KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KLLTUBKUNDLICHE
HEFTE
PIERRE ROUSSEAU
STAHL P I O N I E...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KLLTUBKUNDLICHE
HEFTE
PIERRE ROUSSEAU
STAHL P I O N I E R E DER MODERNEN TECHNIK
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MUUNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK-BASEL
Wer hat schon einmal darüber nachgedacht, wie die Welt ohne Stahl aussehen würdet Ohne Stahl gäbe es keine Eisenbahn, keine Nähnadeln, keine Eisenträger, keine Automobile, keine Stahlbetonbrücken, keine . . . Aber wenn wir begreifen wollen, was uns alles fehlen würde, brauchen wir uns nur umzusehen und die Gegenstände, auf die unser Blick fällt, 2u befragen, ob sie nicht irgendwie mit Stahl zu tun haben — und wäre es auch nur durch das Werkzeug, mit dem sie hergestellt werden. Zunächst wollen wir ein paar Zahlen vergleichen. Als damals größter Stahlproduzent der Welt erzeugte Großbritannien im Jahre 1851 nur sechzigtausend Tonnen Stahl gegenüber zweieinhalb Millionen Tonnen Eisen, das zur gleichen Zeit seine Blütezeit erlebte. Der Eiffelturm ist bis heute Symbol dieses „Eisenzeitalters" geblieben; ein verspätetes Symbol übrigens, denn im Jahre seiner Fertigstellung — 1890 — ging die britische Eisenerzeugung auf zwei Millionen Tonnen zurück, während die Stahlproduktion auf dreieinhalb Millionen Tonnen hinaufschnellte. Zur gleichen Zeit erreichte die Weltstahlproduktion fast zwölf einhalb Millionen Tonnen. Niemand wird sich darüber wundern, daß die Stahlindustrie als wichtigste Industrie der Welt gilt und die Meisterung des Stahls als bedeutendste Errungenschaft des 19. Jahrhunderts angeschen wird. Der Schöpfer dieser Industrie aber, der Mann, der den Anstoß zu ihrem so gewaltigen Aufblühen gab, ist so gut wie völlig unbekannt — es ist Henry Bessemer.
Erfindungen am laufenden Band Um unseren Helden in seinen Kindertagen aufzustöbern, müssen wir nach England in die Umgebung von London reisen und uns nach dem kleinen Flecken Charlton in Hertford begeben. Die Geschichte beginnt während der Regierungszeit König Georgs IV. In Charlton interessiert uns eine kleine Fabrik, eine Gießerei für Drucklettern, die Anthony Bessemer gehört. Hierher hatten sich die Eltern des kleinen Henry geflüchtet, als in London, wo sie zuvor 2
wohnten, das Gerücht umlief, Napoleon werde landen, um das halsstarrige England zu züchtigen, das sich noch immer seiner Herrschaft und seinem Einfluß entzog. Der am 18. Januar 1813 geborene Henry Bessemer ist ein aufgeweckter, munterer und schlauer Bursche. Wenn er nicht gerade durch die Felder rennt, können wir ihn sicher im väterlichen Werk herumstreichen sehen, wie er den Arbeitern zusieht und das Handwerk erlernt. Es gibt natürlich auch Schulstunden, aber Henry richtet es sich so ein, daß er sich damit nicht zu sehr plagen muß. Er ist nicht besonders fleißig und legt keinen Wert darauf, vor der Welt zu glänzen. Ein kleiner Faulpelz, wird man sagen. Aber urteilen wir nicht vorschnell! Sagen wir lieber, daß seine beträchtliche Intelligenz sich mit Vorliebe an handfesten Dingen schult. Ein weltzugewandter Geist, der zwei solide Helfershelfer hat: praktischen Sinn und Beharrlichkeit. Und man muß hinzufügen, dieser Geist weiß schon sehr genau zwischen nützlichen Tätigkeiten und solchen zu unterscheiden, die nichts einbringen. Hören v/ir uns nur die begeisterten Ausrufe der zärtlichen Eltern an: Hat das Kind sich doch ausgedacht, kleine Tiere in Ton zu modellieren, davon eine Form zu machen und das flüssige Blei hineinzugießen, das sein Vater für den Letternguß verwendet. Aber noch besser: Nun hat er eine tote Eidechse in einen Brei eingebettet, in dem sie ihren Abdruck hinterläßt. Sobald der Tierkörper durch Erhitzen verbrannt ist, braucht man bloß die flüssige Legierung hineinzugießen, und Henry zeigt mit Stolz die kleine, täuschend lebendige Figur. Die näheren und ferneren Nachbarn streiten sich um die hübschen Spielzeuge, und Henry, angespornt durch den Erfolg, stürzt sich in die Erfinderlaufbahn. Anstelle der kleinen Figuren macht er nun Medaillons, die er aus einer sehr feinkörnigen Legierung eigener Mischung gießt. Unter den Schmuckstücken seiner Kollektion findet sich auch — welche Ironie — das Porträt von Napoleon. Inzwischen ist Henry siebzehn Jahre alt geworden. Es ist an der Zeit, daß er das väterliche Haus verläßt und seinen Unterhalt in London verdient. Leider muß gesagt werden, daß er außer basteln und zeichnen nicht viel kann. Aber man darf annehmen, daß ihm der Ruf als Erfinder vorausgeeilt war, denn in der Hauptstadt findet er einen Fabrikanten, der ihm einen unerwarteten Vorschlag macht: „Wollen Sie mein Partner werden? Es handelt sich um die Erzeugung eines Samtes, der dem Genueser Samt gleichkommt. Ich denke auch an eine Maschine, mit der dieser Samt bedruckt werden kann." 3
Im Handumdrehen ist die gewünschte Maschine erfunden, montiert und in Betrieb gesetzt. Die Samterzeugung beginnt. Das Königsschloß Windsor und das Oberhaus gehören zu den Kunden. Schon reibt Henry sich die Hände. Aber der weitere Erfolg bleibt aus. Die Samtfabrikanten haben, beunruhigt durch die unerwartete Konkurrenz, ihre Geheimwaffen an die Front geworfen. Sie machen sich das Verfahren Bessemers zunutze und wenden es ungeniert an. Der junge Erfinder wird überspielt. Aber jedes Unglück hat etwas Gutes. Die Erfahrung mit seiner ersten Erfindung, die etwas hätte einbringen können, dient ihm zur Lehre; sie trägt dazu bei, daß aus der Puppe der Geschäftsmann schlüpft, der mit dem Techniker eins wird — und mit dem Mann überhaupt, und sogar mit dem Liebenden. Denn nun tritt die hübsche Miss Allen auf den Plan. Um sie zur Mrs. Bessemer zu machen, braucht der junge Mann Geld. „Kleinigkeit", meint er, „das werde ich mit meinen Erfindungen verdienen!" Diese Versicherung entbehrt nicht eines gewissen Dünkels, denn Bessemer hatte soeben eine neue Enttäuschung erfahren. Diesmal war eine Art Setzmaschine unter seinen Händen entstanden, eine Maschine, die Buchstaben gießt und Zeilen reiht, wodurch sie den Setzern Zeit und Mühe erspart. Leider wollten die Setzer aber nichts von dieser Neuerung wissen, und die Angestellten des „Family Herald", der die Maschine gekauft hatte, schlugen sie erbittert in Stücke. Eine Maschine zur Stempelung von Briefmarken, die Bessemer der Postverwaltung anbietet, hat nicht mehr Erfolg. Immerhin macht sie den damals üblichen Betrug unmöglich, alte Marken zu reinigen und wieder zu gebrauchen. Aber die Verwaltung ist nicht nur knauserig sondern auch unanständig: Sie bemächtigt sich einige Jahre später der Maschine Bessemers, ohne ihren Geldbeutel zu strapazieren, und benützt sie fünfzig Jahre lang.
Ein glücklicher Erfinder Und die Ehe mit Miss Allen? Nun, wir haben allen Grund zu glauben, daß die beiden Verlobten sich bald zur Ehe entschlossen und nicht warteten, bis Henry sein Glück gemacht hatte — was übrigens nicht sehr lange auf sich warten ließ. Jedenfalls begann etwa zum Zeitpunkt ihrer Vermählung die Zukunft rosiger zu werden und die Quelle des Reichtums zu fließen. Um ihrem Vater, einem leidenschaftlichen Tulpenliebhaber, eine Freude zu machen, hatte die Schwester Bessemers ein hübsches Album mit Tulpen-Aquarellen angefertigt. Henry bot sich an, den 4
Titel in Goldbuchstaben daraufzusetzen. Also ging er, Pulver zum Vergolden zu kaufen. „Das Kilo kostet dreihundert Francs", sagte der Kaufmann. „Wieso? Das Pulver wird aus Bronze gemacht, die höchstens drei Francs wert ist!" „Gewiß, aber es wird durch Spezialisten in Nürnberg von Hand hergestellt." „Ausgezeichnet. Man muß also eine Maschine erfinden, die das billiger macht!" Die Maschine entstand, funktionierte, lieferte die Ware zu einem lächerlich geringen Preis. Was wird der Erfinder tun? Wird er die Maschine sofort auf den Markt werfen, um die Nürnberger in offener Schlacht zu schlagen? Der junge Mann macht es anders: Statt sich in den Kampf einzulassen und allen möglichen Scherereien auszusetzen, zieht er den Weg der Verhandlung vor. Er verständigt sich mit den Leuten in Nürnberg und verkauft ihnen heimlich sein Patent. So liefern die Nürnberger „Goldstaubmacher" in Zukunft „mechanisch erzeugtes Pulver" — zum gleich hohen Preis wie das „handerzeugte Pulver", was die Abnehmer fünfunddreißig Jahre lang hinunterschlucken. Bessemer ist nun ein solider Vierziger geworden, beleibt, gut genährt und mit rotem Gesicht. Schon besitzt er ein annehmbares Vermögen und wird von einem Konstruktionsbüro unterstützt. Er macht das Erfinden zu seinem Beruf, das heißt, er „produziert"
Blasebalg einer Eisenschmelze mit Hebelantrieb. 5
Erfindungen. Allerdings erfindet er, zum Unterschied von so vielen Wirrköpfen, nicht irgendetwas Beliebiges: Er arbeitet nur auf Bestellung und nur dann, wenn er den Absatz für umfangreich und — einträglich genug erachtet. So ergoß sich ein unablässiger Strom von Erfindungen aus dem Konstruktionsbüro: optische Gläser, Methoden zur Versilberung von Spiegeln, eine Maschine zur Gewinnung von Rohrzuckersaft, Kreiselpumpen, Bremsen für die Eisenbahn, und sogar eine geflügelte Granate. Dieses Projekt war durch den Krimkrieg inspiriert worden, der gerade begonnen hatte (1854). Franzosen und Engländer hatten sich gegen die Russen verbündet. Der Neffe Napoleons I., der durch wenig anerkennenswerte Mittel auf den Thron Frankreichs gekommen war, hatte in England Gnade gefunden. Im Gegensatz zu den Engländern schätzten die Franzosen ihre Armee und waren stolz auf eine gute Artillerie. Das erklärt, wieso Bessemer kühnen Mutes eine Audienz bei Napoleon III. erbat, um seine Granate vorzuführen. Bessemer wurde wohlwollend empfangen und erläuterte sein Projekt: „Die Pulvergase wirken auf die Flügel wie auf Turbinenschaufeln; dadurch gerät die Granate in eine Drehung um sich selbst, wodurch die Tragweite größer und die Flugbahn beständiger wird." Napoleon III., der sich sehr für die Artillerie interessierte, war entzückt. Er strich sich den Schnurrbart und stellte ein paar einschlägige Fragen. Dann schloß er versonnen: „Leider kann ich das von mir aus nicht entscheiden. Suchen Sie die Dienststellen auf", und entließ ihn in Gnaden. Die Artilleristen der Militärverwaltung waren von der berühmten Granate stark beeindruckt. Aber sie sahen keine Möglichkeit, sie zu verwenden: „Wir haben keine Kanone, die so ein bemerkenswertes Geschoß abfeuern kann", gestanden sie. „Das spielt keine Rolle, ich werde Ihnen eine erfinden." Bessemer reiste nach London zurück und begann sofort mit der Arbeit.
Als Stahl noch ein Luxusmetall war Die Familie Bessemer wohnte damals in Baxton House, im Viertel von St. Pancras, mitten im Herzen der britischen Hauptstadt. Im Garten des Wohnsitzes war die kleine Kanone aufgebaut, die den Versuchen diente und, wie man sich denken kann, die Nachbarschaft in beträchtliche Aufregung versetzte. Bessemer forschte nach einem Metall, das widerstandsfähiger war als das gewöhnlich hierfür verwendete. „Wie kann man den Guß verbessern?" fragte er sich. „Indem man besseres Eisen hinzufügt? 6
Dazu braucht man zunächst einen Ofen. Und dann muß experimentiert werden." Diese ruhige Zuversicht verdient unsere Bewunderung. Bessemer hatte keinerlei wissenschaftliche Ausbildung gehabt. Er hatte keine Ahnving von Chemie und nicht den leisesten Schimmer von den Verhüttungsverfahren; und trotzdem packte er ein Problem an, das die zünftigen Eisenfachleute als ihr Forschungsgebiet betrachteten. Kaum einen Monat nach dem Besuch bei Napoleon III. wurden die ersten ermutigenden Ergebnisse erzielt. Bessemer hatte stark kohlenstoffhaltiges gewöhnliches Gußeisen in seinen Schmelzofen getan, reines Eisen hinzugefügt, um das Ganze härter zu machen und erzielte eine schmied- und formbare Mischung, die sich vortrefflich zur Herstellung von Schienen, Walzmaterial und Blechen, jedoch nicht für Kanonen eignete. Da kam er auf den Gedanken, die Verbindung von Gußeisen und kohlenstoff-freies Eisen zu beschleunigen, indem er einen Strahl Preßluft durch die Schmelzmasse im Ofen blies. Jede einzelne Reaktion wurde genau beobachtet. Eines Tages entdeckte er etwas Merkwürdiges: Während sich der ganze Inhalt des Ofens in flüssigem Zustand befand, gab es zwei kleine Stückchen, die beharrlich in festem Zustand blieben. Bessemer ergriff eine Eisenstange und holte sie heraus. Und nun sah er, daß es sich nicht um Guß handelte, der der Schmelze widerstand, sondern um Guß, der bereits geschmolzen und in Stahl verwandelt war. „Das bewirkt ohne jeden Zweifel der Luftstrahl", erkannte er. „Wo er die flüssige Schmelze durchdringt, erhitzt die durchgeblasene Luft sie genügend, um den Kohlenstoff zu verbrennen und sie in Stahl zu verwandeln, der nur noch wenig Kohlenstoff aufweist." Um die Natur und Tragweite der Entdeckung zu verstehen, wird an dieser Stelle ein Wort der Erklärung zweckmäßig sein. Der Ausgangspunkt der Eisenindustrie ist, wie jeder weiß, ein Eisenerz, ein Gestein, das genügend nutzbares Eisen enthält (reines Eisen kommt in der Natur kaum vor). Das Erz schüttet man in den Schlund des Hochofens, immer abwechselnd mit einer Schicht Koks. Im Herzen dieser Hölle wird das Eisen flüssig, löst sich aus seiner steinernen Schlacke und reichert sich, während es über den glühenden Koks fließt, mit Kohlenstoff an. Was also aus dem Abstichloch fließt, ist nicht reines Eisen, sondern ein Eisen mit 3 bis 5 Prozent Kohlenstoff — „Guß"- oder „Roheisen", das sich nur gießen, nicht aber walzen, pressen und durch Schmieden in beliebige Formen überführen läßt. Um solches Sdimiedeeisen zu erhalten, muß man es also aus dem Roheisen gewinnen. Zu diesem Zweck kann man es in einem „Puddelofen" erhitzen und durch die große Hitze von seinem Kon'en7
stoir befreien: Wenn aller Kohlenstoff weicht, wird das Roheisen zu reinem Eisen. Es ist jedoch nicht sehr vorteilhaft, die Sache so weit zu treiben. Die Hüttenleute ziehen es vor, bei einem Kohlenstoffgehalt von 0,1 bis 1,7 Prozent stehen zu bleiben, denn wenn das Eisen noch diesen schwachen Kohlenstoffgehalt hat, ist es kein reines Eisen mehr, sondern Stahl. Sicherlich kennt jedermann die Überlegenheit des Stahls über das Eisen und die Gründe für seine weltweite Herrschaft. Reines Eisen, das rostempfindlich, zu weich und wenig widerstandsfähig ist, wäre als Ausgangsmaterial für die moderne Industrie ganz ungeeignet gewesen. Wenn die Industrie sich hätte mit reinem Eisen begnügen müssen, dann gäbe es noch heute keine Verbrennungskraftmaschinen, kein Automobil, kein Flugzeug, keine Waschmaschine, keinen Rasierapparat, keine Uhr; Nähnadeln und Messer würden ein Heidengeld kosten, und das Schienennetz wäre weit davon entfernt, seine Spinnenfinger überall hinzustrecken. Das wußte man übrigens schon lange vor Bessemer, und das Bedauern, Stahl nicht in nennenswerten Mengen herstellen zu können, wurde dadurch verstärkt. Denn damals, als unser Erfinder seinen Ofen in Baxton House ansteckte, erzeugte man Stahl immer noch in den alten „Puddelofen". Eine Ausbeute von 30 Tonnen, die man aus tausend Schmelztiegeln erhielt, wurde als großer Erfolg betrachtet. 1851 betrug die Produktion von Stahl auf dem gesamten Erdball nicht mehr als 60 000 Tonnen. Zukunftsromane gab es zu dieser Zeit zwar noch nicht, aber die Ingenieure ahnten, daß derjenige, der die Stahlerzeugung in großen Mengen möglich machte, eine Umwälzung in der gesamten Zivilisation hervorrufen würde.
Revolution in der Eisenindustrie Man versteht also die Aufregung, die Bessemer ergriff, als er eines schönen Tages des Jahres 1855 bemerkte, daß er, ohne es zu wollen, Stahl erzeugt hatte. Auf den ersten Blick war das Ergebnis kaum zu begreifen: Wie konnte es geschehen, daß ein Strahl kalter Luft die Temperatur der Schmelze erhöhte, und sogar so weit erhöhte, daß der Kohlenstoff verbrannte? Man hätte doch erwarten müssen, daß Abkühlung eintreten würde! Bessemer dachte nach, und er begriff, daß die Verbrennung des Kohlenstoffs die Mehrhitze erzeugte. „Aber", sagte er sich, „wenn der verbrennende Kohlenstoff die Temperatur genügend erhöht, um das Roheisen in Stahl zu verwandeln, brauche ich 8
meinen Ofen nicht zu heizen. Ich brauche nur die flüssige Roheisenschmelze hineinzugießen: Der Strahl kalter Luft erhöht durch ihren Sauerstoff die Hitze, so daß der Kohlenstoff verbrennt. Seine Ansprüche aus dieser genialen Idee sicherte sich Bessemer durch Beantragung eines Patentes; dann setzte er mit Hilfe seines Schwiegervaters die Versuche fort. „Was ist zu tun, um den Stahl in größeren Mengen zu erhalten und die Qualität zu verbessern? Muß man den Luftstrom verstärken? Ihn erwärmen? Ihn durch einen Dampfstrahl ersetzen? Muß man den Ofen rotieren lassen, damit die Schmelze gleichmäßig durchlüftet wird? Muß man . . .?"• Der erste Ofen Bessemers war ein kleiner senkrechter Behälter von ungefähr 1,20 Meter Höhe, mit einem senkrechten Rohr, durch das der Luftstrom .eindrang. Im Bestreben, Unterbrechungen im Prozeß und jeden Wärmeverlust zu vermeiden, versuchte der Erfinder es mit anderen Modellen. Als er vorankam und seine ersten Ergebnisse bestätigt fand, entschloß er sich, sie der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Der 12. August 1856 war wirklich ein bemerkenswerter Tag. Und die Hüttenmänner, die der Sitzung beiwohnten, brauchten nicht zu bedauern, daß sie sich hinbemüht hatten! War nicht schon der Titel von Bessemers Vortrag kaum überbietbar aufregend? „Erzeugung von gutem Stahl'ohne Brennstoff." Das war doch kaum zu glau-
Aus Bessemers erster Versuchsanlage (links) entstand die Bessemerbirne. 9
ben! Aber der Erfinder hatte seine Vorführung vorsorglich mit guten und soliden Beweisstücken unterbaut. Die Techniker prüften, betasteten, wogen die mitgebrachten Stahlmuster in der Hand und sahen sich verblüfft an. „Der hat's doch tatsächlich geschafft", brummten sie. „Kaufen wir ihm die Herstellungslizenz ab, bevor alle Wel sich darauf stürzt." So wandten sidi fünf Eisenfachleute an Bessemer; gegen die Zahlung von 27 000 Pfund wurden sie ermächtigt, Stahl nach seinem Verfahren herzustellen. Auf Bessemer aber wartete nicht der Triumph, sondern die Katastrophe. Die Erzeuger hatten ihm die Lizenz abgekauft und erwarteten nun, guten und schönen Stahl tonnenweise zu gewinnen. Zuerst waren sie überrascht, dann gerieten sie in Zorn: Statt des erhofften Materials hielten sie einen minderwertigen, von Blasen durchzogenen Stahl in der Hand, der noch dazu wenig widerstandsfähig war und zerbröckelte. Überall mußte man die Fabrikation einstellen; allenthalben erhob sich Hohngeschrei, und anstatt süß duftender Weihrauchwolken des Ruhmes sah Bessemer rings um sich Haufen gestempelter Papiere in die Höhe steigen, die mit den schmückenden Beiworten „Scharlatan" und „Dieb" versehen waren. Der Unglückliche schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Da er ein sehr ehrenwerter Mann war, begann er die 27 000 Pfund zurückzuzahlen. Dann fragte er sich bedrückt, was eigentlich geschehen war. Aber nicht er fand die Lösung, sondern der Sohn eines Gießers aus dem Wald von Dean, ein fünfundvierzigjähriger Ingenieur namens Robert Mushet. „Die Blasen, die Sie sehen", erklärte Mushet. 1856, „kommen von Gaseinschlüssen in der Schmelze, die nicht austreten konnten. Um ihre Bildung zu verhindern, muß man der Schmelze eine ,entgasende' Substanz wie etwa die Legierung von Mangan und Eisen — Ferromangan — beigeben, die unter dem Namen Spiegeleisen bekannt ist." „Wird das genügen, um meinen Stahl blasenfrei und fest zu machen?" fraete sich Bessemer besorgt.
Bessemer triumphiert Mittlerweile erreichte ihn eine Nachricht, die ihn etwas tröstete. Ein Schwede namens Goransson — der offenbar Spaß daran hatte, verfahrene Angelegenheiten wieder ins rechte Gleis zu bringen — verlangte, der allgemeinen Abneigung zum Trotz, von ihm eine Lizenz. Bessemer schickte sie ihm entzückt und postwendend zu, zusammen 10
mit einem Ofen und obendrein noch mit einem Spezialisten. Und im Juli 1858 erhielt er wieder eine Nachricht: Goransson hatte gleichförmigen und tadellosen Stahl erzielt; das Verfahren Bessemers war also erfolgreich. Der Erfinder zerbrach sich den Kopf: Warum gelang in Schweden, was in England gescheitert war? War vielleicht das Ausgangsmaterial — das heißt die Schmelze — nicht die gleiche? Goransson hatte Eisenerz schwedischer Herkunft verwendet, während die englischen Eisenfachleute natürlich ihre eigenen Erze verarbeitet hatten. Ahnungsvoll ließ Bessemer Muster der beiden Sorten untersuchen. Und dann hatte er den Schlüssel zu dem Geheimnis in der Hand: Die englischen Erze hatten einen starken Gehalt an Phosphor, während die schwedischen davon frei waren. Von diesem Unterschied hing das Schicksal seiner Erfindung ab. Wir glauben gerne, daß Bessemer einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Nun war ja alles klar. Um sein Verfahren zum Erfolg zu führen, genügte es, phosphorhaltige Schmelze zu vermeiden und außerdem Ferromangan beizugeben, wie Mushet es vorgeschlagen hatte. Gewiß hat er mit liebenswürdiger Miene zu seinen alten Kunden gesagt: „Nun sehen Sie sich das an: Jetzt geht es großartig! Haben Sie nicht Lust, die Versuche wieder aufzunehmen?" Aber obwohl der Erfinder im Mai 1859 die Ursachen seines Mißerfolges und die Gründe für neue Hoffnungen öffentlich darlegte, hatten die Eisenfachleute keinen Mut, noch einmal zu beginnen. Bessemer schickte sich darein. „Ich werde es also in meiner eigenen Fabrik vorführen", sagte er. Denn inzwischen hatte er in Sheffield mit Hilfe seines Schwiegervaters und zweier Freunde ein kleines Stahlwerk gebaut. Hier begann er mit einem Eisenerz geringen Phosphorgehaltes neue Versuche und beschäftigte sich damit, die ideale Form für den Ofen zu finden. Verschiedene Ausführungen folgten einander; nach dem festen Ofen kam der sich drehende; nach der seitlichen Einblasung die Bodeneinblasung; schließlich gab Bessemer noch im gleichen Jahr 1859 seinem Apparat die Form einer ungeheuren Birne, die um eine Achse schwenkbar war. Der flüssige Guß aus dem Hochofen wurde mit einem großen Löffel durch die Öffnung der Birne eingefüllt und durch sie ließ man auch den fertigen Stahl ausfließen. Das war die berühmte Bessemerbirne, deren endgültige Ausführung im folgenden Jahr patentiert wurde. Bessemer hatte gesiegt. Und wenn auch im ersten Jahr die Produktion der Fabrik in Sheffield mit einem Verlust von 150 000 Francs verkauft wurde, so brachte sie fünf Jahre später schon einen 11
Gewinn von 250 000 Francs, nochmals fünf Jahre später von 750 000 Francs. Nun verbreitete sich das Verfahren. Bald baute Alfred Krupp in Essen die erste deutsche Fabrik nach dem System Bessemer. Im gleichen Jahr kam es nach Frankreich. 1863 war Österreich an der Reihe. In den Vereinigten Staaten erfolgte 1864 der erste Abstich von Bessemerstahl. Der Stahl hatte also endgültig über das Eisen gesiegt. Vom Luxusmetall sank er, ohne etwas von seiner Qualität einzubüßen, auf den Preis der wohlfeilen Eisensorten herab, und man konnte ihn für die Herstellung von Werkzeugen, Schienen und Schiffen verwenden. Von 60 000 Tonnen im Jahre 1851 gelangte die Weltproduktion auf 215 000 Tonnen im Jahre 1870, erreichte 1880 die Millionengrenze und stieg im Jahre 1890 auf fast zwölfeinhalb Millionen Tonnen. Von allen Wohltaten, welche die Verbreitung des Stahls mit sich brachte, war die Erleichterung der menschlichen Arbeit nicht die geringste. Mit dem Einsatz der Bessemerbirne verschwanden die alten Puddelöfen und die Puddler wurden an anderen Arbeitsplätzen eingesetzt. Das Puddeln war eine schreckliche Arbeit: Der Arbeiter mußte die flüssige Schmelze umrühren, wobei ihn das grelle Licht des Ofens blendete und sein Körper einer schmerzenden Hitze ausgesetzt war. Ein Arbeitstag dauerte zwölf Stunden, die Bezahlung war schlecht, und der Arbeiter holte sich bald den grauen Star oder eine Lungenentzündung und hatte kaum Aussicht, älter als fünfzig Jahre zu werden.
Der unverbesserliche Erfinder Bessemer führte inzwischen Krieg. Es war vorauszusehen, daß ein solcher Erfolg Eifersucht und Groll nach sich ziehen mußte. Man hielt ihm mit mehr oder weniger Recht Patente entgegen, suchte ihn in Prozesse zu verwickeln, ihn zu diskreditieren und zu vernichten. Aber Bessemer war ein geschickter Mann und wußte sich von seinen Gegnern bald durch Überredung und Schläue, bald durch kräftigere Mittel zu befreien. Mushet gegenüber, dessen Entdekkung für ihn ein wahrer Rettungsanker gewesen war, hatte er die erste Methode angewandt, unterstützte ihn und zahlte der Tochter des Ingenieurs, der 1891 starb, eine anständige Pension. Henry Le Chatelier erzählt, daß Bessemer eines Tages in einem von London abgehenden Zug hörte, wie seine Reisegefährten im Abteil ein aufschlußreiches Gespräch führten; es war die Rede von einem Geschäftsmann, der zu einem ungeheuren Schlag ausholte: Er wollte eine Gesellschaft mit einem Kapital von 50 Millionen gründen und diesen verteufelten Bessemer zum Platzen bringen. 12
Bessemer sprang in der nächsten Station unerkannt ab, erwischte einen nach London zurückkehrenden Zug und überfiel am anderen Morgen seinen Feind. „Hier haben Sie mein Ultimatum", erklärte er, „entweder Sie entschließen sich mit offenen Karten zu spielen, oder morgen wird London mit Flugschriften überschwemmt, die Sie des versuchten .Boykotts beschuldigen, und kein Mensch wird mehr mit Ihnen verhandeln wollen." Bessemer gehörte bereits zu jenen, auf welche die üblichen Nackenschläge keinen Eindruck mehr machen. Die wissenschaftlichen Gesellschaften überhäuften ihn mit Preisen und Medaillen. Und jede Tonne Stahl, die irgendwo in einem Winkel der Erde erzeugt wurde, brachte ihm eine Einnahme von einem Pfund, wenn es sich um Schienen handelte, und von zwei Pfund bei den anderen Erzeugnissen. Niemand weiß, wie viele Millionen er auf diese Art anhäufte. Bessemer hatte als geborener Erfinder geradezu den Trieb, Erfindungen zu „produzieren". Der goldene Regen hatte sein erfinderisches Genie keineswegs beeinträchtigt. Ganz im Gegenteil: Das erworbene Geld diente ihm zu weiteren Untersuchungen, und als die Sache mit dem Stahl ins Laufen gekommen war, begannen die Erfindungen nur so herauszusprudeln. Der letzte Strauß aus diesem Blumengarten von Erfindungen war ein Passagierdampfer, auf dem man nicht seekrank werden sollte. Das Schiff kostete ein Vermögen. Bessemer ließ es für den Fährdienst über den Ärmelkanal bauen und schmückte es prunkvoll aus. Der Seekrankheit war der Eintritt in den Salon verboten. Der Salon war nämlich an einem Kardangelenk aufgehängt, sollte die Stöße dämpfen und stets eine senkrechte Lage bewahren. Leider verlief die erste Reise anders als erwartet: Statt die Schwingungen zu verringern, steigerte sie der hängende Salon; die Passagiere wurden zu Boden geschleudert, und man wartete nicht erst, bis sie mit dem Kopf nach unten hingen, sondern blockierte das System möglichst rasch. Der Kapitän war durch dieses Ereignis offenbar etwas verwirrt worden, denn er verfehlte die Hafeneinfahrt von Dünkirchen und riß hundert Meter vom Hafendamm weg. Das war die letzte Tat Bessemers. Weise geworden, zog er sich mit sechzig Jahren auf seine schöne Besitzung in der Umgebung von London zurück, die er zu seinem Vergnügen eigenhändig ausschmückte. Hier starb der große Mann am 15. März 1898 im Alter von fünfundachtzig Jahren. 13
Die Geschichte des Schrotts 1898: Das Zeitalter des Stahls war in vollem Aufschwung. Die Weltproduktion, die um 1870 kaum über eine halbe Million Tonnen hinausgegangen war, überstieg 25 Millionen. Die anfänglich kleinen Bessemerbirnen, die nur einige hundert Kilo auf einmal verarbeiteten, hatten ungeheuren Geräten Platz gemacht, die mehrere Tonnen Schmelze schluckten. Die Stahlwerke hatten sich in den wichtigsten Ländern vervielfacht. In aller Welt ergossen sich aus großen Retorten rotleuchtende Ströme, die bald zu Schienen, Trägern und Werkzeugen geschmiedet, gewalzt oder gepreßt wurden. Aber es gab auch Abfall. Mißratene Schienen, Ausschuß beim Walzen, allerlei Eisenzeug, Überreste verschiedener Art — an Fabrikationsabfällen war wirklich kein Mangel. Schrott stapelte sich in den Fabrikhöfen; die Stahlleute betrachteten ihn betrübt, und der Gedanke, solche Mengen guten Stahls einbüßen zu müssen, zerriß ihnen das Herz. Immer wieder fragten sie sich, ob man ihn nicht noch einer nützlichen Verwendung zuführen könne. Die angesehensten Techniker hatten sich einhundertachtzig Jahre lang mit diesem Problem abgemüht. Einhundertachtzig Jahre — sagte ich. Bereits 1722 hatte nämlich der große Reaumur, ein ebenso gründlicher Physiker wie gelehrter Naturforscher, seine Untersuchungen über Stahlerzeugung und schmiedbares Eisen veröffentlicht. Er beschrieb darin u. a. die Verwendung von Schrott, der zusammen mit Roheisen geschmolzen wird, dem Eisenoxyd beigemengt ist. Reaumur hatte auf diese Weise bei Laboratoriumsexperimenten Stahl erhalten. Aber es ist ein weiter Weg vom Laboratoriumsversuch bis zur industriellen Auswertung. Viele waren gescheitert, und man braucht sich über diese Serie von Niederlagen nicht zu wundern: Um die Mischung Roheisen-Schrott-Eisenoxyd in schmelzflüssigen Zustand zu überführen, aus dem sich schön gleichmäßiger Stahl gewinnen läßt, hätte es viel wirksamerer Heizmittel bedurft, als sie damals zur Verfügung standen. Man benutzte dazu den „Herdofen"; die Mischung wurde auf einer Herdplatte aus feuerfestem Material ausgebreitet und durch die Hitze des Herdfeuers, die auch von der Ofenwölbung zurückstrahlte, auf die geeignete Temperatur gebracht. Es ist klar, daß man mit einer solchen einfachen Einrichtung die notwendigen 1500 bis 1800 Grad nicht mehrere Stunden lang aufrecht erhalten konnte. Nach manchen anderen, die das zu ändern suchten, überzeugte sich 1860 wieder einmal der soundsovielte Dick-
köpf von dieser Tatsache. Es war ein achtunddreißigjähriger französischer Ingenieur namens Pierre Martin. Jedoch — gerade in diesem Augenblick änderte sich die Lage völlig. Die Brüder Friedrich und Wilhelm Siemens, die in England lebenden Brüder von Werner Siemens, hatten ein neues Heizsystem für Öfen entwickelt. Dieses System bestand lediglich darin, den Luftstrom für die Verbrennung vorher erst durch den Ofen zu leiten und so zu erwärmen. Das war ganz einfach, es mußte einem nur einfallen... 1856 wurde dieser Gedanke patentiert und unverzüglich in der Praxis angewendet. Die Temperatur in den Stahlöfen konnte mit einem Schlag um 620 Grad gesteigert werden, wodurch sich die Ausbeute von 20 auf 100 Prozent erhöhte. Wie man sich denken kann, blieb diese Verbesserung nicht unbemerkt. Im Jahre 1862 spitzte unter anderen ein französischer Ingenieur namens Louis Le Chatelier die Ohren. „Wenn ich versuchen würde, im Siemensofen aus Schrott Stahl nach der Methode Reaumurs zu erzeugen?" fragte er sich. Er trat mit Wilhelm Siemens in Verbindung; der Erfinder kam nach Frankreich, baute seinen Ofen in einer Fabrik in Montlucon auf und machte sich an die Arbeit. . . und 1863 brachte wieder eine Niederlage. Diesmal fehlte nicht die Hitze, sondern die Sache scheiterte an der Qualität des feuerfesten Materials, mit dem der Ofen verkleidet war. Aber war es wirklich ein Fehlschlag? Eines Tages erhielt Le Chatelier nämlich einen Brief mit der Unterschrift „Pierre Martin", der ungefähr folgendes besagte: „Wenn Sie keinen Erfolg gehabt haben, so liegt es daran, daß Sie nicht über ein feuerfestes Material der gewünschten Qualität verfügen. Wenn Herr Siemens es wünscht, braucht er nur seine Versuche in meinem Werk in Sireuil fortzusetzen .. ."
Schöner und guter Stahl Pierre Martin, den wir vorhin erwähnten, hatte nämlich inzwischen weiter gedacht. Seine Geschichte führt uns zurück in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts, und zwar mitten in die französische Provinz. Die Martins waren eine bedeutende Familie in Bourges. Der Großvater mütterlicherseits war der Gründer einer Hammerschmiede, der Vater Emil Martin, Direktor dieses Unternehmens, war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Zeit und wurde Abgeordneter und Direktor der Eisenbahngesellschaft Paris-Lyon-Mittelmeer. Als Sproß 15
dieser wohlhabenden Industriellenfamilie wurde Pierre Martin am 18. August 1824 geboren. Von seiner Jugend wissen wir nicht viel: Wir haben es nämlich bei ihm mit einem Manne zu tun, dem das Kunststück gelang, die Stahlindustrie nochmals gewaltig voran zu bringen, — was einiges heißen will — und dabei in seinen Lebensumständen fast unbekannt zu bleiben. Man weiß, daß Pierre Martin nach der Kindheit in Bourges und den Jugendjahren in einem Pariser Gymnasium die Bergbau-Akademie besuchte. Er verbrachte dort ein Jahr, kehrte unter die väterliche Obhut zurück und durchlief die Anfangsstationen der üblichen technischen Laufbahn, die in der Gießerei und im Konstruktionsbüro begann. Als er schließlich auf eigenen Füßen stand, baute er Eisenbahnbrücken. Dieser erste Abschnitt dauerte neun Jahre. Dann brauchte sich Pierre Martin, der nun dreißig Jahre zählte, nur noch friedlich auf den Direktorsessel der Fabrik zu setzen, den ihm sein Vater anbot. Sireuil ist ein kleiner Flecken. Der Vater Emil Martin hatte dort einen Betrieb erworben, der Schmiede, Gießerei und Montagewerkstätten umfaßte. Pierre hätte sich auf diesem Posten die Tage gemächlich vertreiben können; gerade hier aber fand sein tiefschürfender Geist Gelegenheit, sich wirksam zu erproben. Überlegt und beharrlich ging der geniale Forscher an das große eisentechnische Problem heran: das Verfahren Reaumurs zu erproben und sich auf den Weg zu wagen, auf dem schon so viele gescheitert waren. Pierre scheiterte — und er mußte zwangsläufig scheitern — bis zu jenem Tag des Jahres 1863, als er den bereits erwähnten Brief an Le Chatelier schrieb, und Siemens voller Interesse in Sireuil eintraf. Man schrieb den 8. April 1864. Vater Emil und der Sohn Pierre Martin standen neben dem Siemensofen, den Pierre für das Schmelzen von Schrott hergerichtet hatte. Die Hitze ließ nichts mehr zu wünschen übrig. Und die feuerfeste Ausmauerung? Sie bestand aus Ziegeln von Kieselgut bester Qualität. Darauf hatte man Schrott und Roheisen gehäuft; lange Flammen mit hoher Temperatur leckten darüber hin. Gegen Ende des Vorgangs fügte man Manganeisen hinzu, wie es Bessemer auf Anregung von Mushet getan hatte. Die Umwandlung von Gußeisen in Stahl ging im Siemensofen nicht so rasch vor sich wie in der Bessemerbirne. Daher war die Kontrolle leichter; der Ablauf konnte aufmerksamer beobachtet werden, und so war eine bessere Qualität zu erwarten. Diese Qualität erhielt Pierre Martin wohlgemerkt nicht auf den ersten Anhieb. Das Experiment vom 8. April 1864 ergab nur einen 16
Siemens-Martin-Stahlwerk, in dem neben Roheisen auch Schrott verarbeitet werden kann.
spröden Stahl. Selbst als der Erfinder 1865 das Patent schon erhalten hatte, war es notwendig, das primitive Verfahren zu vervollkommnen, um einen zähen Stahl zu bekommen, der sich auswalzen ließ, und gleichzeitig die großen Materialverluste zu verringern. Der Laie kann sich kaum eine Vorstellung von der unbeirrbaren Hartnäckigkeit und der zähen, stillen Arbeit machen, die das erforderte, wird aber ihren Wert erkennen, wenn er sich an die Mißerfolge so vieler Forscher seit Reaumur erinnert. 1867 wurde die Weltausstellung in Paris eröffnet. Zusammengedrängt auf die fünfzehn Hektar des Marsfeldes lockten die Erzeugnisse der verschiedenen Industrien Menschen aus allen Ländern Europas an. Aber wer kann wissen, ob die Leute vielleicht nur kamen, um Sensationen zu bestaunen und vor allem die Lokomotiven, Kanonen oder geniale chemische Produkte zu bewundern? Kaiser Napoleon III. und die schöne Kaiserin Eugenie führten die vornehmen Fremden — den Zar, den König von Preußen und Bismarck — zwischen den Ständen hindurch. Natürlich gab es unter der Menge der Schaulustigen auch interessierte Besucher, Wissenschaftler, Ingenieure. Sie hielten sich vom Trubel der Messe fern und blieben lange vor den ausgestellten Konstruktionen stehen. 17
Ein Unbekannter macht das Rennen Leider müssen wir hinzufügen, daß Martin trotz des Interesses der Fachleute und ungeachtet der großen Goldmedaille, die er erhielt, weiterhin fast unbekannt blieb. Es war ihm gelungen, einen vorzüglichen Stahl zu liefern, der die Bewunderung der Kenner erregte; aber ihn zu verkaufen und damit Bessemer Konkurrenz zu machen, das stand auf einem anderen Blatt. Hier muß übrigens erklärt .werden, warum Martinstahl den Erfolg verdiente und worin er den Bessemerstahl übertraf. Da war einmal die Langsamkeit des Prozesses, die eine sorgfältigere Überwachung gestattete. Die rasch arbeitende Bessemerbirne lieferte zwar einen billigeren, dafür aber qualitativ geringeren Stahl, der sich wohl ausgezeichnet für Schienen verwenden ließ, aber noch nicht für die Erzeugung feinerer Werkstücke geeignet war. Im Gegensatz hierzu war der Martinstahl, aus welcher Art von Roheisen und Schrott er auch immer hergestellt war, ein Material bester Qualität — streckfähig und schweißbar —, wie man es für eine vielseitige Produktion benötigt. Zum Beispiel betrafen die ersten Bestellungen, die Martin sofort nach der Ausstellung erhielt, nicht nur Schienen, sondern auch Stahl für Werkzeuge und Federn, für Gewehrläufe, für Lokomotivräder, für Geschützlafetten. Voll Eifer und Hoffnung gründete der Erfinder im folgenden Jahr zusammen mit seinem Vater die Stahlgesellschaft Martin. Aber es kam eine schwere Zeit. Obwohl die Stahlwerke, die sich jetzt in Firminy befanden, bereits umgebaut waren, um das neue Verfahren anwenden zu können, drängten die Kunden in keiner Weise. Das Martin-Verfahren blieb ebenso unbeachtet wie Martin selbst. Während die gesamte Fachwelt an den Lippen Bessemers hing und seinen Erklärungen andächtig lauschte, sprach Martin in die leere Luft; seine Methode interessierte niemanden . .. Der arme Martin mußte nicht nur gegen das Totschweigen kämpfen; er hatte sich auch gegen die Angriffe der Erfinder zu verteidigen. Denn nicht nur die Brüder Siemens waren der Meinung, er gehe etwas leichtfertig mit ihrem Ofen um; da war noch die habgierige Horde derer, die bei dem neuen Verfahren ein Zubehör, ein Detail, einen Handgriff als Kind ihres Gehirns zu erkennen glaubten. Heute, nachdem fast hundert Jahre seit jenen Ereignissen vergangen sind und der Stahl ein gängiges Material ist, haben wir Mühe, den Grund für soviel Begeisterung und soviel Gezänk zu 18
verstehen. Martin hatte die Idee gehabt, alten Stahl, Schrott, einzuschmelzen, um neuen daraus zu machen. Aber war das etwas Neues? Die Einzelheiten seines Verfahrens zur Schrottausnutzung im Herdofen waren doch bereits bekannt! Reaumur hatte das Prinzip erklärt, Siemens hatte den Ofen gebaut, Mushet hatte die Beigabe von Ferromangan empfohlen. Und gab es nicht auch Louis Le Chatelier und eine Reihe von Vorläufern, denen Pierre Martin etwas schuldete? Sicherlich! „Keine der Einzelheiten des Martin-Verfahrens ist allein das Werk seines Urhebers", stellt Henry Le Chatelier fest. Aber Martin hatte nichtsdestoweniger eine neue Erfindung gemacht; der Beweis hierfür ist, schreibt Le Chatelier weiter, daß man „vor ihm nicht ein einziges Kilo Stahl im Herdofen erzeugte und nach ihm Millionen von Tonnen". Diese verschiedenen Schwierigkeiten erklären es, warum sich, im Gegensatz zum Bessemer-Verfahren, der Siemens-Martin-Ofen so langsam durchsetzte. Daß der Erfinder seine Methode allmählich verbesserte, trug immerhin dazu bei, sie nach und nach zu verbreiten. Der Umfang der Öfen wurde größer, und statt eine Tonne Stahl zu behandeln, arbeitete man nun mit Dutzenden von Tonnen; der Verbrauch an Brennstoff ging zurück, verminderte sich von 1000 Kilo auf 250 Kilo pro erzeugter Tonne Stahl; schrittweise sank auch der Preis; nach anfänglicher Beschränkung auf Spezialerzeugnisse machte der Martinstahl dem Bessemerstahl auch bei den gängigen Erzeugnissen Konkurrenz. 1883 erbauten britische Ingenieure die großartige Brücke über den Forth in Schottland, die den Fluß in zwei Jochweiten von je fünfhundert Metern überspannt, aus Martinstahl. Und ebenfalls aus Martinstahl begann man 1889 die Stahlgerüste zu den amerikanischen Wolkenkratzern zu errichten. Heute werden vier Fünftel der Weltproduktion an Stahl nach dem Martin-Verfahren hergestellt; das sind etwa 120 Millionen Tonnen. Wie die Bessemerbirne schließlich 50 Tonnen Schmelze aufnehmen konnte, wuchs auch der Martinofen beträchtlich über das erste primitive Gerät Martins hinaus; die mittlere Aufnahmefähigkeit beträgt 75 Tonnen, kann aber bis zu 200 oder sogar 300 Tonnen gesteigert werden. Es gibt sicher wenig Erfindungen, die eine solche Bedeutung und Verbreitung erlangt haben, und nach den genannten Zahlen brauche ich die Leser wohl auch auf diese Tatsache nicht besonders hinzuweisen. Überall in der Welt spricht man von „Martinstahl, „Martinofen", „Martin-Verfahren". Und doch kennen wir kaum einen Erfinder, der so vollkommen von seinem Werk verdrängt wurde. 19
Welch merkwürdiges Schicksal: Eine Erfindung und der Name ihres Schöpfers sind in aller Welt Munde, während der Erfinder selbst, der Mensch, in Vergessenheit sank, verkannt und unbeachtet blieb. Im Gegensatz zu Bessemer hatte Martin keinen Anteil am Goldregen der Milliarden, den sein Verfahren herbeiführte. Er hatte nicht einmal das Anrecht auf Ruhm; selbst für manche Stahlleute ist der Name „Martin-Verfahren" ein Fachausdruck, und wenige zerbrechen sich den Kopf darüber, ob es wirklich einen Mann dieses Namens gegeben hat. Dieser Mann wurde mittlerweile älter. Er sah, wie sein Stahl die Welt überschwemmte, er hörte, wie alle Stahlverbände von seinem Namen widerhallten, und er erfuhr, daß man ihn vergessen hatte. Für viele war er gestorben; für andere war er eine halb legendäre Gestalt, tief in der Geschichte der Technik begraben. Um 1900 kam' es so weit, daß der sechsundsiebzigjährige Martin um eine Sicherstellung für seine alten Tage und das Brot für seine Familie kämpfen mußte. Es bedurfte noch mehrerer Jahre, bis eine neue Generation ihn entdeckte, daran dachte, was sie ihm schuldete, und beschloß, ihn öffentlich zu ehren. Am 9. Juni 1910 trafen sich die Vertreter der Hüttenwerke, der Gewerkschaften und aller großen Stahlverbände des Auslandes zu einer Feierstunde in Paris. Es erschienen der Minister für öffentliche Arbeiten, der große Industrielle Henry Le Chatelier, der Sohn des alten Mitarbeiters von Siemens, und viele andere Persönlichkeiten. Man hatte Martin in seiner Zurückgezogenheit aufgespürt. Er verbarg sich auf einem kleinen Besitz in Fourchambault, den er voller Ironie „Schloß Garenne", „Schloß Kaninchengehege", nannte. Pierre Martin hatte sieben Kinder und war noch immer frisch und rege. Gegen Ende der Feier betrat der nunmehr Fünfundachtzigjährige den Saal, erhielt eine Gedenkmedaille und erzählte gerührt und bescheiden seine lange Geschichte, in der neben dem seinen der Name seines Vaters Emil Martin und der Name Siemens aufleuchteten. Der Erfinder starb fünf Jahre später, am 19. Mai 1915.
Ein Grab auf dem Friedhof von Passy Wir wenden uns einem anderen Manne zu, dessen Name in die Geschichte des Stahls eingegangen ist. Ich besuchte den Friedhof von Passy, wenige Schritte vom Eiffelturm entfernt. Ich blieb vor einem ärmlichen, fast vernachlässigten und von Efeu überwucherten Grab stehen und las die Inschrift auf dem Steinkreuz: 20
„Dem Gedächtnis von Sidney Gilchrist Thomas geliebter Sohn des seligen William Thomas und seiner Gattin Melicent Gilchrist geboren am 16. April 1850 gestorben am 1. Februar 1885 Er hat einen guten Kampf gekämpft." Gestorben mit fünfunddreißig Jahren — wie Mozart und der Dichter Byron! Welcher Vorübergehende ahnt, daß der junge Engländer, der unter diesem vergessenen Stein liegt, ein großes Schicksal hatte und vier Länder, zu denen das eigene nicht gehörte, um eine Gabe ohnegleichen bereicherte? Sidney Thomas hatte manches mit Mozart und Byron gemeinsam. Poetisch und melancholisch wie sie, wurde er ein Dichter der Materie, ein Künstler der Herstellung, der anstatt mit Tönen und Worten umzugehen, Eisen „gestaltete" und das Schicksal mancher Länder von Grund auf änderte, indem er auch ihnen Stahlquellen erschloß. Stahl? Hat nicht Bessemer ihn zur Massenware gemacht und Martin ihn vervollkommnet? Haben wir nicht eben gehört, daß der Martinstahl heute vier Fünftel der Weltproduktion ausmacht? Welche Rolle spielt dann dieser junge Sidney Thomas, der unglück-
Thomas-Stahlwerk, in dem auch die phosphorhaltigen Eisenerze mancher Länder zu Stahl aufbereitet werden können; die phosphorgesättigte Schlacke wird zum Thomasmehl-Dünger zermahlen. 21
liehe „Dichter des Stahls", und was hat er überhaupt in dieser Geschichte zu suchen? Wer in den Statistiken der Stahlproduktion blättert, wird feststellen, daß zwar der größte Teil nach dem Siemens-Martin-Verfahren erzeugt wird, aber der ganze Rest vom Thomas-Verfahren oder dem elektrischen Ofen herkommt. — Und Bessemer? Der ursprüngliche Bessemer-Prozeß ist fast verschwunden. Sogar in den Vereinigten Staaten macht er nur mehr 2,2 Prozent der Produktion aus. 1957 verließen in Frankreich 8,3 Millionen Tonnen Thomasstahl die Stahlwerke, gegenüber 4,5 Millionen Tonnen Martinstahl. In den Vereinigten Staaten hingegen verzeichnet man über 92 Millionen Tonnen Martinstahl gegen — Null Tonnen Thomasstahl. Diese Unterschiede erklären sich aus der Verschiedenartigkeit der Erze. Ohne den jungen Mann, der im Herzen von Paris seinen letzten Schlaf tut, würde die Stahlindustrie mancher Länder unter Rohstoffmangel leiden und das Martin-Verfahren wäre vielleicht nicht mit dem Bessemer-Prozeß fertig geworden. Es genügt nicht zu sagen, das ThomasVerfahren stelle einen grundlegenden Fortschritt dar: Es war eine industrielle Revolution.
Der Phosphor ist schuld Es lebte sich gut in dem Haus, das die Familie Thomas in einem Londoner Vorort besaß. Der Vater wohnte zwar in London selbst, aber die junge, hübsche und energische Mrs. Thomas, geborene Gilchrist, fühlte sich dort mit ihren drei Kindern glücklich. Der mittlere Sohn Sydney, zwischen dem ältesten Llewellyn und der Tochter Lilian geboren, war ein eifriger Schüler, der gern die Natur beobachtete. Damals gab es noch Schmetterlinge, Vögel und Blumen in London-Dulwich — nur acht Kilometer von dem Zentrum Londons und der St. Pauls-Kathedrale entfernt. Llewellyn wollte Arzt werden. „Auch ich werde Arzt", beschloß Sydney, „ein Gelehrter will ich werden und ich werde mein ganzes Geld den Armen geben . . . " Die Mutter war einverstanden; der Vater war einverstanden. Beide waren glücklich, daß das Kind Interesse für die Wissenschaft zeigte. Da traf die Familie — Sydney war siebzehn Jahre alt — ein Schicksalsschlag: Vater Thomas starb. Niemand war mehr da, um das Brot für die Familie zu verdienen. Mrs. Thomas war nur mehr eine mit Sorgen beladene Witwe, und die rauhe Luft der Armut breitete sich in dem einst so glücklichen Heim aus. 22
„Ich kann dein College nicht mehr bezahlen", gestand die Mutter dem Sohn, „du mußt dir eine Stelle suchen." Sydney Thomas verließ das College in Dulwich, eine angesehene Anstalt, die ein Freund Shakespeares 1619 gegründet hatte,. und wurde bescheidener Schreiber an einem Londoner Bezirksgericht. Täglich sah er ein Heer armseliger Menschen an sich vorüberziehen und schwor sich, diese Häufung an Leid und Unglück zu mildern, sobald er dazu imstande sei. Die berufliche Gewissenhaftigkeit des noch nicht Zwanzigjährigen verdient unsere volle Bewunderung: Um bessere Arbeit zu leisten, besuchte er juristische Vorlesungen — ohne zu ahnen, wie sehr ihm diese Kenntnisse später zustatten kommen würden, als auch er sich mit Patentstreitigkeiten herumzuschlagen hatte. Dennoch war Sydney seinen Plänen und Neigungen treu geblieben. Untertags konnte er sich zwar nicht mit der Wissenschaft befassen, aber es blieb ja noch die Nacht. Er nahm Abendkurse, und das friedliche Familienleben begann von neuem. Sydney Thomas war ein sanfter und gewinnender junger Mann. Er hatte Pflichtbewußtsein und Verantwortungsgefühl. Er war früh gereift und wußte, daß das Leben hart ist, daß er keine Zelt zu verlieren hatte. Seiner Mutter und seiner Schwester brachte er die größte Ehrerbietung entgegen, und die schönste Zeit des Tages waren die Stunden mit ihnen oder in dem kleinen Laboratorium, das er sich eingerichtet hatte. Wir wissen nicht, welcher geheime Anreiz seinen Forschergeist auf die Metallforschung lenkte. 1870 besuchte Sydney jedenfalls bereits einen Kurs für Hüttenwesen, begeisterte sich für die Verarbeitung von Erzen und für das Verfahren Bessemers. Hier müssen wir kurz innehalten, um uns ins Gedächtnis zu rufen, welchen Stand die Technik der Stahlerzeugung inzwischen erreicht hatte. Das Martin-Verfahren hatte eben erst das Licht der Welt erblickt, und das einzige, das zählte, war das von Bessemer erfundene. Wir erinnern uns an seine ersten Mißerfolge, als die enttäuschten Fabrikanten nur ein sprödes, blasiges Material erhielten. Um es gleichförmig, homogen, zu machen, hatte Bessemer den Rat Mushets befolgt und gab Manganeisen bei; zur Erhöhung der Festigkeit seines Stahls hatte er jedoch kein anderes Mittel gefunden, als bestimmte Erze nicht zu verwenden. „Der Phosphorgehalt im Eisen macht ihn spröde", sagte er sich. „Man darf also nur phosphorarme Erze verwenden." Das Bessemer-Verfahren hatte das Hüttenwesen um einen gewaltigen Schritt weitergebracht. Wo man bisher nur einige Dutzend 23
Kilo erhalten hatte, lieferte die Bessemerbirne mit einem Schlag Hunderte oder Tausende von Kilos. Aber man konnte die Birne nicht mit jedem beliebigen Ausgangsmaterial füllen; nicht alle Eisenerze waren geeignet. Enthielten sie Phosphor, so wurde der Phosphor durch den Windstrom zwar genau wie der Kohlenstoff verbrannt, aber es bildete sich ein saures Salz, das Phosphoranhydrid, das im erzeugten Stahl verblieb und ihn spröde machte. Diese ärgerliche Erscheinung war 1860 durch einen gewissen Grüner, Professor in Paris, geklärt worden. Grüner war in weiterer Entwicklung seiner Gedanken zu der Ansicht gekommen, daß man den Phosphor austreiben müsse, um zu verhindern, daß der Stahl spröde wurde. Das war möglich durch die Zerstörung des Phosphoranhydrids, sobald es entstand. Der einzige Weg, um dieses saure Salz zu zerstören, schien Bessemer die Verbindung mit einem basischen Salz, zum Beispiel mit Kalk. Leider klappte das nicht. Damit die Birne nicht zugleich mit ihrem Inhalt schmolz, war man gezwungen, die inneren Wände mit einem feuerfesten Material auszukleiden, etwa mit einem Gemisch von Sand und Ton. Nun hatte aber diese Masse die chemischen Eigenschaften einer Säure und verband sich mit dem Kalk, bevor dieser in der Eisenschmelze wirken konnte. Kurz gesagt, man wurde den Phosphor nicht los und verzichtete schließlich darauf, phosphorhaltige Erze zu verwenden. Dieses Problem mag unbedeutend erscheinen, und der Laie wird vielleicht darüber lächeln. In Wirklichkeit war die Sache aber von ungeheurer wirtschaftlicher Bedeutung und bedrohte die industrielle Zukunft so mancher Nation. Greifen wir zurück: Der Stahl wird also aus Roheisen gemacht. Zur Herstellung von Roheisen braucht man Erze, die unabhängig von dem Muttergestein, in das sie eingebettet sind, einen größeren oder geringeren Eisengehalt haben. Wichtigstes und mit 72,4 Prozent Eisengehalt reichstes Eisenerz ist der Magnetit. Er wird in Schweden gefördert und liefert einen allgemein anerkannten Stahl. Dann kommen der röte und braune Hämatit. Der braune ist sehr eisenarm und durch einen beträchtlichen Phosphorgehalt verdorben — und gerade er kommt am häufigsten vor. Die meisten großen Eisenerzlager waren also zunächst für das Bessemer-Verfahren unbrauchbar und nutzlos. Das traf für Deutschland und besonders für Frankreich zu. Mit d;n reichen Lagern in Lothringen, in deren Besitz sich damals Deutschland und Frankreich teilten und die sich bis Luxemburg und 24
Die Arbeitsvorgänge bei einer Thomasbirne. Südbelgien erstreckten, besaßen diese Länder den mächtigsten Eisenvorrat Europas. Aber diese sagenhafte Reserve — etwa 6 Milliarden Tonnen — bestand aus „Minette" (kleiner Stahl), einem Brauneisenstein mit 32 Prozent Eisengehalt und — leider — 1,2 Prozent Phosphor; sie war also völlig unverwendbar im Bessemer-Verfahren. Man stelle sich den Jammer der betroffenen Industrien vor: In dem Zeitabschnitt des 19. Jahrhunderts, der dank Bessemer die stürmische Entwicklung der Stahlerzeugung brachte und die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Macht eines Staates von seiner Stahlerzeugung offenbarte, mußten diese prächtigen phosphorhaltigen Eisenerzlager ungenutzt bleiben. England und anderen Ländern erging es nicht besser. Audi sie hockten auf solchen unfruchtbaren Schätzen und machten den Eindruck von Leuten, die neben einem ungeheuren Haufen von Konservendosen Hungers sterben — bloß weil sie keinen Büchsenöffner haben. Wohlgemerkt, an gutem Willen, sich auf die Suche nach einem Büchsenöffner zu begeben, hat es nicht gefehlt. Als Grüner das Problem gestellt hatte, machten sich die Forscher allenthalben an die Arbeit, um ein Mittel zur Vertilgung des unerwünschten Phosphors zu finden; was, wie gesagt, darauf hinauslief, die feuerfeste Auskleidung aus Kieselgur (die sauer war) durch eine Auskleidung mit basischen Eigenschaften zu ersetzen, welche die- Wirkung des Phosphoranhydrids in der Stahlschmelze neutralisierte. Bedauerlicherweise endeten alle Versuche mit Mißerfolgen. Die Länder mit phosphorhaltigen Erzen blieben in der Stahlerzeugung weit zurück. 25
Sydney Thomas weiß, was er will Für dieses Problem begeisterte sich Sydney Thomas bei seinen Abendkursen. Und wir können uns vorstellen, wie seine Phantasie zu arbeiten begann, als eines Tages der Professor erklärte: „Die Beseitigung des Phosphors — das ist das Schlüsselproblem der Verhüttung. Wer es löst, macht dadurch alle Eisenerzlager ifl Lothringen und anderswo, die augenblicklich unnütz sind, verwendbar, und es ist leicht vorauszusehen, daß er ein ungeheures Vermögen erwerben wird . ." Es gibt keinen Zweifel, daß es gerade die letzten Worte waren, die Sydney bestimmten, sich gründlich mit dem Problem der Beseitigung des Phosphors zu beschäftigen. Es gab ein Vermögen zu verdienen, aber soweit wir unseren Helden kennen, lockte ihn weniger die Aussicht, Berge von Geld aufzuhäufen, als vielmehr die Möglichkeit, seinen sozialen Neigungen und seinem Gefühl für soziale Gerechtigkeit Genüge tun zu können. Der äußere Schein trügt: Trotz der von Melancholie beschatteten Augen war der junge Thomas keineswegs ein Träumer. Als er sich Hals über Kopf in die Frage stürzte, wie dem Eisen der Phosphor zu entziehen sei, war es für ihn nicht ein einfaches Spiel des Geistes, nicht die Folge einer plötzlichen Eingebung, sondern eine Angelegenheit mit einem klar erkannten Ziel. Zunächst vertiefte sich Sydney Thomas in alles, was über dieses Problem veröffentlicht worden war. Nachdem er sich so eine Meinung gebildet hatte, ging er zu Experimenten über. Der Ofen in seinem kleinen Laboratorium begann zu glühen. Bald genügte er ihm nicht mehr, und Sydney fragte sich beunruhigt: „Wo werde ich meine Versuche fortsetzen können?" Und dann fiel es ihm plötzlich ein: der Vetter Percy Gilchrist! Dieser Verwandte mütterlicherseits war nämlich erster Chemiker im Stahlwerk von Blaenavon in der englischen Grafschaft Wales. Percy war einverstanden, und nun begann ein seltsames Leben für Sydney. Er arbeitete weiter bei seinem Gericht und hielt sich den Abend für die Stahlindustrie frei. Am Samstag reiste er über das Wochenende nach Blaenavon und besprach mit seinem Vetter die Experimente, die dieser während der Woche durchgeführt hatte. Geistig war es ein ermüdendes Aufderstelletreten: Der junge Forscher studierte den Kalk, die Tonerde, den Bauxit; er erprobte ihre Härte und Dauerhaftigkeit, dann wandte er sich der Magnesia zu oder, besser gesagt, einer Mischung von Kalk und Natriumsilikat. Die Jahre vergingen, 1872, 1875, 1877 . . . Und man brauchte Geld. 26
Da begann das Glück sich für seine Hartnäckigkeit zu interessieren. Eines Tages ging der Direktor des Werkes von Blaenavon durch das Laboratorium. „Nun, was machen Sie denn da Schönes?" fragte er erstaunt. Der Chemiker unterrichtete ihn über die Pläne seines -Vetters. Der Direktor machte große Augen. „Aber, das ist doch sehr interessant!" rief er. „Halten Sie mich über Ihre Arbeiten auf dem laufenden, ich werde versuchen, Ihnen zu helfen." Damit war das Problem der Finanzierung gelöst. Und die Lösung des technischen Problems ließ auch nicht mehr lange auf sich warten. Im November 1877 nahm Thomas sein erstes Patent: Er hatte ein feuerfestes Material mit basischen Eigenschaften gefunden, das den Phosphor aufnahm und gleichzeitig der Hitze standhielt. Es handelte sich um ein Alpengestein, das Dolomit heißt und aus Kalk und Magnesia besteht. Der Erfinder gab in seiner Patentschrift die Art der Nutzbarmachung und der Anbringung an den Wandungen der Bessemerbirne an. Die Erfindung war gemacht. Sie mußte nur noch bekannt werden. „Das werde ich auf der nächsten Tagung des ,Eisen- und StahlInstituts' tun", nahm sich Sydney vor.
Sydney Thomas macht sein Glück Das „Eisen- und Stahlinstitut" war — und ist es noch immer — der einflußreichste britische Stahlverband. Sein Vorsitzender war damals Sir Lowthian Bell, „der Papst der Stahlleute". Als dieser hervorragende Techniker sich im September 1878 erhob, um die Verbandssitzung zu eröffnen, versäumte er nicht, auch von dem ewigen Problem der Phosphorentziehung zu sprechen. Er machte die Anwesenden mit einem neuen Vorschlag bekannt, der ihm unterbreitet worden war, dann diskutierte man darüber und kam zu dem Schluß, man wisse genauso wenig wie am Vortag, von welcher Seite das Problem anzugehen sei. Da stand ein unbekannter junger Mann auf. „Gestatten Sie mir, meine Herren!" begann er ein wenig schüchtern. „Ich kann Ihnen berichten, daß ich dieses Sie bewegende Problem studiert und — gelöst habe. Es ist mir gelungen, den Phosphor im Verhältnis 20 zu 99,9 Prozent auszuscheiden " Die Versammlung, bei der die gelehrtesten Eisenfachleute anwesend waren, tauschte überraschte Blicke aus. „Wer ist'dieser junge Mann? — Niemand kennt ihn. — Jedenfalls ist er ja ganz schön eingebildet!" Ein mitleidiges Lächeln glitt über die Gesichter der würdigen Herren. Niemand dachte daran, die einfache Frage zu stellen: 27
„Wie machen Sie denn das?" Und Sir Lowthian Bell schloß würdevoll die Sitzung, wobei er dem jungen Mister Thomas versicherte, er sei ohne Zweifel der von der Welt erwartete Wohltäter, aber er möge doch die Darlegung seiner Idee auf ein anderes Mal verschieben. Die nächste Sitzung des Verbandes fand im September des gleichen Jahres in Paris statt. Thomas hatte dort um kein Haar mehr Erfolg; die Teilnehmer begnügten sich damit, ihn höflich zu begrüßen. Aber der Entwurf seiner Rede kam einem von ihnen, dem Ingenieur Richards vom Stahlwerk Bolckow & Vaughan, unter die Augen. Richards war zuerst überrascht, dann interessiert und schließlich überzeugt. Er lief zu seinem Direktor. „Wir müssen dieses Verfahren unbedingt industriell erproben!" rief er. „Denken Sie doch an die wirtschaftliche Bedeutung einer solchen Erweiterung des Stahlvefbrauchs." Unter der Leitung von Thomas begannen die Versuche und zeigten ein befriedigendes Ergebnis. Der Erfinder fühlte, daß er gesiegt hatte. Im März 1879 konnte er schreiben: „Es scheint außer Zweifel zu stehen, daß die Angelegenheit in wenigen Tagen kaufmännisch weiter verfolgt werden wird." Welches Durcheinander, als die Nachricht bei den Hüttenleuten bekannt wurde! Welcher Andrang, als am 7. Mai des gleichen Jahres die Frühjahrssitzung des „Eisen- und Stahl-Instituts" eröffnet wurde! Von einer Mißachtung des schüchternen Unbekannten war nichts mehr zu spüren. Die größten Spezialisten des Auslands hatten die Mühe der Reise nicht gescheut; Bessemer war zugegen: „Niemand freut sich mehr als ich über diesen Fortschritt", sagte er bei seiner Ankunft. Vor diesem erlesenen Publikum verlas Sydney Thomas sein Protokoll, und man hörte ihm in tiefer Stille mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Um die Ungläubigen zu überzeugen, konnte er die im Stahlwerk Bolchow & Vaughan erzielten Ergebnisse vorweisen. Eine Diskussion schloß sich an. Sie endete mit einem Triumph. Das Thomas-Verfahren schickte sich an, die Länder mit phosphorhaltigen Eisenerzen zu erobern. Sydney Thomas hatte die technische Schlacht gewonnen; nun mußte er sich um den wirtschaftlichen Erfolg kümmern. Der Kampf, ein Kampf um Patente, erwies sich als nicht weniger mühevoll. Man mußte sich mit einem Erfinder vergleichen, der einen ähnlichen Weg eingeschlagen hatte, und auch noch mit zwei anderen. Schließlich kam noch das Ringen um die Verbreitung des Verfahrens, um seine Vorführung, um die Klärung der Einzelheiten mit den Interessenten. Denn das Verfahren verbreitete sich mit einer erstaunlichen Schnel28
ligkeit. Frankreich hatte es sofort übernommen, dann Deutschland, Belgien, Luxemburg. Daß die phosphorhaltigen Erze verwendbar geworden waren und nun auch in der Bessemerbirne verarbeitet werden konnten, hatte in Thomas eine neue Idee reifen lassen: „Das Bessemer-Verfahren liefert nur einen gewöhnlichen Stahl; wenn es mir gelingt, auch den Martinofen mit der gleichen basischen Auskleidung zu versehen, könnte ich dann nicht auch in diesem Ofen phosphorhaltiges Erz verarbeiten?" Die Verwirklichung ließ nicht auf sich warten. Im gleichen Jahr 1879, als Thomas sein Verfahren bekannt gab, gelang zwei Ingenieuren die Anwendung auf den Martinofen. Auch diese Technik erfuhr eine unglaubliche Verbreitung. So stieg zum Beispiel in England die Erzeugung von basischem Martinstahl von 101 000 Tonnen im Jahre 1890 auf 9 660 000 Tonnen im Jahre 1937.
Das Ende des Siegers Thomas wurde unermeßlich reich, konnte seine Familie sicherstellen und sich die kostspieligsten Phantasien leisten. Dennoch müssen wir ihn als „Unglücklichen" bezeichnen. Er hatte sich erkältet und war im rauhen Winter 1878/79 tuberkulös geworden. Erschöpft durch die Anstrengungen der Korrespondenz und der Reisen, die er zur Unterweisung der Hüttenleute unternahm, siechte er langsam dahin. In dieser Hinsicht sind gewiß viele andere ebenso, oder mehr zu bemitleiden als Sydney Thomas. Wir wollen aber bedenken, welchen Gebrauch der Millionär von seinen Banknoten machte. Denn es ist unvergleichlich selten, daß jemand seinen Reichtum allein für gute und wohltätige Zwecke verwendet. Der Erfolg hatte sich bei Sydney Thomas 1879 eingestellt. Er überlebte ihn nur um sechs Jahre. 1881 reiste er nach den Vereinigten Staaten, um seine Patente auszuwerten. Er wurde wie ein Fürst empfangen und von dem berühmtesten Stahlmann der Erde, Carnegie, wie seinesgleichen behandelt, aber er kehrte geschwächt zurück. Bald nach seiner Rückkehr mußte er sich erneut auf den Weg machen, diesmal auf das europäische Festland. Hatte er danach wenigstens Ruhe? Leider nein. Im folgenden Jahr sah man ihn zu* Schiff nach Südafrika reisen, mehr übrigens auf der Suche nach Heilung als nach einer technischen Verbesserung. Dann kamen Indien, Australien und wieder die Vereinigten Staaten an die Reihe, die er diesmal von San Franzisko bis New York durchquerte. Er reiste, wie man sich denken kann, unter den angenehmsten Bedingungen und in Beglei29
tung seines Arztes. Aber die Besuche, die Besprechungen mit den Geschäftsleuten, und eine von Tag zu Tag umfangreicher werdende Post erschöpften ihn. Außerdem litt er unter der Hitze; seine Kräfte nahmen rapid ab. Mit dreißig Jahren war er nur noch ein abgezehrter Greis mit funkelnden Augen in einem hageren Gesicht, den die Liebe zu seiner Familie und die Hoffnung auf die Hilfe, die er den Unglücklichen würde bringen können, aufrecht erhielt. In London erwarteten ihn wieder Arbeit, Kälte, Nebel. „In welches Klima könnten wir ihn denn schicken?" fragte sich seine Schwester Lilian verzweifelt. „Nach Nordafrika? Warum nicht?" Thomas fuhr also n?,ch Algier. Leider herrschte dort nicht nur übermäßige Hitze, es verfolgten ihn auch seine technischen Arbeiten bis an den Rand der Sahara. Apparate kamen aus London, und ein junger Araber wurde angestellt, um den Ofen umzubauen. Das Ende nahte. Ärzte folgten einander am Krankenlager, schlugen neue Behandlungsmethoden vor. Sollte ein Pariser Arzt den Schlüssel zur Heilung besitzen? Sydney Thomas und seine Schwester glaubten daran und ließen sich in Paris nieder. Der Winter war mild, sie wohnten in einer stillen Gegend. Aber Lilian gelang es nicht, den Bruder den Plackereien, aus denen sein Leben bestand, zu entreißen. Der Stahl. . . immer der Stahl . . . Am 1. Februar 1885 erlosch das Leben Sydney Thomas', friedlich, während er schlief. Man bettete ihn auf den Friedhof von Passy zur Ruhe. Am Tage seines Todes waren in der Welt schon 870 000 Tonnen basischen Stahls in der Birne erzeugt worden; 1894 erreichte man die dritte Million; 1947 waren es 100 Millionen Tonnen. Dem Erfinder blieb gerade noch Zeit, die Anfänge der Produktionskurve zu erleben; es war ihm nicht vergönnt, ihre weitere Entwicklung zu verfolgen. Wir hatten gehört, wie stark Sydney Thomas in seiner Jugend durch den Anblick menschlichen Elends im Gerichtssaal beeindruckt worden war, besonders durch die Verwüstungen des Alkohols. Seinen Reichtum hat er vor allem zur Bekämpfung dieser Geißel bestimmt. Nach seinem Tode sorgte seine Schwester mit Unterstützung vieler anderer dafür, daß das Vermögen für diese Aufgabe verwendet wurde. Mutige Leute drangen in die Elendsviertel der Weltstadt London vor und setzten, ohne mit dem aus dem Stahl gewonnenen Geld zu sparen, alles daran, die Bewohner aus ihren Höhlen zu befreien, sie dem Gin zu entreißen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
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Der
Thomasstahl ändert das Gleichgewicht Europas
Europa erfuhr durch die Erfindung von Thomas eine industrielle Neuorientierung. Als das Thomas-Verfahren die Verwertung der bisher ungenutzten phosphorhaltigen Erzlager ermöglichte, verschwanden alle Kleinstbetriebe, und.es entstanden die großen Anlagen, die wir heute kennen. Aus dem gleichen Grund büßte England die Vorherrschaft auf dem Stahlmarkt ein; 1878 war es noch König, aber schon wenige Jahre später, als das Thomas-Verfahren mit einem Schlag die ungeheuren Erzlager Deutschlands und Frankreichs rentabel machte, hatte es diese Führerstellung verloren. Bereits 1890 erzeugte Deutschland 76 Prozent Thomasstahl, und diese Ziffer erhöhte sich 1913 auf über 12 Millionen Tonnen. 1892 nahm Frankreich die Ausbeutung des lothringischen Beckens von Briey in Angriff. Hochöfen und Stahlwerke wurden gebaut. Der Charakter dieser Landschaft, das wirtschaftliche Leben änderte sich grundlegend. Unsere Dankesschuld gilt aber nicht nur dem Pionier des Stahls. Besucht man einen Bauernhof und öffnet ein beliebiges Scheunentor, so wird man fast immer einen Sack entdecken, auf dem mit schwarzen Buchstaben „Thomasmehl" steht. „Thomas? Wer ist das?" „Weiß ich nicht", antwortet der Bauer und zuckt die Achseln. „Wahrscheinlich der Erzeuger. Die Hauptsache ist, daß das Zeug ein sehr guter Dünger ist." Der Leser wird erraten, daß es sich um den gleichen Thomas handelt, der als Pionier des Hüttenwesens gleichzeitig auch ein Wohltäter der Landwirtschaft wurde. Es handelt sich nämlich um die Schlacke, die bei der Erzeugung des Thomasstahls in der Birne übrigbleibt. Diese Schlacke besteht aus Stücken der Ausmauerung mit Dolomitgestein, mit denen sich der Phosphor der Schmelze verbunden hat. Die hinderlichen und unnützen Rückstände haben sich in ein Produkt verwandelt, das reich an Kalk und Phosphor und damit ein wirkliches Düngemittel ist, das selbst auf Urgesteinsböden Wunder wirkt. Die Nutzbarmachung dieses Düngemittels verdanken wir dem deutschen Agronomen Paul Wagner im Jahre 1887, aber Thomas hatte das Interesse daran bereits 1879 festgestellt, und er hat seine Bedeutung nicht unterschätzt; denn 1883 schrieb er in einem Brief an seinen Vetter Gilchrist, daß die Zeit kommen werde, in der die Schlacke die Hauptsache und der Stahl ein Nebenprodukt sei. Das ist bei einigen Stahlwerken tatsächlich seit einiger Zeit eingetreten. 31
1960 waren fünfundsiebzig Jahre seit dem Tode von Sydney Thomas vergangen. Die Hundertjahrfeier seiner Geburt wurde 1950 in mehreren Ländern feierlich begangen. Das bescheidene Grab in Passy war mit Kränzen überhäuft und tauchte einen Augenblick lang aus der Vergessenheit auf. Durch den Impuls des Stahlpioniers Henry Bessemer, der Brüder Siemens, Pierre Martins und Sydney Thomas' und derer, die mit ihnen zusammenarbeiteten und die ihr Werk vielfältig ausbauten, hat die technische Welt von heute ihre Gestalt und ihre Leistungsfähigkeit gewonnen.
Über wenig bekannte Erfinder una Wegbereiter der modernen Technik plaudert der Verfasser Pierre Rousseau in Lebensbildern und dramatischen Szenen in seinem Buch: „Sie prägten unsere Zeit", Bechtle-Verlag, München und Eßlingen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Bild Umsehlagseite 2: Stahlgittermast des Fernsehsenders Nordhelle; Bild- und Zeichenvorlagen: Beratungsstelle für Stahlverwertung. L u x - L e s e b o g e n 3 6 2 (Technik) H e f t p r e i s 30 P f g • Natur- und kulturkundliche Hefte. —Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.