ein besonders starkes Gravitationsfeld abgelenkt werden, von der Sonne zum Beispiel. Den gleichen Effekt stellte man bei der Materie-Transmission fest, und bei Einrichtung der Geräte mußte man sogar die Oberflächenwölbung der Erde und anderer Himmelskörper berücksichtigen. Auch die Suppe, die der Saturn seine Atmosphäre nennt, übte einen bemerkenswerten Einfluß auf die MaterieTransmission aus. Der unglaubliche Druck allein verändert die Bindeenergie der Atome und verursacht Spannungen in den Molekülen. Eine Transmission kann unter diesen Umständen nicht reibungslos funktionieren. Bevor das der Fall ist, müssen entsprechende Berechnungen durchgeführt werden, die wiederum auf vorher angestellten Beobachtungen beruhen – falls es solche gibt. In unserem Fall gibt es einige, und ich bin eben dabei, sie in meine Berechnungen einzubauen.« »Hört sich so einfach an, wenn er es erklärt«, meckerte Aldo und überprüfte den Zustand seines Taschentuches. »Leider sieht das alles in der Praxis anders aus. Wir bekommen nicht einmal ein Signal durch den Transmitter. Nun hält es unser Freund für einen Fehler, wenn wir einfach die Sendeenergie vergrößern, damit die Impulse durch den Saturndreck dringen können. Man bedenke: Druck, Flüssigkeit und Atmosphäre!« »Es geht um Qualität, nicht um Quantität!« brüllte Nissim ihm zu. Stan versuchte, auf seine Art zu vermitteln: »Sie meinen also mit anderen Worten, wir müßten den Transmitter unter dem Boden freilegen, nicht wahr?« »Genau das meine ich«, behauptete Aldo überzeugt. »Er wurde ja auch entsprechend konstruiert. Auswechselbare Einzelteile, keine verschweißten Monsterstücke.« »Das wird einen Monat dauern, und bis dahin hat uns die erhöhte Schwerkraft alle umgebracht!« rief Nissim. »Das hoffe ich nicht«, sagte Stan und richtete sich auf. Es fiel ihm so schwer, daß er stöhnte. »Außerdem ist das ein gutes Training für unsere Muskeln.« Sie benötigten vier volle Tage, den Boden so von Geräten freizumachen, daß
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sie an den Transmitter herankamen. Noch bevor sie damit fertig waren, fühlten sie sich so erschöpft, daß sie fast aufgegeben hätten. Obwohl das Ganze so eingebaut worden war, daß jede Reparatur so leicht wie möglich durchgeführt werden konnte, stellte jede Handbewegung die größten physischen Anforderungen an jeden Mann. Aber dann hatten sie es endlich geschafft. Der Boden war frei. An dem Rand der Kabine standen nur noch die Schlafcouchen und die Kontrollstände. Eigentlich blieb nur noch der große MT-Schirm übrig. Sie ruhten auf den Liegesesseln und sahen auf den Schirm hinab. »Ein richtiges Ungeheuer«, stellte Stan mit Argwohn fest. »Da kann man ja ein Landeboot durchschicken!« »Es ist nicht nur die Größe«, erklärte Aldo und schnappte nach Luft. Er konnte das Hämmern seines Blutes in den Ohren hören und war sicher, daß er sich überanstrengt hatte. »Alle Stromkreise und Installationen wurden so verstärkt, daß der Transmitter das Hundertfache von dem leistet, was unter normalen Umständen notwendig wäre.« »Und wie wollen Sie in seine Eingeweide vordringen? Ich sehe nur den Schirm, sonst nichts.« »Das dürfte eigentlich nicht so schwierig sein.« Aldo deute auf eine runde Öffnung mit einem Gewinde, aus dem sie eine fußdicke Platte herausgeschraubt hatten. »Die Kontrollinstrumente sind dort drinnen. Es dürfte nicht kompliziert sein, unter den gegebenen Umständen an sie heranzukommen. Allerdings müssen wir den Schirm zu einem gewissen Teil zerlegen und abheben.« »Vielleicht ist es die ungewohnte Gravitation«, meinte Stan langsam, »oder ich bin schwer von Begriff.« Aldo blieb geduldig und ruhig. »Der Schirm ist der Hauptgrund für diese Expedition. Die Tatsache, daß der MT unter diesen erschwerten Umständen funktioniert, ist zwar für uns lebenswichtig, aber für das Unternehmen selbst nur zweitrangig. Wenn wir erst einmal hier heraus sind, werden die Techniker kommen und die vorhandenen Stromkreise neu anschließen, alle Teile durch versiegelte Einheiten ersetzen und wieder verschwinden. Durch besondere Maßnahmen wird man die Hülle des Schiffes schwächen, während der MT auf ein anderes entsprechendes Gerät senderichtig eingestellt wird, das sich hoch über der Ebene der Ekliptik befindet. Bei unweigerlich dann eintretenden Überdruckverhältnissen wird der >Ball< implodieren und in den sendebereiten Schirm stürzen. Die Trümmer werden in den Weltraum transmittiert, so daß der Schirm selbst unbeschädigt bleibt und weiterarbeitet. Die Funktionsspanne läßt sich durch weitere Versuche leicht bestimmen. Damit haben wir dann einen sicher funktionierenden Transmitter auf der Oberfläche des Saturn. Sie dürfen mir glauben, daß sich Druckspezialisten und Forscher schon jetzt auf diesen Augenblick freuen.« Stan nickte zustimmend. Nissim blieb stumm. Er sah nur hinauf zu der
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Decke der Kabine, als befürchte er, daß sie jeden Augenblick auf ihn herabstürzen konnte. Wahrscheinlich dachte er an den ungeheuren Druck, der darüber lastete. Aber dann sagte er doch: »Fangen wir an! öffnen wir den Schirm und nehmen wir die Änderungen vor. Es wird Zeit, daß wir hier wegkommen.« Sie halfen alle mit und bauten die einzelnen Segmente aus. Aber nur Aldo war in der Lage, die notwendigen Änderungen und Verbesserungen vorzunehmen. Er arbeitete intensiv, fluchte hin und wieder vor sich hin, baute Teile ein oder wechselte sie aus und hatte zum Glück keine Zeit, Nissims besorgten Gesichtsausdruck zu registrieren, mit dem dieser ihn bei jeder Gelegenheit betrachtete. Stan kümmerte sich um das Essen, verabreichte ihnen in regelmäßigen Zeitabständen die Drogen gegen die erhöhte Schwerkraft und sorgte mit entsprechenden Bemerkungen für gute Stimmung. Munter erzählte er von seinen Flügen durch das Sonnensystem, und wenn schon die beiden Männer kein Interesse dafür zeigten, so hatte doch wenigstens er Spaß daran. Endlich waren sie fertig, und der Schirm lag wieder vollständig unter ihnen. Aldo legte einen Hebel um und drückte dann auf einen Knopf. Der schwarze Schirm begann zu schimmern. Das Gerät war sendefertig. »Wir können«, sagte Aldo. »Schicken Sie dies hier«, bat Stan und gab ihm ein Stück Papier, auf das er geschrieben hatte: »Wie empfangen Sie uns?« Aldo warf den Zettel auf den Schirm. Er verschwand sofort. »So, und nun schalten Sie auf Empfang.« Aldo bediente abermals die Kontrollen, und die Farbe des Schirms wechselte. Sonst geschah nichts. Angespannt starrten die drei Männer auf die schimmernde Oberfläche des Schirms. Sie wagten kaum zu atmen. Und dann, urplötzlich, erschien auf dem Schirm ein Tonband, bog sich unter der Last der höheren Schwerkraft und begann sich dann aufzuspulen. Nissim war geistesgegenwärtig genug, sofort danach zu greifen und es wieder aufzurollen, bis er das Ende in der Hand hielt. »Das Ding funktioniert!« rief Stan erfreut und erleichtert. »Nur zum Teil«, erwiderte Nissim kühl und nüchtern. »Qualität der Transmission läßt zu wünschen übrig. Wir werden noch einige Korrekturen vornehmen müssen. Aber wir sind nicht mehr allein. Am anderen Ende warten Spezialisten, die uns mit Ratschlägen helfen können.« Er legte das Tonband in den Recorder und schaltete ihn ein. Aus dem Lautsprecher kam ein unverständliches Gequäke, das man nur mit einiger Phantasie als eine menschliche Stimme identifizieren konnte. »Wie gesagt – Korrekturen!« sagte Nissim mit einem feinen Lächeln, das aber augenblicklich verschwand, als ein harter Ruck durch die Kabine ging. Langsam richtete sich der »Ball« wieder auf. Dann war es ruhig. »Etwas ist gegen uns gestoßen!« »Vielleicht nur die Strömung«, vermutete Aldo. »Oder etwas Festes, das
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fließen kann. Wer soll das wissen? Jedenfalls wird es höchste Zeit, daß wir hier verschwinden.« Die Müdigkeit lastete auf ihnen. Aber sie versuchten, sie zu ignorieren. Das drohende und schreckliche Ende schien so nahe. Dabei war die Sicherheit der Station Saturn-I praktisch nur einen einzigen Schritt entfernt. Während Nissim die erneuten Korrektviren mit Hilfe des Computers errechnete, bauten die anderen beiden Männer den Schirm wieder auseinander. Unter den herrschenden Gravitationsverhältnissen war das die schwerste Arbeit, die man sich vorstellen konnte. Nach einem Tag hatten sie es so weit geschafft, daß die Tonbänder verständlich durchkamen. Auch andere Gegenstände wurden hin- und hergeschickt und kamen heil an. Der Sicherheitsgrad war ein Zahl, die noch fünf Stellen hinter dem Komma stimmte. Immer wieder kam es vor, daß der »Ball« durch heftige Stöße von außen erschüttert wurde, aber die drei Männer versuchten, die unbekannte Gefahr zu ignorieren. »Wir sind bereit, mit dem Live-Test zu beginnen«, sagte Nissim in das Mikrophon. Wenig später sah Aldo zu, wie das Tonband in dem Schirm verschwand. Am liebsten wäre er hinterhergesprungen, aber dann siegte seine Vernunft. Später, dachte er. Nur abwarten! Er schaltete auf Empfang. »Ich kann mich nicht erinnern«, fuhr Nissim fort, »jemals in meinem Leben so lange auf demselben Platz ausgehalten zu haben.« Er ließ den Schirm nicht aus den Augen. »Selbst als ich auf Island im College war, begab ich mich jeden Abend nach Hause. Ein Schritt, und ich war in Israel.« »Wir nehmen den Materie-Transmitter bereits zu selbstverständlich«, stellte Aldo fest. »Als wir auf Saturn-I arbeiteten, verschwand ich jeden Tag mindestens einmal nach New York. Wir nehmen den MT als gegeben hin, bis einmal so etwas passiert wie jetzt. Für Sie, Stan, ist das weniger aufregend.« »Sagen Sie das nicht«, antwortete der Pilot und hob die Augenbrauen. »Mir ergeht es wie Ihnen. Ich gehe nach Neuseeland, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.« Er sah zurück auf den Schirm. »Das meinte ich eigentlich nicht«, korrigierte Aldo. »Sie halten sich oft allein in einem Schiff auf, ohne sich einsam zu fühlen. Sie sind es eben gewohnt, wir nicht. Man sieht es doch jetzt. Sie scheint das alles nicht zu berühren.« Nissim nickte zustimmend, während Stan laut herauslachte. »Machen Sie sich doch nichts vor! Ich habe genauso Angst wie Sie, und ich schwitze auch genauso. Ich wurde nur anders ausgebildet, das ist alles. Nur eine Sekunde Panik in meinem Beruf bedeutet den sicheren Tod. In Ihrem hingegen bedeutet es unter Umständen nur, daß Sie ein paar Minuten später zum Essen oder Ihren Drinks kommen. Sie haben es niemals nötig gehabt, sich vollkommen zu beherrschen, und darum haben Sie es auch nie gelernt.« »Das stimmt nicht ganz«, protestierte Nissim energisch. »Wir sind zivilisierte Menschen, keine Tiere. Unsere Willenskraft…«
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»Haben Sie darum Aldo auf die Nase gehauen?« fragte Stan trocken. Nissim grinste verlegen. »Eins zu null für Sie. Zugegeben, manchmal geht mein Temperament mit mir durch, aber das gehört nun einmal zur menschlichen Psyche. Sie selbst haben eben, um es einmal vorsichtig auszudrücken, ein dickes Fell, eine Persönlichkeit, die nicht so leicht zu erschüttern ist.« »Wenn Sie mir die Haut ritzen, werde ich bluten – genau wie Sie. Es ist nur das Training, das mich daran hindert, die Beherrschung zu verlieren und auf den roten Knopf zu drücken. Raumschiffpiloten sind so, und zwar seit dem Jahre eins. Sie sind es nicht nur aus ihrer Veranlagung heraus, sondern das ständige Training machte sie so. Selbstbeherrschung wird zu einer automatischen Selbstverständlichkeit. Haben Sie mal die alten Tonbandaufnahmen gehört, die in der Sendung >Stimmen aus dem Raum< ausgestrahlt wurden?« Die beiden Wissenschaftler schüttelten den Kopf, nahmen ihren Blick jedoch nicht von dem immer noch leeren MT-Schirm. »Das hätten Sie aber tun sollen. Die Termine und Daten kann man natürlich nicht alle im Kopf behalten, denn schließlich ist das alles schon fünfzig Jahre her. Doch das Training und der Erfolg blieben immer gleich. Das beste Beispiel ist wohl zugleich auch das erste – die Stimme des ersten Mannes im Weltraum: Juri Gagarin. Es gibt mehrere Aufnahmen von ihm. Darunter auch die letzte. Er flog mit einem neuen Flugzeugtyp innerhalb der Atmosphäre und bekam Schwierigkeiten mit dem Motor. Er hätte mit dem Fallschirm abspringen und sich retten können, aber er befand sich gerade in diesem Augenblick über einem dicht bevölkerten Gebiet. Also flog er weiter und opferte sich selbst beim Absturz. Seine Stimme hörte sich bei dieser seiner letzten Sendung nicht anders an als sonst.« »Das ist unnatürlich«, kommentierte Nissim. »Er muß ein anderer Mensch gewesen sein als wir.« »Sie haben nicht verstanden, was ich damit sagen wollte«, lehnte Stan den Einwand ab. »Da – sehen Sie nur!« unterbrach Aldo die beginnende Diskussion. Auf dem MT-Schirm erschien ein Meerschweinchen, taumelte und fiel hin. Stan ergriff es und hielt es hoch. »Sieht ja großartig aus«, stellte er fest, ohne die Miene zu verziehen. »Gutes Fell, herrliche Schnurrbarthaare und warm. Aber es ist tot.« Er sah in die entsetzten Gesichter der beiden Wissenschaftler und lächelte. »Keine Sorgen, wir haben es ja nicht nötig, in diese Todesfalle da hineinzuspringen. Vielleicht überlegen Sie sich einige weitere Korrekturen. Sollen wir das tote Tier behalten, oder schicken wir es einer Analyse wegen zurück?« Nessim wandte sich ab und sagte: »Weg damit! Vielleicht bekommen wir wenigstens einen Bericht, der uns weiterhilft. Noch einmal den Schirm auseinandernehmen – dann reicht es mir aber!« Stan schickte das Meerschweinchen zurück. Kurz darauf traf die Diagnose des Labors ein. Sie besagte, daß ein totaler Zusammenbruch des
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Nervensystems des Versuchstieres die Ursache für seinen Tod sei. Bei den ersten Experimenten mit Transmittern hatte es das öfters gegeben, aber es gab eine Korrektur dafür. Sie wurde vorgenommen. Doch Aldo verlor während der Arbeiten einmal das Bewußtsein und mußte mit Drogen behandelt werden. Der Streß begann unerträglich zu werden. »Ich weiß nicht, ob wir es noch einmal schaffen«, flüsterte Aldo kaum hörbar, als sie endlich fertig waren. Er schaltete den MT nach der gesendeten Botschaft auf Empfang. Abermals erschien ein Meerschweinchen, bewegungslos zuerst, aber dann taumelte es auf die Beine, schnüffelte herum und suchte nach Futter oder einem Schlafplatz. »Auf Wiedersehn, Saturn!« rief Nissim aus. »Jetzt machen wir, daß wir hier wegkommen!« »Einverstanden«, stimmte Aldo ihm zu und schaltete den Transmitter auf Senden. »Warten wir erst einmal ab, was die Mediziner im Labor zu dem Tier zu bemerken haben!« rief Stan. Er wartete die Zustimmung der beiden Männer nicht ab, sondern setzte das Meerschweinchen auf den Schirm, in dem es spurlos verschwand. »Ganz richtig«, meinte Nissim widerwillig. »Ein letzter Test.« Diesmal dauerte es ziemlich lange, bis der Bericht eintraf. Er war nicht sehr erfreulich. Zur Vorsicht hörten sie ihn ein zweites Mal ab. Er lautete: »… der medizinische Report besagt einwandfrei, daß die Reflexe des Nervenzentrums unmerklich in ihrer Schnelligkeit reduziert wurden. Die Werte sind so gering, daß es weiterer Untersuchungen bedarf, ehe genauere Resultate erreicht werden können. Es ist uns unmöglich, Ihnen mehr mitzuteilen, da wir nicht mehr wissen. Alle weiteren Entscheidungen liegen allein bei Ihnen. Wir sind uns darin einig, daß eine gewisse geringfügige Veränderung an dem Versuchstier stattfand, aber wir vermögen nicht eindeutig zu bestimmen, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Dazu sind weitere Tests notwendig. Wir benötigen mindestens achtundvierzig Stunden, um weitere Einzelheiten mitteilen zu können…« »Achtundvierzig Stunden halte ich es hier nicht mehr aus«, sagte Nissim zu den anderen. »Mein Herz…« »Ich würde es schon aushalten«, unterbrach ihn Aldo und sah auf den Schirm hinab. »Aber welchen Sinn soll das haben? Noch einmal schaffen wir es nicht, den schweren Schirm auseinanderzunehmen. Damit wären wir am Ende. Es gibt nur einen einzigen Ausweg.« »Durch den Transmitter?« erkundigte sich Stan und schüttelte den Kopf. »Noch nicht! Wir müssen weitere Versuche abwarten, solange es uns möglich ist.« »Bis dahin sind wir tot«, sagte Nissim überzeugt. »Aldo hat ganz recht. Selbst wenn man uns die Korrekturdaten durchgäbe, wären wir nicht mehr in der Lage, das verdammte Ding noch einmal aus- und wieder einzubauen.
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Wir schaffen es nicht!« »Ich denke, das stimmt – leider.« Stan fühlte, daß er genauso fertig und erschöpft war wie die beiden anderen; aber er ließ es sich nicht anmerken. »Stimmen wir ab. Die einfache Mehrheit entscheidet – anders geht es ja wohl auch nicht.« Das Resultat waren zwei gegen eine Stimme. »Nun bleibt nur noch eine Frage offen«, stellte Stan fest und betrachtete die bleichen, ausgemergelten Gesichter der Wissenschaftler. Er wußte, daß er selbst nicht besser aussah. »Wer von uns geht zuerst?« Die Antwort war Schweigen. Dann hustete Nissim und sagte: »Eins ist doch klar. Aldo muß zurückbleiben, denn er ist der einzige von uns, der weitere Korrekturen ausführen kann, falls sie nötig sein sollten. Vielleicht ist er zu schwach dazu, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß er noch bleiben muß.« Stan nickte. »Ich stimme mit Ihnen überein. Aldo fällt als Versuchskaninchen aus. Sie aber auch, Dr. Ben-Haim! Soweit mir bekannt ist, sind Sie die größte Hoffnung der wissenschaftlichen Welt von heute. Man braucht Sie. Piloten hingegen gibt es mehr als genug. Folglich gehe ich zuerst!« Nissim öffnete seinen Mund, um zu protestieren; aber dann fiel ihm nichts Passendes ein. Er schwieg. »Also in Ordnung, ich gehe zuerst. Aber wann? Jetzt? Haben wir wirklich alles getan, was nur möglich ist? Sind Sie sicher, daß wir es nicht so lange in diesem Käfig aushalten, bis eine neuerliche Korrektur erfolgt ist?« »Ich nicht mehr«, bekannte Aldo. »Ich bin fertig!« »Ein paar Stunden, vielleicht einen Tag – aber was können wir noch tun?« Nissim schüttelte den Kopf. »Es ist unsere letzte Chance.« »Wir müssen sicher sein«, sagte Stan und sah von einem zum anderen. »Ich bin kein Wissenschaftler und verstehe nichts von der Technik eines Transmitters. Wenn Sie also behaupten, Sie hätten das Menschenmögliche getan, so muß ich Ihnen das abnehmen. Aber ich verstehe einiges von Training, Selbstbeherrschung und Müdigkeit. Wir halten es viel länger hier aus, als Sie jetzt vielleicht glauben.« »Nein!« unterbrach ihn Nissim entschlossen. »Lassen Sie mich ausreden! Man kann uns Werkzeug schicken, mit dem sich leichter arbeiten läßt. Wir können uns einige Tage ausruhen und dann Stärkungsmittel nehmen. Die am anderen Ende könnten uns fertige Ersatzteile senden, damit Aldo weniger zu tun hat. Es gibt eine Menge Möglichkeiten…« »Alle diese Dinge können auch Leichen nicht mehr helfen«, stellte Aldo fest. Er warf einen Blick auf seine aufgeschwollenen Adern, die unter der Haut pulsierten. Das Blut mußte mit verdoppelter Anstrengung durch sie hindurchgepreßt werden, um der höheren Schwerkraft gerecht zu werden. »Das menschliche Herz hält die Belastung einfach nicht aus. Wir sind am
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Ende, glauben Sie mir.« »Sie würden staunen über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Herzens und des gesamten Organismus!« »Ihr Herz hält das vielleicht aus«, sagte Nissim. »Sie wurden trainiert und sind in jeder Beziehung fit. Was sind wir? Wir haben Übergewicht und sind verweichlicht. Vor allen Dingen sind wir dem Tod näher als je zuvor in unserem Leben. Ich weiß genau, daß ich es nicht mehr länger aushalte. Und wenn Sie nicht endlich durch den Transmitter gehen, dann werde ich es tun.« – »Und was ist mit Ihnen, Aldo?« fragte Stan. »Nissim hat auch für mich gesprochen, Stan. Wenn ich vor die Entscheidung gestellt werde, werde ich den Schirm wählen. Er ist mir lieber als die Gewißheit des sicheren Todes hier in der Brühe des Saturn.« »Also gut.« Stan stand mühsam auf. »Dann bleibt ja wohl nicht mehr viel zu sagen. Ich sehe Sie dann in der Station wieder. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Sie hat mir viel Spaß gemacht. Wenigstens haben wir später unseren Kindern eine hübsche Geschichte zu erzählen…« Aldo schaltete den MT auf Sendebereitschaft. Stan kroch vor bis zum Rand des Schirms, dann ließ er sich einfach hineinfallen. Er war sofort verschwunden. Wenig später kam ein Tonband zurück. Aldos Hände zitterten, als er es in den Recorder spannte. »Hallo, HUYGENS, Major Brandon kam gut hier an – wenigstens ziemlich gut. Na, Sie kennen das ja. Er wird gerade untersucht, die Ärzte sprechen mit ihm. Warten Sie noch…« Das Band war noch nicht zu Ende. Sie warteten. Sie hörten Stimmengemurmel, als hielte jemand die Hand vor das Mikrophon. Dann sprach eine andere Stimme zu ihnen: »Hier ist Dr. Kreer. Es ist etwas schwierig zu erklären… Wir haben Ihren Piloten untersucht. Er kann nicht sprechen. Auch scheint er niemanden zu erkennen, obwohl wir keine äußerlichen Verletzungen feststellen können. Es sind auch keine Anzeichen eines Traumas vorhanden. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber es sieht nicht gut für ihn aus. Wenn wir alles mit den langsameren Reflexen des Meerschweinchens vergleichen, so könnte man zu dem Schluß gelangen, daß der Einfluß auf ein intelligentes Gehirn ungleich größer und damit negativer ist. Der Major reagiert sofort, wenn er zur Ruhestellung aufgefordert wird, aber was Intelligenz anbetrifft… nun, Fehlanzeige. An Sie ergeht hiermit die Anordnung, auf keinen Fall den Transmitter zu benutzen, ehe nicht weitere Versuche stattgefunden haben. Ich kann Ihnen nicht verheimlichen, daß durchaus die Möglichkeit besteht, daß Sie längere Zeit dort zubringen müssen.« Das Band lief aus. Das Gerät schaltete sich automatisch ab. Die beiden Männer sahen sich an, schweigsam und forschend. Endlich sagte Nissim: »Er ist tot – schlimmer als tot. Ein schrecklicher Unfall. Und er war so ruhig und gelassen, so zuversichtlich…«
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»Das war dieser Gagarin auch, als er sein Flugzeug in den Tod steuerte, um
andere zu retten. Was hätte also Stan anders tun können? Wir waren es, die
ihn in den Tod trieben, denn wir hatten Angst und waren verzweifelt. Er hat
sich für uns geopfert.«
»Sie können uns nicht dafür verantwortlich machen, Aldo.«
»Doch, das kann ich! Wir stimmten zu, daß er als erster ging. Und wir
versicherten ihm, daß unsere letzte Korrektur ausreichen würde, ihn gesund
ankommen zu lassen.«
»Das stimmt allerdings«, gab Nissim zu. Zum erstenmal sah er Aldo direkt
ins Gesicht. »Wir müssen jetzt weiterarbeiten, nicht wahr? Auf keinen Fall
werden wir den Transmitter benutzen, solange er nicht einwandfrei
funktioniert. Wir schaffen es, ganz bestimmt schaffen wir es, daß wir eines
Tages heil durchgelangen.« Aldo gab den fragenden Blick fest zurück.
»Ich schätze, daß wir Erfolg haben werden. Aber überlegen Sie einmal,
Nissim! Als wir abstimmten, hatten wir da wirklich vor – jeder von uns – ,
als erster durch den Schirm zu gehen?«
»Das ist schwer zu beantworten.«
»Eben! Aber wir müssen mit der Antwort leben, Nissim! Wir können ruhig
vor uns zugeben, daß wir beide Stan Brandon töteten.«
»Aber doch nicht absichtlich!«
»Natürlich nicht, aber unser Verhalten war noch schlimmer. Wir haben ihn
umgebracht, weil wir mit der Situation nicht fertig wurden. Er hatte recht,
und wir hätten mehr auf ihn hören sollen.«
»Hinterher weiß man immer alles besser. Uns fehlte mehr Voraussicht, das
ist alles.« Aldo schüttelte den Kopf.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß er umsonst gestorben ist.«
»Er starb nicht umsonst, und er hat es auch gewußt. Er wollte dafür sorgen,
daß wir gesund hier wegkommen. Er hat es immer versucht, aber wir
wollten nicht auf seine Worte hören. Worte konnten uns nicht überzeugen,
wohl aber sein Tod. Ohne ihn hätten wir resigniert, hätten uns vielleicht in
die Betten gelegt und gewartet, bis wir gestorben wären. Auf keinen Fall
wäre einer von uns zuerst durch den Schirm gegangen.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Aldo und kam mühsam auf die Füße. »Wir werden
das Ding so justieren, daß es reibungslos funktioniert. Wir werden es so
lange versuchen, bis wir es wissen, und dann werden wir beiden den Saturn
verlassen – heil und gesund. Das sind wir Stan schuldig. Wenn sein Tod
einen Sinn haben soll, dann liegt es an uns, ihn zu erfüllen.«
»Wir schaffen es«, stimmte Nissim zu und preßte die Lippen zusammen.
»Jetzt schaffen wir es!« Sie begannen mit der Arbeit.
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Der Attentäter Wunderbar! Die Sicht war ganz ausgezeichnet.
Als er die Waffe eingeschossen hatte, benutzte er ein optisches Zielfernrohr.
Jetzt verfügte er über ein elektronisches Sichtgerät, und trotz der
regnerischen Nacht konnte er das große Portal des Hauses auf der anderen
Straßenseite klar und deutlich erkennen. Seine Ellenbogen ruhten bequem
auf den Packkörben, die vor dem Sehschlitz standen, den er in die
Außenmauer des Gebäudes geschnitten hatte.
»Fünf Männer sind es, die jetzt auf die Straße gehen«, flüsterte die Stimme
aus dem winzigen Empfänger, den er im Ohr trug. »Der größte von ihnen ist
es!«
Er kam als erster durch das Portal, hochgewachsen und breitschultrig. Er
unterhielt sich mit den nachfolgenden Männern und lachte dazu.
Jagen sah seine weißen Zähne im Fadenkreuz des elektronischen
Zielfernrohrs und vergrößerte, bis die Zähne, die Zunge und der Mund das
gesamt Rundbild ausfüllten. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug,
während ein breites, grausames Lächeln sein Gesicht überzog.
Er drückte ab, und der Kolben der Waffe sprang gegen seine Schulter.
Es waren noch fünf Schuß im Magazin.
Jagen verkleinerte wieder, damit er die ganze Gruppe besser übersehen
konnte.
Sein Opfer stürzte zu Boden.
Feuer!
Ein Ruck ging durch den Gestürzten…
Feuer!
Ein weiteres Geschoß durchdrang die Schädeldecke, das nächste ging in die
Brust. Das letzte füllte einen anderen Mann, der dazwischensprang.
»Magazin leergeschossen«, sagte er in das knöpf große Mikrophon vor
seinen Lippen. »Fünf Schuß ins Ziel.«
»Verschwinden Sie jetzt!« lautete die Antwort.
Und ob ich verschwinde, dachte Jagen. Das brauchen Sie mir nicht extra zu
sagen. Die Polizei des Großen Despoten ist verdammt tüchtig.
Das einzige Licht in dem Raum war das matte, orangefarbene Glühen des
sendebereiten Transmitters. Den Erkennungskode des Zielempfängers hatte
Jagen höchstpersönlich gestanzt. Mit drei Schritten durchquerte er den
finsteren, verstaubten Raum. Er tauchte, ohne zu zögern, in den wartenden
MT-Schirm.
Und verschwand.
Grelles Licht traf seine Augen, und er blinzelte. Die Lampe war über ihm in
der Decke. Die Wände bestanden aus nacktem Fels, und die eiserne Tür
wirkte alt und war voller Rost. Er befand sich unter der Oberfläche eines
ihm unbekannten Planeten, vielleicht auf der anderen Seite der Milchstraße.
Es spielte keine Rolle. Ein Schritt durch den Materietransmitter konnte ihn
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überall hinbringen. Er wich hastig zur Seite aus, als Rauch und einige Trümmerstücke aus dem Schirm drangen. Der andere Transmitter hatte sich nach Plan zerstört. Zweifellos würde es der Polizei möglich sein, die letzte Einstellung des Gerätes zu rekonstruieren; aber das konnte lange dauern. Lange genug jedenfalls, um Jagen Zeit zu lassen, seine Spur endgültig zu verwischen. Außer dem Transmitter gab es in dem Raum nur noch ein großes Keramikgefäß mit einem festschließenden Deckel. Obwohl Jagen seine Instruktionen kannte, warf er einen Blick auf den Zettel. Für diese Station seiner Flucht war vorgesehen: Waffe vernichten! Vorsichtig hob er den Deckel von dem Gefäß und wich hustend zurück, als er die scharfen Dämpfe einatmete. Außer dem Material des Kruges würde die brodelnde, teuflische Säure jeden Gegenstand auflösen, der mit ihr in Berührung kam. Mit geübten Händen schraubte er den Kolben der Waffe heraus und ließ ihn vorsichtig in die Flüssigkeit gleiten. Sofort brodelte sie stärker, und die Dämpfe wurden dichter. Dann zog er eine nur handlange elektrische Säge mit einem Diamantblatt aus der Tasche und schaltete sie ein. Schon vor Tagen hatte er die Stelle am Lauf der Waffe gekennzeichnet, um keine wertvolle Zeit zu verlieren. Es dauerte auch nur wenige Sekunden, dann polterte der abgesägte Lauf zu Boden. Jagen warf ihn ebenfalls in die Säure. Dann folgte das Magazin. Ein neues trat an seine Stelle. Es war frisch gefüllt. Jagen ließ die erste Patrone in die Kammer schnellen und vergewisserte sich, daß der Sicherungshebel richtig stand. Dann erst schob er die stark verkleinerte Waffe in den Ärmel seines Rocks, bis er sie mit der Hand am abgesägten Laufende halten konnte. Stark verkürzt und ohne Zieleinrichtung war das, was er nun versteckt bei sich trug, immer noch eine tödliche Waffe. Wenigstens auf kurze Entfernung. Nach diesen Vorsichtsmaßnahmen warf er einen Blick auf seinen Instruktionszettel. Die Nummer war mit dem neuen Ziel identisch. Daneben stand einfach: Wechseln! Wenig später trat er in den Transmitterschirm und verschwand abermals. Lärm, Licht und Gerüche. Ganz in der Nähe war ein Ozean – irgendein Ozean – , und Jagen hörte die Brecher gegen die Klippen schlagen. Es roch nach Salz. Jagen bemerkte, daß ringsum weitere Transmitter standen. Er war auf einer Transport-VerteilerStation herausgekommen. Aus seinem Transmitter trat ein Fremder. Er murmelte etwas in einer unbekannten Sprache und ging weiter, ohne sich um Jagen zu kümmern, der ihm langsam und unentschlossen folgte. Er widerstand der Versuchung, einfach den nächstbesten Transmitter zu benutzen. Er hatte Zeit, und er wollte es mehr dem Zufall überlassen. Ein Mädchen ging an ihm vorbei. Sie trug einen extrem kurzen Rock und hatte erstaunliche O-Beine. Er folgte ihr bis zu einem der Transmitter, und
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als sie darin verschwunden war, wählte er einen anderen. Er war davon überzeugt, daß man ihn kaum noch aufspüren würde und begann sich bereits sicher zu fühlen. Als erstes sah er den grünen Stern, das Zeichen des Großen Despoten, am Giebel des Gebäudes, in dem das Hauptquartier der Polizei untergebracht war. Aber dann lächelte er beruhigt vor sich hin. Warum nicht? Vielleicht war er gerade hier am sichersten. Das Gebäude war öffentlich und diente mancherlei Zwecken. Hier würde er kaum Verdacht erregen. Tief in seinem Innern war trotzdem Unruhe und ein wenig Furcht, aber das gehörte mit zum Spiel, das er spielte. Er ging die Stufen empor, vorbei an den Wachposten, die ihn kaum beachteten. Er gelangte in einen runden Empfangssaal mit Tischen und Pulten. Auf der einen Seite stand eine Reihe von Transmittern. Ganz ruhig ging er darauf zu, wählte die in den Instruktionen angegebene Nummer, aktivierte den Schirm und trat hinein. Die Luft war dünn und kalt, fast nicht mehr atembar. Tränen schossen ihm in die Augen. Schon wollte er sich umdrehen und in den Transmitter zurückflüchten, als er einen Mann auf sich zukommen sah. Der Fremde trug eine Atemmaske und hielt Jagen eine zweite entgegen. »Warten Sie noch!« sagte er in Intergalakt. Jagen streifte die Maske über und atmete die warme, gute Luft ein. Er dachte nicht mehr an Flucht, und er wußte, daß der Fremde ihn hier erwartete. Er sah sich um und stellte fest, daß er im Kommandoraum eines Raumschiffwracks stand, das älteren Datums sein mußte. Die Kontrollen waren ausgebaut worden. Keiner der Bildschirme arbeitete noch. An den Metallwänden glitzerte die Feuchtigkeit; auf dem Boden bildeten sich vereinzelte Pfützen. Der Fremde bemerkte seine neugierigen Blicke. »Das Wrack befindet sich in einer Umlaufbahn, schon seit einigen Jahrhunderten. Solange der Transmitter arbeitet, wurde für Atemluft gesorgt. Ein künstliches Schwerkraftfeld wurde errichtet. Sobald wir das Schiff verlassen, wird es durch eine vorbereitete Explosion vernichtet. Wenn man Ihnen also bis hierher folgen sollte, endet die Spur.« »Was ist mit dem Rest meiner Instruktionen?« »Sie wurden überflüssig. Wir konnten nicht wissen, ob das Schiff rechtzeitig einsatzbereit sein würde.« Jagen ließ die Instruktionen und den Rest seiner Ausrüstung einfach auf den Boden fallen – Beweisstücke, die mit dem Wrack vernichtet werden würden. Die Waffe behielt er. Der Fremde wählte eine Nummer auf dem Transmitter. »Gehen Sie voraus!« forderte er Jagen auf. Der schüttelte den Kopf. »Ich folge Ihnen«, sagte er. Der Fremde nickte, warf die Atemmaske fort und ging in den Schirm. Jagen zögerte nun nicht mehr. Sie waren in einem ganz normalen Hotelzimmer, wie man es auf Tausenden
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von Planeten finden konnte. Zwei Männer, ganz in Schwarz gekleidet, saßen in Sesseln und blickten ihm entgegen. Der Fremde, der ihn gebracht hatte, wählte eine andere Nummer und verschwand wieder im Transmitter. Die beiden Männer trugen dunkle Brillen. »Die Arbeit ist getan?« fragte einer von ihnen. Es fiel Jagen auf, daß sie außer den schwarzen Handschuhen und Kapuzen auch noch schalldämpfende Mundmasken trugen. Ihre Stimmen wurden dadurch ausdruckslos und unidentifizierbar. »Was ist mit der Bezahlung?« erkundigte sich Jagen und stellte sich so, daß sein Rücken zur Wand zeigte. »Sie werden schon bezahlt, keine Sorge. Aber berichten Sie zuerst, was geschah. Wir haben genug Geld in die ganze Angelegenheit investiert.« Diesmal hatte der zweite Mann gesprochen. Die Bewegungen seiner Finger verrieten Nervosität. »Die Bezahlung zuerst«, erwiderte Jagen und versuchte, seiner Stimme einen gleichmütigen Tonfall zu geben. »Hier ist sie, Jäger«, sagte der eine Mann. »Und jetzt erzähle endlich!« Er nahm eine Schachtel vom Tisch und warf sie Jagen zu. Sie landete vor seinen Füßen und platzte auf. »Ich habe alle sechs Schüsse auf das befohlene Ziel abgefeuert.« Er betrachtete die goldenfarbenen Banknoten, die aus der Schachtel quollen. Genausoviel, wie sie versprochen hatten. »Vier Schuß in den Kopf, einen ins Herz, und der letzte traf einen Mann, der dazwischensprang. Es war alles so, wie Sie voraussagten. Der Schutzschirm half nichts gegen die Plastikgeschosse mit Eigenantrieb.« »Wir haben Ihnen zu danken«, sagte der zweite Mann ohne Gefühlsregung, aber das war weiter kein Wunder, denn seine Stimme war nicht die eigene. Seine Finger jedoch, die auf der Sessellehne herumhämmerten, verrieten abermals seine Nervosität. Jagen bückte sich, um das Geld aufzuheben. Er tat so, als sähe er nichts anderes. Der erste Mann in Schwarz zog eine Energiepistole aus der Rocktasche und feuerte auf Jagen. Jagen, der als berufsmäßiger Jäger stets das Gefühl haben mußte, selbst der Gejagte zu sein, rollte seitwärts an die Wand und hielt seine verborgene Waffe, die noch immer im Rockärmel steckte, am Lauf fest. Mit der anderen Hand fand er durch den Stoff den Abzug und drückte darauf. Die Entfernung war viel zu gering, um das Ziel zu verfehlen. Das Geschoß traf den Mann in der Mitte des Körpers und schleuderte ihn aus dem Sessel. Die Pistole entfiel seinen erschlaffenden Fingern. Er war zweifellos sofort tot. »Projektile aus Speziallegierung«, sagte Jagen ruhig. »Ich habe mir ein Magazin besorgt und aufgehoben. Viel besser als diese Plastikgeschosse, glauben Sie mir. Und wie klug von mir, die Waffe nicht vollständig zu
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vernichten, nicht wahr? Man kann noch gut damit schießen. Allerdings hatten Sie recht. Alle Beweise sollten vernichtet werden, aber das geschieht erst nach dieser bemerkenswerten Konferenz. Ich wundere mich, daß Sie die Waffe nicht früher entdeckten. Sie glaubten wohl, ich käme unbewaffnet? Nun, Ihr Freund hat eine bittere Erfahrung machen müssen – sie hilft ihm nun nicht mehr. Und was ist mit Ihnen?« »Töten Sie mich nicht«, flehte der zweite Mann. Seine Stimme blieb noch immer ausdruckslos, aber seine erhobenen Hände sprachen eine deutliche Sprache. »Es war seine Idee, Sie umzubringen. Ich habe nichts damit zu tun. Er befürchtete, daß man unsere Spur verfolgen konnte, wenn man Sie später erwischte.« Er warf einen hastigen Blick auf die Leiche und die größer werdende Blutlache. »Ich bin unbewaffnet und habe nichts gegen Sie. Töten Sie mich nicht, bitte. Ich gebe Ihnen auch Geld, alles, was ich bei mir habe – und mehr.« Jagen richtete die Waffe auf ihn. »Wieviel haben Sie bei sich?« »Nicht viel, ein paar tausend vielleicht. Aber ich kann Ihnen mehr besorgen.« »Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit, darauf zu warten. Nehmen Sie, was Sie in den Taschen haben, vorsichtig und langsam heraus. Werfen Sie es dort auf den Boden.« Es handelte sich um eine ansehnliche Summe, was darauf schließen ließ, daß es sich um einen reichen Mann handelte. Sonst könnte er nicht so viel Geld mit sich herumschleppen, dachte Jagen. Er richtete seine Waffe auf ihn, um ihn zu töten, aber dann besann er sich anders. Was hätte er auch schon davon? Im Augenblick war er das Töten leid. Er ging also nur auf den Mann zu und riß ihm die Maske vom Gesicht. Zum Vorschein kam ein fettes, altes und aufgeschwemmtes Antlitz mit vor Angst verweinten und weit aufgerissenen Augen. Jagen stieß den Mann von sich und versetzte ihm voller Abscheu einen Tritt mit dem Fuß. Dann drehte er sich um und ging zum Transmitter. Vorsichtig, damit der andere nicht die geringste Chance erhielt, die gewählte Nummer zu erkennen, drückte er die entsprechenden Knöpfe ein. Er sah sich noch einmal um. Sein überlebender Auftraggeber lag am Boden und schien froh darüber, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Jagen zögerte nicht länger. Er ging in den Transmitter. Viele Lichtjahre entfernt kam fast zur gleichen Zeit im Büro des obersten Chefs der Polizei ein Roboter aus dem Transmitter. Die Unterredung fand auf dem Planeten statt, der Schauplatz des Attentats gewesen war. »Du bist der Verfolger?« vergewisserte sich der Offizier. »Ja, das bin ich«, entgegnete die Maschine. Sie sah gut aus, fast wie ein Mensch geformt und mehr als zwei Meter groß. Sie hätte natürlich jede beliebige Form haben können, aber da sie sich meistens unter Menschen bewegte, schien diese die günstigste zu sein. Die äußere Erscheinung war jedoch der einzige Kompromiß, der gemacht
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worden war. Einen Körper, vier Gliedmaßen und einen Kopf hatte der Roboter – der Rest war Positronik und streng logisch funktionierende Maschinerie. Das Material, aus dem das technische Wunderwerk bestand, war ein erst kürzlich entdecktes Metall, das in der Speziallegierung golden schimmerte. Dem eiförmigen Kopf fehlte jeder Gesichtsausdruck, denn er hatte kein Gesicht. Lediglich ein T-förmiger Schlitz verriet dahinter verborgene optische und akustische Anlagen. Die Sprache des Roboters klang nicht künstlich, sondern war wohlklingend wie die eines Mannes. »Du bist der einzige deiner Art, soviel ich weiß«, fuhr der Polizeichef fort. Er war im Dienst ergraut und schon alt; aber er hatte niemals seine Wißbegierde verloren. »Ihre eigenen Sicherheitsmaßnahmen erlauben mir in diesem Fall die Erklärung, daß weitere Verfolger in die Produktion gehen werden. Doch eine genaue Zahl kann ich Ihnen nicht verraten.« »Ausgezeichnet. Definieren Sie Ihre Aufgabe.« Der Polizeichef wurde automatisch höflicher zu der Maschine. »Es ist meine Aufgabe, jemanden zu verfolgen und zu finden. Meine positronischen Detektoren sind die leistungsfähigsten, die jemals konstruiert wurden. Das ist einer der Gründe, warum ich relativ groß gebaut wurde. Mein Erinnerung s Speicher ist aufnahmefähiger als jeder andere in diesem Umfang. Ich bin in der Lage, jederzeit neue Informationen hinzuzufügen. Ich werde den Mörder finden.« »Das wird vielleicht nicht ganz so einfach sein, denn der Mann zerstörte den Transmitter, nachdem er verschwunden war.« »Es ist mir möglich, die letzte Einstellung des Gerätes aus den vorhandenen Trümmern zu rekonstruieren.« »Er wird seine Spur verwischt haben.« »Keine Spur kann restlos getilgt werden. Ich bin der Verfolger.« »Es war ein gemeiner Mord. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Glück – falls man einer Maschine Glück wünschen kann.« »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit. Zwar verfüge ich selbst nicht über menschliche Empfindungen, aber ich begreife und verstehe sie. Ihre Gefühle mir gegenüber wurden bereits registriert und gespeichert, obwohl Sie das mit Ihrer Bemerkung sicherlich nicht bezweckten. Darf ich jetzt sämtliche Unterlagen über das Attentat sehen? Danach begebe ich mich zu dem Ort, an dem das Verbrechen geschah…« Zwanzig Jahre Leben in Reichtum und Wohlstand hatten Jagen kaum verändert. Die kleinen Fältchen unter den Augen und die grauen Schläfen hoben seine scharfen Züge eher hervor, als daß sie sie verbargen. Er hatte es nicht mehr nötig gehabt, seinen Lebensunterhalt durch die Menschenjagd zu verdienen. Wenn er noch jagte, dann zu seinem eigenen Vergnügen. Und das tat er oft genug. Viele Jahre war er auf der Flucht gewesen, hatte ständig Namen und Identität gewechselt und so versucht, seine Spur mehrfach zu verwischen. Dann hatte er, mehr durch Zufall, diesen rückständigen, primitiven Planeten
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entdeckt und beschlossen, zu bleiben. Der Dschungel war unberührt und wild, und auf keiner anderen Welt hätte das Jagen einen solchen Reiz wie hier ausüben können. Das durch seinen letzten Mord verdiente Geld hatte er gut angelegt, so daß er sich finanziell keine Sorgen zu machen brauchte. Allein die Zinsen erlaubten ihm, ganz seinen Wünschen zu leben und einigen kostspieligen Lastern zu frönen. Mehr als eine Woche lang hatte er sich im Urwald aufgehalten, und nun war er zurückgekehrt. Gebadet, erfrischt und ausgeruht überlegte er, was er tun sollte. Er kannte eine Vergnügungswelt, zwar sündhaft teuer, aber einmalig in ihrer Art. Dort bekam man alles für sein Geld, was man sich nur ausdenken konnte. Er trug einen goldbestickten Anzug. Er saß in einem bequemen Sessel, die Beine auf den Tisch gelegt, und hielt einen Drink in der Hand. Durch die transparente Wand seines Wohnraumes hindurch sah er zu, wie die Sonne hinter dem Dschungel unterging. Er hatte nie viel für Malerei oder Kunst übrig gehabt, aber nur ein Blinder hätte das farbenprächtige Schauspiel ignoriert, das sich seinen Augen darbot. Wahrhaftig, das Universum war wunderbar! Ein Summton machte ihn darauf aufmerksam, daß jemand die Nummer seines Transmitters gewählt hatte und zu ihm unterwegs war. Er drehte sich um und sah den Verfolger in den Raum treten. »Endlich habe ich den Mörder gefunden«, sagte der Roboter. Das Glas entglitt Jagens Fingern und rollte über den Holzboden, eine feuchte Spur hinter sich herziehend. Er war niemals unbewaffnet, aber sein Instinkt warnte ihn. Mit der kleinen Energiepistole, die er in der Jackentasche trug, konnte er dieser Maschine mit Sicherheit nichts anhaben. Er würde also vorsichtig sein müssen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte er und stand auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich die Polizei verständigen.« Er ging langsam auf das Visiphon zu, aber dann änderte er die Richtung und verschwand mit einem Satz im Nebenraum. Der Roboter setzte zur Verfolgung an, blieb aber abrupt stehen, als Jagen wieder in der Tür erschien. In seinen Händen hielt er ein Gewehr mit überschwerem Kaliber. Es verfeuerte Sprenggeschosse, die zur Jagd auf Saurier dienten. Jagen leerte das Magazin, das zehn Patronen enthielt. Der Lauf der Waffe war dabei auf den Roboter gerichtet, der ganz ruhig stehenblieb und abwartete. Die Geschosse detonierten und gaben die Splitter mit unheimlicher Vehemenz frei. Die halbe Einrichtung des luxuriösen Wohnraums ging dabei in Trümmer. Jagen selbst wurde im Nacken und am Bein verwundet, aber er schien das nicht zu bemerken. Er starrte nur auf den Roboter, dessen schimmernde Hülle nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte. »Setzen Sie sich«, befahl der Verfolger. »Ihr Herz arbeitet zu schnell. Das ist schädlich für Sie.« »Schädlich?« Jagen lachte bitter, dann gruben sich seine Zähne verzweifelt
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in die Unterlippe. Die Waffe fiel aus den verkrampften Fingern und polterte auf den Boden. Er wankte zu einem unbeschädigten Sessel und ließ sich hineinsinken. »Soll ich mir um meine Gesundheit Sorgen machen, wenn Sie hier sind, mein Henker?« »Ich bin der Verfolger, nicht der Henker.« »Dann werden Sie mich eben dem Henker übergeben. Was ist da für ein Unterschied? Aber verraten Sie mir, wie Sie mich nach zwanzig Jahren gefunden haben. Oder ist das ein Geheimnis?« »Die Einzelheiten sind geheim. Nur soviel – ich ging sämtlichen Hinweisen nach, rekonstruierte sämtliche Fluchtetappen durch die Transmitter, speicherte jede Kleinigkeit in meiner Erinnerungsbank und benutzte die positronisch-logistische Kombinationsauswertung. Ich bin eine Maschine, vergessen Sie das nicht! Ich kenne daher auch keine Ungeduld. Am Ende der Suche mußte ich Sie finden.« Solange Jagen noch lebte, gab er nicht auf. Vielleicht ergab sich noch eine Möglichkeit zur Flucht. Die Maschine konnte er nicht unschädlich machen, aber er konnte ihr entkommen. Er mußte Zeit gewinnen, mußte mit ihr reden. »Was werden Sie mit mir tun?« »Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen.« Innerlich mußte Jagen lachen, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er wußte nur zu genau, daß der Große Despot keinen Mörder zwanzig Jahre lang verfolgen ließ, nur damit dieser dann einem Roboter ein paar Fragen beantwortete. »Na gut, dann fragen Sie«, sagte er endlich. »Kennen Sie den Mann, den Sie erschossen haben?« »Ich habe noch nicht zugegeben, daß ich jemanden erschossen habe.« – »Sie gaben es zu, als Sie mich angriffen.« »Na schön, ich spiele also mit.« Er durfte die Unterhaltung jetzt nicht stocken lassen, das Ding mußte beschäftigt werden, bis sich die beste Gelegenheit zur Flucht bot. Später würden sie die Wahrheit ohnehin erfahren, wenn er ihnen nicht entkam. »Ich kannte den Mann nicht. Ich bin nicht einmal sicher, auf welcher Welt es geschah. Jedenfalls regnete es dort in Strömen, mehr weiß ich nicht.« »Wer hat Sie mit dem Mord beauftragt?« »Sie nannten keine Namen. Ich erhielt mein Geld, als ich meine Arbeit getan hatte. Das ist alles.« »Gut, das glaube ich Ihnen. Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen noch mitteilen, daß Herzschlag und Puls wieder normal sind. Damit besteht keine Gefahr mehr, wenn ich Sie informiere, daß Sie bei Ihrem Anschlag auf mich verletzt wurden.« Jagen lachte laut und befühlte die Wunde im Nacken. »Vielen Dank für Ihre Fürsorge; aber die Verletzung ist wirklich nicht der Rede wert.« »Ich möchte sie säubern und verbinden. Geben Sie mir dazu Ihre
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Erlaubnis?« »Wenn Sie unbedingt wollen! Das Verbandszeug ist im anderen Zimmer.« Wenn der Roboter hinübergeht, dachte Jagen, erreiche ich den Transmitter mit Leichtigkeit. »Ich möchte die Wunde zuerst untersuchen.« Der Verfolger wuchtete wie ein Riese über Jagen und berührte den Nacken mit seinem kalten Metallfinger. Im gleichen Augenblick war Jagen am ganzen Körper gelähmt. Jagen spürte sein Herz regelmäßig weiterschlagen. Er konnte unbehindert atmen, und er konnte noch mit unbeweglichen Augen sehen. Aber er vermochte sich nicht mehr zu bewegen und konnte auch nicht mehr sprechen. »Ich mußte es tun«, erklärte der Verfolger, »um die Wunde behandeln zu können. Sie werden bei der kleinen Operation keinen Schmerz verspüren.« Die Maschine, so stellte Jagen am Geräusch der Schritte fest, ging davon und verließ den Raum. Er konnte ihr nicht mit den Augen folgen, die starr geradeaus gerichtet blieben. Operation? Welche unvorstellbare Bestrafung hatte sich der Große Despot da ausgedacht? Wer war eigentlich der Mann gewesen, den er getötet hatte? Die Rache, jetzt, nach zwanzig Jahren…! Zum erstenmal hatte er Angst, richtige Angst, aber selbst sie konnte den Herzschlag jetzt nicht mehr beschleunigen. Er hatte keine Gewalt mehr über seinen Körper, und sein Bewußtsein war in einer Ecke seines Gehirns eingesperrt worden, handlungsunfähig und voller Hysterie. Schritte verrieten ihm, daß der Roboter nun hinter ihm stand. Wenig später wurde er hin und her geschaukelt, aber er spürte nichts. Dann streifte etwas Dunkles seinen Sichtbereich und fiel auf den Boden. Er konnte es nicht mehr sehen. Was war es gewesen? Was? Dann fiel etwas anderes auf den Boden, aber so, daß er es sehen konnte. Schaum war dabei, ein paar Haarbüschel, und… Da endlich begriff Jagen. Enthaarungsschaum, in viel zu großer Menge! Die Maschine mußte den ganzen Behälter ausgesprüht haben und war nun dabei, sämtliche Kopfhaare zu entfernen. Aber warum nur? Wozu das? Der Roboter kam um ihn herum und trat vor ihn. Er wischte sich seine Metallhände an Jagens Anzug ab. »Ich mußte Ihre Haare entfernen, um die Operation durchführen zu können. Keine Sorge, die Haare wachsen wieder nach, und die Operation ist durchaus ungefährlich und hat keine schädlichen Folgeerscheinungen.« Noch während der Verfolger sprach, ging eine äußerliche Veränderung mit ihm vor. Die goldene Hülle, die selbst gegen Explosivgeschosse unempfindlich gewesen war, öffnete sich in der Mitte des Körpers. Jagen konnte nur schreckerfüllt und bewegungsunfähig zusehen, wie ein runder
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Hohlraum entstand, an dessen Rändern blitzende Instrumente und lange
Nadeln befestigt waren.
»Sie werden nichts spüren«, sagte der Roboter und nahm Jagens Kopf in
seine Hände, zog ihn mit sanfter Gewalt nach vorn und schob ihn in die
Öffnung. Jagen hätte später nie zu sagen vermocht, ob es die namenlose
Angst oder ein Betäubungsmittel gewesen war. Jedenfalls verlor er in
diesem Augenblick das Bewußtsein.
Er spürte nicht mehr die feinen Nadeln, die durch seine Kopfhaut drangen,
sich durch die Schädeldecke bohrten und schließlich im Gehirn anlangten.
Aber sein Unterbewußtsein wurde wach. Er konnte wieder denken.
Erinnerungen waren es, die plötzlich auftauchten, klar und deutlich wie nie
zuvor, und die der unheimlichen Maschine zugeleitet wurden. Seine
Kindheit, bestimmte Gerüche, längst vergessene Geräusche, ein Zimmer,
Gras unter seinen Füßen, ein junger Mann im Spiegel – er selbst.
Lange Zeit flossen die Erinnerungen, gesteuert und aus dem
Unterbewußtsein hervorgeholt, um von dem Verfolger überprüft zu werden.
Er sortierte die wichtigen Einzelheiten aus, setzte sie zu einem vollständigen
Bild zusammen und speicherte es.
Dann zogen sich die Nadeln zurück, Jagens Kopf wurde frei. Der Roboter
setzte ihn in den Sessel zurück und hob die Paralyse auf. Jagen konnte sich
wieder bewegen. Er fuhr mit einer Hand über den glatten Schädel, während
sich die andere um die Sessellehne krampfte.
»Was haben Sie mit mir gemacht? Was war das für eine Operation?«
»Ich habe nur Ihre Erinnerungen studiert und kenne nun die Leute, die Ihnen
damals den Auftrag erteilten.«
Mit diesen Worten drehte sich der Roboter, der wieder seine ursprüngliche
Gestalt angenommen hatte, einfach um und ging auf den Transmitter zu. Als
er die Nummer gewählt hatte, rief Jagen überrascht:
»Augenblick! Wohin wollen Sie? Was wird nun mit mir geschehen?« Der
Verfolger drehte sich um.
»Haben Sie da einen besonderen Wunsch? Was soll ich denn mit Ihnen tun?
Haben Sie Schuldgefühle, die beseitigt werden müssen?«
»Spielen Sie nicht mit mir, Maschine! Ich bin ein Mensch, Sie bestehen
lediglich aus Metall. Ich gebe Ihnen den Befehl, mir auf meine Fragen zu
antworten. Gehören Sie zur Polizei des Großen Despoten?«
»Ja.«
»Dann werden Sie mich also verhaften?«
»Nein. Ich verlasse Sie jetzt. Die Polizei dieser Welt, auf der Sie leben, kann
Sie ja verhaften. Doch soweit ich informiert bin, hat sie kein Interesse daran.
Der Fall geht sie nichts mehr an. Ihr Vermögen ist beschlagnahmt worden,
um die Kosten der Verfolgung wenigstens teilweise zu decken.«
Er drehte sich um, setzte sich in Bewegung.
»Halt!« Jagen sprang auf die Füße. »Mein Geld – ja, das kann ich mir
vorstellen! Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich zwanzig Jahre lang
verfolgt wurde – nur deshalb! Ich bin ein Attentäter, ein Mörder! Haben Sie
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das vergessen?« »Das hat niemand vergessen, auch ich nicht. Darum bin ich Ihnen ja gefolgt. Aber Ihre Meinung über sich selbst ist falsch. Sie stimmt überhaupt nicht. Sie sind weder einmalig, noch besonders begabt, noch interessant. Jeder Mann kann einen anderen töten, wenn er die Voraussetzungen dazu erhält. Schließlich sind die Menschen nichts als Tiere. In Kriegszeiten werfen junge Männer tödliche Bomben auf Menschen, die sie nicht kennen, indem sie nur auf Knöpfe drücken. Sie morden, ohne sich dabei Gedanken zu machen. Menschen töten, um ihre Familien zu schützen, und man verurteilt sie deswegen. Sie, Jagen, sind ein professioneller Killer gewesen, Sie haben Geld dafür erhalten, einen anderen Mann zu töten. Geld ist für Sie Motiv genug, ein Leben auszulöschen. Das ist weder edelmütig, noch besonders tapfer, und schon gar nicht interessant. Der Mann ist tot, und wenn ich Sie jetzt töte, wird er davon auch nicht wieder lebendig. Darf ich jetzt gehen?« »Nein! Mir ist noch nicht alles klar. Sie sind mir zwanzig Jahre lang gefolgt. Warum das? Nur um ein paar restliche Fakten herauszufinden, die niemandem mehr nützen?« Die Maschine stand groß und stark vor dem Transmitter. Ihre goldene Hülle schimmerte, als besäße das Metall ein eigenes Leben. Vielleicht reflektierte sie aber auch nur das Leben und die Gedanken ihrer Erbauer. »Ja, Fakten! Sie selbst, Jagen, sind nichts, und jene Männer, die Ihnen den Auftrag gaben, sind auch nichts. Aber warum sie es taten, und wieso sie in der Lage waren, es zu tun, das allein ist wichtig! Ein Mann, zehn Männer, selbst eine Million Männer sind nichts gegen den Großen Despoten, in dessen Händen das Schicksal von Zehntausenden von Planeten liegt. Der Große Despot rechnet nicht mit dem Einzelindividuum, er rechnet mit ganzen Völkern, Rassen und Gesellschaften. Ich habe Ihre Gedanken erforscht, Jagen, und nun werden wir die Gesellschaftsform untersuchen, aus der Sie und Ihre Auftraggeber stammen. Wir müssen erfahren, wie sie auf den Gedanken kamen, daß man mit Gewalt ein Ziel erreichen, eine Lösung finden kann. In welcher sozialen Umgebung konnte der Gedanke geboren werden, daß Töten ein Mittel zur Erreichung eines Zieles ist? Wo wird das Töten geduldet, ignoriert oder sogar verziehen? Wenn wir das wissen, dann wissen wir auch, wo der Grund für jeden Mord zu finden ist. Wir erfahren, warum Leben und Einstellung so geformt werden, daß tödliche Ideen in das Universum exportiert werden.« Der Roboter sah auf den schimmernden MT-Schirm. »Es ist die jeweilige Gesellschaft, die mordet, nicht das Individuum.« Er nickte Jagen fast spöttisch zu. »Sie, Jagen, sind ein Nichts.« Er ging in den Transmitter und verschwand.
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Die Braut des Gottes Ihr Name war Osie, und alle waren sich darin einig, daß sie bei weitem das reizendste Mädchen in Wirral-Lo war, einem Ort, der ohnehin schon seit langem für die außergewöhnliche Schönheit seiner Frauen bekannt war. Wirral-Lo, eine Ansiedlung hoch oben in den unwirtlichen Bergen des Planeten, der Orriols genannt wurde, hatte sonst nicht viel zu bieten. Die Schönheit ihrer Frauen war ihr größter Reichtum. Er wurde entsprechend geschützt und bewacht. Wenn Osie sich aus dem Hause wagte, trug sie einen Mantel aus schwerem Bleistoff, einen breitkrempigen Hut und eine Brille mit dicken, schwarzen Gläsern, um sich gegen die starken, radioaktiven Strahlen der weiß-blauen Sonne zu schützen. Abends aber, im Inneren der Häuser, bewunderte jeder die Schönheit ihrer Haut, den Glanz ihres langen, schwarzen Haares und die untadelige Rundung ihres üppigen, nackten Busens. Ihre Arme allerdings waren immer bedeckt – die strengen Sitten mußten eingehalten werden – , doch an ihrem weiten, in tiefe Falten gelegten Rock waren kleine, silberne Glöckchen angebracht, die bei jedem ihrer Schritte läuteten. Auch ihre Augen blieben stets hinter den runden, dunklen Gläsern verborgen; aber das, was man sehen konnte, war reizvoll genug. Die Arbeiter, deren Gesichter und Hälse von Brandnarben, krebsartigen Geschwulsten und Pocken entstellt waren, weideten sich an ihrer makellosen Schönheit. Sie waren alle sehr traurig, als beschlossen wurde, Osie auf eine Schule zu schicken. Dieses Vorhaben würde sehr kostspielig sein. Doch jeder sah ein, daß diese Investition auch sehr nutzbringend sein konnte. Vor vielen Jahrhunderten waren sie in die Berge gezogen, um hier die Pilloy-Pflanzen anzubauen, die nur auf dem Planeten Orriols unter der grellen, aktinischen Sonne gediehen. Hier war die Luft sehr dünn, aber ihre Vorfahren hatten in großer Höhe auf den Bergen Südamerikas gelebt, so daß ihnen dieser Umstand keine Beschwerden verursachte. Ihre Brustkörbe waren breit, und sie konnten diese Luft atmen. Die starke, radioaktive Strahlung allerdings war eine andere Sache. Sie tat ihnen nicht gut. Sie war die Ursache dafür, daß sie sich nicht in ausreichendem Maße vermehren konnten, und so hatten sie niemals genug Arbeitskräfte, um das Land zu bebauen. Es wurden teure Maschinen dazu gebraucht, und der Verkauf der Pilloy-Droge erbrachte nicht genügend Gewinn. So waren sie alle gerne bereit, ihr Scherflein beizutragen, um Osie für ihre Reise entsprechend auszustatten, denn sie wußten, sie würde einmal als Braut einen hohen Preis einbringen. Ganz bestimmt! Osie war ein junges Mädchen. Als sie zum Abschied winkte, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie trat durch den Materie-Transmitter und tauchte in den Bergen der Erde wieder auf – in Bern, wo sie die Schule besuchen sollte. Ein Jahr später, auf den Tag genau, kehrte sie wieder zurück. Jetzt war sie eine ausgeglichene, junge Frau, die es sich versagte, bei
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jeder törichten Gefühlsregung gleich in Tränen auszubrechen. Während eines großen Diners wurde sie von allen Anwesenden, die sie nur als junges Mädchen in Erinnerung hatten, sehr bewundert. Ihre Manieren waren tadellos, wenn auch ihr Verhalten den einfachen Arbeitern gegenüber ein wenig zu kühl schien. Doch ihre reife Schönheit und Anmut waren atemberaubend. Von der Schule brachte sie eine Bescheinigung mit, in der bestätigt wurde, daß sie alle Kurse mit der besten Note absolviert hatte. Ihr wurden untadelige Manieren bescheinigt sowie der Unterricht in den schönen Künsten. Auch die Tatsache, daß sie während des ganzen Jahres niemals außerhalb der Aufsicht der Schule gewesen sei, also jedem schlechten Umgang entzogen und unberührt geblieben war. Sie war also makellos in jeder Hinsicht. Mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachteten alle Anwesenden ihr Haar, ihre Brust, ihre perfekten Manieren und sahen dabei im Geiste nichts anderes als Traktoren, Eggen, Pflüge und viele, viele Säcke voll Düngemittel. »Hier ist das Inserat, das wir aufgeben werden«, sagte ihr Vater, als sie mit dem Mahl fertig waren und der Tisch abgeräumt wurde. Schreie des Entzückens und der Zustimmung waren zu hören. »Dieses Bild – einfach vollkommen!« »Die Maße – sie stimmen auf den Millimeter!« »Der Preis – er ist höher, als jemals zuvor!« Osie hielt den Blick gesenkt und schaute züchtig in ihr Weinglas. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Eine Welle der Zuneigung wurde ihr entgegengebracht, und alle hätten sie am liebsten geküßt und in Dankbarkeit umarmt, wenn sie nicht voll Furcht gewesen wären, sie zu verletzen und damit ihre Vollkommenheit zu zerstören. Nicht der kleinste Fehler durfte an ihr haften. Noch nie war sie geküßt worden, auch nicht von ihren Eltern, zumindest nicht seit ihrem fünften Geburtstag. Nach drei Tagen traf die erste Antwort ein. Natürlich kamen noch mehr – der Himmel mag wissen, wie viele – , aber die Heiratsvermittlung sortierte alle aus, die den geforderten Preis nicht zahlen konnten. Eine kleine Schar schwarzgekleideter Männer materialisierte durch den Materie-Transmitter. Die Männer blickten sich argwöhnisch in der schmucklosen Halle um, in der sie begrüßt wurden. Doch ihre Blicke wurden sofort freundlicher, als Osie anmutig vor sie hintrat. Die Rechtsanwälte prüften ihre Papiere, die Ärzte untersuchten sie unter den wachsamen Augen ihrer Leute, und der Geschäftsführer der Fremden feilschte um den Preis. Es ließ sich alles sehr gut an; als plötzlich ein anderer Mann aus dem Schirm trat und mit dem Fuß aufstampfte. »Ihr Fremden, verschwindet! Sie wird meine Braut!« Die Männer in Schwarz erbleichten. Osies Vater wandte sich dem Neuankömmling zu – betont liebenswürdig, denn der Mann sah nach sehr viel Geld aus. Seine Kleider bestanden aus kostbarstem Gewebe, und seine Juwelen, Diamanten und Smaragde waren von erstaunlicher Größe und ungewöhnlichem Schliff. Er hatte blondes Haar, das wie Seide bis auf seine Schulter herabhing. Seine Oberlippe wurde von einem Schnurrbart geziert,
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über den er sich leicht mit den Fingerspitzen strich. »Darf ich nach Euerem Namen fragen?« sprach ihn Osies Vater demütig an. Er machte eine leichte Verbeugung, wie es ihm bei dieser Gelegenheit angebracht erschien. »Ihr dürft! Ich bin Jochann, einziger Herr von Maabarot. Ich begehre Eure Tochter zum Weib.« Es war nicht befremdlich, daß noch niemand etwas von Maabarot gehört hatte, denn seit man Materie-Transmitter im Gebrauch hatte, war die Menschheit über die Galaxis zerstreut worden wie Spreu im Wind. Und es gab ungezählte Welten, die bewohnt waren. »Wir waren zuerst hier«, wagte einer der Schwarzgekleideten einen Einwand. »Ihr müßt gehen!« »Ich bleibe!« sagte Jochann und schlenkerte mit seinem zierlichen Stock, der anscheinend weit schwerer war, als er aussah, denn er stieß gegen die Schläfe eines »Schwarzen«, und der Mann sank augenblicklich ohnmächtig auf den Boden. »Ich überbiete jedes Angebot und gebe zehntausend Credits mehr«, fuhr Jochann fort. Er zog einen Beutel mit Geld aus seiner Tasche und warf ihn auf den Tisch. »Überdies ist der beleibte Auftraggeber dieser Schakale siebzig Jahre alt und hat eine Haut wie ein Warzenschwein.« »Ist das wahr?« fragte Osie, das erste Mal das Wort ergreifend, und ihre Stimme klang genauso lieblich und hell wie die Glöckchen an ihrem Rock. »Es ist nicht wahr!« sagte einer der Fremden und trat vor. »Ihr könnt es selbst auf diesem Bild sehen!« »Wahr genug für mich!« rief Osie, als sie auf das Bild sah, und kräuselte verächtlich ihre hübschen Lippen. Sie ließ es fallen und trat mit dem Fuß darauf. Dann wandte sie sich Jochann zu. »Ihr könnt mich haben, mein Herr. Aber ich bin nicht billig. Für diesen Grundpreis gehört Euch mein Körper, niemals aber meine Seele, denn ich werde immer daran denken müssen, daß Ihr Euer Geld vor Eure Liebe gestellt habt. Ich frage Euch, ob Ihr wohl so edelmütig sein könntet…« – »Wie edelmütig?« »Mindestens fünfzigtausend Credits mehr.« »Diese Edelmütigkeit ist nicht billig.« »Meine Liebe auch nicht. Ich sehe in Euch den Mann, den ich mit großer Leidenschaft lieben könnte, und ich glaube, meine Liebe keimt bereits. Aber ich kann ihr nicht mit gutem Gewissen stattgeben, solange ich mein armes Volk im Unglück weiß. Zahlt ihm diese für Euch kleine Summe, und für Euch wird ein neues Leben voll Liebe und Leidenschaft beginnen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, ergriff seine Hand, die er ihr widerstandslos überließ, führte sie an den Mund und berührte seine Handfläche leicht mit der Zungenspitze. Jochann stöhnte laut auf. »Ihr habt mich überzeugt«, sagte er, griff in seine Tasche, holte Beutel auf Beutel voller Geld hervor und warf sie auf den Tisch. Er war sich kaum bewußt, was er da tat. »Bereitet die Heiratspapiere vor. Wir wollen die Zeremonie schnell hinter
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uns bringen. Ich kann nicht lange warten!« »Ich habe viele Jahre gewartet«, flüsterte Osie ihm ins Ohr, und ihre Stimme klang ebenso heiser wie die seine. »Meine ganze Leidenschaft habe ich nur für Euch aufbewahrt.« Er stöhnte wieder und suchte die schwarzgekleideten Männer aus dem Raum zu vertreiben. Schließlich stieß er den letzten von ihnen in den MaterieTransmitter. Nur mühsam erlangte er seine Fassung zurück und ließ nun gleichmütig die Hochzeitszeremonie über sich ergeben, unterzeichnete alle Dokumente und gab seiner Braut einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Aber er wollte das Hochzeitsmahl nicht mehr abwarten. »Das Fleisch wird ungeduldig«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und holte seinen letzten Geldbeutel aus den weiten Taschen. »Ich hoffe, daß eine zusätzliche Zahlung über unser vorzeitiges Fortgehen hinwegtrösten wird. Dringende Pflichten rufen mich. Sie können nicht warten.« Man brachte ihm vollstes Verständnis entgegen, und das Gepäck von Osie wurde geholt. Jochann programmierte indessen den Materie-Transmitter mit seiner Materie-Transmitter den Schlüssel mit seinem Körper verdeckte. Er nickte kurz zum Abschied, nahm seine Braut bei der Hand und ging in den Transmitterschirm. Der Raum, den sie betraten, war klein, fensterlos, staubig und leer. Osie war wohlerzogen genug, nichts zu sagen. Sie beobachtete voller Interesse, wie ihr Ehemann die Transmitter-Kontrollen mit einem großen Schloß sicherte. Dann entriegelte er eine Tür und ließ sie in einen anderen Raum eintreten. Die schwere Tür schloß sich hinter ihnen, und er verriegelte sie mit einem guten halben Dutzend Schlösser. Osie fand für dieses rätselhafte Verhalten keine Erklärung. Doch nun sah sie sich in dem großen, geschmackvoll eingerichteten Raum um. Am auffälligsten war das große Bett, auf dem die Decken zurückgeschlagen waren. »Ich wußte, daß du meine Braut werden würdest«, sagte er mit vor Leidenschaft erstickter Stimme. Er nahm sie in die Arme und drängte sie zu dem Bett. In diesem Moment bemerkte er, daß ihr Körper steif wie Holz wurde. Ihr Gesicht wurde abweisend. Nur widerwillig ließ er von ihr ab. Sie glättete ihre Kleider, bevor sie sagte: »Würdest du mir bitte meinen Ankleideraum zeigen und mir mein Gepäck bringen? Ich werde mich sorgfältig vorbereiten, denn dieses sollte nicht mit ungebührlicher Hast geschehen. Auch du solltest dich gut vorbereiten, denn schließlich wirst du für mindestens zwei oder drei Tage diesen Raum nicht mehr verlassen.« Während sie sprach, nahm sie langsam die schwarze Brille ab, hinter der noch immer ihre Augen verborgen waren, die ihn nun weit, dunkel und mit verhaltener Leidenschaft ansahen. Dann fühlte er ihre heißen Lippen auf den seinen. Als sie wieder von ihm zurücktrat, nickte er nur, unfähig zu sprechen. Wortlos wies er auf eine Tür, durch die sie verschwand.
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Die erste Woche verlief für Osie sehr angenehm. Die Schule in den Alpen auf der Erde hatte sie hervorragend ausgebildet – so gut das eben ohne praktische Lehre möglich war. Außerdem glaubte sie, für diese Dinge eine ausgesprochene Naturbegabung zu besitzen. Überdies war es für sie eine wahre Erlösung von ihrem bisherigen eintönigen Leben, indem ihre einzige Freude darin bestanden hatte, sich auf ihre Aufgabe als Frau vorzubereiten, und das konnte sie auf die Dauer natürlich nicht befriedigen. Jetzt bot sich ihr endlich die Gelegenheit, alle Theorie in die Praxis umzusetzen, und sie tat es mit wilder Freude und variationsreichem Geschick. Als sie nach der siebten Nacht erwachte, bemerkte sie, daß ihr Gatte das eheliche Lager bereits verlassen hatte. Sie gähnte und rekelte sich wohlig, mit sich und der Welt zufrieden. Dann drückte sie auf den Klingelknopf, der neben dem Bett angebracht war. Bisher wurden ihnen die Mahlzeiten von einer unsichtbaren Hand stillschweigend durch den geschlossenen Vorhang gereicht. Doch nun zog sie den Vorhang zur Seite, lehnte sich bequem in die Kissen zurück und beobachtete, wie ein hübsches Mädchen in der Kleidung der Dienstboten zögernd den Raum betrat. »Etwas Wein«, befahl sie. »Leicht, kühl und erfrischend. Und etwas zu essen. Warum zögerst du?« Das Mädchen blieb mit gesenktem Kopf stehen. »Komm, du kannst ruhig mit mir sprechen. Ich bin deine neue Herrin. Was gibt es zu essen?« Das Mädchen schüttelte nur stumm den Kopf, und Osie wurde unwillig. »Sprich! Oder bist du stumm?« Das Mädchen antwortete mit einem lebhaften Kopfnicken und deutete auf ihren Mund. »Oh, du armes Ding«, sagte Osie mitleidig. »Du bist so jung und hübsch. Nun gut, dann bring mir irgend etwas Schönes. Ich habe großen Appetit.« Nach der guten Mahlzeit nahm sie ein ausgiebiges Bad und beschäftigte sich mit der Pflege ihres Haares und ihrer Fingernägel. Sie würde noch genügend Zeit finden, diese Welt und ihr neues Heim zu besichtigen. So verrichtete sie alles ohne große Eile. Ihr Gatte würde ihr sicher alles gerne zeigen, und darauf freute sie sich sehr. Diese Ehe hatte einen glücklichen Anfang genommen. Gegen Abend öffnete sich die schwere, bronzene Türe, und Jochann betrat den Raum mit festem Schritt. Er war ein sehr kräftiger Mann, und er schien keine Müdigkeit zu kennen. Doch bei näherem Hinsehen bemerkte man, daß die vergangene Woche auch bei ihm ihre Spuren hinterlassen hatte, denn unter seinen Augen lagen tiefe, schwarze Ringe. Osie flog ihm in die Arme, und sie küßten sich, aber als er merkte, daß ihn wieder eine Welle der Leidenschaft überkam, schob er sie von sich. »Für den Moment ist es genug«, sagte er. »Mein Weib, ich muß dir jetzt einiges von deiner neuen Welt zeigen. Und das Volk von Maabarot wünscht seine Herrin zu sehen. Zieh dir etwas besonders Hübsches an. Dann werden
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wir auf den Balkon treten, um der Menge zuzuwinken, die schon seit drei Tagen mit unverminderter Begeisterung auf diesen Augenblick wartet.« Er drückte auf einen Knopf an der Wand, und sofort war das Geschrei aus ungezählten Kehlen zu vernehmen. »Das klingt, als ob man sich sehr freuen würde.« »Es ist ein großes Ereignis in ihrem Leben. Nachdem wir uns auf dem Balkon gezeigt haben, werden wir zu einem Diner gehen, wo du die Honoratioren dieser Welt kennenlernen wirst. Doch vorher muß ich dir noch etwas Wichtiges sagen.« Jochann begann unruhig auf und ab zu gehen. Seine Finger spielten unbewußt mit den goldenen Tressen seines Gewandes, und ein finsterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. War es vielleicht Angst? »Mußt du mir ein Geständnis machen? Gibt es irgend etwas, was du mir nicht sagen wolltest, bevor du dir meiner nicht sicher warst?« In ihrer Stimme schwang eine gewisse Kälte. »Oh, meine Liebste!« Er warf sich vor ihr auf die Knie und ergriff ihre Hand. »Nichts dergleichen! Das schwöre ich dir. Ich bin der Herr von Maabarot, so wie ich es dir sagte. Dieser ganze reiche Planet gehört mir, und ich will alles mit dir teilen. Ich habe dir nichts verschwiegen. Lediglich die Einstellung des Volkes mir gegenüber ist ein wenig sonderbar.« »Mögen sie dich nicht?« »Ganz im Gegenteil. Sie beten mich an.« Er erhob sich, und auf seinem Gesicht lag nun ein Ausdruck gelassener Würde. »Tatsächlich verehren sie mich. Du mußt verstehen, daß es sehr einfache Leute sind, die zu mir mit einer gewissen Ehrfurcht aufsehen.« »Wie schön! Sehen sie in dir vielleicht wie die alten Ägypter oder Japaner den Nachkommen des Sonnengottes?« »So ähnlich, nur noch ein bißchen mehr.« – »Noch mehr?« »Sie glauben, daß ich der Gott bin.« »Oh, wie wundervoll«, sagte sie. Sie zeigte nur ehrliches Interesse. Da war nicht der leiseste Anflug eines Lächelns, des Zweifels oder des Spottes; denn die Schule in Bern war wirklich eine gute Schule gewesen. »Ja, das ist es. Doch habe ich damit auch eine große Verantwortung zu tragen, denn die geringste meiner Launen wird zum Gesetz. Ich darf diese Macht nicht mißbrauchen.« »Und du? Glaubst du selbst, daß du ein Gott bist?« »Welche Frage!« Er lächelte. »Als Mann mit Geist kann ich es logischerweise natürlich nicht glauben.« Er runzelte die Stirn. »Oft befallen mich recht widerstreitende Gefühle. Der Druck ihres unbedingten Glaubens ist eine schwere Bürde. Doch wir wollen uns ein andermal darüber unterhalten.« »Kannst du mir erklären, wie es zu dieser Situation kam?« »Über die wahren Hintergründe bin ich mir selbst nicht völlig im klaren. Einige meiner frühesten Vorfahren gelangten in den Besitz des einzigen Materie-Transmitters dieses Planeten, und auf seltsame Weise ist es ihnen
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gelungen, ihn vor dem Volk verborgen zu halten. Mit Hilfe dieses Gerätes konnten in den Augen des ungebildeten Volkes wahre Wunder vollbracht werden. Tonnen von Getreide verschwanden in einem winzigen Raum, der normalerweise diese Menge nicht hätte fassen können. Fremdartige und wunderliche Dinge geschahen. Maabarot verschlummerte Jahrhunderte unter der gottähnlichen Herrschaft, und der einzige Mann, der einige Kenntnisse der Wissenschaft hat, ist Gott der Herr, also ich. Natürlich muß auch das Weib des Herrn unter mysteriösen Umständen vom Himmel herabsteigen, um seine Gemahlin zu werden. Das Weib des Gottes ist immer von einem anderen Planeten gekommen. Ein Gott hat immer nur einen Sohn, der einmal die Stellung seines Vaters einnimmt, wenn dieser zum Himmel zurückkehren wird. Du wirst nur einen Sohn haben. Du wirst keine Töchter bekommen.« »Ich werde sie sehr vermissen, denn ich habe mir immer eine große Familie gewünscht.« »Es tut mir leid. Wirst du mir trotzdem ohne Widerspruch gehorchen?« »Natürlich. Habe ich nicht geschworen, dir zu gehorchen? Wenn ich keine große Familie haben kann, werde ich meine ganze, uneingeschränkte Liebe auf meinen einzigen Sohn konzentrieren und mir immer vor Augen halten, daß er einmal ein Gott sein wird. Ich bin nicht unzufrieden.« »Wunderbar. Mein Weib ist ein Juwel unter zehn Millionen. Wollen wir nun auf den Balkon gehen?« »Ich werde das Mädchen rufen, damit sie mir beim Ankleiden hilft. Wie ist ihr Name?« »Bacjli.« »Wie hat sie ihre Sprache verloren?« »Ich sagte ihr, sie könne nicht länger sprechen, deswegen kann sie es nicht. Die Leute glauben aufrichtig an den Gott dieses Planeten. Das Hausgesinde ist unwissend und kann nicht sprechen. Auf diese Weise können keine Geheimnisse und intimen Vorgänge unseres Lebens an die Öffentlichkeit gelangen.« »Ist das notwendig?« »Es ist Gesetz, und es war immer schon so. Das ist eine Schranke, die nicht überschritten werden darf. Sie glauben, es ist ein kleines Wunder, und Tausende wären glücklich darüber, eine Stellung in meinem Palast zu erhalten.« »Es stürmen so viele Dinge auf mich ein, die mir noch unverständlich erscheinen.« »Es gibt nur eines, das schwieriger ist, als die Frau eines Gottes zu sein – selbst Gott zu sein.« »Das hast du schön gesagt.« Der Empfang, mit dem die neue Herrin begrüßt wurde, als sie auf den Balkon trat, war überwältigend und steigerte sich bis zu Hysterie, als sie sich anschickte, zum Volk zu sprechen. Aber der Herr hob seine Hand und gebot Ruhe, und augenblicklich breitete sich Schweigen aus. Das geschah kraft
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seiner göttlichen Suggestion, doch hauptsächlich durch ein Beruhigungsgas, das Jochann ferngelenkt durch eine Kontrolle an seinem Gürtel in die Menge strömen ließ. Das göttliche Paar verschwand und betrat nun unter Trompetenklängen den Bankettsaal, wo es sich einem Meer von gebeugten Rücken gegenüber sah. Erst nachdem sich der Gott und seine Gemahlin niedergesetzt hatten, richteten sich die Adeligen auf und traten vor, immer einer nach dem anderen, so wie der Zeremonienmeister sie namentlich aufrief. Sie beugten die Knie und küßten den Ring, den Osie am Finger trug. Währenddessen nippte sie an gekühltem Wein und lächelte, im Gegensatz zu Jochanns göttlicher, strenger Miene, und ihr flogen sofort alle Herzen zu. Gott, der Vorstellung müde, gebot ihnen mit erhobener Hand Einhalt, und das Mahl konnte beginnen. Es war eine köstliche Mahlzeit, die jedoch ein plötzliches Ende fand. Während des siebzehnten Ganges, der aus winzigen, in Honig gerösteten Vögeln bestand, erschien der Zeremonienmeister wieder. Ruhe heischend stieß er mit seinem Stab laut auf den Marmorboden. »O Gott, unser aller Vater, der mit Strenge und Liebe regiert, ich erlaube mir, Euch davon in Kenntnis zu setzen, daß der Hohe Gerichtshof in diesem Moment zusammengetreten ist, um Gericht zuhalten.« »Ich werde kommen«, sagte der Herr, erhob sich und bot Osie seinen Arm. »Zur Hölle, mitten während des Essens! Aber das ist eines der Dinge, die getan werden müssen. Ein Gott kann seine Arbeit nicht aufschieben, weißt du. Doch dieser Gang wird uns wieder Appetit machen. So ist nicht alles verdorben.« Die Gäste verbeugten sich und verließen rückwärtsgehend den Saal. Dann folgte der Herr mit seiner Gemahlin. Sie betraten den Justizpalast, in dem sie von dem Hohen Gericht erwartet wurden. Jochann geleitete seine Braut zu einem kleinen Balkon, der mit Wolken aus Gips dekoriert war, so daß man meinte, im Himmel zu sitzen. Sie ließen sich auf den mit Plüsch bezogenen Thronsesseln nieder, während die Richter in den Saal kamen. Sie trugen schwarze Gewänder und Mäntel und sahen aus, wie Richter überall auszusehen pflegen. Der Schreiber sprach mit einem hohen Tenor, die Worte halb singend. »Die Richter kommen zurück. Der Angeklagte möge sich erheben!« Jetzt erst bemerkte Osie einen kahlköpfigen Mann in zerrissener, grauer Kleidung, der in einem mit spitzen Eisendornen versehenen Kasten saß. Er war mit so schweren Ketten gefesselt, daß ihm die Soldaten auf die Füße helfen mußten. Doch dann traten sie zurück, und er mußte sich allein aufrecht halten. »Gefangener«, sang der Schreiber. »Du hast dich des schlimmsten Verbrechens seit Menschengedenken schuldig gemacht. Du hast schwer gesündigt und dich durch deinen eigenen Mund verdammt. Du wirst der Ketzerei für schuldig befunden. Du hast die Existenz Gottes geleugnet, und die Richter werden jetzt das Urteil fällen.«
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»Ich werde es wieder sagen!« schrie der Angeklagte mit tonloser, heiserer Stimme. »Ich werde es ihm ins Gesicht sagen, jawohl! Er ist genausowenig ein Gott wie ich. Ein Mann, nur ein Mann!« Die Soldaten hatten viele Mühe, den Gefangenen vor der aufgebrachten Menge zu schützen, die johlend vorwärts drängte, um ihn zu lynchen. »Es ist meine Schuld«, sagte der Gott zu seinem Weib. »Der Markt für die landwirtschaftlichen Produkte war rückläufig, und ich versuchte, die Landwirtschaft zu modernisieren. Ich habe eine Musterfarm mit elektronischen Einrichtungen gebaut. Aber die Wissenschaft ist für manche Untertanen ein Unglück. Dieser Mann war dort Vorarbeiter. Sein technisches Wissen hat ihn leider dazu verleitet, über die Theologie nachzudenken.« »Wirst du Gnade walten lassen?« fragte sie voller Entsetzen über die Blutgier der Menge. »Ich kann es nicht, denn ich bin ein unnachgiebiger Gott. Man muß mich fürchten.« Die Richter erhoben sich und sprachen gleichzeitig in monotonem Singsang: »Wir, die Richter, finden den Angeklagten schuldig im Sinne der Anklage und überantworten ihn in die Hände des lebenden Gottes. Er muß sterben, auf daß die Gerechtigkeit siege!« »Gerechtigkeit!« kreischte der Gefangene, als Jochann sich langsam erhob, und seine Worte klangen wie Schüsse in die atemlose Stille. »Aberglaube, das ist alles! Suggestion! Ihr wollt mich glauben machen, daß ich sterben muß? Aber ich werde es nicht tun, nein, Herr! Ich werde nicht tot umfallen, nur weil Ihr sagt: >stirb<…« »Stirb!« befahl Jochann und zeigte mit dem Finger auf ihn. Der Mann schrie laut auf, krümmte sich in seinen Ketten und starb. »Wie schrecklich«, flüsterte Osie. »Die Kraft der Suggestion…?« »Das meiste davon. Doch ich habe für komplizierte Fälle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Durch eine ferngelenkte Kontrolle kann ich fünfzigtausend Volt durch diese Ketten strömen lassen. Laßt uns nun zurückgehen, bevor das Essen kalt wird.« Doch Osie hatte für den Moment keinen Appetit mehr. Nachdem sie noch ein wenig Wein getrunken hatte, verließ sie sehr bald das Bankett. In ihrem Ankleideraum bereitete sie sich auf die weiteren Festlichkeiten des Abends vor und versuchte, den schrecklichen Vorfall zu vergessen. Es wollte ihr nicht gelingen. Dann mühte sie sich ab, ein vernünftiges Argument für diese Exekution zu finden. Sie begann Jochann zu verstehen. Ohne Gehorsam gäbe es ein Chaos. Sie glaubte an die Richtigkeit seiner Handlungsweise, und als er zu ihr kam, mit neuerwachter Leidenschaft, begrüßte sie ihn voll Liebe und Erwartung. Der Gott war in ihrem Schlafgemach, und die Welt war in Ordnung. »Ich glaube, ich bin das, was man als einen gütigen Despoten bezeichnen könnte«, sagte Jochann am nächsten Tag, während sie nebeneinander durch die Straßen der Stadt getragen wurden, die sich unterhalb des Palastes
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ausbreitete. Stämmige Träger hatten die Sänfte auf ihren Schultern, und mit Speeren bewaffnete Soldaten hielten die applaudierende Menge in Schach. Automatisch lächelnd nickte Jochann nach jeder Seite, während er sprach, und er warf Hände voll kleiner Münzen von geringem Wert unter die Menge. »Wie schön für dich«, sagte Osie, und sie schenkte ihm ihr lieblichstes Lächeln. »Und natürlich auch für mich. Aber sind diese Leute auch glücklich?« »Wie Schweine in ihrem Pfuhl. Weil ich wirklich Güte walten lasse. Sie genießen alle Vorteile der Wissenschaft ohne deren unangenehme Nebenerscheinungen wie Luft- und Umweltverschmutzung. Es gibt keine Industrie. Sie brauchen keine langjährigen Ausbildungszeiten, um mit einer technisierten Gesellschaft wetteifern zu können. Es gibt keine Schulen, deswegen gibt es überall glückliche Kinder. Maabarot ist ein Paradies, und das Volk ist entsprechend dankbar.« »Hast du keine Sorgen mit der Kriminalität?« »Es gibt keine. Die Leute befolgen die Gesetze, wenn ihnen ein lebender Gott über die Schulter schaut.« »Leiden sie keinen Hunger?« »Nahrung, Kleidung und Obdach sind durch Gottes Gesetz für jeden gewährleistet.« »Sind sie nicht krank?« »In den Tempeln, die mit den modernsten chirurgischen und medizinischen Geräten eingerichtet sind, werden sie kuriert. Sie glauben natürlich, daß an ihnen Wunder vollbracht werden, und sie sind entsprechend dankbar.« »Sie beklagen sich niemals?« »Niemals. Dieses Leben ohne Sorgen erscheint ihnen paradiesisch, und sie werden nicht müde, mich, ihren Gott, zu lobpreisen.« »Der Mann, der gestorben ist…?« »Eine Ausnahme. Deren gibt es wenige. Auch in einem glücklichen Volk gibt es immer eine Handvoll Nörgler, die selbst gegen das Paradies murren. Aber mit ihrem Tod erfüllen sie einen guten Zweck. Sie dienen der übrigen Bevölkerung als schlechtes Beispiel, die sich dann ihres Wohllebens erst richtig bewußt wird. Sonnenverbrannt, wohlgenährt und einfältig verbringen sie wunschlos glücklich ihre Tage. Hör nur, wie sie mir zujubeln!« Und sie schrieen und winkten vor Begeisterung. Sie hielten ihm ihre Kinder entgegen, und sie küßten den Boden, über den er getragen wurde. Sie verfielen sogar in Ekstase. Es war alles sehr befriedigend. In der Straße der Goldschmiede wurden ihnen kleine Schmuckstücke zugeworfen, und auf dem Bazar der Juweliere ging ein wahrer Regen von geschliffenen Edelsteinen über sie nieder. Ihr Besuch glich einem wahren Triumphzug, und trunken vor Freude und von dem Genuß des kühlen Weines kehrten die beiden zurück und krönten diesen Triumph mit einem noch größeren Triumph in ihrem Bett. Die Zeit flog dahin.
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Wenn sie der ländlichen Vergnügen überdrüssig wurden, gingen sie auf einem anderen Planeten ins Theater, in Konzerte oder zu anderen Unterhaltungsstätten der Zivilisation. Es gab ungezählte Gelegenheiten für Sport und Spiel, wie Segeln, Reiten, Klettern, Jagen und Fischen. Prächtige Bankette wurden für sie veranstaltet. Eine Woche, ein Monat und dann ein Jahr schwanden fast dahin. Eines Abends, als sie sich nach einem großen Bankett in ihr Schlaf gemach zurückgezogen hatten, ergriff Jochann die Hand seiner Gattin. Nachdem er sie geküßt hatte, sagte er: »Jetzt wird es Zeit, an unseren Thronfolger zu denken.« »Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, wann dieses Ereignis stattfinden soll.« »In neun Monaten, wenn du damit einverstanden bist.« »Das bin ich«, entgegnete sie und warf die Schachtel mit den Pillen aus dem geöffneten Fenster. »Sollen wir beginnen?« »Nicht jetzt. Wir müssen auf die Erde in das Vereinigte-FruchtbarkeitsKrankenhaus in Zürich. Es ist die berühmteste Befruchtungsklinik der Welt.« »Bezweifelst du meine Fruchtbarkeit?« fragte sie mit schneidender Stimme. »Niemals, meine Liebste, niemals. Ich bezweifle nicht, daß du einen fruchtbaren Schoß hast, dem Mädchen, Zwillinge und sogar Fünflinge entspringen können. Ich bin von deinen Fähigkeiten überzeugt.« »Ich verstehe.« Sie küßte ihn. »Nur ein Junge. Laß uns gehen.« »Ich werde jetzt die Nummer wählen.« Es glich eher einer Geburt als einer Empfängnis, und Jochann ging viele Stunden unruhig in dem Warteraum auf und ab, bevor er gerufen wurde. Der Arzt wirkte nüchtern und gefühllos. Er las von seinem Report ab: »Männlicher Nachkomme, einer, veränderte Gene, unter Berücksichtigung der besten Charaktereigenschaften ausgewählt. Dritte Zellteilung überstanden, wachsen jetzt an. Ich gratuliere, es wird ein Junge.« Jochann schüttelte dem Arzt die Hand mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Doktor. Wann kann ich meine Frau sehen?« »Jetzt.« »Und wann kann ich meinen Sohn sehen?« »In neun Monaten.« »Sie haben mich zu einem sehr glücklichen Mann gemacht.« »Ich muß Sie jedoch auf eine Gefahr aufmerksam machen.« »Gefahr?« Der Gott glaubte bei diesen Worten in Ohnmacht zu sinken und mußte sich an seinem Stuhl festhalten. »Was meinen Sie damit?« rief er. »Es ist nichts, was man nicht vermeiden könnte, wenn Sie die entsprechenden Vorsichtsmaßregeln befolgen. Ihre Gattin ist von einem Planeten mit stark verdünnter Atmosphäre, und ihr Geschlecht hat sich seit Generationen diesem Umstand angepaßt. Es bereitet ihr keine Schwierigkeiten, in einer dichteren Atmosphäre zu leben. Lediglich während
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der Schwangerschaft kann es gefährlich werden. Sie müssen sehr vorsichtig sein. Kann sie zu ihrem Heimatplaneten bis zu der Geburt des Kindes zurückkehren?« »Unmöglich! Ihre Heimat ist jetzt mein Planet.« »Sind Sie ein reicher Mann?« »Ich denke ja. Aber was hat das damit zu tun?« »Eine ganze Menge. Sie müssen auf Ihrem Planeten einen Berg finden, auf dem der Luftdruck dem ihres Heimatplaneten entspricht. Bauen Sie ihr dort eine kleine Villa, in der sie die kommenden Monate verbringen kann.« »Ich werde ihr ein Schloß bauen, einen Garten, eine Welt voll Schönheit mit Tausenden von Bediensteten und ein Privatkrankenhaus.« »Eine kleine Villa würde genügen. Aber ich nehme an, daß Ihre Gattin gegen Ihre Pläne nichts einzuwenden hat. Hier ist Ihre Rechnung. Sobald Sie bezahlt haben, können Sie Ihre Gattin sehen.« Jochann unterzeichnete den Scheck, berauscht von Glück. Dann ging er zu Osie, und sie umarmten sich in einem wahren Freudentaumel. Hand in Hand kehrten sie auf ihren Planeten zurück und schickten sich unverzüglich an, einen geeigneten Platz in den Bergen zu finden. Es war wie ein Vergnügungsausflug. Als sich die schwerbeladene Prozession durch die Stadt bewegte, versammelten sich alle Einwohner und säumten ihren Weg. Sie stiegen zu der höchsten Erhebung auf. Nachdem Jochann sein goldenes Barometer geprüft hatte, stieß er seinen Stab in den Boden und rief: »Das ist der richtige Platz!« Auf einer Bergwiese, dort, wo man einen herrlichen Blick auf ein grünes Tal mit schneebedeckten Berggipfeln im Hintergrund hatte, wurde der Palast errichtet. Während die Leute eifrig bei der Arbeit waren, bewohnten Jochann und Osie ein seidenes Zelt. Das Gebäude wuchs schnell heran und wurde von Gärten mit Springbrunnen und Musik umgeben. Als es fertig war, wurde ein großes Fest veranstaltet. »Mein Liebling, ich muß nun in den Palast zu meiner Arbeit zurückkehren«, sagte Jochann in der ersten Nacht zu seiner Trau. »Ich werde dich schrecklich vermissen. Kommst du bald zurück?« »So schnell ich kann. Aber der einzige lebende Gott kann nicht ruhen.« »Ich weiß. Ich werde warten.« Die neun Monate vergingen sehr schnell. Jochann hatte auf dem Weg zwischen den beiden Palästen Pferdestationen errichtet, so daß er immer eilige Botschaften erhalten konnte. Er hatte sich vorgenommen, bei dem großen Ereignis zugegen zu sein. Aber er wurde durch seine Arbeit aufgehalten, und so überraschte ihn sein Sohn durch seine frühe Ankunft. Er erhielt erst Kenntnis von diesem frohen Ereignis, als ein atemloser und staubiger Bote in den Thronsaal gestürzt kam und ihm mit dem letzten Rest seiner Kraft die Rolle mit der Botschaft überreichte. Jochann las sie, und alles schien sich um ihn zu drehen. Kommt, hieß es da, sofort! Euer Weib hat einen Sohn geboren. Mutter und Kind sind wohlauf. Aber etwas sehr Interessantes ist geschehen.
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Was ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ, war die offensichtliche Hast, mit der diese Botschaft geschrieben und abgesandt wurde. Auch die Tatsache, daß an der Stelle etwas sehr Interessantes vorher etwas anderes gestanden hatte und dann wieder ausgestrichen wurde. Als er das Blatt gegen das Licht hielt, konnte er erkennen, daß es sich um ein fremdsprachiges Wort handelte. Er ritt drei Pferde zu Tode. Beinahe wäre auch er umgekommen, als sich ein Felsbrocken löste und auf der harten Kante eines Kliffes zerschellte. Aber er erreichte sein Ziel. Er rannte die Türe der kleinen, guteingerichteten Klinik ein, packte den Arzt beim Kragen und schnürte ihm fast die Luft ab. »Was ist los?« schrie er mit heiserer Stimme, schmutzbedeckt und übermüdet. »Nichts. Es geht ihnen beiden gut«, antwortete der Arzt, nachdem er sich von dem harten Zugriff befreit hatte. »Eurer Gattin geht es gut, und Eurem Sohn geht es gut. Sie will mit Euch sprechen. Die Schwester wird Euch helfen, Euch zu reinigen, bevor Ihr das Zimmer betretet.« Ungeduldig unterwarf er sich dieser Anordnung. Dann ging er auf Zehenspitzen in Osies Zimmer. Sie küßten sich. Sie lächelte und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich neben sie auf das Bett zu setzen. »Es ist alles gutgegangen. Dein Sohn ist blauäugig und hat blonde Haare wie sein Vater. Er hat eine kräftige Stimme und zeigt jetzt schon einen festen Willen. Er ist ohne Fehler und in jeder Weise vollkommen.« »Ich muß ihn sehen.« »Die Schwester wird ihn bringen. Aber zuerst muß ich dich etwas fragen.« »Alles, was du willst.« »Während meiner Studien auf der Erde las ich auch einiges über die Religion. So, wie ich es verstehe, haben sich die Menschen ihren Gott nach ihrem Ebenbild geschaffen.« »Die schriftliche Überlieferung besagt zwar genau das Gegenteil, aber du hast recht.« »Wenn die Leute also stark und fest genug glauben, daß es einen Gott gibt, dann gibt es auch einen Gott, nicht wahr?« »Man könnte es in diesem Sinne verstehen. Aber wir wollen diese Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Ich kann jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen.« »Ich bin fertig. Und hier ist dein Sohn.« Das Baby war vollkommen, so wie sie es gesagt hatten. Es lächelte und ballte die kleinen Fäuste. Sie hatten ihm nicht gesagt, daß da noch etwas anderes war. Wenige Zentimeter über seinem Kopf schwebte ein Reif aus silbern glänzendem Licht.
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Die Last der Schwerkraft »Aber warum ausgerechnet du?« fragte sie. »Weil es nun einmal zu meinem Beruf gehört.« Er schwang den Rucksack über die Schulter und klinkte den Riemen in die Schlaufe ein. »Ich kann nicht verstehen, warum sich die Männer, die das Rettungsschiff flogen, nicht zuerst ein wenig umgesehen haben. Es wäre doch eine Hilfe für dich, wenn du wüßtest, was dich dort erwartet. Ich finde das nicht fair.« »Es ist fair«, sagte er zu ihr. Er schnallte den Riemen über der linken Schulter ein wenig strammer, um das Gewicht seines Gepäcks besser auszubalancieren. Er hatte es nicht gern, wenn sie hierherkam, aber er konnte es ihr nicht verbieten. Und so erklärte er ihr zum wiederholten Male: »Die Männer, die in den Kontaktschiffen durch den Weltraum fliegen, haben nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, um sich am Leben zu erhalten und gesund zu bleiben. Es ist eine Arbeit für Spezialisten, und nur Männer mit ganz besonderen Voraussetzungen können diesen langen Flug durchstehen. Doch diese Eigenschaften geben ihnen nicht die Befähigung, auf den Planeten zu landen und Forschungen zu betreiben. Sie haben genug damit zu tun, ihre Instrumente zu bedienen, fotografische Aufzeichnungen zu machen und Transmitterschirme an geeigneten Plätzen abzuwerfen. Wenn der Transmitter, dessen Fall durch Rückstoßdüsen gebremst wird, den Boden eines Planeten berührt und ihre Berichte zurücksendet, sind sie schon längst wieder zu einem neuen System unterwegs. Sie haben ihre Arbeit getan. Und nun ist es an mir, die meine zu tun.« »Sind Sie fertig, Spezialist Langli?« fragte ein Mann, der durch die Tür in den Vorbereitungsraum hineinsah. »Sofort«, sagte Langli. Ihm war die Unterbrechung ihrer Unterhaltung durch den anderen nur recht. Doch im gleichen Moment tat ihm diese Gefühlsregung wieder leid. »Moore, das ist übrigens meine Frau Keriza.« »Eine große Ehre, Frau Keriza. Sie müssen sehr stolz auf Ihren Mann sein.« Moore war jung und lächelte während er sprach, so daß man annehmen konnte, daß seine Worte aufrichtig gemeint waren. Er trug ein Mikrophon und Kopfhörer um den Hals und war in ständigem Kontakt mit dem Computer. »Es ist eine Ehre«, sagte Keriza, aber sie konnte es sich nicht versagen, noch hinzuzufügen: »Aber die Freude darüber ist nicht ganz ungetrübt. In ein paar Tagen haben wir unseren ersten Hochzeitstag. Ausgerechnet dann, wenn mein Mann nicht daist.« »Fein«, sagte Moore, die Bitterkeit in ihren Worten übergehend. »Wenn er zurück ist, wird es sicher wieder eine Gelegenheit für eine Feier geben. Kann ich beginnen, Spezialist?« »Ja, bitte.« Langli überzeugte sich davon, daß seine Feldflasche gefüllt war. Keriza zog sich bis zu der Wand des düsteren Raumes zurück, während die beiden Männer die letzten Kontrollen vornahmen und sie dabei ganz
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vergaßen. Der Computer stellte Moore die Fragen, der sie laut in dem gleichen mechanischen Tonfall wiederholte. Beide trugen sie dunkelgrüne Uniformen, die die gleiche Farbe hatten wie die grüngestrichenen Wände des Raumes. Sie verschmolzen fast mit ihrer Umgebung, und Keriza fühlte sich in ihrem orange-silbernen Kostüm hier fehl am Platz. Unwillkürlich wich sie bis zur Tür zurück. Die Kontrollen waren schnell durchgeführt, und der Computer gab sich zufrieden. Weit mehr Zeit verwandten sie auf das Anlegen von Langlis Schutzanzug. Er bestand aus einem Metallharnisch, der seinen Körper wie eine zweite Haut umschloß und so flexibel war, daß er jede seiner Bewegungen mitmachte. Stützschienen vervollständigten seine Uniform, doch sie waren dünn und von der gleichen Farbe wie die übrige Kleidung, so daß sie nicht sehr auffielen. Die atomare Energieversorgung in seinem Rucksack würde für mindestens ein Jahr ausreichen. »Warum mußt du diesen Metallkäfig tragen?« fragte Keriza. »Das hast du doch niemals vorher getan.« Die Männer beachteten sie nicht, und sie mußte ihre Frage wiederholen. »Es ist wegen der Schwerkraft«, erklärte ihr schließlich Langli. »Sie beträgt auf diesem Planeten 2,153 G. Die Rüstung kann das zwar nicht aufheben, aber sie gibt mir Halt und verhindert, daß ich zu schnell ermüde.« »Das hast du mir noch gar nicht erzählt. Tatsächlich hast du mir von diesem Planeten überhaupt nichts erzählt.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Hohe Schwerkraft, kalt und windig. Die Luft ist gut, sie ist getestet worden. Vielleicht ein etwas zu hoher Sauerstoffgehalt, aber durchaus atembar.« »Und die Tiere? Gibt es dort nicht wilde Tiere? Können sie nicht gefährlich für dich werden?« »Wir wissen es noch nicht genau, aber es scheint dort alles durchaus friedlich zu sein. Mach dir deswegen keine Sorgen.« Das war eine Lüge, aber er durfte nicht mehr verraten. Auf diesem neuen Planeten gab es wahrscheinlich menschliche Siedlungen. Eine offizielle Bestätigung dieser Vermutung konnte aber erst nach seinem ersten Berichten erfolgen. »Fertig«, sagte Langli und streifte seine Handschuhe über. »Ich möchte gehen, bevor ich in diesem Anzug zu schwitzen beginne.« »Die Temperatur in dem Anzug wird thermostatisch geregelt, Spezialist Langli. Sie werden sich nicht unbehaglich fühlen.« Er wußte das, aber er wollte so schnell wie möglich fort. Keriza hätte nicht hierherkommen sollen. Ihre Anwesenheit machte ihn nervös. »Der Platz ist hier sehr beengt«, sagte er entschuldigend zu ihr. Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Sobald ich Zeit habe, werde ich dir einen Brief schicken.« Er liebte sie wirklich, aber nicht hier, nicht wenn er zu einer Mission aufbrechen mußte. Die schwere Tür schloß sich hinter ihm und Moore, und er fühlte sich plötzlich erleichtert. Nun konnte er sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Keriza blieb allein zurück, und eine tiefe Traurigkeit
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überkam sie. »Meldung von der Kontrollzentrale«, sagte Moore, als sie den gepanzerten Transmitterraum durch die dicke, dreifache Tür betraten. »Sie wollen hauptsächlich Vegetations- und Bodenproben. Auch Exemplare von anderen Lebensformen. Und Wasser. Aber das ist nur von zweitrangiger Bedeutung.« »Ich werde daran denken«, versprach Langli, und Moore gab diese Antwort durch sein Mikrophon weiter. »Sie wünschen Ihnen einen schnellen Erfolg, Spezialist«, sagte er dann mit mehr Wärme in der Stimme. »Und ich ebenfalls. Es war mir ein großes Vergnügen, daß ich Ihnen assistieren durfte.« Er bedeckte das Mikrophon mit der Hand. »Ich nehme jetzt an einem Spezialistenkurs teil, und ich habe Ihre Berichte gelesen. Ich glaube, daß Sie… ich meine, was Sie getan haben…« Errötend brach er ab. Seine Bemerkung war eine Verletzung der Regel, und er konnte mit einem Tadel rechnen. »Ich weiß, was Sie sagen wollten, Moore, und ich wünsche Ihnen alles Gute.« Langli streckte ihm die Hand entgegen, die der andere nach einigem Zögern ergriff. Obwohl Langli es sich nicht eingestehen wollte, tat ihm dieser unvorhergesehene Zwischenfall sehr wohl. Die kalte Atmosphäre des Transmitterraums mit seinen programmierten Abwehrfallen und Fernsehkameras hatte ihn immer sehr deprimiert. Nicht, daß er unbedingt eine Kapelle und eine Flaggenparade bei seinem Aufbruch zu einer neuen Mission erwartete, aber eine kleine Geste der Menschlichkeit konnte ihn für viele Strapazen entschädigen. »Also, dann auf Wiedersehen«, sagte er, wandte sich dem Transmitter zu und aktivierte die Kontrolle. Das Drahtgitter auf dem Schirm verschwand und machte einer blanken Scheibe Platz, die wie die Oberfläche eines tiefen, dunklen Sees schimmerte. Ohne Zögern trat Langli in sie hinein. Eine unsichtbare Kraft bemächtigte sich seiner, zog ihn vorwärts und schleuderte ihn mit dem Gesicht voraus dem Boden entgegen. Er streckte seine Arme aus, um den Sturz abzuschwächen, und die Sicherheitsschienen schossen aus seinen Ärmeln hervor wie Teleskopbeine, auf denen er sanft aufsetzen konnte. Ohne sie hätte er sich gewiß beide Handgelenke gebrochen. Er blieb zunächst auf allen vieren liegen und rang nach Luft. Durch die plötzliche Kälte brannte sein Mund wie Feuer, und seine Augen begannen zu tränen. Seine Schutzrüstung ließ die eisige Temperatur zum Glück nicht bis zu seinem Körper vordringen. Als er sich etwas erholt hatte, richtete er sich langsam auf und blickte sich um. Ein Mann beobachtete ihn – ein breiter, kräftig gebauter Mann mit einem wallenden, schwarzen Bart. Er war mit Fell und Leder bekleidet und trug einen kurzen Speer, der nicht länger war als sein Unterarm. Erst nachdem er sich bewegt hatte, bemerkte Langli, daß er stand – nicht saß. Er war so untersetzt und breit, daß er verstümmelt erschien. Doch zuerst mußte Langli sich auf etwas Wichtiges konzentrieren: Das Kontrollzentrum mußte seine Proben bekommen. Mit wachsamen Blicken
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auf den bärtigen Mann nahm Langli aus einem Fach an der Seite seines Rucksacks einen Probenbehälter und legte ihn flach auf den Boden. Es war ein sehr fester Boden, der aber mit trockenem Staub bedeckt war. Er brach ein Stück heraus und legte es in die Mitte der roten Plastikscheibe. Zehn Sekunden später, als die Luft auf die Chemikalien eingewirkt hatte, kräuselte sich der Rand der Scheibe und schloß sich fest um die Bodenprobe. Der Mann wechselte den Speer von einer Hand in die andere und beobachtete diese Prozedur mit vor Staunen geweiteten Augen. Langli füllte noch zwei weitere Behälter mit Bodenproben, drei andere mit Gras sowie Zweigen und Laub von einem nahen Gebüsch. Das genügte. Der Transmitterschirm war noch aktiviert, aber nicht eingestellt. Ein Gegenstand, der jetzt in den Transmitter hineinfiele, würde durch die Y-Strahlung zerteilt und in den Bhattacharya-Raum geschleudert. Nur wenn Langli seine Hand auf die Kontrolltafel drückte, wurde der Transmitter programmiert. Niemand außer ihm konnte den Transmitter verwenden. Er berührte die Tafel und schickte die eingesammelten Proben durch den Schirm. Diese Arbeit war getan, und er durfte sich anderen Dingen zuwenden. »Frieden«, sagte er und trat dem anderen Mann mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Frieden!« Langli ging ein paar Schritte auf ihn zu. Der Mann hob seinen Speer, ließ ihn aber sofort wieder sinken, als Langli wieder zu seiner Ausgangsposition zurückkehrte. Sonst erfolgte keine Reaktion. Langli blieb stehen und lächelte. »Das ist ein Wartespiel, nicht wahr? Wollen wir uns nicht ein bißchen unterhalten, während wir uns hier gegenüberstehen?« Er erhielt keine Antwort. Langli war auch nicht auf eine Antwort vorbereitet. »Also, worauf warten wir? Ich nehme an, auf deine Freunde. Das scheint alles gut organisiert zu sein, und ich bin sehr froh darüber. Soviel ich weiß, ist hier in der Nähe eine Siedlung. Deswegen wurde der Transmitter auch hier abgeworfen. Ihr habt ihn entdeckt, wußtet aber nicht, was er bedeutet und habt eine Wache aufgestellt. Bei meiner Ankunft hast du deinen Freunden wahrscheinlich ein Signal gegeben. Ich konnte es nicht sehen, weil ich mit dem Gesicht nach unten landete.« Hinter einem nahen Abhang ertönte plötzlich ein schriller Schrei, kurz darauf ein zweiter, lauterer. Langli blickte in die Richtung und sah ein Knäuel bärtiger Männer auftauchen. Sie hatten alle die gleiche gedrungene Gestalt wie der Mann, der ihn bewachte. Sie zogen ein eigenartiges Gefährt hinter sich her, das auf sechs hölzernen Rädern fuhr. Die ungeölten Achsen verursachten ein schreckliches quietschendes Geräusch. Der Wagen bestand praktisch nur aus einem Holzbrett, auf dem ein Mann saß, in knallrotes Leder gekleidet. Der obere Teil seines Gesichts war hinter einem Visier mit Sehschlitzen verborgen. Ein langer, weißer Bart fiel über seine Brust. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Messer mit dünner Klinge, dessen Spitze er auf Langli gerichtet hielt, als er langsam von seinem Gefährt herunterstieg.
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Er sagte etwas Unverständliches in einer scharfen, rauhen Stimme. »Es tut mir leid, aber ich kann Sie leider nicht verstehen«, sagte Langli. Bei dem Klang dieser Worte schrak der alte Mann zusammen und hätte beinahe seine Waffe fallen lassen. Die anderen Männer duckten sich und richteten ihre Speere auf Langli. Der alte Mann, der offensichtlich ihr Anführer war, schien diese Reaktion nicht zu billigen. Er rief etwas – es mußte ein Befehl sein, denn die Speere wurden wieder gesenkt. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß seine Anordnung befolgt wurde, trat er wieder auf Langli zu und begann zu sprechen, langsam und jedes Wort sorgfältig wählend: »Ich hätte nicht gewußt… nicht gedacht… daß ich diese Worte einmal hören würde. Ich kenne sie nur aus Büchern. Ich habe sie bisher nur gelesen.« Der Akzent war fremdartig und herb, aber die Worte waren klar und verständlich. »Wunderbar. Ich will gern versuchen, auch eure Sprache zu erlernen. Aber vorerst können wir uns in der meinen unterhalten.« »Wer bist du? Was ist es – dieses Ding hier? Er fiel eines Nachts mit lautem Getöse vom Himmel herunter. Wie kommst du hierher?« Langli sprach langsam und deutlich, und es schien, als würde er eine einstudierte Rede halten: »Ich überbringe euch die Grüße meines Volkes. Mit dieser Maschine, die du hier stehen siehst, können wir große Entfernungen in kürzester Zeit zurücklegen. Wir sind nicht von dieser Welt. Wir können euch in vielen Dingen behilflich sein. Wir können Krankheiten heilen und euch Nahrung bringen. Ich bin allein hierhergekommen, und niemand nach mir wird diesen Planeten ohne eure Zustimmung betreten. Ich habe nur ein paar Fragen an euch, die ich euch zu beantworten bitte. Dann bin auch ich gern bereit, auf eure Fragen Antworten zu geben.« Der alte Mann stand mit gespreizten Beinen vor ihm. »Was willst du hier? Was brauchst – was wünscht du wirklich?« »Ich habe Medizin und kann den Kranken helfen. Ich kann Nahrung herbeischaffen. Das einzige, was ich dafür haben will, ist Antwort auf meine Fragen, sonst nichts.« Unter dem wallenden Bart verzog sich der Mund des Alten zu einem Grinsen. »Ich verstehe, wenigstens will ich es versuchen. Komm mit mir.« Er ließ sich wieder auf seinem Karren nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. »Ich bin Bekrnatus. Hast du auch einen Namen?« »Langli. Ich bin glücklich, daß ich euch begleiten darf.« Die kleine Prozession brach auf. Zuerst mußten sie eine kleine Anhöhe überwinden, bis sie in ein schattiges Tal kamen. Langli war bereits sehr müde. Sein Herz und seine Lungen mußten doppelte Arbeit leisten, um gegen die ungewohnte Schwerkraft anzukämpfen. Schon nach einer kurzen Wegstrecke war er erschöpft. »Können wir einen Augenblick Rast machen?« bat er.
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Bekrnatus hob seine Hand und rief einen kurzen Befehl. Die Männer hielten an und ließen sich auf dem Boden nieder. Die meisten von ihnen streckten sich lang in dem hohen Gras aus. Langli griff nach seiner Feldflasche und trank in durstigen Zügen. Bekrnatus beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen. »Möchtest du ein wenig Wasser?« Langli hielt ihm die Feldflasche hin. »Sehr gern«, antwortete der alte Mann, nahm die Flasche und untersuchte sie eingehend, bevor er einen Schluck daraus trank. »Das Wasser hat einen eigenartigen Geschmack. Aus welchem Metall ist dieser – dieser Behälter gemacht?« Langli überlegte. Sollte er diese Frage beantworten? Sie schien sehr harmlos zu sein, aber man konnte nie wissen. Vielleicht sollte er es nicht tun; aber er war viel zu müde, um sich darüber weiter Gedanken zu machen. »Ich nehme an, aus Aluminium oder einer ähnlichen Legierung.« Die bärtigen Männer beobachteten ihn mit unverhohlenem Interesse. Einer von ihnen stand auf und starrte auf die Feldflasche. »Möchtest du auch einen Schluck?« fragte ihn Langli und reichte ihm die Flasche. Bekrnatus rief etwas. Der Mann zögerte, doch dann griff er hastig nach der Flasche. Statt zu trinken, drehte er sich um und wollte fortrennen. Aber er war nicht schnell genug. Langli sah erschrocken und verständnislos zugleich, wie der alte Mann sein langes Messer bis zum Heft in den Rücken des fliehenden Mannes warf. Keiner der anderen rührte sich, als der Mann zusammenbrach. Er lag auf der Seite, mit offenen Augen und blutigem Schaum vor dem Mund. Die Feldflasche entglitt seinen Fingern, Bekrnatus kniete bei ihm nieder, nahm die Flasche weg und zog das Messer mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Körper des Opfers, dessen gebrochene Augen tot ins Leere starrten. »Nimm dieses Wasser-Ding, und komm diesen Leuten nicht zu nahe! Gib ihnen nichts!« »Aber – es war nur Wasser!« »Es war nicht das Wasser. Du hast diesen Mann getötet.« Langli war verwirrt und wollte ihm erklären, daß es wirklich nur klares Wasser war. Doch dann hielt er es für klüger, den Mund zu halten. Er wußte nichts über ihre gesellschaftliche Ordnung und hatte offensichtlich einen Fehler begangen. In gewissem Sinne hatte der alte Mann recht. Er hatte wirklich diesen Mann getötet. Er nahm eine Stimulanstablette und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Der Marsch wurde fortgesetzt. Die Ansiedlung lag in einem Tal, am Fuß eines Kalksteinfelsens. Langli war total erschöpft, als sie dort ankamen. Ohne seine Schutzrüstung hätte er kaum ein Viertel des Weges bewältigen können. Die Ortschaft fügte sich so unauffällig in die Landschaft ein, daß er sie erst bemerkte, als sie bereits zwischen den Häusern waren. Doch konnte man sie kaum Häuser nennen. Es waren eher Wohnhöhlen, neun Zehntel unter der Erde und mit flachen,
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grasbewachsenen Dächern bedeckt. Dünner Rauch stieg aus schornsteinähnlichen Öffnungen empor. Die Prozession hielt nicht an. Sie zog zwischen den halbvergrabenen Behausungen durch und näherte sich dem Kalkfelsen, in den viele Öffnungen hineinführten. Die größeren von ihnen waren mit Türen versehen. Als sie näher herangekommen waren, bemerkte Langli in zwei fensterähnlichen Öffnungen Glas oder ein ähnliches transparentes Material. Er mußte es untersuchen, aber das konnte noch warten. Alles mußte warten, bis er wieder zu Kräften gekommen war. Er blieb stehen und schwankte ein wenig. Bekrnatus ging auf eine Tür zu, die sich bei seinem Näherkommen öffnete. Langli wollte ihm folgen, konnte sich aber nicht mehr auf den Beinen halten und fiel. Für einen kurzen Augenblick empfand er Überraschung, als er den Boden auf sich zukommen sah, bevor er das erste Mal in seinem Leben ohnmächtig wurde. Als er wieder zu sich kam, spürte er warme Luft auf seinem Gesicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Er fühlte nichts als eine tiefe, bleierne Müdigkeit, und jede Bewegung kostete ihn eine große Anstrengung. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und war wie betäubt. Seine Augen mußten sich langsam an das Dämmerlicht in dem Raum gewöhnen. Erst nach geraumer Zeit erkannte er einige schemenhafte Umrisse von Möbeln und anderen undefinierbaren Gegenständen. Ein Fenster war tief in die dicke Felswand eingelassen. Ein schwacher, gelber Lichtschein kam von dem Feuer auf dem Herd. Ein steinerner Feuerplatz und steinerne Wände! Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er mußte sich in einem Raum im Innern des Felsens befinden, den er von außen gesehen hatte. Das Feuer flackerte. Ein leichter, nicht unangenehmer Geruch von Rauch lag in der Luft. Leise, schlurfende Schritte waren zu hören. Er war zu müde, um seinen Kopf zu wenden. Aber er überwand seine unmännliche Faulheit und drehte sich unter Aufbietung all seiner Kräfte in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Das Gesicht eines Mädchens. Lange, blonde Haare; tiefblaue Augen. »Hallo! Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte er. Die Augen weiteten sich erschrocken, und das Gesicht verschwand. Er seufzte und schloß die Augen. Das war eine sehr anstrengende Mission. Vielleicht sollte er eine Stimulanstablette nehmen. In seinem Rucksack… Sein Rucksack! Plötzlich war er hellwach und fuhr in die Höhe. Sie hatten ihm seinen Rucksack weggenommen. Ihn überfiel schreckliche Angst, doch im gleichen Augenblick sah er ihn neben seinem Lager stehen. Das Mädchen kehrte zurück und zwang ihn, sich wieder hinzulegen. Sie war sehr stark, und er wehrte sich nicht. »Ich bin Langli. Wie ist dein Name?« Man hätte sie attraktiv nennen können, wenn ihr Gesicht nicht ein wenig zu eckig gewesen wäre. Ein voller Busen füllte ihr geschmeidiges Lederkleid aus. Das war zweifellos reizvoll, doch leider gab es sonst nichts, was ihn zu ihr hingezogen hätte. Sie hatte viel zu breite Schultern, zu breite Hüften und war für ein Mädchen zu muskulös. Ihre Gestalt unterschied sich nur wenig
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von der der anderen Eingeborenen dieses schweren Planeten. Er bemerkte,
daß sie ihn nicht aus den Augen ließ, während er sie von Kopf bis Fuß
musterte.
»Langli ist mein Name, aber ich glaube, ich werde wohl nie den deinen
erfahren. Der Anführer – wie nannte er sich doch gleich? – , Bekrnatus,
scheint der einzige zu sein, der eine zivilisierte Sprache spricht. Ich muß
wohl erst das Eingeborenengegrunze lernen, bevor ich mich mit euch
unterhalten kann.«
»Nicht nötig«, sagte sie und brach in Gelächter aus, als sie sein erstauntes
Gesicht sah. Ihre Zähne waren weiß und kräftig. »Mein Name ist Patna.
Bekrnatus ist mein Vater.«
»Oh, das freut mich.« Er war sichtlich verwirrt. »Es tut mir leid, wenn ich
unhöflich war. Aber die Schwerkraft auf eurem Planeten ist ein wenig zu
hoch für mich.«
»Was ist Schwerkraft?«
»Das werde ich dir später erklären. Zuerst muß ich mit deinem Vater
sprechen. Ist er hier?«
»Nein, aber er wird bald wieder zurück sein. Er hat heute einen Mann
getötet. Er muß sich nun um die Familie dieses Mannes kümmern. Kann
nicht ich deine Fragen beantworten?«
»Vielleicht.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Gürtel, der das
Tonbandgerät einschaltete. »Wie viele eurer Leute sprechen meine
Sprache?«
»Nur ich. Und Vater natürlich. Denn wir sind DIE FAMILIE und die
anderen sind DIE LEUTE.« Sie wirkte stolz, als sie das sagte.
»Wie viele gibt es von ihnen, ich meine von DEN LEUTEN?«
»Ungefähr sechshundert. Wir hatten einen besseren Winter als sonst. Die
Luft war wärmer als in den anderen Jahren. Natürlich ist mehr von der
gelagerten Nahrung – wie sagt man? – verfault. Aber auch mehr Leute sind
am Leben geblieben.«
»Ist der Winter jetzt vorbei?« Sie lachte.
»Natürlich. Wir haben jetzt die wärmste Jahreszeit.«
Und die glauben, daß das warm ist, dachte er. Wie kalt muß dann erst der
Winter sein! Er schauderte bei dem Gedanken.
»Bitte, erzähl mir mehr über DIE FAMILIE und DIE LEUTE. Was ist da für
ein Unterschied?«
»DIE LEUTE, die sind nur, das ist alles.« Sie stockte. Man merkte ihr an,
daß sie über diese Frage wohl noch nie nachgedacht hatte. »Wir leben hier,
und sie leben dort. Sie arbeiten und tun das, was wir ihnen sagen. Wir haben
das Metall, das Feuer und die Bücher. Das ist auch der Grund, warum wir
deine Sprache sprechen, denn wir lesen, was in diesen Büchern geschrieben
steht.«
»Kann ich diese Bücher sehen?«
»Nein!« Sie erschrak über dieses ungeheuerliche Ansinnen. »Nur DIE
FAMILIE darf sie sehen.«
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»Gut – aber wäre es nicht denkbar, daß ich ein Mitglied DER FAMILIE sein könnte? Ich kann lesen und besitze viele Dinge, die aus Metall gemacht sind.« In diesem Moment fiel ihm der Zwischenfall mit der Feldflasche ein. Sie war aus Metall und aus diesem Grund tabu für DIE LEUTE. »Und ich kann Feuer machen.« Er zog sein Feuerzeug heraus und ließ es klicken. Patna war sichtlich beeindruckt. »Unser Feuer ist nicht so schnell gemacht. Aber – ich bin mir nicht sicher. Vater muß es entscheiden, ob du die Bücher sehen darfst.« Als sie seinen enttäuschten Ausdruck sah, suchte sie nach einem Kompromiß. »Ich habe ein Buch, ein kleines Buch, das Vater mir geschenkt hat. Es ist kein sehr wichtiges Buch.« »Jedes Buch ist wichtig. Kann ich es sehen?« Sie erhob sich zögernd und ging auf eine Tür im Hintergrund des Raumes zu. Sie zog die schweren Riegel zurück und verschwand in der Dunkelheit eines zweiten Raumes – einer tiefen Kaverne, die in den weichen Kalkfelsen geschnitten war. Sie kam schnell zurück und verriegelte die Tür wieder. »Hier«, sagte sie und hielt es ihm hin, »du darfst mein Buch lesen.« Er setzte sich auf und nahm das Buch von ihr in Empfang. Es war mit hartem Leder eingebunden – der Originaleinband mußte schon vor unzähligen Jahren abgenutzt gewesen sein – , und die vergilbten und zerfransten Seiten knisterten, als er es aufschlug. Er blätterte es durch. In dem trüben Licht, das durch das Fenster fiel, konnte er nur mühsam die altertümlichen Schriftzeichen entziffern. Jetzt erst schaute er auf das Titelblatt. »Ausgewählte Gedichte«, las er laut. »Herausgegeben in – ich habe nie von diesem Ort gehört – halt, das ist wichtiger… 785 P. V. Ich glaube, von dieser Zeitrechnung habe ich schon einmal gehört. Einen Moment.« Er legte das Buch vorsichtig beiseite und langte nach seinem Rucksack. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, da die mehr als doppelte Schwerkraft ihn hinunterzog. Das Handbuch lag obenauf. Er hatte bald den gewünschten Abschnitt gefunden. »Ja, hier ist es. Doch ihre Rechnung geht nur bis 913 zurück. Ich muß das in die galaktische Zeit umrechnen…« Er murmelte vor sich hin und machte ein paar Zeichen in die Luft. Dann legte er das Handbuch fort und nahm das andere wieder auf. »Du liebst Gedichte?« »Mehr, als ich sagen kann. Aber ich habe nur diese. In den anderen Büchern stehen keine Gedichte. Doch – ich habe ein paar andere…« Sie senkte verschämt ihren Blick. Langli konnte sich denken, warum. »Diese anderen hast du sicher selbst geschrieben, nicht wahr? Du mußt sie mir einmal zeigen.« Vor der Tür, die nach draußen führte, war ein plötzliches Rumpeln zu hören. Patna entriß ihm hastig das Buch und eilte damit in die dunkelste Ecke des Raumes. Bekrnatus stieß die Tür auf, schlurfte herein, warf seinen Helm zur Seite und
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ließ sich auf ein gepolstertes Sofa fallen, das halb Stuhl, halb Bett war. »Schließ die Tür«, rief er, und Patna beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. »Ich bin müde, Langli. Ich muß schlafen. Sag mir also endlich, was du hier tust und was das alles soll.« »Natürlich, gern. Aber zunächst erlaube mir ein oder zwei Fragen. Das sind Dinge, die ich wissen muß. Was tun die Menschen hier außer schlafen, essen und Nahrung sammeln?« »Diese Frage verstehe ich nicht.« »Ich meine, sie müssen doch irgend etwas tun! Betreiben sie vielleicht Bergbau, schmelzen sie Metall, schnitzen sie, machen sie Dinge aus Ton oder malen sie Bilder?« »Schon gut, ich verstehe, was du meinst. Ich habe viel darüber gelesen. Ich habe Bilder davon gesehen. Sehr schön. Aber als Antwort auf deine Frage muß ich dir sagen: Wir tun nichts. Ich konnte nie verstehen, wie man solche Sachen machen kann. Vielleicht kannst du es mir erzählen, wenn du an der Reihe bist, meine Fragen zu beantworten. Wir leben, das ist schwer genug. Unsere einzige Beschäftigung besteht darin, unsere Nahrung zu pflanzen und zu ernten. Dies ist eine harte Welt, und das Leben allein nimmt unsere ganze Zeit in Anspruch.« Er gab seiner Tochter einen barschen Befehl in der Eingeborenensprache. Sie eilte zu dem Herd und brachte ihm einen rohen Tonkrug, den er an die Lippen setzte und mit durstigen Zügen und schmatzenden Geräuschen leer trank. »Möchtest du auch etwas davon?« fragte er Langli. »Es ist ein Getränk, das wir herstellen. Ich glaube nicht, daß es dafür ein Wort in eurer Sprache gibt. Unsere Frauen kauen Wurzeln und spucken sie in einen Krug.« »Nein, nein, danke.« Langli mußte sich beherrschen, sich seinen Ekel nicht anmerken zu lassen. »Nur noch eine letzte Frage: Weißt du etwas darüber, von wo die Bevölkerung dieses Planeten gekommen ist und wie sie hierherkam?« »Ich weiß, daß wir von einer anderen Welt gekommen sind; aber ich weiß nichts darüber, wie das geschehen ist. Die Geschichte ist nur mündlich überliefert, sie ist nirgends aufgeschrieben. Sie erzählt, daß wir von einem anderen Stern, vom Himmel, gekommen sind. Es muß so sein, denn die Bücher, die ich besitze, sind nicht von dieser Welt, und die Bilder in ihnen zeigen Szenen aus dieser anderen Welt. Von dort stammen auch diese Fenster und das Metall.« »Sind später noch andere nachgekommen? So wie ich? Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen?« »Nein, nichts. Davon steht nichts in den Büchern geschrieben. Und nun, Fremder aus dem Metallkasten, erzählst du mir etwas. Was tust du hier?« Langli legte sich wieder hin und dachte nach, bevor er sprach. »Zuerst muß ich dir erklären, wie ich hierhergekommen bin. Ich kam zwar aus dem Metallkasten, aber auch wiederum nicht. Wenn du nachts zum Himmel aufschaust, siehst du die Sterne. Das sind Sonnen wie die, die hier
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bei euch scheint, nur sehr viel weiter entfernt. Welten umkreisen sie, wie diese Welt hier. Verstehst du, wovon ich spreche?« »Natürlich! Ich bin keiner von DEN LEUTEN. Ich habe über die Astronomie in den Büchern gelesen.« »Gut. Dann solltest du wissen, daß der Metallkasten einen Transmitter enthält, der so etwas Ähnliches ist wie eine Tür. Das heißt, es sind eigentlich zwei Türen. Ich trete, weit weg von hier auf meinem Planeten, durch die eine Tür und komme auf eurem Planeten durch die andere Tür wieder heraus. Und alles geschieht in einem kurzen Augenblick. Verstehst du das?« »Vielleicht.« Bekrnatus kaute nachdenklich auf seinen Lippen herum. »Kannst du auf dem gleichen Weg wieder zurückkehren? Ich meine, wenn du hier in den Kasten hineintrittst, kommst du auf deinem Planeten dort oben am Himmel wieder heraus?« »Ja, so ist es.« »Sind wir auch auf diese Weise auf diesen Planeten gekommen?« »Nein. Ihr kamt mit einem Raumschiff, einem langen Metallkasten, der für die Reise von einem Planeten zu dem anderen gebaut wurde, und zwar lange, bevor Transmitter im Gebrauch waren. Ich weiß das, weil euer Fenster von einem solchen Raumschiff stammt. Wahrscheinlich auch die Metallteile. Und ich weiß auch, wie lange ihr schon hier seid, denn ich fand ein Datum in dem Buch, das mir deine Tochter zeigte.« Er bemerkte, daß Patna vor Schrecken die Luft anhielt und Bekrnatus aus seinem Sofa hochschnellte. Der Tonkrug fiel zu Boden und zerbrach. »Du hast ihm ein Buch gezeigt?« zischte er und wollte sich auf seine Tochter stürzen. »Nein, warte!« rief Langli. Er befürchtete, daß er durch seine Unachtsamkeit wieder einen schweren Fehler begangen hatte. Würde der Mann auch seine Tochter töten? Er griff nach seinem Rucksack. »Es ist meine Schuld, ich habe sie darum gebeten. Aber ich habe auch viele Bücher. Hier, ich werde sie dir zeigen. Ich schenke sie dir – dieses und dieses…« In seinem Zorn achtete Bekrnatus nicht auf Langlis Worte. Erst als dieser ihm die Bücher förmlich aufdrängte, ließ er von seiner Tochter ab. Zögernd griff er nach ihnen, dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. Er rief: »Bücher, Bücher, neue Bücher! Bücher, die ich niemals vorher gesehen habe! Das ist ein wahres Wunder!« Er drückte den Stapel wie einen kostbaren Schatz an seine Brust und sank wieder auf sein Sofa zurück. Eine gute Investition, dachte Langli. Niemals vorher sind technische Handbücher und Wörterbücher höher bewertet worden. »Wenn du willst, kannst du diese Bücher behalten. Und ich kann dir bei der Aufdeckung eurer Geschichte helfen. Euer Volk ist vor ungefähr dreitausend Jahren hierher gekommen. Wahrscheinlich hatte das Raumschiff einen Schaden und mußte hier notlanden, denn anders kann ich mir die Besiedelung dieses Planeten nicht erklären. Zwei Dinge lassen darauf schließen: Dieser Planet ist eine sehr unfreundliche Welt, die wenig zu
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bieten hat. Ich kann mir nicht denken, daß sie für eine Besiedelung ausgewählt wurde. Und dann dieser komplette Bruch mit jeglicher Kultur und allem technischen Wissen. Wenige Bücher nur konntet ihr retten, und das Metall stammt wahrscheinlich von dem Wrack des Raumschiffs. Daß ihr überlebt habt, ist ein kleines Wunder. Die sozialen Klassenunterschiede lassen darauf schließen, daß deine Vorfahren vielleicht Wissenschaftler oder Schiffsoffiziere waren, die vor der gewöhnlichen Mannschaft eine Sonderstellung einnahmen. Und dieser Unterschied hat sich durch all die Jahrhunderte erhalten.« »Ich bin müde«, sagte Bekrnatus. »Und es gibt so viele neue Dinge, über die ich nachdenken muß. Wir wollen uns morgen weiter unterhalten.« Er legte sich zurück und schloß seine Augen. Die Bücher hielt er noch immer umklammert. Auch Langli war müde und von den Anstrengungen sehr erschöpft. Das Licht, das durch das kleine Fenster hereinfiel, nahm langsam ab. Er fragte sich, wie lange der Tag auf diesem Planeten dauerte. Er nahm eine Acht-Stunden-Schlaftablette und spülte sie mit einem Schluck aus seiner Feldflasche hinunter. Nach einem erholsamen Schlaf würde alles ganz anders aussehen. Während der Nacht bemerkte er, daß sich jemand an der Feuerstelle zu schaffen machte. Einmal glaubte er ein Gesicht zu sehen, das sich über ihn beugte. Haare streiften sein Gesicht, und er fühlte, wie sich zwei warme Lippen auf seine Stirn preßten. Aber er war sich nicht sicher. Vielleicht war es nur ein Traum. Es war bereits heller Morgen, als er erwachte. Die Sonne schien direkt in das Fenster herein und ließ die grauen Steinwände in unerwarteten Farben aufleuchten. Bekrnatus’ Sofa war leer. Patna arbeitete an der Feuerstelle, leise vor sich hinsummend. Als er sich ein wenig aufrichtete, knarrte sein Bett, und sie wandte sich zu ihm um. »Oh, du bist schon wach! Hoffentlich hast du gut geschlafen. Mein Vater ist mit seiner Axt zum Holzfällen gegangen.« »Willst du damit sagen, daß er selbst Holz fällt?« Langli gähnte, er fühlte sich noch immer sehr benommen. »Nein, natürlich nicht. Aber die Axt ist aus Metall, deswegen darf nur er sie aufbewahren; er muß dabei sein, wenn sie benützt wird. Dein Frühstück ist fertig.« Sie goß eine schleimige Flüssigkeit in eine Tonschale und brachte sie ihm. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich danke dir. Du bist sehr gastfreundlich. Aber ich kann von eurer Nahrung nichts zu mir nehmen, ohne daß sie von unseren Laboratorien analysiert wurde.« »Glaubst du, ich will dich vergiften?« »Aber nein! Doch in eurem Boden, in euren Pflanzen sind vielleicht Chemikalien, die für euch durchaus bekömmlich sind, für mich aber von tödlicher Wirkung sein könnten. Es riecht wundervoll, aber es könnte mir schaden. Und das willst du doch sicher nicht.« »Nein! Natürlich nicht.« Sie zog die Schale so heftig zurück, daß sie fast
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ihren Händen entglitten wäre. »Was willst du essen?« – »Ich habe meine
eigene Verpflegung bei mir.«
Er öffnete seinen Rucksack und entnahm ihm eine abgepackte
Fertigmahlzeit, die sich selbst erhitzte, wenn man an einer Lasche zog. Er
war hungrig – hungriger, als er es zuerst gedacht hatte – , und er begann das
Konzentrat auszulöffeln, bevor es sich noch vollständig erwärmt hatte. Sein
Körper brauchte Nahrung, um die erhöhte Schwerkraft schadlos zu ertragen.
»Weißt du, was das ist?« fragte Patna und zeigte ihm ein bräunliches,
zerfranstes Fragment von undefinierbarer Herkunft.
»Nein, ich weiß es nicht. Es sieht aus wie Holz oder Rinde.«
»Es ist die innere Rinde eines Baumes. Wir verwenden sie, um darauf zu
schreiben. Aber das ist es nicht, was ich meinte. Ich meinte das, was darauf
ist.«
Langli bemerkte, daß sie rot wurde. Armes Mädchen, dachte er. Eine
Dichterin zwischen Wilden, gefangen auf einer grausamen, isolierten Welt.
»Ich glaube, ich kann es erraten«, sagte er behutsam. »Ist es vielleicht eines
der Gedichte, die du geschrieben hast? Wenn es so ist, möchte ich es gerne
von dir hören.«
Sie bedeckte ihre Augen mit der Hand und wandte sich für einen Moment
ab. Die Karikatur eines scheuen Mädchens in dem Körper eines
Ringkämpfers. Dann bekämpfte sie ihre Hemmungen und begann das
Gedicht zu deklamieren. Zuerst mit zarter Stimme, die aber mit jeder Zeile
lauter wurde:
Ein Kuß von Dir, ein Lächeln nur,
Wie dürft ich’s wagen.
Ich schau Dich an und träume nur,
Niemals darf ich es sagen.
Den Wunsch, so groß er ist,
Muß ich im Herzen fest verschließen.
Und darf mein Sehnen
Nur in den Strom der Zeiten gießen.
Doch wurde heute mir zuteil ein kleines Stück,
Ein Hauch, ein Flüstern nur vom großen Glück.
Ich sah Dich – nur im Traum – und spürte Dich.
Die Luft, die Dich berührte, küßte mich.
Die letzten Worte hatte sie fast hinausgeschrien, dann floh sie in die
hinterste Ecke des Raumes und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Langli
suchte nach den richtigen Worten. Das Gedicht war gut. Ob sie es nun selbst
gemacht oder irgendwo abgeschrieben hatte, konnte er nicht beurteilen. Es
spielte auch keine Rolle. Es sagte das, was sie ihm selbst sagen wollte. »Es
ist wunderschön. Ein wirklich wunderschönes Gedicht.« Plötzlich stürzte sie
quer durch den Raum auf ihn zu, kniete an seinem Lager nieder und schlang
ihre kräftigen Arme um ihn. Ihr Gesicht vergrub sie neben seinem Kopf in
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den Kissen. Seine Wange wurde von ihren Tränen benetzt, und schluchzend stammelte sie: »Ich wußte, daß du kommen würdest. Du bist von weit hergekommen wie der Ritter in den Gedichten, um mich zu retten. Du wußtest, daß ich dich brauche. Mein Vater und ich, wir sind noch die einzigen von DER FAMILIE, und ich muß einen von DEN LEUTEN heiraten. Sie sind schrecklich und dumm. Ich hasse sie. Den Aufgewecktesten von ihnen versuchten wir, das Lesen beizubringen. Doch sie werden es nie lernen, sie sind zu dumm. Du kamst gerade zur rechten Zeit. Du gehörst zu DER FAMILIE. Du wirst mich nehmen.« Ihre Worte erstarben in einem Schluchzer. Ihre Lippen fanden die seinen und küßten sie, fordernd und drängend. Er versuchte, sie bei den Schultern zu packen und fortzuschieben; aber sie hielt ihn wie mit eisernen Ringen umklammert. Endlich ließ sie erschöpft von ihm ab und vergrub ihr Gesicht wieder in dem Kissen. Er stand auf, machte schwankend ein paar Schritte und hielt sich an der Lehne eines Stuhles fest. Als er ein wenig zu Atem gekommen war, versuchte er ihr so schonend wie möglich die Aussichtslosigkeit ihres Ansinnens beizubringen. »Patna, hör mir zu. Du mußt mir glauben. Ich mag dich, du bist ein wunderbares, tüchtiges Mädchen. Aber ich kann nicht bei dir bleiben. Nicht nur, weil ich schon verheiratet bin, sondern auch wegen dieser Welt her, auf der ich nicht leben kann. Du kannst deinen Planeten nicht verlassen, und ich würde sterben, wenn ich hier bliebe. Ihr habt euch im Laufe der Zeit den hiesigen Lebensbedingungen angepaßt. Euer ganzer Lebensrhythmus ist total verschieden von dem meinen. Ihr habt einen wesentlich höheren Blutdruck, und euer Körper hat sich der hohen Schwerkraft dieses Planeten angeglichen. Wir könnten keine Kinder haben. Deine Kinder wären nicht lebensfähig. Sie würden kurz nach der Geburt sterben. Das ist die Wahrheit, das mußt du mir glauben.« »Du bist häßlich, zu mager, zu groß, zu schwach! Sei endlich ruhig!« kreischte sie und schlug nach ihm, ohne ihn dabei anzusehen. Er versuchte ihrem Schlag auszuweichen, konnte es aber nicht, nicht schnell genug. Wie ein Keulenschlag traf ihre Hand seinen Arm. Ein krachendes Geräusch, und dann durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Sie hatte ihm den Arm gebrochen! Er wankte und ließ sich vorsichtig auf dem Stuhl nieder. Sein Unterarm hing lose in dem Gestänge seiner Schutzrüstung. Er legte ihn auf seine Knie und kramte mit der gesunden Hand in seiner Medizintasche. Sie wollte ihm helfen, aber er schnauzte sie an, daß sie erschrocken zurückwich. Er legte einen Schutzverband an und gab sich eine schmerzstillende Spritze, die auch gleichzeitig eine nervenberuhigende Wirkung hatte. Bekrnatus trat mit der Axt über der Schulter in den Raum. »Was ist mit deinem Arm los?« »Ich hatte einen Unfall. Ich muß zu meiner Welt zurückkehren und in ärztliche Behandlung. Deswegen muß ich jetzt mit dir sprechen. Sag mir,
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was du wissen möchtest.« »Ich habe viele Fragen…« »Dazu ist jetzt keine Zeit mehr«, fuhr ihn Langli ungeduldig an, denn er hatte noch immer gräßliche Schmerzen. »Wenn ich genügend Zeit hätte, würde ich dir gerne jede Frage eingehend beantworten. Aber jetzt muß ich es kurz machen und mich auf das Nötigste beschränken. Wenn ihr Hilfe braucht, müßt ihr dafür bezahlen. Ärztliche Betreuung, Nahrung, Energiequellen – mit all dem können wir euch versorgen, aber wir verlangen eine Gegenleistung. Auch die Aufstellung des Transmitterschirms auf einem so fernen Planeten wie der eure war sehr kostspielig.« »Nun gut, ihr habt unseren Dank.« »Dafür kann man sich nichts kaufen!« Der Schmerz war fast vergangen, auch seine Nerven hatten sich etwas beruhigt. Er konnte aber bei jeder Bewegung spüren, wie die gebrochenen Knochen knirschten. »Hör mir zu und versuche dich an das zu erinnern, was ich dir gesagt habe. Der Himmel ist keine Torte, von der man sich ein Stück abschneiden kann. Was du umsonst bekommst, ist nichts wert. Dort draußen im Weltall gibt es mehr Planeten, als du zählen kannst, und auf ihnen leben mehr Menschen, als ich zählen kann. Die Transmitter bringen sie einander nahe – so nahe, wie Nachbarn, die nebeneinander wohnen. Kannst du dir vorstellen, wie sich das im Laufe von Jahrmillionen auf die Kulturen, die Regierungen und die Finanzen auswirken wird? Nein, ich sehe es deinem Gesicht an, daß du das nicht kannst. Versuche wenigstens, ein wenig darüber nachzudenken. In Zukunft wird bestimmt die Form des individuellen Lebens auf einem Planeten einem allumfassenden Zusammenschluß Platz machen müssen. Zusammenarbeit und Zusammenwirken wird für den Fortschritt unumgänglich sein. Kooperation und Korporation. Aber diese Worte wirst du sicher nicht in deinen Büchern finden. Ich gehöre zu denen, die man Welterschließer nennt. Wir erforschen unbewohnte Planeten und ermöglichen den Kontakt mit Welten, wie der euren, die noch nicht an das Transmitternetz angeschlossen sind. Doch für die Leistungen, die wir erbringen, fordern wir angemessene Bezahlung.« Patna hatte sich neben ihren Vater gestellt und ihren Arm auf seine breite, knochige Schulter gelegt. Sie schaute auf Langli, und in ihrem Gesicht konnte er Haß und Verachtung lesen. Bekrnatus, ein Fürst seiner eigenen, kleinen Welt, konnte die Weite des Weltraums außerhalb seines Gesichtskreises nicht begreifen. »Wir wollen gerne für alles bezahlen, aber womit? Wir haben kein Geld und keine der Fähigkeiten und Mittel, nach denen du mich gestern gefragt hast.« »Aber ihr habt euch selbst. Und weil das alles ist, was ihr habt, wird es Generationen dauern, bis ihr eure Schuld beglichen habt. Ihr müßt euch schneller vermehren. Auch dabei können wir euch helfen. Gegen Bezahlung natürlich. Wir haben andere Welten mit hoher Schwerkraft erschlossen, auf denen die Arbeit beaufsichtigt werden muß. Automatische Maschinen können nicht alles tun. Für dort können wir Arbeiter eures Typs
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gebrauchen.« »Du bist hierhergekommen, um uns zu versklaven, um uns unsere Freiheit zu nehmen!« brüllte Bekrnatus. »Du willst freie Menschen zu Arbeitstieren machen! Niemals!« Er griff nach seiner Axt und schwang sie über dem Kopf. Aber Langli war vorbereitet. Er gab einen Schuß aus seinem Gewehr ab, der ein Loch in die Wand hinter Bekrnatus riß. »Du kannst dir vorstellen, was mit dir geschehen wäre, wenn dich dieser Schuß getroffen hätte. Du kannst sicher sein, daß ich dich töten werde, um mein eigenes Leben zu retten. Also sei nicht dumm und setz dich. Ich kann dir deine Freiheit nicht nehmen, denn du bist ohnehin unfrei. Ein Gefangener deiner Welt. Die hohe Schwerkraft dieses Planeten drückt dich nieder. Diese Kraft ist auf anderen Planeten geringer. Wenn du es wirklich willst, werde ich euch jetzt verlassen und den Transmitter versiegeln. Dann ist alles wie vorher, als wäre nichts geschehen. Du hast die Wahl.« Er richtete das Gewehr auf Patna. »öffne mir die Tür!« Bekrnatus stand da, die Axt baumelte wie vergessen in seiner Hand. Die Welt, wie er sie kannte, hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert. Langli warf seinen Rucksack über eine Schulter und ging langsam auf die Tür zu. »Ich werde zurückkommen, und dann könnt ihr mir sagen, wie ihr euch entschieden habt.« Als er schon fast draußen war, rief ihm Patna nach: »Der Transmitter, wann können wir ihn benützen? Ich will die Wunder der anderen Welten sehen!« »Niemals in deinem Leben! Der Gebrauch des Materie-Transmitters wird erst dann gestattet, wenn ihr bereit seid, für alles zu zahlen.« Das mußte er ihr sagen, denn je eher sie der Wahrheit ins Gesicht blickte, desto besser würde sie sich damit abfinden. »Und ihr werdet niemals etwas besitzen. Menschen mit Intelligenz werden gebraucht, nicht nur starke Muskeln. Ihr seid nur der Schoß, dem vielleicht einmal die Intelligenz auf dieser Welt entspringen wird! Vermehrt euch also fleißig!« Er humpelte davon. Als er die Ansiedlung hinter sich gelassen hatte, ließ er seinen Rucksack zu Boden gleiten. Er war zu schwer, um ihn bis zu dem Transmitter zu schleppen. Er zog an dem Auslöser des Zerstörungsmechanismus und setzte seinen Weg ein wenig erleichtert fort, während der Rucksack hinter ihm in Flammen aufging. Eine teure Ausrüstung, aber sie würde mit auf die Rechnung gesetzt, die die Eingeborenen dieser Welt irgendwann einmal anerkennen und zahlen würden. Es blieb ihnen gar keine andere Wahl. In ihrem eigenen Interesse. Nicht so sehr für den Augenblick, aber auf lange Sicht. Die beiden untersetzten Gestalten standen noch immer unter der Tür und schauten ihm nach, bis er ihren Blicken entschwunden war. Was hatten sie erwartet? Almosen? Das Universum hatte keine Almosen zu verschenken. Für alles, was es vergab, mußte bezahlt werden. Das war
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Naturgesetz.
Er hatte seinen Auftrag erledigt, das war alles.
Er hatte seine Pflicht getan.
Hatte er ihnen damit geholfen?
Oder nicht?
Stolpernd und keuchend beeilte er sich, von diesem Planeten fortzukommen.
Vielleicht dauerte es weitere dreitausend Jahre, bis der nächste Kontakt
stattfinden konnte.
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Weder Krieg noch Kampfeslärm… »Soldat Dom Priego – ich töte Sie jetzt!« Sergeant Toth brüllte seine Drohung durch die ganze Länge des Unterkunftsraumes. Dom lag ausgestreckt in seiner Koje und las. Erschrocken sah er auf – gerade in dem Augenblick, in dem der Sergeant mit dem Arm ausholte und ein blitzendes Kampfmesser nach ihm warf. Dom war auf schnelle Reaktionen geschult. Mit einer Reflexbewegung riß er das Buch hoch, das im gleichen Moment von dem Messer getroffen wurde. Die Spitze der Schneide drang durch die Seiten und blieb wenige Zentimeter vor Doms Gesicht stecken. »Sie Rindvieh! Wissen Sie, was mich dieses Buch gekostet hat?« »Und wissen Sie, daß Sie noch am Leben sind?« erkundigte sich der Sergeant und lächelte kalt. Wie ein Raubtier glitt er auf Dom zu und griff nach seinem Messer. »Nein, nicht Sie!« fuhr Dom ihn an und riß das Buch zurück. »Sie haben schon genug Schaden angerichtet!« Vorsichtig zog Dom das Messer aus dem Buch und warf es mit einer plötzlichen Bewegung dem Sergeanten vor die Füße. Toth sprang gerade hoch genug, daß ihn das Messer um Zentimeter verfehlte. »Beherrschung, Dom! Sie sollen Sie niemals verlieren. Ihr Jähzorn wird Sie noch einmal das Leben kosten.« Der Sergeant bückte sich und zog die Waffe aus dem Boden. Als er sich aufrichtete, raschelte es verdächtig in den anderen Betten. Die Männer sahen ihn erwartungsvoll an, bereit, sich bei der erstbesten Gelegenheit auf ihn zu stürzen. Er lachte. »Auf so eine Gelegenheit habt ihr wohl gewartet, was? Aber so leicht werde ich es euch nicht machen!« Er schob das Messer in die Scheide am Gürtel zurück. »Nun?« »Sie sind ein Sadist!« stellte Dom ruhig fest. Er glättete die Seiten des Buches, die von dem Messer zerschnitten worden waren. »Sie lieben es, andere Menschen zu erschrecken und ihnen Angst einzujagen.« »Mag sein«, erwiderte Toth ungerührt. »Aber deshalb bin ich der richtige Mann am richtigen Platz. Ich werde euch schulen und auf Trab halten. Dschulen erhält euch am Leben. Der Tag wird kommen, an dem Sie alle dem Sadisten noch dankbar sind.« »Mit solchen Argumenten können Sie mich kaum überzeugen«, knurrte Dom. »Sie gehören zu jenen Typen, die in diesem Buch beschrieben werden. Sie haben mein Buch beschädigt.« »Nein, Sie! Hätten Sie es nicht als Deckung benutzt, wäre es noch heil. Sie selbst waren allerdings tot. Um sein Leben zu retten, ist jeder Trick erlaubt. Sie haben nur ein Leben. Also sorgen Sie dafür, daß es ein langen Leben ist.«
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»Sehen Sie, hier…« »Bilder von Mädchen?« »Nein, Sergeant, nur Worte, große Worte. Geschrieben von einem großen Mann, dessen Namen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Wilde.« »Doch! Plugger Wylde, Champion im Schwergewicht!« »Nein! Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde! Kein affengesichtiger Boxer, sondern ein Dichter. Er schrieb: >Solange der Krieg das Böse verkörpert, wird er immer seine Faszination behalten. Wird er als vulgäre Handlung entlarvt, verliert er seine Popularität<.« Sergeant Toths Augen verengten sich. »Der macht es sich sehr leicht. Es gibt auch noch andere Gründe für den Krieg.« »Welche?« Der Sergeant wollte etwas sagen, aber seine Stimme wurde von dem anschwellenden Ton einer Sirene verschluckt. Das gellende Heulen drang bis in den letzten Winkel des riesigen Raumschiffs und löste sofort eine fieberhafte Geschäftigkeit aus. Die Mannschaft eilte zu den Gefechtsstationen, und Doms Kameraden, die eben noch in ihren Betten gelegen hatten, sprangen auf die Füße und legten die schweren Raumanzüge an. Noch bevor der Alarm verstummte, war das Schiff klar zum Gefecht. Sergeant Toth lehnte an der Wand der Unterkunft. Sein Helm war mit einem Telefonanschluß verbunden, und die Augen der Männer hingen an seinem Mund, als er den Empfang einer Meldung kurz bestätigte. Dann wandte er sich ihnen wieder zu. Breit grinsend genoß er die spannungsgeladene Stille. »Das ist es!« sagte er dann langsam und jedes Wort betonend. »Endlich kann ich es Ihnen sagen: Die Edinburger werden erwartet! Unsere gesamte Flotte steht in Alarmbereitschaft. Unsere Aufklärer haben soeben Unsere, daß sie aus dem Hyperraum kamen und in zwei Stunden hier sein werden. Wir werden sie abfangen.« Er sah das Leuchten in ihren Augen und tobte: »Jawohl, ihr Grünschnäbel, das ist der richtige Geist! Zeigt es dem Feind!« Sein Gesicht wurde wieder ausdruckslos. »Korporal Steres liegt mit Fieber in der Krankenstation. Wir haben demnach einen Unteroffizier zu wenig. Da wir uns jetzt im Einsatz befinden, bin ich ermächtigt, einen Stellvertreter für ihn zu ernennen, was ich hiermit tue. Soldat Priego, treten Sie vor!« Dom trat einen Schritt vor und nahm Haltung an. »Sie übernehmen die Bombengruppe! Wenn Sie sich bewähren, wird Ihre Beförderung von Dauer sein. Korporal Priego, Sie bleiben hier. Die anderen in den Warteraum – Laufschritt, marsch, marsch!« Er wartete, bis die Soldaten verschwunden waren, dann ging er zu Dom. »Nur noch ein Wort, Priego. Sie sind so gut wie die anderen, vielleicht eine Kleinigkeit besser. Aber Sie denken zuviel an Dinge, die für unseren Beruf unwichtig sind. Hören Sie auf zu denken, kämpfen Sie lieber. Sie werden sonst nie mehr zur Universität zurückkehren können. Zeigen Sie es den Edinburgern, und kommen Sie als dekorierter Korporal zurück. Wenn sie versagen, brauchen Sie mir gar nicht mehr vor
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die Augen zu treten. Verstanden?« »Verstanden!« Doms Gesicht war genauso ausdruckslos wie das des Sergeanten. »Ich bin ein Soldat, und ich werde meine Pflicht tun .« »Tun Sie das. So, und nun ab mit Ihnen…!« Als Folge dieses Gesprächs kam Dom als letzter in den Umkleide- und Warteraum. Die anderen Männer waren schon dabei, ihre Anzüge durchzuprüfen. Das störte ihn nicht. Ruhig und mit aller Sorgfalt legte er seine Kampfrüstung an, verschloß sie und überprüfte alle Funktionen. Er tat es gründlich und bedächtig, denn sein Leben hing davon ab. Erst als sämtliche Kontrollen grünes Licht zeigten, trat er zu den anderen in die geräumige Luftschleuse. Die Pumpen begannen zu arbeiten, und dann öffnete sich geräuschlos die Tür zur Waffenkammer, die ständig unter Vakuum gehalten wurde. Das Licht hier war trüb und würde bald ganz abgeschaltet werden. Dom ging zu seinem Fach und vervollständigte seine todbringende Ausrüstung. Wie alle Angehörigen der Bombengruppe trug er einen leichtgepanzerten Raumanzug und führte nur die wichtigsten Handwaffen mit sich. Der Drillger kam an die linke Hüftseite, wo er ihn schnell erreichen konnte. Der Gropener wurde in die Halfter an der Außenseite des rechten Beines geschoben. Er war seine bevorzugte Waffe. Die Spionageberichte besagten, daß einige der Edinburger noch immer Druckanzüge aus leichtem Stoff verwendeten und Stichverletzungen stets den gewünschten Erfolg erzielten. Aus diesem Grund nahm er auch das Elektromesser mit, obwohl er kaum damit rechnete, es einsetzen zu müssen. All diese Mordinstrumente lagerten seit Monaten im Vakuum mit einer Temperatur in der Nähe des absoluten Nullpunktes. Sie waren wartungsfrei und dafür bestimmt, ausschließlich im Vakuum verwendet zu werden. Ein Helm stieß gegen den Doms. Das war sein Kamerad Wing, dessen Stimme durch das transparente Material übertragen wurde. »Ich bin bereit für eine Bombe, Dom. Würden Sie mir helfen? Übrigens herzlichen Glückwunsch – muß ich Sie jetzt mit Korporal anreden?« »Warten Sie damit, bis wir zurück sind. Auf Toths Versprechungen kann man sich ja doch nicht verlassen.« Er nahm eine der kleinen Bomben aus dem Fach und überprüfte die Kontrollanzeiger. Alles in Ordnung. Vorsichtig klinkte er sie in Wings Gürtel ein. Dann nahm er eine zweite Bombe und ließ sich helfen, sie an seinem eigenen Anzug zu befestigen. Als sie damit fertig waren, näherte sich ihnen ein Mann in schwerer Kampfrüstung. Dom hätte ihn schon an seiner ungewöhnlichen Körpergröße erkannt, auch wenn er das Schildchen mit dem Namen HELMUTZ nicht an seiner Brust getragen hätte. »Was ist los, Helm?« fragte er, als sich ihre Helme berührten. »Der Sergeant schickt mich. Ich soll mich bei Ihnen melden.« Seine Stimme klang verärgert. »Sie sollen mir eine Bombe geben.« »In Ordnung. Und machen Sie sich keine Sorgen, Helm. Sie werden nichts vom eigentlichen Kampf versäumen. Es gibt für jeden von uns genug
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Arbeit.« »Ich bin Soldat!« »Das sind wir alle! Und wir haben auch alle das gleiche Ziel, nämlich die Bomben an den geplanten Einsatzort zu bringen. Das ist jetzt Ihre Aufgabe.« Helmutz schien nicht so sehr von Doms Worten überzeugt zu sein, aber er hielt still, während die Bombe an ihm befestigt wurde. Gleichzeitig knackte es in ihren Kopfhörern. Es war die Kommandozentrale. »Alles bereit? Fertig für Beleuchtungsanpassung?« »Alles bereit!« Das war Sergeant Toths Stimme. »Bombengruppe noch nicht ganz fertig«, sagte Dom und beeilte sich, denn er wußte, daß alles nur noch auf ihn wartete. »So, alles klar!« »Gut, dann Beleuchtungsanpassung – jetzt!« Stufenweise erloschen die Hauptlampen. Nur noch die kleinen roten Kontrollämpchen an der Decke blieben und unterbrachen die absolute Finsternis. Langsam gewöhnten sich die Augen der Männer an ihre Umgebung. Dom tastete sich an der Wand entlang, bis er einen Sauerstoffschlauch gefunden hatte. Er schloß ihn an, um seinen eigenen Luftvorrat zu sparen. In den Kopfhörern war jetzt Musik, die den Soldaten das nervenaufreibende Warten erleichtern sollte. Aber dann kam wieder die Stimme aus der Kommandozentrale: »Hier spricht der Offizier vom Dienst. Ich will versuchen, Ihnen ein Bild von der allgemeinen Lage zu geben. Bevor uns die Edinburger mit ihrer gesamten Flotte angriffen, erklärten sie uns durch ihren Botschafter den Krieg. Wir hätten ihn nur dann vermeiden können, wenn wir die Erde kampflos übergeben hätten. Sie wissen, wie unsere Antwort darauf ausfiel. Die Edinburger haben bereits zwölf von uns besiedelte Planeten überfallen und ihrem Imperium eingegliedert. Sie kriegen den Hals nicht voll und wollen jetzt auch noch die Erde in ihren Besitz bringen. Ihre Vorfahren haben unseren Planeten vor einigen Jahrhunderten verlassen, und wir alle wissen… einen Augenblick! Ich bekomme gerade eine Meldung. Ja, erste Feindberührung unserer Aufklärer!« Es entstand eine kurze Pause, dann fuhr die Stimme fort: »Flottenverbände in der erwarteten Stärke. Mit denen werden wir fertig! Sie scheinen ihre Taktik geändert zu haben. Unsere Computer sind dabei, sie zu analysieren. Die Edinburger waren bekanntlich die ersten, die Invasionen mit Hilfe von Transmittern durchführten. Sie landeten Transportschiffe auf dem zu erobernden Planeten und setzten eine größere Anzahl von Materie-Transmittern ab. Der Überfall erfolgte dann direkt von ihrem Heimatplaneten aus. Diesmal scheinen sie etwas anderes zu planen. Ihre gesamte Flotte wurde zum Schutz eines einzigen Schiffes eingesetzt. Es handelt sich um einen Scout-Träger der Kriegerklasse. Was das bedeutet… ah, da kommt die Analyse des Computers. Der Scout-Träger hat einen riesigen Transmitterschirm an Bord, der zur Erde gebracht werden soll. Wenn das gelingen sollte, können sie ganze Bombengeschwader und Panzer direkt und ohne Verluste absetzen. Der Nachschub wäre gesichert.
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Sie hätten die unfehlbare Methode interstellarer Invasionen eingeführt. Wir aber haben den Weg gefunden, das zu verhindern!« Es entstand eine kurze Pause, und als der Offizier aus der Kommandozentrale weitersprach, hatte sich seine Stimme verändert. Sie klang plötzlich autoritär und befehlsgewohnt. »Ihr, Soldaten, seid die Antwort auf diesen Versuch des Gegners! Die Edinburger haben alles auf eine Karte gesetzt. Nur diese Karte ist es, die ihr stechen müßt! Ihr kommt selbst dort noch durch, wo Schiffe und Waffen keine Chance mehr haben. Ihr seid die Hoffnung der Erde. Ihr Schicksal ist in eure Hände gelegt. Tut eure Pflicht!« Melodramatische Worte, dachte Dom. Aber sie drückten die Wahrheit aus. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihm nicht mehr, denn die ersten Kommandos ertönten. »Sauerstoffzufuhr unterbrechen! Begeben Sie sich in den Abschußraum. Der Reihe nach, wie Sie aufgerufen werden. Sergeant Toth…« Am Eingang zum Abschußraum stand ein Mann, der die Namen auf einer Liste abhakte. Es war wichtig, daß sie in der richtigen und vorgesehenen Reihenfolge antraten. Alles ging reibungslos und glatt, denn die endlosen Übungen und Prüfungen hatten sie auf diesen Augenblick vorbereitet. Der Abschußraum war ihnen bekannt, obwohl sie ihn noch nie zuvor betreten hatten. Ihr Trainingsraum war eine naturgetreue Kopie davon gewesen. Der Mann vor Dom ging nach Backbord, also wandte sich Dom vorschriftsmäßig nach Steuerbord. Er wartete, bis sein Vordermann die Kapsel bestiegen hatte, dann war er selbst an der Reihe. Er schlüpfte in die durchsichtige Plastikhülle, und der Feuerwart half ihm, sich anzuschnallen. Dann war er allein. Es war dunkel, nur ein kleines, rotes Licht schimmerte über ihm an der Decke des Behälters. Als sich die Kapsel in Bewegung setzte, lehnte er sich nach hinten. Er lag halb auf dem Rücken und konnte über sich die Metallringe sehen, durch die der Treibriemen lief. Ein halbes Dutzend Kapseln war vor ihm, und dann erblickte er die eigentliche Kanone – eine Kanone, aus der Menschen abgefeuert wurden. Alle zwei Sekunden verschwand eine Kapsel im Lauf der Kanone. Dom spannte seine Muskeln an, als der Transportmechanismus plötzlich aufhörte zu arbeiten. Er befürchtete schon, daß ein Defekt eingetreten war, aber dann fiel ihm ein, daß der Computer eine Sicherheitsfrist berechnen und programmieren mußte, um der Bombengruppe den Weg frei zu machen. Der Bombengruppe, die er anführte! Das Warten zehrte an seinen Nerven. Tatenlos blickte er durch das schwarze Rohr der Kanone. Inzwischen würde der Computer die Zieleinrichtung mit der Bewegung der Schiffe abstimmen und pausenlos kontrollieren. Einmal im Rohr der Kanone, wurden die Transportringe von den Magnetfeldern nach vorn gerissen und mit irrsinnigen Werten beschleunigt. Mit ihnen die Kapsel, in der er nun lag. Das Vakuum bot kein Hindernis. Das Rohr der Kanone reichte vom Heck bis zum Bug des Schiffes und war somit lang
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genug, ihn entsprechend hoch zu beschleunigen. Wenn er das Rohr verließ, lag er genau auf Kurs. Mit einem Ruck setzte sich die Kapsel erneut in Bewegung. Dom hielt sich fest, als sie in die dunklen Rohrkammer glitt, und dann preßte ihn der plötzliche Andruck fest an die Polster. Er verlor jedes Zeitgefühl, als ihn die Magnetfelder nach vorn rissen – stärker und mächtiger als bei jedem Übungsschuß. Dann verließ er wie ein Geschoß die Mündung der Kanone. Aus dem Andruck wurde Schwerelosigkeit. Er hörte die kleinen Explosionen nicht, mit denen die Kapsel abgesprengt wurde, als er sich losgeschnallt hatte. Der untere Teil der Kapsel jedoch blieb. Sie enthielt den Raketenbremsteil, mit dem er seine Geschwindigkeit dem berechneten Zielobjekt anpassen mußte. Nun war er ganz allein auf sich gestellt, und seine Finger umklammerten die Handgriffe auf dem Triebwerk. Vergeblich versuchte er vor sich in dem Dunkel des Raums die Anzeichen der mit Sicherheit bereits begonnenen Schlacht zu erkennen und war enttäuscht, nichts entdecken zu können. Rechts war ein heller Lichtschein, als brenne dort etwas. Ein Schatten verdeckte die Sterne und glitt langsam vor ihnen dahin. Es war eine Schlacht der Computer und der großen Entfernungen. Man konnte mitten zwischen den riesigen Schiffen schweben, ohne das geringste davon zu merken. Sie waren schwarz und oft Tausende von Kilometern voneinander entfernt. Die ferngelenkten Raketen waren viel zu schnell, als daß man sie mit bloßem Auge hätte entdecken können. Dom wußte, daß der Raum außerdem mit automatischen Störsendern und anderen Geräten angefüllt sein mußte. Doch sie alle blieben für ihn unsichtbar. Selbst ein Ziel, das Schiff des Gegners, konnte er nicht sehen. Wenn er seinen eigenen fünf Sinnen glauben wollte, hielt er sich ganz allein im tödlichen Weltraum auf, bewegungslos und für alle Zeiten vergessen. Aber dann verspürte er plötzlich einen Druck gegen die Fußsohlen. Eine Gaswolke schoß aus einem der Triebwerke und blieb schnell zurück. Nein, er war weder bewegungslos noch vergessen. Der Computer, der über ihn und seinen Flug wachte, hatte eine geringfügige Abweichung vom Kurs entdeckt und sofort korrigiert. Den anderen Soldaten und Mitgliedern der Bombengruppe würde es ähnlich ergehen, ob er sie nun sehen konnte oder nicht. Sie waren alle sogar doppelt unsichtbar, seit die Ringe abgesprengt worden waren. Keiner von ihnen hatte mehr als ein Viertelpfund Metall an sich. Selbst mit Radar konnte man sie nicht mehr orten. Wieder begann das Triebwerk zu arbeiten. Dom bemerkte, daß sich die Sterne über ihm drehten. Seine eigene winzige Radaranlage mußte dicht vor ihm eine größere Masse Materie geortet und dafür gesorgt haben, daß ihn die Steuerdüsen umdrehten. Er flog nun mit den Füßen voran, um ungefährdet landen zu können. Der Hauptcomputer würde in wenigen Sekunden die Flugkontrolle dem kleinen Rechengehirn seines Radars übergeben. An seinen Füßen vorbei konnte Dom einen riesigen schwarzen Schatten sehen,
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der die Sterne verdeckte. Gleichzeitig knackte es in einen Kopfhörern und eine Stimme brüllte überlaut: »Es ist gelaufen – wir sind hungrig!« Dann war wieder Stille. Aber Dom fühlte sich nun nicht mehr allein. Die kurze Meldung bedeutete eine ganze Menge. Zuerst einmal gehörte die Stimme Sergeant Toth. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Zweitens hatte man jetzt Feindberührung, und der Gegner wußte, daß sie da waren. Der Kode der Meldung war einfach, aber keiner außer den eigenen Soldaten erriet seine Bedeutung. Die Vorhut, das besagte die Nachricht, hatte einen Brückenkopf gebildet und hielt ihn. Da im Dunkel des Raums Heck und Bug des feindlichen Schiffes kaum zu unterscheiden war, befand sich dieser Brückenkopf in der Zentralsektion. Dort wartete man auf das Eintreffen der Bombengruppe. Das Rückstoßtriebwerk bremste Doms Flug, dann landete er mit ziemlicher Wucht auf der Metallhülle. Er rollte sich ab, und als er dann nach oben blickte, sah er gegen das blendende Licht der Sonne eine menschliche Gestalt, ein Schattenriß nur, im typischen Schwarz der Edinburger. Dom riß den Gropener aus der Halfter. Eine Gaswolke vernebelte die Sicht, als der Gegner auf ihn schoß. Dom war überrascht, denn er wußte, wie gefährlich es im schwerelosen Raum war, selbst eine rückstoßfreie Energiewaffe anzuwenden. Es gab immer einen gewissen Rückstoß, der den Schützen von den Füßen heben konnte, ganz abgesehen von den sich schnell ausbreitenden Gasen, die Freund und Feind gleichermaßen die Sicht nahmen. Ein erfahrener Kämpfer nutzte solche Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden konnten. Der Gropener ähnelte in seiner Form einem Schwert, nur daß er statt der Schneide ein Sägeblatt besaß. Auf der gegenüberliegenden Seite waren winzige Treibdüsen angebracht, nicht nur das Sägeblatt rasend schnell bewegten, sondern auch zugleich den Besitzer der Waffe nach vorn zogen. Die scharfen Zähne aus Keramik fraßen sich in die leichte Panzerung des Gegners, bis sie das Fleisch des Beins erreichten. Gleichzeitig strömte die Atemluft aus dem Anzug und verwandelte sich in eine kristallne Gaswolke. Der Körper wurde schlaff. Jetzt erst kam Dom auf seine Füße. Die Sohlen seiner Stiefel hafteten sicher auf der Hülle. Nur wenige Sekunden waren seit seiner Landung auf dem Schiff vergangen. Nicht denken, sondern handeln! Disziplin und Training! Eine schwere Energieaxt streifte fast seinen Helm. Sie flog ein Stück weiter, immer noch fest in der Hand des Gegners, den sie mitzog. Handeln, nicht denken! Der neue Gegner kam von links, also von einer anderen Seite, und änderte bereits die Flugrichtung der Axt. Zwei Hände hat ein Mann, und der Drillger hing an seiner linken Seite. Während Dom das dachte, war der Bohrer bereits in Aktion und riß ihn vor, dem Feind entgegen. Das fußlange
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Gestänge, diamanthart und wie irrsinnig rotierend, wobei diese Rotation durch ein Gegengewicht neutralisiert wurde, bohrte sich blitzschnell durch die Panzerung des Edinburgers und dann in dessen Körper. Der Gegner war sofort tot, und die Axt raste, durch ihren eigenen Schwung getrieben, hinaus in den Weltraum. Der Drillger hielt an und drehte sich dann in der entgegengesetzten Richtung. Mühelos konnte Dom ihn aus Körper und Rüstung herausziehen. Er sah sich um. Es war kein anderer Gegner in Sicht. Auch das Gehen war lange geübt worden. Dom sorgte dafür, daß nur seine Zehenspitzen die Hülle berührten, um die Haftkapazität zu verringern. Anders war ein Vorankommen nicht möglich. Vor sich entdeckte er eine Gruppe von dunklen Gestalten, die flach auf der Hülle des Schiffes lagen. Es war unmöglich, sie zu identifizieren. Also gab er das Erkennungszeichen, indem er mit der Hand an seinen Helm griff. Dort hatte man eine Plastikspitze aufgeklebt, während die Edinburger glatte Helme trugen. Dom stieß sich mit den Füßen ab und landete mitten zwischen den Männern. Ehe er von der Hülle zurückgeschleudert werden konnte, schaltete er das Magnetfeld ein, das ihn festhielt. Mit einem Daumendruck veränderte er die Frequenz seines Helmempfängers. Der Wellensalat war vollkommen. Niemand hätte sein eigenes Wort verstehen könne, denn die Sendungen der überall im Raum verteilten Abwehrstationen arbeiteten auf allen Längen. Noch eine Einstellung – und es herrschte Ruhe auf der Frequenz der Bombengruppe. Seine Leute mußten die letzten Anweisungen empfangen haben, sonst hätten sie sich nicht hier versammelt. Toth hatte das angeordnet, und Dom mußte die Gruppe zu ihm bringen. »Quasar! Quasar! Quasar!« rief er in sein Mikrophon, wartete genau zehn Sekunden, erhob sich und schaltete exakt eine Sekunde auf, dann ließ er sich wieder fallen, ehe sie das Ziel eines feindlichen Schützen werden konnte. Die Männer seiner Gruppe kannten das Signal. Einer nach dem anderen kamen sie zu ihm gekrochen. Er zählte sie. Jemand ohne Bombe legte seinen Helm gegen den seinen. »Wieviel?« Das war die Stimme von Toth. »Einer fehlt noch…« »Egal! Wir müssen weiter. Sprengstoff kapseln fertig zur Zündung!« Er war verschwunden, ehe Dom antworten konnte. Aber Toth hatte recht. Wegen eines fehlenden Mannes konnte das ganze Unternehmen nicht aufgeschoben und gefährdet werden. Wenn man sie entdeckte, waren sie verloren. Auf der Hülle spielten sich Einzelkämpfe ab, und lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Edinburger begriffen, daß es sich um ein Ablenkungsmanöver handelte und die Hauptstreitmacht bereits in das Innere des Schiffes vordrang. Die Bombengruppe legte schon ihre Sprengladungen und verteilte sie nach Plan auf der Hülle. Inzwischen eröffnete die Nachhut das Feuer aus rückstoßlosen Maschinengewehren und legte einen Geschoßvorhang um die
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Bombengruppe. Der Computer hatte das alles haargenau berechnet und eingeleitet. Dieser Vorgang war notwendig, denn die beabsichtigte Sprengung würde Gaswolken erzeugen, die alles vernebelten und den Männern jede Sicht nahmen. Sergeant Toth tauchte auf, als Dom kaum noch etwas sehen konnte. Sein halb des Schiffes ab. »Wie hoch sind unsere Verluste?« fragte er. »Fertig! Gehen Sie in Deckung!« »Schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren! Der Gegner hat uns schon geortet! Er wird bald etwas unternehmen.« Die Bombengruppe wich zurück und ging in Deckung. Dom drückte den Zündknopf ein. Flammen und Gas schossen hinaus in den Raum, während sich ihnen die Schiffshülle entgegenzubäumen schien. Durch die Wolke hindurch raste ein scheinbar solides und sofort gefrorenes Stück Luft, verwandelte sich in eine Wolke von Kristallen und breitete sich aus. Das Schiff hatte ein Leck, und wenn weitere abgedichtete Teile gesprengt wurden, verlor es seine gesamte Atmosphäre. Dom und der Sergeant trafen sich am Rand des ausgezackten Loches, das die Sprengladung in die Hülle gerissen hatte. »Hotside! Hotside!« gab Toth das Codewort zum Eindringen in das feindliche Schiff. Gleichzeitig verschwand er in der Finsternis. Dom tauchte hinter ihm her, gefolgt von seinen Männern. Es fehlte noch immer einer von ihnen. Dann folgten die anderen Soldaten, die eigentlichen Kämpfer, während draußen noch immer die computergesteuerten Maschinengewehre auf die Hülle hämmerten, um den schützenden Vorhang aufrechtzuerhalten. Der Raum, in den sie kamen, war ohne Licht. Im Helmscheinwerfer erkannte Dom einen Soldaten neben einer gesprengten Öffnung. »Weiter vorn ist noch ein Sprengloch!« berichtete der Soldat, nachdem er seinen Helm gegen den von Dom gelegt hatte. »Wir versuchten es auf der rechten Seite, aber der Widerstand ist zu groß. Wir halten die Gegner nieder, wenn sie einen Ausfall versuchen!« Dom nickte und führte seine Männer an. In der Schwerelosigkeit war der halbschwebende Lauf die schnellste Fortbewegungsmöglichkeit. Im Korridor brannte die Notbeleuchtung. Rechts und links hatten Detonationen die versiegelten Räume aufgebrochen und die Luft ausströmen lassen. Aus einem dieser Räume quollen plötzlich Gestalten in Raumanzügen und stürzten sich auf sie. Dom ließ den Drillger vorpreschen und benutzte gleichzeitig den Gropener gegen einen zweiten Gegner. Der erste war sofort tot und sank unwirklich langsam zu Boden. Der zweite jedoch konnte seinen Nipoff an Doms Bein ansetzen, ehe er starb. Der Nipoff war veraltet, aber immer noch wirksam, wenn man keine schwere Panzerung trug. Die beiden messerscharfen und gebogenen Klingen schlossen sich um sein Bein, von einem starken Motor angetrieben. Es war
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unmöglich, die tödliche Falle abzuschalten, wenn man sie einmal in Betrieb gesetzt hatte. Man konnte das Gerät nur zerstören. Dom setzte den Gropener hart gegen den Griff des Nipoff. Der Schmerz raubte ihm fast das Bewußtsein; aber er versuchte, den Schwindelanfall niederzukämpfen. Luft entwich aus dem Leck, und mit einer hastigen Bewegung isolierte Dom das Bein vom restlichen Anzug. Der Gropener war endlich durch, und mit einer Stichflamme gab der Nipoff seinen Geist auf. Dom sah auf. Der Kampf war beendet, die Gegner alle tot. Die nachdrängenden Soldaten hatten die Bombengruppe entlastet, und Helmutz hielt noch seine Energieaxt in den Händen. Sie war vom Blut gerötet. Dom schaltete das Radio wieder ein. Keine Störungen waren zu vernehmen. Die interne Kommunikation des Schiffes war außer Gefecht gesetzt und die Metallwände verhinderten alle Funksignale. »Bericht, « sagte er. »Wie viele haben wir verloren?« »Fertig zur Sprengung?« »Sie wurden verletzt«, erwiderte Wing und beugte sich über ihn. »Soll ich das verdammte Ding abziehen?« »Lieber nicht! Die Enden der Klingen berühren sich fast, und Sie würden mir das halbe Bein abschneiden. Außerdem ist das Blut bereits gefroren. Helfen Sie mir lieber auf!« Das Bein wurde steif und schmerzlos. Neues Blut konnte nicht zugeführt werden, und die Luft war durch das Vakuum ersetzt worden. Dom zählte seine Leute. »Wir haben zwei Männer verloren, aber wir sind noch zahlreich genug, um unseren Kampfauftrag durchführen zu können. Gehen wir.« Sergeant Toth erwartete sie bereits an der Ecke des nächsten Korridors, wo ein neuer Durchgang freigesprengt worden war. Er bemerkte Doms verletztes Bein, sagte aber nichts. »Wie sieht es aus?« fragte Dom »Gut, auch wenn wir Verluste haben. Der Feind hat mehr. Die Ingenieure behaupten, daß wir uns jetzt über der Hauptanlage des Schiffes befinden. Also geht es jetzt nach unten weiter. Auf jedem Deck lassen wir ein paar Männer zurück. Vorwärts!« »Und Sie?« »Ich teile die Männer zur Nachhut ein. Sorgen Sie dafür, daß wir Ihnen ungefährdet folgen können! Ich sehe zu, daß wir später eine Rückzugsmöglichkeit haben.« »Also gut…« Dom schwebte schräg nach oben, und als er über dem Sprengloch war, stieß er sich mit dem gesunden Bein von der Decke ab. Er segelte nach unten, von seinen Männern gefolgt. Ein zweites Loch kam und ein drittes, beide genau übereinander. Ohne Aufenthalt sanken sie immer tiefer in das Schiff hinein. Weiter unten detonierte etwas. Rauch quoll ihnen entgegen. Die Vorhut war bei der Arbeit. Helmutz sank an Dom vorbei und überholte ihn. Er hatte sich mit beiden Beinen kräftiger abstoßen können. Weit vor Dom passierte er die
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letzte Öffnung und wurde von einer Geschoßgarbe fast in zwei Teile
geschnitten. Die Wucht der Aufschläge trieb ihn seitwärts davon. Er
entschwand schnell Doms Blicken.
Dom reagierte blitzschnell. Die Düsen des Gropeners zogen ihn zur Seite, so
daß er nicht in die Falle flog.
»Aufteilen!« rief er seinen Leuten zu. »Kampfabteilung, hier unten ist Arbeit
für euch! Das unterste Deck ist vom Feind besetzt! An mir vorbei!«
Er gab ein Handzeichen, damit die herabregnenden Truppen wußten, wer
sprach.
Irgendwo erfolgte eine neue Sprengung. Der Metallboden unter seinen
Füßen vibrierte heftig. Von unten leuchteten die Blitze der Energiewaffen
auf, dann erschien ein Mann mit einem Pickelhelm. Er winkte. Alles klar!
Im untersten Deck versammelten sich die Truppen. Die Kämpfer standen so
dicht, daß sich ihre Schultern berührten.
»Bombengruppe hier!« rief Dom über Radio. »Kann ich eine Lagemeldung
bekommen?« Ein Soldat näherte sich ihm.
»Wir erreichten den Laderaum, wurden jedoch zurückgeschlagen. Sie sind in
der Überzahl. Die Edinburger sind verzweifelt. Sie schicken Männer in
leichten Raumanzügen durch den Transmitter. Die neuen Truppen sind
kaum bewaffnet. Wir könnten sie leicht überwältigen, aber es sind einfach
zu viele. Sie kommen vom Invasionsplaneten, und selbst wenn wir sie alle
töten könnten, würden ihre Leichen uns den Weg verstellen.«
»Sie sind Ingenieur?«
»Ja.«
»Wo ist der MT-Empfänger?«
»Entlang der Wand des Laderaums.«
»Die Kontrollen?«
»Auf der linken Seite.«
»Können Sie uns den Weg dorthin zeigen? Wir müssen so nahe wie möglich
an den Schirm herankommen.«
»Klar, durch den Maschinenraum. Eine Sprengung würde vielleicht
genügen.«
»Also, dann los!« Dom schaltete wieder auf eine andere Frequenz, damit ihn
die Männer hören konnten. »Alle Soldaten .!« Er gab ein Handzeichen,
damit sie ihn sahen. »Mir nach! Wir unternehmen einen Flankenangriff.«
Die Soldaten übernahmen die Spitze, gefolgt von der Bombengruppe. Rechts
und links des Korridors waren luftdicht abgeschlossene Räume. Manchmal
gab es Gegenwehr, aber der Vormarsch war nicht mehr aufzuhalten.
Am Ende des Ganges sah Dom eine schwere Luke. Jemand legte den Helm
gegen den seinen.
»Dahinter ist der Maschinenraum. Die Wände sind extrem dick. Deckung!
Wir werden die achtfache Sprengladung anwenden!«
Sie wichen in die Seitengänge aus und warteten. Als die Explosion erfolgte,
raste eine Stichflamme durch den Hauptkorridor, gefolgt von
kristallisierender Luft. Der Maschinenraum hatte noch unter Druck
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gestanden, und nun wurde er von einer Sekunde zur anderen ein Vakuum. Für die Edinburger kam der Überfall überraschend, und da die meisten von ihnen ihre Helme nicht geschlossen hatten, starben sie sofort. Die anderen griffen nach ihren Waffen, konnten jedoch schnell überwältigt werden. Dom achtete kaum auf den Kampf. Er führte seine Leute und folgte dem Ingenieur. »Die Tür da vorn ist nicht im Plan eingezeichnet!« sagte dieser wütend und zeigte nach vorn. Er tat so, als sei der Spion, der die Pläne übermittelt hatte, daran schuld. »Sie muß später installiert worden sein.« »Wohin führt sie?« »In den Raum mit dem Transmitter. Es gibt gar keine andere Möglichkeit.« Dom faßte einen schnellen Entschluß. »Ich werde versuchen, den Transmitter kampflos zu nehmen. Dazu benötige ich einen Freiwilligen. Wenn wir unser Erkennungszeichen entfernen und Edinburger Uniformen tragen, sollte das möglich sein.« »Ich komme mit Ihnen«, sagte der Ingenieur. »Sie haben eine andere Aufgabe«, lehnte Dom ab. »Ich brauche einen erfahrenen Kämpfer.« »Das bin ich!« behauptete ein Mann und drängte sich vor, indem er die anderen beiseite stieß. »Pimenov ist mein Name! Ich bin der Beste meiner Gruppe. Fragen Sie die anderen.« »Gut, beeilen wir uns.« Die Verkleidung war einfach und primitiv. Die Helmspitzen wurden abgeschlagen und den Toten des Gegners einige Ausrüstungsstücke abgenommen. Jeder oberflächlichen Überprüfung würden sie standhalten. Dreck verwischte außerdem die Namen auf der Brust. »Bleibt dicht hinter uns«, befahl Dom seinen Leuten und den Soldaten. »Kommt, sobald ihr eine Explosion hört und ich die Tür aufgebrochen habe!« Zwischen riesigen Tankbehältern führte ein schmaler Gang weiter nach vorn. Sie sahen eine Tür aus leichtem Metall, die nicht verschlossen war, sich jedoch nicht öffnen ließ. Dom drückte mit aller Kraft dagegen, und dann half ihm Pimenov. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Zu seiner Verblüffung erblickte Dom eine ganze Traube von Männern, die sich gegen die Tür lehnte. Die Männer blickten ihn an, aber sie waren nicht achtsam genug. Nach einer abermaligen Anstrengung wich der Trupp zurück und gab den Eingang frei. Dom fiel gegen einen Edinburger. Ihre Helme berührten sich an den Frontseiten. Der Mann sah ihn wütend an. »Was ist denn mit Ihnen los?« »Hinter uns. kommen sie!« erwiderte Dom geistesgegenwärtig und versuchte das R so zu rollen, wie es die Edinburger taten. »Sie sind keiner von uns!« rief der Mann und hob seine Waffe. Dom wußte, daß er keine Aufmerksamkeit erregen durfte. Aber er mußte den Mann zum Schweigen bringen. Mit der rechten Hand zog er das Elektromesser aus der Scheide und preßte es unauffällig gegen die Seite
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seines Gegners. Die nadelscharfen Spitzen durchdrangen den Anzug und spießten sich in das Fleisch. Im gleichen Augenblick entlud sich die Waffe, und der Strom floß in den Körper des Feindes, der auf der Stelle tot war. Die Leiche blieb in der Menge aufrecht stehen. Trotz seines abgestorbenen Beines spürte Dom, als sie weiter vordrangen, daß die Klingen immer tiefer in sein Fleisch schnitten. Er unterdrückte die Vorstellung seiner Phantasie, wie das Bein später aussehen würde. Als die Edinburger sahen, daß die Tür offen stand, strömten sie hinaus auf den Gang zum Maschinenraum. Die Soldaten der Erde erwarteten sie dort bereits und empfingen sie mit einem Geschoßhagel. Für Dom und den nachfolgenden Pimenov war der Weg zu den Kontrollen des Transmitters plötzlich frei. Sie bewegten sich wie im Traum. Der schwarze Schirm des Transmitters war nur noch zehn Meter entfernt, aber es sah so aus, als könnten sie ihn niemals erreichen. Immer neue Edinburger sprangen aus dem Gerät und versuchten, sich zu orientieren. Sie blockierten ihnen den Weg. An den Hauptkontrollen standen zwei Techniker, ihre Helme mit den Telefonbuchsen verbunden. Pimenovs Helm berührte den Doms. »Ich gehe jetzt vor und mache den Weg frei! Halten Sie sich dicht hinter mir!« Ehe Dom antworten konnte, stürmte der Soldat Pimenov vorwärts. Seine Energieaxt begann zu arbeiten. Mit Bewegungen, denen das Auge kaum zu folgen vermochte, mähte er rechts und links die Edinburger nieder. In dichten Knäueln griffen sie ihn an; aber er wehrte sie alle ab. Dom blieb ihm dicht auf den Fersen. Kurz vor Erreichung ihres Ziels wurde Pimenov regelrecht von seinen Gegnern begraben. Sie schossen und stachen auf ihn ein, als wollten sie ihre ganze Wut an ihm auslassen. Dom konnte ihm nicht helfen, ohne sich selbst zu verraten. Pimenov hatte seine Pflicht getan und war gestorben. Die Sägeschneide des Gropeners fraß sich in das harte Material des MTSchirms, gerade über dem Kopf des einen Technikers. Dom mußte die Waffe mit beiden Händen halten und dann wieder herausziehen, ehe das Gerät ausfiel. Mit einer schnellen Bewegung erledigte er den einen Operateur. Der andere drehte sich um und bekam den Bohrer des Drillgers in den Bauch. Er starb wie sein Kollege – sofort. Jetzt! Dom nahm die Bombe aus der Halterung und stellte sie mit einer schnellen, oft geübten Bewegung auf fünf Sekunden ein. Dann drückte er auf den Zündknopf und riß den Kontrollhebel des Transmitters von EMPFANG herunter auf SENDEN. In der gleichen Sekunde warf er die Bombe in den Schirm. Sie verschwand in dem schwarzen Nichts, das Raum und Entfernung über Lichtjahre hinweg repräsentierte. Dom versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, was mit den Menschen
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geschehen würde, die vor ihrem Transmitter auf dem fernen Planeten warteten, um in den Kampf geworfen zu werden. Er hatte auch jetzt ganz andere Sorgen, denn er mußte selbst am Leben bleiben, bis seine Männer eintrafen. Er duckte sich hinter die Leichen der beiden Techniker, um einige Edinburger abzuwehren, die begriffen hatten, daß etwas nicht nach Plan verlief. Das war nicht schwierig, denn die Neuankömmlinge, die der Transmitter ausspuckte, waren unerfahren im Kampf in der Schwerelosigkeit. Zumindest hatten sie noch keine Zeit gehabt, sich an diesen Zustand zu gewöhnen. Eine große Gestalt bahnte sich den Weg durch die irritierte Menge und schwang die Streitaxt. Sie griff Dom an, der schnell das Radio einschaltete. »Nicht mich! Ich bin Korporal Priego, Bombengruppe! Stellen Sie sich vor mich und sorgen Sie dafür, daß mich keiner mehr angreift. Ich habe etwas anderes zu tun.« Der Soldat erkannte Dom und nickte. Immer mehr Soldaten drängten in den Laderaum und überwältigten die noch lebenden Edinburger. Schließlich erschien auch der Ingenieur, der sich sofort mit den Kontrollen des Transmitters beschäftigte und die Sendefrequenz überprüfte. »Umschalten auf EMPFANG, dann nach Probe auf SENDEN!« sagte er und trat zurück. Auf der anderen Seite empfing jetzt die Tycho-Station auf dem Mond. Der Transmitter dort war kleiner und besaß eine entsprechend geringere Kapazität. Die Grenzen waren schnell markiert, und dann verließen die ersten Soldaten der eigenen Truppe das feindliche Schiff, in erster Linie die Verwundeten. Dom fühlte die nahende Ohnmacht, aber er raffte alle seine Kräfte noch einmal zusammen. Er mußte durchhalten, bis er seinen Auftrag ausgeführt hatte. Vor sich sah er eine bekannte Gestalt. Durch die Schleier vor seinen Augen hindurch konnte er Wing identifizieren. »Wing, wie viele von uns haben es bis hierher geschafft?« »Nur ich, glaube ich.« Nicht an die Toten denken! redete Dom sich ein. Die Überlebenden zählen und der Sieg. Sonst nichts! »Gut. Lassen Sie mir Ihre Bombe hier und verschwinden Sie durch den Schirm. Wir brauchen nur noch diese letzte Bombe.« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern hakte die Bombe mit schnellem Griff aus. Dann gab er Wing einen Stoß, der ihn zum Mond beförderte. Mit einem geschickten Handgriff befestigte Dom die Bombe dann an den Kontrollen des Transmitters. Sergeant Toth erschien und sagte: »Gleich haben wir es geschafft.« »Wir haben es geschafft«, korrigierte Dom ruhig und ließ den Zündknopf herausschnellen. »Dann verschwinden Sie! Ich erledige den Rest…« »Den erledige ich, denn das ist meine Aufgabe!« Toth verzichtete auf jede Widerrede. Er hatte Doms Verwundung erkannt
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und war sich über dessen Zustand im klaren. »Gut. Wieviel Zeit bleibt noch?« »Fünf und sechs. Fünf Sekunden nach der Zündung explodiert die Sprengbombe hier und erledigt die Kontrollen. Genau eine Sekunde später detoniert die Atombombe auf dem Invasionsplaneten der Feinde.« »Wir bleiben zusammen«, entschied Sergeant Toth. Sie warteten, bis auch die letzten ihrer Leute im Schirm verschwunden waren. Dann blieben sie allein mit den Toten und Verwundeten des Gegners zurück. Dom konnte sich kaum noch auf seinem Bein halten. Mit letzter Kraft aktivierte er den Zeitzünder der Bombe. Toth griff ihm unter die Arme und zog ihn in den Transmitter hinein. Das letzte, was Dom noch sah, waren angreifende Edinburger, die ihnen nacheilen wollten. Dann blendete ihn plötzlich das grelle Licht der Sonne auf dem Mond. Die Kräfte verließen ihn endgültig. In Toths Armen verlor er das Bewußtsein. »Wie geht es dem neuen Bein?« fragte Sergeant Toth, der bequem in einem Sessel neben Doms Krankenbett saß. »Ich spüre überhaupt nichts. Die Nerven wurden lahmgelegt, bis alles verwachsen ist.« Dom legte das Buch beiseite, in dem er gelesen hatte. Er fragte sich, was Toth noch von ihm wollte. »Bin gerade hier und besuche unsere Verwundeten«, sagte der Sergeant und beantwortete damit die nicht gestellte Frage. »Es sind noch zwei außer Ihnen. Gruß vom Captain.« »Der ist genauso ein Sadist wie Sie, Sergeant. Haben wir denn die Nase noch immer nicht voll?« »Guter Witz!« Toths Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Ich werde es ihm sagen. Werden Sie uns nun verlassen?« »Warum denn nicht?« Dom wunderte sich selbst, daß die Frage ihm verärgerte. »Ich hatte eine Kampfmission, einen Auftrag, meine Auszeichnung und eine gute Verwundung. Warum sollte ich nicht meine Entlassung einreichen?« »Weil Sie ein ausgezeichneter Kämpfer sind und eine große Karriere vor sich haben!« »So wie Sie, Sergeant? Töten als Lebensaufgabe? Nein, danke! Ich habe andere Pläne, konstruktivere Plane. Ich hasse im Gegensatz zu Ihnen dieses schmutzige Geschäft, den legalisierten Mord.« Er setzte sich aufrecht und sah Toth an. »Ja, das ist es! Kriege, Kämpfe, das alles – es hat nichts mehr mit territorialen Ansprüchen oder gar mit Männlichkeit zu tun. Männer wie Sie, Sergeant, lieben den Krieg seiner erregenden Wirkung wegen. Nichts könnte Ihnen mehr Abwechslung bieten. Ja, Sergeant, Sie lieben den Krieg!« Toth erhob sich und ging zur Tür. »Vielleicht haben Sie recht, Korporal«, gab er zu. »Vielleicht liebe ich den Krieg wirklich. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.« Sein Gesicht war
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immer noch ohne Ausdruck, als er Dom ansah. »Aber vergessen Sie nicht,
daß Sie ihn auch geliebt haben.«
Dom nahm wieder sein Buch zur Hand. Sein Literaturprofessor hatte es ihm
geschickt, zusammen mit einer sehr schmeichelhaften Widmung. Die
Siegesmeldung war in allen Einzelheiten über Radio und Fernsehen
verbreitet worden. Die ganze Schule war stolz auf Dom Priego – na, und so
weiter.
Das Buch war von Milton, Gedichte, gute Literatur. Weder Krieg noch
Kampfeslärm war zu hören auf der Welt…
Wirklich, gute Literatur, aber verlogen. Zu Miltons Zeiten gelogen und auch
heute gelogen. Liebte die Menschheit wirklich den Krieg?
Es mußte so sein, sonst hätte es schon lange keine Kriege mehr gegeben.
Dom wußte, daß er einen schrecklichen und fast verbrecherischen Gedanken
dachte.
Und er selbst?
Liebte er auch den Krieg?
Unsinn, er hatte gekämpft, aber er hatte es nicht gern getan, ganz sicher
nicht!
Es konnte einfach nicht wahr sein, daß er den Krieg liebte!
Er versuchte, weiter in dem Buch zu lesen; aber die Zeilen verschwammen
vor seinen Augen…
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Wächter des Lebens Über dem Gegenstand hatten sich einst Geröll und Schmutz aufgetürmt, so daß er schließlich wie unter einem Steingraben verborgen war. Entweder waren die Steine schlecht zusammengefügt, oder die Jahreszeiten waren besonders unfreundlich, denn jetzt war von dem Grab nur noch eine zusammengefallene Ruine übriggeblieben – ein häßlicher Haufen wahllos verstreuter Steine. Das Geröll und der Schmutz waren von dem Regen der Jahrhunderte fortgewaschen worden. Und so ragte jetzt ein Gegenstand aus einem laubbedeckten Hügel hervor: Ein riesiger Rahmen aus durchlöchertem, von Rost zerfressenem Metall, drei Meter hoch und zweimal so breit, dessen einstiger Verwendungszweck nicht mehr zu erkennen war. In diesem Rahmen war eine Platte aus schieferähnlichem Material. Obwohl sie von Staub und Trümmerresten bedeckt war, schien die harte Oberfläche von dem allgemeinen Verfall verschont geblieben zu sein, denn sie war weder verbeult noch zerkratzt. Rund um dieses Gebilde und den halbverfallenden Steinhaufen erstreckte sich eine büschelige Wiese, an deren Rand verkrüppelte Bäume wuchsen. Durch einen dünnen Nebel waren in der Ferne kahle Hügel zu erkennen, und alles verschmolz in dem diffusen Licht zu der gleichen undefinierbaren Farbe. Von einem erst kürzlich niedergegangenen Hagelschauer zeugten die noch ungeschmolzenen weißen Körner. Ein Vogel mit braunem Rücken und hellgrauer Unterseite pickte eifrig im Gras auf dem Grabhügel. Ein jäher Wechsel erfolgte. In einem Augenblick, der so kurz war, daß man ihn kaum mit der üblichen Zeitrechnung messen konnte, veränderte die metallgerahmte Platte ihre Farbe. Doch konnte man es kaum eine Farbe nennen, denn sie war nun von einem tiefen Schwarz. Gleichzeitig mußte sich die Beschaffenheit ihrer Oberfläche gewandelt haben, denn plötzlich fielen der Staub und die Trümmerreste von ihr ab. Der losgelöste Kokon eines großen Insekts plumpste neben dem Vogel nieder, der erschrocken davonflog. Auf der schwarzen Platte erschien das Bild eines Mannes, der jedoch dreidimensional und lebendig dem Rahmen entstieg, als wäre er nur durch eine Tür getreten. Geduckt schaute er sich um. Er trug einen Raumanzug, an dem verschiedene Geräte angebracht waren, und sein Kopf war von einem durchsichtigen Helm umgeben. In seiner Hand hielt er eine schußbereite Pistole. Mit anhaltender Wachsamkeit richtete er sich langsam auf und sprach in das dicht vor seinen Lippen angebrachte Mikrophon. Ein langes, biegsames Kabel führte von seinem Helm zu der schwarzen Platte, in der es verschwand. »Erster Bericht. Nichts bewegt sich. Niemand zu sehen. Zuerst glaubte ich, einen Vogel bemerkt zu haben, aber ich bin mir nicht sicher. Entweder ist es ein kalter Planet, oder es herrscht gerade Winter. Spärlicher Wuchs von Gras und Bäumen, niedrige Wolken, Schnee – nein, ich denke es ist Hagel – liegt
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auf dem Boden. Alle Instrumente arbeiten gut. Ich werde jetzt nach den Kontrollen sehen. Sie sind unter einem Hügel von Felsen und Erde verborgen. Ich muß sie erst ausgraben.« Nach einem letzten suchenden Blick in die Runde schob er seine Waffe in die Halfter zurück und nahm ein stabartiges Instrument aus seiner Tasche. Er hielt es mit ausgestreckten Armen von sich, betätigte einen Mechanismus und steckte dann den Stab dort in den Boden, wo die rechte Seite des Metallrahmens vergraben war. Das Erdreich begann sich zu bewegen, und eine Staubwolke stieg auf, während Hagelkörner und kleine Steine nach allen Richtungen davonstoben. Knirschend polterten die größeren Steinbrocken zur Seite, als sich der Metallstab unter sie schob. Nach und nach wurde der ganze Rahmen freigelegt. Er schien beschädigt zu sein, denn der Mann bemerkte an einer Stelle ein klaffendes Loch. Er hielt mit seiner Arbeit inne und stieg nach einem neuerlichen, vorsichtigen Rundblick hinab, um sich den Schaden näher anzusehen. »Es scheint sich um vorsätzliche Sabotage zu handeln. Die scharfen Kanten des Loches lassen auf eine starke Explosion schließen. Schaltet die Kontrollen aus und setzt die Schirme außer Betrieb. Ich kann eine neue Einheit anbringen…« Seine Worte endeten abrupt in einem Schmerzensschrei, als ihn der kurze, befiederte Holzpfeil in den Rücken traf. Er sank zu Boden, fuhr trotz der Schmerzen herum und ließ seine Pistole einen unausgesetzten Strom kleiner Geschosse ausspucken, die unerwartet starke Explosionen auslösten, als sie aufprallten. Zwanzig Meter von ihm entfernt entstand ein flammender Feuervorhang, und eine Säule aus Staub und Rauch stieg auf. Plötzlich fühlte er einen Druck auf seiner Brust. Als er seinen Anzug mit den Fingerspitzen abtastete, bemerkte er, daß er zerrissen war. Er schauderte zusammen, als er die harte und blutige Spitze des Pfeils berührte. Mit letzter Kraft versuchte er auf die Füße zu kommen. Stolpernd und halb fallend erreichte er die schwarze Scheibe, durch die er gekommen war. Er tauchte in die Finsternis wie in einen Wassertümpel hinab und war verschwunden. Ein leichter Wind erhob sich und vertrieb den Rauch. Es war wieder so still wie zuvor. Die zerstörte Stadt war ein Ort des Todes. Wie fast immer übertraf die Wirklichkeit selbst die ausschweifendste Phantasie, und es hätte keinen Regisseur gegeben, der seine Kulissen so unbeholfen und scheinbar unsinnig aufgebaut hätte. Unzerstörte Häuser standen zwischen verbrannten. Ein Zugpferd lag tot zwischen den Deichseln eines Wagens. Seine ausgestreckte Nase berührte das Gesicht eines Seuchenopfers, dessen Glieder von wilden Tieren angefressen waren. Andere Körper lagen verstreut umher, und zweifellos waren noch mehr im Innern der Häuser den mitleidigen Blicken der Betrachter dieser schrecklichen Szene entzogen. Ein Arm hing aus einem halbgeöffneten, blinden Fenster und ließ vermuten, was sich noch dahinter befand. Die Projektion war dreidimensional und füllte eine ganze Wand in dem abgedunkelten Auditorium aus. Sie war erschreckend real und wirkte
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schockierend. Und das war beabsichtigt. Die Stimme des Kommentators war nüchtern und leidenschaftslos, ein Kontrapunkt zu den Schrecken der gezeigten Bilder. »Natürlich geschah das alles in den frühen Tagen der Pionierzeit, als unsere Vorhuten noch verstreut waren. Die Meldung wurde empfangen und registriert, aber im Hinblick auf die sich verschlechternde Lage von Lloyd wurden keine weiteren Teams mehr losgeschickt. Nachfolgende Analysen bewiesen, daß Lloyd mit der Bereitstellung eines Gerätes keinen nennenswerten Verlust erlitten hätte, doch die Situation auf dem eben gezeigten Planeten wäre total verändert worden. So aber betrug die Todesrate ziemlich genau 76,32 Prozent der Gesamtbevölkerung.« Das Übertragungsgerät in Jan Dacostas Tasche begann zu summen. Er nahm es heraus, schaltete es ein und hielt es ans Ohr. »Doktor Dacosta, bitte melden Sie sich bei der Instruktions-Zentrale!« Fast wäre Dacosta trotz seiner harten Schulung in den vergangenen Wochen aufgesprungen. Doch er nahm sich zusammen, stand betont langsam auf und verließ das Auditorium, ohne sich seine Ungeduld anmerken zu lassen. Ein paar Leute sahen ihm nach und wandten ihr Interesse wieder dem Lehrfilm zu. Jan hatte schon genug Lehrfilme gesehen. Vielleicht bedeutete dieser Ruf der Instruktions-Zentrale, daß endlich ein Auftrag winkte, und er endlich praktische Arbeit leisten konnte. Das war ihm bedeutend lieber, als noch länger diese Filme anzusehen. Schon seit Tagen hatte er auf einen Aufruf gewartet. Und nun sah es ganz so aus, als würde er einen Auftrag erhalten. Die Gänge waren leer. Er beschleunigte seine Schritte. Als er um eine Ecke bog, sah er vor sich eine humpelnde, ihm bekannte Gestalt. Er beeilte sich, sie einzuholen. »Dr. Toledano!« rief er. Der alte Mann schaute sich um und wartete auf ihn. »Eine Mission«, sagte er, als Jan näher kam. Wenn sie unter sich waren, redeten sie in dem Dialekt ihres gemeinsamen Heimatplaneten, was ihnen lieber war als die hier übliche interplanetarische Sprache, kurz Inter genannt. Der alte Doktor lächelte. Sein dunkles, zerfurchtes Gesicht ähnelte einer verdorrten Pflaume. Ohne zu überlegen, streckte Jan ihm seine Hand entgegen, die der Ältere ergriff und herzlich schüttelte. Toledano war klein. Er reichte Jan kaum bis zur Brust. Aber das Selbstbewußtsein, das von ihm ausging, ließ jeden seine geringe Größe vergessen. »Ich wurde mit der Ausführung dieser Mission betraut«, sagte er. »Vielleicht ist es meine letzte. Ich habe in meinem arbeitsreichen Leben schon viele dieser Art mitgemacht. Ich möchte Sie zu meinem Assistenten ernennen. Drei weitere Ärzte werden uns begleiten, allerdings sind alle älter als Sie. Sie werden nicht viel zu sagen haben und müssen sich unterordnen; aber Sie können dabei eine Menge lernen. Einverstanden?« »Ich kann nicht mehr verlangen, Doktor!« »Also einverstanden.« Dr. Toledano zog seine Hand zurück, auch sein Lächeln erlosch. Die Atmosphäre der Freundschaft machte augenblicklich einer kühlen Nüchternheit Platz. »Es wird eine schwere, nur schlecht
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bezahlte Arbeit sein. Aber Sie werden lernen.« »Das ist alles, was ich mir wünsche, Doktor.« Die Freundschaft wurde also in ihre Schranken verwiesen, bis zu der Zeit, wo sie wieder zu ihrem Recht kommen würde. Sie waren von dem gleichen Planeten, sie hatten gemeinsame Freunde. Doch das hatte absolut nichts mit ihrer beruflichen Arbeit zu tun. Jan hielt sich respektvoll einen Schritt hinter Toledano, als er ihm in die Instruktions-Zentrale folgte, wo sie bereits von den anderen Ärzten erwartet wurden. Sie erhoben sich von ihren Sitzen, als der alte Arzt eintrat. »Behalten Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen Dr. Dacosta vorstellen, der erst kürzlich hier angekommen ist? Er erhält eine feste Anstellung im Stab der NSZ. Da er ein qualifizierter Physiker ist, wird er uns auf unserer Mission als mein persönlicher Assistent begleiten. Er ist mir unterstellt und unterliegt nicht dem allgemeinen Reglement.« Jan wurden nacheinander die anderen Ärzte vorgestellt. »Dr. Dacosta, Sie müssen wissen, daß es sehr wichtige Persönlichkeiten sind. Die ganze Mission läuft darauf hinaus, diese Spezialisten sicher zu dem neuen Planeten zu bringen, damit sie dort ihre Forschungen betreiben können. Ich beginne mit der Dame, Dr. Bucoros, unsere Mikrobiologin.« Dr. Bucoros war grauhaarig und hatte ein eckiges Gesicht. Sie schenkte Jan nur ein kurzes Kopfnicken und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte, denn sie wollte mit ihrer Arbeit fortfahren. »Dr. Oglasiti, Virologe. Sicherlich kennen Sie seine Arbeiten von der Schule her.« Der Mann mit der olivfarbenen Haut lächelte Dacosta herzlich mit einem kurzen Aufblitzen seiner weißen Zähne zu. Neben ihm saß ein großer, hellblonder, ein wenig albinohafter Mann, der Jan zunickte, als er ihm vorgestellt wurde. »Und dies ist Dr. Pidik, Epidemiologe. Von ihm hoffen wir, daß wir seiner Arbeit nicht bedürfen.« Alle, mit Ausnahme der grimmig dreinschauenden Dr. Bucoros, lächelten bei diesem Satz, wurden aber sofort wieder ernst, als Dr. Toledano einen Aktendeckel öffnete und einige Papiere auf den Tisch vor sich hinlegte. Er saß am Kopfende des Konferenztisches, in der Nähe der durchsichtigen Wand, die den Raum unterteilte. »Machen Sie sich auf eine lange Sitzung gefaßt«, sagte Toledano. »Wir haben es mit einer Welt zu tun, von der die Techniker behaupten, sie habe seit fast tausend Jahren keinen außerweltlichen Kontakt mehr gehabt.« Er wartete mit leichtem Stirnrunzeln, bis sich das erstaunte Gemurmel wieder gelegt hatte. »Ein Rekord also. Wir können demnach auf einiges gefaßt sein. Ich möchte, daß Sie sich den Bericht des Kundschafters anhören. Viel mehr Anhaltspunkte haben wir nämlich nicht.« Er drückte auf einen Knopf, der an dem Tisch vor ihm angebracht war. Auf der anderen Seite der durchsichtigen Trennwand öffnete sich eine Tür. Ein Mann kam langsam herein und setzte sich auf einen Stuhl nahe der
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Wand, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Er trug die grüne Uniform der MT-Kundschafter. Sein Kragen war geöffnet, und man konnte darunter einen weißen Verband sehen. Seinen rechten Arm trug er in einer Schlinge. Er wirkte sehr müde. »Ich bin Dr. Toledano, der Leiter der Mission. Dies sind die Ärzte meines Teams. Wir möchten gerne Ihren Bericht hören.« »Kundschafter Starke, Sir.« Durch versteckt angebrachte Mikrophone und Lautsprecher waren seine Worte klar zu verstehen. Diese elektronische Anlage war die einzige Verständigungsmöglichkeit zwischen den beiden Seiten des Raumes – zwischen den beiden absolut voneinander getrennten Abteilungen der NSZZentrale. Starke stand unter dem Verdacht, von ansteckenden Mikroben befallen zu sein. Deswegen war er nun in der Beta-Sektion, der »unreinen« Seite der Zentrale, in Quarantäne. Die »reine«, die Alpha-Seite, war so steril wie nur irgend möglich. »Kundschafter Starke«, sagte Toledano und blickte auf ein Blatt Papier in seiner Hand. »Ich möchte, daß Sie uns erzählen, was Ihnen persönlich auf diesem Planeten widerfahren ist. Der von den Instrumenten aufgezeichnete Bericht besagt, daß der Planet bewohnbar ist. Sauerstoff, Temperatur, Verunreinigung innerhalb der normalen Anpassungsverhältnisse. Können Sie noch etwas hinzufügen? Soviel ich weiß, arbeitete der Transmitter mit dem neuen Y-Rider-Umkehr-Effekt.« »Ja, Sir! Es gibt kaum mehr als ein Dutzend Transmitter, die auf diese Art arbeiten. Aber das Verfahren ist teuer und sehr heikel. Alle anderen Transmitter sind entweder auf den Vereinigten Planeten oder an unbewohnten Plätzen…« »Ich bitte um Entschuldigung«, unterbrach Jan. Er wurde nervös, als er bemerkte, daß ihn die anderen erstaunt ansahen. »Es tut mir leid, aber ich weiß nichts über diesen Y-Rider-Umkehr-Effekt.« »Es steht in Ihrem Instruktions-Handbuch«, antwortete ihm Dr. Toledano mit ausdrucksloser Stimme. »In dem kleingedruckten Teil des Anhangs. Sie hätten es lesen müssen. Es ist eine neue Technik, mit deren Hilfe man einen Transmitter auch dann verwenden kann, wenn seine Kontrollen ausgeschaltet oder unbrauchbar geworden sind.« Jan schaute auf seine Hände hinunter. Die anderen lächelten über ihn, und er konnte es nicht über sich bringen, ihnen ins Gesicht zu blicken. Er glaubte, alle technischen Berichte gelesen zu haben; aber er hatte so wenig Zeit dazu gehabt. »Bitte, fahren Sie fort, Kundschafter.« »Ja, Sir. Der Transmitter war aktiviert und zeigte an, daß der Druck, die Temperatur und die Gravitation auf der anderen Seite unseren Bedürfnissen entsprachen. Also ging ich in den Schirm. Ich wollte den Kontakt so schnell wie möglich herstellen. Eine trostlose Landschaft, kalt – meine Eindrücke stehen in dem Bericht – wie im Winter. Niemand war zu sehen. Der Transmitter war halb vergraben. Es sah so aus, als wäre er einmal ganz
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verdeckt gewesen. Ich stieg zu den Kontrollen hinab und mußte feststellen, daß sie weggesprengt waren.« »Sind Sie dessen sicher?« »Positiv. Typische Explosionsspuren. Dem Bericht liegen Fotografien bei. Ich wollte gerade eine neue Kontroll-Einheit anbringen, als ich von einem Pfeil angeschossen wurde. Ich drehte mich um, konnte aber niemanden sehen, der geschossen haben könnte.« Auf alle weiteren Fragen konnte der Kundschafter keine nennenswerten Informationen mehr geben, und so wurde er entlassen. Toledano stellte einen Plastikblock vor sich auf den Tisch, in dem der nicht sterilisierte Pfeil eingeschlossen war. Sie betrachteten ihn mit großem Interesse. »Das ist ein eigenartiger Pfeil«, sagte Oglasiti. »Er erscheint mir zu kurz.« »Sie haben ganz recht«, antwortete Toledano und deutete auf die Papiere. »Die Abteilung für geschichtliche Forschung kam zu der Auffassung, daß dieser Pfeil nicht von einem gewöhnlich gespannten Bogen abgeschossen wurde, wie wir ihn von unseren sportlichen Veranstaltungen her kennen, sondern wahrscheinlich von einer früheren Variante eines solchen, den man Kreuzbogen nennen könnte. Hier sind Zeichnungen und detaillierte Beschreibungen über die Konstruktion und die Verwendungsmöglichkeiten des Pfeils. Die Form dieses Pfeils nennt man Quarrel. Er ist sehr gut gemacht und sorgfältig ausgewogen. Seine Spitze besteht aus gegossenem Eisen. Wenn dieses Objekt die fortschrittlichste handwerkliche Arbeit der Einheimischen repräsentiert, kann man daraus schließen, daß seine Kultur auf der Stufe des frühen Eisenzeitalters steht.« – »Rückentwickler!« »Genau. Die Auswertung des fotografischen Materials ergab, daß der Transmitter mindestens tausend Jahre alt ist und wahrscheinlich von den eigentlichen Entdeckern des Planeten stammt. In Anbetracht der Kulturstufe können wir annehmen, daß dies der einzige Transmitter auf dem Planeten ist und daß die Verbindung zu der übrigen Galaxis schon bald nach seiner Installierung unterbrochen wurde. Sie sind also Rückentwickler. Ihre Kultur sank bis zu dem Stand ab, auf dem ihnen nur noch die Fähigkeit verblieb, sich selbst zu erhalten. Wir werden wahrscheinlich niemals herausfinden, warum die Transmitterkontrollen zerstört wurden. Dieser Punkt wird für uns rein akademisch bleiben. Tausend Jahre ohne Kontakt – das ist unsere größte Sorge!« »Mutation, Anpassung und Wandlung«, sagte Dr. Bucoros und sprach damit für alle. »Das ist das Problem. Die Leute, die auf diesem Planeten leben, glauben sich erfolgreich angepaßt zu haben. Sie haben sicher ihre Krankheiten und Infektionen, die sie überlebt haben und denen sie Widerstand leisteten, die jedoch für uns tödlich sein können. Aber wahrscheinlich haben sie keine Abwehrkräfte gegen die Krankheiten, die für uns alltäglich sind. Meine Herren – und Dr. Bucoros – , an diesem Punkt möchte ich etwas zu der Geschichte der NSZ sagen. Wenn wir diese Buchstaben gebrauchen, sollten wir niemals deren Bedeutung vergessen: Notfall-Seuchen-Zentrale. Diese
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Organisation wurde anläßlich eines Notfalls ins Leben gerufen, nur zu dem Zweck, weitere Notfälle zu verhindern. Die Seuchenjahre begannen zweihundert Jahre nach der weitverbreiteten Inbetriebnahme von MaterieTransmittern. Einige Versuche wurden gemacht, die Verbreitung von Krankheiten unter Kontrolle zu bringen; aber sie reichten nicht aus. Durch die planetarischen Umwandlungsformen gab es kaum eine Krankheit, die auf die Menschheit eine Wirkung ausübte. Aber unsere eigenen Viren und Bazillen mutierten in den neuen Umgebungen, wo sie ausgesetzt wurden, und entwickelten sich zu einer großen Gefahr. Zuerst waren es die Pocken, die sich schnell zu einer großen Seuche ausbreiteten. Ganze Bevölkerungen wurden ausgerottet. Die NSZ wurde zur Bekämpfung dieser Gefahr gegründet, in Zusammenarbeit und mit der Unterstützung aller planetarischer Regierungen. Nachdem man die Seuchen unter Kontrolle gebracht und die entsetzlichen Verluste verschmerzt hatte, war die hauptsächliche Aufgabe der NSZ, ihren erneuten Ausbruch zu verhüten. Es gibt ständige Mitglieder der NSZ, wie Dr. Dacosta und mich selbst, und uns zugeteilte Spezialisten, wie Sie, die Sie nun mit uns eine Reise im Dienste dieser Sache unternehmen werden. Wir müssen jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme treffen und alles tun, um die Rückkehr der Seuchenjahre zu verhindern. Ich betone alles, und ich meine damit auch alles. Wir sind in erster Linie Seuchenverhüter und erst in zweiter Linie Physiker. Wir schützen die gesamte Galaxis, nicht nur ein einziges Individuum oder einen Planeten. Der sich rückentwickelnde Planet stellt möglicherweise die größte Gefahr dar, der ich in meinen Dienstjahren begegnet bin. Wir müssen alles tun, daß es nur eine Gefahr bleibt und nicht mehr daraus wird. Ich werde nun die Vorbereitungen für diese Operation treffen. Ich danke Ihnen…« Eine Stunde vor Morgendämmerung brach der leichte Panzer durch den Transmitterschirm. Die Transmission verursachte einen lauten Heulton, der die Stille zerriß. Hart setzte der Panzer auf dem Gestein auf und überquerte in tollkühner Fahrt mit aufbrüllendem Motor den zerfurchten Boden. Es herrschte tiefe Finsternis. Der Fahrer suchte den höchsten Punkt der näheren Umgebung zu erreichen. Er saß gelassen vor seinem Kontrollpult, das Gesicht gegen die Sichtblende gepreßt. Infrarotscheinwerfer tasteten das Gebiet vor ihm mit unsichtbaren Strahlen ab, nur für ihn auf einem Spezialschirm klar zu erkennen. Als er den höchsten Punkt der Erhebung erreicht hatte, wendete er das Fahrzeug, um die Gegend nach allen Richtungen hin überblicken zu können. Dann stellte er den Motor ab. »Alles klar zu sehen. Du kannst jetzt das Funkgerät in Betrieb nehmen und den Detektor aufstellen.« Sein Beifahrer nickte und schaltete die Kontrollen ein. Ein Hitzeschild entfaltete sich auf dem Dach des Panzers, um die Strahlung von dem Fahrzeug abzuschirmen. Die Suchantenne begann sich zu drehen. Der Funker wartete, bis das Bild auf dem Schirm klar wurde. Dann schaltete er das Radio ein.
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»Position: Höchster Punkt zweihundert Meter vom Transmitter entfernt. Detektor in Betrieb. Zahlreiche kleine Wärmequellen. Zweifellos tierisches Leben. Dann zwei größere Quellen, ungefähr fünfundneunzig Meter entfernt, die jetzt ihre Position veränderten. Große Tiere oder menschliche Lebewesen. Da sie zusammenbleiben und sich in die gleiche Richtung bewegen, ist anzunehmen, daß es sich um Menschen handelt. Keine anderen Quellen innerhalb unseres Bereiches. Ende der Übertragung.« Ein zweiter Panzer kam aus dem Schirm hervor. Er blieb direkt vor dem Transmitter stehen und übertrug die Mitteilung an den wartenden Konvoi. Dann fuhr er zur Seite, um den übrigen Fahrzeugen, die jetzt auf dem Schirm erschienen, Platz zu machen. Es war ein eindrucksvoller Anblick. Insgesamt vierzehn Fahrzeuge – Aufklärungspanzer, Truppenfahrzeuge, Versorgungslastwagen und Schlepper. Ihre großen Scheinwerfer durchschnitten mit ihren gleißenden Lichtkegeln die Dunkelheit, und der Lärm der Motoren wurde immer lauter. Der Wagen des Kommandanten hatte sich auf dem Hügel neben dem Aufklärungspanzer postiert. Dr. Toledano stand auf einem erhöhten Trittbrett und überblickte die Landschaft. Im Osten wurde es allmählich hell. »Sonst irgend etwas auf dem Detektor zu erkennen?« fragte Jan, der unter ihm saß und das Radiogerät bediente. »Nichts. Die ersten beiden Reflexe auf dem Schirm sind verschwunden.« »Dann werden wir hier anhalten, bis es heller wird. Lassen Sie den Detektor eingeschaltet. Alles soll in Alarmbereitschaft bleiben. Wenn wir ohne Licht fahren können, werden wir die Richtung nehmen, in der die beiden mutmaßlichen Gestalten verschwunden sind.« Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Dämmerung kam mit überraschender Plötzlichkeit – wahrscheinlich waren sie in der Nähe des Äquators – , und die ersten rötlichen Sonnenstrahlen warfen lange Schatten über die Landschaft. »Es geht los«, kommandierte Toledano. »Marschkolonne! Aufklärer zu beiden Seiten und an der Spitze! Ich möchte einige Gefangene haben. Verwendet Gas, ich wünsche keine Verluste!« Jan Dacosta übermittelte die Befehle. Er spürte ein gewissen innerliches Unbehagen. Er war Arzt und Physiker, und die Rolle, die er hier spielte, schien ihm ein wenig abwegig. Diese Mission glich mehr einer militärischen als einer medizinischen Operation. Doch er schob diese Gedanken beiseite. Toledano wußte, was er tat. Das beste für ihn war, aufzupassen und zu lernen. Der Konvoi setzte sich in Bewegung. Innerhalb weniger Minuten kam von den Aufklärungspanzern die Meldung, daß sie eine Ansiedlung entdeckt hätte. Sie hielten an und warteten, bis die anderen aufgeholt hatten. Jan folgte Toledano in den geöffneten Beobachtungsturm, als sie auf dem Grat über dem Tal haltgemacht hatten. »Es ist wie aus einem Geschichtsbuch«, sagte Jan. »Unvergleichlich! Die Kulturanthropologen, Technologen und Historiker
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werden hier ein großes Betätigungsfeld finden, wenn wir erst einmal diesen Planeten ganz erforscht und zugänglich gemacht haben.« Über dem Tal, das sich vor ihren Augen auftat, lag noch der Morgennebel, der von dem sich in sanften Kurven dahinschlängelnden Fluß aufstieg. Da lag, von gepflügten Äckern umgeben, ein Dorf oder eine kleine Stadt. Man konnte die Dächer sehen, über denen sich dünner Rauch kräuselte. Die Häuser waren so dicht aneinandergepreßt, weil die Ansiedlung von einer hohen Steinmauer eingeschlossen war, die mit Türmen, Sehschlitzen und einem verriegelten Tor versehen war. Die Stadt selbst war von einem Wassergraben umgeben. Keine Menschenseele war zu sehen. Und wenn nicht die Rauchfahnen gewesen wären, hätte man annehmen können, es wäre eine tote Stadt. »Verschlossen und versiegelt«, sagte Jan. »Sie haben unser Kommen wahrscheinlich gehört.« »Natürlich. Sonst müßten sie ja taub sein!« Das Radio gab das verabredete Rufsignal. Jan meldete sich. Jemand sagte: »Einer von den flankierenden Aufklärern, Doktor! Sie haben einen Gefangenen.« »Sehr schön. Sie sollen ihn hierherbringen.« Wenige Minuten später tauchte der Wagen auf. Der Gefangene wurde heruntergehoben. Er war auf einer Transportbahre festgeschnallt. Die wartenden Ärzte betrachteten ihn mit unverhohlenem Interesse, als er vor ihnen abgestellt wurde. Der Mann schien Mitte der Fünfzig. Er hatte einen grauen Bart und dünne Haare. Die Gaskapsel hatte ihn in tiefen Schlaf versetzt. Er schnarchte laut mit offenem Mund, in dem man ein paar Zähne sehen konnte, die nur noch schwarze Stümpfe waren. Seine Kleidung bestand aus einem ärmellosen Lederponcho, den er über grobgewebten, wollenen Hosen trug. Seine aus dickem Leder hergestellten kniehohen Stiefel hatten Sohlen aus Holz. Weder seine Kleidung nach seine Stiefel waren besonders sauber, und unter seinem Fingernägeln klebte verhärteter Schmutz. »Nehmen Sie Ihre Proben, bevor er aufwacht«, ordnete Toledano an. Die Ärzte verrichteten ihre Arbeit sachkundig und schnell. Proben von Blut, Haut und Sputum wurden genommen sowie Haar- und Nagelstückchen abgeschnitten. Gemeinsam entledigten sie den Gefangenen von der steifen, dicken Kleidung – eine recht anstrengende Arbeit – und entnahmen ihm Proben vom Rückenmark. Man würde später noch Gelegenheit haben, weitere Proben für die Biopsie zu bekommen; aber das hier war bereits ein guter Anfang. Dr. Bucoros schien sich unbändig zu freuen, als sie auf dem Körper des Gefangenen Läuse fand und es ihr gelang, einige zu fangen. »Ausgezeichnet«, sagte Toledano zufrieden, als die Wissenschaftler zu ihren Laboratorien eilten. »Weckt ihn jetzt auf! Die Sprachtechniker werden sich mit ihm beschäftigen müssen. Wir können nichts erreichen, wenn wir uns mit diesen Leuten nicht verständigen!« Während der Eingeborene eine Injektion erhielt, wurden stämmige Soldaten
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neben ihm postiert. Seine Augenlider begannen zu flattern. Endlich erwachte er. Er schaute sich um, und panisches Entsetzen stand in seinen Augen. »Langsam, langsam«, versuchte der Sprachenspezialist ihn zu beruhigen, während er ein kleines Mikrophon nahm und den Hörer in seinem Ohr anbrachte. Von dem Mikrophon und einer Kontrollbox an der Weste des Technikers führten Kabel zu dem Computer. Der Gefangene hatte sich aufgerichtet und warf wilde, suchende Blicke in alle Richtungen. Begütigend lächelnd, hockte sich der Techniker neben ihm nieder. »Sprich, speak, parla, taller, mluviti, beszelni…« »Jaungoiko!« schrie der Mann und versuchte aufzuspringen. Einer der Soldaten drückte ihn auf die Bahre zurück. »Diabru«, stöhnte er, bedeckte seine Augen mit der Hand und wippte mit dem Körper hin und her. »Sehr gut«, sagte der Spezialist. »Ich habe bereits eine vorläufige Identifizierung. Alle Sprachen sind in verschiedene Gruppen eingeteilt, und jedes Wort von jeder Sprache und jedem Dialekt ist in dem Erinnerungsspeicher des Computers festgehalten. Man braucht nur wenige Worte, um die Gruppe bestimmen zu können. Der Computer faßte diese Worte zusammen und konstruiert daraus ein Schlüsselwort. Hier kommt es schon.« »Nor?« »Zer?« Der Gefangene nahm die Hand von seinen Augen. Er war sichtlich überrascht. »Nor… zu… itz egin.« Nach dieser ersten Unterhaltung ging alles sehr schnell. Je mehr Worte der Gefangene sprach, desto mehr Hinweise erhielt der Computer. Wenn erst einmal die Sprachengruppe feststand und gespeichert war, konnte man sich darauf beschränken, die verschiedenen Kombinationen der einzelnen Worte und Silben und die Abweichungen von der Regel zu bestimmen. Nach einer halben Stunde stand der Spezialist auf und wischte sich den Schmutz von den Knien. »Die Verständigung ist hergestellt, Herr Doktor. Haben Sie schon einmal diese Methode angewandt?« »Die Mark-IV-Methode«, sagte Toledano. »Dieses müßte bereits die sechste sein, denn es hat inzwischen einige Verbesserungen gegeben. Sie brauchen nur auf diesen Aktivierungsknopf zu drücken, wenn Sie eine Übersetzung wünschen. Der Computer spricht zu dem Gefangenen in seiner Sprache. Und alles was er sagt, wird für Sie in unsere Sprache übersetzt.« Toledano nahm den Hörer, während die Soldaten das Mikrophon um den Hals des Gefangenen hängten und den Lautsprecher vor ihm aufstellten. »Wie heißt du?« fragte Toledano. Eine Sekunde nachdem er gesprochen hatte, ertönte die übersetzte Frage aus dem Lautsprecher vor dem Gefangenen, der vor Erstaunen und Schrecken den Mund aufsperrte. Der Arzt wiederholte seine Frage. »Txakur«, stammelte der Mann endlich.
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»Und der Name der Stadt dort unten?« Das Frage- und Antwortspiel wurde fortgesetzt. Einige Fragen konnte der Gefangene nicht beantworten. Entweder aus Unwissenheit oder wegen ungenauer Übersetzung. Wahrscheinlich war das erstere der Fall, denn der Computer vervollkommnete sein Wissen mit jedem Satz, den der Mann sprach. Toledano war mit dem vorläufigen Ergebnis dieses Gesprächs sehr zufrieden. »In fünfzehn Minuten wird das Militär ausrücken«, sagte er zu Jan. »Aber ich möchte, daß ein Zug zum Schutz der Hilfstruppen zurückbleibt. Würden Sie bitte den anderen Ärzten sagen, daß ich sie jetzt zu sehen wünsche!« Einer nach dem anderen erschien, wenn auch nur sehr unwillig, denn sie hätten lieber ihre Versuche fortgesetzt. Aber sie wußten, daß es besser war, der Aufforderung nachzukommen, als zu protestieren. Dr. Toledano wartete, bis sie alle versammelt waren, bevor er begann: »Von dem Gefangenen habe ich einige sehr wertvolle Informationen erhalten. Die Stadt dort unten heißt Uri, ebenso das ganze Land hier. Ich nehme an, daß es ein Stadt-Staat ist, eine primitive politische Einheit. Es gibt noch ein anderes Land, beziehungsweise eine andere Stadt, die Gudaegin genannt wird und anscheinend sehr kriegerisch ist, denn sie hat Uri angegriffen, überfallen und besetzt. Der Gefangene schien vor diesen Leuten Angst zu haben, sie haben viele Arten von Waffen, und sie wissen, daß wir hier sind. Eine Warnung wurde zu der Stadt gesandt, und unser Informant war gerade auf dem Weg dorthin, als er gefangen wurde. Ich werde jetzt in die Stadt gehen und versuchen, mit den Anführern Kontakt aufzunehmen. Wenn sie friedlich gesinnt sind, werde ich Sie rufen. Einstweilen setzen Sie bitte Ihre Arbeit fort, denn ich möchte heute abend einen vorläufigen Bericht darüber haben.« Der kleine Konvoi setzte sich in Bewegung. Ein ausgetretener Weg schlängelte sich durch die Felder, und sie folgten ihm bis zu dem Rand des Wassergrabens. Zwei Reihen dicker Holzpfähle führten vom Ufer zu dem verschlossenen Stadttor. »Beunruhigend«, sagte Toledano, als er durch das Periskop schaute. »Sie haben die Zugbrücke hochgezogen. Wir müssen versuchen, auf einem anderen Weg in die Stadt zu gelangen.« Irgend etwas klatschte vor ihnen auf das Wasser, daß es nur so spritzte. Wenig später war ein ohrenbetäubender Knall auf dem Deck des Panzers zu vernehmen. Durch einen Sehschlitz konnte Jan flüchtig erkennen, daß ein schwarzer Gegenstand auf den Boden prallte. »Es sieht wie ein großer, schwarzer Stein aus.« »Tatsächlich. Wahrscheinlich mit einer starken Schleuder abgeworfen. Also ein Angriff auf uns. Wir müssen vorsichtig sein. Damit sie kein sicheres Ziel haben, werden wir fünfzig Meter zurückfahren und einzeln in Position gehen. Außerdem wollen wir uns den Fluß näher ansehen.« Der Fluß war schlammig und voller Morast. Der Steinhagel setzte aus, als sie zurückwichen, doch dann konzentrierte er sich auf ein einzelnes
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Truppenfahrzeug, das auf den Graben zurumpelte, über den Rand hinwegfuhr und in das Wasser eintauchte. Der Panzer war absolut wasserdicht, wenngleich er jetzt zum erstenmal seine Tauglichkeit als Wasserfahrzeug unter Beweis stellen mußte. Als er ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatte, blieb er stecken und sank langsam ein. Toledano hatte vorsorglich ein starkes Seil an der hinteren Stoßstange des Fahrzeuges befestigen lassen. Deshalb konnte man es ohne Umstände wieder rückwärts aus dem Morast auf den festen Boden ziehen. Auf der Mauer waren nun kleine Gestalten zu erkennen, die hochsprangen und mit den Händen fuchtelten. »Genug der Experimente«, sagte Toledano. »Alle Fahrzeuge vorrücken bis zum Rand des Grabens. Ich will nicht, daß irgend jemand zu Schaden kommt.« »Können wir nicht Schlafgas verwenden?« fragte Jan. »Männer in Schutzanzügen könnten hinüberschwimmen das Terrain sondieren und das Tor öffnen.« »Wir könnten. Aber es würde unnötige Verluste geben. Um alle Personen in Schlaf zu versetzten, müßten wir eine Überdosis verwenden, und das würde eine gewisse Zahl von Einheimischen töten. Sie werden sich schon freiwillig ergeben.« Er sprach in das Mikrophon, und seine übersetzten Worte ertönten verstärkt aus dem Lautsprecher, der auf dem Dach des Fahrzeuges angebracht war. »Ich spreche zu den Gudaeginern in der Stadt von Uri. Wir wollen niemandem etwas antun. Wir wollen mit euch sprechen. Wir wollen eure Freunde sein.« Wieder krachten Steine auf die Dächer der gepanzerten Fahrzeuge, und ein dicker, zwei Meter langer Speer bohrte sich in den Grund neben dem Panzer. »Diese Antwort ist eindeutig. In ihrer Lage würde ich vielleicht das gleiche tun. Wir müssen versuchen, sie davon zu überzeugen, daß wir ihnen wohlgesonnen sind.« Er schaltete wieder das Mikrophon ein. »Zu eurer eigenen Sicherheit rate ich euch, uns nicht daran zu hindern, die Stadt zu betreten. Wenn ihr uns dazu zwingt, müssen wir euch vernichten. Ich bitte euch, den Turm über dem Tor zu verlassen. Wir werden ihn zerstören, um euch die Stärke unserer Waffen zu zeigen.« Toledano wartete einige Minuten, dann gab er dem schweren Panzer seine Kommandos. »Eine Salve! Höchste Explosivität! Der erste Schuß muß ein Treffer sein! Feuer!« Es war ein Volltreffer. Der Turm und eine großer Teil der Mauer zerbarsten durch die Wucht der Explosion. Steinbrocken und Körper flogen durch die Luft und klatschten in den sumpfigen Graben. Jan ballte die Faust. Seine Nägel drangen in das Fleisch seiner Handfläche ein. »Großer Gott, Doktor! Das waren Menschen, Männer! Sie haben sie getötet…« Erschrocken schwieg er, als sich Dr. Toledano umwandte und ihn mit kaltem, zornigem Blick ansah. Der Übersetzer war inzwischen wieder
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eingeschaltet. »Ihr werdet jetzt das Tor öffnen und uns erlauben, die Stadt zu betreten. Winkt mit einer weißen Fahne zum Zeichen, daß ihr einverstanden seid! Wenn ihr das Tor nicht öffnet, werden wir es genauso zerstören wie den Turm.« Die Antwort war ein konzentrierter Angriff auf das Fahrzeug des Kommandanten. Felsbrocken prasselten mit ohrenbetäubendem Lärm auf den gepanzerten Wagen. Seine Insassen wurden unsanft durchgerüttelt. Lange Speere mit Metallspitzen hagelten auf sie hernieder und blieben um sie herum im Boden stecken, so daß sie plötzlich von einem Wald dünner Stämme umgeben waren. »Verwenden Sie die leichte Kanone. Ich will nicht, daß alles zu Schutt und Asche zerfällt. Schießen Sie nur auf das Tor.« Die Kanone spuckte eine Salve nach der anderen aus. Die eisenbeschlagenen Bohlen zerbarsten, und das ganze Tor zerfiel in Trümmer. »Da ist irgend etwas los, Doktor…« »Feuer einstellen!« »Sehen Sie, dort auf der Mauer! Es sieht so aus, als würden sie gegeneinander kämpfen.« So war es. Ein Körper nach dem anderen wurde herunter in den Morast des Grabens gestoßen. Einige Augenblicke später wurde ein großes, graues Laken – ursprünglich war es wohl weiß – entrollt und über die Brüstung der Mauer gehängt. »Das Gefecht ist zu Ende«, sagte Toledano ohne Genugtuung. »Wir werden warten, bis sie die Fallbrücke wiederhergestellt haben, damit wir sicher in die Stadt fahren können. Ich will nicht, daß es noch mehr Tote gibt.« Sein Name war Jostun. Dem Rang nach war er, laut Übersetzung des Computers, so etwas wie ein Dorfältester oder Stadtrat. Er war in mittleren Jahren und fett. Das Schwert, das er in der Hand hielt, war blutig. Er stand in der Mitte des mit Trümmern übersäten Platzes und deutete mit der Schwertspitze auf das gegenüberliegende Haus. »Zerstört es«, rief er. »Brennt es mit eurem Feuer nieder! Die Gudaeginer, unsere Feinde, sollen sterben! Azpi-oyal soll sterben. Ihr seid unsere Retter. Tut es!« »Nein!« antwortete Toledano hart, unmißverständlich auch ohne die Übersetzung des Computers. Er stand dicht vor Jostun. Eine kleine Gestalt, die nur bis zu der Brust des anderen Mannes reichte. Aber seine Autorität war unbestreitbar. »Du wirst dich mit denen dort drüben versöhnen, und zwar sofort!« »Aber wir haben sie für euch bekämpft! Wir haben euch geholfen, die Stadt zu erobern! Wir haben die Eindringlinge mit unserem Angriff überrascht und viele von ihnen getötet! Die Überlebenden haben sich dort verschanzt. Tötet…« »Das Töten ist zu Ende. Die Zeit ist gekommen, Frieden zu schließen. Geh!« Jostun streckte die Hände gen Himmel, als suche er dort Gerechtigkeit, die
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ihm hier versagt wurde. Dann fiel sein Blick wieder auf die wartenden Panzer, und er sackte in sich zusammen. Das Schwert entglitt seiner Hand und fiel klirrend auf das Pflaster. Er ging gebrochen zu den anderen Eingeborenen zurück. Toledano wandte den Lautsprecher in die Richtung des verschlossenen Gebäudes auf der anderen Seite des Platzes. »Ihr habt weder von uns noch von der Bevölkerung dieser Stadt etwas zu befürchten. Ihr wißt, daß ich euch vernichten kann. Doch wenn ihr herauskommt und euch ergebt, verspreche ich euch, daß niemand ein Leid zugefügt wird. Kommt jetzt heraus!« Wie um seine Worte zu unterstreichen, richtete der schwere Panzer die Mündung seines Geschützes auf das Gebäude. Die Bevölkerung von Uri war verschüchtert und wartete in gespannter Schweigsamkeit. Die Tür des Hauses öffnete sich knarrend, und ein Mann trat heraus. Groß, stolz und allein. Er trug einen glänzenden Brustpanzer. Ein Schwert baumelte lose an seiner Seite. »Azpi-oyal!« schrie eine Frau, und gleichzeitig kam Bewegung in die Menge. Irgend jemand drängte sich vor und spannte seinen Kreuzbogen. Aber die Soldaten waren bereit. Eine Gaspatrone zerplatzte über dem Bogenschützen und setzte ihn außer Gefecht. Der abgeschossene Pfeil verfehlte sein Ziel, fiel klirrend auf das Pflaster des Platzes und schlitterte noch ein wenig weiter, fast bis vor die Füße Azpi-oyals, der weiterging, ohne diesen Vorfall zu beachten. Er war ein muskulöser, dunkelhäutiger Mann mit einem langen, schwarzen Bart. Kalt sahen seine Augen unter dem Rand des Helmes hervor. Er trat vor Toledano hin. »Gib mir dein Schwert«, sagte der Doktor. »Warum? Was hast du mit mir und meinen Männern vor? Wir Gudaeginer kennen keine Angst und erwarten einen ehrenvollen Tod.« »Du mußt nicht sterben. Es wird niemandem etwas geschehen. Jeder kann gehen, wohin er will. Wir haben euch den Frieden gebracht, und wir wollen diesen Frieden erhalten.« »Uri war meine Stadt. Als ihr uns angegriffen habt, fanden auch diese Feiglinge den Mut, gegen uns zu rebellieren, und nahmen sie mir wieder fort. Wirst du sie mir wiedergeben?« Toledano lächelte kalt, doch insgeheim bewunderte er die eisernen Nerven dieses Mannes. »Das werde ich nicht tun. Diese Stadt gehört nicht dir. Sie wurde nur den rechtmäßigen Bewohnern zurückgegeben.« »Von wo kommst du, kleiner Mann, und was tust du hier? Willst du das Recht von Gudaegin auf die drei Kontinente bestreiten? Wenn du das tust, wirst du uns alle töten müssen. Diese Stadt ist eine Sache, unser Land eine andere.« »Ich will nichts von dem, was euch gehört. Nichts! Niemand will euch euer Land streitig machen. Wir sind nur hier, um Krankheiten zu heilen, um euch zu zeigen, wie ihr mit anderen Ländern und anderen Welten Kontakt aufnehmen könnt. Wir sind hier, um viele Dinge zu ändern. Aber das nur,
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um sie besser zu machen. Nichts von dem, was euch lieb und wert ist, wird geändert werden.« Azpi-oyal wog sein Schwert in der Hand und dachte nach. Er war kein dummer Mann. »Wir lieben unser Volk und die Stärke unserer Armee. Wir wollen über die drei Kontinente regieren. Willst du uns unsere Eroberungen streitig machen?« »Die vergangenen nicht, aber zukünftige wollen wir verhindern. Wir heilen Krankheiten, und eure Art der Kriegsführung ist auch eine Art Krankheit. Ihr müßt das Töten aufgeben, und bald werdet ihr es nicht mehr vermissen. Gib mir dein Schwert als ersten Schritt auf dem Weg der Verständigung.« Toledano streckte ihm seine winzige, fast kindliche Hand entgegen. Azpi-oyal trat voller Zorn einen Schritt zurück und griff nach seinem Schwert. Die Türme auf den Panzern gaben einen quietschenden Laut von sich, als sie sich drehten und die Geschütze auf ihn richteten. Er schaute haßerfüllt auf die drohenden Mündungen der Kanonen, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. Er warf sein Schwert in die Luft, fing es an der Spitze wieder auf und überreichte es Toledano. »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll oder nicht, kleiner Eroberer. Aber ich möchte noch ein wenig länger leben, um zu sehen, was du mit den drei Kontinenten tun wirst. Sterben kann man immer noch.« Die Schlacht war zu Ende. Vielleicht brach nun eine friedliche Zeit an, in der die Forscher ungestört ihre Versuche und Untersuchungen vornehmen konnten. Tausend Jahre der Isolation waren eine lange Zeit. »Wir müssen endlich anfangen«, sagte Toledano ungeduldig. Er winkte einen Funker zu sich. »Wir haben schon genug Zeit vergeudet. Ladet die übrigen Geräte ab. Wir werden auf diesem Platz eine Basis errichten.« »Die Reihe ist unübersehbar.« Jan schaute aus dem Fenster. »Es müssen hundert oder mehr sein. Anscheinend hat sich das Gerücht verbreitet, daß wir nichts Böses tun und Krankheiten heilen können.« Sie hatten ein großes Lagerhaus nahe beim Stadttor besetzt und eine medizinische Hilfsstation eingerichtet. Zuerst stellten sich viele Freiwillige voller Neugier für die vielen glitzernden und fremdartigen Geräte zur Verfügung, doch dann bekamen sie genug unfreiwillige Patienten aus den Reihen der verwundeten Überlebenden des Gefechts. Die meisten von ihnen waren bereits aufgegeben und erwarteten ihren sicheren Tod. Die Bewohner dieses Planeten hatten nur sehr unvollkommene Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin. Zwar wußten sie, wie man gebrochene Knochen behandelte, wie man kleine Wunden vernähte und Amputationen ausführte. Auch der Begriff der Antisepsis hatte sich durch die vergangenen Jahrhunderte erhalten. Sie verwandten Alkohol zur Desinfektion und kochten Bandagen und Instrumente aus. Aber sie hatten keine Möglichkeit, Infektionen zu behandeln. So war bei schweren Schnitt- und Stichverletzungen der Tod die unausbleibliche Folge.
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Das hatten die Ärzte geändert. Keiner ihrer Patienten starb. Sie heilten Verwundungen am Unterleib, reparierten zerquetschte Glieder und Schädel, kurierten Verbrennungen und schwere Infektionen und nähten einen abgerissenen Arm wieder an. Dieser letzte Fall erschien den Bewohnern der Stadt wie ein wahres Wunder, und sie strömten zu der Behandlung mit fast religiösem Enthusiasmus. »Ein Rückgang, ein absoluter Rückgang«, sagte Dr. Pidik, während er einer Patientin, einem furchtsamen Mädchen, eine Injektion gab. »Zuerst die Kriege, die jede Entwicklung hemmten. Die Medizin blieb hinter dem Stand des übrigen Fortschritts weit zurück. Sie haben Ingenieure, Mechaniker und Baumeister; aber keine richtigen Ärzte. Haben Sie diese Wurfmaschine gesehen? Den Drucktank und die vielen Kilometer von Rohrleitungen? Diese dampfbetriebene Maschine, die Steinbrocken auf die Panzer herunterfallen ließ? Warum können sie nicht einen minimalen Anteil ihrer Energie auf die Heilkunst verwenden?« Der hochgewachsene Epidemiologe neigte seinen blonden Kopf. Vorsichtig entfernte er totes Gewebe und wusch die Wunde an dem monströs angeschwollenen Fuß des Mädchens aus. Der Arzt hatte eine örtliche Betäubung vorgenommen, so daß das Mädchen keinen Schmerz empfand, aber es beobachtete entsetzt, was man mit ihm machte. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte Jan. »Ich glaube auch nicht, daß in unseren Lehrbüchern etwas darüber steht.« »Das ist eine der Krankheiten, der man keine Beachtung mehr schenkt. In älteren Texten kann man vielleicht noch eine Erwähnung finden. Im Rückblick auf die frühe Geschichte der Galaxis können Sie viele Dinge dieser Art sehen. Es ist Maduromycosis. Zuerst entsteht eine gewöhnliche, eiternde Wunde, durch die aber Pilzsporen tief in das Fleisch verpflanzt werden. Bei unsachgemäßer Behandlung ist nach einigen Jahren das, was Sie hier sehen, das Resultat.« »Das hier habe ich aber bereits schon einmal gesehen«, sagte Jan. Vor ihm lag ein Mann, der ihn verwundert anstarrte. Jan nahm dessen Hand, versetzte sie in eine kreisende Bewegung und ließ sie dann los. Die rotierende Bewegung der Hand setzte sich automatisch fort, als hätte man eine Maschine in Gang gesetzt. »Echopraxis, unwillkürliche Wiederholung von willkürlich gemachter Bewegung.« Pidik schaute auf und schnaubte: »Ja, ich glaube Ihnen, daß Sie so etwas schon einmal gesehen haben. Sie finden es hauptsächlich in Nervenheilanstalten. Eine Abart des Wahnsinns. Aber ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß diese Symptome eine physische Ursache haben, wahrscheinlich eine unbehandelte Schädelfraktur oder ähnliches.« »Keine Wetten«, antwortete Jan. Er befühlte vorsichtig mit den Fingerspitzen die Hirnschale des Mannes und fand eine eingedrückte Stelle, die von narbigem Gewebe umgeben war. Offensichtlich eine alte Wunde. Die Einheimischen hatten von allen Leiden ein gerütteltes Maß: Infektionen,
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Schmerzen, Brüche, akute und chronische Krankheiten, Karzinome. Alles! Es war schon fast dunkel, als Pidik anordnete, Schluß zu machen. »Schon fast zwölf Normalstunden. Genug für heute. Sie können morgen wiederkommen. Dieser Planet hat zu lange Umdrehungsperioden, an die wir uns erst gewöhnen müssen.« Jan ließ diese Anordnung durch den Computer übersetzen. Die Patienten, die schon so lange gewartet hatten, murrten ein wenig, ließen sich aber dann doch von den Wachsoldaten hinausdrängen. Alle, mit Ausnahme der Schwerkranken, verharrten auf ihrem Platz in der Reihe. Sie lehnten sich an die Wand und erwarteten geduldig ihre Behandlung am folgenden Tag. Jan gesellte sich zu Pidik, der sich am Becken die Hände wusch. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Pidik. Ohne Ihre Hilfe hätten wir heute nur einen Bruchteil unseres Pensums geschafft. Es gibt so viele Dinge hier, von denen ich noch nichts weiß. Das ist wirklich eine gute medizinische Schulung für die Physiker der NSZ.« »So ist es. Gerade auf Ihrem Gebiet. Sie hatten eine gute Ausbildung. Hier gibt es nichts, das man nicht nach ein paar Jahren Erfahrung behandeln könnte. Und Dr. Toledano wird schon dafür sorgen, daß Sie es schaffen.« »Hat Sie das hier nicht von Ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten?« »Das gehört auch zu meiner Arbeit. Natürlich beschäftige ich mich als Epidemiologe hauptsächlich mit Epidemien. Ich habe mir alle Proben angesehen und fand eine Vielzahl von Mikroben und Viren, die diese Leute in ihrem Blutstrom beherbergen. Doch nichts Fremdartiges und Abwegiges. Nur eine stattliche Auswahl von den Bazillen und Viren, die die Menschheit seit ihrer Entstehung befallen haben. Hier, auf dem Gebiet der allgemeinen Medizin, habe ich vielleicht die Möglichkeit, etwas zu finden, das wir noch nicht kennen.« Jan schüttelte das Wasser von seinen Händen und nahm ein Handtuch. »Wir sind jetzt schon fast einen ganzen Monat hier«, sagte er. »Glauben Sie, daß wir bereits alle hier vorkommenden Infektionen gefunden haben?« »Nicht unbedingt. Wir haben bisher nur einen kleinen Teil einer ganzen Welt gesehen. Erst, wenn wir hier unsere Studien beendet haben, können wir uns daranmachen, den Rest des Planeten gründlich zu erforschen. Aber zuerst muß die politische Lage geklärt sein und der Handel Wiederaufleben.« »Glauben Sie Azpi-oyals Geschichte, daß eine ganze Armee von Gudaeginern im Anmarsch ist?« »Ich bin überzeugt davon. Es gehört anscheinend zu der Tradition dieser Leute, alle Völker zu unterwerfen. Sie können es nicht verwinden, daß wir ihnen eine ihrer eroberten Städte wieder weggenommen haben. Aber ich denke, daß sich Dr. Toledano mit Azpi-oyal einigen Toledanoter den Leuten ist ein Aufruhr ausgebrochen.« Ein Sergeant steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Es scheint sich um irgendeine Krankheit zu handeln. Können Sie uns helfen?«
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»Ich werde kommen«, sagte Jan und hängte sich das Übertragungsgerät über die Schulter. »Ich komme mit!« Dr. Pidik schloß sich Jan an. »Diese Nachricht gefällt mir nicht!« Sie wurden von einer Gruppe bewaffneter Soldaten erwartet. Aus der Ferne hörten sie Lärm, ein Gewirr von schreienden Stimmen und die dumpfen Explosionen der Schlafgas-Granaten. Sie legten den Weg im Laufschritt zurück. Panzer waren aufgefahren. Soldaten versuchten, die tobende und hysterisch kreischende Menge in Schach zu halten, die sich vor einem Haus drängte. Einige Personen waren – vermutlich durch die Einwirkung des Gases – ohnmächtig geworden. Die Ärzte konnten sich in diesem Tumult kein Gehör verschaffen, und Dr. Pidik winkte den Sergeanten zu sich. »Aus diesem Stimmengewirr kann der Computer keine sinnvolle Übersetzung machen. Greifen Sie sich jemanden, mit dem man einigermaßen vernünftig sprechen kann, und bringen Sie ihn zu mir!« Als der Sergeant wieder erschien, schob er einen stämmigen Einwohner von Uri vor sich her. Er war ein großer Mann von sportlicher Gestalt, mit breitem Brustkasten und einem zottigen Bart. Über dem einen Auge trug er eine Binde, das andere blickte rotunterlaufen und bösartig unter einer buschigen Braue hervor. Er schien verwirrt zu sein. »Was ist los? Warum seid ihr alle hier, und warum macht ihr so ein Geschrei?« fragte Dr. Pidik den Mann. »Die Seuche! In dem Haus dort haben sie die Seuche! Brennt es nieder und tötet alle, die darin wohnen! Das ist das einzige, was man mit der Seuche machen kann. Nur der Tod kann sie heilen!« »Der Tod ist der allerletzte Ausweg«, sagte Dr. Pidik sanft. »Aber zuerst wollen wir es mit etwas weniger drastischen Maßnahmen versuchen.« Er wandte sich zu Jan. »Kommen Sie!« Sie versuchten, sich einen Weg zu dem Haus zu bahnen. Als die Menge sah, daß die Ärzte auf das Haus zugingen, schrie sie entsetzt auf. Mit anschwellendem Wutgeheul drängte sie vorwärts und hätte die Kette der Wachsoldaten fast durchbrochen. »Verwendet noch mehr Gas, wenn nötig, aber haltet sie zurück«, befahl Pidik. Riesige Gaswolken breiteten sich über der brodelnden Menge aus, und die Ärzte konnten sich endlich einen Weg bahnen. Sie hämmerten an die Tür und riefen über das Übertragungsgerät, man möge ihnen öffnen. Aber es rührte sich nichts. Alles blieb still. »Sprengen Sie die Tür auf«, befahl Pidik einem Soldaten. Der Mann untersuchte zuerst die Tür. An den Bolzen der Angeln brachte er kleinere Sprengladungen an, betätigte den Zeitzünder und trat einige Schritte zurück. »Zehn Sekunden, Sir. Es sind nur schwache Ladungen, die die Tür nach
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innen eindrücken, aber die Druckwelle kann einen gewissen Rückstoß verursachen.« Als der scharfe Knall der Explosion über den Platz hallte, schrie die Menge auf. Die beiden Ärzte kletterten über die Trümmer der Tür und folgten dem Geräusch von laufenden Füßen durch einen langen, dunklen Gang. Am Ende dieses Korridors fanden sie einen Mann in seinem Bett liegen. Frauen und Kinder hatten sich still und verängstigt in eine Ecke zusammengedrängt. Die letzten Strahlen der Sonne fielen durch ein hohes, vergittertes Fenster und beleuchteten die Szene. »Korporal«, wandte sich Pidik an einen der Soldaten, die ihnen gefolgt waren, »bringen Sie diese Leute von hier fort! Achten Sie darauf, daß niemand das Haus betritt. Bitten Sie Dr. Toledano um noch mehr Hilfskräfte, wenn nötig.« »Keine Sorge, Sir. Wir werden schon mit ihnen fertig.« »Sehr gut. Geben Sie mir bitte Ihre Lampe, bevor Sie gehen.« Der Mann in dem Bett stöhnte auf, als ihn der starke Lichtstrahl traf. Er drehte seinen Kopf zur Wand und bedeckte seine Augen mit dem Arm. Die Innenseite des Unterarms war stark geschwollen und mit winzigen Pusteln übersät. Dr. Pidik zog ihm behutsam den Arm wieder fort. Das Gesicht des Kranken war auch angeschwollen und rot, seine Stirn war fieberheiß. Er hatte die Augen halb geschlossen und schien niemanden zu erkennen. »Es ist Jostun, der Stadtrat«, sagte Jan. »Izuri…«, murmelte Jostun und wälzte sich unruhig in seinen Kissen hin und her. »Seuche! Das Wort ist klar genug. Holt den Krankenwagen! Wir müssen ihn in die Isolierstation bringen. Und sagt Dr. Toledano, was hier los ist, damit er die Truppen in Alarmbereitschaft hält«, ordnete Dr. Pidik an. Der Kranke rief nach ihm, und der Arzt hielt ihm das Mikrophon vor den Mund. »Laßt mich… brennt das Haus nieder… ich bin bereits tot. Es ist die Seuche!« »Wir werden dir helfen.« »Nur der Tod kann mir noch helfen!« rief Jostun aus. Er hatte sich halb aufgerichtet, sank nun aber stöhnend wieder zurück. »Darin sind sie sich alle einig«, bemerkte Jan. »Ich aber nicht. Eine Krankheit ist eine Krankheit und kann geheilt werden. Wir wollen ihn jetzt fortbringen.« Die Stadt war in Panik. Der Krankenwagen konnte sich nur langsam durch die dunklen Straßen bewegen und mußte darauf achten, daß er die überall herumliegenden, bewußtlosen Menschen nicht überfuhr. Um die Menge endlich zu beruhigen, hatte man das Schlafgas in immer größeren Quantitäten verwendet. »Was ist das für eine Krankheit?« wollte Dr. Toledano wissen, als man die Trage in die Isolierstation brachte. »Ich bin mir noch nicht sicher, Doktor. Sobald ich den Mann genau
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untersucht habe, werde ich Sie informieren.« »Bitte, machen Sie schnell. Wir haben bereits sieben andere Fälle.« Ohne noch ein Wort zu verlieren, machte sich Dr. Pidik an die Arbeit. Toledano forderte Jan auf, ihm zu folgen. Sie erreichten das Hauptquartier gerade in dem Moment, als ein Truppenfahrzeug mit quietschenden Bremsen hielt und ein Offizier heruntersprang. »Schlechte Neuigkeiten, Sir. Ein Wachposten an der Stadtmauer ist angegriffen worden. Beide Männer sind tot. Es wurde Alarm gegeben, und wir konnten den Angriff zurückschlagen, aber…« Er zögerte. »Ich glaube, daß es doch einem gelungen ist, über die Mauer zu entkommen. Hier haben wir den Mann, der die Angreifer angeführt hatte.« Eine bewußtlose Gestalt wurde aus dem Wagen gehoben und recht unsanft zu ihren Füßen niedergelegt. Toledano schaute auf die erschlafften Gesichtszüge des Mannes nieder und brummte: »Azpi-oyal. Ich hätte es wissen sollen. Bringt ihn in mein Büro. Jan, wecken Sie ihn auf.« Als Jan Azpi-oyal die Injektion gab, bemerkte er, daß seine Haut heiß und gerötet war. »Ich fürchte, daß er die Seuche hat, Sir.« Azpi-oyal erwachte aus seiner Ohnmacht. Er richtete sich etwas auf und lächelte. Doch in diesem Lächeln war keine Spur von Wärme. »Mein Bote ist auf dem Weg«, sagte er in das Mikrophon. »Ihr werdet ihn nicht mehr aufhalten können.« »Ich habe auch nicht die Absicht. Ich sehe keinen Grund, warum du dich nicht mit deinen eigenen Leuten in Verbindung setzen sollst. Deine Armee ist wahrscheinlich kaum mehr eine Tagesreise von hier entfernt.« Ungeachtet dieser Antwort fuhr Azpi-oyal mit seiner Drohung fort: »Wenn ich dir sage, daß die Armee von Gudaegin fünfzigtausend Mann stark ist, wirst du wissen, daß ihr verloren seid. Ich habe ihnen durch meinen Boten den Befehl gegeben, diese Stadt zu zerstören und alle, die in ihr wohnen, zu töten. Und nun sage mir noch einmal, daß du diese Botschaft passieren lassen willst.« »Natürlich tu ich das«, erwiderte Toledano sanft. »Trotzdem wird nichts geschehen. Diese Stadt bleibt unzerstört, und alle werden leben.« »Die von der Seuche befallen Leute – wie ich selbst – werden getötet. Und die Seuchenbringer – Leute wie ihr – werden vernichtet.« »Keineswegs!« Toledano setzte sich nieder und hielt sich gähnend die Hand vor den Mund. »Wir bringen nicht die Seuche, wir vernichten sie. Wir werden alle heilen, die von ihr befallen sind. Du wirst nun an einen Ort gebracht, wo du dich ausruhen kannst.« Er hatte noch immer sehr ruhig gesprochen; aber in seiner Stimme schwang jetzt eine gewisse Ungeduld mit. Er rief einen Wachsoldaten zu sich und schaltete die Computer-Übersetzung ab. »Bringen Sie diesen Mann in das Hospital und veranlassen Sie, daß er gleich behandelt wird! Doch nur unter schärfster Bewachung! Nehmen Sie so viele Leute, wie Sie brauchen. Er darf auf keinen Fall entkommen. Das ist lebenswichtig. Haben Sie
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verstanden?« »Ja, Sir.« »Darf ich Sie fragen, was hier eigentlich vorgeht?« wandte sich Jan an Toledano, als Azpi-oyal mit dem Soldaten verschwunden war. »Beobachter haben berichtet, daß die Armee von Gudaegin nur noch wenige Stunden von hier entfernt ist. Anscheinend hat es ihnen gar nicht gefallen, daß wir ihnen Uri wieder fortgenommen haben. Ich hatte gehofft, mit der Hilfe von Azpi-oyal Frieden zu schließen. Ich hoffe es noch immer. Aber zuerst müssen wir ein Heilmittel für diese Seuche finden.« »Und was soll dieser Blödsinn, wir hätten die Seuche mitgebracht?« »Das ist leider kein Blödsinn. Es sieht so aus, als wäre es tatsächlich so, wenn ich auch noch nicht weiß, wie das geschehen konnte. Unter Berücksichtigung der individuell verschiedenen Inkubationszeiten ist es auffallend, daß nur die Leute krank geworden sind, die zuerst mit uns Kontakt hatten. Das ist eine Tatsache, die wir nicht übersehen dürfen.« »So sieht es also aus! Wir müssen herausfinden, woher…« Dr. Pidik stürzte durch die Tür und legte ein Glasplättchen auf den Tisch. »Da haben wir den Schuldigen!« rief. »Ein coccobazillarer Mikroorganismus! Er enthält Anilinspuren und ist negativ. Ihr Blut ist mit diesen Biestern verseucht!« »Typhus!« fragte Jan beunruhigt. »Die Seuche hat sehr viel Ähnlichkeit damit. Vielleicht eine mutierte Abart. Und ich dachte, die Leute hier waren dagegen immun. Wir fanden Spuren dieser Organismen in großer Zahl in den Blutproben. Damals waren die Träger noch gesund. Jetzt sind sie es nicht mehr.« Toledano wanderte unruhig in dem kleinen Raum auf und ab. »Es ergibt keinen Sinn. Typhus und alle verwandten Krankheiten werden durch Insekten, Milben und Läuse übertragen. NSZ hat das alles berücksichtigt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß wir diese Krankheit hier eingeschleppt haben. Es gibt nur einen einzigen Anhaltspunkt, der eventuell die Ursache sein könnte: Wir haben in dem Land, durch das wir fuhren, diese Bazillen aufgenommen und mitgebracht. Aber unter unseren Leuten hat sich die Krankheit noch nicht gezeigt. Wir müssen das unbedingt genau untersuchen. Aber zuerst müssen die Erkrankten geheilt werden; das ist jetzt das dringendste Gebot. Danach können wir uns damit befassen, die Ursache herauszufinden.« »Ich habe eine Idee…«, begann Jan, aber er brach ab, als man in der Ferne eine splitterndes Krachen, gefolgt von Schreien und Rufen, hörte. Im gleichen Moment stürzte ein Leutnant herein. »Wir werden beschossen, Sir! Mit Wurfmaschinen! Sie sind viel größer als die in der Stadt. Sie müssen sie aufgestellt haben, als es dunkel wurde.« »Können wir sie unschädlich machen, ohne Menschen zu gefährden?« »Unmöglich, Sir. Sie stehen außerhalb der Reichweite unserer Gaswaffen. Wir könnten…« Er beendete seinen Satz nicht. Ein donnerndes Krachen unterbrach ihn. Alle
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Lichter gingen aus. Der Boden unter ihnen schwankte, und Jan wurde niedergeschleudert. Als er wieder auf die Füße kam, warf die Lampe des Leutnants ihren Lichtstrahl durch die qualmende Dunkelheit, wanderte über durcheinandergeworfenen Gegenstände und beleuchtete schließlich einen riesigen Steinbrocken, der in den Raum hineingefallen war. »Dr. Toledano«, rief jemand. Das Licht flackerte, denn die Hand, die die Lampe hielt, zitterte. »Keine Hoffnung mehr«, sagte Dr. Pidik, als er sich über die kleine zusammengekrümmte Gestalt beugte. »Der Stein hat die Hälfte seines Kopfes weggerissen. Er war sofort tot.« Er stand auf und seufzte. »Ich muß ins Labor zurück. Diese Bürden müssen nun Sie übernehmen, Dr. Dacosta.« Er war bereits bei der Tür, als Jan wieder richtig zur Besinnung kam und ihm nachrief: »Warten Sie! Was meinen Sie damit?« »Sie waren sein Assistent, und Sie repräsentieren die NSZ. Sie sind sein Nachfolger und müssen seine Arbeit vollenden. Wir haben anderes zu tun.« »Das war nicht beabsichtigt.« »Toledano hatte auch nicht die Absicht, zu sterben. Er war mein Freund. Sie müssen jetzt das tun, was wir von Ihnen erwarten.« Dann ging er. Zu viel war auf Jan in den letzten Stunden eingestürmt; aber er zwang sich selbst zum Handeln. Jetzt war ein wirklicher Notfall eingetreten. »Bringt Dr. Toledanos Leiche in das Hospital«, befahl er und wartete, bis der Tote hinausgetragen wurde. Dann wandte er sich an den Leutnant: »Stimmt es, daß die Angreifer außerhalb der Reichweite unserer Gaswaffen sind?« »Ja, Sir. Sie haben sich hinter einem Hügel verschanzt.« »Können wir ihren genauen Standpunkt feststellen?« »Das können wir. Wir haben Artillerie-Beobachtungsflieger, Infrarot, Kamera-Einrichtungen, Miniatur-Hubschrauber.« »Gut. Senden Sie einen davon aus. Stellen Sie den genauen Standort fest. Wenn diese Schleuder genauso konstruiert ist, wie die hier auf der Mauer – wahrscheinlich ist sie es, nur größer – , werden wir sie mit einem Kanonenschuß außer Gefecht setzen können. Leider wird es nicht zu vermeiden sein, daß dabei auch einige Leute getötet werden. Aber das ist das kleinere Übel. Hier sind schon viel mehr Leute getötet worden, von Dr. Toledano ganz abgesehen.« Der Offizier salutierte und ging. Jan fühlte sich plötzlich hundemüde. Er ging in den Waschraum, um sich ein wenig frisch zu machen. Das Licht flammte wieder auf, und in dem Spiegel über dem Waschbecken sah er sich selbst in die Augen. Hatte er wirklich den Befehl gegeben, Menschen zu töten? Er mußte es tun, um schlimmeres Unheil zu vermeiden. Er wandte seinen Blick von seinem Spiegelbild und tauchte das Gesicht in das kalte Wasser. Es waren nur noch wenige Stunde bis zur Morgendämmerung. Fast alle waren übermüdet und erschöpft, ihre Gesichter waren gezeichnet. In dem
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Büro war die beschädigte Decke wieder repariert worden. Ein neuer Schreibtisch wurde hereingebracht. Alle Schäden waren wieder behoben. Jan saß auf dem Stuhl, auf dem noch vor kurzem Dr. Toledano gesessen hatte. Er bot den anderen Ärzten, die hereingekommen waren, Plätze an. »Dr. Pidik, können Sie uns zunächst über die medizinische Situation etwas sagen?« »Unter Kontrolle, wenigstens fast.« Der große Epidemiologe strich sich über das unrasierte Kinn. »Wir haben keinen einzigen Patienten verloren. Wir haben zwar die richtige Behandlungsmethode gefunden, aber wir können leider nichts gegen die Verbreitung dieser Krankheit unternehmen. Das steht absolut außerhalb unserer Kontrolle. Wenn es so weitergeht wie bisher, werden bald alle Einwohner der Stadt von der Seuche befallen sein. Ich habe in meinem Leben so etwas Verrücktes noch nicht gesehen.« »Und wie sieht die militärische Lage aus, Leutnant?« Der Mann war am Ende seiner Kräfte. Er hob die Hände und wollte die Frage mit einem Achselzucken abtun, besann sich aber im gleichen Moment und riß sich zusammen: »Wir haben die größte Gefahr von der Bevölkerung abgewendet. Alle meine Männer sind von den Straßen abgezogen worden, um die Stadtmauer und das Camp hier zu bewachen. Von den Einheimischen können wir nicht viel Hilfe erwarten. Viele sind noch bewußtlos. Die anderen haben noch einen Gaskater. Der Feind vor der Stadt ist in Angriffstellung gegangen. Ich nehme an, daß wir mit Anbruch der Morgendämmerung mit einem größeren Angriff rechnen müssen.« »Warum glauben Sie das?« »Sie haben neues Material herangeschafft. Mehr Steinschleudern aller Größen. Dampfbetriebene Rammen, Brückenmaterial, Entertürme.« »Können Sie diesen Angriff aufhalten?« »Nicht lange, Sir. Mit Hilfe der Bevölkerung wäre es vielleicht möglich. Aber leider müssen wir uns jetzt auch vor der Stadtbevölkerung in acht nehmen. Wenn Sie mir erlauben, Sir, möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Es gibt für uns nur zwei Möglichkeiten. Entweder holen wir uns Verstärkung. Die Techniker haben dafür bereits einen Materie-Transmitter aufgestellt. Oder wir ziehen uns zurück. Wenn wir uns zum Kampf stellen, wird es erhebliche Verluste von Menschen und Material auf beiden Seiten geben. Die Gudaeginer sind nun einmal ein kriegerisches Volk. Sie werden nicht eher aufgeben, bis sie gewonnen haben.« »Angenommen, wir verlassen diesen Planten. Was wird dann mit den Einwohnern von Uri geschehen?« Dem Leutnant war diese Frage sichtlich unangenehm. »Das ist schwer zu sagen. Aber ich nehme an, da sie krank sind…« »…werden sie alle sterben! Ich glaube nicht, daß das die richtige Lösung ist, Leutnant. Wir können die Leute auch nicht alle mitnehmen. Wir haben keinen Platz für eine ganze Stadt voller kranker Leute. Und es gibt nicht so viele Quarantäne-Stationen, die die Seuchenkranken aufnehmen könnten.
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Langsam beginnt die Situation kritisch zu werden.« Das Schweigen und die ernsten Gesichter um ihn herum bestätigten, daß sie alle mit ihm einer Meinung waren. Es schien keinen einfachen Ausweg aus dieser Situation zu geben. Ganz gleich, wie sie sich entschieden – es würde nicht ohne Verluste abgehen. Diese Opfer würden zu einem Schandfleck in der Geschichte der NSZ werden. Vielleicht würde man über ihre Fehler einen Lehrfilm drehen, der ihren Nachfolgern ein warnendes Beispiel sein sollte. »Noch sind wir nicht geschlagen«, sagte Jan schließlich, als keiner sich mehr mit einem Vorschlag vorwagte. »Ich habe einen Plan, der vielleicht die Situation ändern könnte. Fahren Sie mit Ihrer Arbeit fort wie bisher. Spätestens bei Morgengrauen werde ich Sie von meinem Plan unterrichten. Leutnant, wenn Sie bitte noch hier bleiben wollen! Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.« Jan wartete, bis sich die anderen schweigend entfernt hatten, bevor er fortfuhr: »Ich brauche einen Freiwilligen, Leutnant. Einen guten Soldaten, einen im Kampf erfahrenen Mann. Ich will die Stadt verlassen, und ich möchte, daß er mich begleitet.« »Das können Sie nicht tun, Sir! Sie sind der Kommandant!« »Wenn ich der Kommandant bin, gibt es niemanden, der mich aufhalten kann, nicht wahr? Für das, was ich vorhabe, brauche ich einen jungen Mann, der Mediziner ist, aber auf den man im Notfall auch verzichten kann. Diese Voraussetzungen treffen auf mich zu. Das medizinische Team braucht mich jetzt nicht, und Sie können die Verteidigung der Stadt auch ohne mich leiten. Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, kann das Hauptquartier in wenigen Minuten einen noch besser qualifizierten NSZ-Mann als Ersatz für mich durch den Materie-Transmitter hierherschicken. Es gibt also wirklich keinen Grund, warum ich nicht gehen sollte.« Der Leutnant mußte ihm recht geben, wenn er das auch nur widerstrebend tat. Dann machte er sich auf die Suche nach einem Freiwilligen. Jan packte indessen die nötige Ausrüstung zusammen. Es klopfte. Ein Soldat trat ein. »Mir wurde gesagt, daß ich mich bei Ihnen melden soll, Sir«, sagte er. Jan hatte den Mann schon einmal gesehen. Er war ein großer, stiernackiger Mann, der sich trotzdem mit katzenhafter Geschmeidigkeit bewegen konnte. Er war feldmarschmäßig ausgerüstet und schien zu jedem Abenteuer bereit. »Wie heißen Sie?« »Plendir, NSZ-Wache, Sir.« »Trugen Sie nicht vor einigen Tagen noch einen Sergeanten-Streifen?« »Ja, Sir. Und nicht das erste Mal. In der Stadt gab es Tumulte. Prügeleien von Betrunkenen. Nicht unsere Leute, Sir. Einheimische. Fünfzehn Männer hatten sich auf mich gestürzt. Die meisten von ihnen liegen heute noch im Hospital.« »Ich hoffe, Sie sind wirklich so gut, wie Sie behaupten zu sein, Plendir. Sind Sie bereit, mit mir vor die Stadt zu gehen?«
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»Ja, Sir.« Der Mann verzog keine Miene. »Gut. Aber die Sache ist nicht ganz so selbstmörderisch, wie sie sich anhört. Wir gehen nicht über die Mauer, sondern benützen den Transmitter, durch den wir auch zuerst diesen Planeten betreten haben. Das bringt uns ein paar Kilometer hinter die feindlichen Linien. Ich möchte einen Gudaeginer gefangennehmen. Glauben Sie, daß wir das schaffen werden?« »Auf jeden Fall ist es eine sehr interessante Aufgabe, Sir«, sagte Plendir und lächelte fast bei dem Gedanken. Jan hängte sich seine Tasche über die Schulter, und sie gingen zu der technischen Abteilung. Helles Licht durchflutete das provisorische Gebäude. Im Hintergrund heulte ein Generator. Er versorgte das ganze Camp mit Strom und lud die Batterien der Fahrzeuge auf. Sie mußten über Rollen von Kabel steigen, um zu dem Personal-Transmitter zu gelangen. »Ist er geprüft worden?« fragte Jan einen vorbeigehenden Techniker. »Bis zur letzten Dezimalstelle und bereits eingeschaltet.« Jan notierte sich die Kodenummer des Transmitters auf seinem Handgelenk, und Plendir folgte wortlos seinem Beispiel. Diese Nummer konnte für sie lebenswichtig werden. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?« fragte Plendir, als Jan die Kodenummer des anderen Transmitters auf dem Kontrollpult eindrückte. »Ja, natürlich.« »Wir kommen jetzt zu einer Phase der Operation, die, wenn ich so sagen darf, mehr in meinen Aufgabenbereich gehört. Wir wissen nicht, was uns auf der anderen Seite erwartet. Ich gehe zuerst durch und rolle mich sofort nach links. Sie kommen mir so schnell wie möglich nach und halten sich rechts. Wenn wir beide durch sind, bleiben wir zunächst in Deckung.« »In Ordnung, Plendir. Aber ich glaube, wir kommen weit genug hinter den feindlichen Linien heraus, um uns keine übertriebenen Sorgen machen zu müssen.« Der Soldat hob leicht die Augenbrauen, aber er sagte nichts. Als der Schirm aktiviert war, tauchte er mit dem Kopf voraus hinein, und Jan folgte ihm kurz darauf. Kalte Luft, finstere Nacht, eine scharfe Explosion und irgend etwas Schweres fiel dicht neben ihm nieder. Jan schlug härter auf, als er erwartet hatte. Für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Als er wieder zu Atem kam und den Kopf hob, war der kurze Kampf vorüber. Ein Mann lag dicht neben ihm, zusammengekrümmt und bewußtlos, ein anderer wälzte sich leise stöhnend auf dem steinigen Boden. Eine Gaswolke erhob sich über drei weiteren bewegungslosen Gestalten. In dem nahen Gebüsch war ein Knacken zu hören, das sich langsam entfernte und dann ganz verstummte. »Alles in Ordnung, Sir. Diese Leute standen hier auf Wache. Ich war darauf gefaßt; aber sie hatten mich nicht erwartet. So konnte ich sie überwältigen. Der Mann neben Ihnen scheint tot zu sein. Ich kann es nicht ändern, es war Notwehr. Er oder ich. Dieser hier hat einen gebrochenen Arm, und die anderen sind von dem Gas betäubt. Genügt einer von ihnen als
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Gefangener?« »Am besten der Verwundete. Ich will ihn mir ansehen.« Jan stand auf und legte seine Tasche beiseite. »Einige sind entkommen, nicht wahr?« »Ja, Sir. Sie werden ihre Freunde zu Hilfe rufen und zurück kommen. Wie lange brauchen Sie?« »Fünfzehn Minuten werden reichen. Glauben Sie, daß wir so lange Zeit haben?« »Wahrscheinlich. Soll ich Ihnen helfen, bevor ich mich umsehe?« »Ja, nur eine Sekunde.« Der Gefangene schrak vor dem grellen Strahl der Lampe zurück. Ohne seinen Metallhelm sah er nicht mehr sehr kriegerisch aus. Er war mit einem Gewand aus grobem Tuch und Fellen bekleidet. Als Jan seinen Arm berührte, wollte er fliehen, aber als er die Spitze eines scharfen Messers vor seinen Augen sah, gab er den Versuch auf. Jan handelte schnell. Über den gebrochenen Arm streifte er einen aufblasbaren Schutzverband und pumpte ihn auf. »Was jetzt kommt, wird ihm nicht sehr behagen. Binden Sie ihm Hände und Füße zusammen.« Plendir fesselte den Mann schnell und geschickt, während Jan den Inhalt seiner Tasche vor sich ausbreitete. Er nahm eine Chirurgenschere zur Hand, um damit dem Gefangenen die Kleidung vom Leib zu schneiden. Der Mann begann zu heulen, und Jan klebte ihm ein Pflaster über den Mund, so daß er keinen Ton mehr von sich geben konnte. »Ich werde mich jetzt umsehen, Sir«, sagte Plendir. »Es wird bald hell sein!« »Ich bleibe hier.« Der Soldat schlich geräuschlos davon, und Jan legte die Lampe so auf einen Felsen, daß ihr Licht den gefesselten Mann beleuchtete. Dieser stöhnte leise, während Jan dessen nicht sehr sauberen Rücken freilegte. Von seiner Ausrüstung nahm er nun ein Ding, das er für diesen Zweck vorbereitet hatte: Ein großes Quadrat, das aus vielen kreuzweise verbundenen Heftpflasterstreifen zusammengesetzt war. Er drückte dem Gefangen dieses Quadrat auf den Rücken. Der Mann jammerte und versuchte vergeblich, es abzuschütteln. Jan stand auf und blickte auf die Uhr. Im Osten wurde es bereits hell, als Plendir wieder erschien. »Sie werden bald hier sein, Sir«, berichtete er. »Ganz in der Nähe muß ein Lager der einheimischen Truppen sein, denn eine Gruppe von ihnen ist auf dem Weg hierher.« »Wie lange Zeit werden wir noch haben?« »Zwei, höchstens drei Minuten.« Jan blickte auf sein Uhr. »Ich brauche mindestens drei Minuten. Können Sie versuchen, die Leute so lange aufzuhalten?« »Mit Vergnügen«, erwiderte Plendir und setzte sich in Trab. Es waren sehr lange Minuten. Die Zeiger der Uhr schienen sich kaum vom Fleck zu rühren. Erst eine Minute war vergangen, als man in einiger Entfernung das Geräusch von Stimmen und eine dumpfe Explosion hören
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konnte. »Zeit genug«, sagte Jan und beugte sich über den Gefangenen, um ihm das Pflaster abzuziehen. Er tat es mit einem kurzen Ruck, aber ein paar Haare wurden mit ausgerissen, und der Mann krümmte sich vor Schmerzen. Jan stopfte das Pflasterquadrat erst in seine Tasche, bevor er sich einen Blick auf das Ergebnis gestattete. »Wunderbar!« rief er aus. Der Rücken des Mannes war geschwollen und mit roten Flecken übersät. Plendir kam in größter Eile angerannt und keuchte: »Sie sind knapp hinter mir!« »Nur noch eine Sekunde. Ich brauche einen Beweis.« Jan griff hastig nach der Kamera, während Plendir einige Gasgranaten in die Richtung, aus der er gekommen war, abschoß. Das Blitzlicht flammte auf. »Fertig, wir können gehen!« rief Jan. Er aktivierte den bereits vorprogrammierten Transmitter und sprang in den Schirm. Neben seinem Ohr war plötzlich ein zischendes Geräusch. Er kam hart auf dem Boden auf, glitt aus und fiel. Plendir war dicht hinter ihm und landete mit einem geschickten Sprung. Der Pfeil eines Kreuzbogens war ihnen gefolgt und traf die gegenüberliegende Wand. Plendir schaltete die Kontrollen aus. Die Verbindung war unterbrochen. »Der letzte Schuß dieses Krieges«, sagte Jan lächelnd und schaute auf den Pfeil, der in der Wand steckengeblieben war. »Jetzt ist er bestimmt vorbei.« Die Ärzte betrachteten voller Interesse das Farbfoto und das Viereck aus Pflasterstreifen. »Wenn man jetzt darüber nachdenkt, scheint es ganz klar zu sein«, gestand Dr. Bucoros widerstrebend. Sie war wütend, daß sie nicht selbst an diese Möglichkeit gedacht hatte. »Allergie«, sagte Dr. Pidik. »Das einzige, an das wir nie gedacht haben. Aber mußten Sie Ihre Beweisführung unbedingt so dramatisch gestalten?« Jan lächelte. »Jemand aus der Bevölkerung dieser Stadt hätte vielleicht auch genügt, aber ich war mir nicht sicher. Es mußte einer von außerhalb sein, der noch nie mit uns Kontakt hatte. Dieser Soldat von Gudaegin war ein vorzügliches Versuchsobjekt, wie Sie ja alle sehen können. Es handelt sich hier eindeutig um eine schwere allergische Reaktion.« Er deutete auf die rote Schwellung, die klar auf der Fotografie zu erkennen war. »Was verursacht die Allergie?« »Polyester. Fast unsere gesamte Ausrüstung besteht aus Plastik. Unsere Kleidung ist daraus hergestellt, unsere Gürtel, unzählige Dinge. Es war kaum möglich für die Eingeborenen, nicht damit in Berührung zu kommen. Mit unheilvollem Resultat. Sie gaben mir einen Anhaltspunkt, Dr. Pidik, als Sie sagten, daß viele der Leute hier inaktive Seuchen-Mikroorganismen in ihrem Blut haben. Das erinnerte mich an etwas. Typhus ist eine der wenigen Krankheiten, die eine Person übertragen kann, ohne selbst krank zu sein. Die mutierte Form des Typhus auf diesem Planeten verlief offenbar immer
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tödlich. Es gab also nur zwei Möglichkeiten für die Keimträger; entweder
sie starben, oder sie wurden immun. Die hiesige Bevölkerung stammt also
von immunen und infizierten Eltern ab. Alle ohne Ausnahme trugen also
auch die Typhuserreger in ihrem Körper.«
»Und unser Kommen brachte die Seuche also zum Ausbruch«, sagte Dr.
Pidik.
»Unglücklicherweise ja. Anscheinend gibt es eine Verwandtschaft zwischen
der Polyester-Allergie und der angeborenen Immunität der Einheimischen.
Die Allergie durchbrach die natürliche Abwehrschranke des Körpers,
verursachte eine synergetische Reaktion mit dem Typhuserreger und
schwächte die Immunität. Ein Ausbruch der Seuche war die Folge.«
»Aber jetzt nicht mehr«, sagte Dr. Pidik abschließend.
»Nein, jetzt nicht mehr. Jetzt kennen wir die Ursache und können die
richtige Behandlungsmethode anwenden. Der erste, den wir heilen werden,
ist Azpi-oyal. Wir werden ihn als Botschafter des Friedens zu seinem Volk
senden. Wenn er geheilt ist, wird er auch an die Heilung der Seuche glauben.
Er wird sehen, daß auch die Kranken wieder gesund werden. Und wenn es
die Seuche nicht mehr gibt, haben sie keinen Grund mehr, Krieg zu führen.
Wir können mit ihnen verhandeln und Frieden schließen und uns aus dieser
mißlichen Lage befreien, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben.«
Aus der Ferne war der Klang von Hörnern und schreienden Stimmen zu
vernehmen.
»Ich fürchte, Sie müssen sich beeilen. Es dürfte uns schwerfallen, die Leute
von irgend etwas zu überzeugen, wenn wir alle tot sind«, sagte Dr. Bucoros
und verließ den Raum.
In stillem Einverständnis eilten sie ihr nach.
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Alpha und Omega »Der Untergang der elstraranischen Kultur war nicht mehr aufzuhalten, nachdem IjsselDijk, einer der großen Männer der Menschheit, den Tunnel Eins-Eins benutzte, um alle denkbaren Weiterentwicklungsmöglichkeiten auszulöschen, und damit der Zukunft Elstrarans ein Ende bereitete. Ende des Absatzes. Ende des Kapitels. Ende des Buches. Schreiben!« Denan streckte sich auf seinem Liegesessel aus und sah zu, wie der Schirm dunkel wurde. Wenig später erschien der von ihm diktierte Text in soliden Lettern. Er überprüfte ihn sorgfältig, tippte hier und da mit einem Stift auf Buchstaben und machte so seine Korrekturen. Dann nickte er befriedigt. »Drucken!« befahl er und schob den Sessel zurück. Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß es bereits fünfundsiebzig war. Gewöhnlich ging er zu dieser Zeit mit Sousbois zum Schwimmen, aber heute war er zu müde. Er hatte intensiv und konzentriert gearbeitet und nur wenig Ruhe gehabt. Er stand auf und legte sich auf sein Bett. »Licht aus!« befahl er und schloß die Augen, als es dunkel wurde. Wenige Sekunden später war er eingeschlafen. Vierundachtzig zeigte die Uhr, als er erwachte. Sousbois, das wußte er, wartete längst nicht mehr auf ihn. Trotzdem verspürte er Lust zu einem kühlen Bad im Meer. Er stand auf, zog sich aus und hing einen leichten Mantel um. Er wandte sich zur rechten Tür, die er immer dann benutzte, wenn er nach draußen gehen wollte. Automatisch drückte er auf der Signalplatte die zwölfstellige Kodenummer ein. Die Oberfläche der Tür begann zu flimmern, dann durchschritt er sie. Er befand sich in einem kühlen, unterirdischen Raum, der in die Tiefen eines massiven Felsens geschnitten worden war. So schnell er konnte, ging er hinaus in den blauen Sonnenschein des Ytong-Strandes. Ein tiefer Atemzug füllte seine Lungen mit der brennendheißen, aber sauberen Luft. Er lief durch den goldfarbenen Sand auf das Wasser zu, dessen Wellen sich in brodelndem Schaum am Ufer brachen. Er spürte den Schweiß am Körper und entledigte sich hastig des Mantels und seiner Sandalen. Dann ließ er sich einfach in das erfrischende Naß fallen. Die Kühle umfing ihn, als er hinabtauchte. Nur mit dem Kopf über Wasser ließ er sich von den Wellen dahintragen, und er blickte zurück auf die große Steinmauer, die sich hinter dem Strand erhob. Immer wieder, wenn er die gewaltige Barriere betrachtete, überlegte er sich, was wohl dahinter sein könne. Irgend jemand hatte einmal behauptet, wahrscheinlich noch mehr Steine und Felsen, denn dieser Planet hatte kein eigenes Leben hervorgebracht. In der Felsmauer gab es eine ganze Reihe von Türen, denn der Ytong-Strand war ein beliebter Badeort für alle bewohnten Planeten. Das Wasser war flach, frisch und klar. Er tauchte, um sich ganz abzukühlen, und blieb länger unter Wasser. Langsam glitt er über die sandige Fläche dahin, bis er nach oben schwamm, um Atem zu holen.
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Er sah den Mann, der aus seiner Tür trat und dann auf den Strand zulief, so wie er es kurz zuvor auch getan hatte. Der Fremde sprang ins Wasser und tauchte dicht neben ihm wieder auf. »Linkica«, stellte der Fremde sich vor. »Dehan.« Eine Zeitlang schwammen beide nebeneinander her, und es schien, als wünsche keiner von ihnen eine weitere Unterhaltung. Aber dann sagte Dehan, als der andere an seiner Seite blieb: »Die Sonne scheint bald unterzugehen.« »Nicht mehr lange, dann wird es dunkel, und wir müssen uns einen neuen Strand suchen. Ich habe diesen Planeten ein wenig studiert, müssen Sie wissen. Er hat eine Rotationsperiode von sechstausendvierhundertdreißig Zeiteinheiten. Ein Tag dauert demnach dreitausendzweihundertfünfzehn Einheiten. Am frühen Morgen dürfte es zu kalt zum Schwimmen sein.« »Sind Sie Wissenschaftler?« Dehan wußte, daß Linkica eine einflußreiche Stellung bekleiden mußte, sonst hätte er nicht seine Tür benützen können. Der Ozean von Ytong war jedem zugänglich; aber die Kodenummern der Türen wurden nur unter Freunden und Bekannten ausgewechselt, die einen ähnlichen gesellschaftlichen Rang bekleideten. Irgendwo an dieser Küste gab es eine Tür für Kinder, vielleicht sogar auch eine für Verrückte. Dehan hatte sich niemals Gedanken über diese Tatsache gemacht. »Ich bin Phylogenetiker.« Dehan nickte, obwohl er den Beruf nicht kannte. Ein neues Wort, ein neues Spezialgebiet. Es mußte schon bald Millionen davon geben. Er tauchte für einen Augenblick das Gesicht unter Wasser, um sich zu erfrischen. »Ich bin Historicollator.« »Interessant. Ich habe mir schon immer gewünscht, einem solchen Experten zu begegnen.« Dehan verzog ungläubig das Gesicht. »Ist das wahr? Ich habe nie zuvor jemanden getroffen, der dieses Spezialgebiet kennt.« Der Fremde strich sich über seine Glatze. Er lächelte. »Ich bin keineswegs allwissend; aber ich glaube heraushören zu können, daß Ihr Wissensgebiet in engem Zusammenhang mit meinem eigenen Beruf steht.« Dehan verspürte eine gewisse Verlegenheit und tauchte unter, um weiteren Fragen zu entgehen. Als er wieder an die Oberfläche kam, sagte er: »Es reicht für heute, meinen Sie nicht auch? Schließen wir unsere Poren?« »Gute Idee!« Sie wateten zum Ufer und legten die Mäntel um. »Kürzlich besuchte ich ein Frigidarium«, teilte Linkica mit, dem es peinlich zu sein schien, während des Badens ein Gespräch über Arbeit und Beruf begonnen zu haben. »Leider kenne ich so etwas noch nicht. Darf ich mich Ihnen anschließen?« Linkica verbarg seine Erleichterung keineswegs. Er nickte und ging auf die Tür zu. Dehan folgte ihm und sah zu, wie er den Transmitter programmierte.
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Dann traten sie beide hinein. Eisige Kälte empfing sie, und Schnee wirbelte durch die Luft. Der plötzliche Temperaturunterschied raubte ihnen fast den Atem. Sie befanden sich auf einem eisbedeckten Hochplateau, mehr auf einem Gebirgskamm, und die Wände zu beiden Seiten fielen steil ins Nichts hinab. Durch die wirbelnden Schneeflocken sah Dehan vor sich zwei weitere Türen in der Felswand. Linkica mußte in seine Ohren schreien, um sich verständlich zu machen. »Wenn es nicht schneit, kann man sehr weit sehen. Berge, Täler, alles voller Schnee. Ein schrecklicher Anblick!« Linkica machte eine winzige Pause. »Aber ungemein eindrucksvoll.« »Ich werde es mir später einmal ansehen.« In dem frischgefallenen Schnee waren Fußspuren zu erkennen, denen sie vorsichtig folgten. Nur ein brusthoher Zaun trennte sie von den Abgründen zu beiden Seiten. Aufatmend erreichten sie eine der Türen und betraten den Ankleideraum. Jeder nahm eine der Kabinen, dann schickte Dehan seinen Mantel durch einen Kleintransmitter in seine Wohnung und entnahm einem Automaten einen Freizeitanzug. Nach einmaligem Gebrauch konnte man ihn wegwerfen. Seine Haut prickelte. Die Kälte hatte ihr wohlgetan. Er nahm sich vor, diesen Ausflug bei Gelegenheit zu wiederholen. Linkica wartete bereits auf ihn. Er stand neben einem breiten, hohen Fenster. Das Licht zweier Monde tauchte die Landschaft in dämmeriges Halbdunkel. Sie waren wieder auf einem anderen Planeten, einer tropischen Urwelt. Ein Fluß schlängelte sich durch den Dschungel, über den sich schwächer bewaldete Hügel erhoben. Alles lag unter dem geisterhaften Licht der zwei Monde. »Woran arbeiten Sie im Augenblick?« fragte Dehan endlich, als der Automat die bestellten Getränke gebracht hatte. »Sie sind Phylo… wie war das noch?« »Phylogenetiker. Ich versuche, den Ursprüngen der verschiedenen Spezies nachzugehen und ihre Vorfahren und Verwandten herauszufinden. Das ist wichtig für die Aufzucht von Nutztieren und die Weiterentwicklung bereits vorhandener Nutzpflanzen.« Dehan nickte, wenn er auch nicht einsah, was derartige Forschungen für einen Sinn haben sollten. Linkica fuhr ermuntert fort: »Vor einiger Zeit wurde ich mit dem schier unlösbaren Problem einer genetischen Krankheit konfrontiert. Ich ging der Sache nach, verfolgte die Entwicklung zurück und entdeckte den Erreger. So konnte ein Heilmittel entwickelt werden. Seitdem interessiert mich die Geschichte der Menschheit, wobei Sie doch zugeben müssen, daß der Mensch das merkwürdigste aller Geschöpfe des Universums ist. Überhaupt ist der Zusammenhang zwischen Ihrer und meiner Arbeit ganz offensichtlich. Kommen Sie übrigens gut damit voran?« Dehan mußte lächeln. Sein neuer Bekannter hatte gute Manieren. Daran war nicht zu zweifeln. »Ich beschäftigte mich mit den Elstrarans, eine ziemlich langweilige
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Angelegenheit. Manchmal erinnert mich deren Geschichte an jene der Menschheit, und meiner Meinung nach war sie viel zu lang, was ihren Wert angeht. Ein Dutzend Sonnen, etwa zwanzig bewohnte Planeten, die alle einer gigantischen Supernova zum Opfer fielen. Ich kürzte an die neunhundert Bücher auf ein einziges Werk, und Sie können mir glauben, daß dabei nichts verlorenging.« »Bewundernswert! Männer wie Sie werden benötigt, die oft langatmigen Auslassungen der Wissenschaftler auf einen lesbaren Stand zu bringen. Die Masse des Materials droht uns zu ersticken, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Das mag auch der Grund sein, warum uns die eigene Geschichte so lang erscheint. Was glauben Sie, wann unsere menschliche Rasse geboren wurde? Vor einer Million Zeiteinheiten oder mehr?« »Mehr, viel mehr«, sagte Dehan langsam und nachdenklich. »Ich glaube es auch fast.« Linkica senkte den Kopf, als drücke ihn die Schwere des Gedankens nieder. Dann sah er zum Fenster hinaus. »Ein Augenblick der Schönheit, sehen Sie nur! Gleich geht die Sonne auf. Der Himmel wechselt die Farbe.« Schweigend betrachteten sie die Urlandschaft. Nebel stieg vom Fluß auf, und die fernen Bergspitzen funkelten in einem intensiven Rosa. »Ich habe auf der langen Suche nach unserem wahren Ursprung einige seltsame Tatsachen entdeckt«, fuhr Linkica fort. »Haben Sie jemals darüber nachgedacht, warum wir das Zwölfersystem benutzen?« »Weil es, mathematisch gesehen, das günstigste ist. Wir haben zwölf Zahlen und die Null. Die Grundzahl läßt sich durch eins, zwei drei, vier und sechs teilen. Eine günstige Voraussetzung für alle weiteren Rechnungen.« »Das ist alles?« »Es ist genug.« »Haben Sie niemals die Vermutung gehabt, daß der Grund viel einfacher ist? Daß unsere Vorfahren vielleicht einfach nur die Finger ihrer beiden Hände zum Zählen nahmen und daß davon alles ausging?« Er legte seine Hände mit dem Dutzend Finger auf den Tisch. »Das wäre doch möglich, oder…?« »Vielleicht; aber es ist nur eine Theorie. Genausogut könnten Sie behaupten, wir würden mit einem Dezimalsystem arbeiten, wenn wir zufällig fünf Finger an jeder Hand hätten! Das wäre doch absurd.« Linkicas Gesicht wurde plötzlich ganz blaß. Er griff nach seinem Glas und leerte es auf einen Zug. »Eine interessante Zahl, zugegeben. Sind Sie durch Zufall darauf gekommen, oder gibt es in der Tat ein solches mathematisches Grundsystem, so wie unsere Computer mit der Zahl Zwei arbeiten?« »Das können wir leicht herausfinden, meine ich.« Dehan erhob sich und ging hinüber zum Nexia-Computer, der in allen öffentlichen Erholungsorten zu finden war. Er hatte seine Erfahrungen mit dem Robotgehirn, sehr gute Erfahrungen sogar, denn immer und immer wieder benutzte er ihn, um Antworten auf seine vielen Fragen zu finden. Man mußte nur wissen, welche Fragen man stellte.
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Geübt glitten seine Finger über die Tastaturen, als spiele er ein Musikinstrument. Blitzschnell wechselte er die Kombinationen, wenn Resultate eintrafen, und fragte erneut. Die Impulse gingen durch Transmitterverbindungen von dem Ortscomputer zu der universellen Speicherbank, die alle Daten der Galaxis in sich vereinigte und auf Verlangen ausstrahlte. Genauso schnell kamen sie zurück zum Fragesteller. Dekan kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich. »Ich habe etwas Interessantes herausgefunden. Es gab eine Zeitepoche – undenkbar lange ist das schon her – , da wurde das Zehnersystem allgemein benutzt. Es wurde durch das Zwölfersystem ersetzt, weil es wohl praktischer war und man das erkannte. Es sieht demnach so aus, als könnten wir die Fingertheorie fallenlassen.« »Nicht so schnell, mein Freund! Meine Untersuchungen haben ergeben, daß einst ein großer Teil der Menschheit nur zehn Finger an beiden Händen hatte.« – »Reiner Zufall!« Denan glaubte selbst nicht an seine Worte, noch während er sie aussprach. »Möglich. Aber wenn es eine Erklärung geben soll, wie lautete sie? Wenn beide Tatsachen Bindeglieder einer logisch-mathematischen Gleichung sind, sollten wir die Lösung in ein oder zwei Tagen finden. Meiner Meinung nach mußte der Wechsel vom Zehner- auf das Zwölfersystem zu jenem Zeitpunkt erfolgt sein, als sich auch die Zahl der Finger veränderte.« »Das klingt höchst unwahrscheinlich.« »Zugegeben, aber dann müssen wir auch berücksichtigen, daß eine universelle Mutation stattfand oder stattgefunden haben kann. Vielleicht auch ein großer Krieg. Und die Sieger führten dann das Zwölf er system ein.« »Einen derartigen Krieg hat es nie gegeben. Das würde ich mit Sicherheit wissen…« »Natürlich, trotzdem bleibt das Problem äußerst interessant.« Lange saßen sie schweigend da und beobachteten den Sonnenaufgang. In der Dschungellandschaft begann der neue Tag. Die Nebel wichen dem orangefarbenen Licht und verschwanden. An den Ufern des Urwaldflusses waren undeutlich Höhlen zu erkennen. Dehan drückte auf die Optikkontrollen im Fensterrahmen. Das Bild vergrößerte sich. Nun waren auch primitive Hütten zu sehen, und aus einer von ihnen kam ein blauhäutiges Geschöpf, den Saurierrachen weit aufgerissen. Die Reihe der scharfen Zähne war beeindruckend. Mit den Zehen nahm das Tier einen Stock vom Boden auf und kratzte sich damit den schuppigen Rücken. »Sie sind noch von der Zeit abhängig«, stellte Linkica sachlich fest. »Uns erging es einst ähnlich. Die Evolution dürfte keine Fragen mehr offenlassen.« »Wie meinen Sie das?« »Der Lebenszyklus dieser Geschöpfe hängt noch von der Rotation ihres Planeten ab. Sie schlafen, wenn es dunkel wird. Und sie erwachen, sobald
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die Sonne aufgegangen ist.« »Sehr unnatürlich, finde ich.« »Absolut nicht. Leben, das nur auf einen Planeten beschränkt ist, muß zu dieser Lösung kommen. Wir haben Tausende von Generationen benötigt, uns aus diesem ursprünglichen Lebensrhythmus zu lösen und nur dann zu schlafen, wenn wir müde sind – unabhängig vom jeweiligen Stand der jeweiligen Sonne.« »Ich könnte es mir auch nicht anders vorstellen. Wenn aber dieser Wechsel wirklich stattfand, aus welchem Grunde mag es geschehen sein?« »Das scheint mir klar zu sein: die Türen, die Transmitter! Ihre Erfindung muß die menschliche Lebensweise radikal verändert haben.« Dehans Augenbrauen hoben sich. »Sie gehören demnach nicht zu jenen Personen, die daran glauben, daß es die Türen schon immer gegeben hat, solange wir existieren?« »Ein Ammenmärchen! Die Türen sind Artifakte, die heute noch gebaut und installiert werden. Wenn sie nun auch wie eine einzige solide Einheit wirken, müssen sie früher einmal anders ausgesehen haben. Man findet nur wenige Exemplare davon in den Museen. Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, warum es immer zwei Türen sind, die eine gemeinsame Einheit bilden?« »Nein, das habe ich nicht«, gab Denan zu. »Vielleicht muß es einfach so sein.« »Nichts ist ohne Grund. Das habe ich von einem Ingenieur. So perfekt die Türen auch sein mögen, es kann immer ein Defekt eintreten. Ist das der Fall, kann der Betroffene seinem Glück danken, daß er noch eine Ersatztüre hat. Denn es gibt genug Orte, an denen man bestimmt nicht den Rest seines Lebens verbringen möchte.« »Das stimmt allerdings«, gab Dehan wiederum zu. Ihn schauderte bei dem Gedanken, für immer auf diesem Planeten bleiben zu müssen. »Die Logik selbst läßt nur den Schluß zu«, fuhr Linkica unbeirrt fort, »daß es einst eine Zeit gab, so undenkbar uns das auch erscheinen mag, in der die Menschheit keine Türen kannte.« »Daraus folgt«, stellte Dehan fest, »daß Sie kein Monolinearist sind, sondern vielmehr ein Multifontist.« »Natürlich, was sonst? Es ist biologisch unmöglich, daß an verschiedenen Orten des Universiums unabhängig voneinander dieselbe Rasse entsteht und sie sich später ohne nachteilige Folgen vermischen kann. Es muß also eine Zeit gegeben haben, in der wir noch keine Türen besaßen und somit auf einen bestimmten Raum beschränkt blieben.« »Auf einem Planeten?« Linkica lächelte. »Das haben Sie gesagt, nicht ich! Vielleicht sind Sie jetzt mit Ihrer Schlußfolgerung zu weit gegangen.« »Warum? Ich denke ähnlich wie Sie, und somit muß ich auch zu identischen Schlußfolgerungen gelangen, ob Sie es nun zugeben wollen oder nicht. Ich werde sogar noch weitergehen und behaupten, daß unsere Rasse von einem
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einzigen Planeten abstammt. So wie jene Reptilien dort unten am Fluß, die nicht in der Lage sind, ihre Welt zu verlassen. Noch nicht!« »Fast zwingen Sie mich, Ihnen zuzustimmen, Dehan. Eine physische Veränderung erkenne ich an, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß damit eine so gewaltige kulturelle Veränderung verbunden sein soll. Vielleicht stammen wir wirklich von einer Welt wie dieser hier.« »Ich denke ähnlich und habe unsere Spuren zurückverfolgt, so weit es mir möglich war. Immer wieder habe ich feststellen müssen, daß die einfachsten Probleme die schwierigsten sind.« Linkica sah ihn forschend an. »Wäre es möglich, daß Sie bei Ihren Nachforschungen auf den Ursprungsplaneten der Menschheit gestoßen sind?« »Vielleicht, wenn ich auch nicht sicher sein kann. Ich habe alle vorhandenen Berichte zurückverfolgt, bis es keine Aufzeichnungen mehr gab. Ich bin dem ältesten Material nachgegangen, und immer stieß ich auf denselben Planeten. Ich weiß nicht, ob es der Planet ist, aber mit Sicherheit ist es der älteste.« »Darf ich von Ihnen den Kode erfahren?« »Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen den Kode mitzuteilen. Wir können, wenn Sie Lust verspüren, den Planeten jetzt gleich aufsuchen.« – »Sie sind sehr freundlich, Dehan.« »Es macht mir Freude, denn es gibt viel zuwenig Menschen, die sich für ihre Vergangenheit interessieren.« Denan ging voran. Durch einen Eingang, eben durch »die Tür«, gelangten sie in einen spärlich eingerichteten Raum, der fast primitiv wirkte. »Es kommen nur selten Besucher hierher«, erklärte Dehan. »Sie können es an der Graphik sehen. Meine Besuche waren die ersten seit Tausenden von Zeiteinheiten. Die anderen Räume sind versiegelt.« Er überprüfte die Kontrollen und nickte. »Luft, Temperatur, alles in Ordnung. Kommen Sie.« Die schwere Pforte öffnete sich, und die beiden Männer gelangten in einen langen Korridor, auf dessen rechter Seite Sichtluken angebracht waren. Links gab es kleinere, abgeschlossene Räume, die lange nicht benutzt schienen. »Tot!« stellte Linkica enttäuscht fest, als er nach draußen blickte und die Landschaft sah. Es gab keine Atmosphäre. Eine Sonne, kalt und weiß, stand im Schwarz des Alls über den leblosen Sanddünen und der wasserlosen Wüste. Felsige Hügel erstreckten sich bis zum Horizont, ohne jede Vegetation, ohne Leben. Ganz in der Nähe erhoben sich einige Monolithen, von Rost und Witterung zerfressen. Sie waren eindeutig künstlichen Ursprungs. »In den Räumen sind jene Dinge aufbewahrt, die man auf dieser toten Welt fand.« Linkica folgte Dehan in einen der Ausstellungsräume. »Das kann nichts und alles bedeuten«, sagte er und deutete auf die verrotteten Klumpen aus Metall und Fels. »Ich weiß; aber haben Sie mehr erwartet?«
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»Natürlich nicht, Sie haben recht.« Linkica betrachtete die undefinierbaren Reliquien, dann sah er wieder hinaus in die leblose Landschaft des toten Planeten. Er erschauerte, obwohl es in dem Korridor nicht gerade kühl war. »Nun?« »Man spürt die Jahrmillionen«, gab Linkica zu. »Mehr Zeit, als ich mir jemals vorstellen kann, ist hier vergangen. Ich beginne zu begreifen, wie kurz unsere Lebenspanne ist und wie unwichtig wir selbst sind.« »Ich habe Ähnliches empfunden, als ich zum erstenmal hierherkam. Man sagt, daß der Mensch die Tatsache seines eigenen Todes nur ungern akzeptiert und begreift. Aber wenn ich hier stehe, dann kommt mir zu Bewußtsein, was der Tod einer ganzen Rasse bedeutet. Wenn wir die Türen niemals erfunden hätten, wären wir hier einst gestorben und hätten nur diese eine Welt gekannt.« »Zum Glück war es nicht so. Wir sind universell, und wir herrschen überall…« »Aber wie lange noch? Können wir die Galaxis nicht mit einem Planeten vergleichen, wenn wir Zeitspannen außer acht lassen? Kann nicht auch eine Galaxis sterben? Könnten wir nicht durch eine andere Rasse ersetzt werden? Durch eine bessere und stärkere? Ich gebe zu, das klingt wie ein Alptraum. Die Türen sind jetzt überall. Könnte nicht eine von ihnen am verkehrten Platz installiert sein? Auf einem Planeten vielleicht, auf dem unsere Nachfolger bereits warten? Sie mischen sich unter uns und beenden unsere Herrschaft, ehe wir es bemerken.« »Durchaus möglich«, stimmte Linkica unangenehm berührt zu. »Im Verlauf einer Ewigkeit ist alles möglich. Immerhin würde es eine unmerkliche und schmerzlose Invasion sein. Aber sagen Sie, worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« »Ich wollte Ihnen noch etwas sagen. Sehen Sie sich dieses Artifakt an!« Das Licht wurde automatisch heller, als sie sich der Figur näherten. Ob Fotografie oder Malerei, die Gestalt war lebensgroß und lag unter einer dicken, schützenden Glasschicht, die sie vor dem Verfall bewahrte. »Was soll das sein?« fragte Linkica erstaunt. »Es sieht wie ein Mensch aus; aber die Kreatur hat Haare auf dem Kopf. Auch fehlen ihr die Schutzmembranen vor den Augen. Dann der Körperbau, ganz verschieden von dem unseren. Ja, und dann die Hände! Fünf Finger an jeder Hand, also zehn…« Er verstummte plötzlich und sah Denan aus weit aufgerissenen Augen an. »Richtig, und darum eben habe ich Angst, Linkica. Der Name, der unter dem Bildnis steht, ist mir bekannt. Wir finden ihn auch in unseren eigenen Berichten, in sehr alten Berichten. Und wenn man ihn so betrachtet, könnte man meinen…« »Aber wir sind doch die Menschen!« »Sind wir das? Wir nennen uns so, das stimmt. Aber könnte es nicht möglich sein, daß wir einst vor undenkbaren Zeiten ihn ersetzt haben und seine
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Nachfolge antraten?«
»Aber – wer sind dann wir?«
»Wir? Wir sind die jetzige Menschheit. Das kulturelle Erbe macht uns dazu.
Vielleicht auch die Herkunft. Aber das ist es nicht, was mich stört und was
mir Sorgen bereitet. Es ist eigentlich mehr eine Befürchtung als ein
Gedanke.« Einen Augenblick herrschte Schweigen in dem Korridor.
Draußen lag die tote Welt im Licht der grellen Sonne. »Ich überlege mir,
was draußen im Universum darauf wartet, uns eines Tages zu ersetzen. Oder
schon dabei ist, uns aus unserer Stellung zu verdrängen…«
ENDE
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