Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 556 Oggar
Spuk in der SOL von Horst Hoffmann
Das Schiff des Materielosen e...
13 downloads
571 Views
756KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 556 Oggar
Spuk in der SOL von Horst Hoffmann
Das Schiff des Materielosen erscheint
Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Generationenschiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Mai des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von Innen und Außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, bahnt sich nun eine weitere Stabilisierung und Normalisierung an Bord an. Allerdings kommt es durch unerwartete Ereignisse immer wieder zu erheblicher Unruhe. Schuld daran ist diesmal der SPUK IN DER SOL …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Sein Bewußtsein geht auf die Reise. Breckcrown Hayes ‐ Der High Sideryt gibt den Startbefehl für die SOL. Sternfeuer und CptʹCarch ‐ Die Mutantin und der Extra als Ausgangspunkte eines unheimlichen Geschehens. Insider ‐ Ein Extra, der fremde Bewußtseine aufnimmt. Malcish ‐ Ein Dieb in Schwierigkeiten. Oggar ‐ Ein Materieloser.
1. Der Mann, der von einem halben Dutzend aufgebrachter Solaner durch die Korridore des SOL‐Mittelteils gejagt wurde, wirkte auf den ersten Blick unscheinbar. Wer ihn zum erstenmal sah, mußte ihn für einen Durchschnittsmenschen halten, knapp über hundert Jahre alt, mittelgroß und grauhaarig – jemand, dem man begegnete und den man gleich darauf wieder vergaß. Unter der Knute der SOLAG hatte sich Malcish mit Diebereien über Wasser gehalten, bevor er sich in eine so aussichtslose Lage hineinmanövrierte, daß ihm nur noch der Weg blieb, sich den Basiskämpfern anzuschließen. Diese Zeiten aber waren vorbei. In der SOL war Ruhe eingekehrt. Es gab keine SOLAG mehr, die es zu bekämpfen galt. Die ehemaligen Rebellen waren in die Gemeinschaft integriert, und mangels anderweitigen Nervenkitzels war Malcish nichts anderes übriggeblieben, als sich wieder vornehmlich dem zuzuwenden, was er wie kein anderer beherrschte. Entweder hatte er während der Kämpfe sein Handwerk verlernt, oder die aus ihrer Lethargie erwachten Solaner waren aufmerksamer geworden. Vermutlich traf beides zu. Jedenfalls sah es ganz danach aus, als sollte es Malcish an diesem Morgen des 28. Mai 3972 endgültig an den Kragen gehen. Seine Beine trugen ihn kaum noch, aber er durfte nicht
stehenbleiben. Hinter sich hörte er die Schreie und Flüche der Männer und Frauen aus dem Beiboothangar, die immer weiter zu ihm aufschlossen. Unter dem Oberteil seiner Kombination zeichneten sich die Konturen des Speicherelements ab, das er aus dem Spielecomputer herausmontiert hatte, mit dem sie sich in den dienstfreien Stunden die Zeit vertrieben. Dabei hätten sie noch in ihren Kojen liegen sollen, als Malcish den Hangarkontrollraum kurz vor Tagesanbruch heimsuchte! Weshalb hatte einer von ihnen auch so früh aufstehen müssen! Sie dachten gar nicht daran, sich das Element einfach zurückgeben zu lassen und die Angelegenheit zu vergessen. Er hätte es ja wieder zurückgebracht, aber diese Menschen begriffen einfach nicht, daß er hin und wieder irgendwo zugreifen mußte. Es überkam ihn dann einfach. Was hatte er schon von dem Ding, und er kannte auch niemanden, der ihm etwas dafür gegeben hätte. Es war nur dieser Nervenkitzel! Malcish hatte mittlerweile genug davon. Er mußte ein Versteck finden – oder besser noch jemanden, der ihm gegen die Übermacht half. Wo befand sich der nächste Trans‐mitteranschluß? Malcish bekam kaum noch Luft. Immer, wenn er sich umdrehte, waren die Verfolger wieder ein Stück näher heran. Er rannte, bog in Nebengänge ein, huschte durch Räume, warf Türen hinter sich zu und kletterte an Sprossenleitern ins nächsthöhere Deck – alles umsonst. Der ehemalige Basiskämpfer war längst ohne Orientierung. Er hatte diese Richtung eingeschlagen, weil er wußte, daß sich in diesem Teil des SOL‐Mittelteils von Zeit zu Zeit immer noch einige der alten Gefährten aufhielten. Die Gänge, durch die er jetzt floh, mußten schon nahe am ehemaligen Giftwall liegen. Aber alles hatte sich verändert. Die Wände, vor Monaten vom Kristallmonstrum zerfressen, waren neu gestrichen, Markierungen befanden sich nicht mehr am alten Platz.
»Bleib endlich stehen!« hörte er. »Wir kriegen dich!« Sie waren bis auf zwanzig Meter heran! Malcish zog sich im Laufen den Reißverschluß der Kombination auf, holte das Speicherelement hervor und schleuderte es den Solanern vor die Füße. Sie kümmerten sich nicht darum. Malcish wußte nicht mehr aus noch ein. Er gelangte auf einen breiten Korridor und sah eine halboffene Tür. Kein Mensch war zu sehen – eben außer jenen sechs, auf die er gern verzichtet hätte. Seine allerletzte Hoffnung lag hinter dieser Tür. Wenn er dort keine Hilfe fand oder sich verbarrikadieren konnte … Er erreichte sie, als die Verfolger schon die Arme nach ihm ausstreckten. Seine Hand schlug auf die Kontaktplatte, die sie vollends auffahren ließ. Im nächsten Moment schoß ihm etwas entgegen. Malcish wich geistesgegenwärtig aus und sah nur einen gelben Körper, der an eine übergroße Banane erinnerte, an sich vorbeihuschen. »Carch!« schrie er heiser. »Carch, warte! Du mußt diese Verrückten …« CptʹCarch hörte ihn nicht. Vielleicht war es auch gar nicht der Extra, sondern ein gelb angestrichener Roboter, der eine Kolonne Schiffsverschönerer vor die Sprühpistolen geraten war. Um was auch immer es sich handelte – es schoß genau in die Verfolger hinein und verschaffte ihm so den Vorsprung, den er noch brauchte. Malcish machte einen Satz in den Raum hinein, wirbelte herum und fand den Kontakt, der die Tür zufahren ließ und blockierte. Als das geschehen war und von draußen die Fäuste der Solaner gegen das Metall schlugen, ließ er sich zu Boden sinken und blieb mit dem Rücken gegen die Wand sitzen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam. Doch selbst jetzt ließen die Bestohlenen nicht von ihm ab. Sie veranstalteten einen Lärm, als sei die halbe Bevölkerung der SOL auf dem Korridor. »Verschwindet!« schrie Malcish. »Bei allen Planeten, wie kann
man nur so nachtragend sein! Ihr habt euer Spielzeug zurück! Jetzt laßt mich in Ruhe!« Das schien sie nur noch mehr aufzuregen. Malcish schüttelte verzweifelt den Kopf. Er sah sich um. Wohin war er hier eigentlich geraten? Der Raum war etwa zehn mal zehn Meter groß und zu einer Hälfte mit allerlei altem Gerümpel vollgestopft. Kisten und Geräte bedeckten die der Tür gegenüberliegende Wand bis zur drei Meter hohen Decke, aus der das schwache Licht drang. Ein Tisch und zwei Stühle ließen darauf schließen, daß sich von Zeit zu Zeit jemand hierher verzog oder hier versteckte. Das interessierte Malcish nicht sonderlich. Er schien vorerst sicher zu sein, und irgendwann mußte denen da draußen ja die Lust an der Belagerung vergehen. Malcish vergaß sie und seine Situation vorübergehend, als er die gelben Flecke auf dem Boden sah. Er fühlte sich viel zu zerschlagen, um schon wieder aufzustehen, kroch auf einen der Flecken zu und, fuhr vorsichtig mit dem Zeigefinger darüber. Etwas blieb an der Kuppe kleben. Malcish schrak zusammen, schüttelte die Hand, aber das Zeug war zäh. Er mußte es am Boden abwischen. Und das war weder Farbe noch eine Chemikalie, sondern … »Carch!« murmelte der Solaner. »Er war es also doch.« Malcish hatte lange genug auf engstem Raum mit dem seltsamen Extra zusammengelebt, um zu wissen, was es bedeutete, wenn CptʹCarch diese Sekretion absonderte. Carchs bananenförmiger Körper war stets von einer lackähnlichen, gelblich schillernden Schicht bedeckt. Wenn das Wesen vor etwas erschrak oder aus anderen Gründen in heftige Erregung geriet, sonderte es diese Flüssigkeit in einem solchen Maß ab, daß sie zu Boden tropfte und dabei eine deutliche Spur bildete. Malcish hatte Carch einige Male in einem solchen Zustand erlebt.
Weitere Anzeichen hochgradiger Erregung waren ein schrilles Zirpen und ein so schnelles Rotieren auf den beiden Insektenbeinen, daß der ein Meter lange Bananenkörper dabei fast unsichtbar wurde. Aber was sollte den Extra heute noch erschrecken, wo es überall in der SOL ruhig geworden war? Malcish sah ihn wieder vor sich, wie er an ihm vorbeischoß und in die Gruppe der Verfolger hinein, um dann wie ein geölter Blitz im langen Korridor zu verschwinden. Er hatte im Stillen gehofft, ihn hier irgendwo aufzutreiben. Doch nun konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Carch viel eher Hilfe brauchte als er selbst. Wohin hatte es ihn gezogen – oder anders gefragt: wovor war er geflohen? »Fest steht«, murmelte der Solaner, »daß er hier war.« Er war Malcish ans Herz gewachsen, dieser verrückte kleine Kerl, der jedem davon erzählte, daß er »noch nicht richtig geboren« sei. Hatte er etwa davor Angst, geboren zu werden? Jetzt? »Unsinn«, sagte sich Malcish. »Er will uns damit zum Narren halten. Aber was ist in ihn gefahren?« Die Solaner draußen auf dem Korridor machten sich wieder lautstark bemerkbar und zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Malcish hörte sie fluchen und grinste in sich hinein. Sollten sie toben, bis sie schwarz wurden. Dann aber wurde er stutzig. Sie waren zu sechst gewesen – drei Männer und drei Frauen. Jetzt wurde ihm bewußt, daß er immer nur die drei gleichen Stimmen hörte. »Komm heraus, Alter!« schrie eine der Frauen. »Wir haben viel Zeit!« Eins! zählte Malcish. Er legte das Ohr gegen die Tür, um besser hören zu können. »Wir reißen dir nicht den Kopf ab, aber du hast eine Lektion verdient – oder warst du das nicht, der uns vorgestern den
Getränkeautomaten abmontierte?« Zwei! dachte Malcish. Und wieder eine Frau. Nein, meine Beste, der Automat befand sich vorhin noch an Ort und Stelle. Auf die Weise lockt ihr mich nicht aus der Reserve. Ihr seid eine Bande von Raufbolden, das ist alles! »Hör zu, Gauner, wenn duʹs nicht anders haben willst, holen wir uns einen Strahler und schweißen uns die Tür auf!« Drei! Das war ein Mann. Sie unterhielten sich, und immer waren es diese drei Stimmen, die Malcish hörte. Dem Meisterdieb fiel es wie Schuppen von den Augen. Er sprang auf und sah auch schon, wie sich die aufeinandergestapelten Kisten vor der gegenüberliegenden Wand bewegten. Diese scheinheiligen Bastarde! durchfuhr es ihn. Sie haben sich getrennt, und die drei anderen kommen von dort drüben! Dieser Raum hat zwei Eingänge! Er saß in der Falle. Die ersten Kistenstapel kippten um. Er mußte sich mit zwei, drei Sprüngen in Sicherheit bringen. Aber was hieß in seiner Lage schon »Sicherheit«? Das plötzliche Schweigen der drei Belagerer machte ihm klar, daß sie am Poltern und Krachen der Kisten hören konnten, daß ihre Freunde ihr Ziel erreicht hatten. Malcish brach der Schweiß aus. Er wünschte sich, an den Wänden hochklettern zu können. Und dann sah er die Solaner auch schon zwischen dem Gerümpel erscheinen. Dort kamen sie fäusteschüttelnd heran, vor der Tür warteten die anderen. Malcish wußte, daß er verloren hatte. Mit weit von sich gestreckten Händen wich er in eine Ecke zurück. »Hört zu«, schrie er, »ich erkläre euch alles gern noch einmal! Das … das war ein Scherz! Ich hätte euch dieses Ding ja zurückgegeben und …« Es war zwecklos, das merkte er spätestens, als ein geschleuderter Plastikkübel an der Wand zerplatzte und eine fürchterlich riechende Flüssigkeit sich über ihn ergoß.
Malcish schrie auf, schüttelte sich vor Ekel und sah, wie die Hände der Eindringlinge nach ihm griffen. Er kapitulierte, und als er sich in Gedanken schon auf dem Weg ins nächste Medo‐Center sah, begann es zu spuken. * Derjenige, dem Malcishs Sorge nur solange gegolten hatte, wie es die Umstände zugelassen hatten, befand sich in einer nicht minder verzweifelten Lage. CptʹCarch nützte seine ganze Schnelligkeit nichts. Das, was ihn nun schon seit Tagen plagte, war flinker als der schnellste Läufer an Bord der SOL. Es war überall, wohin er sich auch wandte. Es war ihm gelungen, einen Transmitter zu erreichen und sich an einen anderen Ort innerhalb der SOL abstrahlen zu lassen. Nur für Minuten hatte er Ruhe gehabt – dann war es wieder da. Carch gab auf. Er ließ die Beine zusammenknicken und drückte sich flach auf den Boden einer verlassenen Lagerhalle. Kein Mensch war in der Nähe, der den Geist hätte verscheuchen können, und kein Mensch wäre überhaupt dazu in der Lage gewesen. Es war kein Geist. Es war etwas Reales, ohne daß Carch es hätte erfassen oder gar begreifen können. Nun schwebte es über ihm. Es versuchte, an ihn heranzukommen und irgend etwas an ihm zu bewirken. Carch mobilisierte seine letzten geistigen Kräfte, um den fremden Einfluß abzublocken. Doch auch das konnte ihm nur noch auf begrenzte Zeit hin gelingen. Noch schaffte es CptʹCarch, die aufkommende Panik in Grenzen zu halten. Er hatte schreckliche Angst, denn er war es gewohnt, die Dinge, die er sah, auch zu begreifen. Und er sah es, aber nicht mit seinen vier Knopfaugen, als er vorsichtig den dreieckigen Kopf am vorderen Ende des Bananenkörpers anhob. Das verschwommene Bild eines Menschen
war in ihm, eines Menschen, der vor ihm schwebte, tanzte oder stand. All das änderte sich in Sekundenbruchteilen. Die Halle war für seine empfindlichen Augen leer, aber dieses Zerrbild eines Menschen war da, ohne daß er diesen Menschen hätte erkennen können. Gerade das aber ließ ihn völlig an seinem Verstand zweifeln. Er hatte das bestimmte Gefühl, seinen Quälgeist kennen zu müssen. Seine Sinne teilten ihm mit, daß da jemand war, der keine bösen Absichten hatte. Carch besaß die Fähigkeit, Menschen und andere Wesen an Bord der SOL als solche zu unterscheiden, die ihm wohlwollend oder feindlich gegenüberstanden. Dieses Wesen, das ihn seit Tagen verfolgte, kam nicht als Feind. Eher erschienen seine Ausstrahlungen ihm vertraut. Aber es wollte etwas von ihm, mit dem er nicht einverstanden war. Es bedrängte ihn und schien ihm etwas zuzuflüstern, das er nicht wirklich verstand. Es konnte kein Zufall sein, daß diese Erscheinung genau an dem Tag zum erstenmal aufgetaucht war, an dem er bemerkt hatte, daß etwas in ihm auf eine Veränderung drängte. Irgend etwas schien ihn überrumpeln zu wollen – zumindest empfand Carch es so. Und dies war das Schlimmste für ihn, das er sich nur vorstellen konnte. Auch wenn er nicht wußte, welche Stufe der Metamorphose er mittlerweile erklommen hatte, so hatte er doch die Überzeugung, daß der nächste Schritt – das, was er den Menschen gegenüber als Geburt bezeichnete – aus ihm selbst heraus erfolgen mußte. Er durfte nicht die Kontrolle über sich verlieren. Um die Verwirrung vollkommen zu machen, hatte Carch oftmals den Eindruck, daß es zwei Geister gab, die etwas von ihm wollten. Dann aber mußten diese beiden Peiniger zur gleichen Zeit an Bord der SOL aufgetaucht sein. Den einen »sah« er, wenn auch nur in seinem Bewußtsein als verschwommene menschliche Gestalt, nicht zu identifizieren und doch auf geheimnisvolle Weise vertraut. Und auch jetzt wisperte
deren Stimme wieder lockend in ihm: Komm! Komm mit mir! Gleichzeitig schien das Drängen, sich zu verändern oder gar aufzugeben, aus einer anderen Richtung, einer anderen Entfernung oder Daseinsebene in sein Bewußtsein zu dringen. Carch sah sich am Ende seiner geistigen Widerstandskraft, sprang auf, rotierte für Sekunden auf den beiden dünnen Beinen und schoß, wie von einem Katapult abgefeuert, durch das offene Tor zurück in den Korridor, aus dem er gekommen war. Er rannte, warf sich in offene Lifte, stolperte Treppen hinunter und umflitzte Ecken und jedes Hindernis, das ihm vielleicht als Deckung dienen mochte. Aber es gab kein Versteck vor einem nicht materiellen Wesen, das sich einfach an jeden beliebigen Ort versetzte. Carch hatte nur ganz zu Anfang mit dem Gedanken gespielt, die Zentrale aufzusuchen oder die alten Gefährten aus der Basis um Hilfe zu bitten. Irgend etwas hinderte ihn daran. Es mochte eine Ahnung sein, daß das, was ihm widerfuhr, nur ihn selbst anging. Mehrere Male kam es fast zu Zusammenstößen mit Solanern oder Robotern. Carchs Sinne verwirrten sich zusehends, und nun ging zu allem Überfluß auch noch der Verlust seiner physischen Kräfte damit einher. Auch das war eine völlig neue Erfahrung. Die Panik griff unbarmherzig nach seinem Verstand. Verzweifelt war er darum bemüht, sein Ich zusammenzuhalten und sich gleichzeitig auf die Umgebung zu konzentrieren. Er wurde langsamer. Die Beine schienen dem Willen nicht länger gehorchen zu wollen. Bald torkelte der Extra kreuz und quer durch die Gänge, nach wie vor darauf bedacht, die Nähe von Menschen nach Möglichkeit zu meiden. Er fand eine verlassene Kabine und brach völlig erschöpft zusammen. Und erst jetzt merkte er, daß sein Peiniger nicht mehr bei ihm war.
Das konnte ihn nicht beruhigen. Zu oft schon hatte er geglaubt, von ihm befreit zu sein. Der Geist würde zurückkommen und ihm nur um so härter zusetzen. Er mußte weiter – Kraft schöpfen und weiterfliehen, irgendwohin. Vielleicht fand er doch einen sicheren Ort. Obwohl etwas in ihm wußte, wie sinnlos diese Hoffnung war, wurde der Drang immer stärker. Carch wollte einfach nicht mehr logisch denken. Vielleicht war das sein Fehler gewesen. Mit Logik war ein Spuk nicht zu vertreiben. Er mußte von hier verschwunden sein, wenn die Gestalt zurückkehrte. Carch lauschte in sich hinein. Seine beiden hauchdünnen, zwanzig Zentimeter langen Fühler bewegten sich zitternd in alle Richtungen. Dieses andere, das ihn zu etwas drängen wollte, war noch zu spüren, aber im Augenblick weit weg. CptʹCarch richtete sich auf und wankte aus dem Raum. * Fassungslos sah Malcish, wie die Solaner zurückwichen. Zunächst sah es wahrhaftig so aus, als würden sie vor ihm fliehen. Dann aber führten sie sich auf wie Besessene. Sie schrien, drehten sich um sich selbst und schlugen mit den Armen Löcher in die Luft. Keiner der drei nahm noch Notiz von ihm. Malcish war viel zu überrascht, um die Chance wahrzunehmen und an ihnen vorbei aus dem Raum zu fliehen. Er stand mit dem Rücken gegen die Wand, starrte sie an und hörte, wie die anderen die Tür wieder mit den Fäusten zu bearbeiten begannen. Malcish überlief es eiskalt, als er die Schreie hörte: »Geh weg! Laß uns in Ruhe!« Die beiden Männer schlugen gleichzeitig nach etwas, das nur sie
zu sehen schienen und das sich genau zwischen ihnen befinden mußte. Da dort aber nur Luft war, streckten sie sich mit ihren Hieben gegenseitig nieder und landeten auf dem harten Boden. Ihre Begleiterin hatte ebenso wie sie alles Interesse an Malcish verloren. Sie drehte sich, lief von einer Ecke in die andere, stolperte über die eigenen Beine und landete auf einem der beiden Besinnungslosen. Sie kroch weiter, nun auf den Ausgang hinter den umgestürzten Kisten zu. Da endlich löste sich Malcish aus seiner Starre. Er hatte keine blasse Ahnung, was die Verfolger so in Verwirrung versetzt haben konnte – aber noch viel weniger Lust, die gleichen Erfahrungen wie sie machen zu müssen. Und als die Kriechende jetzt wieder um sich schlug, sah er den blanken Wahnsinn in ihren weit aufgerissenen Augen. Nur weg von hier! durchfuhr es ihn. Er stieß sich von der Wand ab und machte einen weiten Bogen um die Tobende. Dennoch hatte er dabei das seltsame Gefühl, es müßte sich noch ein Mensch in dem Raum befinden – einer, den er nicht sehen, wohl aber spüren konnte. Später konnte er sich darüber seine Gedanken machen, wenn er erst einmal auf dem Korridor war. Er hatte über Kisten und Geräte zu klettern, hörte die Schreie der Unglücklichen hinter sich und sah das helle Oval des Ausgangs. Genau in dem Augenblick, in dem er ihn passierte, streifte ihn das Etwas erneut. Malcish blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Für Sekunden glaubte er eine verschwommene menschliche Gestalt zu sehen. Er kniff die Augen zusammen, holte tief Luft, und als er wieder hinsah, war der Korridor leer. Nur weit hinten, fast an seinem Ende, schleppten einige Solaner etwas auf einer Antigravscheibe. »Ihr da!« schrie er so laut er konnte. »Wartet auf mich!« Sie blieben stehen, bis er sie erreicht hatte. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, sprachen für sich. Jetzt erst wurde dem Meisterdieb
bewußt, daß er über und über mit der stinkenden Flüssigkeit aus dem geplatzten Behälter besudelt war. Er winkte mißmutig ab, als einer der Männer eine Bemerkung machte, die er für höchst unangebracht hielt. Wichtig war jetzt nur, daß er nicht allein war. »Hat einer von euch etwas gesehen, das … das nicht hier sein sollte?« fragte er außer Atem. »Ja«, erhielt er prompt eine Antwort. »Einen Kerl, der in einen Tank mit verfaulten Algenkulturen gefallen sein muß.« »Haha! Ich meine, habt ihr außer mir noch jemanden gesehen?« »Niemanden. Aber du solltest dich besser untersuchen lassen, alter Freund. Bei Fäulnis werden Dämpfe frei, die einem in den Kopf steigen können und …« Der Mann sprach nicht weiter. Für Augenblicke war die Erscheinung wieder da, mitten unter ihnen. Malcish sah sie, aber nicht mit den Augen. Als die anderen längst schon Hals über Kopf davongerannt waren, stand Malcish immer noch mit aufgerissenem Mund da und starrte ins Leere. Der Spuk war wieder so schnell vergangen, wie er aufgetaucht war. Malcish entfernte sich rückwärts gehend von der Stelle, an der er die Gestalt zu sehen vermeint hatte, bis er mit den Beinen gegen die stehengelassene Antigravscheibe stieß und mit dem Gesäß auf ihr landete. Es spukte doch nicht an Bord der SOL! Was war es aber dann gewesen? Die anderen hatten es ja auch gesehen. Und das Verblüffendste war, daß Malcish das unbestimmte Gefühl hatte, dieses Zerrbild eines Menschen kennen zu müssen. Ich könnte einen guten Schluck vertragen! dachte er. Dann fiel ihm CptʹCarch wieder ein. War das die Erklärung für die Erregung des Extras? Hatte auch er die Gestalt gesehen? Das erschien dem Meisterdieb einleuchtend. Aber welche Schlüsse
ließen sich daraus ziehen? Malcishs Neugierde war erwacht. Er begriff selbst nicht, wie er so ruhig dasitzen konnte. Aber hier tat sich ein Rätsel auf, das ihm mehr Nervenkitzel zu bieten versprach als alle kleinen Gaunereien. Carch und er waren Freunde gewesen. Beiden war diese Gestalt erschienen. Ihm, Malcish, kam sie irgendwie vertraut vor. Gab es da einen Zusammenhang? Malcish zerbrach sich darüber den Kopf und überlegte sogar, ob die Gestalt nicht vielleicht nur erschienen war, um ihm aus seiner Bedrängnis zu helfen. Er sprang von der Scheibe. Das waren reine Spekulationen. Wenn ihm jemand weiterhelfen konnte, dann war dies Carch. »Ich werde ihn suchen«, murmelte Malcish. Dazu mußte er wieder zur Tür, aus der der Extra herausgeschossen gekommen war. Sicher hatte er eine Tropfspur hinterlassen. Der Solaner schlich sich vorsichtig auf den betreffenden Korridor zurück. Wie er gehofft hatte, war von seinen Verfolgern weit und breit nichts mehr zu sehen. Malcish brauchte nicht mehr weit zu gehen, bis er die ersten gelben Tropfen auf dem Korridorboden fand. 2. SOL‐City bestand aus einem zwanzig Meter langen Korridor. Ein Ende davon führte auf die fünfzig Meter entfernte Hauptzentrale mit der Klause des High Sideryt zu, während sich am anderen ein Antigravschacht und eine Bordtransmitterstation befanden. Von hier aus konnte jeder aus Atlans Team in alle Bereiche der SOL gelangen. Zu beiden Seiten des Korridors lagen die Unterkünfte der Gruppe, in der Regel komfortable Einzelkabinen. Ein Konferenzraum genau in der Mitte war mit
Kommunikationssystemen aller Art ausgestattet und besaß eine direkte Verbindung zu SENECA. Hier trafen sich die Mitglieder des Atlan‐Teams mehr oder weniger regelmäßig, um Erfahrungen auszutauschen oder die Lage an Bord des Generationenschiffs zu analysieren. Die Versammlung war auf Wunsch von Sanny und Oserfan sowie WyltʹRong zustande gekommen. Der Roxhare gehörte wie auch die Molaaten außer Sanny nicht direkt zum Team des Arkoniden. Sie waren Gäste, der Tag war abzusehen, an dem sie das Schiff wieder verlassen würden. Atlan ahnte, welche Fragen sie ihm stellen würden, als er am Konferenztisch darauf wartete, daß sich die Mitglieder der Gruppe vollzählig einfanden. Bjo Breiskoll war mit Joscan Hellmut und Hage Nockemann in ein Gespräch vertieft. Sanny hockte wie so oft mit Argan U zusammen. Federspiel und der Roxhare hielten sich abseits. Bei WyltʹRong war dies nichts Ungewöhnliches. Federspiels Zurückgezogenheit allerdings irritierte den Arkoniden. Seine Zwillingsschwester fehlte ebenso wie der Extra CptʹCarch noch. Nach den Ereignissen, die zur Zerstörung des Planeten Pryttar geführt hatten, zeigte sich Federspiel immer häufiger in Sorge um die Schwester. Sie selbst redete nicht darüber, doch von Federspiel wußte Atlan, daß sie in letzter Zeit unter quälenden Todesahnungen litt. Sie wird mit Carch hierher unterwegs sein, sagte sich Atlan. Was sollte ihnen schon zugestoßen sein. Die Lage an Bord hat sich während der letzten Wochen weitgehend stabilisiert. Die SOL stand am Nordrand der Galaxis Flatterfeld, die von ihren Bewohnern All‐Mohandot genannt wurde. Die inneren Verhältnisse gaben Anlaß auch zu weiterer Hoffnung. Es existierten keine Widerstandsgruppen mehr. Breckcrown Hayes, der neue High Sideryt, wurde von praktisch allen Solanern als Kommandant wie als Mensch anerkannt und respektiert. Das gleiche galt für die Stabsspezialisten und Atlans Gruppe. Die Solaner begannen zu
akzeptieren, daß der Arkonide ihnen nicht nur Gutes gebracht hatte, sondern auch seine eigenen Ziele verfolgte, die man respektierte, ohne in Einzelheiten darüber Bescheid zu wissen. Die ehemaligen Magniden und andere führende Männer und Frauen aus der nicht mehr existierenden SOLAG hatten sich mit der veränderten Situation und ihren neuen Aufgaben zurechtgefunden. Sie reagierten grundsätzlich vernünftig und ausgleichend. Es sah so aus, als hätte Hayes gute Chancen, auch die noch im Raum stehenden Probleme mit Hilfe der Solaner lösen zu können. Mit den Ysteronen und den Pluuh, den früher verfeindeten raumfahrenden Völkern Flatterfelds, bestanden Funkkontakte. Mit und zwischen ihnen waren keine gravierenden Schwierigkeiten mehr zu erwarten. Für Atlan war es offensichtlich, daß sich in dieser Galaxis eine Friedenszelle bildete – schneller als er sich dies je zu erträumen gewagt hätte. Die so gegensätzlichen Völker fanden zusammen und ergingen sich bereits in Wiedergutmachungstaten. Der in so kurzer Zeit erzielte Erfolg, der Einfluß, den er hier ausgeübt hatte, war ihm selbst manchmal fast unheimlich. Er ließ ihn aber auch hoffen, daß er den tieferen Sinn seines Auftrags von den Kosmokraten würde erfüllen können – trotz aller Widernisse, die dem nach wie vor im Weg standen. Noch gab es eine lange Reihe ungelöster Fragen. Existierte Hidden‐ X noch? Und wie würde Seth‐Apophis reagieren – falls diese Superintelligenz überhaupt eine Reaktion zeigte? Warum hatten die Kosmokraten ihrem Beauftragten keine Hilfestellung geleistet? Und was hatte es mit der »anderen« SOL auf sich, die bisher zweimal aufgetaucht war? Atlan wußte, daß die Existenz dieser »Geister‐SOL« die Solaner bei aller Begeisterung über den Neuaufbau über alle Maßen beunruhigte. Sie nannten sie auch »Parallel‐SOL« und dachten mit Grauen an den jüngsten Kampf zurück, der nun schon einige Wochen zurücklag. Immerhin, dachte Atlan, zeugte die Angst vor diesem
geheimnisvollen anderen Schiff, verbunden mit einer beklemmenden Neugier, von der veränderten Einstellung der Solaner zu sich selbst und ihrer Umwelt. Hatten sie noch bis vor kurzem alle jenseits der Schiffshülle lauernden Gefahren einfach ignoriert und sich dafür an ihresgleichen abreagiert, so schienen sie nun dazu bereit zu sein, sich einer erneuten Konfrontation zu stellen. Man wich den äußeren Problemen nicht mehr wie früher aus, wenn auch niemand darauf versessen war, diese Gefahren zu suchen oder gar heraufzubeschwören. Man akzeptierte sie notgedrungen und begriff, daß die SOL keine Insel war. Vielleicht bedurfte es einer Bedrohung von außen, um die Menschen, Extras, Buhrlos und Bordmutanten zu einer echten Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Der Anfang war gemacht, und wenngleich sich Atlan nach wie vor in der Konsolidierung der Verhältnisse an Bord engagierte, richteten sich seine Gedanken nun immer häufiger auf das vordringliche Ziel, Varnhagher‐Ghynnst zu erreichen und dort die Ladung an Bord zu nehmen, die für den Plan der Kosmokraten von solcher Wichtigkeit sein mußte. Die Voraussetzungen für einen Flug dorthin schienen nun besser denn je zu sein. Breckcrown Hayes hatte durchblicken lassen, daß er den Arkoniden in dieser Hinsicht unterstützen würde. SENECA war von seinem Einsamkeitskomplex geheilt und stand dem Schiff und seinen Bewohnern nun endlich wieder voll zur Verfügung, obwohl auch hierbei eine Einschränkung zu machen war. Die Biopositronik zeigte deutlich ihre Bereitschaft, ihre Funktionen wieder »wie in den alten Zeiten« zu erfüllen. Das Problem war, daß immer noch eine Dauerstörung mit unbekannter Ursache vorlag. Der Schaden war nach SENECAS eigener Aussage irreparabel. Die Menschen an Bord hatten damit zu leben. Und noch zeigten sich keine gravierenden Auswirkungen dieses von SENECA nicht näher definierten Defekts. Atlan kannte die kosmischen Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst. Er wußte, wo sein Ziel lag und wo sich die SOL zur Zeit
befand. Eine genaue Verbindung zwischen diesen beider Orten zu ziehen, war schwieriger – astronomische Rechnerei, die dem Arkoniden als noch etwas verfrüht erschien. Insgeheim hoffte er auf Hilfe von Sanny, der Para‐Mathematikerin. Und noch jemanden schien es zu geben, der aus allein ihm bekannten Gründen nun schon einige Male rettend eingegriffen hatte – Chybrain. Wer oder was war er? Warum tauchte er auf und verschwand wieder, ohne eine Botschaft zu hinterlassen? Handelte er aus sich heraus oder in irgendjemandes Auftrag? Atlan wurde aus diesen Überlegungen gerissen, als Joscan Hellmut auf ihn zukam und sich setzte. »Ich denke, wir haben lange genug gewartet, oder? Die beiden werden irgendwo zu tun haben, sonst wären sie längst eingetroffen. Wir brauchen sie nicht unbedingt bei dem, was wir hier zu besprechen haben.« Atlan fing einen Blick von Federspiel auf, der ihn erschaudern ließ. Etwas stimmte ganz und gar nicht mit dem Zwilling. Der Arkonide nahm sich vor, ihn sofort nach Beendigung der Sitzung zu befragen. Auf sein Zeichen hin nahmen die Versammelten am Tisch Platz. Der Roxhare konnte seine Ungeduld ebenso wenig verbergen wie die Molaaten. »Ich weiß, was euch bedrückt«, begann Atlan. »Ich habe dir, WyltʹRong, versprochen, euch 28 Roxharen mit der SOL nach Roxha zu bringen, sobald die Umstände es erlauben. Das heißt im Klartext: sobald die SOL Fahrt aufnehmen kann und die Position Roxhas uns bekannt ist. Ich kann dir versichern, daß ich die Zusicherung der Schiffsführung habe, euch und mich darin vorbehaltlos zu unterstützen. Im Augenblick jedoch sehe ich noch keine Anzeichen zur Lösung dieses Problems. Das gleiche gilt für euch Molaaten und euer verschwundenes Volk. Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es eine enge Verbindung zwischen Roxharen und Molaaten geben muß. Wie diese Verbindung aber aussieht, ist mir noch ein Rätsel. Deshalb wäre ich euch in eurem eigenen Interesse
für jede Hilfe dankbar. WyltʹRong, Oserfan – ich hatte euch gebeten, noch einmal in euch zu gehen und zu versuchen, euch an Dinge zu erinnern, die euch auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend erscheinen mögen, letztlich aber von großer Wichtigkeit sein könnten.« Er sagte nicht, woher er seinen Glauben an eine Verbindung zwischen diesen beiden Völkern nahm. Es ging ihm darum, den Roxharen und Molaaten einen vagen Hoffnungsschimmer aufzuzeigen. Was hätte es genützt, ihnen von dem zu berichten, was er durch die steinerne Intelligenz Pathos in einer Vision erfahren hatte? Insgeheim hoffte er, beide Probleme auf einen Schlag lösen zu können. Wenn Roxha erst einmal gefunden war, sollten sich dort Aufzeichnungen finden lassen, die Aufschluß über die Vergangenheit gaben – und damit einen Hinweis auf den Verbleib der verschwundenen Molaaten. »Ich habe meine Artgenossen befragt«, erklärte WyltʹRong. »Niemand kann sich vorstellen, daß es eine solche Verbindung geben könnte.« »Oserfan?« Der kleine Hominide gab einen Seufzer von sich. »Das gleiche, Atlan. Wir wissen nichts von einer Zusammenarbeit mit den Roxharen.« »Es muß ja keine Zusammenarbeit gewesen sein«, bemerkte Bjo Breiskoll. Und damit, dachte Atlan, wäre eigentlich schon alles gesagt. Es gab keine neuen Erkenntnisse. Er hatte auch nicht wirklich etwas Derartiges erwartet. Die an Bord befindlichen Roxharen und Molaaten litten unter der Verzögerung. Sie wußten zwar, daß auch die Solaner von Schwierigkeiten geplagt waren, hätten es aber lieber heute als morgen gesehen, daß das Schiff sich auf den Weg machte und sich nur ihren Interessen widmete. Atlan verstand sie sehr gut. Seine leidige Aufgabe war es, sie immer wieder aufs neue zu
vertrösten und ihnen Hoffnung zu machen. »Wann wird die SOL diese Galaxis verlassen?« fragte Oserfan. Federspiel enthob den Arkoniden einer Antwort. Der Zwilling stand auf und ging auf den Ausgang zu. Er schwankte und mußte sich an einer Leiste festhalten, noch bevor er die Kontaktplatte berühren konnte, um die Tür auffahren zu lassen. »Wir reden später weiter!« rief Atlan dem Molaaten zu, als er schon um den Tisch herumlief und Federspiel auffing, als diesem die Knie einknickten. Der Solaner ließ sich kraftlos in seine Arme sinken. Seine Lippen formten Worte, die Atlan nicht verstand. Der Arkonide zögerte nicht lange und legte ihn sich über die Schulter, während er die Tür öffnete. Ohne sich umzublicken, verließ er den Konferenzraum und brachte den Zwilling in sein Quartier, wo er ihn auf einer Liege ablegte. Federspiel starrte ihn an. Atlan hockte sich neben ihm hin und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Ich beobachte dich schon eine Weile«, sagte er eindringlich. »Federspiel, willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist? Es geht doch um Sternfeuer, oder?« »Sternfeuer«, flüsterte der Solaner. »Ich spüre sie nicht mehr.« »Seit wann?« Natürlich wußte Atlan um die innere Bindung zwischen den Geschwistern. Jeder fühlte den anderen, wenn sie nicht durch eine zu große räumliche Distanz voneinander getrennt waren, was innerhalb der SOL nicht der Fall sein konnte. »Seit Stunden!« brachte Federspiel heiser hervor. Er wollte sich aufrichten, doch Atlan drückte ihn auf sein Lager zurück. Federspiel schloß die Augen. Er wirkte wie jemand, der vollkommen resignierte. »Seit Stunden«, wiederholte der Zwilling kaum hörbar. »Vielleicht schon seit Tagen. Immer wieder war sie plötzlich fort, aber dann wieder da. Aber jetzt schweigt sie schon viel zu lange. Ich kann
nichts mehr von ihr empfangen. Es ist, als ob sie tatsächlich …« Er brauchte nicht weiterzureden, Atlan wußte auch so, was gemeint war. Sternfeuer und CptʹCarch befanden sich außerhalb von SOL‐City. Vor vier Tagen hatten sie sich zu einer Gruppe von Solanern begeben, die in der SZ‐1 damit beschäftigt waren, eine Robotfabrik wieder in Gang zu bringen. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Mitglieder des Teams, die irgendwo in der SOL arbeiteten, waren auch nicht gehalten, sich in regelmäßigen Abständen über Interkom zu melden und ihre augenblickliche Position durchzugeben. Von Sternfeuer und Carch hatte Atlan seit diesen vier Tagen nichts mehr gehört. Dennoch hatte er erwartet, daß sie sich zur Sitzung eingefunden hätten, nachdem er sie ausrufen ließ. »Wir werden nach ihr suchen lassen, Federspiel«, versuchte er dem Verzweifelten Mut zuzureden. »Nach ihr und nach Carch. Vielleicht liegt es gar nicht an Sternfeuer selbst, daß du sie nicht spüren kannst. Du weißt so gut wie ich, daß Carch immer für eine Überraschung gut ist. Vielleicht neutralisiert seine Nähe Sternfeuers psionische Ausstrahlungen.« Federspiel verdrehte die Augen. Schweiß nasse Hände schlossen sich um Atlans Gelenke. Seine Blicke verrieten Panik. »Du brauchst mir nichts vorzumachen, an das du selbst nicht glaubst. Atlan, ich sagte dir, daß sie diese Todesahnungen hatte. Sie wußte, daß irgend etwas auf sie zukam, aber …« »Aber?« Federspiel brachte den Oberkörper in die Höhe und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand hinter der Liege. Er sprach hastig: »Was immer sie befürchtete, es ist jetzt eingetroffen. Aber ich kann nicht daran glauben, daß sie tot ist. Das wäre anders, Atlan. Ich würde es spüren – irgendwie wahrnehmen und wissen. Dieses völlige psionische Schweigen bedeutet etwas anderes. Sie lebt und lebt auch wieder nicht. Sie braucht Hilfe, Atlan, und ich kann euch nicht einmal zu ihr führen.«
»Wir werden sie suchen«, wiederholte der Arkonide ernst. »Ich informiere Hayes, der dafür sorgen wird, daß jeder Bewohner der SOL uns dabei hilft. Sie muß gesehen worden sein. Und vielleicht hat Bjo mehr Erfolg als du. Kopf hoch, Federspiel! Ich bin sicher, daß wir sie in spätestens ein, zwei Stunden gefunden haben.« Der Solaner schien alles andere als davon überzeugt zu sein. »Diese furchtbare Leere«, flüsterte er. »Ich habe mich noch nie so allein gefühlt. Es ist, als hätte mir jemand ein Stück von mir selbst genommen. Und, Atlan – hätte sich Sternfeuer nicht gemeldet und uns um Hilfe gebeten, wenn sie dazu noch in der Lage gewesen wäre?« Vermutlich ja, dachte Atlan. Andererseits aber war zu bedenken, daß sie nie über ihre Todesahnungen gesprochen und auf entsprechende Fragen ausweichend, ja sogar aggressiv reagiert hatte. »Es wird besser sein, du bleibst hier und wartest, bis du wieder einigermaßen auf dem Posten bist, Federspiel. Ich schicke Bjo zu dir und spreche mit Hayes. Notfalls durchkämmen wir jeden Winkel der SOL.« Federspiel lachte trocken. »Jeden Winkel! Hast du vergessen, wie groß das Schiff ist?« Federspiel hielt es nicht lange allein in seiner Kabine. Etwa eine halbe Stunde, nachdem Atlan in den Konferenzraum zurückgekehrt war, tauchte auch er wieder dort auf. Bjo Breiskoll war bei ihm, und auch dem Katzer war es trotz aller Bemühungen nicht gelungen, die junge Mutantin zu espern. Atlans und Hage Nockemanns Mienen sprachen Bände. Außer ihnen befanden sich nur noch Joscan Hellmut und Sanny im Konferenzraum. Die anderen Molaaten und WyltʹRong hatten sich in ihre Quartiere zurückgezogen. »Ich sagte dir ja, daß du keinen Erfolg haben wirst«, stellte Federspiel leidenschaftslos fest. Er schien sich gefangen zu haben, doch Atlan genügte ein Blick in seine Augen, um ihn wissen zu
lassen, wie es in ihm wirklich aussah. »Hayes hat einen Rundruf durchgegeben und alle Solaner, Extras, Buhrlos und Bordmutanten aufgefordert, sich mit der Zentrale in Verbindung zu setzen, falls einer von ihnen Sternfeuer gesehen habe. Bis jetzt hat sich niemand gemeldet.« »Ich begreife das nicht«, sagte Nockemann. »Sie kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben.« »Diejenigen, die mit der Instandsetzung der Robotfabrik beschäftigt sind«, fuhr Atlan fort, »haben übereinstimmend ausgesagt, daß Sternfeuer vor drei Tagen plötzlich verschwunden sei, und mit ihr Carch.« Der Arkonide warf Breiskoll einen fragenden Blick zu. Der Katzer schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich habe ihn einige Male espern können«, gab er zu. »Aber jedesmal verlor ich ihn nach wenigen Minuten wieder. Ich kann nur soviel sagen, daß ich den Eindruck habe, er ist halb wahnsinnig vor Angst. Und er springt von einem Bordtransmitteranschluß zum nächsten.« »Angst?« »Er flieht vor jemandem oder vor etwas, an das er nicht zu denken versucht.« »Wo befand er sich beim letzten Kontakt?« Breiskoll zuckte die Schultern. »Irgendwo in der Außenzone der SZ‐1, aber das war vor einer Viertelstunde. Inzwischen kann er sich überall und nirgends aufhalten.« »Hat er einmal an Sternfeuer gedacht?« wollte Joscan Hellmut wissen. »Nein«, antwortete der Katzer. »Er denkt nur an sich und an diesen Spuk.« »Wieso Spuk?« fragte Feder spiel. »Eben sagtest du noch, er flieht vor jemandem.« »Oder vor etwas, aber er empfindet es als Spuk. Es tut mir leid,
aber mehr kann ich euch wirklich nicht sagen. Allerdings können wir uns alle ausrechnen, daß Sternfeuer nicht bei ihm ist. Wenn Carch flieht, dann rennt er so schnell durch die Korridore, daß kein Mensch ihm noch folgen könnte. Was hast du, Atlan?« Der Arkonide war zum Interkom geeilt und stellte eine Verbindung zur Zentrale her. Breckcrown Hayesʹ Gesicht wurde auf dem Monitor abgebildet. »Nichts Neues«, meldete der neue High Sideryt. »Niemand hat …« »Breck«, schnitt Atlan ihm das Wort ab, »was sagtest du von diesen Männern und Frauen, die angeblich von einem Gespenst gejagt wurden?« Hayesʹ Miene verriet Überraschung. »Es ist wahr, es kommen immer neue Meldungen über derartige Vorfälle. Inzwischen sind es so viele, daß wir nicht länger an irgendwelche Scherze oder überreizte Phantasie glauben dürfen. Massenhysterie dürfte als Erklärung ebenfalls ausscheiden, denn dieses Gespenst soll inzwischen an mindestens einem Dutzend Orten gesehen worden sein – in den beiden SOL‐Zellen wie im Mittelteil. Aber ich verstehe nicht, was das mit Sternfeuer zu tun haben sollte.« »Mit ihr vielleicht nichts, Breck. Aber Bjo hat einige Gedankenfetzen von CptʹCarch aufgefangen, der ebenfalls vor einem Spuk davonzulaufen scheint.« »Dieser Extra ist schon immer seltsam gewesen«, meinte der Kommandant. »Ich würde mich nicht wundern, wenn er hinter der ganzen Geschichte steckt.« »Dazu hat er viel zuviel Angst«, kam es von Bjo. »Er hat recht«, sagte Atlan. »Daß auch Carch diese Erscheinung sieht, bestätigt eher, daß wir es mit etwas durchaus Realem zu tun haben.« »Ich muß die ganze Zeit über an die Geister‐SOL denken«, erklärte Hayes. »Wir haben zwar keinen Hinweis darauf, daß sie sich wieder
nähert, aber könnte man uns nicht von dort diesen Spuk herübergeschickt haben?« »Wir sollten uns nicht in Spekulationen verrennen«, warnte Atlan. »Breck, ich muß mich um Sternfeuer kümmern. Haltet mich auch weiterhin auf dem laufenden. Ich warte noch eine Stunde. Wenn wir bis dahin keine Spur gefunden haben, möchte ich mit den Solanern in dieser Robotfabrik reden.« »In Ordnung. Ich habe einige derjenigen in die Zentrale bestellt, die den Spuk sahen. Vielleicht läßt sich aus ihren Aussagen etwas machen. Ich melde mich, sobald wir mehr wissen. SENECA hat übrigens auch keine Erklärung für die Vorkommnisse. Uns bleibt vorerst nur der Trost, daß dieses angebliche Gespenst noch niemanden angegriffen hat.« 3. CptʹCarch nahm kaum noch etwas von seiner Umgebung wahr. Er hetzte durch Gänge und benutzte Lifte, die ihm vollkommen fremd waren. Dieses ganze riesige Schiff erschien ihm fremd. Die Wände schienen nur darauf zu warten, den Geist auszuspeien, der ihm keine Ruhe ließ. Er war wieder da – und auch dieser oder dieses andere, das ihm immer heftiger zusetzte. Schon glaubte der Extra zu spüren, wie etwas in ihm auf das Drängen, sich zu verändern, reagierte. Er rannte und kletterte, wo sich nur ein Weg für ihn auftat. Wohin, das war ihm gleichgültig. Längst hatte er die Hoffnung auf ein sicheres Versteck wieder aufgegeben. Es gab keines. Aber was wollten die Peiniger von ihm? Wieso hatten sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht? Carch begegnete keinem Menschen. Er befand sich in einem abgeschiedenen Bereich in der Außenzone der SZ‐1, aber nicht einmal das war ihm bewußt. Er war in der SOL, und vielleicht gab
es nur außerhalb des Schiffes eine Rettung für ihn. Nein! durchfuhr es ihn, während er sich in einen abwärts gepolten Schacht fallen ließ. Ein Wesen, das Wände durchdringen kann, wird auch durch das Vakuum des Weltraums nicht aufgehalten. »Geh weg!« schrie er schrill in alle Richtungen. »Laß mich in Ruhe!« Wie zum Hohn war die Erscheinung wieder da, ganz nahe vor ihm. Carch sprang aus dem Schacht und schlug Haken, rannte einen Roboter um und lief solange, bis er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er torkelte weiter. Wo befand er sich? Wer konnte ihm helfen? Niemand! Der Geist ließ nicht von ihm ab. Er flüsterte ihm etwas zu, drängte ihn zu etwas, das er nicht begriff. Carch schloß die Augen, um nicht mehr sehen zu müssen, aber das verzerrte Bild eines Menschen war und blieb in seinem Bewußtsein. Carch kämpfte gegen den Einfluß, so gut er konnte. Und wieder erschrak er, als ihm bewußt wurde, wie sehr etwas in ihm schon bereit war, auf die Verlockungen einzugehen. Komm mit mir! wisperte die lautlose Stimme. Gleich darauf meldete sich auch der zweite Peiniger wieder: Löse dich! Wehre dich nicht und gib deinen Geist frei! »Nein!« Zum erstenmal hatte er das Gefühl, die beiden Quälgeister völlig voneinander trennen zu können – und zum erstenmal wurde ihm ein klarer Befehl gegeben. Carch dachte nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Er versuchte wieder zu laufen, aber er war zu schwach dazu. Mit geschlossenen Augen wankte er wie ein Blinder durch die Korridore. Er erkannte erst, daß er sich in eine vollrobotische Anlage verirrt hatte, als es schon zu spät war. Er öffnete die Augen und stieß einen verzweifelten Schrei aus, als er keinen Boden unter den Füßen mehr fühlte. Entsetzt versuchte er
noch, sich herumzuwerfen und den Rand der Schachtöffnung mit den kleinen Händen zu erreichen. Doch schon zog es ihn jäh in die Tiefe. Carch rutschte über eine schräg nach unten führende Rampe immer weiter hinab in ein rotes Halbdunkel hinein. Die mahlenden Geräusche kamen von dort, und die Ahnung einer schrecklichen Gefahr ließ ihn seine Peiniger vergessen. CptʹCarch landete hart inmitten von allem möglichen Unrat, der heftig durchgerüttelt wurde und ihn bald fast völlig unter sich begrub. Carch begriff, daß er sich in einer Röhre von etwa zwei Meter Durchmesser befand. Alte Kisten, Möbelteile und sonstiger Müll quetschten ihn regelrecht ein. An Markierungen an den Wänden erkannte der Extra, daß er mit diesem Gerumpel allmählich immer tiefer sank. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf. Das war kein Abfallvernichtungskonverter, sondern ein Schacht für Rohmaterial für eine Robotanlage, die aus den unbrauchbar gewordenen Teilen neue Produkte herstellte. Dazu mußten sie aber erst einmal zerkleinert und für die Verarbeitung aufbereitet werden. Carch hatte absolut kein Interesse daran, zermahlen oder pulverisiert zu werden. Verzweifelt versuchte er, sich aus dem mittlerweile leicht rotierenden Müll zu befreien. Der Bananenkörper war eingeklemmt und so nach oben gebogen, daß gerade der Kopf noch frei war. Und zu allem Überfluß mußten Roboter oder Solaner, denen Carch die ganze Zeit über nicht begegnet war, ausgerechnet jetzt oben an der Schachtöffnung erschienen sein, denn nun regnete es zerknüllte Folien und Holzspäne auf ihn herab, bis er unter einer dicken Schicht begraben war. Etwas drückte schmerzhaft auf die Rückenmembrane, so daß Carch nicht einmal mehr um Hilfe rufen konnte – aber wer wollte ihn hier auch noch hören? Die zähe Flüssigkeit drang aus allen seinen Poren. Carch konnte nicht mehr denken. Immer tiefer sank er den Messern entgegen, die die Rohstoffe zerkleinern mußten. Und es gab kein Entrinnen.
Schon hörte der Extra ein Schaben und Knirschen unter sich, als plötzlich die rotierende Bewegung zum Stillstand kam. Carch schöpfte neue Hoffnung. Hatte jemand die Anlage abgeschaltet? Er bekam ein Bein frei und versuchte, auch das andere zwischen zwei Kisten herauszuziehen. Es war vollkommen dunkel um ihn herum. Steckte er noch in der Röhre oder schon in einer Kammer? Es mußte einen Ausweg geben, eine Öffnung in einer Wand vielleicht, durch die er entkommen konnte. Carch arbeitete sich in eine Richtung vor, von der er annahm, daß sie horizontal verlief. Fetzen von den nachgeschütteten Folien klebten an seinem Körper. Ein ekelerregender Gestank betäubte den Eingeschlossenen fast. Es war sinnlos. Er kam viel zu langsam voran, und jeden Moment konnten die Messer wieder zu arbeiten beginnen. Carch lauschte in sich hinein. Besaß er noch Fähigkeiten, die ihm bisher unbekannt geblieben waren und vielleicht nun, im Augenblick höchster Gefahr, zutage traten? Auch diese Hoffnung mußte er begraben, als der Müll wieder heftig durchgerüttelt wurde. Carch fand sich schon mit dem furchtbaren Gedanken ab, sterben zu müssen, ohne wirklich geboren worden zu sein, als ihm klar wurde, daß er sich nicht mit dem anderen Abfall drehte. Etwas schob den Müll auseinander und griff nach ihm. Carch versuchte vergeblich, sich aus der Umklammerung stählerner Arme zu befreien. Resignierend ließ er mit sich geschehen, was ihm von einem grausamen Schicksal bestimmt sein mußte. Die Greifarme zogen ihn unsanft aus dem Abfall. Ein schwacher Lichtschein drang an seine vier Knopfaugen. Weitere Stahlarme schoben die Gegenstände zur Seite, die ihm noch im Weg waren. Dann wurde er durch eine Öffnung gerissen. Hinter ihm fiel eine schwere Klappe zu. Carch wurde auf einem Gitterrost abgesetzt, unter dem es rotglühend heraufschimmerte. Schaudernd sah der Extra die gebogenen Scheren, die den Müll zerkleinerten, bis zentimetergroße Stücke von einem Transportband
auf ein riesiges Sieb getragen wurden. Und fast wäre auch er … Carch wollte nicht daran denken. Er sah sich um. Der Gitterrost bedeckte eine rechteckige Fläche von etwa vier mal sechs Metern. Rings herum waren zwei Meter hohe Wände, in denen sich kleine Bildschirme und Skalenfenster befanden. Aber niemand war da, der die Werte ablas, die dort in schnell wechselnder Folge erschienen. Er mußte hier heraus! Carch verwünschte seine Plagegeister und sich selbst. Hätte er besser auf seinen Weg geachtet, dann säße er jetzt nicht hier! Er mußte sich selbst zu helfen versuchen. Carch erhob sich. Es stellte sich aus äußerst unangenehm heraus, sich mit seinen kleinen Füßen auf dem Gitter zu bewegen. Einige Male rutschte er ab und glitt mit einem Bein durch den Rost, der zum Glück nicht so scharfkantig war, als daß er sich verletzt hätte. Er hatte ohnehin genug Schrammen abbekommen. Über und über mit Folienstücken beklebt, arbeitete sich der CptʹCarch weiter vor, bis er vor einer Reihe von Monitoren stand. Auf einem von ihnen stand zu lesen: Unbrauchbarer Rohstoff aussortiert. Bitte um Anweisung, was mit ihm zu geschehen hat. Unbrauchbarer Rohstoff – damit konnte nur er gemeint sein. Aber wer sollte die gewünschten Anweisungen geben? Carch suchte nach einem Mikrophon oder einer Tastatur, mit der er selbst seinen einzigen Wunsch eingeben konnte – nämlich dorthin zurückgebracht zu werden, woher er gekommen war, auf einen sicheren Korridor. Als er nichts fand, zirpte er in den Raum: »Der unbrauchbare Stoff ist ein organisches Wesen, das durch einen dummen Zufall in diese Anlage geriet! Er muß wieder aus ihr herausbefördert werden – aber bitte schonend!« Nichts zeigte ab, ob er gehört worden war. Es dauerte einige
Minuten, bis ein neuer Text erschien: »Objekt bewegt sich und ist schmutzig. Es handelt sich einwandfrei um ein lebendes Wesen, das aber keiner der bekannten Kategorien zuzuordnen ist. In Ermangelung von Anweisungen wird das Objekt in die Waschanlage gebracht und dort erst einmal einer gründlichen Säuberung unterzogen.« »Das werdet ihr nicht tun!« schrie Carch. »Hör zu, du hirnlose Positronik, ich habe dir meine Anweisungen erstellt! Und ich würde noch etwas ganz anderes tun, wenn ich erst richtig geboren wäre!« Diesmal brauchte er nicht lange auf die Antwort zu warten – und diesmal wurde auch sogleich offenbar, daß das Robotgehirn der Anlage seine Worte verstanden hatte. Allerdings schien sich dies kaum positiv für ihn auszuwirken, denn Carch las den neuen Text: »Neue Klassifizierung: Objekt behauptet, nicht geboren zu sein. Nicht geborenes Leben im Sinn der Bewohner der SOL aber ist kein Leben. In Ermangelung von qualifizierten Anweisungen wird das Objekt nach Säuberung in die Testanlage der fertigen Produkte gebracht, um es dort auf mögliche positive Verwendungsmöglichkeiten hin zu überprüfen.« Carchs Bananenkörper begann heftig zu schwingen. Mit bebenden Fühlern schrie der Extra: »Du bist doch vollkommen verrückt! Du bringst mich jetzt hier heraus, und dann werde ich dafür sorgen, daß die Dummköpfe, die dich programmiert haben …« Weiter kam er nicht. Schwerkraftfelder packten ihn und hoben ihn sanft in die Höhe. Starr vor Schreck sah CptʹCarch, wie sich in einer der Wände eine runde Öffnung bildete, auf die er zuschwebte. Dann rutschte er auch schon wieder in einer dunklen Röhre abwärts und landete auf einem zweiten, nach unten ausgewölbten Gitter. Bevor er bis drei zählen konnte, richteten sich mehrere Düsenköpfe auf ihn und spritzten ihn von oben bis unten mit heißer Flüssigkeit ab. Dämpfe stiegen auf und drohten ihm die Sinne zu rauben. Die Folienstücke wurden von seinem Körper gespült – und
was noch viel schlimmer war: die Seifenlauge griff die dünne Schicht aus Körpersekretionen an, die ihn vor einem Austrocknen schützte, das innerhalb kurzer Zeit unweigerlich zu seinem Tod führen mußte. Carch zirpte und schrie wie besessen, aber es gab niemanden hier, der ein Einsehen mit ihm gehabt hätte. Langsam begann sich die ätzende Flüssigkeit in die schützende gelbe Schleimschicht zu fressen … * Malcish war nahe daran zu resignieren. Er war Carchs Tropfspur bis zu einem Transmitteranschluß gefolgt und hatte es mit Hilfe eines Technikers sogar geschafft, die Gegenstation zu ermitteln, an der der Extra herausgekommen sein mußte. So befand er sich nun seit fast einer Stunde schon in den Außenbezirken der SZ‐1 und versuchte die Spur wiederzufinden, die er vor einem Antigravschacht verloren hatte. Deck für Deck suchte er ab. Carch schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Schließlich setzte er sich in einen kleinen Nebenkontrollraum. Er erhoffte sich mehr Erfolg von der Beobachtung der Schirme, die verschiedene Korridore, Hallen und Anlagen dieses Teiles des Schiffes zeigten. Kaum einmal sah er einen Menschen. Carch blieb auch weiterhin verschwunden. »Eigentlich bin ich verrückt, meine Zeit mit ihm zu vertrödeln«, brummte der Solaner nach einer Weile. »Spuk hin, Spuk her – wahrscheinlich gibtʹs dieses Gespenst schon gar nicht mehr.« Es dauerte keine Minute, bis er eines Besseren belehrt wurde. Die Spukgestalt war wieder da, dieses Verschwommene Zerrbild eines Menschen in seinem Bewußtsein, den er zu kennen glaubte und doch nicht identifizieren konnte.
Malcish sprang auf und wich bis zu einer Wand zurück. Der Geist folgte ihm. Malcish stieß sich ab und rannte aus dem Kontrollraum. Umsonst. Die Erscheinung ließ nicht von ihm ab, und diesmal hatte der Solaner Angst. Er spürte ganz deutlich, daß der Geist etwas von ihm wollte, und was immer das war – der Meisterdieb verspürte nicht die geringste Lust, sich darauf einzulassen. Er floh an einer Roboterkolonne vorbei in den Korridor hinein, immer weiter bis zu einer Abzweigung, wo er sich instinktiv nach links wenden wollte. Der Geist war vor ihm und drang auf ihn ein. Schreiend wirbelte Malcish herum und lief in die andere Richtung. Dieses Hin und Her wiederholte sich einige Male, bis Malcish jede Orientierung verloren hatte. Die Erscheinung, obwohl nur in seinem Bewußtsein erahnbar, verstellte ihm den Weg und trieb ihn vor sich her. Sie jagte ihn! Jedenfalls dachte der Solaner das, bis er in einem großen Schaltraum stand, dessen Wände mit Bildschirmen und Kontrollen übersät waren. Als er schon glaubte, daß ihm jetzt kein Ausweg mehr blieb, verschwand der Spuk. Unsicher blickte der Gehetzte sich um. Kein Zweifel – der Geist hatte von ihm abgelassen. Aber welchen Sinn hatte das alles? Die Erleuchtung kam ihm, als er sich schweißgebadet in einen Sitz sinken ließ und sein Blick auf einen der Monitore fiel. Er sah Carch! Malcish sprang auf wie elektrisiert. Er trat näher an den Schirm heran. Kein Zweifel – dort war CptʹCarch abgebildet, der sich unter Wasserstrahlen und in Dämpfen wand und quälte. Malcishs erster Gedanke war, jemanden zu Hilfe zu rufen, denn eines war ihm auf Anhieb klar: Carch befand sich in höchster Not. Dann aber dachte er wieder an die Art und Weise, wie die Spukgestalt ihn vor sich her getrieben hatte. Es fiel ihm wie
Schuppen von den Augen. Sie hatte ihn nicht um seinetwillen gejagt, sondern damit er hierher fände und Carch … Ich soll ihm helfen! dachte er erregt. Natürlich! Diese rätselhafte Verbindung zwischen ihm, der Spukgestalt und mir! Aber wie? Malcish zwang sich zur Ruhe. Zuerst einmal mußte er feststellen, was von hier aus kontrolliert wurde. Er sah sich die anderen Schirme an und wußte bald, daß er in der Schaltzentrale einer robotischen Anlage zur Produktion von Gebrauchsgütern aus Abfall gelandet war. Carch war offensichtlich auf seiner Flucht in diese Maschinerie geraten. Aber wieso erkannte die Positronik nicht, daß er ein lebendes Wesen war und kein Müll? »Mangelhafte Programmierung«, sagte er sich. »Das muß eine der Anlagen sein, die erst kürzlich in Betrieb genommen wurden.« Er hatte einiges über die Anfangsschwierigkeiten gehört, mit denen man es im Rahmen der Umkrempelung der ganzen SOL zu tun hatte. Robotgehirne wurden nur mit dem Notwendigsten programmiert, und manche Solaner machten es sich etwas zu einfach, indem sie ihnen eine Entscheidungsgewalt gaben, für die noch keine ausreichende Basis vorhanden war. Der Gedanke daran, was mit Carch noch alles geschehen konnte, trieb Malcish erneut den Schweiß aus den Poren. Verzweifelt suchte er nach einer Eingabeeinheit. Als er sie endlich gefunden hatte, drückte er die Mikrofontaste nieder und schrie: »Aufhören! Die Produktion muß augenblicklich unterbrochen werden! Es befindet sich ein organisches Wesen in der Anlage!« »Negativ«, antwortete eine Computerstimme. »Das unidentifizierbare Objekt, das sich bewegt, ist laut eigener Aussage noch nicht geboren. Daher ist eine Klassifizierung als Lebewesen nicht möglich.« Nicht geboren! Malcish schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Carchs dummes Gerede also! Einmal hatte ihn das ja in Schwierigkeiten bringen müssen!
»Bin ich berechtigt, dir Anweisungen zu geben?« fragte der Meisterdieb schnell. »Du bist ein Solaner und dazu qualifiziert.« »Dann stoppe jetzt die Produktion und schaffe das unidentifizierbare Objekt, das sich bewegt, aus der Anlage heraus! Das ist ein Befehl!« Warum antwortete das Robotgehirn nicht? Malcish sah wieder, wie Carch sich quälte, und dabei hatte er den Eindruck, als erschlafften die Bewegungen des Extras zusehends. Außerdem war seine Haut blaß geworden, fast spröde. »Objekt wird ausgeschleust«, verkündete endlich die Computerstimme. »Du kannst es in der Lagerhalle 7 in Empfang nehmen.« »Und wo ist die?« Auf einem Bildschirm erschien ein Gewirr von Linien, offenbar eine schematische Darstellung der Anlage. Ein roter Leuchtpunkt zog sich durch das Labyrinth und blinkte, als er in einem Rechteck zur Ruhe kam. Malcish war nicht viel schlauer als vorher. Allerdings atmete er auf, als er sah, wie die Flüssigkeitsstrahlen über CptʹCarch versiegten und der Extra aus dem Raum über dem nach unten gewölbten Gitter gehoben wurde. »Halle sieben!« knurrte der Solaner. »Ich kann nur hoffen, daß Carch wirklich noch so geschwächt ist, daß er mir nicht wieder davonläuft, bis ich diese verdammte Halle gefunden habe!« Als er nach langer Suche endlich vor dem großen, offenen Tor mit der übergroßen Sieben darüber stand, sah er gerade noch, wie ein gelbes Etwas um eine Korridorbiegung herumflitzte, wobei er das Gefühl hatte, abermals von dem Geist gestreift zu werden. »Dann sieh doch zu, wie du dich beim nächstenmal aus dem Schlammassel ziehst!« schrie er Carch nach. »Ich denke nicht daran, dir noch einmal zu helfen! Und so etwas will ein Freund sein!« Er setzte sich auf eine von vielen hundert hier gestapelten Kisten
und starrte verdrossen vor sich hin. Er hatte diese Spukgestalt wieder gespürt. Sie jagte jetzt hinter Carch her. Aber verdammt, was wollte sie von ihm? * CptʹCarch spürte seinen Körper nicht mehr. Die fast unerträglichen Schmerzen, als seine Haut von der Lauge verätzt wurde, hatten ihn regelrecht taub werden lassen. Er hatte Mühe, seine Bewegungen zu kontrollieren, da seine Füße dem Gehirn nicht mehr mitteilten, ob und wann sie den Boden berührten. Die Augen, die von der Seifenspülung ebenfalls nicht verschont worden waren, lagen unter einer dicken, gallertartigen Schicht. Carch sonderte heilende Sekretionen ab, und nun bestand die Gefahr, daß er dadurch noch schneller von innen heraus austrocknete. Was er brauchte, war Ruhe und Flüssigkeit, viel Flüssigkeit, die durch die Poren aufgenommen werden konnte und den Körperhaushalt wieder ins Gleichgewicht brachte. Aber er mußte weiter! Der Geist setzte ihm zu wie nie zuvor. Er gönnte ihm keine Rast, und manchmal, wenn es ihm gelang, einen klaren Gedanken zu fassen, hatte der Extra fast das Gefühl, daß seine Panik nicht wirklich aus ihm herauskam. Dieses unbegreifbare Geschöpf hatte Angst, und es übertrug sie auf ihn. Als auch die Kräfte aufgebraucht waren, die Carch in der Lagerhalle gesammelt hatte, blieb er vor einer braun angestrichenen Tür liegen. Seine Flucht erschien ihm plötzlich so sinnlos. Doch der Geist war über ihm. In Carchs Bewußtsein war das Bild eines Menschen, der mit weit ausgestrecktem Arm auf die Tür wies. Gleichzeitig spürte er, daß er nur noch diesen Schritt zu tun hatte. Wer bist du? dachte er verzweifelt. Warum kann ich dich nicht erkennen?
Er drehte sich auf die Bauchseite und stemmte das hintere Teil des Bananenkörpers mit den beiden dünnen Beinchen in die Höhe. So schob er sich auf die Tür zu, die ihm endlich Ruhe und Frieden versprach. Er richtete sich mit allerletzter Kraft an der Wand auf und berührte mit einem Fühler den Kontakt. Die Tür fuhr auf. Carch blickte in eine dunkle Halle, die völlig leer zu sein schien. Er entdeckte den reglos am Boden liegenden menschlichen Körper erst, als er sich ein Stück in die Halle hineingeschoben und die Tür sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Der Geist war bei ihm, ohne ihn weiter zu bedrängen. Carch spürte nur seine Nähe – und ganz schwach nur noch das Locken. Hierher also hatte er ihm die ganze Zeit über folgen sollen. Carch erreichte die Gestalt, überzeugt davon, eine Leiche vor sich zu haben. Das Gesicht des Menschen war einer Wand zugedreht. Vorsichtig berührte der Extra den Hinterkopf mit den Fühlern und fand kein Lebenszeichen. Er kann erst seit kurzer Zeit tot sein, erkannte er, vielleicht erst seit Minuten. Der Körper wirkte noch völlig normal, so wie der eines Schlafenden. Aber er war kalt und unbelebt. Carchs Neugier erwachte, und plötzlich schoß ihm eine phantastische Spekulation durch den Kopf. Der Geist hatte ihn hierher getrieben. Er hatte gewollt, daß er diese Leiche fand. Aber weshalb, wenn er nicht …? Mit zitternden Ärmchen drehte CptʹCarch das Gesicht des Menschen nach oben, und als er voller Entsetzen erkannte, wen er da vor sich hatte, wußte er, daß er sich nicht geirrt hatte. Schlagartig wurde ihm klar, weshalb er den Eindruck hatte, seinen Peiniger zu kennen. Er wußte, wen er die ganze Zeit über gesehen hatte. Es war diese Solanerin. Was ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, konnte dann nur ihr Geist sein, auf unbegreifliche Weise vom Körper losgelöst.
Und kaum war Carch zu dieser erschütternden Erkenntnis gelangt, als sein zweiter Peiniger wieder angriff. Mit vehementer Gewalt drang das auf ihn ein, das ihn dazu zwingen wollte, sich zu verändern. Carch wußte nun, wie diese Veränderung aussehen sollte. Er begriff, daß er keine Chance hatte und auf lange Sicht ebenso unterliegen mußte wie Sternfeuer. 4. Die Stunde war abgelaufen, ohne daß sich auch nur ein einziger brauchbarer Hinweis auf Sternfeuers Verbleib gefunden hätte. Federspiel spürte sie nach wie vor nicht und war verzweifelt. Hayes hatte nur von weiteren angeblichen Geistererscheinungen zu berichten. Nur eines war bei der Befragung Betroffener herausgekommen: Einige von ihnen waren fest davon überzeugt, die Spukgestalt von irgendwoher zu kennen. Als Atlan schon bereit war, seine Ankündigung wahrzumachen und sich mit einigen Begleitern zu der Robotfabrik zu begeben, wo die Telepathin und Carch zuletzt gesehen worden waren, betrat Bjo Breiskoll aufgeregt den Konferenzraum. Der Katzer hatte sich bis dahin bei Hayes aufgehalten, um auf dessen Wunsch zu versuchen, die eine oder andere vielleicht wichtige Information aus den Gedanken der Befragten herauszulesen. Die Unterhaltung erstarb. Bjo wich Federspiels fragenden Blicken aus und setzte sich schwer. »Du hast etwas herausgefunden?« erriet Atlan. Bjo nickte. »Ich hatte für einen Moment Kontakt zu Carch«, sagte er leise. »Ich konnte ihn espern – wie gesagt, nur kurz. Aber das reichte aus, um …« »Ja?«
Bjo drehte sich halb zu Federspiel um. Der sprang auf und packte ihn an den Schultern. »Du weißt, was mit Sternfeuer geschehen ist! Bjo, Carch ist bei ihr, und du weißt aus seinen Gedanken, wo sie sich jetzt befindet! Du willst nichts sagen aus Rücksicht auf mich? Bjo, ich bin auf alles gefaßt. Wenn mir etwas unerträglich ist, dann die Ungewißheit!« »Sie ist tot«, sagte Breiskoll. Federspiel ließ ihn los und wich entsetzt einige Schritte zurück. Bjo nickte ihm traurig zu. »Das waren Carchs Gedanken. Sie ist tot und auch wieder nicht. Carch glaubt, daß sie dieser Geist ist, der in der SOL herumspukt. Aber irgendwo in der SZ‐1 liegt ihr Körper – erstarrt.« Federspiel schlug sich die Hände vors Gesicht. Hage Nockemann mußte ihn stützen und zu einem der Sitze führen. »Wo?« fragte Atlan tonlos. Seine Miene glich einer Maske. »Wo hat er sie gefunden, Bjo?« »Der Kontakt war viel zu kurz, um das so genau sagen zu können. Carch geriet in Panik, und diese Panik hatte anscheinend nur indirekt mit Sternfeuer zu tun. Das ist alles, was ich euch dazu sagen kann. Es tut mir leid, daß ich keine bessere Nachricht bringen konnte.« »Wobei noch lange nicht gesagt ist, daß sie stimmt«, warf Joscan Hellmut ein. »Nicht, daß ich an deinen Fähigkeiten zweifle, Bjo. Und sicher hatte Carch auch Kontakt mit Sternfeuer. Vielleicht waren sie ganze Zeit über zusammen. Aber wir wissen auch alle, was von dem Burschen zu halten ist. Wenn Carch sich etwas so stark einbilden kann wie seine Nichtgeburt, kann er auch …« »Er hat sie gesehen«, beharrte Bjo. »Gefunden und wie tot am Boden liegen gesehen. Vielleicht ist er jetzt schon wieder ganz woanders. Unsere einzige Chance, Sternfeuer zu finden, besteht darin, daß wir jetzt erst einmal ihn aufspüren.« »Also das Ganze noch einmal?« »Es war ein Fehler, die Solaner nur nach Sternfeuer ausschauen zu lassen«, murmelte Atlan. »Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als
einen neuen Rundruf durchzugeben. Ich mache das von der Zentrale aus.« Auf dem Korridor versuchte der Arkonide vergeblich, einen Sinn in das Gehörte zu bringen. Er floh nicht etwa vor Federspiel. Vielmehr brauchte er jetzt einen klaren Kopf, und das war schlecht möglich, wenn er immer wieder den leidenden jungen Solaner vor sich sah. Atlan öffnete die Verbindungstür am Ende des Korridors und ließ SOL‐City hinter sich zurück. In der Zentrale blickte er in sorgenvolle Gesichter. Hayes nickte ihm lächelnd zu, doch auch das war nur Fassade. Der neue High Sideryt hatte sein Amt unter denkbar ungünstigen Umständen angetreten und wünschte sich nun vor allem Ruhe an Bord. Hayes stand bei Gallatan Herts und dessen Stellvertreterin, Lyta Kunduran. Mit diesen beiden Ex‐Magniden war eine überraschende Wandlung vor sich gegangen, seitdem die SOLAG aufgelöst und die Positionen in der Schiffsführung neubesetzt worden waren. Herts, bis vor Wochen noch Atlans erbitterter Gegner und zu jeder Intrige bereit, war ruhig, fast besinnlich geworden und fungierte als Leiter der Hauptzentrale hier im SOL‐Mittelteil. Lyta Kunduran war seine Stellvertreterin. Die Dreißigjährige machte kein Geheimnis daraus, daß sie Chart Deccon nachtrauerte. Sie hatte vielleicht von allen Magniden als einzige den Menschen in Deccon gesehen. Lyta Kunduran war Gesprächspartner SENECAS in allen Angelegenheiten der Schiffsführung. Vorlan und Uster, die beiden neuen Chefpiloten des SOL‐ Mittelteils, saßen gelangweilt an einem Tisch und nahmen keine Notiz von Atlan. Vor ihnen waren Sternkarten ausgebreitet, ein deutliches Indiz dafür, daß Hayes die Zeit für gekommen hielt, Flatterfeld mit der SOL zu verlassen. Zu Atlans Überraschung hielt sich auch Gavro Yaal in der Zentrale auf, der ihn mit ironischen Blicken musterte. Yaal gehörte ebenfalls zur Gruppe der Stabsspezialisten und war Cheflogistiker der SOL.
Der Hitzkopf früherer Zeiten war ebenfalls merklich ruhiger geworden und ging völlig in der Aufgabe auf, die Versorgung des Schiffes und seiner Bewohner sicherzustellen und noch weiter zu verbessern. Wer in Not war und etwas brauchte, wandte sich an ihn. Yaal besorgte es. Atlan begab sich zu Hayes, Herts und Lyta Kunduran und kam ohne lange Umschweife zum Thema. Er berichtete über das, was Bjo Breiskoll von CptʹCarch aufgefangen hatte, und fügte hinzu: »So sehr wir uns alle dagegen sträuben, sollten wir doch noch eines bedenken. Federspiel selbst äußerte schon vor gut einer Stunde den Verdacht, daß seiner Zwillingsschwester etwas Unfaßbares zugestoßen sei. Ich meine, er war trotz des Kontaktverlusts davon überzeugt, daß sie nicht tot ist.« Herts schüttelte den Kopf und winkte ab. »Wenn sie tot ist, ist sie tot«, sagte er überzeugt. »Das ist bedauerlich, aber nicht mehr zu ändern. Anstatt uns Phantasiegeschichten aufzutischen, solltet ihr ihren Leichnam lieber suchen und feststellen, woran sie gestorben ist.« »Wozu wir Carch brauchen«, entgegnete Atlan. »Breck, ihr habt genug mit den vom Spuk aufgescheuchten Männern und Frauen zu tun. Wenn du einverstanden bist, übernehme ich das.« Hayes legte ihm eine Hand auf den Arm und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Allein in seiner Klause, setzten sich die beiden an einen kleinen Tisch und sahen sich lange an. »Es gibt eine einfache Möglichkeit, um festzustellen, ob Sternfeuer dieser sogenannte Geist ist«, sagte Hayes schließlich. »Es warten noch einige Solaner darauf, gefragt zu werden. Wir zeigen ihnen ein Bild von ihr und warten auf ihre Reaktion.« »Einverstanden, Breck. Aber das ist doch nicht alles, oder? Du hast noch etwas auf dem Herzen.« »Auf dem Herzen!« Hayes lachte rauh. Ein Schatten huschte über sein von den Solwürmern zerfressenes Gesicht. »Wenn alles, was mir auf dem Herzen liegt, feste Formen annehmen würde, hörte es
augenblicklich zu schlagen auf. Atlan, was immer auch in der SOL vorgeht, es geschieht doch nicht ohne Grund. Gehen wir davon aus, daß es sich bei unserem Spuk tatsächlich um Sternfeuers Bewußtsein handelt, dann wäre es doch nur logisch, daß sie versucht, mit denjenigen Kontakt aufzunehmen, die ihr besonders nahestehen – mit euch also. Statt dessen scheint sie es nur auf Carch und auf Insider abgesehen zu haben. Allen anderen erschien sie nur einmal.« »Moment. Wieso Insider?« Dieser Extra, der eigentlich Zwzwko hieß, was aber für menschliche Zungen ebenso unaussprechlich war wie CptʹCarch, war quasi Mädchen für alles in der Zentrale der SZ‐2. Scherzhaft nannte man ihn auch »Zwo«, nicht ohne Anspielung auf seine Stellung als rechte Hand der neuen Kommandantin dieser Schiffszelle – Brooklyn. Sie hatte seine Fähigkeiten als Pilot, Techniker, Funker und Organisator als erste erkannt. Insider war ein Hominide von 1,66 Meter Größe. Alles an ihm war grün, wobei sich hellere und dunklere Hautpartien wie Schatten und Licht voneinander abhoben. Abgesehen davon unterschied er sich von einem Menschen vor allem durch seine vier Arme. Insider galt als absolut loyal. Sein Alter war ebenso unbekannt wie seine Herkunft. Eine weitere herausragende Eigenschaft war sein schier unglaubliches Sprachtalent. Insider ersetzte fast einen Translator. Das rief sich der Arkonide in Erinnerung, als er auf eine Erklärung wartete. »Insider«, bestätigte Hayes. »Zuerst hat mich Brooklyn über sein merkwürdiges – Verhalten informiert. Dann sprach ich mit ihm selbst, und er gab zu, daß ihm seit drei Tagen mehr oder weniger regelmäßig diese menschliche Spukgestalt erschiene. Er beschreibt es so, daß er etwas sieht, aber nicht mit den Augen. Das Zerrbild entsteht in seinem Bewußtsein. Und das deckt sich ja mit den Aussagen aller anderer, die wir bis jetzt gehört haben.« »Carch und Insider«, murmelte Atlan. »Wo gibt es da eine
Verbindung, Breck?« »Keine! Des ist es ja eben. Jedenfalls keine, die wir durchschauen können. Soweit mir bekannt ist, hatte Sternfeuer doch mit Insider so gut wie gar keinen Kontakt.« »Worauf willst du also hinaus?« Hayes stand auf und legte die Hände auf den Rücken. »Nicht nur ich denke an die andere SOL, Atlan. Wenn wir nicht aufpassen, entsteht schneller eine Hysterie an Bord, als wir glauben. Der Spuk wird mit der Geister‐SOL in einen Zusammenhang gebracht. Aber wie dem auch sei, ich werde das verdammte Gefühl nicht los, daß hier und jetzt wieder etwas beginnt, dessen ganze Tragweite wir nicht einmal zu erahnen vermögen.« »Nach Order‐7 ein neuer Anschlag?« »Möglich. Wir wissen eben nichts, aber zumindest über eines werden wir gleich Klarheit haben. Komm, ich bringe dich zu den Wartenden und lasse ein Bild von Sternfeuer ausdrucken.« Atlan hielt den Kommandanten fest, als er die Klause verlassen wollte. »Die Sternkarten, Breck. Du willst Flatterfeld verlassen? WyltʹRong und die Molaaten waren vorhin schon wieder bei mir und fragten, wann wir endlich aufbrechen würden.« »Wenn es nach mir ginge und uns diese Spukgeschichte nicht dazwischengekommen wäre, liefen jetzt die Vorbereitungen für den Start«, sagte Hayes grimmig. »Ich wollte dich unterrichten, bevor die ersten Meldungen eingingen.« »Und ihr habt auch schon ein Ziel?« »Kein zwingendes, Atlan. Roxha kann überall liegen. Die nächstgelegene Galaxis vielleicht, aber fort von hier, wo wir nichts mehr verloren haben.« »Und fort von der Parallel‐SOL, oder? Du hoffst doch darauf, daß sie uns nicht folgen würde.« »Was ich hoffe, steht nicht zur Debatte«, versetzte Hayes ungewöhnlich schroff. »Komm jetzt.«
Sie begaben sich in einen Vorraum der Zentrale, wo zehn Solaner und zwei Buhrlos ungeduldig darauf warteten, daß man ihnen die Fragen stellte, wegen deren sie hierherbestellt worden waren. Hayes hielt sie hin, bis ihm die Computerfolie mit Sternfeuers Abbild gebracht wurde. Drei Männer versicherten, daß nur diese Frau auf der Folie jene Menschengestalt gewesen sein konnte, die ihnen erschienen war. Die anderen gaben sich unschlüssig, stritten die Möglichkeit jedoch nicht ab. Einige behaupteten, einen Baumstumpf gesehen zu haben, etwa zwei Meter groß. Atlan fragte mit gerunzelter Stirn: »Ihr konntet keine Beschreibung geben, nicht einmal eine ungefähre. Weshalb also jetzt diese Sicherheit?« »Das ist wie … ein Traum, ja«, sagte einer der drei. »Du weißt, daß du etwas geträumt hast, aber je mehr du versuchst, dich daran zu erinnern, desto verschwommener wird das Ganze. Am Ende weißt du überhaupt nichts. Aber dann plötzlich siehst oder hörst du etwas, und der ganze Traum ist wieder da.« »Auch ein Vergleich«, seufzte Hayes. »Aber nicht der schlechteste.« »Wir sollten Insider in die Hauptzentrale rufen«, meinte Atlan, nachdem er und der High Sideryt die Solaner und Buhrlos verabschiedet hatten. »Die Suche nach Carch muß sich auf die SZ‐1 konzentrieren. Bjo konnte keine genauen Angaben machen, aber er hatte ihn schon einmal dort lokalisiert, in den Außenbezirken.« Hayesʹ Blicke verrieten, was er von einer solchen Suche hielt. Aber er widersprach nicht. Atlan spielte bereits mit dem Gedanken, SENECA über alle Transmitterbenutzungen der letzten Stunde innerhalb der SOL zu befragen, als sie die Zentrale wieder betraten und Curie van Herling, die Ex‐Magnidin und nun Chefin des Funk‐ und Ortungspersonals, mit einer Nachricht auf sie zukam, die die Situation schlagartig änderte. »Einer der Funker hat einen Interkomanruf aus der SZ‐1
entgegengenommen«, verkündete sie. »Es geht um diesen Extra mit dem unaussprechlichen Namen.« »Er hat sich gemeldet?« fragte Hayes schnell. »Er nicht, aber einer deiner Freunde, Atlan.« »Wer?« wollte der Arkonide wissen. »Aus SOL‐City?« »Ich sagte doch, aus der SZ‐1. Es war dieser Malcish. Er gehörte doch zu den Basiskämpfern, oder?« Atlan nickte. Malcish war öfter als jeder andere mit Carch zusammengewesen. »Malcish sagte, daß er Carch wieder gesehen hätte, nachdem er ihn aus einer Robotanlage retten konnte. Er will ihm auf der Spur bleiben.« »Carch auf der Spur bleiben? Das ist ein Witz, oder?« Curie van Herling zuckte die Schultern. »Das mußt du ihn schon selbst fragen. Er will sich wieder melden, sobald er Carch gefunden hat. Wie er sagte, entkommt er ihm diesmal nicht. Er hat sich einen Paralysator besorgt und ist entschlossen, Carch zu lähmen. Atlan, dieser Kerl sprach ziemlich viel wirres Zeug. Anscheinend sah auch er wiederholt die Erscheinung.« »Wo ist er?« »Wo er jetzt steckt, wissen wir nicht. Ich kann dir sagen, woher der Anruf kam.« Sie gab ihm die Information. Hayes grinste schwach. »Womit der Rundruf wohl überflüssig geworden wäre. Wie ich dich kenne, Atlan, wirst du selbst …« »Worauf du dich verlassen kannst«, versicherte der Arkonide, schon auf dem Weg zum Ausgang. »Wir halten Verbindung miteinander. Versucht inzwischen, aus Insider etwas herauszubekommen. Zeigt ihm Sternfeuers Bild, wenn die Erwähnung ihres Namens nicht genügt.« »Atlan!« rief Hayes ihm hinterher. »Seid vorsichtig. Was mit Sternfeuer geschah, muß kein Einzelfall bleiben!«
* Malcish war es absolut ernst damit gewesen, Carch Carch sein zu lassen und unter Menschen zurückzukehren. Er hatte das Gefühl, einen längeren Schlaf zu brauchen. Vielleicht stellte sich nach dem Aufwachen das alles als ein einziger, verrückter Traum heraus. Carch ließ ihm nicht einmal diese Hoffnung. Als Malcish mißmutig auf einem Laufband stand und sich zum nächsten Antigravschacht transportieren ließ, sah er ihn wieder. Er wollte nicht hinsehen, ihn einfach ignorieren. Doch dann erkannte er bestürzt, in welch miserablem Zustand sich der Extra befand. CptʹCarch stand mit zitternden Beinen vor der Schachtöffnung. Mit einem der kleinen Händchen hielt er sich an einer Leiste fest. Dabei schwankte sein Bananenkörper, als müßte er jeden Moment auf die Seite kippen und hinschlagen. Er zeigte durch nichts, daß er Malcishs Annäherung bemerkte. Seine sonst so kräftig gelb schillernde Haut war noch spröder geworden. Malcish glaubte Risse darin zu erkennen. An einigen Stellen hatten sich dicke gallertartige Klumpen gebildet, die aussahen wie Geschwüre. Der Solaner wurde vom Mitleid gepackt. Er sprang vom Band, als er noch etwa zwanzig Meter von Carch entfernt war. Carch reagierte nicht. Malcish war entschlossen, kurzen Prozeß zu machen und ihn einfach zu packen und anschließend in ein Medo‐ Center zu bringen. Und fast hatte es den Anschein, als sollte es ihm diesmal auch gelingen. Er schlich sich so leise wie möglich an und war schon bis auf fünf Meter herangekommen, als der Extra einen schrillen Schrei ausstieß. Er hatte Malcish den Rücken zugedreht und konnte ihn unmöglich sehen. Der Solaner blieb erschreckt stehen, als ein heftiger Ruck durch den Bananenkörper ging.
Als ob ihm ein Unsichtbarer einen Stoß versetzt hätte! durchfuhr es dem Meisterdieb. Carch schrie wieder, drehte sich um die eigene Achse und erhielt einen weiteren Stoß, der ihn in den Antigravschacht beförderte. Das war für Malcish so unheimlich, daß er erst nachsetzte, als der Extra schon längst nach unten verschwunden war. Er zögerte, sich selbst dem Schacht anzuvertrauen, spähte vorsichtig hinab und sah gerade noch, wie Carch die Röhre auf einem tiefergelegenen Deck verließ. Das schien ihn unglaubliche Mühen zu kosten. Malcish wich zurück und sah sich unschlüssig um. Er hatte sich das Deck gemerkt, aber keine große Lust, mit dem Unsichtbaren Bekanntschaft zu machen. Er wußte selbst nicht, warum, aber irgendwie war er davon überzeugt, daß Carch weder vor ihm geflohen noch von der Spukgestalt gestoßen worden war. Der Zufall wollte es, daß in diesem Augenblick eine junge Frau in den Korridor einbog, die in der Hand einen Paralysator trug. Sie kam langsam auf Malcish zu. »Was willst du mit dem Ding?« fragte der ehemalige Basiskämpfer. »Was schon? Überall auf der SOL spukt es. Ich bin nicht abergläubisch, aber wenn mir diese angebliche Spukgestalt in die Quere kommt, dann weiß ich, was ich zu tun habe.« »Du meinst, du kannst ein Gespenst mit dem Strahler …?« »Ach was!« Sie winkte heftig ab. »Ich sage dir, was ich davon halte. Alle, von denen ich bisher hörte, daß sie diesem Spuk begegneten, waren Frauen, verstehst du?« Malcish schüttelte den Kopf und wollte darauf hinweisen, daß er ja selbst eines der Opfer war – und beileibe keine Frau. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Frauen. Und es gibt genug Kerle an Bord, die sich einen Deflektor besorgen können, um damit unsichtbar hinter uns herzuschleichen. Wie sie es fertigbringen, daß die Betroffenen sie in ihrem
Bewußtsein zu spüren oder zu sehen glauben, weiß ich nicht. Aber wenn der Kerl erst einmal vor mir liegt, erfahren wirʹs sehr schnell.« »Oha!« machte Malcish. Jetzt begriff er. Was diese offenbar sexuell ziemlich gehemmte Person da von sich gab, war blanker Unsinn. Aber sie hatte den Paralysator, der ihn interessierte. Zum Schein ging er auf ihre fixe Idee ein. »Steck die Waffe weg. Es macht mich nervös, wenn du mir damit vor der Nase herumfuchtelst. Du glaubst also, daß ein Sittenstrolch hinter den Spukgeschichten steckt?« Tatsächlich steckte sie den Paralysator in ihren Gürtel. Sie nickte ernst. »Wer sonst? Aber wir kriegen ihn. Außer mir sind noch vier Betroffene unterwegs.« »Weiß Hayes davon?« »Ach der. Er ist ein netter Kerl und sicher ein guter Kommandant. Aber er hat eben zuviel zu tun. Weißt du? Da müssen wir Frauen uns selbst helfen.« Armes frustriertes Ding, dachte Malcish. Er begann, sie in ein Gespräch über die Lasterhaftigkeit gewisser männlicher Solaner zu verwickeln, und als sie glaubte, ihn von der Notwendigkeit einer generellen geistigen Säuberung der männlichen Besatzung überzeugt zu haben, fehlte ihr der Strahler im Gürtel. Malcish winkte ihr damit zu, als er sich in den Schacht schwang. »Du bekommst ihn zurück, wenn ich den Unhold gefunden und gestellt habe, Schwester!« Ihre Beschimpfungen begleiteten ihn, bis er das Deck betrat, auf dem er Carch vermutete. An einer Wand klebte etwas von der gallertartigen Masse, die er auf dem Körper des Extras gesehen hatte. Er legte die Finger auf den Auslöser der Waffe. Obwohl er natürlich wußte, daß er damit gegen den Spuk nichts ausrichten würde, gab sie ihm doch ein Gefühl der Sicherheit. Und außerdem ersparte sie ihm eine eventuelle weitere Verfolgungsjagd. Dennoch hatte er jetzt das Bedürfnis, sich abzusichern. Er sah
einen Interkomanschluß und nahm Kontakt zur Hauptzentrale im Mittelteil auf, berichtete kurz und verkündete, daß er auf Carchs Spur war. Malcish wartete keine Antwort ab, sondern lief in den langen Korridor hinein, der kaum Abzweigungen hatte und keine angrenzenden Räume, in denen Carch sich verstecken konnte. Hin und wieder fand er weitere Gallertklumpen und vereinzelt auch gelbe Tropfen am Boden. Er mochte eine halbe Stunde gelaufen sein, als er den Extra erblickte. CptʹCarch lag auf dem Rücken, die dünnen Beine von sich gestreckt, die sich leicht zuckend bewegten. Diesmal ging Malcish kein Risiko mehr ein. Er richtete den Paralysator auf Carch und löste ihn aus. Das war im gleichen Augenblick, in dem hinter ihm das Summen eines kleinen offenen Fahrzeugs zu hören war und eine bekannte Stimme schrie: »Laß das sein! Weg mit der Waffe, du Narr!« Malcish fuhr herum und sah Atlan, Joscan Hellmut und Federspiel aus dem Wagen springen. Der Arkonide war mit wenigen Schritten bei Carch und beugte sich über ihn. »Ich … ich …«, stammelte Malcish. »Du mußt verrückt geworden sein!« fuhr Atlan ihn an. »Wie soll er uns jetzt etwas sagen? Konntest du nicht warten?« Warten worauf? Malcish schnitt eine Grimasse und schleuderte Atlan den Strahler vor die Füße. »Das ist deine Dankbarkeit! Ohne mich hättet ihr ihn niemals gefunden! Und außerdem konnte ich doch nicht wissen, daß ihr hierher unterwegs wart!« Hellmut legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Malcish. Er meint es nicht so. Wo hast du ihn gefunden?« »Carch?« Malcish sagte es ihm, während Federspiel sich nun ebenfalls über
den Gelähmten beugte und anscheinend versuchte, dessen Gedanken zu lesen. »Viel zu schwach«, sagte er leise. Malcish erschauerte beim Klang seiner Stimme. Was war hier eigentlich los? »Wir bringen ihn nach SOL‐City«, entschied Atlan. »Dort kann Bjo sein Glück versuchen. Malcish, du kommst ebenfalls mit uns. Ich benachrichtige Breckcrown. Dieser ganze Bezirk muß abgeriegelt und Winkel für Winkel untersucht werden. Irgendwo hier muß sich Sternfeuer befinden.« Malcish verstand nun gar nichts mehr. Seufzend ergab er sich in sein Schicksal und hoffte, in SOL‐City etwas mehr zu erfahren. Offenbar war er hier in etwas hineingeraten, das alle seine Erwartungen noch weit übertraf. Dabei war er selbst jetzt noch weit davon entfernt, das ganze Ausmaß des Geschehens auch nur annähernd zu erfassen. »Eines steht fest«, sagte Hage Nockemann, nachdem er den Extra gründlich untersucht hatte. »Es ist ein Wunder, daß er sich überhaupt noch bewegen konnte. Er muß Unvorstellbares durchgemacht haben. Leider wissen wir viel zuwenig über ihn, aber er hat soviel Körperflüssigkeit abgegeben, daß er stirbt, wenn er keinen Ersatz findet. In der Robotanlage, von der Malcish sprach, wurde die klebrige Substanz, die ihn davor schützt, einfach auszutrocknen, durch die Laugen zersetzt. Offenbar ist er in der Lage, sich selbst zu regenerieren und diese Schicht wieder zu erzeugen. Aber dazu braucht er Stoffe, die er durch die Haut aufnimmt. Welche das sind, wissen wir nicht. Wir können ihn nicht einfach in ein Wasserbad legen.« »Niemand hat ihn je essen oder trinken gesehen«, bemerkte Malcish. »Wie auch? Er hat ja keinen Mund.« Atlan verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Natürlich will niemand, daß er stirbt, Hage. Aber was konntest du sonst noch feststellen? Was brachte ihn in diesen Zustand?«
»Du meinst seine Panik?« Der Genetiker fuhr sich mit einer Hand durch das lange graue Haar und zwirbelte nachdenklich an seinem Schnauzbart. »Sternfeuers Geist wäre eine Erklärung, aber die befriedigt mich nicht. Von allen, denen sie erschien, wurde übereinstimmend ausgesagt, daß sie nicht das Gefühl einer wirklichen Bedrohung hatten, sondern nur Angst vor dem Unbegreifbaren. Was ihn so in Panik versetzte, muß etwas anderes gewesen sein.« Malcish nickte bekräftigend, um sogleich Atlan einen scheuen Blick zuzuwerfen. »Ich mußte ihn paralysieren, sonst wäre er wieder entwischt.« »Er hätte nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Daß er überhaupt so lange auf der Flucht war, muß mit Kraftreserven zu tun haben, die in Stößen in ihm freiwerden. Aber auch die waren verbraucht.« Atlan sah zu Bjo Breiskoll hinüber, auf dem nun alle Hoffnungen ruhten. Die Lähmung würde noch für Stunden anhalten, jedenfalls wenn man von einem Menschen ausging. Bei Carch war auch dies nicht genau zu sagen. Geschah aber nichts zu seiner Rettung, würde er unweigerlich sterben, bevor er aufwachte und sagen konnte, was er brauchte. Und bevor er den entscheidenden Hinweis auf den Ort geben konnte, an dem er Sternfeuer gefunden hatte. Hayes hatte Suchtrupps ausgeschickt, von denen noch keine Erfolgsmeldung gekommen war. »Er denkt, aber auf einem viel zu niedrigen Niveau, als daß ich etwas Klares herauslesen könnte«, sagte der Katzer. »Er kann sich nicht bewegen, aber er muß uns hören. Sprecht zu ihm und stellt ihm gezielte Fragen, zuerst nach der Hilfe, die wir ihm geben können.« Carch lag auf einer Antigravscheibe, die etwa einen Meter hoch über dem Boden schwebte. Atlan hockte sich vor ihn hin und begann, eindringlich auf ihn einzureden, wobei er immer wieder zu Bjo hinüberblickte.
Die anderen hielten sich schweigend zurück. Nur Hellmut berichtete leise der Zentrale, wo inzwischen Insider eingetroffen war und nach einem Blick auf Sternfeuers Bild zugegeben hatte, daß dies das Gesicht des »Geistes« sei, der ihm wiederholt erschienen war. Keine Reaktion! bedeutete Bjo nach zehn Minuten mit einem Kopfschütteln. Atlan gab die Hoffnung nicht auf und sprach weiter, bis ihn Hage Nockemann sanft an den Schultern zurückzog. »Ich habe die Körperzellen untersucht, die ich Carch unmittelbar nach eurer Ankunft entnahm. Es ist ein Risiko, aber ich glaube, aus dem Ergebnis ersehen zu können, was er braucht. Er muß in eine Lösung gelegt werden, die ich in spätestens einer halben Stunde zusammengemischt haben kann, wenn ich schnell die nötigen Mineralien bekomme.« »Was bleibt uns anderes übrig?« fragte der Arkonide resignierend und ließ sich in einen Sessel fallen. »Joscan, bitte Breck, alles Notwendige beschaffen zu lassen.« Nockemann war schon bei Hellmut und sprach mit der Zentrale. Doch noch bevor er geendet hatte, sprang Bjo Breiskoll auf. »Ich empfange etwas!« rief er erregt aus. »Carch denkt intensiv an …« »Was?« fragte Atlan schnell. »Es hat nichts mit ihm selbst zu tun, auch nicht mit Sternfeuer. Wenn es sich nicht zu verrückt anhören würde, könnte man meinen, daß da jemand anderer für ihn denkt.« Bjo zuckte wie zur Entschuldigung mit den Schultern. »Es ist aber so. Er denkt ganz intensiv an etwas, ohne irgendwie daran Anteil zu nehmen. Er weiß gar nicht, was er denkt!« »Was?« wiederholte Atlan ungeduldig. »Bjo, was ist es?« »Nur Gedankenfetzen. Sie haben mit einem Schalter zu tun.« Breiskoll schloß die Augen. Seine Lippen bewegten sich, als spräche ein anderer durch sie: »Pers‐Mohandot … Schalter … Vereinigung! Und … die Zeit ist reif … Gefahren des Bösen … Vasterstat …«Bjo legte seine gespreizten Finger an die Schläfen. »Der Erwachende!«
Der Katzer taumelte zurück. Atlan war bei ihm und führte ihn zu seinem Sitz. Breiskoll schlug die Augen auf und schien der realen Welt entrückt. Erst als der Arkonide ihm zwei‐, dreimal mit der flachen Hand auf die Wangen schlug, kam er zu sich. »Das war es«, flüsterte er. »Aber es kam mit solcher mentaler Gewalt, daß …« Er drehte die Handflächen nach oben, um anzuzeigen, daß er vollkommen ratlos war. Atlan schwieg betreten. Er sah die Blicke der anderen auf sich gerichtet, fühlte sich im Mittelpunkt von tausend Fragen, auf die er doch keine Antwort wußte. Alles wurde immer verworrener und geheimnisvoller. Er dachte an Hayesʹ Worte: Etwas beginnt! »Welcher Schalter?« fragte Malcish in die Stille hinein. »Und was für eine Stadt? Das sind doch Produkte seiner Phantasie. Sicher erinnert sich Carch jetzt in der Erwartung des Todes an Begriffe aus seiner Vergangenheit, über die er angeblich nie etwas wußte.« »Nein«, wehrte Nockemann ab. »Wie käme er dann auf Pers‐ Mohandot? Fällt euch nicht auf, daß dies wortverwandt ist mit All‐ Mohandot, wie die raumfahrenden Zivilisationen Flatterfelds ihre eigene Galaxis nennen?« »Es sind Wortfetzen«, sagte Bjo, der sich schnell wieder gefangen hatte. »Besser gesagt, Gedankenfetzen. Aber sie müssen einen Sinn ergeben. Ich bleibe dabei, daß sie nicht aus Carch selbst herauskommen. Aber er hat sie empfangen und zuletzt mit einer Erregung weitergegeben, die mich fast aus dem Gleichgewicht brachte. Das heißt, daß er zumindest unterbewußt wußte oder weiß, wie bedeutend sie für uns sind. Er will, daß wir davon erfahren!« »Also eine Botschaft«, überlegte Atlan. »Und zwar eine, die für ihn wichtiger ist als sein eigenes Leben. Vielleicht mußte er sie uns übermitteln, bevor er an sich selbst denken konnte. All‐Mohandot und Pers‐Mohandot. Dann wäre also Pers‐Mohandot eine andere Galaxis.« »Und wenn wir diesen Faden weiterspinnen«, sagte Bjo, »jene, aus der der oder das kommt, das von seinem Geist Besitz ergriffen hat
und höchstwahrscheinlich auch für Sternfeuers Schicksal verantwortlich ist – der wirkliche Spuk.« Pers‐Mohandot … Schalter … Vereinigung. Die Zeit ist reif … Wofür? Und wer war mit dem Erwachenden gemeint? Wer oder was war Vasterstat? Atlan wollte Bjo bitten, sich noch einmal in Carch hineinzuversenken, als dessen entrückter Blick ihm anzeigte, daß er bereits dabei war. »Jetzt denkt er an sich«, flüsterte der Katzer. »Er denkt an das, was er zum Überleben braucht. Hage …« Nockemann war schon bei ihm, in den Händen eine Folie und einen Schreibstift. Hastig notierte er sich das, was ihm von Carch durch Bjo genannt wurde. »Weiter!« drängte Atlan, als der Galakto‐Genetiker zum Interkom eilte. »Bjo, wenn er einmal dabei ist, muß er uns mitteilen, wo er Sternfeuer gesehen hat!« »Er denkt nicht mehr«, lautete die ernüchternde Antwort. »Eben noch empfing ich alles zwar bruchstückhaft, aber dennoch völlig klar. Jetzt ist da nichts mehr, nur dieses Fremde. Es ist wie ein …« Bjo lachte trocken. »Ein vielleicht unpassender Vergleich, aber es ist wie ein psionisches Hintergrundrauschen.« »Angenommen, es gibt tatsächlich einen Fremden, der ihn beeinflußt und Sternfeuers Geist von ihrem Körper trennte – könnte er sich an Bord der SOL befinden?« »Du meinst, ob ich ihn dann nicht espern müßte?« Bjo schüttelte entschieden den Kopf. »Nichts, Atlan. Entweder schirmt der Unbekannte sich ab, oder er wirkt von außerhalb der SOL auf Carch ein.« »Und versetzt ihn in Panik. Ich gehe in die Zentrale, Bjo. Bleibe du bei ihm und unterrichte mich sofort, wenn er wieder zu denken beginnt. Ich will wissen, ob er Angst davor hat, daß auch sein Bewußtsein vom Körper gelöst wird.«
»Hayes läßt mir alles bringen, was wir für das Bad brauchen«, verkündete Nockemann. »Wenn wir Glück haben, wird er sich bald erholen und aus der Paralyse erwachen.« Atlan nickte und warf Federspiel einen prüfenden Blick zu. Der Zwilling schlug die Augen nieder. »Wenn dieser oder dieses Fremde die Macht hat, das Bewußtsein eines Menschen von seinem Körper zu trennen, wird er diesen Vorgang auch wieder rückgängig machen können«, sagte der Arkonide zu ihm. »Wer so etwas tut«, flüsterte Federspiel, »für den ist ein Mensch nur ein Werkzeug, ein Spielzeug.« * »Ich kann mit diesen Begriffen nichts anfangen«, knurrte Hayes. »Natürlich fällt die Wortverwandtschaft zwischen All‐ und Pers‐ Mohandot auf, aber das ist auch schon alles. Was sollen wir damit, Atlan? Will dieser Fremde, dessen Existenz ja nur eine Vermutung ist, uns dort haben? Es gibt ein Dutzend Galaxien in näherem Umkreis, die damit gemeint sein könnten. Immerhin scheine ich recht zu behalten, obwohl ich alles andere als glücklich darüber bin. Irgend jemand oder irgend etwas versucht, auf uns Einfluß zu gewinnen. Wozu und mit welchen tieferen Absichten?« »Die Suchkommandos hatten immer noch keinen Erfolg?« Hayes schüttelte den Kopf. »Nichts. Dafür redet die Besatzung jetzt nicht mehr von einem Spuk, sondern nur noch von Sternfeuers Geist. Die Unruhe ist dadurch nur noch größer geworden. Es ließ sich nicht verhindern, daß die Befragten, denen wir Sternfeuers Bild zeigten, die Nachricht überall in Umlauf brachten. Schon deswegen müssen wir das Mädchen so schnell wie möglich finden.« Atlan sah sich um. Etwa die Hälfte derjenigen, die sich in der
Hauptzentrale aufhielten, gaben sich mehr oder weniger sinnlosen Beschäftigungen hin. Es war offensichtlich, daß sie sich davor scheuten, zu etwas Stellung zu nehmen, das sie nicht begriffen. Nur die Piloten und Gallatan Herts drängten vehement darauf, mit der SOL Flatterfeld zu verlassen. Wohin der Flug – oder die Flucht – gehen sollte, schien ihnen dabei völlig gleichgültig zu sein. Niemand sprach dabei von der Suche nach Roxha oder Varnhagher‐ Ghynnst. »Ich möchte, daß du mit einer Entscheidung noch wartest, Breck«, sagte Atlan. »Zumindest so lange, bis Carch uns vielleicht genauere Auskünfte geben kann. Falls Sternfeuer tatsächlich nur in einer todesähnlichen Starre liegt und darauf wartet, daß ihr Bewußtsein zurückkehrt, müssen wir alles tun, um sie zu retten.« »Du rechnest mit einem weiteren Kontaktversuch dieses Phantoms?« »Es wäre sinnlos gewesen, uns durch Carch eine Botschaft zukommen zu lassen, die wir nicht verstehen«, wich Atlan einer direkten Antwort aus. »Jetzt möchte ich mit Insider reden. Wo ist er?« »Wir haben ihn in einer der angeschlossenen Kabinen untergebracht. Bit ist bei ihm. Ich bringe dich hin.« Es war eine der Kabinen, die der Arkonide und seine Freunde für eine. Weile bewohnt hatten, nachdem die SOL das Mausefalle‐ System verlassen hatte. Insider hockte schweigend auf einer Liege. Lyta Kunduran zuckte die Schultern, als sie die fragenden Blicke der beiden Eingetretenen bemerkte. »Nichts Neues. Er ist sich dessen sicher, daß es Sternfeuer war, die ihn berührte. An mehr erinnert er sich nicht.« »Laßt mich bitte allein mit ihm«, sagte Atlan. Die Ex‐Magnidin und Hayes zogen sich zurück. Als die Tür sich schloß, setzte Atlan sich zu dem grünhäutigen Extra. »Du hast es ja gehört«, sagte Insider. »Sie haben mich schon alles gefragt – patsch‐uuh!«
Für Insider hieß das, daß er es als sinnlos empfand, weiter über die Erscheinungen zu reden. »Patsch‐uuh« war eines seiner beiden Lieblingsworte und bezeichnete eine vollkommen ausweglose Situation. »Klatsch‐hurra« dagegen stand für alles Gelungene und Positive. Ansonsten sprach und verhielt er sich vollkommen normal und trotz seiner Fremdartigkeit menschlich, was dazu beitrug, daß er von jedem Solaner als Gleichartiger behandelt und anerkannt wurde. »Ich weiß, Insider«, antwortete Atlan gedehnt. »Aber inzwischen hat sich etwas ergeben, von dem Bit noch nichts ahnte. Hör zu, ich möchte, daß du noch einmal ganz genau zurückdenkst, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob es vielleicht zwei Gesichter gewesen sein könnten, die dich berührten.« »Ich verstehe nicht«, gab der Extra irritiert zu. »Ob es nicht nur Sternfeuer war. Nachdem du ihr Bild sahst, wußtest du, daß sie mit der Erscheinung identisch war – beziehungsweise ihr Bewußtsein. Du glaubst, sie gesehen zu haben. Aber kann es nicht so gewesen sein, daß du noch eine zweite Komponente spürtest? Eine Wesenheit, die dir eine Botschaft zukommen lassen wollte?« Insider war anzusehen, daß er immer noch nichts begriff. Dennoch schien er in sich zu gehen, schloß für Sekunden die Augen, um schließlich verzweifelt den Kopf zu schütteln. »Da war nichts außer ihr«, versicherte er. »Niemand drängt dich. Versuche es noch einmal. Du hast Zeit und Ruhe.« »Es ist sinnlos. Aber vielleicht könntest du mir einen Hinweis geben. Wonach fragst du eigentlich wirklich?« Atlan hatte bereits die Begriffe auf der Zunge, die Bjo von Carch aufgefangen hatte. Vielleicht, so hoffte er, löste eines der Worte die verschüttete oder unbewußt verdrängte Erinnerung in Insider aus. Bevor er aber auch nur eines von ihnen nennen konnte, hob der Grünhäutige abrupt eine seiner vier Hände.
»Warte!« Wieder schloß er die Augen. Irgend etwas schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Seine Lippen bewegten sich zuckend. Die Hand zitterte. Ohne die Augen wieder zu öffnen, flüsterte er: »Die Berührung …« Es folgten Worte in einer fremden Sprache. Atlan nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie gerade so, als fürchtete er, Insider müßte sich im nächsten Moment in Luft auflösen. Der Extra riß sich los, sprang auf und stieß bebend hervor: »Vasterstat!« Atlan kam ebenfalls in die Höhe. Er starrte sein Gegenüber an. Allmählich nur gewann Insider die Kontrolle über sich zurück. Irritiert sah er sich um. »Wiederhole es!« forderte Atlan ihn auf. »Sag es noch einmal!« »Was?« fragte der Extra. »Was habe ich denn gesagt?« »Vasterstat!« »Nein!« Insider wich zurück. Sein Gesicht verriet Angst und Verständnislosigkeit. »Ich habe dieses Wort noch nie gehört!« »Aber Carch dachte es auch! Was ist Vasterstat – oder wer ist es?« »Ich weiß es doch nicht! Warum quälst du mich!« Insider krümmte sich wie unter Schmerzen. Atlan stützte ihn. »Es ist schon gut«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Bit wird sich wieder um dich kümmern. Niemand will dich quälen, aber sollte dir doch etwas einfallen, dann komm in die Zentrale. Es ist wichtig, jede Einzelheit.« »Es geht um Sternfeuer, nicht wahr?« flüsterte der Grünhäutige. »Und um Carch.« »Vielleicht um die ganze SOL und alle, die in ihr leben«, sagte Atlan düster. Er brachte Insider zur Liege zurück und wollte ihn mit sich allein lassen. Der Extra hielt ihn am Arm fest. »Warte. Warte noch. Du sagtest Vasterstat?« »Ja.« »Ich habe es wirklich noch nie gehört. Aber es ergibt einen Sinn.« »Welchen?«
»Es sind Laute, die zu einer Sprache gehören, keine willkürliche Aneinanderreihung von Vokalen und Konsonanten. Vasterstat – das bedeutet wohl …« Atlan hielt den Atem an. Insider schien mit sich zu kämpfen – oder gegen etwas. Atlan erinnerte sich wieder an seine unglaubliche Fähigkeit, absolut fremde Sprachen zu verstehen. Er wußte schon, bevor er die Bedeutung des geheimnisvollen Wortes erfuhr, daß er keine Veranlassung hatte, an Insiders Übersetzung zu zweifeln. »Die schlafende Welt«, preßte der Extra hervor, um gleich darauf völlig kraftlos auf die Liege zu sinken. Atlan sah ein, daß er sich mit dieser Auskunft vorerst zu begnügen hatte. Die schlafende Welt … Irgendwo in einer Galaxis, die Pers‐Mohandot hieß? Der Arkonide verließ die Kabine. In der Hauptzentrale wurde er bereits erwartet. Lyta Kunduran begab sich mit einem Medo‐Robot zu Insider. »Wir sollten endlich machen, daß wir von hier verschwinden!« forderte Herts abermals. »Was geht uns eine schlafende Welt an!« Breckcrown Hayes blickte ihn nachsichtig an. »Und wohin, Galatan? Wer sagt uns, daß nicht auch SENECA von diesem Fremden schon beeinflußt ist und uns genau dorthin bringen würde, wo es uns haben will? Ich kann mir nicht helfen, aber wir stecken schon mitten in etwas drin, das von langer Hand vorbereitet worden zu sein scheint.« Atlan sagte nichts dazu. Das Mißtrauen SENECA gegenüber war längst noch nicht völlig abgebaut, was sich in solchen Bemerkungen immer wieder aufs neue dokumentierte. Zu lange hatten die Solaner mit den Launen der Hyperinpotronik leben müssen. Hayes erhielt Unterstützung aus den beiden SOL‐Zellen. Sowohl Wajsto Kölsch als auch Brooklyn sprachen sich für ein Warten aus. Atlan blieb in der Zentrale, bis an den Funk‐ und Ortungsgeräten die Ablösung erfolgte. Denjenigen, deren Dienst jetzt begann, war anzusehen, wie sehr sie jene beneideten, die für sie Platz machten.
Ein Gedanke beherrschte anscheinend sie alle: Wann taucht die Geister‐SOL wieder auf? Zurück in SOL‐City, erwartete den Arkoniden die Nachricht, daß CptʹCarch aus der Paralyse erwacht und auf dem Weg der Genesung sei. * Hage Nockemann und seine Helfer hatten nicht viele Umstände gemacht. Carch lag in einer Plastikwanne, die bis zum Überschwappen mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war. Nur sein Kopf schaute daraus hervor. Die Fühler richteten sich auf Atlan und Federspiel, kaum daß die beiden Männer den abgedunkelten, kleinen Raum betreten hatten. Atlans Hand fuhr zu seiner Nase. »Bei allen Planeten, Hage! Das riecht wie nach einem Dutzend nicht stubenreiner Katzen.« »Aber es hilft, und mit der Zeit gewöhnt man sich daran«, grinste der Genetiker. »Hinterher weißt du die gute Luft an Bord der SOL überhaupt erst wieder zu schätzen. Der Flüssigkeitspegel ist während der beiden Stunden, die Carch darin schwimmt, um zwei Zentimeter gesunken. Das bedeutet bei der Größe der Wanne eine Flüssigkeitsaufnahme von fast zwanzig Litern – bei diesem Zwerg! Carch fühlt sich nach eigenem Bekunden schon wieder wie neugeboren und wird …« »Das habe ich nicht so gesagt!« zirpte es aus der Brühe. Der Extra mußte den Rücken mit der Sprechmembrane daraus heben, um sich verständlich zu machen. »Nicht wie geboren! Wie das ist, weiß niemand von euch!« »Aber du?« »Nein, aber fast …« »Fast?« Atlan hockte sich neben die Wanne. »Fast hättest du es
gewußt, weil etwas dich drängte, dich zu verändern?« Carch stieß einen nie gehörten Laut aus – zweifellos ein Zeichen großer Überraschung. »Woher weißt du davon? Aber so war es. Da waren Sternfeuer und dieses andere, das mich dazu zwingen wollte, wie sie meinen Körper aufzugeben.« Carch bewegte sich heftig in der Wanne. Die gelbe Brühe schwappte über den Rand und bespritzte Atlans Kombination. »Und es ist immer noch da! Es wird zurückkommen! Dann helft mir!« Atlan kämpfte gegen das Würgen an, sprang zurück und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie die Fühler des Extras immer heftiger zu zittern begannen. »Du hast Angst vor diesem Fremden«, stellte er fest, »obwohl er zu dir sprach.« Nebenbei registrierte er, daß dies wohl das allererste Mal war, daß Carch jemanden um Hilfe bat. »Gesprochen? Niemand hat zu mir gesprochen. Da war nur dieses furchtbare Drängen und …« »Du willst sagen, daß du dich an nichts erinnerst?« unterbrach Nockemann ihn. Dann nannte er die Worte, die Bjo aus seinen Gedanken herausgelesen hatte. Für Atlan war es nach Insiders Reaktion keine Überraschung mehr, daß auch Carch sich an keines von ihnen zu erinnern vermochte. Er stritt sogar heftig ab, sie gedacht zu haben. »Atlan!« drängte Federspiel flehend, »fragt ihn doch endlich nach Sternfeuer!« »An sie erinnerst du dich?« wandte der Arkonide sich wieder an den CptʹCarch. »Eben sprachst du von ihr und davon, daß dieser Fremde dein Bewußtsein vom Körper loslösen wollte, wie es bei ihr geschah. Bjo fing einige Gedankenfetzen von dir auf, als du sie fandst. Wo war das, Carch? Du mußt es uns ganz genau sagen.« Federspiel trat ganz nahe an die Wanne heran. Carch drehte sich etwas darin.
»Eine Halle«, zirpte es aus der Membrane. »Sie lag in einer Halle. Zuerst glaubte ich, sie sei tot, aber ihr Körper war wie der einer Schlafenden. Ich war auf der Flucht und habe kaum auf die Umgebung geachtet.« »Aber du würdest diese Halle und die umliegenden Korridore doch wiedererkennen, wenn du sie jetzt sähst?« Federspiel rückte noch ein Stück näher. Seine Stimme war ein einziges Flehen. »Vielleicht«, gab Carch zu. »Ja, ich denke schon. Aber ich bin noch zu schwach, um euch dorthin zu führen.« »Du könntest von hier aus suchen! Ich bringe dich in den Konferenzraum. Wir haben Suchtrupps in den Außenbezirken der SZ‐1, wo Bjo dich esperte und wir dich fanden. Die Männer und Frauen werden mit Handkameras die Gänge entlanggehen und in jeden Raum hineinsehen. Du verfolgst das alles über die Bildschirme und dirigierst sie weiter, sobald du einen Anhaltspunkt zu sehen glaubst!« »Ich weiß nicht recht …«, zögerte Carch. »Aber ich!« Bevor ihn jemand daran hindern konnte, war der Zwilling bei ihm und griff mit beiden Armen tief in die stinkende Brühe. Carch drehte und wand sich, ohne sich aus Federspiels Griff befreien zu können, als dieser ihn heraushob und das tropfende Etwas aus dem Raum trug. Atlan und Nockemann waren zurückgewichen, um nicht auch noch ihren Teil abzubekommen. Erst als Carchs Geschrei auf dem Korridor verklang, fanden sie ihre Sprache wieder. »Zum Teufel!« fluchte der grauhaarige Genetiker. »Ist Federspiel jetzt von allen guten Geistern verlassen? Will er SOL‐City auf Wochen hinaus unbewohnbar machen?« Atlan hatte die gleiche Befürchtung, die zusätzliche Nahrung erhielt, als die Molaaten kreischend aus ihren Quartieren nahe dem Konferenzraum flohen. »Und Carch muß noch in seiner Tunke bleiben!« schimpfte
Nockemann weiter. »Außerdem schadet ihm Licht! Seine Augen sind angegriffen und müssen …« Er ballte die Fäuste und schnitt eine Grimasse. »Was rege ich mich auf! Ich an Federspiels Stelle hätte wahrscheinlich schon viel eher die Geduld verloren. Aber Carch muß so schnell wie möglich wieder in die Wanne – schon allein aus dem Grund, daß ich der Flüssigkeit ein starkes Beruhigungsmittel beigemischt habe, das glücklicherweise auch auf ein Wesen wie ihn wirkt.« »Wozu das?« fragte Atlan überrascht. Nockemann lachte meckernd. »Wozu das! Du hättest ihn erleben sollen, als er aus der Paralyse erwachte! Angst ist gar kein Ausdruck!« »Dann hoffen wir, daß wir schnell Erfolg haben werden. Hat wohl nicht viel Sinn, mich vorher umzuziehen, oder?« »Kaum, aber zum Glück haben wir genügend Atemmasken für uns alle hier.« 6. Über die ständige Verbindung verfolgten der neue High Sideryt und die übrige Zentralebesatzung die Suche nach Sternfeuers Körper mit. In SOL‐City herrschten fast chaotische Zustände. Oserfan und die anderen Molaaten außer Sanny hatten in der Zentrale Zuflucht vor dem bestialischen Gestank gesucht und warnten jeden davor, sich ins »verseuchte Gebiet« vorzuwagen. Zumindest Hayes hatte das auch gar nicht vor. Seit nunmehr einer Viertelstunde gab es keine Meldung über Geistererscheinungen an Bord des Schiffes mehr. Dies hätte ihn beruhigen sollen. Es bewirkte das Gegenteil. Inzwischen war Insider zurückgekehrt und hatte von seinem Gespräch mit Atlan berichtet. Eine von Lyta Kunduran vorgenommene Befragung SENECAs hatte keinen Aufschluß über
die Bedeutung des Begriffs »Schlafende Welt« erbringen können. SENECA blieb dabei, weder etwas über den Spuk an Bord zu wissen noch einen fremden Einfluß auf sich zu registrieren. Eine halbe Stunde verging. Immer weitere Korridore, Schächte und Räume erschienen auf den Monitoren, ohne daß CptʹCarch eine positive Reaktion zeigte. Es kamen keine Meldungen aufgeschreckter Solaner mehr. »Der Spuk ist vorbei«, sagte Galatan Herts. »Aber mir ist nicht wohl dabei. Es kommt mir vor wie die Ruhe vor dem Sturm.« Diesmal mußte Hayes ihm vollkommen recht geben. Und es dauerte keine zehn Minuten, bis Hertsʹ düstere Prophezeiung sich auf sehr handfeste Weise zu bewahrheiten schien. »Ich habe eine Ortung!« rief eine Frau von den Kontrollen herüber. »Ein Raumschiff! Es ist in einer Entfernung von nur etwa eintausend Kilometern materialisiert und nähert sich uns!« Hayes vergaß die Suche nach Sternfeuer. Mit wenigen Schritten war er bei den Ortern, um die sich schnell eine Traube von Menschen scharte. »Weder die Ysteronen noch die Pluuh besitzen solche Schiffe«, kam es von Vorlan. »Außer ihnen aber gibt es keine nennenswerten raumfahrenden Völker in Flatterfeld. Das Schiff kann also nur aus dem intergalaktischen Raum kommen. Was will es?« Hayes glaubte, jemanden etwas von Pers‐Mohandot murmeln zu hören. Sonst sprach in diesen Sekunden niemand. Unter den Schirmen erschienen Zahlen‐ und Buchstabenreihen, mit denen jedoch keiner viel anzufangen wußte. Das Ende des Geisterspuks! dachte Hayes. Und fast gleichzeitig damit das Auftauchen dieses Raumers! Der Zusammenhang war offensichtlich. Hayes kniff die Augen zusammen, als das Schiff auf den Schirmen der optischen Erfassung größer und größer wurde, bis ganz deutlich die Form eines Doppeldiskus zu erkennen war. Die obere Scheibe war etwa zweimal so groß wie die darunterliegende und mit langen Antennen
oder Projektoren bestückt. Schweigend und drohend schob sich das fremde Objekt mit abnehmender Geschwindigkeit näher. »Im Vergleich zur SOL ein Zwerg«, flüsterte Bit. »Durchmesser oben etwa 220 Meter.« Sie las weitere einlaufende Werte ab, bis Herts sie barsch unterbrach. »Entfernung nur noch einhundertzwanzig Kilometer!« rief er aus. »Breck, wie lange willst du dir das noch ansehen! Ihr steht alle hier herum, als käme eines unserer Beiboote von einem Flug zurück!« Etwas anderes lähmt uns! dachte Hayes. Er machte sich von der unerklärlichen Faszination los, die das fremde Schiff auf ihn ausübte, schickte die Besatzung auf ihre Plätze und gab seine Befehle: »Curie, ihr versucht, den Fremden anzufunken! Er soll seine Fahrt stoppen! Bit, er mag im Vergleich zu uns ein Zwerg sein, aber ich will kein Risiko eingehen. Fahrt die Schutzschirme hoch! Er soll sich identifizieren und sagen, was er von uns will! Alarm für das ganze Schiff! Ich spreche selbst zu den Solanern, um sie zu informieren und zu beruhigen.« Augenblicklich schrillten die Sirenen in allen Teilen der SOL. Erst jetzt fiel Hayes wieder ein, daß Atlan und Federspiel auf Carchs Erinnerungsvermögen hofften. Auch darauf konnte er keine Rücksicht mehr nehmen. Er legte sich schon die Worte zurecht, die er den Solanern, Buhrlos, Bordmutanten und Extras sagen wollte, als sein Blick auf Insider fiel. * Für Atlan und diejenigen, die sich – ohne Atemmasken – im Konferenzraum von SOL‐City aufhielten, kam der Alarm völlig überraschend. Die Sirenen heulten nur wenige Sekunden nach der Entdeckung auf, die Federspiel endgültig an den Rand des Zusammenbruchs brachte.
Eines der Suchkommandos hatte den Raum gefunden, in dem CptʹCarch Sternfeuer entdeckt hatte. Carch ließ keinen Zweifel daran, daß er sich dessen vollkommen sicher war. Er beschrieb Nebenräume, in die er sich auf der Flucht vor dem Unbekannten begeben hatte, die gleich darauf prompt auf den Schirmen zu sehen waren. Nur Sternfeuer war nicht da. Die Halle war leer. Dort lag kein erstarrter Körper. Die Scheinwerfer des Suchtrupps leuchteten jeden Winkel aus. »Aber ich habe sie gesehen!« beharrte Carch. »Jemand muß sie entdeckt und weggeschafft haben, ohne davon Meldung zu machen!« Atlan rief die Zentrale an. Es dauerte eine Weile, bis sich dort jemand meldete. Hayesʹ Appell an alle Solaner, die Ruhe zu bewahren und sich unter keinen Umständen zu unüberlegten Handlungen hinreißen zu lassen, kam aus allen Lautsprechern. Die Mitglieder des Teams sahen sich betroffen an, als sie von dem urplötzlich aufgetauchten fremden Raumschiff hörten. Eine junge Frau blickte vom Bildschirm des Interkoms, offenbar über alle Maßen irritiert und mit den Gedanken ganz woanders. »Kannst du das Bild des Raumers herüberschalten?« fragte der Arkonide schnell. Im Hintergrund der Zentrale hörte er Hayes Anweisungen geben und heftig mit jemandem debattieren. Die Solanerin nickte nur. Ihr Gesicht verschwand und machte einem anderen Bild Platz. Atlan ließ es lange auf sich wirken, bevor er in die beklemmende Stille hinein fragte: »Hat vielleicht einer von euch ein solches Schiff schon einmal gesehen?« »Niemals«, sagte Bjo Breiskoll. Joscan Hellmut schüttelte den Kopf. Nockemann zwirbelte an seinem Schnauzbart. Federspiel wandte den Kopf ab. Der Ton aus der Zentrale war weiterhin zugeschaltet. Atlan hörte
Curie von Herling sagen, daß der Raumer weiter verzögerte, ohne auf Funkanrufe zu reagieren. Er füllte die Videofläche nun vollkommen aus – ein Doppeldiskus mit dunkelblau schimmernder Oberfläche. Die ins Bild eingespiegelten Meßwerte gaben einen Durchmesser von 220 Meter für die obere und 132 Meter für die untere Scheibe an, die aussah wie eine dünne, von einem Zylinder abgeschnittene Scheibe. Beide Teile waren durch ein 45 Meter durchmessendes Mittelstück verbunden. Die Gesamthöhe der Konstruktion betrug ebenfalls 132 Meter. »… werden könnte!« war Hayesʹ Stimme jetzt wieder zu hören. »Ich wiederhole: Wir unternehmen nichts, das uns als Feindseligkeit ausgelegt werden könnte!« »Keine Fahrt mehr!« meldete Curie van Herling. »Der Raumer hat in exakt fünf Kilometern Abstand von der SOL gestoppt!« »Kommunikationsversuche mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln fortsetzen!« befahl Hayes. Sekunden später verschwand das Bild des Doppeldiskus vom Schirm. Der High Sideryt blickte den im Konferenzraum Versammelten entgegen. »Ihr habt es gesehen und Curie gehört«, sagte er tonlos. »Atlan, ich wäre dir dankbar, wenn du in die Zentrale kommen könntest.« »Sofort, Breck. Ich fürchte, wir können die Suche nach Sternfeuer abbrechen. Carch hat den Raum wiedergefunden, in dem er sie entdeckte. Sie ist verschwunden.« »Aber bestimmt nicht von Bord der SOL. Wir haben jetzt ein neues Problem, das womöglich mit dem Spuk zusammenhängt. Vielleicht bekommen wir von den Unbekannten einen Hinweis auf ihr Schicksal. Es muß eine Verbindung bestehen, denn Insider befindet sich in Trance. Er ist nicht ansprechbar und murmelt unverständliche Worte.« »Das tat er auch schon, bevor er von Vasterstat sprach.« Hayes nickte heftig. »Und noch etwas: Seit einer dreiviertel Stunde bekommen wir
keine Meldungen mehr über Geistererscheinungen. Wir unterhalten uns hier in der Zentrale weiter.« Er schaltete sich aus. Nockemann lachte humorlos. »Ein wenig weit hergeholt, das alles, oder?« »Vielleicht nur auf den ersten Blick, Hage. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, so haben wir doch alle auf etwas Derartiges gewartet.« Atlan blickte zu Carch hinüber, dessen Bananenkörper auf den dünnen Beinen schwang. »Beobachtet ihn. Er muß zurück in sein Bad, aber laßt ihn mir nicht aus den Augen und meldet euch sofort, wenn er sich merkwürdig verhält.« »Er hat sich noch nie normal benommen«, kommentierte Hellmut. Atlan schmunzelte und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Er hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als sie sich vor ihm öffnete. Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als er die Gestalt sah, die in den Rahmen trat. Für einen Moment glaubte er, jetzt selbst eine Geistererscheinung zu haben. Doch das war kein Spuk. »Hallo«, sagte Sternfeuer müde und offenbar ziemlich verlegen. »Da bin ich wieder …« * Selten hatte der Arkonide jemanden so schnell aufspringen gesehen wie in diesem Augenblick Federspiel. Federspiel war als erster bei der Zwillingsschwester und fing sie auf, als ihre Beine nachgaben. Zusammen mit Atlan brachte er sie zu einem Sessel und setzte sie so behutsam ab, als müßte jeder zu harte Griff ihr die Knochen brechen. Das fremde Raumschiff und Hayes waren für einen Moment vergessen. Carch lief so schnell aus dem Raum, daß die Blicke der Menschen ihm kaum folgen konnten. Gleich darauf war ein Platschen zu hören.
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Nockemann und eilte ihm auch schon nach. »Vermutlich sieht er wieder den Geist in ihr und ist vor lauter Angst in seine Brühe getaucht. Würde mich übrigens nicht wundern, wenn Sternfeuer allein von dem Gestank hier zusammengebrochen wäre.« »Was?« entfuhr es Federspiel. »Du bleibst hier und kümmerst dich gefälligst um sie! Sieh sie dir an und …« »Ich sehe sie«, fuhr ihm der Genetiker ins Wort. »Und wenn ihr die Augen aufmacht, werdet ihr wie ich erkennen, daß ihr nichts fehlt außer einigen Stunden Schlaf. Ich bin bald zurück.« Atlan war einigermaßen verblüfft über Nockemanns Forschheit. Er wollte ihn zurückrufen, doch Bjo legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Er hat recht, Atlan. Carch braucht ihn im Augenblick nötiger. Sternfeuer sieht wirklich so aus, als wäre sie nur völlig erschöpft.« »Was wollt ihr eigentlich alle?« fragte die Telepathin mit leiser Stimme. Sie saß zurückgelehnt und schloß die Augen. »Zugegeben, ich hätte früher zurück sein sollen und weiß auch nicht, wo ich war, aber das ist noch lange kein Grund, um …« »Du weißt es nicht?« fragte Federspiel entgeistert. »Du weißt nicht, was mit dir geschehen ist?« »Nein, was denn? Ich war geistig weggetreten, oder? Bruder, tut mir einen Gefallen und laßt mich schlafen. Ich …« Ihre Arme fielen schlaff von den Lehnen. Ihr Kopf kippte herunter. »Sie ist bewußtlos!« rief Federspiel entsetzt aus. »Es fängt schon wieder an! Weiß der Himmel, was das alles zu bedeuten hat, aber sie ist schon wieder erstarrt.« »Nein.« Atlan blickte Bjo Breiskoll überrascht an. Der Katzer zuckte die Schultern. »Sie schläft sehr tief. Am besten bringen wir sie in ihre Kabine und warten, bis sie von selbst wieder aufwacht. Mehr können wir nicht tun. Ihr Bewußtsein ist nicht vom Körper losgelöst. Wenn du dich
beruhigen und auf sie konzentrieren würdest, Federspiel, müßtest du es ebenso spüren wie ich.« Der Zwilling ballte die Fäuste. Seine Schultern sanken herab. »Du hast recht«, gab er zu. »Ich spüre sie wieder.« »Was du vermutlich schon seit einer Dreiviertelstunde getan hättest, wenn die Sorge dich nicht verrückt gemacht hätte«, sagte Atlan. »Nämlich seit dem Augenblick, in dem die Geistererscheinungen an Bord aufhörten.« »Ihre Todesahnungen hingen damit zusammen«, flüsterte Federspiel. »Sie hat seit Wochen gewußt, was geschehen würde, oder?« »Etwas geahnt«, stimmte Atlan ihm nur halbwegs zu. »Bjo?« »Nichts da«, erklärte der Katzer. »Sie träumt nicht einmal. Auch vorher waren ihre Gedanken vollkommen unzugänglich. Uns bleibt nichts anderes übrig, als wieder zu warten. Du kannst nichts tun, Atlan – hier nicht.« Es fiel dem Arkoniden schwer, SOL‐City jetzt zu verlassen. Er mußte sich einen Ruck geben. »Ihr wißt ja, wo ich bin«, sagte er halblaut. Auf dem Korridor kam ihm Nockemann entgegen, der versicherte, er werde jetzt Sternfeuer untersuchen, nachdem er eine weitere Dosis des Beruhigungsmittels in CptʹCarchs Bad gegeben hatte und dieser ruhiger geworden war. »Ich bin aber schon jetzt davon überzeugt, daß sie vollkommen normal und gesund ist, Atlan«, erklärte der Genetiker. »Sag das auch Hayes, wenn der glaubt, daß der Grund für die Loslösung ihres Bewußtseins in dem fremden Schiff zu suchen sei. Wer immer es bewirkte, sorgte dafür, daß sie davon unversehrt blieb.« Vollkommen sicher war der Arkonide sich dessen nicht, als er die Zentrale betrat, wo die Hektik sich einigermaßen gelegt hatte. Der Doppeldiskus stand unverändert in fünf Kilometern Abstand zur SOL im Raum. Alle Kommunikationsversuche brachten keinen Erfolg.
Insider saß festgeschnallt in einem Sitz und befand sich nach wie vor in Trance. Allerdings gab er nun nichts mehr von sich. Was er geredet hatte, hatte nicht ausgereicht, um einen Translator mit der erforderlichen Mindestmenge der fremden Worte zu speisen. Atlan berichtete knapp von Sternfeuers Wiederauftauchen. Hayes hörte nur mit halbem Ohr zu, ohne den Blick von den Schirmen zu nehmen. In Gedanken war er dort drüben, auf dem Fremdraumer, und so überraschte seine Ankündigung nicht mehr, als er erklärte: »Ich werde ein Erkundungskommando hinüberschicken, wenn wir auch in einer Stunde noch keine positive Reaktion auf unsere Bemühungen haben. Ich werde selbst an Bord sein.« »Du wirst auf der SOL gebraucht, Breck«, widersprach Atlan. »Laß mich und Bjo gehen. Möglicherweise können wir nur durch einen Telepathen Kontakt aufnehmen. Außerdem möchte ich Sanny und Argan U dabeihaben. Beide können auf ihre Art nützlicher sein als ein Dutzend Solaner.« Nach kurzem Zögern stimmte der High Sideryt zu. Der Protest einiger Stabsspezialisten um Gallatan Herts blieb erfolglos, als Atlans Vorhaben auch aus den Zentralen der beiden SOL‐Zellen befürwortet wurde. Die Frist verstrich ohne Ergebnis. Atlan benachrichtigte Breiskoll, den Puschyden und die Molaatin in SOL‐City, wo Nockemann ihm bestätigen konnte, daß Sternfeuers Zustand den Umständen entsprechend tatsächlich zufriedenstellend sei. Mit Hayesʹ Segen und in frischen Kombinationen und leichten Raumanzügen begaben sich die vier in einen von der Zentrale angewiesenen Hangar, wo schon eine Space‐Jet einsatzbereit gemacht worden war. »Ich frage mich«, sagte Bjo, als das Beiboot sanft in den Weltraum gehoben wurde, »ob dort drüben überhaupt jemand lebt. Vielleicht ist es ein Totenschiff oder ein Robotraumer. Leben spüre ich nämlich nicht.« Die lichtübersäte Hantel der SOL stand wie eine glitzernde Wand
hinter der Space‐Jet, als sich diese dem Doppeldiskus bereits bis auf etwa die Hälfte der Distanz genähert hatte. Die Situation hatte etwas Unwirkliches. Das Schiff stand schräg zur Längsachse der SOL, die von einem Pol zum anderen selbst schon sechseinhalb Kilometer maß. So wirkten die beiden Raumer, zwischen denen die Jet sich bewegte, als hätten sie sich zu einem Rendezvousmanöver eingefunden. »Wir hätten besser in Raumanzügen hinüberfliegen können«, bemerkte Argan U. »Die Leute in der Zentrale müssen wirklich starke Nerven haben. Für sie muß die Annäherung dieses Doppeldeckers ja ausgesehen haben, als wollte er sie zerschmettern.« »Doppeldecker?« fragte Bjo irritiert. »Das ist wieder einer von den dummen Ausdrücken, den er den Solanern abgehört hat«, tadelte Sanny. Atlan konzentrierte sich auf den Flug. Es fiel selbst ihm nicht leicht, sich von den Größenverhältnissen nicht beeindrucken zu lassen. »Immerhin fünf Kilometer«, sagte er, »von denen wir noch zwei zurückzulegen haben.« »Wann willst du stoppen?« erkundigte sich Bjo. Er wußte es selbst nicht. Breiskoll versuchte unablässig, doch noch einen Funkkontakt herzustellen. Das gleiche geschah von der SOL aus, wo man darauf zu hoffen schien, daß die Annäherung des Beiboots den oder die Unbekannten an Bord des Doppeldiskusses doch noch aus der Reserve lockte. Nichts geschah. Atlan wäre bereit gewesen, selbst an ein Toten‐ oder Robotschiff zu glauben, wenn er nicht die unzähligen Lichter in der blauen Hülle vor sich schimmern gesehen hätte. Weiter glitt die Jet im Schutz ihrer Abwehrschirme auf den Fremdraumer zu. Wenn Bjo nicht auf allen Frequenzen funkte, hielt er den Kontakt zum Mutterschiff. Hayes konnte keine neuen Beobachtungen melden. Falls sich lebende Wesen an Bord des
Raumers befanden, so warteten sie. Aber warum? Der Abstand verringerte sich zusehends. Atlan drosselte die Geschwindigkeit. Trotz seiner im Vergleich zur SOL fast lächerlich geringen Größe wirkte der Doppeldiskus, der nun schräg über der Space‐Jet stand, drohend und mächtig. Durch die transparente Kuppel waren jetzt unzählige Einzelheiten zu erkennen. »Noch achthundert Meter«, sagte Sanny. »Willst du auf einer der Plattformen landen, Atlan?« »Bjo?« »Nichts. Keine Reaktion und keine Gedankenimpulse, wenn du das meinst. Aber das hat nicht viel zu besagen. Sternfeuers Gedanken konnte ich ja auch nicht empfangen, als sie als bloßes Bewußtsein durch die SOL irrte.« »Oha!« machte Argan U. »Was, oha?« »Der Vergleich. Du hast dich soeben verraten, mein Freund. Du denkst, daß an Bord des Doppeldeckers bloße Bewußtseine leben.« »Ach, Unsinn!« wehrte der Katzer ab – etwas zu heftig. »Wir nähern uns bis auf dreihundert Meter«, entschied Atlan. »Wenn auch dann keine Reaktion erfolgt ist, umkreisen wir das Schiff und vermessen es. Geschieht auch dann nichts, versuchen wir anzudocken.« Hayes mahnte zur Vorsicht. Die Unterseite des unteren, kleineren Diskus zog wie eine stählerne Landschaft mit vielen unterschiedlich großen und geformten Erhebungen über den vieren dahin. Als der Abstand von dreihundert Metern erreicht war, nickte Atlan grimmig. »Also wollen sie es nicht anders. Wir sehen uns zuerst die untere Scheibe an, dann die obere.« »Ich weiß nicht …«, murmelte Bjo. Er brauchte nichts weiter zu sagen. Plötzlich spürten sie alle die Eiseskälte, die ihnen von dem blauen Metall entgegenschlug. Atlan versuchte ruhig zu bleiben. Nichts deutete auf einen
bevorstehenden Angriff hin. Es war unlogisch, einen solchen gerade jetzt zu erwarten – in unmittelbarer Nähe des Raumers, wo er im Fall einer Explosion der Jet selbst gefährdet war. Die Fremden hätten viel früher zuschlagen können, wäre dies in ihrem Sinn gewesen. Doch das Gefühl der Bedrohung blieb und verstärkte sich noch. Atlan preßte die Zähne aufeinander und zog die Jet in die Höhe, als sie unter der kleineren Plattform vorkam. Die Aufzeichner liefen. Alle möglichen Werte wurden gespeichert, Bilder direkt zur SOL gefunkt. Wie auch bisher, war keinerlei nennenswerte Energieentfaltung mehr zu orten, seitdem das Schiff zum Stillstand gekommen war. Um so alarmierter reagierten die Erkunder, als die Instrumente urplötzlich wild auszuschlagen begannen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden schier unglaubliche Werte angezeigt. Bjo Breiskoll stieß Atlan mit dem Ellbogen an – und erstarrte vor Entsetzen. Der Arkonide hing schlaff in den Gurten. Seine weit aufgerissenen Augen waren wie die eines Toten. Sanny bemerkte die Veränderung als letzte. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und deutete hinauf zur oberen Scheibe. »Eine dieser Antennen hat sich auf uns gerichtet! Seht doch! Bjo, Atlan!« »Er sieht nichts mehr«, brachte der Katzer heiser hervor. »Und das da oben ist keine Antenne, sondern eine Waffe.« Das Bewußtsein sah, hörte und fühlte ohne die Sinnesorgane des Körpers, der unter ihm zurückblieb. Es sah den Körper, aus dem es gerissen worden war, sah die entsetzten Gesichter der Freunde, sah die Space‐Jet immer kleiner werden und scheinbar in die endlose Tiefe des Weltalls stürzen. Atlan hatte insgeheim die ganze Zeit über mit etwas Ähnlichem gerechnet. Jetzt jedoch, als er vom Sog aus dem Nichts immer weiter fort von allem Vertrauten gerissen wurde, spielten diese nüchternen Erwartungen und Überlegungen keine Rolle mehr. Nackte Angst
würgte ihn. Er wollte zurück, sträubte sich voller Grauen gegen das Schicksal, das ihm widerfuhr. Eine endgültige Trennung, Abschied vom Leben, wie er es mehr als zwölftausend Jahre lang gekannt hatte. Dieser eine Gedanke beherrschte ihn, löschte alle rationalen Überlegungen aus. Atlan wollte sich festklammern, aber er hatte keine Hände mehr, und um ihn herum war nur die Kälte. Er wollte schreien, doch keine Lungen preßten das Entsetzen aus der Kehle des Körpers, den er nun schon nicht mehr als solchen zu erkennen vermochte. Weiter riß es ihn fort, in schwindelnde Höhen, weit über das Boot, den Doppeldiskus und die mächtige Hantel der SOL. Die drei Schiffe glänzten wie Juwelen vor dem Funkeln der fernen Sterne und Galaxien. Bilder, Gedankenfetzen und Erinnerungen wirbelten um den Schmerz und die Angst. Bilder von Menschen, die den Tod überlistet und davon berichtet hatten, wie ihr Bewußtsein, ihre Seele sich löste und in ein wundervolles, überweltliches Licht hineintrieb. Gedanken, die, zusammenhanglos und wirr zwar, immer wieder zu einem Punkt zusammenfanden: die Vorstellung, die auch ein Unsterblicher sich vom Augenblick des Todes und dem Danach gemacht hatte. Ein Name: Ernst Ellert. Die Erinnerung an die Begegnungen mit dem Reisenden durch die Ewigkeiten und dessen Berichte. Aber um Atlan herum war kein solches Licht, kein Meer der Freude und der Erfüllung, kein leuchtender Punkt am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Da war nur Chaos, das im Zentrum seines Seins entstand. Und er war nicht Ellert, dem es gegeben schien, als bloßes Bewußtsein durch das Universum zu reisen. Sein Platz war an Bord der SOL, in seinem Körper, unter den Menschen! Helft mir doch! schrie es in ihm. Bjo, Sanny, Argan – holt mich doch zurück! Er hatte kein Zeitgefühl mehr, keinen Sinn für Entfernungen. Er
wußte nicht, wie lange er sich so dagegen sträubte, eine Realität anzuerkennen, die nicht von ihm geschaffen worden war und gegen die er nichts auszurichten vermochte. Plötzlich war Stille in ihm. Eine Ruhe, so tief wie vorher das Entsetzen, ergriff von ihm Besitz, und er sah, daß er noch immer über den Schiffen war – und nicht länger allein. Er »sah« den anderen nicht. Es war ein Spüren, ein Wissen selbstverständlicher als jede normalsinnliche Wahrnehmung. Der andere näherte sich, umschwebte ihn und drang in ihn ein. Atlan gewann die Klarheit des Denkens zurück und wußte, daß sein Bewußtsein im Augenblick der größten Annäherung an das fremde Raumschiff vom Körper getrennt worden war – ebenso wie es mit Sternfeuers Geist geschehen war. Nun empfand er es als etwas Selbstverständliches. Ohne jede Erregung konstatierte er den Zusammenhang. Allein die Tatsache, daß nur er betroffen war und nicht auch seine drei Begleiter, verwirrte ihn. Wir hatten recht! dachte er, an den anderen gewandt. Wir wagten nicht wirklich daran zu glauben, aber wir wußten es alle! Du hast es bewirkt, mit deinem Raumschiff – aber über welche Entfernung! Etwas regte sich in ihm, etwas, das nicht aus ihm selbst herauskam. Atlan empfand die Enttäuschung dennoch genauso, als wäre sie seine eigene. Es war ein Fehler! wisperte es lautlos in ihm. Was? Er versuchte, den anderen zu erfassen. Obwohl näher, als sich dies zwei Körperliche jemals sein könnten, waren sie durch eine unsichtbare Barriere voneinander getrennt. Atlan hatte den Eindruck, daß der andere alles von ihm wußte, sich selbst aber mit einem Mantel der Unantastbarkeit umgab. Nur eines fühlte Atlan instinktiv: dieser andere war wie er materielos, doch nicht nur vorübergehend. In eurer Space‐Jet sind die falschen Wesen, empfing er. Nicht jene, die
ich erwartete! Wozu? dachte das Bewußtsein. Unwillkürlich entstanden die Gedankenbilder von Sternfeuer und Insider in ihm. Hatte es Sinn, dies vor dem anderen zu verbergen? War es überhaupt möglich? Als er keine Antwort erhielt, dachte Atlan noch intensiver an sie. Doch auch das blieb ohne Erfolg. Nur wenn die Richtigen zu mir kommen, vernahm er, kann die Vereinigung stattfinden und der Schalter unschädlich gemacht werden! Schalter! Ein Impuls, eine Frage mit ungestümer Wucht. Die Erinnerung an das, was Bjo aus Carchs Gedanken herausgelesen hatte. Vereinigung! Du hast uns die Botschaft übermittelt! Was erwartest du? Was ist der Schalter, was ist Vasterstat? Wer soll sich mit wem vereinigen? Sage es! Sage es, wenn du gekommen bist, um uns zu helfen oder Hilfe von uns zu verlangen! Die Antwort war Schweigen. Atlans Bewußtsein spürte, wie der andere sich von ihm zu lösen begann. Es wollte nach ihm greifen, ihn zurückhalten, ihn zwingen, die Antworten auf all die ungelösten Fragen zu geben. Was sind die Gefahren des Bösen? Es war sinnlos. Der andere trieb davon. Bringe die Richtigen! hallte es in ihm. Nur dann können wir gemeinsam gegen … Der Rest war bereits unverständlich – oder nicht mehr für Atlan bestimmt, dessen quälende Fragen den Materielosen nicht mehr einholten. Stille umgab das Bewußtsein – nie gekannt und doch mit so vielen Fragen angefüllt. Ein Kreis schien sich zu schließen und doch erst auf zutun. Was hatte an Bord der SOL seinen Anfang genommen? Was begann hier? Das Bewußtsein trieb über den Lichtern der Schiffe. Sinne, die kein Körperlicher jemals zu aktivieren vermochte, tasteten in die Weiten des Alls, richteten sich auf den fremden Raumer, ohne den anderen
wiederfinden zu können. Und doch war er da, verborgen hinter unsichtbaren und unbegreiflichen Barrieren. Verzweifelt versuchte Atlan, seine Existenz als bloßes Bewußtsein zu ergründen, eine Möglichkeit zu finden, sich aus eigener Kraft zu bewegen, auf den Doppeldiskus zu. Es war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Jähe Hoffnung keimte noch einmal in ihm auf, als er wieder glaubte, nicht allein zu sein. Jemand – oder etwas – beobachtete ihn. Doch bevor er sich auf diese Quelle konzentrieren vermochte, waren die Kräfte wieder da, die ihn mit sich rissen – diesmal jedoch nicht weiter von den drei Schiffen fort, sondern genau auf eines von ihnen zu, auf das kleinste. Atlan stürzte darauf zu, sah seinen Körper und … * »Atlan!« Die Stimme kam wie aus weiter Ferne. Er kannte sie. Sie gehörte … »Atlan!« Jemand rüttelte ihn an den Schultern. Er schnappte nach Luft, schlug die Augen auf und sah Bjo Breiskoll über sich gebeugt, der sich von seinem Sitz losgeschnallt hatte. »Er lebt!« rief jemand aus dem Hintergrund. »Sanny, er lebt!« Das war … Argan U. Die Benommenheit wich von ihm. Atlans Arme kamen ganz langsam hoch, legten sich auf die Lehnen und schoben den trägen Körper an der Rückenlehne in die Höhe. »Ich muß mich wohl erst wieder an ihn gewöhnen«, hörte er sich sagen und erschrak fast vor dem Klang der eigenen Stimme. Eigentlich war es lächerlich. Er konnte nur für ganz kurze Zeit von seinem Körper getrennt gewesen sein – und dennoch kam es ihm
wie eine halbe Ewigkeit vor. Er bewegte die Finger, die Füße. »Ich hatte eine Begegnung«, erklärte er. »Wo?« fragte Bjo bestürzt. »Um Himmels willen, wo?« »Was weiß ich! Irgendwo dort oben über den Schiffen, falls es für ein bloßes Bewußtsein eine räumliche Dimension gibt. Ein ebenfalls Materieloser drang in mein Denken ein und verschwand wieder, nachdem er enttäuscht feststellte, daß wir nicht die Richtigen seien – nicht die, die er erwartet hatte.« Atlan berichtete so knapp wie möglich über den kurzen Gedankenwechsel. »Und diese Richtigen befinden sich an Bord der SOL«, stellte er abschließend fest. »Sternfeuer gehörte zu ihnen. Und sie war es auch, von der ich mich beobachtet fühlte, nachdem der Materielose in sein Schiff zurückgekehrt war.« »Du bist dir da ganz sicher?« fragte Sanny, die sich als erste fing. »Daß es aus dem Doppeldiskus kam?« »Nenne mir eine andere Möglichkeit, Sanny. Ich sehe keine. Und was Sternfeuer betrifft, so werden wir bald wissen, ob ich mich nur beobachtet fühlte, oder ob sie tatsächlich da war.« »Wir kehren zur SOL zurück?« fragte Bjo. »Das wird Breck freuen. Du hättest ihn toben hören sollen, als du wie ein Toter in deinem Sitz hingst. Ich habe die Verbindung schließlich unterbrochen.« »Dann stelle sie wieder her und sage ihm, daß wir kommen. Er soll Hage fragen, ob Sternfeuer ebenfalls wieder in diese Starre verfallen ist oder war. Außerdem will ich, daß sie und Insider zusammengebracht werden, sobald wir an Bord sind.« »Da ist noch etwas, das du wissen solltest«, sagte der Katzer. »In dem Augenblick, in dem dein Körper erstarrte, war einer dieser riesigen Projektoren an dem oberen Diskus auf uns gerichtet. Gleichzeitig schlugen die Energieorter aus. Wir haben keine Werte, mit denen wir viel anfangen können. Aber für mich steht fest, daß dieser Projektor die Loslösung deines Bewußtseins bewirkte.« »Was dafür spricht, daß der Materielose von diesem Schiff kam.
Die Energieentfaltung muß auch in der SOL angemessen worden sein. Vielleicht wissen Breck und die anderen schon mehr.« * Breckcrown Hayes warf Bjo Breiskoll einen nicht gerade sehr freundlichen Blick zu, als die vier Rückkehrer die Zentrale betraten. Dann musterte er Atlan mit einem Stirnrunzeln. »Ich bin nicht recht schlau aus dem geworden, was ihr bisher berichtet habt«, sagte er. »Dein Bewußtsein ist also auch aus dem Körper gelöst worden?« Atlan mußte noch einmal erzählen und seine Eindrücke während der Körperlosigkeit genau schildern. »Was ist mit Sternfeuer?« fragte er schließlich. »Das, was du erwartet hat. Sie befand sich wieder in diesem Zustand des Scheintods. Jetzt ist sie wach und reagiert völlig normal auf ihre Umwelt, wie Nockemann versichert. Ich habe Insider nach SOL‐City bringen lassen, aber die beiden noch nicht zusammengeführt.« »Danke, Breck. Ich habe noch einen vergessen, der dazugehört. Sanny mußte mich erst daran erinnern, als sie eine ihrer unmöglichen Logikberechnungen anstellte.« »Carch?« vermutete Hayes. »Genau der. Der Einfluß, vor dem er sich fürchtete, kann nur auf den Materielosen zurückzuführen sein. Außerdem nannte er uns, ja, ohne es zu wissen, diese Begriffe. Insider sprach von Vasterstat, und der Materielose wartet darauf, daß die Richtigen zu ihm kommen, um eine Vereinigung herbeizuführen und diesen ominösen Schalter unschädlich zu machen. Sanny ist übrigens aufgrund ihrer Berechnungen jetzt fest davon überzeugt, daß der Doppeldiskus nur von einem einzigen Wesen gesteuert wird – nämlich von diesem Materielosen.«
»Das hast du selbst schon vermutet.« »Schon«, gab der Arkonide zu. »Aber völlig sicher war ich mir dessen nicht, zumal der Fremde auf meine entsprechenden Gedanken nicht reagierte. Niemand von uns begreift Sannys Fähigkeiten, aber sie hat uns noch nie etwas Falsches errechnet, oder?« Hayes schwieg und drehte sich zu den Schirmen um, auf denen der Doppeldiskus zu sehen war. »Das ist mir alles zu phantastisch!« begehrte Gallatan Herts auf. »Wir sollten uns nicht darauf einlassen.« »Worauf?« erkundigte sich Bjo. »Na, diese drei zu dem Unbekannten zu bringen. Das habt ihr doch vor, oder warum wollt ihr sie zusammenführen?« »Weil ich mir davon Antworten erhoffe«, sagte Atlan. »Vielleicht löst die Gegenüberstellung etwas in ihnen aus.« Herts lachte rauh und winkte ab. »Bevor du zu ihnen gehst, solltest du dir anhören, was wir inzwischen feststellen konnten«, sagte Hayes. »Ganz untätig waren wir auch nicht. Wir haben mit SENECAs Hilfe den Doppeldiskus exakt vermessen und auch die Energieemissionen während der Zeit analysiert, die du als losgelöstes Bewußtsein außerhalb deines Körpers verbrachtest. Dieser Zustand dauerte übrigens genau sieben Minuten und fünfzehn Sekunden an.« »Moment«, unterbrach Bjö ihn. »Die Emission dauerte nur einen Sekundenbruchteil!« Hayes lächelte schwach und ließ sich von einem Mann eine Folie reichen. Er hielt sie so, daß Atlan, Breiskoll, Sanny und Argan U die darauf verzeichneten Kurven sehen konnten. »Der Primärstoß dauerte einen Sekundenbruchteil, Bjo. Genauer gesagt, zwölf Nanosekunden. Mit diesem Stoß wurde dein Bewußtsein aus dem Körper gelöst, Atlan. Während der gesamten Zeit, die verging, bis du in deinen Körper zurückkehrtest, bestand aber ein viel schwächerer Energiefluß fort, den nur die
empfindlichen Instrumente der SOL registrieren konnten. Er kam übrigens nicht aus dem großen Fokussierungsarm, den ihr auf euch gerichtet saht, sondern von einem der kleineren Projektoren, den wir ›Dislozierungsprojektor‹ genannt haben.« »Dislozierungsprojektor?« Hayes nickte bekräftigend. »Eine Waffe, die für die Dauer des Einsatzes Körper und Geist eines Wesens, auf das sie gerichtet ist, voneinander trennt. Die Vereinigung erfolgt erst nach Abschalten, was die zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Ende des Energieflusses und deinem Erwachen im eigenen Körper beweist, Atlan. Nach der Rückkehr des Bewußtseins treten keine geistigen oder körperlichen Schäden auf. Der Körper des Betroffenen wirkt tot oder scheintot, zerfällt oder verwest jedoch auch bei längerer Trennung offenbar nicht.« »Und dieser Fokussierungsarm?« fragte Sanny. »Vermutlich ein Thermogeschütz. Seid froh, daß unser Unbekannter keine Veranlassung sah, von ihm Gebrauch zu machen.« »Wer Waffen besitzt, gebraucht sie auch«, knurrte Herts. Atlan nahm die Folie und studierte sie, bevor er sie an Sanny weitergab. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und seufzte. »Das ist alles ein bißchen viel auf einmal, Breck. Wir ziehen uns jetzt nach SOL‐City zurück, wo ich Sternfeuer, Insider und Carch zusammenbringe. Sternfeuer spukte während ihrer Starre nicht wieder in der SOL herum?« »Nein. Es gibt keine Geistererscheinungen an Bord mehr.« »Und die Solaner?« »Sie sind unruhig und fordern den sofortigen Aufbruch. Willst du es ihnen verdenken? Lange kann ich sie nicht mehr hinhalten.« Atlan gab seinen Begleitern ein Zeichen. Schon im Ausgang, blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.
»Habt ihr eine Vorstellung von der Reichweite dieses Dislozierungsprojektors, Breck? Er wirkte auf Sternfeuer, als der Doppeldiskus vielleicht noch tausend Lichtjahre von uns entfernt war …« * Sternfeuer befand sich im Konferenzraum, den Roboter inzwischen vom penetranten Gestank der gelben Flüssigkeit befreit hatten. Insider und Carch, der sein Bad verlassen hatte und nach Nockemanns Versicherung wieder »völlig der Alte« war, warteten in getrennten Kabinen. Atlan gönnte sich eine kurze Ruhepause und tastete sich an einem Getränkeautomaten einen starken Kaffee. Es erschien ihm ratsam, sich zunächst einmal mit der Telepathin zu unterhalten, was dadurch erschwert wurde, daß Federspiel nun mit Argusaugen über sie wachte und sich vehement dagegen sträubte, daß ihr Leben wegen eines Experiments aufs Spiel gesetzt würde. Sie saß dem Arkoniden gegenüber, als erwartete sie ungeduldig seine Fragen. Gleichzeitig jedoch war ein gewisser Trotz in ihren Augen zu sehen. »Ich erinnere mich auch jetzt an nichts«, begann sie von sich aus. »Man hat mir ja vieles erzählt, und ich kann nur sagen, ich halte es für Unsinn! Etwas geschieht mit mir, das streite ich nicht ab. Aber daß ich Carch und so vielen anderen als Geist erschienen sein soll, noch dazu als einer, der Carch lockte, kann und will ich nicht glauben. Du warst von deinem Körper getrennt, Atlan. Du erinnerst dich an alles, was dein Bewußtsein während dieser Zeit erlebte. Aber dann müßte ich es ja auch können!« »Die Betroffenen haben dich einwandfrei als den Spuk wiedererkannt, der ihnen erschien«, stellte Atlan nüchtern fest. »Das sind die Tatsachen.«
»Massenhysterie! Sie glauben, mich gesehen zu haben. Sie waren verunsichert und griffen nach dem Strohhalm, den Breck und du ihnen reichtest. Ihr hättet ihnen ein Bild von einem beliebigen anderen zeigen sollen, und sie hätten beschworen, daß er ihnen erschien.« »Und deine Todesahnungen?« »Die stehen auf einem anderen Blatt. Ich sagte ja, daß etwas mit mir geschieht. Aber darum muß ich noch nicht in der SOL herumspuken.« Sie wußte es besser. Vor den Erkenntnissen der letzten Stunden konnte auch sie sich nicht verschließen. Warum also sträubte sie sich so sehr gegen die Einsicht? »Du quälst sie!« fuhr Federspiel auf. »Siehst du das nicht?« Atlan geriet ins Schwanken. Konnte er es wirklich verantworten, die Telepathin zu Carch und Insider zu bringen? Sie nahm ihm die Entscheidung ab. »Bring uns drei zusammen, und du wirst selbst sehen, daß ihr euch alle etwas vormacht. Trink deinen Kaffee aus und laß uns gehen. Je eher diese lächerliche Geschichte vorbei ist, desto besser.« »Aber …!« rief Federspiel. »Es muß sein!« Sie stand auf und ging zum Ausgang. Atlan folgte ihr mit gemischten Gefühlen. Hage Nockemann, Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll und Sanny warteten in dem Raum, der für die Gegenüberstellung vorgesehen worden war. Sternfeuer lehnte sich trotzig mit dem Rücken gegen eine Wand und tat so, als ginge sie das alles nichts an. Das änderte sich schlagartig, als Argan U mit CptʹCarch erschien. Der Extra sah sie und schrak zurück. U schloß die Tür, um ihn am Herauslaufen zu hindern. »Sag ihnen, daß es Unsinn ist, Carch!« forderte Sternfeuer ihn auf. »Du … lebst!« zirpte es schrill aus Carchs Rückenmembrane. »Ja, warum denn nicht! Carch, wenn du jetzt auch noch …«
Sie verstummte, als nun auch Insider erschien. Der Grünhäutige wirkte abgespannt, müde. Atlan beobachtete ihn, als er sich setzte. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte er dabei verblüfft, wie Sternfeuer und Carch ruhiger wurden. Die drei vermieden es, sich gegenseitig anzusehen. Niemand sagte mehr etwas. Atlan brach das Schweigen, als er sich anschickte, sie mit den Fakten, so wie sie sich bisher darstellten, zu konfrontieren. Er brachte den ersten Satz nicht zu Ende. Federspiel schrie gepeinigt auf, als Sternfeuers Körper erschlaffte und zu Boden sank. Im gleichen Moment knickten auch Carchs Beine ein. Der Bananenkörper rutschte ein Stück über den glatten Belag und zog dabei eine gelbe Spur hinter sich her, bis er vollkommen reglos liegenblieb. Sofort war Hage Nockemann bei ihm. Federspiel stand breitbeinig vor der Zwillingsschwester und schien dazu bereit zu sein, jeden mit seinen Fäusten aufzuhalten, der es wagen sollte, sich ihr zu nähern. Doch weder ihm noch Sternfeuer, weder Carch noch Nockemann galt in diesen Sekunden Atlans Verblüffung. Der Arkonide starrte aus weit aufgerissenen Augen Insider an, der sich erhoben hatte und wie einem Jungbrunnen entstiegen wirkte. Da war nichts mehr von der Erschöpfung und Müdigkeit, die er eben noch gezeigt hatte. Der Extra stand kerzengerade in der Mitte des Raumes, und in seinen Augen war ein Feuer, das Atlan einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Atlan machte unwillkürlich einen Schritt zurück. »Will uns vielleicht endlich jemand sagen, was das zu bedeuten hat?« rief Joscan Hellmut aus. Insider drehte sich langsam zu ihm um. Ein geheimnisvolles Lächeln umflog seine Lippen. »Wißt ihr es denn nicht?« fragte er ruhig. »Es ist begonnen.« Er deutete auf die beiden reglosen Körper am Boden. »Sie sind in mir. Ich bin nun drei Wesen in einem. Die Hülle, die ihr vor euch seht, ist
jedoch nur das Transportmittel. Bringt mich nun in den Hort des Erwachten – in Oggars HORT!« 8. Hinter Atlans Stirn jagten sich die Gedanken. Zu vieles galt es zu verarbeiten und in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Zu phantastisch waren die Perspektiven, die sich hier und jetzt für ihn auftaten. So klammerte sein Bewußtsein zunächst einmal alles das aus, was unbegreifbar erschien – und hielt sich an das, was klar und deutlich zu erkennen war. Sternfeuer und Carch als Bewußtseine in Insider! Der Hort des Erwachten – das war ein weiteres Stück in dem Puzzle, dessen Teile von Carch hingeworfen worden waren. Der Erwachte – wer anderer konnte nun noch damit gemeint sein als der geheimnisvolle Beherrscher des fremden Schiffes, der Materielose! Insider hatte ihm einen Namen gegeben: Oggar. Das Schiff war Oggars HORT. Die Vereinigung hatte stattgefunden – oder bedurfte es noch einer weiteren, einer vierten Komponente? »Nein!« schrie Federspiel. Wie von Sinnen wollte er sich auf Insider stürzen. Bjo Breiskoll konnte ihn gerade noch zurückreißen. »Nein! Du gibst meine Schwester frei, oder ich schwöre dir, ich bringe dich um! Du wirst mit ihr nirgendwohin gehen!« Bjo schlug ihm drei‐, viermal mit der flachen Hand ins Gesicht. Federspiel wand sich unter seinem Griff. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Dann lag er besinnungslos in Breiskolls Armen. »Es ist wahr«, sagte Bjo. »Ich kann dumpf fühlen, daß Sternfeuer und Carch in Insider sind, aber nicht nur sie. Da ist noch jemand – oder etwas.« »Oggar«, hörte Atlan sich flüstern. »Der Materielose aus dem Schiff. Er muß in ihnen präsent sein wie vorhin in mir.«
»Bringt mich zum HORT!« wiederholte Insider seine Forderung. Erst jetzt wurde dem Arkoniden bewußt, daß die Ruhe, die der Grünhäutige ausstrahlte, die Emotionslosigkeit eines Wesens war, das nicht mehr wirklich der Herr seines Willens war – die Ruhe eines Gelenkten. »Du wirst doch nicht darauf eingehen?« fragte Hellmut. »Du kannst sie doch nicht ins Ungewisse schicken!« »Wer sagt uns, daß wir diese Wahl noch haben?« lautete Bjos Gegenfrage. »Daß das, was Insider kontrolliert, nicht längst alle Weichen gestellt hat? Ist es der Materielose aus dem Schiff, dann haben wir genau das getan, was er von uns wollte – die drei zusammengebracht.« War es meine eigene Entscheidung? fragte Atlan sich betroffen. Oder die des anderen – OGGARS? »Wir müssen sie eben wieder voneinander trennen«, beharrte Hellmut. »Der Fremde mag vieles können, aber kaum Insiders Körper entmaterialisieren lassen. Insider sagte ja selbst, er sei nur ein Transportmittel. Wenn wir ihn also einsperren, kann sein Oggar auf ihn warten, bis er schwarz wird!« »Ich habe nicht die Absicht, ihn ziehen zu lassen«, sagte Atlan. »Nicht, solange uns nichts über den Sinn und den Zweck dieser undurchsichtigen Geschichte bekannt ist. Wir wissen nicht, wer dieser Oggar ist, warum er in diesem Raumsektor auftauchte und was er von uns und der SOL will. Ich hatte bei dem viel zu kurzen Kontakt mit ihm zwar nicht den Eindruck, daß er negative Absichten verfolgt oder uns gegenüber feindlich eingestellt ist, aber das reicht lange nicht aus, um mir ein Bild zu machen. Falls er von Hidden‐X geschickt wurde, wird er sein wahres Gesicht erst viel später zeigen.« Bjo zog eine zweite Möglichkeit in Betracht: »Immerhin warteten wir insgeheim ja die ganze Zeit über auf eine Reaktion auf die Vertreibung von Hidden‐X.« »Du wirst uns nicht aufhalten können, Atlan«, sagte Insider ruhig.
»Glaube es uns und erspare dir eine unnötige bittere Erfahrung. Ich fordere dich zum letztenmal auf, uns zum HORT zu bringen.« Atlan musterte ihn schweigend. Insider hielt seinem Blick stand. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, von drei – oder vier – Wesen in einem Körper angesehen zu werden. Unwillkürlich mußte der Arkonide an die Konzepte von ES denken. »Wenn du auch Oggar bist«, sagte er schließlich, »dann erkläre uns, was du von uns willst. Was ist der Schalter, was Vasterstat?« »Es tut mir leid«, antwortete Insider. Seine Miene drückte tatsächlich Bedauern aus, aber auch Entschlossenheit und Kompromißlosigkeit. »Ich bin nicht Oggar. Vielleicht noch nicht.« Atlan begriff die Warnung einen Augenblick zu spät. Und selbst falls er sofort reagiert hätte, wäre der Grünhäutige mit den drei Bewußtseinen nicht mehr zu halten gewesen. Die Tür stand offen. Insider warf sich aus dem Stand herum und rannte so schnell aus dem Raum, daß keiner der Nachsetzenden die geringste Chance hatte. Atlan war mit drei, vier Sätzen im Korridor, sah das Mischwesen auf dessen Ende zulaufen und gab Alarm. Zwei Solaner tauchten vor dem auffahrenden Schott auf, hinter dem die Transmitterstation lag, und wurden regelrecht überrannt. Paralysatorschüsse fauchten, doch als der Arkonide außer Atem die Station erreichte, konnte er nur noch feststellen, daß Insider bereits abgestrahlt worden war. »Hinterher!« rief Bjo Breiskoll. Er rief die Koordinaten der Gegenstation ab. Atlan fluchte. »Es hat keinen Sinn«, hörte er Nockemann sagen. »Oder habt ihr etwa nicht bemerkt, daß Insider mit den Bewußtseinen der beiden anderen auch deren Kräfte und Fähigkeiten in sich aufgenommen hat?« Er nickte bekräftigend, als er die ungläubigen Blicke auf sich gerichtet sah. »Ohne Carchs Schnelligkeit wäre er uns niemals davongelaufen, und er floh vermutlich genau in dem Augenblick, in dem du daran dachtest, ihn festzuhalten, Atlan.« Der Arkonide nickte betroffen.
»Ja, Hage. In dem Moment, in dem ich begriff, was seine Worte bedeuteten.« »Dann werden wir uns von jetzt an darauf einzustellen haben, daß er nicht nur seine eigenen Stärken besitzt, sondern auch Carchs Schnelligkeit und Reaktionsvermögen und Sternfeuers telepathische Fähigkeiten.« »Dann stellen wir uns eben darauf ein! Ohne ein Beiboot kommen sie nicht von Bord der SOL. Ich unterrichte jetzt Breck, und der wird mit uns zusammen schon dafür sorgen, daß sie nicht ins Verderben rennen!« Nockemann sagte nichts mehr darauf. Das taten seine Blicke besser als alle Worte. * Vielleicht hätte es eine Möglichkeit gegeben, Insider noch aufzuhalten, wenn Hayes sofort nach der alarmierenden Meldung reagiert hätte. Kaum aber, daß Atlan in der Zentrale erschienen war und gesagt hatte, was mit dem Extra, Sternfeuer und Carch geschehen war, löste sich die ganze Anspannung der letzten Stunden in einem heftigen Streit unter den Stabsspezialisten. Diejenigen, zu deren Sprecher sich Gallatan Herts gemacht hatte, forderten mit noch mehr Nachdruck als bisher, Flatterfeld zu verlassen und eine Galaxis anzufliegen, die für sie schon als ihr nächstes Ziel feststand. Dabei wurde ihre Position dadurch gestärkt, daß sie die Mehrheit der Solaner inzwischen auf ihrer Seite wußten. Sie verlangten offen, Insider, Carch und Feuerspiel ihrem Schicksal zu überlassen. Breckcrown Hayes widersprach nur noch mit halbem Herzen. Schließlich wandte er sich mit einem Schulterzucken an Atlan. »Du hörst es selbst, und so ist die Stimmung im ganzen Schiff. Eine weitere Suchaktion würde das Faß zum Überlaufen bringen.
Ich bin verantwortlich für die SOL und ihre vielen tausend Bewohner, Atlan – nicht nur für drei von ihnen. Du kennst mich lange genug und weißt, daß ich mir eine Entscheidung nicht leicht mache, aber …« »Du läßt sie nicht suchen?« schnitt der Arkonide ihm das Wort ab. »Du läßt die Hangarschotte nicht blockieren?« »Dazu ist es ohnehin schon zu spät«, rief Curie van Herling aus dem Hintergrund. Sie nahm eine Schaltung vor. Eine Space‐Jet war zu sehen, die sich schnell von der SOL auf den Doppeldiskus zu entfernte. »Sie sind schon draußen.« »Danke!« preßte Atlan voller Verbitterung hervor. »Ich wußte nicht, wie bald ich mich wieder an Chart Deccon erinnern würde!« Er fuhr auf dem Absatz herum und verließ die Zentrale. Hayes rief: »Was soll das heißen? Was hast du jetzt vor?« »Sie zurückholen!« »Aber das ist Wahnsinn! Wir haben die Startvorbereitungen schon …« »Dann verschwindet doch!« schrie Atlan ihn an. Der Zorn und die Enttäuschung übermannten ihn endgültig. Ohne ein weiteres Wort stampfte er aus dem Ausgang, und nur zehn Minuten später jagte er eine Space‐Jet in den Weltraum hinaus, nur begleitet von Bjo Breiskoll. »Sie werden es nicht wagen, ohne uns abzufliegen«, sagte der Katzer erregt. »Das nicht!« »Wenn du wüßtest, wie egal mir das im Augenblick ist!« Bjo sah ein, daß es keinen Sinn hatte, Atlan in dessen Zustand anzusprechen. Er schwieg und umklammerte die Lehnen seines Sitzes, als der Arkonide die Jet mit unverantwortlichen Werten noch weiter beschleunigte. Der Doppeldiskus wuchs vor ihnen beängstigend schnell nach allen Seiten hin, und dicht über der unteren Plattform gewann Insiders Beiboot allmählich an Leuchtkraft. Doch es hätte schon
eines Teleporters bedurft, um den Extra jetzt noch zurückzuholen. Als Atlan den Antrieb der eigenen Jet beim Bremsmanöver kurz vor dem Diskus fast ruinierte, hatte Insider das Boot schon gelandet, kam aus der Bodenluke und rannte im Schutz seines Raumanzugs auf ein offenes Schott in der Oberseite der Plattform zu, aus dem helles, weißes Licht drang. »Dann bleibt uns nur noch eines!« knurrte der Arkonide. »Wir paralysieren ihn!« »Atlan, komm zu dir!« rief Bjo erschreckt. »Erstens rammst du das Schiff, wenn du auf diesem Kurs bleibst, und zweitens scheinst du zu vergessen, was dir schon einmal …« »Wir holen ihn zurück!« »So habe ich dich noch nie erlebt! Atlan, ich kann nicht verantworten, daß …« Er brachte keinen Laut mehr hervor, als die untere Plattform des Diskusses rasend schnell näherzukommen schien. Atlan riß die Space‐Jet im allerletzten Moment herum. Für Sekunden wurden Andruckskräfte wirksam, die Bjo fest in den Sitz drückten und ihm die Luft nahmen. Atlan schien das nicht einmal zu bemerken. Seine Finger huschten über die Kontrollen. Die Space‐Jet schoß an der Plattform vorbei, in einer Entfernung von weniger als hundert Metern. Insider war ganz deutlich zu sehen, wie er kurz vor dem offenen Schott stehenblieb und herübersah. Und als Atlans Hand schon über dem Auslöser des justierten Paralysegeschützes war, ging ein Beben durch seinen Leib. Die Energieorter schlugen an. Der Körper des Arkoniden wurde schlaff und sank in den Sitz zurück. Bjo griff in die Kontrollen und riß die Space‐Jet herum. Durch die transparente Kuppel sah er, wie Insider in dem grellen Licht verschwand und die Öffnung sich schloß. Erst in einem Abstand von fünfhundert Metern zum Diskus fing er die Beschleunigung ab, drehte die Jet und brachte sie zum Stillstand.
»Du Narr!« schrie er den leblosen Körper neben ihm an. »Das hast du nun davon!« Es war wie beim erstenmal. Das Bewußtsein wurde aus dem Körper gerissen und fand sich hoch über den Schiffen wieder. Nur die Angst blieb aus. Statt ihrer wurde das Bewußtsein von hilflosem Zorn beherrscht. Und dieser ganze Zorn schlug dem anderen entgegen, als Atlan nun wieder fühlte, wie dieser sich näherte und schließlich in seinen Geist eindrang. Gib sie zurück! dachte der Arkonide. Du hattest kein Recht, sie zu dir zu holen! Gib sie uns zurück! Etwas Seltsames geschah mit ihm. Obwohl materielos, hatte er das Gefühl zu schrumpfen. Er schwebte neben sich selbst, sah in ein Meer von grellen, disharmonischen Farben und Blitzen und erkannte, wie töricht es von ihm gewesen war, sich von Gefühlen hinreißen zu lassen. Vergeblich suchte er, den anderen in diesen Farben zu erkennen, in einer Blase aus sich beruhigenden Strömen, in die er nun wieder hineinglitt. Er schwebte in absoluter Ruhe, in einem Medium, für das es keinen Namen gab. Und der andere war bei ihm. Du kennst nun meinen Namen, entstanden die Worte in ihm, doch deine Seele ist voller Mißtrauen und Verbitterung. Später einmal wirst du verstehen, warum dies alles zu geschehen hatte. Es ist noch nicht zu spät. Ich kann kein Vertrauen erwarten, doch wir werden uns wiedertreffen, wenn du dem Schalter begegnest. Der Anfang ist gemacht, denn nun sind die beiden Richtigen an Bord. Die beiden Richtigen! Die beiden! Aber du hast drei Bewußtseine zu dir geholt! Wieso sprichst du von zweien, Oggar? Wir werden uns wiederbegegnen – bei dem Schalter! Das war das letzte, das Atlans Bewußtsein von Oggar vernahm. In jäh aufkeimender Verzweiflung wollte es den Materielosen festhalten, ihm folgen, als er sich entfernte, um zu einem Nichts zu
werden. Es war sinnlos. Und schon wieder griff der Sog nach ihm, der es in seinen Körper zurückstürzen ließ. Atlan war diesmal darauf vorbereitet und hatte kaum noch Anpassungsschwierigkeiten, als er durch seine Augen sah, wie Bjo neben ihm zusammenschrak und ihn gleich darauf mit Vorwürfen überschüttete. »Hör auf, Bjo!« sagte er heftig. »Ich weiß, daß ich mich gehen ließ. Aber vielleicht war es nicht ganz umsonst.« »Was soll das heißen?« Atlan übernahm wieder die Steuerung der Space‐Jet und brachte sie auf Kurs zur SOL. »Ich hatte wieder Kontakt mit Oggar, und er sprach von zwei richtigen Personen. Außerdem schien er sich absolut sicher zu sein, daß wir uns an diesem mysteriösen Schalter wiederbegegnen.« »Wieso zwei? Es waren doch …« Der Katzer schrak zusammen, als er sich umdrehte. »Sieh nur! Das Schiff nimmt Fahrt auf!« Atlan programmierte den Autopiloten, wodurch gleichzeitig ein Signal an die SOL ging, die Space‐Jet per Fernsteuerung in ihren Hangar zu holen. Er drehte sich um und sah, wie der Doppeldiskus sich mit zunehmender Beschleunigung entfernte, scheinbar kleiner wurde und schließlich als schwach schimmernder Punkt zwischen den Milliarden von Sternen verblaßte. »Warum halten sie ihn nicht auf?« fragte Bjo erregt. »Wir können ihn nicht einfach mit Sternfeuer, Carch und Insider davonziehen lassen!« »Wir würden ihn nicht finden«, sagte Atlan. »Nicht bevor wir an diesem Schalter sind. Bjo, ich weiß, es klingt verrückt, aber auch ich bin mir jetzt sicher, daß wir ihm dort wiederbegegnen werden.« »Das ist wirklich verrückt! Oder weißt du etwa, wo dieser Schalter liegt?« Atlan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. Die Space‐Jet glitt auf die hell erleuchtete rechteckige Öffnung des Hangars zu.
»Ich weiß nicht, wo. Ich weiß nicht einmal, was er ist. Aber wir finden ihn, Bjo. Oggar hätte uns weitere Informationen darüber gegeben, wenn er geglaubt hätte, daß wir sie brauchen. Die SOL wird Flatterfeld in wenigen Stunden verlassen. Doch ganz gleich, wohin sie auch aufbricht – irgendwo wartet etwas auf uns, das von ungeheurer Wichtigkeit sein muß. Etwas, das es auszuschalten gilt. Der Weg der SOL ist vorgezeichnet.« »Ja«, knurrte Katzer. »Ihr Weg ins Verderben! Atlan, ich werde nicht mehr schlau aus dir. Du hattest einmal den Ruf eines Mahners. Und jetzt zeigst du einen Leichtsinn wie ein … ein gutgläubiger Tölpel!« »Vielleicht hast du recht, Bjo. Aber ich weiß, daß genau das geschehen wird, was mir von Oggar vorausgesagt wurde. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich seiner Sache so vollkommen sicher war. Je eher wir das akzeptieren, desto besser werden wir am Ende auf das vorbereitet sein, was uns erwartet. Ich stelle Tatsachen fest, Bjo. Das ist keine Kapitulation. Oder glaubst du im Ernst, ich wäre bereit, Sternfeuer, Carch und Insider im Stich zu lassen?« »Und wer von ihnen sind diese beiden Richtigen?« * In der Hauptzentrale schlug dem Arkoniden eine frostige Stimmung entgegen. Die meisten Besatzungsmitglieder bereiteten den Aufbruch vor. Hayes besprach sich mit den beiden Piloten. Als er Atlans Eintreten bemerkte, drehte er sich nur halb um und rief zynisch: »Gratuliere zu deinem Erfolg! Wo hast du die Jet gelassen, mit der Insider floh – und wo ihn selbst?« »Es tut mir leid, daß ich vorhin so heftig war, Breck«, versuchte der Arkonide einzulenken. »Aber ich mußte versuchen, ihn zurückzuhalten. Ich verstehe und akzeptiere, daß du die
Verantwortung für die SOL trägst. Verstehe du, daß ich mich für meine Leute verantwortlich fühle.« Hayes lächelte schwach, kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Atlan ergriff sie. »Schon in Ordnung«, sagte der High Sideryt. »Wir haben keinen Versuch gemacht, Oggars HORT aufzuhalten, nachdem wir feststellten, daß er den Dislozierungsprojektor wieder einsetzte. Eine ganze SOL voller umherspukender Bewußtseine …« Er winkte ab. »Dies nur, damit du nicht glaubst, wir hätten Insider und die in ihm wohnenden Bewußtseine leichtfertig ziehen lassen. Nockemann teilte mir mit, daß Sternfeuers und CptʹCarchs Körper in einen Spezialraum in SOL‐City gebracht wurden. Ich nehme an, du willst sie dir ansehen. Wir starten in genau einer Stunde und … siebzehn Minuten. Unser Ziel ist diese Kugelgalaxis, die etwa 2,2 Millionen Lichtjahre von Flatterfeld entfernt ist.« Hayes deutete auf den Bildschirm, der die betreffende Sterneninsel zeigte. »Wir haben uns auf sie geeinigt, weil sie von allen umgebenden Galaxien die nächste ist. Einen Namen haben wir auch schon für sie: Ploohnei.« »Ploohnei«, dehnte Atlan. Oder Pers‐Mohandot? »Vielleicht finden wir dort den Schalter«, murmelte Atlan. »Wie?« Der Arkonide unterrichtete von seiner zweiten Begegnung mit Oggar und gab nochmals seiner Überzeugung Ausdruck, daß die SOL so oder so eines vielleicht nicht fernen Tages den Schalter anfliegen würde – und dort wieder auf Oggar und Insider treffen. »Humbug!« wehrte Herts energisch ab. »Nichts als Humbug. Der Spuk ist endgültig vorbei.« »Du hast dich nicht verändert!« warf Atlan ihm vor. Herts schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, du mußt diesen Eindruck haben. Atlan, es hat sich alles verändert, alles! Ich bin mir der Verantwortung bewußt geworden, die mir mit meiner Position auferlegt ist. Wenn schon
von gegenseitigem Verstehen die Rede ist, dann begreife auch das. Ich bin wie wir alle den Solanern verpflichtet und darf an nichts anderes denken als an ihre Sicherheit, die auch eure Sicherheit ist. Manchmal müssen Opfer gebracht werden, um sie zu erhalten. Es tut mir leid um Sternfeuer und die beiden anderen, aber die vielen tausend Bewohner der SOL gehen vor.« »Schluß jetzt«, sagte Hayes. »Atlan, wir haben Funksprüche an die Ysteronen und an die Pluuh gesendet und ihnen erklärt, daß wir ihre Galaxis verlassen werden. Wir haben hier mehr erreicht, als wir jemals erhoffen konnten. Flatterfeld ist zu einer Friedenszelle geworden. Und auch ohne das, was sich in den letzten beiden Tagen an neuen Rätseln aufgetan hat, haben wir Probleme genug, die angegangen werden müssen. Wir haben versprochen, Roxha zu finden und das Schicksal der verschwundenen Molaaten zu klären. Du willst nach Varnhagher‐Ghynnst. Dies sollten unsere vorrangigen Ziele sein und bleiben.« Noch vor Stunden wäre dem auch von Atlan nichts mehr hinzuzufügen gewesen. Es hatte aber den Anschein, als wäre der Weg nach Varnhagher‐Ghynnst mit mehr Steinen gepflastert, als jemals angenommen. »Ich verfolge den Aufbruch von SOL‐City aus«, verkündete Atlan und wandte sich zum Gehen. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Ein Schott war aufgefahren, und in dem ovalen Rund stand … »Insider!« riefen Atlan und Hayes gleichzeitig fassungslos aus. »Das ist unmöglich!« stöhnte Bjo. »Ich habe doch mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er in der unteren Plattform des HORTs verschwand!« Der Grünhäutige betrat die Zentrale und sah sich irritiert um, als verstünde er die ganze Aufregung nicht. »Wer soll verschwunden sein? Ich? Bjo, das hast du nur geträumt.« »Nein!« Hayes winkte heftig ab. »Wir haben es alle auf den
Bildschirmen beobachtet. Du bist in der Space‐Jet geflohen und auf dem Diskus gelandet!« Insider kam noch ein Stück näher heran und streckte alle vier Arme von sich. »Aber ich bin hier! Ich verstehe nichts von dem, was ihr da redet. Wenn ihr vielleicht glaubt, ich sei ein Spuk, dann kommt her und faßt mich an.« Atlan tat es. Seine Finger berührten die Kombination des Extras und drückten sich in sein Fleisch. »Ich war die ganze Zeit über an Bord«, versicherte Insider. »Ich habe die SOL nicht verlassen, nachdem mir Sternfeuers Geist zum letztenmal begegnete.« »Er sagt die Wahrheit«, flüsterte Bjo Atlan zu. »Er denkt das, was er sagt, und ich kann keine Fremdbeeinflussung feststellen.« ENDE Seit dem »Spuk in der SOL« sind einige Tage vergangen – und die SOL strebt durch den Linearraum auf die ferne Galaxis Ploohnei zu. Doch der Flug wird notgedrungen unterbrochen, als man eine gefährliche Entdeckung macht. Mehr darüber berichtet Hans Kneifel im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman erscheint unter dem Titel: DER SPIEGELPLANET