Bernhard Schäfers Stadtsoziologie
Soziologie der Architektur und der Stadt Band 1: Architektursoziologie. Grundlagen ...
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Bernhard Schäfers Stadtsoziologie
Soziologie der Architektur und der Stadt Band 1: Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen Band 2: Stadtsoziologie. Stadtentwicklung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder
Bernhard Schäfers unter Mitarbeit von Alexa M. Kunz
Stadtsoziologie Stadtentwicklung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14658-0 ISBN-13 978-3-531-14658-4
Vorwort
Die Stadt ist eine Kulturschöpfung, die vor über sechstausend Jahren die Menschheit in eine völlig neue Phase ihrer Geschichte eintreten ließ. Die Phasen der Stadtentwicklung spiegeln seither die grundlegenden Veränderungen der Kultur und Technik, der Ökonomie sowie der Gesellschafts- und Staatsordnungen. Keine andere Kulturerscheinung führt uns die Etappen der Bau- und Architekturgeschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte so sichtbar vor Augen – deshalb darf sich eine Stadtsoziologie nicht auf die Gegenwart beschränken, wenn sie ihren Gegenstand nicht verfehlen will. Diese Zusammenhänge werden in den ersten Kapiteln hervorgehoben. Bei diesem Stellenwert von Stadt überrascht nicht, dass die Stadtsoziologie zu den ältesten Speziellen Soziologien zählt, entstand doch die Soziologie in der Umbruchsituation von der traditionalen zur industriellen Gesellschaft. Die Städte selbst wurden zu „Laboratorien der Moderne“. Die erste systematische Stadtsoziologie entstand nicht zufällig in einer der Metropolen dieser modernen Welt, in Chicago. Obwohl es sowohl bei der Darstellung der Stadtentstehung als auch bei der Expansion des Städtesystems immer wieder Gründe gibt, unseren Kontinent zu verlassen, steht doch die „europäische Stadt“ mit dem Fokus auf Deutschland, zumal bei den „Praxisfeldern“, im Zentrum der Darstellung. Die europäische Stadt fasziniert, auch oder gerade Nicht-Europäer, noch immer und besonders traditionsreiche Städte vermitteln bei gleichzeitiger Verflechtung in das internationale Städtesystem auch heute das Gefühl altstädtischer Urbanität. Dieser Band ergänzt die im Jahr 2003 zuerst erschienene und nun in 2. Auflage vorgelegte „Architektursoziologie“. Die ursprüngliche Absicht, eine „Soziologie der Stadt und des Wohnens“ vorzulegen, ließ sich in einem Werk nicht realisieren. Das Thema wohnen wird jedoch da beleuchtet, wo es seit der Industrialisierung und dem mit ihr einsetzenden Verstädterungsprozess zu einem Motor der Stadtentwicklung wird. Für Anregungen bei der Konzeption des Bandes danke ich der Architektin und Stadtplanerin Annette Rudolph-Cleff; für die engagierte Mitarbeit und wissenschaftliche Redaktion Alexa M. Kunz B.A. Karlsruhe, im Juni 2006
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen im Anhang Zur Einführung: Definition der Stadt. Aufgaben der Stadtsoziologie
5 9 11 13
Teil A: Stadtentwicklung und Theorien Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt I. Stadtentstehung. Frühe Beispiele II. Babylon vs. Jerusalem. Aufstieg und Niedergang der Städte III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung seit der Doppelrevolution I. Doppelrevolution und Stadtentwicklung II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung III. Die Expansion der industriellen Großstadt IV. Von frühsozialistischen Stadtutopien zur Gartenstadt V. Von der sozialen zur sozialistischen Stadt Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie. Texte der Klassiker: Ferdinand Tönnies – Georg Simmel – Werner Sombart – Max Weber – Louis Wirth Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960: Suburbaner Raum, Zwischenstadt und Global Cities I. Tertiäre Verstädterung II. Suburbanisierung und Stadtregion III. Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt IV. Suburbaner Raum und Verhaltensänderungen V. Die Stadt im Weltverstädterungsprozess Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image, Kapitalismus und Stadtentwicklung: Hans Paul Bahrdt – Kevin Lynch – Manuel Castells (I) – Peter Saunders – Manuel Castells (II)
25 26 30 32 51 52 54 60 65 71 77
87 88 90 93 98 102 112
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Inhaltsverzeichnis
Teil B: Grundlagen und Praxisfelder Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur I. Raum – Orte – Stadt II. Wandlungen des Stadt-Land-Verhältnisses III. Stadt und Kultur
127 128 133 137
Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens
149 150 160
Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft I. Mechanismen der Integration II. Die Stadt als vergemeinschaftende Vergesellschaftung III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung IV. Die Frau im Stadtraum. Gender-Mainstreaming V. Die „Soziale Stadt“ als Integrationsmodus
169 170 171 172 181 182
Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau. Soziologie der Stadtplanung und städtebaulicher Leitbilder I. Die Kommunen im Staatsgefüge II. Die Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe III. Schlussbemerkung: Problemfelder der gegenwärtigen Stadt und Stadtplanung
187 188 189 195
Anhang: Materialien zum aktuellen Stadtsystem in Deutschland und Europa I. Bundesrepublik Deutschland II. Europäische Union (EU)
199 200 215
Sachregister Personenregister
225 228
Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis ist jedem Kapitel vorangestellt.
Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen
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Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23
Ambrogio Lorenzetti: Auswirkung des guten Regiments auf die Stadt, 1337-1339.................................................................................... 15 Grundriss der babylonischen Stadt Borsippa......................................... 28 Teilrekonstruktion der Ausgrabungen von Çatal Höyük....................... 29 Nördliche und südliche agora von Milet ............................................... 34 Mainz Anno 1633 .................................................................................. 44 Augustus Welby Pugin „Contrasts“ (1836): Eine Stadt des Mittelalters um 1440.............................................................................. 55 Augustus Welby Pugin „Contrasts“ (1836): Dieselbe Stadt um 1840 ....................................................................................................... 55 Plan von Dortmund um 1839 (A) und 1894 (B).................................... 57 Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, um 1900 ......................................... 58 Haupteingangshalle des Frankfurter Hauptbahnhofes, 1890................. 59 Ansicht von New Lanark, 1825 ............................................................. 66 Siedlung Altenhof/Essen (Krupp), 1892/93 .......................................... 68 Diagramm der Gartenstadt, 1898........................................................... 69 Blick über den „Boulevard“ des Märkischen Viertels........................... 92 Maximilianstraße München um 1965.................................................... 95 An der B7, im U.N.O............................................................................. 97 Bürotürme............................................................................................ 105 Favelas ................................................................................................. 105 Megastädte mit mehr als 10 Mio. Einwohnern.................................... 107 Galleria Vittorio Emanuele II. in Mailand........................................... 142 Hansaviertel Berlin .............................................................................. 143 Marktplatz Lucca................................................................................. 151 Water Tower Place in Chicago ............................................................ 159
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Inhaltsverzeichnis
Schaubild 1 Schaubild 2 Schaubild 3 Schaubild 4 Schaubild 5 Schaubild 6 Schaubild 7 Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7
Zahl der Städte und Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 800-1400 in Deutschland (Schätzung) .................................................................................... 39 Weltbevölkerungswachstum (1650-2030) und Wachstum der städtischen Bevölkerung (1900-2030) ......................................... 103 Das Bevölkerungswachstum der Zukunft .................................... 104 Stadt-Kleinstadt/Land-Gegensatz bei Georg Simmel .................. 135 Öffentliches Verhalten im großstädtischen Raum........................ 155 Multiethnizität und Multikulturalität in Deutschland................... 177 Leitbilder der Stadtentwicklung in Deutschland .......................... 192
Größenangaben für Städte im Altertum................................................. 35 Städte in Europa um die Jahre 800 und 1000 ........................................ 37 Europäische Städte im Zeitalter des Absolutismus; Einw. in Tsd......... 47 Vergroßstädterung in Mitteleuropa ....................................................... 61 Größenwachstum deutscher Städte im 19. Jahrhundert......................... 61 Bevölkerung von London 1801-1971.................................................... 89 Der Verstädterungsprozess 1950-1970 in Europa ................................. 90
Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen im Anhang
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Verzeichnis der Abbildungen, Schaubilder und Tabellen im Anhang
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8
Städtesystem der Bundesrepublik Deutschland................................... 200 Metropolregionen in Deutschland ....................................................... 202 Schrumpfung und Verdichtung in Deutschland .................................. 209 Teilnehmende Städte am Programm „Soziale Stadt“ im Jahr 2004 .... 211 Teilnehmende Städte am Förderprogramm „Städtebaulicher Denkmalschutz“................................................................................... 214 Geographische Bevölkerungsverteilung 2000..................................... 217 Europäische Metropolregionen im METREX-Netzwerk .................... 219 Anteil älterer und betagter Menschen in der EU 1999 ........................ 220
Schaubild 1 Schaubild 2 Schaubild 3 Schaubild 4 Schaubild 5 Schaubild 6 Schaubild 7 Schaubild 8
Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5
Deutsche und ausländische Staatsbürger in Großstädten ............. 203 Umzugsmobilitätsziffer in Karlsruhe 1989-2005......................... 204 Pendleraufkommen nach Stadttypen ............................................ 205 10 deutsche Großstädte mit den meisten zugelassenen PKW pro 1000 Einwohner ..................................................................... 206 Verbreitung des Stadtmarketings im Jahr 2004 ........................... 207 Verteilung der Haushaltsgrößen bei den Privathaushalten in Karlsruhe ...................................................................................... 208 Fördermittel des Bundes seit Inkrafttreten des Städtebauförderungsgesetztes ...................................................... 210 Verteilung von höheren Bildungsabschlüssen nach Besiedlungsdichte ........................................................................ 218
Einwohner nach Gemeindegrößen am 31.12.2004.............................. 201 Höchste und niedrigste Ausländeranteile in deutschen Großstädten... 203 Vergleichszahlen europäischer Hauptstädte ........................................ 215 Verteilung der EU-Bevölkerung auf Städte und Gemeinden .............. 216 Im Rahmen von URBAN II geförderte Städte .................................... 221
Zur Einführung: Definition der Stadt. Aufgaben der Stadtsoziologie Einführung Einführung
I. Definition der Stadt In seiner großartigen Darstellung zur Geschichte der Stadt von ihren Anfängen bis ins 20. Jahrhundert fragt Lewis Mumford: „Wird die Stadt verschwinden, oder wird sich der ganze Erdball in einen riesigen Bienenkorb von Stadt verwandeln – was ja nur eine andere Form des Verschwindens wäre? Können die Bedürfnisse und Sehnsüchte, welche die Menschen veranlasst haben, in Städten zu leben, auf einer noch höheren Stufe noch einmal alles das erringen, was Jerusalem, Athen oder Florenz einst zu versprechen schienen?“. Trotz des weltweiten Verstädterungsprozesses (vgl. hierzu Kap. III) haben die z.T. sehr alten Städte in Europa oder Asien, in Nordafrika oder Lateinamerika wenig von ihrer Faszination eingebüßt. Im Gegenteil: Der Städtetourismus verzeichnet jährlich neue Zuwachsraten. Der Zuzug in den suburbanen Raum scheint seinen Zenit überschritten zu haben, denn die Kernstädte gewinnen an neuer Attraktivität auch für das Wohnen. Die besonderen Vorteile der Stadt, mit der sich seit ihren Anfängen viele Hoffnungen und Bedürfnisse verknüpfen, werden unter gewandelten gesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Verhältnissen neu thematisiert. Städte waren und sind Knotenpunkte, an denen sich geistiges sowie materielles Kapital und Potenzial konzentrieren und somit jene anziehen, die daran partizipieren möchten. Dass diese Teilhabe nicht immer funktioniert, zeigt sich an Beispielen wie Mexiko City, in deren colonias populares etwa zwei Drittel der Stadtbevölkerung leben, ohne eine erkennbare Rolle für Mexiko Stadt als internationales Wirtschaftszentrum zu spielen (vgl. Manuel Castells 2001: 436; diesen Prozessen der Verstädterung ohne Stadtbildung, die sich seit den 1950er Jahren verstärkten, galt meine erste stadtsoziologische Untersuchung, 1965). Ein vollkommen anderes Resultat von Stadtplanung als gebaute Verdichtung von Sehnsüchten im Zeitalter der „reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck) sind die Siedlungen des bekannten Architekten und Stadtplaners Rob Krier, der in den Niederlanden und in Belgien Städte nach bewährtem Muster entwirft: überschaubar, im Wohnbereich individuell identifizierbar und wie eine mittelalterliche Stadt mit Fortifikationssymbolen versehen. Die Nachfrage nach diesen neuen Idealstädten bzw. Orten idealisierter Gemeinschaft ist ebenso groß (vgl. Schäfers 2005) wie die nach den gated communities.
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Einführung
Wissenschaftlichem Brauch entsprechend hat am Beginn der Ausführungen zu einem bestimmten Gegenstandsbereich eine Definition, und sei es eine vorläufige, zu stehen. Bei der Stadt, einem spezifischen Siedlungsgebilde, das nachfolgend unter soziologischen, aber auch historischen, insbesondere kulturhistorischen Aspekten, zu erläutern ist, kann das nur in ersten Annäherungen erfolgen. Dies hat vor allem zwei Gründe: Trotz der Universalität dieses die Menschheitsgeschichte seit nunmehr rund sechstausend Jahren bestimmenden Siedlungs- und Vergemeinschaftungstyps und seines überraschenden, etwa gleichzeitigen Auftretens in zumindest drei Kultur- und Weltregionen, gibt es erhebliche Unterschiede bereits im Hinblick auf die Entstehung und besonders auf die Entwicklung der Stadt. Der zweite Grund ist mindestens ebenso wichtig: Städte vor und nach der Doppelrevolution und damit des sich wechselseitig beschleunigenden Prozesses der politisch-emanzipatorischen und der industriellen Revolutionen seit Ende des 18. Jahrhunderts, sind nach ihrer Größe und Struktur sehr verschiedene Gebilde (zum Begriff Doppelrevolution des britischen Sozialhistorikers Eric Hobsbawm, 1962, vgl. auch S. 52). Die Stadt des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die zum Teil immer noch das Bild von Stadt, zumal in Deutschland, beeinflusst, ist ein völlig anderes Sozialgebilde als die industrielle Großstadt seit dem 19. Jahrhundert. Als Orientierungshilfe sei eine Definition voran gestellt, die wegen der Komplexität des Gegenstandsbereichs zunächst nur zwei Dimensionen hervorhebt: die spezifische Siedlungsdichte und die damit eng verbundenen besonderen („städtischen“) Lebensformen; diese sind unter kulturhistorischen und sozialstrukturellen Gesichtspunkten weiter zu differenzieren, wofür – in grober, gleichwohl hilfreicher Vereinfachung – eine Unterteilung in drei große Schwellen der Stadtentwicklung vorgeschlagen wird: Stadt ist ein Siedlungsgebilde, das erstmalig in der Jungsteinzeit (Neolitikum) vor ca. sechs- bis achttausend Jahren auftaucht und gegenüber bisherigen Siedlungsformen, zumal dem Dorf in seinen vielfältigen Ausprägungen, völlig neue Charakteristika aufweist:
Relativ dichte Bebauung und höhere Gebäude als im Umland führen zu höherer Bevölkerungsdichte als bei bisherigen Siedlungen; Die Bebauung ist durch spezifische Gebäude und Plätze charakterisiert, die die Stadt zum religiösen, militärisch-herrschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Zentrum, auch für ein weiteres Umland, machen; In der Stadt finden und entwickeln sich die für die jeweilige Gesellschaft differenziertesten Formen der Arbeitsteilung und des Güteraustausches über einen oder mehrere Märkte.
Über die längsten Phasen ihrer Entwicklung – in Europa bis ins 18. Jahrhundert – waren Städte von einer Mauer umgeben und hoben sich hierdurch nicht nur deut-
Einführung
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lich vom agrarisch geprägten Umland ab, sondern entwickelten intra muros auch völlig neue Herrschafts- und Lebensformen. Abb. 1
Ambrogio Lorenzetti: Auswirkung des guten Regiments auf die Stadt, 1337-1339
Die mit Toren versehene Mauer sonderte den städtischen Bereich räumlich ab, gewährleistete seine Verteidigung und ermöglichte es, den Verkehr mit der Außenwelt zu kontrollieren. Zu bestimmten Uhrzeiten, abends und morgens, kapselte sich die Stadt hinter ihren Mauern von dem Umland ab. Die Allegorie der Sicherheit schwebt über dem Tor.
Quelle: Jacques Le Goff 1998: 12
Erst in so strukturierten Siedlungsgebilden entwickelten sich gegenüber den bisherigen Lebensformen der Jäger und Sammler und auf der Basis einer sesshaften Agrarbevölkerung neue Institutionen, Verhaltensmuster und Formen der Kulturtradierung. Mit der industriellen Großstadt kommen seit dem 19. Jahrhundert als weitere Definitionsmerkmale hinzu:
Fabriken und eine ständig expandierende Marktökonomie, neue Versorgungstechniken und Verkehrssysteme führen zu neuen Mustern der Stadtgestalt; Städte werden zum eigentlichen „Laboratorium der Moderne“ mit ihren Trends der Säkularisierung und des Vorherrschens anonymer Sozialbeziehungen und freiwilliger Assoziationen (wie Vereine); Urbanität wird ein Element typisch großstädtischer Verhaltensweisen, für die es erst nach 1800 die erforderlichen neuen städtischen Räume gibt: Passagen und Galerien, Boulevards und Cafés, Großkaufhäuser und Bahnhofshallen, Theater- und Konzertsäle; Museen und innerstädtische Grünanlagen und Parks (die die Stadtmauern und Festungswälle ersetzen).
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Einführung
Eine dritte Phase der Stadtentwicklung zeichnet sich nach 1960 ab; sie ist geprägt durch die Entwicklung weit in die Landschaft ausufernder suburbaner Räume und das Auto, durch die Tertiärisierung der Berufs- und Produktionsverhältnisse, den Beginn der „digitalen Revolution“ und einen Weltverstädterungsprozess ungeahnten Ausmaßes. Die genannten Definitionselemente des Begriffes „Stadt“ in Geschichte und Gegenwart zeigen, dass die Stadt als „Ergebnis“ und im Hinblick auf die sie hervor bringenden komplexen ökonomischen und sozialen Prozesse nicht in einer einzigen Erklärung erfasst werden kann. Bei der Stadt handelt es sich vielmehr um ein phénomène social total (mit dem Ausdruck des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss), um ein gesellschaftliches Totalphänomen, das seit nunmehr annähernd sechstausend Jahren eine conditio sine qua non der Menschheitsgeschichte und Kulturentwicklung darstellt. Ganz falsch ist der viel zitierte Satz von Oswald Spengler also nicht, dass „alle großen Kulturen Stadtkulturen“ sind und „der höhere Mensch [...] ein städtebauendes Tier“ sei (Spengler 1979). Ähnlich hieß es später bei Alexander Rüstow: „Die Stadt ist das typische Produktionszentrum aller Hochkulturen. Alle Hochkultur ist Stadtkultur“ (1950). Dies scheint sich unter Vorzeichen der Globalisierung, wenn auch verengt auf die Ökonomie, zu wiederholen. Zu den Ursachen und Entwicklungstendenzen der Stadtentstehung und Stadtgestalt haben alle Sozial- und Kulturwissenschaften wichtige Beiträge geliefert: die Ökonomie ebenso wie die Soziologie, die Sozialgeographie ebenso wie die materialistische Gesellschaftstheorie oder die Kultur-Evolutionstheorie.
II. Soziologie und Stadtsoziologie Die Soziologie als sich verselbstständigende, von den „Mutterwissenschaften“ Philosophie und Ökonomie, Geschichte und Allgemeine Staatslehre mehr und mehr lösende Disziplin entstand im Zusammenhang des völligen Umbruchs der bis dahin entwickelten Formen der Produktion und des Zusammenlebens. Die neue soziale Wirklichkeit erforderte eine neue Wissenschaft. Das war die Auffassung von Claude-Henri de Saint-Simon und seines Schülers Auguste Comte, der um 1835 den Namen für die neue Wissenschaft prägte: Soziologie, also die Lehre (griech. logos) von den Formen des Zusammenlebens (lat. socius). Sie sollte auf empirischer – nach Comte auf „positiver“ – Basis die Umbrüche nach ihren Ursachen und Folgen untersuchen. Soziologisch gesprochen kam dem Trend zur Säkularisierung der Institutionen, dem Vorherrschen sekundär-gruppenhafter Beziehungen und freiwilliger Assoziationen, der höheren Segmentierung sozialer Rollen und der Abnahme der Rigidität sozialer Normen und Sanktionen für die Veränderung der sozialen Grundgebilde und Verhaltensweisen große Bedeutung zu.
Einführung
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Da vor allem – wie bei Wilhelm Heinrich Riehl (1854) – die große Stadt als „Zentrum der Bewegung“, als Ursache der sich verändernden Familien- und Sozialstrukturen gesehen wurde, verwundert nicht, dass Deutungen der Stadt und Großstadt und relevanter Verhaltensweisen mit am Beginn der Soziologie überhaupt stehen. Die Großstadt war so etwas wie ein Labor, in dem sich die Probleme der Familie und der Arbeit, der Gemeinschaft und der neuen Formen gesellschaftlich-anonymer Sozialbeziehungen in nuce zeigten. So lässt sich mit ein wenig Übertreibung sagen: Wie am Beginn der ersten bedeutenden Stufe der Stadtentwicklung in der Alten Welt, zumal in der griechischen und römischen Antike, die Philosophie – namentlich von Platon und Aristoteles – mit der Frage nach dem Wesen der polis die Frage nach der Natur des Menschen und den ihm adäquaten Formen der Gemeinschaftsbildung verknüpfte, so entwickelte sich die Soziologie am Beginn der zweiten, mit der Doppelrevolution seit Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden Phase der Stadtentwicklung. In der Analyse der Entstehungsgründe und der Sozialbedeutung des modernen Kapitalismus und der industriellen Großstadt hatte die Soziologie einen zentralen, die Entwicklungsprozesse zentrierenden Gegenstandsbereich. Wenn die Gründungsväter der Soziologie – Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber – bestimmte Elemente der Stadt analysierten, so standen immer die Fragen nach den Entstehungsgründen und der Sozialbedeutung der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft dahinter. Hierbei spielten die Prozesse der Vergesellschaftung bisher gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens (Ferdinand Tönnies), der neuen Formen arbeitsteiliger Produktion für die gesellschaftliche Solidarität (Emile Durkheim), der umfassenden Rationalisierung und Bürokratisierung aller Daseinsbereiche (Max Weber) und der expandierenden Geldwirtschaft mit ihren das Verhalten verändernden Implikationen (Georg Simmel) eine entscheidende Rolle. Ihre Analysen gehören zu den grundlegenden Texten der Stadtsoziologie als Gesellschaftstheorie (Auszüge finden sich im Anhang zu Kap. II). Aufgaben der Stadtsoziologie werden in den nachfolgenden Kapiteln deutlich. Bei der Aufzählung einzelner Forschungsfragen kann wie bei anderen Speziellen Soziologien davon ausgegangen werden, dass die Differenzierung des Gegenstandsbereichs Stadt in eine Makro-, Meso- und Mikroebene nützlich ist, also in Fragen nach dem gesellschaftlichen Strukturzusammenhang, der institutionellen Struktur der Stadtgesellschaft und der individuellen Handlungsebene der Bürgerinnen und Bürger im öffentlichen, privaten und beruflichen Bereich. Grundfragen der Stadtsoziologie:
Wie wirken sich die gesellschaftlich vorherrschenden Strukturen der Produktion und der Arbeitsteilung und die grundlegenden Muster sozialer Beziehungen – in Familien
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Einführung und weiteren Basisinstitutionen – auf die Stadtgestalt aus und umgekehrt: Wie wirken die jeweils dominanten Gruppen auf die Stadtgestalt ein? Welche Muster der städtischen Expansion lassen sich für welche zentralen Bereiche der Stadtgestalt identifizieren: für Wohnen und Arbeiten, Erholung und Verkehr, Kultur und Kommunikation? Inwiefern ist die Stadt für ihre Bürger Ort der Integration und der Identifikation? Welche Entwicklungen zeigen sich im Hinblick auf Segregation, ggf. Gettobildung? Welche unterschiedlichen Lebensstile lassen sich identifizieren; welche Grade an Heterogenität erlaubt die Stadtgesellschaft? Wie ist der öffentliche Raum gestaltet und zugänglich und von wem wird er wie genutzt? Was leistet die Stadt für die Integration der Fremden und von Personen, die nicht auf Basis eigener Ressourcen die Formen der Integration und der Partizipation selbst bestimmen können? Wie ist die Stadt als Herrschaftsverband organisiert; wie groß sind die Spielräume eigenständigen kommunalen Handelns? Welche Formen bürgerschaftlicher Mitbestimmung und Partizipation gibt es?
Diese Fragen ließen sich leicht ergänzen durch die kaum zu überschauende Zahl der empirischen Untersuchungen zum Phänomen Stadt, die von der sich in Deutschland erst nach 1950 etablierenden Stadt- und Regionalsoziologie unternommen wurden, insbesondere im Rahmen der wohnungssoziologischen Forschung (diese findet hier keine systematische Berücksichtigung; vgl. Häussermann/Siebel 2000). Einen Überblick zu den Ansätzen und Themenfeldern der Stadt- und Regionalsoziologie gibt Ulfert Herlyn mit seinem Beitrag „Stadtsoziologische Literatur der letzten 50 Jahre“ (1998). Seine Darstellung orientiert er an folgender Einteilung:
Die 50er Jahre: Das Gründungsjahrzehnt. Die 60er Jahre: Das Ausbaujahrzehnt. Die 70er Jahre: Politisierung und Konsolidierung. Die 80er Jahre: Stadtsoziologie in der Krise. Die 90er Jahre: Neue Herausforderungen für die Stadtsoziologie.
Dieser fundierte, vor allem auf Deutschland bezogene Überblick wird ergänzt durch einen West- und Osteuropa wie die USA berücksichtigenden Beitrag des Prager Stadtsoziologen Jiri Musil (2005), der seit fünfzig Jahren auf diesem Gebiet forscht und lehrt. Die Gliederungspunkte seines Beitrags lauten: Stadtsoziologie in den Vereinigten Staaten und Westeuropa von 1950 bis 1975; Stadtsoziologie in den sozialistischen Ländern Europas von 1950 bis 1975; Stadtsoziologie in den Vereinigten Staaten und Westeuropa nach 1975. Zu ergänzen ist, dass im Umfeld der historischen Diskussionen um Stadtentwicklung und Stadtgesellschaft seit den 1960er Jahren und nach Jahren der Vorbereitung im Jahr 1975 die Sektion „Stadt und Regionalsoziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie offiziell gegründet wurde (vgl. hierzu Hannemann 2005; Schäfers 2006: XIVf.).
Einführung
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III. Zur theoretischen Orientierung Die nachfolgende Darstellung geht von der Überzeugung aus, dass es keinen fest stehenden Kanon an Themen und Theorien der Stadtsoziologie geben kann. An entsprechender Stelle genannte Analysen und Einführungen in die Soziologie der Stadt zeigen, dass wir beim gesellschaftlichen Totalphänomen Stadt über einen breiten Grundkonsens verfügen, aber viele Wege bei der Ausleuchtung einzelner empirischer Phänomene mit Erkenntnisgewinn beschritten werden können. Daher kann es für die Stadt und ihre Entwicklung nicht nur ein theoretisches Paradigma geben – ebenso wenig wie es das für die soziologische Analyse der Gesellschaft gibt. Statt des in den 1970er und 1980er Jahren so beliebten Theorienvergleichs ist zu fragen, was die einzelnen Theorien im Hinblick auf welche Fragestellung an begrifflicher Orientierung für die empirische Analyse leisten können. Das wird in den darzustellenden Untersuchungsfeldern ebenso deutlich wie in den Dokumentationen der verschiedenen Ansätze, die sich als Anhang in den Kap. II und III finden. Der generelle Ausgangspunkt der hier vorgelegten Darstellung von Stadt und Stadtentwicklung liegt in dem Tatbestand, dass mit der Doppelrevolution eine völlig neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung und damit auch der Stadtentwicklung beginnt. Die grundlegenden Muster dieser Entwicklung bestimmen bis in die Gegenwart die Dynamik der Transformation von der traditional-feudalen und ständischen Gesellschaft zur bürgerlich-industriellen und post-industriellen Gesellschaft. Von den damit verbundenen Trends des sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels seien hervorgehoben:
der Trend zur Rationalisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche; der Trend zu Demokratisierung und Verrechtlichung, zu Emanzipation und Partizipation; der Trend zur Kapitalisierung der Eigentums- und Besitzverhältnisse, an Grund und Boden ebenso wie am gesamten Produktivkapital; der Trend zu fortschreitender Arbeitsteilung, verbunden mit der Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung und der Entgegensetzung von Arbeits- und Lebenswelt; der Trend zu städtischen Formen der Siedlungs- und Lebensweise und der Individualisierung der Lebensstile.
Diese Trends werden auch unter dem Begriff der Mobilisierung und der Modernisierung von Sozialstruktur und Lebensstil zusammengefasst (zum Ansatz der Modernisierungstheorien vgl. Zapf 1984). Wenn diese Perspektive bevorzugt wird, zusammen mit der vor allem von Niklas Luhmann vorgetragenen theoretischen Orientierung, dass der Modernisierungsprozess die Ausdifferenzierung und Autonomisierung aller Sozialbereiche – also Ökonomie und Recht, Politik und Religion, Kunst und Wissenschaft usw. – zur Voraussetzung hat (Luhmann 1998), schließt
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Einführung
das die Berechtigung der marxistischen bzw. neo-marxistischen Analyse nicht aus. Mit der Doppelrevolution und ihrem vorherrschenden Paradigma des Liberalismus, der Freisetzung von Markt und Kapital, von Arbeit und Gewerbe, gewinnen ohne Zweifel Kategorien wie Tausch und Ware auch über die Lebenswelt Dominanz. Wo diese nicht sozial und rechtlich eingebunden werden können und nur das Profitprinzip gilt, war es im 19. Jahrhundert und ist es gegenwärtig berechtigt, von Kapitalismus zu sprechen und das Theoriepotenzial des Marxismus differenziert auf den jeweiligen gesellschaftlichen und stadtgesellschaftlichen Entwicklungsstand anzuwenden. Die New Urban Sociology, namentlich die Ansätze von Henri Lefèbvre, seinem Schüler Manuel Castells und von Peter Saunders in dem Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980, sind hierfür als Beispiele zu nennen (vgl. Anhang Kap. III). Die vorliegende Einführung in die Stadtsoziologie will die materiellen und sozialen Grundlagen der Stadt und ihrer Entwicklung, wichtige Theorien und einige Praxisfelder herausarbeiten. Hierbei wurde mehr Wert darauf gelegt, Grundphänomene der Stadt nachzuvollziehen als ihren gerade aktuellen Problemen Tribut zu zollen, eingedenk einer Warnung von Walter Siebel (1987) im Vorwort zu Peter Saunders’ „Soziologie der Stadt“: „Eine Stadtsoziologie, deren Konjunktur im Wesentlichen von den aktuellen Problemdefinitionen einer inkrementalistischen Politik abhängt, wird ihren Praxisbezug zwangsläufig mit einer gewissen Disparatheit und Kurzatmigkeit ihrer Forschung bezahlen müssen“. Die Gründe der Stadtentstehung und die wichtigsten Stufen der Stadtentwicklung – mit dem Fokus auf die Stadt in Europa bzw. die europäische Stadt – werden in den ersten Kapiteln dargestellt. Sie gehören nach der hier vertretenen Auffassung von der Kultur- und Sozialbedeutung der Stadt zu den Grundlagen einer Stadtsoziologie. Städte selbst bringen ihre Geschichte, ihre Bauten und Traditionen sehr bewusst zur Anschauung; sie sind für die Bürgerinnen und Bürger ein wichtiges „kulturelles Kapital“ (mit dem Ausdruck des französischen Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu). Zuletzt machte die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 offenkundig, welchen Stellenwert kulturgeschichtlich so bedeutende Städte wie Weimar und Dresden, Leipzig und Erfurt, Potsdam und Rostock bei der gesellschaftlichen Transformation der DDR-Gesellschaft hatten. Die Ausführungen sind insgesamt von der Überzeugung getragen, dass die lokale Ebene der Stadt trotz aller Ausuferungsprozesse des Städtischen und „Zwischenstädtischen“ (Thomas Sieverts 1997), trotz aller Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse, für die meisten Menschen in Europa und in anderen Weltregionen einen wichtigen Bezugspunkt ihrer Identität darstellt. Daher ist auch die Stadt als ein Grundelement der Sozialstruktur weiterhin als Ort individueller Erfahrungen und Aktivitäten identifizierbar.
Einführung
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Informationsteil
Literatur Castells, Manuel, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001 (zuerst amerik. 1996) Hannemann, Christine, 30 Jahre Sektion Stadt- und Regionalsoziologie, in: Nachrichtenblatt zur Stadt- und Regionalsoziologie, Ausgabe Juli 2005, S. 54ff. Herlyn, Ulfert, Stadtsoziologische Literatur der letzten 50 Jahre, in: Ders. (Hg.), Hans-Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Opladen 1998, S. 211-240 Häussermann, Hartmut/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, 2. korr. Aufl. Weinheim/München 2000 Hobsbawm, Eric, Europäische Revolutionen 1789-1848, Zürich 1962 Le Goff, Jacques, Die Liebe zur Stadt. Eine Erkundung vom Mittelalter bis zur Jahrtausendwende, Frankfurt/New York 1998 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1998 (hier: 2. Teilbd., Kap. 4) Mumford, Lewis, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, 2 Bde., München 1979 (dtv; zuerst amerik. 1961) Musil, Jiri, Fünfzig Jahre Stadtsoziologie, in: Genov, Nikolai (Hg.), Die Entwicklung des soziologischen Wissens. Ergebnisse eines halben Jahrhunderts, Wiesbaden 2005, S. 317-352 Riehl, Wilhelm Heinrich, Land und Leute, 5. Aufl. Stuttgart 1861 (1854), darin Kap. III: Stadt und Land Rüstow, Alexander, Ortsbestimmung der Gegenwart, 2 Bde., Zürich 1950 (hier Bd. I) Schäfers, Bernhard, Elendsviertel und Verstädterung in Lateinamerika, Arbeitsunterlage 7 zur Lateinamerikaforschung, hg. von der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, Dortmund 1967 (Dipl.-Arbeit Univ. Münster 1965) Ders., Die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück, in: Rob Krier. Ein romantischer Rationalist. Architekt und Stadtplaner, Katalog zur Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum, Wien/New York 2005, S. 47-61 Ders., Stadtentwicklung im Spiegel der Stadtsoziologie. Beiträge seit 1970, Konstanz 2006 Siebel, Walter, Vorwort zur deutschen Ausgabe von: Saunders, Peter, Soziologie der Stadt, Frankfurt/New York 1987 Sieverts, Thomas, Zwischenstadt – Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig/Wiesbaden 1997 (Bauwelt Fundamente 118) Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1979 (dtv; zuerst 1918-1922), hier: Bd. 2, 2. Kap.: Städte und Völker Zapf, Wolfgang (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 4. Aufl. Köln/Berlin 1984 (1969)
TEIL A: STADTENTWICKLUNG UND THEORIEN
Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung seit der Doppelrevolution Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960: Suburbaner Raum, Zwischenstadt und Global Cities
Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
Inhalt I.
Stadtentstehung. Frühe Beispiele
1. 2. 3.
Grundlagen der Stadtentwicklung Beispiele früher Städte Der Sonderfall „Çatal Höyük“
II. Babylon vs. Jerusalem. Aufstieg und Niedergang der Städte 1. 2.
Die Stadt als Ort der Entfremdung und Ort Gottes Beispiele für den Untergang großer Städte
III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution 1. 2. 3.
4.
Die griechische Stadt und Stadtkolonisation Die römische Stadt Städtebildung im Mittelalter 3.1 Niedergang und Neubeginn der Stadt 3.2 Expansion und Verselbstständigung der mittelalterlichen Stadt 3.3 Ausbreitung und Differenzierung der mittelalterlichen Stadt 3.4 Zur Sozialstruktur der mittelalterlichen Stadt 3.5 Zusammenfassende Merkmale der Stadt des Mittelalters Städtebildung im Absolutismus 4.1 Ausbau der Residenz und Landeshauptstädte 4.2 Ausbau zu merkantilen und Bürgerstädten 4.3 Übergang zur offenen Bürgerstadt
Informationsteil
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
I. Stadtentstehung. Frühe Beispiele In ihren Anfängen war die Stadt eine Verkörperung des Kosmos, ein Mittel, den Himmel auf die Erde herabzubringen; später wurde sie zum Symbol des Möglichen. Lewis Mumford
1. Grundlagen der Stadtentwicklung Die Stadtentstehung (vgl. u.a. Benevolo 2000; Berndt 1978; Mumford 1979; Wheatley 1971) hat die Errungenschaften der sog. „Neolithischen Revolution“ als Ausgangspunkt, den Übergang von nomadischen Jäger- und Sammlerkulturen zu Ackerbau und Viehzucht. Dieser Übergang eines Teils der damaligen Erdbevölkerung zur Sesshaftigkeit, der sich im Zeitraum von ca. 8000 bis 3500 v.Chr. ereignete, bezeichnet eine der beiden großen Epochenschwellen in der Menschheitsgeschichte; die nächste begann mit der Industriellen Revolution bzw. der Doppelrevolution seit Ende des 18. Jh.s. Zu den revolutionären Entwicklungen der Jungsteinzeit gehören die neuen Agrartechniken wie der Pflug, die Samen- und Tierzucht. Sie ermöglichen die Vermehrung und Konzentration der Bevölkerung an bestimmten Orten. Zu diesen Voraussetzungen der Stadtentstehung kommen als Ursachen hinzu:
der Wille, Heiligtümer zu bewahren, zu schützen und hierfür einen Treffpunkt zu haben; die Zentrierung der bis dahin entwickelten handwerklichen Fähigkeiten und des Güteraustausches an einem Ort; der Wille, sich zu schützen und durch militärische Überlegenheit das Umland zu beherrschen und sich dessen Produkte anzueignen.
Diese Aufzählung ist nicht vollständig, aber sie ist auch ein Hinweis darauf, dass der viel diskutierten These von Paul Wheatley (1971), der sich auf eine vergleichende Analyse der Stadtentstehung in Mesopotamien, Ägypten, im Industal, in China und im Andengebiet stützt, nur bedingt zugestimmt werden kann. Sie geht davon aus, dass Städte aus Zeremonialzentren hervorgegangen seien. Alle Ein-Faktor-Theorien bei der Erklärung komplexer sozialer Phänomene wie einer Stadt greifen zu kurz, auch wenn zu Beginn der Verbindung von religiösem und politischem Charisma in der Gestalt des Gottkönigs oder Pharaos gewiss große Bedeutung zukommt. Die ersten städtischen Siedlungen, die, von einzelnen, früheren Ausnahmen abgesehen, auf das dritte bis vierte Jtsd. v.Chr. zurückgehen, finden sich sowohl in fruchtbaren Flussniederungen und Schwemmlandregionen als auch in hügeligen
I. Stadtentstehung. Frühe Beispiele
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Bergregionen. Erst später kommen, so in Kleinasien und in Griechenland, die Küstenregionen, wie z.B. Troja, hinzu. Als Flussniederungen sind Mesopotamien – das „Zweistromland“ von Euphrat und Tigris –, der Nil bzw. das Nildelta, das Industal des Pandschab und der Gelbe Fluss in China an wichtigster Stelle zu nennen (eine integrale Darstellung der „Stadt im Altertum“ von Mesopotamien bis zur Ausbreitung der römischen Stadt gibt Kolb 2005).
2. Beispiele früher Städte Die frühesten Städte haben klangvolle Namen, die zum Teil aus dem Alten Testament (AT), aber auch aus dem Gilgamesch-Epos (vgl. Maul 2005) oder dem Kodex des babylonischen Stadtkönigs Hammurabi (um 1700 v.Chr.), den ältesten Gesetzestafeln der Menschheit, bekannt sind. Neben Babylon sind hervorzuheben das babylonische Borsippa, das babylonisch-assyrische Ninive, Assur am Oberlauf des Tigris, Hauptstadt eines frühen Militärreiches der Assyrer, und das sumerische Ur in Süd-Mesopotamien (nach Moses I,15 hat Gott selbst Abraham, den Stammvater dreier monotheistischer Religionen, „aus Ur in Chaldäa“ ins gelobte Land geschickt; ausführlich über Ur Kolb 2005: 25ff.). Unter den frühen Städten kommt Jericho im heutigen Palästina ein besonderer Rang zu; von vielen Archäologen wird Jericho für die älteste städtische Siedlung gehalten, deren Besonderheit auch darin besteht, seit dem 6. Jtsd. v.Chr. ununterbrochen besiedelt zu sein. Im Alten Testament wird Jericho mehrmals erwähnt, auch seine Zerstörung durch das Volk Israels (AT; Buch Josua, 6). Bis in die Gegenwart hat sich kaum etwas geändert: Jericho ist wegen seiner strategisch wichtigen Lage ein Zankapfel rivalisierender Völker und Religionen geblieben. Nicht weit von Ur, ebenfalls am Euphrat, lag Uruk, die Stadt des nur in Legenden und späteren Inschriften überlieferten Gottkönigs Gilgamesch (aus dem 3. Jtsd.). Im Gilgamesch-Epos heißt es auf der ersten Tafel über Uruk (vgl. Maul 2005: 46): Eine (ganze) Quadratmeile ist Stadt, eine (ganze) Quadratmeile Gartenland, eine (ganze) Quadratmeile ist Aue, eine halbe Quadratmeile der Tempel der Ischtar. Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk, das sind die Maße!
Wichtige kulturelle und zivilisatorische Errungenschaften sind auf die frühesten Städte im Zweistromland zurückzuführen: die Erfindung des Rades und der Töpferscheibe, der Ziegelherstellung und Metallverarbeitung (der Basis für Waffen neuen Typs), der Schrift und der ersten systematischen Aufzeichnungen und Gesetzestafeln. Diese Städte waren auch die Innovationsorte von Mathematik und
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
Astronomie, von den Grundlagen für Zahlensysteme, Flussregulierungen und genaue Berechnungen der Himmelsrichtungen sowie von der Erfindung des Kalenders (Hotzan 1997: 78). Abb. 2
Grundriss der babylonischen Stadt Borsippa
Der Stadtgrundriss zeichnet sich aus durch seine klaren rechteckigen Formen und die erkennbaren Proportionen in der Aufteilung. Das als Vorstadt angelegte Patrizierviertel kennzeichnet die weiter fortgeschrittene Differenzierung in der Gesellschaftsstruktur.
Quelle: Jürgen Hotzan 1997: 22
Die Abbildung einer Rekonstruktion der babylonischen Stadt Borsippa zeigt folgende typische Merkmale: Die rechtwinklig angelegte Stadt zentriert sich um einen Stufenturm (Zikurat; berühmtestes Beispiel: der Turm von Babel) und einen Tempel. Das ist deshalb hervorzuheben, weil es zu den großen Errungenschaften der Stadtentwicklung in Griechenland seit dem 7. Jh. v.Chr. gehört, den heiligen Bezirk außerhalb der eigentlichen Bürgerstadt, mit der agora als Zentrum, anzusiedeln (vgl. S. 33f.). Bereits die ersten Stadtgründungen führten zur sozialen und räumlichen Differenzierung von Schichten, Kasten, Ständen, Freien und Unfreien, Patriziern und Plebejern. Auch Handwerker und Kaufleute lassen sich mit ihnen zugewiesenen Standorten im Stadtgefüge früh nachweisen.
3. Der Sonderfall „Çatal Höyük“ Wenn für die Stadtentstehung das dritte bis vierte Jtsd. genannt wird, so gilt das für die Mehrzahl der ältesten Städte. Der Streit der Archäologen um die Bedeutung
I. Stadtentstehung. Frühe Beispiele
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und Ausbreitung sehr viel älterer Stadtanlagen, so Jericho und Çatal Höyük (auch: Chatal Hüyük) in der anatolischen Hochebene, ist noch nicht abgeschlossen. Der Architekturtheoretiker Heinrich Klotz ging in seiner Begeisterung für die erst nach 1961 von dem Archäologen James Mellaart ausgegrabene Stadt Çatal Höyük so weit, dass wegen ihres nachweisbaren Alters von acht bis neuntausend Jahren die Stadt- und die Kulturgeschichte der Menschheit neu geschrieben werden müsse. Diese Ausgrabung sei ein beispielhafter Fall für früheste städtische Kultur; „beispielhaft deshalb, weil an diesem Ort bereits alle grundlegenden zivilisatorischen Äußerungsformen auf einem hohen Niveau versammelt sind“ (Klotz 1997: 48). Eine Besonderheit von Çatal Höyük gegenüber der Mehrzahl der anderen frühen Städte ist hervorzuheben: Es gab keine Stadtmauer. Die Wohnbezirke und ineinander verschachtelten Häuser waren so gebaut, dass sie wie eine Außenmauer wirkten, wie die folgende Abbildung zeigt: Abb. 3 Teilrekonstruktion der Ausgrabungen von Çatal Höyük
Quelle: Heinrich Klotz 1998: 51
Die in Çatal Höyük gefundenen Kunstwerke, wie Plastiken, Schmuck und Wandmalereien aus der Zeit um sechs Tsd. v.Chr., sind staunenswert frühe Dokumente einer hoch stehenden Kultur (zahlreiche Abb. bei Klotz 1997).
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
II. Babylon vs. Jerusalem. Aufstieg und Niedergang der Städte II. Babylon vs. Jerusalem. Aufstieg und Niedergang der Städte
1. Die Stadt als Ort der Entfremdung und Ort Gottes Auf Sodom und Gomorrha „ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner“. Moses I, 19 (AT)
Der Aufstieg der Stadt ist bereits im ersten der fünf Bücher Moses’ mit Fluch belegt. Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt, gilt als Städtegründer, als Begründer der Handwerke. Er war neidisch, dass sein Bruder Abel als Bauer und Hirte Gott mit Gaben preisen konnte, die dieser wohlgefällig aufnahm, während seine Gaben zurückgewiesen wurden. Sodom und Gomorrha stehen bis heute sprichwörtlich für lasterhafte, verruchte Städte – selbst der Begriff „Sodomie“ erinnert daran. Auch die Gründung von Rom, die mit den Namen von Romulus und Remus verknüpft und auf das Jahr 753 v.Chr. datiert wird, begann mit einem Brudermord aus ähnlichen Motiven wie bei Kain und Abel: Remus übersprang mit Hohn die von Romulus begonnene Stadtmauer und büßte dafür mit seinem Leben. Die Stadt ist das von Gott und der Erde Entfremdende, das Eigenständige, wo der Mensch durch seine Kultur zum Schöpfer seiner eigenen Welt wird. Auch die Sintflut, die Gott schickte, konnte am Wollen der Menschen, Städte zu bauen und immer höhere Türme zu errichten, nichts ändern. Die Erben der Söhne Noahs, die sich mit der Arche gerettet hatten, errichteten den Turm zu Babel, „dessen Spitze bis an den Himmel reichte, auf dass wir uns einen Namen machen“ (Moses I, 11). Seither ist „überall Babylon“ (Schneider 1968) und eine Stadt versucht die andere oder ein Geschlecht das andere – wie am Beispiel von San Gimignano zu sehen – mit der Höhe seiner Türme zu übertrumpfen. Heute konkurrieren Länder wie Taiwan und China um die größten Hochhäuser, die sky scrapers,. Der sündigen Stadt wurde die heilige Stadt gegenüber gestellt. Im Alten Testament ist es vor allem die Heiligkeit des „himmlischen Jerusalem“ (Hebr. 12,22), die mehrfach erwähnt wird und die nicht zuletzt über die „Geheime Offenbarung“ (Apokalypse) des Johannes und durch Augustinus' „Gottesstaat“ auf das Mittelalter eine mächtige Wirkung hatte (hierzu und zum Folgenden vgl. Borst 1984). Eine der bekanntesten Stellen über Jerusalem, die „Tochter Zion“, in Kap. 21 der Geheimen Offenbarung, lautet: Und Gott „zeigte mir die große Stadt, das heilige Jerusalem […]. Die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem hellen Jaspis. Und sie hatte eine große und hohe Mauer, und hatte zwölf Tore […] und Namen darauf geschrieben, nämlich der zwölf Geschlechter der Kinder Israel.“
II. Babylon vs. Jerusalem. Aufstieg und Niedergang der Städte
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Hier werden Topoi vorgegeben, die weiterwirken, nicht nur in der Bildwelt, sondern ganz real. Otto Borst (1984: 27f.) erinnert an die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verknüpfungen zwischen „Geschlechtern“ und Stadtheiligtum, die in Altären, Epitaphien und Inschriften zu einer bleibenden Einheit verschmolzen seien. Das Bild der hoch gebauten Stadt, zum Himmel führend oder vom Himmel geschenkt, „ist ins Religiöse und Transzendente entrückt“ (Borst). Von der heiligen Stadt Jerusalem zum Heiligen Rom, der Ewigen Stadt, ist es nur ein Schritt: der vom antiken Judentum zum abendländischen Christentum.
2. Beispiele für den Untergang großer Städte Denn Herr, die großen Städte sind verlorene und aufgelöste; wie Flucht vor Flammen ist die größte, und ist kein Trost, dass er sie tröste, und ihre kleine Zeit verrinnt. Rainer Maria Rilke
Bereits in der Blütezeit Roms gab es nüchterne Aussagen über ihren bevorstehenden Untergang. So hieß es im ersten offenen Brief des römischen Historikers und Geschichtsphilosophen Gaius Sallust (86-34 v.Chr.) an Caesar: „Da alles Entstandene wieder zugrunde geht, werden, wenn für die Stadt Rom die Stunde des Untergangs da ist, Bürger gegen Bürger kämpfen, und so werden sie am Ende ihrer Kräfte ausgeblutet eines König oder fremden Volkes Beute werden“ (zit. bei Borst 1984: 32). Sallust wird den Untergang Trojas und vor allem Karthagos im Jahr 146 v.Chr. im Blick gehabt haben. Karthago traf nicht der Zorn Gottes, sondern des Römischen Senats. Nach drei Punischen (phönizischen) Kriegen wurde die von Phönizern gegründete Stadt nicht nur dem Erdboden gleich gemacht, sondern durch Ausstreuen von Salz auf den Ruinenfeldern symbolisch unfruchtbar und unbebaubar gemacht. Der Untergang und die Ruinen Karthagos, die nun zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen, bewegen bis heute die Gemüter und sind seit der Antike Gegenstand der Reflexion und der Kunst. Rom ging in Etappen unter, von denen eine die Plünderung der Stadt durch die Truppen des Westgotenkönigs Alarich im Jahre 410 war. Diesem Umstand verdanken wir das einflussreiche Werk von Augustinus, Kirchenvater und Mitgestalter des christlichen Abendlandes (354-430), „Vom Gottesstaat“. Als man begann, „die Plünderung der christlichen Religion anzuhängen […], entbrannte ich vor Eifer für das Haus des Herrn und beschloss, wider ihre Lästerungen und Irrtümer die Bücher vom Gottesstaat zu schreiben“ (Augustinus 1991). Die 22 Bücher des Gottesstaates
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
geben ein anschauliches Panorama des spätantiken Rom und enthalten viele Reflexionen über den Untergang von Städten v.a. aus christlicher Sicht. Die Gründe für den Niedergang Roms beschäftigen bis heute die Historiker, aber auch Soziologen. Max Weber (1864-1920) hatte diesem Thema eine frühe Abhandlung gewidmet: „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ (1896); dort heißt es gleich einleitend, dass für das Ende Roms und des Römischen Reiches nicht äußere, sondern Gründe des inneren Kulturverfalls und Zivilisationsstandards ausschlaggebend waren. Auch wenn unterschiedliche Gründe genannt werden – in dieser Grundaussage stimmt Weber mit Augustinus überein.
III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution Die europäischen Städte entstehen zusammen mit Europa, und in gewissem Sinne sind sie es, die Europa erst hervorbringen. Leonardo Benevolo
Im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozess wurde intensiver als zuvor nach den geistig-kulturellen und historischen Grundlagen von Europa geforscht. Hierbei kommt der europäischen Stadt bzw. der Stadt in Europa, zusammen und in Verbindung mit dem Christentum und seinen frühen Klostergründungen seit dem 6. Jh. und den Universitäten seit dem 12. Jh. eine besondere Bedeutung zu. Denn es ist unstrittig, dass – um an ein Wort von Edgar Morin aus seinem Werk „Penser l’Europe“ zu erinnern – Europa nur als geistig-kulturelle Einheit, die im Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger wurzelt, Bestand haben kann.
1. Die griechische Stadt und Stadtkolonisation Wo immer Ihr sein werdet, werdet Ihr eine Polis sein. Themistokles (525-460) an die Athener
In Darstellungen des Städtewesens der Alten Welt wird der polis, dem griechischen Stadtstaat, ein bevorzugter Platz eingeräumt (vgl. Kolb 2005). Erstmalig im Athen des 5. Jh.s v.Chr. entwickelte sich ein öffentlicher Raum für die Bürger, die agora (griech. Versammlung). Die Hippodamus von Milet (ca. 520-460) zugeschriebene systematische Stadtplanung begünstigte die Zuweisung spezifischer Stadträume für bestimmte Nutzungen. Die räumlichen Voraussetzungen, sich als Polisbürger zu begreifen und als solcher zu agieren, dürfen nicht unterschätzt werden; auch die
III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution
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Gesellschaftstheorien der polis von Platon (427-347) und Aristoteles (384-322) setzen entsprechende Räume und Gebäude für den Bürger voraus. Aristoteles unterstrich die Bedeutung der polis auch aus seiner anthropologischen Bestimmung des Menschen als zoón politicon, als ein auf die Vielfalt des Polislebens angewiesenes Wesen auf der Grundlage einer Verfassung zur Garantie der Freiheit des Bürgers. In seinem für die abendländische Verfassungsgeschichte und die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft so wichtigen Werk „Politik“ finden sich auch (Buch II/8) Anmerkungen über Hippodamus von Milet und des von ihm betonten Zusammenhangs von räumlicher Stadtgestalt und der Einteilung nach drei Ständen. Ebenfalls dreigegliedert dachte sich Hippodamus die Einteilung der Stadt in den sakralen, den öffentlichen und den privaten Bereich. Zahlreich sind die Beispiele für die Übertragung des rechtwinkligen, schachbrettartigen Musters der Stadtanlage – das heute allgemein auf Hippodamus zurückgeführt wird, aber viel ältere Ursprünge hat – in der griechischen und hellenistischen, später in der griechisch-römischen Welt. Als bedeutendes Beispiel ist die von Alexander dem Großen um 330 v.Chr. gegründete Stadt Alexandria in Oberägypten zu nennen. Dort fand sich später nicht nur die größte Bibliothek des Altertums, sondern mit dem Leuchtturm auf der vorgelagerten Insel Pharos auch eines der sieben baulichen Weltwunder der Antike. Alexandria war über längere Zeit mit Rom die größte Stadt im antiken Mittelmeerraum (vgl. Tab. 1) und markiert für Mumford (1979: 216) den Übergang von der polis und hellenistischen Metropole zur antiken Megalopolis. War die agora, um die sich immer mehr Gebäude gruppierten, zunächst für Versammlungen, z.B. auch des Heeres, bestimmt, so erlangte sie seit dem 6. Jh. v.Chr. mehr und mehr räumliche Unabhängigkeit vom Heiligtum und wurde ein Treffpunkt für die Bürger (Hölscher 2000: 29ff.; dtv-Lexikon der Antike III/1). Erst mit der räumlichen Trennung bestimmter Gebäude und Funktionen vom Tempelbezirk (akropolis) kann sich die eigentliche polis, mit der agora als Zentrum, entwickeln. Tonio Hölscher hat in seiner archäologischen Untersuchung die große Bedeutung dieses neuen räumlichen Arrangements für die Entwicklung des öffentlichen Raumes (vgl. hierzu Kap. V) herausgearbeitet. Seine Feststellung, dass die urbanistische Struktur sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung des gesellschaftlichen Lebens sei, „ein primär formendes Prinzip“ (2000: 12), gilt nicht nur für die agora, sondern ganz prinzipiell. Hinzu kommt ein weiteres, bis heute wichtiges Element der städtischen Bürgerkultur. Es sind die reichen Bürger, die die öffentlichen Gebäude stiften, die Markthallen und Stadttore, die Theater und später bei den Römern die großartigen Foren und Thermen (Pekáry, 1979: 90f., weist darauf hin, dass auch das gut erhaltene Trajansforum in Rom nicht etwa ein kaiserlich-staatlicher Bau war, sondern ein Geschenk des Bürgers Trajan an seine Mitbürger).
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt Abb. 4 Nördliche und südliche agora von Milet
Quelle: Werner Müller/Gunther Vogel 2002: 170
Die nördliche agora aus dem 4. Jh. v. Chr. ist der architektonisch gefasste Freiraum zwischen den Gebäudegruppen, in denen die verschiedenen Aktivitäten der Stadt zum Ausdruck kommen. Die südliche agora – Mitte des 2. Jh.s v. Chr. fertig gestellt – repräsentiert den Typ der allseitig geschlossenen hellenistischen agora, der sich auch in anderen Städten durchsetzt.
Für den griechisch-ägäisch-kleinasiatischen Raum können Pounds et al. (1969) für die Zeit zwischen 450-400 v.Chr. etwa 340 poleis nachweisen. Diese lagen fast ausschließlich auf erhöhtem Grund in der Nähe der Küste und differierten stark in ihrer Größe: Zwischen 200 und 20 Tds. Einwohnern dürfte die Mehrzahl der städtischen Plätze gezählt haben. Athen und später Syrakus (Sizilien), waren frühe, bedeutende Sonderfälle. Xenophon (430-355), Athens Geschichtsschreiber, betrachtete eine Stadt mit mehr als 5 Tsd. Einwohnern als groß (Pounds 1969: 142). Für Athen gibt Pounds (1969: 14) eine Bevölkerung von etwa 45 Tsd. männlichen Bürgern für den genannten Zeitraum und damit dem Glanzpunkt seiner Entwicklung an; zusammen mit den Metöken (den Zugewanderten) und den Sklaven könnten somit etwa 250 Tsd. Menschen das Gebiet der polis Athen bevölkert haben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die poleis hinsichtlich der Größe ihres Stadtgebietes nicht mit der etruskisch-römischen urbs oder der dicht gedrängten mittelalterlichen Stadt verwechselt werden dürfen, sondern eher mit der römischen civitas identisch sind (zu den Begriffen vgl. w.u.). Die Ausbreitung der griechischen polis und der römischen urbs wird in folgenden Entwicklungslinien dargestellt: Während bereits seit dem 7. Jh. v.Chr. Kleinasien, Unteritalien und Sizilien mit griechischen Stadtgründungen übersät wurden und die heutige spanische und südfranzösische Mittelmeerküste nur ein Jahrhundert später folgten, dauerte es bis zum ersten vorchristlichen Jh., um auch Innerspanien, Gallien und das nördliche Germanien an das römische Städtesystem anzuschließen (vgl. Pounds 1969; Hölscher 2000).
III. Entwicklung der europäischen Stadt bis zur Doppelrevolution
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Obwohl exakte Zahlen für die Größe antiker Städte nicht vorliegen, gibt es Anhaltspunkte (zu diesem Problem vgl. die genannten Quellen und Kolb 2005: 101ff.). Tab. 1
Größenangaben für Städte im Altertum
um 430 v.Chr. Athen Syrakus Memphis Rom Korinth Jerusalem Sparta
Bev. in Tsd. 155 100 100 150 70 50 40
um 200 v.Chr. Bev. in Tsd. Rom 322 Alexandria 400 Karthago 200 Jerusalem 120 Antiochia 120
um 100 n. Chr. Bev. in Tsd. Rom 650 Alexandria 400 Karthago 200 Korinth 100 Cadiz 100 Mailand 35 (Trier) 30 (Köln) 25-50
Quelle: Tertius Chandler/Gerald Fox 1974 (dort im einzelnen Quellennachweis); für Köln vgl. Kolb 2005:191
2. Die römische Stadt Das römische Reich, selber das Produkt eines einzigen sich ausbreitenden städtischen Machtzentrums, war wiederum ein riesiges städtebauliches Unternehmen. Lewis Mumford
Die Römer übernahmen den Grundgedanken der griechischen Stadtanlage, verfügten jedoch über ein nahes etruskisches Erbe (vgl. z.B. die urbs vetus, das heutige Orvieto, 125 km nördlich von Rom am oberen Tiber). Unterschiede gab es sehr früh durch die Freude der Römer an den leges, der gesetzlichen Regelung von Sachverhalten von privatem und vor allem öffentlichem Interesse. So wird das bekannte „Zwölf-Tafel-Gesetz“ (etwa 450 v.Chr.) als erstes Baugesetz überhaupt angesehen. Mit den Römern erfolgte die Ausbreitung des Städtesystems in bisher eher stadtfreie Räume nach Gallien, England und Germanien. Etliche deutsche Städte – an wichtigster Stelle Köln und Trier, Mainz und Regensburg – sind bis heute stolz auf das, zumal in Trier, so sichtbare römische Erbe. Für das römische Stadt- und Verwaltungssystem sind die folgenden Namen überliefert (ausführlich zu nachfolgenden Bezeichnungen Schmieder 2005: 15f.): urbs (Pl. urbis) – die größere Stadt; oppidum (Pl. oppidi) – die kleinere Stadt; befestigte Siedlung; vicus (Pl. vici) – Häuserreihe; Stadtviertel, Dorf; municipium (Pl. municipii) – Stadt, die die civitas, das römische Bürgerrecht, besaß.
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
Nur municipium bezeichnete eine Stadt als administratives und politisches System (über die „Munizipalisierung und Urbanisierung im Imperium Romanum“ vgl. Kolb 2005: 169ff.), während die Begriffe urbs und civitas Namen gebend sind für zentrale Elemente der Stadtkultur und der Stadtentwicklung, für Urbanität und für Zivilisation (zu Urbanität vgl. Kap. V; zu Zivilisation im Kulturprozess von der Antike bis in die Gegenwart vgl. Fisch 1992). Ein Hinweis auf das einzige erhaltene Werk aus der Antike über Architektur und Stadtbaukunst, auf die von Vitruv um das Jahr 25 v.Chr. verfassten „Zehn Bücher über Architektur“ (vgl. Vitruv 1976), darf nicht fehlen. Dort finden sich noch heute lehrreiche Ausführungen über die Auswahl geeigneter Plätze für die Anlage einer Stadt (Buch I/4) – auch unter ökologischen Gesichtspunkten – und für die Lage der öffentlichen Gebäude an den wichtigsten Plätzen. Vitruvs Schrift hatte seit ihrer Wiederentdeckung in der frühen Renaissance eine einzigartige Wirkung auf die Architektur- und Stadtbaugeschichte (vgl. Schäfers 2003: 14f.). Wegen der großen Bedeutung Roms für die europäische Stadtentwicklung und Zivilisation seien einige Details aus dieser Stadt angefügt, weil damit bestimmte „Muster“ genannt werden, die sich unter anderen Voraussetzungen wiederholen (bis hin zum privilegierten Verkehr für die Herrschenden in ihren „Staatskarossen“). Rom hatte ein außerordentliches Verkehrsproblem (hierzu und zum Folgenden Sonnabend 1992: 183ff.). Zur Kaiserzeit hatte die Stadt zwischen 650 Tsd. und einer Mio. Einwohner. Seit Cäsar (44 v.Chr. ermordet) wurde ein großer Teil des Stadtgebietes für öffentliche und repräsentative Bauten genutzt, was nicht zur Ausdehnung an der Peripherie, sondern zu einer unglaublichen Verdichtung im Innenbereich führte. Die im 3. Jh. errichtete Aurelianische Stadtmauer umschloss ein Gebiet von 1372 ha (umgerechnet etwa 3x4,6 km; B.S.). Nach zeitgenössischen Gebäudeinventaren aus dem 4. Jh. (die Quellen bei Sonnabend: 186) befanden sich auf diesem Areal: 1790 private Wohnhäuser (domus), 46 602 Mietskasernen (insulae), 190 Getreidespeicher, 254 Mühlen, 8 große Plätze, 11 Foren, 36 Triumphbögen, 1152 Brunnen, 28 Bibliotheken, 2 Zirkusse, 2 Amphitheater, 3 Theater, 11 große Thermen und 856 kleinere Bäder. Dieses Verzeichnis spiegelt anschaulich den herrschaftlich-repräsentativen, aber auch den hohen zivilisatorischen Standard der damaligen Weltmetropole Rom. Der Eindruck von Engräumigkeit wird durch „das unentwirrbare Knäuel der römischen Straßen“ noch verschärft (hierzu Sonnabend 1992:186ff.).
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3. Städtebildung im Mittelalter Das städtische Gemeinwesen des Mittelalters war eine wimmelnde, auf engem Raum zusammen gedrängte Gesellschaft, ein Ort der Produktion und des Warenaustauschs. Jacques Le Goff
3.1 Niedergang und Neubeginn der Stadt Der Niedergang der römischen Städtekultur im Verlauf der Völkerwanderung im 4.-6. Jh., der Verfall des Weströmischen Imperiums und der Aufstieg von Ostrom (Byzanz/Konstantinopel) sowie der Einbruch des Islam nach Europa seit dem Jahr 711 mit dem Übertritt des arabisch-maurischen Heeres nach Südspanien führten zu einem großen Machtvakuum einerseits, zu neuen Machtzentren andererseits: in Spanien mit dem Kalifat von Córdoba, in Italien mit dem Aufstieg Venedigs seit dem 9. Jh. und im gallisch-germanischen Raum mit der Christianisierung und Konsolidierung im Frankenreich Karls des Großen (König der Franken 768-814; Römischer Kaiser 800-814). Trier, Köln, Mainz, Regensburg oder Straßburg (römisch: Argentorate) blieben in den Wirren der Umbruchzeit zwar als „Stadthülsen“ teilweise bestehen, verloren jedoch erheblich an Einwohnern und büßten ihre städtischen Funktionen als municipium ein. Es war, so Felicitas Schmieder (2005:20) in ihrer anschaulichen Darstellung der mittelalterlichen Stadt, vor allem die Kirchenorganisation der ersten Bistümer, der ein Hauptverdienst an der städtischen Kontinuität zukomme. So wurde aus dem römischen Argentorate ab 343 das Bistum des episcopus Argentinensis und dann Straßburg. Vor allem im Einflussbereich des Islam und des Oströmischen Reiches kann in dieser Zeit von Erhalt und Weiterentwicklung der Stadt und Stadtkultur gesprochen werden. Tab. 2
Städte in Europa um die Jahre 800 und 1000 Stadt Córdoba Konstantinopel Rom Sevilla (899) Venedig Toledo Paris Köln Trier
Einwohner um 800 in Tsd. 160 300 50 35 25 25 15 15
Einwohner um 1000 in Tsd. 450* 450 35 90 45 31 20 -
Quelle: Tertius Chandler/Gerald Fox 1974; * Gesamtzahl für die verstädterte Zone
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
Erst die Festigung des Fränkischen Reiches, das Wiederaufblühen des Handels zu Lande und zu Wasser seit dem 10. Jh. und das Wiedererwachen einer sich spezialisierenden Handwerkskunst führten zu neuem städtischen Leben, zur Einzigartigkeit und Vielfalt der mittelalterlichen Stadt. Wie bei der Entstehung der Stadt gibt es auch bei der raschen Entwicklung und Ausbreitung des mittelalterlichen Städtewesens nicht nur eine Ursache. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Friedrich-Wilhelm Henning (1974: 70ff.) nannte u.a. die starke Bevölkerungsvermehrung seit dem 11. Jh. (die erst Mitte des 14. Jh.s durch die Pest gestoppt wurde) sowie die Lokalisierung von Handwerk und Handel am Fuße der zahlreichen Burgen (daher der Name Bürger). 3.2 Expansion und Verselbstständigung der mittelalterlichen Stadt Die politische Verfassung in dem sich seit ca. 1150 zügig entwickelnden Stadtsystem war zunächst ländlich und damit feudal, denn bis zum Ende des 12. Jh.s unterlagen die Städter fast ausschließlich der Herrschaft eines Bischofs, einer Abtei, eines Grafen oder Fürsten. Es waren vor allem die Fernhändler, denen es gelang, diese feudale Herrschaft abzuschütteln und die Stadt in einen selbstständigen politischen Verband zu transformieren (vgl. hierzu die Darstellungen bei Weber 1999, Planitz 1997, mit Köln, wie bei Schmieder 2005, als ausführlich behandeltem Beispiel). Auch Henning (1974: 72ff.) betont, dass der Reichtum der Fernhändler die Grundlage schuf für die Stadtfreiheit – für die Möglichkeit, dass die in den städtischen Siedlungen lebenden Bürger den die Stadt beherrschenden politischen Verband selbst stellten. Nun erst konnte es heißen: „Stadtluft mach frei“. Dieser berühmte Satz sei im Mittelalter unbekannt gewesen und eine spätere Zusammenfassung entsprechender Praktiken. So hieß es beispielsweise in den Gesetzen der Stadt Hildesheim im Jahr 1249: „Wenn jemand in die Stadt kommt, um hier zu bleiben, und bleibt ein Jahr und einen Tag, ohne dass ihn ein Herr zurückfordert, so soll danach niemand ihn mehr zurückfordern können“ (Schmieder 2005: 78; der Originaltext war lat.). Siedlungsplätze an den reaktivierten Handelsstraßen und politisch-handelspolitisch dominanten Einflusssphären, die auch sonst über günstige Bedingungen verfügten, z.B. eine Furt (Frankfurt/Main oder Frankfurt/Oder), entwickelten sich rasch zu Städten neuer Größe und Struktur: in Oberitalien Genua, Lucca, Pisa, Siena und Florenz, die im Bezug auf die großen „Metropolen“ von Mailand und Venedig ein Gegengewicht darstellten; im Norden des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ (962-1806) waren es die Küsten- und Hafenstädte wie Hamburg und Lübeck, Rostock und Danzig, die – zumal im Zusammenhang mit dem Städtebund der Hanse – dominante Größen und Stadtbilder ausprägten. Im Rhein-MaasSchelde-Gebiet waren es Köln, Lüttich, Brügge, Gent und Antwerpen; im Binnen-
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land Nürnberg, Augsburg und später die sächsischen und oberschlesischen Städte, die auf engem, ummauertem Territorium dem Feudalismus und Lehnswesen ein anderes soziales und rechtliches Organisationsprinzip entgegensetzen: das der sich selbst verwaltenden Stadt bzw. „Freien Reichsstadt“ (bezogen auf den deutschen Raum vgl. Schöller 1967; dort auch die Differenzierung nach historischen und regionalen Städtetypen). Schaubild 1 Zahl der Städte und Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 800-1400 in Deutschland (Schätzung)
Quelle: Friedrich-Wilhelm Henning
Über die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsordnung, die ständische Gliederung und „Exterritorialität“ der mittelalterlichen Stadt im Verhältnis zum agrarisch-feudalen Umland ist seit Freiherr vom Steins preußischer „Städteordnung“ (1808) und den grundlegenden Studien Georg Ludwig von Maurers (1790-1872) viel geschrieben worden. Bei Max Weber (1999) wie zuvor schon bei Werner Sombart wurde die mittelalterliche Stadt zu einem „Idealtypus“, an dem sich die Rationalisierung der abendländischen Rechts- und Wirtschaftsordnung als Grundelement der Entwicklung des spezifisch okzidentalen Kapitalismus besonders gut analysieren ließ. 3.3 Ausbreitung und Differenzierung der mittelalterlichen Stadt Für die rasche Ausbreitung der mittelalterlichen Stadt sind – wie für die anderen Phasen konzentrierter Städtebildung und Verstädterung – neben den genannten Faktoren auch technologische Neuerungen mit verursachend. Jacques Le Goff (1965: 52 f) nennt die zügige technische Verbesserung und Verbreitung der Wassermühle und ihren bevorzugten städtischen Standort als eine der wichtigsten technologischen Grundlagen. Henri Pirenne (1976: 51) vergleicht die im Zuge des „Handelskapitalismus“ entstehenden hochmittelalterlichen Städte in der „Kraft und Schnelligkeit der Aus-
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breitung“ mit der „ähnlich gearteten Bewegung der Industrie im 19. Jahrhundert“ und ihrer Bedeutung für die Ausbildung der industriellen Großstadt. Alle folgenden Zahlen sind Schätzwerte und beruhen zumeist auf Analogieschlüssen über vorhandene Statistiken und Auszählungen. So wird von der Zahl der Handwerke in einem bestimmten Gewerbe auf die Größe der Stadt geschlossen; ebenso von der Zahl der Kirchen, der Priester, dem Brotverbrauch, den registrierten Geburten und Heiraten, der Zahl der Häuser und Herde. Edith Ennen (1956: 782; vgl. auch Ennen 1987) unterteilte die mittelalterliche Stadt in folgende Größenklassen: Großstädte. Die Großstadtgrenze habe bei 10 Tsd. Einwohnern gelegen, „aber erst die mittelalterlichen Städte von rund 20 Tsd. Einwohnern besaßen einen wirtschaftlich weiten Aktionsradius und vollen Großstadtrang“. Diesen Großstadtrang hatten nach Edith Ennen im deutschen Raum nur Köln, Magdeburg, Lübeck, Bremen, Metz, Breslau, Danzig, Nürnberg und Straßburg. Zwischen 10 Tsd. und 18 Tsd. Einwohnern hatten: Rostock, Hamburg, Braunschweig, Frankfurt, Augsburg, Erfurt, Goslar und Soest (letztere überschritten nur knapp die 10 Tsd.er Grenze). Mittelstädte. Solche von Bedeutung zählten zwischen 5 Tsd. und 10 Tsd. Einwohnern; solche geringerer Bedeutung zwischen 2 Tsd. und 5 Tsd. Einwohnern. Zur ersten Gruppe rechneten: Trier, Dortmund, Münster, Görlitz, Mainz, Emden, Osnabrück und Freiburg. Kleinstädte. Orte mit weniger als 2 Tsd. Einwohnern, aber städtischem Charakter (einzelne „Freie Reichsstädte“ besaßen nur um 2 Tsd. Einwohner!). Zu dieser Gruppe zählten etwa 90-95 % aller mittelalterlichen Städte. Engelsing (1973) unterteilt im Hinblick auf die dominanten Tätigkeiten in:
Ackerbürgerstädte. Sie zeigen nur eine geringe soziale Differenzierung. Gewerbe- und Handelsstädte. In ihnen zählte man bis zu 200 verschiedene Berufe ein Beleg für die hochgradige Differenzierung und Arbeitsteilung der mittelalterlichen Stadt (da die große Mehrzahl der Ackerbürgerstädte auch Gewerbe- und Handelsstädte waren, ist fraglich, ob die Trennung in der angegebenen Form sinnvoll ist). Fernverkehrs- und Fernexportstädte. Zu den bekanntesten Beispielen zählen Augsburg (für den Handel mit Italien und dem Mittelmeerraum) und Lübeck (für den Handel mit Nord- und Osteuropa).
Regional gesehen finden sich in Mitteleuropa am Ausgang des Mittelalters und in der frühen Neuzeit die relativ höchsten Anteile städtischer Bevölkerung in Flandern und Brabant wie in Oberitalien. In Flandern und Brabant wohnten ca. 35 % der Bevölkerung in Städten, d.h. ein solch hoher Anteil, wie er für die übrigen Regionen erst durch die Industrialisierung bzw. die industrielle Großstadt erreicht wurde.
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3.4 Zur Sozialstruktur der mittelalterlichen Stadt Die soziale Gliederung der Stadtbevölkerung lässt sich unterteilen in Patrizier (erst seit dem 16. Jh. ein Sammelbegriff für drei zu unterscheidende Sozialgruppen), Bürger, unterbürgerliche (nicht-zünftige) Sozialgruppen und Sondergruppen (vgl. auch Hradil 1999: 52ff.) Geschlechter und Patriziat Ein Beispiel für den Stellenwert der Geschlechter im Stadtgefüge ist Köln. Es macht zudem deutlich, wie weit ständische Prinzipien der Geburt und der Ehre auch zum Wertkodex der Städte gehörten. In Köln waren es 15 Geschlechterverbände, „die seit 1305 den überwiegenden Anteil an der Besetzung des Rates hatten“ (Planitz 1997: 269). Diese Geschlechter bemühten sich, wie es ja auch für den Adel typisch war, um eine Nobilitierung bis weit in die Geschichte zurück. Was lag in Köln näher als die Behauptung der dominanten 15 Geschlechter, ihr Ursprung liege in der römischen Geschichte der Stadt, in der Colonia Ara Agrippinensium? Handwerk und Zünfte Es waren „Einigungen freier Handwerker“ (Weber 1999: 262), „welche in der Bewegung des Bürgertums gegen die Geschlechter die entscheidende Rolle spielten“. Das sich in Zünften organisierende Handwerk ist nach seinen „Spuren“ im Sozialraum der mittelalterlichen Stadt ein zumeist bis heute leicht aufweisbares Strukturelement. So können wir, zumal in italienischen Städten, das Fortbestehen zahlreicher, zum Teil sehr spezialisierter Handwerke im angestammten Stadtraum beobachten, oder werden in den Städten Europas anhand der Straßennamen an die einst dort ansässigen Gewerbe und Handwerke erinnert: Böttchergasse, Fleischergasse, Bäckergasse, Seilergasse usw. Die Gilden der Kaufleute und die Zünfte der Handwerker waren mehr als nur Berufsvereinigungen. Sie organisierten das ökonomische und soziale, das kulturelle und – vor allem die Kaufleute – das politische Leben der Städte in peniblen Ordnungen, die alle Arbeits- und Lebensbereiche umfassten (vgl. zu Inhalten der Zunftordnungen Gerteis 1986: 137ff.). Über Quantität und Qualität der Waren und Erzeugnisse gab es ebenso Vorschriften wie über die Zahl der Gehilfen und Gesellen, über Kleider und Heiraten. Zumal im deutschen Raum hatten Teile dieser Ordnungen bis ins 19. Jh. hinein Bestand. Bekanntes Überbleibsel ist das auch gegenüber der EU so hartnäckig verteidigte „Reinheitsgebot“ für Bier aus dem Jahr 1516. Bemerkenswert ist die unglaubliche Differenzierung der Handwerke auf kleinem Raum und ihre Spezialisierung, z.B. bei den Schmieden in Nagel-, Huf-, Messer- und Kupferschmiede.
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Nur so ist erklärlich, dass die Zahl der Handwerke in den größeren Städten mit ca. 200 angegeben wird, die Zahl der Gewerbe in der Stadt aber noch darüber lag (vgl. Bücher 1920: 410). Unterbürgerliche Schichten Erich Maschke (1984) behandelt in seinem aus breitem Quellenmaterial erarbeiteten Beitrag zu den „Unterschichten der mittelalterlichen Städte“ u.a. die folgenden Sozialgruppen:
die unselbstständigen Berufe (Gesellen, Knechte und Mägde, Kaufmannsgehilfen); die „unehrlichen“ Berufe; die Tagelöhner und „Arbeiter“ (wie sie z.B. in Basel hießen); die große Zahl der „Frauen mit eigenem Haushalt, Witwen oder Unverheirateten, die in bescheidenen oder ärmlichen Verhältnissen lebten“, in Buden und Kellern (ebd.: 384); die nach Entstehung und Integration in die Sozialverbände und Institutionen der Städte – z.B. durch Spitäler und Armenhäuser, Arbeitshäuser usw. – hochkomplexe Sozialgruppe der Armen; hierzu rechnen auch die „flukturierenden Armen“: die Bettler (vgl. ausführlich ebd.: 422ff.).
Die Größe einzelner Sozialgruppen muss erstaunen. In Nürnberg betrug im Jahre 1449 bei ca. 20 Tsd. Einwohnern die Zahl der Knechte und Mägde mit 1475 resp. 1855 7,8 bzw. 9,9 % der Gesamtbevölkerung (Maschke 1984: 386). Die Vertreter der „unehrlichen Berufe“ stellten eine höchst heterogene Sozialgruppe dar, eine Art „Restkategorie“ im Hinblick auf die Bürgergesellschaft und doch mit ihr in vielfacher Weise verbunden. Hierzu rechneten als Einzelberufe die Henker und Totengräber, die Abdecker (auch Schinder genannt), die noch bis 1731 vielerorts als „unehrlich“ galten (diese Gruppe, die mit Verwertung und Beseitigung von Tierkadavern zu tun hatte, kann nicht klein gewesen sein); die Frauenwirte und Dirnen; die Spielleute, Jongleure und das fahrende Volk, die zum mittelalterlichen Stadtleben auch in unserer Vorstellungswelt dazu gehören. Bei vielen der unter-bürgerlichen, nicht-zünftigen Berufe waren die Übergänge zum Bürgertum fließend, wenn auch vielfach strittig, so bei den Gerbern, die Tierhäute bearbeiteten, oder bei den Stadtpfeifern, die in Basel jedoch zunftfähig wurden (vgl. ebd.: 420). Sondergruppen Als wichtigste Sondergruppe intra muros werden die Geistlichen und die Juden genannt. Für sie gab es ummauerte Sonderbezirke und Immunitäten noch vor der eigentlichen Phase der expansiven Stadtgründungen seit Beginn des 12. Jh.s. Diese Immunitäten der großen Klöster und Stifte sind bis heute in vielen europäischen
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Städten als „Inseln“ (häufig auch der Ruhe) auszumachen. Von der Regel, die Bewohner der Immunitäten seit der Konsolidierung des jeweiligen Stadtgebietes durch eine Stadtmauer zu schützen, gab es viele Ausnahmen, z.B. in Bamberg, wo die weiterhin ummauerten Bezirke sich von der Bürgerstadt abschlossen und bis ins 17. Jh. hinein „den Eindruck eines weitläufigen, aus unterschiedlichen Städten bestehenden Ortes erweckten“ (Gerteis 1986: 165). Die Immunitäten bildeten eigene Rechtsbezirke und standen damit außerhalb des Stadtverbandes der Patrizier und Bürger. Konflikte konnten nicht ausbleiben, wie das Beispiel des Bischofs von Köln belegt, der nach der Schlacht von Worringen (1288) die Stadt nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rates betreten durfte. 3.5 Zusammenfassende Merkmale der Stadt des Mittelalters Die im Folgenden aufgeführten Merkmale der mittelalterlichen Stadt sind ein Kern der Definition der Stadt (vgl. auch S. 14ff.):
Konzentration der Bevölkerung durch eine „städtische“ Bauweise; Konzentration von Handel, Handwerk, Kirchen und Klöstern und weiterer, z.T. völlig neuer Institutionen (wie Zünfte und Innungen), Rathäusern, Hospizen für Kranke und alte Menschen; weitgehende oder vollständige Autonomie durch eigenes Recht und zum Teil eigene Münzen; die Stadtverfassung als Gegenmodell der feudal-ständischen Ordnung; Stadtmauern und bewachte Stadttore als Symbol und Garant der Eigenständigkeit.
Diese Merkmale – durch die bis heute sehr beliebten Stadtansichten aus ganz Europa von Braun-Hoogenberg, Matthäus Merian d.Ä. (1593-1650) und Matthäus Merian d.J. (1621-1687) festgehalten – prägen bis heute das Bild von der Stadt und sind Vorbild für die Errichtung neuer Formen der Stadttore und Stadttürme, der „Ablesbarkeit“ und der Identität. Das ab 1635 erscheinende Werk Merians, Theatrum Europaeum, verweist bereits im Titel auf eine damals vorhandene Sicht auf die „europäische Stadt“.
44 Abb. 5
Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt Mainz Anno 1633
„Es ist Mainz vor Alters eine freie und kaiserliche Stadt gewesen, die aber Anno 1462 durch Einfall ihres Erzbischofs mit Gewalt eingenommen, die Bürger zum Teil umgebracht, zum Teil ins Elend verjagt, das alte Regiment abgetan und solche Stadt gänzlich dem Kurfürsten untertänig gemacht. Und damit sie desto besser im Zaum gehalten werden möchte, von ihm nicht lang hernach daselbst ein festes Schloß erbauet worden.“ Quelle: Matthaeus Merian 1962 (1635)
4. Städtebildung im Absolutismus Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert machte sich in Europa ein neuer Komplex kultureller Erscheinungen geltend. Daher änderte sich das städtische Leben nach Form und Inhalt grundlegend. Lewis Mumford
Die Entwicklung des Städtewesens zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem Zeitalter der Doppelrevolution wird im Hinblick auf die Veränderung der Herrschafts- und Sozialformen in Stadt und Land meist als Übergangsepoche betrachtet. Diese Einstufung wird der Bedeutung und Eigenständigkeit der Epoche des Absolutismus und Merkantilismus, des Barock und der frühbürgerlichen Aufklärung nicht gerecht (vgl. Gerteis 1986; zu den „neuen Ansätzen im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts“ vgl. Seng 2003).
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4.1 Ausbau der Residenz- und Landeshauptstädte Die Änderung der herrschaftlichen und sozialen Strukturen zeigte sich im Sieg des feudalen Landes über die Stadt: Aus dem jahrhundertealten Kampf zwischen den „freien Städten“ und dem feudalen Land einerseits, den Städten und den kirchlichen Gewalten andererseits, gingen die Landesherren und die Kirche als „Sieger“ hervor. Die Vereinigung beider Gewalten wird symbolisiert in der Gestalt des mächtigen Fürst-Erzbischofs, der „seine“ Stadt zur barocken Residenz ausbaute. Versailles war das bewunderte Vorbild. Hier kam es unter Ludwig XIV. seit 1668 zur Verwirklichung eines Plans, der Schloss, Gartenanlage und Stadt als Einheit sah. Mannheim, Karlsruhe, Schwetzingen, Bruchsal und Darmstadt sind Beispiele im süddeutschen, Düsseldorf, Hannover und Kassel im norddeutschen Raum für entsprechende Stadtumgestaltungen und -neugründungen. Das Vorbild Versailles wirkte bis nach Russland, wo Zar Peter der Große 1703 St. Petersburg gründete (die wechselnden Namen von St. Petersburg spiegeln auch, wie in anderen Städten, ein Stück Kulturund Politikgeschichte: 1703-1914 St. Petersburg; 1914-1924 Petrograd; 1924-1991 Leningrad; seither wieder St. Petersburg) – und indirekt bis nach Washington. Thomas Jefferson, der Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und spätere Präsident der USA, hatte auf einer Reise 1788 auch Karlsruhe kennengelernt und den Stadtgrundriss für erste Entwürfe der neuen Hauptstadt der USA (Washington) verarbeitet. Mit Peter Schöller (1967: 37) ist noch ein weiterer Punkt hervorzuheben: „Die Parkanlagen von Kassel, Potsdam und Dessau, Bonn, Stuttgart und Schwetzingen und vieler anderer Residenzen haben zum ersten Male in der Geschichte des deutschen Städtebaus die planmäßig gepflegte Grünanlage in eine direkte und innige Beziehung zur Stadt gebracht. Bei der Anlage von Ludwigsburg und Erlangen wurde der Fürstenpark der Mittelpunkt der Stadt.“ Neben dem absolutistisch orientierten Stadtumbau gab es Stadtneugründungen im Zuge der „inneren Kolonisation“ zur Aufnahme der vertriebenen Hugenotten bzw. Protestanten aus Frankreich, den habsburgischen Erblanden und Salzburg. Viele dieser Exulantenstädte wie Freudenstadt, Hanau, Karlshafen an der Weser und Friedrichstadt an der Eider sind Beispiele für den planenden Geist der Spätrenaissance und des frühen Barock (zu den Hugenottenstädten und ihrer Planung vgl. Jakob 1990). Doch auch „der Krieg als Städtebauer“ (Mumford 1979: 420ff.) spielte eine große Rolle. Die stehenden Heere erforderten Kasernen und Manufakturen und wegen der vergrößerten Durchschlagskraft der Kanonen Festungswälle und -mauern ganz neuer Art. In Mülhausen (frz. Mulhouse) im Elsass kann man sich, wie an anderen Orten, davon noch heute ein Bild machen. Mit den politisch-herrschaftlich bedingten Veränderungen der Stadtautonomie und der Stadtgestalt ging der Niedergang der einst so bedeutenden Städtebünde einher, vor allem der Hanse und des Rheinischen Städtebundes. So zwangen die
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
erstarkenden Landesherrn seit Ende des 15. Jh.s einen Teil „ihrer“ Städte zum Austritt aus diesen Bünden. Für Preußen ist dieser Prozess mit der Kreisordnung von 1803 zunächst abgeschlossen. Ebenfalls im Jahr 1803 fasste der Immerwährende Reichstag in Regensburg – nicht zuletzt auf Druck Napoleons – weit reichende Beschlüsse, die nicht nur zur Säkularisierung eines Großteils kirchlich-klösterlichen Besitzes und zur Vermehrung grundherrlichen und städtischen Bodens beitrugen, sondern auch die Reichsunmittelbarkeit von 51 Städten aufhoben; deren Zahl belief sich nunmehr auf sechs. Die ständische Differenz von Stadt und Land wurde damit weitgehend aufgehoben (vgl. hierzu auch S. 133ff.). 4.2 Ausbau zu merkantilen und Bürgerstädten Das Zeitalter des Absolutismus war zugleich das des Merkantilismus und Frühkapitalismus. Ökonomisch und im Hinblick auf die Produktionsstruktur bedeutete das den Übergang vom städtischen, zünftig organisierten Handwerksbetrieb zu Manufakturen: Großbetrieben mit einigen hundert oder auch tausend Arbeitern. Einige Manufakturen der Porzellanherstellung, wie Meißen (seit 1715) oder Nymphenburg, Kopenhagen oder Berlin, produzieren noch heute. Auch im Absolutismus findet also ein Aus- und Umbau des Städtewesens aus primär ökonomischen Gründen statt. In Holland, Frankreich und England war der Austausch mit den ständig wachsenden Kolonialreichen ein wichtiger Impetus zur Erweiterung der Städte. In dem Börsen- und Handelszentrum Amsterdam wurde im Jahr 1612 der berühmte Plan zur Erweiterung der Stadt um drei ringförmige Kanäle/Grachten aufgestellt. Ähnlich großzügige und bis in die Gegenwart vorbildliche Planungen finden sich in Antwerpen, Kopenhagen und anderen merkantilen Zentren aus dieser Zeit. Den Zeitgeist und Übergang zu neuen Formen der Bürgerstadt spiegelt anschaulich der sog. „Privilegienbrief“ zur Gründung der Stadt Karlsruhe aus dem Jahr 1715 (der Privilegienbrief der nahen Stadt Mannheim aus dem Jahr 1652 könnte das Vorbild gewesen sein; vgl. S. 173). Hier heißt es u.a.: Der Markgraf zu Baden hat angeordnet, „eine Kurzfassung aller Freiheiten, Privilegien und Vergünstigungen, die denen gewährt werden, die sich in der Nähe des geplanten Carls-Ruhe ansiedeln und hier Häuser errichten wollen, zu veröffentlichen und über die Grenzen hinaus bekannt zu machen“. Zu diesen Privilegien zählten: „I. Von dem Recht zur Ansiedlung und dem Genuss dieser Freiheiten darf niemand wegen seiner Religion ausgeschlossen werden [...]“. „III. Der Markgraf stellt jedem neu ankommenden Einwohner unentgeltlich ein Grundstück für die Errichtung eines Wohnhauses zur Verfügung [...]“.
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„XV. Die neuen Einwohner und ihre Erben und Nachkommen sind dauerhaft von der Leibeigenschaft und allen Dienstverpflichtungen, wie Fron- und Jagddiensten, gegenüber dem Landesherrn befreit“. Privileg XVIII garantierte, dass „Vorschläge eines jeden Einwohners zur Verbesserung des Carls-Ruher Gemeinwesens oder auch zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger“ ernsthaft geprüft und umgesetzt werden (vgl. „Mit Recht. Karlsruhe“, Karlsruhe 2005: 72ff.).
Der Bürgergeist wird zwar noch markgräflich angeleitet, aber das neue Zeitalter der sich autonom und souverän erklärenden Bürger und Citoyens kündigt sich an. Die nachfolgende Tabelle spiegelt den Aufstieg der neuen ökonomischen Zentren und die Stagnation bzw. den Niedergang bedeutender Städte des Mittelalters. Tab. 3
Europäische Städte im Zeitalter des Absolutismus; Einw. in Tsd.
Stadt/(Land) (Deutschland) Augsburg Berlin Dresden Hamburg Köln Lübeck Magdeburg München Nürnberg Wien (Frankreich) Lyon Marseille Paris (Belgien/Holland) Antwerpen Brüssel Amsterdam (Italien) Florenz Genua Mailand Neapel Rom Venedig
Jahr 1600 1602 1603 1600 1600 1600 1600 1600 1600 1600
Einw. in Tsd. Jahr 48 8 15 40 37 31 37 20 45 30
1700 1698 1700 1700 1700 1700 1735 1700 1700 1700
Einw. in Tsd. Jahr 26 22 22 70 39 23 18 24 35 105
Einw. in Tsd.
1800 1800 1800 1800 1800 1800 1800 1800 1800 1800
32 172 61 130 41 24 34 48 25 231
1600 1600 1600
90 1700 55 1700 250 1700
71 1800 88 1800 530 1800
111 110 547
1600 1600 1600
55 1700 55 1700 48 1700
67 1800 70 1800 172 1800
54 66 201
69 67 124 207 149 144
79 90 135 430 153 146
1600 1600 1600 1600 1600 1600
65 70 119 275 110 151
1700 1700 1700 1700 1700 1700
Quelle: TertiusChandler / Gerald Fox 1974; Werte hier auf- und abgerundet
1800 1800 1800 1800 1800 1800
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
4.3 Übergang zur offenen Bürgerstadt Neben diesen Entwicklungen des Städtewesens im Absolutismus und Merkantilismus ist hervorzuheben, dass, zumal in Deutschland, die Klein- und Mittelstädte zum Teil in ihrer mittelalterlichen Gestalt bis an die Schwelle der Industrialisierung erhalten blieben. Im Mauerring Kölns von 1180 mit seinem für mittelalterliche Verhältnisse ungewöhnlich großen Areal von ca. 400 ha hatte die Stadt noch in der ersten Hälfte des 19. Jh.s Platz (Ennen 1956: 782). Das Ende des 18. Jh.s verstärkt einsetzende und bis ca. 1900 sich hinziehende „Schleifen“ der alten, häufig mehrfachen, aus dem Mittelalter und der Zeit der Festungsstädte des Absolutismus (Mulhouse, Neu-Breisach, Landau) stammenden Mauern „öffnete“ und verwandelte die Städte: Grünanlagen und Parks, Promenaden und kleine Seen traten an die Stelle der ehemaligen Mauern und Festungsgürtel, der Wassergräben und vorgeschobenen Stellungen der Befestigungsanlagen. So wurde seit dem 18. Jh. durch die Erfordernisse des Handels und der Produktion, durch die sich öffnenden Bürger-, Handels- und Messestädte wie Frankfurt/M. und Leipzig schon rein äußerlich eine völlig neue Phase der Stadtbildung „vorbereitet“, nicht zuletzt auch die Entwicklung zum Nationalstaat (zur Bedeutung der Stadt in der Übergangsperiode von ca. 1500-1800 als „Vorgeschichte der ‚bürgerlichen Welt’“ vgl. Gerteis 1986).
Informationsteil
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Kapitel I: Stadtentstehung. Entwicklung der europäischen Stadt
Mumford, Lewis, Die Stadt. Geschichte und Ausblick, 2 Bde., München 1979 (orig. amerik. 1961) Pekáry, Thomas, Die Stadt der griechisch-römischen Antike, in: Stoob, Heinz (Hg.), Die Stadt. Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter, Köln/Wien 1979, S. 83-100 Pirenne, Henri, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter, 4. Aufl. München 1976 Planitz, Hans, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, 5. unveränd. Aufl. Wiesbaden 1997 (zuerst Köln 1954) Pounds, N. J. G., The Urbanization of the Classical World, in: Annals of the Association of American Geographers, Vol. 59, Malden, Mass. 1969, S. 137-157 Schäfers, Bernhard, Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, 2., durchges. Aufl., Wiesbaden 2006 Schmieder, Felicitas, Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 2005 Schneider, Wolf, Überall ist Babylon, Düsseldorf 1968 Schöller, Peter, Die deutschen Städte, Wiesbaden 1967 Seng, Eva-Maria, Stadt – Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, München/Berlin 2003 Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, erster Halbbd., 3. Aufl. München 1919 (zuerst 1916) Sonnabend, Holger, Stadtverkehr im antiken Rom, in: Zeitschrift „Die alte Stadt“, Jg. 1992, H.3, S. 183-194 Virtruv, Zehn Bücher über Architektur/Vitruvii, De Architectura. Libri Decem, übers. und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1976 Weber, Max, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Weber, Marianne, 2. Aufl. Tübingen 1988 (orig. 1924 resp. 1896) Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Teilbd. 5: Die Stadt, Tübingen 1999 zuerst 1922 Wheatley, Paul, The Pivot of the Four Quarters. A Preliminary Inquiry into the Origins and Character of the Ancient Chinese City, Chicago 1971
Nachweis der Zitate und Motti Mumford, Lewis, a.a.O., S. 35 Rilke, Rainer Maria, Verse aus dem Gedicht „Denn Herr, die großen Städte“ (zuerst in: R. M. Rilke, Das Stundenbuch, 1905) Benevolo, Leonardo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, a.a.O., S. 13 Mumford, Lewis, a.a.O., S. 241 Le Goff, Jacques, Die Liebe zur Stadt. Eine Erkundung vom Mittelalter bis zur Jahrtausendwende, Frankfurt/New York 1998 (orig. frz. 1997), S. 23 Mumford, Lewis, a.a.O., S. 402
Informationsteil
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung seit der Doppelrevolution Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Inhalt I. 1. 2.
Doppelrevolution und Stadtentwicklung Auswirkungen der Doppelrevolution Änderungen des Bau- und Bodenrechts
II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung 1. Die zentrierende Wirkung des Fabriksystems 2. Die Eisenbahn als Vehikel beschleunigter Industrialisierung und Verstädterung III. Die Expansion der industriellen Großstadt 1. Der Vorgang der Vergroßstädterung 2. Das Wachstumsmodell von Burgess IV. Von frühsozialistischen Utopien zur Gartenstadt 1. Die Planungen von Robert Owen und Charles Fourier 2. Die Gartenstadt: Stadt und Land in neuer Harmonie V. Von der sozialen zur sozialistischen Stadt 1. Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg für die soziale Stadt 2. Sozialistischer Städtebau in Deutschland nach 1945 Informationsteil Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie. Texte der Klassiker: Ferdinand Tönnies – Georg Simmel – Werner Sombart – Max Weber – Louis Wirth
Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
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I. Doppelrevolution und Stadtentwicklung Unter allen Veränderungen, welche das XIX. Jahrhundert der zivilisierten Menschheit gebracht hat, ist schwerlich eine von größerer Tragweite, als das gewaltige Anwachsen der Städte. Karl Bücher
1. Auswirkungen der Doppelrevolution Mit dem Begriff Doppelrevolution des englischen Sozialhistorikers Eric Hobsbawm wird zum Ausdruck gebracht, dass erst das Zusammenwirken der politischemanzipatorischen Prozesse im Zuge der Radikalisierung der Aufklärung, gipfelnd in der Französischen Revolution 1789ff., mit den technisch-maschinellen Neuerungen der um 1770 in England, Schottland und Wales beginnenden Industriellen Revolution zu einer bis heute vorhaltenden Dynamik bzw. Revolutionierung in der Umgestaltung der Lebensverhältnisse und ihrer politisch-sozialen Grundlagen geführt hat. Wenn im Folgenden vor allem die technischen und infrastrukturellen Grundlagen der Entstehung der industriellen Großstadt hervorgehoben werden, darf darüber nicht übersehen werden, dass die geistig-kulturellen Grundlagen in der Ausgestaltung eines neuen, liberalen Stadtrechts, dass die Emanzipation von der Scholle durch die Bauernbefreiung – 1808 in Preußen, dem mit Abstand größten deutschen Territorialstaat –, die Prozesse der Säkularisierung und das Bestreben, aus eigener Kraft und auf der Grundlage von Bildung und Ausbildung seine Lebensverhältnisse zu ändern, von ebenso großer Bedeutung waren. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Grundlagen des bürgerlichen und politischen Emanzipationsstrebens und den neuen Möglichkeiten, die die Veränderung der Rechtssysteme, aber auch der Bildungs- und Ausbildungssysteme zugunsten der individuellen Entscheidungs- und Vertragsfreiheit bedeutete, ist kurz auf die Veränderung des Boden- und Baurechts einzugehen.
2. Änderung des Boden- und Baurechts Zu den rechtlichen, ökonomischen und sozialen Veränderungen durch die Doppelrevolution gehört auch die Änderung des Boden- und Baurechts. Die ständischfeudale Bodenordnung unterlag ebenso den Prozessen der Freisetzung, der Individualisierung und Privatisierung wie das städtische Bodenrecht (das seit dem Mittelalter eigene Rechtsformen entwickelt und bewahrt hatte).
I. Doppelrevolution und Stadtentwicklung
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Mit der Freisetzung begann eine bis heute nicht abgeschlossene (und nicht abschließbare) Auseinandersetzung um die Zulässigkeit individueller Verfügungsgewalt an Grund und Boden, der als unvermehrbares Gut den Zwecken der Allgemeinheit in besonderer Weise verpflichtet ist (vgl. hierzu Art. 15 GG, der einen „Erinnerungsposten“ an die hitzigen Diskussionen 1948/49 um Sozialisierung und Verpflichtung des privaten Eigentums beinhaltet und immer noch der Umsetzung harrt). Die Liberalisierung des Bodenrechts war eine Folge der Aufklärung, der Französischen Revolution, der Durchsetzung des römischen Rechts und einer von ständischen und zünftigen Zwängen befreiten Markt- und Gewerbeordnung. Von weitreichender Wirkung war die Preußische Städteordnung von 1808, nach ihrem Urheber auch „Steinsche Städteordnung“ genannt und Teil der umfassenden „SteinHardenbergischen Reformen“, mit denen Preußen das Desaster der Napoleonischen Kriege überwinden und den Anschluss an die Zeitströmungen erreichen wollte. Karl Freiherr vom und zum Steins (1757-1831) Grundgedanke war, dass die Bürger wieder, wie im Mittelalter, eigenverantwortlich das städtische Gemeinwesen organisieren und damit ihren Bürger- und Gewerbesinn stärken – nicht zuletzt, um die hohen französischen Kontributionsforderungen von 1807 erfüllen zu können (zu den wichtigsten Neuerungen der Steinschen Städteordnung vgl. Engeli/Haus 1975: 102; dort auch Abdruck dieser und weiterer Kommunalordnungen von 17581947). Paragraph 15 der Ordnung erlaubte den individuellen Besitz von Grundstücken. „Schon bald nach dem Erlass der Städteordnung von 1808 bemerkte auch der Freiherr vom Stein, dass statt des optimistisch erwarteten Gemeinsinns allzu oft der Eigennutz der Besitzbürger in den Städten vorherrschte“ (Reulecke 1997: 30). Eine noch weitergehende Liberalisierung des städtischen Bodenrechts brachte die „Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat“ vom März 1850. In ihr wurde aber auch das Recht zur Enteignung für Zwecke der Allgemeinheit (bei Entschädigung) festgeschrieben (vgl. Engeli/Haus 1975: 314ff.). Die im Zuge der Industrialisierung und Vergroßstädterung auftretende Wohnungsnot und die unvorstellbaren hygienischen Verhältnisse durch das völlig ungeordnete, chaotische Ansiedeln von Fabriken und Behausungen riefen die Reformer auf den Plan. Einige, die in der liberalisierten Bodenordnung das Grundübel sahen und Erfolg bei ihren Bemühungen hatten, seien kurz genannt. Viktor Aimé Huber (1800-1869), Professor an der Berliner Universität und Mitbegründer der „Berliner gemeinnützigen Baugenossenschaft“ von 1847, war eine Schlüsselfigur in der Diskussion um ein angemessenes Bau- und Bodenrecht im Hinblick auf die wachsende Wohnungsnot. Er zählt zu den Sozialkonservativen, aber zu seiner Zeit wurden seine Pläne für die Beschränkung der individuellen Verfügung über städtischen Boden entweder als anti-liberal oder als sozialistisch gebrandmarkt (zu Huber vgl., im Zusammenhang der Errichtung der „größten Mietskasernenstadt der Welt“, Berlin 1858ff., Hegemann 1965: 200ff.).
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Der bedeutende Rechtstheoretiker Otto von Gierke (1841-1921) kämpfte vor allem um die Durchsetzung des deutschen Genossenschaftsrechts, das er an die Stelle des römischrechtlich fundierten „Bürgerlichen Gesetzbuches“ (BGB; seit 1900 in Kraft) setzen wollte. Das gelang trotz großer öffentlicher Resonanz zwar nicht, aber von Gierkes Bemühen blieb nicht ganz ohne Erfolg: Der mittelalterlich-frühneuzeitliche Genossenschaftsgedanke wurde wieder lebendig und fand Eingang in verschiedene Formen der Genossenschaftsbewegung, im städtischen Siedlungswesen, in Produktions- und Handelsorganisationen. Von großer Resonanz waren auch die Bemühungen des Frankfurter/M. (zuvor Dortmunder) Oberbürgermeisters Franz Adickes (1846-1915), der als Mitglied des Preußischen Herrenhauses 1892 einen Gesetzentwurf einbrachte, um den Städten Möglichkeiten der geordneten Erweiterung und Zonierung zu geben. Das Gesetz starb, wie es hieß, den „Ausschusstod“, wurde aber 1902 in veränderter Form nur für Frankfurt/M. verabschiedet und unter dem Namen „Lex Adickes“ bekannt. Aus dieser Zeit des zügigen Industrialisierungs- und Verstädterungsprozesses und den Debatten, ihn über eine adäquate Bodenordnung zu steuern, darf der Name von August Damaschke (1865-1935) nicht fehlen. Sein Werk: „Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not“, war 1902 erschienen und erreichte wegen der großen Not der Nachkriegszeit eine unglaubliche Popularität (1919 im 92. Tsd.). Die vielen genossenschaftlichen und sozialistischen Wohnungsbauprogramme der Weimarer Republik – nicht zuletzt in Frankfurt/M. – hatten auch Damaschke und den an der Frankfurter Universität wirkenden Soziologen Franz Oppenheimer (1864-1943) und dessen populäre Lehre von der „Bodensperre“ zum ideellen und wissenschaftlichen Hintergrund.
II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung
1. Die zentrierende Wirkung des Fabriksystems Im Begriff „industrielle Verstädterung“ ist ausgedrückt, dass die Industrialisierung zu einem neuen Muster der Verstädterung führte. Die Revolutionierung des Städtewesens auf der Grundlage des Fabriksystems und des Eisenbahnbaus führte zum Typus der industriellen Großstadt. Eine weitere Ursache lag im rapiden Bevölkerungswachstum seit Beginn der Industriellen Revolution und der Erhöhung der räumlichen Mobilität, begünstigt vor allem durch die Aufhebung der Erbuntertänigkeit („Bauernbefreiung“) seit Beginn des 19. Jh.s. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ging nunmehr das Bevölkerungswachstum überwiegend „in den Formen der Verstädterung vor sich“ (Pfeil 1972: 116). Die industrielle Verstädterung beruhte überwiegend auf der zentrierenden Wirkung des Fabriksystems. Der industrielle Unternehmer wurde zum eigentlichen
II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung
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„Städtegründer“ (mit dem Ausdruck Werner Sombarts; vgl. S. 80f.). Die Ansiedlung und Expansion des technischen Großbetriebs der Fabrik bestimmten die Muster der industriellen Verstädterung und ihr bekanntestes Erscheinungsbild: die industrielle Großstadt. Augustus Welby Pugin „Contrasts“ (1836) Abb. 6 Eine Stadt des Mittelalters um 1440
Abb. 7 Dieselbe Stadt um 1840
Quelle: Heinrich Klotz 1995: 222f.
Die industrielle Verstädterung stand nicht nur im direkten und indirekten Zusammenhang mit der Überwindung überkommener agrarisch-feudaler Existenzweisen und den Emanzipationsbestrebungen des Dritten Standes, des Bürgertums, sondern führte zu einer völlig neuen, immer größer werdenden sozialen Schicht: dem Fabrikarbeiter und Proletarier. Mit Friedrich Engels' (1820-1895) Bericht über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (zuerst 1845) liegt ein immer wieder zitierter Anschauungsbericht des in England tätigen Elberfelder Fabrikantensohnes vor. Über die Zustände in Manchester, das nicht nur dem schrankenlosen „Manchester-Liberalismus“ den Namen gab und in kurzer Zeit auf 300 Tsd. Einwohner angewachsen war, schrieb Engels (1964: 126f.):
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
„Der abscheulichste Fleck […] liegt aber auf der Manchester-Seite […]. In einem ziemlich tiefen Loche, das in einem Halbkreis vom Medlock und an allen vier Seiten von hohen Fabriken, hohen bebauten Ufern oder Aufschüttungen umgeben ist, liegen in zwei Gruppen etwa 200 Cottages […], worin zusammen an 4000 Menschen, fast lauter Irländer, wohnen. Die Cottages sind alt, schmutzig und von der kleinsten Sorte, die Straßen uneben, holperig und zum Teil ungepflastert und ohne Abflüsse; eine Unmasse Unrat, Abfall und ekelhafter Kot liegt zwischen stehenden Lachen überall herum, die Atmosphäre ist durch die Ausdünstungen derselben verpestet und durch den Rauch von einem Dutzend Fabrikschornsteinen verfinstert und schwer gemacht – eine Menge zerlumpter Kinder und Weiber treibt sich hier umher, ebenso schmutzig wie die Schweine, die sich auf den Aschenhaufen und in den Pfützen wohl sein lassen […]“.
2. Die Eisenbahn als Vehikel beschleunigter Industrialisierung und Verstädterung Die Eisenbahn „ist ein Stärkungsmittel des Nationalgeistes, denn sie vernichtet die Übel der Kleinstädterei und des provinziellen Eigendünkel“. Friedrich List
Mit dem Eisenbahnbau begann die „Industrialisierung von Raum und Zeit“ (Schivelbusch 2000). Begonnen hatte es im Ursprungsland der Industriellen Revolution mit einer ersten Linie von Stockton nach Darlington, 1825, als der Ingenieur George Stephenson die Dampfmaschine von James Watt auf Räder setzte. Bereits 1835 bauten englische Ingenieure von Nürnberg nach Fürth eine erste Eisenbahnstrecke in Deutschland. Der Dampfwagen, der legendäre „Adler“, wurde in einem schwierigen Transport aus England importiert. Der Siegeszug dieses neuen Verkehrsmittels ging viel schneller als beim Automobil rund 50 Jahre später. Die schnell wachsenden Transportbedürfnisse von Kohle und Eisen, von Fertigprodukten und nicht zuletzt der immer zahlreicher werdenden Menschen waren der Impetus. Im Jahr 1840 betrug das noch ausschließlich landes- und regionalspezifisch ausgerichtete Streckennetz bereits 500 km – acht Jahre später konnten die Revolutionäre im Badischen sich erstmalig auch des neuen Transportmittels bedienen. Dieses Beispiel verdeutlicht: Seit der Erfindung des Rades und der Pferdefuhrwerke während der Zeit der ersten Städte hatte es auf dem Gebiet der Landfahrzeuge im Prinzip keine Veränderung gegeben. Goethe (17491832) konnte sich im Prinzip nicht schneller fortbewegen als ein Grieche oder Römer in der Antike. Unter dem Einfluss des bedeutenden Ökonomen Friedrich List (1789-1846) und im „Vorgriff“ auf die nationale Einigung wurde das Netz planmäßig erweitert. Im Jahr 1860 waren es schon fast 12 Tsd. und im Jahr 1880 34 Tsd. km Streckennetz; es
II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung
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erreichte um das Jahr 1910 mit 63 Tsd. km seine größte Ausdehnung (zum Vergleich: Gegenwärtig beträgt das Streckennetz der Deutschen Bahn etwa 36 Tsd. km). Da sich ein Großteil der ersten Fabriken in den Städten oder an ihrem Rand angesiedelt hatte, führte auch die Eisenbahn dorthin und errichtete hier die ersten Bahnhöfe – alles auf privater Basis. Am Beispiel der Stadt Dortmund können die Ausweitungen des Fabrik- und Eisenbahnbaus veranschaulicht werden: Abb. 8
Plan von Dortmund um 1839 (A) und 1894 (B) mit Industrieentwicklung bis 1937
Im Vergleich zeigt sich das Ausmaß der industrialisierungsbedingten Veränderungen im Städtebau: Die Wohnflächen breiten sich um die bestehenden Siedlungskerne aus und führen zur Zersiedlung der Landschaft. Die Industrieflächen konzentrieren sich zunehmend um wachstumsfähige Betriebe und verdrängen Wohnbebauung.
Quelle: Jürgen Hotzan 1997: 44
Neben der bekannten „Köln-Mindener Eisenbahn“, die 1847 gebaut wurde, zerteilten fünf weitere Linien das Dortmunder Stadtgebiet – „nach eigenem Gutdünken und Bedarf“ (Hotzan 1997: 45). Erst seit Ende des 19. Jh.s, angesichts eines rapiden Bevölkerungs- und Städtewachstums, wurden Bahnstrecken und Bahnhöfe an die (damalige) städtische Peripherie verlegt. Seit dieser Zeit kamen neue Verkehrsmittel hinzu: die Straßenbahn und in den Metropolen die ersten Untergrundbahnen, sehr zögerlich auch die ersten Automobile. Die Eisenbahn, dann die Straßenbahn und die neuen Stadt-(S-)
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Bahnen dominierten immer mehr die Stadtentwicklung und die Lage der neuen Vorstädte und Stadtviertel (über die Entwicklung großstädtischer Ballungsräume unter dem Einfluss der Eisenbahn am Beispiel von Berlin vgl. Thienel-Saage 1985). Nie zuvor waren die Stadtentwicklung und ein Verkehrsmittel eine so enge Verbindung eingegangen, wie die folgende Abb. zeigt. Abb. 9
Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, um 1900
Quelle: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1 zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 1985, Innentitel
Anders als bei den bis Ende des 19. Jh.s üblichen Postkutschen, deren Integration ins städtisch-urbane Leben noch heute die verbliebenen Gasthöfe „Zur Post“ veranschaulichen, konnten die Eisenbahnnetze und Bahnhöfe nicht mehr in die zumeist noch kleinteiligen und verwinkelten innerstädtischen Strukturen integriert werden. In der neuen Bahnhofsarchitektur feierte die Ingenieursbaukunst aus Eisen und Glas mit hohen lichten Hallen Triumphe. Dadurch entstand ein Stück neuer „Großstadt-Heimat“ (wie Kyrieleis 1985 am Beispiel des Frankfurter Hauptbahnhofs zeigt; die Abb. 10 ist diesem Beitrag entnommen). Im Zusammenhang des Eisenbahn- und Bahnhofsbaus entstanden völlig neue Stadtviertel, zunächst für die vielen Arbeiter, dann für die wachsende Zahl der Angestellten (bis heute haben die „jenseits der Bahn“ liegenden Viertel in einigen Städten bei den Alteingesessenen noch den Beigeschmack des Proletarischen; dort wohnt „man“ nicht).
II. Fabrik und Eisenbahn als Basis der industriellen Verstädterung
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Abb. 10 Haupteingangshalle des Frankfurter Hauptbahnhofes, 1890 Die Haupteingangshalle, als Vestibül bezeichnet, war mit kassettenartig angeordneten Deckeneisenträgern versehen, die Wandflächen waren mit dunklem Nassauer Marmor verkleidet. Dort befanden sich auch Einrichtungen wie Telegraphenamt, Geldwechselstube, Schlafwagenbüro, Polizei und das Büro des Bahnhofsvorstehers Quelle: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Bd. 1 zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 1985, S. 345
Von den vielen Veränderungen, die der Eisenbahnbau und das neue Bahnhofsviertel für das individuelle Leben – von der Wahl des Wohn- und Arbeitsplatzes bis zum spannenden Aufenthalt in den Bahnhofshallen und auf den Bahnsteigen – wie für das städtische Leben und die Stadtgestalt mit sich brachten, sei abschließend nur noch auf die Schrebergärten hingewiesen, weil sie sich, unübersehbar bis in die Gegenwart, zum großen Teil entlang der innerstädtischen Bahnlinien hinziehen. Sie waren von dem Leipziger Arzt Daniel G. Schreber (1808-1861) ins Leben gerufen worden, um einen Ausgleich zum ungesunden Arbeiten in der Fabrik und den unhygienischen Verhältnissen der entstehenden Großstadt zu schaffen.
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
III. Die Expansion der industriellen Großstadt Das schnelle Wachstum der Städte im Industriezeitalter führte zu einer Verdrängung des bereits bestehenden Stadtkerns (der zum Zentrum des neuen ausgedehnteren Organismus wurde) und zur Entstehung neuer Ansiedlungen um dieses Zentrum herum, der sogenannten Peripherie. Leonardo Benevolo
1. Der Vorgang der Vergroßstädterung Mit der industriellen Verstädterung war eine Phase der Stadtentwicklung erreicht, die wegen der weltweiten Expansion der Fabrik und der neuen Verkehrssysteme, vor allem der Eisenbahn, zu einer viel größeren Vereinheitlichung der Grundlagen und Formen der Städtebildung führte als sie je zuvor, z.B. durch das griechischrömische Schachbrettmuster oder die Gestalt der mittelalterlichen Stadt, erreicht worden war. Adna Ferrin Weber, der in seinem Werk „The Growth of Cities in the Nineteenth Century“ (1899) einen ersten statistischen Überblick zum weltweit werdenden Prozess der industriellen Verstädterung gab, begann seine Darstellung mit dem Satz, „that the most remarkable social phenomenon of the present century is the concentration of population in cities“. Zur Demonstration des expansiv-revolutionären Vorgangs der industriellen Verstädterung sei zunächst auf besonders anschauliche Beispiele aus England, Wales und Schottland zurückgegriffen, den Ursprungsregionen der Industriellen Revolution. Dort wuchs die Zahl der Städte mit mehr als 5 Tsd. Einwohnern von 1801 bis 1891 von 106 auf 622; der Prozentsatz der Stadtbewohner erhöhte sich dadurch von 26 auf 68 (für diese und die folgenden Angaben vgl. Enc. Brit., Macropaedia, Vol. 11 und 18). Besonders anschaulich ist das Wachstum von Manchester, jener Stadt in England, die dem „Geist des Kapitalismus“ (Max Weber) und der kapitalistisch-industriellen Expansion im Manchester-Liberalismus die Form einer Ideologie und Weltanschauung gab: „Manchester was an urban prototype; in many respects it could claim to be the first of the new generation of huge industrial cities created in the Western world during the last 200 years“ (Enc. Brit.; Macrop.; Vol. 11: 431). Manchesters rapides Wachstum zeigt sich in folgenden Zahlen: Im Jahr 1717 waren es nur 10 Tsd., 1801 bereits 70 Tsd. und 1911 2,35 Mio. Einwohner. Noch imposanter ist das Wachstum von London/Groß-London, dieser „kommerziellen Hauptstadt der Welt“ (Engels 1964: 89). Bei allen diesen und den folgenden Zahlen über das Größenwachstum der Städte ist jedoch zu berücksichtigen, dass Eingemeindungen die städtische Gemarkungsfläche sukzessive vergrößerten.
III. Die Expansion der industriellen Großstadt
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Als typisches Erscheinungsbild der industriellen Verstädterung wurde die industrielle Großstadt bezeichnet. Über die rasch wachsende Zahl der industriellen Großstädte im 19. Jh. geben die folgenden Zahlen Aufschluss: Von 1800 bis 1905 nahm die Zahl der Großstädte in der Welt von 21 auf 340 zu (Pfeil 1972: 115). Die Prozesse der Vergroßstädterung konzentrieren sich überproportional auf bestimmte Wachstumsphasen, die zugleich Phasen der besonders intensiven Industrialisierung im jeweiligen Land und seinen Industriezentren widerspiegeln: In England war diese Phase von 1820-1830, in Frankreich von 1850-1870 und in Deutschland in den sog. „Gründerjahren“ nach dem Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung von 1871 bis 1875 (Pfeil 1972: 119). Tab. 4
Vergroßstädterung in Mitteleuropa
Stadt 1800 201 172 65 66 61 130 41 100 32 55 111 134 110 48 547 153 231
Amsterdam Berlin Breslau Brüssel Dresden Hamburg Köln Kopenhagen Leipzig Lille Lyon Mailand Marseille München Paris Rom Wien
Größe in Tsd. 1850 225 446 114 208 97 193 95 136 63 96 254 193 193 125 1414 171 426
1900 510 2424 422 561 440 895 437 462 532 475 487 491 486 500 3330 487 1662
Quellen: Tertius Chandler/Gerald Fox 1974; Rolf Engelsing 1973; Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden
Für Deutschland seien diese Zahlen um einige Beispiele ergänzt: Tab. 5
Größenwachstum deutscher Städte im 19. Jahrhundert
Stadt Düsseldorf Essen Frankfurt Kiel
Einw. 1800 in Tsd. 10 4 49 7
Quelle: Rolf Engelsing 1973: 166
Einw. 1910 in Tsd. 410 443 415 206
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
In Deutschland zeigten die Großstädte im Zeitraum von 1867-1885 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 26,6 % (Pfeil 1972: 123); der Anteil der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung stieg von 4,8 % 1871 auf 12,1 % 1890 und 21 % im Jahre 1910 (1935: 37 %; 1975: 35,5 %). Gelsenkirchen im Ruhrgebiet als „klassische“ industrielle Großstadt verzehnfachte zwischen 1871 und 1910 auf der gleichen Fläche seine Bevölkerungszahl (Köllmann 1973: 247). Aus einer Darstellung des seinerzeit bekannten Leipziger Ökonomen und Sozialhistorikers Karl Bücher (1847-1930) können die Veränderungen wie folgt ergänzt werden: Am Anfang des 19. Jh.s habe das Deutsche Reich in den Grenzen von 1871 nur zwei Großstädte gehabt: Berlin und Hamburg; 1850 waren es fünf, 1875 zwölf, 1900 bereits 33 und nur zehn Jahre später 48. Bücher weist darauf hin, dass diese starke Zunahme vor allem durch Zuwanderung bedingt gewesen sei; er nennt als Zuwanderungsraten für Berlin 59,3 %, für Dresden 61,9 % und für München 64,1 % (Bücher 1921: 391f.). Die Planungssituation beschreibt Bücher wie folgt: „Die Stadtsiedelung als Ganzes bietet den unerfreulichen Eindruck einer unorganischen Entwicklung. Sie ist ja sehr in die Breite gegangen; nach Maßgabe des Menschenzuwachses hat man Außenquartiere und Vorstädte angelegt, reine Zufallsgebilde, ohne jede innere Einheit. […] Die Bodenspekulanten hatten zu entscheiden; das Bauen überließen sie abhängigen Baumeistern, die jeden Quadratmeter des kostbaren Bauplatzes auszunutzen verstanden.“ Die industrielle Verstädterung und Vergroßstädterung führte – zunächst in England, dann in weiteren Ländern – dazu, dass erstmals in der Menschheitsgeschichte die in der Stadt lebende Bevölkerung größer war als die dörflichagrarische Bevölkerung. Für Deutschland wird man als „Schwellenjahr“ 1910 nennen können: Etwa zu diesem Zeitpunkt war die Bevölkerung in Gemeinden mit mehr als 5 Tsd. Einwohnern größer als die Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 5 Tsd. Einwohnern. Dieser Ver(groß)städterungsprozess basierte nicht ausschließlich auf der Expansion des Fabrik- und Industriesystems, sondern war nur möglich durch die Entwicklung stadtspezifischer Technologien: Im 19. Jh., verstärkt in seiner zweiten Hälfte, begann der infrastrukturelle und der „unterirdische“ Ausbau der Städte: Wasser, Licht, Kanalisation, Gas, Untergrundbahn, Straßenbahn und andere Einrichtungen entwickelten sich in dem Maße, wie Erfordernisse der Hygiene, der Mobilität und der Bevölkerungskonzentration zu Herausforderungen („challenges“) an die sich entwickelnde technisch-wissenschaftliche Zivilisation wurden. Für Mitteleuropa ist der Prozess der typisch industriellen Verstädterung und Vergroßstädterung im Wesentlichen zur Zeit des Ersten Weltkrieges abgeschlossen. Es beginnen nun „Verlagerungen“ und Umstrukturierungen des städtischen Siedlungsgefüges, die schon früh, so von Adna F. Weber (1899), als „Suburbanisierung“ beschrieben worden sind. In diesem Zusammenhang entsteht auch ein neuer städtischer Verhaltenstyp, den Georg Simmel wohl als erster soziologisch erfasst hat.
III. Die Expansion der industriellen Großstadt
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2. Das Wachstumsmodell von Burgess In der Einführung zu diesem Werk wurde hervorgehoben, dass die Stadtsoziologie zu den ältesten Speziellen Soziologien zählt, weil am Phänomen der expandierenden Stadt der Umbruch von der traditionalen zur industriellen Gesellschaft am besten studiert werden konnte. Es war in Chicago am Michigan-See in den USA, einem Prototyp dieser Expansion, wo die erste systematische, sich empirischer und mathematischer Methoden bedienende Stadtsoziologie entstand: die Sozialökologie, auch Chicagoer Schule der Soziologie genannt (über die Bedeutung Chicagos für die Entwicklung der Soziologie und die Architektur vgl. auch den Bd. „Architektursoziologie“, 2006: 90). Der engl. Ausdruck social-human-ecology, macht deutlich, dass es sich um eine Übertragung der an Phänomenen der Ausbreitung und der Durchsetzung bestimmter Arten in der der Tier- und Pflanzenwelt entwickelten Ökologie handelt (der Ausdruck Ökologie wurde in den 60er Jahren des 19. Jh.s. von dem Jenaer Biologen Ernst Haeckel geprägt, der damit Elemente der 1859 erschienenen Theorie von Charles Darwin über den „Ursprung der Arten“ auf spezifische Weise erläuterte). Neben Robert E. Park zählt der 1886 in Ontario/Kanada geborene Ernest W. Burgess zu den wichtigsten Begründern der Sozialökologie (er verstarb 1966 in Chicago). Das von ihm entwickelte Modell der Expansion der industriellen Großstadt erlangte unter den Versuchen, eine Systematik in der Ausbreitung und Nutzungsänderung städtischer Siedlungsformen zu entdecken, die größte Prominenz. Burgess verknüpfte Arbeiten der Ende des 19. Jh.s entwickelten Anthropogeographie, der Pflanzen- und Tierökologie, der Demographie und der Statistik (auch der im letzten Drittel des 19. Jh.s entwickelten Städtestatistik). Der biologistische Ansatz der Theorie, vom zeitgenössischen Sozialdarwinismus nicht unbeeinflusst, zeigt sich in der Grundannahme, dass Phänomene und Prozesse wie Konkurrenz um den günstigsten Standort, biologische Abhängigkeit vom Umfeld, Verdrängung und Sukzession neuer Populationen in das Modell eingehen. Im Jahr 1977, am Ende der ersten Ausbauphase der bundesdeutschen Stadtsoziologie, wurden zwei Arbeiten vorgelegt, die den Ansatz der Sozialökologie modifizierten und aktualisierten: Jürgen Friedrichs’ „Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft“, und Bernd Hamms „Organisation der städtischen Umwelt. Ein Beitrag zur sozialökologischen Theorie der Stadt“. Ihren systematischen Darstellungen folgen die nachstehenden Ausführungen zu Burgess’ Wachstumsmodell städtischer Strukturen, wobei nur einige der Gesetzmäßigkeiten hervorgehoben werden:
Die industrielle Großstadt entwickelt sich aus Landstädten und Immigrantenkolonien; die über ein größeres Stadtgebiet expandierenden Nutzungen waren zuvor im engen innerstädtischen Raum vereint;
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung die physische Ausdehnung der Stadt (Expansion) und ihr Wachstum, d.h. die Zunahme an Bevölkerung, führen zu Phänomenen sowohl der Konzentration als auch der Dezentralisierung; die Expansion erfolgt immer von innen nach außen; die innere Gliederung der Stadt lässt sich idealtypisch in einem Modell konzentrischer Zonen abbilden; in jeder Zone des Stadtgebietes dominieren bestimmte Nutzungen; die Prozesse der städtischen Expansion können durch die Begriffe Invasion und Sukzession näher erläutert werden: Die Nutzungen und Bevölkerungsgruppen einer Zone dringen in die jeweils nächste, angrenzende äußere Zone vor; Nutzungen in der Innenstadt haben den stärksten Expansionsdrang nach außen; mit den Prozessen der Expansion sind räumliche Umverteilungen von Wohnstandorten und Berufsgruppen verbunden.
Das Modell der Stadtentwicklung in konzentrischen Zonen um den alten Stadtkern (vgl. Burgess 1925: 55) zeigt für die sich an den inneren Kern anschließenden Zonen zunächst den der ersten Immigrationswelle, wo sich häufig die Slums befinden; es ist zugleich die „zone in transition“. An diesen Bereich schließt sich Zone III an, die „zone of workingmen’s homes“; mit Zone IV, der „residential zone“, folgen die Wohnbezirke der besser gestellten Angestellten mit ihren „single family dwellings“. Das Modell wurde am Beispiel von Chicago entwickelt, so dass wegen der Lage am Michigan See bereits von der Topographie her die Entwicklung voller konzentrischer Zonen nicht möglich war. Neuere Untersuchungen zur Gültigkeit des Modells zeigten, dass es nur für die erste Expansionsphase der industriellen Großstadt Gültigkeit beanspruchen kann. Die Veränderung der Nutzungsfunktionen durch die Tertiärisierung der Berufe, neue Möglichkeiten der Mobilität durch den PKW und weitere Grundlagen der Suburbanisierung städtischer Funktionen erfordern andere Modelle (vgl. hierzu, mit zahlreichen empirischen Beispielen, Friedrichs 1995).
IV. Von frühsozialistischen Stadtutopien zur Gartenstadt
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IV. Von frühsozialistischen Stadtutopien zur Gartenstadt Nach so vielen vergeblichen Versuchen, die soziale Ordnung zu verbessern, bleibt den Philosophen nichts als Verwirrung und Verzweiflung […]. Schon der Anblick der Armen, die die Städte bevölkern, zeigt an, dass die Einsichten der Philosophen nichts sind als Verirrungen. Charles Fourier
1. Die Planungen von Robert Owen und Charles Fourier Die Planung von Städten nach bestimmten geometrischen Mustern und symbolisierten Zahlen, nach Himmelsrichtungen und Kriterien einer idealen Gemeinschaft lässt sich seit Beginn des Städtebaus nachweisen; hiervon war schon mehrfach die Rede. Was wechselt, sind die Größe und Anlage der Stadt und die dominanten Ideen zu ihrer Gestalt. In sozialen und kulturellen Umbruchsituationen werden Entwürfe für Idealstädte zahlreicher, weil die neuen religiösen oder philosophischen, politischen oder auch technokratischen Leitbilder die Verwirklichung einer definitiven Gemeinschaftsordnung und Stadtgestalt nahe legen. Das war in der Antike so und wiederholte sich, mit heute noch sehenswerten Beispielen, in der Renaissance (Palmanova; Pienza) und im Barockzeitalter (vgl. hierzu die Darstellung der „neuen Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts“ von Eva-Maria Seng, 2003). Die Epochenschwelle der Doppelrevolution führte zu neuen Versuchen, idealisierte Gemeinschaften zu verwirklichen. Sie seien hier mit den gebauten Utopien einiger Frühsozialisten kurz skizziert. Bei den Frühsozialisten – neben Charles Fourier und Robert Owen sind Claude-Henri de Saint-Simon, Pierre-Joseph Proudhon und Etienne Cabet zu nennen – kommen die Zeitströmungen, das Erbe der Doppelrevolution aus Aufklärung und Französischer Revolution, aus industrielltechnischen Möglichkeiten und darauf basierender Gesellschaftsplanung wie in einem Brennglas zusammen (vgl. zum Folgenden Bollerey 1977; Eaton 2003; Hartmann 1976). Grundideen der frühsozialistischen Gemeinschaftsplanung lassen sich mit Robert Owen (1771-1858) und Charles Fourier (1772-1837) veranschaulichen. Beide gehören auch in die Geschichte der Genossenschaftsbewegung des 19. Jh.s und in die Geschichte der Soziologie. Robert Owen war ein erfolgreicher frühindustrieller Unternehmer und Sozialreformer. Seine bekannteste Fabrik- und Gemeinschaftsanlage, New Lanark, liegt in seiner schottischen Heimat am Fluss Clyde und ist über das Ensemble von Fabriken, Wohn- und Gemeinschaftshäusern hinaus für die Frühindustrialisierung
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
eine Art Museumslandschaft geworden (New Lanark wurde Ende des 20. Jh.s komplett saniert). Abb. 11
Ansicht von New Lanark, 1825
New Lanark galt als das Markenzeichen für ein vorbildliches schottisches Industriedorf.
Quelle: Franziska Bollerey 1977: 50
In New Lanark sollten Arbeit und Gemeinschaftsleben, Erziehung und Kultur eine Einheit bilden – Grundideen, die den Sozialismus, bis hin zu den Forderungen revolutionärer Studentenführer der 1968er-Bewegung, beseelten. Robert Owen legte besonderen Wert auf die Schulausbildung, zu der auch die musische Erziehung wie Tanz und Spiel gehörten. Im Zentrum des sozialen, pädagogischen und kulturellen Lebens der „Village of Unity“ stand das New Institute („Volkshaus“), das bald viele Besucher anlockte (u.a. auch im Jahre 1826 den bedeutendsten deutschen Architekten des 19. Jh.s, Karl Friedrich Schinkel, der sich allerdings von Owens Industriedörfern nicht begeistert zeigte). Franziska Bollerey (1977: 43) weist darauf hin, dass dieses Volkshaus bis zu den entsprechenden Einrichtungen in sozialistischen Staaten eine ungebrochene Tradition hatte. Der Erfolg von New Lanark beruhte auf der florierenden Baumwollindustrie, harter Arbeit, strenger Disziplin und der Autorität von Owen – Voraussetzungen, die seinem zweiten Unternehmen, der 1824 in Indiana/USA gegründeten Siedlung New Harmony, fehlten und die bald zum Scheitern verurteilt war. Ein zweites frühsozialistisches Experiment ist zu erwähnen, weil es die Phantasie der Sozialplaner und Architekten bis heute beschäftigt: Die Phalanstère von Charles Fourier, die dieser seit seiner Schrift „Theorie der vier Bewegungen“ (frz. 1808) entwickelt hatte. Erfahrungen des Elends der Textilarbeiter in Lyon standen am Beginn seiner Ideen und Pläne, die er, im Gegensatz zu Owen, nicht selbst verwirklichen konnte. Gleichwohl kam es an verschiedenen Orten zur Realisierung der Phalanstère (von griech. Phalanx, „Schlachtreihe“, so viel bedeutend wie „Vorhut“, „Avantgarde“), von denen bis heute einige erhalten sind.
IV. Von frühsozialistischen Stadtutopien zur Gartenstadt
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Bei Fourier spielen das kollektive Eigentum und eine bestimmte Größe der Phalanstère die entscheidende Rolle: Im Idealfall sollten es 1620 Bewohner sein, damit je Geschlecht alle 810 Typen der menschlichen Natur, die Fourier ausgemacht hatte, Berücksichtigung fanden. Der Arbeitsertrag sollte den Bewohnern der Phalanstère über direkten Austausch zukommen. Fouriers Lyoner Studien hatten gezeigt, dass der Handel die Waren enorm verteuerte. Viele Elemente der Konzeption von Fourier wirkten weiter, bis hin zur Anlage der Gartenstädte. Fourier hatte auch noch Einfluss auf einen der bekanntesten Architekten und Stadtplaner des 20. Jh.s, auf Le Corbusier (1887-1965). Dessen Unité d’ Habitation, deren erste ab 1945-1952 in Marseille verwirklicht wurde und die als „Stadt in der Stadt“ weltweit Aufsehen erregte, ist in ihren ideellen Gemeinschaftsbildern und der geplanten Zahl von 1600 Bewohnern – wie vielen anderen Details – an Fourier orientiert (vgl. Peterek 1996). Auch andere Elemente der Sozialutopie von Fourier wiesen in eine ferne Zukunft, wie z.B. die lustbetonte Selbstverwirklichung und die Emanzipation der Frau. Ein Kernsatz aus der „Theorie der vier Bewegungen“ (frz. 1808), der immer wieder zitiert wird, lautet: „Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“. Friedrich Engels und Karl Marx hatten für die Pläne und Ideen der „utopischen Sozialisten“ nur Spott übrig. So heißt es z.B. im „Kommunistischen Manifest“ von 1848: Die utopischen Sozialisten (genannt werden Fourier, Owen und Saint-Simon) „träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalanstère, Gründung von Home-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikarien – Duodezausgabe des neuen Jerusalem – und zum Aufbau aller dieser spanischen Schlösser müssen sie an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren“. Erfolgreicher als diese Experimente waren die Arbeitersiedlungen einiger Fabrikherren, die mehr und mehr auch das Geschick der Stadt mitbestimmten, so wie Alfred Krupp (1812-1887) in Essen oder Carl Zeiss und Ernst Abbé in Jena. Die Arbeitersiedlungen Altenhof und Margaretenhöhe in Essen galten als vorbildlich und begründeten die Anhänglichkeit der „Kruppianer“, oft über Generationen, an ihr Werk. In England waren es George Cadbury und die Arbeitersiedlung Bournville (wie auch lange Zeit eine Schokolade aus der Cadbury-Fabrik genannt wurde) und Port Sunlight des Großindustriellen William H. Lever. Auch an diese vorbildlichen Arbeitersiedlungen konnte die Idee der Gartenstadt anknüpfen.
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung Abb. 12
Quelle: Clemens Zimmermann 1997: 584
Siedlung Altenhof/ Essen (Krupp), 1892/93
Eines der ersten Beispiele für die Konvergenz der Architekturen von Werkswohnungsbau und Gartenstädten ist die Siedlung Altenhof, die Friedrich Krupp – der Sohn Alfred Krupps – initiierte. Inspiriert von englischen Cottages und Siedlungen ließ er Familienwohnungen mit Garten für eine Minderheit „würdiger“ Pensionäre errichten.
2. Die Gartenstadt: Stadt und Land in neuer Harmonie Nichts lag Howard ferner als der Wunsch, unsere Umwelt in einen Schrebergarten zu verwandeln. Julius Posener
Der Begriff „Gartenstadt“ war ein Missgriff Howards, zumal „das Vorhandensein von Gärten nicht der hervorstechendste Zug der neuen Stadt war“ (Mumford 1980: 605). Für ihre Entwicklung und ihren Erfolg gab es mehrere Gründe:
die schnell expandierenden, hygienisch ungesunden industriellen Großstädte; die starke Abwanderung der Agrarbevölkerung bei gleichzeitiger starker Bevölkerungszunahme; die Ordnung des chaotischen innerstädtischen und suburbanen Raumes mit einem neuen städtebaulichen Leitbild.
Für den Erfolg war der nüchterne Blick des Londoner Parlamentsstenographen Ebenezer Howard (1850-1928) ebenso Ausschlag gebend wie seine Berücksichtigung der Tradition und die bereits erwähnten Wohnsiedlungen für Arbeiter (das 10. Kap. seines Werkes lautet: „Die ‚Gartenstadt’: Eine einzigartige Verschmelzung früherer Projekte“; zur Aufnahme der Tradition vgl. auch Hartmann 1976; Mumford 1968: 183ff.; 1980: 601ff. und Posener 1968).
IV. Von frühsozialistischen Stadtutopien zur Gartenstadt Abb. 13
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Diagramm der Gartenstadt, 1898
Im Innersten des Ringsystems befindet sich der „Central Park“, an den sich „Houses and Gardens“ anschließen. Es folgt die ringförmige „Grand Avenue“ mit einem weiteren Kreis von „Houses and Gardens“. Im ländlichen Umfeld sind die Gärtnereien und Farmen, aber auch die „Asylums for Blind and Deaf“. Quelle: Ebenzer Howard 1968: 60
Abb. 13 verdeutlicht die Grundzüge einer Gartenstadt:
Eine bestimmte Größe (32 Tsd. Einwohner) sollte nicht überschritten werden; die Anbindung an das Eisenbahnnetz, um schnell in die Metropole zu kommen; die volle Funktionstüchtigkeit als Stadt und Lebensraum mit Schulen, Colleges, Boulevards (die am Stadtrand in die „Roads“ übergehen) und Avenuen; die leichte Erreichbarkeit der ländlichen Umgebung.
Howard plante nicht nur einen Ring von Gartenstädten um die Metropole (vgl. hierzu, mit Plan, sein 12. Kap.: „Städtegruppen“), sondern durch Entlastung der „Central City“ (Howard) eine neue Gestaltungsmöglichkeit der überbordenden Industriestädte (folgerichtig ist das 13. Kap. der „Zukunft Londons“ gewidmet). Die erste Gartenstadt wurde ab 1904 in Letchworth gebaut; 1906 kam es in Karlsruhe mit der Gartenstadt Rüppurr zu einer ersten Initiative in Deutschland, die vor allem auf Hans Kampffmeyer zurückgeht (zur Bedeutung des Kampffmeyer-Clans für die Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung wie für die Gartenstädte vgl. Hartmann 1976: 31ff.). Hellerau bei Dresden wurde in Deutschland das bekannteste Beispiel einer Gartenstadt, auch weil sich hier die Gedanken der Lebensreformbewegung und eines neuen Künstlertums mit großer Breitenwirkung entfalten konnten (um das Recht der Erstgeburt streitet mit Hellerau auch die Gartenstadt „Marga“, ab 1907 bei Brieske/Oberlausitz verwirklicht; über Hellerau als „Entwurf zur Moderne“ vgl. den von Werner Durth hg. Dokumentationsband, 1996).
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Ohne Zweifel ist Howards Gartenstadt eines der erfolgreichsten Städtebaukonzepte des Industriezeitalters. Seine große Resonanz zeigte sich unmittelbar nach seiner Veröffentlichung. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1907 im Verlag Eugen Diederichs in Jena, dem führenden Verlag der Jugendbewegung und der Lebensreformbewegung. Ein Geleitwort des bereits erwähnten Franz Oppenheimer wurde vorangestellt. Oppenheimer hatte sich mit seinen Schriften zur Siedlungsgenossenschaft einen Namen gemacht; ein Beitrag von ihm zur Gartenstadt erschien 1903 in der renommierten Zeitschrift „Neue deutsche Rundschau“ (vgl. hierzu Hartmann 1976: 154). Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1946 in England eine Neuausgabe des Werkes mit einem Geleitwort von Sir Frederic J. Osborn, einem früheren Mitarbeiter Howards (dieses ist der deutschen Ausgabe von 1968, die Julius Posener besorgt hat, als Nachwort beigegeben). Im Jahr 1946 wurde auch die New Towns Act veröffentlicht. Die Idee der Gartenstadt und die „Neuen Städte“ waren nach den Verheerungen durch die Bombardements des Zweiten Weltkrieges, Flucht und Vertreibung von über 11 Mio. Menschen auch für die deutschen Stadtplaner wichtig.
Viele Gartenstädte in Deutschland sind inzwischen restauriert und saniert, zuletzt „Marga“ bei Brieske (über ihre weite Verbreitung in Europa, auch im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Stadtplanung, vgl. Albers 1997; dort finden sich auch die Bezeichnungen für Gartenstadt in den einzelnen Ländern, S. 143). Ihre ursprüngliche Funktion haben Gartenstädte seit den 1960er Jahren aus einer Anzahl von Gründen mehr und mehr eingebüßt; ihre Nähe zur City in zumeist sehr ruhiger Lage macht sie jedoch weiterhin zu attraktiven Wohnstandorten. Resümierend heißt es bei Nikolaus Pevsner (1962: 259) über den Stellenwert der Gartenstadt in der Geschichte des Städtebaus im 20. Jh., sie sei eine Möglichkeit gewesen, aber nicht die endgültige Lösung im Hinblick auf Struktur und Probleme der industriellen Großstadt. Dies habe Tony Garnier (1869-1948) sofort erkannt und – durchaus in Orientierung an Howard, z.B. im Hinblick auf die Stadtgröße von 35 Tsd. Einwohnern – die Cité Industrielle entworfen (zwischen 1899 und 1917) und große Teile davon in Lyon, wo er das Stadtplanungsamt leitete und der Oberbürgermeister sozialreformerischen Plänen gegenüber sehr aufgeschlossen war, umsetzen können (vgl. auch die Bewertung der Pläne Garniers bei Benham 1964: 29ff.).
V. Von der sozialen zur sozialistischen Stadt
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V. Von der sozialen zur sozialistischen Stadt Ich habe gewusst, dass Städte gebaut wurden, Ich bin nicht hingefahren. Das gehört in die Statistik, dachte ich Nicht in die Geschichte. Was sind schon Städte, gebaut Ohne die Weisheit des Volkes? Bertolt Brecht
Zwei Jahre nach Veröffentlichung des obigen Gedichtes findet sich im Journale (Mai 1955) zur Stadt „im real existierenden Sozialismus“ (Rudolf Bahro) der folgende Kommentar von Brecht: „Anfechtbar das lineare Grundkonzept unseres Bauens. Die Harmonie hängt nicht von der Regularität ab. Wo bleiben die Höfe, die krummen Straßen, die Überschneidungen der Gebäude, wo bleibt der Kontrast, die Überraschung der plötzlich sich öffnenden Sicht, das Spezifische eines Blocks, das ihn dem Gedächtnis einprägt und durch die Jahre hin anziehend macht?“. Gedicht und Kommentar umspannen das Hoffnungsvoll-Utopische des sozialistischen Städtebaus und seine Problematik, die die Problematik aller dem Lineal folgenden Planstädte seit der Antike ist. Die Hoffnung bezog sich nun, bei der sozialistischen Stadt, auf die planende „Weisheit des Volkes“ – nicht mehr auf die Genialität eines einzelnen Planers wie Hippodamus von Milet oder Herrschers, wie des Papstes Pius II., Piccolomini, der auf historischen und kosmologisch-religiösen Grundlagen die Stadt Pienza ersann (1461/62). Dem sozialistischen Städtebau, der nach 1945 in allen vom Sowjetsystem beherrschten Staaten Europas durchgesetzt wurde, gingen nach dem Ersten Weltkrieg kommunalpolitische Initiativen voraus, für die arbeitende Klasse preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Diese Bemühungen werden hier unter dem Begriff der sozialen Stadt zusammengefasst.
1. Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg für die soziale Stadt Der Erste Weltkrieg stürzte Deutschland und Österreich – um nur von diesen beiden Ländern zu sprechen – in nationale Katastrophen und Identitätskrisen. Bereits während des Krieges hatten sich die politischen Kräfte neu formiert. Hierzu gehörte auch die Abspaltung eines marxistisch-kommunistischen Flügels aus der SPD. Für den Städte- und Wohnungsbau gab es ein neues politisches Klima, das auch die bürgerlich-konservativen Parteien zu einem Teil mit trugen. Zu groß war die Misere, als dass sie mit bisherigen Mitteln und Konzepten zu lösen war; so fehlten nach Schätzungen des Deutschen Städtetages über 800 Tsd. Wohnungen (Kähler 2000: 315).
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Zwei Städte taten sich hervor durch ihre neuen Planungen für breite Kreise der arbeitenden, ärmeren Bevölkerung: Frankfurt/M. und Wien. Die Bemühungen in Frankfurt sind v.a. mit dem Namen von Ernst May (1886-1970) verbunden, der von 1925-1930 Stadtbaurat in seiner Heimatstadt war. Der neue, kommunalisierte Wohnungs- und Städtebau sollte nicht nur urbanistische Programme englischer Trabantenstädte verwirklichen, sondern auch in anderen Belangen radikal modern sein: in der Verwendung vorgefertigter Materialien, im Zuschnitt der Wohnungen, in der Ermöglichung sozialer und emanzipatorischer Zielsetzungen. Für den letzten Punkt steht v.a. der Name von Margarete (Grete) Schütte-Lihotzky, einer progressiven Wiener Architektin, die May an das Frankfurter Hochbauamt geholt hatte. Sie ersann die berühmte „Frankfurter Küche“: sparsam an Raum und an Arbeitsaufwand und nicht zuletzt dadurch die Küchenarbeit der Frau auf ein Minimum reduzierend, um ihre Beteiligung am beruflichen und öffentlichen Leben zu ermöglichen (das Vorbild war die Mitropa-Küche der Reichsbahn, die auf 2,90 x 1,90 m „äußerst schritt- und griffsparend organisiert“ war; Hartmann 2000: 277). Als hervor stechendes Merkmal des Wiener gemeinnützigen kommunalen Wohnungsbaus in dieser Zeit wird die Tatsache gesehen, dass wohl zum ersten Mal in Europa „ein Wohnungsbau für die Masse der Arbeiter und Angestellten, für das ‚Proletariat’ durchgeführt wurde“ (Kähler 2000: 363). Die niedrigen Mieten – zwei bis sieben Prozent des Einkommens – galten als vorbildlich und nahmen Entwicklungen der sozialistischen Stadt, aber auf kommunaler Grundlage, vorweg. Wien gilt bis heute in vielen Punkten als positives Beispiel für die „soziale Stadt“.
2. Sozialistischer Städtebau in Deutschland nach 1945 Die theoretischen Grundlagen für die sozialistische Stadt liegen neben den frühbürgerlichen Stadtutopien in den skizzierten Stadtplanungen des utopischen Sozialismus, v.a. aber in der Gesellschafts- und Planungstheorie von Karl Marx (18181883) und Friedrich Engels (1820-1895). Auf dieser Basis konnte später dekretiert werden, dass die Sozialisierung des Bodens und der anderen Produktionsmittel zu den Prämissen des sozialistischen Städtebaus gehört und dass Einzelinteressen und Belange mächtiger kapitalistischer Investoren bei Standortzuweisungen keine Rollen spielen dürfen. Wie bereits mit dem utopischen Städtebau, der Gartenstadt und der sozialen Stadt nach dem Ersten Weltkrieg der Wohnungsbau ins Zentrum der Stadtplanung rückte, so erst recht mit der Idee der sozialistischen Stadt. Sie sollte, beginnend in Russland nach der Oktoberrevolution 1917, nicht nur partiell wie vor und nach dem Ersten Weltkrieg durch genossenschaftliche Planungen Grundelemente des sozialistischen Städtebaus verwirklichen, sondern integral. Der Wohnungsbau für die Werktätigen und Genossen hatte – zumindest in der Propaganda – absolute
V. Von der sozialen zur sozialistischen Stadt
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Priorität (über die heftigen Auseinandersetzungen und Planungsideen in Berlin, der Sowjetischen Besatzungszone und schließlich der DDR vgl. die Dokumentation von Durth/Düwel/Gutschow 1999). Es ist in Erinnerung zu rufen, dass auch in Westdeutschland bzw. in den drei westlichen Besatzungszonen sowohl durch den linken Flügel der SPD als auch die (bis 1956 nicht verbotene) KPD, die in den ersten beiden Bundestagen vertreten war, eine sozialistische Grundhaltung vorherrschte. Der Antikapitalismus und der Wille, den für die Allgemeinheit erforderlichen Boden und andere Ressourcen zu sozialisieren (bzw. zu verstaatlichen), finden sich auch in den ersten Grundsatzprogrammen der CDU (vgl. auch Art. 15 GG, der „Sozialisierung“ überschrieben ist und der bereits an früherer Stelle, S. 53, als uneingelöster „Restposten“ der heftigen Diskussionen dieser Zeit bezeichnet wurde). Die entscheidende Wende zum sozialistischen Städtebau in der DDR wird mit dem Jahr 1950 markiert, als eine große Bau- und Planungskommission aus Moskau mit entsprechenden Direktiven zurück kam und die fortschrittlichen Grundlagen des Bauhauses in den Hintergrund gedrängt wurden. In einer wegweisenden Rede hieß es, dass in den kapitalistischen Ländern „die bewusste und planmäßige Entwicklung der Städte unmöglich“ sei. Erst unter den Voraussetzungen des Sozialismus könne Planung zu einer bisher unbekannten „Harmonie von Wissenschaft, Technik und Kunst“ kommen. Aus den 16 Grundsätzen für den sozialistischen Städtebau (dokumentiert bei Durth et al.1999:172f.) seien folgende Punkte hervorgehoben: Die Stadt ist die wirtschaftlichste und kulturreichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der Menschen [...]. Das Ziel der Städteplanung ist die Sorge für den Menschen auf dem Gebiet von Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung [...]. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. [...]. Auf den Flächen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Paraden und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette. Das Antlitz der Stadt, ihre individuelle künstlerische Gestalt wird von Plätzen, Magistralen und den beherrschenden Gebäuden im Zentrum der Stadt bestimmt (in den größten Städten von Hochhäusern). Die Plätze sind die strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition.
Die Auswirkungen des sozialistischen Städtebaus, dessen Leistungen für den Wohnungsbau außer Frage stehen, waren zumal für die historische und die bürgerliche Stadt zumeist verheerend (hierzu vgl. S. 157, wo dies am Beispiel des öffentlichen Raumes erläutert wird).
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Auf der Basis vergleichender Untersuchungen der „Stadtentwicklungen in kapitalistischen und sozialistischen Ländern“, bei der die Städte London, Hamburg, Berlin (Ost), Warschau und Moskau ausgewählt wurden, kam das Team um Jürgen Friedrichs zu folgenden Schlussfolgerungen (Friedrichs 1978: 334f.): Was sich gezeigt habe, sei eine mit zeitlichen Verzögerungen auftretende ähnliche Struktur der Städte und Stadtregionen in der Nutzungsverteilung; eine Ähnlichkeit der planerischen Maßnahmen aufgrund ähnlicher Entwicklungen. Es bleibe offen, „welche sozialräumliche Struktur die Großstadt unter den Bedingungen einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft faktisch hat“. Im Jahr 1990 erfolgte die Wiedervereinigung und der „Institutionentransfer“ (Gerhard Lehmbruch) von West- nach Ostdeutschland und damit auch die Einrichtung von städtischen Bau- und Planungsämtern nach westdeutschem Muster. Die mächtige Deutsche Bauakademie in Ostberlin, die die Mehrzahl der in der DDR tätigen Architekten und Planer beschäftigt hatte, wurde aufgelöst. Der Weg „von der ‚sozialistischen’ zur ‚kapitalistischen’ Stadt“ – so der Titel eines resümierenden Beitrags von Hartmut Häußermann (1995) – konnte beschritten werden. Obwohl der Titel etwas irreführend ist, weil es – im Sinne Max Webers – die Idealtypen der sozialistischen und der kapitalistischen Stadt nie in letzter Konsequenz gegeben hat, waren bei der Wiedervereinigung die Unterschiede gravierend. Sie wurden in relativ kurzer Zeit in vielen Bereichen eingeebnet: von der zunehmenden Segregation der Wohnbevölkerung bis zur Umgestaltung der Innenstädte, von der Rückgewinnung „bürgerlicher“ Plätze und der Restaurierung ganzer Straßenzüge bis zur Entstehung suburbaner Dienstleistungsbereiche in großer Zahl und rasantem Tempo (für viele Städte in den neuen Bundesländern existieren gute Dokumentationen, u.a. am Beispiel der Stadt Gotha, wo eine empirische Untersuchung nur wenige Monate nach der Wende begonnen wurde; vgl. Herlyn/Bertels 1994).
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Literatur Albers, Gerd, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa: Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig 1997 Benham, Reyner, Die Revolution der Architektur. Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 209/210) Bollerey, Franziska, Architekturkonzeption der utopischen Sozialisten: alternative Planung und Architektur für den gesellschaftlichen Prozeß, München 1977 Bücher, Karl, Die wirtschaftlichen Aufgaben der modernen Stadtgemeinde (Vortrag 1898), in: Ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft, Bd. II, 5./6. verb. Aufl. Tübingen 1921, S. 389-432 Burgess, Ernest W., The Growth of the City, in: Park, Robert E./Ernest W. Burgess/Roderik D. McKenzie, eds., The City, Chicago 1925, S. 47-62 Chandler, Tertius/Gerald Fox, 3000 years of urban growth, New York 1974 Durth, Werner (Hg.), Entwurf zur Moderne. Hellerau: Stand Ort Bestimmung, Stuttgart 1996 Durth, Werner/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR, Bd. I: Ostkreuz. Personen, Pläne, Perspektiven, 2. erw. Aufl. 1999 (1998) Frankfurt/New York; Bd. II: Aufbau. Städte, Themen, Dokumente, Frankfurt/New York 1999 Eaton, Ruth, Die ideale Stadt: von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2003 Engeli, Hans/Wolfgang Haus (Hg.), Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, Stuttgart 1975 Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Berlin (Ost) 1964 (zuerst 1845) Engelsing, Rolf, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1973 Fourier, Charles, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hg. von T. W. Adorno, Frankfurt 1966 (orig. frz. 1808) Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtentwicklungen in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, Reinbek bei Hamburg 1978 Ders., Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, 2. Aufl. Opladen 1981 Ders., Stadtsoziologie, Opladen 1995 Hamm, Bernd, Die Organisation der städtischen Umwelt. Ein Beitrag zur sozialökologischen Theorie der Stadt, Frauenfeld und Stuttgart 1977 Hartmann, Kristiana, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform, München 1976 Dies., Alltagskultur, Alltagsleben, Wohnkultur, in: Kähler, Gert (Hg.), a.a.O., S. 183-302 Häußermann, Hartmut, Von der „sozialistischen“ zur „kapitalistischen“ Stadt, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 12/1995, S. 3-15 Hegemann, Werner, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1965 (zuerst 1930) Herlyn, Ulfert/Lothar Bertels (Hg.), Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1994 Hotzan, Jürgen, dtv-Atlas Stadt. Von den ersten Gründungen bis zur modernen Stadtplanung, München 1997
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Howard, Ebenezer, Garden cities of to-morrow, 4. impr., London: Faber 1960 (orig. 1898); aktuelle dt. Ausg. vgl. Posener, Julius (Hg.) Kähler, Gert, Nicht nur Neues Bauen, in: Ders. (Hg.), Geschichte des Wohnens (Bd. 4), 1918-1945: Reform – Reaktion – Zerstörung, 2. erw. Aufl. Stuttgart 2000, S. 303-453 Klotz, Heinrich, Geschichte der Architektur. Von der Urhütte zum Wolkenkratzer. 2. Aufl. München/New York 1995 Köllmann, Wolfgang, Der Prozess der Verstädterung in Deutschland in der Hochindustrialisierungsperiode, in: Braun, Rudolf, Gesellschaft in der Industriellen Revolution, Köln 1973, S. 242-258 Kyrieleis, Gisela, Großstadt-Heimat: der Frankfurter Hauptbahnhof, in: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1985, S. 338-350 Mumford, Lewis, The Urban Prospect, New York: Harcourt, Brace & World, 1968 Ders., Demokratische und autoritäre Technik: Beiträge zu einer anderen Technikgeschichte, Reinbek bei Hamburg 1980 Peterek, Michael, Hierarchisches Formmodell und serielle Siedlungstextur: eine vergleichende Strukturanalyse von vier Paradigmen der Wohnquartiersplanung 1910-1950, Karlsruhe 1996 Pevsner, Nikolaus, Architektur und Angewandte Kunst, in: Jean Cassou et al., Durchbruch zum 20. Jahrhundert, München 1962, S. 239-334 Pfeil, Elisabeth, Großstadtforschung. Entwicklung und gegenwärtiger Stand, 2. Aufl. Hannover 1972 Posener, Julius, (Hg.), Gartenstädte von morgen. Das Buch und seine Geschichte, Berlin 1968 (darin die Einleitung von Posener: Howards „Tomorrow“ – ein gründlich missverstandenes Buch, S. 748) Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt/M. 1997 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt 2000 Seng, Eva-Maria, Stadt – Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, München/Berlin 2003 Sombart, Werner, Städtische Siedlung, Stadt, in: Vierkandt, Alfred (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, unveränd. Neudruck Stuttgart 1959, S. 527-533 (zuerst 1931) Thienel-Saage, Ingrid, Züge nach Metropolis. Die Entwicklung großstädtischer Ballungsräume unter dem Einfluss der Eisenbahn – Das Berliner Beispiel, in: Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835-1985, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1985, S. 324-337 Weber, Adna Ferrin, The Growth of Cities in the Nineteenth Century, New York 1962 (orig. 1899) Zimmermann, Clemens, Wohnen als sozialpolitische Herausforderung, in: Reulecke, Jürgen, a.a.O., S. 505-636
Nachweis der Motti Bücher, Karl, a.a.O., S. 391 List, Friedrich, Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems, Leipzig 1833 Benevolo, Leonardo, Die Geschichte der Stadt, 8. Aufl. 2000 Frankfurt/New York (orig. ital. 1975) Fourier, Charles, a.a.O., S. 61 Posener, Julius, (Hg.), a.a.O., S. 9 Brecht, Bertolt, Große Zeit, vertan. – Das Gedicht findet sich in: Brecht, Bertolt, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Gedichte, Bd. 2, Frankfurt/M. 1988, S. 311
Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie.
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Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie. Texte der Klassiker: Ferdinand Tönnies – Georg Simmel – Werner Sombart – Max Weber – Louis Wirth Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie.
I. Ferdinand Tönnies Zu Ferdinand Tönnies (1855 im Holsteinischen geboren, 1936 in Kiel verstorben) und dem Stellenwert seines Hauptwerkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (zuerst 1887) für das Thema „Stadt und Land“ wurden bereits einige Anmerkungen gemacht (vgl. S. 17). Ohne Zweifel trifft Tönnies mit seiner Dichotomie „Gemeinschaft und Gesellschaft“ siedlungstypologisch und verhaltenstypisch einen entscheidenden Punkt seit der Entwicklung der industriellen Großstadt. Was Tönnies nicht genügend betonte, ist das Fortbestehen gemeinschaftlicher Lebensverhältnisse trotz Dominanz der Vergesellschaftungsprozesse („Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ sind Begriffe, die Max Weber im Ausgang von Tönnies prägte). Sie können – wie die Situation der Migranten und ihrer Familien- und Verwandtschaftsstrukturen gegenwärtig deutlich macht – sogar einen völlig neuen Stellenwert bekommen. Es war der amerikanische Soziologe Charles Horton Cooley (1864-1929), der mit dem Begriff der „Primärgruppen“ auf diesen Tatbestand hinwies. Cooley hatte die Erfahrungen der schnell expandierenden Millionenstadt Chicago als Hintergrund und stellte fest, dass Familie, Nachbarschaft und Spielgruppe der Kinder für die Integration und Persönlichkeitsentwicklung gerade unter den Bedingungen der Großstadt ausschlaggebend waren (zum Stellenwert seines erstmalig 1909 formulierten Konzepts dieser face-to-face associations vgl. Schäfers 1999: 97ff.). Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1963 (Nachdruck der 8. verb. Aufl. Leipzig 1935; zuerst 1887), S. 245-253 Ergebnis und Ausblick […] Die Stadt ist die höchste, nämlich komplizierteste Gestaltung menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Ihr ist mit dem Dorfe die lokale Struktur gemein, im Gegensatz zur familiaren des Hauses. Aber beide behalten viele Merkmale der Familie, das Dorf mehrere, die Stadt mindere. Erst wenn die Stadt sich zur Großstadt entwickelt, verliert sie diese fast gänzlich, die vereinzelten Personen oder doch Familien stehen einander gegenüber und haben ihren gemeinsamen Ort nur als zufällige und gewählte Wohnstätte. Aber wie die Stadt innerhalb der Großstadt, was diese durch ihren Namen kundgibt – so dauern überhaupt die gemeinschaftlichen Lebensweisen, als die alleinigen realen, innerhalb der gesellschaftlichen, wenn auch verkümmernd, ja absterbend fort. […] Die Großstadt ist typisch für die Gesellschaft schlechthin. Sie ist daher wesentlich Handelsstadt und, insofern der Handel die produktive Arbeit darin beherrscht, Fabrikstadt. […] In der Großstadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich mehr und mehr durch ihre Entwicklung.
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Der Unterschied von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein Vermögen und durch seine Kontrakte: ist also Knecht nur insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem anderen abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt. In der Tat ist hier das Vermögen das einzig wirksame und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaftlichen Organismen Eigentum als Mitgenuß des Gemeinbesitzes, und als besondere Rechtssphäre, durchaus die Folge und das Ergebnis der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprünglicher oder geschaffener (assimilierter); daher, so weit es möglich ist, nach dem Maße derselben sich richtend. […] Gemeinsam ist Dörfern und Städten das räumliche Prinzip des Zusammenlebens anstatt des zeitlichen der Familie (des Stammes, des Volkes). […] Im gesellschaftlichen Zeitalter reißt es sich los, und dies ist das Dasein der Großstadt. Sie ist zugleich, wie der Name anzeigt, der herausfallende, übermäßige Ausdruck der städtischen Form des räumlichen Prinzips.
II. Georg Simmel Georg Simmel wurde 1858 in Berlin geboren und verstarb 1918 in Straßburg, seiner letzten Wirkungsstätte. Der Beitrag „Die Großstädte und das Geistesleben“ rechnet zu den frühesten und einflussreichsten Texten der Stadtsoziologie. Er wurde als Vortrag für die erste Städtebauausstellung in Deutschland konzipiert, die 1903 in Dresden stattfand (und im gleichen Jahr im Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Bd. 9, veröffentlicht). Es ist nur zu offenkundig, dass Simmel seine eigenen Erfahrungen als Großstädter, besser: als sensibler und genau beobachtender Bewohner der Weltstadt Berlin um die Wende vom 19. zum 20. Jh., den Ausführungen zugrunde legt. Theoretisch fußt die Arbeit, auch nach eigenem Bekunden, auf seiner im Jahr 1900 erschienenen „Philosophie des Geldes“. Dort finden sich viele Topoi, die für den Dresdner Vortrag wichtig sind, zumal im 6. und letzten Kap. des umfangreichen Werkes: „Der Stil des Lebens“ (in der Taschenbuchausgabe von 1989 S.591716). Simmel, Georg, Soziologische Ästhetik, hg. und eingel. von Klaus Lichtblau, Darmstadt 1998, S. 119-134 Die Großstädte und das Geistesleben Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. […] Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens –, stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.
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Daraus wird vor allem der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist. […] Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine Wichtigkeit verschafft, zu der es bei der Spärlichkeit des ländlichen Tauschverkehrs nicht gekommen wäre. Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart. […] Denn das Geld fragt nur nach dem, was ihnen allen gemeinsam ist, nach dem Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem bloßen Wieviel nivelliert. […] Die moderne Großstadt aber nähert sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d.h. für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit; ihr verstandesmäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu fürchten. […] Die Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Exaktheit, die die Komplikationen und Ausgedehntheiten des großstädtischen Lebens ihm aufzwingen, steht nicht nur in engstem Zusammenhange mit ihrem geldwirtschaftlichen und ihrem intellektualistischen Charakter, sondern muß auch die Inhalte des Lebens färben und den Ausschluß jener irrationalen, instinktiven, souveränen Wesenszüge und Impulse begünstigen, die von sich aus die Lebensform bestimmen wollen, statt sie als eine allgemeine, schematisch präzisierte von außen zu empfangen. […] Dieselben Faktoren, die so in der Exaktheit und minutenhaften Präzision der Lebensform zu einem Gebilde von höchster Unpersönlichkeit zusammengeronnen sind, wirken andererseits auf ein höchst persönliches hin. Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien. […] Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich innerlich völlig automatisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten. […] Diese Reserviertheit mit dem Oberton versteckter Aversion scheint aber nun wieder als Form oder Gewand eines viel allgemeineren Geisteswesens der Großstadt. Sie gewährt nämlich dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit, zu denen es in anderen Verhältnissen gar keine Analogie gibt: sie geht damit auf eine der großen Entwicklungstendenzen des gesellschaftlichen Lebens überhaupt zurück, auf eine der wenigen, für die eine annähernd durchgängige Formel auffindbar ist. […] Die Lebenssphäre der Kleinstadt ist in der Hauptsache in und mit ihr selbst beschlossen. Für die Großstadt ist dies entscheidend, daß ihr Innenleben sich in Wellenzügen über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk erstreckt. […]
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionellen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen: und diese Wirksamkeit wirkt wieder zurück und gibt ihrem Leben Gewicht, Erheblichkeit, Verantwortung. […] Es bedarf nur des Hinweises, daß die Großstädte die eigentlichen Schauplätze dieser über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind. Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, daß die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.
III. Werner Sombart Werner Sombart (1863 in Ermsleben/Harz geb., 1941 in Berlin verst.) war einer der bekanntesten und durch verschiedene Schriften – z.B. „Liebe, Luxus und Kapitalismus“ (1912; Neudruck 1986) – der populärsten Nationalökonomen, Soziologen und Kulturphilosophen seiner Zeit. Wie Max Weber ging es auch Sombart in seinen der historischen Schule der Ökonomie verpflichteten Schriften darum, die Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Kapitalismus aufzudecken; er nahm aber, wie der o.g. Titel bereits verrät, zu Weber in vielen Punkten eine konträre Position ein. Bei diesen Untersuchungen kam der Stadt eine besondere Bedeutung zu. Eine frühe systematische soziologische (und sozialhistorische) Darstellung zur Stadt von Sombart findet sich im ersten bedeutenden deutschsprachigen „Handwörterbuch der Soziologie“, das 1931 von Alfred Vierkandt herausgegeben wurde (1959 von Helmut Schelsky in Faksimile-Neuausgabe ediert) unter dem Titel: Zur Theorie der Städtebildung. Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 3. unveränd. Aufl. München 1919, Erster Bd., Erster Halbbd., S. 130-133 Zur Theorie der Städtebildung […] Wenn wir die Frage nach der Genesis einer Stadt im ökonomischen Sinne aufwerfen, so müssen wir, denke ich, zweierlei beantworten: Erstens: woher kamen die Menschen ohne Halm und Ar, die berufen waren, die Stadt zu bilden, und was veranlaßte sie, sich zu einer städtischen Ansiedlung zusammenzufinden. Das ist die Frage nach den Gründen, die zu einer Entwurzelung der bodenständigen Bevölkerung führten, die die einzelnen bewogen, Städter zu werden. Zweitens aber (und vor allem) wird es uns obliegen, zu erklären: wie es denn (ökonomisch) möglich wurde, daß sich so eigentümliche Ansiedlungen bilden konnten, die aller natürlichen Daseinsweise entfremdet sind. Um hierauf die Antwort zu finden, müssen wir uns zunächst gegenwärtig halten, daß eine Stadt vom Überschuß des Landes lebt, ihre Lebensbedingungen, ihr Lebensspielraum also abhängig sind von dem Ausmaß dieses Überschußproduktes, das sie an sich zu ziehen vermag. Dieser Tatbestand kann durch folgende Sätze etwa in seinen Einzelheiten verdeutlicht werden:
Anhang: Gesellschaftstheorie als Stadtsoziologie. 1. 2.
3.
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5.
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Die Größe einer Stadt wird bedingt durch die Größe des Produkts ihres Unterhaltsgebiets und die Höhe ihres Anteils daran, den wir Mehrprodukt nennen können. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiets und (durch Fruchtbarkeitsgrad der Gegend oder Stand der landwirtschaftlichen Technik) gegebener Größe des Gesamtprodukts hängt ihre Größe von der Höhe des Mehrprodukts ab. Daher zum Beispiel unter sonst gleichen Umständen in despotischen Staaten mit einem hohen Ausbeutungskoeffizienten des Landvolks größere Städte als in Ländern mit demokratischer Verfassung. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiets und gegebener Größe des Mehrprodukts ist die Größe der Stadt bedingt durch die Fruchtbarkeit des Bodens oder den Stand der landwirtschaftlichen Technik. Daher fruchtbare Länder u.s.g.U. größere Städte haben können als unfruchtbare. Bei gegebener Höhe des Mehrprodukts und gegebener Ergiebigkeit des Bodens ist die Größe der Stadt bedingt durch die Weite ihres Unterhaltsgebiets. Daher zum Beispiel die Möglichkeit größerer Handelsstädte; die Möglichkeit größerer Hauptstädte in größeren Reichen. Die Weite des Unterhaltsgebiets ist bedingt durch den Entwicklungsgrad der Verkehrstechnik. Daher u.s.g.U. Fluß- oder Seelage auf die Ausdehnungsfähigkeit der Städte günstig wirkt und in einem Lande mit Chausseen – wiederum u.s.g.U. – die Städte größer sein können als dort, wo nur Feldwege sind, in einem Lande mit Eisenbahnen größer als wo nur Chausseen sind.
Sodann werden wir uns klar sein müssen darüber, daß es unter den „städtegründenden“ Menschen zwei wesentlich voneinander verschiedene Arten giebt: solche, die Kraft irgendwelcher Macht, irgendwelchen Vermögens, irgendwelcher Tätigkeit selbstherrisch imstande sind, die für ihren Unterhalt erforderlichen Erzeugnisse des Landes herbeizuziehen: für ihren und vielleicht auch anderer Leute Unterhalt. Das sind die eigentlichen Städtegründer; die Subjekte der Städtebildung; die aktiven oder originären oder primären Städtebildner. Also ein König, der Steuern erhebt; ein Grundherr, dem gezinst wird; ein Kaufmann, der im Handel mit Fremden Profit macht; ein Handwerker, ein Industrieller, die gewerbliche Erzeugnisse nach auswärts verkaufen; ein Schriftsteller, dessen Schriften draußen vor den Toren gekauft werden; ein Arzt, der Kundschaft im Lande hat; ein Student, dessen Eltern an einem anderen Orte wohnen und der vom „Wechsel“ seiner Eltern lebt usw. Das sind die Leute, die leben und leben lassen. Leben lassen: die anderen Städtebewohner, die nicht aus eigener Kraft die notwendigen Unterhaltsmittel (will sagen Landeserzeugnisse) sich zu verschaffen vermögen, sondern die nur teilnehmen an denen der primären Städtebildner. Wir können sie bezeichnen als Städtefüller; als Objekte der Städtebildung; als passive oder abgeleitete oder sekundäre tertiäre, quartäre usw. Städtebildner. Sekundäre Städtebildner sind sie, wenn sie unmittelbar ihren Unterhalt von einem primären Städtebildner beziehen: der Schuster, der dem König die Stiefel macht; der Sänger, der ihm seine Lieder singt; der Wirt, bei dem der Grundherr speist; der Juwelier, bei dem der Kaufmann seiner Geliebten den Schmuck kauft; der Theaterdirektor, in dessen Theater der Handwerker geht; der Buchhändler, der unserem Schriftsteller die Bücher liefert; der Friseur, bei dem sich unser Arzt rasieren läßt; die Phileuse, bei der unser Student sich sein Zimmer mietet usw.
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IV. Max Weber Max Weber (1864-1920) hatte nicht die Absicht, eine Soziologie der Stadt zu verfassen. Wie bei anderen, später Spezielle Soziologie genannten Gebieten – Politik und Bürokratie, Musik und Religion, Recht und Staat – ging es Weber darum, die Ursprünge des okzidentalen Kapitalismus aufzudecken, dieser „schicksalsvollsten Macht des modernen Lebens“ (so Weber in der Vorbemerkung zu seiner bekanntesten Arbeit: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“). Weber ging es um den Nachweis, dass der okzidentale Kapitalismus andere Triebkräfte und Grundlagen hatte, als von Karl Marx und Friedrich Engels unterstellt, nämlich eine religiös fundierte Ethik, zumal Berufsethos, und eine damit verbundene Rationalisierung und schließlich Intellektualisierung aller Daseins- und Wissensbereiche. In diesem Zusammenhang kam der Stadt des Okzidents ein hoher Stellenwert zu. Zunft- und Gildenordnung, Rechtsentwicklung und Machtteilhabe freier Bürger standen nach Weber an der Wiege sowohl des modernen Kapitalismus als auch der bürgerlichen Rechtsgesellschaft und Demokratie. Als Entstehungszeit für Webers (unvollendete) Studie über „Die Stadt“ werden die Jahre 1913/14 angegeben (vgl. Nippel 1999); die posthume Erstveröffentlichung erfolgte 1921; die erste historisch-kritische Edition im Zusammenhang der „Max Weber Gesamtausgabe“ und der neuen Edition seines Hauptwerkes, „Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“, im Jahre 1999. Für die Herausarbeitung seiner Thesen prüft Weber zunächst siedlungstypologische, ökonomische und rechtliche Stadtbegriffe, um sich dann der politisch-administrativen Stadtgemeinde, die zusammen mit ihrer Ökonomie im Mittelpunkt der Analysen steht, zuzuwenden. Im Unterschied zu anderen Epochen – zumal der Antike – und Weltregionen – China und Indien, Israel und die Länder des Islam –, betont Weber für die okzidentale Stadt, vor allem die des Mittelalters, ihren Charakter als selbstständigen Herrschaftsverband auf der Basis einer Stadtverfassung. Nachfolgend werden aus Webers Text nur jene Passagen aus Kap. II, „Die Stadt des Okzidents“, wiedergegeben, die seinen Begriff von Stadt als „autonomer und autokephaler anstaltsmäßiger Veranstaltung“ (Weber 1999: 123) und damit als Ursprung einer Gemeinschaft freier Bürger deutlich machen. Weber, Max, Die Stadt des Okzidents, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Teilbd. 5: Die Stadt, hg. von Wilfried Nippel, Tübingen 1999, S. 100-144 Die Stadt des Okzidents Im auffallendsten Gegensatz namentlich zu den asiatischen Zuständen stand nun die Stadt des mittelalterlichen Okzidents, und zwar ganz speziell die Stadt des Gebiets nördlich der Alpen da, wo sie in idealtypischer Reinheit entwickelt war. Sie war ein Marktort wie die asiatische und orientalische Stadt, Sitz von Handel und Gewerbe wie jene, Festung wie jene. […] Überall, im frühen Mittelalter, der Antike, dem vorderasiatischen und dem ferneren Osten war die Stadt eine durch Zuzug und Zusammenfluß von außen entstandene und, bei
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den sanitären Verhältnissen der Unterschichten, nur durch fortwährend neuen Zustrom vom Lande sich erhaltende Zusammensiedelung. Überall enthält sie daher Elemente gänzlich verschiedener ständischer Stellung. […] Die okzidentale Stadt war schon in der Antike wie in Rußland ein Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit durch das Mittel geldwirtschaftlichen Erwerbs. […] In den mittel- und nordeuropäischen Städten entstand der bekannte Grundsatz: „Stadtluft macht frei“, – d.h. nach einer verschieden großen, stets aber relativ kurzen Frist verlor der Herr eines Sklaven oder Hörigen das Recht, ihn als Gewaltunterworfenen in Anspruch zu nehmen. Der Satz ist in sehr verschiedenem Grade durchgedrungen. Sehr oft mußten sich andererseits Städte zu dem Versprechen bequemen, Unfreie nicht aufzunehmen, und mit Engerwerden des Nahrungsspielraums ist diese Schranke ihnen auch oft willkommen gewesen. Allein als Regel setzte jener Grundsatz sich dennoch durch. Die ständischen Unterschiede schwanden also in der Stadt, wenigstens soweit sie Verschiedenheit von gewöhnlicher Freiheit und Unfreiheit bedeuteten. Andererseits entwickelte sich innerhalb zahlreicher, ursprünglich auf politischer Gleichstellung der Ansiedler untereinander und freier Wahl der Stadtbeamten ruhender Stadtansiedlungen im europäischen Norden vielfach eine Honoratiorenschicht: die ständische Differenzierung der kraft ihrer ökonomischen Unabhängigkeit und Macht die Ämter monopolisierenden Ratsgeschlechter gegen die anderen Bürger. […] Zu diesen Unterschieden tritt nun aber als entscheidend hinzu die Qualität der antiken sowohl wie der typischen mittelalterlichen Stadt als eines anstaltsmäßig vergesellschafteten, mit besonderen und charakteristischen Organen und ausgestatteten Verbandes von „Bürgern“, welche in dieser ihrer Qualität einem nur ihnen zugänglichen gemeinsamen Recht unterstehen, also ständische „Rechtsgenossen“ sind. Diese Eigenschaft als einer ständisch gesonderten „Polis“ oder „Commune“ war, soviel bekannt, in allen anderen Rechtsgebieten, außer den mittelländischen und okzidentalen, nur in den Anfängen vorhanden. […] Die Stadt des Okzidents, in speziellem Sinn aber die mittelalterliche, mit der wir uns vorerst allein befassen wollen, war nicht nur ökonomisch Sitz des Handel und Gewerbes, politisch (normalerweise) Festung und eventuell Garnisonsort, administrativ ein Gerichtsbezirk, und im übrigen eine schwurgemeinschaftliche Verbrüderung. […] Die Stadt wurde eine, wenn auch in verschiedenem Maße, autonome und autokephale anstaltsmäßige Vergesellschaftung, eine aktive „Gebietskörperschaft“, die städtischen Beamten ganz oder teilweise Organe dieser Anstalt. Für jene Entwicklung der mittelalterlichen Städte war nun aber allerdings wichtig, daß von Anfang an die privilegierte Stellung der Bürger als ein Recht auch des Einzelnen unter ihnen im Verkehr mit Dritten galt. Dies war eine Konsequenz nicht nur der dem Mittelalter ebenso wie der Antike ursprünglich eigenen personalrechtlichen Auffassung der Unterstellung unter ein gemeinsames „objektives“ Recht als eines „subjektiven“ Rechts, einer ständischen Qualität der Betroffenen, sondern speziell im Mittelalter – wie namentlich Beyerle mit Recht hervorhebt – eine Konsequenz der in der germanischen Gerichtsverfassung noch nicht abgestorbenen Auffassung jedes Rechtsgenossen als eines „Dinggenossen“ und das heißt eben: als eines aktiven Teilhabers an der Dinggemeinde, in welcher er das dem Bürger zukommende objektive Recht als Urteiler im Gericht selbst mitschafft – eine Institution, von der und deren Folgen für die Rechtsbildung wir früher gesprochen haben. Dies Recht fehlte den Gerichtseingesessenen
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Kapitel II: Stadtentwicklung und industrielle Verstädterung
in dem weitaus größten Teil der Städte der ganzen Welt. Nur in Israel finden sich Spuren davon. Wir werden bald sehen, wodurch diese Sonderstellung bestimmt war. Entscheidend war aber für die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt zum Verband aber, daß die Bürger in einer Zeit, als ihre ökonomischen Interessen zur anstaltsmäßigen Vergesellschaftung drängten, einerseits daran nicht durch magische oder religiöse Schranken gehindert waren, und daß andererseits auch keine rationale Verwaltung eines politischen Verbandes über ihnen stand. […]
V. Louis Wirth Louis Wirth wurde 1897 in Gemünden/Hunsrück geboren und kam bereits als Jugendlicher in die USA (wo er 1952 verstarb). Er studierte an der Universität Chicago u.a. bei den Sozialökologen Park und Burgess. Zu seinen bekanntesten Arbeiten rechnet der Aufsatz Urbanism as a Way of Life – Urbanität als Lebensform, der zuerst 1938 erschien und zu den klassischen Texten der Stadtsoziologie zählt. Obwohl der Text stark von Georg Simmel (zumal „Die Großstädte und das Geistesleben“), aber auch von Emile Durkheim beeinflusst ist, liegt ihm doch ein eigener Ansatz zugrunde. Stadt ist zunächst durch eine gewisse Dauerhaftigkeit der Besiedlung ausgezeichnet. Auf dieser Basis unterscheiden sich die Städte in der Ausprägung ihrer Urbanität durch die folgenden drei Merkmale und ihre jeweiligen Wechselwirkungen: Größe (Zahl der Einwohner), Dichte (Einwohner pro ha), Heterogenität. Steigen Größe und Dichte, erhöht sich die Arbeitsteilung und das kulturelle und soziale Leben nimmt an Differenzierung zu. Sowohl Simmel als auch Wirth fragen nach der Wirkung von Stadt auf das Individuum. Für Simmel kann sich moderne Individualität, incl. der Differenzierung des Nervenund Gefühlslebens, nur in der modernen Großstadt entwickeln – für Wirth steht die zwangsläufig unvollständige Integration des Individuums im Vordergrund: Es ist in die Großorganisationen, Vereine etc. immer nur partiell eingebunden, zumeist nur oberflächlich. Der Ansatz von Wirth hat viel Kritik erfahren. Häussermann/Siebel (2004: 93ff.) beanstanden vor allem, dass Wirth die Stadt als selbstständige soziale Einheit interpretiere und dadurch die „gesellschaftlichen Ursachen des Beobachteten“ verkenne (zur Differenzierung des Ansatzes von Wirth vgl. aber auch Friedrichs 1995: 145ff.). Wirth, Louis, Urbanität als Lebensform, in: Herlyn, Ulfert (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Gettobildung und Stadtplanung, München 1974, S. 4266 Urbanität als Lebensform […] Urbanität, oder jener Komplex von Merkmalen, der für die städtische Lebensform charakteristisch ist, und Urbanisierung, der Prozeß der Entwicklung und Ausweitung dieser Faktoren, sind so zwar nicht ausschließlich in Siedlungen anzutreffen, die im physisch-realen und
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demographischen Sinne als Städte bezeichnet werden können, doch finden sie in diesen Gebieten, und besonders in den großen Metropolen, ihren stärksten Ausdruck. […] Für soziologische Zwecke kann die Stadt definiert werden als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen. Auf der Basis der Postulate, welche diese Minimaldefinition aufstellt, läßt sich eine Theorie der Urbanität im Lichte des Wissens formulieren, das uns über gesellschaftliche Gruppen zu Gebote steht. […] Auf Grund von Forschung und Beobachtung lassen sich eine Reihe soziologischer Aussagen formulieren, die die Beziehung zwischen a) Bevölkerungszahlen, b) Siedlungsdichte, und c) Heterogenität der Einwohner und des Lebens in Gruppen betreffen. Die Größe der Bevölkerung. Seit Aristoteles' »Politik« gilt es als anerkannt, daß das Anwachsen der Einwohnerzahl einer Siedung über eine bestimmte Grenze hinaus sich auf die Beziehungen der Einwohner untereinander und auf den Charakter der Stadt auswirkt. Eine große Bevölkerungszahl bedeutet, wie schon angedeutet, immer eine größere Spannbreite individueller Varianten. Je größer überdies die Anzahl der an einem Interaktionsprozeß beteiligten Individuen ist, desto größer ist auch die potentielle Verschiedenartigkeit unter ihnen. Es ist deshalb anzunehmen, daß sich die persönlichen Merkmale, die Tätigkeiten, das kulturelle Leben und die Ideen der Mitglieder einer urbanen Gemeinschaft zwischen extremeren Polen bewegen als die der Landbewohner. […] Es ist charakteristisch für Stadtmenschen, daß sie sich in stark segmentierten Rollen begegnen. Freilich sind sie zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse von mehr Menschen abhängig als der Landbewohner, und so sind sie mit einer größeren Anzahl organisierter Gruppen assoziiert; doch sind sie weniger abhängig von einzelnen Personen, und ihre Abhängigkeit von anderen Menschen beschränkt sich auf einen kleinen Teilaspekt des Tätigkeitsbereichs des anderen. Das ist es im wesentlichen, was mit den Worten gemeint ist, für die Stadt seien nicht primäre, sondern sekundäre Kontakte charakteristisch. Mögen die Kontakte mit dem Gegenüber noch so hautnah sein, sie sind dennoch unpersönlich, oberflächlich, transitorisch und segmentär. Die Distanz, die Gleichgültigkeit und die abgeklärte Haltung, welche die Stadtmenschen in ihren Beziehungen zueinander zur Schau stellen, können so als Mittel betrachtet werden, um sich gegen persönliche Ansprüche und Erwartungen anderer zu immunisieren. […] Obwohl die Stadt, indem sie zur Durchführung ihrer diversen Aufgaben verschiedenartige Menschentypen heranzieht und ihre Einzigartigkeit durch Wettbewerb und Prämierung von Exzentrik, Neuheit, Leistungsfähigkeit und Erfindergeist betont, eine hochdifferenzierte Bevölkerung hervorbringt, übt sie auch einen nivellierenden Einfluß aus. Wo immer eine große Anzahl verschieden veranlagter Individuen zusammenkommt, setzt auch der Prozeß der Depersonalisierung ein. Diese Nivellierungstendenz liegt zu einem Teil der ökonomischen Ordnung der Stadt zugrunde. Die Entwicklung der Großstadt war, wenigstens im modernen Zeitalter, größtenteils von dem konzentrierenden Element der Dampfkraft abhängig. Der Aufstieg der Fabrik ermöglichte die Massenproduktion für einen unpersönlichen Markt. Die völlige Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Arbeitsteilung und Massenproduktion ist nur auf Basis der Standardisierung von Prozessen und Produkten möglich. Hand in Hand mit einem solchen Produktionssystem geht eine Geldwirtschaft. Mit der Entwicklung der Städte auf dem Hintergrund dieses Produktionssystems setzt Geld, das die Käuflichkeit von Dingen und Dienstleistungen impliziert, in zunehmendem Maße
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die persönlichen Beziehungen als Vereinsgrundlage außer Kraft. Unter diesen Umständen muß Individualität durch Kategorien ersetzt werden. Wenn eine große Anzahl von Menschen sich gemeinsam gewisser Anlagen und Einrichtungen bedienen muß, so müssen diese Anlagen und Einrichtungen nicht so sehr den Bedürfnissen des einzelnen Individuums als denen des Durchschnittsmenschen genügen. Die öffentlichen Dienstleistungen, die kulturellen, die Freizeit- und Erziehungseinrichtungen müssen Massenbedürfnissen angepaßt sein. Ebenso müssen die kulturellen Einrichtungen, wie Schulen, Kinos, Rundfunk und Zeitungen auf Grund ihres Massenpublikums zwangsläufig einen nivellierenden Einfluß ausüben. Der politische Prozeß wird nur verständlich, wenn auch die Massenwerbung, die mit modernen Propagandamethoden arbeitet, unter die Lupe genommen wird. Will der Einzelmensch sich am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben der Stadt beteiligen, so muß er einen Teil seiner Individualität den Bedürfnissen der größeren Gemeinschaft unterordnen und sich entsprechend in Massenbewegungen engagieren. […] Die urbane Persönlichkeit und das kollektive Verhalten. Es sind hauptsächlich die Aktivitäten freiwilliger Gruppen, mögen diese nun ökonomischen, politischen, religiösen, kulturellen, Bildungs- oder Erholungszwecken dienen, die es dem Stadtmenschen ermöglichen, sich zu entwickeln und seiner Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, seinen Status zu erlangen und jenen Tätigkeitskreis auszubauen, auf den er seine Laufbahn gründet. […] Offensichtlich müssen wir deshalb unter den in Erscheinung tretenden Tendenzen im Kommunikationssystem und in der Produktions- und Verteilungstechnologie, welche mit der modernen Zivilisation entstanden sind, nach den Symptomen suchen, die den Entwicklungsgang andeuten, den die Urbanität als gesellschaftliche Lebensform wahrscheinlich nehmen dürfte. Mit der Richtung der in der Urbanität vor sich gehenden Veränderungen wird sich nicht nur die Stadt, sondern die Welt zum besseren oder schlechteren verwandeln.
Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960: Suburbaner Raum, Zwischenstadt und Global Cities Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
Inhalt I.
Tertiäre Verstädterung
II. Suburbanisierung und Stadtregion 1. Neue Begriffe der Stadt- und Raumentwicklung 2. Neue Wohnquartiere am Stadtrand III. 1. 2. 3.
Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt Kapitalistische vs. Bürgerstadt Rückbesinnung auf die Innenstadt. Stadtimage und Inszenierungen Die Zwischenstadt
IV. 1. 2. 3. 4.
Suburbaner Raum und Verhaltensänderungen Zur Entwicklung des Phänomens Suburbaner Raum, Sozialstruktur und sozialer Wandel Soziale Segregation und soziale Differenzierung in suburbanen Räumen Veränderungen des Kommunikations- und Öffentlichkeitsverhaltens
V. 1. 2. 3.
Die Stadt im Weltverstädterungsprozess Bevölkerungsvermehrung und Verstädterung Globalisierung und Global Cities Stufen im Weltverstädterungs- und Zivilisationsprozess
Informationsteil Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image, Kapitalismus und Stadtentwicklung: Hans Paul Bahrdt – Kevin Lynch – Manuel Castells (I) – Peter Saunders – Manuel Castells (II)
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
I. Tertiäre Verstädterung Das verflossene Jahrzehnt (die 1960er Jahre, B.S.) hat das Gesicht der meisten Großstädte unseres Landes stärker verändert als die gesamte Zeit seit der Jahrhundertwende, ausgenommen die Verwüstungen, die der Bombenkrieg brachte. Karolus Heil
Die Phase der „tertiären Verstädterung“ (in Anlehnung an Mackensen 1974: 146) ist durch folgende Trends charakterisiert:
Fortsetzung der industriegesellschaftlichen Verstädterung bei zunehmender Bedeutung des „tertiären Sektors“ und damit der öffentlichen und privaten Dienstleistungen für das Wachstum der Städte und ihre sozialräumliche (Um-) Strukturierung; zunehmende Bedeutung des Massenverkehrsmittels Auto, das immer mehr Menschen erlaubt, die Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsplatz zu vergrößern und unabhängig von öffentlichen Verkehrsmitteln zu sein; verstärkte „Suburbanisierung“, die das Siedeln zwischen der immer noch relativ geschlossenen Stadt und dem ländlichen Umland zum „Normalfall des Verstädterungsprozesses“ (Schäfers 1975: 87) macht; Verstärkung und weltweite Ausdehnung der industriegesellschaftlichen Verstädterung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Durch Einbezug der ehemaligen Kolonien (Dritte Welt) in das weltwirtschaftliche und weltpolitische Geschehen und den dort statthabenden Bevölkerungsexplosionen finden sich nunmehr auch städtische Agglomerationen in vorwiegend agrarstrukturell geprägten Räumen.
In den entwickelten Industrienationen führten die Suburbanisierungsprozesse zu einer noch stärkeren Einebnung des Stadt-Land-Gegensatzes, u.a. durch:
die weitere Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft; den an die städtischen Zentren angeschlossenen Infrastrukturausbau im ländlichen Raum; die Änderung der Wohn- und sonstigen Lebensweisen der verbliebenen Agrar-Bevölkerung.
In Entwicklungs- und Schwellenländern standen die Verstädterungsprozesse, zumal in den 1950er und 60er Jahren, auch im Zusammenhang mit deren politischen Emanzipationsbewegungen, der Bevölkerungsexplosion, der massenhaften Landflucht und damit – vergleichbar den Entwicklungen in Deutschland nach 1830 – dem Offenbarwerden der vorher ländlichen Armut und versteckten Arbeitslosigkeit. Sowohl in den entwickelten Industrienationen als auch in den Weltregionen Mittel- und Südamerikas, Asiens und Afrikas kam es zu völlig neuartigen Erscheinungen der Stadtentwicklung und raumexpansiven Verstädterung (für Lateiname-
I. Tertiäre Verstädterung
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rika vgl. Schäfers 1967): zur Entstehung verstädterter Zonen, metropolitaner Gebiete und schließlich zur Megalopolis. Jean Gottmann hatte 1961 in einer beispielhaften Analyse Entwicklung und Struktur der nordöstlichen Seeküste der Vereinigten Staaten, den verstädterten Raum von Boston bis Washington mit seinen damals ca. 40 Mio. Einwohnern, als „Megalopolis“ beschrieben. Sah Adna F. Weber am Ende des 19. Jh.s die große Hoffnung für das Städtewesen in einer Verstärkung der sich damals bereits abzeichnenden Suburbanisierung der industriellen Großstadt und der ersten Millionenstädte, so ist die enorme Verstärkung dieser Prozesse seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem Hauptproblem der Stadtentwicklung und der Raum- und Landesplanung geworden. Hieß es bei Weber (1899/1962: 475): „The rise of suburbs it is, which furnishes the solid basis of a hope that the evils of city life, so far as they result from overcrowding, may be in large part removed. If concentration of population seems destined to continue, it will be a modified concentration which offers the advantages of both city and country life“ –, so erinnert das an Ebenezer Howards ein Jahr zuvor veröffentlichtes Werk über „Garden Cities of Tomorrow“ (1898/1960). Hier wurden Adna F. Webers Hoffnungen auf spezifische Weise konkretisiert. Sofern die „tertiäre Verstädterung“ als Suburbanisierung erfolgt, kann auch hier die Entwicklung Londons paradigmatisch zur Charakterisierung bestimmter Verlaufsmuster herangezogen werden. Tab. 6 Jahr 1801 1851 1901 1951 1961 1971
Bevölkerung von London 1801-1971 City of London 128.269 127.869 26.923 5.324 4.767 4.234
inner London 959.310 2.363.341 4.546.267 3.347.956 3.200.484 2.719.249
outer London 157.980 321.707 2.050.002 5.000.041 4.976.788 4.655.531
Greater London* Conurbation 1.117.290 2.685.048 6.586.269 8.348.023 8.171.902 7.379.014
Quelle: Enc. Brit. Vol. 11:95; * zur Differenzierung dieser Zonen vgl. die angegebene Quelle
Die Tabelle zeigt eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen den Prozessen der Citybildung und der Entwicklung des tertiären Sektors im Kernbereich der Städte und den in ein immer weiteres Umland sich verlagernden Suburbanisierungsprozessen. Diese Zusammenhänge sind von der sozialökologischen Schule der Stadtsoziologie früh untersucht worden (vgl. hierzu Kap. II). Vergleichbare, wenn auch nicht ganz so extreme Entwicklungen wie die Londons lassen sich für alle Industrienationen und ihre großen Verdichtungsräume nachweisen. Galt bereits für die Phase der „industriellen Verstädterung“, dass das große Bevölkerungswachstum dieser Epoche vor allem in Formen der Verstädterung vor
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
sich ging, so trifft dies in noch viel höherem Maße für die erste Phase der „tertiären Verstädterung“ (1950-1970) zu, wie die folgende Tabelle zeigt: Tab. 7
Der Verstädterungsprozess 1950-1970 in Europa
69,5
%-Satz in Städten 100 Tsd. E. 56,3
%-Satz in Städten 1 Mio. E. 23,3
75,9 81,1 123,2
72,3 74,9 63,2
57,3 58,3 36,8
25,5 26,9 18,1
9 9 10
134,6 150,2 88,6 96,9 103,8 108,7 117,7 128,4
68,0 73,0 42,4 48,4 54,6 40,5 45,6 50,7
41,1 44,9 17,3 20,5 24,3 19,8 24,1 29,6
20,1 25,5 7,8 8,3 11,6 7,6 9,9 14,2
11 17 5 5 7 6 7 10
Region
Jahr
NordEuropab
1950
72,6
1960 1970 1950 1960 1970 1950 1960 1970 1950 1960 1970
WestEuropa Ost-Europac Süd-Europa
Bev. insg. %-Satz der in Mio. E. Stadtbev.a
Anzahl der Mio.Städte 8
a
entsprechend der Eigendefinition der Länder dieser Regionen; bincl. Groß-Britannien; cohne UdSSR; berechnet nach Davis 1969
Seit 1800 bis 1950 stieg der Anteil der Großstadtbevölkerung an der Weltbevölkerung von 1,7 % auf 13,1 % (Pfeil 1972: 116).
II. Suburbanisierung und Stadtregion Weichbilder sind der Ausnahmezustand der Stadt, das Terrain, auf dem ununterbrochen die großen Entscheidungsschlachten zwischen Stadt und Land toben. Walter Benjamin
1. Neue Begriffe der Stadt- und Raumentwicklung In der Bundesrepublik Deutschland wie in anderen Industrieländern führte der Suburbanisierungsprozess zur Herausbildung von Stadtregionen, in der ein immer größerer Prozentsatz der Bevölkerung lebt. Jürgen Friedrichs definierte Suburbanisierung als „Verlagerung von Nutzungen und Bevölkerung aus der Kernstadt, dem
II. Suburbanisierung und Stadtregion
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ländlichen Raum oder anderen metropolitanen Gebieten in das städtische Umland, bei gleichzeitiger Reorganisation der Verteilung von Nutzungen und Bevölkerung in der gesamten Fläche“ (Friedrichs 1975: 40). Diese Entwicklungen hatten sich seit den 1950er Jahren abgezeichnet und haben im Wesentlichen zwei Ursachen (vergleichbar der ersten Phase des Industrialisierungsprozesses, für die die Fabrik, die wachsende Industriearbeiterschaft und die Eisenbahn als Hauptverursacher der industriellen Großstadt genannt wurden): die Umstrukturierung der Arbeits- und Berufswelt mit zunehmender Dominanz der Angestellten und die Individualisierung der beruflichen und der zunehmenden Freizeitmobilität durch den PKW. Die Integration des Autos in den ruhenden Verkehr, also vor allem in den Wohnbereich, und den fließenden Verkehr der innerstädtischen Straßen ist seither eines der größten Probleme der Stadt- und Verkehrsplanung. Gab es 1949 in der Bundesrepublik nur knapp 0,5 Mio. private PKW, so stieg die Zahl bis 1960 auf 4,5 Mio. und erreichte 1970 bereits 13,7 Mio. (bezogen auf Westdeutschland). Für die neuen Entwicklungen in der Raum- und Siedlungsstruktur hatte Olaf Boustedt (1975: 341ff.) den Begriff Stadtregion entwickelt. Unter Stadtregion versteht man eine sozio-ökonomische Raumeinheit, die die engen wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen zwischen einer „Kernstadt“ und ihrem Umland erfassen und typisieren soll. Mit der kommunalen Neugliederung seit Ende der 1960er Jahre wurden kommunalpolitisch und verwaltungstechnisch erste Konsequenzen aus den räumlichen Verflechtungszusammenhängen zwischen Stadt und Umland gezogen. In nur wenigen Jahren wurde die Gesamtzahl der Gemeinden von 24.282 (unter ihnen mehr als 10 Tsd. Gemeinden mit weniger als fünfhundert Einwohnern) auf 8.502 reduziert (zu den Ursachen und zum Planungsprozess der kommunalen Neugliederung vgl. Schäfers 1970). In den neuen Bundesländern wurde eine kommunale Neugliederung nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 durchgeführt. Für die Entwicklung zur Stadtregion und die kommunale Neugliederung gab es Vorbilder seit dem Ende des 19. Jh.s. Hier seien aus dem 20. Jh. einige bekannte Beispiele genannt: Im Jahr 1911 wurde Berlin mit seinem Verflechtungsgebiet zu Groß-Berlin zusammengefasst. Potsdam z.B. (27 km vom Zentrum) blieb zwar selbstständig, wurde aber in die Verkehrs- und sonstigen Infrastrukturplanungen einbezogen. 1920 entstand für das Ruhrgebiet mit seinen ca. acht Mio. Einwohnern der Ruhrsiedlungsverband, ein in Essen ansässiger Zweckverband, der vor allem für die Planung von Straßen und Grünflächen zuständig war. 1938 ist ein Jahr umfangreicher kommunaler Neugliederung. Hamburg vergrößerte sich um die Städte Altona, Harburg und Wandsbek. Lübeck verlor seinen Status als Stadtstaat, so dass aus der Tradition der Freien Reichsstädte nur noch die Freien und Hansestädte Bremen und Hamburg übrig blieben. 1962 kam es zur Gründung des Großraum-Verbandes Hannover, womit erstmalig in der Bundesrepublik für viele Planungsbereiche die Kommunalgrenzen überschritten wurden.
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
2. Neue Wohnquartiere am Stadtrand In der Bundesrepublik wurden seit Mitte der 1950er bis etwa Mitte der 1970er Jahre neue Wohnquartiere am Stadtrand gebaut. In der Sprache der Kommunalpolitiker und Städtebauer hießen sie Trabanten- oder Satellitenstädte, Großwohnanlagen usw. – in der Sprache der Kritiker Schlafstädte, Wohnsilos, Betonburgen oder auch Hausfrauengettos (vgl. Heil 1974: 181). Eine der ersten Entlastungsstädte war die Neue Vahr in Bremen, die Mitte der 1950er Jahre als Wohnsiedlung mit ca. 10 Tsd. Wohnungen für 30 Tsd. Einwohner geplant war (damals rechnete man pro Wohnung noch mit durchschnittlich drei Bewohnern). Andere bekannte Beispiele waren das heftig umstrittene Märkische Viertel in Berlin mit 17 Tsd. und München Neu-Perlach mit 28 Tsd. Wohneinheiten für ca. 80 Tsd. Einwohner. Abb. 14
Blick über den „Boulevard“ des Märkischen Viertels, den Wilhelmsruher Damm, auf den südöstlichen Teil des Wohngebietes
Quelle: Wolfgang Pehnt 1974: Abb. 51
Neben den genannten Gründen für die Suburbanisierung darf nicht übersehen werden, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik von 1950 bis 1960 von 50 auf 61 Mio. Einwohner anstieg, der Bedarf nach besserem und größerem Wohnraum sehr groß war und in den Kernstädten nicht befriedigt werden konnte. Bei vielen Trabantenstädten waren die englischen New Towns Vorbild, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tradition der Gartenstädte (vgl. auch S. 68ff.) entstanden und deren Besichtigung für deutsche Stadtplaner der Nachkriegszeit selbstverständlich
III. Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt
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war. Neu an diesen randstädtischen Entlastungsstädten war u.a., dass sie erstmalig in West- (und in Ost-) Deutschland eine Bebauung mit Wohnhochhäusern realisierten (die ersten Wohnhochhäuser in Deutschland entstanden 1945-1956 in Hamburg-Grindelberg; vgl. Schildt 1988). Die Großwohnanlagen waren seit ca. 1965, als Alexander Mitscherlichs bekanntes Pamphlet über „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ erschien, Gegenstand einer wachsenden Kritik. Doch diese Kritik und die heutige Einstellung zu diesen Satellitenstädten darf nicht mit den überwiegend positiven Einstellungen der damaligen Bewohner verwechselt werden. Ulfert Herlyn (1988: 513) fasste dies wie folgt zusammen: „In den 60er und frühen 70er Jahren, als diese Großsiedlungen entstanden und von vielen als sichtbarer Ausdruck einer positiv bewerteten Modernität, fortgeschrittener Bautechnik bzw. als symbolträchtiges Zeichen gegen die Zersiedlung der stadtnahen Landschaften durch die Eigenheimbewegung angesehen wurden“, habe es hohe Zufriedenheitsraten mit den neuen Wohnverhältnissen gegeben – was nicht überrascht, wenn man den Ausstattungsstandard dieser Wohnungen mit den vorherigen Wohnverhältnissen vergleicht. Doch wer es sich leisten konnte, verließ diese Großwohnanlagen baute sich ein Eigenheim und trug damit zu einer weitergehenden, großflächigen Suburbanisierung des städtischen Umlandes bei. Die sog. Pendlerpauschale war dabei kein unwesentlicher Faktor.
III. Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt 1. Kapitalistische vs. Bürgerstadt Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus und um unsere Stadt. Wenn wir auch verschiedenartigen Tätigkeiten zugewandt sind, so ist doch in den Dingen der Stadt keiner ohne Urteil. Bei uns heißt einer, der an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter. Perikles, um 430 v. Chr.
Um das Jahr 1970 kulminierte die Kritik an den Formen des Verstädterungsprozesses. Die zügige Ausbreitung des suburbanen Raumes durch Eigenheimsiedlungen und Trabantenstädte und die Preisgabe der Innenstadt und ihrer Plätze an den fahrenden und ruhenden Verkehr lösten immer mehr Unmut aus. Neben den bereits genannten Schriften von Hans Paul Bahrdt (1961) und Alexander Mitscherlich (1965) hatte in der ganzen westlichen Welt Jane Jacobs’ „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1961/1993) eine vernehmbare Resonanz und erweiterte das kritische Potenzial.
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
Seit der Studentenrevolte 1967ff. verstärkte sich die anti-kapitalistische Kritik am Städtebau und es wurde mehr Partizipation der Bürger eingefordert. Aufsehen erregte eine von den Architekten Josef Lehmbrock und Wend Fischer konzipierte Ausstellung unter dem Titel: „Profitopolis oder: Der Mensch braucht eine andere Stadt“. Den Bildern und Texten war das obige Zitat von Perikles voran gestellt. Ein Kapitel hatte die Überschrift: „Wie wird der Bürger Bauherr seiner Stadt?“. Auch Heide Berndts Schrift „Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern“ (1968), verfasst aus dem Geist der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule der Soziologie, gehört in diesen Kontext des „Hinterfragens“ der Ergebnisse des Wiederaufbaus und der suburbanen Stadtentwicklung. Eine Reaktion auf die immer dringlicheren Forderungen nach mehr Partizipation in allen Fragen des Bauens und Planens war das 1971 verabschiedete Städtebauförderungsgesetz („Gesetz über städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Gemeinden“). Es bekam breite Zustimmung, weil in ihm zwei Punkte der intensiven städtebaulichen und gesellschaftspolitischen Diskussion „institutionalisiert“ wurden: die Partizipation der von den städtebaulichen Vorhaben Betroffenen, also ihre Mitwirkung bei der Planung und Verwirklichung der Bauaufgaben, und die mit der Partizipation verknüpfte „Sozialplanung“. Diese war nach einer Anhörung des damals renommiertesten Stadtsoziologen, Hans Paul Bahrdt, vom Gesetzgeber in das Gesetzeswerk aufgenommen worden. Die Bundesregierung war in den Lesungen des Gesetzes im Bundestag am 16. Juni 1971 eine weitreichende Selbstverpflichtung eingegangen. Der damalige Städtebauminister, Lauritz Lauritzen, erklärte: „Die Bundesregierung betrachtet […] Städtebaupolitik als wesentlichen Teil der Politik der inneren Reformen, da die gebaute Umwelt den Lebensbereich jedes einzelnen beeinflusst. Wir brauchen vor allem eine verstärkte Mitwirkung der Bürger“. Der Zeitgeist war diesen Absichten günstig: Es gab eine sehr verbreitete Einstellung und Forderung nach mehr Demokratie, nach mehr Partizipation und nach mehr Mitbestimmung in den gesellschaftlichen Institutionen (zu Einzelheiten des „partizipativen Bauens und Planens“ vgl. Kap. XI in: Schäfers 2003). Darüber hinaus war es eine Zeit, in der das Instrument der Planung als „Dritter Weg“ zwischen Marktwirtschaft und staatssozialistischer Zentralverwaltungswirtschaft auf breite Zustimmung stieß (vgl. die Sammlung relevanter Texte zur „gesellschaftlichen Planung“, Schäfers 1973).
2. Rückbesinnung auf die Innenstadt. Stadtimage und „Inszenierungen“ Viele waren der Meinung, dass das Städtebauförderungsgesetz zu spät kam, weil die intensivste Neubauphase und die größten innerstädtischen Sanierungsvorhaben
III. Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt
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bereits abgeschlossen oder nach altem Recht begonnen waren. Gleichwohl kann kein Zweifel bestehen, dass seit Beginn der 1970er Jahre auch der innere Stadtumbau begann: Eine Phase des behutsamen Umbaus und „Rückbaus“ des verbreiterten, dem Auto geopferten Straßenraumes und der Rückgewinnung innerstädtischer Plätze, die in heute unvorstellbarer Weise zu Parkflächen degradiert waren. Abb. 15
Maximilianstraße München um 1965
Die Maximilianstraße wird von einer achtspurigen Autostraße zerschnitten, welche den Autos sprichwörtlich die Vorfahrt gewährt.
Quelle: Profitopolis 1971: 24
Die anstehenden Aufgaben wurden mit verschiedenen Bundes- und Landesprogrammen gefördert: Wohnumfeldverbesserung und Zentrumsentwicklung durch Stärkung der Stadtteile und Herausstellung des historischen Stadtkerns als „Mitte“. Hinzu kamen Programme für die Freiflächenplanung und die Verkehrsberuhigung, für die Rückgewinnung des innerstädtischen Wohnens und die Entwicklung differenzierter, alle Bevölkerungsgruppen – auch die zunehmende der Migranten aus immer mehr Ländern – erfassender Kultur- und Stadtteilprogramme. Der genius loci einer Stadt wurde neu entdeckt. In Westdeutschland, Österreich und Südtirol trug hierzu ein neues Städtebündnis bei: „Die Alte Stadt“ (es ging, wie die 1973 gegründete Zeitschrift „Die Alte Stadt“, vor allem auf die Initiative des Stuttgarter Stadthistorikers Otto Borst zurück). Unterstützt wurden diese Initiativen, vor allem auch in den Großstädten und Metropolen, durch das damals aufkommende Stadt-Marketing zur Verbesserung des Stadtimage. Zugleich nahm die Zahl der „inszenierten Ereignisse“ zur Auslastung und Belebung der Innenstädte oder auch als Instrument der Stadtentwicklung
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
ständig zu, sowohl der jährlich wiederkehrenden und immer besser vermarkteten Ereignisse wie der Nürnberger „Christkindlesmarkt“ oder das Münchener Oktoberfest, als auch der einmaligen Ereignisse: von den beliebten Landes- und Bundesgartenschauen bis hin zu Olympiaden und Weltausstellungen, die in der Geschichte der modernen Stadtentwicklung durch Großereignisse seit dem 19. Jh. die älteste Tradition haben, beginnend mit der Weltausstellung 1851 in London und der ersten Olympiade der Neuzeit in Athen 1896. Der Stellenwert der Münchener Olympiade 1972 für die Stadt- und Verkehrsentwicklung – aber auch für eine beispielhafte Architektur – ist bis heute nachwirkend (zur Bedeutung inszenierter Ereignisse für die Stadtentwicklung vgl. DASL 2001).
3. Die Zwischenstadt Trotz aller Bemühungen um Umbau und Rückbau der Innenstädte ging der Suburbanisierungsprozess weiter, teils mit Gewinn für die historischen Kerne und öffentlichen Plätze, teils mit Verlust und Gefährdung. Zu den Vorteilen rechnet die Suburbanisierung der Tankstellen und der Gewerbe- und Handwerksbetriebe aus dem innerstädtischen Raum, der Automobilfirmen und ihrer Reparaturwerkstätten. Als problematisch erweist sich die Entstehung immer neuer Einkaufs- und Fachmarktzentren im suburbanen Raum am Rande der Kernstädte und in verkehrstechnisch besonders günstiger Lage. Der suburbane Raum wurde auch zum Standort von Hotelketten, Diskotheken, Sport- und Fitnesszentren und vielen anderen Betrieben, denen der preiswerte Bodenerwerb und das günstige Parken wichtiger sind als innerstädtische Präsenz. „Peripherie ist überall“ – so fasste ein bekanntes Werk (Prigge 1998) die Entwicklung zusammen. In dieser städtebaulich diffusen Situation erschien 1997 von dem bekannten Stadtplaner und -theoretiker Thomas Sieverts der Band: „Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“. Der Titel gibt das Unbestimmte, Prozessuale dieser neuen Dimension des Verstädterungsprozesses wieder. Zwischenstadt bezeichnet den Bereich „zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den NichtOrten der Raumüberwindung (sprich: den Verkehrsflächen), zwischen den kleinen örtlichen Wirtschaftskreisläufen und der Abhängigkeit vom Weltmarkt“ (Sieverts 2001: 7). Sieverts betont, dass er kein Plädoyer für die Zwischenstadt halte, sondern ein Anhänger der alten Stadt sei. Ihm gehe es darum, die Fakten zu benennen und auch für die Zwischenstadt einen städtebaulichen Rahmenplan anzuregen. „Alle Versuche […], den Bild- und Strukturtypus der historischen europäischen Stadt mehr oder weniger direkt zum allgemeinen und verbindlichen Leitbild für Zukünftiges zu machen“, seien zum Scheitern verurteilt (S. 29).
III. Von der Suburbanisierung zur Zwischenstadt Abb. 16
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An der B7, im U.N.O.
Die am westlichen Stadteingang von Weimar gelegenen Dörfer Ulla, Nohra und Obergrunstedt beschlossen im Jahr 1990 gegen den Willen der Weimarer Stadtplanung die Erschließung eines 185 ha großen Gewerbegebietes: U.N.O. Das Areal gilt mit 1700 Arbeitsplätzen als Thüringens erfolgreichste Investition auf der grünen Wiese. Quelle: Walter Prigge 1998: 183
Die Regionalplanung zeigte und zeigt sich gegenüber den ausufernden Bebauungen und Flächennutzungen der Zwischenstadt relativ hilflos. Die Kalküle potenzieller Investoren und Arbeitsplatzanbieter geben den Ausschlag. In der Konkurrenz der Städte und Gemeinden um Gewerbeansiedlungen werden diesen Betrieben – darunter europa- und z.T. weltweit agierenden Ketten – günstige Standortbedingungen offeriert: vom preisgünstigen Boden bis zur kompletten infrastrukturellen Erschließung. Die Zwischenstadt ist ein universales Phänomen: Man findet sie überall, weil die Produktions- und Marktstrukturen, die Bauaufgaben und Architekturen weltweit sich immer ähnlicher werden, ebenso die Lebensbedingungen in den Zentren der Produktion und des Handels. In vielen Ländern der Welt ist die Zwischenstadt zum dominanten Stadttyp geworden. Sieverts betont, dass die Stadtplaner in Europa, die immer noch auf das Bild der historischen Kernstadt fixiert seien, von diesen Ländern lernen können. Die Zwischenstadt stellt vermutlich nur eine Zwischenstufe in der Dynamik der Stadtentwicklung unter den Vorzeichen von Tertiärisierung und Individualisierung, von exzessivem Flächenverbrauch und Kapitalisierung aller eingesetzten Ressourcen dar. Die Bevölkerungsentwicklung mit dem schnell wachsenden Anteil
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
älterer Menschen könnte dazu führen, dass die Kernstädte als Wohnstandorte wieder an Attraktivität gewinnen und einen Teil des gegenwärtigen Suburbanisierungsprozesses rückgängig machen.
IV. Suburbaner Raum und Verhaltensänderungen 1. Zur Entwicklung des Phänomens Sind die Verhaltensweisen der Menschen in suburbanen Räumen signifikant von Verhaltensweisen der Menschen in anderen Siedlungseinheiten verschieden, so dass es berechtigt ist, von einem Suburbaniten zu sprechen? In der amerikanischen Suburb-Forschung war dies seit entsprechenden Publikationen des Soziologen David Riesman (1957) – Autor des einflussreichen Werkes „Die einsame Masse“ – und des Stadtsoziologen Herbert J. Gans über „Urbanität und Suburbanität als Lebensformen“ (1962) längst ein Thema. Eine der ersten Arbeiten in (West-)Deutschland, die die Ergebnisse der amerikanischen Forschung resümierte, war Klaus F. Wellmanns Beitrag (1969) über Suburbanismus in der amerikanischen Mittelklasse. Bereits Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich auch in (West-)Deutschland ab, dass der Begriff Stadtregion (Olaf Boustedt) bzw. Regionalstadt (Rudolf Hillebrecht) der erreichten Eigenständigkeit des suburbanen Raumes nicht mehr gerecht wurde. Der suburbane Raum ließ sich weder als Vorort – im Sinne der Stadterweiterungen des 19. und beginnenden 20. Jh.s, die aber noch eine enge räumliche Verbindung zur Kernstadt hatten – bezeichnen noch als Agglomeration oder als „Stadt am Stadtrand“ (Zapf et al. 1969); seine Identität ging in diesen älteren Begriffen nicht auf. Vergleichbar früheren Stadien der Stadtentwicklung war der Suburbanismus in seinen ersten Phasen im Wesentlichen das Ergebnis von Wanderungsprozessen, die auf „Austauschbeziehungen“ zwischen Stadtkern und Stadtrandgebieten beruhten. Auf Grund empirischer Befunde in der Bundesrepublik (Herlyn et al. 1971; Weeber 1971; Heil 1971) konnten die suburbanen Räume nicht länger als „Übergangszonen“ (zones de transition) angesehen werden, in denen sich die ländliche Bevölkerung sammelt, bevor sie zum endgültigen „Sprung“ auf die „große Stadt“ ansetzt. In suburbanen Räumen dieser Zeit fand sich diese Bevölkerung nur zu einem – relativ – geringen Prozentsatz. Zur Bevölkerungsstruktur in vier Münchener Neubausiedlungen hieß es: „Die Bevölkerung in den neuen Siedlungen repräsentiert lediglich eine spezifische Auswahl aus der Stadtbevölkerung, nicht aber eine neue soziale Gruppe“ (Zapf et al. 1969: 195). Eine der bekanntesten Differenzierungen von urbaner und suburbaner Lebensform stammte von Herbert J. Gans in seiner bereits erwähnten Arbeit. Seine Aus-
IV. Suburbaner Raum und Verhaltensänderungen
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führungen waren an Louis Wirths Aufsatz über „Urbanität als Lebensform“ orientiert. Gans nannte folgende Unterschiede zwischen Kerngebiet und suburbanem Raum (1974: 76f.): 1. 2. 3. 4.
Er ist von den Arbeitsstätten und Freizeiteinrichtungen der zentralen Geschäftsdistrikte weiter entfernt; er ist neueren Datums und moderner als die Wohngegenden der City. Die Planung kommt weniger dem Fußgänger und den Massenverkehrsmitteln, als dem Autofahrer entgegen; es finden sich eher Vielfamilien- als Einfamilieneinheiten; deshalb ist er weniger dicht besiedelt; die Bevölkerung ist homogener als im Kernstadtbereich und unterscheidet sich in demographischer Hinsicht: Sie ist jünger; ein größerer Teil davon ist verheiratet und verfügt über höhere Einkommen.
Für die Bundsrepublik versuchte Martin Neuffer (1973) eine begriffliche und typologische Erfassung der Siedlungsstruktur und der Lebensbedingungen des suburbanen Raumes durch Einführung des Kunstworts „Agglomerat“ und führte in Abgrenzung und Gegenüberstellung zur traditionalen Stadt (Kernstadt) unter anderem folgende Merkmale an:
Die Nutzungsbereiche seien nicht räumlich, sondern funktionell (durch Verkehrswege) miteinander verbunden; suburbane Räume seien sowohl autogeeignet als auch auf das Auto angewiesen; es gebe keine bzw. nur eine schwache Funktionsdurchdringung und nur eine horizontale Addition von Funktionsbereichen: Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Gewerbegebiete, auch einzelne Fabriken oder Bürokomplexe; die Modernität sei eindimensional (in Anspielung auf das damals bekannte Buch von Herbert Marcuse über den „eindimensionalen Menschen“) und fragmentarisch; weitgehende Austauschbarkeit, Anonymität; die Orientierung im Straßenraum erfolge über technische Hilfsmittel.
Da die Mehrzahl der Menschen im suburbanen Raum auf die Kernstadt bzw. einen größeren Ballungsraum in ihren verschiedenen Aktivitäten bezogen ist, wurden gegen die Charakterisierung als „Suburbaniten“ Bedenken vorgetragen (Schäfers 1975).
2. Suburbaner Raum, Sozialstruktur und sozialer Wandel Die Schwierigkeit bei der Abgrenzung und Kennzeichnung des suburbanen Raumes wie der in diesem Raum lebenden Menschen rührt zunächst daher, dass die mit der Entstehung dieses Raumes verknüpften Prozesse an Eindeutigkeit verloren
100
Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
haben. Die Gestaltungskräfte im suburbanen Raum sind nicht mehr wie in der ersten Phase der Industrialisierung eindeutig mit der industriellen Expansion verknüpft. Der suburbane Raum lässt sich weder „naturgeschichtlich“ interpretieren – eine Erfahrung, die bereits Wilhelm Heinrich Riehl im Hinblick auf das Bewusstsein der sich in den Städten ansiedelnden Proletarier für die früheste Phase der Industrialisierung und Verstädterung formulierte –, noch lässt er sich nach Entstehung und Sozialstruktur klassen- oder schichtenspezifisch deuten. Nicht mehr die Arbeitsteilung –von der schon Justus Möser (1720-1794) sagte, sie zwinge „den Menschen dazu, in großen Städten zu leben“ –, die in der ersten Phase der Industriellen Revolution im 19. Jh. eine Schlüsselvariable bei der Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen war (Marx, Spencer, Bücher, Durkheim), konnte als wichtigster Grund für die neue Phase des Verstädterungsprozesses und die sich dabei herausbildende Struktur des suburbanen Raumes genannt werden, sondern quantitative und qualitative Änderungen in den Produktionssektoren, zumal im tertiären, im Verkehrs- und Wohnungswesen, in den Arbeitsbedingungen und Freizeitgewohnheiten (und damit verbunden in der qualitativen und räumlichen Differenzierung – und Dispersion – der Infrastruktureinrichtungen). Beziehen wir diese Überlegungen zurück auf die eingangs bereits genannten Wanderungsprozesse, dann wird deutlich, dass die Entstehung suburbaner Räume viel differenziertere Bedürfnislagen und soziale Prozesse voraussetzt, als sie einst für die „Städtegründer und Städtefüller“ (Werner Sombart; vgl. S. 80f.) der Industrialisierung und Verstädterung bis zum Ersten Weltkrieg ausschlaggebend waren. Weder der Wechsel vom primären Sektor in den der industriellen Produktion und Fertigung, noch die Wanderung großer binnenländischer Bevölkerungsmassen in die sich herausbildenden industriell-städtischen Agglomerationsräume waren verursachend, sondern überwiegend kleinräumige Wanderungen und Statusverbesserungen, die – bei prinzipieller Beibehaltung des Arbeitsplatzes – sich auf einen Ausgleich des entstandenen Wohnwertgefälles von Kernstadt und suburbanem Raum beziehen. Können für die erste Phase des Industrialisierungs- und Verstädterungsprozesses eindeutig „bessere Berufs- und Arbeitsplatzbedingungen, höhere Einkommen, bessere Aufstiegschancen, größere Sicherheit am Arbeitplatz“ als Wanderungsgründe angegeben werden und waren diese Motive für die Land-Stadt-Wanderung immer noch ausschlaggebend, so sind für die Herausbildung der suburbanen Räume eher die differenzierter wahrgenommenen „Möglichkeiten der sozialen und kulturellen Lebensgestaltung im Wohn-, Freizeit- und Erziehungsbereich“ als Ursache zu nennen (Kaufmann 1974: 287). Im Gegensatz zu früher wird der Arbeitsplatz zumeist beibehalten und das Mobilitätsproblem durch das eigene Auto gelöst.
IV. Suburbaner Raum und Verhaltensänderungen
101
3. Soziale Segregation und soziale Differenzierung in suburbanen Räumen Die architektonische Gestaltung und schichtspezifische Zusammensetzung der Bevölkerung in suburbanen Räumen macht deutlich, dass räumliche und soziale Segregation nicht mehr die aus der Sozial- und Siedlungsgeschichte bekannte hohe Korrelation zeigen, wie sie vor allem in der vorindustriellen Bürgerstadt typisch war, in der „der ständischen Sozialordnung eine spezifische räumliche Verteilung der verschiedenen sozialen Gruppen“ entsprach (Herlyn 1974: 91). Was für „die ökologischen Verteilungsmuster von Berufsschichten in größeren Städten“ gilt: dass „an bestimmte Berufsgruppen fixierte Viertel, z.B. Arbeiterwohnquartiere, seltener geworden sind“ (ebda.: 94), dürfte in weit stärkerem Maße auf die Wohnquartiere in suburbanen Räumen zutreffen. Je mehr sich die Verstädterung auf die Außenbereiche der großen Städte und Ballungsränder konzentrierte, desto weniger typisch wurde der Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Wohnviertel, zwischen Stadtgestalt und Sozialstruktur. Zur Abnahme der sozialen Segregation in suburbanen Räumen trug auch die Bauweise bei, worauf Herlyn aufmerksam machte: „Gerade die häufig vom Staat beauftragte Bauwirtschaft hat aus ökonomischen Effizienzgründen ein Interesse an einer weitgehenden baulichen Standardisierung der Wohnungsbauprogramme in großen Neubausiedlungen nicht nur im äußeren Erscheinungsbild, sondern auch hinsichtlich der Wohnungs- und Haustypen, womit Homogenisierungen in der Sozialstruktur Vorschub geleistet wird“ (Herlyn 1974: 96). Wollte man weitere Gründe für die Abnahme der sozialen Segregation in der Siedlungsweise nennen, so müsste man unter anderem den Rückgang des reinen Werkswohnungsbaus und die für immer größere Bevölkerungsgruppen typische räumliche Differenz von Arbeitsplatz und Wohnort anführen.
4. Veränderungen des Kommunikations- und Öffentlichkeitsverhaltens Typisch für Siedlungseinheiten im suburbanen Raum sind die geringere Kommunikationsdichte und eine Abnahme öffentlichkeitsbezogener Verhaltensweisen. Lässt man einmal die typisch „urbanen“ Verhaltensweisen außer Betracht, so kann dieser Befund aufgrund der geringeren Funktionsmischung in suburbanen Räumen nicht überraschen. Die geringere Funktionsdifferenzierung, die ja auch in der baulichen Gestaltung zum Ausdruck kommt, lässt einer Segmentierung sozialer Rollen wenig Spielraum. Dies kann sich auch auf den Sozialisationsprozess, der in einer bestimmten Perspektive ja als Prozess des Einübens in differente Rollen interpretiert werden kann (Goffman 1974), nachteilig auswirken. Die von der Arbeitswelt
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ausgehenden und auf sie bezogenen Kommunikationsprozesse entfallen vielfach in suburbanen Räumen wegen der gegebenen Trennung von Arbeits- und Wohnbereich. Hinzu kommt eine Abnahme altersdifferenter Kommunikationsprozesse, die sich auf die Struktur der gegenwärtigen Kernfamilie und die in Neubausiedlungen vielfach gegebene hohe Altershomogenität der Bevölkerung zurückführen lässt. Zur Abnahme eines die Wohn- und Siedlungsstruktur umspannenden Kommunikationsnetzes trug bei, dass die Bereiche von Elternhaus, Schule, Nachbarschaft und Arbeitswelt nicht nur räumlich, sondern auch in ihrer normativen Kultur, ihren Konsensbildungsprozessen und integrierenden Motivationen immer weiter auseinander rückten. Die große räumliche Trennung von Arbeits- und Wohnbereich hatte eine noch längere Trennung der Eltern von ihren Kindern zur Folge. Die Kontakte zur Geschäftswelt der „Tante-Emma-Läden“ wurden durch Großeinkäufe der Eltern mit Auto und großem Kofferraum in Selbstbedienungsläden ersetzt. Hierdurch und durch andere Veränderungen des öffentlichen und sozialen Lebens wurden die sozio-ökonomischen Bedingungen des Zusammenlebens immer weniger transparent. Nachteilig auf die Kommunikations- und Öffentlichkeitsstruktur in suburbanen Räumen wirkte sich auch eine relativ hohe soziale, insbesondere horizontale, Mobilität aus. Sie begünstigt weder die Entwicklung dauerhafter sozialer Verflechtungen noch die Herausbildung einer neuen Ortsbezogenheit. Wenn Zapf et al. (1969: 196) für die von ihnen untersuchten vier Münchener Neubausiedlungen als Ergebnis festhielten, „dass dem Rückzug aus der öffentlichen Sphäre […] eine Intensivierung der Privatsphäre“ entspreche, die Entfernung anders geartete Kontakte erschwere und die Siedlungsumwelt solche Kontakte kaum anrege, dann darf das weder als typisch für den suburbanen Raum – auch im Vergleich zu Innenstädten – noch als ein unabänderliches Faktum interpretiert werden. Bereits damals, also vor allem in den 1970en und 1980er Jahren, wurde darüber intensiv diskutiert, wie die Wohnfunktion in die Innenstädte neu integriert werden könne.
V. Die Stadt im Weltverstädterungsprozess 1. Bevölkerungsvermehrung und Verstädterung Die Frage von Lewis Mumford: „Wird die Stadt verschwinden, oder wird sich der ganze Erdball in einen einzigen riesigen Bienenkorb von Stadt verwandeln“, wurde als Motto der Einführung zu diesem Band vorangestellt. Sie ist an dieser Stelle zu wiederholen, gut 40 Jahre später, als Mumford sie stellte. Seither hat der Weltverstädterungsprozess zur Herausbildung von Global Cities (Sassen 1991), Megastädten und Metropolitanregionen bisher nicht gekannter Größe und Häufigkeit geführt.
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„Die Welt wird Stadt“, heißt es bei Eckart Ribbeck (vgl. seine Stadtbilder aus Asien, Afrika und Lateinamerika, 2005). Im Editorial zum Sonderheft „Megastädte“ (Geographische Rundschau 1996) gibt es eine anschauliche Beschreibung des Phänomens Weltverstädterung: „Die Agglomeration Los Angeles ist doppelt so groß wie das Saarland, Städte wie Tokyo oder Mexiko City übertreffen die Niederlande oder Skandinavien an Einwohnern, jeder Quadratkilometer in Calcutta oder Bombay hat mehr Bewohner als mittlere Kreisstädte in Deutschland“. Die zweite Hälfte des 20. und das erste Viertel des 21. Jh.s werden nach Auffassung von Parviz Khalatbari (2000: 459) „als ein einmaliges Kapitel in die demographische Geschichte der Menschheit eingehen“. Von 1950 bis zum Jahr 2030 wird die Weltbevölkerung von 2,5 Mrd. auf 8,5 Mrd. ansteigen, bei überproportionalem Anstieg der städtischen Bevölkerung: von etwa 750 Mio. im Jahr 1950, 3 Mrd. im Jahr 2003 auf etwa 54,9 Mrd. im Jahr 2030 (BiB-Mitteilungen 3/2005: 24). Nachfolgendes Schaubild verdeutlicht das überproportionale Wachstum der städtischen Bevölkerung gegenüber dem Wachstum der gesamten Weltbevölkerung seit dem Jahr 1900. Schaubild 2
Weltbevölkerungswachstum (1650-2030) und Wachstum der städtischen Bevölkerung (1900-2030)
Quelle: Parviz Khalatbari 2000: 460 (dort Verweis auf die Quellen im Einzelnen)
Der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung vergrößerte sich ständig: Betrug er 1900 ca. 10 % und 1950 ca. 30 %, so war er bis zum Jahr 2000 auf 47,4 % der Weltbevölkerung angestiegen und wird im Jahr 2030 über 60 % der
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Weltbevölkerung ausmachen (Khalatbari, 2000: 460). Gab es im Jahr 1900 erst 20 Millionenstädte von denen fünf in Europa lagen (London, Paris, Berlin, Wien, St. Petersburg), so sind es gegenwärtig etwa 370. Von ihnen werden jene als Megastädte bezeichnet, die über 5 Mio. Einwohner haben (zur Abgrenzung und im historischen Vergleich Bronger 1996). Eine besondere Herausforderung liegt in der Problematik, dass das städtische Bevölkerungswachstum im Lauf der nächsten Jahrzehnte verstärkt in den Megastädten der Schwellen- und besonders der Entwicklungsländer zu verzeichnen sein wird. Schaubild 3
Das Bevölkerungswachstum der Zukunft findet in den Städten der Entwicklungsländer statt
Quelle: http://www.dsw-online.de/pdf/bev-wachstum_staedte.pdf (10.05.2006)
Die Bilder von Rio de Janeiro sind typisch für den Weltverstädterungsprozess und zeigen die zwei Seiten einer Medaille: hier die hoch verdichtete Stadt, zumeist dominiert von Wolkenkratzern, und im Umfeld und an der Peripherie Slums und Elendshütten der Zugewanderten und der Armutsbevölkerung.
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Ansichten von Rio de Janeiro Abb. 17
Bürotürme
Wie in allen Metropolen der Welt sind auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern die Cities/downtowns und damit die Stadtsilhouette von Hochhaustürmen beherrscht
Abb. 18
Favelas
Typisierende Benennungen für die Notunterkünfte/Elendsviertel am Rande der großen Stadt in Südamerika: Peru (Lima) „Barriadas“; Brasilien „Favelas“; Mexiko „Villas Miserias“; Venezuela „Rauchos/Rauchitos“; Kolumbien „Barrios clandestinos“ (die heimlich erstellten Viertel) Quelle: Eckhart Ribbeck 2005: 91/97
Dass diese Prozesse, die in unvorstellbar kurzer Zeit ablaufen, mit einer völligen Umstrukturierung der Bevölkerung und des Verhältnisses von Innenstadt und Außenbezirken verbunden sind, kann am Beispiel von Chicago gezeigt werden: 1960 hatte die Innenstadt 3,6 und 1990 2,8 Mio. Einwohner; im gleichen Zeitraum stieg die Einwohnerzahl der Vororte von 2,7 auf 4,5 Mio. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung änderte sich im gleichen Zeitraum wie folgt: der Anteil der Weißen fiel von 75 auf 43 %, der der Schwarzen stieg von 23 auf 36 %. Eine enorme Zunahme verzeichneten die Hispanics von 2 auf 18 % und die Asiaten von 1 auf 3 % (vgl. Wieland 1996).
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2. Globalisierung und Global Cities Neben den bereits genannten Trends, die als primär verursachend für die Herausbildung der ökonomischen und sozialen, aber auch der städtischen Strukturen seit der Doppelrevolution anzusehen sind (vgl. S. 52ff.), ist seit den 1980er Jahren der Trend zur Globalisierung hinzugekommen. Im politischen Prozess wird gerade dieser Trend oft als Rechtfertigung für die bisher versäumten strukturellen und institutionellen Reformen herangezogen. Der Begriff Globalisierung ist nur dann aussagekräftig, wenn er die Spezifika einer neuen Form weltweiter Vernetzung und Abhängigkeit hervorhebt. Denn weltweite Handelsbeziehungen gab es schon zur Zeit des Römischen Weltreichs (bis nach China), verstärkt und erstmalig weltumspannend seit Ausdehnung der Kolonialreiche im 15. Jh. (zur Ausbreitung der kapitalistischen Weltmarktsysteme vgl. Wallerstein 1974/1980). Im „Kommunistischen Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1848 konnte bereits festgestellt werden: „Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitet. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben“. Ein Land und ein Kontinent nach dem anderen, eine Ware – incl. der Kulturgüter – nach der anderen wurden in dieses Geschehen einbezogen. Auf der ersten Weltausstellung 1851 in London, der größten Stadt der Welt und dem Zentrum des Weltmarktes, wurde das bereits vor mehr als einhundert Jahren vor Augen geführt. Das Besondere der gegenwärtigen, erst nach Beginn der „digitalen Revolution“ ermöglichten Stufe der Globalisierung kann in folgenden Punkten gesehen werden (vgl. Beck 1997; Castells 2001; Fürstenberg/Oesterdiekhoff 2004):
die Zunahme transnationaler Unternehmen, Investitions- und Finanzströme; der über die neuen Medien ermöglichte Austausch von riesigen Datenmengen, Informationen und Arbeitsaufgaben zu jeder Zeit an jeden Ort der Erde; die Auswirkungen der globalisierten Formen von Arbeitsteilung auf die nationalen Volkswirtschaften, den Sozialstaat und die Migrationsströme (die sich überall auf die Städte konzentrieren); die praktisch mögliche und im rasanten Ausbau befindliche Erreichbarkeit jedes Individuums über E-Mail oder Telefon in Echtzeit.
Als 1991 von der New Yorker Stadtsoziologin Saskia Sassen der Band The Global City erschien, der bereits im Titel New York, London und Tokyo ins Zentrum der Weltökonomie stellte, wurde dies zunächst als Orientierungshilfe im Globalisierungs- und Weltverstädterungsprozesses gesehen. Nicht mehr die Nationen steuern die Volkswirtschaften, sondern die in diesen neuen Weltmetropolen ansässigen Finanz- und Börsenzentren, die weltumspannenden Medienzentren und Werbeagenturen. Global Cities, so führte Saskia Sassen aus, sind in völlig neuer Art sys-
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tematisch und hochgradig miteinander verknüpft. Schon aus den Börsennachrichten geht hervor, dass die drei genannten Global Cities die Zeitzonen der Welt umspannen und die Ergebnisse von Tokyo auch das Börsengeschehen in den beiden anderen Weltmetropolen beeinflussen. Als weiteres Charakteristikum der Global Cities nennt Sassen (1991: 3f.) deren Stellenwert als Standorte von Innovationen in den führenden Wirtschaftsbranchen (vgl. hierzu auch, mit vielen Beispielen, von Petz/Schmals 1992). Nachfolgende Abbildung veranschaulicht die Konzentration der Wirtschaftszentren in Asien. Abb. 19
Megastädte mit mehr als 10 Mio. Einwohnern
Quelle: BiB-Mitteilungen 03/2005, Karte 7b
Die zentralen Aussagen von Sassen wurden vielfach kritisiert, insbesondere die unterstellte Hierarchisierung der genannten Weltstädte und ihre Bedeutung für Innovationen. In der Tat finden sich z.B. bedeutende High-Tech-Firmen, Forschungslabors und die für Innovationen wichtigsten Technischen Universitäten auch in anderen Städten, z.T. sogar in bisher eher peripheren Räumen wie Finnland, Irland oder Bangalore in Indien. Der Trend zur foot-loose-industry, die in ihren Standorten weder auf Rohstoffe noch auf herkömmliche Verkehrs- und Transportmittel angewiesen ist, hat sich im digitalen Zeitalter beschleunigt fortgesetzt – bei Bedarf wird ein neuer Flughafen gebaut, sei es im Meer oder in der Wüste.
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3. Stufen im Weltverstädterungs- und Zivilisationsprozess Es ist unstrittig, dass die Stadt und die Ausbreitung zivilisatorischer Muster einen engen Zusammenhang haben (vgl. Kap. I). Zumindest gilt dieser Satz für die ersten, aus heutiger Sicht für die Vorläufer-Stufen, eines die Welt umspannenden Globalisierungsprozesses:
die Expansion des Städtesystems in der griechisch-römischen Antike; die Expansion des Städtesystems und Städterechts im Mittelalter; die Expansion des Städtesystems in der frühen Neuzeit durch Übertragung dieser Muster, z.B. durch entsprechende spanische Dekrete auf die „Neue Welt“; die Expansion europäischer Stadtmuster und zivilisatorischer Errungenschaften durch Kolonialmächte – zumal England und Frankreich, die Niederlande und Belgien – seit dem 17. Jh. u.a. in Afrika und Australien, Indien und Indonesien.
Seit dem Ende der Kolonialzeit, das – Lateinamerika ausgenommen – erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte, stieß die Ausbreitung zivilisatorischer Standards durch die weltweite Übertragung europäischer Stadtstrukturen zunehmend an Grenzen. Neubewertungen und politische Aktualisierungen von Ethnie und Religion, Kultur und Geschichte bringen vorstaatliche Grundlagen des Zusammenlebens wieder zur Geltung. Folgt man Thomas Hobbes (1588-1679) und seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft mit der Schaffung gewaltfreier Handlungsspielräume für die Bürger und einem starken Staat zur Überwachung der Gesetzte, dann sind diese vor-modernen Grundlagen wenig geeignet für das friedliche Zusammenleben der Völker und Religionen, wenn sie zur Basis des Staatsverbandes gemacht werden. Auch die Demokratie stößt, nun unter der Vorherrschaft und Vormundschaft der USA, an Grenzen der Akzeptanz bzw. auf Ablehnung. So beschränken sich die übertragenen und gegenwärtig übertragbaren Standards im Weltverstädterungsprozess nicht so sehr auf Zivilisation und Kultur, sondern auf technische und architektonische, städtebauliche und infrastrukturelle Angleichungen, z.B. bei Flughäfen, Stadien und Shoppingmalls als Symbolen einer weltweiten neuen Massenkultur. Sie werden von den Weltstars der Architektur und des Städtebaus überall errichtet – auch dies ist ein stadtspezifisches Globalisierungsphänomen. Dem durchschnittlichen Massentourist, der den Reisenden ersetzt, scheint dies ohnehin gleichgültig, solange die Standards der Hotels vertraut und die Sicherheit garantiert sind.
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Informationsteil
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Wieland, Leo, Chicago ist die “Quintessenz des Amerikanischen”, in: FAZ vom 26.8.1996 Zapf, Katrin/Karolus Heil/Justus Rudolph, Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchener Neubausiedlungen, Frankfurt/M. 1969
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Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image, Kapitalismus und Stadtentwicklung Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image
I. Hans Paul Bahrdt Zwei Städte prägten Leben und Werk von Hans Paul Bahrdt besonders: Dresden, wo er 1918 geboren wurde, und Göttingen, wo er seit 1962 als Ordinarius für Soziologie wirkte und 1994 verstarb. Mit dem 1961 in der damals für das intellektuelle und wissenschaftliche Leben in Deutschland wegweisenden Reihe, „Rowohlts deutsche Enzyklopädie“ (rde), erschienenen Band „Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau“ verfasste Bahrdt so etwas wie eine Standortbestimmung der Stadtsoziologie und gab für das expandierende Städtesystem dieser Zeit Leitlinien für den urbanen und humanen Städtebau. Auf dem Höhepunkt der damals – im Zusammenhang der Studentenrevolte und allgemeinen Gesellschaftskritik – sehr erregten Diskussion um die Gestaltung der städtischen Umwelt erschien 1968 als zweite wichtige Schrift „Humaner Städtebau“. Zum Stellenwert des stadtsoziologischen Werkes von Bahrdt – auch im Hinblick auf das Städtebauförderungsgesetz von 1971 – wurden im Text selbst bereits einige Anmerkungen gemacht (vgl. auch die Ausführungen von Ulfert Herlyn zur Neuausgabe des Buches von 1961 im Jahr 1998). Für seine Verdienste um einen „humanen Städtebau“ wurde Hans Paul Bahrdt 1979 mit dem Preis für Stadtforschung und Städtebau der Fritz-Schumacher-Stiftung ausgezeichnet. Bahrdt, Hans Paul, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, hrsg. von Ulfert Herlyn, Opladen 1998 (zuerst 1961), S. 89-93 Darstellendes Verhalten Die doppelte Aufgabe der neu entwickelten und stilisierten Verhaltensweisen ist es also, einerseits zu verhüllen, was der nur beschränkt kalkulierbaren sozialen Umwelt vorenthalten werden soll, andererseits ihr all das, was für sie bestimmt ist, deutlich genug zu zeigen, damit auch im flüchtigen Kontakt ein Arrangement gelingt. Die äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens ist deshalb weniger ein natürlich hervorwachsender Ausdruck eines Innern, sondern vielmehr ein „Sich-geben“, ein Auftreten, ein Sich-darstellen oder auch ein abstraktes, von der Sache, um die es geht, abgelöstes Geben von Zeichen. Die hier gemeinten Stilisierungen des Verhaltens kann man schon auf jedem Wochenmarkt beobachten, wo von moderner Verkaufspsychologie noch nichts bekannt ist. Welche Virtuosität wendet der routinierte Händler an, wenn er durch Stimme und Art der Auslage die Aufmerksamkeit der vorübergehenden Unbekannten auf sich lenkt und zwischendurch mit völlig veränderter Stimme ein Geschäft abwickelt. Welche Geschicklichkeit entwickelt der erfahrene Käufer, der gleichsam witternd und sichernd einhergeht, sich alles ansieht, was angeboten wird, ohne sich vorzeitig festnageln zu lassen. Wir entdecken hier ein uraltes, aber raffiniertes Spiel um Kontaktaufnahme und Kontaktauflösung, das einen völligen Gegensatz bildet zu der vielleicht noch älteren, schwerfälligen, ritualisierten, ebenfalls schon hochentwickelten Form der Kontaktaufnahme eines archaischen Gastgebers mit
Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image
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einem fremden Gast. Im letzteren Fall kommt es auf die Herstellung der dauerhaften Bindung einer Gastfreundschaft an, wobei die Feststellung, daß vielleicht doch irgendeine entfernte Verwandtschaft oder Verschwägerung oder vielfältig vermittelte Freundschaftsbeziehung vorliegt, eine wichtige Rolle spielt. Kehren wir zum Leben und Treiben auf städtischen Straßen zurück! Es genügt z.B. nicht, im Straßengewühl auf einen anderen nur einfach Rücksicht zu nehmen. Man muß ihm dies auch verständlich machen. Man begnügt sich also nicht damit, den anderen zuerst durch einen engen Torweg gehen zu lassen, sondern tritt ausdrücklich zurück und unterstreicht dieses Zurücktreten mit einer Geste. Das Verhalten läuft nicht nur ab, sondern stellt sich selbst noch einmal dar. Auf diese Ausdrücklichkeit kommt es an. Darstellung ist mehr als bloßer Ausdruck. Sie ist nicht das Hervorwachsen eines Tuns oder Seins zur Sichtbarkeit. Darstellung ist ein vollzogener Akt, der freilich habituell werden kann: ein Sichtbarmachen von etwas, das nicht ohne weiteres sichtbar ist. Natürlich ist alles menschliche Leben durchsetzt von darstellendem Verhalten dieser Art. In einer Welt mit offener sozialer Intentionalität kommt ihm aber eine erhöhte Bedeutung zu. Man erkennt dies z.B., wenn man städtische Umgangsformen mit ländlichen vergleicht, insbesondere, wenn man die jeweiligen abwertenden Urteile der Städter über den Bauern und des ländlichen Menschen über den Städter vergleicht. Als „rustik“ oder „rustikal“ bezeichnet man ein Benehmen, dem alles „Verbindliche“ fehlt. Der ländliche Mensch beträgt sich in der Tat oft weniger verbindlich, weil er es nicht so oft wie der Städter nötig hat, über eine Distanz hinweg rasch Verbindungen herzustellen. Der Landbewohner wiederum neigt dazu, das Betragen des Städters „übertrieben“, „exaltiert“ zu finden. Exaltiertheit läßt sich beschreiben als ein Übermaß an darstellenden Gesten, als übergroße Ausdrücklichkeit bei allem, was man tut. In pathologischer Form tritt sie bei Menschen auf, deren Verhalten von der permanenten Furcht beherrscht ist, ihr Tun und Sprechen könne vielleicht nicht „ankommen“, die also eine Kontaktschwäche kompensieren. Aus der Perspektive einer ländlichen Umwelt, in der eine ständige Verdeutlichung des eigenen Verhaltens zur Herstellung von Kontakten nicht nötig ist, muß der übliche städtische Habitus in der Tat als exaliert erscheinen. Repräsentation Vergegenwärtigen wir uns wieder typische Situationen städtischen Lebens. Der einzelne begegnet kurzfristig vielen unbekannten oder wenig bekannten Menschen. Oder aber es ist fraglich, ob sich unter den Unbekannten nicht einzelne finden, denen man schon einmal begegnet ist. Es genügt nicht, mit den andern nur technisch „zurechtzukommen“. Man will, so flüchtig der Kontakt immer ist, als etwas gelten. Dies ist schon für die technische Abwicklung der Kontakte notwendig. Wer beachtet werden will, muß geachtet werden. Nun begegnet aber der einzelne dem anderen nur als abstrakt bleibender Träger eines zufälligen Verhaltens und einer zufälligen Erscheinung. Er muß also versuchen, in den winzigen Ausschnitt, der von seiner Person sichtbar wird, so viel hineinzulegen, daß dieser Ausschnitt die Umrisse einer konkreten Person erkennbar macht. Damit dieser Teil für das Ganze als „pars pro toto“ gelten kann, wird er durch darstellende Momente angereichert. Damit dies gelingt, geschieht zweierlei: Erstens muß das Verhältnis in der Weise stilisiert sein, daß es auch tatsächlich dem anderen etwas von der sich darstellenden Person mitteilt. Es muß trotz der Distanz „ankommen“, verstanden werden. Es darf trotz der Distanz nicht befremdlich
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sein. Zweitens ist es nötig, daß der dargestellte, über das jeweilige Verhalten hinausgreifende Inhalt auch von der Art ist, daß er Kommunikation erzeugt. Er muß an irgendein Gemeinsames, Verbindendes appellieren, damit die sich selbst darstellende Person der anderen als anerkennenswert und einer Kommunikation wert erscheint. Es kann geschehen, daß der Akzent völlig auf das Gemeinsame verlegt wird. Ihm ist dann die Selbstdarstellung als einer anerkennenswerten Person untergeordnet. In der Regel hält das Verhalten eine Mitte ein: Es verweist auf die Individualität, die sich aus der Menge heraushebt und Beachtung fordert. Aber es stellt die Individualität in den Rahmen gemeinsamer, verbindender Wertungen, damit die Beachtung Achtung und Anerkennung sei. Dieses Verhalten bezeichnen wir als Repräsentation. Repräsentation ist eine Form der Selbstdarstellung, in der ein Subjekt sowohl sich selbst als auch ein Gemeinsames, das nicht ohne weiteres sichtbar ist, sichtbar macht und hierdurch Kommunikation und Integration ermöglicht. Seine Voraussetzung ist die Distanz einer unvollständig integrierten Umwelt, ohne die ein repräsentatives Verhalten unnötig wäre. Es wird auch in dem Augenblick unnötig, in dem die Distanz wegfällt und eine völlige – echte oder unechte – Vertrautheit zustande kommt. In einer Massenversammlung bedarf es keiner stilisierten Selbstdarstellung. Man duzt sich und schlägt sich auf die Schulter. Von der Repräsentation in diesem Sinne muß man das bloße Geben eines Zeichens, dem in einer funktionierenden Öffentlichkeit ebenfalls eine große technische Bedeutung zukommt, unterscheiden. Ihm fehlt das Moment der Darstellung, damit auch der Anschaulichkeit. Von Repräsentation ist auch das „Imponiergehabe“ abzuheben, das nicht nur in der Tierwelt zu beobachten ist. Dem Imponiergehabe fehlt nicht das Moment der Darstellung. Dennoch ist es nicht repräsentativ; denn es stellt gerade nicht ein Gemeinsames, Verbindendes dar, sondern einen Größenunterschied im wörtlichen oder übertragenen Sinn. Es wäre falsch, wollten wir das Bedürfnis zu imponieren aus unseren Betrachtungen ausklammern. In einer unvollständig integrierten Umwelt geht es, wie gesagt, nicht nur darum, die Distanz zu überbrücken, sondern auch, sie aufrechtzuerhalten. Jeder einzelne hat das Bedürfnis, sich den andern, mit dem er sich arrangieren will, gleichzeitig so weit vom Leibe zu halten, daß er in die privatisierten Bereiche nicht einbricht. Außerdem gibt es auch in einer solchen Gesellschaft Spannungen und Rangunterschiede, die das Individuum nicht zu verwischen wünscht. Gerade die Labilität der Rangunterschiede in einer unvollständig integrierten Gesellschaft, die zur Rivalität herausfordert, legt in vielen Fällen ein aggressives, imponierendes Verhalten nahe. Die defensive Abschirmung privater Bereiche reicht nicht aus. Wenn wir hier theoretisch Imponiergehabe und Repräsentation unterscheiden, so bedeutet dies nicht, daß beides sich nicht miteinander verbinden könne. Eine soziologische Betrachtung der Geschichte des Städtebaus wird eine ganze Skala von Möglichkeiten solcher Verbindungen feststellen. Sie wird erstens entdecken, daß das Mischungsverhältnis von Repräsentation und Imposanz ganz verschieden sein kann, je nachdem, wie stark der Unterschied oder die Gemeinsamkeit von Ständen und Klassen bzw. von öffentlicher Gewalt und Bürgerschaft betont werden sollte, zweitens, daß es ganz verschiedene Institutionen, Gruppen und Individuen waren, denen man das Recht zubilligte, zu imponieren – nicht nur zu repräsentieren. Die Adelstürme in San Gimignano, die Signoria und der Dom von Siena, die Würzburger Residenz, die Bürohochhäuser einer modernen City.
Anhang: Texte zu Theorien von Stadtgestalt und -image
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Auch an manche kurz vor und nach der Jahrhundertwende entstandenen Werkssiedlungen könnte man denken: In der Mitte lagen die Dienstvillen der Direktoren, umgeben von den etwas kleineren Prokuristenhäusern. Dieser Siedlungskern war umgeben von Straßen geduckter Arbeiterhäuschen: Das Ganze ist eine bewußte Darstellung der Einheit des Werkes, aber auch seines inneren Machtgefälles.
II. Kevin Lynch Kevin Lynch (1918-1989) unternahm den bis heute wohl bekanntesten Versuch, die Grundlagen der „Lesbarkeit“ und Memorierbarkeit einer Stadt empirisch zu erarbeiten. Zusammen mit den an Umberto Eco (geb. 1932) orientierten Werken zur Semiotik als Architektursprache (vgl. hierzu den Bd. „Architektursoziologie“, Schäfers 2006: 47f.) liegt hier ein Repertoire an Einsichten und Instrumenten vor, die Stadt als „Zeichen“ zu sehen und nach ihrer Bedeutung für das „StadtImage“ zu fragen. Kevin Lynch war als Architekt Schüler von Frank Lloyd Wright (1869-1959) und wuchs in der für das moderne Städtesystem allgemein, aber auch für die Stadtsoziologie so wichtigen Metropole Chicago auf. Sein Werk The Image of the City erschien amerik. 1960 (dt. 1965 in der für Architektur und Städtebau wichtigen Reihe „Bauwelt Fundamente“). Im Folgenden werden grundlegende Passagen aus den unterschiedlichen Kapiteln zitiert. Lynch, Kevin, Das Bild der Stadt, Berlin/Frankfurt/Wien 1965 Dieses Buch handelt vom Aussehen der Städte und davon, ob dieses Aussehen von irgendwelcher Bedeutung ist und ob es verändert werden kann. Die Stadtlandschaft ist u.a. etwas, das man sehen, im Gedächtnis behalten und an dem man sich freuen soll. Der Stadt eine visuell faßbare Form zu geben, das ist ein ganz besonderes Problem für die Planung – und ein vollkommen neues dazu. […] Das Bild der Umwelt Jeder Stadtbewohner fühlt sich mit irgendeinem Teil seiner Stadt eng verbunden, und sein Bild malt sich in den Farben von Erinnerungen und Bedeutungen. […] Wenn auch Klarheit bzw. Ablesbarkeit keineswegs die einzige wichtige Eigenschaft einer schönen Stadt ist, so ist sie doch von besonderer Bedeutung, wenn man die Umgebung im Zusammenhang mit dem Maßstab der Stadt in bezug auf Dimension, Zeit und Verzweigtheit betrachtet. Um das zu verstehen, müssen wir die Stadt nicht einfach als ein Ding an sich betrachten, sondern so, wie sie von ihren Einwohnern wahrgenommen wird. […] Beim Prozeß des Sichzurechtfindens besteht das strategische Hilfsmittel in der Vorstellung von der Umgebung, in dem allgemeinen geistigen Bild, das sich eine Person von der äußeren Welt der Erscheinungen macht. Dieses Bild ist ein Produkt aus unmittelbarer Erfahrung; es wird benutzt, um Wahrgenommenes zu deuten und der Handlung eine Richtung zu geben. Das Bedürfnis, unsere Umwelt zu erkennen und zu „etikettieren“, ist so wesentlich und wurzelt so tief in der Vergangenheit, daß dieses erwähnte Bild für das Individuum einen ungeheuren praktischen und gefühlsmäßigen Wert hat. […]
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
Eine gute Vorstellung von der Umgebung verleiht dem, der darüber verfügt, ein ausgeprägtes Bewußtsein gefühlsmäßiger Sicherheit. Er ist in der Lage, eine harmonische Verbindung zwischen sich selbst und der Außenwelt herzustellen. Die gegenteilige Empfindung ist die der Angst, die einen überfällt, wenn man sich verirrt; […]. Das Vorstellungsbild der Umwelt enthält die folgenden drei Komponenten: Identität, Struktur und Bedeutung. Es ist zweckmäßig, diese drei bei der Untersuchung gesondert zu betrachten – man darf dabei nur nicht vergessen, daß sie in Wirklichkeit zusammengehören. Ein brauchbares Bild erfordert zunächst die Identifizierung eines Gegenstandes, die es möglich macht, ihn von anderen Gegenständen zu unterscheiden und als „Separat“-Wesen zu erkennen. Wir nennen die „Identität“ – nicht im Sinn der Übereinstimmung mit irgend etwas anderem, sondern im Sinn von „Individualität“ oder „Ganzheit“. Zweitens muß das Bild eine räumliche oder strukturelle Beziehung des Gegenstands zum Beobachter und zu anderen Gegenständen enthalten. Und schließlich muß der Gegenstand für den Betrachter irgendeinen Sinn haben – entweder praktisch oder gefühlsmäßig. „Sinn“ ist ebenfalls eine Beziehung, die sich ganz und gar von räumlichen Beziehungen unterscheidet. [..] Das Stadtbild und seine Elemente Die Elemente der bis jetzt untersuchten Stadtbilder, die sich auf gegenständliche Formen beziehen, können leicht in fünf Typen gegliedert werden: Wege, Grenzlinien, Bereiche, Brennpunkte und Merkzeichen. Tatsächlich können diese Elemente allgemein zugrunde gelegt werden, da sie bei vielen Typen von Umweltbildern immer wieder in Erscheinung treten, […]. Diese Elemente kann man wie folgt definieren: 1.
Wege. Wege sind die Kanäle, durch die sich der Beobachter gewohnheitsmäßig, gelegentlich oder möglicherweise bewegt. Es kann sich dabei um Straßen, Spazierwege, Verbindungswege, Wasserwege, Eisenbahnen handeln. Für viele Leute stellen diese Wege die vorherrschenden Elemente in ihrem Umgebungsbild dar. Sie beobachten die Stadt, während sie sich durch sie hindurchbewegen, und längs dieser Bewegungslinien sind – auf sie bezüglich – die anderen Umgebungselemente angeordnet. 2.
Grenzlinien (Ränder). Grenzlinien oder Ränder sind diejenigen Linearelemente, die vom Beobachter nicht als Wege benutzt oder gewertet werden. Sie sind die Grenzen zwischen zwei Gebieten, lineare Unterbrechungen des Zusammenhangs; Küsten, Eisenbahnstrecken, Baugebietsränder, Mauern. Sie stellen eher „seitliche Richtmarken“ als Koordinatenachsen dar. Solche Grenzlinien können z.B. als mehr oder weniger überwindbare Schranken gelten, die das eine Gebiet vom anderen abschließen; oder aber sie können als Säume, als Nähte, als Linien betrachtet werden, die zwei Gebiete aneinanderfügen und miteinander in Verbindung bringen. Für viele Leute sind diese „Randelemente“, wenn sie auch nicht so eine wesentliche Rolle spielen wie die Wege, doch immerhin wichtig als Elemente der Gliederung –
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insbesondere da, wo sie Bezirke zusammenfassen, z.B.: Wasser oder Mauer als Umrißlinie einer Stadt. 3.
Bereiche. Bereiche sind die mittleren bis großen Abschnitte einer Stadt – und zwar werden sie als zweidimensionale Gebiete wahrgenommen, in die der Beobachter „hineingeht“ und deren jedes auf Grund seines irgendwie individuellen Charakters erkennbar ist. „Von innen“ stets zu identifizieren, werden sie auch „von außen“ als Referenz benutzt – wenn sie von außerhalb erkennbar sind. Die meisten Leute gliedern ihre Stadt auf diese Weise – mit dem Unterschied, daß hier Wege, dort Bereiche die vorherrschenden Elemente sind. Das scheint nicht nur von dem Individuum, sondern auch von der jeweiligen Stadt abzuhängen. 4.
Brennpunkte. Brennpunkte sind die strategischen Punkte einer Stadt, die einem Beobachter zugänglich sind; sie sind intensiv genutzte Zentralpunkte, Ziel und Ausgangspunkt seiner Wanderungen. In der Hauptsache können sie als Knotenpunkte gelten, als Verkehrsunterbrechungen, als Kreuzungen oder Treffpunkte von Straßen – als Punkte, in denen eine Struktur in die andere übergeht. Oder aber die Brennpunkte können einfach als Konzentrationspunkte angesehen werden, deren Bedeutung in der Verdichtung von Benutzungszwecken oder in einer ausgeprägten Eigenart besteht: z.B. im Fall einer Straßenecke oder eines geschlossenen Platzes. Einige dieser Konzentrationspunkte sind zugleich Zentrum und „Inhaltsangabe“ eines Bereiches, über den sie ihren Einfluß ausstrahlen und dessen Symbole sie darstellen. Man könnte sie als Kernpunkte bezeichnen. Viele Brennpunkte sind Knoten- und Konzentrationspunkte zugleich. Der Begriff „Knotenpunkt“ ist eng mit dem Begriff „Weg“ verknüpft, da in einem solchen Punkt Wege zusammenlaufen – Knotenpunkte sind die Ereignisse einer Fahrt oder Wanderung.. Sie stehen auch in Zusammenhang mit dem Begriff „Bereich“, da sie deren Mittelpunkte, ihre Polarisationszentren bilden. Immerhin treten in fast jedem Bild einige Brennpunkte in Erscheinung, und mitunter nehmen sie in dem Bild sogar eine vorherrschende Stellung ein. 5.
Merk- oder Wahrzeichen. Merkzeichen stellen eine andere Art von „optischen Bezugspunkten“ dar. – In sie kann allerdings der Beobachter nicht „eintreten“, sie sind äußere Merkmale. Gewöhnlich finden wir hier ganz einfache Objekte: Gebäude, Schilder, Warenhäuser oder auch Anhöhen. Ihre Benutzung erfordert das Aussondern eines einzelnen Elementes aus einer Unmenge von Möglichkeiten. Viele dieser Merkzeichen befinden sich in einiger Entfernung vom Beobachter, sie wirken typisch von verschiedenen Standpunkten aus und in verschiedenen Abständen; sie überragen kleinere Elemente und dienen als „Radialmarken“. Sie können innerhalb der Stadt liegen oder auch so weit entfernt, daß sie für jedes beliebige Ziel eine konstante Richtung angeben. […]
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
Diese Elemente sind nicht mehr als das Rohmaterial, aus dem sich das Umwelt-Image einer Stadt zusammensetzt. Sie müssen entsprechend zusammengefügt werden, um eine befriedigende Form zu ergeben. […] Solche Paare können sich gegenseitig reflektieren und damit ihre Wirkung steigern. Sie können aber auch in Konflikt miteinander stehen und sich gegenseitig zerstören. […] Obwohl die moderne Riesenstadt längst kein seltenes Phänomen mehr ist, gibt es nirgends in der Welt eine Stadtlandschaft, die sich durch einen ins Auge fallenden Charakter oder durch deutliche Gliederung unterscheiden würde. Die berühmten Städte leiden alle unter der gleichen gesichtslosen Streubebauung an der Peripherie. […] Die Stadt wird nicht nur für eine Person, sondern von Menschen von verschiedenstem Herkommen, Beruf, Stand und Temperament gebaut. Unsere Analysen deuten auf beträchtliche Verschiedenheiten in der Art, wie Menschen ihre Stadt sehen, welche Elemente ihnen am meisten bedeuten und welche formalen Qualitäten sie am meisten ansprechen. Der Entwerfer muß darum eine Stadt gestalten, die so reich wie möglich mit Wegen, Grenzlinien, Merkzeichen, Brennpunkten und Bereichen ausgestattet ist, eine Stadt, in der nicht nur ein oder zwei, sondern alle formalen Eigenarten zum Ausdruck kommen. Dann werden die verschiedenen Betrachter genug Material vorfinden, das ihrer Art, die Welt zu betrachten, entspricht. […] Der neue Maßstab Ein klares und umfassendes Image für ganze Stadtregionen zu entwickeln ist die Hauptaufgabe der Zukunft. […] Großräumige und dabei einprägsame Gebiete gibt es heute kaum. […] Sicherlich wird die Form der Stadt oder der Stadtregion nicht irgendeine gigantische geschichtete Ordnung aufweisen. Sie wird einer komplizierten Struktur gleichen, die Kontinuität und Einheitlichkeit aufweist und gleichzeitig vieldeutig und beweglich ist. Sie muß sich den Wahrnehmungsgewohnheiten vieler Menschen anpassen, Wechsel in Funktion und Bedeutung sowie die Bildung neuer Bildzusammenhänge zulassen und möglich machen. […] Beim Aufbau eines Image wird die Erziehung zum Sehen beinahe ebenso wichtig sein wie die Umgestaltung dessen, was gesehen wird. […] Eine hochentwickelte Stadtbaukunst setzt die Bildung eines aufmerksamen und kritischen Publikums voraus. Wenn sich Kunst und Gesellschaft gegenseitig befruchten, dann werden unsere Städte eine Quelle täglicher Freude für die Millionen ihrer Einwohner sein.
III. Manuel Castells (I) In den 1970 und 1980er Jahren entwickelte sich im Zusammenhang der Studentenrevolte in der westlichen Welt und damit einer verbreiteten anti-kapitalistischen und pro-marxistischen Stimmung der Ansatz der New Urban Sociology, als deren bekannteste Vertreter Manuel Castells, Peter Saunders und Chris Pickwance gelten können. Damit ist kein einheitliches Theoriegebäude formuliert – dem Anspruch nach noch am ehesten bei Castells (1977). Bereits Saunders kritisierte den Ansatz von Castells als überzogen (vgl. auch die
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kritischen Texte in Krämer/Neef 1985 und die Darstellung bei Häussermann/Siebel 2004: 97ff.). Manuel Castells wurde 1942 in Spanien (in der Nähe von Barcelona) geboren. Er gehört zu den bekanntesten Stadttheoretikern, und seit Veröffentlichung seines dreibändigen Werkes über The Information Age (1996ff.; auf dt. 2001 ff.) zu den viel diskutierten Gesellschaftstheoretikern. Castells floh 1959 aus Franco-Spanien und ging nach Paris, wo er Schüler von Alain Touraine wurde (ihm widmete er später sein Werk The City and the Grassroots). Auch aus Frankreich wurde er im Zusammenhang mit den Studentenunruhen 1968 ausgewiesen und ging nach Chile. Durch Touraines Fürsprache zurückgekehrt, arbeitete er an dem Buch, das ein Schlüsselwerk in der New Urban Sociology werden sollte: La question urbaine. Aus diesem Werk werden nachfolgend einige Passagen zitiert. Castells, Manuel, Die kapitalistische Stadt. Ökonomie und Politik der Stadtentwicklung. Hamburg 1977 (orig. franz. 1973), S. 25-27 Entgegen einer allzu weit verbreiteten naiven Ansicht führt die Entwicklung des industriellen Kapitalismus nicht zu einer Stärkung der Stadt, sondern zu ihrem fast völligen Verschwinden als relativ autonomen institutionellem und sozialem System, das sich um bestimmte Zwecke herum gebildet hatte. In der Tat führen die Herausbildung der Ware als Hauptantriebskraft des ökonomischen Systems, die technische und gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Ausbreitung ökonomischer und gesellschaftlicher Interessen auf einen größeren Raum und die Vereinheitlichung des institutionellen Systems zu einer Sprengung der Beziehungen zwischen einer räumlichen Form, der Stadt, und der Sphäre der gesellschaftlichen Vorherrschaft einer bestimmten Klasse, nämlich der Bourgeoisie. Die allgemeine Ausbreitung der Städte ist schließlich gleichbedeutend mit dem Verlust des ökologischen und kulturellen Partikularismus. Urbanisationsprozeß und Autonomie des kulturellen Modells „Stadt“ erweisen sich damit als zwei Prozesse, die paradoxerweise einander ausschließen. Die Urbanisation, die mit der ersten industriellen Revolution verbunden und in die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise eingebettet ist, stellt einen Prozeß der räumlichen Organisation dar, der auf zwei grundsätzliche Tatsachenkomplexe antwortet. 1. Die vorangegangene Auflösung der agrarischen Gesellschaftsstrukturen und die Abwanderung der Bevölkerung in die bereits bestehenden Stadtzentren liefern die für die Industrialisierung wesentliche Arbeitskraft. 2. Der Übergang von der Hauswirtschaft zur Manufaktur- und danach zur Fabrikwirtschaft bedeutet gleichzeitig Konzentration der Arbeitskraft, Entstehung eines Marktes und Schaffung eines industriellen Milieus. Die Städte ziehen die Industrie aufgrund dieser beiden wesentlichen Faktoren (Arbeitskraft und Markt) an, und die Industrie schafft ihrerseits neue Beschäftigungsmöglichkeiten und läßt Dienstleistungsbetriebe entstehen. Aber der umgekehrte Prozeß ist ebenfalls wichtig: Wo es funktionelle Elemente bereits gibt, besonders Rohstoffe und Transportmittel, schafft die Industrie Abhängigkeiten und löst damit die Urbanisation aus. In beiden Fällen ist die Industrie das vorherrschende Element, welches das Stadtgebiet umfassend organisiert. Diese Vorherrschaft ist jedoch kein technologisches Faktum, sondern der Ausdruck der kapitalistischen Logik, die der Industrialisierung zugrunde liegt. Die „städti-
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
sche Unordnung“ ist allerdings kein solcher Ausdruck; sie steht für eine marktbedingte räumliche Organisation und ist dadurch entstanden, daß eine gesellschaftliche Kontrolle der industriellen Aktivitäten fehlt. Die technische Rationalität und der Primat des Profits führen einerseits zur Austilgung aller wesentlichen Unterschiede zwischen den Städten und zu einer Verschmelzung der typischen Kulturen mit den Merkmalen der kapitalistischen Industriezivilisation insgesamt; andererseits führen sie zur Entwicklung einer funktionellen Spezialisierung und zu einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung in einem bestimmten Raum, wobei eine Hierarchie unter den verschiedenen Ballungsräumen und ein kumulativer Wachstumsprozeß entsteht, der sich aus dem Wechselspiel der externen Wirtschaft herleitet. Schließlich dreht sich die aktuelle Urbanisationsproblematik um drei grundsätzliche Gegebenheiten und um eine brennende Frage: 1. 2. 3. 4.
Die Beschleunigung des Urbanisationsrhythmus' in der gesamten Welt. Die Konzentration dieses Wachstums der Städte in den sogenannten „unterentwickelten“ Regionen ohne ein entsprechendes wirtschaftliches Wachstum, das die erste Urbanisierung in den industrialisierten kapitalistischen Ländern begleitet hatte. Das Entstehen neuer Stadtformen, vor allem großer Metropolen. Die Verbindung des Phänomens Stadt mit neuen Ausdrucksformen sozialer Verhältnisse, die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehen, aber die Tendenz haben, sie zu überwinden.
IV. Peter Saunders Peter Saunders’ Werk Social Theory and the Urban Question erschien zuerst auf engl. (London 1981) und erlangte schnell den Status einer für Stand und Entwicklung der Stadtsoziologie wichtigen Arbeit. Für die 1987 im Campus-Verlag erschienene Schrift verfasste Walter Siebel ein Vorwort. Von den acht Kapiteln seien einige hervorgehoben, um den Kontext des Werkes zu verdeutlichen: Kap. 1: Gesellschaftstheorie, Kapitalismus und die Frage des Städtischen; Kap. 2: Die Stadt als ökologische Gemeinschaft; Kap. 5: Die Stadt als Ideologie; Kap. 6: Die Stadt als räumliche Einheit kollektiver Konsumtion. Nachfolgend werden einige Passagen aus dem letzten Kap., „Die Besonderheit des Städtischen“, zitiert. Saunders, Peter, Soziologie der Stadt, Frankfurt a.M./New York 1987 (orig. engl. 1981), S. 252-254. Klassenkampf, der Staat und die Frage des Städtischen Im Rest dieses Kapitels müssen wir von dem begrifflichen Problem, wie die Frage des Städtischen spezifiziert werden könnte, auf das theoretische Problem übergehen, wie die Analyse der Frage des Städtischen durchgeführt werden könnte. Wir haben in der Diskussion von Webers Methode der Idealtypen in Kapitel l gelernt, daß die begriffliche Klärung ein erster wesentlicher Schritt ist, um spezifische Fragestellungen zu entwickeln und damit die Probleme zu vermeiden, in die sich die verschiedenen stadtsoziologischen Ansätze in der Vergangenheit verwickelt sahen – nämlich die Auflösung der Stadtanalyse in eine Analyse der Gesamtgesellschaft. Wir haben aber auch gesehen, daß allein die Konstruktion von
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Idealtypen noch keinen Anspruch auf Erkenntnis konstituiert und daß solche Idealtypen nur dann einen Sinn haben, wenn sie die Entwicklung von Hypothesen unterstützen und der empirischen Forschung eine Orientierungshilfe bieten. Das hier zu entwickelnde Argument ist, daß der oben dargestellte Bezugsrahmen als fruchtbar angesehen werden kann im Hinblick auf ein theoretisches Verständnis zweier Fragen, die nicht nur im Zentrum der neueren Stadtsoziologie, sondern darüber hinaus auch im Mittelpunkt jeder soziologischen Analyse fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften stehen – nämlich die Frage der Klassenanalyse und der Staatstheorien. Beide Fragen sind in den letzten Jahren sowohl in der von Weber beeinflußten als auch in der marxistischen Stadtsoziologie aufgeworfen worden. Dem Problem des Klassenkampfes hat man sich höchst unterschiedlich durch Begriffe wie »Wohnklassen« und »städtische soziale Bewegungen« angenähert; und ebenso uneinheitlich wurde das Problem des kapitalistischen Staates unter den Aspekten des »Korporatismus«, der »relativen Autonomie« usw. diskutiert. Wir haben aber gesehen, daß weder der marxistische noch der Webersche Ansatz diese Probleme theoretisch adäquat gefaßt haben. Ich behaupte, daß dies auf ihr Versäumnis zurückzuführen ist, besondere »städtische« Prozesse zu spezifizieren und damit anzuerkennen, daß solche Prozesse nicht einfach durch generelle Klassen- und Staatstheorien erklärt werden können. Wenn städtische Prozesse wahrhaftig spezifisch sind, lassen sich Theorien, die für »nicht-städtische« Fragestellungen entwickelt wurden, nicht einfach auf sie übertragen. Dies war aber genau die Voraussetzung der früheren Arbeiten. In diesem Sinn haben verschiedene Autoren Theorien des Staates entwickelt oder übernommen, die unterschiedslos auf alle Aspekte staatlicher Aktivitäten angewandt wurden. In großen Teilen der marxistischen Literatur wird z.B. der Staat zunächst im Hinblick auf seine Funktion definiert, die Bedingungen der Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten, und dann diese allgemeine Theorie auf den sogenannten »Lokalstaat« übertragen, um die staatliche Politik und Strategien auf lokaler Ebene zu erklären (s. z.B. Cockburn 1977, insbes. Kap. 2). Die Vorstellung vom »Lokalstaat« beruht somit auf der Annahme, daß sich die kommunale Ebene durch keinerlei Besonderheiten auszeichnet. Entsprechendes trifft zum großen Teil auch auf die nicht-marxistischen – sowohl die pluralistischen als auch die korporativen – Ansätze zu. Das gleiche wie für die Staatstheorien kann auch für die verschiedenen Analysen des Klassenkampfes vermerkt werden. Castells z.B. macht sich dessen schuldig, was Pickvance als den »städtischen Trugschluß« bezeichnet, eben weil er davon ausgeht, daß seine Theorie des Klassenkampfes unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus auf die Analyse städtischer Auseinandersetzungen ausgedehnt werden kann. Denselben Fehler begeht auch Rex, obwohl er mit einer ganz anderen Theorie arbeitet und auch zu sehr unterschiedlichen Schlußfolgerungen gelangt. Im Gegensatz zu diesen Autoren halte ich daran fest, daß der im letzten Abschnitt identifizierte Dualismus zwischen gesellschaftlichen Investitionen/korporativer Interessenvermittlung/Zentral- und Regionalregierung einerseits sowie gesellschaftlicher Konsumtion/konkurrenzgeprägte Interessenvermittlung/Kommunalverwaltung andererseits auch in einem theoretischen Dualismus – und zwar in bezug auf sowohl den Staat als auch den Klassenkampf – zum Ausdruck kommen sollte. Das bedeutet, daß die besondere stadtsoziologische Berücksichtigung dieser zweiten Gruppe von Prozessen auch zu der Entwicklung einer
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theoretischen Perspektive über den Staat und die soziale Schichtung führen sollte, die für diese Prozesse spezifisch ist. Pluralistische Theorieansätze sind vollkommen unzureichend, weil sie das evidente Faktum nicht anerkennen, daß der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise dem Imperativ der Kapitalakkumulation gehorchen muß. Instrumentalistische Theorieansätze sind ebenso unzureichend, weil sie nicht erklären können, wieso während der letzten 100 Jahre in allen kapitalistischen Gesellschaften nicht-kapitalistische Interessen reale wirtschaftliche und politische Siege errungen haben. Der bemerkenswerte Ansatz in der neueren marxistischen Literatur über die »relative Autonomie« des Staates wird zwar dem, was der Staat zwischen beiden Polen alles tut, deskriptiv weitgehend gerecht, kann aber nicht erklären, wie diese Ergebnisse zustande kommen.
V. Manuel Castells (II) Manuel Castells, der 1942 in Katalonien geborene und seit Jahrzehnten in Berkeley/Kalifornien lehrende Stadtsoziologe, wurde bereits als Vertreter der New Urban Sociology vorgestellt. Castells blieb bei diesem letztlich traditionalen Ansatz nicht stehen; er sah, dass „das Licht der großen Kulturprobleme weiter gezogen war“ (Max Weber) und „rüstete die Wissenschaft um“, ihren „Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln“ (Weber). Als die Konsequenzen der digitalen Revolution und der mit ihr verknüpften neuen Informationsund Kommunikationsstrukturen sichtbar waren, erschien 1989 The Informational City. Information Technology, Economic Restructuring, and the Urban-Regional Process. Dort finden sich jene Stichworte und Analysen, die Teil der internationalen Diskussion um die Entwicklung der Stadt im digitalen Zeitalter wurden: The Space of Flows, der „Raum der Ströme“; der Aufstieg der „Dualen Stadt“; die „Dialektik zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung der Dienstleistungen“. Wenige Jahre später, 1996ff., überraschte Castells nicht nur die Stadtsoziologen, sondern auch die Gesellschaftstheoretiker mit einem fundamentalen, dreibändigen Werk: The Information Age. Stadtsoziologisch ist v.a. der erste Bd. relevant: The Rise of the Network Society, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft (vgl. dort v.a. Kap. 6, „Der Raum der Ströme“). Am 19. Januar 2005 erhielt Manuel Castells in der Karlsruher Fakultät für Architektur den Erich Schelling Architekturpreis 2004 für Architekturtheorie. Nachfolgend werden Auszüge eines Textes zitiert, der insbesondere die Rolle der europäischen Stadt in der Informationsgesellschaft thematisiert. Castells, Manuel: Europäische Städte, die Informationsgesellschaft und die globale Ökonomie, Telepolis-Artikel des Heise Zeitschriften Verlags: http://www.telepolis.de/r4/ artikel/6/6020/1.html (16.04.2006). Der Faden der neuen Geschichte […] Urbanes Leben wird durch das Tempo der Geschichte beeinflußt. Wenn das Tempo zunimmt, geraten Städte – und ihre Bewohner – in Verwirrung, Räume werden bedrohlich
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und aus der Erfahrung verschwindet der Sinn. In solchen widerspruchsvollen, aber großartigen Zeiten wird Wissen zur einzigen Quelle, um Sinn und dadurch sinnvolle Handlung wieder zu ermöglichen. […] Die räumliche Veränderung der europäischen Großstädte […] Die suburbane Welt der europäischen Städte ist ein sozial vielfältiger Raum, der in verschiedene Peripherien um die Innenstadt aufgeteilt ist. Es gibt die traditionellen Wohngebiete der Arbeiter und Angestellten mit ihren gut erhaltenen Eigenheimen. Es gibt die neuen Städte, die von einer jungen Schicht der unteren Mittelklasse bewohnt werden, deren Alter es für sie schwierig macht, in den teuren Wohnungsmarkt der Innenstadt einzudringen. Und es gibt auch die peripheren Gettos der älteren Sozialwohnungen, in denen die neuen Immigranten und die armen Arbeiterfamilien ihre Aussperrung von der Stadt erfahren. […] Der kritische Faktor im neuen urbanen Prozeß beruht jedoch auf dem Sachverhalt, daß der urbane Raum sich zunehmend sozial ausdifferenziert, während er jenseits des räumlichen Zusammenhangs funktionell vernetzt ist. Daraus entsteht die Aufspaltung zwischen symbolischer Bedeutung, der räumlichen Verankerung der Funktionen und der sozialen Aneignung des Raums im städtischen Bereich. Die Transformation der europäischen Städte ist unabtrennbar von einer tieferen, strukturellen Transformation, die sich auf die urbanen Formen und Prozesse in hoch entwickelten Gesellschaften auswirkt: die Heraufkunft der Informationsstadt. Die Informationsstadt […] Mit diesem Begriff meine ich nicht die urbane Form, die aus dem direkten Einfluß der Informationstechnologien auf den Raum entsteht. Die Informationsstadt ist der urbane Ausdruck der ganzen Matrix von Bedingungen der Informationsgesellschaft, ebenso wie die Industriestadt der Ausdruck der Industriegesellschaft war. […] In der neuen Ökonomie wird die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit von Regionen und Städten dadurch bestimmt, wie sie Informationskapazität, Lebensqualität und Anschluß an das Netzwerk der großen metropolitanen Bereiche auf nationaler und internationaler Ebene kombinieren können. Die neue räumliche, für die Informationsstadt charakteristische Logik wird bestimmt durch die Vorherrschaft des Raums der Ströme über den Raum der Orte. Unter dem Raum der Ströme verstehe ich das System der Zirkulation von Information, Kapital und Macht, das die grundlegenden Prozesse der Gesellschaften, Ökonomien und Staaten zwischen verschiedenen Orten, aber unabhängig vom Standort, bestimmt. […] Die Informationsstadt ist gleichzeitig die globale Stadt, da sie die Steuerungsfunktionen der globalen Ökonomie in einem Netzwerk der Zentren für Entscheidungs- und Informationsprozesse miteinander verknüpft. Diese Globalisierung von urbanen Formen und Prozessen reicht weiter über das Funktionale und Politische hinaus und beeinflußt das Konsumverhalten, die Lebensstile und den formalen Symbolismus.
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Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
Schließlich ist die Informationsstadt auch die duale Stadt, weil die Informationsökonomie die strukturelle Tendenz besitzt, eine polarisierte Beschäftigungsstruktur nach den Informationskapazitäten verschiedener sozialer Gruppen zu erzeugen. […] Das führt zum grundlegenden urbanen Dualismus unserer Zeit, der den Kosmopolitismus der Elite, die in einer alltäglichen (funktionalen, sozialen und kulturellen) Verbindung mit der ganzen Welt steht, mit der Stammeskultur von lokalen Gemeinschaften konfrontiert. Sie versuchen, eingeschränkt auf ihre Räume, diese als letzte Rückzugsgebiete vor den Makrokräften zu kontrollieren, die ihre Lebensweise außerhalb ihres Einflußbereiches formen. Die fundamentale Trennungslinie innerhalb unserer Städte liegt in der Partizipation der kosmopolitischen Schicht an der Gestaltung der neuen Geschichte, während die auf ihren Ort ausgerichteten Menschen von der Lenkung der globalen Stadt ausgeschlossen sind, zu der aber letztlich auch ihre Wohngebiete gehören. […] Die Steuerung des Übergangs zur Informationsstadt […] Paradoxerweise scheinen in einer globalen Ökonomie und mit dem Aufstieg des supranationalen Staates regionale Regierungen an der Front des Steuerungsprozesses der neuen urbanen Gegensätze und Konflikte zu stehen. Nationalstaaten haben immer weniger Macht, die globale Ökonomie zu beeinflussen, und sie sind gleichzeitig nicht flexibel genug, um in spezifischer Weise mit den in einer gegebenen regionalen Gesellschaft aufkommenden Problemen umzugehen. Regionale Regierungen scheinen gegenüber den globalen Trends genauso machtlos zu sein, aber sie sind gegenüber der sich verändernden sozialen, ökonomischen und funktionalen städtischen Umwelt anpassungsfähiger. […] Die historische Besonderheit der europäischen Städte könnte daher ein fundamentaler Vorteil bei der Schaffung der Bedingungen sein, die die Steuerung der Gegensätze zwischen dem Globalen und Lokalen im neuen Kontext der Informationsgesellschaft erlauben. Weil europäische Städte starke, in einer langen Geschichte und einer reichen, vielfältigen Kultur verwurzelte Bürgergemeinschaften haben, könnten sie die Bürgerbeteiligung als fundamentale Gegenkraft zur Tribalisierung und Entfremdung stimulieren. Und weil die Tradition der europäischen Städte als Stadtstaaten im größten Teil Europas den Takt zum Eintritt in das moderne Zeitalter vorgegeben haben, was im kollektiven Gedächtnis ihrer Menschen eingegraben ist, könnte das Wiederaufleben des Stadtstaates das notwendige Komplement zur Expansion der globalen Ökonomie und zur Schaffung eines europäischen Staates darstellen. Europäische Städte könnten, eben weil sie Städte und nicht nur Regionen sind, die Verbindung zwischen dem Raum der Ströme und dem Raum der Orte, zwischen der Funktion und der Erfahrung, zwischen Macht und Kultur herstellen und so die Stadt der Zukunft auf den Grundlagen ihrer Vergangenheit erschaffen.
Kapitel III: Stadtentwicklung seit 1960
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TEIL B: GRUNDLAGEN UND PRAXISFELDER
Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau. Soziologie der Stadtplanung und städtebaulicher Leitbilder
Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
Inhalt I.
Raum – Orte – Stadt
1. 2. 3. 4.
Die Moderne als Loslösung von der Raumgebundenheit Die überwundene Raumblindheit der Soziologie Von Orten zu Stadträumen Segregation als Schlüsselbegriff?
II. Wandlungen des Stadt-Land-Verhältnisses 1. 2. 3.
Stadt und Land als gegensätzliche Einheit Einebnung der Dichotomie von Stadt und Land Großstadtkritik und Neo-Ruralität
III. Stadt und Kultur 1. 2. 3. 4. 5.
Historische Dimensionen von Stadt und Kultur Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit Stadt und Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft Stadterneuerung und Stadtkultur seit den 1970er Jahren Stadtkultur und Stadtökonomie
Informationsteil
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
I. Raum – Orte – Stadt Vorbemerkung: Die nachfolgenden Ausführungen sind eine Ergänzung zur Lektion II im Band „Architektursoziologie“ („Raum und räumliches Verhalten“) und zum Kapitel über den öffentlichen Raum im vorliegenden Band. Bereits das Lager des Vormenschen ist eine minimale Distanzstruktur, die zeigt, dass Wesen wie wir unter einem bestimmten räumlichen Versammlungsprinzip existieren. Peter Sloterdijk
1. Die Moderne als Loslösung von der Raumgebundenheit Wie das einführende Zitat von Sloterdijk hervorhebt, ist menschliches Leben nur unter Kategorien von deutlich ausgeprägten Raumgrenzen, beginnend bei den „Körperterritorien“, denkbar (vgl. zu dieser anthropologischen Fundierung der Raumnutzungsmuster das Schema im Bd. „Architektursoziologie“, Schäfers 2006: 32). Die philosophische Anthropologie, besonders von Helmuth Plessner (18921985), hatte die damit verbundenen Grundlagen und Bedeutungen von Körperterritorien und weiteren Mustern der Raumbeanspruchung mit dem Begriff der Grenze bzw. der Grenzziehung deutlich gemacht. Grenzziehungen beinhalten zwangsläufig das Moment der Inklusion und der Exklusion und damit die Bestimmung von Zugehörigen, Ausgeschlossenen und ggf. von vorübergehend Berechtigten. Mit Grenzziehung ist zugleich eine Art von Herrschaft über ein Territorium verknüpft. Dass die Kategorie des Raumes (wie auch der Zeit) mit der Herausbildung der soziologischen Theorie in den Hintergrund trat, hat Ursachen, die mit den für Moderne typischen Entwicklungen zusammenhängen, zu denen auch die Emanzipation von der Raumgebundenheit in tradtional-agrarischen Gesellschaften gehört. Aber auch das Idealisierende und Konstruktive der soziologischen Theorie waren mit dafür verantwortlich, dass die Fundamente von bios und Raum, von Körperlichkeit und Materialität sozialer Beziehungen und Institutionen ein wenig aus dem Blickfeld rückten.
2. Die überwundene Raumblindheit der Soziologie Obwohl Stadtsoziologie selbstredend auch Raumsoziologie ist, kommt dies nur in einigen stadtsoziologischen Theorien, wie v.a. der sozialökologischen (vgl. S. 63ff.; 132), explizit zum Ausdruck. Begriffe wie Distanz und Dichte, Segregation,
I. Raum – Orte – Stadt
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Invasion und Sukzession beschreiben bestimmte Zustände oder Prozesse im Stadtgebiet, ausgehend von der räumlichen Verteilung der Bevölkerung. Robert E. Park (1864-1944), der in seiner sozialökologischen Theorie stark vom zeitgenössischen Sozialdarwinismus mit der gängigen Parole des survival of the fittest beeinflusst war, ging von einem „biotischen Wettbewerb“ um die jeweils günstigsten Standorte im Stadtraum aus – was z.B. die Begriffe Invasion und Sukzession und der ihnen implizite Verdrängungsmechanismus zum Ausdruck bringen. Die „Raumblindheit“, die Anthony Giddens noch 1984 (dt. 1988) der Soziologie vorwarf, darf als überwunden bezeichnet werden; die Zahl der Werke, die seither Raum in sozialer Perspektive explizit zum Thema haben, ist kaum zu überblicken (vgl. die Sammlung von Texten bei Wentz 1991 und die Darstellungen von Sturm 2000, Löw 2001, Krämer-Badoni 2003, Schroer 2005). Streng genommen hatte es diese Raumblindheit bzw. „Raumvergessenheit“ (vgl. Schäfers/Bauer 1994) nicht gegeben, denn Georg Simmels wichtiger Beitrag „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ (1908/1968), wurde durchaus rezipiert. Raum ist in der Soziologie unter den verschiedensten Vorzeichen, auch ideologischer Art, thematisiert worden – was in der Bundesrepublik Deutschland zunächst eine gewisse „Enthaltsamkeit“ gegenüber diesem Begriff (wie auch gegenüber Begriffen wie Volk oder Gemeinschaft) verständlich macht (zur „Organisation des Raumes im Nationalsozialismus“ vgl. Münk 1993). Doch die für alle menschliche Erfahrung und Orientierung vorauszusetzende Selbstverständlichkeit des Raumes als Tatsache a priori, im Sinne der Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant, erzwingt geradezu, ihn analytisch in seinen vielfachen Differenzierungen und Bedeutungen für die Struktur des sozialen Handelns, letztlich der „gesellschaftlichen Ordnungen“ (Simmel), zu berücksichtigen. Hier seien folgende, in der Stadt- und Regionalsoziologie wichtige Punkte hervorgehoben:
Raum in seiner allgemeinen und grundlegenden Bedeutung „bezeichnet den alltagsweltlich organisierten Kontext der Erfahrungen handelnder Menschen“ (Weiske 2006), basierend auf bestimmten Anordnungen von Objekten im Raum und sozialkulturell vorgeprägten Raumnutzungsmustern; grundlegend für städtische Raumnutzungsmuster sind individuelle Verfügungen über Grund und Boden. Damit kommt der Eigentumsfrage und den verschiedenen Eigentumsarten an Boden, Gebäuden und dadurch auch der Infrastruktur eine Schlüsselrolle zu; die Sozialraumanalyse – z.B. von Shevky/Bell – wie die raumorientierte Aktionsforschung fragt nach den konkreten Mustern der Raumnutzung für bestimmte soziale Prozesse; von erheblichem Einfluss auf die „Nutzung“ von Stadträumen sind auch die Raumbilder, die Menschen bei der Orientierung im Stadtraum und dessen Bewertung beeinflussen (vgl. hierzu auch die Textauszüge von Kevin Lynch, S. 115ff.).
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
Zur Überwindung der „Raumblindheit“ in der (Stadt-)Soziologie, die es im unterstellten Maße nicht gab, hat neben Anthony Giddens auch Pierre Bourdieu einen Beitrag geleistet. Als typisch für seine Aussagen zur Bedeutung des Raumes für Habitus, Herrschaft und Kapitalbesitz in der von ihm differenzierten Ausprägung – ökonomisch, sozial, kulturell/symbolisch – kann folgender Beleg gelten: „Der soziale Raum weist die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen [...]. In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und Distanzen zum Ausdruck bringt“ (Bourdieu 1991: 26). Sieht man davon ab, dass Bourdieu die ökonomischen und machtbezogenen Grundlagen und Folgen bestimmter Raumverteilungsmuster deutlich hervorhebt, finden sich wohl nur wenige über Georg Simmel hinausgehende Einsichten (vgl. zu Simmel auch die Darstellung von Schroer 2005: 60ff.).
3. Von Orten zu Stadträumen In Orten („locales“) wird der Raum als Bezugsrahmen für Interaktion verfügbar gemacht, während umgekehrt diese Interaktionsbezugsrahmen für die Spezifizierung der Kontextualität des Raumes verantwortlich sind. Anthony Giddens
Fasst man einige Aussagen von Maurice Halbwachs (1877-1945; gest. im KZ Buchenwald) in seinen zahlreichen Texten zu einer anthropologisch-phänomenologischen und lebensphilosophischen Beschreibung der Bedeutung von Orten zusammen, so sind es v.a. die Bilder in der individuellen und der kollektiven Erinnerung, die Orte fixieren und sowohl den Individuen und sozialen Gruppen als auch gesellschaftlichen Ordnungen ihren Rückhalt geben (vgl. Halbwachs 1985; 2003; im Werk aus dem Jahr 2003 vgl. auch den Beitrag des Herausgebers und Übersetzers Stephan Egger: Auf den Spuren der „verlorenen Zeit“. Maurice Halbwachs und die Wege des „kollektiven Gedächtnisses“, S. 219-268). Kollektive Erinnerungen knüpfen das Band zu früheren Epochen, Generationen und Lebensformen. Es sind nicht nur Städte, die aus diesem kollektiven Gedächtnis leben: „Auch die Gesellschaft muss sich an etwas festhalten können, und wenn es um räumlichen Halt, um eine Ortskunde geht, haben sich im Verhältnis zu allen anderen möglichen Orten für sie eben jene Stätten abzusetzen, die am stärksten mit religiöser Bedeutung aufgeladen sind“ (Halbwachs 2003: 194). Ein bekanntes Beispiel ist in Paris zu finden, am Ort von Notre Dame, dessen religiöses „Gedächtnis“ bis in vor-römische, keltische Zeiten führt.
I. Raum – Orte – Stadt
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Der Ort ist fixierter Raum – was aber auch heißt, dass ein bestimmter physischer Raum sehr verschiedene Fixierungen zulässt. Städte müssen hinsichtlich räumlicher Fixierungen ein behutsames Gleichgewicht finden zwischen Erhalt und Erneuerung, zwischen tief im „Gedächtnis“ verwurzelten Orten – wie Notre Dame, dem Kölner Dom oder dem Campo in Siena – und dem für die Stadtentwicklung erforderlichen Wechsel der Raumnutzungen und damit der Entstehung neuer, zeittypischer Orte. Ein Beispiel intensiver Ortsgebundenheit sind „Kindheitsmuster“ (Christa Wolf) und Kindheitserinnerungen. Wer kennt nicht die tiefen Enttäuschungen, wenn Orte der Kindheit aufgesucht werden und die Erinnerung keine räumlich fixierten Haltepunkte mehr findet? Orte haben in der Terminologie von Georg Simmel mit den von ihm herausgearbeiteten „Grundqualitäten der Raumform“ zu tun, „mit dessen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens“ wir rechnen müssen (1968: 462). Inzwischen liegen neuere, phänomenologisch und philosophisch-anthropologisch orientierte Beschreibungen einzelner Stadträume, zumal von öffentlichen Plätzen, vor. Hervorzuheben sind die subtilen Beschreibungen der „Interaktionen mit dem architektonischen Raum“ am Beispiel venezianischer Campi sehr unterschiedlicher Größe und Geschichte (Janson/Bürklin 2002) und die Ausführungen Joachim Fischers über den Potsdamer Platz. Fischer (2004: 11ff.) zeigt an Geschichte und Gestaltung des Potsdamer Platzes, dass mit der Neubebauung versucht werde, zur Rekonstitution der bürgerlichen Gesellschaft beizutragen. Dieser Platz symbolisiere das Versinken in den „eigenen Abgrund“; daher müsse eine Beschreibung des einstigen „Areals von ziviler und bourgeoiser Lebensfülle“ auch dessen Gewaltgeschichte und den Untergang mit einbeziehen. Das geschieht ja auch mit einigen Gebäuden und Resten aus der bourgeoisen Epoche – doch ihr Stellenwert heute ist im Erinnern und Erleben der Platzbesucher höchst heterogen und weit entfernt von einer Rekonstitution der bürgerlichen Gesellschaft.
4. Segregation als Schlüsselbegriff? Segregation ist nichts anderes als das räumliche Abbild sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft. Bernd Hamm
„Die Stadt, insbesondere die Großstadt, ist also in sich gegliedert, und die verschiedenen Gliederungseinheiten lassen sich durch ihren Bau-, Funktions- und Sozialcharakter bestimmen, zu denen noch der Charakter der Vorstellungen über das jeweili-
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
ge Gebiet bei den Bewohnern oder Benutzern selbst und der übrigen Stadtbevölkerung hinzukommt“ (Herlyn 1974: 6). Ein Schlüsselbegriff der sozial-räumlichen Gliederung der Stadt ist Segregation. Doch selbst in der Soziologie war dieser Begriff bis Ende der 1960er Jahre nur denjenigen bekannt, die sich in den Arbeiten der Sozialökologie und damit der Chicagoer Schule der Soziologie auskannten. Erst durch klassentheoretische Analysen der Stadt als Sozialraum und die systematische Rezeption der sozialökologischen Modelle bei Jürgen Friedrichs (1977) und Bernd Hamm (1977) wurde Segregation zu einem Schlüsselbegriff für die sozialräumliche Analyse der städtischen Sozialstruktur. Fraglich ist jedoch, ob Segregation auch zur Analyse der historischen Sozialstruktur ein geeigneter Begriff ist, wenn er mit einer der Grundfragen der Soziologie (und damit auch der Stadtsoziologie) – der nach der sozialen Ungleichheit – in eine unreflektierte Beziehung gebracht wird. In seinem heutigen Verständnis ist der Begriff Segregation dem Denken der Aufklärung und der Moderne, der bürgerlichen Revolutionen und der Emanzipation eng verbunden; seine Anwendung sollte daher auf städtische Siedlungsformen seit der Industrialisierung und Verstädterung bezogen bleiben. Hinzu kommt, dass für lange Phasen der Stadtentwicklung und ihrer jeweils dominanten Sozialstruktur eine sozialräumliche Trennung der Stände und Sozialschichten unter völlig anderen Voraussetzungen bestand. Die uns heute bekannte schichtenspezifische Segregation und Gliederung des städtischen Sozialraumes hat zwei fundamentale Voraussetzungen, die wiederum industriegesellschaftlich verursacht sind: die Trennung von Wohn- und Arbeitsraum einerseits und die Trennung der Stände und der nicht-ständischen Bevölkerungsgruppen in sich räumlich separierende (segregierende) Wohnbereiche andererseits. In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt wurden die räumlichen Besonderheiten der Wohn- und Arbeitsbereiche durch andere soziale Differenzierungen und andere Einteilungen des Stadtgebietes überlagert. Die Zünfte umfassten zumeist nicht nur die Handwerke in einer bestimmten Gasse, sondern einen über das Stadtgebiet reichenden Personenkreis; die Pfarrbezirke waren ebenso egalisierende Einteilungen des Stadtgebietes wie die Viertel und Quartiere, die bis auf den heutigen Tag zur sozialen Identifikation der Bewohner ihre Bedeutung haben.
II. Wandlungen des Stadt-Land-Verhältnisses
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II. Wandlungen des Stadt-Land-Verhältnisses 1. Stadt und Land als gegensätzliche Einheit Man kann sagen, dass die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft […] in der Bewegung des Gegensatzes von Stadt und Land sich resümiert. Karl Marx
Seit der Herausbildung der stadtbezogenen Hochkulturen vor sechs bis acht Tsd. Jahren ist der Gegensatz von Stadt und Land eines der wichtigsten Merkmale der geschichtlichen Entwicklung und damit der Sozialstruktur und der Differenzierung von Lebensformen und Verhaltensweisen. Die mit Mauern und Türmen bewehrte, auf relativ kleinem Raum zusammen gedrängte Stadt war für lange Zeit schon rein äußerlich ein sich gegenüber der Weite des umliegenden Landes abhebendes Sozialgebilde. Die vom Land verschiedenen Formen der Herrschaft, der Arbeit und Arbeitsteilung, der Versorgung und des Tausches waren die Basis, auf der sich städtische Lebensformen gegenüber agrarisch-bäuerlichen differenzierten und absetzten. Stadt und Land sind bis ins 19. Jh. als „gegensätzliche Einheit“ (Berndt 1978: 15ff.) anzusehen. Bis dahin war die überwiegende Mehrzahl der Städte von überschaubarer Größe. Auch die umgebende Natur und Landschaft war im Vergleich zu heute noch nicht in das industrielle und marktwirtschaftliche System eingebunden. Viele Städte waren oft nach Anlage und Struktur in die natürlichen Umweltgegebenheiten eingepasst oder nutzten sie in besonderer Weise. Das Verhältnis von Stadt und Land umfasste von Anfang an mehr als nur die Unterschiede der Siedlungs- und Wohnweise, der Arbeits- und Produktionsformen, der Kultur und der Bildung. Es berührte und berührt noch immer Tiefenschichten des Bewusstseins, die mit Prägungen der menschheitsgeschichtlich überwiegenden Phasen der nicht-städtischen Lebensformen zusammen hängen. Mit dem Schweizer Psychologen C. G. Jung (1875-1961) könnte man von „Archetypen“ sprechen, von prägenden Vorstellungsbildern des Landes und des dörflich-ländlichen Lebens.
2. Einebnung der Dichotomie von Stadt und Land Das Bestehen des Gegensatzes von Stadt und Land galt noch vor mehr als zwanzig Jahren für eine ausgemachte und gemeine Wahrheit. Wilhelm Heinrich Riehl, 1853
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
Beschränken wir uns auf einen kursorischen Überblick zur Entwicklung des StadtLand-Gegensatzes im Okzident, so wird die auch im äußeren Erscheinungsbild deutlich sichtbare Entgegensetzung von Stadt und Land mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft seit dem Absolutismus überwunden. In der Dynamik der sich entfaltenden Marktgesellschaft werden die Städte in den Prozess der Entstehung der Nationen und der Entwicklung einer Einheitsgesellschaft hereingezogen. Der politisch, herrschaftlich und rechtlich bisher so ausgeprägte Gegensatz von Stadt und Land wird in diesem Prozess eingeebnet. So wurden in Deutschland aus den einstigen reichsunmittelbaren Städten Residenzstädte, Landeshauptstädte bzw. in der Gegenwart „zentrale Orte“ der verschiedenen Stufen in einem arbeitsteilig verbundenen Wirtschafts- und Lebensraum. Ferdinand Tönnies (1855-1936), einer der Mitbegründer der Soziologie, fasste diese Entwicklung in seinem Klassiker „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (zuerst 1887) wie folgt zusammen: „Also ist zu verstehen, in welchem Sinne der ganze Gang der Entwicklung als fortschreitende Tendenz des städtischen Lebens und Wesens begriffen werden kann“ (Tönnies 1963: 253). Der bisherige Gegensatz von städtisch und dörflich-ländlich, also von „gesellschaftlich“ und „gemeinschaftlich“, würde gänzlich aufgehoben und Stadt und Land den neuen, „modernen“ Lebensformen der bürgerlich-nationalen Gesellschaft unterworfen. Auch der die Geschichte so prägende Gegensatz von Bauern und Landarbeitern hier, Handwerkern, Kaufleuten und Patriziern dort ist durch die Veränderung der Berufsstrukturen, zumal seit der Dominanz des Arbeiters und des Angestellten, fast verschwunden. Eingeebnet für alle Bürgerinnen und Bürger sind auch die früher weit reichenden Unterschiede in den Formen des Eigentums, des Arbeitens, des Tauschens und der Eigenversorgung. Einige Zahlen können das Schwinden der Differenz veranschaulichen: Noch um 1800 lebten und arbeiteten in Deutschland mehr als 80 % der Bevölkerung auf dem Land; zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik immerhin noch ca. ein Viertel. Inzwischen ist die hauptberuflich landwirtschaftlich tätige Bevölkerung auf rund 2,2 % aller Erwerbstätigen abgesunken. Diesen Zahlen muss entgegen gehalten werden, dass sich rein visuell die Dinge anders darstellen und nicht vom „Verschwinden des Landes“ oder einer völligen Aufhebung der Differenz gesprochen werden kann: Die landwirtschaftliche Nutzfläche beträgt immer noch gut die Hälfte der Fläche des Bundesgebietes (rund 200 Tsd. von 357 Tsd. qkm). Hinzu kommen rund 29 % der Gesamtfläche an Waldbestand – ein für ein hoch entwickeltes Industrieland großer Anteil. Im mehrfach zitierten Beitrag Georg Simmels über „Die Großstädte und das Geistesleben“ ist implizit auch der Gegensatz von Stadt und Land thematisiert. Er lässt sich wie folgt veranschaulichen:
II. Wandlungen des Stadt-Land-Verhältnisses Schaubild 4
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Stadt-Kleinstadt/Land-Gegensatz bei Georg Simmel
Charakter des öffentlichen Lebens
Soziales Leben Individueller Charakter Individueller Freiraum Ökonomische Struktur Orientierung
Kleinstadt Beharrende Eindrücke, langsamer, gewohnter, gleichmäßiger Rhythmus enge soziale Kontakte emotionale Beziehungen Gemüt restriktive Gruppennormen Gruppeneinbindung = Kollektivität Tauschverkehr Gruppenbezogenheit
Großstadt Reizüberflutung, Tempo und Mannigfaltigkeit des wirtschaftl., berufl. und gesellschaftl. Lebens = Heterogenität lose/geringe soziale Kontakte sachliche Beziehungen Verstand differenzierte Gruppe individuelle Freiheit = Individualität Geldwirtschaft Kosmopolitismus
Quelle: Neue Darstellung in Anlehnung an: Bernhard Schäfers/Bettina Bauer 1994: 53
3. Großstadtkritik und Neo-Ruralität Bereits in der Antike und im Mittelalter gab es Klagen über die zu groß gewordenen Städte, die jedoch bis ins 19. Jh. die Ausnahme waren: Rom und Alexandria, Byzanz und Antiochia; im Mittelalter Córdoba und Venedig, in der frühen Neuzeit London und Paris. Schon im 17. Jh. gab es in London und Paris Edikte gegen deren weitere Ausdehnung; ein Minister Ludwigs XIV. sprach vom cauchemar de Paris. Gut 50 Jahre später hieß es in der Encyclopädie von Diderot und d’Alembert, dass die Provinz verarme, weil Paris (Versailles) die Reichen und ihren Anhang versammle (zu diesen und anderen Hinweisen vgl. Pfeil 1972). Aber erst die Stadtentwicklung seit der Industrialisierung sprengte jedes mit der natürlichen Umwelt verbundene Maß. Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), der Begründer der deutschen Volkskunde und Vorläufer der Familiensoziologie, erreichte mit seiner Großstadtkritik seit Mitte der 1850er Jahre eine ungewöhnliche Resonanz. Seine dreibändige „Naturgeschichte des deutschen Volkes“ wurde zu einem Hausbuch der gebildeten Stände – was der Verfasser beabsichtigt hatte (vgl. „Land und Leute“, Kap. III: Stadt und Land; zuerst 1853; Hans Paul Bahrdt widmete in: „Die moderne Großstadt“ der „Kritik der Großstadtkritik“ im Ausgang von Riehl ein eigenes Kapitel; vgl. Bahrdt 1998: 62ff.). Die Großstadtkritik verstärkte sich in Deutschland durch die Jugendbewegung und die Lebensreformbewegung um 1900. Seit ca. 1890 kam es zu einer Gründungswelle von Landkommunen und Experimentierfeldern auf kommunistischer und anarchistischer ideologischer Basis, aber auch aus völkischen und anarchoreligiösen Gründen. Der Monte Verita bei Ascona (auch von Max Weber mehrfach
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
aufgesucht) ist ein bekanntes Beispiel (vgl. die Dokumentation der Landkommunen in Deutschland 1890-1933 bei Linse, 1983). „Agrarromantik und Großstadtfeindschaft“ (ebda. 25ff.) gingen – zusammen mit einer verbreiteten Siedlungsbewegung (wozu auch die jüdische Siedlungsbewegung in Palästina gehörte) – eine politisch immer reaktionärere Allianz ein. Der Blut- und Bodenmythos des Nationalsozialismus hat auch hier seine Wurzeln. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden vor allem von der ländlichen Bevölkerung auch die großen Städte für die Bombardements verantwortlich gemacht (vgl. Schäfers 2006: V). Eine Erneuerung Deutschlands sollte vom Land und von der Jugend ausgehen, so wünschten es viele. Einflussreiche Ökonomen der Sozialen Marktwirtschaft, wie Wilhelm Röpke, schlugen vor, die Städte nicht über 60 Tsd. Einwohner anwachsen zu lassen. Bis zu dieser Größe sei Überschaubarkeit gewährleistet und Anonymisierung und Entfremdung hielten sich in Grenzen. Es ist heute kaum noch erinnerlich, dass es in der Nachhut der Studentenbewegung 1968ff. bei jenen, die „hier und heute“ etwas ändern wollten, auch eine Bewegung zur Neo-Ruralität gab, zu neuen Landkommunen, nun von der um 1970 beginnenden Öko-Bewegung wissenschaftlich und moralisch unterstützt. Das sozial- und kulturgeschichtlich, herrschaftlich und ökonomisch so lange dominante und dichotome Verhältnis von Stadt und Land ist trotz aller Suburbanisierungsprozesse und vielfachen Einebnungen auch heute nicht einfach „erledigt“. Es lebt fort als Alternative, als bewusst aufgesuchte, immer schwerer zu findende ländliche und dörfliche Idylle. Auch hier gibt es seit der Antike, seit Cicero (106-43 v. Chr.), Plinius d.J. (61113) et al., die das Landleben priesen und sich so oft wie möglich aus dem lauten Rom auf eines ihrer Landgüter zurückzogen, eine lange Tradition (zum Wechselverhältnis von Stadt und Land in der römischen Antike, das durch die städtischen Eliten geprägt war, vgl. Kolb 2005: 265f.). Das gesunde Landleben und die Landschaft wurden zu allen Zeiten von Städtern entdeckt. Es war der Stadtmensch Francesco Petrarca (1304-1374), der die Landschaft zu einem bleibenden Thema der europäischen Kulturgeschichte machte, und es war der Frankfurter Bürgersohn Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der eine einzigartige Naturlyrik schuf. Es waren schließlich Städter, die im 20. Jh. Landkommunen gründeten und die jetzt auf das Land fahren, um Bio-Produkte einzukaufen oder die in Europas schönsten Kulturlandschaften – wie Toskana, Piemont oder der Provence – Ausschau halten nach einem Zweitwohnsitz (vgl. die Sammlung wichtiger Arbeiten zur „Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung“ von Gröning/Herlyn 1990).
III. Stadt und Kultur
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III. Stadt und Kultur Die Erkenntnis, dass Kultur und Stadt einander bedingen, ist nicht neu. In allen Epochen war die weitere Entwicklung der Kultur an das Vorhandensein der Stadt gebunden. Dieter Sauberzweig
1. Historische Dimensionen von Stadt und Kultur Die Begriffe „Stadt“ und „Kultur“ gehören sowohl alltagssprachlich als auch in der Terminologie der Kultur- und Sozialwissenschaften, unter Einschluss der Geschichte, zu den komplexesten Phänomenen der menschlichen Lebenswelt. Stadt und Kultur sind Prozessbegriffe, bei denen Formen und Typen oder auch „Figurationen“ (Norbert Elias) des Wandels immer mitgedacht werden müssen. Als Orientierungshilfe im Hinblick auf den gerade in Deutschland so umstrittenen Kulturbegriff – in Abgrenzung zu dem der Zivilisation (vgl. Elias 1997, Fisch 1992, Oesterdiekhoff 2006) – seien folgende Definitionen den weiteren Ausführungen voran gestellt: Unter Kultur werden in Deutschland vor allem die Erzeugnisse der höheren geistigen Kultur verstanden, die durch Bildung in jeder Generation neu zu sichern und zu erweitern sind. Der unter dem Einfluss der amerikanischen Kulturanthropologie erweiterte Kulturbegriff umfasst aber auch die Normen und Bräuche, die Sitten und Weltbilder. Unter Zivilisation werden im Deutschen vornehmlich zwei Bereiche verstanden: der des zivilisierten Verhaltens, vor allem auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit, und der Bereich der „äußeren“, materiellen Kultur, der durch Wissenschaft und Technik das Alltagsleben, das berufliche, private und öffentliche, in allen seinen Bereichen durchdringt. Oswald Spengler (1972: 656 ff.) hatte in seinem mehr intuitiven als analytischen Kapitel über „Städte und Völker“ bzw. im Unterkapitel „Die Seele der Stadt“ die „in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache“ hervorgehoben, „dass alle großen Kulturen Stadtkulturen sind“. Nach Spengler ist der „höhere Mensch des zweiten Zeitalters ein städtebauendes Tier“ (im ersten Zeitalter war er ein „schweifendes Tier“); fortan sei die Weltgeschichte „die Geschichte des Stadtmenschen“ gewesen. In fast poetischer Sprache heißt es über den Zusammenhang von Stadt und Kultur weiter: „Die bloßen Namen Granada, Venedig, Nürnberg zaubern sofort ein festes Bild heraus, denn alles, was eine Kultur hervorbringt an Religion, Kunst und Wissen, ist in solchen Städten entstanden. Die Kreuzzüge entsprangen noch aus dem Geist der Ritterburgen und ländlichen Klöster, die Reformation ist städtisch [...]; das Drama, in dem das wache Leben sich selbst prüft, ist Stadtpoesie, und der
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große Roman, der Blick des befreiten Geistes auf alles Menschliche, setzt die Weltstadt voraus.“
2. Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit In Kapitel I wurde hervorgehoben, dass die Stadt in ihren Anfängen und ihrer Geschichte immer ein Ort der Zentralisierung war: zunächst vor allem von Kulten, religiösen Bräuchen und entsprechend von Sakralarchitektur. Die ersten Städte, soweit wir Kunde haben, bargen und bewahrten nicht nur das Heilige, sondern waren selbst heilig. Andere Funktionen und Zentralisierungen lagerten sich an oder waren von allem Anfang an mit der Stadt verbunden: Königtum, Regierung, Militär, die ersten Schulen und Akademien, die Ausbildungsstätten der Priester und Priesterinnen, die vielen Kunsthandwerke usw. Einen herausragenden Stellenwert nimmt die Stadtarchitektur ein: Sie symbolisiert das Heilige, aber auch Macht; und sie ist in ihrem Erscheinungsbild über Jahrhunderte und Jahrtausende hin das sichtbarste Zeichen von Stadtkultur und ihrer Kontinuität. Von der Antike bis in die Gegenwart werden ganze Kulturepochen mit dem Namen einer Stadt benannt – Rom und Byzanz, Venedig und Florenz sind Ausgang und Zentrum einer besonderen Kultur und Herrschaftsform und im Falle Venedigs bis auf den heutigen Tag ein Kunstwerk: Stadt und Kultur in einer wechselseitigen Durchdringung, Steigerung und Apotheose, die im Kult, den die Serenissima schließlich mit sich selbst trieb, gipfelte. Venedig ist auch in anderer Hinsicht ein frühes Beispiel für die religiöse Stadtkultur des Mittelalters: Seitdem man sich im Jahre 828 in den Besitz der Gebeine des heiligen Markus gebracht hatte, war ein kulturelles Zentrum von außerordentlicher Wirksamkeit und Bedeutung entstanden. Ähnlich war es in Paris, wo Notre Dame an der Stätte uralter Kulte steht. Mittelalterliche Stadtkultur entwickelte sich zunächst in Konkurrenz und Auseinandersetzung mit der auch territorial so mächtigen Klosterkultur. Dass auch die Anlage mittelalterlicher Städte sich um ein geistig-religiöses Zentrum gruppierte, mit dem Stadtheiligen als Mittelpunkt des religiösen Lebens, ist noch heute in vielen Städten abzulesen, die sich in ihrer Bausubstanz, Straßenführung und Platzgestaltung das mittelalterliche Gepräge bewahrt haben. Natürlich darf man bei der Betrachtung der Stadtkultur bzw. des Zusammenhangs von Stadt und Kultur im Mittelalter nicht nur an die religiös geprägten Strukturen, Alltagskulturen und Verhaltensweisen denken; man übersähe sonst die ökonomische Bedeutung der Städte als Marktorte und Zentren von Handelswegen und die so wichtige Kultur der Rechtsentwicklung, der mittelalterlichen Kleiderordnung, des Münzwesens und all jener Errungenschaften, die die Kultur der frühbür-
III. Stadt und Kultur
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gerlichen Gesellschaft und des Frühkapitalismus prägen, vom Bankwesen und der doppelten Buchführung bis zu neuen Handelsgesellschaften und Städtebünden (von denen die Hanse der berühmteste ist). „Liebe, Luxus und Kapitalismus“ haben, wie Werner Sombarts gleichnamiges Buch (1912/1986) veranschaulicht, die Stadt der Früh-Renaissance zur Voraussetzung. Neben die religiös geprägte Stadtkultur des Mittelalters, die auch noch die Gestaltung der öffentlichen Plätze und Brunnen, der Brücken (Brückenheilige) und der Außenansichten von Profanbauten (Erkerfiguren; Fresken; Giebel- und Fassadenschmuck usw.) bestimmte, treten seit Renaissance und Barock bzw. seit dem Absolutismus neue Zentren des geistig-kulturellen Lebens: mit Stadtschloss und neuen Formen des Hoflebens; mit ersten öffentlich zugänglichen Parks (die in ihrer Anlage selbst wiederum zum Teil außerordentliche Kunstschöpfungen und Meisterwerke sind) und den fürstlichen Sammlungen als Vorläufer der gerade in der Gegenwart so bedeutsamen städtischen Museumskultur. Bei der Betonung des Zusammenhangs von Stadt und Kultur darf die ökonomische Funktion der Kultureinrichtungen nicht übersehen werden. Das gilt in den mittelalterlichen Städten zumal für die Beschaffung repräsentativer Reliquien. Neben Venedig ist Köln an herausragender Stelle zu nennen. Die Entwendung der Reliquien der heiligen drei Könige nach der Zerstörung Mailands im Jahr 1162 durch Kaiser Friedrich I. und seinen Kanzler und Erzbischof von Köln, Rainald von Dassel, brachte der Stadt in vielfacher Hinsicht enormen Aufschwung (Dombau, Pilgerort). Zu den „hochrangigen kulturellen Stadtfunktionen im deutschen Städtesystem“, die sich bereits vor der Industrialisierung herausgebildet hatten, rechnet Blotevogel (1983) auch die Schwerpunkte des Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlagswesens, die bis zur zweiten Hälfte des 18. Jh.s mit den wichtigsten Handelszentren identisch waren: Hamburg, Köln, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg und vor allem Leipzig.
3. Stadt und Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft seit Ende des 18. Jh.s wurde die Stadtkultur nicht mehr allein von einem religiös fundierten, geistigkulturellen Zentrum her bestimmt, sondern gewann durch Ausdifferenzierung gegenüber der Stadtgesellschaft an Autonomie. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und dem Nationalstaat löste sich der enge Zusammenhang einer spezifischen, ortstypischen Stadtkultur. Durch die Entwicklung der Industriegesellschaft und die Expansion des städtischen Systems in die Fläche (und in die Höhe) wuchsen den Städten neue Aufgaben zu. Dies führte zum einen zu veränderten Inhalten der Stadtkultur, zum anderen zum Zu-
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rückdrängen von Kirchen und Klöstern im Stadtbild. Hierzu haben neue Bauaufgaben – Rathäuser und Bahnhöfe, Kaufhäuser, Gas- und Wassertürme – erheblich beigetragen. Die Bedeutung der Universitäten als kulturelle Standortfaktoren bedürfte einer besonderen Betrachtung (vgl. Ellwein 1997). Auch hier wurden im Zuge der Doppelrevolution die Weichen völlig neu gestellt. Die Mehrzahl der aus dem Mittelalter überkommenen Universitäten wurde geschlossen; die Neugründungen, beginnend mit Berlin 1809/1810, folgten völlig neuen Prinzipien. Hinzu kam die Gründung technischer Lehranstalten in den Residenzstädten, beginnend in Karlsruhe 1825, dann in Braunschweig, Darmstadt und München, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zu Technischen Hochschulen entwickelten. Diese Entwicklung war und ist – wie auch z.B. die weiteren Gründungswellen von Universitäten und Hochschulen seit den 1960er Jahren – für die Kulturbedeutung von Städten und Regionen von primärer Bedeutung. Auch die weiteren kulturellen Stadtfunktionen und Verteilungsmuster für die Theater-„Landschaft“, die Weiter- und Neuentwicklung der Massenkommunikationsmedien (nach der Presse auch Film, Hörfunk und Fernsehen) können hier in ihrer Bedeutung nicht weiter verfolgt werden. Ausdifferenzierungen der Kultur durch Ökonomie und Technik Der Zusammenhang von Stadt und Kultur unter den Bedingungen der bürgerlichen und der industriellen, der marktorientierten und kapitalistischen Gesellschaft stellte sich also vielfach neu. Wollte man ihn zureichend schildern, müsste man den Prozess der Rationalisierung (Max Weber), die Transformation von der traditionalen zur bürgerlichen Gesellschaft bzw. das „Projekt der Moderne“ (Jürgen Habermas) in Grundzügen darstellen und deren Implikationen für Stadt und Kultur kenntlich machen. Nur folgende Punkte seien genannt: 1.
2. 3. 4.
Die Säkularisation der Kulturentwicklung ging von den großen Städten aus, ebenso die Entwicklung völlig neuer Verhaltensweisen der bürgerlichen Großstadtbewohner: vom Dandy und Flaneur bis zur Jeunesse dorée; von den neuen Berufen der Aktienhändler, Journalisten usw. (vgl. hierzu die Romane Honoré des Balzacs zwischen 1830 und 1850; die Texte Walter Benjamins über Paris, 1982); das „Geldprinzip“ (Georg Simmel) und das ubiquitär werdende „Tauschprinzip“ lösten alle anderen Verkehrsformen ab und stellten – zumal in den großen Städten – die Beziehung der Menschen auf eine neue Basis; ein Aktivismus der Welt- und Naturbeherrschung gab der Entwicklung von Städten und Gesellschaften eine völlig neue Dynamik, die bis heute nicht nur ungebrochen ist, sondern weltweit expandiert; die Menschen – und nicht nur in den Städten als bisherigen Zentren von Information und Austausch – werden hineingezogen in die Ausweitung der Kommunikations- und Nachrichtentechnik, die sich gegenwärtig zu einer neuen Form der Informations- und Wissensgesellschaft verdichtet (vgl. Kapitel III);
III. Stadt und Kultur 5.
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gleichzeitig mit dem dichter werdenden Geflecht gesellschaftlicher Tatsachen, der wachsenden Komplexität von Systemen und Interdependenzen wächst auch der „Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft [...], der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens, zu bewahren“ (Simmel 1957: 227);
Das moderne Lebensgefühl ist mehr und mehr kurzfristigen Moden und Trends unterworfen und nicht länger an epochalen Stilen und sonstigen Kontinuitäten orientiert. „Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewusstsein“ (Simmel) werden in einer ständig wachsenden „Kulturindustrie“ (Theodor W. Adorno) immer umfänglicher und okkupierender; sie machen individuelles Leben unpersönlicher und Kultur zur reproduzierbaren Ware, zum Genuss- und Konsumwert unter anderen. Zugleich wollen Kunst und Kultur in vielen ihrer Erscheinungsformen diesen Trends der Entpersönlichung und der Kommerzialisierung ihrer selbst entgegenwirken und erzeugen damit ein eigenartiges Spannungsverhältnis zur Alltagswelt. Neue Orte der Stadtkultur Die europäischen Metropolen des Industrie- und Maschinenzeitalters im 19. Jh., London und Paris, Berlin und Mailand, Hamburg und Barcelona, waren die Schauplätze, an denen die mit diesen Trends verknüpften Entwicklungen der Industriekultur, der neuen Formen städtischer Öffentlichkeit, des Konsums, der Information usw. auf engstem Raum anschaulich wurden. Damals entwickelten sich in den Metropolen des kapitalistisch-industriellen Zeitalters jene Elemente der Stadtkultur, die bis heute als unverzichtbar für eine lebendige städtische Öffentlichkeit gelten: ein differenziertes Kultur- und Unterhaltungsangebot; leicht zugängliche Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten; Sport als Freizeitbeschäftigung und zur Unterhaltung; Cafés, Museen, literarische Zirkel, Kunst-, Kultur- und Bildungsvereine der verschiedenen Klassen und Berufsstände. Die Passage, seit den 1820er Jahren in allen größeren Städten Europas errichtet, wurde zum Sinnbild dieser neuen Konsumkultur und Stadtarchitektur (vgl. das grundlegende Werk von Geist 1969). In seinem „Passagen-Werk“, das aus dem Nachlass herausgegeben wurde (1982), hat Walter Benjamin (1892-1940) der Passage große Aufmerksamkeit gewidmet, weil er hier den Zusammenhang von neuem Bautypus und Warenfetischismus, von neuer Konsumorientierung und Lebensweise (zumal des von ihm skizzierten Flaneurs) als Einheit sah. Benjamin zitiert (1982: 83) als „locus classicus für die Darstellung der Passagen“ folgende Stelle aus einem illustrierten Parisführer des Jahres 1852: „Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die das Licht von
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oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist“. An anderer Stelle (S. 91) ergänzt Benjamin: „Offenbar wurde in den Passagen schon geraucht, als es im übrigen auf der Straße noch nicht üblich war“. „Zum erstenmal in der Geschichte beginnen, mit der Gründung der Warenhäuser, die Konsumenten sich als Masse zu fühlen [...]. Damit steigert sich das circensische und schaustückhafte Element des Handels ganz außerordentlich“ (S. 93). Abb. 20
Galleria Vittorio Emanuele II. in Mailand
Die 1865-1867 vom Bologneser Guiseppe Mengoni errichtete Stahl- und Glaskonstruktion ist noch immer der Treffpunkt des großbürgerlichen Mailand.
Quelle: Peter Peter 2006: 36
Auf Gebieten wie dem Presse- und Zeitschriftenwesen entwickelten einzelne Städte eine heute nicht mehr gegebene Vielfalt: Im Berlin der 1920er Jahre gab es nicht weniger als 45 überregional bekannte Morgenzeitungen, zwei Mittagsblätter und 14 Abendzeitungen (mit Berlin als Verlagsort).
4. Stadterneuerung und Stadtkultur seit den 1970er Jahren Die neuere Diskussion um Stadtkultur ist eng mit dem Begriff Urbanität verknüpft (vgl. hierzu S. 160ff.). Urbanität wurde zur Metapher für Voraussetzung und Ergebnis einer lebendigen Stadtkultur. Andere Voraussetzungen sind eine differenzierte städtische Öffentlichkeit und eine Kultur der Partizipation. Die Städte waren zum Teil „unwirtlich“ (Alexander Mitscherlich) geworden; der funktionalistische Modernisierungsprozess war für Städte und ihre Kultur auch ein Nivellierungsprozess. Neue Presseerzeugnisse und auch das Fernsehen verstärkten diese Entwicklungen. Noch 1971 hatte John Kenneth Galbraith in einem Referat vor dem Deutschen Städtetag in München (ein Jahr vor der dortigen Olympiade) allen Grund, vor den Fehlentwicklungen der „ökonomischen Stadt“ zu warnen (Sauberzweig 1986: 7).
III. Stadt und Kultur Abb. 21
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Hansaviertel Berlin
Indikatoren der Unwirtlichkeit: Im Hansaviertel wurden in unmittelbarer Umgebung zweier benachbarter achtgeschossiger Wohnhäuser seinerzeit 19 Verbotstafeln gezählt.
Quelle: Wolf Jobst Siedler/ Elisabeth Niggemeyer 1993:27
Im gleichen Jahr wurde das Städtebauförderungsgesetz verabschiedet und eine Reihe sozialer und kultureller Bewegungen trugen dazu bei, den Städten neue Dimensionen von Urbanität und Kultur zu erschließen. 1973 legte der Deutsche Städtetag unter dem Titel „Wege zur menschlichen Stadt“ eine Schrift vor, die die kulturelle Qualität der Städte deutlich hervorhob, zumal in der programmatischen Stellungnahme: „Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung“. Hier wurde nicht nur für die Erweiterung des traditionalen (deutschen) Kulturbegriffes plädiert, sondern es wurden auch jene Dimensionen der Stadtkultur angesprochen, die seither in Theorie und Praxis sowohl das Bild der Stadt als auch die Diskussionen über Stadt und Kultur bestimmen. Der Deutsche Städtetag mit seinen Initiativen und Schriften seit Anfang der 1970er Jahre, aber auch einzelne kommunale Kulturpolitiker, wie Hermann Glaser in Nürnberg und Hilmar Hoffmann in Frankfurt, hatten durch ihre Reden und Schriften großen Anteil daran, dass die Zusammenhänge von Stadt und Kultur praktisch wie theoretisch neue Impulse bekamen. Diese Diskussionen und Entwicklungen können wie folgt zusammengefasst werden: Rückgewinnung einer „kulturellen Topographie“. Hierunter ist die architektonische und stadtplanerische Rückbesinnung auf diejenigen Elemente der Stadtstruktur und Stadtkultur zu verstehen, die überhaupt erst den „Rahmen“ abgeben für Urbanität und alle Formen und Verhaltensweisen, die man umgangssprachlich als „kultiviert“ bezeichnet; hierzu gehört auch die seit Beginn der 1970er Jahre so stark betonte Rückbesinnung auf den Wert historischer Bausubstanz als Grundelement der Stadtkultur. Differenziert und erweitert wurde diese „kulturelle Topographie“ durch neue kulturelle Einrichtungen. Neben die traditionellen Einrichtungen der „repräsentati-
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
ven Stadtkultur“ wie Theater und Museen, Bibliotheken und Orchester, Musikschulen und Volksbildungsstätten traten seit Ende der 1960er Jahre neue Einrichtungen wie Volkshäuser und Bürgerhäuser, Freizeitheime und Kommunikationszentren, Stadt- und Stadtteilzeitungen, neue Formen des Kinos und des Kinder- und Jugendtheaters. Es entwickelten sich Kulturläden und Geschichtsvereine und die „kulturpädagogischen Dienste“ nicht nur im Museums-, sondern auch im Theaterbereich. Eine weitere Einrichtung ist der „Kulturbus“, der Informationen über kulturelle Veranstaltungen in alle Stadtteile bringt. Zu nennen sind ferner die neuen stadtspezifischen Literatur-, Kunst- und Kulturpreise, die Stadtfeste und Festspiele und die in zahlreichen Städten nun vorhandenen „Stadtschreiber“ (beginnend in Frankfurt/Bergen-Enkheim 1973). Auch die seit den 1970er Jahren institutionalisierten lokalen bzw. lokalbezogenen Rundfunk- und Fernsehsendungen bzw. -anstalten müssen als wichtiges neues Element der Stadtkultur genannt werden (Glaser 1974; Hoffmann 1981). Städtische Kulturpolitik umfasst auch die Namenspolitik für Straßen, Gebäude und Plätze. In der Tat könnte man auf dieser Basis und in Anbetracht der Umbenennungen (oder auch der Nicht-Benennung) einen kleinen Beitrag zur allgemeinen und stadtspezifischen Kultur- und Politikgeschichte schreiben. Auch die europäischen Städtepartnerschaften geben der städtischen Kulturpolitik neue Akzente und Impulse. Die Vielfalt neuer kommunaler Kulturpolitiken und -einrichtungen ist nicht zuletzt zurückzuführen auf Änderungen in der Bildungs- und der Sozialstruktur, der Zunahme an Freizeit, der Ausbreitung der Medienkultur und einer neuen partizipativen Stadtkultur. Auslösend hierfür war die Entwicklung der Bürgerinitiativbewegung seit Mitte der 1960er Jahre, die nicht zuletzt entstand, um der „ökonomischen Stadtentwicklung“ Einhalt zu gebieten, und – zumal in kleineren Städten – die kommunale Neugliederung der Jahre 1968 bis 1978, durch die auf die so wichtige Gestaltung des Nahbereichs und der Stadt als „Heimat“ verwiesen wurde (Moosmann 1980). Diese Partizipationsbewegung ist ein Element der „politischen Kultur“, der städtischen Öffentlichkeit und stadtbezogenen Aktivitäten der Bürger geworden (vgl. auch die in diesem Zusammenhang entstandene Planungszelle, Dienel 2002). Eine lebendige Stadtkultur setzt eine funktionierende städtische Öffentlichkeit voraus, d.h. Angebote für Verhaltensmöglichkeiten auf relativ engem Raum, die die Vielfalt der städtischen Lebenswelt sichtbar machen: die sozialen und kulturellen Widersprüche, die alternativen Lebensmöglichkeiten und kulturellen Entwicklungen, die vielfältigen Formen der Begegnung und Kommunikation, des Austauschs von Waren und kulturellen Gütern aller Art.
III. Stadt und Kultur
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5. Stadtkultur und Stadtökonomie Die öffentlich-repräsentative Stadtkultur hat in Deutschland eine lange Tradition, die in der Bundesrepublik wieder aufgenommen wurde und seit Beginn der 1970er Jahre neue Impulse bekam. Allein die quantitativen Größenordnungen sind beeindruckend. In der Bundesrepublik gibt es 6 Tsd. Museen (inkl. Privatmuseen), 1000 Volkshochschulen, 180 Theater, 141 Berufsorchester, 14 Tsd.0 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken sowie viele Einrichtungen mehr, die sich fast ausschließlich in öffentlicher Trägerschaft befinden (vgl. Angaben des Auswärtigen Amtes unter www.tatsachen-ueber-deutschland.de). Fast zwei Drittel der jährlich in der Bundesrepublik getätigten Ausgaben für Kultur werden über die Gemeindehaushalte finanziert. Höchst unterschiedlich ist die Ausgabenstruktur der Städte und Gemeinden für die Kulturaufgaben: Es gibt große Schwankungsbreiten zwischen den einzelnen Städten (ungeachtet des Tatbestandes, dass verschiedene Ausgaben schwer vergleichbar sind oder über deren kulturellen Gehalt gestritten werden kann; so rechnen einzelne Gemeinden auch die Ausgaben für Jugend, Sport oder für Bürgerhäuser zu den Kulturausgaben). Die Städte legen nun auch Kulturentwicklungspläne vor, in deren Rahmen auf der Basis der mit Wege- und Verkehrsplänen (Erreichbarkeit) abgebildeten Kultureinrichtungen in den Stadtteilen differenzierte Förderungs- und Entwicklungsvorschläge erarbeitet werden. Diese orientieren sich u.a. an den Bereichen Bibliotheken und Archive; Museumswesen und Denkmalpflege; Bildende Kunst, Musik, Theater und Film; kulturelle Weiterbildung und kulturelle Stadtteilarbeit; kulturelle Ausländerarbeit und Kulturarbeit für und mit Arbeitnehmern. In den letzten Jahren hat die Inszenierung der Stadtkultur – auch aus ökonomischen Gründen – einen bedeutenden Stellenwert sowohl für die Imagepflege und Stadtidentität als auch für die Ökonomie der Stadt bekommen. Hierzu zählen nicht nur die Aufführungen populärer Musicals oder bedeutende Ausstellungen in Museen, die große Massen in einzelne Städte bringen und sich auf die Stadtökonomie positiv auswirken, sondern auch Vorhaben wie der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden.
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
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Kapitel IV: Stadt und Raum. Stadt und Land. Stadt und Kultur
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
Inhalt I.
Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und Demokratie
1. 2. 3. 4.
Öffentlichkeit als Prinzip der demokratischen (Stadt-)Gesellschaft Struktur und Wandel städtischer Öffentlichkeit Besonderheiten städtischer Öffentlichkeit und städtischen Verhaltens Denaturierungen und Gefährdungen des öffentlichen Raumes 4.1 Zerstörung von Urbanität und Öffentlichkeit im Totalitarismus 4.2 Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raumes 4.3 Schließung öffentlicher Räume
II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens 1. 2. 3.
Die europäische Stadt im Spiegel von Urbanität Die Diskussion von Urbanität nach 1960 Möglichkeiten und Gefährdungen von Urbanität 3.1 Neue soziale Lagen und Milieus als Bausteine der Stadtkultur und Urbanität 3.2 Wertwandel und „Erlebnisgesellschaft“ als Bausteine von Urbanität
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie Das öffentliche Leben, bios politikos, spielt sich auf dem Marktplatz, der agora, ab, ist aber nicht etwa lokal gebunden: Öffentlichkeit konstituiert sich im Gespräch (lexis) […] ebenso wie im gemeinsamen Tun (praxis) […]. Jürgen Habermas
1. Öffentlichkeit als Prinzip der demokratischen (Stadt-) Gesellschaft Öffentlichkeit ist einer der zentralen Begriffe der Aufklärung und der sich herausbildenden bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Sie bezeichnet zunächst ein Prinzip des allgemeinen Zugangs, z.B. zu Versammlungen und Örtlichkeiten; dann den Grundsatz der Publizität als Voraussetzung für Transparenz bei Angelegenheiten von allgemeinem – „öffentlichem“ – Interesse; des Weiteren eine Methode der Aufklärung und Transparenz zur Freiheitssicherung der Bürger und schließlich, als politische Öffentlichkeit, ein Strukturmerkmal moderner Demokratien und damit ein Medium der Kontrolle von Herrschaft. Öffentlichkeit als Prinzip ist in demokratisch-bürgerlichen Gesellschaften nicht auf Staat und Verwaltung, Rechtsordnung und Rechtsprechung, Herrschaft und allgemeine soziale Kontrolle beschränkt, sondern gilt als Strukturprinzip auch für die Wissenschaft, die Künste und andere Gesellschaftsbereiche. Dieses Prinzip der Öffentlichkeit lässt sich weit in die europäische Geschichte zurückverfolgen, die an ihrem Anfang, wie dargestellt, auch und vor allem Stadtgeschichte war: der griechischen polis und der römischen urbs. Politische Entscheidungsprozesse und die Entwicklung der agora, des griechischen Markt- und Versammlungsplatzes, haben bereits von der Entstehung her eine enge Beziehung. Die von Vitruv um 25 v.Chr. verfassten „Zehn Bücher über Architektur“ geben zahlreiche Hinweise auf die Bedeutung der öffentlichen Plätze, der Märkte und Foren für eine funktionierende Stadtgesellschaft. Auch die mittelalterlichen Städte sind so angelegt, dass die Prinzipien der bürgerlichen Stadtgesellschaft, bis hin zur Herrschaftsordnung, am Markt und zentralen Stadtplatz zur Anschauung kommen: durch das Rathaus oder auch durch Symbole wie die Waage der Justitia oder das Richtschwert. In diesen mittelalterlichen Städten bereitet sich vor, baulich und politisch, was dann in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jh. zu einer „epochaltypischen Kategorie“ (Habermas) werden sollte: ein revolutionäres Element der Umgestaltung einer „geschlossenen“ zu
I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie
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einer „offenen Gesellschaft“, wie Karl R. Popper die liberalen, auf Markt, Kritik und Öffentlichkeit basierenden Bürgergesellschaften bezeichnete. Abb. 22
Marktplatz Lucca
Die Aufnahme von Lucca bietet ein anschauliches Beispiel der Beständigkeit des öffentlichen Raums. Die Piazza del Anfiteatro wurde auf den Resten eines römischen Amphitheaters errichtet; die Häuser stehen dort, wo einst die Zuschauerränge waren, die ehemalige Arena wurde zum Marktplatz. Der dreieckige Platz im Vordergrund liegt vor der romanischen Kirche S. Pietro Somaldi. Die Baumreihe im Hintergrund markiert die ausgedehnten Wallanlagen aus Quelle: Spiro Kostof 1993: 173 dem 16. und 17. Jh.
Erst seit dem späten 17. Jh. kam es in England, dann in Frankreich und anderen Ländern zur Ausbildung einer „öffentlichen Meinung“ und einer strukturell breit verankerten Öffentlichkeit im heutigen Verständnis. Die Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas 1962/2001) wurde zum Medium, in dem die Belange der Bürger zum öffentlichen Interesse und schließlich über das Parlament zum staatlichen Willen und Gesetz avancierten. Habermas weist auch darauf hin, was hier von besonderem Interesse ist, dass das Strukturprinzip Öffentlichkeit Straßen und Plätze, öffentliche Orte der Versammlung und der Kommunikation voraussetzte. Die sich auf dieser Basis herausbildende bürgerliche Gesellschaft hatte die Trennung und Ausdifferenzierung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre ebenso zur Voraussetzung wie die von privatem und öffentlichem Bereich. Darauf musste auch städtebaulich reagiert werden. Für die frühbürgerliche Gesellschaft ist neben Märkten und weiteren Stadt- und Festplätzen der Corso zu nennen, eine wohl zuerst in Rom entwickelte, prachtvolle Ausfallstraße (in Rom bis heute zur Piazza del Popolo), auf der seit der Barockzeit die wohlhabenden Bürger und Ad-
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
ligen in ihren offenen Kutschen defilierten und sich vom Fußgänger-Publikum bewundern ließen. Seit dem 19. Jh. und der Entwicklung zur industriell bürgerlichen Großstadt kommen hinzu das Trottoir, die Boulevards und schließlich die Passagen (vgl. S. 141f.). Hierdurch und durch die Bebauung mit innerstädtischen Wohnblocks wird die Ausprägung einer bürgerlich-privaten und öffentlichen Sphäre ermöglicht. Oft wird bei der Darstellung dieser Entwicklung vergessen, welchen bedeutenden Anteil die Wiederbelebung der städtischen Autonomie am „Funktionieren“ dieses Modells hatte, die ja im Zuge der Entwicklung zum Absolutismus und des frühbürgerlichen Staates verloren gegangen war. Gerade angesichts des gegenwärtigen, spürbaren Verlusts an gemeindlicher Autonomie und einer offenen wie schleichenden Aushöhlung von Art. 28 GG, der die Gemeindeautonomie sichert, ist daran zu erinnern, dass die Wiederbelebung des bürgerschaftlichen Interesses an der Stadtgemeinde als Reaktion auf den Zusammenbruch des preußischen Staates im Jahre 1806 erfolgte. Darum seien einige Passagen aus der einführenden Verlautbarung von König Friedrich Wilhelm III. zur „Preußischen Städteordnung“ von 1808, nach ihrem Urheber Karl Reichsherr vom und zum Stein (1757-1831) auch Steinsche Städteordnung genannt, zitiert: „Der besonders in neuern Zeiten sichtbar gewordene Mangel an angemessenen Bestimmungen in Absicht des städtischen Gemeinwesens und der Vertretung der Stadt-Gemeinde, das jetzt nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse der Bürger und das dringend sich äußernde Bedürfniß einer wirksamem Theilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens, überzeugen Uns von der Nothwendigkeit, den Städten eine selbständigere und bessere Verfassung zu geben, in der Bürgergemeinde einen festen VereinigungsPunkt gesetzlich zu bilden, ihnen eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch die Theilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten“.
Der Kern dieser Städteordnung ist in Art. 28 GG bewahrt, auch aus der historischen Erfahrung heraus, dass die Gemeinden das Fundament des politischen Zusammenlebens und ein Gegengewicht zum zentralistischen Staat bilden. Wie nach den napoleonischen Kriegen sollte auch nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg durch die Reaktivierung des bürgerschaftlichen Gemeinschaftssinns ein Fundament für einen neuen Staat geschaffen werden. Die damals auch in der Pädagogik der Reeducation viel zitierten Vorstellungen des amerikanischen philosophischen Pragmatisten John Dewey (1859-1952), dass Schule und Gemeinde die Basis der Einübung demokratischer Verhaltensweisen seien, waren bei der Gemeindereform in den angelsächsischen Zonen lebendig und fanden Eingang in den ab 1946 erlassenen Gemeindeordnungen. Nicht zuletzt sollten auch das Führerprinzip und die Traditionsbrüche der „Deutschen Gemeindeordnung“ von 1935 rückgängig gemacht werden, die reichseinheitlich war und mit den Grundsätzen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates gebrochen hatte.
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Dieser kurze Überblick zum Stellenwert der Gemeindeordnungen im Gesellschafts- und Staatsaufbau kann in folgender These zusammengefasst werden: Die verfassungsrechtlich garantierte Öffentlichkeit als Prinzip des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens bliebe schwach, abstrakt und wirkungslos, wenn sie nicht in den Städten und Gemeinden sowohl politisch wie städtebaulich zur Anschauung käme. Keine Demokratie könne, so heißt es zugespitzt bei Edgar Salin, „von einer staatlichen Zentrale aus gebaut und verwurzelt“ werden (1960: 30).
2. Struktur und Wandel städtischer Öffentlichkeit Städtische Öffentlichkeit lässt sich unter anderem durch die folgenden Phänomene und Funktionen definieren:
Orte zu haben für den Austausch von Waren und Gütern aller Art; Orte zu haben für Repräsentation und Darstellung der verschiedenen sozialen Gruppen und Individuen, um die Komplexität der Lebenswelt und Lebensformen öffentlich sichtbar zu machen; Orte zu haben, an denen kulturelle und soziale Widersprüche deutlich werden und zur Sprache kommen können. „Sprache“ kann jede Form des verbalen, des folkloristischen, des gruppenspezifischen oder künstlerischen Ausdrucks sein; Orte zu haben für den interessierten Umgang der Bürgerinnen und Bürger mit Kunst und den avantgardistischen Tendenzen im öffentlichen Raum.
Der öffentliche Raum, so hat es der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) ausgedrückt, ist unentbehrlich, weil in ihm die „Ubiquität des Menschlichen zur Sprache“ komme. Und der Stadtplaner Thomas Sieverts sagt in einem Beitrag über „Die Gestaltung des öffentlichen Raumes“, dass dieser „das Grundgesetz der Stadt“ sei und deren Würde verkörpere; darum sei er unantastbar. Das ist so formuliert – und dem kann nach den einführenden Aussagen über den Stellenwert von Öffentlichkeit in einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft nur zugestimmt werden –, als ginge es um eine grundgesetzliche Verankerung von städtischer Öffentlichkeit als Basiselement bürgerlicher Freiheit. Ist dieser Stellenwert von städtischer Öffentlichkeit auch unbestritten, so gibt es doch einige Veränderungen, die nicht nur Dimensionen der Platzgestaltung berühren, sondern von prinzipieller Bedeutung sind: Die radikale Funktionstrennung und damit räumliche Entmischung der Bereiche Wohnen und Arbeiten, Verkehr und Erholung, wie sie in der Charta von Athen (1933/41), dem wohl bekanntesten städtebaulichen Manifest des 20. Jh.s, festgeschrieben wurde, war zweifellos ein Erfordernis „humanen Städtebaus“. Sie war aber auch eine Ursache dafür, dass eine spezifische Form städtischer Öffentlichkeit mehr und mehr der Vergangenheit angehörte. Nur dadurch konnte, wie noch auszuführen ist, der Ruf nach mehr Ur-
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banität im Städtebau nach 1960 so viel Resonanz erhalten. Der Bau suburbaner Stadtteile und die durch den massenhaft werdenden Autoverkehr ermöglichte Suburbanisierung hatten die engen Bindungen der Suburbaniten an die Kernstadt gelockert. Als Folge dieser Entwicklungen hat die heutige städtische Öffentlichkeit, zumal im Innenstadtbereich, eine völlig andere Zusammensetzung als die traditionale, auf kleinem Raum funktionsgemischte europäische Stadt. Heute sind es überwiegend Menschen aus den städtischen Randzonen und suburbanen Räumen, die zum Einkaufen und Konsumieren oder zum Besuch von Einrichtungen aller Art in die Stadt kommen, ergänzt durch die wachsenden Scharen von Touristen und Fremden, die attraktive innerstädtische Orte und Plätze bevölkern. Zu den veränderten Randbedingungen der politischen städtischen Öffentlichkeit gehören die staatlichen Zentralisierungen und der Rückgang einer eigenständigen Lokalpresse. Trotz der großen Bedeutung städtischer Plätze und offener Stadträume darf nicht übersehen werden, dass das A und O der städtischen Öffentlichkeit eine funktionierende, niemanden ausschließende politische Öffentlichkeit ist.
3. Besonderheiten städtischer Öffentlichkeit und öffentlichen Verhaltens Öffentlichkeit, zumal die in Stadträumen, setzt nicht nur eine ganz spezifisch gebaute Umwelt voraus, sondern auch Mithandelnde, die sich im Sinne einer Kultur der Öffentlichkeit verhalten können – und auch wollen. Verhalten und Handeln im öffentlichen Raum müssen erlernt werden: Die für öffentliche Kommunikation erforderlichen Werte und Normen, Sprache und Gestik, Mimik und Symbolik setzen lange, nie endende Prozesse des Einübens, des Verstehens, kurz, der Sozialisation und der Übernahme kulturspezifischer Verhaltensweisen voraus. Die Komplexität des öffentlichen Verhaltens, besonders im großstädtischen Raum, verdeutlicht Schaubild 5. Öffentliches Verhalten bzw. Verhalten in öffentlichen Räumen unterscheidet sich deutlich von den typischen Verhaltensmustern in privaten und gemeinschaftlichen, gruppenspezifischen und institutionellen Zusammenhängen. Auf die besonderen Qualitäten des Verhaltens in der Öffentlichkeit und im öffentlichen Raum hat niemand eindringlicher hingewiesen als der Soziologe Hans Paul Bahrdt (19181994) in seinem 1961 zuerst erschienenen Band „Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau“ (vgl. hierzu auch die Textauszüge im Anhang zu Kap. III).
I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie Schaubild 5
Öffentliches Verhalten im großstädtischen Raum
Soziale Differenzierung - Pluralisierung - Rollendifferenzierung - Polyvalenz - Polykontexturalität
Individualisierung -
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Selbstverantwortung Identitätsproblematik Selbstkontrolle Lebensstilisierung
Strukturwandel der Stadt Öffentliches Verhalten -
Anpassung Scham Macht Lust Festivalisierung Alltag
- Polyzentrismus - Funktionentrennung - Gentrifizierung - Dominanz des Verkehrs
Stadt-Räume -
zentral vs. dezentral anonym vs. vertraut mono- vs. multifunktional neue Erlebnisräume
Quelle: Eva Maria Eckel 1998: 176
Bahrdt stellte die öffentliche Sphäre, die städtebaulich bestimmte Raumkonfigurationen voraussetze, der privaten Sphäre gegenüber. Als urban definierte er eine Stadt, in der dieses Spannungsverhältnis deutlich erlebbar ausgeprägt sei. Öffentlichkeit ist ein Forum, auf dem Einheimische und Fremde einer pluralisierten Stadtgesellschaft sich selbst begegnen und sich durch „darstellendes“ Verhalten „repräsentieren“. Je stärker die Polarität zwischen öffentlichen und privaten Verhaltensweisen ausgeprägt ist und ihr städtebaulich entsprochen wird, desto städtischer und urbaner ist eine Ansiedlung (Bahrdt 1998: 81ff.). Nur wo die politische Öffentlichkeit mediatisiert ist, also der Staat nicht direkt auf die Bürger „durchgreift“, ist städtische Öffentlichkeit möglich. Mehr denn je ist es in der multikulturell mitgeprägten, in der immer anonymer und abstrakter werdenden Gesellschaft und Stadtgesellschaft erforderlich, die Differenz und damit die Unterschiedlichkeit zu anderen Menschen wahrzunehmen und „auszuhalten“. Gefordert ist ein Verhalten – und natürlich die entsprechende Einstellung und Motivation –, das Distanzierung und Annäherung zugleich erlaubt: urbanes Leben als Spannungsverhältnis zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz. Bahrdt ließ dieser Schrift 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, in der die Kritik an der gebauten Umwelt ein Angelpunkt der Gesellschaftskritik war, sein Werk „Humaner Städtebau“ folgen, in dem er noch stärker auf die städtebaulichen Grundlagen einging. Hier bezog er die Kategorie der Öffentlichkeit auch auf das Wohnquartier. „Das Wohnquartier ist der Ort für eine kleinräumige, beschauliche Öffentlichkeit des Alltags, die weniger Überraschungen und Faszinationen bietet als die öffentliche Sphäre der City. Die Quartiersöffentlichkeit wirkt in einer
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spezifischen Weise vertraut und anheimelnd, ist aber wie jede städtische Öffentlichkeit durch ein Überwiegen von Anonymität und durch das Offensein für eine beliebige Mischung von Funktionen heterogener Art gekennzeichnet, also auch durch die Freiheit der Individuen zu Kontaktaufnahme und Distanz.“ Es gibt gute Gründe, der Quartiersöffentlichkeit und damit dem Wohnumfeld unter dem Gesichtspunkt ihrer öffentlichen und halb-öffentlichen Räume genauso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie den innerstädtischen öffentlichen Plätzen. Öffentlichkeit als Teil der Stadtkultur ist nicht nur eine Frage der allgemein zugänglichen Plätze, Parks und sonstigen Einrichtungen, sondern sie beginnt im Wohnbereich. Dieser muss die Gewähr für Vielfalt, Begegnung und Integration bieten – was heute immer auch eine Frage der Integration von ausländischer Wohnbevölkerung ist. Eine Eigenschaft der Öffentlichkeit und des öffentlichen Raumes ist gerade im Wohnbereich besonders wichtig: die wechselseitige Aufmerksamkeit füreinander, die ein Grundelement des sozialen Lebens ist. Hier zeigt sich, dass bestimmte Trends für das Zusammenleben negative Folgen haben können, wie die Tendenz, dass unzivilisierte oder provozierende Verhaltensweisen im öffentlichen Raum nur in Ausnahmefällen kritisiert werden. Man geht seines Weges, ist nicht verantwortlich, fürchtet, dass die Kritik unangemessene Reaktionen hervorruft usw. Wenn Soziologen hierfür den Begriff fehlender sozialer Kontrolle verwenden, klingt das zu negativ: Wechselseitige Aufmerksamkeit, aus der, wenn nötig, Anteilnahme oder Schutz werden kann, ist ein unverzichtbarer Tatbestand städtischen und auch nachbarschaftlichen Zusammenlebens und ein Grundelement des Zusammenseins im öffentlichen Raum.
4. Denaturierungen und Gefährdungen des öffentlichen Raumes Zur Geschichte der Denaturierungen und Gefährdungen des öffentlichen Raumes in seinen genannten Funktionen und Qualitäten sind folgende „Etappen“ zu nennen:
die totalitären Herrschaftssysteme des Nationalsozialismus und des Kommunismus; die weitgehende Nutzung des öffentlichen Raumes als Verkehrs- und Parkfläche seit den 1960er Jahren; die Gefährdungen des zurückgewonnenen öffentlichen Raumes seit den 1980er Jahren durch Kommerzialisierung und Intimisierung und die Gefährdungen durch „Schließung“ und partielle Okkupation durch bestimmte soziale Gruppen.
I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie
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4.1 Zerstörung von Urbanität und Öffentlichkeit im Totalitarismus Dem Nationalsozialismus und dem sozialistischen Städtebau war im Hinblick auf die Struktur bürgerlicher (Stadt-) Öffentlichkeit gemeinsam, dass sie diese pervertierten. In beiden Systemen spielten Umgestaltungen, Umbenennungen und Umnutzungen der öffentlichen Räume eine große Rolle. In Karlsruhe z.B. wurde bereits 1933 der bei den Bürgern beliebte, zentrumsnahe Festplatz in „Platz der SA“ umbenannt. „Die Urbanität ist im Jahre 1933 schneller zusammengebrochen als alle anderen geistigen, künstlerischen, religiösen Werte und Formen, die sich länger behauptet und oft an Widerstandskraft sogar gewonnen haben“ (Salin 1960: 23). Beiden Systemen war die Umnutzung städtischer Plätze durch Aufmärsche, Fahnen und Parolen gemeinsam – in ihrem totalitären Anspruch deutliche Zeichen der Zerstörung einer bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit auf allen ihren Ebenen. Der Zweite Weltkrieg verhinderte, dass es im Nationalsozialismus zu gravierenden Zerstörungen innerstädtischer Räume allein aus ideologischen Gründen gekommen ist; bekanntestes Beispiel ist die von Albert Speer geplante Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“. Der bereits leer geräumte Platz im Spreebogen vor dem Reichstag bot nach der Wiedervereinigung die Chance für eine von der Demokratie bestimmte Nutzung. Nach 1990 wurde die Zerstörung der bürgerlichen Stadt und deren bürgerlicher Öffentlichkeit und Privatsphäre in der DDR sowie in anderen sozialistischen Ländern durch den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme bzw. in Deutschland durch die Wiedervereinigung gestoppt. Die Schaffung großer innerstädtischer Plätze geschah nach den Vorgaben der sozialistischen Stadtplanung, nicht mehr unter den Vorzeichen von Öffentlichkeit und Urbanität (vgl. auch S. 73f.). Öffentliche Plätze dienten nicht zuletzt der Versammlung von Kollektiven und Brigaden, so bei der gravierenden Umgestaltung des Berliner Schlossplatzes in ein gigantisches Areal für Aufmärsche. Eine vom bürgerlichen Subjekt ausgehende Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes gab es nicht; und es bestanden kaum Möglichkeiten, dem Anderen, dem Fremden in der Öffentlichkeit zu begegnen – mit bis heute spürbaren Auswirkungen für Angehörige fremder Kulturen und Ethnien im öffentlichen Raum. Nach 1990 konnten in den meisten Städten der ehemaligen DDR mit ihren einst bedeutenden historischen Zentren völlig vernachlässigte „bürgerliche“ Straßenzüge und Plätze für die Öffentlichkeit zurück gewonnen werden. 4.2 Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raumes Nachdem es seit Mitte der 1970er Jahre durch große Anstrengungen der Gemeinden – auf der Basis einer breiten öffentlichen Diskussion – gelungen war, durch
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
vorbildliche Sanierungen und Restaurierungen, durch Rückbau und die Anlage oder Umgestaltung öffentlicher Plätze viele Verkehrs- und Parkflächen für den öffentlichen Raum zurück zu gewinnen, drohte neue Gefahr, die mit den Begriffen Kommerzialisierung und Intimisierung umschrieben seien. Es waren vor allem zwei Schriften, die den Blick auf diese Probleme lenkten: Werner Durths „Die Inszenierung der Alltagswelt“ (1977) und Richard Sennetts „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ (1977/1983). Veränderungen im Bereich des Verhaltens, der Familien und der allgemeinen Essgewohnheiten gingen Hand in Hand mit marktgängigen „Inszenierungen“ der Städte zu Marketingzwecken. Die an Wochentagen immer selteneren gemeinsamen Mahlzeiten in den Familien, der Abbau von Kantinen in immer mehr Betrieben und die Anwesenheit bzw. gewerblichen Aktivitäten von immer mehr Angehörigen europäischer und anderer Kulturen führten dazu, dass große Teile des öffentlichen Raumes zu einem „multikulturellen Essraum“ umgestaltet wurden. Zugleich kam es, worauf Richard Sennett hinwies, zur Intimisierung des öffentlichen Raumes – eine Feststellung, die einige Jahre vor der Einführung des Handys und seiner umfänglichen Nutzung besonders im öffentlichen Raum getroffen wurde. Sennett sprach noch ganz allgemein von der Atomisierung des Publikums durch elektronische Medien, von Veränderungen der Raumerfahrungen durch das Automobil und die Hochhausarchitektur und thematisierte, was seit Ulrich Becks Thesen über die Individualisierung der Verhaltensweisen (1986) so breite öffentliche Resonanz fand. Ging Erving Goffman in seinen wichtigen Arbeiten über „Das Individuum im öffentlichen Austausch“ (1974) noch davon aus, dass jeder versuche, eine Rolle zu spielen, so sah Sennett genau das Gegenteil: Jeder versuche, eine „authentische Persönlichkeit“ darzustellen und wolle, wenn eben möglich, keine vorgeformte Rolle übernehmen. Dass dies mit dem Verfall der bürgerlichen Verhaltenskodices und Verkehrsformen im öffentlichen Raum zusammenhängt, wurde von Sennett in breiter historischer Perspektive herausgearbeitet.
I. Der öffentliche Raum als Basis der Stadtkultur und der Demokratie Abb. 23
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Water Tower Place in Chicago
Das achtstöckige Atrium des 262 m hohen Wolkenkratzers (Baujahr 1976) bildet den Kern des Gebäudes und beherbergt mehr als 100 Geschäfte und Restaurants. Im Mittelpunkt stehen die drei gebündelten, in hexagonalen Glasröhren befindlichen Aufzüge.
Quelle: Karl-Heinz Krüger 1985: 116
4.3 Schließung öffentlicher Räume Es gibt sowohl städtebauliche als auch verhaltenstypische Entwicklungen, die die Gefahr einer zunehmenden „Schließung sozialer Kreise“ (ein Ausdruck von Max Weber) zu einem auch im Stadtraum mehr und mehr wahrnehmbaren Problem machen. Hierzu rechnen die Einrichtung halböffentlicher Räume und die Okkupation öffentlicher Räume durch bestimmte Gruppen. Offiziell leben wir in einer mobilen, offenen Schichtungsgesellschaft. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die zunehmende soziale und kulturelle Unsicherheit bzw. Verunsicherung wird – wie auch bisher in der Geschichte – mit der Schließung sozialer Kreise beantwortet. Das zeigt sich z.B. in der Entwicklung von immer mehr halböffentlichen Räumen in Malls oder der Verlagerung von Teilfunktionen öffentlicher Räume in den suburbanen Raum. Unstrittig gehen damit bestimmte städtisch-urbane Qualitäten des öffentlichen Raumes und entsprechende Verhaltensweisen verloren.
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
Öffentlichkeit als Element einer demokratisch verfassten Gesellschaft und die Wahrnehmung liberaler Grundrechte als Teil der Stadtkultur bedingen auch die Offenhaltung des öffentlichen Raumes für politische Demonstrationen und kulturelle Manifestationen, auch wenn Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, die sich selbst bei radikalen Gruppierungen oft nur schwer zum Verbot entschließen können, gelegentlich auf das Unverständnis von Bürgerinnen und Bürgern treffen. Dem Gebrauch der liberalen Grundrechte, der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, sind weite Grenzen gezogen, schließen aber die Okkupation einzelner Plätze durch bestimmte Gruppen nicht aus. Zum Offenhalten städtischer Räume gehört auch, dass sie angstfrei genutzt und passiert werden können. Hier gibt es Entwicklungen, bei denen nicht rechtzeitig gegengesteuert wurde. Die nun mehr und mehr eingerichteten Video-Überwachungen öffentlicher Räume (halb-öffentlicher ohnehin) sind keine Abhilfe. Im Gegenteil: Sie zerstören das Element der von den Bürgern selbst wahrzunehmenden sozialen Kontrolle des öffentlichen Raumes und stärken letztlich staatlich kontrollierte Überwachungen (über erfolgreiche Strategien zur Offenhaltung öffentlicher Räume vgl. die vor allem aus Hannover stammenden Beispiele von Schubert 2000).
II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens
1. Die europäische Stadt im Spiegel von Urbanität Im Jahr 51 (v. Chr.) schreibt Cicero einen Brief an Appius Pulcher als an einen „nicht nur gescheiten, sondern, wie wir jetzt sagen, urbanen Menschen“. Zit. bei Edgar Salin
Edgar Salin erläutert in seinem Beitrag über Urbanität (1960) das Zitat von Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.; ermordet) mit dem Hinweis, dass die Begriffe urban und Urbanität im 1. Jh. v. Chr. als neu empfunden wurden und Cicero zu deren Prägung und Durchsetzung beitrug. Auch hier spielte, wie bei anderen Sachverhalten von Stadt und Kultur, eine Übertragung von athenisch-attischen Verhältnissen eine Rolle (dazu, mit Quellen, Salin 1960: 9ff.). Bei der Verwendung des Begriffs durch Cicero et al. habe auch das Bewusstsein von Rom in seiner Einzigartigkeit, als urbs schlechthin, eine Rolle gespielt. Auch eine weitere Anmerkung Salins im Hinblick auf die Begriffsgeschichte verdient, erinnert zu werden: Cicero habe ausdrücklich abgelehnt, eine Definition zu geben. „Man kann solche Begriffe, meint er mit Recht, eher einsichtig machen
II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens
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als erklären“. Salin (1960: 13f.) gibt dann aber selbst eine Definition, der eigentlich nichts hinzuzufügen ist – außer den Gestaltwandel des urbanen Verhaltens in der Gegenwart im Hinblick auf die baulichen und sozialen Voraussetzungen deutlich zu machen: „Urbanität (ist) nicht losgelöst zu denken von der aktiven Mitwirkung einer Stadtbürgerschaft am Stadtregiment (kursiv im Original). Urbanität ist Bildung, ist Wohlgebildetheit an Leib und Seele und Geist; aber sie ist in allen Zeiten [...] auch fruchtbare Mitwirkung des Menschen als Poliswesens, als politischen Wesens in seinem ihm und nur ihm eigenen politischen Raum“.
Weil dies so sei, habe es Urbanität als Faktum und als Begriff weder im byzantinischen Kaiserreich, noch im Feudalismus und in den Fürstenstaaten gegeben. „Nicht früher als im 14. oder 15. Jahrhundert könnte man also erwarten, dass sich langsam wieder Urbanität regt, vielleicht in Paris, vielleicht in den italienischen, vielleicht in den oberdeutschen Städten“. Doch dazu sei es nicht gekommen; und Salin begründet warum. Es habe Ansätze gegeben, aber mit dem Sacco di Roma (1525 durch die Truppen Kaiser Karls V.), „mit Reformation und Gegenreformation sind alle zarten Keime verwelkt“. Die Begründungen Salins für seine skeptische Einschätzung – ausdrücklich auch im Hinblick auf die Städte Augsburg, Basel und Nürnberg im oberdeutschen Raum – sollten selbst dann studiert werden, wenn man explizit der Meinung ist, dass auf den Begriff Urbanität nicht verzichtet werden kann – und sei es, um einen Spiegel zu haben, in dem Stadtentwicklung und städtisches Verhalten zu betrachten ist.
2. Die Diskussion von Urbanität nach 1960 Urbanität ist ein positiv besetzter Begriff. Kein anderer Begriff habe „die zahlreichen Moden der Stadtplanung und Umbrüche der Stadtentwicklung so unbeschadet überstanden“, resümiert Thomas Wüst (2004) in seiner Untersuchung über Urbanität als „Mythos und Potenzial“ seit 1960 (es waren zwei Schriften/Autoren, auf die sich die seit 1960 im Begriff ‚Urbanität’ fokussierte Diskussion und Kritik um Wiederaufbau und Entwicklung der Städte stützte: Edgar Salins Vortrag über „Urbanität“ auf dem Deutschen Städtetag 1960 in Augsburg und Hans Paul Bahrdts „Soziologische Überlegungen zum Städtebau“ von 196l; vgl. dort u.a. Kap IV: „Die Urbanisierung der Großstadt“). Der Begriff Urbanität zielt auf städtische Lebensformen, für die zumindest folgende Voraussetzungen gegeben sein müssen:
prägende Elemente in der Stadtstruktur, die als historisches Erbe anerkannt sind und ein identitätsstiftendes Band zwischen den Generationen und Bewohnern, Einheimi-
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität schen und Zugereisten sind. Dieses identitätsstiftende Band kann mit Maurice Halbwachs auch das „kollektive Gedächtnis der Orte“ genannt werden; Straßen und Plätze, öffentliche und halböffentliche Räume, die urbanes Verhalten sowohl ermöglichen als auch „erzwingen“; Menschen, die bereit und fähig sind, sich urban zu verhalten. An diesem Punkt setzte die bekannte Kritik von Richard Sennett (1983) an, der die Fähigkeit zum öffentlichen Verhalten, das ja auch ein spezifisch kultiviertes und zivilisiertes Verhalten ist, durch die „Barbarei der Intimität“ im öffentlichen Raum verloren gegangen sah.
Diese Qualitäten und Eigenschaften des Urbanen, sofern sie mit Kultur und Verhalten des Stadtbewohners zu tun haben, beschrieb Hans Paul Bahrdt, wie hervorgehoben, nicht unter dem Begriff der Urbanität, sondern unter dem der Öffentlichkeit und des öffentlichen Verhaltens. Das ist deshalb plausibel, weil die Kategorie der Öffentlichkeit anschlussfähiger ist als die der Urbanität und urbanes Verhalten auch als spezifische Form des öffentlichen Verhaltens interpretiert werden kann.
3. Möglichkeiten und Gefährdungen von Urbanität Auf den ersten Blick hat v.a. die alte, historisch gewachsene Stadt günstige Voraussetzungen, Bewohnern und Fremden urbanes Verhalten abzuverlangen: Sie hat entsprechende Plätze und Räume, soziale und ökonomische Differenzierungen und Pluralitäten, die ohne ein „kleinstes gemeinsames Vielfaches“ öffentlichen Verhaltens – wie urbanes Verhalten auch umschrieben werden könnte – nicht existenzfähig wären. Die Tugenden öffentlichen und urbanen Verhaltens schließen Distanz und den Umgang mit dem Fremden ebenso ein wie das Erkennen und Akzeptieren von Differenz. Bausteine zum Erhalt städtischer Urbanität sind unter anderen:
Erhalt der Nutzungsmischung; Erhalt innerstädtischer Wohnstandorte und Wohnqualität; Erhalt eines differenzierten Angebots an Handels- und Dienstleistungen; Erhalt denkmalgeschützter Objekte und deren neue, zeitgerechte Nutzungsmöglichkeiten; Erhalt von öffentlichen Einrichtungen und Kulturinstitutionen aller Art.
Einige Voraussetzungen und Gefährdungen von städtischer Urbanität unter dem Gesichtspunkt der Wandlungen der sozialen Schichtung, der Sozialisation, des Verhaltens und der Wertorientierungen, aber auch den Möglichkeiten von „Cyberpolis“, seien nachfolgend skizziert.
II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens
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3.1 Neue soziale Lagen und Milieus als Bausteine der Stadtkultur und Urbanität Der radikale Wandel der Arbeits-, Berufs- und Produktionsstrukturen in den letzten Jahrzehnten hat die alten Klassen- und Sozialschichten völlig verändert. Für den einzelnen Bürger wie für die Struktur der Stadtteile trat das auch räumlich ausgeprägte Milieu der Berufsstrukturen und der Arbeitswelt in den Hintergrund. Welche Bürgerinnen und Bürger, welche sozialen Schichten und Milieus mit welchen Lebensstilen können unter diesen Bedingungen die städtische Urbanität tragen oder weiterentwickeln? Zu den Voraussetzungen für neue Formen städtischer Urbanität zählen die seit den 1960er Jahren enorm gestiegene (mittlerweile allerdings nur langsam steigende bis stagnierende) Verbreiterung des allgemeinen Bildungsund Ausbildungsniveaus, der Prozess der Individualisierung und die Herausbildung einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft. Auch die völlige Veränderung der Familien- und Haushaltsstrukturen könnte als positiv im Hinblick auf städtische Urbanität gesehen werden. Rund 34 % aller Haushalte sind Einpersonenhaushalte; in größeren Städten machen sie um 50 % aus, in manchen Stadtteilen zwei Drittel. Hier finden wir ja nicht nur Vereinsamte und alte Menschen, sondern auch Personen, die aufgrund der abnehmenden Verlässlichkeit lebenslang garantierter Berufspositionen und Bildungs- und Ausbildungsqualifikationen kreativ und flexibel sein müssen, innovativ auch im Erproben neuer Lebensstile. Hier ist an die young urban people (Yuppies) der 1970er Jahre ebenso zu denken wie an die Gentrifizierer (die Aufwerter und Nobilitierer der umgestalteten Altbauviertel; von engl. gentry) seit den 1980er Jahren. Die Individualisierung und Radikalisierung der Privatheit fordert, so könnten einige Untersuchungen zur expandierenden Stadtkultur thesenartig zusammengefasst werden, als Pendant eine Intensivierung der öffentlichen und allgemein zugänglichen kulturellen Sphäre. Veränderungen in der schichtspezifischen Zusammensetzung und Haushaltsstruktur der Bevölkerung müssen also keineswegs den Untergang der altstädtischen Kultur und Urbanität bedeuten. Wie oft haben sich seit der Entwicklung des deutschen Städtewesens die Stadtgesellschaft und -kultur tragenden Bevölkerungsgruppen geändert? 3.2 Wertwandel und „Erlebnisgesellschaft“ als Baustein von Urbanität Die Veränderung der Arbeits- und Berufswelt, die gestiegenen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der Mobilität, die Prozesse der Individualisierung, die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationsgesellschaft und weitere Faktoren führten dazu, dass die traditionalen Verhaltensmuster der bürgerlichen Arbeitsund Lebenswelt einem grundlegenden Wandel unterworfen wurden.
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
Der Wertwandel wurde von Ronald Inglehart (1971) als Silent Revolution bezeichnet; er sei letztlich die Ursache der Studentenrevolte und den seit Mitte der 1960er Jahre sich lautstark artikulierenden Emanzipationsbewegungen. Auf der Basis einer von Inglehart inspirierten Wertforschung entwickelte Helmut Klages eine Werte-Typologie, in der sich die Haupttypen zu einem DreierSchema systematisieren lassen: Pflicht und Akzeptanzwerte, Werte der hedonistisch-materialistischen Selbstentfaltung, Werte der idealistischen Selbstentfaltung. Ein genereller Trend sei seit Mitte der 1960er Jahre von den traditionalen Pflichtund Akzeptanzwerten in Richtung auf Selbstentfaltungswerte gegangen. Hier wird nur der Wertetypus der hedonistischen Materialisten herausgegriffen, weil er für neue Formen urbanen Verhaltens prädestiniert ist; er ist insbesondere bei jüngeren Menschen anzutreffen. Sie haben die Fähigkeit zur mobilen Anpassung an die jeweilige Umgebung, lassen sich viel stärker vom Lustprinzip leiten, lieben das Spielerische und Unverbindliche, sie sind, wie Klages sagt, „kreative Wellenreiter im bewegten Meer der Unstetigkeiten, mit denen in der Ära der Globalisierung zu rechnen ist“ (Klages 2001). Ausgehend von empirischen Untersuchungen, vor allem unter Jugendlichen, sah der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze diese Trends als so dominant an, dass er 1993 seine Kultursoziologie unter dem Titel Erlebnisgesellschaft veröffentlichte. Die von ihm herausgearbeiteten Verhaltenstypen und Milieus sind auch als Träger einer neuen Urbanität interpretierbar; sie sind Grundlage und zugleich Resultat eines fundamentalen Wertwandels. Alle fünf Milieus, die Schulze herausarbeitete, haben Bezug zur städtischen Öffentlichkeit, zu neuen Formen des Konsums, der Selbstdarstellung, des gepflegten Hedonismus. Hervorgehoben seien das sog. „Niveaumilieu“ der über 40-jährigen mit höherer Bildung und leitenden Berufspositionen, antiquitäten- und kunstbeflissen, quasi Nachfahren der Hochkultur mit entsprechenden Neigungen zu urbanem Kunst- und Bildungsgenuss; dann die am stärksten vom Wertwandel erfassten „Selbstverwirklichungsmilieus“ der Jüngeren, der Post-Adoleszenten mit ihren Nischenkulturen, Wohngemeinschaften und z.T. neuen Lebensstilen und sozialen Netzwerken. Auch hier: eine gebildete, hellwache Schicht, mit zumeist höherer Bildung, integriert in die Kommunikationsmöglichkeiten und Arbeitsformen der Informationsgesellschaft. Schulzes zentraler Satz heißt: „Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden.“ Die Erlebnisorientierung sei, so Schulze, „die unmittelbarste Form der Suche nach Glück.“ Doch inzwischen haben sich die Voraussetzungen, am urbanen Leben der Stadt zu partizipieren, für wachsende Sozialgruppen zum Teil drastisch verändert. Im Werk von Häußermann und Siebel über „Die neue Urbanität“ wurde bereits 1987 darauf hingewiesen, dass die „Inszenierung der Alltagswelt“ (Durth) für das neue urbane Leben und die Entwicklungen zur Zweidrittel-Gesellschaft dazu geführt haben, dass von dieser neuen Urbanität immer mehr Menschen ausgeschlos-
II. Urbanität als Qualität der Stadt und des städtischen Verhaltens
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sen würden. Diese „neue Urbanität“ würde für die Ästhetik der kommerzialisierten Stadt zu einer „Bastion aufgebaut zum Schutz vor den benachteiligten Gruppen“. Der öffentliche Raum verliere seine Funktion der allgemeinen Zugänglichkeit; einige Bereiche der Innenstädte und die herausgeputzten Straßen und Plätze seien häufig „off limits“ für die Marginalisierten und Außenseiter. Hierzu tragen zum Teil die Prozesse der Gentrifizierung bei: die Besetzung interessanter, auch sanierter Altbausubstanz durch gut verdienende Singles und junge Familien, die noch eine Generation zuvor oft sehr aufwändig in den suburbanen Raum gezogen wären (zur Gentrifizierung vgl. Blasius/Dangschat 1990; Friedrichs/Kecskes 1996). Diese Entwicklungen sind kritisch zu sehen und nicht nur im Hinblick auf Urbanität und Stadtentwicklung von Interesse. Die Möglichkeiten der Steuerung zwischen Gentrifizierung und Belassung eines sanierungsbedürftigen, älteren Wohnraumes und Wohngebietes für einkommensschwache Schichten gleichen allemal einer schwierigen Gratwanderung, unabhängig davon, was die Instrumente der Stadtpolitik überhaupt an Einfluss ermöglichen. Ohne Zweifel haben sich diese Phänomene durch die hohe Arbeitslosigkeit, die stagnierende Lohnentwicklung und die rückständigen Komparationen durch den Sozialstaat seither verstärkt.
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Kapitel V: Öffentlicher Raum und Urbanität
Informationsteil
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Nachweis der Motti Habermas, Jürgen, a.a.O., S. 15 Salin, Edgar, a.a.O., S. 9
Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
Inhalt I.
Mechanismen der Integration
II. Die Stadt als vergemeinschaftende Vergesellschaftung III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Stadtentwicklung und Zuwanderung: Die historische Perspektive Integration/Nichtintegration durch Gettoisierung Der Fremde in der soziologischen Theorie Dimensionen von Multiethnizität und Multikulturalität Modi und Stufen der Integration Parallelgesellschaften und neue Gettos?
IV. Die Frau im Stadtraum. Gender-Mainstreaming V. Die „Soziale Stadt“ als Integrationsmodus Informationsteil
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
I. Mechanismen der Integration Es war schon immer ein Kennzeichen der Stadt, die Koexistenz von Differentem zu ermöglichen, unterschiedliche soziale Gruppen, Dinge und Lebensstile an einem Ort verdichtet zusammen zu führen.
Markus Schroer Integration, ein Grundbegriff der Soziologie, ist strukturell und prozessual zu verstehen. Strukturell ist ein soziales Gebilde bzw. ein Sozialverband (Familie, Gruppe, Schule, usw.) als integriert zu bezeichnen, wenn seine Mitglieder volle Akzeptanz haben, sich auch zugehörig fühlen und eine Einheit, ein Ganzes bilden. Prozessual ist Integration ein prinzipiell dauerhafter Vorgang, in dem der Sozialverband und alle Mitglieder sich um Akzeptanz und ein Wir-Bewusstsein bemühen müssen, um den Zustand der Integration zu erhalten bzw. zu verbessern. Die Voraussetzungen der Integrationskraft des Sozialverbandes Stadtgesellschaft haben sich im Verlauf der neuzeitlichen Geschichte bzw. der Doppelrevolution grundlegend gewandelt: Die Stadtgesellschaft als relativ autonomer Herrschaftsverband ist ebenso verschwunden wie die Stadt als oikos, als ökonomisch basiertes Sozialsystem, das seine Produkte und die des agrarischen Umlandes v.a. über örtliche Märkte austauscht und damit ein starkes Geflecht von Beziehungen und Verbundenheit schafft – eine Form, die Emile Durkheim (1858-1917) mit dem Begriff der mechanischen Solidarität umschrieb (1988). Durkheim führte für die Mechanismen der Integration in ein gesellschaftliches System den Begriff der Solidarität ein. Sehr grob unterschied er zwischen vorindustriellen und industriellen Formen der Solidarität. Die erste ist durch mechanische, die zweite durch organische Solidarität gewährleistet.
Seit Beginn des Industriezeitalters und der Herausbildung der Nationalstaaten, dann des Sozialstaats, der das komplizierte Geflecht an Hilfen und Institutionen bei Armut und Krankheit in der Stadtgesellschaft zu einem großen Teil ersetzte, bezieht sich die mechanische Solidarität nicht mehr auf die einzelne Stadt, sondern auf die Nation als Gesellschaftssystem. Um gleichwohl das erforderliche Kollektivbewusstsein zu erhalten, müssen, so Durkheim, neue Mechanismen ausgebildet werden; es sind nicht zuletzt solche, die über Kognition und Bewusstsein laufen und laufen müssen. Damit kam der Erziehung bzw. der Vermittlung grundlegender Normen der Kultur und der integrierenden Rechtsgesellschaft ein besonderer Stellenwert zu. Die Parallelen zu gegenwärtig verstärkten Bemühungen, die Zuwandernden über eine einheitliche Leitkultur zu integrieren und sie in einem Fragebogen abrufbar zu machen, sind offenkundig.
II. Die Stadt als vergemeinschaftende Vergesellschaftung
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Doch auch an mehr stadtbezogene Mechanismen der Integration ist zu denken. So entfiel seit Beginn der 1950er Jahre ein für die bürgerliche Gesellschaft typischer Integrationsmodus: Die Zuwandernden vom Lande, zumal die jungen Mädchen und Frauen, fanden nicht mehr wie selbstverständlich Arbeit und Unterkunft in den bürgerlichen Haushalten (bei „freier Kost und Logis“ und geringem Entgelt). Die Haushalte wurden seither kleiner, die Zahl der Kinder ging zurück. Steigende Löhne und Abgaben für den Sozialstaat waren neben dem Wunsch nach Unabhängigkeit ein Grund, dass Arbeitsmöglichkeiten im schnell expandierenden tertiären Sektor wahrgenommen wurden. Die sich entwickelnde Single-Gesellschaft (Hradil 1995) schafft zusätzliche Probleme für die Integration – oder auch nicht. Wenn, wie in deutschen Großstädten gegeben, ca. die Hälfte der Haushalte Single-Haushalte sind (wobei auch die Haushalte älterer Menschen unter diesen dann nicht mehr passenden Begriff subsumiert werden), dann ergibt sich gerade von der Singularität der Wohnweise her ein gewisser Zwang, sich auf Angebote kultureller und sonstiger Art der Stadtgesellschaft einzulassen. Auch hier liegt ein Grund, sich in die permanent ausweitenden Milieus (vgl. Hradil 2006) zu integrieren und sich an städtischen Events, deren Zunahme unbestritten ist, zu beteiligen (der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann spricht in diesem Zusammenhang von der Festivalisierung der Städte). Bei allen diesen Entwicklungen darf die Basis der Integration in die Stadtgesellschaft nicht übersehen werden: Politisch ist es der relativ autonome Stadtverband mit seiner komplexen Verwaltungsstruktur und den für prinzipiell alle Lebensbereiche zuständigen „Ämtern“; personal die immer schwieriger werdende Integration über Bildung/Ausbildung, Arbeit und Beruf.
II. Die Stadt als vergemeinschaftende Vergesellschaftung Wie der französische Religionsphilosoph Ernest Renan (1823-1892) in der wohl bekanntesten Definition die Nation als plébiscite de tous les jours bezeichnet hatte, so ließe sich auch für die Integration in die Stadtgesellschaft sagen, dass sie der täglichen Zustimmung bedarf. Integration setzt ein bestimmtes Maß an Identität mit der Stadt voraus. Dieser vielschichtige Begriff meint im Kern Zustimmung (und sei es zu sich selbst). Bezogen auf die Stadt heißt es, dass die eigene Identität auch auf der Zustimmung zur Stadt, zum Viertel und zur Nachbarschaft, zu bestimmten Plätzen, Vereinen und zur Kultur und Geschichte der Stadt basiert. Nachbarschaft ist eine typische Form der Gemeinschaft; der Chicagoer Soziologe Charles Horton Cooley (1864-1929) rechnete sie zu den Primärgruppen. Der Begriff ist, wie viele Begriffe der sozialen und auch der soziologischen Sprache (man denke z.B. an Gruppe), undifferenziert. Nachbarschaft ist von der jeweiligen Siedlungsstruktur ebenso abhängig wie von den Arbeitsformen und Familienstruk-
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
turen. Wegen ihrer besonderen, über Familien- und Verwandtschaftshilfe hinaus reichenden Qualitäten ist daher wenig überraschend, dass das Thema Nachbarschaft in der Großstadt über viele Jahrzehnte eines der wichtigsten Arbeitsgebiete der Stadtsoziologie war und die Planung von Nachbarschaftseinheiten (neighborhood unit) als mögliche Lösung der Integration in die Stadtgesellschaft gesehen wurde (zusammenfassend Hamm 1973, 1998). Die Nachbarschaftseinheit als besonders anschauliche und einleuchtende Konzeption gehört in das Umfeld der Überlegungen, wie unter Voraussetzungen der industriellen Großstadt und der Vergesellschaftung aller Daseinsbereiche eine Basiseinheit für die Integration in die Stadtgesellschaft geschaffen werden kann. Doch über diese, auf das Wohnen bezogene Perspektive der Integration in die Stadtgesellschaft dürfen andere Voraussetzungen nicht übersehen werden, zumal das Arbeitsverhältnis und die über Familie und Verwandtschaft, Vereine und Freunde vermittelten Formen der privaten und öffentlichen Kommunikation. Zu berücksichtigen ist auch, dass im 19. Jh., aber auch heute noch viele Zuwandernde, deutsche wie ausländische, aus dörflichen und kleinstädtischen Regionen der Enge und sozialen Kontrolle gemeinschaftlicher Verhältnisse entkommen wollten. Helmut Schelsky warnte in einem Beitrag unter dem Titel „Ist der Großstädter wirklich einsam?“ bereits 1956 davor, das Alleinsein nur kulturkritisch, wie in Deutschland seit Wilhelm Heinrich Riehl üblich, zu sehen. Der moderne Großstädter bejahe die „Polarität von versachlichter Berufstätigkeit und privater Freizeit“. Die moderne Großstadt organisiere sich in ihrem Tagesablauf und in ihrer Siedlungsweise längst nach diesem Koordinatensystem. Das war damals noch keine selbstverständliche Sichtweise (vgl. Schelsky 1965). Heute ist allein die hohe Zahl jener Single-Haushalte mit allein lebenden Erwerbstätigen ein Beleg dafür, dass die individualisierten Individuen über die Form ihrer zeitlich und auch örtlich partiellen Vergemeinschaftung ganz allein entscheiden möchten.
III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung
1. Stadtentwicklung und Zuwanderung: Die historische Perspektive Nicht erst seit der Expansion zur industriellen Großstadt sind Städte über den Zuzug von Fremden mit gestaltet und in ihrer Bevölkerungsstruktur und Sozialschichtung ökonomisch und kulturell differenzierter geworden. Die Sequenzen von „Städtegründern und Städtefüllern“ (in der Terminologie von Werner Sombart, vgl. S. 80f.) sind ein Element der Stadtentwicklung von Anfang an. Beschränken wir die historische Betrachtung auf die Neuzeit, so ist an die in Deutschland zahlreichen Stadterweiterungen und Stadtgründungen durch Exulan-
III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung
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ten zu erinnern (vgl. S. 45). Hier ist die Integration von Fremden ein wesentliches Element der Stadtentwicklung bzw. des Wiederaufbaus zerstörter Städte. Im 17. Jh. wurden in vielen Ländern und Städten Deutschlands Religionsflüchtlinge und andere Fremde gerufen, um die durch den Dreißigjährigen Krieg angerichteten Verwüstungen beseitigen zu helfen und Gewerbe und Handel wieder zu beleben. Ein berühmtes Beispiel ist Mannheim. Die erst Anfang des 17. Jh.s von Kurfürst Friedrich IV. erbaute Stadt – ein Handels- und Gewerbezentrum – war wegen ihrer spezifischen, bis heute erhaltenen Anlage in ganz Europa bekannt. Der Dreißigjährige Krieg hatte sie weitgehend verwüstet. Grit Arnscheidt (2002), deren Beitrag die folgenden Angaben entnommen sind, nennt den Wiederaufbauplan des aus den Niederlanden stammenden Ingenieurs Jacob van Deyl „ein faszinierendes Dokument von europäischer Bedeutung“: „Inwendiger Plan der Statt Mannheim wie selbige anietzo gebaut und bewohnet wirdt, den 4. Aprilis Anno 1663“. Der Aufruf des Kurfürsten mit der Bitte um Zuzug (in den Sprachen Deutsch, Französisch und Niederländisch) wandte sich im sog. „Privilegienbrief“ aus dem Jahr 1652 an „alle ehrlichen Leute von allen Nationen“. Zugestanden werden persönliche Freiheit – zumal Religionsfreiheit – und viele Vergünstigungen: ein unentgeltlicher Bauplatz und billiges Baumaterial. Was besonders hervorzuheben ist und sich wie ein Vorgriff auf die Gewerbefreiheit seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s liest, ist folgendes Privileg: „Kein Handwerksleut sollen zu Mannheim unter Zünfften stehen, sondern mag ein jeder alda arbeiten nach seinem belieben [...]“. Im Plan Jacob van Deyls sind die vielen Parzellen mit Namen und den Gewerben der künftigen Besitzer versehen. Dies deutet darauf hin, dass Niederländer, Franzosen (Hugenotten) und andere Fremde mit Badenern zusammen wohnten. Ihre Gewerbe waren allemal wichtiger als ihre Herkunft oder ihre Religion.
Die Entwicklung der industriellen Großstadt 200 Jahre später stand hinsichtlich des Zuzugs von Fremden unter den Prämissen der Bevölkerungsexplosion und des in die neuen Fabrikzentren zuwandernden „Lumpenproletariats“ (Karl Marx). Neu – und die Fremden definitiv zu „Ausländern“ machend – war auch die Ausbildung von National- und Sozialstaat und die Einführung des Staatsbürgerrechts. Dadurch wurden die Mauern für den Zuzug zunehmend höher. Gerade in Deutschland, dieser „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner), wurden seit dem frühen 19. Jh. die Elemente einer einheitlichen deutschen Sprache, Kultur und Geschichte – oft bewusst die Geschichte fälschend – in einem Maße betont, dass daraus, unter neuen, ideologisierten Vorzeichen der Politik im 20. Jh., „Bausteine“ für den NationalSozialismus und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs entstehen konnten. Durch die Industrialisierung und Bevölkerungsvermehrung erlebten viele Städte einen so starken Zustrom, dass die „Alteingesessenen“ zur Minderheit wurden. In großen – und trotz aller Modernität auch traditional orientierten Städten wie Hamburg oder Breslau, Köln oder Berlin – konnte sich gleichwohl der Bürgergeist erhalten, nicht zuletzt durch die humanistischen Gymnasien und die Besetzung zentraler Positionen für die Stadt, beginnend mit dem Rat bzw. der „Bürgerschaft“, durch „Alteingesessene“, die Honoratioren und die alten Bürgergeschlechter.
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
Einen Sonderfall stellte das Ruhrgebiet dar, das nicht zuletzt durch den Zuzug von polnischen Zuwanderern (Polen hatte damals keinen eigenen Staat) schon vor dem Ersten Weltkrieg zu seiner Größe von ca. fünf Mio. Einwohnern anwuchs. Zumal der im katholischen Westfalen bzw. im Münsterland gelegene Teil des Ruhrgebietes zeigte vor allem über die gemeinsamen religiösen Wurzeln eine erstaunliche Integrationskraft. Ein anderer ging von den neuen sportlichen Betätigungen und der Integrationskraft des expandierenden Vereinswesens aus, wobei dem Fußball eine besondere, bis heute verbindende Bedeutung zukam (beispielhaft seien Schalke/Gelsenkirchen und Dortmund genannt).
2. Integration/Nichtintegration durch Gettoisierung Seit Beginn der Stadtentwicklung lassen sich für bestimmte Bevölkerungsgruppen, z.B. die in die neuen kulturellen Zentren in Mesopotamien oder in Ägypten verschleppten Sklaven, die für die anstehenden Baumaßnahmen eingesetzt wurden, Zuweisungen bestimmter, oft neu errichteter Viertel nachweisen – ein Prozess, der bis in die Gegenwart reicht, auch wenn der Aufenthaltsstatus der nun zumeist „freiwillig“ Zugewanderten ein anderer ist. Ein Sonderfall ist die Integration/Nichtintegration der Juden, beginnend nach der Vernichtung des jüdischen Staates durch Titus (71 n. Chr.), nach Flucht und Vertreibung, in Thessaloniki und Alexandria, in Rom und den anderen großen Städten des römischen Reiches, aber seit dem vierten Jh. auch in den römischen Städten auf germanischem Boden. Ein Beispiel für Integration/Nichtintegration der jüdischen Bevölkerung im Mittelalter ist die Stadt Worms, die Stadt der Burgunder und des Nibelungenliedes. Hatten die Juden – geschützt durch kaiserliches Privileg – zunächst Anteil am ertragreichen Fernhandel, so ging dieser in die Hände der erstarkenden Patrizier über (vgl. hierzu die Darstellung von Reuter 1984: 22). Hier wie in anderen Städten war das jüdische Viertel zunächst mit eigener Stadtmauer umgeben, die – ohne die Getto-Situation aufzuheben – nach den ersten Stadterweiterungen beseitigt wurde (vgl. Planitz 1997: 277ff.). Die Juden konnten aber noch bis ins 14. Jh. auch an anderen städtischen Orten wohnen. „Vergleichbar den übrigen Gruppen der Bevölkerung zogen sie es aber vor, Viertel zu bilden“ (Reuter 1984: 28). Seit etwa dem Jahr 1000 gab es vereinzelt Verbote des Zusammenlebens von Juden und Christen, die sich seit der Zeit der Kreuzzüge – deren erster 1096ff. gleich in Worms und Mainz und vielen anderen Städten auf dem Weg nach Jerusalem zur Niederbrennung der jüdischen Viertel führte – vermehrten. Gleichwohl gab es, zumal nach dem Erlass des Kanonischen Zinsverbotes im Jahre 1215, Schutzbriefe für einzelne Juden („Schutzjuden“), was in vielen Städten – wie in Worms 1157 – auf die jüdische Bevölkerung und damit auf ein bestimmtes Stadtviertel ausgedehnt wurde.
III. Die Integration des Fremden als Element der Stadtentwicklung
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Erst die Durchsetzung der allgemeinen Bürgerrechte auch für Juden – in Deutschland seit Beginn des 19. Jh.s – führte zur Aufhebung der Getto-Situation (zuletzt in Rom im Jahr 1870); sie wurde nach Beginn des Zweiten Weltkrieges durch die deutschen Besatzungsmächte in vielen Ländern, zumal Osteuropas, wieder eingeführt. Der Name Getto (auch: Ghetto) ist erstmals für ein jüdisches Stadtviertel in Venedig im Jahr 1531 belegt (dort, unweit des Bahnhofs, existiert es noch heute). Er wurde bald allgemein zur Kennzeichnung dieser Viertel in ganz Europa. Seit dem 20. Jh. wurde der Begriff, zumal durch Soziologen, weiter verallgemeinert und umfasst nunmehr die Wohn- und gesamte Lebenssituation in stark benachteiligten Vierteln, in denen Menschen bestimmter Herkunft oder Hautfarbe, Religion oder Staatszugehörigkeit leben. Bei diesen Formen der Gettoisierung unter den Voraussetzungen der allgemeinen Gültigkeit (aber sehr unterschiedlichen Durchsetzbarkeit) von Menschen- und Bürgerrechten ist häufig schwer zu unterscheiden, ob sie von den betreffenden Bürgern gewollt oder auf Grund ihrer Situation – wie Armut – erzwungen ist.
3. Der Fremde in der soziologischen Theorie Die „Soziologie des Fremden“ hat seit Georg Simmels wegweisendem „Exkurs über den Fremden“ (zuerst 1908) ein differenziertes begriffliches und analytisches Potenzial zur Verfügung gestellt, die unterschiedlichen Personen und Personengruppen, die als Fremde zu bezeichnen sind, näher in den Blick zu rücken (zu den einzelnen Sichtweisen und Theorien vgl. Heckmann 1991, Mintzel 1997). So erarbeitete Robert E. Park (1864-1944), der bei Simmel in Berlin studiert hatte und zu den Begründern der Sozialökologie zählt, vor dem Hintergrund des melting pot Chicago das Konzept des marginal man, der Randpersönlichkeit, die zwischen zwei Kulturen steht, aber im Hinblick auf die Lösung des Kulturkonflikts im Wesentlichen auf sich selbst angewiesen ist. Der marginal man löst die Konflikte vor allem dadurch, dass er Nischen findet und bisher nicht genutzte Chancen für Innovation nutzt. So findet er Akzeptanz und partielle Aufnahme (Park 1928). Eine andere Sichtweise eröffnete Alfred Schütz (1899-1959), Mitbegründer einer phänomenologisch orientierten Soziologie. Schütz (1972) thematisierte weniger den Konflikt zwischen den Kulturen als ihre grundsätzliche Inkommensurabilität, ihre Unvereinbarkeit. Kulturen sind für Schütz geschlossene Universa; Übersetzungsregeln der in ihnen vorherrschenden Normen, Verhaltensmuster, Mentalitäten und anderer kulturspezifischer Muster sind nur teilweise angebbar. Dies stürzt Immigranten oft in eine Orientierungskrise, vor allem dann, wenn sie selbst nicht genau wissen, was an Eigenem zu bewahren und an Fremdem zu übernehmen ist. Zur Besonderheit des Fremden gehört, dass es sich um einen historisch wechselnden Personenkreis mit unterschiedlichem Aufenthaltsrecht und unterschiedli-
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
chen Absichten, dauerhaft zu bleiben, handelt: Juden und Hugenotten, Sinti und Roma, Gastarbeiter, Flüchtlinge und Vertriebene sind nur einige Beispiele. Der Begriff des Fremden wird heute zu inflationär, auch zu populistisch gebraucht, um noch auf die Spezifika der Integration verweisen zu können. Mit dem Personenkreis wechseln auch die Formen des Fremdseins und stellen sich in jeder Gemeinde anders dar: Entsprechend ihrer Größe und ihrer historischen Tradition im Umgang mit Fremden sowie dem jeweiligen Anteil an Fremden unterschiedlicher Herkunft und Religion variiert das Gelingen und entsprechend sind die Möglichkeiten, über ein Arbeitsverhältnis oder ein Engagement in Kirchen, Vereinen und anderen Institutionen die Basisintegration zu leisten. Das Problem besteht aber oft darin, dass der Fremde auf Grund seines Aufenthaltsstatus’ – als Asylant oder Kriegsflüchtling, als Studierender aus bestimmten Ländern – kein oder nur ein sehr eingeschränktes Arbeitsverhältnis eingehen kann. Der Status des Fremden ist heute v.a. durch das Staatsbürgerrecht und alle weiteren, den Fremden betreffenden Gesetze und Aufenthaltsbestimmungen geregelt. Die Akzeptanz und Integrationsbereitschaft in den Wohnvierteln oder Arbeitsverhältnissen ist oftmals eine völlig andere. Alle Thesen, die in der Anthropologie und Religionswissenschaft, der Soziologie oder Politologie, der Sozialpsychologie oder Psychologie (z.B. Fremdenhass als Projektion des Selbsthasses), aber auch in der Geschichtswissenschaft über die Rolle des Fremden und die Modi der Integration, der ein- oder ausschließenden Riten und Umgangsformen – beginnend im Kindergarten oder auf dem Schulhof – entwickelt wurden, sind nur Bruchstücke des breiten Spektrums, durch das sich gegenwärtig in Deutschland und anderen europäischen Nationen die Situation der Fremden darstellt. Dieser Prozess ist weiter fortgeschritten – das zeigen die auch empirisch gut aufbereiteten Studien aus vielen Städten (vgl. z.B. Meinlschmidt 2003) –, als es das immer noch restriktive Staatsbürgerrecht mit seinen nationalstaatlichen Grenzziehungen wahrhaben will.
4. Dimensionen von Multiethnizität und Multikulturalität In Deutschland leben ca. 7,2 Mio. Ausländer und 8,1 Mio. Deutsche mit Migrationshintergrund – das sind gut 19 % der Gesamtbevölkerung von 82,5 Mio. –, und sie leben zum größten Teil in Städten. Die größte Gruppe unter den Ausländern sind die Türken mit 1,8 Mio., gefolgt von den Italienern mit 601 Tsd. Einwohnern (vgl. „Mikorozensus 2005“ und Stat. Jb. 2005: 48). Ausländer sind in den Augen der Bevölkerung Fremde, aber nicht jeder Fremde muss Ausländer sein. Der Begriff „Ausländer“ sagt also wenig über die sehr komplexe Zusammensetzung dieser gesellschaftlichen Großgruppe und über ihren tatsächlichen Aufenthaltsstatus. Eine Annäherung an diese Komplexität gibt die nachfolgende Übersicht:
Quelle: Nach Alf Mintzel 1997; hier stark gekürzt und ausschließlich auf Deutschland bezogen.
2)
Regionale Minderheiten Sorben Nationale Minderheiten Dänen
Dimension III Dimension IV Aktuell migrationsbedingte Sozialräumliche Verteilung Multikulturalität der Multikulturalität
Hegemonial-/Dominanzkulturen Arbeitsmigration Segregation/Segmentation Regionale (Sub-)Kulturen Wirtschaftsmigration Milieubezogene (Sub-)Kulturen Flucht Minderheiten-Kulturen Vertreibung 1) Regionale (Sub-)Kulturen 1) Europäischstämmige 1) Territorial segregierte/ - Bayern Einwandererminoritäten teilweise segregierte - Hansestädte Italiener, Griechen, Spanier Einwandererminoritäten - Metropolitane Subkulturen et al. - Städtische Kolonien (Berlin, München) - Einwandererviertel 2) Außereuropäische 2) Milieubezogene (Sub-) Einwandererminoritäten 2) Anziehungskraft städtischer v.a. Türken Kulturen und wirtschaftlicher - bürgerliche Kultur 3) Andere Kategorien Zentren - Arbeiterkultur Flüchtlinge, Vertriebene - Konzentration in Groß- Sozialmilieus (katholipolitisch Verfolgte etc. städten/ städtischen Großsches; konservativagglomerationen/Megaloprotestantisches; städtischpolen bürgerliches etc) 3) Großräumige Verteilung - Periphere Situation 3) Minderheitenkulturen - Soziale Minderheiten - Nord-Süd-Verteilung „Randgruppen“ (z.B. der konfessionell - Historische Minderheiten ausgeprägten Kulturen) (Dimension I) - Einwanderer-Minderheiten (Dimension III)
Dimension II Politische und soziale Multikulturalität
Schaubild 6
1)
Autochthone Bevölkerung „Alteuropäisch“-historische Minderheiten
Dimension I Historische Multikulturalität
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Multiethnizität und Multikulturalität in Deutschland
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5. Modi und Stufen der Integration von Fremden In der Soziologie und Integrationspolitik werden Probleme der Integration von Fremden mit den Begriffen Assimilation und Akkulturation verdeutlicht. Assimilation (lat. das „Ähnlichmachen“) bedeutet so viel wie Angleichung und wird von Akkulturation, der Übernahme von kulturellen Elementen einer bisher fremden Kultur dadurch unterschieden, dass die eigenen, ursprünglichen Kultur- und Verhaltensmuster an Bedeutung verlieren und eine vollständige Integration in Kultur und Lebensweise des Aufnahmelandes stattfindet (vgl. Esser 2006). Auch diese Begriffe sind nicht ausreichend, die höchst komplexen Phänomene der Auseinandersetzung der Ausländer/Fremden mit der deutschen Kultur und Zivilisation zur Sprache zu bringen. So wird davon ausgegangen, dass die erste, zuwandernde Generation „nur“ die Stufe der Akkulturation schaffe bzw. erreichen will, und die nächste Generation die vollständige Assimilation anstrebt. Dieses Verlaufsmuster der Integration zeigte in den letzten Jahren manche Brüche, in dem der Stellenwert von Ethnien und von Religion, zumal des Islams, zugenommen hat und über diese Variablen die Distanz zum Aufnahmeland bewusst aufrechterhalten wird. Dies ist für die Inlandsausländer, die deutsche Schulen und Hochschulen besuchen, oft ein gravierendes Problem, wenn ihr familiäres Umfeld ihnen nur die partielle Integration erlaubt. Entsprechend der Vielfalt der Ethnien in Deutschland (vgl. den Überblick bei Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997) sind damit auch unterschiedliche Formen und Intentionen, Grade und Erfolge von Akkulturation und Assimilation gegeben. Die Differenzierungen reichen bis in die einzelnen Familien und Gemeinden, die Schulen und Kindergärten, die Sportvereine, Jugendgruppen, Freizeiteinrichtungen (wie Discos), aber auch bis an den Arbeitsplatz. Die Zeit der Arbeitsmigranten – der Fremden, die heute kommen, und morgen weiterziehen (in der Terminologie von Georg Simmel) – ist längst vorbei. Fragen der Assimilation und Akkulturation beschäftigen heute alle Institutionen; „Erfüllungsort“ ist die lokale Gemeinde, der tatsächliche Lebensort.
6. Parallelgesellschaften und neue Gettos? Die Tradition verschlingt die Moderne. Necla Kelek
Der einführende Satz aus dem Werk der Soziologin und Schriftstellerin Necla Kelek, „Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“, bezieht sich auf die Veränderungen, welche die Autorin seit den 1960er Jahren in Istanbul wahrgenommen hat, einer Stadt, die damals ca. 1,5 Mio.
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Einwohner hatte und gegenwärtig ca. 15-18 Mio. Jenes Istanbul, das zusammen mit der neuen Hauptstadt Ankara die Basis war für die vollständige Trennung von Kirche und Staat, wie sie von Kemal Atatürk (1881-1938) nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches durchgesetzt worden war, gibt es nicht mehr. Die muslimisch geprägten Traditionen der ländlichen Regionen, aus denen die Zugewanderten stammen, verschlingen die Moderne in ihren öffentlichen und privaten Erscheinungsformen auch in den großen Städten. Wie schnell sich die Verhältnisse auch in deutschen Städten geändert haben, wird aus einem Zitat von Necla Kelek deutlich (DIE ZEIT, 09.02.2006, S. 48): „Als ich 1995 in Berlin versuchte, Kopftuch tragende junge Türkinnen zu interviewen, musste ich selbst in Kreuzberg lange suchen, um überhaupt die eine oder andere ausfindig zu machen. Gehen Sie heute zum Cottbusser Tor in Kreuzberg: Sie werden eher Probleme haben, muslimische Frauen ohne Kopftuch zu finden“. Das Kopftuch scheint durchaus ein Indikator dafür, dass sich für immer mehr jüngere Frauen und inzwischen auch Mädchen (was es nie gegeben hat in der islamischen Tradition) die Stadträume und öffentlichen Plätze schließen und in ihren kulturellen und „städtischen“ Funktionen nicht mehr wahrgenommen werden dürfen. Im Jahr 2005 lebten in Deutschland – das noch im Jahr 1955, also vor dem Zuzug von „Gastarbeitern“, mit einem Ausländeranteil von weniger als 1 %, ethnisch weitgehend homogen war – allein 1,8 Mio. Menschen türkischer Abstammung (Sechster Familienbericht 2000: 33, Abb. III.3).
Da die Mehrzahl der türkischen Einwanderer in Deutschland aus Istanbul bzw. über Istanbul kommt – wie die Familie von Necla Kelek –, wird das Problem des Aufsaugens oder auch des Rückgängig-Machens der Moderne nun verstärkt nach Deutschland transferiert. Am deutlichsten zeigen sich diese Phänomene in den Großstädten und ihren Ballungsräumen. Sie erleben nun das, was die Moderne überwinden wollte: religiös und ethnisch fundierte Segregationen und neue Formen der Gettobildung. Inzwischen gibt es eine größere Zahl an empirischen Untersuchungen zur Integration vor allem der türkischen Migranten in Deutschland (vgl. die Hinweise in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1-2/2006). Sie sind nicht nur zahlenmäßig mit Abstand die größte Gruppe, sondern auch wegen ihres religiösen Hintergrunds und der Form ihrer Integration primär über Familien- und Verwandtschaftsstrukturen eine soziale und kulturelle Minderheit, die sich nur teilweise in die deutsche Kultur und Gesellschaft einfügen kann und möchte. Bei dieser Minderheit, so kann vermutet werden, zeigen sich am ehesten Tendenzen zur Entwicklung von Parallelgesellschaften (der Ausdruck Parallelgesellschaft wurde erstmalig von Wilhelm Heitmeyer 1996 in einer Untersuchung zum islamischen Fundamentalismus Jugendlicher verwandt; Halm/Sauer 2006: 18). Aus einer Panel-Untersuchung von Dirk Halm und Martina Sauer der Jahre 1999-2004, bei der in Nordrhein-Westfalen jährlich 1000 Personen befragt wurden,
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
können folgende Ergebnisse hervorgehoben werden: Die türkischen Migrantinnen und Migranten gehören zu 95 % dem muslimischen Glauben an (unter ihnen 90 % Sunniten). Hinsichtlich der siedlungsgeographischen Segregation, die neben einer lebensweltlichen und einer zivilgesellschaftlichen Segregation unterschieden wird, lebten 58 % der Befragten in überwiegend deutsch geprägten Gegenden; 15 % lebten in gleichmäßig gemischten Vierten und 21 % in überwiegend von Türken bewohnten Stadtteilen (Halm/Sauer 2006: 22). Die Autoren kommen im Hinblick auf die Entwicklung einer türkischen Parallelgesellschaft zum Ergebnis, dass hiervon nicht gesprochen werden könne. Das einzige Merkmal, das im Verlauf der fünfjährigen Untersuchung in diese Richtung weise, sei die zunehmende Religiosität. Aber gerade dieses Phänomen, die rasch voranschreitende Islamisierung eines Teils der türkischen Bevölkerung in Deutschland, erhöht die Segregation in ihren negativen Effekten und führt zum nachlassenden Integrationswillen in die Stadtgesellschaft als Basis der Akkulturation und der Assimilation. Unter diesen neuen Voraussetzungen sind auch die Erscheinungsformen der Segregation aus Gründen fehlender ökonomischer Ressourcen und damit der individuellen Wahlmöglichkeiten (wie sie Jens Dangschat 1997 beschrieben hat) nicht mehr generell anwendbar, denn die Tradition – als Sammelbegriff für religiös fundierte Verhaltensvorschriften – verschlingt auch hier die Moderne mit einem ihrer wichtigsten Elemente: der individuellen Wahl bei Entscheidungen. Hinzu kommt eine zunehmende Akzeptanz von Bräuchen, Sitten und Ehrenkodices aus der islamischen Religion und Kultur, die aus Gründen des Respekts vor einer anderen Religion und Kultur auch dann noch praktiziert werden, wenn eklatante Grund- und Menschenrechte (vor allem bei Mädchen und Frauen) verletzt werden. Hermann Lübbe (1987) warnte vor einem „politischen Moralismus“, der zum „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ führe. Von den vier Punkten, die Lübbe nennt, um den politischen Moralismus zu charakterisieren, sei nur das „appellative Bemühen“ hervorgehoben, „die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände über die Verbesserung moralischer Binnenlagen, durch pädagogische und sonstige Stimulierung guter Gesinnung zu erwarten“, statt von einer Verbesserung rechtlicher und ordnungspolitischer Institutionen. Doch auch im Falle einer weit reichenden Integration der Ausländer – zumal jener muslimischen Glaubens – bleibt die eigene ethnische und religiöse Identität der Zugewanderten „als potentiell handlungsrelevante Orientierungsbasis erhalten“ (Robertson-Wensauer 2000:35). Aus der in den 1980er Jahren erhofften Multikulturalität wird im besten Fall Interkulturalität; im ungünstigsten Fall entstehen Parallelgesellschaften, oder wie sich in England und Frankreich in einzelnen Stadtteilen bereits abzeichnet, Gegengesellschaften.
IV. Die Frau im Stadtraum. Gender-Mainstreaming
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IV. Die Frau im Stadtraum. Gender-Mainstreaming Im Band „Architektursoziologie“ (Schäfers 2006: 149f.) wird darauf hingewiesen, dass es eine klare Entwicklungslinie von der Frauenforschung seit den 1970er Jahren zur „Entdeckung der Frau in Architektur und Stadtraum“ gibt (vgl. Rodenstein 2000). Eine frühe Darstellung von Doris Hayden aus dem Jahr 1980 mit dem Titel „What would a Non-Sexist City Be Like?“ hatte einigen Einfluss auf die Diskussion, verengte sie aber auch, weil die Argumentation kaum zuließ, die sehr unterschiedlichen Raumnutzungsmuster von Frauen in der gebauten Umwelt zu thematisieren. Gegenwärtig wird diese Thematik unter dem Begriff Gender bzw. GenderMainstreaming abgehandelt. Der Begriff gender (aus dem Engl.) hat in den letzten Jahren den Begriff Geschlecht, der sich vor allem auf den Unterschied der Geschlechter Mann und Frau und die damit verbundenen Ausprägungen der Sexualrollen bezieht, mehr und mehr ergänzt, z.T. auch verdrängt. In den 1970er Jahren haben die Frauenforschung und der Feminismus die Differenzierung von sex (biol. Geschlecht) und gender durchgesetzt, „um das sozial Konstruierte des Geschlechtlichen hervorzuheben“ (Ostner 2006). Der Begriff Gender-Mainstreaming ist in der Stadt- und Wohnungsplanung fest etabliert, nachdem die Europäische Union hierzu eindeutige Vorschriften erlassen hat. „Gender Mainstreaming bedeutet, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben und Entscheidungsprozessen die Perspektive des Geschlechtsverhältnisses bzw. der Gleichstellung der Geschlechter von vornherein und durchgängig mit einzubeziehen“ (Häußermann/Siebel 2004: 212).
In ihrer an der Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1897-1990) orientierten Darstellung über „Wohnungsbau im Wandel der Wohnzivilisierung und Genderverhältnisse“, das von der höfischen Architektur des 17. Jh.s bis zum Wohnungsbau der Gegenwart reicht, gibt Katharina Weresch (2005) einige Beispiele für die Berücksichtigung der Gender-Perspektive. Die Basis hierfür sind soziale und kulturelle Prozesse, zumal im Arbeitsbereich, im privaten und im öffentlichen Raum, die das Verhältnis der Geschlechter zueinander, aber auch die Aktivitätsfelder der Geschlechter und ihres Selbstverständnisses verändert haben (Weresch 2005: 273). Dies führte selbstverständlich auch zu anderen Raumnutzungsmustern, sei es im privaten oder im öffentlichen Bereich. An Beispielen zur Umsetzung von Ergebnissen der theoretischen Diskussion aus der Frauen- bzw. der Genderforschung in familien- und frauenorientierte Bauprojekte werden u. a. genannt: der IBA-Emscher-Park („Frauen planen Wohnungen“); das ökologische Modellprojekt Hannover-Kronsberg 2000; die neue Gartenstadt Falkenhöh bei Berlin 1995. Wenn man in Erinnerung ruft, wie gedankenlos im Hinblick auf Lebensgewohnheiten und Sicherheitsbedürfnisse von Frauen, Kindern und Jugendlichen, aber auch von älteren Menschen v.a. während des hektischen Baubooms der 1960
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
und -70er Jahre geplant wurde – man denke an Garagen und Unterführungen, Bushaltestellen und öffentliche Plätze, Wohnungseingänge und Aufenthaltsräume –, ist die Gender-Mainstreaming-Initiative verständlich. Doch nicht der gebaute Raum allein ist für bestimmte Formen der Nutzung ausschlaggebend, sondern ebenso wichtig sind die Standards an Kultur und dem, was seit der Aufklärung und der Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte als zivilisiertes Verhalten angesehen wird.
V. Die „Soziale Stadt“ als Integrationsmodus Der Begriff Soziale Stadt ist die Kurzbezeichnung für eine gemeinsame Initiative von Bund, Ländern und Gemeinden, um an besonderen Brennpunkten in einzelnen Stadtquartieren negative Tendenzen und Gettoisierungen zu verhindern (die ausführliche Bezeichnung lautet: „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“). Die Initiative ist wirksam seit dem Jahr 1999 (vgl. Walther/Mensch 2004; Häußermann 2005; dort der Hinweis, dass es im Jahr 2003 300 Programme in 214 Städten und Gemeinden gab; vgl. auch Anhang, S. 210f.). Der Begriff ist programmatisch und entspricht den Notwendigkeiten der heutigen Stadtund Gesellschaftspolitik; die dahinter stehenden Problematiken begleiten die Stadt seit ihrem Beginn. Über „Brot und Spiele“ wie im antiken Rom lässt sich heute ebenso wenig die ärmere Bevölkerung in die Stadt integrieren wie über die karitativen Einrichtungen der Kirchen, Klöster und Bürgerstiftungen in den mittelalterlichen Städten. Einzelne Wohnsiedlungen für ärmere Bevölkerungsschichten, wie die berühmte, im Jahr 1519 von dem reichen Jakob Fugger gegründete und heute noch existierende Fuggerei in Augsburg, haben eine bis in die Gegenwart reichende Tradition und finden sich noch in mehreren Städten Deutschlands. Seit der Entwicklung der empirischen Sozialforschung vor gut 100 Jahren und ihrer Anwendung auch auf die Probleme und die Integrationsmechanismen der Stadtgesellschaft gab es viele Untersuchungen, die zu den jetzigen Bemühungen von koordinierter Praxis und wissenschaftlicher Analyse als Vorläufer zu werten sind. Hervorgehoben sei die Analyse „rückständiger Viertel“ in der Bundesrepublik von Katrin Zapf (1969). Ein detaillierter Vergleich der Ausgangsbedingungen dieser Untersuchung mit der jetzigen Situation wäre höchst aufschlussreich. Damals gab es vor allem rückständige Viertel im Hinblick auf die Sanierungsbedürftigkeit der zum Teil noch sehr alten Bausubstanz – heute hat die Sanierungsbedürftigkeit vor allem soziale und ökonomische Gründe. Ein anderer Punkt sei in Erinnerung gerufen: Katrin Zapf hatte seinerzeit, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, viel Kritik erfahren. Sie hatte Jane Jacobs und Herbert Gans, die zu den bekanntesten Stadtsoziologen in der westlichen Welt zählten – zumal Jane Jacobs mit ihrem Werk „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (dt. 1963) – des Sozialromantizismus verdächtigt, weil sie „den generellen Widerstand gegen eine organisierte Modernisierung der Gesellschaft“ (1969: 250) formulierten und ein nach rückwärts
V. Die „Soziale Stadt“ als Integrationsmodus
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gewandtes Plädoyer für den Erhalt der Milieus ärmerer Schichten hielten. Doch jede Sanierung steht weiterhin vor dem Problem – wie sich bei den umfassenden GentrifizierungsMaßnahmen in den zentrumsnahen Altbaugebieten der Zeit um 1880 bis zum Ersten Weltkrieg nur zu deutlich zeigte –, ein Gleichgewicht zwischen Gebietserhalt und Vertreibung bisheriger Bevölkerung zu finden.
Der Ausgangspunkt für das Programm Soziale Stadt war, dass stadtteilbezogene Statistiken in der Mehrzahl der Städte auf eine deutliche Zunahme der Segregation in ihrer negativ zu nennenden Erscheinungsform hinwiesen, bis hin zu neuen, in Deutschland bisher eher unbekannten Formen der Gettoisierung. Das Ziel des Programms Soziale Stadt war und ist, durch eine Bewertung sozialer und ökonomischer Daten problematischer Zustände und absehbarer Entwicklungen eine spezifische Quartierspolitik zu initiieren. Diese soll nicht nur die üblichen städtebaulichen Investitionen in Wohnungsausstattung und Infrastruktur umfassen, sondern „insbesondere die Förderung von lokalen Initiativen im Bereich der Beschäftigung, der Kultur und Sozialarbeit, aber auch der Beteiligung und Aktivierung von Bewohnern“ (Häußermann 2005: 1031). Letztlich geht es bei diesem Programm nicht nur darum, die jeweilige Quartiersbevölkerung besser in die Stadtgesellschaft zu integrieren, sondern einem Auseinanderdriften der Stadtteile vorzubeugen, im Extremfall also die amerikanischen, britischen und französischen Entwicklungen von sog. No-Go-Quartieren zu verhindern. Die Situation hat sich in den letzten Jahren dadurch dramatisch verschärft, weil bisherige Mechanismen der Integration bzw. der Problemreduktion nicht mehr bzw. nur noch unzulänglich greifen: die Absicherungen von Problemsituationen in einem ausreichenden Maße über den Sozialstaat und die staatlichen Interventionen in die Wohnversorgung, beginnend beim sozialen Wohnungsbau, der städtebaulich und sozialpolitisch kaum noch eine Rolle spielt. Das Programm Soziale Stadt wurde also zu einem Zeitpunkt begonnen, als die hohe und für immer breitere Bevölkerungskreise auch langfristige Arbeitslosigkeit den Grundmechanismus der Integration ins städtische System: ein relativ sicheres Arbeitsverhältnis, ins Wanken brachte. Sehr aussagekräftig für das Thema Soziale Stadt sind die Daten und Interpretationen zum „Sozialstrukturatlas Berlin 2003“, der auf den Ergebnissen des Jahres 2002 beruht und mit den Zahlen aus dem Jahr 1998 und den anschließenden Entwicklungen in den 23 Berliner Bezirken (nach neuer Einteilung 12 Bezirke) verglichen werden kann (vgl. Meinlschmidt et al. 2003). Als Schlüsselvariablen für die Sozialstrukturanalyse werden genannt: Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Lebenserwartung, vorzeitige Sterblichkeit, Einkommen, Bildungs- und Ausbildungssituation. Einen besonderen Stellenwert hat die Armutsquote. Nach dem hier am häufigsten verwandten Maß gilt als arm, wer weniger als 50 % des durchschnittlichen
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Einkommens bezieht. Das waren im Jahr 2002 in Berlin 15,6 % der Bevölkerung (553 Tsd. von 3,39 Mio. Berlinern). Als gravierend ist das Ergebnis zu werten, dass das Armutsrisiko mit zunehmender Kinderzahl zu steigen scheint: Über die Hälfte der Haushalte mit drei und mehr Kindern unter 18 Jahren hat ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze (vgl. hierzu auch den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2005). Da Kinder gemeinsam mit Jugendlichen die Gruppe der am häufigsten von Armut Betroffenen darstellen, wird auch von einer Infantilisierung der Armut gesprochen (vgl. dazu Butterwegge 2002). Die Unterschiede hinsichtlich der Armutsquote sind in den einzelnen Bezirken erheblich: Kreuzberg mit 28 und Wedding mit 27 % – gegenüber Treptow, Steglitz, Köpenick und Pankow mit weniger als 10 und Pankow mit weniger als 5 % (Meinlschmidt 2004: 106). Die Segregation der Bevölkerung nach schichtspezifischen, aber auch ethnischen Indizes verstärkt sich durch Umzüge im Stadtgebiet – Prozesse, wie sie seit den ersten Analysen der sozialökologischen Schule bekannt sind (vgl. auch S. 132). Wie rasch diese Prozesse ablaufen, zeigt für Berlin ein Blick in die Umzugsstatistik des „Sozialstrukturatlas Berlin 2003“: Von 1998 bis 2002 wechselte jeder Berliner/jede Berlinerin im statistischen Durchschnitt 1,2 Mal den Wohnsitz; dabei sind die Unterschiede von Deutschen (1 Mal) und Ausländern (2,2 Mal) erheblich ( vgl. hierzu auch im Anhang, S. 204). Aus ihren Analysen ziehen Meinlschmidt et al. (2003: 18) die Schlussfolgerung: „Um dem Prozess der sozialräumlichen Spaltung der Stadt frühzeitig entgegenzuwirken, muss bereits bei der Planung der sozialräumliche Aspekt mit berücksichtigt werden“ (vgl. auch die empirischen „Quartiersbeschreibungen“ und methodischen Ansätze zur Analyse der Sozialen Stadt in: Walther/Mensch 2004 und die Materialien im Anhang, S. 210ff.). Die geschilderte Situation und Entwicklung in der sozialräumlichen Struktur und Integration der Stadtgesellschaft ist in Deutschland nur mit der Verelendung großer Bevölkerungsteile während der Weltwirtschaftskrise (1929ff.) zu vergleichen, aber in gewisser Hinsicht dadurch noch brisanter, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht auf eine grundlegende Trendwende am Arbeitsmarkt hoffen lässt – und immer weniger darauf, dass die Einkommen aller Beschäftigten, also auch der vielen Schein-Selbstständigen und der am Rande des absoluten Existenzminimums Beschäftigten – der sog. „working poor“ –, einen Wert erreichen, der die Integration in die allgemein-gesellschaftlichen und die sozialen und kulturellen Basisinstitutionen der Stadt erlaubt.
Informationsteil
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Informationsteil
Literatur Arnscheidt, Grit, Das Mannheimer Experiment, in: DIE ZEIT, 31.1. 2002, S. 88 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, (Hg.), Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Sechster Familienbericht, Berlin 2000 Butterwegge, Christoph, Kinderarmut und Generationengerechtigkeit: Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, 2., durchges. Aufl. Opladen 2003 Dangschat, Jens, Sag’ mir, wo du wohnst, und ich sag’ Dir, wer Du bist! Zum aktuellen Stand der deutschen Segregationsforschung, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 27. Jg./1997, S. 619-647 Ders. (Hg.), Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung, Opladen 1999. Durkheim, Emile, Über soziale Arbeitsteilung, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1988 (orig. frz. 1893) Esser, Hartmut, Art. „Akkulturation“, in: Schäfers, Bernhard/Johannes Kopp (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 9., grundlegend überarb. und aktual. Aufl., Wiesbaden 2006 Halm, Dirk/Sauer, Martina, Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1-2/2006, S. 18-24 Hamm, Bernd, Betrifft: Nachbarschaft. Verständigung über Inhalt und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs, Düsseldorf 1973 (Bauwelt Fundamente Bd. 40) Ders., Art. „Nachbarschaft“, in: Häußermann, Hartmut (Hg)., Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen 1998, S. 172-181 Häußermann, Hartmut, Art. „Soziale Stadt“, in: Handwörterbuch der Raumordnung, hg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, 4., neu bearb. Aufl., Hannover 2005, S. 1031-1036 Häußermann, Hartmut/Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt/New York 2004 Hayden, Doris, What Would a Non-Sexist City Be Like? Speculations on Housing, Urban Development and Human Work, in: The City Reader, ed. Gates, Richard T./ Frederic Stout, New York 1996, S. 142-157 (zuerst 1980) Heckmann, Friedrich, Ethnische Minderheiten. Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992 Hradil, Stefan, Die „Single-Gesellschaft“, München 1995 Ders., Art. „Milieu“, in: Schäfers, Bernhard/Johannes Kopp (Hg.), 9., grundlegend überarb. und aktual. Aufl., Wiesbaden 2006 Kelek, Necla, Die muslimische Frau in der Moderne, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1-2/2006, S. 25-31 Lübbe, Hermann, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987 Meinlschmidt, G. (Hg.), Sozialstrukturatlas Berlin 2003 – Ein Instrument der quantitativen, interregionalen und intertemporalen Sozialraumanalyse und -planung. Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Berlin 2004
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Kapitel VI: Integration in die Stadtgesellschaft
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Nachweis der Zitate und Motti Schroer, Markus, a.a.O., S. 233 Kelek, Necla, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Innern des türkischen Lebens in Deutschland, 6. Aufl. Köln 2005, S. 59
Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau.
Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau. Soziologie der Stadtplanung und städtebaulicher Leitbilder Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau.
Inhalt I.
Die Kommunen im Staatsgefüge
II. Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe 1. 2. 3. 4.
Institutionalisierung der Stadtplanung Städtebauliche Leitbilder Die Charta von Athen als städtebauliches Leitbild Soziale und ideale Grundlagen der gegenwärtigen Stadtplanung
III. Schlussbemerkung: Problemfelder der gegenwärtigen Stadt und Stadtplanung Informationsteil
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Kapitel VII: Stadt und Gemeinde im demokratischen Staatsaufbau.
I. Die Kommunen im Staatsgefüge Nur über den Stadtbürger führt der Weg zum Staatsbürger. Edgar Salin
Es ist charakteristisch für die Entwicklung von Demokratie und Selbstverwaltung im Deutschland der letzten 200 Jahre, dass in Zeiten der Not bzw. der Staatsauflösung die Städte und Gemeinden zum Rückhalt für die Organisation des alltäglichen Lebens und für den bürokratischen und demokratischen Neubeginn wurden. Es war, wie hervorgehoben, (vgl. S. 53) Freiherr vom und zum Stein (1757-1831), der am Beginn des 19. Jh.s durch die Erneuerung der Selbstverwaltung der Städte die Grundlagen schuf für den Wiederaufstieg Preußens nach den verheerenden napoleonischen Kriegen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg begann die staatliche und gesellschaftliche Erneuerung abermals von der kommunalen Basis her. Es bleibt auch für die Demokratie in der Gegenwart von großer Bedeutung, welcher Stellenwert den Städten und Gemeinden im dezentralen, föderativen Staatsaufbau der Bundesrepublik und den Vorgaben der EU (vgl. Pehle 2005) zukommt. Die wichtigsten verfassungsrechtlichen Grundlagen können wie folgt zusammengefasst werden:
Das Grundgesetz bestimmt in Art. 28, dass „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln sind“. Das ist der Kern der Selbstverwaltungsgarantie. Zum Kernbereich der Selbstverwaltung gehören das Recht der Gemeinden, die ihnen vom Gesetzgeber zugestandenen Steuern in eigener Verantwortung zu erheben (Finanzhoheit) und die Einrichtung der Verwaltung nach Grundsätzen der Zweckmäßigkeit vorzunehmen. Die Gemeinden sind im Rahmen ihrer Planungshoheit befugt, Bebauungspläne aufzustellen und alle erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen vorzunehmen.
Trotz dieser Selbstverwaltungsgarantie bleibt die Gemeinde in die Verwaltungsorganisation der Länder eingegliedert. Andere Einschränkungen der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden ergeben sich aus immanenten Entwicklungen und aus „Sachzwängen“, welche der Bund und das jeweilige Bundesland geltend machen. Die Gemeinden sind schon längst kein geschlossener Lebensraum bzw. politischer Raum mehr, auf den das Prinzip der „Allzuständigkeit“ angewandt werden könnte. Nicht nur die Lebenszusammenhänge der Individuen sind „grenzüberschreitend“, sondern auch die Versorgungssysteme, wie gegenwärtig, zumal im Energiesektor, offenkundig ist. Auf Grund dieser Entwicklungen komme, so Wolfgang Rudzio (2000: 410), den Gemeinden und Kreisen im deutschen Staatsaufbau „nur die Stellung von Hintersassen der Bundesländer“ zu.
II. Die Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe
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Rudzio (2000: 411f.) unterteilt das Aufgabenspektrum der Gemeinden in folgende Bereiche:
Angelegenheiten der Selbstverwaltung mit eigenem Gestaltungswillen (sofern es die finanziellen Ressourcen erlauben), z.B. bei Theater, Museen, Schwimmbädern, Jugendheimen; Auftragsangelegenheiten zur Ausführung von Bundes- und Landesgesetzen, wie z.B. beim Bundessozialhilfe-, Jugendhilfe- und Wohngeldgesetz oder dem Bau von Kinderhorten.
Von den zahlreichen Aufgaben der Städte und Gemeinden als den Orten der alltäglichen und überalltäglichen Daseinsvorsorge (mit dem Ausdruck des Verfassungsrechtlehrers Ernst Forsthoff) sei hier nur die Stadtplanung hervorgehoben.
II. Die Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe 1. Institutionalisierung der Stadtplanung Die ungeheuren Baumassen in Manchester, bloß von einem Werkmeister ohne alle Architektur und nur für das nackteste Bedürfnis allein aus rohem Backstein, machen einen höchst unheimlichen Eindruck. Friedrich Schinkel, 1826
Die Entwicklung der Stadtplanung als eine sowohl berufspraktische als auch gesetzlich-bürokratische Aufgabe hat seit der Entwicklung der industriellen Großstadt vor allem zwei Wurzeln: Die Wohnungsnot und das damit verbundene Massenelend in hygienisch untragbaren Verhältnissen und die Integration des expandierenden Fabriksystems und der neuen technischen Systeme, beginnend mit der Eisenbahn, in die gegebene Stadt- und Siedlungsstruktur. Für diese Aufgaben gab es keine Vorbilder. In seinem Grundlagenwerk „Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa“ beleuchtet Gerd Albers (1997) die Grundlagen und Phasen des Aufbaus von Stadtplanungsrecht und Ämtern der Stadtplanung für 15 europäische Länder. Aus dem auf Deutschland bezogenen Teil (S. 34ff.) seien einige Punkte hervorgehoben. Wurde der berühmte, bereits erwähnte Bebauungsplan für die schnell wachsende industrielle Großstadt Berlin (1858-1862) des Bauingenieurs James Hobrecht noch vom preußischen Polizeipräsidenten erlassen, so bekam nach und nach die Stadtverordnetenversammlung, und damit die Bürgerschaft, Einfluss auf das Baugeschehen.
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Fachliche Grundsätze für Stadterweiterungen wurden erstmalig bei der Versammlung deutscher Architekten und Ingenieurvereine 1874 in Berlin beschlossen. Berichterstatter war Reinhard Baumeister (1833-1917), der seit 1862 an der Technischen Universität in Karlsruhe den ersten Lehrstuhl für ingenieurwissenschaftlichen Städtebau hatte. Auf dieser Basis veröffentlichte Baumeister 1876 praktisch das erste Lehrbuch des modernen, ingenieurwissenschaftlichen Städtebaus: „Stadterweiterungen in technischer, wirtschaftlicher und baupolizeilicher Beziehung“ (an der Universität Karlsruhe (TH)wird die Tradition dieses Lehrstuhls für Städtebau bis heute lebendig gehalten; er gehört weiterhin zur Fakultät für Bauingenieure).
Baumeister hatte die gestalterischen Fragen offen gelassen. Auf Schließung dieser Lücke zielte das Werk des österreichischen Architekten und Stadtplaners Camillo Sitte (1843-1903): „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ (zuerst 1889). Sitte wurde als „Wiederbegründer der Stadtbaukunst“ gefeiert. Als dann 1890 von Joseph Stübben – Stadtbaurat in Aachen, danach in Köln – das Handbuch „Der Städtebau“ vorgelegt wurde, war eine Basis geschaffen, auf der die Ordnung und Weiterentwicklung der industriellen Großstädte vorgenommen werden konnte. Bei Stübben wurde das Tätigkeitsfeld des Stadtplaners wie folgt beschrieben: „Der Städtebau ist nicht bloß die Gesamtheit derjenigen Bauanlagen, welche der städtischen Bevölkerung den Wohnungsbau und den Verkehr, so wie dem Gemeinwesen die Errichtung der öffentlichen Gebäude ermöglichen; der Städtebau schafft nicht bloß den Boden und den Rahmen für die Entwicklung der baulichen Einzeltätigkeit: sondern er ist zugleich eine umfassende, fürsorgende Tätigkeit für das körperliche und geistige Wohlbefinden der Bürgerschaft“ (zit. bei Albers 1997: 232). – Diese Definition hat bis heute Bestand und sie ist Teil jener allgemeinen Daseinsvorsorge, wie sie sich aus Art. 28 des Grundgesetzes ergibt. Bereits Ende des 19. Jh.s setzte sich die Gliederung der Städte in Zonen unterschiedlicher Nutzug durch; die erste Ordnung auf dieser Grundlage wurde 1891 in Frankfurt/M. erlassen (Albers 1997: 36f.). Diese Einteilung in Zonen war später ein Angelpunkt für die Leitsätze der Charta von Athen (vgl. w.u.). Auch die erste Städtebauausstellung verdient Erwähnung im Hinblick auf die Entwicklung der praktischen und wissenschaftlichen Grundlagen der Stadtplanung. Sie fand 1903 in Dresden statt. Der berühmte Leipziger Ökonom Karl Bücher stellte hier die Frage: „Was sind die Großstädte? […] Welche Bedeutung haben sie materiell und ideell für die Gegenwart und Zukunft der Nationen? Wie müssen sie eingerichtet sein, um ihre Aufgaben zu erfüllen“ (zit. bei Albers, S. 37). Diese Ausstellung ist auch deshalb zu erwähnen, weil hier der Soziologe Georg Simmel einen der bis heute bekanntesten Beiträge zur Stadtsoziologie als Vortrag hielt: „Die Großstädte und das Geistesleben“. Die weitere Entwicklung der Stadtplanung kann in folgenden Punkten zusammengefasst werden: Sie verbreiterte sehr zügig ihr Fundament, wobei der Aufbau qualifizierter Ämter in den Städten einher ging mit der Einrichtung von Lehrstühlen in den Technischen Universitäten, dem Ausbau der Ingenieurschulen (den spä-
II. Die Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe
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teren Fachhochschulen für Architektur und Stadtplanung), den Kontrollinstanzen in Ministerien, Kreisämtern und Regierungspräsidien. Aber auch der Aufbau qualifizierter Zeitschriften, die Abhaltung von wissenschaftlichen, auch internationalen Kongressen gehört in dieses Umfeld einer institutionalisierten Stadtplanung. Mit dieser wissenschaftlichen und berufspraktischen Etablierung der Stadtplanung sind zugleich Aufgabenfelder für die Soziologie umschrieben; sie reichen von der Analyse der städtebaulichen Leitbilder bis zur Aufstellung von Prognosen über die weitere demographische und gesellschaftliche Entwicklung; von der Analyse des Planungsprozesses und den institutionalisierten und spontanen Formen der Partizipation bis zu Aussagen über die Wirkung bestimmter Planungen auf die Entwicklung der Segregation im Wohnbereich.
2. Städtebauliche Leitbilder Der Leitbildbegriff in der räumlichen bzw. städtebaulichen Planung (zur Entwicklung vgl. Becker 1998; Jessen 2004; Lassnig/Rilke 2005) spielte in den sehr intensiven – und oft gesellschaftspolitisch unversöhnlichen – Auseinandersetzungen um die städtebauliche Planung in den 1960er und 1970er Jahren eine große Rolle. Leitbilder der Stadtentwicklung dienten nicht nur der Verwirklichung bestimmter gesellschaftlicher und städtebaulicher Utopien, sondern auch als Maßstab für Erfolgskontrollen. Doch diese Diskussionen führten auch zu dem Ergebnis, dass ein einheitliches, alle Städte verpflichtendes Leitbild nicht mehr formulierbar war, weil die Städte wegen ihrer Größe und Tradition, ihrer spezifischen Struktur und den jeweils dominanten Aufgaben zu heterogen waren, um durch ein einheitliches Leitbild gestaltet zu werden. Hinzu kam, dass der Bund und die Länder – nachdem die wichtige Aufgabe des sozialen Wohnungsbaus seit Beginn der 1970er Jahre an Dringlichkeit einbüßte – städtebauliche Rahmenprogramme aufstellten und hierfür größere Summen zur Verfügung stellten. In einer Expertenbefragung zur Bedeutung von Leitbildern für die Stadtentwicklung wurde diese Situation bestätigt (Schäfers/Köhler 1989), aber auch herausgefunden, dass ohne eine konkrete Vorstellung über die Gesamtentwicklung des städtischen Systems die damals so beliebten „kleinen Schritte“ in die Irre führen könnten. Statt Leitbilder zu fixieren oder sie – wie in den 1950er Jahren – mit konkreten Begriffen zu umschreiben („Gegliederte und aufgelockerte Stadt“), wurden Aufgabenfelder für die weitere Stadtplanung formuliert und folgende Problembereiche besonders hervorgehoben: Stadtgestalt; Wohnumfeld; Grün- und Freiflächenplanung; öffentlicher Raum und Verkehrsanbindung; Raum für Gewerbegebiete und Freizeitgestaltung (Schäfers/Köhler 1989: 82f.). Letztlich wurden jene Aufgabenbereiche genannt, die ohnehin in den Bebauungsplänen und Flächennutzungsplänen auftauchen.
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Einen Überblick zu den städtebaulichen Leitbildern in Deutschland seit 1900 gibt nachfolgendes Schaubild. Schaubild 7
Leitbilder der Stadtentwicklung in Deutschland
Quelle: Klaus Wolf 2005: 1053
II. Die Stadtplanung als Selbstverwaltungsaufgabe
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Das bekannteste und am häufigsten missverstandene städtebauliche Leitbild ist die sog. Charta von Athen.
3. Die Charta von Athen als städtebauliches Leitbild Die Stadt muss auf geistiger und materieller Ebene die individuelle Freiheit und den Nutzen kollektiven Handelns sicherstellen. Le Corbusier
Die Charta von Athen hat – bedingt durch die totalitären Systeme der Zwischenkriegszeit und die z.T. chaotischen Zustände nach dem Zweiten Weltkrieg – eine umwegige Entstehungs- und Wirkungsgeschichte (vgl. Conrads 1981; Hilpert 1988). Ihre wissenschaftlichen Grundlagen, ihre Intentionen und Inhalte machen sie auch für die Stadtsoziologie zu einem wichtigen Dokument. Vorausgegangen war eine Aufsehen erregende Schrift von Le Corbusier (Charles-Edouard Jeanneret, 1887-1965, der sich ab 1923 Le Corbusier nannte) zum modernen Städtebau: „Urbanisme“, 1925 in der Zeitschrift Collection de l’Esprit Nouveau veröffentlicht. Dort hieß es u.a.: „Eine Stadt! Sie ist die Beschlagnahme der Natur durch den Menschen. Sie ist eine Tat des Menschen wider die Natur, ein Organismus des Menschen zum Schutze und zur Arbeit“. Vorausgegangen war auch die Gründung des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) auf Schloss La Sarraz im Schweizer Kanton Waadt im Jahr 1928, nicht zuletzt als Gegengewicht zum Bauhaus und zum großen Erfolg der Weißenhofsiedlung in Stuttgart 1927 als Exempel des modernen Bauens (vgl. hierzu Schäfers 2003, Kap. VI und VII). Die Charta von Athen war das Ergebnis der Beratungen des IV. Kongresses der CIAM, der auf einem Passagierschiff, das zwischen Marseille und Athen verkehrte, abgehalten wurde; sie ist ein Dokument des funktionalistischen Städtebaus (üblich ist auch die Bezeichnung fordistischer Städtebau, benannt nach dem Autohersteller Henry Ford, dessen Name sprichwörtlich wurde für das Maschinenzeitalter, seinen Automatismus und rationalistischen Funktionalismus steht). Das Ergebnis dieser Beratungen wurde später (1941/43) von Le Corbusier in 95 Paragraphen zusammengefasst, wovon die §§ 71-95 als Lehrsätze formuliert sind. Den Aussagen und Lehrsätzen waren umfangreiche Recherchen zum Zustand in insgesamt 33 Städten vorausgegangen, die in der Erläuterung von § 71 genannt werden (vgl. Hilpert/Le Corbusier 1988: 155), unter ihnen: Amsterdam, Athen, Barcelona, Berlin, Budapest in Europa; Baltimore, Bandung, Detroit und Los Angeles in außereuropäischen Ländern.
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Auf der Basis dieser Untersuchungen der „nationalen Gruppen“ der CIAM heißt es in § 71 der Charta: Die Mehrzahl der untersuchten Städte bietet heutzutage das Bild des Chaos: sie entsprechen in keiner Weise ihrer Bestimmung, die vordringlichen biologischen und psychologischen Bedürfnisse ihrer Einwohner zu befriedigen. Ergänzend wird in der Erläuterung angefügt: „Die Stadt entspricht nicht mehr ihrer Funktion, die darin besteht, die Menschen zu schützen und sie gut zu schützen“. In § 77 heißt es: Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgenden vier Funktionen: Wohnen, Arbeiten, Sich erholen (in den freien Stunden), Sich fortbewegen. Ergänzend erläutert Le Corbusier: „Der Städtebau hat sich bisher nur an ein einziges Problem gewagt, an das Verkehrsproblem. Er hat sich damit begnügt, Ausfallstraßen zu bauen oder Straßen zu ziehen, und hat damit Häuserinseln geschaffen, deren Bestimmung der Zufälligkeit privater Initiativen überlassen worden ist“. Besonders heftig wurde und wird der implizite, sich räumlich niederschlagende Funktionalismus der Charta kritisiert und für alle Übel des „funktionalistischen Städtebaus“ verantwortlich gemacht – wobei vielfach der damalige Zustand der Städte einfach übersehen wird.
4. Soziale und ideale Grundlagen der gegenwärtigen Stadtplanung Die Aufgabenfelder der Stadtplanung spiegeln den sozialen und kulturellen, den technischen und ökonomischen Wandel seit der Durchsetzung der Doppelrevolution und ihrem sichtbarsten Ergebnis, der industriellen Großstadt. Folgende Aufgabenfelder standen und stehen weiterhin im Zentrum der Stadtplanung (vgl. u.a. Schmals 2005):
Schaffung von Wohnverhältnissen, die den sich wandelnden Bedürfnissen und sich differenzierenden Sozialgruppen gerecht werden; Integration der Zuwandernden durch adäquate Wohnversorgung; Integration der öffentlichen und privaten Verkehrsmittel in den immer dichter werdenden Verkehr (wobei auch an Fußgänger und Radfahrer zu denken ist); Ausbau und Erneuerung der Versorgungs-, Energie- und Kommunikationssysteme in die städtische Infrastruktur, in die der Betriebe und Haushalte; Planung und Erneuerungen der wichtigen städtischen Einrichtung für Kultur, Religion und Bildung, Freizeit und Sport.
Diese und weitere Aufgaben der Planung haben von allgemeinen Strukturen der gesellschaftlichen Entwicklung, gesellschaftspolitischen und rechtlichen Vorgaben auszugehen. Hierzu zählen die Besitzverhältnisse an Grund und Boden und das Bau- und Bodenrecht sowie das Zusammenspiel (oft der Gegensatz) von privaten
III. Schlussbemerkung
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und öffentlichen Aufgaben, für die in den letzten Jahren neue Formen der Kooperation und Finanzierung gefunden wurden (z.B. Public Private Partnership). Die sich ändernden gesellschaftlichen Grundlagen der Stadtplanung wurden an verschiedenen Stellen der vorangehenden Kapitel genannt. Hervorzuheben sind die sich ändernde Bevölkerungsstruktur auf der Basis der demographischen Prozesse und von Zuwanderung; die sich differenzierende Bevölkerung nach Lebensstilen und Milieus; die Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger an angemessene Partizipation bei wichtigen, sie betreffenden Entscheidungen der Stadt-, Wohnungsund Quartiersplanung. Die wichtigste gesetzliche Grundlage der Stadtplanung ist das Baugesetzbuch; das wichtigste Planungsinstrument auf lokaler Ebene der Bauleitplan (vgl. hierzu Krautzberger 2005; Stich/Schmidt-Eichstaedt 2005). Dass die Stadtplanung auch ganz andere Rahmenbedingungen haben kann, sowohl ideologisch als auch institutionell, wurde an der Realisierung der „sozialistischen Stadt“ deutlich (vgl. S. 71ff.); die Organisation der Stadtplanung in der DDR war hierfür ein Beispiel (wie aus den ehemaligen kommunalen Büros für Stadtplanung nach der Wiedervereinigung Stadtplanungsämter westdeutschen Zuschnitts wurden, wird am Beispiel der Städte Halle und Rostock von Frank Betker, 2005, analysiert).
III. Schlussbemerkung: Problemfelder der gegenwärtigen Stadt und Stadtplanung III. Schlussbemerkung
Das Wort vom Ende der Stadt und ihrer Unregierbarkeit war in den 1960er und -70er Jahren gängige Münze. Wie viel Berechtigung es damals hatte, sei dahin gestellt. Die Warnungen vor „Unwirtlichkeit“ und „Profitopolis“ oder auch das Motto des Deutschen Städtetages, „Rettet unsere Städte jetzt“, aus dieser Zeit blieben nicht ohne Widerhall und Konsequenzen. Ruft man sich Bilder von der „autogerechten Stadt“ der späten 1950er und -60er Jahre in Erinnerung, als die öffentlichen Plätze zu Parkplätzen geworden waren und gegen die Planung von Fußgängerzonen im Innenstadtbereich sowohl von den Ladenbesitzern als auch von den Bewohnern in den angrenzenden Vierteln heftig protestiert wurde, dann kann man sagen, dass die Städte seither Erstaunliches geleistet haben zur Rückgewinnung von Geschichte und Bewohnbarkeit. Der Karlsruher Architekt und Stadtplaner Martin Einsele beharrte darauf, dass die gegenwärtigen Städte in Deutschland und Europa im Hinblick auf Bewohnbarkeit, Urbanität und öffentlichen Raum früheren Epochen vorzuziehen seien. Hat sich bei der Stadt nicht auch ereignet, was typisch ist für die zweite, die reflexive Moderne (Ulrich Beck): Sie wendet ihre Grundlagen und Prinzipien, die heute viel besser erforscht und bekannt sind als früher, auf sich selbst an: Wie ist
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Öffentlichkeit zu gestalten, wie Urbanität; wie können die Funktionen von Wohnen und Verkehr, Erholung und Arbeiten sinnvoll, und doch im erkennbaren stadträumlichen Zusammenhang, getrennt werden? Wie ist Integration zu gestalten, wie kann Mobilität und Sicherheit für alle, aber auch für bestimmte Gruppen der städtischen Bevölkerung, gestaltet werden? Trotz dieses Wissens und einem breiten Engagement von Architekten, Stadtplanern und Bürgern, dieses in die Stadtgestalt und die städtische Lebensweise der Bewohner umzusetzen, sind die aktuellen Probleme unübersehbar: Wie kann der historische Kern der Städte bewahrt werden, wenn dort zum großen Teil keine Menschen mehr wohnen, die sich über Familie und Tradition mit der Stadt verbunden fühlen? Wie kann dem Problem der schrumpfenden Stadt (vgl. hierzu auch S. 208f.) begegnet werden, wie der sich erstmalig in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern abzeichnenden Tatsache, dass es No-Go-Bezirke und Gettoisierungen neuer Art gibt? Wie kann der ausufernde Bereich des Zwischenstädtischen und der exzessive Bodenverbrauch für immer neue Bedürfnisse und Nutzflächen gestoppt werden? Auch die Internationalisierung bestimmter städtischer Einrichtungen und Architekturen birgt die Gefahr von Orts- und Gesichtslosigkeit. „Die räumlichen Kondensate der Malls, der Indoor-Komplexe, der Entertainment-Center und der Business-Distrikte, in der weite Teile der Bevölkerung ihre sozial und ästhetisch gefilterte Vorstellung von Stadt verwirklicht finden, sind unabhängig von ihrem Standort Allerweltsorte“. Soziale Räume, so fährt die Architektin und Stadtplanerin Annette Rudolph-Cleff (2005) fort, konstituieren sich unabhängig von territorialer Fixierung; Urbanität habe sich damit von der Stadt als konkretem sozialen Ort emanzipiert. Und dennoch gibt es eine nicht nachlassende Begeisterung für die Stadt und für die Bewahrung ihres Erbes und die Gestaltung ihrer Zukunft. Überblickt man die Stadtgeschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, so lässt sich resümieren: Für die Stadt gab es, verglichen mit dem Niedergang in der Völkerwanderungszeit, ihrer zum Teil völligen Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg und im letzten Weltkrieg, schlimmere Zeiten als die gegenwärtige.
Informationsteil
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Literatur Albers, Gerd, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig/Wiesbaden 1997 (Bauwelt Fundamente Bd. 117) Becker, Heidede, Leitbilder, in: Häußermann, Hartmut (Hg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen 1998 Betker, Frank, „Einsicht in die Notwendigkeit“. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945-1994) Conrads, Ulrich, Programme und Manifeste der Architektur des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Braunschweig/Wiesbaden 1981 (Bauwelt Fundamente 1) Handwörterbuch der Raumordnung, hg. von der Akademie für Landesplanung und Raumforschung, 4., neu bearb. Aufl. Hannover 2005 Hilpert, Thilo (Hg.), Le Corbusiers „Charta von Athen“. Texte und Dokumente, 2. Aufl. 1988 (Bauwelt Fundamente 56) Jessen, Johann, Leitbilder der Stadtentwicklung, in: Handwörterbuch der Raumordnung, a.a.O. , S. 602-608 Krautzberger, Michael, Baugesetzbuch, in: Handwörterbuch der Raumordnung, a.a.O. , S. 67-75 Lassnig, Kerstin/Wolf Uwe Rilke, Leitbilder der Stadtplanung, in: Schulte, Karl-Werner (Hg.), Immobilienökonomie. Stadtplanerische Grundlagen, München/Wien 2005, S. 27-46 Rudolph-Cleff, Annette, Urbanität als Option; unveröff. Ms. eines Vortrags im Seminar „Stadtsoziologie“ an der Fakultät für Architektur der Universität Karlsruhe (TH), 27. Juni 2005 Rudzio, Wolfgang, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 5., überarb. Aufl. Opladen 2000 Schäfers, Bernhard/Gabriele Köhler, Leitbilder der Stadtentwicklung. Wandel und jetzige Bedeutung im Expertenurteil, Pfaffenweiler 1989 Ders., Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, 2., durchges. Aufl., Wiesbaden 2006 Schmals, Klaus M., Soziologische Bausteine der Stadtplanung, in: Schulte, Karl-Werner, (Hg.), Immobilienökonomie. Stadtplanerische Grundlagen, München 2005, S. 47-70 Stich, Rudolf/Gerd Schmidt-Eichstaedt, Bauleitplanung, in: Handwörterbuch der Raumordnung, a.a.O. , S. 75-82 Wolf, Klaus, Art. „Stadt“, in: Handwörterbuch der Raumordnung, a.a.O., S. 1048-1054
Nachweis der Motti Salin, Edgar, Urbanität, in: Erneuerung unserer Städte. Vorträge und Aussprachen der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Augsburg 1960, Stuttgart/Köln 1960 Schinkel, Karl Friedrich, Reisetagebücher, Bd. I-III, hg. Von Alfred Freiherr von Wolzogen, Berlin 1862/63, Reprint München 1981 Le Corbusier, Lehrsatz 75 der Charta von Athen, a.a.O., S. 131 Pehle, Heinrich, Die kommunale Selbstverwaltung: Opfer der europäischen Integration? In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 54. Jg./ S.9-21
Informationsteil
Anhang Materialien zum aktuellen Stadtsystem in Deutschland und Europa (Alexa M. Kunz) Anhang
Inhalt I.
Bundesrepublik Deutschland
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Stadtsystem und Stadtbevölkerung Ausländische Bevölkerung in Städten Stadt als Wohnstandort Stadtmarketing Der städtische Haushalt Stadtschrumpfung Städtebauförderung 7.1 Die soziale Stadt 7.2 Stadtumbau 7.3 Städtebaulicher Denkmalschutz
II. Europäische Union (EU) 1. 2. 3. 4. 5.
Städtische Bevölkerung Besiedlungsdichte Metropolregionen Alterung trotz Wachstum Europäische Städteförderung: EFRE und URBAN
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Anhang
200
I. Bundesrepublik Deutschland 1. Stadtsystem und Stadtbevölkerung Abb. 1
Städtesystem der Bundesrepublik Deutschland
Quelle: http://www.bbr.bund.de/raumordnung/stadtregionen/karte_metropolregionen.htm (11.05.2006)
Anhang
201
Deutschland ist durch seine 83 Großstädte (Städte mit mehr als 100 Tsd. Einw.; davon 24 Städte mit mehr als 200 Tsd. Einw., 10 mit mehr als 500 Tsd. Einw. und 3 mit mehr als 1 Mio. Einw., vgl. Dt. Städtetag, Vergleichende Großstadtstatistik IV. Quartal 2005) und seine Gesamtzahl von 12.244 Städten (Siedlungen ab 10 Tsd. Einw.) insgesamt durch ein polyzentrisches Städtesystem geprägt.
Tab. 1
Einwohner nach Gemeindegrößen am 31.12.2004
Gemeindegröße
Einwohner absolut 31.12.2004 insgesamt West Ost
Anteil an insgesamt West
Ost
unter 500 E 500-< 1.000 E 1.000-< 2.000 E 2.000-< 3.000 E 3.000-< 5.000 E 5.000-< 10.000 E 10.000-< 20.000 E 20.000-< 50.000 E 50.000-< 100.000 E 100.000-< 200.000 E 200.000-< 500.000 E 500.000 und mehr E
750691 1647044 3117038 2854500 4962404 9176354 12134658 15318531 7222945 6086856 7335136 11894692
399149 935452 2201364 2124537 3640320 7484926 10301326 12786793 6437549 5428146 5433237 8506864
351542 711592 915674 729963 1322084 1691428 1833332 2531738 785396 658710 1901899 3387828
0,9 2,0 3,8 3,5 6,0 11,1 14,7 18,6 8,8 7,4 8,9 14,4
0,6 1,4 3,4 3,2 5,5 11,4 15,7 19,5 9,8 8,3 8,3 13,0
2,1 4,2 5,4 4,3 7,9 10,1 10,9 15,1 4,7 3,9 11,3 20,1
Gemeinden insgesamt
82500849
65679663 16821186
100,0
100,0
100,0
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an http://www.dstgb.de/index_inhalt/homepage/index. phtml (13.05.2006)
Durch die verhältnismäßig gleichmäßige Verteilung mehrerer größerer Stadtregionen entsteht ein ausgewogenes Städtesystem, dessen Metropolen und Wirtschaftskraft sich jedoch momentan noch hauptsächlich in Westdeutschland konzentrieren. Als Metropolregionen gelten Regionen, die im abgestuften Siedlungssystem von großen, mittleren und kleinen Städten und Stadtregionen eine Spitzenstellung einnehmen. Gegenüber anderen Stadtregionen zeichnen sie sich aus durch ihre Größe, ihre Integration in das globale Städtesystem und ihre herausragende Funktion im nationalen Kontext (vgl. Adam/Göddecke-Stellmann 2002) Die größeren Stadtregionen im bundesdeutschen Städtesystem unterscheiden sich in eher monozentrale Stadtregionen wie Hamburg, Berlin, Dresden oder München, in denen über viele Jahre hinweg ein Zentrum eindeutig dominant war, sowie in polyzentrische Stadtregionen, in denen mehrere Zentren eine gemeinsame Einheit bilden. In Deutschland zählen zu den polyzentrischen Regionen vor allem der Rhein-Ruhr- und der Rhein-MainRaum, aber auch der Rhein-Neckar-Raum sowie die Stadtregion Halle/Leipzig. Zwischen den größeren Stadtregionen hat sich über Jahrzehnte – bezogen auf die großen Industrieregionen wie das Ruhrgebiet, kann man sogar sagen: seit der Doppelrevolution –
202
Anhang
eine komplexe Arbeitsteilung herausgebildet, in deren Rahmen sich Stadtregionen mit ausgeprägter Dienstleistungsorientierung und Stadtregionen, in denen die gewerblich-industriellen Aktivitäten eine noch relativ große Bedeutung haben, gegenüber stehen. Da auch kleinere Großstädte wie etwa Wolfsburg (2005: 122 Tsd. Einw.) als Sitz großer Unternehmen eine wichtige Rolle im Wirtschaftsgeschehen einnehmen, kann in Deutschland von einem dezentralen und hochgradig arbeitsteilig organisierten Städtesystem die Rede sein. Abb. 2
Metropolregionen in Deutschland
Quelle: http://www.bbr.bund.de/staedtebau/grafik/staedtesystem.gif (11.05.2006)
2. Ausländische Bevölkerung in Städten In Deutschland leben ca. 7,2 Mio. Ausländer aus 200 Nationen (ohne die Spätaussiedler, die zwar einen Migrationshintergrund haben, aber aufgrund der zuerkannten Staatsangehörigkeit in der Statistik als Deutsche zählen – hinzu kommen die ohne legalen Aufenthaltsstatus hier Lebenden, die auf 0,5 bis 2 Mio. geschätzt werden). Geographisch gesehen kommen 79 % der Ausländer aus dem europäischen Raum, die meisten aus der Türkei: Ende 2004 stammten 26,3 % aller in Deutschland lebenden Ausländer von dort. Grundsätzlich siedeln sich ausländische Bürger verstärkt in industriellen Ballungsgebieten und dementsprechend in Großstädten an, so dass die Agglomerationsräume einen mehr als doppelt so hohen Ausländeranteil aufweisen als die ländlichen Gebiete; außerdem sind sie in Großstädten im Vergleich mit der deutschen Bevölkerung relativ gesehen überrepräsentiert:
Anhang
203
Schaubild 1
Deutsche und ausländische Staatsbürger in Großstädten
Eigene Darstellung in Anlehnung an: http://www.schader-stiftung.de/wohn_wandel/460.php (13.05.2006)
Dass Ausländer sich seltener in wirtschaftsschwachen Räumen ansiedeln, erklärt, warum gerade die unten aufgeführten Städte solch hohe Anteile aufweisen. Auch das starke OstWest-Gefälle ist vor diesem Hintergrund zu betrachten.
Tab. 2
Höchste und niedrigste Ausländeranteile in deutschen Großstädten
Stadt Offenbach a.M. Frankfurt a.M. München Mannheim Stuttgart Hansestadt Rostock Jena Erfurt Chemnitz Gera
Ausländeranteil 31,09 25,40 23,30 22,51 21,93 3,42 3,22 2,92 2,81 1,85
Quelle: Eigene Darstellung auf Datenbasis von: Dt. Städtetag, Vergleichende Großstadtstatistik, IV. Quartal 2005; Zahlen für Frankfurt/Main aus dem Statistischen Jahrbuch Frankfurt am Main 2005
204
Anhang
Die Wohnsituation ausländischer Bürger zeichnet sich durch eine geringere Eigentumsquote als bei den Deutschen aus sowie durch beengtere Wohnverhältnisse, da einerseits die Wohnungsgröße bei vergleichbarem Preisniveau unter dem deutschen Durchschnitt liegt und andererseits die Haushalte aus mehr Personen bestehen. In diesem Kontext sei auch auf die höhere Umzugsmobilität von Ausländern im Vergleich zur deutschen Wohnbevölkerung – hier am Beispiel der Stadt Karlsruhe – hingewiesen: Schaubild 2
Umzugsmobilitätsziffer in Karlsruhe 1989-2005
Quelle: http://www.karlsruhe.de/Stadtentwicklung/siska/sgt/grafik/sgt02370 (10.04.2006)
Bezüglich der ethnischen Segregation ist festzuhalten, dass trotz weit verbreiteter gegenteiliger Wahrnehmungen von gesunkenen Segregationsindizes zu sprechen ist, was bedeutet, dass die Wohnbevölkerung sich stärker durchmischt. (vgl. Datenreport 2004; BAMF Teilstatistik „Ausländer- und Flüchtlingszahlen“ 2005; http://www.schader-stiftung.de/wohn_ wandel/460.php.)
3. Stadt als Wohnstandort Trotz der polyzentrischen Struktur des deutschen Städtesystems ist davon auszugehen, dass Großstädte – vor allem in Bezug auf die ökonomische Dimension – „weiterhin eine dominierende Dichte und Anziehungskraft [entfalten]“ (Adam, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, H. 8.2005, S. 499). Trotz leicht rückläufiger Bevölkerungsanteile der Großstädte in der Vergangenheit zugunsten der sonstigen Städte und Gemeinden (vgl. ebd.) und trotz des freistehenden Einfamilienhauses als Leit-
Anhang
205
bild des deutschen Wohnwunsches ist der Saldo zwischen Einpendler- und Auspendlerquote in den Großstädten am höchsten, was deren Arbeitsmarktzentralität unterstreicht. Schaubild 3
Pendleraufkommen nach Stadttypen
Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, H. 8.2005, S. 499
Zudem lassen jüngste Studien vorsichtige Vermutungen in Richtung einer Trendwende zu, nach der die Großstadt als Wohnstandort an Attraktivität gewinnt (vgl. Bühl et al. 2005). Diese Entwicklung wird vor allem dem Umstand zugeschrieben, dass die Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten durch die Tertiärisierung abnimmt, so dass innenstadtnahe Quartiere wieder als Wohnstandort (vor allem der gehobenen Mitteschicht) auch für Familien entdeckt werden. Das städtische Milieu wird nicht per se als familienfeindlich empfunden – allerdings fällt es Familien offensichtlich immer noch schwerer, den gewünschten Wohnraum in der Stadt zu finden, was mit als Ursache für die kleineren Haushalte im Stadtraum gelten kann (vgl. auch Punkt 5). Als wichtiger Indikator für die Mobilität gilt der Fahrzeugbestand. Trotz der Neubewertung des Öffentlichen Personennahverkehrs seit den 1980er Jahren und der Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs in den Innenstädten liegen einige Großstädte mit der Zahl der zugelassenen PKW über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 650 PKW pro 1000 Einwohner (vgl. Datenreport 2004, Kapitel 17.3 Fahrzeugbestände, S. 369ff.):
206 Schaubild 4
Anhang 10 deutsche Großstädte mit den meisten zugelassenen PKW pro 1000 Einwohner
Quelle: Eigene Darstellung auf Datenbasis von: Dt. Städtetag, Vergleichende Großstadtstatistik IV. Quartal 2005
4. Stadtmarketing Im Kontext der Stadt als Standort kommt dem Stadtmarketing eine besondere Rolle zu. Mittels dieses – bereits seit den 1970ern unter diesem Namen angewandten Instruments – versuchen Städte, sich im regionalen wie internationalen Städtesystem als konkurrenzfähig zu erweisen und eine eigene Identität herauszubilden. Mit dem aktuellen Stand des Stadtmarketing sowie mit Entwicklungstendenzen und Perspektiven beschäftigte sich im Jahr 2004 eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) in Kooperation mit der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing e.V. (bcsd). Die nachfolgende Grafik verdeutlicht den Verbreitungsgrad des Stadtmarketings, wobei hinzuzufügen ist, dass in allen Großstädten Stadtmarketing bereits umgesetzt wurde.
Anhang Schaubild 5
207 Verbreitung des Stadtmarketings im Jahr 2004
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an: http://www.difu.de/ publikationen/difu-berichte/1_05/ 12.phtml (11.05.2006)
5. Der städtische Haushalt Lag der Anteil der Einpersonenhaushalte um 1900 erst bei 7,1 % (vgl. Datenreport 2004: 40ff.), so hat er nach einer fast kontinuierlichen Zunahme im Jahr 2002 einen Anteil von 36,7 % an der Gesamtzahl der Haushalte erreicht. Als Ursache dieses Zuwachses wird neben dem sozioökonomischen Wandel von der Agrar- über die Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft auch die Zunahme der städtischen Haushalte genannt, die traditionell kleiner sind als die Haushalte in ländlichen Gemeinden. Dementsprechend waren im April 2002 in den Großstädten mit 500 Tsd. und mehr Einwohnern 48 % der Haushalte Einpersonenhaushalte, so dass jeder vierte Bewohner dieser Städte seinen Haushalt allein führte, während dies in Gemeinden mit weniger als 100 Tsd. Einwohnern nur auf jeden siebten Bewohner zutraf. Stellvertretend für die Zunahme von Einpersonen-Haushalten besonders in Städten steht die Verteilung der Haushaltsgrößen bei Privathaushalten der Stadt Karlsruhe seit 1961:
208 Schaubild 6
Anhang Verteilung der Haushaltsgrößen bei den Privathaushalten in Karlsruhe
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an: http://www.karlsruhe.de/Stadtentwicklung/siska/sgt/ grafik/sgt02090 (10.04.2006); Daten von 2005 aus dem Statistischen Jahrbuch Karlsruhe 2005
6. Stadtschrumpfung Wie aus den Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes hervorgeht, ist weiterhin mit einer Bevölkerungsschrumpfung zu rechnen, die auch durch eine angenommene jährliche Zuwanderungsrate von 200 Tsd. Ausländern nicht aufgehalten werden könnte. Vor allem der Anteil der jungen Menschen unter 20 Jahren wird den Prognosen zufolge von rund einem Fünftel (2001) auf ein Sechstel (2050) sinken, so dass „Abnahme, Alterung und Internationalisierung der Bevölkerung […] langfristig den demographischen Wandel in Deutschland prägen“ werden (vgl. Gatzweiler et al. 2003: 568). In der Konsequenz ist im Bereich der Stadtentwicklung vermehrt von Umbau, Rückbau oder „geordnetem Rückzug“ (ebd.: 569) die Rede und auch der Leitsatz von der „Urbanität durch Dichte“ kann nicht mehr ohne diese Veränderungen gedacht werden. Besonders betroffen sind strukturschwächere Regionen, denen nicht nur das natürliche Wachstum fehlt, sondern die zudem massiv von Abwanderung betroffen sind (vgl. auch Punkt 4.2 Stadtumbau). Folgende Karte (Abb. 3) verdeutlicht die am stärksten von Schrumpfung betroffenen Gebiete und hebt die Ost-West-Polarität hervor. Tim Rieniets (2004: 29) hebt hervor, dass es „die meisten schrumpfenden Städte […] in den vergangenen 50 Jahren in den westlichen Industrieländern gegeben [hat], allen voran in den USA (59), Großbritannien (27), Deutschland (26) und Italien (23). Seit 1990 treten schrumpfende Städte auch verstärkt in den ehemaligen Ostblockländern auf, wie Russland (13), Ukraine (22) und Kasachstan (13). Außerdem hat es zwischen 1950 und 2000 überdurchschnittlich viele schrumpfende Städte in Südafrika (17) und Japan (12) gegeben.“
Anhang Abb. 3
209 Schrumpfung und Verdichtung in Deutschland Gebiete mit geringer Siedlungsdichte Schrumpfungstendenzen Agglomerationsraum
Quelle: Siedentop et al. 2002, abgedruckt in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 10/11.2003, S. 587
7. Städtebauförderung Die soziale und politische Wirklichkeit in den Städten wird momentan dominiert von Schlagworten wie Segregation, Schrumpfung und Stadtumbau. Als Schwerpunkte für eine zukunftsfähige städtebauliche Entwicklung stellt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) folgende Themen in den Mittelpunkt: Siedlungsentwicklung unter veränderten Rahmenbedingungen – Orientierung auf die Städte; Kooperation der Städte im regionalen Maßstab ausbauen;
210
Anhang Rückgang der Flächeninanspruchnahme als Chance nutzen – Wohnquartiere für Familien mit Kindern attraktiver machen; Sozial stabile Stadtquartiere schaffen – Migration als Chance nutzen; Altengerechten Umbau der Infrastruktur angehen; Mobilität stadt- und umweltverträglich gestalten; Städte als Wirtschafts- und Innovationsstandorte stärken; Einzelhandel in seiner Vielfalt erhalten – Stärkung der zentralen Versorgungsbereiche; Zusammenwirken von kommunaler Planung und privaten Investoren verbessern.
Zur Durchführung dieser Aufgaben gewährt der Bund den Ländern Finanzhilfen gemäß Artikel 104 a Abs. 4 GG, die durch Mittel der Länder und Kommunen ergänzt werden. Seit dem Inkrafttreten des Städtebauförderungsgesetz im Jahr 1971 hat der Bund über 10 Mrd. Euro zu diesem Zeck bereitgestellt, wobei seit 1990 der regionale Schwerpunkt der Förderung in den neuen Bundesländern liegt. Schaubild 7
Fördermittel des Bundes seit Inkrafttreten des Städtebauförderungsgesetztes
Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung Heft 10/11.2003, S. 687
Einige der Förderprogramme werden im Folgenden vorgestellt.
7.1 Die soziale Stadt Wie bereits in Kapitel VII ausgeführt, wurde erkannt, dass Städtebauförderung sich nicht mehr nur in rein baulichen Maßnahmen erschöpfen kann, sondern auch soziale Aspekte in ihr Blickfeld einzubeziehen hat. Aus dieser Einsicht ergab sich das 1999 von Bund und Ländern gemeinsam initiierte, bundesweite Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“. Der integrative Ansatz sieht vor, die Städtebauförderung mit anderen Förderprogrammen zu bündeln, so dass baupolitische und sozialpolitische
Anhang
211
Maßnahmen Hand in Hand gehen, um der sozialen und räumlichen Polarisierung in den Städten entgegen zu wirken. Für das Programm „Die soziale Stadt“ wurden in den Jahren von 1999 bis 2004 von Bund (der sich mit einem Drittel an der Summe beteiligte), Ländern und Gemeinden insgesamt über 1,2 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt, mit denen 363 Maßnahmen – wie Quartiersmanagement oder sozialpädagogische Betreuungsangebote – in 252 Gemeinden gefördert wurden. Abbildung 4 gibt eine Übersicht der im Jahr 2004 teilnehmenden Städte und Gemeinden. Abb. 4
Teilnehmende Städte am Programm „Soziale Stadt“ im Jahr 2004
Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, H. 2/3. 2005, S. 57
212
Anhang
Im Rahmen einer von einem unabhängigen Institut (Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik) durchgeführten Zwischenevaluierung wurden zwar Verbesserungsmöglichkeiten deutlich, jedoch wurde auch das Erreichen wichtiger Programmziele bestätigt (vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, H. 2/3.2005). Hierzu rechnen die Aktivierung von Bürgerinnen und Bürgern in benachteiligten Stadtteilen, die Einleitung des Aufbaus effizienter lokaler Strukturen und die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts. In Zukunft sollen vor allem eine noch stärkere Vernetzung mit arbeitsmarkt-, integrations- und bildungspolitischen Maßnahmen sowie eine verbesserte Ressortkoordination zwischen Bund und Ländern stattfinden. Das Programm wird vom Bund mit 70 Mio. Euro pro Jahr weiter gefördert, so dass weiterhin daran gearbeitet werden kann, „der Abwärtsentwicklung benachteiligter Stadtquartiere umfassend zu begegnen“ (Silke Haack in: ebda, S. 55).
7.2 Stadtumbau Aufgrund des demographischen und ökonomischen Strukturwandels und den damit verbundenen Phänomenen von Städtewachstum einerseits und Schrumpfungsprozessen mit massivem Wohnungsleerstand andererseits sehen sich die Städte zunehmend mit neuen städtebaulichen Herausforderungen konfrontiert, die insgesamt unter dem Begriff des Stadtumbaus resümiert werden. Zur Realisierung der neuen städtebaulichen Konzepte, mit deren Hilfe städtebauliche Strukturen an die Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft angepasst werden sollen, hat der Bund die Städtebauförderungsprogramme Stadtumbau Ost und Stadtumbau West ins Leben gerufen. In Anbetracht ihrer besonderen Relevanz wurde die Aufgabe des Stadtumbaus mit dem „Europarechtsanpassungsgesetz Bau (EAG Bau)“ vom 24. Juni 2004 zudem im Baugesetzbuch verankert (zum „Baugesetzbuch“ vgl. die ausführliche Darstellung von Krautzberger 2005; zur kommunikativen Steuerung: Weiske/ Kabisch/Hannemann 2005).
Stadtumbau Ost Wegen der bereits angedeuteten Wandlungsprozesse sowie aufgrund vielgestaltiger Wanderungsbewegungen und verstärkt durch die ausgeprägte Wahrnehmung des Wohlstandsgefälles zwischen Ost- und Westdeutschland, haben die neuen Länder seit der Wiedervereinigung mit erheblichen Wohnungsleerständen und dem damit wechselseitig verbundenen Rückgang der Infrastruktur zu kämpfen. Besonders betroffen sind kleinere und mittlere Städte in peripherer Lage wie etwa die brandenburgische Mittelstadt Guben an der Neiße, deren Einwohnerzahl sich seit 1990 um fast ein Drittel auf gegenwärtig ca. 23 Tsd. reduziert hat (vgl. Göschel 2003: 606). Die zur Untersuchung dieser Prozesse von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Ländern“ befand im Jahr 2001, dass die Problematik des Wohnungsüberschusses sich auch zukünftig nicht von selbst lösen werde, so dass ein Abriss von 350 Tsd. Wohnungen bis zum Jahr 2010, gekoppelt an eine parallele Aufwertung der betroffenen Stadtteile, gefördert werden müsse. Daher werden für den Stadtumbau in den Jahren 2002 bis 2009 insgesamt 2,5 Mrd. Euro von Bund, Ländern und Gemeinden bereitgestellt, wovon der Bund rund 1 Mrd. Euro
Anhang
213
beiträgt. Es nehmen u.a. folgende Städte teil: Chemnitz, Cottbus, Dresden, Erfurt, Halle/ Salle, Magdeburg, Rostock und Schwerin.
Stadtumbau West Auch in den alten Ländern sind Schrumpfungstendenzen nicht unbekannt. Sie gewinnen im Kontext der Prozesse in Ostdeutschland und dem damit verbundenen Programm des Stadtumbaus ein vermehrtes Interesse, so dass im Rahmen des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt) das Forschungsfeld „Stadtumbau West“ initiiert wurde. Es werden folgende Indikatoren zur Feststellung von Schrumpfungsprozessen oder auch Wachstum genannt (vgl. Gatzweiler et al. 2003: V): Bevölkerungsentwicklung, Gesamtwanderungssaldo, Arbeitsplatzentwicklung, durchschnittliche Arbeitslosenquote, durchschnittliche Pro-Kopf-Realsteuerkraft sowie durchschnittliche Pro-Kopf-Kaufkraft. Die Auswahl der Indikatoren resultiert aus der Annahme, dass Schrumpfung oder Wachstum mehrdimensionale Prozesse darstellen. „Schrumpfung gilt als Problem, wenn eine Stadt bei den einzelnen Indikatoren jeweils im unteren Quintil liegt, also zur Klasse der 20 % Gemeinden am unteren Ende der Rangskala gehört. Je höher die Anzahl der Indikatorenwerte im unteren Quintil ist (maximal sechs), umso größer ist das Problem der Schrumpfung“ (ebda.). Für Westdeutschland nehmen folgende Standorte als Projektstädte der auf vier Jahre angelegten Begleitforschung (2002-2006) teil: Albstadt, Bremen, Bremerhaven, Essen, Gelsenkirchen, Hamburg, Lübeck, Oer-Erkenschwick, Pirmasens, Saarbrücken, Salzgitter, Schwalm-Eder-West, Selb, Völklingen, Wildflecken, Wilhelmshaven.
7.3 Städtebaulicher Denkmalschutz Erst nach der Wiedervereinigung wurde in vollem Ausmaß ersichtlich, in welch marodem Zustand sich besonders die historischen Innenstädte in Ostdeutschland befanden. Um dem weiteren Verfall entgegen zu wirken und die kulturgeschichtlich wertvolle Substanz an nachfolgende Generationen weitergeben zu können, wurde das Bund-Länder-Programm Städtebaulicher Denkmalschutz realisiert, in dessen Rahmen der Bund zwischen 1991 und 2004 155 ostdeutsche Städte mit 1,39 Mrd. Euro förderte. Ziel ist eine Entwicklung hin zu Standorten, die mittels ihrer Attraktivität sowohl für wirtschaftliche als auch kulturelle Einrichtungen von Interesse sind und dadurch gleichermaßen Unternehmen, Einwohner und Touristen ansprechen. Durch die Sanierungsmaßnahmen soll auch die örtliche mittelständische Wirtschaft, insbesondere das Handwerk, gestärkt werden.
214 Abb. 5
Anhang Teilnehmende Städte am Förderprogramm „Städtebaulicher Denkmalschutz“
Quelle: http://www.bbr.bund.de/staedtebau/staedtebaufoerderung/ denkmalschutz_karte.htm (11.05. 2006)
Anhang
215
II. Europäische Union (EU) Tab. 3
Vergleichszahlen der Hauptstädte Land
Belgien Dänemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Österreich Polen Portugal Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechische Republik Ungarn Vereinigtes Königreich Zypern (griech. Teil) EU insgesamt
Fläche in qkm 30.200 43.100 356.900 45.200 338.000 544.200 132.000 70.300 301.300 64.300 65.300 2.600 3.000 41.500 83.900 312.700 91.900 450.000 49.000 20.300 506.000 78.900 93.000 244.100 9.300 3.974.100
Einwohner (01.01.2004)
Hauptstadt
10.400.000 5.400.000 82.550.000 10.400.000 5.220.000 59.900.000 11.050.000 4.030.000 57.480.000 2.320.000 3.450.000 450.000 400.000 16.260.000 8.090.000 38.190.000 10.480.000 8.980.000 5.380.000 1.990.000 40.980.000 10.210.000 10.120.000 59.520.000 730.000
Brüssel Kopenhagen Berlin Tallinn Helsinki Paris Athen Dublin Rom Riga Vilnius Luxemburg Valletta Amsterdam Wien Warschau Lissabon Stockholm Bratislava Ljublijana Madrid Prag Budapest London Nikosia
454.900.000
Quellen: Eigene Darstellung auf Basis von: Daten zu Fläche und Bevölkerung vom Europäischen Informations-Zentrum (EIZ) Niedersachsen unter http://www.entdeckeeuropa.de/eu/fakten/flaeche. html (11.05.2006)
1. Städtische Bevölkerung Insgesamt leben 80 % der europäischen Bevölkerung in Städten. Zu beachten ist, dass eine Siedlung ab einer Größe von 10 Tsd. Einw. als Stadt gilt. Demnach ergibt sich bei differenzierter Betrachtung eine Verteilung, nach der auch im EU-Raum die Bevölkerung überwiegend in Klein- und Mittelstädten lebt.
216
Tab. 4
Anhang
Verteilung der EU-Bevölkerung auf Städte und Gemeinden
Gemeinden und Städte bis 10.000 Einwohner Städte und Gemeinden mit 10.000 bis 50.000 Einwohner Städte mit 50.000 bis 250.000 Einwohnern Städte mit mehr als 250.000 Einwohnern
20 % der EU-Bevölkerung 40 % der EU- Bevölkerung 20 % der EU- Bevölkerung 20 % der EU-Bevölkerung
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an http://www.dstgb.de/index_inhalt/homepage/index.phtml (13.05.2006)
Eine Vielzahl der Klein- und Mittelstädte ist in das Netzwerk eines größeren Agglomerationsraumes eingebunden und dadurch Teil einer Metropolregion. Es ist davon auszugehen, dass dementsprechend 60 % der europäischen Bevölkerung in solchen Metropolregionen leben (vgl. auch Punkt 3.)
2. Besiedlungsdichte Die geographische Verteilung der europäischen Bevölkerung zeichnet sich aus durch den Gegensatz zwischen Bevölkerungskonzentration einerseits und sehr geringer Dichte andererseits. Während die Einwohnerdichte in Zentral- und Nordwesteuropa – z.B. in Südengland, den Benelux-Staaten, dem Rhein-Ruhr-Gebiet und den Regionen um die europäischen Metropolen – über 500 Einw./qkm beträgt, haben viele Regionen Süd- und Nordeuropas eine sehr geringe Dichte. In großen Teilen Schwedens und Finnlands, aber auch Spaniens und Portugals, leben weniger als 50 Einw./qkm. Dass der Grad der Besiedlung auch mit dem Bildungsniveau zu korrelieren scheint, wurde im Rahmen der Arbeitskräfteerhebung der Europäischen Union (EU-AKE) 2003 gezeigt. Untersucht wurde in diesem Kontext unter anderem das Bildungsniveau in den Mitgliedsländern vor dem Hintergrund der Besiedlungsdichte. In allen Mitgliedstaaten der EU (mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches) ist ein höherer Prozentsatz von Personen mit hohem Bildungsniveau in den dicht besiedelten Gebieten zu verzeichnen als in den Gebieten mit dünner Besiedelung. Im Vereinigten Königreich sind die Anteile in allen Gebieten gleichmäßiger verteilt (vgl. http://www.eds-destatis.de/de/downloads/sif/dn_ 05_01.pdf, 14.05.2006).
Anhang Abb. 6
217 Geographische Bevölkerungsverteilung 2000
Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 12.2003, Karte I
218 Schaubild 8
Anhang Verteilung von höheren Bildungsabschlüssen nach Besiedlungsdichte
Quelle: http://www.eds-destatis.de/de/downloads/sif/dn_05_01.pdf (14.05.2006)
Diese Entwicklungen verdeutlichen die Relevanz der Metropolen und Metropolregionen und ihrer Anziehungskraft in besonderem Maße.
3. Metropolregionen Wie auf nationaler, so findet sich auch auf der europäischen Ebene eine Vielzahl an Agglomerationsräumen. Im Europäischen Raum bestehen etwa 120 Ballungs- und Großräume mit jeweils mehr als 500 Tsd. Einwohnern, in denen 60 % der europäischen Bevölkerung leben. An der Spitze dieser Agglomerationen stehen die Metropolregionen (zum Begriff der Metropolregion vgl. I. Punkt 1). Zur Integration der Dimension von Metropolregionen in die europäische Politik wurde im Jahr 1996 bei der „Metropolitan Regions Conference“ in Glasgow mit Unterstützung der Europäischen Kommission METREX gegründet. Im Rahmen dieses Netzwerkes der europäischen Ballungs- und Großräume beschäftigen sich Fachleute aus der Praxis mit der Raumplanung und Raumentwicklung auf der Ebene des Ballungsraumes (vgl. http://www.eurometrex.org/Docs/About/DE_Brochure.pdf, 14.05.2006).
Anhang Abb. 7
219 Europäische Metropolregionen im METREX-Netzwerk
Quelle: http://www.eurometrex.org/Docs/About/DE_Brochure.pdf
Viele der Stadtgruppen haben metropolitanen Charakter, d.h. sie funktionieren wie eine einheitliche, unabhängige Stadtregion oder ein Ballungsraum. Der Ausschuss der Regionen der EU wendet daher den Terminus der funktionalen Stadtregionen auf sie an. Die Karte verzeichnet die Metropolregionen, aus denen die bisherigen Mitglieder des METREX-Netzwerkes stammen.
4. Alterung trotz Wachstum Das Bevölkerungswachstum der EU (mehr als 14 Mio. Personen Zuwachs in der EU 25 seit 1994; vgl. http://www.eds-destatis.de/) kommt hauptsächlich durch Nettozuwanderung und nur zu einem Viertel durch natürliches Wachstum zustande. In allen Ländern Europas ist ein Rückgang der Kinderzahlen zu verzeichnen. Dementsprechend sind auch im europäischen Kontext die Themen Alterung, Internationalisierung und Metropolenexpansion sowie deren Konsequenzen für den Stadtumbau von zentraler Bedeutung (vgl. Kocks 2003: I-V).
220 Abb. 8
Anhang Anteil älterer und betagter Menschen in der EU 1999
Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 12.2003, Karte III
5. Europäische Städteförderung: EFRE und URBAN Auch auf europäischer Ebene spielen Fördermaßnahmen eine große Rolle in der aktuellen Diskussion von Städtebau und Stadtentwicklung. Die Hauptfinanzierungsinstrumente der EU sind die Strukturfonds. In der Periode von 2000 bis 2006 wurden „städtische Gebiete“
Anhang
221
erstmals als neue und eigenständige Förderkategorie im Rahmen von Ziel 2 („Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Umstellung der Gebiete mit Strukturproblemen“) eingeführt. Mittel zur wirtschaftlichen und sozialen Wiederbelebung krisenbetroffener Städte und Stadtrandgebiete mit dem Ziel der Förderung einer dauerhaften Städteentwicklung gab es jedoch schon vorher: Mit einem Volumen von 164 Mio. Euro wurden 59 städtische Pilotprojekte in den Jahren von 1989 bis 1999 aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) finanziert. Darüber hinaus wurden in dem Programmplanungszeitraum bis 1999 im Rahmen der 1994 eingeleiteten Gemeinschaftsinitiative URBAN krisenbetroffene Städte und Stadtviertel gefördert. Zur Entwicklung innovativer und integrierter Stadtentwicklungskonzepte, die beispielsweise auch Bezuschussungen von Existenzgründungen oder Weiterbildungsmaßnahmen umfassten, wurden den 118 städtischen Gebieten insgesamt 900 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Aufgrund der erzielten Erfolge erfuhr die Gemeinschaftsinitiative unter dem Namen URBAN II eine Fortsetzung. Für den Zeitraum von 2000 bis 2006 wurden für 70 städtische Gebiete Gelder in Höhe von 730 Mio. Euro bereitgestellt, mit denen die Gemeinschaft bis zu 75 % der zuschussfähigen Gesamtkosten in den städtischen Gebieten und bis zu 50 % in den übrigen Gebieten finanziert. Da diese Gelder nun ausschließlich aus dem EFRE stammen, kann von einer Integration der URBAN-Förderphilosophie in die Regelförderung die Rede sein (dazu vgl. http://europa. eu.int/ scadplus/printversion/de/lvb/g24209.htm). Ein begleitender Erfahrungsaustausch der teilnehmenden Städte erfolgt über das URBACT-Netzwerk.
Tab. 5
Im Rahmen von URBAN II geförderte Städte
Land Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Niederlande Österreich Portugal Schweden Spanien Vereinigtes Königreich
Städte Brüssel, Antwerpen, Sambreville Arthus Gellerup Berlin, Bremerhaven, Dessau, Dortmund, Gera, Kassel, Kiel, Leipzig, Luckenwalde, Mannhein/Ludwigshafen, Neubrandenburg, Saarbrücken Helsinki/Vantaa Clichy-Montfermeil, Le Mantois, Grigny-Viry, Val-de-Seine, Bastia, Le Havre, Straßburg, Grenoble, Bordeaux Perama, Komotini, Heraklion Ballyfermot Carrara, Craserta, Corone, Genua, Mailand, Misterbianco, Mola di Bari, Pescara, Taranto, Turin Amsterdam, Rotterdam, Heerlen Wien, Graz Amadora, Lissabon, Porto Gondomar Göteborg S. Cristobal de la Laguna, Pamplona, Orense, Gijon, Teruel, S. Adrià de Besos, Jaen, S. Sebastian-Pasaia, Caceres, Granada West Wrexham, Belfast, Bristol, Burnley, Halifax, Hetton & Merton, Normanton in Derby, Peterborough, Stockwell, Thames Gateway, Clyde Waterfront
Quelle: Eigene Darstellung auf Datenbasis von http://ec.europa.eu/comm/regional_policy/urban2/towns_prog_de.htm (14.05.2006)
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Anhang
Informationsteil
Literatur Adam, Brigitte/Jürgen Göddecke-Stellmann: Metropolregionen – Konzepte, Definitionen und Herausforderungen, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Informationen zur Raumentwicklung, H. 9.2002, Bonn, S. 513-526 Brühl, Hasso/Claus Peter Echter/Franciska Frölich von Bodelschwingh/Gregor Jekel, Wohnen in der Innenstadt – eine Renaissance? Difu-Beiträge zur Stadtforschung, Bd. 41 2005, Berlin/Köln 2005 Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Die soziale Stadt – Ein Programm wird evaluiert, Informationen zur Raumentwicklung, H. 2/3.2005, Bonn Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Teilstatistik „Ausländer- und Flüchtlingszahlen“, Nürnberg 19.08.2005 Deutscher Städtetag (Hg.), Vergleichende Großstadtstatistik IV. Quartal 2005 Gatzweiler, Hans-Peter/Katrin Meyer/Antonia Milbert, Schrumpfende Städte in Deutschland? Fakten und Trends, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Informationen zur Raumentwicklung, H. 10/11.2003, Bonn, S. 557-574 Göschel, Albrecht, Stadtumbau – Zur Zukunft schrumpfender Städte vor allem in den neuen Bundesländern, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Informationen zur Raumentwicklung, H. 10/11.2003, Bonn, S. 605-616 Haack, Silke, Evaluierung des Programms „Soziale Stadt“ – Hintergründe, Vorgehensweise, Bausteine, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Die soziale Stadt – Ein Programm wird evaluiert, a.a.O. Kocks, Martina, Der demographische Wandel in Deutschland und Europa. Einführung, in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), Informationen zur Raumentwicklung H. 12.2003, Bonn, S. I-V Krautzberger, Michael, Baugesetzbuch, in: Handwörterbuch der Raumordnung, 4. neubearb. Aufl., Hannover 2005, S. 67-75 Rieniets, Tim, Weltweites Schrumpfen, in: Oswalt, Philipp (Hg.), Schrumpfende Städte. Bd. I: Internationale Untersuchung, Ostfildern-Ruit 2004, S. 20-33 Statistisches Bundesamtes (Hg.), 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung bis 2050, Wiesbaden 2003 Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2004. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004 Statistisches Bundesamt (Hg.), Leben in Deutschland. Haushalte, Familien und Gesundheit – Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Wiesbaden 2006 Weiske Christine/Sigrun Kabisch/Christine Hannemann (Hg.), Kommunikative Steuerung des Stadtumbaus. Interessengegensätze, Koalitionen und Entscheidungsstrukturen in schrumpfenden Städten, Wiesbaden 2005 Vielfältiges und differenziertes Informationsmaterial bietet auch die CD-ROM: INKLAR. Indikatoren und Karten zur Raumentwicklung, hg. Vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn 2005
Anhang
Web-Adressen http://www.bbr.bund.de/ http://www.difu.de/ http://www.dstgb.de/ http://www.eurometrex.org/ http://europa.eu/ http://ec.europa.eu/ http://www.eds-destatis.de/ http://www.entdeckeeuropa.de/ http://www.foerderdatenbank-regionalentwicklung.de http://www.karlsruhe.de/ Stadtentwicklung/ http://www.schader-stiftung.de/ http://www.sozialestadt.de http://www.stadtumbauwest.de http://stadtumbau-ost.info http://www.staedtebaulicher-denkmalschutz.de http://www.staedte-der-zukunft.de http://www.urbact.org/
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Sachregister
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Sachregister
Ackerbürgerstädte 40 Agora 28, 32ff., 150 Akropolis 33 Arbeitersiedlung 67 Armutsquote 183f. Auto/Automobil 16, 56f., 88, 91, 95, 99f., 102, 158 Bahnhöfe 57f., 140 Baugesetzbuch 195, 212 Bevölkerungsdichte 14 Boden- und Baurecht 52 Bodenordnung 52ff. Bürger 17f., 20, 31ff., 38, 41, 43f., 53, 83f., 93f., 108, 134, 144, 150ff., 155, 157, 160, 163, 175, 195f., 202, 204, 212 Bürgerkultur 33 Charta von Athen 153, 190, 193 Chicagoer Schule der Soziologie 63, 132 vgl. Sozialökologische Schule
Daseinsvorsorge 189f. Demokratie 82, 94, 108, 150, 153, 157, 188 Dichte 84, 128, 204, 208, 216 Digitale Revolution 106, 122 Doppelrevolution 14, 17, 19f., 26, 44, 52 65, 106, 140, 170, 194, 201 Fremde/Fremder 18, 78, 81, 154f., 157, 162, 172f., 175f., 178 Fuggerei 182 Gartenstadt 67ff., 72, 181 Gated Communities 13 Gemeindeordnung 152f. Gender-Mainstreaming 181f. Gentrifizierung 165, 183
Gesellschaft 14, 17, 19, 63, 74, 77, 114, 118, 121f., 124, 130, 133, 141, 153, 155, 160, 179 - bürgerliche 33, 108, 131, 134, 139f., 150f., 171 - bürgerlich-industrielle 19 - post-industrielle 19 - ständische 19 - traditional-feudale 19 Getto (Ghetto), Gettoisierung 174f., 182f., 196 Gewerbe- und Handelsstädte 40 Gilden 41 Globalisierung 16, 106, 123, 164 Großstadtkritik 135 Handwerk 30, 38, 40ff., 132, 213 Haushalt 42, 163, 171, 184, 194, 204f., 207 - Einpersonenhaushalt 163, 207 - Single-Haushalt 171f. Idealstädte 13, 65 Individualisierung 19, 52, 91, 97, 158, 163 Industrialisierung 40, 48, 53f., 56, 61, 88, 100, 119, 132, 135, 139, 173 Industrielle Revolution 14, 26, 52, 54, 56, 60, 100, 119 Integration 18, 42, 58, 77, 84, 91, 114, 156, 170ff., 176, 178ff., 183f., 189, 194, 196, 201, 218, 221 Kapitalismus 17, 20, 39, 60, 80, 82, 87, 119f., 139 Kleinstädte 40, 48, 215f. Kommunale Neugliederung 91, 144 Kulturpolitik, städtische 144 Mall 159, 196 Megalopolis 33, 89 Metropolregion 201f., 216, 218f. Mittelstädte 40, 48, 215f.
226 Mobilität 54, 62, 64, 102, 163, 196, 205, 210 Modernisierung 19, 182 Modernisierungstheorien 19 Multiethnizität 176f. Multikulturalität 176f., 180 Municipium 35ff. Nachbarschaft 77, 102, 171f. Nachbarschaftseinheiten (neighborhood unit) 172 Nationalstaat 48, 124, 139, 170 Neo-Ruralität 135f. Neue Städte/New Towns 70, 92 New Urban Sociology 20, 118f., 122 No-Go-Quartiere 183 Öffentlicher Raum 18, 32, 150, 153, 165, 191 Öffentlichkeit 114, 141f., 144, 150f., 153ff., 160, 162, 196 Oppidum 35 Parallelgesellschaft 178ff. Partizipation 18f., 94, 124, 142, 191, 195 Passage 15, 141f., 152 Patrizier 28, 41, 43, 134, 174 Peripherie 36, 57, 60, 96, 104, 118, 123 Phalanstère (Phalanx) 66f. Polis 17, 32, 34, 83, 150 Polisbürger 33 Ruhrgebiet 62, 91, 174, 201 Ruhrsiedlungsverband 91 Säkularisierung 15f., 46, 52 Schichtungsgesellschaft 159 Schrebergarten 59, 68 schrumpfende Stadt/Schrumpfung 196, 208f., 212f. Segregation 18, 74, 84, 101, 128, 131f., 180, 183f., 191, 204, 209 Sesshaftigkeit 26 Siedlungsdichte 14, 85, 216 Single-Gesellschaft 171 Soziale Stadt 71f., 182f., 210f.
Sachregister Soziale Ungleichheit 131 Sozialer Wandel 99 Soziales Milieu 163f., 171, 183, 195 Sozialökologische Schule 89, 184 Sozialplanung 94 Sozialstruktur 17, 19f., 41, 84, 99ff., 132f., 144 Städtebau 44f., 57, 65, 70, 72, 94, 108, 112, 114f., 153ff., 161, 190, 193f., 213, 220 - fordistischer 193 - funktionalistischer 193f. - sozialistischer 71ff., 157 - utopischer 72 Städtebauförderungsgesetz 94, 112f., 210 Städtebünde 38, 45, 139 Städteordnung 39, 53, 152 Stadt - Definition 13, 16, 43 - Exulanten-Stadt 45 - Großstadt 14f., 17, 39f., 52ff., 58ff., 70, 74, 77ff., 84f., 89, 91, 112, 131, 135, 152, 154, 161, 172f., 189, 194, 205 - Kleinstadt 78f., 135 - mittelalterliche 13, 39f. Stadterneuerung 142 Stadtfreiheit 38 Stadtgesellschaft 17f., 139, 150, 155, 163, 170ff., 180, 182ff. Stadtimage 94f., 115 Stadtkultur 16, 36f., 137ff., 141ff., 150, 156, 160, 163 Stadt-Land-Verhältnis 133 Stadtmarketing 206f. Stadtökonomie 145 Stadtplanung 13, 32, 70, 72, 84, 97, 157, 161, 189ff., 194f. Stadtregion 74, 90f., 98, 118, 201f., 219 - funktionale 219 - monozentrale 201 - polyzentrische 201 Stadtsoziologie 13, 16ff., 63, 77f., 84, 89, 112, 115, 120f., 128, 132, 172, 190, 193 Stadtumbau 45, 208f., 219 - innerer 95
Sachregister - Ost 212 - West 212f. Stadtutopien 65, 72 Stadtverfassung 43, 82 Suburb 89 Suburbanisierung 62, 64, 88ff., 92f., 96, 154 Suburbanit 98f., 154 Tertiärisierung 16, 64, 97, 205 Umzugsstatistik 184 Umzugsmobilität 204 Unité d´ Habitation 67 Urbanität 15, 36, 84ff., 98f., 142f., 153, 157, 160ff., 195f., 208 Urbs, Urbs Vetus 34ff., 150, 160 Verhalten (privates und öffentliches) 101, 154f., 162 Verkehrsmittel 56ff., 88, 194
227 Verstädterung 13, 39, 54ff., 60ff., 88ff., 101f., 132 Vicus 35 Video-Überwachungen 160 Vorort 98, 105 Weltverstädterungsprozess 16, 102, 104, 106, 108 Wertwandel 163f. Wohnquartier 92, 101, 155, 210 Wohnungsüberschuss 212 Wohnumfeld 156, 191 Wohnungsnot 53, 189 Zikurat 28 Zoȩn politicon 33 Zünfte 41, 43, 132, 152 Zwischenstadt 93, 96f.
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Personenregister
Personenregister
Abbé, Ernst 67 Adickes, Franz 54 Adorno, Theodor W. 75, 141 Albers, Gerd 70, 75, 189f., 197 Aristoteles 17, 33, 85 Arnscheidt, Grit 173, 185 Atteslander, Peter 110 Augustinus, Aurelius 30ff., 49 Bahrdt, Hans Paul 21, 87, 93f., 109, 112, 135, 146, 154f., 161f., 166 Baumeister, Reinhard 190 Beck, Ulrich 13, 106, 109, 158, 166, 195 Becker, Heidede 191, 197 Bell, Wendell 129 Benevolo, Leonardo 26, 32, 49f., 60, 76 Benjamin, Walter 90, 111, 140ff., 146, 166 Berndt, Heide 26, 49, 94, 109, 133, 146 Betker, Frank 195, 197 Blasius, Jörg 165f. Blotevogel, Hans Heinrich 139, 146 Blumenberg, Hans 153 Böhme, Helmut 49 Bollerey, Franziska 65f., 75 Borst, Otto 30f., 49, 95 Bourdieu, Pierre 20, 130, 146 Boustedt, Olaf 91, 98, 109 Brecht, Bertolt 71, 76 Bücher, Karl 42, 49, 52, 62, 75f., 100, 191 Burgess, Ernest W. 63f., 75, 84 Cabet, Etienne 65 Cadbury, George 67 Castells, Manuel 13, 20f., 106, 109, 118f., 121f. Chandler, Tertius 35, 37, 47, 49, 61, 75, 146 Cicero 136, 160 Comte, Auguste 16 Conrads, Ulrich 193, 197
Cooley, Charles Horton 77, 171 Damaschke, August 54 Dangschat, Jens 165f., 180, 185 Dewey, John 152 Diederichs, Eugen 70 Dienel, Peter 144, 146 Durkheim, Emile 17, 84, 100, 170, 185 Durth, Werner 69, 73, 75, 158, 164, 166 Düwel, Jörn 73, 75 Eaton, Ruth 65, 75 Eckel, Eva Maria 155, 166 Egger, Stephan 130 Ehbrecht, Wilfried 166 Einsele, Martin 195 Elias, Norbert 109, 137, 146, 181 Ellwein, Thomas 140, 146 Engeli, Hans 53, 75 Engels, Friedrich 55, 60, 67, 72, 75, 82, 106 Engelsing, Rolf 40, 49, 61, 75 Ennen, Edith 40, 48f. Esser, Hartmut 178, 185 Fisch, Jörg 36, 49, 137, 146 Fischer, Joachim 131, 146 Fischer, Wend 94, 110 Forsthoff, Ernst 189 Fourier, Charles 65ff., 75f. Fox, Gerald 35, 37, 47, 49, 61, 75, 146 Friedrichs, Jürgen 63f., 74f., 84, 90f., 109, 132, 146, 165f. Galbraith, John Kenneth 142 Gans, Herbert J. 98f., 109, 182 Garnier, Tony 70 Gates, Richard T. 185 Gatzweiler, Hans Peter 208, 213, 222 Genov, Nikolai 21
Personenregister Gerteis, Klaus 41, 43f., 48f. Giddens, Anthony 129f., 146, 148 Gierke, Otto von 54 Glaser, Hermann 143f., 146 Goethe, Johann Wolfgang von 56, 136 Goffman, Erving 131, 158, 166 Göschel, Albrecht 212, 222 Gottmann, Jean 89, 109 Gröning, Gert 136, 146 Gutschow, Niels 73, 75 Haase, Carl 49 Habermas, Jürgen 140, 150f., 166f. Halbwachs, Maurice 130, 146, 162, 166 Halm, Dirk 179f., 185 Hamm, Bernd 63, 75, 109f., 131f., 146, 148, 166, 172, 185 Hammurabi 27 Hannemann, Christine 18, 21, 212, 222 Hansen, Georg 178, 186 Hartmann, Kristiana 65, 68ff., 72, 75 Haus, Wolfgang 53, 75 Häußermann, Hartmut 74f., 164, 166f., 171, 181ff., 185f., 197 Hayden, Doris 181, 185 Heckmann, Friedrich 175, 185 Hegemann, Werner 53, 75 Heil, Karolus 88, 92, 98, 109, 111 Heitmeyer, Wilhelm 179 Henning, Friedrich-Wilhelm 38f., 49 Herlyn, Ulfert 18, 21, 74, 84, 93, 98, 101, 109, 112, 132, 136, 146, 166 Hillebrecht, Rudolf 98 Hilpert, Thilo 193, 197 Hippodamus von Milet 32f., 71 Hobbes, Thomas 108 Hobrecht, James 189 Hobsbawm, Eric 14, 21, 52 Hoffmann, Hilmar 143f., 146 Hölscher, Tonio 33f., 49 Hotzan, Jürgen 28, 49, 57, 75 Howard, Ebenezer 68ff., 76, 89, 109 Hradil, Stefan 41, 49, 171, 185 Huber, Viktor Aimé 53 Inglehart, Ronald 164, 166
229 Jacobs, Jane 93, 109, 182 Jakob, Andreas 45, 49 Janson, Alban 131, 147 Jefferson, Thomas 45 Jessen, Johann 191, 197 Jung, C.G. 133 Kabisch, Sigrun 212, 222 Kähler, Gert 71f., 75f. Kampffmeyer, Hans 69 Kaufmann, Albert 100, 110 Kecskes, Robert 165f. Kelek, Necla 178f., 185f. Khalatbari, Parviz 103f., 109 Klages, Helmut 164, 166 Klotz, Heinrich 29, 49, 55, 76 Köhler, Gabriele 191, 197 Kolb, Frank 27, 32, 35f., 49, 136, 149 Köllmann, Wolfgang 62, 76 Kopp, Johannes 147f., 185f. Kostof, Spiro 151, 166 Krautzberger, Michael 195, 197, 212, 222 Krier, Rob 13, 21 Krupp, Alfred 67f. Kyrieleis, Gisela 58, 76 Lassnig, Kerstin 191, 197 Lauritzen, Lauritz 94 Le Corbusier 67, 193f., 197 Le Goff, Jacques 15, 21, 37, 39, 49f. Lefèbvre, Henri 20 Lehmbrock, Josef 94, 110 Lehmbruch, Gerhard 74 Lever, William H. 67 Lichtblau, Klaus 78 Linse, Ulrich 136, 147 List, Friedrich 56 Lübbe, Hermann 180, 185 Luhmann, Niklas 19, 21 Lynch, Kevin 115, 129 Mackensen, Rainer 88, 110 Marcuse, Herbert 99 Marx, Karl 67, 72, 82, 100, 106, 133, 147f., 173 Maschke, Erich 42, 49
230 Matthäus Merian d.Ä. 43 Matthäus Merian d.J. 43 Maul, Stefan M. 27, 49 Maurer, Georg Ludwig von 39 Mauss, Marcel 16 May, Ernst 72 Meckseper, Cord 166 Meinlschmidt, G. 176, 183ff. Mellaart, James 29 Mensch, Kirsten 186 Militzer, Klaus 166 Mintzel, Alf 175, 177, 186 Mitscherlich, Alexander 93, 110, 142, 167 Moosmann, Elisabeth 144, 147 Morin, Edgar 32 Möser, Justus 100 Müller, Werner 34, 49 Mumford, Lewis 13, 21, 26, 33, 35, 44f., 50, 68, 76, 102, 186 Musil, Jiri 18, 21 Napoleon 46 Neuffer, Martin 99, 110 Nippel, Wilfried 82 Oesterdiekhoff, Georg W. 106, 109f., 137, 147 Oppenheimer, Franz 54, 70 Osborn, Sir Frederic J. 70 Owen, Robert 65ff. Park, Robert E. 63, 75, 84, 129, 175, 186 Pehle, Heinrich 188, 197 Pehnt, Wolfgang 92, 109f. Pekáry, Thomas 33, 50 Perikles 93f., 111 Peterek, Michael 67, 76 Petrarca, Francesco 136 von Petz, Ursula 107, 110 Pevsner, Nikolaus 70, 76 Pfeil, Elisabeth 54, 61f., 76, 90, 110, 135, 147 Pirenne, Henri 39, 50 Planitz, Hans 38, 41, 50, 174, 186 Platon 17, 33 Plessner, Helmuth 128, 173
Personenregister Plinius d.J. 136 Popper, Karl R. 151 Posener, Julius 68, 70, 76 Pounds, N. J. G. 34, 50 Prigge, Walter 96f., 110 Proudhon, Pierre-Joseph 65 Renan, Ernest 171 Reulecke, Jürgen 53, 76 Reuter, Fritz 174, 186 Ribbeck, Eckhart 103, 105, 110 Riehl, Wilhelm Heinrich 17, 21, 100, 133, 135, 148, 172 Riesman, David 98, 110 Rilke, Rainer Maria 31, 50 Robertson-Wensauer, Caroline Y. 180, 186 Rodenstein, Marianne 181, 186 Röpke, Wilhelm 136 Rudolph, Justus 111 Rudolph-Cleff, Annette 5, 196f. Rudzio, Wolfgang 188f., 197 Rüstow, Alexander 16, 21 Saint-Simon, Claude-Henri de 16, 65, 67 Salin, Edgar 153, 157, 160f., 167, 188, 197 Sallust, Gaius 31 Sassen, Saskia 102, 106f., 110 Sauberzweig, Dieter 137, 142, 147f. Sauer, Martina 179f., 185 Saunders, Peter 20f., 118, 120 Schaufelberger, Hans-Jürg 109 Schelsky, Helmut 80, 172, 186 Schildt, Axel 93, 110 Schinkel, Karl Friedrich 66, 189, 197 Schivelbusch, Wolfgang 56, 76 Schmals, Klaus M. 107, 110, 194, 197 Schmalz-Jacobsen, Cornelia 178, 186 Schmieder, Felicitas 35, 37f., 50 Schneider, Wolf 30, 50 Schreber, Daniel G. 59 Schroer, Markus 129f., 147, 170, 186 Schubert, Herbert 160, 167 Schulze, Gerhard 164 Schütte-Lihotzky, Margarete 72 Schütz, Alfred 175, 186 Sennett, Richard 158, 162, 167
Personenregister Shevky, Eshref 129 Siebel, Walter 18, 20f., 84, 119f., 164, 166f., 181, 185 Sieverts, Thomas 20f., 96f., 110, 153 Simmel, Georg 17, 62, 77f., 84, 129ff., 134f., 140f., 147, 175, 178, 190 Sitte, Camillo 190 Sloterdijk, Peter 128, 148 Sombart, Werner 39, 50, 55, 76f., 80, 100, 110, 139, 147, 172 Speer, Albert 157 Spencer, Herbert 100 Spengler, Oswald 16, 21, 137, 147 Stein, Karl Freiherr vom und zum 39, 53, 152, 188 Stephenson, George 56 Stich, Rudolf 195, 197 Stoob, Heinz 50 Stout, Frederic 185 Stübben, Joseph 190 Teuteberg, Hans Jürgen 146 Themistokles 32 Thienel-Saage, Ingrid 58, 76 Thimme, Wilhelm 49 Tönnies, Ferdinand 17, 77, 134, 147
231 Vierkandt, Alfred 76, 80 Vitruv 36, 150 Vogel, Gunther 34, 49 Wallerstein, Immanuel 106, 110 Walther, Uwe-Jens 182, 184, 186 Watt, James 56 Weber, Adna F. 60, 62, 76, 89, 110 Weber, Marianne 50 Weber, Max 17, 32, 38f., 41, 50, 60, 74, 77, 80, 82, 120ff., 135, 140, 159 Weeber, Rotraut 98, 110 Weiske, Christine 129, 147, 212, 222 Wellmann, Klaus F. 98, 110 Wentz, Martin 129, 146f., 167 Weresch, Katharina 181, 186 Wheatley, Paul 26, 50 Wirth, Louis 77, 84, 99 Wolf, Christa 131 Wolf, Klaus 192, 197 Wüst, Thomas 161, 167 Xenophon 34 Zapf, Katrin 98, 102, 111, 182, 186 Zapf, Wolfgang 19, 21, 166 Zeiss, Carl 67