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Von W. Michael Gear erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: SPINNEN-ZYKLUS: Spinnenkrieger 06/5045 Spinnenfäden 06/5046 Spinnennetze 06/5047
W.Michael Gear
SPINNEN
NETZE
Dritter Roman des SPINNEN-ZYKLUS Deutsche Erstausgabe
HEYNE SCIENCE FICT1ON & FANTASY Band 06/5047
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WEB OF SPIDER Deutsche Übersetzung von Horst Pukallus Das Umschlagbild malte Sanjulian
Scan bei Tigerliebe Lesen und Layout bei Wolf
Redaktion: E. Senftbauer Copyright © 1989 by W. Michael Gear Erstveröffentlichung by DAW Books, Inc., New York Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1993 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-06617-0
Für Onkel Joe Giesick, all die Geschichten von Elchen, Hunden und Gold, die er erzählt hat, und für Wärme in kalten Zeiten.
PROLOG
STATION VARTA, LENIN-SEKTOR Die Anfänge der Station Varta gehen auf die sowjetische Pe riode unmittelbar vor der Konföderiertenrevolution zurück. Die ursprünglich als Navigationsvorposten und Versorgungsbasis für Forschungsexpeditionen gegründete Station konnte sich auf der Grundlage von 3He-, Alabandin- und Carlsbergit-Wiedergewinnung wirtschaftlich ausgesprochen gut entwickeln, erweiterte danach die Produktion auf Null-G-Pharmazeutika, Graphitfasern, Siliziumkarbidkabel, Schaumstahl, Galliumarsenid-Mikroelektronika und Industriekeramik sowie später, wäh rend des Ausbaus der Station, durch biotechnische Verfahren auf agrikulturelle Erzeugnisse. Aktuelle Zensus-Schätzungen nehmen eine Population von ca. 7,56 Millionen Personen an.
Stumm und in vollkommener Hingerissenheit las der Mann, ohne auf Station Vartas leise Geräuschkulisse zu achten, die rings um ihn wie Wispern aus den Luftvertei lerschächten säuselte. In die Wände integrierte Leuchtkör per erhellten glatte, lichte Pastellflächen; die Holo-Projektionsanlagen im Wert einer halben Million Kredits, die dahinter steckten, blieben ungenutzt, außer Betrieb. Über fluß umgab den Bewohner des Raums, wie ihn sich in die ser Art wenige Menschen überhaupt nur zu erträumen wagten, doch er ignorierte alles. Ein magerer Mann war er, das gedämpfte Licht, das Wänden und Decke entströmte, erzeugte auf seiner Haut honigbraunen Glanz. Ausgestreckt schwebte er entspann ten Körpers in der Luft, hielt den Monitor in der Armbeu ge, als hätschelte er ihn, seine flinken dunklen Augen huschten über die Textzeilen, die durchs Blickfeld wan derten. Das Halbrund des Kontaktrons, das seine Stirn umfing wie ein Kronreif, schimmerte bei jeder noch so
geringfügigen Kopfbewegung. Gelegentlich verriet das Beben einer dünnen Lippe oder ein Verkneifen der Lider ein Aufwallen innerer Regung. »Wie faszinierend«, murmelte der Mann vor sich hin, hob eine lange schlanke Hand, strich sich ums feste Kinn. Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, veränderte er seine Haltung, die feinen arcturischen Stoffe seiner weiten Kleidung bauschten sich in der Nullschwerkraft der Antigrav-Liege. Er bog den Kopf zurück und blickte an seiner flachen Nase entlang, das weiche, grüne Leuchten des Monitors hinterließ Schatten in den Mulden seiner Wan gen. Im Gegensatz zu den hiesigen Stationsbewohnern, die zu auffälliger Frisurmode neigten, trug er das Haar kurz, hatte es fast bis auf die Schädelwölbung gestutzt. Über seinen intelligenten Augen ragte eine hohe Stirn auf. Zierliche Finger kratzten in den kargen Bartbüscheln, die Wangen und Kinn schmückten, verursachten hohles Scha ben. Er wandte sich nicht um, als mit unterdrücktem Fau chen die Tür aufglitt. Sobald die Sensoren Bewegung erfaßten, wurde die Beleuchtung heller. »Noch immer beim Studieren?« rief der fette Mann, der eintrat. Der Ankömmling schnaufte leicht beim Gehen, die Anstrengung brachte ihn zum Japsen. Auf seiner Glatze schimmerte eine dünne Schweißschicht. Abgestufte Wül ste eines Mehrfachkinns hingen in den teuren Stoff an sei ner Kehle. Die Finger seiner dicklichen, weißen Händchen glitzerten, weil sie von erleuchteten Ringen strotzten. Auf grund eines nervösen Tics vollführten die Finger ein andauerndes Geschlängel, als hätten sie ein Eigenleben. Bei seinem Dahinwatscheln umwallte das in Violett und Rosa gehaltene Gewand im Format eines Viermannzelts, dessen Monosatin-Gewebe glitzerte, seine knollenrunde Gestalt, wie um sie zu umzärteln. »Es ist faszinierend, Pallas. Durch und durch faszinie rend.« Gelassen streckte sich der Hagere, räkelte sich, rieb
auf fast sinnliche Weise die Hände, während er dem Moni tor widerwillig seine Aufmerksamkeit entzog. Der Dicke winkte ab und lächelte verdrossen, während er über den luxuriösen Kunstmoosteppich zu einem Auto matikspender latschte und eine Taste drückte. Die mit Juwelen besetzten Leuchtringe klackten leise aneinander, warfen in Streifen orangerote und grüne Glanzlichter auf die Wandkonsole, als der Mann nach einem Stielglas aus Kristall griff, das sich mit einer bernsteingelben Flüssig keit gefüllt hatte. »Ich verstehe das nicht.« Pallas drehte sich um, hob den Bourbon an seine fleischige Nase, schnupperte und trank. Seine Lippen schmatzten beifällig, doch ihr Aus druck von Genüßlichkeit drang nicht einmal hinauf zu den feisten Tränensäcken unter seinen Lidern. Mißmut furchte seine blasse, rundliche Miene, beunruhigt ver kniff er die kleinen, blauen Äuglein. »Was ist denn in den Aufzeichnungen versteckt? Historisches? Das Zeug, mit dem alte, staubtrockene Professoren sich in den sterilen Vortragssälen der Universitäten befassen? Das ist doch nicht Ihre Art von ...« »Die Lehren der Vergangenheit sind es«, berichtigte ihn der Hagere. Er neigte den dunklen Kopf seitwärts, heftete den Blick der schwarzen Augen auf Pallas. »Stellen Sie sich einmal vor, mein Freund: In den letzten dreihundert Jahren hat das Direktorat unsere Spezies um so vieles ihrer Vergangenheit gebracht! Der Kollektiverinnerung heraus geschnitten. Es weggeworfen. Aufgegeben. Dem Verges sen verfallen lassen!« Versonnen berührte er den Monitor, zog mit schlankem Finger die viereckigen Umrisse der Bildfläche nach. »Auch ich habe nicht geahnt, wieviel man uns genommen hat.« Pallas spitzte die Wulstlippen, wölbte die rundlichen Schultern zu einem Achselzucken. »So ist es also, wenn jemand sich nach einer Niederlage alten Schmökern zuwendet? Ich hätte nicht ... Naja, es ist nicht Ihre Art. Ich dachte, Sie wären jemand, der ... ein Mann der ...«
»Ja?« »Ein Mann der Tat, Ngen. Ein Macher. Kein Stuben hocker, der in uralten, gammeligen ...« »Die Geheimnisse der Vergangenheit haben mich bei nahe dem Direktorat ausgeliefert.« Elegant schwang sich Ngen Van Chow über den Rand der Antigrav-Liege, seine in Samtschuhe gehüllten Füße sanken, als er auf dem Boden landete, tief ins Kunstmoos. Einen Moment lang blieb er stehen, ganz von seinen Gedanken beansprucht, bevor seine Rührigkeit ihn wieder von der Stelle trieb. Er stapfte, die Hände auf dem Rücken verklammert, auf und ab, eine Denkfalte teilte seine hohe Stirn, während er zer streut auf der Oberlippe kaute. »Und was für Geheimnisse haben Sie ausgegraben?« Pallas wies auf den Monitor, Wellen von Licht durchkräu selten bei der Gebärde seinen Ärmel. »Welche Rätsel erschließen sich Ihnen in den verstaubten Gedanken Ver storbener, hm?« »Die Geheimnisse der gewaltigsten Macht überhaupt«, antwortete Ngen mit Anklängen von Ehrfurcht in der Stimme. »Der Religion.« Perplex zögerte Pallas für einen Augenblick, ehe er ein Lachen hervorprustete. »Religion? Habe ich richtig gehört? Blödsinnigen Aberglauben bezeichnen Sie als Geheimnis? Wie kann mystischer Humbug denn ein ... eine Macht sein ...?« Ruckartig verharrte Ngen, fuhr zu Pallas Mikros herum. »Sie waren nicht dabei! Sie haben's nicht miterlebt! Diese Romananer ... Barbaren, deren Propheten die Zukunft sehen ...« »Ach, kommen Sie! Sicher glauben Sie doch nicht im Ernst, daß sie wirklich die Zukunft kennen.« Pallas ver zog die schweißfeuchten Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Sichtlich enthielt Ngen sich einer bissigen Bemerkung; seine Lider wurden schmal, während er sich am Kinn rieb. »Nein«, antwortete er ruhig. »Aber was ich glaube und
was man die Sirianer glauben gemacht hat, sind zwei völ lig verschiedene Dinge. Sie haben es geschluckt. Alles. Diesen Spinne glattweg ins Herz geschlossen ... Den gan zen Quatsch aufgesaugt, als tränken sie den besten Wein. Dieser Aberglaube, wie Sie es nennen, hat mir Sirius, den ich fest in der Hand hatte, schließlich entrissen. Diese Bar baren ... und ihr Spinnengott ... Ich bin von ihnen zur Witzfigur erniedrigt worden. Ich! Verstehen Sie mich!?« Mühsam schluckte er, kehrte Pallas den Rücken zu, an sei ner Schläfe pochte lebhaft eine Ader. »Pallas, Sie haben nicht mitangesehen, was für eine Macht dort damit entfal tet worden ist. Sie sind sich über das Potential, das darin steckt, nicht im klaren.« Skeptisch neigte Pallas Mikros den Kopf auf die Schul ter, schaute zu, wie Ngen zu einer milchig-weißlichen Hand schritt und mit dem Arm eine Geste ausführte. Die helle Farbtönung verschwand, wich einer eindrucksvollen Darstellung von scheinbar willkürlich auf dem schwarzen Bühnenvorhang des Universums verteilten Sternen. »Da draußen zittert die gesamte Menschheit«, sagte Ngen leise, aber voller leidenschaftlicher Erregung. »Unsere Realität hat sich gewandelt, ist verändert worden. Alles und jedes, das man für unumstößlich gehalten hat — die Wahrheit, wenn man's so nennen will — ist nur noch Treibsand unter den Füßen der Menschen. Instabilität, Unsicherheit, Zukunftsangst herrschen ... Furcht. Denken Sie bloß, Pallas: Furcht! Malen Sie sich aus, wie sie die Vorstellungskraft beeinflußt, sich in jemandes Träume ein schleicht. Sein inneres Gleichgewicht stört. Alle fürchten sie sich, die Billionen von Menschen dort, jeder einzelne davon hat Furcht. Sie fürchten sich, weil ich die Patrouil le geschlagen habe. Geschlagen! Die Menschen wissen Bescheid. Und die Romananer sind los. Krieger ... Män ner, die andere Menschen auf grausame Weise töten.Das Direktorat ist hilf- und wehrlos. Die wasserköpfigen Ungeheuer, die sich als Behüter der Menschheit aufge spielt haben, können nicht einmal mehr sich selbst schüt zen. Nichts ist mehr vorhersehbar. Auf sämtlichen Gedan
ken und Träumen liegt der Schatten des Chaos, sickert nun, weil sich die Wirklichkeit geändert hat, ins Unbe wußte.« »Aber ich begreife nicht, wieso alberner Aberglauben wie Religion ...« »Wenn Menschen und Regierungen versagen, wem schenken die Unwissenden dann ihr Vertrauen?« »Ich ... nun ja ...« »Gott, Pallas. Gott.« Langsam schüttelte Pallas den Kopf, während Ngen Van Chow boshaft lächelte. »Von mir aus zweifeln Sie. Aber ich habe es selbst erlebt. Ich habe vor, dieses blinde Vertrauen nun für mich auszunutzen. Das ist es, was mich jetzt dermaßen gründlich beschäftigt hat. Die Macht, alter Freund, und die Methoden, wie man sie ausüben kann. Ich habe den Weg bestimmt, auf dem ich diese furchterfüllten Billionen ansprechen, ihre Bedürfnisse erfüllen kann. Und dann werde ich das Direktorat unter meiner Kontrolle haben.« Pallas' dünne Brauen rutschten aufwärts, sein Schmoll mund blieb aus Skepsis spitz. Ngen lachte und wechselte das Thema. »Also, haben Sie meine Vorgabedaten bearbeitet? Durch Ihren illegalen Compu-Verbund laufen lassen?« Pallas atmete tief ein und trank den letzten Schluck des guten Bourbons. »Habe ich. Und ich habe den richtigen Planeten gefunden. Eine Welt mit Namen Basar.« »Und?« »Basar entspricht vollständig den von Ihnen festgeleg ten Kriterien«, erklärte Pallas. »Sie wollten religiöse Fanatiker ... Dort finden Sie welche. Die ursprünglichen Siedler — Basar ist ein ehemaliger sowjetischer GulagPlanet — waren islamische Extremisten, die den Kreml geärgert hatten. Später deportierten die Sowjets dort auch Radikalchristen und verstockte orthodoxe Juden. Wie jeden, der sich aus religiösen Gründen gegen die sowjetische Weltherrschaft auflehnte. Nach Bazar sind
die Deportierten aus der Nahostregion der Erde gebracht worden. Daswar so ein Sowjetscherz. Man transportierte sie zu einer wertlosen Kugel mit nichts als Sand und Staub und ließ sie sich gegenseitig abmurksen. Sechstau send Jahre Haß wurden auf ein und demselben Planeten isoliert.« Mikros schmunzelte. »Sie hätten's kaum besser machen können, Ngen.« »Und irgendwie entwickelt haben sie sich dort nie?« Pallas spreizte die Hände. »Jedesmal wenn eine der Populationsgruppen Überlegenheit zu zeigen beginnt, überwinden die beiden anderen ihre gegenseitige Abnei gung lang genug, um die Bedrohung abzuwenden. Das Ergebnis ist eine Welt der totalen Stagnation, die sich äußeren Einflüssen völlig verschließt. In bezug auf Basar hat das Direktorat trotz aller guten Absichten und Zwecke schon vor zweihundert Jahren die Hände in Unschuld gewaschen. Die Ältesten, die als religiöse Oberhäupter fungieren, verhindern wirksam, daß Stimmen aus dem Giga-Netz mit irgendwelchen Direktoratsbildungsinhalten das Wort Gottes verwässern. Wissen Sie, der Grundgedan ke ist ...« Ngen hob die Hand. »Ich glaube, ich durchschaue die Konzeption besser als Sie, Pallas. Es ist Unwissenheit, was Sie schildern, ja?« »Fast vollkommene Unwissenheit.« Pallas' Kinnspeck wabbelte, als er nickte. »Ausschließlich die Ältesten kön nen lesen, und sie beschränken sich auf die HeiligenSchriften.« Ngen lächelte, klatschte die Handflächen auf die Seiten seines Rumpfs. »Basar, hmm? Wahrhaftig. Basar bedeutet ursprünglich >Marktplatz<, und nun werden die Herzen der Menschen die Münze des Handels sein. Und was wird den letztendlichen Handelsgegenstand abgeben? Das Direktorat! Unwissende Fanatiker, so? Für meine Pläne könnten sie nicht geeigneter sein, trügen sie Ringe durch die Nase!«
1
ARCTURUS, DIREKTORATSSITZ
Die siegreiche Konföderation wählte den roten Stern Arc turus im Jahre 2101 nach Maßgabe von Bruderschaftskri terien zum neuen Machtzentrum der Menschheit, weil er außerhalb jedes vorher sowjetisch regiert gewesenen Sektors lag. An ihrer neutralen Position expandierte die anfänglich nur als Konzilssitz der Konföderation gedachte Station um Anlagen des Industrie-und Dienstleistungsge werbes, bis sie als außerordentlich beeindruckende Insti tution die Möglichkeiten ihres Sonnensystems erschöpft hatte. Gegenwärtig bildet sie im von Menschen bewohn ten All das Ballungszentrum mit der höchsten Bevölke rungsdichte; die letzte Volkszählung hat in den Orbitalsta tionen des Arcturussystems über zehn Milliarden Bewoh nerverzeichnet.
Direktor? Der Ruf durchsickerte eine Vielfalt von Überlegungen Skor Robinsons. Er trieb in der Null schwerkraft des Giga-Verbund-Kontrollraums. Bei jeder Bewegung wand sich hinter ihm das mit einer Nabel schnur vergleichbare Bündel der Schläuche und Kabel sei nes Lebenserhaltungssystems, das ihm Nährstoffe lieferte und Körperausscheidungen entfernte, wie eine unheimli che, dickleibige Schlange. Er blinzelte ins verwaschene Blau der Beleuchtung, suchte Grenzen außerhalb der visuellen Wahrnehmung. Er fand nichts als unendliche Echos blauer Unermeßlichkeit. Erschöpfung umstrich wie mit zarten Fingern die zerfransten Randzonen seiner Gedankengänge. Müdigkeit. Wir sind alle so müde. Das Lebenserhal tungssystem führte ihm einen Sauerstoffstoß zu, um das Gähnen zu unterdrücken, das Robinsons Kehle dehnen wollte. Er widmete einen Teil seines kolossalen Verstands der Anfrage.
Ja, Assistenz-Direktor Roque? Eben ist bei mir eine äußerst beunruhigende Mitteilung des Chefs der arcturischen Sicherheitsabteilung eingegan gen. Die körperlose Stimme, durch den Giga-Verbund und die helmartige Computer-Kontakthaube auf Robinsons Schä del geradewegs in sein Gehirn übermittelt, sprach direkt in sein Bewußtsein. Er hatte An Roque nie persönlich gesehen, genausowenig wie dessen Kollegen Semri Nawtow. Seit sei ner verhätschelten Kindheit in der Kinderstube kannte er sie nur anhand ihrer Gedanken. Eine beunruhigende Mitteilung? Skor Robinson hatte die Anwandlung eines schlechten Vorgefühls. Ein Schau dern, wie es seinem atrophierten Körper lange Zeit hin durch völlig fremd gewesen war, beschleunigte ihm den Pulsschlag, erhöhte seinen Aufmerksamkeitsgrad. Ja, berichten Sie. Eine Kommunikationstechnikerin, eine Person namens Suki Yamasaki, ist aus dem Archiv der Sicherheitsabteilung verschwunden. Sie ... Tja, es gibt keine Spur. In Anbetracht unserer Hilfsmittel, der Monitorüberwachung und sonstiger Sicherheitsvorkehrungen ist so etwas als äußerst irregulärer Vorfall zu bewerten. Ich kann nicht ... Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Schweigen. Skor Robinsons Unruhe wuchs. So vieles hatte sich in den letzten Jahren ereignet: Ein zufällig aufgefangener Funkspruch hatte zur Entdeckung einer vergessenen menschlichen Kolonie geführt — der Welt der barbarischen Romananer. Eine Expedition unter der Leitung Dr. Leeta Dobras war hingeschickt worden. Entgegen Robinsons Befehl hatte das Patrouillenschlachtschiff Projektil die wil den Romananer, nachdem sie sich als Gefahr erwiesen, nicht vernichtet und damit Verrat verübt. Wer hätte mit dem Vorfinden von Menschen rechnen können, die in die Zukunft zu schauen vermochten? Offiziere und Besatzung der Projektil hatten sich gegen Robinson gestellt, gegen die Zivilisation des Direktorats. Patrouille hatte auf Patrouille
geschossen. Durch Dr. Dobras rechtswidrig an die gesamte, friedliche Gesellschaft des Direktorats ausgestrahlte Funk sendung war die lange eingeschlafen gewesene Neugier der Menschen an ihren Zeitgenossen neu geweckt worden; die Menschheit hatte Fragen aufzuwerfen begonnen. Während des darauffolgenden Chaos' hatte ein ganzer Planet — Sirius — gegen die Direktoratsautorität rebelliert. Nur dank eines Pakts mit den Romananern war es gelungen, die Vor haben Ngen Van Chows, des Rädelsführers, zu vereiteln, den Aufstand zu ersticken und damit weiteren Rebellionen vorzubeugen. Mit knapper Not. Und um welchen Preis? Jetzt kreuzten Romananer in mit Van Chows Technik bewaffneten und geschützten Sternenschiffen durch die Weltraumsphäre des Direktorats. Unter Van Chows Befehl hatten dieselben Raumschiffe die veralteten Patrouillen schlachtschiffe dezimiert. Infolgedessen mußten Skor Robinson und seine Kollegen Direktoren die von den Siria nern geschwächte Streitmacht der Patrouille zwischen zu vielen Sternensystemen und Autarken Stationen aufteilen. Mit zu geringen Kräften und zu wenig Mitteln versuchte man in einer Zivilisation, die ins Wanken gekommen war, aus den Fugen geriet, einen gewissen Gleichgewichtszu stand aufrechtzuerhalten. Überall hatten Menschen plötz lich Ansprüche, Wünsche und Sehnsüchte. Sogar durch die sterile Binarität des Giga-Computerverbunds konnte man merklich den Puls der Erwartung spüren. Und heute, ein Jahr nach dem Abschluß des Debakels im Siriussystem, gelangte selbst der abgebrühte An Roque häufig ins Stocken, war nicht einmal noch dazu fähig, eine Berichterstattung zu beenden, ohne das Erfor dernis zu sehen, zwischendurch die Folgen irgendeines minderrangigen Desasters in einem Lichtjahre entlege nen Sonnensystem auszugleichen. Die Menschheit als Ganzes brodelte und rumorte wie ein Vulkan vor dem Ausbruch. Roque? fragte Skor Robinson nach.
Verzeihung, Direktor. Ein Krawall in der Station Trypec
kam dazwischen. Ich hatte das Verschwinden dieser Suki Yamasaki zur Sprache gebracht. Die Frau war im Sicher heitsabteilungsarchiv in der Wartungssupervision tätig. Ihr Ausbleiben vor drei Wochen veranlagte ihren Vorgesetzten zur Einreichung einer Fehlmeldung. Weil wir ohnehin genü gend von anderen Vorgängen beansprucht waren, nahm ich der Einfachkeit halber an, es handele sich um eine normale Vermißtenanzeige. Die Sache erregte erst wieder meine Beachtung, als Yamasakis Nachfolgerin eine Routinereini gung und Molekularbegutachtung der Mikrofilter des Sicher heitsabteilungsarchivs durchführte. Sie fand menschliche Körperzellen, Spuren entsprechender Fette und Schuppen menschlicher Kopfhaut ... Bei Einsicht in die Vorgaben für das Spektrometrie-Scannen der Computerräume mit eingeschränkter Zugänglichkeit bemerke ich, unterbrach Robinson ihn, daß die Sensoren bei stattgefundener Atmung höhere CO² - und H²O-Werte hätten messen müssen. Das ist richtig, bestätigte An Roque. In diesem Fall ist das Monitoring von außen übersteuert worden. Unzulässige Eingriffe in Sicherheitssysteme verlangen unverzügliche Ver haltenskorrekturen beim ... Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen? fragte Skor Robinson. Die Sicherheit unterliegt Ihrer Zuständig keit. Eine mehrere Sekunden lange Gesprächspause vertiefte Robinsons Unbehagen. Er informierte sich über Roques aktuelle physiologische Daten und bemerkte verstärkte Streßsymptome: Erhöhten Blutdruck und Blutzucker sowie eine Beschleunigung des Zellstoffwechsels. Früher hatten sie keinen Streß gekannt; inzwischen zählte er zu ihrem All tag. »Uns droht eine Nervenkrise«, raunte Skor Robinson halblaut. Er zwinkerte mit den müden Augen und seufzte — eine fast menschliche Reaktion. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, meldete sich Roque wieder durchs Verbundsystem. Ich brauchte einen
Moment Zeit, um eine statistische Untersuchung vorzuneh men. »Lügner«, flüsterte Robinson, während er seine Gedanken dem System vorenthielt. »Du wirst zum Men schen, Roque. Du wirst so fehlbar wie wir alle. Und aus gerechnet jetzt dürfen wir uns nicht den kleinsten Irrtum erlauben. Wäre bloß Chester Armijo Garcia hier, der romananische Prophet. Würde er uns nur etwas offenba ren ...« Wir haben die Herkunft einiger der Hautpartikel aufge klärt und als zu Suki Yamasaki gehörig identifiziert. Das zweite beteiligte Individuum ist unidentifiziert geblieben. Die DNS-Analyse ist noch in Gang. Welche Probleme damit ein hergehen, ist offensichtlich, berücksichtigt man, daß in der Genpool-Datenbank ungefähr vierunddreißig Billionen fünf hundert Milliarden ... Die Zahlen sind mir bekannt, Assistenz-Direktor. Skor Robinson überlegte für einen Augenblick, achtete auf das wüste Fluktuieren der inneren Körperabläufe Roques. Wel ches Material ist in dem in Suki Yamasakis Verantwortlich keit unterstellten Datendepot des Sicherheitsabteilungsar chivs gespeichert? Bei der Antwort zeigte An Roques Metabolismus alle Anzeichen eines neuen Streßschubs. Bruderschaftsinforma tionen. Sie sind längst überprüft worden. Der diesbezügliche Bericht ist Ihnen umgehend zugegangen, nachdem manden Einsatz der sirianischen Blaster beobachtet hatte ... Ich kenne den Bericht. Skor Robinson verschaffte sich Einblick in die erwähnten Informationen, die alles umfaßten, was man über Technologie und Technik der Bruderschaft wußte. Er korrelierte die Daten mit den Stichwörtern und Dateinamen, auf die Yamasaki Zugriff gehabt hatte. Compu tercodes. Sonstige technische Informationen der Bruder schaft konnten von Yamasaki nicht eingesehen werden. Wofür können ihr alte Kommunikationscodes denn nütz lich sein ? Wie sollte sie damit unsere Systeme gefährden ? Skor Robinson runzelte die Stirn. Keine Codes sind auf
unseren Kommu-Schutz übertragbar. Der Eindringling ist lediglich an ein historisches Kuriosum gelangt. Eine Kurio sität ohne,Wert. Anhand von Permutationen ergibt sich, wie ich feststelle, keinerlei Wahrscheinlichkeit, daß die besagten Codes unser Verbundsystem tangieren könnten. Es liefe auf das gleiche hinaus, als wollte man alte Pulvergeschosse in einen modernen Blaster laden. Da verfiel Robinsons vielschichtiger Verstand auf einen möglichen Zusammenhang. »Von mir aus nennt's Intui tion«, flüsterte er, unterdrückte seine Besorgnis. Er blok kierte An Roques Übermittlung und leitete dem Identifika tionsressort der Sicherheitsabteilung Anweisungen zu. Sofort erreichten Roques Stoffwechselschwankungen einen Spitzenwert. Schnell übersteuerte Robinson die Kon trolle des Assistenz-Direktors über sein biologisches Moni toring und ließ seinem Blutkreislauf einen TranquilizerZusatz einfließen, der ihn gegen Norepinepherine abpol sterte und den vegetativen Tonus herabsetzte. Die Indikato ren deuteten eine Stabilisierung an. Was mochte Roque ent deckt haben? Was liegt außerdem vor, Assistenz-Direktor? Robinson wartete. Trotz der medikamentösen Besänftigung tendierte Roques Organismus, wie die Oszillationen des Monitorings zeigten, nach wie vor zu Wallungen. Gerade habe ich ... eine zweite Meldung erhalten. Die Sicherheit meldet, daß bei der sorgfältigen Durchsuchung des betroffenen Computerraums ein Gerät gefunden worden ist. Ich sichte gegenwärtig die Details, Direktor ... Auf einmal bedrohte ein Kollaps Roques Kreislauf und Nervensystem. Skor Robinson griff ein, ehe den AssistenzDirektor Apoplexie ereilen konnte, veranlaßte die Zufuhr einer für solche Fälle optimalen Medikamentenkombination in seinen Blutkreislauf, verlangsamte seinen Herzschlag. Rasch entzog er An Roque die Giga-Verbund-Kontrolle, bevor die Instabilisierung die Myriaden von unter- und nach geordneten Systemen beeinträchtigte, die im Zuständigkeits bereich des Assistenz-Direktors lagen. Unter Robinsons
wachsamer Aufsicht sank Roque, zumal ihm keine Wahl blieb, in Bewußtlosigkeit. »Was ist nur aus uns geworden? Wie ist so etwas mög lich? Für so etwas sind wir nicht geschult worden. Wie kön nen wir etwas derartiges bewältigen? Wir sind in Körper und Geist auf logisches Handeln spezialisiert und nicht auf Lei denschaften vorbereitet worden. Und die Menschen schimp fen uns Ungeheuer? Uns, die wir soviel gegeben haben? Wesentlich länger sind wir nicht durchzuhalten imstande. Verdammt noch mal, wir sind anders als gewöhnliche Men schen!« Reg dich ab. Skor Robinson verengte die Lider, während er einen tiefen Atemzug nahm, um sein überfordertes Gemüt zu beschwichtigen. Das gleichmäßige Pochen seines Herzens klang beruhigend. Assistenz-Direktor Nawtow, bitte melden Sie sich. Robinson wartete; er wußte, daß Nawtow sich zur Zeit eine seit längerem überfällig gewesene Erholungsperiode gönn te. Selbst Direktoren mit ihren genetisch vergrößerten Gehirnen benötigten Schlaf. Unterdessen besah er sich die Informationen, die die Sicherheitsabteilung über ihren widerrechtlich angezapften Archivcomputer aufbereitet hatte. Direktor? fragte Nawtow. Skor Robinson übermittelte Nawtow die Gesamtinfor mation des Vorfalls, beobachtete gleichzeitig ihre Wir kung auf seinen Kollegen, erwartete eine Krise mit kör perlichen Begleiterscheinungen. Nawtows erste Irritation steigerte sich zu Interesse, das wiederum in Furcht umschlug. Mit Furcht verstanden Direktoren — für sie war sie eine noch so neue Reaktion — nicht besonders gut umzugehen. Beherrschen Sie sich, Assistenz-Direktor, empfahl Skor Robinson. Sie können ersehen, welche Maßnahme ich bei An Roque ergreifen mußte. Ich kann keine ungezügelten emotio nalen Anwandlungen dulden. Ich brauche rationale Ein schätzungen und Bewertungen, um die Konsequenzen dieses
unrechtmäßigen Eindringens zu durchschauen sowie eine Taktik festzulegen und in die Praxis umzusetzen, die einer etwaigen, durch die Freigabe oder Verwendung des gestohle nen Wissens erzeugten Destabilisierung vorbeugt. Mit Robinsons biochemischer Nachhilfe bewahrte Naw tow die Nerven. Ich neige stark zu der Vermutung, daß sich dahinter die Absicht verbirgt, weitere Bruderschaftstechnik zu verbreiten. Ob die Romananer die Urheber sind ? Ich weiß es nicht. Interessiert sind sie an Wissenschaft und Technik der Bruderschaft. Ihnen ist bekannt, daß ein romananisches Raumschiff das Landerecht auf Frontier beantragt hat. Es ist unklar, ob ein Zusammenhang mit der Bruderschaft besteht. Skor schwieg kurz, bot einen Großteil seiner geistigen Kapazität auf, um die Anpflanzungspla nung für Range umzuarbeiten. Nein, wäre den Romananern an Daten des Sicherheitsabteilungsarchivs gelegen gewe sen, hätten sie sich einfach an uns gewandt und nachge fragt. Sie schleichen sich nirgends ein. So ein Vorgehen bedarf zur Voraussetzung einer raffinierteren ... Einen Moment bitte, Assistenz-Direktor. Der Bericht des Identifi kationsressorts trifft ein. Robinson sah die Angaben durch und stutzte erschrocken. Furcht bedrängte seinen Verstand, als er den Namen des Komplizen Yamasakis ersah. Er spür te, wie neue Ruhe seine aufgewühlte Körperlichkeit durch strömte, während Nawtow die Aufgabe erfüllte, seine Reak tion abzuschwächen. Vielen Dank, Assistenz-Direktor. Wie tief wir gesunken sind, wenn unsere Fähigkeit zum Regieren von gegenseitigem Überwachen abhängt ... Rechtzeitigem Dämpfen von Gefühlen, mit denen zu leben uns nie gelehrt worden ist. Die Zeiten sind gefährlich geworden, antwortete Naw tow. Haben Sie Neuigkeiten erfahren? Robinson schwieg zunächst einen Moment lang, rang mit den Widrigkeiten seiner Physis, bändigte das Zittern seiner Gliedmaßen. Assistenz-Direktor, der im Computer raum gefundene Gegenstand ist kein Direktoratsprodukt. Vielmehr handelt es sich um etwas oberhalb unserer tech
nischen Möglichkeiten. Herkunft und Natur des Geräts gestatten alle erdenklichen Spekulationen. Die einzige augenfällige Feststellung ist momentan, daß wir es anscheinend mit einer Apparatur zu tun haben, die sowohl als Monitor wie auch als Sender dient und nach subatoma ren Prinzipien funktioniert, die unsere Physikkenntnisse übersteigen. Kann der Bestimmungsort der Sendetätigkeit gepeilt wer den? erkundigte sich Nawtow, griff auf die Daten zu, suchte nach einem Weg, wie sich die mysteriöse Beschaffenheit des Apparats ergründen ließe. Skor Robinson initiierte Technodesigner-Systeme zu Per mutationen, analysierte theoretische Leistungsstufen subato marer transduktiver Jota-Rega-Generatoren. Negativ. Erneut wollte Robinsons Körper ihn im Stich zu lassen, der Direktor mußte sich ernsthaft um Fassung und Selbstbeherrschung bemühen. Wenn die Technikprogramme, die ich zur Überprü fung herangezogen habe, richtige Aussagen machen, benutzt das kleine Gerät Arcturus insgesamt als Sendeantenne. Angesichts der Größe und Energiebatterie ... Ausgeschlossen! Unsere theoretische Physik besagt, daß keine derartig dimensionierte Apparatur einen Torus vom Umfang Arcturus' ausnutzen kann. Die dafür erforderliche Energie ... Aber das Gerät existiert, rief Skor Robinson ihm in Erin nerung. Er bekam Herzflattern, während sein unglaublich vielseitiger Geist die Schlußfolgerungen durchdachte. »Verurteilt zum Freisein. So hast du es mir vorhergesagt, Prophet. Das Universum deines Spinne ist ein furchteinflö ßender Ort.« Robinson riß sich aufs äußerste zusammen, als er für seinen intuitiven Verdacht die Bestätigung erhielt. Er schloß die Augen. »Und was wird, falls ich das alles nicht durchstehen kann? Wenn ich zu schwach bin? Falls Roque oder Nawtow einen Zusammenbruch erleidet?« Er schluk kte schwer, setzte die Kommunikation mit dem AssistenzDirektor fort. Wir stehen unter Beobachtung, Nawtow, unter der Obser
vation jemandes, der eine Technik anwendet, die unser Begriffsvermögen übersteigt. Wir wollen hoffen, daß der Ein dringling, der sich ins Sicherheitsabteilungsarchiv Zutritt erschlich, nicht dieselbe Person ist, die den Sender zurückge lassen hat. Sollte es doch ein und dasselbe Individuum gewe sen sein, schweben wir in schrecklicher Gefahr. Und wer war der Eindringling? fragte Nawtow. Ngen Van Chow. Daraufhin blieb Nawtow stumm; nur hektische Amplitu den des Metabolismus-Monitoring verwiesen auf seinen Zustand. »Wer?« murmelte Skor Robinson vor sich hin. »Wer beob achtet uns? Und von wo aus? Was wissen diejenigen über Van Chow? Und über die Romananer?« Doch die Bedürf nisse und Nöte der Menschheit beanspruchten seine Auf merksamkeit. Er übertrug die Erledigung der Zuständigkei ten Roques bis auf weiteres Nawtow. Könnte er nur ein paar Stunden lang schlafen, für eine Weile in einer sichereren Art von Realität träumen ... »Wer sind die Beobachter?« flüsterte er beiläufig, wäh rend er für Station Skylar als Notfall-Sonderzuteilung eine Ladung Schaumstahl zwecks Reparatur eines unglücklichen Meteortreffers zu verschiffen anordnete. »Wer?«
BASAR, AMBROSIUS-SEKTOR Basar ist einer der älteren Gulag-Planeten; seine Ursprünge datieren auf das Jahr 2066 der Sowjet-Ära zurück. Der gera de noch bewohnbaren Welt wäre das gleiche Schicksal wie dem Mars beschert worden, hätte die planetare Masse nicht einen lebhafteren C02-Kreislauf begünstigt. Allerdings mach te der daraus resultierende Treibhauseffekt wegen des H²0Mangels Basar lediglich zu einem stürmischen, trockenen Milieu. Die wenigen Ansammlungen stehenden Wassers sind brackig sowie stark salz-, laugen- und gipshaltig erst nach gründlicher Destillation als Trinkwasser verwertbar. Trotzdem ist der Planet dank frühzeitigen Terraformings für Menschen einigermaßen erträglich geworden. Heute ernähren gene tisch angepaßte Pflanzen terrestrischer Abkunft nomadische Hirtenstämme. Im 21. Jahrhundert gab der Planet aus sowjet ischer Sicht ein perfektes Gefängnis für Radikalinskis aus dem Nahen Osten ab.
Pallas Mikros zupfte, tief in Gedanken, an einer der Speckfalten seiner Gurgel, während er ins Holo blickte. Eine Gruppe in weite Wüstengewänder gekleideter Män ner durchquerte mit sichtlichem Gehabe des Hochmuts und des Mißtrauens das Mittelschiff des Tempels. Die Leibwächter ähnelten, wie sie, allzeit in Erwartung des Schlimmsten und in (Bereitschaft ständig an ihren schwe ren Blastern fingerten, nervösen Frettchen. Ein Priester eilte den Besuchern entgegen, die Hände aneinandergelegt zur Geste des Gebets und der Segnung. Die Gruppe ver langsamte, in den Mienen nichts als Verachtung. Vorher war der Tempel die Große Moschee gewesen. Inzwischen waren die Zierbecken zubetoniert worden. Längs jeder der Steinmauern standen wuchtig zwei Meter dicke, stämmige Säulen, stützten mit ihrer gedrungenen Massigkeit das Gewicht des weiten, übers Bauwerk gespannten Kuppelgewölbes. Die Kuppel, zuvor hallin tensiver Resonator flehentlicher Anrufungen Allahs, wies als Verzierung aufgemalte geometrische Darstellungen auf; jetzt war ihr Glanz stumpf geworden, Rußstreifen hat ten sie geschwärzt, manche Teile ließen sich, wo der Stuck
geborsten und herabgefallen war, nicht mehr erkennen. Selbst hier wehte Basars staubfeiner Sand über die vom Ausgetretensein blitzblanke Glätte des steinernen Fußbo dens. »Also kommt er endlich, um sich die Sache persönlich anzusehen«, nuschelte Pallas leise. »Ausgezeichnet.« Tiara trat hinter ihn, legte ihm die langen, schlanken Hände auf die Schultern. Er spürte, wie sich ihre festen Brüste an seinen Rücken preßten, während sie an ihm vor bei das Geschehen mitverfolgte. Trotz seiner nahezu faszi nativen Aufmerksamkeit für das Holo konnte Pallas es sich nicht versagen, hinter sich zu langen und die Rundun gen ihrer herrlichen Hüften zu streicheln. »Was sind das für Typen?« Tiaras sinnlich-dunkle Stim me schmeichelte Pallas' Gehör. »Scheich Achmed Hussein und Gefolge«, erklärte Pal las. »Einer dieser halsstarrigen Shi'a-Führer. Haust drau ßen in der Wüste. Er und sein Stamm bestreitet den Lebensunterhalt durch Edelsteinsuche. Gelegentlich bud deln sie ein bißchen bergbaumäßig danach, während ihre Ziegen verhungern. Er ist einer der Mächtigen, ein Mul lah. Will man Gerüchten glauben, spricht Allah im Wüstenwind zu ihm, und Mohammed schreibt mit Blitzen an den Himmel. Natürlich kapiert nur er das alles.« Tiara lachte in hellen Lauten. Pallas lächelte. »Du findest das albern? Zurecht, klar. Aber er gehört zu den Falken. Ich weiß von unseren Spio-nen, daß er hier aufkreuzt, um uns auszumerzen. Um den Feldzug gegen uns zu predigen, einen Heiligen Krieg — Dschihad nennen sie ihn — zu unserer Vernich tung auszurufen.« Tiara, stets Verführerin, schmiegte sich um Pallas' fei sten Leib, um genauer hinzuschauen. »Weißt du was? Nach einem Bad könnte er recht attraktiv aussehen.« Pallas neigte den Kopf zur Seite, betrachtete die Wiedergabe im Holo-Monitor. Er vermochte Tiaras Inter esse durchaus nachzuvollziehen. Eine Aura von keiner Bescheidenheit geminderten Selbstbewußtseins umgab
den Mann, etwas elementar Männliches und Ungezähm tes ging von ihm aus. Achmed Hussein bewegte sich beim Gehen, umwallt von seinem Burnus, wie ein Tiger. Seine Gesichtszüge, teils verhüllt durch die Keffijeh, erinnerten Pallas aufgrund ihrer Länge, Hagerkeit und Scharfgeschnittenheit an einen Wolf. Das Gesicht hatte dank seiner Wohlgeformtheit ein beeindruckend gutes Aussehen; die Schmalheit der braunen Nase glich der sorgsam gepflegte, schwarze Bart harmonisch aus. In den schwarzen Augen glänzten Willenskraft und Fana tismus. »Und trotzdem stattet er uns einen Besuch ab«, kon statierte Pallas versonnen, während der Monitor die weiteren Ereignisse übertrug. Hussein stand stolz vor dem Sanktuarium, nahm das Geschenk des Wassers ent gegen. Anschließend stapfte er zu einem Priester und ver schränkte die Arme. »Ich bin gekommen«, sagte er in gebieterischem, geringschätzigem Tonfall zu ihm, »um mir dieses ... Mirakel eures Deus anzusehen.« Hinter ihm schmunzelte sein Anhang, scharrte mit den Stiefeln, Belu stigung glomm in den glänzenden Räuberaugen. Der Priester verbeugte sich und deutete mit dem Kopf in die Richtung des Allerheiligsten. »So«, stieß Pallas unterdrückt hervor, ballte die Hand zu einer kloßigen Faust, so daß seine Ringe aneinanderklirrten, Funken zu stieben schienen. »Jetzt haben wir ihn.« Tiara stützte ihr Kinn auf seine Schulter, Wellen seidi gen schwarzen Haars fielen ihm auf den Arm. »Läuft's immer gleich ab?« Pallas zuckte die Achseln, sah zu, wie Achmed Hus sein arrogant das Sanktuarium betrat, während seine Leibwächter die Blaster und Dolche betasteten und arg wöhnisch umherspähten. Der Vorhang schloß sich hin ter ihnen; der kleine, vom Vorhang abgeteilte Raum durchmaß kaum fünf Meter, bot eben noch genug Platz
für Hussein und seine Begleiter. Lange, gelbbraune Gehänge aus feinen arcturischen Stoffen bedeckten die Wände. An der Rückwand des Raums ragte eine einzel ne Stele aus Stein empor. Ihr schenkte Hussein nunmehr seine Aufmerksamkeit. »Nun verpassen wir ihnen was mit den Stunnern«, be merkte Pallas leise. Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, sackten Hussein und seine Begleitung auf den Fußboden nieder. Unverzüglich hoben sich die seitlichen Vorhänge, und Techniker schwärmten ins Sanktuarium. Die Spitze der Stele fuhr aus und schwenkte abwärts, erwies sich als Komponente einer normalen medizini schen Psyching-Vorrichtung. Techs legten den Mullah zurecht, senkten ihm das kastenartige Psyching-Kontaktron über den Schädel, bis es richtig saß. »Und wenn Hussein abreist, glaubt er, die Hand Gottes hätte ihn berührt?« Mit kühlen, schmalen Fingern strich Tiara über Pallas' Wange. »Genau. Deus' Wort wird ihm eingeflüstert ... Ihm direkt in die Synapsen des Gehirns gesengt.« Pallas schaltete den Monitor ab, drehte sich um und schloß Tiara in die fetten Arme, preßte sie an seinen enormen Wanst, stierte ihr in die meergrünen Augen. »Er wird sich an nichts als die Wonnen Deus' erinnern, ein Licht der Freude und des Entzückens, ein Verschmelzen mit Gott. In der Erinnerung seiner Männer wird er levitiert, in einem goldenen Helligkeitskegel in die Höhe geschwebt sein, während sie sich, betäubt durch Deus' Stimmgewalt, nur duckten. Per Technik werden Ahnungslosigkeit und Aberglauben durch etwas für uns Wünschenswertes ersetzt. Wirklich hervorragend. Ich hätte nie gedacht, es würde so gut klappen.« Tiara schüttelte den Kopf, neigte ihn leicht seitwärts, warf ihr Haar über Pallas' Hände, ließ die dichten Wim pern ein wenig sinken und schaute ihm aufreizend ins Gesicht. »Was machen wir hier eigentlich? Laß uns nach Varta zurückkehren, Pallas ... Oder irgendwohin, wo's
wenigstens sauber ist und wir uns mit Leuten unterhalten können, die ...« »Seht ...« Er lächelte sie an, senkte die Hände und be tastete ihr strammes Gesäß. »Gegenwärtig fasziniert mich diese abenteuerliche Angelegenheit. Ich glaube, allmählich verstehe ich, was Ngen vorhat. Unsere Macht wächst schon ziemlich schnell, sie fegt regelrecht um diesen Wüstenplaneten, fast wie einer der hiesigen Sand stürme.« Mit rosiger Zunge befeuchtete Tiara sich die vollen Lippen, verengte die Lider zu Schlitzen. »Und du traust Ngen? Was ist das für eine Kammer, die er da unterm Tempel anlegt? Die mit den vielen Betten, hm? Will er vielleicht als religiöses Nebengeschäft Prostitu tion betreiben?« Einen Moment lang überlegte Pallas. »Wäre unter Um-ständen keine schlechte Idee. Aber nein, ich habe, was Ngens Absichten mit dieser Räumlichkeit betrifft, keinerlei Kenntnisse. Wie er sich amüsiert, geht mich nichts an.« »Aber weshalb muß es hier sein?« Tiara löste sich von Pallas, kehrte sich der dicken Einwegscheibe des Fen sters zu. »Schau doch mal hinaus! Kannst du den Hori zont er-kennen, Pallas? Alles, was man sieht, ist Sand, der durch die Gegend wirbelt, rotbraune Staubwolken riesigen Aus-maßes. Und das hier wird eine Stadt genannt? Heiliges Neutronium, diese Elendshütten, in denen gewohnt wird, sind aus Dreck und Steinen erbaut. Die Bewohner schmeißen die Abfälle als Futter für die Hunde und Ziegen auf die Straßen. Um Himmels willen, sie pissen an die Wände! Geh doch mal hinaus: Die Luft ist dermaßen trocken, daß man Nasenbluten kriegt, einem die Haut aufplatzt und sich anfühlt wie dieser ver dammte Sandstein, auf dem man überall herumlaufen muß.« Während das Paar durchs Fenster hinausblickte, flammten am von Sand durchwehten Himmel Blitze,
durchzuckten den ionisierten Staub als weiß-violette, gezackte Leuchtbahnen. »Und die Menschen?« Nochmals schüttelte Tiara denKopf. »Pallas, ich habe in Weltraumstationen Zuchtvieh gesehen, das gescheiter war als diese ... dieser Pöbel. Warum hier? Was hat es mit dieser Welt denn auf sich? Ich will weg.« Pallas streckte die Arme nach ihr aus, drehte sich ihr Gesicht zu, befummelte mit seinen Wurstfingern ihre Ge stalt, streichelte, koste ihren Leib. »Wir sind hier wegen unserer Zukunft, mein teures Liebchen. Auf Station Varta müßte ich irgendwann doch meinen Kram packen. Nein, schau mich an. Du weißt, wie's ist. Ich bin Schmuggler. Ich bin Hehler gestohlener Güter, Waffenhändler ... und nicht zuletzt Anbieter verbotenen menschlichen Fleischs, hmm?« Er küßte ihre schlanke Hand, strich mit dem Dau men über den weichen Handteller. »Im Moment ist das Direktorat schwer erschüttert. DiePatrouille ist beinahe handlungsunfähig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr die Romananer und die sirianische Rebellion die Verhältnisse aus dem Lot gebracht haben. Aber die Patrouille wird sich berappeln, und dann wird sie nicht mehr so umgänglich wie früher sein. Ich merke Ngen Van Chow eine gewisse Genialität an, eine geistige Scharfsichtigkeit und Brillanz, die von allen anderen bisher außer acht gelassen worden ist. Man wird noch bereuen, daß ...« »Auf Sirius ist er unterlegen«, entgegnete Tiara pat zig. »Du solltest dich von ihm nicht blenden lassen, Pallas. Laß dich nicht von ihm für seine Überge schnapptheiten verheizen. Was könnt ihr auf diesem Scheißhaufen von Planeten denn schon erreichen, was bringt euch das Psychen solcher ...« Schwer seufzte Pallas. »Verheizen? Mich? Pallas Mi kros?« In ehrlicher Erheiterung lachte er. »Nein, mein Liebling. Um mich zu verheizen, braucht es jemand ande res als Ngen. Ich habe nicht dank Blödheit im Schatten des
Direktorats so lang überlebt, und ich hätte heute kein unbeschadetes Gehirn mehr, wäre ich ein Dummkopf. Ngen hat mich lediglich auf eine Gelegenheit hingewie-sen. Während ich bisher eine wunderschöne Woh nung in Station Varta hatte, kann ich künftig Eigentümer — hörst du, Eigentümer — einer kompletten Welt sein.« Tiara hob das Kinn. »Großartig. Und du denkst, Ngen wird sie dir überlassen? Diesen Planeten hier willst du haben? Basar? Voller verwehtem Sand und verblödeter Lümmel, die ihre Schafe ficken? Hier baden sie nicht mal, Pallas. Sie stinken. Sie hocken sich hin und scheißen auf die Straße. Auf die Straße!« »Wasser steht hoch im Kurs.« »Sie können nicht lesen. Standard wird auch nicht ge sprochen. Abseits in den Gassen gibt's Mord und Tot schlag, sie streiten sich wegen ein und desselben Gotts, weil sie so stumpfsinnig waren, ihm drei verschiedene Namen anzuhängen.« »Und genau das werden wir für uns ausnutzen.« Pallas rieb sich die Hände, und die Ringe warfen ein schillerndes Kaleidoskop von Glanzlichtern auf sein Gesicht. »In ein paar Minuten wird Hussein abreisen und den Wüstenstäm men die frohe Botschaft bringen, daß Deus der wahre Gott und erschienen ist, um seine Kindlein zu retten und um sich zu scharen.« »Es ist doch bloß Psyching«, antwortete Tiara. »So krasse Verhaltensänderungen sind zu auffällig. Irgend wann wird jemand etwas merken, und dann kommen eure Ziegenhirten angerannt, um euch den Hals abzuschnei den.« »Auf diesem Planeten nicht, liebe Tiara. Wir haben uns die Wahl gut überlegt. Was verstehen diese Tölpel hier denn vom Psychen? Sogar das Direktorat hat sie, nachdem es sie schlichtweg nicht an die Kandare nehmen konnte, schließlich in Ruhe gelassen. Ihre wissenschaftlichen Kenntnisse, falls man überhaupt davon reden kann, sind gänzlich rudimentärer Art. So etwas wie Psyching können
sie sich gar nicht vorstellen. Das einzige Interesse des Direktorats besteht hier aus ...« »Das ist ja wirklich ein Prachtstück von Welt.« Tiara verschränkte die Arme. »Wie wirst du dich denn nennen? Herr der Sandstürme?« »Tiara, mein Schatz, dabei soll es ja nicht bleiben. Viel leicht werde ich mich bald Herr der Erde nennen? Gebie ter von New Maine? Herrscher von Indus? Wir stehen erst am Anfang.« Tiara wirkte angeödet. »Ich möchte nach Hause, Pallas. Ich will endlich wieder im Luxus schwimmen.« Vor seinem Kinn legte Pallas Mikros die Fingerkuppen aneinander. »Sag mir, mein Schätzchen: Liebst du mich?« Achtsam musterte Tiara ihn. »Auf gewisse Weise. Du bist sehr gut zu mir. Die Geliebte eines reichen Mannes zu sein, ist mir angenehm. Und ich sorge dafür, daß auch du dabei sehr gut abschneidest, Pallas.« Anzüglich räkelte sie ihre Gestalt. »Du wirst im gesamten Direktorat wohl höchstens eine Handvoll Frauen finden, die so ein Talent wie ich haben, wenn es darauf ankommt, einem Mann Vergnügen zu bereiten.« Pallas faßte eine ihrer üppigen Brüste und zog Tiara an sich. »Geld bedeutet Macht, Tiara. Bleib bei mir. Steh diese Phase mit mir durch. Wer weiß, vielleicht werde ich dir eines Tages einen eigenen Planeten schenken.« Sie beugte sich vor, knabberte an seinem Ohrläppchen. »Ich kann geduldig sein ...«, flüsterte sie. »Wenigstens für ein Weilchen.«
2
AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT), JENSEITS DES AUSSENSEKTORS
Welt ist ein von Menschen bewohnter Planet, der nicht der Direktoratsregierung untersteht, und wurde — infolge eines durch einen Funklenkfrachter aufgefangenen Radiosignals — erst am 9. Januar 2782 wiederentdeckt. Die Vorfahren der Romananer, Deportierte der sowjetisch beherrschten Erde, kaperten ihren Gefangenentransporter, die Nikolai Romanan, und landeten auf Welt. Detaillierte Aufzeichnun gen ihres Flugs und des anschließenden Überlebens sind in Direktorats-Datenspeichern nicht enthalten. Nach der Entdeckung durch das Direktorat haben Welt und seine Bewohner die Kontinuität der Direktoratspolitik gebrochen und maßgeblichen Einfluß auf die Politik genommen. Als Auswirkung der illegalen Funksendung Dr. Leeta' Dobras sowie der sirianischen Rebellion sind die Romananer inner halb des vom Direktorat verwalteten Alls zu einem Macht faktor geworden. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind gegenwärtig noch nicht in vollem Umfang absehbar.
Admiral Damen Ree kratzte sich am Hinterkopf und setz te sich in den Kommandeurssessel. Sofort paßte die elasti sche Polsterung sich den Konturen seines Körpers an. Gera de durchquerten die letzten Konferenzteilnehmer den Ein gang, suchten sich am langen Konferenztisch ihre Sitze, mel deten mittels Kontaktron ihren Aufenthaltsort der Kommu. Ree nickte einem Soldaten zu, der Gläser mit gutem Sherry füllte, sie am Tisch verteilte, während Rees Stabsangehörige und Offiziere sich in den Konturensesseln zurechtrückten, sich über ihre persönlichen Kommu-Geräte beugten, gele gentlich zu den Wandmonitoren hochblickten. Indem er tief einatmete, die Lungen füllte, schaute Damen Ree im Konferenzsaal in die Runde. Am einzigen,
langen Tisch saßen jetzt in enger Aufreihung sein Komman dostab und die Offiziere. Ringsherum strotzten die weißen Wände von Kommu-Apparaten und sonstigen Bildschir men. Unter der Decke montierte Monitore projizierten die Daten des Schiffsstatus, über den die zuständigen Offiziere sich laufend informiert hielten. Adjutanten eilten inmitten des Stimmengewirrs umher, das zusehends anschwoll, weil jeder Anwesende den allgemeinen Lärm zu übertönen ver suchte. Der Admiral ließ seinen Blick über die Gesichter schwei fen, forschte in jeder Miene. Majorin Rita Sarsa, die ihr rotes Haar im Nacken zu Zöpfen romananischen Stils geflochten hatte, starrte gedankenschwer ins Weite. Falten furchten ihre Stirn, und die Lippen hatte sie leicht zusammengepreßt. Aufgrund ihrer stetigen, unterschwel ligen Wachsamkeit spürte sie Rees Beachtung, neigte den Kopf geringfügig zur Seite. Ihre grünen Augen, in denen Intelligenz und Kühnheit schimmerten, erwiderten kühl sei nen Blick. Auf ihrer hellen Haut schienen die Sommer sprossen zu leuchten. Erfolg und die Beständigkeit, die Eisenauge in ihr zuvor stürmisches Leben gebracht hatte, wirkten sich, befand Ree, während er beobachtete, wie sie die Coups an ihrem Gürtel betastete, auf sie vorteilhaft aus. Sie erwiderte sein Augenzwinkern. Ihr Mann, John Smith Eisenauge, Kriegshäuptling der Romananer, hatte zu ihrer Rechten Platz genommen. Er war ein muskelbepackter Hüne und konnte im Saal den Ton angeben, ohne ein Wort zu sprechen. Seine schwarzen Augen schienen wie heiße Magneten die Seele eines Men schen, um zu wägen und zu urteilen, ans Licht ziehen zu können. Einmal hatte John entschlossen einen romanani schen Bären mit nichts als einem Dolch getötet — eine Tatsache, die Ree nur mit Mühe glauben mochte. Eisenau ge unterhielt sich ernst mit dem Mann, der rechts von ihm saß. Major Neal Iverson, wegen seiner Blondheit und Hoch
gewachsenheit geradezu der Werbeposter-Typus eines Patrouillensoldaten, hörte Eisenauge aufmerksam zu. Neal blieb immer unbeeindruckt, als wäre er aus Stahl geschaffen. Erinnerungen an Sirius kamen Ree in lebhaf ten Bildern, er entsann sich an den beruhigenden Einfluß von Neals Stimme. Wäre ohne Neal überhaupt jemand von ihnen noch am Leben? Wie oft hatte er, während die Sirianer die schwerbeschädigte Projektil zu kapern ver suchten, Enterkommandos früher als andere erkannt, die Mannschaft zum Gegenstoß angefeuert? Unter Rees Herz breitete sich ein warmes Gefühl dankbarer Zuneigung aus. Gegenüber hatte Major Glick seinen Sitz am Tisch, das Kontaktron fest über den knochigen Quadratschädel ge zogen, die Augen geschlossen, die Arme auf der Brust ge kreuzt; Ree hätte jederzeit beschworen, daß der Major weite re der am Schiff geplanten Modifikationen koordinierte und überwachte, sich bis zu der Sekunde, in der die Besprechung anfing, dieser Aufgabe widmete. Noch mehr wichtige Offiziere waren anwesend: Die Hauptleute Mishima und Max Wan Ki sowie Leutnant Anthony, die bei Ree auf der Projektil geblieben waren, mit ihm den Irrsinn der letzten Jahre durchgestanden hat ten. Der letzte Teilnehmer der Sitzung verwirrte Ree — und nicht allein ihn, sondern höchstwahrscheinlich ebenso alle anderen, die ihn kannten. Chester Armijo Garcia war eine Art von romananischem Schamanen. Die Romananer bezeichne ten ihn als Propheten und behaupteten, obwohl er noch ein junger Mann war, er sei einer der >A1ten<. Tatsächlich ver lieh ihm der heiter-beschauliche Gleichmut seiner braunen Augen, obschon er nicht mehr als vielleicht dreißig Jahre zählte, den Anschein der Reife hohen Alters. Diese Augen sahen Dinge, die einem normalen Menschen verborgen blie ben. Chester, ein Fliegengewicht von einem Mann, saß still an
seinem Platz, ein ewiges Lächeln, das jedoch keinerlei Über heblichkeit, sondern nur Sanftmut bezeugte, im Gesicht. Nie hatte Chester es eilig, niemals legte er Hast an den Tag, und nie — Gott behüte! — ließ sich ihm außer gelindem Frohsinn irgendein Gefühl anmerken. Durch diese Fassade schien aus seinem Innern diese verdammte permanente Gelassenheit zu emanieren, die sich auf alle übertrug, die sich in seiner Nähe aufhielten. Nicht einmal Eisenauge wagte es, dem Propheten ins Gesicht zu blicken. Teils ging diese Scheu auf kulturelle Tradition zurück; doch alle Durchschnittspersonen befiel Nervosität, sobald ein Prophet in ihre Mitte trat. Wie könnte man jemandem, der den Tod seiner Mitmenschen vorherz usehen vermochte — die vielen Zukünfte, die Wirklichkeit werden konnten —, mit Gleichgültigkeit begegnen? »Ich war der Meinung, es wäre gut, wir hätten vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen noch ein paar Minuten für uns«, eröffnete Ree die Sitzung, trank Sherry und sammelte erneut seine wieder abgeschweiften Gedanken. Sarsa stützte sich auf die Ellbogen, ihr Blick maß den Admiral. »Haben Sie eine Ahnung, was man von uns will?« Ree straffte die Kinnmuskeln. »Nein, aber vermutlich sind sie hinter technischem Wissen her. Mir ist bekannt, daß die Patrouille unbedingt die Fujiki-Verstärker für die Blaster haben möchte.« »Wir vergeben sie nicht.« Eisenauge brauchte die Stimme nicht zu heben. »Nein, auf keinen Fall«, stimmte Ree zu. »Mit den Ver stärkern ist die Projektil unbesiegbar.« »Wir sind noch mitten in den Umbauten, Admiral«, sagte Iverson. »Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen, seit wir im Siriussystem zusammengeschossen worden sind, aber es kann noch bis zu sechs Monaten dauern, bis alle Arbeiten fer tiggestellt sind, die wir angefangen haben. Ähm ... tja, es besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir noch in einem Jahr daran arbeiten, falls Giorj nicht zurückkehrt. Er ist der einzi ge, der die Konzeption seiner Entwürfe wirklich kapiert.
Glick gibt sich Mühe, aber ...« Er verstummte mit einem Achselzucken. Major Glick nickte. »Wir brauchen Giorj.« Zum Einverständnis stieß Ree ein Brummen aus. Heiliges Kanonenrohr, das alles wußte er längst! »Ob sie vielleicht von der Expedition nach Frontier gehört haben?« meinte Rita, indem sie sich in den Sessel lehnte. Sie schnitt eine noch grimmigere Miene, eine Hand näherte sich dem Griff ihres romananischen Kriegsmes sers. »Es handelt sich um eine rein wissenschaftliche Expe dition, und romananische Raumschiffe haben das Recht, auf jeder Direktoratswelt zu landen«, erinnerte Ree sie. »Der Großmeister ist gebeten worden, im Fall von Bedenken zuerst uns zu kontaktieren. Darauf hat er sein Wort gege ben. Man nimmt solche Sachen dort sehr ernst.« »Sie wissen, was für ein Potential in den alten Compu-tern steckt«, sagte Neal Iverson. »Da steht eine Menge auf dem Spiel, Damen. Was Giorj findet, könnte sehr wohl ausrei chen, um das Direktorat auch noch aus seinem geringen Rest an Gleichgewicht zu werfen.« Ree nickte, tat es so, daß es zum Teil wirkte, als nickte er grüblerisch vor sich hin. »Wäre das bloß auch allen anderen klar ... Aber gleichzeitig hat diese Goldmine dem Direktorat doch offengestanden, seit vor zweihundert Jahren die Bru derschaft vertrieben worden ist.« Müde reckte sich Sarsa. »Andererseits hatte nicht gera de eine derartige Revolte wie auf Sirius stattgefunden. Vorher hat die Patrouille nie eine Niederlage hinnehmen müssen. Jeder weiß, daß Ngen Bruderschaftstechnik benutzt hat. Die verfluchten Blaster der Sirianer haben im Siriussystem die halbe Flotte zu Schrott zerschossen. Oder Toby und die anderen könnten irgendwelche Machen schaften angezettelt haben. Und wir dürfen, bei Spinne, nicht vergessen, daß Jaischa Mendez keinen Grund hat, um uns zu mögen.«
»Ob die Überbleibsel der Patrouille künftig immer ver suchen werden«, überlegte Neal Iverson laut, »sich gegensei tig den Hals umzudrehen?« Schweigen entstand, während sämtliche Anwesenden sich über diese Frage Gedanken hingaben. Alle Versammelten außer Chester, der nur an seinem Platz saß und vor sich hin summte, den Eindruck erregte, als betrachtete er irgend etwas in weiter Ferne. Als einziges bewegte er die braunen Finger, die er auf dem zerfransten Lederhemd ineinander verklam mert hatte. »Ein Anruf aus Arcturus-Stadt«, ertönte eine Durchsage der Kommu. »Das wird's sein, glaube ich.« In seinem Sessel nahm Ree eine angespannte Haltung ein. »Durchschalten.« Erwartungsgemäß erschien auf einem Bildschirm — neben den Mienen seiner beiden Kollegen An Roque und Semri Nawtow — das Konterfei Direktor Skor Robinsons. Der fürchterlich monströse Anblick bereitete Ree Unbeha gen. Die Schädel der Direktoren mußten einen Durchmesser von gut einem Meter haben, ähnelten großen, fleischigen Kürbissen, unter denen wie eine Ausbeulung die Karikatur eines menschlichen Gesichts hing. Ihre Riesengehirne stan den in direkter Verbindung mit den Anlagen des Giga-Computerverbunds, der Wirtschaft und Informationswesen der Menschheit steuerte. Seit das Direktorat zerfiel, übten die Direktoren nur noch über letzteres wirklich effektive Len kung aus. »Meine Herren Direktoren«, sagte Ree zur Begrüßung, deutete eine Verbeugung an. Irgend etwas machte ihn stut zig. Irgendeine Änderung in ihren verschlossen-abweisenden, bläßlichen Mienen ... Ja, das war es: Ein Ausdruck von Zermürbung. Die Gesichtszüge waren spitz geworden, verräterische Fältchen, wie sie auf zuwenig Schlaf und zu starke Streßbelastung zurückgingen, waren zu erkennen, hatten sich um die im Vergleich zur Schädelwölbung win zigen Äuglein eingekerbt.
Chester lächelte herzlich, als Skor Robinson, sobald er ihn sah, den Blick fest auf den Propheten heftete. »Bist du da, um meinen freien Willen auf die Probe zu stellen, Prophet?« erkundigte sich Robinson, indem er die übrige Versammlung unbeachtet ließ, in seiner kratzigen, wenig benutzten Stimme. »Ein Cusp steht bevor«, antwortete Chester mit gut mütigem Gesichtsausdruck. »Mein Cusp?« »Wir werden's sehen, Direktor«, sagte Chester leise. Robinson schenkte seine Aufmerksamkeit Ree. »Die ande ren Patrouillenkommandeure können nun zugeschaltet wer den.« Ree winkte mit der Hand, zeigte damit an, daß es ihm gleich blieb, ob die Unterhandlungen so oder so abliefen. Anwesende setzten sich an ihren Plätzen in förmlicherer Hal tung zurecht. Es muß tatsächlich etwas Wichtiges geschehen sein, dachte Ree. Aber was? Welche Falle wird uns diesmal gestellt? Wozu braucht er die Obristen ? Wer hat den Vor gang programmiert? Mendez? Die übrigen Halunken? Vor sicht, Damen, diese Leute sind fähig, dir den Arsch aufzu reißen und dich abzuservieren, ehe du dich versiehst. Plötzlich schien der Konferenzsaal völlig überfüllt zu sein, als die holografischen Projektionen aufflimmerten, in denen ein Hintergrund sonderbar in den anderen ver-schwamm. Vor sich erblickte Ree den Zirkel der mächtigsten Personen der Galaxis, vereint zu gemeinsamen Erörterungen: Die Kombi nation der Macht- und Befehlshaber des Direktorats und der Patrouille. Er bemerkte ein dunkelhäutiges Gesicht und emp fand eine Aufwallung von Herzlichkeit. Er nahm sich die Freiheit, Maya ben Achmad zuzuzwinkern. Während der letzten, entsetzlichen Stunden im Siriussystem hatte sie ihn unterstützt. Jetzt glomm in den Augen der Kommandantin der Viktoria ein Funkeln — etwas wie eine Verheißung des sen, was hätte werden können, wären die Umstände anders gewesen.
Mayas tiefdunkle Haut kontrastierte mit dem Weiß hinter ihr; Intelligenz und Elan schimmerten ihr aus den Au-gen. Über ihren anmutigen Brauen erhob sich eine senkrechte, glatte Stirn. Feste Wangenknochen flankierten den geraden Nasenrücken, der sich zu weiten Nasenflügeln erweiterte, die ihrerseits die vollen Lippen akzentuierten. Die Schwere Ver antwortung ihrer Kommandofunktion hatten nur ihren Mundwinkeln herbe Furchen eingeprägt. Ihr üppiges, krau ses Schwarzhaar baumelte ihr in dicken Ringellocken auf breite Schultern. Mühsam wandte Ree den Blick von ihrer Erscheinung. Toby Kuryaken von der Miliken war, den silberblonden Pferdeschwanz auf der einen Schulter, neben Maya sichtbar geworden. Sie und Jaischa Mendez mit ihrer Toreon waren mit Ree zusammen im Siriussystem, wo man die Projektil übel zerschossen hatte, im Einsatz gewesen. Sie hatten die Bereitschaft gehabt, die Projektil auf Skor Robinsons Befehl vollends zu vernichten. Noch jetzt machte erbitterte Abnei gung ihre Mienen hart, als ihre Blicke durch den Saal auf Ree fielen. Jaischa Mendez' Haß schien ihr regelrecht aus den Augen zu lodern. Ferner waren sämtliche restlichen Patrouillenkomman deure und -kommandeurinnen ebenfalls zugeschaltet: Der weißbärtige, gealterte Ben Mason von der Gregorius; die fernöstlich-zierliche Tabi Mikasu von der Kamikaze; die geris sene, junge, schöne, schwarze Tigerin Amelia Ngurnguru von der Amazone; von der Uhuru der triefäugige, angekahl te, kadaverdürre Claude Devaulier; und der bleiche, schwarz bärtige Peter Petruschka von der Ganges. Sie verkörperten die gesamte Macht des Direktorats und seiner Patrouille — alles was noch zwischen einer im Verfall begriffenen Zivili sation und wer wußte was stand ... Im ersten Moment warteten sie mit sichtlich ver krampftem Gebaren lediglich ab. Aus ihren Blicken spra chen Vorwurf und Verurteilung: Verräter. Piraten. Abtrünnige. Das Schweigen ihrer verpreßten Lippen schien lauter als Geschrei anzuklagen. Ihre verspannten
Muskeln brachten nachdrückliche Mißbilligung zum Ausdruck. Sie haßten Ree und die ganze übrige Besat zung der Projektil. Zum Schluß, nachdem ihre Augen paare, in denen nicht einmal der Ansatz eines Verzeihens stand, langsam alle sonstigen Teilnehmer der Bespre chung gemustert hatten, konzentrierte sich ihre Beach tung auf Eisenauge, Sarsa und Chester. Sie hatten wie Richter ihre Urteile parat und fühlten sich anscheinend gleichzeitig als Henker. Das Kribbeln einer bösen Vorahnung sträubte Ree die Nackenhaare. Sarsa ballte die Hände zu Fäusten, unter ihrer sommersprossigen Haut zeichneten sich die Sehnen ab. Aus verengten Lidern betrachtete Eisenauge die Befehlshaber der Patrouille, glich dabei einem Raubtier vor dem Sprung. Neal Iversons Kinnmuskulatur zog sich unter der glatten Haut zu einem Knoten zusammen. Kurz schielte Ree hinüber zu Chester. Freundlich erwi derte der Prophet jeden der feindseligen Blicke, nickte un gerührt, summte unverändert friedlich vor sich hin. Selbst in diesen Momenten schaute er fortwährend multiple Rea litäten: Als sähe er hinauf in einen Baum, so entfalteten sich vor ihm wie verzweigtes Geäst die verschiedenen möglichen Zukünfte. Jeder Ast bedeutete eine Entschei dung, einen sogenannten Cusp, der die Zukunft determi nierte. Allerdings vermochte Chester nicht vorauszusagen, welche der vielen Verzweigungen letzten Endes faktische Wirklichkeit werden sollte. Die Romananer behaupteten, daß Spinne den freien Willen mit äußerster Wachsamkeit hütete. Chester bemerkte Rees Blick. »Haben Sie sich schon ein mal Vivaldis Vier Jahreszeiten angehört?« fragte Chester lie benswürdig. »Das ist eine so schöne Musik. Die Klänge und Melodien erheben den Zuhörer, tragen ihn empor wie im Wind. Sie ergreifen die Seele. Es ist eine wahre Freude, sie zu genießen.« »Nein, nie«, entgegnete Ree unbekümmert, spürte ein
schlagartiges Verpuffen der Spannung. Er kostete die Anzei chen der Ungläubigkeit aus, die es ringsherum zu sehen gab. Die verfeindeten Kommandeure waren aus der Fassung gera ten, ihre Aufmerksamkeit galt jetzt Chester, diesem ver meintlichen Irren. Ree unterdrückte ein Auflachen; er war mittlerweile an Propheten und die Dinge gewöhnt, die für sie Bedeutung hatten. Chester versank in Andächtigkeit, tappte im Takt der Musik, die ihm durch den Kopf ging, mit den Fingern. »Wollen wir dann anfangen?« schlug Maya vor, lehnte sich zurück und schob sich ein Stück Kautabak in den Mund. Sie pflegte die Brocken zu kauen, bis sie völlig durchweicht waren, dann spie sie sie in einen Spucknapf, der gegenwärtig für die übrigen Konferenzteilnehmer un sichtbar blieb. »Ja«, erteilte Skor Robinson in harschem Ton sein Ein verständnis. Er richtete seine hellblauen Schweinsäuglein auf Damen Ree. »Admiral — falls wir Sie so nennen sol len ...« »Sie haben die Beförderung selbst ausgesprochen.« »Wir haben mit Ihnen ein ernstes Problem zu diskutie ren.« Durch ein Nicken zeigte Ree seine Bereitwilligkeit an, es sich darlegen zu lassen. Sicherlich, die Projektil hatte ihre Unabhängigkeit vom Direktorat erklärt. Dennoch war er Admiral der romananischen Flotte, und wenn sie auch lediglich drei Raumschiffe zählte, war deren Bewaffnung nichts, über das irgendwer hätte die Nase rümpfen können. »Während der vergangenen paar Monate ist offenkundig geworden«, fing Robinson seine Ausführungen an, »daß das System des Handels, des Regierens sowie der sozialen Stabi lität, wie es sich generationenlang bewährt hat, nunmehr unhandhabbar wird ...« »Ich glaube«, unterbrach Ree ihn, »Dr. Leeta Dobra hätte den Begriff >Gesellschaftliche Evolution< gebraucht, Direk
tor.« Und es ist noch etwas ganz schrecklich aus dem Gleis gesprungen, Skor. Du rufst doch nicht derartig viele hohe Patrouillenoffiziere für ein Schwätzchen über interne politi sche Angelegenheiten von ihrer regulären Pßichtausübung ab. Skor Robinson besah sich ihn, wie ein Löwe eine Maus betrachten mochte. »Nennen Sie es, wie es Ihnen beliebt. Gewisse Tatsachen bleiben unabänderlich. Eine davon ist, daß wir, die Teilnehmer dieser Konferenz, auf uns dreiund achtzig Komma sechshunderteinundsiebzig Prozent der gesamten im Direktoratsweltraum lavierbaren Macht auf uns vereinen. Diese Macht betrifft hinsichtlich Produktion, Menschenmaterial und ungefähr dreihundertzweiundsieb zigtausendzweihundertundsechs sonstigen miteinander korrelierten Variablen, die für unsere Zwecke statistisch quantifiziert werden können, jedoch nur null Komma fünf zehn Hunderttausendstel der Gesamtressourcen der Menschheitszivilisation. Als Resultat ergibt sich, daß Ver änderungen des gesellschaftlichen Verhaltens uns langsam die Machtbasis entziehen. Für den Fall, daß unsere gemeinsame Macht unter zweiundsechzig Komma eintau sendvierhundertsiebenundsechzig Prozent absinkt, progno stizieren wir ein vollständiges Unvermögen, weiterhin den Kurs der Menschheitsentwicklung zu steuern. Das Ergeb nis wäre ein Chaos, und keine Anstrengungen unsererseits könnten die Kontrolle wiederherstellen.« »Eine ziemlich kopflastige Machtpyramide, finden Sie nicht?« fragte Ree, mißachtete die Feindseligkeit rings um. »Aber funktional«, hielt Skor Robinson ihm entgegen. »Zweitens: Es sind signifikante Variable aufgetaucht, die wir nicht befriedigend quantifizieren können. Im Verlauf des vergangenen Jahrs und der letzten fünf Monate hat sich die Romananerreligion nicht allein im Siriussystem, sondern auch ins übrige Universum ausgebreitet. Der Effekt wird als negativ eingestuft, und wir messen ihm in
Hinblick auf die allgemeine ökonomische Situation und das soziale Wohl der Spezies eine zusätzliche Zerset zungswirkung bei. Zudem sind in diversen Direktoratsin stitutionen spontan Spinnenkulte ungebundener, jüngerer Bürger entstanden. Die Produktivität der Kreise, die der Lehre anhängen, Spinne sei Gott, ist um drei Prozent gesunken.« Ree schien unbeeindruckt. Die Blicke anderer Sitzungs teilnehmer hatten sich Chester zugewandt, der indessen, als ginge ihn alles nichts an, eine Melodie von Brahms summte. »Zur gleichen Zeit verursachen Ihre Romananer beträchtliche soziokulturelle Störungen. Eltern sehen sich zum Bewahren der Disziplin außerstande. Kinder belästi gen sie mit Fragen, die Ärger auslösen.« Robinson ver suchte eine Miene des Mißmuts zu ziehen. Offenbar schmerzte der Versuch die atrophierten Muskeln seines Gesichts. »Jugendliche sind auf einmal von KriegerkultIdeen besessen, die zu Abweichungen in ihrem Sozialver halten führen.« »Das ist nicht unser Problem, Direktor.« »Nun hören Sie mal her, Damen.« Jaischa Mendez beugte sich in ihrem Kommandosessel vor. Ihre Augen glitzerten, während sie einen spitzen Finger hob. »Sie und Ihr Gesindel haben diese Schwierigkeiten zu verantworten, verdammt noch mal, also sollten Sie auch ...« »Danke, Obristin.« Skor Robinsons Stimme brachte Men dez, obwohl er leise sprach, sofort zum Schweigen. »Mit Gefühlsausbrüchen und Anschuldigungen erreichen wir gar nichts.« Ihrer beklommenen Miene zufolge hätte Jaischa Mendez in diesem Moment einen lebendigen Frosch verschluckt haben können. Ree verkniff sich ein Feixen. Die Romananer waren auf eine völlig unvorbereitete Galaxis losgelassen worden. Der Umstand, daß die Propheten in die Zukunft zu sehen
fähig waren, widersprach vollkommen der anerkannten Lehrmeinung der Physik. Alle etablierten jüdisch-christlich-islamischen Traditionalisten hatten ein Protestgeheul angestimmt — »Satanismus!« —, während die Hindus die Achseln zuckten — »Haben wir doch schon immer gewußt ...« — und die Buddisten zufrieden nickten, sich fragten, wann auch der letzte Grashalm ins Nirwana über gehen mochte. Unter Erwachsenen waren Messerfehden Mode gewor den, und eine Welle von Coup-Beutezügen, Airmobil-Diebstählen und Raubüberfällen, bei denen die Jugend dem nach eiferte, was sie in den Medienholos zu sehen bekam, stiftete bei den überforderten staatlichen Behörden Verwirrung und gänzliche Überlastung. Die durch den Kontakt mit der ver gessen gewesenen Romananer-Kolonie aufgewühlten Wogen der Gewaltverherrlichung schlugen noch immer gegen selbst die fernsten Ufer. Ree beobachtete An Roques maskenhaftes Gesicht. In den Augen des Assistenz-Direktors spiegelte sich Furcht wider. Und es dreht sich auch nicht bloß um einen Haufen junger Leutchen, die Romananer spielen. Nein, hier geht es um etwas mit tieferen Auswirkungen. Was wissen sie, das Roque so erschüttert hat? Robinson räusperte sich. »Drittens existiert inzwischen eine weitere neue Religion, die wir nicht verstehen.« Aus plötzlicher Neugier ruckte Rees Blick zu ihm hoch. »Ihre Gründung ist auf dem Planeten Basar erfolgt. Zwar hat sie bisher eine erst kleine Anhängerschaft, aber ihre messiani sche Natur, zumal ihr Aufkommen mit dem Umsichgreifen der romamanischen Religion parallel verläuft, hat uns doch erheblich verblüfft. Wir sind überhaupt nicht dazu in der Lage, sie uns zu erklären.« »Erzählen Sie uns Näheres«, sagte Ree, dessen Interesse erwachte, beugte sich vor. Ist es das ? Eine neue Religion? Könnte das es sein, was ihnen so einen Schrecken eingejagt hat?
»Wir haben nur wenige Informationen.« Diesmal gab An Roque Antwort. »Ein neuer Messias hat sich auf Basar ausgerufen. Dieses Individuum hat vorgeblich unter den dortigen Armen Wunder getan und predigt für alle, die in die Fußstapfen Mohammeds, Jesu und Abrahams zu tre ten bereit sind, eine erneuerte Galaxis.« »Basar wird von einer Mischbevölkerung bewohnt«, bemerkte Maya ben Achmad halblaut, während sie, die Stirn gefurcht, auf Kommu-Daten aus ihres Kontaktrons lauschte. »Christen, Juden und Mohammedaner müssen dort mit beschränkten Ressourcen koexistieren. Meistens bekämpfen sie einander, eine Partei versucht die andere auszurotten.« »Sie kämpfen nicht mehr.« Ben Mason zupfte an seinem langen, weißen Bart. »Basar liegt in unserem Sektor. Wir haben uns seinetwegen nie ernstere Sorgen gemacht. Die Aussicht, daß es dort zu Unerfreulichkeiten kommt, war wegen der allgemeinen Armut minimal. Es fehlen alle Kapazitäten für die Raumfahrt. Aber jetzt haben sie das Direktoratskonsulat und die Orbitalstation besetzt. Und Sendetätigkeit aufgenommen. Wir wüßten gerne, woher sie den Transduktor haben. Jedenfalls finden sie offene Ohren. Auf nahezu rätselhafte Weise sind überall im Sektor religi öse Kulte aufgeschossen. Wer den Transduktor geliefert hat, schickt offenbar auch Missionare zu anderen Planeten. Das Ganze erweckt einen ziemlich gut organisierten Ein druck.« »Hat man die Herkunft der Pamphlete zurückverfolgt?« fragte Toby Kuryaken. »Durch wen sind die Reisen dieser Leute veranlaßt worden?« »Das ist's ja eben.« Mißgestimmt spreizte Mason die Hände. »Keine Spur ist feststellbar. Das sind keine spon tanen Ereignisse.« »Sie ereignen sich so weitab vom romananischen Raum, daß es kaum weiter entfernt sein könnte«, sagte Ree nach denklich. »Zufall?«
»Warum geschieht es gerade jetzt?« wandte An Roque ein. Seine ihm selbst ungewohnte Stimme überschlug sich fast in Quietschlauten, während er die Intonation beizubehalten ver suchte. John Smith Eisenauge meldete sich zu Wort, sein wie aus Granit gehauenes Gesicht beanspruchte sofort die Aufmerk samkeit sämtlicher Konferenzteilnehmer. »Eure Zivilisation ist eine spirituelle Wüste geworden. Weil neue Informationen vorliegen, wollen die Menschen nun ihr Dasein neu beleben. Sie betrachten uns Romananer als aufregende Erneuerer, die im Besitz der Wahrheit sind, einen Gott wie Spinne haben und in die Zukunft schauen. Sie greifen nach unserem Glau ben wie Ertrinkende, weil sie hoffen, daß Spinne ihnen das Heil bringt. Sie empfinden ihre Gesellschaft als krank und hegen daher den Wunsch, neue Werte zu etablieren oder ver gessene Werte aus längst vergangenen Zeiten wiedereinzu setzen.« Mendez schimpfte gedämpft vor sich hin, die Lippen zu einem hämischen Grinsen verzogen. Petruschka verkniff sich offensichtlich einen bissigen Kommentar. In den Augenwinkeln bemerkte Ree, wie Sarsa den schon dadurch gereizten Eisenauge beschwichtigte, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Der Kriegshäuptling hatte sich gestrafft, den Kriegsdolch am Griff gepackt, starrte Mendez erbost an. Skor Robinson schenkte seine Beachtung Eisenauge. »Also verbergen sich Romananer hinter diesem Kultus auf Basar?« Kurzangebunden verneinte der Kriegshäuptling. »Wie ist es dann erklärlich«, fragte Robinson, »daß du soviel Direktoratspsychologie auszuwalzen verstehst, Bar bar?« An Eisenauges Kinn zuckten die Muskeln, doch er antwortete in gleichmütigem Ton. »Lies die anthropolo gischen Texte. Vielleicht wirst du denken, die grundle genden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Anthropolo gie hätten nur für alte Stämme und untergegangene Kul
turen früherer Zeiten Geltung, aber ich schlage dir vor, unter diesen Gesichtspunkten einmal die eigene Zivilisa tion zu betrachten. Jedes Volk dürfte den Wunsch verspü ren, wieder stark zu werden. Ich sage dir, ohne Prophet zu sein, nativistische Bewegungen auf den meisten eth nisch besiedelten Planeten voraus. Auf anderen Welten wird es Revitalisierungsanstrengungen geben. Eure Ster nenvölker haben eine große Suche begonnen, Direktor. Sie leiden unter dem verzweifelten Gefühl, abgeirrt zu sein, die Wurzeln verloren zu haben, die ihnen einst Standfestigkeit verliehen. Nun werden sie, während sich ihre Realität verändert, nach allem greifen, das ihnen Halt verspricht.« »Wieso?« fragte Jaischa Mendez verdrossen. »Die Zivi lisation hat sich auch früher schon verändert.« Eisenauge würdigte ihr Mitdenken durch einen Blick gemäßigter Beifälligkeit. Bei seiner Antwort lächelte er boshaft, beobachtete ihre Reaktion. »Weil noch nie eine Zivilisation erkennen mußte, daß sie aus Schafen zusammengesetzt ist — und mit einem Mal den Wunsch hat, wieder aus Wölfen zu bestehen. In der Vergangenheit konnte sich eine derartige Situation nie ergeben, die Wölfe kamen immer von außerhalb ... und fraßen die Schafe auf.« »Du unverschämter, nichtswissender ...« »Ich bin lediglich ehrlich«, berichtigte Eisenauge. »Oder hast du schon vergessen, wie ihr überm Sirius machtlos im All schwebtet?« Unerschütterlichkeit in der Miene, die Arme verschränkt, wartete Eisenauge ab, während Jaischa Mendez' zornrot gewordenes Gesicht jetzt erblaßte. »Nur die Ruhe«, zischelte Mikasu durch verpreßte Lip pen. »Wir kriegen unsere Revanche. Eines Tages.« »Eines Tages ...«, wiederholte Mendez durch zusammen gebissene Zähne und maß Eisenauge mit einem Blick unver hohlener Herausforderung.
»Aber das ist doch unlogisch«, schnauzte Semri Naw tow ungeachtet der nervigen Anspannung dazwischen. »Warum wollen intelligente Menschen auf ihre Ordnung verzichten und dafür Chaos und Unsicherheit einreißen lassen? Ich kann keinen Grund ersehen, weshalb ein ver nunftbegabtes Wesen sein Leben von Irrationalität bestim men lassen sollte. So etwas ist doch ... es ist ... einfach ver nunftwidrig!« »Religion ist — jede Religion — nichts als unnützer Aberglaube«, pflichtete Robinson bei. »Ein Weg des Selbstbetrugs. Ein Mittel zur Besänftigung der Kräfte, die infolge Unwissenheit nicht in die Wirklichkeit aus geglichener physikalischer Gesetzmäßigkeiten oder Konzeptionen integriert werden können. Ein wirrer Appell an irgendein elternbildartiges Mandala, das eine als Gott bezeichnete Rolle einnimmt. Reine Kinderphan tastereien ...« Chester hob die Augen, richtete den gelassenen Blick auf Skor Robinson. »Du begreifst die Natur wahren Glaubens nicht, Direktor. Ebensowenig verstehst du Spinne, das Wesen, das du Gott nennst.« Erneut verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Sit zungsteilnehmer, galt diesmal wieder Chester. Robinsons Lippen zitterten, über seine spitzen Gesichtszügen verbrei tete sich eine Rottönung. Er hatte bereits etliche Konfron tationen mit dem Propheten hinter sich und trotz seines unglaublich leistungsfähigen Gehirns jedesmal den kürze ren gezogen. »Als der Zerfall des Direktorats anfing«, ergriff Ree das Wort, »nahm er der Bevölkerung ihr Surrogat für Glauben, nämlich die totale geistige Lenkung. Die Existenz der Romananer, die tun, was sie vertreten, hat im Zusammen wirken mit der Sirianerrebellion eine ganz andere, unge ahnte, pangalaktische Realitätsebene enthüllt und freige setzt.« Chester lächelte. »Genau. Was wir sehen, sind die An
fänge einer bedeutsamen gesellschaftlichen Umwälzung. Spinnes Weg wird erkannt und beschritten. Was wird Er wohl in Seinem Netz fangen?« »Die manipulierte Unwissenheit wird alles noch ver schlimmern«, ergänzte Rita ihn bitter. »Dafür ist Basar ein herausragendes Beispiel.« »Inwiefern Unwissenheit?« Maya stützte sich, indem sie den Kopf zur Seite neigte, auf einen Ellbogen. »Wie sie dank all der vielen Jahre vorhanden ist, in denen Robinson und seine Kumpane den Zugang zur Bildung regu liert, die Nachrichten zensiert, konformes Verhalten durch Lebensmittelzuteilungen sowie — und das ist besonders rele vant — die Gesellschaft insgesamt kontrolliert haben, indem sie Abweichlern psychische Korrekturen aufzwangen, denn dadurch ist eine Bevölkerung menschlicher Schafe herange zogen worden. Wenn Sie auf die Geschichte zurückblicken, werden Sie feststellen, daß jede Regierung ihr Volk nur so lange beherrschen konnte, wie ihm die Fähigkeit zum Den ken fehlte. Die Herrschaftsmethode bestand darin, alle Abweichung zur Ketzerei abzustempeln, ob politischer, reli giöser oder — wie in unserem Fall — ökonomischer Art. Welche Lehre ist daraus abzuleiten? Ein Volk, das seine Überzeugungen nicht hinterfragen oder analysieren darf, hat nicht mehr als blindes Vertrauen. Gerät dies Vertrauen ins Wanken, ermangelt es den Menschen an der Befähigung, ihr Leben neuzuordnen. In ihrer Verzweiflung klammern sie sich an alles, das irgendwie Abhilfe verheißt.« »Und die Patrouille hat im Siriussystem einen schweren Rückschlag einstecken müssen«, äußerte Amelia Ngurngu ru halblaut. »Unser Mythos ist verflogen. Man hält das Direktorat nicht mehr für unbezwingbar.« Sie blickte hoch, schaute im Konferenzsaal umher, drehte Knäuel ihres schwarzen Haars um dunkle Finger. »Die äußerlich zu beobachtenden Reaktionen blieben begrenzt. Aber wie sind die wirklich tiefgehenden Konsequenzen für unsere Realität beschaffen? Können unsere Psychologen uns darüber Aus kunft geben?«
»Heiliges Kanonenrohr, Sie sind doch nicht etwa ihrer Ansicht?« stammelte Jaischa Mendez wütend. »Sie ist eine ... eine Barbaren verfallene Verräterin!« »Jaischa«, ermahnte Maya sie, »mäßigen Sie sich!« »Ich bezweifle, daß Ihre Psychs dazu viel an Erklärun gen zu liefern haben«, meinte Rita gedämpft, warf Men dez einen flüchtigen, aber mörderisch bösen Blick zu. »Heutzutage beschäftigt die Psychologie sich nur noch mit Anpassungsprozeduren. Ich habe sogar meine Zwei fel, ob es überhaupt irgendeinen Experten gibt, der sich in der Theorie ausreichend gut auskennt, um an der Population Beobachtungen durchzuführen und Reaktio nen zu prognostizieren. Psychologie ist schon viel zu lang auf den Individualbereich beschränkt. Die Soziolo gen hat man langsam, aber sicher aussterben lassen. Schließlich konnte das Direktorat keine Leute dulden, die berufsmäßig die Gesellschaft untersuchen. Die Anthropologie durfte überdauern, weil das Studieren ausgestorbener Primitiver fürs Direktorat keine Bedro hung mehr bedeutete.« »Müssen Sie immer uns an allem die Schuld zuschie ben?« fragte Nawtow kaum hörbar. Mendez nuschelte er bittert etwas, das wie >Piratenschlampe< klang. Maya ben Achmad schnob, schaute Mendez wütend an, die ihren Blick gehässig erwiderte. Auf Mayas Lip pen bildete sich ein listiges Lächeln. »Also erntet unser ach so vollkommenes System zum Schluß Sturm, hm?« »Ganz so sieht's aus«, stimmte Ree zu. »Es ist und bleibt unlogisch«, behauptete Robinson. »Wir werden die Kommunikation unter straffere Kontrolle nehmen. Bei strengerer Lenkung wird die Bevölkerung sich anständig betragen. Ich entsinne mich eines Vor schlags, die Transduktionsempfänger einzuziehen. Viel leicht ...« »Würde dadurch nicht der Handel lahmgelegt?« Naw
tows Lider zuckten sonderbar; offenbar leitete er Robinsons Kontakthaube Informationen zu. »Berücksichtigen Sie die Permutationen, Direktor.« Unbewußt bewegte Robinson den Mund, seufzte. »Ich ... Ja, das ist ein begründeter Einwand.« Die Patrouillenkommandeure wechselten Blicke der Be sorgnis. Ree schüttelte den Kopf. »Die Situation ist Ihnen längst aus der Hand geglitten. Wie viele illegale Transduktionsmit teilungen haben Sie innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden aufgefangen?« Robinson brauchte mit der Antwort, indem er den GigaVerbund anzapfte, kaum zu zögern. »Vierhundertsiebzig tausend.« »Es ist zu spät.« Ree hob die Schultern. »Die Menschen haben ein ganzes Universum entdeckt, mit dem sich in Kon takt treten läßt.« »Wie hätten wir so etwas ahnen können?« rief An Roque. »Wodurch hätten wir die Tragweite illegaler Funktätigkeit absehen sollen? In einer Gesellschaft, die reibungslos funk tioniert, sind solche Verhaltensweisen völlig unlogisch. Men schen werden nicht durch beliebige Impulse motiviert, sie müssen den Weg der Vernunft gehen. Bietet man ihnen ver nünftige Lösungen an, werden sie dementsprechend rational handeln.« »So wie während der Siriuskrise?« hielt Maya ihm vor. »Erinnern Sie sich an die Reaktion, die eintrat, nachdem Sie Gigabits an Daten über Van Chows Revolte gesendet hatten? Sie haben sich damit von der halben Galaxis entfremdet.« Lautlos schnitt Nawtows Mund fratzenhafte Grimassen, während er versuchte, seine Gedanken zu verbalisieren. »Und auf Basar«, bemerkte Rita unterdrückt dazwischen, »ist Saat auf fruchtbaren Boden gefallen.« »Dort hat die Direktoratspolitik gepflügt, gedüngt und gesät«, bekräftigte Neal Iverson. Nochmals schnob Maya, spie braune Flüssigkeit in
ihren Spucknapf. »Nach dem Debakel auf Sirius frage ich mich, was uns nun wohl diese Religion bescheren wird. Du hast erwähnt, Ben, man ruft zum Heiligen Krieg auf?« Ben Mason nickte, zupfte unablässig an seinem Bart, während er Rita Sarsa voller offener Abneigung musterte. »Den aufgenommenen Sendungen zufolge diffamiert man die Direktoren als Handlanger Satans, die den Willen Got tes verfälschen und die Seelen der Menschen versklaven. Der Messias behauptet, er sei eine von Gott gesandte Flamme Göttlichen Feuers und hätte die Aufgabe, Juden und Christentum sowie Islam zu vereinen und zu einem Schwert der Wahrheit und des Heils umzuschmieden. Er ist außerordentlich raffiniert darin, Koran, Bibel und Tanach zu einem einzigen Dokument zu verklammern, dessen Teile sich gegenseitig bestätigen.« »Und er findet wachsenden Zulauf?« erkundigte sich Ree. Mason nickte noch einmal. Es wurmte ihn, mit Ree spre chen zu müssen. »Auf Basar macht es inzwischen den Ein druck, daß man entweder dazugehört oder tot ist. Eine Theo kratie ist errichtet worden.« »Und dieser Messias? Wissen Sie, wer er ist?« »Wir ermitteln noch. Sämtliche Kommunikation im Zu sammenhang mit dem Messias wird überwacht. Vom Pla neten selbst bekommen wir keine Informationen. Wahr scheinlich handelt es sich um irgendeinen Wüstennomaden, der dringend des Psychings bedarf.« Skor Robinson drehte den klobigen Schädel, der Blick seiner blauen Schweinsäugchen bohrte sich in Rees Augen. »Da sehen Sie es: Eine neue Rebellion. Darum habe ich diese Konferenz einberufen. Wir werden Maß nahmen zur Bereinigung der Lage veranlassen. Geben Sie mir Ihre Zusicherung, daß die Romananer unterdes sen nichts tun, das zur Verstärkung der sozialen Unruhe beitragen könnte.«
»Wir werden uns zurückhalten.« Ree wandte sich an Chester. »Tja, alter Freund, was siehst du voraus? Müs sen wir uns Sorgen machen, oder können wir sie uns spa ren?« Unbekümmert lächelte Chester und neigte den Kopf. »Es stehen noch zahlreiche Cusps bevor, Damen. Spinne hat alles im Augenmerk. Je nachdem, wie die Cusps entschieden wer den, kann es sein, daß die Menschheit untergeht. Daß sie sich gewissermaßen als verpfuschtes Experiment erweist. Eine andere Möglichkeit ist, daß sie einem Goldenen Zeitalter ent gegengeht, wie man es sich bisher gar nicht auszudenken ver mochte. Es bleiben die Entschlüsse zu fällen. Was willst du jetzt unternehmen, Damen?« Tabi Mikasu kicherte spöttisch. Eisenauges Haltung straff te sich, unter seinem Kriegsrock spannten sich dicke Muskeln. Ritas Hand lag, für alle sichtbar, auf seiner Schul ter, mahnte ihn zur Selbstbeherrschung. Mendez blickte auf, schüttelte den Kopf. »Das ist doch nichts als wunderlicher Schamanismus. Was ist als näch stes dran, Knochenwerfen? Wahrsagen aus Geflügelle ber?« »Schluß«, befahl Skor Robinson, beugte den birnenför migen Riesenschädel nach vorn, sah die Obristin an. Mendez biß die Kiefer zusammen, senkte jedoch den Blick: Ree schnitt eine unzufriedene Miene, stützte das Kinn in eine schwielige Hand. Ich vermisse noch immer Informatio nen, einige Angaben, die sie uns verschweigen. Den Direkto ren ist eindeutig einen gehöriger Schreck ins Gemüt gefah ren. Das Oberkommando der Patrouille ist nervös. Irgend jemand sagt nicht alles. »Kannst du etwas vorhersehen, Alter?« wollte Eisenauge von Chester wissen. »Auf was sollten wir unsere Überlegun gen richten?« Chester breitete, im Gesicht einen strahlend-heiteren Ausdruck, die Hände nach den Seiten aus. »Einerseits sehe
ich« — er öffnete die eine Hand — »im Namen Deus, des Gottvaters, Welten zu Schlacke verbrennen. Im Namen Spinnes verbrennen Planeten und Stationen. Werden andere Entscheidungen getroffen« — er streckte die Finger der zweiten Hand — »sehe ich in der Zukunft glückliche Wel ten voller Fröhlichkeit und Gelächter, auf denen Hoffnung und kühner Forschergeist gedeihen. Und natürlich« — damit faltete er die Hände — »gibt es einen weiteren Weg ins Künftige, auf dem sich beides vermischt. Wie stets hängt alles von den Cusps ab ... Wer sich von Besonnenheit und Klugheit leiten läßt, kann das Leid mindern.« Chester lächelte. »Wer Krieg für Deus wagt, versteht nichts von Spinne. Deus' Krieger sind unwissende Seelen und müssen schweres Verhängnis erdulden.« »Also, was sollen wir tun?« fragte Oberst Petruschka, drosch seine Faust auf sein Pult. »Auf diesen ... diesen primi tiven Träumer hören? Orientieren die Direktoren sich bei ihrer politischen Willensbildung jetzt am Gefasel eines Scharlatans barbarischer Herkunft?« »Das reicht, Oberst«, rügte ihn Skor Robinson. Chester lächelte Petruschka in die provozierend-feindselige Miene und hob die Schultern. »Wie lautet dein freier Wille, Oberst? Spinne — oder Gott, wenn dir diese Benen nung lieber ist — gewährt dir die Macht des Entscheidens. Ich werde dir diese Wahl nicht abnehmen. Wer bin ich, daß ich Spinnes Weg ändern dürfte?« Er verstummte mit respekt vollem Nicken, und Petruschka lief vor Wut blau an. Unge rührt schloß Chester die Lider und begann erneut vor sich hinzusummen. »Brennende Welten?« rief Tabi Mikasu ungläubig. »Sind das Wahngebilde eines Träumers? Was versteht denn dieser unwissende Romananer schon von ...« »Er sieht die Zukunft«, erklärte Ree hartnäckig. Ihm gewidmete Seitenblicke verdeutlichten in dieser Angelegenheit die Empfindungen der Patrouille. Hörbar atmete Skor Robinson durch die Nase aus. »Er
sieht in der Tat die Zukunft. Zweifeln Sie es an, wenn Sie möchten. Trotz allem haben vergangene Ereignisse bewie sen, daß die Romananer in schweren Zeiten ihren Wert haben. Es kann sich als notwendig erweisen, daß wir alle zusammenarbeiten ...« Roques Gesicht rötete sich, und Robinson stockte; ver mutlich war der Assistenz-Direktor ihm gerade im Kom munikationsnetz des Giga-Verbunds mental dazwischen gefahren. Die Gesichter der Patrouillenkommandeure zeigten eisige Ablehnung, und unausgesprochene Skepsis lähmte ihre Entschlossenheit. Sei vorsichtig, Skor. Zum erstenmal herrscht Sorge, die Verhältnisse könnten nicht mehr unter deiner Gewalt sein. Normale Menschen haben sowieso vor dir Furcht. Vermittle ihnen nicht den Eindruck, auf dich sei kein Verlaß mehr. Wenn die Patrouille dich im Stich läßt, bist du ein für allemal erledigt. Dann wird der gesamte Direktoratsweltraum insChaos gestürzt. Ree räusperte sich, ergriff das Wort, um die Erörterun gen aufs Wesentliche zurückzulenken. »Meine Damen und Herren, die Direktoren haben uns daran erinnert, daß wir trotz allem noch über beachtliche Macht verfügen.« Kurz schwieg er, überlegte. »Wir müssen berücksichti gen, daß wir gegen keinen Gegner traditioneller Art anzu treten haben. Gefechtstaktik und Feuerkraft lassen sich gegen einen solchen Feind nicht auf zweckmäßige Weise einsetzen.« »Damen«, erwiderte Obristin Jaischa Mendez verächt lich, »uns stehen die im Siriussystem erbeuteten Bruder schaftsblaster zur Verfügung. Was sollten wir denn mög licherweise zu fürchten haben?« »Den menschlichen Geist, Obristin.« Rees Blick wurde härter. »Das gleiche, an dem auf der Welt der Romananer ich gescheitert bin. Die Projektil ist einer Gruppe fanatischer Stammeskrieger unterlegen, die an einen Gott namens Spin ne glauben ... und Männern wie Chester, die andere Realitä
ten sehen können. Um sich dagegen zu schützen, hatte die Projektil keinerlei Waffen.« Aus den Augen der Patrouillenführung starrten Ableh nung und Unglauben. Nur Maya ben Achmad nickte, und Toby schabte sich am Kinn, wußte auf Rees Darstellung, obwohl sie ihr nicht behagte, nichts zu entgegnen. Beide waren Veteraninnen der Militäraktion gegen Sirius, sie hatten miterlebt, was die Romananer dort ausgerichtet hatten. »Ihre Leute sind eine kosmische Plage, Damen«, nör gelte Jaischa Mendez. »Ich glaube«, sagte An Roque mit seiner schwachen Stimme, »diesmal kann das Direktorat das Problem ohne Beteiligung der Romananer beheben.« Wieder war die Patrouillenführung sich einig; Roques Äußerung bewog sie, Maya ausgenommen, zu allgemeinem Nicken. Nacheinander erlosch die Mehrzahl der Holos. Skor Robinson hatte die Lippen gespitzt, seine Augen glommen; Toby Kuryaken wirkte verunsichert und reserviert; und Maya ben Achmad, die ebenfalls die Verbindung beibe hielt, quälte sich offensichtlich mit Sorge. »Damen, Toby und ich haben uns über die Lage unterhal ten«, informierte Maya den Admiral. »Wir sind der Meinung, daß uns ein wirklich harter Konflikt bevorsteht. Wären Sie zu einer Allianz mit uns bereit? Würden Ihre Romananer auch dazu bereit sein?« »Liege ich richtig mit der Vermutung, Sie hätten auch gerne 'n eigenen Propheten?« »Machen Sie sich nicht über uns lustig, Ree!« Toby bläh te die schmalen Wangen. »Ich bin wegen der Vorgänge im Siriussystem nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen. Ich bin nicht zur Stelle gewesen, sonst hätten meine Geschütze Sie in Stücke geschossen. Jaischa Mendez und ihre Leute sind auf Sie noch immer stinksauer. Sie hassen Sie mehr, als ihnen vor der Zukunft bang ist. Was mich angeht, ich habe jederzeit die Bereitschaft, meine Verluste zu reduzieren, wo ich's kann, verstehen Sie mich?«
Ree nickte, sein Blick glitt hinüber zu Skor Robinson, der abwartete, anscheinend ohne sich daran zu stören, daß Patrouillenobristinnen mit Rebellen kumpaneiten. »Was Ihren Propheten betrifft, Damen« — Maya schüt telte den Kopf — »sind wir vorerst nicht interessiert. Aber das Landerecht auf Welt wäre uns willkommen. Ich glaube, wir werden sie brauchen.« »Ich befürworte ein Landerecht der Patrouille«, sagte Eisenauge. »Obwohl der Alte nichts spricht, was unsere Entschlüsse beeinflussen könnte, bin ich der Auffassung, daß es klug ist, alte Zäune zu reparieren. Ich habe Sirius kennengelernt. Ich weiß, wie verführbar die Menschen des Direktorats sind. Schafe? Sie sind eher wie Haushunde. Und Hunde, darauf möchte ich verweisen, können beißen. Doch in einer Hinsicht, Obristinnen, will ich euch warnen: Wenn ihr uns besucht, spottet nicht unserer Propheten ..-. oder unseres Glaubens. Wir respektieren euch und eure Völker. Gesteht uns eine gleichartige Behandlung zu.« Toby strich sich mit der Hand ums Kinn, verkniff die Lider. »Ich ... Na schön, Kriegshäuptling. Wir werden's berücksichtigen ... wenn's soweit ist.« »Brennende Planeten«, flüsterte Neal Iverson, schüttelte den Kopf. In sichtlicher Ungläubigkeit blickte er auf. »Soviel Tod und Vernichtung im Namen Gottes?« »Noch sind zahlreiche Cusps zu entscheiden«, merkte Chester rätselhaft an. »Der freie Wille ist die Rechtfertigung des Daseins.« »Im Gegensatz zu meinen Kollegen bin ich in Sorge, Prophet.« Skor Robinson hob das unterentwickelte Kinn. »Es gefällt mir nicht, daß meine Patrouille neue politische Bündnisse schließt, aber das, was werden könnte, bietet mir allen Anlaß zur Verängstigung. Deine Visionen des Künftigen beunruhigen mich. Eine gefährliche Zeit ist angebrochen.« »Was verheimlichen Sie, Skor?« Ree lehnte sich zur Seite, kaute grüblerisch auf der Unterlippe. »Es hat mit alldem
doch noch mehr auf sich.« Skor Robinson zwinkerte; in seiner Wange zuckte ein ner vöser Tic. »Nichts, was Sie kümmern müßte. Sie tragen Ihre Verantwortung, ich habe meine Verpflichtungen. Ich möchte mir lediglich alle Optionen offenhalten.« Seine blauen Augen wandten sich Chester zu. »Du hast mich gut unterwiesen, Prophet. Du siehst, was ich gelernt habe.« »Verdammt noch mal, seien Sie auf der Hut, Direktor. Sie sind den heimtückischen Stil der patrouilleninternen Politik nicht gewöhnt. Sie haben vorhin das Oberkommando schockiert. Das Vertrauen in Ihre Führungsfähigkeiten unter graben. Unter den Obersten und Obristinnen der Patrouille kann daraus politischer Sprengstoff werden.« »Ihre Anteilnahme rührt mich, Admiral.« »Ja, ich nehme Anteil. Kann sein, wir sind keine Freunde, Direktor, aber deshalb sind wir nicht zwangsläufig Feinde.« »Ich werde an Ihre Worte denken.« Robinsons Holo Wiedergabe verflimmerte. Für ein ausgedehntes Weilchen herrschte im Konferenz saal Schweigen. Obristin Kuryaken zupfte, den Blick verson nen auf Ree geheftet, an ihrem Ohrläppchen. Maya spie in den Spucknapf, der blechern klackte. Die Offiziere rund um den Tisch hatten ausdruckslose Mienen aufgesetzt. »Verdammt, was verschweigt er uns bloß?« schimpfte Ree. »Ein Religionsexperte muß her. Aber wer kommt dafür in Frage?«
3
FRONTIER, SOL-SEKTOR
Frontier war eine der ursprünglichen sowjetischen Gulag-Welten. Die Landung der ersten Bruderschafts kolonisten erfolgte im Jahre 2078, während des Ersten Exils. Für den irdischen Welt-Sowjet hatte das Gulag-Programm viele erhebliche Vorteile. Im Rahmen der Deporta tionen konnten ökonomisch relevante Kolonien gegründet, ferne Sternennebel und Planeten erforscht und zugunsten der permanent überforderten sowjetischen Wirtschaft exo tische Güter importiert werden. Gleichzeitig ließen Abweichler und Unruhestifter sich aus dem Verkehr zie hen, die dann ihre Kräfte für die Meisterung fremder Umweltbedingungen verwendeten, statt durch Aufwiege lung und Gewalt die Vorzüge des weltweiten Arbeiterpara dieses zu sabotieren.
Das Klopfen schreckte Freitag Garcia Gelbes Bein aus dem Halbschlaf. Mit dem blitzartigen Reaktionsvermögen eines Kriegers rollte er sich von der Pritsche, stand nach dem Sprung im Gleichgewicht auf den Fußballen, hatte sofort den Kriegsdolch in der Faust. »Ja?« An der alten Stahlholz-Tür hob sich der Riegel, und durch den Türspalt fiel ein Lichtkegel auf den Steinboden. Giorj Hambrei beugte sich herein. »Freitag? Sind Sie wach?« »Klar.« Freitag latschte durchs Zimmer, drückte auf den Lichtschalter. In der plötzlichen Helligkeit blinzelte er Giorj wie eine Eule an. »Mir ist, als wäre ich hier begraben. Ich fühle mich wie in einer Höhle, weißt du. Man kann nicht richtig atmen. Die Luft ist stickig. Anders als auf dem Kriegspfad. Auch nicht so wie in einem Raumschiff. Hier knirscht und knarrt es, als wäre der Bau am Leben. Es ist unheimlich.«
Giorj deutete ein Heben einer knochigen Schulter an. »Ich glaube, ich hab's. Die Sequenz, meine ich. Sie ist mir eben im Traum eingefallen. Jetzt weiß ich, wie ich den Code knacke.« Der hochaufgeschossene, magere Giorj trug die anspruchslose, graue, hautenge Kluft, wie Berufstätige sie als Alltagskleidung verwendeten. Trotz des daran befestig ten Gewichts der Taschenkommunikatoren, Diagnosescan ner und verschiedener Instrumente saß der Gürtel stramm um seine schmale Taille. Er gab insgesamt eine farblose Erscheinung ab, sein Anblick jagte Freitag jedesmal ein Schaudern über den Rücken. Sein Gesicht wirkte befremd lich ausdrucksarm, als könnte es keinerlei Emotionen widerspiegeln. Er hatte einen albinohaft weißlichen Teint, seine Augen sahen verwaschen aus, schienen nahezu abge storben zu sein. Fast so leblos wie an einem Leichnam umspannte die Haut die Umrisse der darunter befindlichen Knochen. Karger, einem Mäusefell ähnlicher Haarwuchs flauschte ihm nur unzulänglich die Schädelwölbung. Dünne Lippen ohne jede Farbtönung verstärkten zusätz lich den Eindruck, vor einem Untoten zu stehen. Seinen Äußerlichkeiten nach hätte ein Uneingeweihter nicht auf die Idee kommen können, es mit dem tüchtigsten, ja bril lantesten Ingenieur im ganzen Direktoratsweltall zu tun zu haben. Freitag gähnte, reckte sich, schmatzte mit den Lippen, als versuchte er den bitteren Nachgeschmack, den Schlaf in seinem Mund hinterließ, auszuspucken. Er warf einen flüchtigen Blick in den Wandspiegel und schnitt eine Frat ze, verzog das zwergenhafte Gesicht zu einer runzligen Gri masse. Freitag hätte unmöglich gegensätzlicher als Giroj sein können. Mit der Scheitelhöhe reichte Freitag, klein und gedrungen, wie er war, kaum bis ans Brustbein eines Man nes normaler Größe. Was ihm an Länge fehlte, machte er jedoch durch Muskulatur wett. Freitag hatte eine vollkom men andere als die beinahe durchsichtige Haut des Ingenie
urs, durch die heißen Strahlen der Sonne Welts war sie nachgerade schwarzgebrannt. Eine Bluse aus gegerbtem, gebräuntem Leder, deren Brust die stilisierte Darstellung einer Spinne zierte, umhüllte seine muskelbepackten Schul tern. Beiderseits seines Gesichts baumelten glänzend schwarze Zöpfe, ein überliefertes Erbteil seiner nordamerikanisch-indianischen Vorfahren. Um die Taille hatte er einen mit Skalpen — bei den Romananem Coups genannt — behängten Gürtel geschlungen. Seine flachen Gesichtszüge umfaßten breite Wangenknochen, einen großzügig geformten Mund, ein ausgeprägtes Kinn sowie eine zu oft gebrochene Nase; alles zusammen bildete ein Gesicht, das geradezu zum Lachen geschaffen zu sein schien. Jetzt konnte man darin nur noch einen schwachen, schattenhaf ten Rest seines einstigen, früher stetigen Lächelns erken nen, die eingefurchten Kummerfalten hatten seine frühere Miene nachhaltig verändert. Giorj glaubte, er hätte die Lösung gefunden? In Freitags Brust regte sich ein Aufwallen neuer Hoffnung. »Großartig. Also hin, laß uns die Daten melken und dem Raumschiff transferieren, und dann nichts wie weg von die sem Felsklotz.« Freitag schob den schweren Dolch in den Gürtel und checkte die Blasterbatterie. Giorj wich beiseite, als Freitag den Flur betrat. Einen Moment lang gingen beide stumm den Gang ent lang, bis Giorj schließlich tief Luft holte. »Warum sind Sie mitgeflogen?« fragte er. Freitag wölbte eine massige Schulter, wandte den Blick dem Ingenieur zu, schaute an ihm hoch. »Majorin Sarsa und der Kriegshäuptling haben mich darum gebeten. Ich vermute, eigentlich war's Admiral Rees Idee.« Er zuckte nochmals die Achseln, suchte nach weiteren Ausflüchten. »Ich wurde wohl gebraucht, um den Großmeister einzu wickeln.« »Und mit Susan hatte es überhaupt nichts zu schaf fen?« Freitag blinzelte, durch das Herz in seiner Brust fuhr ein
Ruck. »Ich ... Es war eben meine Pflicht, und ... Du nimmst's mir nicht ab, hä? Na gut. Ja, du hast recht: Sie hatte jede Menge damit zu schaffen.« Wie konnte ich das sagen? Was ist nur mit mir los? Wenn Susan vergessen hat, daß es mich gibt, heißt das noch längst nicht, ich muß jedem vorjammern, wie mir zumute ist. Und wieso ausgerechnet ihm ? WARUM ? Sachlich nickte Giorj, an seinem dürren Hals pochte, als er schluckte, eine Ader. »Wissen Sie, es liegt nicht an Ihnen. Was Ngen ihr angetan hat ...« »Eines Tages werde ich ihn töten«, sagte Freitag nach einer längeren Pause, die er brauchte, um die Aufwühlung seines Gemüts zu bändigen. »Ich kann einfach nicht fassen, daß er ohne jede Spur verschwunden sein soll. Sirius hat er ruiniert, all diese Menschen hingemetzelt, und was er Susan zugefügt ... was er ihr angetan hat, und wir können ihn nicht aufspüren.« Freitag knallte eine knorrige Faust in eine schwielige Hand. »Hören Sie mal«, forderte Giorj ihn auf. »Was Susan und mich anbelangt ... Ich ... Naja, ich hatte, als ich noch jünger war, einen Unfall. Durch die Strahlung ...« Seltsam gerührt sah Freitag dem Größeren ins Gesicht. Offenheit gegen Offenheit? »Ich weiß Bescheid«, bekannte er leise. »Ich habe meine Informationsquellen. Majorin Sarsa ... Nun, sie gibt ein bißchen auf mich acht.« Giorjs Lippen zuckten. »Sehen Sie, es ist so, daß Susan vor mir keine Furcht haben muß. Ich kann nicht ... kann nicht ...« »Sie sind für sie ein harmloser Umgang«, sagte Freitag, während aus den Tiefen seiner Seele immer stärkeres Weh emporquoll. Als ob er Freitags Gram spürte, drehte Giorj sich ihm in offenkundiger Sorge zu. »Bedeutet es für Sie ein Problem? Ich meine, mich als mein Leibwächter zu begleiten? Die Ver antwortung für die Sicherheit des Mannes zu tragen, mit dem die Frau zusammenlebt, die Sie lieben?« Freitag rang sich den Ansatz eines Lächelns ab, während
er die Treppe hinabstieg, die ins tief unten befindliche Kom munikationszentrum führte. »Ich bin Spinnes Werkzeug, Ingenieur. Genau wie du. Ich bin hier, weil ich vor langem auf einem Berg Welts eine Entscheidung getroffen habe. Du weißt von unseren Visionen ... den Gebeten, die wir spre chen, unserem Fasten, mit dem wir uns näher zu Gott erhe ben. Spinnes Geisthelfer kam als Lichtschein zu mir und fragte mich, was ich mir am meisten wünschte. Ich antworte te ihm, ich wollte Spinnes Wort zu den Sternen bringen.« Freitag seufzte. »Damals fragte mich der Geisthelfer auch«, fügte er hinzu, »ob ich dafür zu opfern willig wäre, was mir am liebsten sei. Ich dachte, er meinte mein Leben, und sagte leichthin ja.« »Sie haben den Sternen Spinnes Wort gebracht, Frei tag«, erinnerte ihn Giorj. »Die ganze Galaxis kennt Ihr Gesicht und die Rede, die Sie auf Sirius gehalten haben, stellen Sie sich das mal vor. Von allen Romananern ist viel leicht nur Kriegshäuptling John Smith Eisenauge bekann ter als Sie.« »Also verkünde ich Spinnes Wort.« Freitag streckte die Arme zu einer Gebärde der Nichtigkeit in die Höhe. »Und es hat mich Susan gekostet. Meine Bestimmung ist erfüllt, Giorj. Spinne verwirklicht seine Pläne auf seltsame Weisen. Ich ... ich weiß nicht. Ich fühle mich nutzlos, müde, verstehst du? Ich kann nicht mehr so lachen wie vor dem Krieg gegen Sirius ... bevor Susan ...« »Aber Ihr Handeln hat sehr wohl noch einen Sinn. Der Galaktische Großmeister hätte uns nicht gegen die Direkto ratsanordnungen Zutritt gewährt, wären nicht Sie bei uns gewesen und hätten ihm von Spinne und den Propheten erzählt. Aber das ist immaterieller Kram. Wozu, Freitag? Warum glauben Sie an einen Gott, der so mit Ihnen umspringt?« »Weil wir das Dasein nicht haben, um glücklich zu sein. Ein Mensch, der in ständiger Seligkeit lebt, hört auf, Fragen zu stellen. Er stagniert. Wir sind da, um zu lernen, unsere Seelen mit Erkenntnissen anzureichern,
bis Spinne uns zurückruft. Der Kern meines Körpers« — er wies sich mit einem stummelartigen Daumen auf die Brust — »besteht nicht aus Freitag Garcia Gelbes Bein. Vielmehr ist er ein Teil Spinnes, das man Seele nennt. Der Leib ist bloß eine verzichtbare Hülle. Was ich gelernt habe, das ist an mir das Ewige. Der Teil, den ich Spinne zurückgebe.« »Und Ihre Liebe zu Susan?« Freitag krampfte sich zusammen, seine Enttäuschung, Verbitterung und Trauer quollen ihm aus dem Innersten empor. In der Erinnerung hörte er noch einmal ihre Stimme. »Freitag, du kannst nichts dafür. Begreifst du mich? Ich bin es ... Es ist meine Schuld. Ich kann nicht ... Ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein. Nach den Ereignissen auf Sirius, nach dem, was dort geschehen ist, bin ich ... bin ich einfach ...Ich bin eben einfach ... Hör zu, geh deines Wegs. Lebe dein Leben und vergiß mich. Tu so, als gäbe es mich garnicht. Was wir hatten, ist vorbei. Für immer. Tot und begraben auf Sirius. Mit ... mit Hans. Und nun laß mich allein. Ich tauge nicht für dich, Freitag. Geh! Geh ... fort!« Und er war gegangen. Nie hatte er seither ihre aus Furcht glasigen Augen ver gessen, den Blick, mit dem sie ihn betrachtete. Jedesmal wenn sie ihn lediglich sah, hatte ihre Gestalt sich durch und durch versteift, ihre Muskeln sich verspannt. Am schlimm sten war die Hölle in ihren Augen gewesen: Ein Gemisch von Abscheu und Schmerz, eine grenzenlose inwendige Verwüstung. Freitags bloßer Anblick schien jeden Frieden, den sie vielleicht zurückerlangt gehabt haben mochte, wie der zunichte zu machen. Ngen in seiner Schreckenskammer hatte das bewirkt: Dort war sie durch ihn innerlich zerbro chen worden — die einzige Frau, die Freitag je geliebt hatte. Erinnerungsbilder eines blutbefleckten Betts und einer ausklappbaren Psychingapparatur geisterten grausig durch Freitags Gedächtnis. Es schauderte ihn, hatte ein Gefühl, als ob ihn aus dem Dunkel Susans von Entsetzen erfüllte Augen anstarrten. Wie hatte Ngen ...
Nein, nicht. Nicht mehr. Du darfst dich nicht länger damit quälen. Rasch wechselte er das Thema; er kannte Hambreis einzi ge ausnutzbare Schwäche. »So, du hast den Kommu-Schutz geknackt, hm? Ich kann nicht mal das kaputte Airmobil repa rieren, das ich auf Sirius erbeutet habe. Komisch, was? Na gut, dann erklär mir, wie melkt man einen Bruderschaftscom puter?« Freitag Garcia Gelbes Bein bemühte sich um ungeteilte Aufmerksamkeit, während er Giorjs mit monotoner Stimme vorgetragenen Erläuterungen lauschte. Die lange, nur schwach beleuchtete Treppe mündete in einen trübschat tigen Korridor. Wie in einer Höhle gingen die grauen Stein wände und vielerlei düster-finstere Schatten ineinander über. Die Luft, bitter von Staub und Moder, durchzogen vom Geruch des Vergammeins und der Ablagerungen einer längst verstrichenen, blühenderen Ära, stieg feucht in die Nase. Hier war es nicht immer so gewesen. Nur eine von je fünf der alten, durch die Bruderschaft installierten Leuchtflächen befand sich noch am Platz; der Rest war in den vergangenen Jahrhunderten demontiert und sonstwohin weggeschleppt worden. Der glattpolierte Boden unter Freitags Stiefeln war leicht gewellt, wies Rillen und Vertiefungen auf, der Lauf der Zeit hatte ihn verschlissen. Verblüfft sah Freitag, daß man die Steine einzeln paßgerecht bearbeitet und aneinandergefügt hatte. Er blieb stehen und bückte sich, betastete den verwit terten Granit. »Was ist?« »Der Boden.« Voller Staunen hob Freitag den Blick zu Giorj. »Er ist ganz aus Stein.« »Ach, um Himmels willen ...!« Konsterniert drosch Giorj sich eine Hand auf den Oberschenkel und schüttelte den Kopf. »Natürlich ist er aus Stein. Menschen haben seit jeher mit Steinen gebaut. Einer Mangelwirtschaft bietet Stein ein billiges Baumaterial. Wie Holz und Lehm. Was soll denn daran so bemerkenswert sein?«
»Denke dir einmal das Alter«, sagte Freitag halblaut, ohne auf die Einwände seines blassen Begleiters zu achten. »Es ist erwähnt worden, dies Gebäude sei sechshundert Jahre alt.« Indem er sich aufrichtete, biß sich Freitag auf die Lippe. »Dieser Steinboden ist gelegt worden, als meine Ahnen auf Welt landeten.« Frontier war einer der ersten Gulag-Planeten des früheren Welt-Sowjets gewesen. Hier hatte man die Bruderschaft sich selbst überlassen, damit sie ihre verquere Philosophie beim Zähmen eines Fremdwelt-Milieus sowie im Kampf gegen die Riesenstachelschliefer und das gräßliche Klima erprobten. »Wenn Sie einverstanden sind, wollen wir uns nun lie ber mit diesem Relikt von einem Computer beschäftigen, die Informationen herausholen und uns anschließend schleunigst auf den Rückflug machen.« Giorjs Stimme klang jetzt leicht schrill. »Archäologe können Sie ein andermal spielen.« Ausdruckslos, aber unerbittlich musterten seine fischi gen Augen Freitag. »Haben Ingenieure tagsüber keine genialen Einfälle?« maulte Freitag, gähnte ausgiebig und lief dem schon vor ausgeeilten Hambrei im Laufschritt nach. »Ich konnte auch nicht schlafen«, gestand Giorj, wäh rend er Meter um Meter seine langen Beine schwang. »Wenigstens können wir unseren Auftrag nun erledigen und nach Welt heimfliegen. Ich träume von zu Hause. Ich weiß es noch nicht, aber vielleicht nehme ich mir ein Paar Pferde und mache mich auf einen langen Ritt. Zu dem anderen Meer, zu dem Eisenauge sich damals aufgemacht hatte. Oder womöglich, um eine Zeitlang durch die Berge zu ziehen.« »Und unter Umständen«, ergänzte Giorj ihn mit gespens tischer Stimme, »von einem Bären gefressen zu werden.« »Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen«, brummelte Freitag, sein Blick forschte in den Schatten steinerner Säu len. »Vielleicht wär's halb so schlimm, von 'm Bär ver
schlungen zu werden. Es heißt, 's wär 'n schneller Tod. Die ser große Saugnapf packt dich, schwingt dich durch die Luft und stopft dich ins Maul, das dem Bär schon von Säure trieft. Glatte Sache, klipp und klar. Eine Woche spä ter ist man bloß noch ein stinkiger brauner Haufen im Degengras.« »Reparieren Sie Ihr Airmobil«, schlug Giorj vor. »Sobald Sie sie zu durchschauen beginnen, werden Sie an Maschi nen Spaß finden. Maschinen sind eindeutig und logisch. Es ist etwas rundum Elegantes an der Art und Weise, wie ihre Bestandteile harmonisch ineinandergreifen und zusammen arbeiten.« »Hm-hn. Wenn ich's repariere, geht's doch wieder kaputt. Harmonie? Das Airmobil erinnert mich eher an Schwarze Magie, für mich ist es wie ein Fluch. Es verur sacht mir Alpträume. Weißt du noch, wie es mich einen Wochenmarsch von der Siedelei entfernt im Stich gelassen hat? Es intakt halten? Ich? Das Ding ist sogar im Wach sein ein Alptraum. Ein wahrer Segen war's, als es endlich vom Boden abgehoben hat.« Freitag verzog die Lippen zu einem widerwilligen Grinsen. »Die verdammte Kiste wird nie anständig fliegen, ich weiß es genau. Spinne sei Dank für Pferde.« Freitag hatte darauf bestanden, die Reparaturarbeiten an dem defekten Flugapparat eigenhändig auszuführen. Daß Giorj der beste Ingenieur im Umkreis von vielen Lichtjah ren war, zählte für ihn nicht. Die Reparatur war zu einer Ehrensache geworden. Für einen Mann, der erst vor zwei Jahren noch Ruhm als bravourösester Pferdedieb des Spin nenvolks erworben hatte, durfte Freitag heute auf eine recht anerkennenswerte persönliche Fortentwicklung zurük kblicken. »Und vielleicht kriege ich's fertig, ins komplette System einzudringen«, nuschelte Giorj erregt. »Stellen Sie sich das mal vor: Die gesamten Kenntnisse der Bruderschaft unter meinen Fingerspitzen.« »Gepriesen sei Spinnes Name«, sagte Freitag lasch.
»Funk's zum Raumschiff und sag Susan, sie soll uns 'n Shuttle schicken. Hier ist es mir zu gruselig. Lieber würde ich, als hier zu sein, täglich einem romananischen Bär bloß mit 'm lächerlich kleinen Messer gegenübertreten.« Mit herabgezogenen Brauen schaute er sich um. »Ich wette, es gibt in diesen Gängen Gespenster.« »Gespenster?« Giorj prustete. »Falls das stimmt, können sie zumindest nicht in die physische Welt überwechseln. Die Dynamik alles Materiellen verhindert, daß ...« Freitag hörte nicht mehr hin, nahm die Erklärungen bald nur noch als eintöniges Plätschern wahr. Viele Begriffe, die Giorj verwendete, verstand er ohnehin nicht. Freitag behielt sein den langen, schwungvollen Schritten des Ingenieurs angepaßtes Tempo bei. Sollte es Giorj tat sächlich gelungen sein, konnten sie umgehend eine Funk verbindung zum Raumschiff herstellen, das sich — mit Susan an Bord — in der Umlaufbahn befand, und die Daten direkt nach oben übermitteln. Tag um Tag des Frusts war verstrichen, während Giorj sich mit einem Trick nach dem anderen abgemüht hatte, sich Zugriff auf die Daten banken zu verschaffen. Unterdessen hatte der Großmeister, unter dessen Obhut die Anlage stand, ihnen wiederholt ver sichert, zwar seien die Geheimnisse der alten Bruderschaft gut geschützt, doch sie dürften ruhig ihr Glück versuchen. Andere hätten es auch schon getan, jedoch ohne Erfolg. »In diesen Speichern ist alles deponiert worden.« Der Greis hatte in sich hineingekichert. Freitag hatte seine Stimme noch deutlich in Erinnerung. »Man hat es darin untergebracht, bis die Menschheit wieder zur Vernunft kommt. Es ist ein wahrer Schatz, jawohl, das ist es. Ein Wissensschatz. Ha! Und was da steht, ist die alte Kommu gewesen. Die intelligenten Anlagen — die Computer, die richtig denken konnten — hat man mitgenommen. Tja, Jungs, das waren echte Kostbarkeiten! Diese Daten da? Hmmff! Spreu. Reste, ich sag's Ihnen, und trotzdem über treffen sie alles, was das Direktorat und die Wasserköpfe vorweisen können. Ach, nur zu, probieren Sie's, machen
Sie 'n Versuch, an die Daten zu gelangen. Es ist schon von vielen versucht worden, und sie sind alle gescheitert. Für diese Art von Wissen ist die Menschheit noch nicht reif. Niemand ist klug genug, um es zu erschließen, hm-hm. Aber eines Tages, jawohl, eines Tages wird ein schlauer Kopf eine Zugriffsmöglichkeit finden. Beim Göttlichen Architekten des Universums, an dem Tag wird man, das schwöre ich, den Fehler einsehen, der begangen worden ist, als man die Bruderschaft aus dem Menschheitsbereich des Weltalls vertrieben hat. Merken Sie sich meine Worte, Jungs! Sie werden noch an mich denken.« Beiläufig widmete Freitag seine Beachtung wieder den Steinen. Wie alt sie waren, so unglaublich alt. Und die Bruderschaft? Welche Geheimnisse mochte sie gekannt haben, wenn sogar Giorj Hambrei, der auf dem Gebiet der Technik als Genie galt, ratlos vor einer von der Bruder schaft als veraltet betrachteten, zurückgelassenen Kom munikationsanlage stand? Was für Menschen waren ihre Mitglieder gewesen, wenn sie soviel Macht besessen hat ten und doch ... Fast kugelte er Giorj den Arm aus, als er den Ingenieur zurückriß. Mit einem Wink gebot er Schweigen, preßte aber Giorj sicherheitshalber eine starke, braune Hand auf den Mund. Dann kauerte Freitag sich auf Hände und Knie, schnupperte an den Flecken, die er auf dem Fußboden bemerkt hatte. Giorj kniete sich neben ihn. »Was ist das?« flüsterte er. »Blut.« Freitag hauchte das Wort lediglich, während er den Blaster zückte. Vom ersten Moment des Betretens an hatte er den schummrigen Korridor als nicht geheuer emp funden; jetzt schien die Dunkelheit ringsum noch düsterer und drangvoller zu werden. Freitag unterdrückte ein Schaudern eisigen Entsetzens, als er sich fragte, ob die ver wunschenen Spukorte, die es auf der Erde geben sollte, wohl eine ähnliche Wirkung auf ihn hätten. »Die Wache?« vermutete Giorj. Freitag nickte, folgte der Blutspur in eine seitliche, stockfinstere Nische. Auf
grund des Zwielichts im Korridor konnte man gerade noch jemandes von Romananern gefertigte Stiefel unter scheiden. Freitag bückte sich und tastete den Leichnam mit kundigen Fingern ab. »Kann nicht länger als höchstens eine Stunde her sein. Er ist mit einem Laser getötet worden. Durch Zertrennen der Wirbelsäule.« Freitags Sinne verschärften sich zu der altein gefleischten Wachsamkeit eines kampfbereiten Kriegers. Seine Ohren lauschten auf das leiseste Geräusch, sein Blick durchforschte das Schattendunkel, und zum erstenmal bemerkte er Giorjs eigentümlichen Körpergeruch. »Es ist Peter Reesh. Zur Bewachung des Computerraums eingeteilt worden.« Freitag richtete sich auf, beugte sich leicht vor, spähte den trüben Flur entlang. »Des Computerraums?« wiederholte Giorj im Flüsterton. »Aber wer ...? Wer könnte denn ...?« »Jemand, der auch haben will, was wir wollen.« Freitag erstickte einen Fluch auf seinen Lippen, huschte durch den Gang vorwärts. Man hätte meinen können, er schwebte überm Boden, so lautlos bewegten sich seine mit weichen Lederschuhen bekleideten Füße über die alten Steinfliesen. So waren Romananer. Bis vor drei Jahren hatte es sich bei ihnen um nicht mehr als ein Volk der Krieger, Räuber, Diebe und Vieh züchter gehandelt. Jetzt erzwangen sie sich den Weg ins Direktorat, lernten mit der Technik umzugehen, die es für Flüge zwischen den Sternen erforderte, brachten Durchein ander in die Politik eines in Stagnation versunkenen Gesell schaftssystems. Selbst hier, in den unterirdischen Katakom ben eines der ältesten hochzivilisierten Planeten, konnte eine Jägernatur von Nutzen sein. Giorj folgte so leise, wie er es vermochte, versuchte Freitags schleichende Fortbewegungsart unsicher nachzu ahmen. Freitag gelangte zu dem Portal, an dem die Wache hätte stehen müssen. Die große, aus rostfreiem Stahl fabrizierte Tür bildete einen sonderbaren Kontrast zum archaischen, aus
Stein und Holz gebauten Korridor. Sorgsam untersuchte Frei tag Türgriff und -Scharniere. Er entdeckte Drähte, zeigte sie Giorj, als der Ingenieur ihn einholte. »Bloß gut, daß Sie nichts angefaßt haben«, flüsterte Giorj. »Auf Sirius haben wir tüchtig dazugelernt«, lautete Frei tags grimmige Antwort. Hambrei griff in eine Tasche und holte ein zusammenge rolltes Stück Leitungskabel heraus. »Wir müssen hoffen, daß uns keine weiteren Überraschungen erwarten. Ich schließe die Dinger kurz, und Sie gehen hinein. Ich gebe Ihnen Rük kendeckung.« Freitags Augen glitzerten. »Auf keinen Fall. Laß mir fünf Minuten. In der Zeit müßtest du Kontakt mit dem Raumschiff aufgenommen haben. Susan muß Bescheid erhalten. Und du mußt mir Verstärkung herordern. Reeshs Kameraden. Und sirianische Sanitäter. Alles klar?« »Aber ich bin doch jetzt bei Ihnen, Freitag. Es wäre ja widersinnig, Zeit zu vergeuden, wenn ich hier ...« »Verflucht noch mal, Mann!« fauchte Freitag hitzig. »Wir brauchen dich. Du bist unser einziger Ingenieur. Der einzige, verstehst du?! Du weißt, wogegen wir stehen. Riskiere ich dein Leben, setze ich die Zukunft meines gesamten Volks aufs Spiel ... Ganz Welts Zukunft.« Giorj neigte ein wenig den Kopf zur Seite, überlegte eine Halbsekunde lang und nickte. Er klemmte das Leitungskabel an, gab Freitag einen Klaps auf die Schulter und entfernte sich im Lauf durch den Korridor. Freitag suchte Schutz in den nun willkommenen Schat ten und wartete, zählte in Gedanken langsam die Sekun den. Um seine Eingeweide schien sich eine Faust zu schließen, er fühlte am Steiß den mulmigen Kitzel der Furcht. Ihm war, als ob in der Schwärze über ihm Sche men böser Vorahnungen lauerten. Wer befand sich hinter dem Portal? Wer wußte noch von den Bruderschaftsgeheimnissen? Nein, nicht die Patrouille. Sie hätte einfach Leute geschickt, wie jeder andere, und sie ebenfalls die Codes zu knacken versu
chen lassen. Nein, jemand mußte zur Stelle sein, der ... Aus den Tiefen von Freitags Bewußtsein begann ein hart näckiger Verdacht an die Oberfläche seines Denkens zu steigen und Form anzunehmen. Doch er vollendete ihn nie. Die Stahlpforte schwang ein Stück weit auf, ein Licht kegel fiel auf den ausgetretenen Fußboden. Ein Metall gegenstand kullerte über den Stein. Der Länge nach warf sich Freitag zu Boden. Eine grelle Explosion warf ihn auf den Rücken. Wie hatten die Eindringlinge ihn bemerkt? Durch irgendeinen telemetrischen Sensor? Oder hatte Giorj etwa, als er die Drähte neutralisierte, eine Warnvorrichtung aus gelöst? »Jetzt oder nie.« Freitag zwinkerte und wankte vor wärts, das Gesicht teils mit dem Arm bedeckt. Seine knoti ge Faust spürte das beruhigende Gefühl des Blasters. Er sprang durch den Eingang, vollführte instinktiv sofort einen Satz, als ein einer violetten Lanze ähnlicher Blasterstrahl unter Knattern und Funkensprühen durchs Brodeln des Rauchs schoß. Genau wie auf Sirius. Die Reflexe bewährten sich noch. Freitag wälzte sich herum, blieb auf dem Bauch liegen, erkundete durchs IR-Sichtgerät seiner Waffe den Compu terraum. Er erkannte eine über die Konsole gebeugte Ge stalt. Mehr brauchte er nicht zu sehen. Ein lädierter brau ner Finger betätigte den Abzug des Blasters. Freitag schnitt eine Grimasse, als er den Schuß treffen sah. Die Frau zuckte wie in Krämpfen, während ihr Rücken in Brocken verbackenen Bluts und versengter Knochen zer platzte. Eine Frau? O nein! Doch keine Frau ... Selbst nach den Erlebnissen auf Sirius kann ich noch immer nicht ... Freitag schluckte, stand vor Schrecken starr. Diese wegen romanani scher Anstandssitten verschwendete Sekunde bedeutete sein Verhängnis. Aufgrund einer Regung am Rande seines Blickfelds
schwenkte Freitag den Blaster in die entsprechende Rich tung, robbte nach vorn, um ... Plötzlich trudelte sein Körper, indem er sich ganz wunder lich überschlug, durch die Luft, prallte auf den ins Beben geratenen Boden. Benommen grapschte er um sich, suchte» den verlorenen Blaster, während Stichflammen aus dem Computer loderten, Qualm emporwallte, Trümmer umherflo gen. Völlig verstört beobachtete er, als stünde er unter einem Bann, wie im Innern der Anlage Lichter flackerten, dann erloschen, als das künstliche Gehirn starb. Eine unheilvolle Stille breitete sich im Computerraum aus. »So«, äußerte schließlich eine gedämpfte Stimme im Ton fall der Resignation. »Damit ... ist jetzt alles dahin.« Freitag blinzelte, um seine verschwommene Sicht zu klä ren, starrte in den Rauch. Von der einen Seite näherte sich ein Mann, hielt einen Blaster auf ihn gerichtet. Freitag wollte sprechen, brachte aber nur ein Husten hervor. Unterhalb sei ner Hüften setzte ein seltsames Kribbeln ein, als ob Nadeln ihn zu stechen begännen — ein Gefühl, das er bereits kann te, dessen Vorhandensein und Bedeutung er aber noch ent schieden zu leugnen versuchte. »Ein Romananer«, konstatierte die kultivierte Stimme. »Das hätte ich mir denken können. Nun ja, ich habe nicht alles, aber es kann sein, es genügt. Allerdings wäre es mir lie ber, du hättest meine Tech nicht erschossen. Sie hatte sich lange Zeit hindurch mit Bruderschaftscomputern befaßt. Sol che Ausfälle sind mir ärgerlich. Als ich dich getroffen habe, hat dein Blasterstrahl die Computerkonsole zerstört — du hast im Reflex zurückgefeuert, weißt du — und das Explo dieren der von uns angebrachten Sprengladungen verursacht. Jetzt ist alles zerronnen, Romananer. Durch deinen Schuß ist das Wissen ganzer Zeitalter ver pufft.« Es flimmerte Freitag vor Augen. Diese Stimme! Er hatte sie schon einmal gehört. Wäre sein Verstand bloß nicht durch die Beschwerden gepeinigter Nervenstränge so umnachtet ... Er rang um Atem, der Raum schien zu trudeln, mal sah er ihn
klar, dann verwaschen. Mit höchster Konzentration streckte er einen Arm auf dem Boden aus und drehte, indem er sich aufstützte, den Oberkörper. Voller Entsetzen sah er, ihm waren beide Beine abgerissen worden. Aus durchtrennten Adern pulsten dunkelrote Blutschwälle. In seiner Kehle erstickte ein Schrei des Grauens. »Ja, du wirst nun sterben«, bestätigte die leise Stimme. »Die Meds können dir nicht mehr helfen. Tu mir den Gefallen und stirb unter Qualen, ja?« Freitag blickte auf, und in dem Moment zermalmte ihm der Tritt eines schweren Stiefel das Gesicht. Schmerz und Lichtblitze durchquirlten seine getrübten Sinne. Durch einen Tränenschleier sah er die schattenhafte Gestalt des Fremden sich langsam zwischen Rauch und Feuer entfernen. Die Stimme ...! Ja natürlich! Freitag war zumute wie beim Wiederauftreten eines gräßlichen Alptraums. »Muß 's ihnen mitteilen ... Muß es.« Er krümmte sich vornüber und langte am Rest seines Kör pers hinab, seine Finger tasteten am Gürtel nach etwas, daß er, wie er wußte, dort mitführte. Doch der Messergriff entglitt seinen gefühllos gewordenen Fingern. Indem er um jede Sekunde Leben kämpfte, streckte er den Arm nochmals, tauchte die Finger ins eigene Blut. Mit zusammengebissenen Zähnen schmierte er Buchstaben auf den groben Steinboden. Wo seine Beine gewesen waren, ließ das Gekribbel nach, und Freitag fragte sich, was das zu besagen haben mochte, während er sich darum bemühte, die Finger noch für ein Weilchen in der Gewalt zu behalten. Das Bewegen fiel ihm immer schwerer. Wiederholt wurde ihm vor Augen ganz schwarz. »Susan, ich ... Ach, Susan ...« Sein Atem stockte. »Tut mir leid, daß du's sein wirst, die ...« Er wollte das Geschriebene betrachten; aber er konnte den Kopf nicht heben. Auch seine Hand gehorchte ihm nicht mehr. Freitag schielte vom Fußboden in den Computerraum auf, seine Lider flatterten. Er hatte den Eindruck, daß ein mit.
einer Kutte bekleideter Mann, dessen Gesicht eine weite Kapuze verbarg, durch den demolierten Eingang herein schwebte, inmitten des Glutens und Glühens zu der umfan greichen Computeranlage schwebte, die Schäden in Augen schein nahm, seufzte, sich danach auf lautlosen Füßen ihm näherte, sich über ihn beugte, ihm eine kühle Hand auf die Stirn legte. Die Gesichtszüge blieben unter der Kapuze unkenntlich, während die Person Freitags mit Blut hingekra kelten Worte las. Gelbes Bein riß die Augen auf, schaute angestrengt hin. Der Kapuzenmann verschwand im Wallen des Qualms — als hätte es ihn nie gegeben. »Ich ... ich sehe Gespenster«, wisperte Freitag. »Ich ...ster be. Spinne, ich ...« Der Rauch mußte dichter geworden sein; alles im Compu terraum wirkte jetzt durch und durch grau, dunkler ...und wurde immer finsterer. Scharfer Rauch brannte Freitag in der Nase. Das Knistern der Flammen gewann an Lautstärke, als müßten sie, indem sie um sich fraßen, zuletzt alle Welt erfas sen. Freitag spürte, wie seine Seele sich erhob, und zwi schen unbestimmten Träumen stieg er empor zur Suche nach Spinne.
4
KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL (IM ORBIT ÜBER WELT)
»Transduktions-Funkspruch von Kommandantin Andojar, Majorin«, meldete sich Tony aus der Kommu-Zentrale. »Wir haben Antennen-Synchronpeilung und Störungsfilter akti viert. Sie ist weit weg, aber der Empfang wird besser.« Auf der Kommandobrücke herrschte rege Tätigkeit; ver schiedene Offiziere beugten sich über Bildschirme, widme ten sich ihrer Aufgabe, das Raumschiff unter Monitoring zu halten. Im mit Instrumenten überladenen Kommandosessel an der Rückwand saß Rita Sarsa, konnte von ihrem Platz aus den gesamten Halbkreis der unter den weißen Deckenplatten montierten Monitore überschauen. Hinter dem drehbaren Sessel befanden sich Konsolen mit Befehls- und Betriebs kontrollen in Reichweite ihrer Fingerspitzen. An einer Seite baumelte das Kontaktron der inaktiven Navigations-Kommunikatorstelle — jederzeit zum Gebrauch griffbereit — auf die Sitzfläche des Sessels. »Schalten Sie durch.« Rita drehte den Sitz der Wieder gabe zu, die im Holo-Bildschirm entstand. Das Abbild einer jungen Frau mit rabenschwarzem Haar blickte ihr entgegen. Sie war eine augenfällige Schönheit, der nach zugaffen die Männer stehenblieben. Die kupferbraune Haut ihrer Vorfahren harmonierte mit fein ausgeprägten Gesichtszügen. Eine gerade Nase und volle, rote Lippen betonten die Mulden ihrer Wangen. Nur ihre Augen stör ten die Illusion der Vollkommenheit. Streß hatte sie gerö tet, eine sonderbare Furcht brannte darin, verlieh der Frau etwas Fiebriges. Unwillkürlich packte Anspannung Rita. Mein Gott! Was ist passiert? Ein Rückfall? Schon beim ersten Mal hat es sie beinahe zugrundegerichtet. Verdammt, soweit darf es kein
zweites Mal kommen. Ob Freitag daran schuld ist ? Hat er ihr irgend etwas zugemutet? Sie irgendwie aufgebracht? So wahr mir. Gott helfe, wenn er sich das erlaubt hat ... dann reiß ich ihm beide Dackelbeine am Arsch ab ... Die Anruferin sprach gepreßt und verriet höchste innere Anspannung. »Kommandantin im Hauptmannsrang Susan Smith Andojar zwecks Meldung, Majorin.« »Was ist los, Susan?« Rita hatte sich halb aus dem Sessel gestemmt. Susan holte tief Atem, versuchte Beherrschung zu wah ren. »Irgendwer hat auf Frontier den Bruderschafts-Computerraum gesprengt. Die Datenbänke sind vollständig zer stört worden. Offenbar haben die Eindringlinge die Wache ermordet und die Anlage mit Sprengsätzen gespickt. Wir kennen noch nicht alle Einzelheiten. Giorj befaßt sich noch damit. Der Galaktische Großmeister fordert von uns eine Erklärung, weil er uns die Schuld gibt.« Rita lehnte sich — schien plötzlich einen Kloß im Hals zu haben — in den Sessel. Der Auftrag war verflucht noch mal wirklich leicht gewesen. Für Susan eine Möglichkeit, sich wieder ihre Fähigkeiten zu beweisen. Ohne jedes Risi ko. Wie hatte die Sache dermaßen schiefgehen können? Ritas Überlegungen kreisten um sämtliche Weiterungen. Die Computeranlagen sollten das komplette technologische und technische Verständnis der seit langem verschollenen Bruderschaft enthalten haben: Kenntnisse, die es ihr gestat tet hatten, denkende Raumschiffe zu bauen, einen Hort des Wissens, der die Menschheit während der Konföderations ära zu bisher unübertroffenen Höhen emporgeführt gehabt hatte. »Besteht eine Aussicht, daß einiges sich retten läßt?« erkundigte sich Rita, erforschte festen Blicks die seelische Brüchigkeit in Susans Augen. Was verschweigst du, Susan ? Ich kenne dich zu gut. Du zerbrichst innerlich. Deine Augen drohen glasig zu werden. Genau wie zuvor. Tu mir ...tu mir das nicht an! »Nein«, antwortete Susan mit unsicherer, verpreßter Stim me. »Giorj zufolge ist dabei alles vernichtet worden.« Sie
stockte, zögerte, ihre Gesichtsmuskeln zuckten, indem sie um Fassung rang. »Was ist, Susan?« »F-Freitag Garcia Gelbes Bein ist to-tot.« Freitag? Tot? Verdammt, nein! Nicht Freitag ... Rita erstickte ihr Gefühl plötzlichen Kummers. Momentan war Susan wichtiger. Jetzt ist Vorsicht angebracht. Ich muß die Situation auf die sachlich-dienstliche Tour handhaben. Ein falsches Wort, und ihre Seele zerschellt in viele kleine, spitze Scherben. Gott! Warum habe ich sie bloß allein wegge schickt?! Rita hielt den Blick auf Susan geheftet. »Weitere Verlu ste?« Andojar hatte schon einmal dicht vor dem Zusammen bruch gestanden. Sie hatte am Rande des Irrsinns ge schwankt, bis der Prophet Chester sie zurückriß. Seitdem war Susan im Dienstrang aufgestiegen, weil sie jede Herausfor derung mit ihrem scharfen Verstand und unbändigen Erfolgs drang anging. »Hast du einen Verdacht, wer dafür verant wortlich ist?« fügte Rita sofort hinzu, spürte die Muskulatur ihrer Miene starr werden. Wem könnte sie, falls Susan zusammenklappte, das Kommando übertragen? Mosche? Hatte er für den Fall, daß sie Widerstand leistete — irgend welche Verrücktheiten anstellte —, genug Durchsetzungsver mögen? Susan nickte, die Falten innerer Belastung rings um ihre Augen ließen sie ausgezehrt wirken. »Wir haben einen Bekennerfunkspruch erhalten. Eine Gruppe, die sich >Got tes Padri< nennt, behauptet von sich, sie hätte die Tat zur Vergeltung für angebliche Teufelsanbetungspraktiken der Bruderschaft verübt.« Nochmals erregte Susan den Ein druck, zu zögern; Entsetzen glitzerte wie helle Funken in ihren Augen. »Von dieser Gruppierung haben wir bereits gehört.« Rita nickte. »Susan, was hat es außerdem damit auf sich? Rede mir nicht um die Geschichte herum. Dafür kenne ich dich viel zu gut, damit kommst du bei mir nicht durch.«. Mühsam schluckte die junge Frau, zusehends merkte
man ihr das innere Ringen, das es ihr abverlangte, sich zu beherrschen, immer deutlicher an. Mehrere Sekunden lang bewegte sie lautlos den Mund, ehe sie wieder zu sprechen vermochte. »F-Freitag ist nicht so-sofort gestor ben. Wahrscheinlich ha-at's wenigstens eine Minute ge gedauert, bis er verblutet ist. In der Zeit hat er ... hat er ... ein Wort geschrieben.« Sie verstummte, ihre Augen wur den glasig. »O Gott, Rita! Er hat es mit seinem eigenen Blut geschrieben!« »Susan? Verflucht noch mal, Susan!« Rita sprang auf, ihre Finger hackten auf die Kommu-Tastatur. Andojar hatte hemmungslos zu zittern angefangen. »Mosche?« kollerte Ritas Stimme. »Mosche? Sind Sie da?« Hinter Susan zeigte sich mit verkniffener Miene der Hauptmann. Blaß wartete er, den Blick auf Andojar gerichtet, die unverwandt, der Hysterie gefährlich nahe, vor sich hin schlotterte. »Nein«, krächzte Susan, hob zur Warnung eine Hand. »E-es geht schon. Es ist nur ... nur ...« »Was für ein Wort?« fragte Rita, duldete keinen Auf schub. Soll ich sie ablösen lassen? Sie bricht mir zusam men. Mosche könnte eingreifen und das Kommando über nehmen. Susan ballte die Hände zu Fäusten, bis sich die Finger knöchel weiß abzeichneten. Zorn, Erbitterung und Scham verzerrten ihr schönes Gesicht zu einer wüsten Fratze. »Das Wort«, stieß sie rauh hervor, »hieß Ngen!« Rita schluckte und nickte, fühlte das Herz gegen ihre Rippen wummern. »Susan«, fragte sie mit ruhiger Stimme, »bist du soweit in Ordnung, daß du durchhältst?« Die junge Frau senkte den Kopf, verbarg ihr Gesicht hinter der Fülle glänzend-schwarzen Haars. Knapp nik kte sie, als sie den Blick wieder hob, ihre dunklen Augen spiegelten Leid. »Ich fühle mich ... als wären mir die Eingeweide herausgerissen worden. Ich fühle mich besu delt, erniedrigt und gedemütigt ... Aber ich werde es schaffen. Einmal hat der Lump mich fast kleingekriegt.
Es wird ihm kein zweites Mal gelingen, das schwöre ich!« Rita nickte, schaute Mosche Raschid in die Augen. Er erwiderte ihren Blick, verstand ihn und entfernte sich au ßer Sicht. Die Eingeweide herausgerissen? Ja, ich kann gut nach vollziehen, daß dir so zumute ist. Und Freitag ist tot? Trau erst du um ihn, Susan? Betrauerst du den Mann, der für dich sogar seine Seele aufgeopfert hätte? Verdammt! Wozu leben wir eigentlich weiter, wenn wir immer nur durch Scheiße waten? »Laß uns Freitags Überreste für eine feierliche Beiset zung überstellen«, gab Rita langsam Anweisung, wäh rend ihr Blick von neuem Susan maß. Ja, allem Anschein nach nahm sie sich zusammen. »Das Shuttle fliegt sie gleich herauf. Giorj wird auch an Bord sein. Er soll sich in einer Stunde einfinden.« Rita neigte den Kopf zur Seite, zwang sich dazu, den her ben Schmerz zu mißachten, den ihr Freitags Tod bereitete. »Wenn sich ergibt, daß sich nach Giorjs Einschätzung nichts aus den Computerspeichern retten läßt, fliegen Sie umgehend zur Universitäts-Station. Wir sind dort mit Dr. Emmanuel Chem in Kontakt gewesen. Er hat einen Anthropologen aus gesucht, der nach Welt zu befördern ist. Giorj möchte zwischenzeitlich einen lückenlosen Bericht ausarbeiten.« Und du sollst zur Hölle fahren, wenn du mir schlappmachst, Susan. Ich habe mich mit Ree und Eisenauge anlegen müs sen, damit du das Kommando bekommst. »Jawohl, Majorin.« Bemessen nickte Susan, in ihrer verkrampften Körperhaltung war ein Anflug von Trotz. »Du würdest lieber auf die Jagd nach ihm gehen, nicht wahr?« fragte Rita gedämpft. Susans Miene wurde härter, rings um ihren Mund beb ten die Muskelstränge, ihren Augen glichen finsteren Tümpeln des Hasses. Das genügte als Antwort. »Susan, Spinne lehrt uns Geduld.« Rita sprach noch leiser. »Verpatze nichts, Mädchen. Steh's durch, und ich lasse dir die erste Chance, um Ngen zu erledigen, die sich
bietet. Ich schwör's dir bei meiner Ehre.« Die junge Frau dachte nach, bevor sie nickte. »Ich habe nicht vor, dir in den Rücken zu fallen, Majorin. Ich ... Es ist nur ...« Susan verzichtete auf den Rest. »Ich kenne meine Pflicht.« Sie straffte sich und salutierte. Rita grüßte gleichfalls, desaktivierte den Monitor, ließ sich rücklings in den Kommandosessel sacken, starrte den erloschenen Bildschirm an. »Verflucht!« Ihre Wangen blähten sich, als sie stoßartig ausatmete. Freitag? Tot? Gram suchte ihre insgeheime Verletzlichkeit und Schwäche heim. Erneut war das Lebenslicht eines net ten, anständigen Menschen ausgeblasen, ihrem Dasein für immer genommen worden. Wieder verdüsterte sich ein Teil ihrer Seele, wie es schon oft geschehen war, und starb. Sie schüttelte den Kopf. Während der Kämpfe auf Sirius war der abgesägte kleine Krieger der Kraftquell einer ganzen Kampf gruppe gewesen. Seine derben Späße hatten verhindert, daß die alptraumhafte Furcht der Romananer vor Raumgefechten bei der Attacke auf die sirianischen Kriegsschiffe ihren Angriffsschwung beeinträchtigte. Freitag war Susans erster Liebhaber gewesen. Um ihrer Ehre willen hatte er eine Mes serfehde ausgetragen. Ritas Blick glitt zu dem Spinnenbild empor, das vor so langem Leeta Dobra auf die Deckenplatten der Kommando brücke gemalt hatte. »Spinne, weißt du eigentlich, daß du ein Scheißgott bist?« Noch war es nicht zu spät: Nach wie vor konnte sie be fehlen, daß Mosche den Befehl übernahm. Er fungierte ohnehin als Pilot. Freitag ist also tot. Freitag ... Freitag, warum mußte es ... Nein, nicht darüber nachdenken. Unterdrücke das Weh. Dar an ist nichts neu. Ngen ist jetzt das Problem. Du willst etwas für Freitag tun ? Dann mache dir zu der Frage Gedanken, wie wir Ngen schnappen könnten. Rita orderte einen Becher Kaffee und überlegte. Falls Ngen hinter diesen religiösen >Gottes Padri<-Fanatikern stak, konnte die Angelegenheit weitaus gefährlicher werden,
als es irgendwer erwartet hatte. Aufgrund vergangener Erfah rungen wußte man genau, welche herausragende Befähigung Ngen entfaltete, sobald es darauf ankam, Menschenmassen zu manipulieren. Er hatte dafür gesorgt, daß die Sirianer weiterfochten, als rings um sie längst ihr Planet in Trümmern lag und der Stiefelabsatz der Romananer bereits alle siriani schen Hoffnungen zertrat und zunichtemachte. Bei der Erinnerung an die Filmkassetten, die ein Patrouil lentechniker in Ngens Flaggschiff, der Hiram Lazar, gefun den hatte, schauderte es Rita. Während er seine weiblichen Gefangenen mißhandelte, vergewaltigte und systematisch mit psychologischen Tricks seelisch ruinierte, hatte Ngen sein Treiben in einer Art von Archiv der Scheußlichkeiten aufgezeichnet. Eine Erste Bürgerin Sirius' und eine Patrouil lenobristin waren von ihm auf den Zustand von Tieren her untergebracht worden und hatten zuletzt nur noch vor sich hinwimmern können. Fast wäre es ihm gelungen, auch Susan Smith Andojar zu entwürdigen, ihr Geist und Willen zu bre chen. Wäre sie nicht so stark gewesen, Chester nicht auf so brillante Weise eingeschritten, hätte niemand sie noch vor dem Wahnsinn zu schützen vermocht. Rita merkte nicht, daß sie den Plastikbecher in ihrer Hand zerquetschte, bis der Schmerz, den ihr der brühend-heiße Kaffee verursachte, ihr durch die Wut ins Bewußtsein drang. *
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BASAR, HAUPTSTADT DES PLANETEN GLEICHEN NAMENS Basar ist eine nach jedem vom Direktorat genormten Kri terium eine Stadt unterhalb des Standards. Die Mängel in bautechnischer Hinsicht, an sanitären Anlagen, in der Energiepolitik, an öffentlichen Einrichtungen, in den Kom munikationsverbindungen, der Notfallvorsorge sowie Umweltschutz sind ohne Zahl. Es ist kein übertriebener Vergleich, zu konstatieren, daß dieMenschen in Verwahr losung leben. Seit gewissen Verhältnissen auf der Erde des 21. Jahrhunderts hat es derartige Zustände nicht mehr gegeben.
Zekial Likud bäumte sich gegen das elektromagnetische Fixierfeld auf, das ihn in der Dunkelheit gefangenhielt. Wider seinen Glauben war er mit Leichtigkeit in eine Falle gelockt worden. Vor Scham brannte es ihm im Bauch sei ner drahtigen Gestalt. Neun Älteste hatten ihm eine Nach richt geschickt. Komm zu Davids Oase. Wir sind nur neun. Mit dir hätten wir Gelegenheit zum Minyan. Und Zekial hatte sich, weil er Rabbi war, den Ruf aus der Wildnis zu überhören außerstande gefühlt; am wenigsten, da soviel der altüberlieferten Traditionen dahinschwand wie der Sand im Herzen der Wüste in stürmischem Wind. Folglich hatte man ihn überwältigt. Seine Leibwächter waren hinterrücks erschossen, seine Ehre war beschmutzt, gegen das altehrwürdige Gesetz verstoßen worden. Schan de! Schande über Schande. Jetzt lag er bereits seit Stunden im Dunkeln. Man hatte ihn in irgendeine Art von Kiste gesteckt. Nach dem, was er gespürt hatte, war er in einem Airmobil fort gebracht worden, bevor man die Kiste in ein Gebäude trug und anscheinend auf so etwas wie einem PlaStahlGestell absetzte. Ganz gleich, wie sehr er um sich getre ten, von innen gegen das Behältnis gewumst hatte, er war unbeachtet geblieben. Die Zeit schien sich beklemmend zur Ewigkeit auszu dehnen. Seine Blase füllte sich, quälte ihn, und schließlich
ließ er sie — aus reinem Trotz — sich leeren. Die einzigen Geräusche, die er hörte, drangen aus seinem infolge der Erregung aufgewühlten Magen. Nach langem näherten sich außerhalb der Kiste, deren Wände alle Töne dämpften, die Schritte mehrerer Personen, Füße scharrten. Der Deckel knarrte. Starke Arme hoben ihn heraus, aber die Augenbinde verhinderte, daß er sich irgendwie orientierte, und der Knebel machte ihm das Spre chen unmöglich. Der Druck des dreckigen Stoffballens auf seine Zunge hinderte Zekial sogar am Schlucken, aus dem durchweichten Tuch sickerte ihm Speichel von den Mund winkeln und troff ihm auf die Brust. Als am schlimmsten erwies sich jedoch die Angst vor dem, was bevorstehen mochte. Während die Entführer ihn wegschleppten, verkrampfte sich in ihren Armen sein Kör per. Mit Stiefeln bekleidete Füße schrammten über Sand stein. Aus dem Geschaukel und der Weise, wie man ihn bewegte, zog er den Schluß, daß man ihn eine Treppe hin aufbrachte. Jemand öffnete eine Tür. Selbst durch die Decken, die die man ihn gewickelt hatte, spürte er die Luft feuchtigkeit innerhalb des Gebäudes. Er befand sich in kei nem herkömmlichen basarischen Haus. »Hier herein«, rief eine Stimme auf Standard. Standard? Also Deus' Schergen! Die verwünschten Padri! Dieser Ket zerabschaum! Speichelleckerisches Geschmeiß! Verdreher der Gesetze Abrahams und Isaaks! Ohne Vorwarnung ließ man ihn fallen. Hinter seinen Augen stachen Lichterscheinungen ihm durchs Hirn, als sein Schädel auf den Fußboden prallte. Ohrensausen durch dröhnte sein Gehör, Tränen erfüllten selbst das Schwarz des Dunkels noch mit Verschwommenheit. Grobe Hände zerr ten ihm die Augenbinde vom Gesicht. Zekial blinzelte, bis es ihm nicht mehr vor Augen flimmerte, Schmerz vom Auf schlagen seines Kopfs setzte ein. Er stank nach Urin, Schweiß und Angst. »Aha«, erscholl eine ölige Stimme. »Endlich der letzte, der einzige übrige Führer des Widerstands?« Zekial drehte den Hals, spähte trotz der Beschwerden,
die die helle Beleuchtung seinen Augen bereitete, im Raum umher. Befand er sich in irgendeiner Art von Turm? Oben hing eine kastenartige Apparatur von der achtseitigen, gewölbten Decke herab, schwebte über etwas ähnlichem wie einem Sockeltisch. Ein Untersu chungszimmer? Ringsum stand luxuriöses außerplaneta res Mobiliar. Düstere Padri umringten, betrachteten ihn mit der für sie typischen Glanzlosigkeit ihrer Augen und dem geistlosen Widerwillen ihres Schlages. Geistlos? Der Keim eines erkenntnisschweren Einfalls überschat tete seine Gedanken, doch gleich verdrängte Furcht alle Ansätze klarer Überlegungen. Der Knebel lockerte sich, und er spie ihn aus, froh darüber, wieder die Zunge bewegen zu können; der Nachgeschmack ekelte ihn an. »Zekial Likud«, sagte zufrieden ein extrem fetter Mann, indem er in Zekials Blickfeld trat. »Der letzte Quertreiber.« »Was für eine Überraschung«, säuselte eine andere Stimme. Zekial schloß die Lider. Der falsche Messias! Er spann te die Kiefermuskeln und biß mit aller Kraft die Zähne auf- einander. Durch seine fest zusammengekniffenen Lider preßten sich Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit. Ihm lief die Nase. Konnte der Gott der Väter ihn so im Stich gelassen haben? War all sein Glaube denn verge blich ge-wesen? Hatte er als Diener Jawes dermaßen kläg lich versagt? »Komm, mein Freund, hör auf«, riet der Pseudo-Messias ihm in freundlichem Tonfall. »Mute dir nichts Über flüssiges zu. Ich bin nicht gekommen, um dir Schaden zuzufügen, sondern um dich von einer jahrtausendealten Sklaverei zu befreien. Ich bringe das Wort Deus'. Ich bin der Einiger.« »Du bist Satan!« knirschte Zekial heiser hervor. Rundum brach Gelächter aus. »Es ist wahr«, ereiferte sich Zekial. »Schau allen in die Augen, die deine Hand berührt. Ein Teil ihrer Seele stirbt
davon, falscher Prophet. Der göttliche Lebensfunke flieht sie. Sie werden wie Lehm. Sie verlieren die Fähigkeit zu denken, zum Erkennen der Gesetze Mose und Abrahams.« Der Mann, der sich Messias nannte, packte eine Hand voll Haar Zekials und zerrte seinen Kopf zur Seite; das wäre ihm niemals möglich gewesen, hätte Zekial nicht seine Jarmulke verloren. Ein Gefühl der Leere klaffte unter seinem Herzen. Die Jarmulke war ihm von seinem Großva ter geschenkt worden; auf dem Totenbett hatte der Greis ihm das Geschenk überreicht. Als wäre eine Hauptstütze seines Gemüts weggerutscht, brach Verzweiflung über Zekial herein wie eine Lawine. Nun blickte er in die harten Augen des vorgeblichen Messias. »Jemand hat fünf Padri ermordet, die am Sabbat das Wort Deus' predigten. Ich war nicht auf dem Planeten, aber zum Glück hat Pallas aus eigener Initiative unver züglich gehandelt.« »Sie zu töten, hat mir Freude eingeflößt, du schmutzi ger Knecht des Teufels! Den Sabbat so zu schmähen ...! Vermessen in unsere Synagoge einzudringen und eure Lügen zu blöken ... Ja, wir haben sie erschlagen. Darauf bin ich stolz, du Abschaum.« Unbekümmert lächelte der falsche Messias. »Es wird mir ein großes Vergnügen sein, dich zu bekehren, Zekial. Du hast keine Mühe gescheut, um uns ...« »Mich bekehren? Zu deinem unreinen, gottlosen Aber glauben? Niemals!« Bei der bloßen Vorstellung platzte Zekial vor grimmiger Erheiterung ein Lachen heraus. Nachdem jetzt alle Hoffnung zerstoben war, sah er dem Tod leichten Sinnes entgegen. »Ngen, lassen Sie uns das Verfahren hinter uns bringen.« Pallas, der Fettwanst, unterdrückte ein Gähnen. »Der Tag war lang. Ich habe mit den Vorbe reitungen für Ihre Ankunft schon vor dem Hellwer den angefangen. Tiara wartet auf mich. Für heute abend plant sie für mich
etwas Besonderes. Wegen des arcturischen Mantels, den mitzubringen sie mich gebeten hatte. Er gefällt ihr enorm, und sie möchte sich dankbar zeigen.« Der selbsternannte Messias löste seine Finger aus Zeki als Haar und richtete sich auf, schaute auf den Rabbi herab, in den Augen einen seltsamen Ausdruck der Distanziertheit. »Sie verhätscheln sie zu arg, Pallas. Sie ist nur eine Frau.« »Eine tüchtige Frau«, korrigierte ihn Pallas. »In dem, was sie tut, ist sie in ebenso genialem Stil sachkundig, wie Sie es bei Ihren Leistungen sind.« »Genial? Hmm. Tja, ich nehme an, wir sind beide auf unsere Weise erfolgreich. Ich habe einen Großteil der Daten gemolken, Pallas. Allerdings ist mir das meiste unbegreif lich geblieben. Wir brauchen die Unterstützung eines Experten. Des besten Spezialisten, den wir finden können. Ach, wäre bloß Giorj nicht ... Aber das ist lange her. Wie klappt's mit den Bekehrungen?« Pallas spreizte seine von Fett gedunsenen Hände, an denen eine Juwelenpracht geradezu babylonisch maßloser Protzigkeit schimmerte, die Zekial als Bestätigung seines Verdacht einer Einflußnahme Satans bewertete. »Einen nach dem anderen konvertieren wir sie.« Pallas seufzte. »Wir machen langsam, aber sicher Fortschritte. Inzwischen haben wir Zulauf von vielen Unbehandelten. Sobald wir Zekial bekehrt haben, wird der Mob sich uns in größeren Massen anschließen. Dann kann niemand mehr Ihre Macht und das Wahre Ihres Wirkens leugnen. Die jüdi sche Widerstandsbewegung ...« »Niemals!« fauchte Zekial halblaut. »Mein Gott ist der Gott Israels. Ihr seid nur Gesocks, bloß abscheuliches, böses Gesindel.« Buchstäblich von oben herab lächelte der falsche Messi as ihm erneut zu. »Viele haben mich zunächst so beschimpft. Achmed Hussein, Reverend Jacobs, Abdul Mohammed, Elias Arhat und andere. Erachtest du es nicht als Zeichen meiner göttlichen Macht, daß sie sich zu guter Letzt doch zu mir bekannt haben?«
Einen Beweis von Macht sah Zekial durchaus darin. Sein Gaumen wurde trocken. »Mein Glaube wird mich behüten. Die Gesetze meiner Väter sind stärker als dein Wille, Schurke.« »Haben Sie seine Familie in Gewahrsam?« Unwillkürlich erstarrte Zekial in seiner körperlichen Haltung. Er duckte sich zusammen, als der Halunke es bemerkte und leise auflachte. »Seine Tochter ist sehr schön«, erklärte Pallas. »Hätte ich nicht schon meine Tiara ... Tja, naja ...« »Und seine Frau?« »Schreckliche Sachen stellen diese Juden an. Rasieren ihren Frauen die Köpfe. Ist es nicht komisch, daß sie solche Mühe aufwenden, nur um sie abstoßend zu machen?« Der falsche Messias lachte. »Na gut, gehen Sie zu Ihrer Tiara, mein teurer Pallas. Mal sehen, wieviel Schlaf ihre >Genialität< Ihnen in der kommenden Nacht gönnt.« Pallas verließ, einen Ausdruck lüsterner Erwartung in den Augen, den Raum, schwankte bei seinem Abgang, während er davonwatschelte, von Seite zu Seite. »Bringt Zekials Tochter her«, befahl der Pseudo-Messias einem der Padri. »Nein! Laß Lishia aus dem Spiel! Sie ist ein anständi ges Mädchen. Sie hat mit meinen Angelegenheiten nichts zu schaffen. Hörst du? Laß sie in Ruhe!« So schmerzhaft, als müßte es springen, begann das Herz ihm in der Brust zu hämmern, als er sah, daß er taube Ohren anflehte. Die Tür wurde geöffnet; Zekial erstarrte, krampfartig verspannte sich seine Körpermuskulatur. »Papa?« Zekial biß sich auf die Lippe, um nicht zu schreien. »Nicht meine Tochter«, bat er verhalten. »Sie ist erst sech zehn. Sie ist unschuldig. Nehmt mich und macht mit mir, was ihr wollt. Aber laßt sie in Frieden. Laßt sie ...« Der falsche Messias tat einige Schritte, winkte das Mädchen heran. Schüchtern und gesenkten Blicks kam es
näher. Angesichts der Furcht in ihren Augen schmolz Zekials Mut. »Wirklich eine Schönheit«, gab der falsche Messias zu. »Ich bin beeindruckt, Zekial.« Er vollführte eine Geste zu den zwei Padri beiderseits des Mädchens. »Zieht ihr die Kleider aus.« »Nein!« kreischte Zekial in höchsten Tönen. Er wandte, weil er sich zum Hinschauen außerstande fühlte, das Gesicht ab. Wie glühende Dolche stachen ihm die Schluchzer seiner Tochter in die Ohren. Die Geräusche, mit denen der Stoff ihrer Kleidung in Fetzen ging, begleite te das gleichzeitige Zerreißen seiner Seele. »Sorgt dafür, daß er zusieht«, erteilte der vorgebliche Messias Befehl. Rohe Hände zerrten Zekials Kopf herum. Finger zogen ihm die Lider hoch, hefteten sie mit Klebe band an, so daß er sich dem Anblick nicht entziehen, nicht einmal noch zwinkern konnte. Lishia lag auf dem Tisch und zitterte, versuchte sich vergeblich zu verhüllen.Ihr klapper ten vor Entsetzen die Zähne, als der sogenannte Messias seine Kleidungsstücke abzustreifen anfing. »Jawe, erhabener Gott, zerschmettere diese Scheusale! O Herrgott, bestrafe sie mit Deinem Zorn ...!« Gott mußte, wenn er so etwas zuließ, einen guten Grund haben, oder nicht? Obwohl Lishia heulte, um sich trat, sich nach Kräften wehrte, zwang man sie auf den Tisch nieder. Tränen ver schleierten Zekials Sicht. Nachdem er so lange geschrien hatte, daß seine Stimme nahezu versagte, lag seine Tochter ausgestreckt, den seltsamen Apparat über den Kopf gestülpt, auf dem Tisch. Ihr jugendlicher Leib wand sich unter der Stimulation, die die Maschine ausübte, auf offen sinnliche Weise. »An allen Ecken und Enden hast du mir im Weg gestanden, Zekial«, salbaderte der falsche Messias. »In deiner Verstocktheit hast du mir mehr Scherereien ver ursacht als jeder andere auf diesem Planeten. Aber mor gen wirst du durch die Straßen Basars ziehen und die Massen zum Besuch meines Tempels aufrufen. Du wirst
deine Synagoge schließen und gemäß Deus' Wort in meinem Tempel beten. Aus dir wird einer der herausra gendsten Padri werden. Fanatische Ergebenheit und unverbrüchliche Treue werden dich auszeichnen.« »Niemals ...«, röchelte Zekial. »Das schwöre ... ich.« »Vorher sollst du aber meine Macht kennenlernen. Lei der wirst du dich anschließend nicht daran erinnern, aber sehen mußt du sie, um zu lernen, zu verinnerlichen, was es heißt, Ngen Van Chow Schwierigkeiten zu bereiten. Der Psyching-Apparat auf dem Kopf deiner Tochter sug geriert ihr Vorstellungen, kreiert ihr eine andere Realität. Es ist so, daß die Maschine ihr in diesem Moment bereits die richtigen Reaktionen auf meine Zärtlichkeiten sozu sagen eintrichtert, in verschiedenen Bereichen des Gehirns neue Verhaltensweisen quasi vorprogrammiert.« Ngen wies rundum. »Wie bei meinen Padri, klar?« »Nein ...« Zekial sackte in sich zusammen, nur die Padri, die ihn festhielten, mit ausdruckslosen Mienen zuschauten, stützten ihn noch. »Doch, Zekial.« Ngen schob das Kinn in die Handflä che. »Aber im Fall deiner Lishia werde ich keine Verhal tensmodifikationen vornehmen. Ich werde ihre Wertbe griffe unverändert lassen. Sie wird sich an jede Einzelheit dieses Abends erinnern. Welche Frau entsinnt sich nicht gern an ihre erste, wonnevolle Vereinigung mit einem Mann? Aber was für eine Erinnerung soll ich ihr einge ben? Hmm? Was wäre das Richtige ...? Ach natürlich! Vielleicht sollte sie sich an ihren Vater erinnern, der ihren wundervollen Körper liebt? Ja, ich glaube, das wäre am besten. Du siehst abstoßend aus, Zekial, das braucht aber kein Grund zur Sorge zu sein. Nur in ihrer Phantasie wirst du ihr die Jungfräulichkeit nehmen, sie zum ersten Orgasmus bringen, körperlich hingegen werde ich es tun. Ich verspreche dir, daß sie dies letzte Geschenk ihres Vaters niemals vergessen wird, so lange sie lebt.« Zekial schrie, leistete Widerstand, wehrte sich gegen die Arme der Padri, die ihn in eisenharter Umklamme
rung hatten. Er brüllte sich heiser, während Ngen zum Tisch ging und Lishias Beine auseinanderschob. *
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Zekial Likud schritt in traumhafter Hochstimmung vorwärts. Ringsum nickten Männer und Frauen ihm zu, begrüßten ihn freundlich. Auf der Freitreppe der Syn agoge wandte Zekial sich um, stieß die Türflügel des Portals weit auf, so daß sie gegen die Mauern aus gehauenem Stein krachten. Auf der Straße blieben die Leute stehen. Tief im entlegensten Innern seines Wesens regte sich ein Grausen abstrus distanzierter Natur. Kaum merklich, wie eine Feder im Luftzug, trieb eine Art gestaltlosen Un behagens, ein Eindruck diffuser Verkehrtheit, durch sein Gemüt. Die heißen Tränen, die ihm übers Gesicht rannen, kitzelten ihn im Bart. Noch mehr Menschen scharten sich um die Stufen, beobachteten ihn aufmerksam. »Rabbi, was tust du?« rief Itzak herüber. »Was ist pas siert?« Während er infolge ununterdrückbarer Zuckungen schlotterte, blinzelte Zekial auf die Glaubensbrüder hin ab, die er bereits sein Lebtag kannte. Zu sprechen, ver langte ihm die größte Mühe ab, als müßte er sich unter der Oberfläche seines Bewußtseins gegen etwas durch setzen, an das er sich nicht erinnern konnte. »Ich ... ich habe die ärgste Sünde begangen. Ich habe ... habe meine eigene Tochter vergewaltigt.« Ein Keuchen entfuhr den Menschen, sie schraken vor ihm zurück. »Es ... es ist Satan gewesen, der von mir Besitz ergriff.« Verwundert senkte er den Blick auf seine Hände. Sie zitter ten so stark, daß er sie zu Fäusten ballen mußte. Ja, es war Satan gewesen. »Und ... und danach floh meine To-Tochter in den Tempel Deus'. Ich ... ich lief ihr nach. Dort im ... im
Tempel verbarg sie sich im Allerheiligsten. Ich ... ich fand sie und sah sie in einem Licht, das wie Gold strahlte, in den Himmel hinauf schweben ... Und in mich strömte ewiges Entzücken. Hört ihr?« »Du und Lishia vergewaltigt?« Ungläubig schüttelte Itzak den Kopf. »Zekial, du bist durcheinander. Das kann ich ... ich kann es nicht glauben.« Nun kamen die Worte leichter über Zekials Lippen. Das lange Nachwirken irgendeines Schreckens hatte endgültig geendet. Nichts erfüllte ihn noch als Deus' Botschaft. »Deus, der höchste Vater, ist mir erschienen — mir, der ich eine solche Untat an der eigenen Tochter verübt hatte! Ver steht ihr? Deus hat mich erhöht — mich, einen Schandtäter! Er hat mich von meinen Sünden reingewaschen. In Deus' Augen bin ich ein Erlöster!« Pikiert neigte Itzak den Kopf auf die Schulter. »Zekial, ich glaube von alldem überhaupt nichts. Ich glaube dir nicht. Was ist denn aus allem geworden, das du gelehrt hast? Was aus den Prinzipien, von denen du behauptest, du wärst dafür zu sterben bereit? Wie steht es mit dem Gesetz? Mit Talmud und Tanach? Kehrst du den Sitten und Bräu chen deiner Väter so einfach den Rücken zu? Unserem Volk?« »Sie sind der Weg zu Deus«, antwortete Zekial. »Nur haben Menschen, Männer wie du und ich, bisher Deus' Wort mißverstanden. Meine Brüder, anders als nach Deus' Wort zu handeln, ist Sünde. So wie das Innere meines Her zens durch Deus' Licht erhellt worden ist, habe ich jetzt Deus die Pforte der Synagoge aufgesperrt. Kommt, kommt mit mir, um zu Deus zu beten!« Itzak trat beiseite, die Arme verschränkt, während Zeki al die Treppe hinabstieg. Doch die meisten anderen schlossen sich Zekial Likud an, der zielstrebig durch die staubige Straße eilte. Erst beim Anblick des Tempels der Padri war ihm, als sollte ihn ein Zögern befallen. In den Abgründen seines Unbewußten rührte sich vages Unbehagen. Sofort zerstreute der Gedan
ke an Deus' Segensreichtum seine Beunruhigung. Sie blieb eine flüchtige Anwandlung, die ihn nie wieder störte.
5
ARCTURUS, UNIVERSITÄTS-STATION, DECK 27 Die Universitäts-Station ist und bleibt innerhalb des Direk toratsweltraums die einzige offizielle höhere Bildungsein richtung. Während verschiedene Stationen und Planeten gemäß der Direktoratspolitik zur Spezialisierung ihrer Pro duktion angehalten worden sind, konstituiert die Univer sität die Hauptquelle der intellektuellen Leistungsfähigkeit des Direktorats. Eine Ausbildung an der Universität ist Voraussetzung für eine Zulassung zu vielen im Direktorat verbreiteten Berufen und muß den Studierwilligen vor ihrem Antritt durch zuständige Beamte ihrer Station oder ihres Planeten befürwortet sowie danach durch einen der Direktoren genehmigt werden.
»Schub null Komma eins sieben sechs.« Susan Smith Andojar korrigierte, geistig völlig auf die Daten konzen triert, die ihr die Kommu durch das Kontaktron zuleitete, den Bremsschub. »Gierung rechts null Komma sechs Grad.« »Verstanden«, bestätigte Mosche Raschids geisterhafte Stimme. »Abstand Schleuse siebzehn Meter, sechzehn, fünfzehn ...« »Schubverringerung null Komma null null sechs. Schubverringerung null Komma null sieben. Schubver ringerung null Komma eins.« »Stop.« Susans Blick fiel auf die Monitore. »Stationsgreifer ausgefahren.« Ein leises Dröhnen ertönte. »Kontakt. Ver ankerung vorgenommen.« »Verstanden. Die Universitäts-Station begrüßt Sie herz lich und spricht Ihnen für das tadellose Anlegemanöver ihr Kompliment aus. Bitte halbieren Sie Energiepegel.« Susan füllte die Lungen mit Luft und atmete aus. »Ver standen. Energiesenkung veranlaßt. Reaktor wird herun
tergefahren.« Sie lehnte sich in den Kommandosessel, wurde sieh erst jetzt einer schmerzhaften Verkrampfung ihrer Schultern bewußt. Sie schob einen langen Finger unter den goldgelben Ring des Kontaktrons, strich sich Schweiß von der Stirn. Mosche erhob sich aus seinem Sessel, sein Blick huschte über die endlosen Aufreihungen von Anzeigen. Er drehte sich um und nickte, auf den Lippen die Andeu tung eines Lächelns. »Ich hätt's nicht besser machen kön nen.« In ihrer Brust spürte Susan ein schwaches Herzflat tern. »Vielen Dank, Hauptmann. Geflügelter Stier Reesh ist mit der Gewährleistung der Sicherheit zu betrauen. Giorj muß ständig durch eine Leibwache in Truppstärke begleitet werden. Wenigstens zwei Truppangehörige haben Patrouillensoldaten zu sein. Ausgang wird nur in Gruppen bis zu vier Personen gewährt, und bei jeder Gruppe Romananer muß mindestens ein Patrouillensoldat mitgehen. Ich wünsche keinerlei Zwischenfälle. Wir sind hier, um den Anthropologen abzuholen und bestellte Güter für Welt zu bunkern, zu sonst nichts.« Mosche nickte. »Nach dem, was auf Frontier gesche hen ist, brauchen Sie sich, glaube ich, nicht zu sorgen. Wir sind alle ... Na, uns steckt wegen des dortigen Vorfalls noch ein ganz schöner Schreck in den Gliedern. Hier wird bestimmt jeder vorsichtig sein.« Schon verdrängte Susans gewohntes Gefühl innerer Ausgehöhltheit ihre Befriedigung über das gelungene Anlegemanöver. Sie nickte gleichfalls. Frontier verdankte sie eine weitere Ergänzung der langen Liste von Erinne rungen, die Kränkungen ihres Gemüts bedeuteten. Sie wandte sich um, verschaffte sich rasch einen Überblick der in einwandfrei vorschriftsmäßiger Verfassung befind lichen Kommandobrücke, sah den Feuerleitoffizier die Mehrzahl seiner Terminals abschalten. »Kommandantin?«
Susan kehrte sich wieder Mosche Raschid zu, wölbte die Brauen. Raschid machte eine knappe Handgebärde. »Was ist mit Ihnen? Ich meine, werden Sie sich auch die Sehenswürdigkeiten anschauen? An der Universität gibt's 'ne ganze Menge toller Restaurants und Bars, die einem echt die Schuhe ausziehen. Ich könnte ...« »Danke, Mosche, aber ich glaube, ich halte mich da fern.« Susan durchquerte geduckten Kopfs die Tür der Kommandobrücke, entzog sich dem Ausdruck ernster Bedenken, das — wie sie wußte — jetzt in Mosches Augen stand. »Verdammt noch mal«, murmelte sie vor sich hin, »es ist deine Schuld, daß sie alle so nervös sind, Rita. Mir geht's gut. Ich habe alles unter Kontrolle.« Plötzlich schlug das Herz ihr gegen die Rippen. Abermals wollte das Leid von dort emporquellen, wohin sie es verbannt hatte. Ein gräßliches Erinnerungsbild von Freitags verstümmeltem, angekohltem Leichnam wirbelte durch ihre Gedanken. Das Entsetzen in seinen gebrochenen Augen hatte sich ihrer Seele für immer eingesengt. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, stützt sich unvermit telt, als verließen die Kräfte sie, an einem Schott ab. Hin ter ihren Augen pochten angestaute, salzige Tränen. »Nicht jetzt«, fauchte sie sich selbst an, unterdrückte den Kummer, setzte den Weg zu ihrer Kabine fort. Mit schwie liger Hand knallte sie von innen die Tür zu und lehnte sich matt an die Wand. Mit zittrigen Fingern drückte sie eine Automatentaste. Sie hielt ihre Augen geschlossen, als sie den Becher in beide Hände nahm, den Duft des heißen Kaffees roch. »Reiß dich gefälligst zusammen, verflucht noch mal ...!« Sie schlürfte das heiße Aufgußgetränk, verbrühte sich die Zunge, doch sie kostete den Schmerz regelrecht aus. »Ein Schmerz überdeckt den andern ...« Es schauderte Susan, sie zwang sich zu einer Anzahl tiefer Atemzüge. »Verdammt, Spinne, kann ich denn nicht
einmal noch einen einzigen Moment des Friedens haben?« »Ingenieur Hambrei für Sie«, gab die Kommu durch. »Giorj?« »Ja, Susan, hier.« Auf dem Monitor erschien das gräu liche Gesieht des Ingenieurs. »Ich habe alle technischen Unterlagen beisammen, die ich brauche. Ich mache mich gleich auf den Weg. Für den Fall, daß du mit mir Verbin dung aufnehmen möchtest, habe ich der Kommu RelaisCodes eingespeist. Susan, hier ist eine ganze Horde ein getroffen, sie sagt, du hättest angeordnet, daß sie ...« »Ja, Giorj, und sie wird meine Anweisung ausführen. Sollte dir etwas zustoßen, könnte ich ...« »Aber Susan, du brauchst doch nicht überspitzt zu rea gieren, weil ...« Susan richtete sich höher auf, eisige Kälte kroch durch ihre Psyche. »Und wenn jemand dich auslöscht, so wie Freitag? Du bist für uns wichtig, Giorj.« Wichtig für mich, verflucht noch einmal. Wie sollte ich, falls dir etwas pas siert, noch durchhalten können ? Wie könnte ich das ver kraften ? Giorj lächelte andeutungsweise, als verstünde er ihre Empfindungen. »Wie du willst, Susan.« Er schwieg kurz. »Bis später.« »Und vertief dich nicht dermaßen verbohrt in deine Untersuchungen, daß du vergißt, wo du dich aufhältst«, rief Susan ihm nach, als er in den Durchstieg eines langen, gebogenen Schleusentunnels klomm. »Wir werden ihn dran erinnern«, johlte ein junger Ro mananer, während Giorjs Leibwache, sichtlich begierig auf das Abenteuer, die Universitäts-Station kennenzuler nen, sich ihm dichtauf anschloß. Susan brummte etwas und unterbrach die Verbindung. Sie leerte den Rest aus dem Kaffeebecher und hockte sich ans Kommu-Terminal. Während sie auf dem Sitz zurecht rückte, rang sie erneut mit den Tränen, kämpfte gegen den
Drang an, einfach aufzugeben, sich im Jammer zu suhlen. Giorj würde bis zum Rückflug nach Welt fortbleiben, wahrscheinlich ihre Existenz zwischenzeitlich, vollkom men davon beansprucht, bei den fähigsten Gehirnen, die sich an der Universität finden ließen, technischen Rat ein zuholen, völlig aus seinen Gedanken streichen. Die Abgründigkeit der Leere, die in ihrem Herzen klaffte, ver tiefte sich um noch einiges mehr. »Nimm dich zusammen, Susan, du hast's doch bis jetzt geschafft, gepriesen sei Spinne.« Doch irgendwo in einem der finstersten Abgründe ihres Geistes hörte sie Ngens schleimige Säuselstimme. Susans Körperhaltung verkrampfte sich. Unbewußt umklammerten ihre Finger den dicken Ledergriff des lan gen Kriegsmessers, dessen Klinge sie vor nun geraumer Zeit aus der Leiche ihres Onkels gezogen hatte. Das Gefühl des Dolchs in ihrer Faust beruhigte sie, sie zog die Waffe aus dem Gürtel und legte sie vor sich auf die Ablage des Kommu-Apparats. Entschlossen rief sie die ihr von Admiral Ree mitgege bene Datei ab und fing an, den arcturischen ComputerAnlagen Materialbestellungen zu übermitteln. Die Bewilli gung durch Direktor Skor Robinsons Behörde geschah mit verblüffender Promptheit. Über den Bildschirm wanderten Kredit-Symbole und Zahlen, bezeichneten Belastungen romananischer Konten, mit aus Toron-Verkäufen Welts sowie den Romananern aus ihnen zugeteilten Protektorats-Wirtschaftszonen von Sirius zugeflossenen Einkünften aufgestockten Konten. Allzubald hatte Susan alle Einkäufe abgewickelt. »Kommandantin?« »Ja, Mosche?« »Zehn Personen haben zwecks Mitflug auf der Projektil angerufen. Es handelt sich um die Leute, denen Ree Posten zugesagt hat. Frisch graduierte Techs mit Interesse an Arbeit in der Patrouille.« »Reesh soll sie, sobald sie da sind, in den Unterkünften auf Deck C einquartieren.«
»Sehr wohl.« Aus verschwommenen Abgründen in Susans Gedächtnis schwebte der Klang von Freitags Stimme näher. Susan, ich werde dich immer lieben. Für Spinne habe ich auf dich ver zichten müssen. Jetzt ist es mir klar. Ich erkenne im Gesche hen Spinnes Wirken. Nur ist ... Es ist bloß so, daß ich nicht dachte, es würde derartig weh tun. »Freitag, Freitag, du verstehst's nicht. Es lag nicht an dir. Ich ... ich habe dich auch geliebt, Freitag. Aber ich konnte nicht ... Ngen war's schuld ... Er hat's durch Psychen erreicht. Mir vorgetäuscht, du wärst's, wenn er mich vergewaltigte. Kannst du mich nicht begreifen? Diese Schauerlichkeit ... dich zu lieben und gleichzeitig zu hassen ... Das ist es, was Ngen mir angetan hat. Meine Erinnerungen an dich und deine Liebe zu mir gegen mich mißbraucht, Freitag ... Das hat der Schuft gemacht. Jetzt ist mir nur noch Schuld geblieben ... Und Schmerz. Immer nur Schmerz.« Sie schloß die Lider und schniefte. »Spinne, weshalb mutest du mir so etwas zu? Was wirst du wohl als nächstes von mir verlangen?« Der Kommu-Apparat ziepte, und Susan hob den Blick, wischte sich mit rauhen Daumen die Tränen, die ihr die Sicht verschleierten, aus den Augen. Eine Datei war ihr zur Kennt nisnahme zugeleitet worden. Ein Dr. phil. Darwin Pike, ersah sie aus der Information, hatte die Position eines romananischen Religionsanthropolo gen erhalten. Susan sichtete seinen Lebenslauf. Pike kam von der Erde, stammte aus einer Gegend, die sich Freistaat Alaska nannte. Sie betrachtete sein Holo, das einen hellhäutigen jüngeren Mann mit weichen Gesichtszügen zeigte. Aus dem regelmä ßig geformten Gesicht blickten freundliche Augen. Er hatte ein energisches Kinn. Trockener Humor schrägte ihm die Mundwinkel. »Prächtig«, dachte Susan laut. »Noch so ein Direkto ratsgeck. Ngen treibt ungehindert sein Unwesen, Freitag ist tot, irgendein abartiger Kult stiftet im Weltall Unruhe, die Patrouille zerfällt schneller, als man zuschauen kann, die
ganze Menschheit hat sich überworfen, und ich soll auf so 'n schlappes, verhätscheltes Direktoratsschaf wie dich auf passen, hä?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Na, Dr. Darwin Pike, dann wollen wir mal sehen, wie lang's dauert, bis die harte Wirklichkeit dir das blöde Grinsen von deiner weichlichen Visage schrammt.« Verärgert speicherte sie die Datei in ihrem Terminal, ehe sie aufstand und in ihrer kleinen Unterkunft hin- und herz ustapfen anfing. »Es steht etwas bevor, Spinne. Ich ahn's. Du bist noch nicht mit mir fertig. Freitag ...« Der Gram brachte sie ins Taumeln. »Ach, Freitag ... Erst Hans ... dann du. Wie das schmerzt ...« Und irgendwo draußen in den Weiten des Weltraums lauerte Ngen Van Chow.
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Darwin Pike stopfte einen weiteren Armvoll seiner ge schätzten Habseligkeiten in den PlaStahl-Container, den er liebevoll seine >Reisetruhe< nannte. Die letzten ihm ver bliebenen Bindeglieder zu seiner Abkunft hingen noch an der Wand. Er griff nach oben, entfernte den alten TargusBlaster, der seinem Großvater gehört hatte, vom Haken und legte in vorsichtig in den Behälter, bedeckte ihn zur Abpolsterung mit einigen Kleidungsstücken. Als letztes packte er das antike Survival-Messer ein. Auf der zerkerbten, aufpolierten Klinge konnte man noch so eben die Prägung des Herstellers unterscheiden; die Wörter Solingen rostfrei ließen sich nur erkennen, hielt man das Messer in einem bestimmten Winkel ins Licht. Was das genaue Alter des Stücks betraf, hatte er keine Ahnung; sein Urgroßvater hatte es daheim auf der Erde aus dem Wrack eines im Polareis abgestürzten Flugzeugs des 20. Jahrhunderts geborgen.
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute er sich ein letztes Mal im Zimmer um. Nichts war jetzt noch verhan den, das es als seine Behausung gekennzeichnet hätte. Wie seltsam es anmutete, daß nach so vielen Stunden des Bewohnens nichts als kahle, weiße Wände zurückblieben. Dem Zimmer fehlte wieder alles, was auf Darwin Pike hinwies, es war genau wie an dem Tag beschaffen, als er es bezogen hatte. Herrgott, mußte man im Weltall eigent lich alles aus weißen Materialien fabrizieren? Er seufzte und rieb sich das Kinn. »Na, dann also adieu, Uni ...« Was denn, zum Donnerwetter — einen guten Akade miker hatte er ohnedies nie abgegeben. Er besaß eine mittelgroße Gestalt mit — eine Folge seiner in der terrani schen Wildnis zugebrachten Jugend — eher muskulöser Statur. Seinem Naturell nach war er Jäger. Wie hatte es ihn überhaupt je an eine Universität verschlagen? Wenn er in einen Spiegel blickte, schaute ihn aus gleichmäßig ange ordneten blauen Augen ein typischer terranischer Weißer an. Im Vergleich zu den Stationsgebürtigen wirkte er stäm mig, geradezu gedrungen. Zerstreut strich er sich über die schmale Nase und bemerkte, daß er sich wieder einmal rasieren mußte. Ließ er den Bart wachsen, sprossen ihm fast schwärzliche Stoppeln, die einen etwas auffälligen Gegensatz zum Dunkelblond seiner Kopfbehaarung bilde ten. Er schob die Verschlüsse des Containers ineinander, so daß sie einschnappten, sah sich nochmals in dem kleinen Raum um, weil er ganz sicher sein wollte, daß er nichts vergaß. Währenddessen läutete der Tür-Servomat und avi sierte die Ankunft Dr. Chems. »Herein«, rief Darwin, ließ sich in den Sessel plump sen. Dr. Emmanuel Chem, Chef der Anthropologischen Ab teilung, kam ins Zimmer geschlurft, ein hochaufgeschos sener, linkischer, alter Mann, dessen Hutzelgesicht buschi
ge Brauen zierten. Zu dicht unter der Haut umgab ein fei nes Gespinst winzig-dünner, roter Blutgefäße seine Knol lennase. Ursprünglich war er Leiter der Expedition zum Planeten der Romananer gewesen, später jedoch — aus gesundheitlichen Gründen, hatte es geheißen — zurückbe ordert worden. Doch schon zur gleichen Zeit waren in den geheiligten Hallen der Universität hartnäckig anderslau tende Gerüchte gemunkelt worden. Ältere Angehörige der Fakultät behaupteten, nach der Rückkehr von Welt sei Chem nie mehr wie früher gewesen. »Nehmen Sie Platz.« Pike deutete im jetzt fast leeren Zimmer rundum. »Ich dachte mir, ich bringe mal 'ne Pulle anständigen Scotch mit«, meinte Chem zur Begrüßung, nachdem er sich mit einem rauhen Krächzen geräuspert hatte. Darwin holte aus dem Spender zwei Gläser, und Chem schenkte ein. »Wie fühlen Sie sich, alter Freund? Es tut mir schreck lich leid, Sie so mitten aus der Arbeit reißen zu müssen ... Aber Sie wissen, Sie sind der einzige, der in Frage kommt.«. Darwin lachte. »Ehrlich gesagt, Emmanuel, ich fühle mich wie ein Achtundzwanzigjähriger, der auf die Hun dert zugeht. Total gehetzt, kapieren Sie? Ich hatte in so kurzer Zeit, bevor die Subvention verbraucht war, so verdammt viel zu bewältigen. Ach, ja klar, natürlich hätte ich meine Forschungen gern abgeschlossen. Hier hat man ja fabelhafte Möglichkeiten zur Verfügung. Aber ... Darf ich offen zu Ihnen sein?« Ungezwungen lächelte Darwin, pflügte Finger durchs dunkelblonde Haar. »Aber selbstverständlich, mein Bester.« »Diese Station macht mich verrückt!« entfuhr es Dar win. Er sprang auf. Chem schaute leicht bestürzt drein. Darwin lachte. »Sehen Sie mal, Sie sind auf 'ner Station geboren, Doktor, ich dagegen nicht. Ich stamme aus Glen
len am Arsch des Universums. Das ist ein kleines Kaff, das ungefähr zweihundertzwanzig Kilometer von Ankora ge entfernt liegt. Ich passe nicht in Arcturus' Verhältnisse. Meine Heimat ist der Freistaat Alaska. Hier ist alles ganz anders. Wissen Sie, hier gibt's kein Freies. Ich bin auf Jagd und Fischfang gegangen, während ich aufwuchs, und habe wirkliche Archäologie betrieben. Ihnen ist geläufig, daß die Inuit und Aleuten noch ihre traditionellen Werte in Ehren halten. Erst dadurch ist nämlich mein Interesse an der Anthropologie geweckt worden.« Chem lachte vor sich hin. »Mir war bewußt, daß Sie sich hier nicht wohlgefühlt haben, Dr. Pike.« Scheuen Blicks maß er Darwin. »Wenn ich auch offen sein darf, ich habe Sie für dies Projekt speziell wegen Ihrer kräftigen Konstitution ausgesucht.« »Nicht bloß die Tatsache, daß mir das Geld ausging?« Darwin kippte seinen Scotch und hielt das Glas Chem zum Nachfüllen hin. »An der Fakultät gibt's Leute«, ergänzte er halblaut, »die wären zum Morden bereit, um meine Stelle einnehmen zu können. Ich bin nämlich eben kein Roma nanerexperte.« Chem hob die Schultern. »Es wird gar kein Romana nerexperte gewünscht. Bella Vola und Marty Bruk sind noch auf Atlantis ... Ach, Entschuldigung, dort nennen sie den Planeten ganz einfach Welt.« Die romananische Aus sprache mißlang Chem. »Also guckt man einen durchschnittlichen Klasse-EinsAnthropologen aus, der im Umgang mit kulturellen Eigen tümlichkeiten bewandert und bei akzeptabler Gesundheit ist. Dürfen wir bitte mal Ihre Zähne sehen?« Darwin schöpfte tief Atem. »Wenn Sie mich schon irgendwo hin schicken mußten, warum nicht nach Hause? Vielleicht hätte ich's hingedreht, noch ein bißchen Geld aus dem Inuit-Kulturfond lockerzumachen. Außerdem vermisse ich das Jagen und Fischen. Ich hätte nie gedacht, ich würde einmal Sehnsucht nach dem Golf von Alaska verspüren,
wie er im Frühling ist ... Aber vermutlich liegt's bloß an erblichem Wahnsinn in meiner Familie.« Ungeduldig winkte Chem ab. »Hören Sie zu, Doktor. Ganz abgesehen von dem Umstand, daß Sie durch den unterzeichneten Vertrag mehr Forschungszeit erhalten, sollten Sie's als Gefälligkeit der Abteilung verstehen. Sie wissen, wie wertvoll die Romananer für uns sind. Wirk lich, die Forschungsbasis auf Welt bedeutet für uns eine wahre Goldgrube an täglichen Informationen. Aber Ihnen ist bestimmt auch klar, wie einflußreich Eisenauge und sein Verein politisch inzwischen sind. Seit sie auf Sirius dem Direktorat die Kartoffeln aus dem Feuer geholt ha ben, bekommen sie alles, was sie wollen. Diesmal möch ten sie einen Anthropologen zum Erforschen der Religion — also kriegen sie Sie.« »Und Ihr Etat wird um ein fettes Beraterbudget aufge stockt. Tina Alleeta ist die Religionsexpertin. Wieso ist sie nicht ...?« »Sie ist auch Stationsgebürtige. Sie hat so spargeldür re, schwache Knochen wie ich.« Chems wäßrig-blaue Augen spiegelten Belustigung. »Die Romananer haben jemanden angefordert, der ... Wie soll ich's ausdrücken? Eine Person, die etwas robuster und sportlicher ist, könn te man sagen. Ein Alaskaner müßte ihren Kriterien ent sprechen.« Verdrossen betrachtete Pike den älteren Kollegen. »Und ich habe diesen Scheißvertrag unterschrieben. Ach, was soll's, er gilt nur für 'n Jahr. Danach kann ich zurückkehren und meine Arbeit fertigstellen. Es wird mir 'ne Abwechslung sein: Endlich keine weißen Wände mehr.« Chem schmunzelte boshaft. »Wie ich die Romananer kenne, werden Sie über Langeweile nicht zu klagen haben.« -»Kommen Sie.« Chem leerte sein Glas Scotch und stand auf. »Ich begleite Sie zum Raumhafen.«
Darwin Pike wandte sich nicht um, als er per Handflä chendruck die Tür öffnete. »Weiß ist mir schlichtweg zuwider.« Sein Vater hatte in Glenlen in der Kontrollzentrale gearbeitet, die für eine permanente Adjustierung der gro ßen Orbitalspiegel sorgten, deren Zweck es war, die fort schreitende Vereisung einzudämmen. Die Erde ging einer neuen Eiszeit entgegen; schon am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als das Klima chaotisch zu werden begann und der Große Salzsee eine Tendenz zeigte, sich wieder in seine viel größere Urform, den Lake Bonneville, zu ver wandeln, hatte diese Aussicht sich abgezeichnet. Heute gewährleisteten Männer wie sein Vater die Beibehaltung eines, heiklen Mittelwegs beim Fokussieren der Sonnen strahlung in genau richtiger Intensität auf die Gletscher flächen. Seine Jugend hatte Darwin damit zugebracht, nach Artefakten zu buddeln, auf Pirsch auf Bär, Elch und Kari bu zu gehen und riesige Lachse zu angeln. Er hatte im Wald gelebt, war durchs Tundramoor geschlichen, hatte die Stechmücken verflucht, war mit seinen Inuit-Freunden behend zwischen den Fichten umhergetollt. Dieses Dasein hatte seinem Leben Erfüllung gegeben, ihm einen Schuß Barbarisches eingefleischt und ihm eine unstillbare Neu gier in bezug auf die Vergangenheit eingeimpft. Das Raumhafen-Areal der Universitäts-Station war, wie bei der Konstruktion von Weltraumhabitaten allgemein üblich, in Nullschwerkraft im Bereich der Zentralachse angelegt worden. Darwin Pike konnte von dort aus andere Elemente Arcturus' erkennen, das den gleichnamigen Stern umkreiste. Arcturus glich als größte Stadt der Gala xis einem Geflecht aus Silberdraht, das sich weiter durchs All erstreckte, als das bloße Auge sehen konnte. Ungefähr ließ der Anblick sich mit den Saturnringen vergleichen, nur bestanden die >Drähte< aus in schier endlosem Umkreis ineinander verflanschten Hohlröhren enormen
Durchmessers; sie umfaßten Ort und Umfang dieser unglaublichen Stadt. Arcturus verkörperte in der Galaxis Herz und Seele der Menschheit. Darwin nahm sich noch genug Zeit, um in einer Obser vationskuppel für eine Weile hinauszuschauen. Grelle Beleuchtung flutete die Docks mit Licht, ergab einen kras sen Kontrast zum Schwarz des Alls und den von der Riesen-sonne Arcturus geworfenen, rötlichen Schatten. An der Schleuse schwebte ein angedocktes Raumschiff, das auf den ersten Blick ein standardmäßiger FLF-Transporter zu sein schien; von der grauen, zernarbten Außenwand der Station verliefen Nabelschnüren vergleichbare Verbin dungen hinüber zum verwaschenen Weiß des Schiffs rumpfs. Rundum auf dem mit einem Gewirr von Anten nen gespickten Rumpf gruppierten sich, zum Teil ver deckt durch eine Transduktions-Trichterantenne, zahlrei che Kuppeln, wie sie FLF nicht hatten; außerdem war auf die Seitenwand des Schiffs ein gewaltiges Spinnenbild gemalt worden. Er wandte der schmuddeligen Backbordseite des Raum schiffs den Rücken zu und sah den Servorobot die Kisten in. die weite Schleusenöffnung tragen. Wartungstechniker eilten hin und her, mal straffte, mal fältelte sich das Grau ihrer Monturen, während sie tragbaren Kommu-Apparaten Notizen eintippten. Ein niedrigfrequentes Summen durch drang alles, und die kühle Luft roch scharf, ihr metalli sches Odeur hätte eine Duftnote ferner Weltraumtiefen sein können. Abseits tuschelte mit unterdrückten Stimmen Wachpersonal, dessen Blicke immer wieder mit merkli chem Unbehagen die wuchtige Schleuse streifte. Wegen der Biegung hinter dem Eingang konnte man vom Schiffs innern so gut wie nichts sehen, nur das abscheuliche Weiß der gewölbten Wände. »Tja, ich glaube, das wär's wohl.« Chem ergriff Pikes Hand. »Sollten Sie tatsächlich in Schlamassel geraten oder sich einfach absolut nicht zurechtfinden, rufen Sie mich
an.« Dieses Mal erregte die Sorge in Chems wäßrigen Augen einen ernstgemeinten Eindruck. »Danke, Doktor.« »Dr. Darwin Pike?« rief eine forsche Stimme. »Hier.« Darwin drehte sich um, trat mit einem leicht mulmigen Gefühl in die künstliche Schwerkraft der Schleuse. Der Mann, der seinen Namen gerufen hatte, nahm den Blick von einem Kommu-Bildschirm, schaute herüber. Er hatte einen dunklen Teint; sein Phänotypus hätte erlaubt, auf eine irdisch-nahöstliche Abstammung zu schlußfolgern. »Ich bin Hauptmann Mosche Raschid, Pilot des Raum schiffs Spinnes Favorit.« Der Hauptmann salutierte. »Im Namen, Kommandantin Andojars begrüße ich Sie an Bord. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Zu Darwins Mißfallen glänzte auch das Innere des Schiffs im ewigen, allgegenwärtigen Weiß der Raumfahrt. Allerdings hatte man auf die Schotts vielerlei Spinnenbil der in allen erdenklichen Variationen gekrakelt; die Wir kung war die gleiche, als hätte man einer Horde übermü tiger Kinder mit Filzstiften freie Hand gelassen. Darwin störte der Anblick nicht, er hatte bereits bei den Inuit gelebt. Spinnen verkörperten einen Bestandteil der Natur. Hauptmann Raschid führte ihn durch leere Korridore in eine kleine Kabine, die nicht mehr als sechs mal vier Meter maß. Darwins Kisten waren schon da und auf dem Fußboden festgeklampt worden. »Sind Sie Romananer?« Raschid schüttelte den Kopf. »Ich bin levantinischer Abkunft. Sie werden die echten Romananer erkennen, sobald Sie welche sehen. Alle haben sie einen Dolch am Gürtel. Und sie tragen ausnahmslos das Haar in Zöpfen. Ich verzichte lieber darauf, an Örtlichkeiten wie der Uni versität mit einem Messer rumzulaufen. Man kann allzu flott beim Psyching landen, ehe irgendwer merkt, wer man ist.«
»Weshalb einen Dolch?« fragte Pike, wünschte sich, er hätte der romananischen Ethnografie stärkere Beachtung geschenkt. »Zum Zeichen, daß man 'n Krieger ist«, erklärte Ra schid, bevor er ging. Wie sich herausstellte, stimmten seine Angaben. Nachdem das Raumschiff von der Universitäts-Station abgelegt hatte und zwecks Überwechseln in den Hyper flug beschleunigte, begegnete Darwin im Korridor zwei Männern, die sich lebhaft in einer ihm unverständlichen Sprache unterhielten. Als sie ihn sahen, maßen sie ihn mit neugierigen Blicken, nickten zurückhaltend und strebten vorüber. Ihre Lederkleidung hätte nach einer Beschreibung in einem Anthropologietext geschneidert worden sein können. Auf Brust und Ärmeln hatte man die Stücke sorgfältig mit farbenfrohen Mustern verziert. Jeder der beiden hatte auf dem Vorderteil der Bluse eine Spinnendarstellung. Die Fransenränder der Säume — anscheinend dienten Fransen gelegentlich, beobachtete Darwin, zum Löcherflicken — verursachten leises Geraschel, während die Männer mit leichtfüßigen, ela stischen Schritten den Korridor durchquerten. Auf den Rücken der Männer baumelten lange Zöpfe glänzend schwarzen Haars. Ihre Gesichter hatten kein grobes oder brutales Aussehen; die Romananer waren, befand Darwin, vielmehr ein durchaus attraktiver Menschen schlag. Nur die überlangen, schaurigen Messer an ihren Gürteln sowie der Schmuck aus verschiedenfarbigen Haarbüscheln — der eine Mann hatte solche Haare an seiner Bluse hängen — wirkten ausgesprochen barba risch. Nach seinem ersten Rundgang kehrte Darwin in die Kabine zurück und machte sich ans Auspacken. Weil danach bis zum Abendessen noch immer dreiStunden Zeit blieben, fragte er sich zum Sportsaal durch, wo er für seine Übungen die Gravitation auf 1,5
erhöhte. Beim Joggen und Gewichtheben bemerkte er das ebenfalls dort aktive Mädchen zunächst nicht. Sie befand sich hinter einer Trennwand im Fight mit einem Trainingsrobot. Pike sah sie, hielt inne, schaute ein zweites Mal hin. Dabei entfiel ihm beinahe das schwere Stemmgewicht. Sie vollführte buchstäblich einen Tanz, während sie auf den Robot einschlug, boxte und trat. Sah man von den Treffern ab, die der Robot erhielt, hätten ihre Bewegungsabläufe eine glanzvoll choreografierte Ballettdarbietung sein kön nen, eine solche Anmut, soviel Fließendes der Körperbe herrschung verriet ihr Schwung. Zudem war sie offen sichtlich Expertin im Nahkampf. Das schwarze Haar flog nur so um ihren Hinterkopf, während sie durch eine Pirou ette kreiselte und den Robot erneut auf die Matte warf. Darwin klappte den vor Staunen offenen Mund zu, zupfte„sein Sporthemd zurecht und ging hinüber, um zuzu schauen. Vielleicht hätte sie größer sein müssen, aber er war sich nicht sicher. Bei einem so vollkommen proportionierten wie ihrem Körper mochte eine derartige Erwartung auf einem Vorurteil beruhen. An ihrer geschmeidigen Erschei nung wellten sich die Muskeln, als sie sich duckte, ein Angriff des Robots sie verfehlte. Indem sie einen Satz in die Höhe tat, verpaßte sie dem Robot einen dermaßen fürchterlichen Hieb gegen den Hals, daß ein Mensch davon womöglich geköpft worden wäre, und sprang zurück, blieb jedoch für alle Fälle dar auf gefaßt, weitere Schläge zu führen. Darwin klatschte Beifall, und das Mädchen wirbelte kampfbereit zu ihm herum. In ihren schwarzen Augen glommen Funken feu rigen Temperaments, so daß aus ihnen eine Verwegen heit und Lebendigkeit leuchteten, die er als Verlockung empfand. »Ausgezeichnet«, rief Darwin fröhlich, bemerkte zum erstenmal, was für ein anziehendes Äußeres sie hatte.
Irgendwie prickelte es in seiner Brust, während er ver suchte, seinem Blick eine unverfängliche Richtung zu geben. Eine schwacher Anflug von Verlegenheit beein trächtigte seine Selbstsicherheit. Er wußte, wenn er den Blick senkte, fiele er sofort auf die herrlich festen Brü ste, die sich in aufregender Weise unter dem Schutzpan zer abhoben, den sie trug, oder den flachen, muskulösen Bauch zwischen den reizvollen Schwellungen ihrer Hüf ten. Nein, ihr in die Augen zu sehen, war wohl am harm losesten, solang er ihr nur in die Augen schaute, konnte sie ihn nicht totschlagen. Ihre Haltung lockerte sich ein wenig; sie betrachtete ihn. »Danke. Du verstehst dich auf Nahkampf?« »Ich ... äh ... nein.« Er lachte, wendete alle Mühe auf, um die Hemmung, die das plötzliche Eingeständnis bei ihm auslöste, zu überwinden. »So was wohl liegt mehr außerhalb meines Fachs. Aber ich meine ... Naja, Sie waren vorhin wirklich prachtvoll anzusehen. Ich ... Experten bewundere ich, wenn ich welchen begegne. Und Sie gehören dazu. Sie sind 'ne Expertin, will ich sagen.« Panik drohte ihm die Stim me abzuwürgen. Sie ist lediglich eine schöne Frau, du Töl pel! Bleib ganz ruhig! Sein Herzschlag mäßigte sich wieder in gewissem Umgang. »Du siehst ziemlich fit aus«, sagte sie, während sie ihn musterte. »Kann sein, du bist lernfähig. Ich nehme an, du bist Darwin Pike, der Anthropologe.« »Ja, der bin ich. Ist mir 'n Vergnügen ... ahm?« Er legte den Kopf etwas seitwärts, und sie lächelte leicht belustigt. »Susan.« »Ist mir ein Vergnügen, Susan«, sprach Darwin denSatz jetzt vollständig aus. »Was ich vorhin gesagt habe, war mein Ernst, Sie sind im Nahkampf sehr gut. Sind Sie schon lang in der Patrouille?« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich bin Romanane rin.« »Oh.« Verdutzt trat Darwin einen Schritt zurück. »Ich dachte, Romananerinnen flögen nicht ins All.« Doch da
entsann er sich an einen Bericht über eine Kriegerin, die sogar am Feldzug gegen die Sirianer teilgenommen hatte. »Die Verhältnisse ändern sich. Ich hätte gedacht, die Berichte, die Bella und Marty übermittelt haben, würden euch über die kulturellen Errungenschaften Welts alles erläutern.« Darwin blickte tief in ihre dunklen Augen, bis ihm war, als sollte er in ihnen versinken. »Ich muß gestehen, ich habe mich mit der romananischen Ethnografie nicht sonderlich beschäftigt. Es ist wohl höchste Zeit, daß ich's nachhole.« Ihre Augen zogen ihn in eine Art von Bann, sie verschleierten irgendein gehütetes Geheimnis, verbargen einen Schwachpunkt der Verletzlichkeit. »Ich war der Meinung, die gesamte Universität sei ganz fasziniert von uns Primitiven«, sagte sie herausfordernd mit einem ironischen Lächeln. »Mein Interesse gilt höheren Größenordnungen sozialer Interaktion. Ähm ... den Entwicklungen, die sich ergeben, wenn Menschen ihre Gesellschaft vollständig einer verän derten Umwelt anpassen müssen. Akkulturation, falls Sie mit den Termini des Jargons vertraut sind. Das bedeutet ...« »Ja, ist mir bekannt, Dr. Pike. Ich habe deinen Tätig keitsnachweis und deine Vita sehr genau gelesen.« Ihr Blick bezeugte jetzt Wachsamkeit. Darwin verheimlichte seine Überraschung nicht. »So?« Sie nickte, legte die Hände an die Hüften. »Wir sind ein argwöhnisches und vorsichtiges Volk, Doktor. Unsere erste Begegnung mit der Direktoratszivilisation endete fast mit unserem Untergang. Bis zur Eroberung des Plane ten haben wir auf Sirius fünfzig Prozent Verluste erlitten. Wir betreiben nichts halb, auch die militärische Aufklä rung nicht.« »Militärische ...« Darwin merkte, daß er sich mit ihr unterwegs zur Dusche befand. »Militärische Aufklärung?« wiederholte er, ärgerte sich über sich selbst, versuchte seine Stimme frei von Anklängen der Verwirrung zu hal
ten. Militärische Aufklärung? Was, zum Teufel, geht hier eigentlich vor? Zum Donnerwetter, Chem, in was haben Sie mich da hineingebracht? »Ich überlasse es Admiral Ree und John Smith Eisenau ge«, antwortete Susan lediglich, »sich mit diesen Angele genheiten zu befassen.« Darwin lächelte, dachte verzweifelt über eine Möglich keit nach, um die Initiative zurückzugewinnen. »Bitte berücksichtigen Sie, daß mir Ihre Bräuche nicht geläufig sind, daß es mir fern liegt, Sie irgendwie kränken zu wol len, aber hätten Sie was dagegen, irgendwo 'n Schluck mit mir zu trinken? Falls Sie einen Ehemann oder männlichen Freund haben, kann er sich ja zu uns gesellen. Dr. Chem hat mir einen hervorragenden Scotch mitgegeben, und ich würde gern aus unmittelbarer Erfahrung lernen, wie ich mich unter Romananern benehmen muß ...« Und heraus finden, wieso ich mich mit einem militärischer Aufklärung abgeben muß, ganz egal, wessen Aufklärung es ist! Susan zögerte einen Moment lang und überlegte, wäh rend Pike den Atem anhielt. Es war ganz schön riskant — soviel war ihm bewußt —, auf vordergründige Unwissen heit zu setzen. Ihr Ehemann, falls sie einen hatte, mochte ihn dafür möglicherweise abmurksen. »Ich bin in fünfzehn Minuten in deinem Quartier«, ent schied Susan. »Prächtig.« Darwin grinste, das Hochgefühl des Erfolgs brachte ihn zum Erröten. Er wußte zwar noch immer nicht, ob es in ihrem Leben einen Mann gab, doch es war schon lange her, seit er das letzte Mal eine so schöne, anziehen de Frau gesehen, und erst recht, daß er mit einer gespro chen hatte. Und zudem verlockte dieser zusätzliche Aspekt ihrer achtsam-präventiven Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit ihn um so mehr. Militärische Aufklärung ? Während sie duschte, dachte Darwin eingehender über sie nach, rekapitulierte im Geist noch einmal ihre Begeg nung, versuchte die Wirkung, die diese Person auf sein
Konzentrationsvermögen ausübte, zu neutralisieren. Bei ihr kaschierte eine seltsame Mischung von Keßheit und Ruppigkeit irgendeine tiefsitzende Anfälligkeit. Ihm fiel nichts ein, was hätte als Erklärung dienen können, inwie fern dieselbe Frau, die er vorhin einen Trainingsrobot mattsetzen gesehen hatte, irgendeinen Schutz brauchen sollte, doch hegte er den Verdacht, daß eine besondere Art eines bei ihr vorhandenen Schutzbedürfnis ihn unbewußt angesprochen haben mußte. Mit gerunzelter Stirn kehrte er durch die greulichen weißen Korridore zurück zu seiner Unterkunft. Also Susan hieß sie — und ihr Dunstkreis gab sich mit militäi scher Aufklärung ab. Kaum hatte er per Handdruck die Kabinentür geöffnet und war eingetreten, teilte ihm die Kommu mit, Kommandantin Andojar bäte ihn um sein Erscheinen zum Abendessen. Er gab durch, die Teilnahme werde ihm eine Freude sein, und packte den Scotch aus, legte den alten Blaster und das verwetzte Solinger Messer auf die Ablagefläche der Einbaukommode. Im Spiegel prüfte er sein Aussehen, schalt sich selbst sofort wegen seiner Eitelkeit, hängte einige seiner Jagd fotos an die Wandhaken. Er besah sich sein Lieblingsfo tos. In der Holo-Aufnahme stand er stolz, einen Fuß malerisch auf einem vom Blitz zersplitterten Baum stumpf gesetzt, neben einem aufs Durcheinander einer Prügelfalle zusammengebrochenen Alaska-Bären von drei fünfzig. Der Bogen und die Pfeile, die er so fest im Griff hielt, waren in sorgsamer Handarbeit mit den tradi tionellen Methoden angefertigt. Holz, Sehne und Leim waren Geist eingesungen, der Maserung der Waffe war Seele eingehaucht worden. An der anderen Seite des Bären sah man Jokut Iglulik, das breite lächelnde InuitGesicht, das gerade, weiße Zähne entblößte. Das Foto löste bei Darwin, während er in den schönen Erinnerun gen schwelgte, die das Bild weckte, ein Gefühl tiefer, starker Sehnsucht aus. »Besuch«, meldete der Kommu-Apparat.
»Herein.« Susan trat ein, als die dicke weiße Tür sich beiseite schob, und schaute umher, ihren flinken, schwarzen Au gen entging nichts. »So ganz bin ich noch nicht eingerichtet«, sagte Dar win; verdrossen spürte er, wie sein Herz sich wieder be merkbar machte. Er biß sich auf die Zunge, um sich bes ser beherrschen zu können. Herrje! Er und Nervosität! Allerdings war auch schon lange Zeit verstrichen, seit seine Frau ... Ein im Laufe der Jahre keineswegs schwä cher gewordener Schmerz quälte ihn von neuem. Unbekümmert hatte Susan das alte Solinger Messer zur Hand genommen und aus der PlaStahl-Scheide gezo-gen. »Ein sehr altes Stück«, konstatierte sie. »Du hältst es scharf. Woher ist es?« Darwin erzählte ihr die Geschichte, die er über seinen Urgroßvater wußte. »Sie sehen also« — er grinste und reichte ihr Scotch — »meine Vernarrtheit in die Anthro pologie ist ererbt.« »Du solltest es tragen.« Sie zeigte auf den langen Dolch, der an ihrem Gürtel hing, schenkte ihre Aufmerk samkeit den Hologrammen. »Solche Tiere habe ich noch nie gesehen. Ist ja interessant. Auch von der alten Erde?« »Das ist 'n Elch. Das ein Karibu. Und das hier ist 'n Rekordbär.« Eine Aufwallung des Stolzes durchströmte ihn.»Ich habe ihn mit einem Pfeil erlegt. Einem selbst geschnitzten Pfeil, der von Jokut Iglulik gesegnet war, und vor der Jagd hat er mich vier Tage lang in der Schwitzhüt te hocken lassen.« Achtsam hörte Susan zu, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber er ist so klein.« »Klein?!«brauste Darwin auf. »Mein Gott, Frau! Er war drei Meter fünfzig groß. Ich hatte nicht mal zur Sicherheit 'n Blaster dabei. Jokut und ich mußte zwei Stunden auf 'm Baum warten, bis er starb.« Ihr Blick ruhte wieder auf ihm, maß Darwin, taxierte ihn. »Dann müssen sie für ihre Größe sehr wild sein. Auf
Welt haben wir auch Bären. Sie sind aber viel größer, haben zwei Schwänze und Saugteller, mit denen sie ihre Opfer packen. Ihr Maul ist voller Säure, in der sie ihre Beute auflösen. Bevor wir Blaster hatten, haben wir sie mit Kanonen oder Gewehren getötet.« Darwin spürte, wie bei ihm Trotz aufkam. Das Erlegen des Bärs war die größte Einzelleistung seines Lebens gewesen. Es bedeutete ihm mehr als sein Doktortitel. Wie ein Besessener hatte er dem Bären auf die eine oder ande re Weise Jahre hindurch nachgejagt. Sobald die Reihe an ihm gewesen war, sich nach den Inuit-Gesetzen einer Bewährungsprobe zu unterziehen, hatte er sich vollauf in Bereitschaft befunden. Er und Jokut hatten zu den alten Inuit-Göttern gebetet, zum Raben und dem Großen Rie sen. Eigenhändig hatten sie die Waffen gefertigt, ausgiebig in der Schwitzhütte gesessen, sämtliche Riten ausgeführt, die Seele des Bären beschworen. Allein, nur mit ihrem Scharfsinn und den primitiven Waffen ausgerüstet, waren sie durch die Wildnis gewandert, durchs Tundramoor gestapft, durch Wermutgestrüppe gestolpert, hatten sie sich durch Weidendickichte geschlagen, durch Beeren sträucher gezwängt. Und sie hatten den Bären aufgespürt. Eine weitere Woche der Pirsch — und des Belauertwer dens — verstrich noch, ehe Darwin die Gelegenheit zum Schuß erhielt, dem Bären einen Pfeil in die Flanke sausen ließ. An dem Tag hatte ausschließlich Jokuts Mut Darwin das Leben gerettet. Jokut, der tapfere Jokut, hatte den Bären abgelenkt — ihn wahrhaftig aus der Deckung einer wackelig-morschen Blaufichte auf den Rücken gedro schen —, die Wut des Tiers auf sich gezogen, während Pike aus der Reichweite der Pranken kletterte. Susan lächelte, als sie in einem Sessel Platz nahm, und Darwin merkte, wie er innerlich abkühlte. Sie hatte ihn bewußt, mit voller Absicht, so gereizt und herabgesetzt. Zum Teufel mit dieser Frau, wenn sie derartig ihre angeb liche Überlegenheit herauskehrte! Er kaute auf seiner Unterlippe; jetzt wäre es ihm lieber gewesen, sie ginge.
»Du solltest das Messer wirklich tragen«, wiederholte Susan unbefangen, als wäre nichts geschehen. »Bei unse rem Volk gilt das Tragen eines Messers als normal, anders als bei euch. Dulde nicht, daß die Männer dich wegen der Kürze hänseln.« Er befestigte das Survival-Messer an seinem Gürtel, bemühte sich insgeheim um Mäßigung seiner Mißge stimmtheit; das vertraute Gewicht der Waffe bereitete ihm eine gewisse Befriedigung. Mit dieser Klinge hatte er so manche Beute gehäutet. Im Lager ebenso wie auf der Jagd war das Messer sein bevorzugtes, wichtigstes Werkzeug gewesen. »Außerdem möchte ich vorschlagen, daß du soviel Ro mananisch wie möglich lernst. Es wird ein echter Gewinn für dich sein. An unsere Mannschaft und die Krieger ist Weisung ergangen, dich in jeder Hinsicht ungestört zu lassen. Man weiß darüber Bescheid, daß du ein Fremder bist und unsere Bräuche nicht kennst.« Sie hakte die Fin ger ineinander, musterte ihn unverwandt. »Sie wissen ja 'ne Menge.« »Ich komme zurecht.« Bei den Göttern! schimpfte er in Gedanken. War sie etwa aus Eis? Fehlte ihr völlig der allgemeine Anstand, dessen sich die übrige Menschheit befleißigte? Fast hatte es den Anschein, als triebe sie mit ihm ein Spiel. »Eigentlich wollte ich nachher die Kommandantin fra gen, aber können Sie mir vielleicht sagen, wann wir auf Welt eintreffen werden?« »In fünf Wochen Flugzeit.« Sie zögerte nicht im gering sten mit der Antwort, doch ließ sich in ihren Augen eine sonderbare Erheiterung erkennen. »Das müßte für einen Mann mit deinen Fähigkeiten genug sein, um sich alle erforderlichen Hintergrundinformationen anzueignen.« Seine Reaktion auf ihre äußere Schönheit milderte ein wenig seine Verbiesterung. Doch diese Erkenntnis stei gerte ihn erst recht in einen Zustand nahezu fiebriger Empörung hinein. Verfluchte männliche Geschlechtsdrü
sen! Konnte er sich denn gegen sie nicht im mindesten behaupten? »Sie haben vorhin über militärische Aufklärung ge sprochen. Dr. Chem hat nichts dergleichen erwähnt. Ich finde das in der Tat hochgradig abwegig. Ich bin Anthro pologe, kein General. Für Geheimagentenspielchen bin ich nicht zu haben. Schließlich bin ich Gesellschaftswis senschaftler. Vielleicht ist es besser, ich rufe Kommandan tin Andojar an und verlange, daß noch einmal über meine Verwendung Rücksprache mit der Universität genommen wird. Immerhin habe ich dort noch ernstzunehmende For schungsaufgaben, mit denen ich mich genausogut befas sen könnte,« Seine Stimme klang unfreundlich. Es moch te sein, ihm war jetzt alles gleich. Susan überlegte, bevor sie antwortete. »Weißt du, Dok tor, du lebst in einer äußerst verwöhnten Gesellschaft. Ihr habt seit sehr langem nicht mehr um euren Fortbestand zu ringen gehabt. Ihr erwartet vom Leben höchst verstiegene Bequemlichkeiten. Wir dagegen haben unseren Existenz bedingungen, im Kampf gegen die Bären und gegeneinan der, im Zwist um beschränkte Ressourcen, ein karges Dasein abtrotzen müssen. Wir können uns keinen Luxus leisten, nicht einmal den, dich an deine kostbaren For schungsarbeiten zurückzuschicken.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstehen, was ich ...« »Wir benötigen dich, Doktor. Ein Großteil der Mensch heit benötigt dich. Mir liegen nicht alle Informationen vor, aber ich kann dir versichern, daß Admiral Ree, Eisenauge und die Propheten sich den Kopf über Optionen zerbro chen haben. Du bist eine davon. Eine andere ist die Unter werfung der Menschheit durch uns Romananer.« »Ich ... Unterwerfung?!« Ungläubig wiederholte Dar win das Wort. »Sie müssen ja wohl verrückt sein. Die Pa trouille würde ...« »Die Patrouille würde überhaupt nichts. Sie ist nicht ein mal mit kriegsunerfahrenen Sirianern fertiggeworden. Im Ernst, wie sollte sie uns romananische Wölfe aufhalten?«
»Mein Gott, Sie reden von einem ganzen ...« Susan winkte ab. »Es ist sowieso nur Spekulation. We sentlich ist, die Propheten sehen für uns eine schwere Gefahr voraus, falls nicht gewisse Cusps zu unseren Gun sten entschieden werden. Da solche Entscheidungen den freien Willen miteinschließen, wissen wir nicht, wie alles enden wird. Deshalb verlegen wir uns auf Optionen, die auf die eine oder andere Art und Weise womöglich unse ren Erfolg garantieren. Darum bist du jetzt hier.« Sie fal tete die Hände, neigte den Kopf etwas zur Seite und war tete. »Kommunikation? Ich möchte Kommandantin Andojar sprechen.« »Die Kommandantin ist bis zum Abendessen unab kömmlich, Doktor«, lautete die Antwort. »Wer kann außer ihr Gespräche mit der UniversitätsStation genehmigen?« »Hauptmann Raschid, allerdings nur mit Einwilligung der Kommandantin.« Darwins Zorn wuchs. »Scheißbürokratie!« »Betracht's als Bewährungsprobe«, empfahl Susan; ihre dunklen Augen glichen Tümpeln, in die Darwin, wie es ihm schien, zu versinken drohte. »Möglich ist, du sollst dahingehend geprüft werden, wieviel man dir zumuten kann, bis du zusammenbrichst, Doktor. Nur sehr wenige Menschen werden jemals wirklich auf die Probe gestellt.« Ihr Blick wurde härter. »Hast du je dem Tod ins Auge geschaut, Dr. Pike?« Erneut fühlte Darwin sich überrumpelt, seine Emotio nen verstrickten sich zu einem Wirrwarr aus Erbostheit, Ratlosigkeit und Erbitterung — und dennoch behielt die ses verwünschte Weibsbild eine unbestreitbare Anzie hungskraft auf seine Männlichkeit bei. Verflixt noch mal, wie hätte sich Jokut über ihn lustig gemacht. Er lachte, trank vom Scotch — er hatte das Glas in seiner Hand zeit weilig vergessen — und schwang sich in die kleine Koje. »Ja. Mehr als einmal. Ich habe mich in Alaska verirrt.
Ich habe verwundete Bären ins Gehölz verfolgt. Vor dem Hungertod habe ich gestanden ... Dem Erfrieren entgegen gesehen.« »Du bist anders, als wir uns dich vorgestellt haben«, bekannte Susan versonnen. »Es kann dir an der Universi tät eigentlich doch gar nicht gefallen haben.« Offenbar empfand sie jetzt ehrliche Neugier, wollte ihn aushorchen. »Ja, man hat mich nicht so recht verstanden.« Er füllte sich nochmals Scotch ins Glas, schenkte auch Susan nach. »Ich bin als herzloses Ungeheuer abgestempelt worden, weil ich früher selber getötet habe, was ich aß. Es war unmöglich, irgendwem das Band zwischen Jäger und Gejagtem begreiflich zu machen. Niemand konnte nach vollziehen, wie die Achtung vor einem Tier wächst, dessen Fährte man tagelang nachspürt, dessen Gewohnheiten man auskundschaftet. Den Leuten fehlte jeder Bezugs punkt, um zu kapieren, wie die eigene Seele weint, wenn man sich die Verantwortung fürs Töten eines anderen Geschöpfs aufbürdet. Genausowenig konnten sie an der Uni die Natur der Inuit durchschauen. Vorlesung um Vor lesung habe ich veranstaltet, über den Raben, Schwitzhüt ten und Heiltänze geredet, und alles, was denen dazu ein fiel, war Geschwafel über Integration in Gemeinschaften, Schamanismus und kulturelle Innovation, lauter Zeug, mit dem sie am Kern der Inuit-Wirklichkeit vorbeiquatsch ten.« Düsteren Blicks stierte er in die bernsteingelbe Flüs sigkeit in seinem Glas. »Und jetzt beschwerst du dich, weil du den Eindruck hast, von Jägern entführt zu werden?« Susans schöne Lip pen verzogen sich zu einem halbherzigen Lächeln. »Vielleicht liegt's am Raben«, meinte Darwin gedämpft, dachte an den Inuit-Geist. »Vielleicht an Spinne.« Langsam wich die beiderseitige Feindseligkeit. Sämtli che gegensätzlichen Gefühlsregungen Darwins hatten sich zu einem Knäuel ohne erkennbaren Sinn verheddert, das
sich leichter ignorieren als deuten ließ. Und Susan? Eine völlig andere Facette ihrer Persönlichkeit war enthüllt worden. Für einen längeren Moment saßen sie beide nur stumm da, jeder hing seinen Gedanken nach. Während er Susan verstohlen musterte, begann der Schatten eines anhaltenden Grams ihre Miene zu verdunkeln. Wie durch einen Akt der Zauberei legte sich wieder der Schleier der Ausdruckslosigkeit über ihr Gesicht. Welches Leid ver barg sie so gut hinter ihrer Fassade der Kompetenz? »Ich muß nun gehen«, sagte sie leise, als wäre sie der Beobachtung durch ihn gewahr geworden. Sie setzte er neut das unterkühlte, eingeübte Lächeln auf. »Ich hoffe, das Abendessen wird dir schmecken. Soviel ich weiß, hat Kommandantin Andojar wundervolle Mahlzeiten zu bie ten.« »Sie nehmen nicht teil?« Ihr Lächeln verschleierte Geheimnisse. »Oh, wir wer den uns bestimmt noch sehen.« Fügsam stand Pike auf, fragte sich, was er zu dieser so verwirrenden Frau sagen oder mit ihr anfangen sollte. Ein Teil seines Gemütslebens hätte zu gern eine neue Verabre dung mit ihr getroffen, während ein anderer Teil ener gisch >Nein< rief, sie am liebsten mental ans fernste Ende des Universums teleportiert hätte. Waren Geheimagen tinnen immer so? Es gruselte ihn. Was für ein gräßliches Leben das sein mußte. »Das bezweifle ich ernsthaft.« Er lächelte herzlich, ver suchte insgeheim, seine konfusen Gedanken zu beruhi gen. »Ich will heute abend meine Situation mit der Kom mandantin diskutieren. Sicherlich wird sie mir ihr Einver ständnis dafür geben, meine Tätigkeit bei Ihrem Volk ab zusagen.« Wenn Susan lächelte, überfiel Darwin ein Empfinden, als müßte ihm das Herz schmelzen. »Anscheinend bist du dir darin sehr sicher, Doktor. Möchtest du vielleicht eine kleine Wette mit mir abschließen?« Eine kleine? »Klar.«
»Meinen Kriegsdolch gegen dein ... Wie nennst du's? Dein >Bären<-Holo?« Keck neigte sie den Kopf seitwärts, in ihren Augen funkelte Spott. »Vielleicht lieber gegen 'n paar Kredits. Die Aufnahme mit dem Bär ...« Susans Miene wurde wieder abweisend. Obwohl ihm die Abmachung nicht paßte, nickte Darwin. »Also schön, Susan. Ich wette mein Bärenbild, auch wenn ich nicht weiß, was ich an der Universität mit Ihrem Mes ser machen soll. Kann sein, es gibt 'n Ausstellungsstück in 'ner Vitrine ab.« Er grinste gemein. »Ihre Kommandantin legt bestimmt keinen Wert auf einen unwilligen Passa gier.« »Wir werden's sehen. Wie gesagt, Doktor, wir können nicht jederzeit Herr unseres Schicksals sein.« Ihr Lächeln fiel eindeutig siegesgewiß aus. Auf dem Absatz eines formvollendeten Beins machte sie kehrt und legte den Handteller in den Scanner der Kabinentür. Ehe Darwin etwas antworten konnte, schloß die Tür sich mit ge dämpftem Fauchen hinter dem Wirbeln von Susans glänzend-nachtschwarzem Haar. Wortlos stand Darwin Pike da, starrte die weiße Fläche der Tür an, die Susans Engelsgestalt seinem Blick entzo gen hatte. Nun gut, sie war eine Schönheit. Na und? Wie so verstörte sie derartig seine Seele? Er schüttelte den Kopf und fuhr fort auszupacken, überlegte sich während dessen, welche Argumente er Kommandantin Andojar vortragen sollte. Sobald er fertig war, nahm er aus einer Schublade Volas Die Romananer: Eine Studie in Kultur kontakt und begann darin zu blättern. *
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Von irgendeinem Abschnitt an nahm Volas Essay ihn vollkommen in Beschlag. Fast hätte er die Durchsage be züglich des Abendessens überhört. Pike pfiff vor sich hin, indem er sich einen Niedergang hinunterschwang, sich
des Solinger Survival-Messers an seinem Gürtel wohlbe
»Satan!« heulte die Menschenmasse im Chor. »Jawohl!« zeterte Ngen, schwang eine Faust überm Kopf. »Satan der Verfemte hat einen mit dem anderen ver feindet und die Stimme Deus' geschwächt! An wen, frage ich euch, glauben die Juden?« »An Jawe den göttlichen Vater!« »An wen glauben die Christen?« »Gottvater!« »Und an wen glauben die Moslems?« rief Ngen. »An Allah den Einzigen!« »Wer ist Jawe?« tönte Ngen. »Wer ist Gott? Wer ist Allah?« »DEUS! DEUS! DEUS!« Die Lautstärke des Radaus schwoll an, bis sie einen Pegel erreichte, an dem er von Erde, Bauwerken und Himmel gleichermaßen widerzuhallen/alles ins Beben zu bringen schien. Wieder reckte Ngen die Hände in die Höhe. »Meine Brüder, ich drücke euch alle, ob Jude, Christ oder Moslem, an meine Brust. Eßt mit mir! Trinkt mit mir! Fühlt mein Fleisch! Seht meinen Körper! Ich bin wie ihr.« Die Menge krakeelte so enthusiastisch ihre Zustim mung heraus, daß es wie ein Erdbeben klang. »Aber Deus hat sich mir offenbart! Deus kann jedem von euch erscheinen.« In fanatischer Exaltiertheit grölten die Scharen, die in trägem Gewühl den Platz füllten, sich umherschoben und -drängten, ihre Augen leicht glasig, während sie an Ngens Lippen hingen, jedes seiner Worte aufleckten. »Satan geht um, meine Brüder! Er mästet sich an den Seelen unserer Freunde und Familien. Wir sind der Leib Deus' — sie sind der Leib Satans geworden. Satans Wohn sitz ist das Direktorat. Satan und der falsche Spinnengott sind eins! Satan lebt durch seine Lügen — aber bei wem findet ihr, finde ich Wahrheit?« »DEUS! DEUS! DEUS!« Der Anprall der Schallwel len, die bei dem Allotria entstanden, drohte Ngen vom Dach zu schleudern.
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ARCTURUS, DIREKTORATSSITZ
Ein einzelner Faktor genügte, um den Teil von Skor Robin sons Gehirn, der sich mit der Überwachung der Situation auf Basar beschäftigte, in Panik zu stürzen. Ein Holo des Messias war übermittelt worden. Das kalte Flattern strapazierter Nerven machte ihm ein klares Denken unmöglich, hinderte ihn daran, sich den mul tifaktorellen Problemen der Menschheit zu widmen. Obwohl die wegen des Strahlenunfalls auf Iljitschs Planet dringend nötigen Dekontaminationsmaßnahmen seine sofortige Aufmerksamkeit verlangten, würden die Men schen dort nun warten müssen. Robinson atmete gründlich ein und ließ den Atem stoßartig entweichen, starrte ins scheinbar grenzenlose Blau des Kontrollraums. Die Farbe war von den Psycho technikern auf der Grundlage einer tiefenpsychologi schen Analyse bestimmt worden. Blau korrespondierte mit den Tiefen seines Unterbewußtseins. Der Glanz end losen Blaus befriedigte ein seiner Psyche verbliebenes menschliches Bedürfnis, das nicht einmal die Gentechni ker hatten ausmerzen können. Es bildete einen sicheren Gebärmutterersatz, in dem er für immer schweben mußte, weil sein Körper keiner Schwerkraftbelastung standhal ten konnte. Das Gewicht seines übergroßen Schädels müßte ihm den spindeldürren Hals brechen. Sein Herz könnte die Belastung nicht verkraften. Skor Robinson sollte, während die Monitore und die ihnen angeschlosse nen Anlagen das Blut kühlten, das sein fabelhaftes Gehirn speiste, in alle absehbare Ewigkeit in seiner blau en Realität leben. Doch niemand hatte die Auswirkungen von Furcht vor hergesehen — und ebensowenig die Folgen des Kontakts mit dem Propheten Chester Armijo Garcia. Robinson er innerte sich an seine anfänglichen Kontroversen mit Che
ster. »Man nennt uns Monster, Wasserköpfe, Scheusale. Di rektoren sind nicht menschlich. Wir können uns so etwas nicht leisten. Wir tragen für zuviel die Verantwortung. Nor males Menschsein dürfen wir uns nicht erlauben, Prophet. Es ist einfach ausgeschlossen. Das zu deinen Vorstellungen von Seele ... Wir sind Verurteilte, Verdammte.« In den letzten Jahren hatte er die törichten Verhaltens weisen gewöhnlicher Menschen zu durchschauen gelernt. Sie verfolgten Zwecke, diffuse atavistische Emotionen trie ben sie an. Sie hatten keinen geschützten blauen Ge-bärmutterersatz, um darin ihre Existenz zu verbringen. Skor Robinson sichtete die eingegangene Information noch einmal. Es gab keinen Zweifel. Das Identifikations ressort der Sicherheitsabteilung hatte das schemenhafte Holo-Bild des basarischen Messias mittels eines Fraktal programms vervollständigt: Er war Ngen Van Chow. Robinson zwinkerte, besann sich auf seinen Verstand. »Jetzt haben wir ihn. Wenn ich das gebotene Handeln rich tig koordiniere, merkt er nicht, daß wir gegen ihn einen Schlag vorbereiten.« Er griff auf den Giga-Verbund zu und stellte die gegen wärtige Position der Gregorius fest. Anschließend schickte er Oberst Ben Mason einen neuen Befehl und änderte die Patrouillenroute der Gregorius. Die Telemetrie verwies im Orbit Basars auf keine sonstigen Raumschiffe. Assistenz-Direktoren? Robinsons Kollegen meldeten sich, und er leitete ihnen stückweise Informationen zu. »Ich muß langsam vorgehen ... Daß einer von ihnen ei nen Schock erleidet, können wir uns nicht gestatten. Ver flucht, weshalb hat man uns nicht gelehrt, mit Emotionen zurechtzukommen? Warum hat man unser Dasein der maßen steril konzipiert?« Ngen Van Chow? fragte An Roque, zog von sich aus die zutreffende Schlußfolgerung. Skor Robinson hatte ihm das fraktalisierte Hologramm übermittelt. Ich schlage vor, Basar umgehend zur Verbotenen Zone
DEUS-VERWALTUNGSGEBÄUDE, BASAR
»Ist Ihnen eigentlich klar, wie schutzlos wir sind?« »Allerdings. Ich find's besorgniserregend, in so einem Loch festzusitzen. Und daß das Direktorat Basar zur Ver botenen Zone ausgerufen hat, beunruhigt mich noch erheblich mehr. Man ist ...« »Was mich nervös macht, ist die Tatsache, daß man so lange gebraucht hat, bis gehandelt wurde, Pallas.« Ngen Van Chow kaute auf der Unterlippe, eine Angewohnheit, die bei Nervosität besonders kraß auftrat. »Hätten sieüber haupt nichts unternommen ...« »Einen Planeten zur Verbotenen Zone zu erklären, ist eine ernste Maßnahme, Ngen. Das wissen Sie doch selbst. Als zweiter Schritt erfolgt immer das Erscheinen der Patrouille. Denken Sie an die vielen Male, daß ...« »Genau!« Van Chow drosch eine Faust in die andere Hand. »Überlegen Sie mal, Pallas. Wir haben Propagan dasendungen ausgestrahlt. Auf anderen Planeten sind Deus-Kulte entstanden. Unsere Agenten bereiten auf Ar peggio für uns den Boden. Es gibt zwei mögliche Gründe für die späte Reaktion des Direktorats. Entweder ist die Gesamtsituation schlimmer, als 's uns bekannt ist, und man ist mit Problemen überlastet, oder sie wissen mehr, als wir annehmen, und stellt uns eine Falle.« Gemächlich schlenderten Van Chow und Pallas durch einen langen, gewölbten Flur im Haupttrakt des Verwal tungsbaus, des ehemaligen Sitzes der macht- und einfluß losen Behörde, die früher auf Basar die Direktoratsregie rung repräsentiert hatte. Jetzt raschelte es in den weiß getünchten Korridoren vom Dahineilen der in Kutten, Jar mulken oder Keffijehs gekleideten Padri. Manche ver beugten sich und berührten die Stirn. Andere strebten hoh len Blicks achtlos vorüber. Unter den Füßen knirschte Sand, und Ngen verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus, als er einen Feuchtigkeitsfleck sah, wo jemand an die Wand gepißt hatte.
Es schauderte Pallas. »Ngen, ich habe Ihnen vertraut. Ich habe 'ne Menge für sie getan, aber ich bin überhaupt nicht wild drauf, mich mit der ...« »Scht, keine Panik«, versuchte Ngen, ein zerstreutes Lächeln auf den Lippen, ihn zu beschwichtigen. »Trotz der Blockade schicken sie die regulären FLF-Transporter und wollen die Textilrohstoffe zur Orbitalstation geshuttelt haben. Kann sein, wir sind der Planung 'n bißchen voraus, aber gewisse Risiken muß man eben hinnehmen ... Und um ehrlich zu sein, es erstaunt mich, daß wir überhaupt soviel erreichen konnten.« »Die Techniker machen auch Fortschritte. Seit die go nianischen Experten sich im Einsatz befinden, sind be achtliche Durchbrüche erzielt worden. Wäre nicht die ganze Logistik so schwierig, die Beschaffung technisch hochwertiger Kommunikationsgeräte ... Aber das wissen Sie ja alles selbst. In einer Sandgrube ist die Fabrikation feinelektronischer Anlagen keine leichte Aufgabe.« Pal las faltete die Hände auf dem Rücken. »Trotzdem haben sie bei der Erstellung des vereinheitlichten Psychingfelds bemerkenswertes Vorwärtskommen bewiesen. So ganz verstehe ich's nicht, es hängt wohl mit zytosklettalen Pro teinen in den Gehirnneuronen zusammen. Mit der Mikro anatomie des Hirns kenne ich mich nicht sonderlich aus, aber anscheinend haben sie ein großes Feld zustandebrin gen können, das ein mikrotubulares Protein beeinflußt, MAP nennen sie's. Zur Zeit sind sie dabei, es weiterzu entwickeln.« »Und wie bald wird's nach ihrer Ansicht anwendungs bereit sein?« Pallas sah Ngen skeptisch an. »Vielleicht bloß noch wenige Tage, falls sie den erforderlichen Hyperkonduktor kriegen.« »Holen Sie ihn aus dem alten Konsulatsgebäude des Direktorats.« »Hm ... Tja, leider hat die Sache auch einen Nachteil.
Allem Anschein nach bezahlt man, was man an Feldgrö ße gewinnt, durch verringerte Feineinwirkung aufs Gehirn.« Aus den Augenwinkeln warf Ngen ihm einen Blick zu. »Ist das ein Problem?« Pallas befeuchtete mit der Zunge die fleischigen Lip pen, bei jeder Handbewegung schillerte an seinen protzig beringten Fingern ein Lichterschauspiel. »Naja, bei Ver wendung eines so ausgedehnten Felds kann man das Ge hirn nur auf eine ziemlich grob-allgemeine Weise über lagern, so daß der größte Teil, vor allem die Vorderlap pen, gewissermaßen abgeschaltet werden. Ihre Anhänger ... Ahm ... Sie ... Sie werden, könnte man sagen, wie Roboter.« Ngen nickte, schlenderte weiter durch den langen Kor ridor. Allgegenwärtig erfüllte ein Geruch nach Staub und ionisierter Luft das Haus. Hier erfolgte keine Filterung der Atmosphäre. »Es liegt gar nicht in unserem Interesse, alter Freund, innovative Individuen hervorzubringen. Dieses fal sche Ziel hat mir auf Sirius vorgeschwebt. Diesmal will ich nichts als Gehorsam. Ich nehme an, daran wird es nicht feh len?« Man merkte Pallas' Gestik Unbehagen an, das Wat scheln fiel ihm inzwischen schwerer, auf seiner blassen Stirn glitzerten winzige Schweißperlen. »Den werden Sie bekom men, Ngen. Wenigstens von den Massen.« Er wirkte mißmu tig. »Und wie steht's mit Tiara, mein Freund? Gefallen Ihnen die Veredelungen, die ich vorgenommen habe?« Der Anflug des Unbehagens wich aus Pallas' Miene und wurde von einem befriedigten Lächeln verdrängt. »Ja, wirk lich sehr. Sie ist in leidenschaftlichster Höchstform, genau wie in unserer Anfangszeit. Wäre sie bloß nicht ... Ich meine, mir war vorher einiges nicht klar. Über die Macht des Psy chens, wissen Sie. Tiara ... Tja, sie treibt mich beinahe zur Erschöpfung. Nein, sogar darüber hinaus. Sie ist unersätt lich, verstehen Sie?«
8
KRANKOWGRAD, MYSTERIUM; DIREKTORATS-ADMINISTRATIONSGEBÄUDE
Das Büro umfaßte einen rechteckigen, zwanzig mal drei ßig Meter großen Raum; an jeder Graphitwand hingen Kommu-Terminals, in denen aktuelle Informationen über die mysterianische Industrie zusammenliefen und deren Bildschirme fortlaufend Zahlen und Daten der kommer ziellen Vorgänge darstellten. Assistenz-Supervisoren saßen an ihren Apparaten, koordinierten den wirtschaft lichen Bedarf des gesamten Planeten. Dong Jenkins Cheng lächelte kurz, als er eintrat, nickte allen zu, die den Blick hoben. Neben der Tür zu seinem Zimmer an der anderen Seite wartete, das graue Haar nach hinten gekämmt, einen ernsten Ausdruck im spitzigen Gesicht, Louise Andropowitsch. »Guten Morgen, Louise. Gibt's ein Problem?« Er legte den Kopf etwas seitwärts, lauschte aufs Rumoren seines leicht gereizten Magens. Zuviel Fett im Essen. Bei gebackenem Tintenfisch ließen sich solche Folgen kaum vermeiden. »Kann mal wohl sagen.« »Na, dann will ich mal meinen Grips zusammenneh men, dann werden wir es lösen. Ist deine Tochter gestern abend eingetroffen?« »Ja.« Louise folgte ihm in sein Bürozimmer, sah zu, wie er zum Getränkespender ging und einen Becher Tee orderte. Mit dem Becher durchquerte er das Zimmer, griff sich sein Kontaktron, setzte es auf, öffnete die Blende des ein zigen Fensters. »Clarise geht's doch gut?« Louise errötete ein wenig, senkte den Blick. »Sogar besser. Weißt du, wir können dir gar nicht genug danken.
Pike hatte beim Hinausgehen das Empfinden, Eisenau ges Blick müßte ihm Löcher in den Rücken brennen. In seiner Magengrube kam ein mulmiges Gefühl der Sterb lichkeit auf. Während ein Patrouillensoldat Pike an Bord der Pro jektil zu seiner neuen Kabine geleitete, versuchte er alles in die richtige Perspektive zu rücken — und erkannte, die Sache war rundum völlig verrückt. Noch nie hatte irgend wer, von einem vagabundierenden Anthropologen ver langt, mal kurzerhand eine gesamte religiöse Bewegung zu neutralisieren — und schon gar keine galaktischen Maßstabs! Der ganze Klüngel hatte nicht alle Tassen im Schrank. Kein Wunder, daß Susan leicht verdreht wirkte. Seine Kiste und die übrigen Container waren mittlerweile herüberbefördert worden. Diese Kabine, so zeigte sich, war größer, und sie hatte einen regulären KommuAnschluß. Darwin Pike dankte dem Soldaten und warf sich, ohne sich an dem muffigen Schweißgeruch zu stören, der ihm noch anhaftete, aufs Bett.
»Bürger Arpeggios, wie ich weiß, sind Sie von unserer Ankunft über Ihrem Planeten informiert worden. Das Direktorat hat Sie völlig grundlos vor uns zu erschrecken versucht. Ich bin nicht als Ihr Feind da, sondern als Freund. Daß ich in einem Patrouillenschlachtschiff fliege, ist lediglich ein weiteres Zeichen meiner Macht. Sie sind so lange belogen worden, daß die Wahrheit in Ihren Ohren sonderbar klingen muß. Ein neues Leben bricht für die Menschheit an, wenn sie den Weg Deus' und seiner Padri wählt. Ich bin gekommen, um bei Ihnen Tempel und Lehr einrichtungen zu gründen. Durch die allen hörbare Stimme Gottes werden wir einander näher sein, wahre Brüder und Schwestern einer wundervollen neuen Zukunft. Man hat die Menschheit unterdrückt, sie auf Planeten und in Welt raumstationen buchstäblich festge-setzt und eingesperrt. Was Sie lesen, was Sie sehen, was Sie tun, wie Sie denken, all das wird vom Direktorat kontrolliert, den wasserköpfi gen Ungeheuern, die nie Mangel leiden, deren Bedürfnisse alle erfüllt werden. Was wissen diese Monster denn von Ihnen? Wie könnten diese verwöhnten, egoistischen Ungetüme die Sehnsucht verstehen, die in jedem von Ihnen wohnt? Wie sollten sie Ihr Verlangen begreifen, Ihr Hoffen, das einem besseren Dasein gilt? Nur Deus ver steht, Deus allein sieht! Bewohner Arpeggios, bedenken Sie meine Worte! Gestatten Sie mir, einen Tempel zu bauen, Deus' Offenbarung auch bei Ihnen zu predigen! Ich komme, um Ihnen die Freiheit wiederzugeben, den Ruhm zu erneuern, in dem Arpeggio in längst vergangenen, glor reichen Zeiten geglänzt hat! Erblicken Sie einen Beweis meiner Wahrhaftigkeit darin, daß ich Bewerbungen tüchti ger junger Männer und Frauen für den Dienst in meiner Flotte entgegennehme. Sie müssen keine religiösen Bekenntnisse ablegen. Sie brauchen nur die Bereitschaft mitzubringen, für anständigen Sold etwas zu leisten. Sie brauchen nur den Wunsch zu verspüren, über den fernsten Stern hinauszuschauen, den Willen zu haben, ihre Fami lien zu ernähren und Kredits auf ihren Konten anzuhäufen.
Schicken Sie mir Ihre Besten. Senden Sie mir Ihre Klüg sten. Ergreifen Sie Deus' Hand und erheben Sie sich zu den Sternen. Die Tyrannei der Patrouille zerbricht, das Direktorat steht vor dem Sturz, und der Menschheit däm mert ein Goldenes Zeitalter. Sehen Sie durchs düstere Gewölk die Strahlen des Wohlstands und Erblühens herab leuchten. Deus ist da!« M'Klea strich sich mit zarten Fingern über den glatten Hals, während sie den Messias betrachtete. In seinen dunklen Augen lohte eine Leidenschaft, wie sie sie bei noch niemandem beobachtet hatte. Fasziniert musterte sie sein Gesicht, fragte sich, ob sie ihn ebenso gefügig machen könnte, wie sie es bisher bei jedem Mann, der ihr begegnet war, geschafft hatte, ausgenommen natürlich ihrem Vater. Sogar auf dem winzigen Bildschirm wirkte er auf sie als wahre Herausforderung. Herausforderung? Er forderte ja sogar das Direktorat als Ganzes heraus. M'Klea verkniff die Lider. Gewiß erhielt Torkild eine Position in der Flotte des Messias. Daran hatte M'Klea keinen Zweifel. Was Macht oder Einfluß betraf, hatte das Haus Alhar noch nie viele Rivalen gehabt. Bevor jemand auf Arpeggio überhaupt irgend etwas erreichte, mußte er sich mit den alteingesessenen Familien gutstellen. Der Messias würde von selbst in M'Kleas Reichweite kom men. Und wenn es soweit war, wollte sie ihn entspechend tief be- eindrucken. Torkild im Zaum zu halten, mochte ein wenig schwieriger sein. Doch bis jetzt hatte sie die Folgen seiner Eifersüchteleien immer begrenzen können, oder etwa nicht? Bei sich lächelte M'Klea. »Nun ist es vorbei mit mei ner Abhängigkeit, Bruder. Niemand ist gewitzter als M'Klea Du wirst es sehen, Bruder. Du wirst es erleben.« *
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KRANKOWGRAD, MYSTERIUM; SPORTARENA
Die Menschenmenge grölte, der Stimmenlärm schwoll an; das Gesicht des Messias füllte die Holos an beiden Seiten der Sportarena aus. »Das neue Leben beginnt! Blicke in deine Seele, mein Volk, blicke in deine Seele! Deus ist der Retter, der wahre Gott. Ich habe sein Wort der Wahrheit vernommen und bin zu euch geeilt, um euch aus der Unwissenheit und Hörig keit Satans zu erlösen!« Sira Velkner nickte. Das Pack von Spinnenkultisten wegzuputzen, war eine leichte Aufgabe gewesen. Die Bombenanschläge zur Enthauptung der Direktoratsprä senz hatten einen so vielfältig talentierten Mann wie ihn nicht im geringsten überfordert. Aber während er jetzt über die Menschenmasse ausschaute, die sich im Stadion drängte, immer noch Zulauf erhielt, flößte das ganze Aus maß des Projekts selbst ihm Ehrfurcht ein. Bei diesem Andrang konnte er von Glück reden, daß Pallas Mikros ihm den Zutritt im Parterre erlaubt hatte. Doch schließlich hatte er auch stets hervorragende Arbeit für Pallas geleistet ... und war gut bezahlt worden. »Deus! Deus! Deus!« Die Rufe dröhnten wie Donner schläge, hallten von der Schutzkuppel wider, die in gro ßer Höhe die gesamte Stadt überspannte. Ngens gesenktes Gesicht schwand, die Holos erloschen, und im nächsten Moment schwieg der Mob, so andächtig machte ihn der Abgang der frommen Erscheinung. Verdammt, ver dammt! Was für ein Redner war Van Chow! »Wartet!« Unvermutet ertönte eine andere Stimme aus den Lautsprechern. »Bürger! Hört zu!« Sira drehte sich in die Richtung der Observationskan zel oberhalb der Ansagetribüne, sah in der Technik einen einzelnen Mann stehen. »Ihr kennt mich.« Der Sprecher hob die Hände. »Ich bin Johnathan Hart, euer pensionierter Supervisor. Und ich weiß genau, daß ich dieses Gesicht kenne ... diesen Mann, der sich Messias nennt.«
»Ich vermute, du möchtest zum Totengerüst, Komman dantin Andojar?« Durch verengte Lider musterte Susan ihn, sah ihm sei ne Jugend an. Jugend? Er konnte kaum ein Jahr jünger als sie sein — und doch war er an Erfahrungen um Lebensal ter hinter ihr zurückgeblieben. Sie verkniff es sich, ihn anzuschnauzen, schöpfte statt dessen tief Atem. »Haben deine Ältesten dich nicht unter richtet? Andernfalls hast du dir Ärger eingehandelt, Junge. Nein, erst geht's zu Mama Gelbes Beins Haus. Erst wenn sie Zeit gehabt hat, um ihren Sohn zu beweinen und seinen Leichnam zu waschen, gehört er aufs Totengerüst.« Der Jugendliche schluckte. »Ich ... ich ... dachte, er wäre dein ... dein Gatte. Vergib mir, Susan Smith Andojar.« Sie nickte und ließ sich neben ihm auf den Sitz fallen. »Schon gut. Ein verständlicher Irrtum.« Sie fühlte sich in nerlich vollkommen abgestorben, so tot wie Freitag Garcia Gelbes Bein, dessen Gefrierleiche auf der Rückbank lehn te. Und sie wußte, so würde sie sich auch künftig fühlen, noch nachdem sie Freitags Leichnam aufs Totengerüst gebettet, ihn für das Volk zum Bestaunen ausgestellt hätte. Wieder war ein Held von den Sternen heimgekehrt.
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AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Rita Sarsa traf Darwin Pike bei irgendwelchen seiner For schungen an, als sie die Schwelle seiner Unterkunft über querte. Pike blickte hoch, beließ seinen Text auf dem Bild schirm, als er die Auflistungen von Zahlen entgegen nahm, die sie ihm aushändigte. Rita setzte sich auf den Platz, den er ihr anbot, betrach tete ihn, während er die hauchdünnen Folien durchsah.
Was hat er an sich, daß ich ihm nicht traue? Er ist weder verschlagen, noch gemein oder abgebrüht ... Nur ... Was ? Ein Unschuldslamm ? Seit wann rechtfertigt Ahnungslosig keit Argwohn? »Ich würde sagen, er hat vor, seine Position auf Arpeg gio zu festigen.« Rita fläzte sich in den Sessel und starrte die Decken platten über ihrem Kopf an, spürte beiläufig Pikes Blick auf sich ruhen. In bezug auf Männer und die Weise, wie sie sie anschauten, hatte Rita sich eine schnoddrige Hu morigkeit zugelegt. Der Glanz in Pikes Augen stammte von Interesse und Anerkennung. So ein Narr. »Ich stimme Ihrer Einschätzung zu, Doktor, allerdings nur im Hinblick auf militärische Gesichtspunkte. Arpeg gio hat eine bessere industrielle Basis. Dort kann er seine Flotte neu ausrüsten, für die Versorgung Nachschubstütz punkte einrichten und die Wartung hochtechnischen Ge räts gewährleisten.« Es gelang Pike, die Bewunderung ihrer Äußerlichkei ten aus dem Vordergrund seines Bewußtseins zu verdrän gen und seinen Verstand dem anstehenden Problem zu widmen. In Ritas Magengrube rumorte eine gewisse Gereiztheit. Unvertrauenswürdig war er nicht — nur uner probt. Das war es, was sie an ihm störte. Pike fehlte es an der wesentlichen Eigenschaft unerschütterlicher Selbstsi cherheit. Er wußte nicht, wer er war ... Was er wollte. Und bis er es herausfand — falls er es überhaupt je schaffte — , mußte man ihn im Augenmerk behalten. »Wäre jedenfalls 'n Schritt in die richtige Richtung, ist meine Meinung.« Pike lehnte sich an, stützte einen Ellbo gen auf den Kommu-Apparat. »Und er wird seine Bot schaft überarbeiten, sie raffinierter ausfeilen müssen. Arpeggio gibt ihm die Möglichkeit zum Experimentieren, zu prüfen, was geht und was nicht.« Er zögerte. »Läßt es sich nicht machen, daß ein Patrouillenschlachtschiff durchbricht und die Gregorius zerblastert, ehe er sie umrü sten kann?«
»Und seitdem hast du erfahren, was Kampf bedeutet.« Chester lächelte. »Du hast gelernt, dich selbst zurückzu stellen, Direktor. Schmerz, Furcht, Verzweiflung, Hoff nung und sämtliche sonstigen Gefühle hast du kennenge lernt, die Menschen gemeinsam sind. Beim langwierigen Erlernen des Umgangs damit hast du dir angewöhnt, et was für deine Mitmenschen zu empfinden. Diese Leistung ist es, die ich dir so hoch anrechne. Jetzt hast du etwas, das du nach deinem Tod Spinne mitbringen kannst.« »Deine Religion ist für mich ohne Belang.« »Wie du meinst, Direktor. Trotzdem hast du mittler weile gewisse Zweifel an deinem Atheismus entwickelt. Vielleicht hast du über dich — und Spinne — mehr her ausgefunden, als zu wissen dir angenehm ist.« Skor Robinson musterte ihn. »Du bist eine ganz erheb liche Quelle der Verärgerung, Prophet.« »Alles Ärgerliche ist aufschlußreich, Direktor.« »Und du bist ein mieses Scheusal, Prophet.« »Wie du meinst.« »Van Chow hat die Gregorius gekapert. Überall wer den Sabotageakte verübt. Ich muß Patrouillenschiffe im Orbit von Welten stationieren, auf denen sich Unruhen häufen, um den Menschen zu zeigen, daß sie in Sicher heit sind ... Oder um sie, wie es mancherorts der Fall ist, gehörig einzuschüchtern. Unsere Lage ist unhaltbar geworden. Schreiten wir gegen Van Chow ein, bleibt die Menschheit ohne Schutz. Schieben wir es noch länger auf, etwas gegen ihn zu unternehmen, wird er um so stärker. Was kann ich tun, Prophet? Wie kann ich ihn besiegen?« Chester lächelte. »Willst du, daß ich irrsinnig zu wer den riskiere, um dir irgendwelche Empfehlungen auszu sprechen?« »Ich suche Rat.« »Tatsächlich?« »Ich bin an Ratschlägen interessiert.« »In welchem Hinblick?«
»Wie kann ich mit Van Chow fertigwerden und gesell schaftliche Unruhe verhindern?« »Ist gesellschaftliche Unruhe denn schlecht?« »Sie bedeutet Chaos!« »Und Chaos ist schlecht?« »Selbstverständlich. Verfall der Ordnung ist unweiger lich abträglich. Chaos schürt Unzufriedenheit. Unzufrie denheit bringt Gewalttätigkeit hervor. Gewalt und Leid sind voneinander untrennbar.« »Dann hast du deine Frage selbst beantwortet, oder nicht?« »Aber Van Chow ist ein Krimineller!« »Ist er auch dieser Ansicht? Halten andere ihn gleich falls für einen Verbrecher?« »Du verteidigst ihn? Er ist ein bösartiger Störer der ge sellschaftlichen Ordnung.« »Ist das schlimm?« »Du argumentierst im Kreis, Prophet.« »Ich forsche lediglich nach deiner Antwort, Direktor. Ich argumentiere nicht.« »Ich wiederhole: Du bist ein mieses Scheusal. Der Menschheit wäre ein Dienst erwiesen worden, hätte ich dich liquidiert, als noch die Gelegenheit bestand.« »Wenn es dein wahrer Wunsch ist, mich zu töten, werde ich zu diesem Zweck zu dir zurückkehren. Falls du wirklich glaubst, der Menschheit — und Spinne — wäre durch meinen Tod gedient, will ich mich dir bereitwillig ausliefern.« Aus Rees Kehle drang ein erstickter Laut. Skor Robinson stierte Chester an, ihm sackte der klei ne Unterkiefer herunter. »Du bist geisteskrank, Prophet.« Chester lächelte umgänglich. »So?« Ree räusperte sich, während Robinsons Gesicht rot anlief. »Van Chow hat also die Gregorius gekapert?« »Stimmt.« »Ich vermute, er hat nicht vergessen, wie man diese Blaster baut.«
»Das dürfte reichlich unwahrscheinlich sein, zumal er zwei auf seiner Privatjacht hatte.« »Direktor, wir hätten starkes Interesse an einem Infor mationsaustausch ...« »Momentan herrscht dafür keine geeignete Atmosphä re. In der Patrouille ist man gegen Sie eingestellt ... Und das gleiche gilt für meine Kollegen. Manchen ist Van Chow lieber, weil er ...« »Was für Idioten.« »...einen bekannten, einschätzbaren Faktor verkörpert, anders als romananische Wilde, die einem vielleicht im nächsten Augenblick auf barbarische Weise das Haar samt Kopfhaut abtrennen.« »Betreiben Sie überhaupt irgendwelche Maßnahmen gegen Van Chow?« Skor Robinson blinzelte. »So gut ich dazu imstan de bin. Zur Zeit beanspruchen die Sabotageakte beziehungs-weise ihre Prävention die gesamten Möglich keiten der Patrouille. Wir stehen vor einer ernsten Knappheit an Raumschiffen und sonstigem Material. Sobald die Situation stabilisiert worden ist, beabsich tige ich einen Flotten einsatz gegen die Gregorius zu befehlen.« »Sie müssen jetzt handeln.« Damen beugte sich vor, drosch eine Faust in die Handfläche. »Wir unterstützen Sie mit der Projektil. Erledigen Sie ihn, bevor er seine Machen schaften auf eine so breite Basis stellen kann, daß er ...« »Und wenn jede desillusionierte stellare Provinz sich zur Rebellion erhebt, sobald wir unsere Schlachtschiffe abziehen, so wie's Sirius getan hat? Was dann, Admiral? Welche Strategie ist vorteilhafter? An einer Front zu kämpfen? Oder an Tausenden von Kriegsschauplätzen? Wie bietet sich die höchste Chance für einen Sieg? Wann ist die Gefahr einer Niederlage am größten? Mit Van Chow kann man jederzeit verhandeln, wenn kein anderer Weg mehr offensteht ... Aber läßt sich eine Revolution überall im Direktorat noch eindämmen?«
»Chester?« Ree lenkte seinen Blick quer durch die Kabine. »Wie lautet dein Vorschlag, Admiral?« »Sofort gegen Van Chow vorzugehen. Liege ich damit richtig?« Chester lächelte. »Das hängt von den Cusps ab, Admi ral.« Ree hob eine Hand, ließ sie verdrossen fallen. »Prophe ten ...«, nuschelte er unterdrückt. »Ausnahmsweise sind wir einmal einer Meinung, Ad miral.« Robinson heftete den Blick auf Chester. »Wird Van Chow, wenn wir mit ihm verhandeln, sein Wort hal ten?« Ein dumpfer Laut entfuhr Ree. »Hat er dazu einen Anlaß, Direktor?« fragte Chester seinerseits. »Hast du die Bereitschaft, einem Einzelnen zu vertrauen? Erachtest du die Menschheit als vertrauenswürdig? Das Individuum? Oder die Masse? Du mußt deine Entscheidung auf der Grundlage deines eigenen Verständnisses der Menschheit und ihrer Nöte fällen.« »Er wird Ihnen die Gurgel durchschneiden!« Ree gesti kulierte heftig. »Er ist... Er ist ein Schlächter!« »Eine hochgradig emotionale Einschätzung, Admiral.« Düsteren Blicks betrachtete der Direktor Ree, ehe er sich erneut an Chester wandte. »Danke, Prophet. Ich glaube, du warst mir eine Hilfe.« Das Holo erlosch. Ree sprang auf, schwang eine Faust in die Richtung des matt gewordenen Bildschirms. »Du dummer, schwachsinniger...!« »Sein Entschluß steht fest.« Chester spürte die Verän derung, fühlte eine andere Verzweigung der Zukunft sich ihm unaufhaltsam nähern. Aus Rees Gesicht wich alle Farbe. »Heiliger Spinne, Ngen wird ... Verdammt, verdammt....!« Chester lächelte, verließ den Sessel, senkte eine Hand, um Ree zu beschwichtigen, auf seine Schulter. »Bitte, Damen ... Dein Cusp wird kommen.«
Bruk lachte, schob sein Glas auf dem harten Lederbe zug der Tischplatte im Kreis. »Wir haben hier 'ne Menge Fortschritte gemacht. Die genetischen Daten sind einfach faszinierend ... Vor allem im Zusammenhang mit der Hirn bildaktivität der Propheten. Völlig andersartige Morpholo gie ... Aber ich nehme an, Sie haben sich die CEMD-Auswertungen angesehen.« »Was hat's denn mit den Propheten auf sich? Was ist eigentlich die Wahrheit über diese Spinnenreligion?« Um Bruks Augen vertieften sich die Krähenfüße. »Ich soll ein objektiver Beobachter sein, ein unvoreingenom mener Erforscher der hiesigen Kultur.« »Und?« »Also kriege ich jedesmal das kalte Grausen, wenn ein Prophet mich bloß von der Seite anguckt. Dr. Pike, ich habe miterlebt, wie sie ... Nein, ich habe dafür Beweise, daß sie die Zukunft sehen. Sie dürfen ruhig meine Notizen durchlesen und meine Arbeit gegenprü fen. Und was Spinne angeht... Tja, falls es überhaupt einen Gott gibt dann ist es Spinne. Kann sein, ich bin schon zu lange hier. Die Kritiken meiner Aufsätze, die mir von der Universität zugeleitet werden, deuten alle den Verdacht an, ich sei kindisch geworden, aber ich habe mich überzeugt... Zu meiner und zu Spinnes Zufrie denheit.« Pike schniefte und mutete sich noch einen Schluck ro mananischen Fusels zu. »Was ich über den Raben veröf fentlicht habe, hat ihnen auch nicht gepaßt.« »Den Inuit-Geisthelfer?« »Hm-hm. Ich denke mir, man muß so etwas eben per sönlich an Ort und Stelle erleben. Inuit und Romananer sind sich, obwohl Milliarden von Kilometern sie trennen, recht ähnlich.« Bruk nickte. »Sind Sie Visionen suchen gegangen?« »Ja sicher.« »Es könnte sein, Sie verstehen sich hier bei uns einzu fügen, Doktor... Falls Sie lange genug am Leben bleiben.
Welt begegnet Anthropologen reichlich schroff. Sie wer den schnell verschlissen.« »Also ... Was haben Sie mir über Freitag zu erzähen?« Marty Bruk fing Freitag zu schildern an, gab Geschich te um Geschichte über den kleinwüchsigen Helden wieder. Pike erfuhr, daß der Mann ein famoser Pferdedieb gewe sen und damit einem angesehenen, ehrbaren Gewerbe nachgegangen war, bei dem Erfolge dem Erringen von Coups gleichstanden. Während der ersten Erforschung Welts durch Direktoratsexperten und der wenig später auf dem Planeten ausgebrochenen Konflikte hatte er den Rang eines Kriegshäuptlings gehabt und dann in der Folgezeit, als Veteran des Sirius-Feldzugs, immer höheren Status genossen. Manche Leute hielten ihn allerdings noch heute für einen Hanswurst. Seine fabelhaften Abenteuer mit einem störrischen Airmobil waren Legende geworden. »Wie kam's, daß er sich mit Susan Andojar zusammen fand?« fragte Darwin; der Whisky erwärmte ihn, verführ te ihn zum Leichtsinn. Bruk widmete Pike einen verständnisvollen Blick. »Susan, hm? Das ist 'ne Brumme. Aber gefahrloser Umgang nur in Männerphantasien. Sonst gehe ich ihr aus 'm Weg. Sie ist 'n Problemfall.« »Ach?« Bruk blinzelte in imaginäre Fernen. »Ich vergeude meine Zeit nicht mit dem Beglubschen derartigen weib lichen Protoplasmas, wie wundervoll's auch anzusehen sein mag. Natürlich träume ich auch schon mal von ihr ... Solange Bella keinen Verdacht schöpft. Aber darüber hin aus ...« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist 'ne komische Per son. Ihr ist auf Sirius irgend etwas zugestoßen. Ich vermu te, daß Rita, Eisenauge und Giorj Bescheid wissen, aber sie schweigen darüber. Nach der Rückkehr war's mit ihr ganz schön happig geworden. Ich verstehe ein wenig vom menschlichen Geist, daher zögere ich nicht, Ihnen zu sagen, sie stand vorm Zusammenklappen. Schwere Psychose, kapieren Sie?«
steifen, sich mit 'm Bär anzulegen. Wie erwähnt, Welt ist kein günstiger Aufenthaltsort für Anthropologen, die ...« »Ich kenne mich in derartiger Umgebung aus, Marty.« Pike blickte Bruk in die Augen. »Vertrauen Sie mir.«
Das Geschöpf stieß ein Heulen aus, knickte ein, holper te und polterte inmitten der Geröll- und Schuttlawine das Gefälle bis an den Fuß des Hangs hinunter. Darwin späh te hinab, sah die Schwänze, Tentakel und Beine des Tiers schwächlich zappeln. Nachdem er das Gewehr an sich genommen hatte, brachte er sich, während er die zerwühl te Gesteinshalde hinuntersprang, in Lebensgefahr, weil er dabei fast abstürzte. Als er die Steinhaufen auf der Talsoh le erreichte, zitterten ihm die Beine fast haltlos und woll ten ihn kaum noch tragen, drohten unter ihm nachzugeben. Über ihm lenkte Geflügelter Stier Reesh das Airmobil durch den Canon. Indem er den unversehrten Fangarm im Augenmerk behielt, schlich Darwin auf das riesige Tier zu. »Du und ich«, quetschte er heiser hervor, »sind uns gleich ... Jäger. Wir haben die gleiche Gesinnung ... ob wohl wir von verschiedenen Welten stammen. Aber was für eine Art von ... Wesen bist du?« »Warum hast du kein zweites Mal geschossen?« fragte Reesh, verließ mit einem Satz das Airmobil, kam gelassen, während seine verschmutzten Stiefel Staub aufstoben, zu Darwin. »Da, probier mal, ob du die Patrone rauskriegst.« Dar win gab das Gewehr seinem Eigentümer. Schmerz und Furcht des Tiers und Darwins flossen ineinander, und er hatte Nervenflattern, als stünde er unter Strom. Reesh klappte den Verschluß auf, summte vor sich hin, starrte in die Geschoßkammer. »Die Kugel hat sich aus der Hülse gelöst.« »Aus der Hülse ... gelöst?« Für Darwin blieb die Aus kunft eine Aneinanderreihung sinnloser Wörter in einem Gestrudel gegensätzlicher Gedanken und Emotionen — seiner und des Bären. Reesh nuschelte etwas, entfernte sich zum Airmobil, brummelte unablässig. Trotz seines ausgedörrt-trockenen Gaumens wagte sich Darwin noch näher zu dem todgeweihten Tier. »Was ... bist du? Wie teilst du dich mir mit?«
Der Bär reagierte, indem er schwach den noch vorhan denen Saugteller vom Untergrund hob und vergeblich auf ihn zuschwang. »Du versuchst's noch immer?« Darwin bekam einen ahnungsweisen Begriff davon, wie es gewesen sein muß te, Romananer zu sein, ehe es ihnen gelungen war, die Kanonen zu gießen. Dieser Bär zählte zu der Tierart, de ren Existenz Geist und Gemüt des romananischen Volks geprägt hatte. Reesh kehrte zurück, seine Füße scharrten im Kies; er hatte das Gewehr in Ordnung gebracht. Er reichte es Dar win, wies mit einem Wink auf die sterbende Bestie. Die Stimme durchgeisterte wie aus dem Nichts, aber unmißverständlich Darwins Bewußtsein. Diesmal sei stark. Sei nun meiner würdig, Mensch, der mich verfehlt hat. Prüfe dich, ob du dieses Mal genug Kraft hast. Prüfe, ob du trotz deiner Furcht beharren kannst. Darwin erschrak, weigerte sich, an die Stimme zu glau ben. »Verrückt. Das liegt an der Hitze ... Sonst ist's nichts. Nur die Hitze ... und der Durst. Erschöpfung führt zu sol chen Wahnvorstellungen. Ich bin nicht mehr in Form. Das ist es. Ich habe mir zuviel zugemutet, und außerdem bin ich in keiner guten Fasson.« Der Gewehr-lauf bebte, als er die Waffe anlegte und die Stelle aufs Korn nahm, wo das Gehirn sitzen sollte. Rasch sprach er ein Gebet für die Seele des Tiers und feuerte aus der schweren, einschüssi gen Büchse. Das Echo des Knalls hallte von den Hängen der Schlucht wider, während der Bär sich Zusammenkrampf te, einen Moment lang starr blieb, dann für immer er schlaffte. Darwin betrachtete ihn, das gesenkte Gewehr in den Händen. In seiner Seele entstand, als hätte die Kugel sie durchschlagen, ein leerer Fleck. Etwas im Universum verglomm und erlosch. Hände ... Hände zerrten an ihm. »Pike! Bei Spinne, bist du wohlauf?« Durch das Schwindelgefühl drang Geflügelter Stier Reeshs Stimme in Darwins Wahrnehmung.
»Ja-ja ...« Darwin blinzelte. »Was ... was ist passiert?« »Ich kapier's auch nicht. Du hast den Bär erschossen ... Danach bist du plötzlich aufs Gesicht gefallen, hast irgendwas geschrien, das ich nicht verstehen konnte.« Reesh neigte den Kopf auf die Schulter. »Bist du sicher, daß mit dir alles stimmt?« »War wohl bloß die Hitze ... Es muß die Hitze gewesen sein. Zu starker Flüssigkeitsverlust, weißt du?« Und warum bin ich selbst nicht davon überzeugt? Reesh fummelte an seiner Kamera, die Zunge hing ihm seitlich aus dem Mund. Darwin legte das Gewehr auf die Felsen. Das Holo zeigte später einen Mann mit grimmiger, schwarz besprenkelter Miene, der in der Faust nur ein altes Messer hielt.
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IN GEFLÜGELTER STIER REESHS JAGDLAGER IN DEN BÄRENBERGEN
Geflügelter Stier Reesh hatte das Jagdlager am Fuß der Bärenberge aufgeschlagen. Darwin lag am Feuer und gönnte sich Ruhe. Ein Plastverband bedeckte seine zer schundenen Hände, träufelte Desinfektions- und Betäu bungsmittel ins entzündete Gewebe. Reesh summte bei sich, während er das Gewehr reinigte und sich die Risse im Kolben besah, die darauf zurückgingen, daß Darwin die Waffe als Keule benutzt hatte. »Ich habe den Verdacht, ich muß 'n neuen Kolben schnitzen. Aber's soll mir die Mühe wert sein. Für so ei nen Kampf auf jeden Fall. Ein paarmal dachte ich, er hätte dich. Prachtvoll! Du hast Mut bewiesen. Spinne hat dir Kraft und Schläue geschenkt. Ein Glück, daß ich dran gedacht hab, alles zu holofilmen.«
»Ich habe mich fast zu Tode gefürchtet«, erklärte Dar win, dem es nicht gelang, seine schwermütige Stimmung zu überwinden. »Von Furcht lohnt sich nicht zu reden«, antwortete Reesh leise ins Dunkel des Abends. Das Säulenholz-Feuer knackte und knisterte, Funken gaukelten zu den beiden Monden empor, die ringsum unterschiedliche Schatten über die mit Klingenbusch bewachsenen Hügel warfen. »Furcht begleitet uns durchs ganze Dasein. Furcht macht uns stark. Nie im Leben habe ich mich derartig gefürchtet wie damals, als ich mit Susan Smith Andojar auf Sirius gewesen bin. Dort haben wir jede Sekunde in Schrecken zugebracht. Das war 'ne verflucht harte Zeit. Was man im Direktorat als Krieg betreibt, geschieht so, daß sich ein Augenblick des Grauens an den anderen reiht. Hier auf Welt läuft Krieg eher irgendwie spielerisch ab ... Weißt du, wie ein Gesellschaftsspiel. Klar, man konnte dabei getötet werden, aber man mußte nie in ununterbrochenem Schrecken leben. Das Entsetzen ging einem nicht ins Blut über wie ein Gift. Es konnten nicht jederzeit violette Strahlen, Spinne verfluche sie, vom Himmel herabzischen und uns in Fetzen schießen.« »Du hast also gemeinsam mit Susan gekämpft?« Dar win bewegte die Hände, spürte die Dehnbarkeit des Plast verbands. »War es Furcht, was sie so gemacht hat, wie sie heute ist? Ist das es, was sie so gründlich verheimlicht?« Der Bär hat zu mir gesprochen. Ich muß mich damit abfinden. Es ist Wirklichkeit gewesen. Sorgfältig wischte Reesh Staub vom Gewehrlauf und schüttelte den Kopf, als er die lange Waffe an einen Klin genbusch lehnte. »Auch Susan kennt Angst und Furcht, genau wie wir alle.« Er kauerte sich ans Feuer, klaubte eine Pfeife aus einem Tabakbeutel. Er zog einen Span aus dem Feuer, entzündete die Pfeife, paffte an ihr, bis es darin schwelte. »Nein, Susan braucht keine Furcht zu verbergen. Sie versteckt ihre Narben, Dr. Pike.« »Narben?«
13
AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Rita Sarsa wandte sich um, als John am Eingang erschien. Sobald sie seinen Gesichtsausdruck sah, seufzte sie, nahm das Kontaktron vom Kopf, schaltete die Kommu ab und blinzelte ihm entgegen. »Na, wie läuft's?« Er lachte sarkastisch und schüttelte den Kopf, während er am Getränkespender per Tastendruck einen Drink mit Soda orderte. »Wir wären besser dran, hätten wir vor Jah ren auf den Rat des alten Smith gehört und das verdamm te Funkgerät weggeschmissen. >Behaltet die Computer, Radios und Sender<, hat er uns immer gewarnt, >und die Sowjets werden uns nach Welt folgen.< Das war das Ver mächtnis des Smith-Clans. Er hat alle seine Apparate zer schlagen. Und was haben wir getan? Die von Spinne ver wünschten Funkgeräte behalten, um uns übers Umherzie hen von Bären und Räubern verständigen zu können. Und dadurch hat das Direktorat uns entdeckt.« Rita schwang sich von ihrem Sitz, reckte und dehnte sich, um ihre Rückenverspannungen zu lockern, trat an schließend hinter John, um ihm die Schultern zu massie ren. »Na schön, hättet ihr eben euren Funk abgeschafft und damit weitergemacht, euch dort unten gegenseitig die Pferde und Frauen zu stehlen. Dufte. Dann müßte ich mich jetzt damit abgeben, Antonia Reary auszustechen, um danach Ree abservieren und das Kommando über die Pro jektil erhalten zu können. Leeta Dobra wäre eine liebe, nette, gepsychte Anthropologieprofessorin und klebte in Arcturus-Stadt mit Jeffray zusammen. Wundervoll!« Ein Lächeln verzog Eisenauges breiten Mund. »Naja, vielleicht hätten wir irgendwann doch einen ganz schwa chen, kurzen Piepser von uns gegeben, hm?«
»Heiliges Kanonenrohr, was ist denn passiert?« »Offenbar ist es während einer Bärenjagd zu einem Schar mützel mit Santosräubern gekommen.« Ree blieb wie angewurzelt stehen, ihn befiel ein eisiges Gefühl der Ungläubigkeit. »Während einer ... Was hat er ...? So ein gottverdammter, idiotischer Anthropologendus sel, der Kerl soll nur warten, bis ich ihn an den ... Verbin den Sie mich mit Majorin Sarsa!« »Sie wünscht gegenwärtig nicht gestört zu werden.« Ree konnte gerade noch verhindern, daß er aufbrauste. Egal. Wahrscheinlich hatte Rita Sarsa gute Gründe. Er überlegte es sich anders. »Dann geben Sie mir Komman dantin Andojar. Sie hat den Burschen hergebracht, ver dammt noch mal, also kann sie auch auf ihn aufpassen.« »Jawohl, Sir.«
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IN DER KLINIK AM RANDE DER SIEDELEI AUF WELT
Darwin Pike vermochte sich nicht zu rühren. Aber noch schlimmer war, daß er spürte, wie irgendwelche Gebilde sich in seinem Leib umherschlängelten; das flöß te ihm ein angstvoll-flaues Gefühl ein. »Schalten Sie seine Wahrnehmungsschwelle 'n bißchen runter«, drang eine Stimme im Tonfall sachkundiger Kompetenz durch Darwins Bewußtseinsschichten zu sei nem Ich vor. Wärme umfing ihn, beließ ihm nichts ande res als die Erinnerung. Welche Erinnerung? An den romananischen Kriegs dolch, der aus seinem Fleisch ragte? Oder an den Bären, wie er auf dem steinigen Grund einer rosig-roten Schlucht der Bärenberge zerschmettert im Sterben lag? Den Bären. Ja, den Bären ... Selbst jetzt beobachtete er ihn noch mit seinen kleinen Stielaugen ...
Ja, der Bär ... Darwin fühlte, wie das Tier ihn belauer te. Er spürte die Seele des Tiers durch die Wärme treiben, die ihn umhüllte. Er hörte Flüstern. Geflüster des Bären. Bist du würdig? Bist du meiner Seele würdig, Mensch? Die Worte, die die schlabbrigen Lippen des Lindwurms in gedämpft gelispelten Zischlauten hervorwisperten, erschütterten Darwins Gemüt, stellten ihn vor ein Rätsel. »Ich verstehe ... dich nicht. >Würdig?<« Geister rufen dich, bedrängte ihn die Flüsterstimme. Die Bären rufen dich, die Santos rufen dich. Tötest du ohne Ehre, Mann von den Sternen? Gerätst du jedesmal in Schrecken und fliehst? Hat dein Rabe dich so kläglich belehrt? »Der Rabe? Mein Geisthelfer? Was hat er ...? Ich habe doch nur ...« Darwin versuchte sich der Stimme zu entziehen, die ihn wie Frühlingsregen berieselte, ihr zu entgehen. Er be mühte sich, sie aus seinem Bewußtsein zu vertreiben. Doch das Geraune blieb, umgurrte ihn leise. »Schau in meine Seele, Bär!« schrie Darwin plötzlich erbittert auf. »Sieh meine Trauer! Sieh die Wunde, die ich in meine Seele gerissen habe, als ich dich tötete!« »Ruhig, nur die Ruhe ...!« Eine andere Stimme drang, diesmal von außerhalb, gebieterisch in Darwins Gehör. Kühl lag eine feste Hand auf seiner Stirn. Darwin riß die verklebten Lider auf und blinzelte die Verschwommenheit aus seinem Blickfeld. Neben ihm stand eine Frau und betrachtete ihn skeptisch. Über ihr wölbte sich eine Gra phitfaserkuppel; unterm Dach hingen Lampen, Stromka bel und Rohrgewirr einer Klimaanlage. Beiderseits Dar wins waren Standard-Med-Einheiten — einige belegt — wie Kokons aufgereiht. »Wo ... Wo bin ich?« vermochte Darwin zu krächzen. »In der Klinik des Romananerkaffs. Sie liegen in einer Med-Einheit. Sie dürfen sich nicht bewegen. Wenn Sie's versuchen, werden Sie von der Einheit automatisch fixiert. Es hängt maßgeblich von Ihrer Einstellung ab, wie bald Sie ...«
AN BORD DER DANIEL, NÄHE STATION FREIHAFEN, SIRIUS-SEKTOR Kapitän Pjotr Raskolnikowski empfand trotz allem Nervo sität, als er die Station aufbersten sah. Geboren war er auf Arpeggio, hatte jedoch einige Zeit auf den orbitalen Ener giesatelliten verbracht, die seine Heimatwelt umkrei sten. Er kannte die Art von Männern und Frauen, die in der Habitatskonstruktion lebten, die seine Blaster soeben zer stört hatten. Ununterbrochen schossen, während die Station de kompressierte, kristallisierte Gase, Humus, tote Men schen und Tiere, ineinander verhedderte Innenausstattung sowie vorgefertigte Trennwände aus der hineingeblaster ten Bresche, hinterließen vor dem Hintergrundgesprenkel der Sterne eine spiralenförmige Spur des Verderbens. Wie viel Menschen gab es dort? fragte er sich. Achtzigtausend? Mehr? Er schöpfte tief Atem und unterdrückte einen Fluch. »Es ist Deus' Wille. Wir müssen alle das unsere tun. Denn was sind schon ein paar Menschenleben im Vergleich zum Willen Gottes? Wir werden Satan aus dem Universum ver treiben.« Er wandte sich der Mannschaft zu, sah ihre düsteren Blicke, die die Bildschirme streiften. »Unser Werk ist schwer, nicht wahr?« Sie nickten; Verwirrung mischte sich mit der Betrof fenheit in ihren Mienen. »Ich erinnere euch: Wir verkörpern Deus' Herrlichkeit. Wenn diese Toten dazu beitragen, die Menschheit in Got tes Schoß heimzugeleiten, werden sie ewigen Lobes gewiß sein und auf goldenen Lichtstrahlen durch den Himmel schweben. Ein Soldat Gottes muß die Bereit schaft haben, auch große Verantwortung auf sich zu neh men. Sind unter euch welche, die aus Kleinmut am Glau ben zweifeln?« Einer nach dem anderen schaute ihm mit entschiedener Standfestigkeit in die Augen; entschlossene Willenskraft machte die Mienen härter.
»O ja, ich sehe, der Messias hat euch gut ausgewählt. Er ist stolz auf euch. Also gut, wir lassen nun diese Sta tion und nehmen Kurs auf Reinland. Die Waffenspeziali sten sollen die Sprengköpfe vorbereiten. Alle Gottlosen sollen büßen. Deus' Werk ist unser Werk.« »Für Deus«, riefen alle, und jeder beugte sich an sei nem Platz wieder über die Instrumente und Kontrollen. Raskolnikowski lehnte sich in den Kommandantenses sel, strich sich durch den dünnen Spitzbart. Er würde die Toten, soviel war ihm insgeheim klar, die aus der aufge blasterten Station fortgetrudelt waren, nie vergessen. Das Ziel menschlicher Freiheit konnte nie ohne den Preis von Leiden und Opfern erkämpft werden. Trotz der Belastung seines Gewissens mußte er, Raskolnikow, seine Bürde tra gen. Was er tat, war wirklich Deus' Werk. Er schenkte der Menschheit das Licht Gottes. Zweifellos erbarmte sich Deus in seiner unendlichen Weisheit der unschuldigen Toten, die das Ringen forderte. *
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STATION MINSK, GULAGSEKTOR Die Station Minsk umkreist DCC-917A III, den vierten Plane ten des Minsksystems. Ursprünglich war die erst fünfund neunzig arcturische Standardjahre alte Station als Stützpunkt für ein Terraformingprojekt hinsichtlich des vierten Planeten konstruiert worden. Gegenwärtig produziert Minsk Ozon, das der Planetenatmosphäre zugeführt wird. Gleichzeitig forciert eine C0²-Produktion einen Treibhauseffekt und sind auf der Planetenoberfläche primitive terrestrische Pflanzen formen angesiedelt worden. An Einwohnerschaft zählt die Station viertausendsiebenhundert Personen, von denen im Rota tionsverfahren jeweils zweihundert für eine Schicht von drei Monaten Dauer ineiner Forschungsbasis auf dem Planeten tätig sind. Die übrige Population beschäftigt sich mit der Erzeugung von Kohlenwasserstoff, der für die Farbstoffher stellung gebraucht wird.
Feela Metz wartete am Verteilerkompressor. Die Arme verschränkt, die Füße auf den Boden gestemmt, lehnte sie an der bis in Kopfhöhe gewölbten Rundung des Rohrs und blickte den gekurvten Gang hinab. Felix konnte sie nicht vergessen haben. Das war doch einfach unmöglich. Verärgert atmete sie gründlich durch und schlenderte in die Richtung, wo der Komplexsupervisor sein Büro unter hielt. War vielleicht irgend etwas vorgefallen? Aber was? Der Schichtwechsel des Personals der planetaren For schungsbasis mußte vom Büro erst in sechs Tagen wieder koordiniert werden. Feela spazierte durch die 0,6 Ge des Stationstorus und nahm den Lift zur Zentralachse. Ringsum ertönte das all gegenwärtige Summen der Station, umgab sie die behag liche Geräuschkulisse der Sicherheit, in der Feela seit ih rer Geburt lebte, ihrer Heimat, ihres Zuhauses, ihrer Welt. Und bald wollten Felix und sie ihr Dasein durch offizielle Eheschließung krönen. Feela, jung und albern, wie sie noch war, faltete sie die Hände auf dem üppigen Busen, schloß die Lider und malte sich aus, wie es alles sein würde. Zusammen stand ihnen eine größere Wohnung zu, Felix' Position gemäßer Wohn raum. Und wer wußte jetzt schon, was dann kam? Voraus sichtlich starb der alte Wan Bang innerhalb der nächsten zehn Jahre, und jemand mußte ja sein Nachfolger im Supervisoramt werden. Warum nicht Felix? Von al len denkbaren Anwärtern war er am klügsten. Der Lift stoppte. Feela strebte in der Nullschwerkraft den Korridor entlang. Eines Tages würde Minsk eine rei che Station sein, die einen ganzen Planeten als Quelle ih rer Ressourcen zur Verfügung hatte. Wenn diese Zeit an brach, konnte sie sich auch künstliche Schwerkraft lei sten. Natürlich würde Feela niemals einen Fuß auf den Planeten setzen. Drunten herrschten zuviel Ge. Nur die Forschungsteams hielten sich unten auf, und sie mußten in den Hoch-Ge-Kugelkapseln bleiben, von denen eine Anzahl am Stationstorus verankert hing.
Vor dem Büro des Supervisors blieb Feela stehen; plötzlich hatte sie Bedenken. Wenn Felix nun irgendwel che zusätzlichen Arbeiten erledigen mußte? Sollte sie wirklich hineingehen? Vielleicht bekam er deswegen Schwierigkeiten; oder womöglich wurden sie, falls er be reits welche hatte, noch verschlimmert. Sie furchte die Stirn und kaute einen Moment lang auf der Unterlippe, ehe sie die Hand auf die Scannerfläche des Servomaten legte. Die Tür rollte beiseite. Im Vorzimmer erwartete niemand sie. Feela ging am Anmeldeschalter vorbei. Eine seltsame Nervosität machte sich in ihren schmalen Gliedern bemerkbar. Sie guckte um die Ecke ins Dienstzimmer des Supervisors und sah dort alle Mitarbeiter des Büros stehen, ein Pünktchen auf dem Kommu-Bildschirm anstarren. Felix beugte sich über den Kommu-Apparat. »Ach tung, ich rufe das im Anflug befindliche Raumschiff. Sie verstoßen gegen die Vorschriften zur Regelung der Geschwindigkeit und Beschleunigung von Raumflugkör pern im Minsksystems. Ich wiederhole: Sie verstoßen gegen die Vorschriften zur Regelung der Geschwindigkeit und Beschleunigung von Raumflugkörpern. Drehen Sie ab. Ich wiederhole, drehen Sie ab!« Feela betrat das Dienstzimmer, hörte gedämpftes Schimpfen. Infolge seiner gewohnten Sensitivität, die er mit Feela gemeinsam hatte, spürte Felix ihr Erscheinen und hob den Blick, schaute ihr mit angespannter Miene in die Augen. »Ich verstehe das nicht.« Supervisor Bang richtete sich zu voller Größe auf. »Ist denen denn nicht klar, mit wie viel Strahlung sie uns bei der Geschwindigkeit bombardie ren? Berücksichtigen sie das überhaupt nicht? Wir... Die ses Vorkommnis werden wir melden. Die Direktoren wer den davon erfahren. Und die Patrouille.« »Ob's sich um einen außer Kontrolle geratenen FLF handelt?« meinte Tap Darney, strich sich ums lange Kinn.
Felix schüttelte den Kopf. »Dann kriegten wir Ant wort. Nein, das Raumschiff ist bemannt. Halt mal, was ist das?« Er deutete auf die telemetrische Vergrößerung. Strahln violetten Lichts waren aufgegleißt und schossen auf Minsk zu. »Mein Gott!« Bestürzt schrak Bang zurück. »Es ist ... Das ist Blasterfeuer. Sie schießen auf uns ...« Auf einmal fuhr ein Stoß durch die Station. Die Kom munikation forderte sofortige Aufmerksamkeit. Rasch verebbte die Erschütterung. Lampen flackerten und erloschen, unter den Füßen bebte und wackelte der Boden, die Hälfte der Kommu-Apparate war defekt. Felix ertastete im Halbdunkeln Feelas Hand. »Was war das?« fragte Feela leise. »Was ist gesche hen?« Felix zog sie an sich, schloß sie fest in die Arme. Ein entferntes Brausen war zu hören. Irgendwo vor dem Ein gang des Büros schrie jemand, der wohl allein durchs Dunkel irrte, vor Furcht. »Eine Dekompression findet statt, Feela ... Wir werden sterben. Egal wer's war, sie haben uns den Tod gebracht ... Der ganzen Station.« »Aber die ...« Feela schüttelte den Kopf, ein Schwin delgefühl packte sie. Die Atemluft wurde dünner. Feela fühlte es. Jeder Stationsgebürtige kannte die Anzeichen. Sie schauderte zusammen, klammerte sich an Felix, schloß die Augen und preßte ihr Gesicht an seine Brust, um zu weinen.
14
REINLAND, SIRIUS-SEKTOR
Reinlands erste Besiedlung fand im Jahre 2112 statt, als die Sowjet-Weltregierung Deportierte auf dem Swensk benannten Nordkontinent landete. Später wurden weitere Deportierte, Dissidenten und Konterrevolutionäre an den Küsten dieses Kontinents abgesetzt. Eines der wenigen Entgegenkommen, die der Sowjet damals machte, bestand darin, Verbannte in eine Umweltsphäre zu schik ken, die Ähnlichkeit mit ihrer terrestrischen Heimat hatte. Reinland war das Sammelbecken für südamerikanische Yahgan-Nachfahren ebenso wie für Samer, Skandinavier, Tschuktschen und Aleuten.
Milt Yran spürte im Stollen eine Erschütterung. Der Lift stockte, schaltete auf Notbeleuchtung um, doch die Kabine stieg weiter aufwärts. Nicht daß Milt Grund zur Sorge gesehen hätte; derglei chen kam in Bergwerken häufig vor. Erst als der Lift knapp unter dem Triebwerksgestell stoppte, erkannte er, daß irgend etwas Schreckliches vorgefallen sein mußte. Milt zerrte unter Aufbietung aller Körperkraft die Tür auf. Der ganze Betrieb wirkte ungewöhnlich still. Er schnupperte in der Luft und bemerkte einen sonderbaren Geruch. Durch Risse und Löcher in den Wänden sah er, indem er an verschiedenen Stellen mehrmals hinauslugte, das Hauptgebäude war eingestürzt. Er zwängte seinen breiten Brustkorb durch einen Spalt, zog sich hoch, kroch auf dem Bauch vorwärts, bis er sich durch eine Bresche der Außenmauer schieben konnte. Aus aufgewühlten Wolken, die über den Himmel wog ten, fiel Regen — schmutziger Regen obendrein —, umsprühte Milt. Jenseits des Horizonts durchsengte ein grelles Aufblitzen das Gewölk, und Milt blinzelte verdutzt in die Nachbilder, die es hinterließ.
»Kann sein, Damen.« Mit nervösen Fingern rieb sie sich die Augen, ehe sie ihn wieder anschaute. Ihre klassisch afrikanischen Gesichtszüge zeigten ein ironisches Lä cheln. »Aber Ihnen ist bekannt, was ich von Pflicht und Treue halte. Ich werde meinen Posten nicht verlassen. Das heißt, wenigstens nicht, bevor feststehen sollte, daß ich in einem aussichtslosen Kampf stehe. Ich muß es zumindest versuchen. Vielleicht kann ich ein paar Leben für Spinne retten, hmm?« »Warten Sie nicht zu lange, Maya.« Ein kurzes Aufleuchten erhellte Mayas sorgenvolle Augen, die harten Falten um ihren Mund wurden wei cher. »Ihnen ist wirklich an mir gelegen, stimmt's, Damen? Ich hätte nie gedacht, daß dergleichen je eine Rolle spielen würde. Eine Kommandantin führt in der Patrouille ein ziemlich elendes Dasein. Aber wenn alles erledigt ist, dürfen wir vielleicht wieder Menschen sein. Ohne Sie wäre die Galaxis eine traurigere Gegend, Damen.« »Und erst recht ohne Sie, Maya. Das ist mein Ernst. Strapazieren Sie Ihr Glück nicht zu sehr. Wenn der Zu sammenbruch da ist, fliegen Sie mit der Viktoria Welt an. Sie sind hier willkommen. Wir wollen Sie bei uns haben. Ich ... ich möchte Sie bei mir haben.« »Darüber ist von uns doch schon mal diskutiert wor den, oder?« »Die Zeiten ändern sich. Mit der Stabilität ist es nicht mehr weit her. Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber setzen Sie sich keiner Gefahr aus.« Maya betastete ihr Kinn, blähte die Nasenflügel, wäh rend sie ihn unter gesenkten Wimpern musterte. »Nur ein anderer Kommandant kann so etwas verstehen. Wissen Sie, das ist es, was mir das Durchhalten ermöglicht. Ein paar Hundert Lichtjahre trennen Sie von mir, aber Sie verstehen mich. Dadurch ... dadurch fühle ich mich, ob wohl ringsum alles zusammenzubrechen droht, nicht so allein.«
Ree nickte, wünschte sich, er sähe sie nicht nur in Holo-Wiedergabe. »Heiliges Kanonenrohr, Damen, ich werde sentimen tal! Kommen wir zurück zur Sache. Also gut, stellen wir uns mal vor, ich lasse mich auf ein Rückzugsgefecht ein ... Warte praktisch auf ein Wunder. Und sobald man mir zu nahe auf die Pelle rückt, gehe ich stiften. Hören Sie bloß auf, Damen! Allein in diesem Sektor bauen über eine Milliarde Menschen auf meinen Schutz. Ich kann mich jetzt unmöglich so einfach von hier verdrücken.« »Aber ich kann hin, wo ich will«, rief Ree ihr in Erin nerung. »Schicken Sie mir die Blitzkorvetten? Ich möchte die schnellsten Modelle, die Ihnen verfügbar sind.« Maya schmunzelte. »Sie werden sie innerhalb weni ger Tage im Orbit haben. Drei der besten Exemplare habe ich für den Gebrauch der Romananer abkomman diert. Es ist intern gelaufen, ohne Meldung von Verände rungen im Verwendungsplan beim Direktorat. Ich glau be, obwohl ich's nicht beweisen kann, daß Kimanijui ahnt, was uns bevorsteht. Sich mit dem Schleimbeutel Van Chow abgeben zu müssen, war ihm ungeheuer zuwi der. BK fehlt's an Abschirmung, aber sie erreichen enor me Geschwindigkeiten. Bewaffnen müssen Sie sie eben mit dem, was gerade da ist.« »In unserer Einflußsphäre befindet sich die Station Tygi. Sie produziert jetzt seit über einem Jahr für uns.« Ree lächelte. »Das ist, meine liebste alte Freundin, eine vertrauliche Information. Nur damit Ihnen klar ist, wir sind keine armen, wehrlosen Wilden, über deren Schik ksal Ngen Van Chow entscheidet.« »Romananer sind so wehrlos wie silurianische Sand kobras«, spottete Maya. »Nun ja, ich bin immer froh, wenn ich weiß, mir deckt 'n schußbereiter Blaster den Rücken.« »Und was hört man heutzutage so von der Miliken?
Haben Sie und Toby Kuryaken nochmals alles disku tiert?« Die Obristin nickte. »Anders als bei den übrigen Kom mandeuren haftet uns noch Sirius im Gedächtnis. Sollte die Situation zu heikel werden, kreuzen wir an Ihrem Hintereingang auf, Damen. Für den schlimmsten Fall haben wir uns auf Verrat geeinigt. Ich glaube, das kommt davon, wenn man sich mit Schlawinern anfreundet. Sie können die Ruhe bewahren. Wenn das Direktorat zusammenbricht, dürfen Sie mit der Unterstützung unserer Schlachtschiffe rechnen. Allerdings könnte es sein, daß wir gewisse Gegenleistungen verlangen. Ihre Technik gegen unsere Dienste.« »Sie wollen mit Fujiki-Verstärkern ausgestattete Bla ster.« Ree rieb sich am Kinn und überlegte. »Maya, Sie haben Romananer in Ihrer Besatzung auf der Viktoria. Ih nen kann ich vertrauen — und Sie verdienen's, verdammt noch mal. Ich bin der Viktoria Fujiki-Blaster zu überlassen bereit. Wenn sie ein Raumschiff Spinnes wird, soll sie auch den Vorteil besserer Bewaffnung, stärkerer Schutz schirme und höherer Geschwindigkeit bekommen. Außer dem gewähre ich Ihnen die Option, Romananer für die Sturmtruppen zu rekrutieren. Ich mache den Handel. Aber die anderen ...?« Aus Unbehagen fing Ree auf- und abzu stapfen an. »Jaischa Mendez und Toby Kuryaken hätten uns im Siriussystem jederzeit zusammengeblastert, wäre die Gelegenheit vorhanden gewesen. Die übrigen Kom mandeure hätten die Projektil und Welt genauso gerne ver nichtet wie Ngen. Ich weiß nicht ... Wir müssen abwarten.« »Damit kann ich leben.« Maya zögerte. »Glauben Sie, derartige Vorteile können uns noch etwas nutzen, sobald's erst mal soweit ist, daß die Reste der Patrouille nach Welt flüchten müssen? Wie stellen Sie sich vor, daß einige Ver sprengte, nachdem Ngen sich überall eingenistet hat, noch Widerstand leisten sollen?« Auf der Armlehne seines Kommandantensessels dreh
te Ree den Kaffeebecher zwischen den Fingern. Verson nen betrachtete er das Schwappen des Getränks, ehe er sei ner Gesprächspartnerin in die Augen blickte. »Wir werden es auf die eine oder andere Weise hinkriegen, Maya. Wenn wir ihn aufhalten können, werden wir's auch schaffen. Es ist keine Prahlerei, wenn ich sage, die Projektil ist das kampfkräftigste Kriegsschiff im gesamten Direktorat. Falls wir nicht dazu imstande sind, die Übermacht zurük kzudrängen, können wir uns auf alle Fälle noch den Weg freiblastern und uns absetzen.« Seine Hand winkte in die Richtung unerforschten Weltalls. »Die Menschheit bewohnt ja kaum ein kleines Zipfelchen der Galaxis. Außerhalb ist noch reichlich Platz. Dort kann man bestimmt neue Welten finden, gibt es Neues zu entdecken. Die Bruderschaft ist, als feststand, daß sie nicht mehr erwünscht war, einfach verschwunden. Wenn es nicht mehr anders geht, steht uns das gleiche frei.« Ree neigte den Kopf zur Seite. »Ich denke mir, es wird ratsam sein, Sie bereiten in Ihrem Sektor die schlausten Gehirne auf den Evakuierungsfall vor. Kunstwerke unschätzbaren Werts, Bibliotheken, Technik-Handbücher, alles was Sie als unersetzlich einstufen, sollten wir auch mitnehmen.« »Bei Spinnes Blut, Sie meinen's tatsächlich ernst, nicht wahr?« Maya blinzelte; sie blickte gequält, während sie nachdachte. Ree spielte mit seinem Kaffeebecher. »Spinne hilft denen, die sich selbst Gedanken machen. Sprechen wir's ruhig aus: Als wir das letzte Mal mit Van Chow im Clinch lagen, hatte er mehr Tricks in der Hinterhand, als wir erwarteten. Ich unterstelle, daß er diesmal noch heimtük kischer, ein noch gefährlicherer Gegner sein wird. Ich habe nicht vor, so frisch-frei-fröhlich wie letztes Mal gegen ihn in die Konfrontation zu gehen.« Ree schwieg kurz. »Und es ist ein Glaubenskrieg.« »Wenn ein Krieg um Gott geführt wird, gestaltet er sich nur um so blutiger. Doch das heißt nicht ...« »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin keineswegs in
defätistischer Stimmung.« Ree lächelte. »Ob's so oder so kommt, ich setze auf Spinne.« »Sie glauben wahrhaftig, daß 's sich lohnt, oder?« »Ich will's mal so ausdrücken: Spinne hat mich über zeugt. Ich habe mit den Propheten zu tun gehabt und er lebt, wie sie Unglaubliches leisten. Ich habe ihren Darle gungen und ihren philosophischen Standpunkten ge lauscht. Ich bin der Ansicht, daß sie damit das Wesent lichste abdecken. Der romananische Glaube verlangt von einem Menschen nichts außer Wissensdurst, Ehrlichkeit und Mut. Ich kann akzeptieren, daß meine Seele Gott ge hört, egal wer er ist.« Maya hatte ihre Arme verschränkt. »Und sind Sie der Auffassung, daß Ihr Spinne sich gegen Ngens Deus be haupten kann?« »Für den Moment wollen wir einfach sagen, daß Spin ne nun einmal der wahre Gott ist. Ist es da von Belang, was Ngen predigt? Wie Chester mal zu mir gemeint hat: Man kann einen Fisch einen Vogel nennen, so lange man mag. Ganz gleich, wie fest man daran glaubt, es sei mög lich, wie nachhaltig man sich einbildet, Flossen sähen wie Flügel aus, man wird dadurch den Fisch nicht zum Fliegen bringen. Ein Fisch bleibt ein Fisch, ein Vogel ein Vogel. Die wahre Natur Spinnes, Gottes oder wie man ihn nennt, wird sich durch unsere Anschauungen nicht verändern. Letztendlich ist die Realität Bestand und bleibt bestehen. So schlicht und einfach verhält es sich. Außerdem ist den Romananern zufolge das Schicksal der Menschheit bedeu tungslos. Das einzig wichtige ist das Wissen, das wir ...« »Ich fühle mich nicht bedeutungslos«, murrte Maya. »Und ich glaube, daß diese vielen Milliarden von Men schen auch so empfinden. Sie haben Furcht. Alles zerfällt, und das nach all diesen Jahrhunderten der...« »Dann sollen sie doch, verflucht noch mal, endlich Verantwortung übernehmen, anstatt sich irgendwelche Märchen einreden zu lassen. Ist das keine Frage der Reife, Maya? Eingeschüchterten, verstörten Menschen bietet es
eine Art von Kinderstubensicherheit, einen richtig netten, freundlichen Gott im Hintergrund zu wissen. Solange man an ihn glaubt, braucht man nicht erwachsen zu werden. Statt dessen darf man das Leben in ewiger Kindheit ver bringen.« Maya stützte das Kinn in die Handfläche und überleg te. »Lange Zeit hindurch hat das Direktorat es ihnen so ermöglicht.« »Aber das wirkliche Universum ist anders beschaffen, Obristin. Die einzige Wahrheit, deren ich mir sicher bin, heißt Verantwortung. Ich kenne Gott nicht so gut wie die Propheten. In meiner gegenwärtigen Inkarnation habe ich Spinne nie näher kennengelernt. Die Propheten sagen, meine Seele sei ein Teil Gottes. Also wird es wohl so sein. Aber jedenfalls weiß ich, daß ich mich, solange ich die Verantwortung für mein Handeln auf mich nehme, auf die bestmögliche Weise für meine Seele sorge, sie für Gott vorbereite, oder wie man's ausdrücken will. Gibt's dage gen eine Widerlegung?« »Fühlen Sie sich dadurch nicht einsam?« fragte Maya, schlang ihre langen Finger ineinander. »Überhaupt nicht. Wenn man sich damit abfindet, daß die eigene Seele ein Bestandteil der Göttlichkeit ist, und annimmt, daß Göttlichkeit die einzige konstante und ewi ge Eigenschaft des Universums ist, bedeutet das eine be trächtliche innerliche Stärkung.« Maya schnaubte belustigt. »Das klingt ja, als wüßten die Romananer auf alles 'ne Antwort. Leute, die für sich beanspruchen, für alles Lösungen zu wissen, machen mich nervös. Ich wollte wetten, die Dinge würden kompliziert werden, wenn sie anfingen, sich gegenseitig zu predigen. Religion fußt immer, habe ich den Eindruck, auf irgend welchen Dogmen, und wenn sie verschiedene Gruppen Gläubiger hat, geht der Zank los.« »Ich habe nie erlebt, daß Propheten gezankt hätten.« Ree schüttelte den Kopf. »Die einzigen Romananer, die Schwierigkeiten haben, sind die Santos. Aufgrund ihrer
mexikanischen Abkunft schleppen sie zuviel christlichen Ballast mit sich herum. So ein Glaube krankt, sagt Pike, an inneren Widersprüchen. Dagegen stammt das Spinnenvolk von nordamerikanischen Ureinwohnern ab. Es hat keine schriftlichen Überlieferungen, über die man sich in die Haare geraten könnte. Das Wesen ihrer Religion beruht auf eigenen Erfahrungen, darum ist sie schlichterer Natur, man hat keine heiklen Regeln darüber, was man essen darf, was man sagen soll oder tun muß, oder solchen Krampf.« »Dann wollen wir hoffen, daß Spinne gründlich mit Deus aufräumt«, äußerte Maya grimmig, rückte sich in ihrem Kommandosessel zurecht. »Ich habe diese Spinnen pinseleien schon im ganzen Raumschiff! Ben, mein Stell vertreter, hat 'ne Spinne auf seinem Schutzpanzer. Ein Patrouillenmajor! Er ist bekehrt. Und das alles durch 'n paar Dutzend Romananer an Bord.« Sie drohte Ree mit dem Zeigefinger. »Sie haben sie auf mein Schiff geschic kt und das angerichtet.« Ree grinste ihr breit zu. »Verlassen Sie sich auf mich, Obristin, auf die eine oder andere Tour hole ich Sie aus dem Schlamassel raus.« Er tippte auf das Spinnenbild auf seiner Brust. »Wenn's nicht anders geht, muß man eben mit den Wölfen heulen ...« Ein kurzes Schweigen entstand. Mayas Lippen verzo gen sich zu einem Lachen, in ihren Augen funkelte auf richtige Heiterkeit. »Erinnern Sie sich noch daran, daß Sie einmal gesagt haben, wir seien viel zu prächtige Leute für Robinson und das Direktorat?«
»Ja.« »Das hat mich irgendwie überzeugt. Ich weiß noch nicht so recht, aber vielleicht, wenn alles vorbei ist ...« »Ist das ein Angebot?« »Klar«, antwortete Maya in trockenem Ton, im Blick eine Herausforderung. »Sie müßten die Viktoria aufgeben.« »Typisch Mann!« brauste Maya auf. »Ach, mit Ihnen
hätte ich nur Scherereien, Damen. Sie möchten Ihr Schiff kommandieren und meins dazu.« »Leider haben wir unsere grundlegenden Entscheidun gen wohl vor schon zu langer Zeit getroffen.« Ree spielte weiter mit seinem Becher, beobachtete Maya unter herab gezogenen Brauen. »Ja, das ist wahr«, pflichtete Maya bei. »Und's war 'ne verdammt tolle Karriere. Naja, Sie werden sich entsinnen, wenn Sie mich begraben, daß ich meinen Vorschlag ausge sprochen habe.« »Und Sie werden mich irgendwann in dem Bewußtsein zur Externalisationsluke hinausschießen, daß ich ihn ange nommen hätte.« Einen Moment lang schauten beide einan der in die Augen. »Danke für die BK«, fügte Ree schließ lich hinzu. »Ich werde versuchen, sie heil zurückzugeben.« »Ich halte Sie auf dem laufenden, Damen.« Maya lehn te sich in den Kommandosessel; ihre Augen schimmerten feucht. »Grüßen Sie Rita und Iverson. Trotzdem hoffe ich, die Lage entwickelt sich nicht so, daß wir uns bald persön lich wiedersehen.« Damit erlosch der Bildschirm. Für Rees Begriffe war nun die Zeit da, um die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Ngen Van Chow hatte mit Überfällen angefangen. Wieviel Zeit mochte noch bleiben, bis er Welt angriff? Gott sei Dank trat Maya nicht nur die erbetenen zwei, sondern drei der schnellen Blitzkorvetten ab. Damit standen ihr selbst lediglich noch vier zur Verfü gung, während sie Vorbereitungen zum Bruch mit dem Direktorat und zum Absetzen traf. Ngens Dschihad verur sachte Maya ben Achmad Sorge. Das wunderte Ree nicht. Abgesehen von ihrer greulichen Neigung zu wortwört licher Befehlstreue: Ree hätte keine auffassungsfähigere, scharfsichtigere Kommandeurin oder einen entsprechen den Kommandeur der Patrouille nennen können.Und wenn Maya etwas tief beunruhigte, mußte die Situation im Direktoratsweltraum gehörig schlecht stehen. *
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HANGAR 13 DES STURMTRANSPORTER-DECKS DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Susan schaltete die Kontrollen ab, behielt die Anzeigen der Kompensatoren im Auge, während der Energiepegel des ST sank. Aus der Kommu drang Geschnatter; der Tak tische Führungsoffizier befand sich in sprunghaftem Gespräch mit Mosche, der auf dem nördlichen Kontinent ein Sturmtruppen-Manöver veranstaltete. Es schien, als wäre jeder ständig an Übungen beteiligt. »ST wird verankert.« Greifer brachten den schlanken Flugapparat ins Zittern. Susan checkte die ST-Funktionen, vergewisserte sich, daß ST 22 tatsächlich vollkommen desaktiviert und den Bordsystemen der Projektil angekoppelt worden war. Sie schlug die Hand auf den Schnellöffner der Gurte, wand sich mit Hüftschwung aus dem Pilotensessel und stieg durch den Ausgang aus der ST-Zentrale nach hinten; wäh rend sie sich ihr näherte, öffnete sich schon die Schleuse. Im Vorbeigehen, unterwegs zur Erledigung der Wartungs aufgaben, lächelte und winkte ein Tech ihr zu. Nachdem sie die weißen Korridore der Projektil betre ten hatte, kontaktierte Susan die Kommu des Raum schiffs, erfuhr in bezug auf ihre Termine nur von einer Stabssitzung am nächsten Morgen. Müde bog sie in eine Sektion ab, wo man die Abdeckplatten demontiert hatte, Techniker bei der Arbeit — anscheinend an Energiekabeln und Leitungen — schwitzten und fluchten. Nein, hier mußte ein größerer Umbau erfolgen. Ganze Abschnitte der Rumpfverkleidung waren entfernt worden. Fügte man die letzten neuen Bauteile zur Strukturverstärkung ein? Seit einiger Zeit war die Projektil bei keinem Mal, wenn man sie durchquerte, die gleiche wie vorher. Der Raumer, in dem sie sich auf dem Flug zum Siriussystem auszukennen gelernt hatte, war unter Giorjs behutsamer Aufsicht voll ständig umgebaut worden. Sie fragte sich, ob selbst Ree sein heißgeliebtes Schlachtschiff heute noch in-und aus wendig kannte.
»Sektion Zehn, C-Deck«, rief Susan, als sie in einen leeren Aufzug trat. Sie lehnte sich an die Wand, zwinkerte gegen die Erschöpfung ihrer Augen an. Wie lange war es her, seit sie zuletzt einmal einen dienstfreien Abend gehabt hatte? Und Giorj war da, um sie in den Armen zu halten, ihr zu beweisen, daß es nicht allein in der Phantasie güti ge Menschen gab, sondern sie außerhalb der hartnäckigen Träume, die Ngen in ihr Unbewußtes geflochten hatte und die ihren inneren Frieden wie Säure zerfraßen, wirklich existierten. Die Lifttür glitt beiseite, und Susan strebte durch den vertrauten, weißen Korridor, öffnete per Handtellerdruck die Tür des Quartiers und ging in der Erwartung hinein, Giorj vorzufinden. Doch er war nicht da. Hinter Susan rollte die Tür zu, schloß sich mit einem Klicken, das nach Endgültigkeit klang. Gedämpft schimpfte Susan vor sich hin, ließ sich vom Getränkespender ein Glas mit Limona de füllen, pellte sich aus der Dienstkluft und beförderte sie, obwohl diese Unordentlichkeit ihr Gewissensbisse bereitete, mit einem Fußtritt in die Ecke. Am Kommu-Apparat verlangte sie Giorj; gleich darauf erschien sein Gesicht auf dem Monitor-Bildschirm. »Hallo. Ich bin zurück. Kommst du irgendwann?« Giorjs blasses Gesicht verriet ebenfalls Ausgelaugtheit. »Es dauert noch eine Weile, Susan. Momentan haben wir ein technisches Problem mit den Gravo-Kompensatoren. Die quadrupolischen Formationsgeneratoren spielen ver rückt. Irgendeine Irregularität liegt vor, wahrscheinlich verursacht durch einen Software-Fehler. Das Ergebnis ist eine Abweichung in den Belastungsenergie-Tensionsimpulsen, und die sind es, die Abstrahlwinkel und -gewalt der durch uns hervorgerufenen Gravitationswellen streu en. Es ist uns gelungen, diese Fluktuationen vorerst auszu gleichen. Wir stehen vor der komplizierten Aufgabe,die sogenannte Zeitlupentempo-Formation in Relation zur Perturbations-Formation in der internen Gravitationsfel derzeugung auszubalancieren. Andernfalls resultiert aus
der Abweichung etwas, das man als mikrogravitationale Überlagerungseffekte bezeichnen könnte.« »Giorj ...« Susan stöhnte. »Was heißt das?« »Ahm ... Bringen wir die endgültige Ausbalancierung nicht zustande, wird die Besatzung infolge der Fluktua tionen an Magenbeschwerden leiden, an Übelkeit. Sie wir ken sich auf sämtliche Nerven aus, die Bewegung inter pretieren oder die Orientierung steuern. Innenohr und der gleichen. Das Med-Personal ist schon unruhig wegen der wachsenden Zahl der Krankmeldungen. Zahlreiche Fälle von Kopfschmerzen und ähnlichem. Auch die Kommu wird ungünstig beeinflußt, und auf lange Sicht ist in einem Großteil der Metallkomponenten des Raumschiffe Materi almüdigkeit zu befürchten. Mögliches Spin-off könnte bei Hoch-Ge-Beschleunigung einen Verlust an künstlicher Schwerkraft zur Folge haben. Muß ich noch ins Einzelne gehen?« Gefrustet biß Susan die Zähne zusammen. »Nein. Ich kapier's. Fallen die Gravo-Kompensatoren nur für einige Nanosekunden aus, kleben wir als platter Brei am näch sten Schott ... oder werden, je nachdem, hindurchge knallt.« Ein peinliches Schweigen zog sich in die Länge, wäh rend sie sich gegenseitig anschauten. »Geht's dem Anthropologen einigermaßen gut?« »Ja. So ein übergeschnappter Idiot. Ree hat mich zu seinem Aufpasser ernannt. Gegenwärtig liegt er auf 'm Planeten in der Klinik flach. Morgen nach der Stabsbe sprechung werde ich ihm mal 'n Besuch abstatten.« Sie spitzte die Lippen. »Er ist kein übler Typ, bloß ... Tja, er übertreibt 'n bißchen, verstehst du? Er sitzt nie lange genug still, um auszuspannen. Er ist ... eben noch jung. Weißt du, was ich meine? Als ob er's nie merkt, wann's an der Zeit ist, sich einfach zurückzulehnen und den Augen blick zu genießen.« »Aber du magst ihn.« Susan dachte darüber nach. »Ich glaube schon. Anders
als die meisten Männer ist er 'n ungefährlicher Umgang. Bei ihm brauche ich mich nicht zu sorgen, er könnte auf dumme Gedanken kommen. Bis jetzt ist er seiner selbst noch zu unsicher, um 'ne Gefahr zu sein. Er ist 'n unschul diges Bürschlein ... kein Lüstling.« Sie neigte den Kopf auf die Schulter. »Ich kann mit ihm im selben Zimmer sein, ohne ... ohne daß ich zu schlottern anfange. Ich höre nicht Ngens Stimme in meinem Ohr flüstern, wie's wäre, hätte ich's mit 'm stärkeren ... Nein, so ist's falsch gesagt. Pike ist stark, nur ist er ... Man kann ihn nicht als ernsthaf te Bedrohung empfinden. Er hat Schwächen.« Mit ausdrucksloser Miene schüttelte Giorj den Kopf. »Weißt du, Maschinen sind wirklich bedeutend leichter zu handhaben. Bei Menschen ergibt alles keinen Sinn. Sie haben so viele unbegreifliche Launen. Maschinen hinge gen zeichnen sich durch richtige Eleganz aus, Susan, sie funktionieren innerhalb mühelos definierbarer Parameter. Mit Menschen zu schaffen zu haben, mißfällt mir, ihnen fehlt es an Absoluten. Sie leben in völligem Verhaltens chaos.« Susan betrachtete ihn, spürte zunehmende Einsamkeit. Ihre Vorfreude verebbte. »Du bleibst heute abend fort, stimmt's?« Giorj senkte den Kopf, runzelte die Stirn, während er überlegte. »Ich kann es nicht genau vorhersagen. Es hängt davon ab, ob wir einen Durchbruch erzielen. Inner-halb eines reduzierten Felds, wie Gravo-Kompensatoren es aufweisen, sind Minkowski-Werte manchmal schwer kon trollierbar. Die Schwierigkeiten wirft dabei der Expan sionsquotient auf, der in den metrischen Koeffizienten zu den Abweichungen führt. Sobald wir dieses Problem behoben haben, können wir die Systeme kalibrieren und haben alles unter Kontrolle.« »Giorj ...« In Susans Brust breitete sich ein hohles Gefühl der Verzweiflung aus. »Kannst du dort nicht weg? Wenigstens dies eine Mal? Es sind Wochen vergangen, seit du und ich zuletzt einen gemeinsamen Abend hatten.
Ich leide wieder an diesen Alpträumen. Ngen ist ... Er wird wieder zur realen Gefahr. Er ist irgendwo da drau ßen im All. Ich ... ich brauche dich kommende Nacht. Du mußt mich in den Arm nehmen ... bei mir sein, wenn die Träume auftreten. Bitte, Giorj.« Flüchtig zeigte sich in Giorjs Gesicht eine Andeutung des Kummers. »Ich verspreche dir, es zu versuchen, Su san. Wir arbeiten mit allem Nachdruck an einer Lösung. Sobald wir das neue Bauteil eingefügt und die Schwer kraftstörungen beseitigt haben, nehme ich mir ein, zweiTage frei, und wir ...« »Das hast du mir schon bei der Rückkehr von Frontier versprochen. Erinnerst du dich? Hinter ST-Hangar Zwei undzwanzig ist auch noch ein Bauteil einzufügen, nicht wahr?« Giorj nickte. »Das ist als nächstes eingeplant. Es dürf te aber bei weitem keine so großen Umstände mehr verur sachen. Mit jedem Mal wird es leichter. Wir haben schon eine Menge Variablen bei den bisherigen ...« »Ist es wirklich völlig unmöglich? Bei Spinne, die Hälfte der beteiligten Techniker sind von dir unterwiesen worden, können sie denn nicht ...?« »Susan, ich bin doch in deiner Nähe. Du erreichst mich jederzeit mit einem Kommu-Anruf. Schlaf. Wir finden bald Zeit füreinander. Ich verspreche es. Aber gegenwär tig hat das Ausbalancieren dieses Systems Vorrang.« Susan nickte, weil sie die Aussichtslosigkeit ihrer Be mühungen einsah, und trennte die Verbindung. Mit ge fühllosen Fingern setzte sie das Kontaktron ab, schob es ins Regal und starrte aus trockenen Augen ins Weite. Die gefräßige Leere in ihrem Innern breitete sich aus, umfing ihre Seele. Susan schloß die Lider, bog den Kopf zurück, üppige Locken glänzenden Haars fielen ihr weich auf den bloßen Rücken. Sie ballte an ihren Seiten die Hände zu Fäusten, knirschte angesichts all der Fruchtlosigkeit mit den Zähnen. »Warum bin ich so allein? Ngen, weshalb hast du mir
das angetan? Bei lebendigem Leib sollst du verfaulen! Wieso mußtest du mir das Leben so verderben? Warum? Warum, verdammt noch mal?!« Sie widerstand dem Drang zu weinen, warf sich in die leere Koje, krümmte sich zu fötaler Haltung zusammen. Aus einem Winkel der Kabine schien ein leises Raunen an ihre Ohren zu dringen, ein nur eingebildetes, aber darum in seiner Furchtbarkeit keineswegs weniger wirksa mes Geflüster. »Liebste Susan, widersetze dich mir nicht ... Ich komme, um dich Lust zu lehren ... Lust ...« Erstickt schrie Susan auf, Schaudern schüttelte sie, sie preßte sich in die Ecke, vermochte schließlich das Schluchzen nicht mehr zu unterdrücken. *
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PLANUNGSSAAL AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Ree stellte zu den Informationen, die ihn per Kommu erreichten, Überlegungen an. »Und die Umbauten? Wie bald können wir starten, falls es sein muß? Eine noch ern stere Frage: Sollte Welt angegriffen werden, sind wir mit halb demontiertem Rumpf überhaupt zu kämpfen im stande? Ich brauche eine gewisse zeitliche Vorgabe, damit ich für Notfälle Vorsorgen kann. Während wir uns hier besprechen, könnte Ngen schon zu uns unterwegs sein.« Stabssitzungen sind mir zuwider. Bei Gott, wozu hok ken wir hier herum? Es kommt mir so vor, als geschähe absolut nichts ... Und währenddessen treibt Ngen, was er will. Heiliger Spinne, was gäbe ich für nur eine Nacht ruhigen Schlafs. Susan versuchte die körnige Verklebtheit ihrer Augen wegzublinzeln und unterdrückte ein Gähnen. Major Glick verzog die Lippen, beugte sich über einen tragbaren Monitor; Zahlen flimmerten über die Bildflä che. »Es ist höchstens noch eine Woche erforderlich, Ad
miral. Giorj leistet das Menschenmögliche. Im Zusam menhang mit den neuen Bauteilen sind ein paar Schwer kraftprobleme aufgetaucht ... Aber ich würde sagen: Eine Woche.« Am Rande bemerkte Ree, wie Susan sich an ihrem Sitzplatz versteifte. »Wie klappt's mit den neuen Rekru ten?« Eisenauge duckte den Kopf. »Eben wie mit neuen Re kruten. Das Null-Ge-Training verläuft ... na, so ähnlich, als wollte man einem Pferd Kopfstand beibringen.« Ree grinste. »Möchtest du lieber mit Giorj an den Schwerkraftkomplikationen arbeiten?« Eisenauge warf ihm einen wütenden Blick zu. »Meine Antwort lautet rundheraus: Nein. Es fällt mir noch heute schwer, Gravitation als eine Form von Strahlung zu be greifen. Wenn ich nicht einmal den Laplace-Effekt kapie re, wie soll ich dann nach deiner Meinung zu Giorjs Ar beit beitragen?« »Jedenfalls gehört dir mein volles Vertrauen, was den Umgang mit den neuen Rekruten angeht. Trotzdem stelle ich eine Anzahl Leutnants zu deiner Unterstützung ab. Ich glaube, wir werden im nächsten Jahr, oder so unge-fähr, jede Menge Truppen brauchen. Kannst du noch einmal einen Aufruf erlassen? Oder werden irgendwo Lücken ent stehen, wenn wir nochmals tausend Krieger an-werben?« An seinem Platz straffte sich Eisenauge. »Nochmals tausend ... Der Großteil aller Kriegstauglichen steht so wieso schon auf der Warteliste. Haben die Alten etwa ir gend etwas prophezeit? Es muß etwas passiert sein. Was?« »Ngen hat einen hemmungslosen Feldzug begonnen. Bis jetzt verkörpert das Direktorat für ihn noch eine grö ßere Gefahr als wir's sind. Fast eine Milliarde Menschen sind schon umgekommen, vielleicht mehr. Maya liefert uns regelmäßig Informationen. Es kann sein, uns bleibt weniger Zeit, als ich angenommen habe. Du mußt dich mit Chester zusammensetzen und mit ihm erörtern, was man im Hinblick auf Spinne-Propagandasendungen tun kann.«
»Ngen hat losgelegt?« Rita stützte sich auf einen Ellbo gen. »Eine Milliarde Tote? So schnell? Heiliger Spinne, das ist ja wie ein zweiter Sirius.« Verkniffenen Gesichts widmete Ree ihr einen harten Blick, ehe er sich an Susan wandte. »Wie steht's um Pike?« Mit einem Becher frischen Kaffees rückte Susan sich im Sessel zurecht, sah Ree an. »Er lebt. Die Bordklinik hat ihn in die Genesungsabteilung verlegt, seine Bauchfellent zündung hat man sowohl septisch wie auch chemisch unter Kontrolle. Laut Geflügelter Stier Reesh hat er mit seinem kleinen Messerchen sogar einen Coup errungen.In zwei Wochen wird die Bordklinik ihn entlassen.« Verärgert stieß Ree einen Schwall Atem durch die Zähne. »Verfluchter Scheißkerl! Wir wollten ihn doch wegen seines Köpfchens, nicht damit er ... Ist er reisefä hig?« »Er hat 'ne Bauchverletzung«, antwortete Susan mit einem Achselzucken. »Aber der sirianischen Ärztin zufolge müßte sie sauber verheilen.« »Dann soll sie auf dem Flug nach Basar heilen. Ich möchte, daß er sich persönlich ansieht, was dort vor sich geht.« Ree widmete seine Aufmerksamkeit Rita. »Majo rin, Sie fliegen unverzüglich mit drei Schiffen nach Basar. Maya hat uns drei BK abgetreten. Blaster und Schutzschirm-Generatoren stehen zum Verladen bereit und wer den während des Flugs montiert.« Er rief die Dateien ab, die ihm Maya übermittelt und die er gespeichert hatte. Auf den unter der Decke instal lierten Monitoren erschienen Gebilde, die aufgerissenen, verbeulten Blechbüchsen ähnelten. »Ich will, daß Sie 'ne Vorstellung davon erhalten, gegen was für einen skrupel losen Gegner wir stehen. Das sind einige der betroffenen Stationen in Mayas Raumsektor.« Die Aufnahme einer Planetenoberfläche folgte. »Das ist Reinland nach einem Vorbeiflug der Deus-Padri. Maya sagt, derartige Überfälle finden überall im Direktorat statt. Diese Taktik hat offen
sichtlich den Zweck, die Kräfte der Patrouille zu binden und Ngen mehr Zeit zur Stärkung seiner Operationsbasis zu erschinden.« »Darf ich unterstellen, daß wir in seinen Sonnensyste men nach Belieben verfahren können?« fragte Neal. »Seine Taktik auch gegen ihn anwenden?« »Selbstverständlich.« Der Reihe nach blickte Ree in die Gesichter der Anwesenden. »Ich will, daß er in die Defensive zurückgedrängt wird, damit die Patrouille wie der mehr Handlungsspielraum erhält. Nehmen Sie eine Abteilung Sturmtruppen an Bord jedes Schiffs. Jede KT kann zwei ST befördern. Passen Sie gut darauf auf, sie sind Ihre einzige Möglichkeit, um Leute nach unten und zurück in den Orbit zu transportieren. Die BK sind für pla netare Landungen ungeeignet.« »Versorgungsraumschiffe sind nicht besonders groß«, sagte Rita. »Sie bestehen fast nur aus dem Reaktor.« »Stimmt«, gab Ree zu. »Darum habe ich Giorj in sei ner angeblichen Freizeit die Baupläne durchsehen lassen. Er ist, genau wie ich, der Ansicht, daß wir pro BK nur vier schwere Fujiki-Blaster montieren können. Mehr müßten zuviel Reaktorenergie verbrauchen und die Transportka pazität entweder an Sturmtruppen oder ST verringern. Es ist 'n Kompromiß, aber besser läßt's sich nicht einrichten. Berücksichtigen Sie, daß Van Chow auch diesmal FLF umbaut, und offenbar rekrutiert er arpeggianische Besat zungen. Besonders starke Schutzschirme werden Sie nicht haben. Ihr einziger Vorteil ist, daß Sie die schnellsten Raumschiffe der Galaxis fliegen und über Fujiki-Blaster verfügen, die mit etwas Glück seine durch Bruderschafts technik verstärkten Schutzschirme durchdringen ... Außer natürlich, er hat aus den Computern auf Frontier neue wissenschaftlich-technische Kenntnisse gemolken.« »Zuschlagen und abhauen«, sagte Susan mit bösarti gem Lächeln. »Ich glaube, das kriegen wir hin, Admiral.« »Ihre Aufgabe wird eine etwas andere sein, Komman dantin Andojar. Ihre Hauptverantwortung ist es, dafür zu
sorgen, daß dieser blöde Anthropologe am Leben bleibt und sich aufschlußreiche Eindrücke von Basar, Mysterium und, wenn möglich, auch Arpeggio verschafft, während Rita und Neal Ihnen die Padri vom Hals halten. Ist das klar?« Susans Gesicht lief rot an. Ich soll diesen idiotischen Weichling spazierenführen, während Rita und Iverson allen Ruhm allein einheimsen ? »Bei allem Respekt, Sir, ich habe ausreichende Kampferfahrung, um ...« »Wenn Sie sich den Job nicht zutrauen, Kommandan tin, wird Mosche ihn erledigen, da bin ich sicher. Ich habe speziell Sie ausgesucht, weil Sie mehr Erfahrung im Erd kampf als die Mehrzahl unserer Offiziere gesammelt haben.« Ree beugte sich vor, bezähmte die Heftigkeit sei nes Tonfalls. »Dieser Krieg wird nicht durch Überra schungsangriffe gewonnen. Die bessere Informationslage und die durchdachtere Strategie werden ihn entscheiden.« Unwillkürlich schluckte Susan, ihre Gedanken über schlugen sich. »Jawohl, Sir. Ich habe völlig verstanden, Sir. Wir wollen keine Wiederholung des Sirius-Debakels. Wir müssen eine akkurate Einschätzung aller Stärken und Schwächen Ngens vornehmen, bevor wir eine Strategie und Taktik erarbeiten können, die seine Niederlage garan tiert.« »Also keine Heldentaten.« Einen Moment lang schwieg Ree. »Ich weiß, Sie haben's auf Ngen abgesehen, Susan. Wir schnappen ihn Ihnen — aber es darf auf keine unvernünftige, sondern muß auf überlegene Weise gesche hen.« »Keine Heldentaten, Admiral. Ich begleite den Anthro pologen hin und zurück.« »Ausgezeichnet.« Ree nickte, wandte sich als nächstes an die gesamte Runde. »Was wir uns nicht erlauben dür fen, ist Subraum-Transduktions-Funkverkehr zwischen Basar und Welt. Dazwischen erstreckt sich zuviel Welt raum. Egal wie dicht die Abstrahlung gebündelt wird — und die Ausstattung von BK hat in dieser Hinsicht Gren
zen —, irgendwer könnte sie auffangen. Sie werden also dort auf sich gestellt sein. Die Entscheidung, wann Sie genug Informationen erlangt haben, um mit einem Bericht zurückzukehren, überlasse ich Ihrem Urteilsvermögen. Natürlich haben Sie auch in dieser Beziehung eine gewis se Handlungsfreiheit. Sollte Ngens Lumpenbande Ihnen auf die Schliche kommen, hätte die Beibehaltung der Funkstille keinen Sinn mehr. Wie soll ich mich ausdrük ken? Benutzen Sie Ihren Grips. Und denken Sie daran, auf Hilfe seitens der Patrouille können Sie dort nicht hoffen. Wahrscheinlich würde sie genauso gern wie Ngen auf Sie schießen.« »Herrliche Aussichten.« Rita schürzte widerwillig die Lippen, während sie Eisenauges düsteren Blick erwiderte. »Warum versuchen wir nicht einen Durchbruch mit der Projektil?« erkundigte sich Iverson. »Weil wir nicht wissen, welche Erkenntnisse er aus den Bruderschaftsdateien gewonnen hat, ehe er von Freitag gestört worden ist. Wir gehen davon aus, die Projektil ist das machtvollste Kriegsschiff der Galaxis, aber nachdem Ngen Zugriff auf die Datenspeicher Frontiers gehabt hat, will ich das Raumschiff keiner unnötigen Gefährdung aus setzen. Zudem möchte ich nicht starten, ehe sie wirklich in Bestzustand ist. Ich glaube, Sie erinnern sich noch daran, was im Siriussystem passiert ist, als die Projektil keine hundertprozentig optimale Form hatte. Außerdem könnte Ngen, falls wir Welt ohne Schutz lassen, hier das gleiche wie auf Reinland anrichten. Freilich läßt sich so oder so nicht jedes Risiko ausschließen. Verfügt er über irgend welche neue Supertechnik und kreuzt damit hier auf, sind wir sowieso verloren. Es ist durchaus möglich, daß Sie auf eine Selbstmordmission fliegen. Aber es ist ja nun einmal so« — Ree lächelte —, »daß Spinne uns keine Verspre chungen gemacht hat, nicht wahr?« »Sind schon Sturmtruppen abkommandiert worden?« wollte Iverson wissen. »Nein, Sie können die Abteilungen selbst zusammen
stellen. Ich erwarte, daß sich genügend Freiwillige mel den. Beachten Sie, daß Sie sich im Einsatzgebiet alle Op tionen offenhalten müssen, also suchen Sie Leute aus, die eine Pilotenausbildung haben. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit zum Kapern einiger FLF. Wir können alles gebrauchen, was irgendwie raumflugtauglich ist, vom be waffneten Raumboot bis zum Transporter. Station Tygi hat in den vergangenen drei Monaten mit voller Kapazität gearbeitet, und an den Docks stapelt sich das Material für den Transfer nach Welt. Der Laderaum ist knapp. Ich habe eine Anzahl weiterer Weltraumstationen in die Produktion einbezogen. Gleichzeitig ist unser sirianisches Protektorat auf Hochtouren gebracht worden und stellt jetzt Schutz panzer, Blaster und Komponenten sonstiger militärischer Güter her.« »Also sind wir ziemlich gut auf alles vorbereitet?« »Wie gut unsere Vorbereitungen sind, hängt von recht vielen Variablen ab«, gestand Ree, schob seinen ver schmuddelten, halb eingedrückten Becher in die Öffnung des Getränkespenders und drückte die Kaffee-Taste. »Ich habe versucht, Chester danach auszuhorchen, was er in der Zukunft sieht. Er sagte, es wären noch zu viele Cusps zu entscheiden, und auf lange Sicht würde alles ohnedies kei nen Unterschied ausmachen. Propheten können mich wirklich aufregen. Hat jemand noch Fragen?« Er schaute umher. »Was ist mit John?« fragte Rita. »Eisenauge bleibt hier.« »Warum?« hakte Rita nach, und ihre Augen nahmen einen unterkühlten Ausdruck an. »Wenn jemand versteht, was Ngens ...« »Weil ich nicht beabsichtige, meine tüchtigsten Leute allesamt im Einsatz gegen die Padri zu riskieren.« Rees Miene spiegelte ähnlichen, halb mit Zorn vermischten Mißmut, als er sich umdrehte und Majorin Sarsa anblick te. »Ich will Eisenauge hier haben, damit wir versuchen können, eine gangbare operative Planung auszuarbeiten.
Oder kennen Sie einen fähigeren Offensivtaktiker als den Kriegshäuptling, Majorin?« »Sch ...« John Smith Eisenauge legte, während er Sar sas Hand ergriff, einen Finger auf die Lippen. »Ich glau be, Damen braucht etwas, das ihn auf Trab hält. Er hat weder das Herz noch die Seele eines Räubers.« Rita schenkte ihm ein grämliches Lächeln und ihre Aufmerksamkeit wieder Ree. »Nein, ich weiß niemand, der darin besser ist, Admiral. Keine weiteren Fragen.« Rita gefiel die Sache sichtlich überhaupt nicht. Zum erstenmal seit Sirius, seit der Tragödie von Phillips Tod, sollte sie John nicht bei sich haben. Er mußte ihr bitterlich fehlen. So wie ich hätte Freitag vermissen müssen, dachte Susan kummervoll, spürte Beklemmung in ihrer Brust. In den verborgensten Regionen ihrer Seele regten sich die Alpträume und sandten eisige Fühler in ihr Gehirn aus. »Sie werden laufend unterrichtet, wenn neue Informa tionen eintreffen«, sagte Ree. »Das wär's für diesmal.« Susan stand auf und wandte sich zum Gehen. »Kom mandantin Andojar«, rief Ree ihr nach. »Einen Moment bitte.« Susan machte kehrt. »Behalten Sie diesen verfluchten Dummkopf bis zum Abflug im Auge, ja?« »Jawohl, Sir«, gab Susan zur Antwort, fühlte ihren Mut sinken. »Aber ich brauche ein wenig Zeit für mich, Sir, um sie auf einem Berg zuzubringen. Ich muß mich mit mei nem Geisthelfer verständigen.« Ree nickte, eine Andeutung von Sanftmut lockerte die harten Umrisse seines Munds. »Dafür habe ich Verständ nis. Tja, dann ... stellen Sie einfach solange jemanden als Aufpasser für ihn ab. Halten Sie ihn von allen Unan nehmlichkeiten fern. Eine Bärenjagd, um Gottes willen! Menschenskind, wie ist er bloß auf so 'ne Idee gekom men?«
15
CHACA GARCIA GELBES BEINS STALL IN DER SIEDELEI AUF WELT
Patan Andojar Garcia saß allein im Dunkeln, fand nur in den Geräuschen der Pferde Trost, die sich vor ihm im Pferch regten. Er kauerte in der Finsternis auf einem Holz pfosten und schaute empor zu den Sternen. Er war erst achtzehn und immer ein schlaksiger, von Träumen besessener Junge gewesen. Zwischen seinen kantigen Gesichtsknochen wirkten seine Augen groß. Die schmale Nase stach aus dem Gesicht wie ein Dolch. Den Wölbungen seiner Lippen sah man eine empfindsame Natur an, die ihn für die Beschwernisse des Kriegs und Weltraums ungeeignet machte. Als jüngster Sohn und zudem Außenseiter hatte Patan stets im Hinterland Vie hund Pferde gehütet und war mit diesem Dasein zufrieden gewesen. Er hatte die Freiheit gehabt, mit seinen Träumen zu leben — und den abartigen Visionen, die ihn im Schlaf heimsuchten. Jetzt hatten die Träume sich, als wären vertraute Freun de zu Rasenden geworden, gegen ihn gekehrt. Er schöpfte tief Atem und rieb sich die Augen, als könnten die kläglichen Bewegungen eines Daumens und Zeigefingers die Bilder aus seinem Gehirn verscheuchen. Tagelang hatte er nicht gegessen. Er konnte nicht mehr essen. Während der langen Nächte zwang Patan sich zum Wachbleiben. Er fühlte sich müde bis in die Knochen, litt fürchterlich, war körperlich und geistig erschöpft. Wenn in seinem Hirn besonders abscheuliche Bilder erschienen, verließ er die Siedelei, lief hinaus in die Wildnis, weit fort selbst von den Viehherden und den gelangweilten Wachen, und schrie in die Dunkelheit, versuchte so, sei nem Geist auszutreiben, was sich ihm an schrecklichen Anblicken aufdrängte.
Er betastete den Kriegsdolch an seinem Gürtel. Viel leicht bestand letztendlich daraus die Lösung. Er brauchte nur den langen, kalten Stahl aus der Scheide zu ziehen, die Spitze auf die Magengrube unterhalb seines Brustka stens zu richten, sie hineinzubohren und dann die Klinge aufwärtszuschieben. Danach würde er in Spinnes Frieden von den Visionen, die aus den Randbereichen seiner See le auf ihn einschwirrten, verschont bleiben. Gegenwärtig beherrschte diese Vorstellung ihn regel recht. Er sah es vor sich, wie er das Messer aus dem Gür tel zückte. Und bei diesem Tagtraum reagierten seine Muskeln auf das, was er sah. Diese Verschmelzung von geistigem Bild und Wirklichkeit verblüffte Patan gründ lich. In Vision und Wirklichem schwamm das Gefühl des Ledergriffs ineinander, als ob die Zeit sich verwischte, dehnte. Im voraus konnte er beobachten, wie er sein Hemd aufknüpfte. Patan spürte schon, wie seine Finger an den aus Knochen gefertigten Knebelknöpfen nestelten. Auf seiner warmen Haut fühlte er die kalte, scharfe Stahlspit ze, sie kitzelte ihn, während das Gewicht des Messers unter seinem Herzen lastete. Ein so stark eindringlicher, an genauen Einzelheiten reicher Tagtraum hatte Macht über die Wirklichkeit. Patan stand vor dem Sterben. Er merkte, wie er, indem er, wo er hockte, sorgsam das Gleichgewicht wahrte, seine Haltung verkrampfte, seine Hände umfaßten fest das Leder des Messergriffs, um dagegen vorzubeugen, daß die Klinge womöglich im letz ten Augenblick abrutschte. Sein Tagtraum-Ebenbild zuk kte heftig zusammen, als es das Messer tief in den Leib rammte, fremd und eisig durchbohrte der Stahl das Fleisch, ein gelindes Brennen begleitete den Stoß. Aus der durchstochenen Herzwand schwallte heißes Blut. Er ver spürte keine Furcht, keinen Schmerz, hatte lediglich ein geradezu wonniges Gefühl des Wegschwebens. Patan spannte krampfhaft die Muskeln an, fühlte seine Faust, so wie im Tagtraum, den festen Ledergriff kraftvol
ler packen. Er holte Atem, nicht anders als er es vorher gesehen hatte, und schloß die Lider, um das Erlebnis des eigenen Todes voll auszukosten, dessen Wonne er nun wahrhaft ersehnte. »Du siehst, es ist gar nicht so schwer«, sagte aus dem Dunkel eine Stimme. »Und doch scheuen Menschen diese Schwelle ihr Leben lang.« Patan öffnete die Augen. Diese Stimme hatte er im Traum noch nie gehört. »Wer ... wer bist du? Bist du ...auch eine Traumgestalt?« »Nein. Du hast mich gerufen, und ich bin gekommen.« Die gütige Stimme besänftigte Patans zermürbte Nerven. »Ich habe niemanden gerufen, Geist. Ich suche keine Vision. Ich habe bereits zu viele gehabt.« Unverändert hielt Patan das Messer auf seine Magengrube gerichtet. Jetzt zuckte kein Muskel seines Körpers mehr. »Ich bin kein Geist.« Die Stimme sprach in freundli chem Ton. »Ich bin so stofflich wie du.« Aus der Dunkel heit trat ein menschlicher Umriß, schwang sich mühelos neben Patan auf die Umzäunung des Pferchs. Der Ju gendliche bemerkte, wie die Balken sich unterm Gewicht des Mannes bogen, hörte sie knarren. »We ... wer bist du?« »Ich bin Chester Armijo Garcia. Manche Menschen nennen mich einen Propheten.« Nun seufzte die Stimme leise wie der Wind. »Dich kenne ich nicht aus den Visionen«, flüsterte Pa tan wie im Selbstgespräch. »In deinen Visionen bin ich nicht enthalten. Sage mir, was du siehst. Es bleibt in meiner geistigen Sicht unklar, deine Furcht trübt es, aufgrund des Bevorstehens deines Cusps, einer Entscheidung deines freien Willens, bleibt es verschleiert.« »Ich sehe meinen Tod«, antwortete Patan heiser. »Ich weiß, daß alle Menschen sterben müssen. Aber ich schaue meinen Tod in vielerlei Weise. Ich bin schon, siech von Krankheiten, in hohem Alter gestorben. An Stätten, die
nicht auf dieser Welt sind, hat man mich durch schauder hafte Martern getötet. Mitten im Weltraum bin ich umge kommen, mein Körper ist aufgeplatzt, Blut schoß mir aus den Lungen, mich umgab keine Luft. Und am gräßlichsten war, daß ich ... Ich bin gestorben, während ich mich ver irrt hatte, verirrt in ...« Ihm entfuhr ein Aufschrei. »O Spin ne, nein! Nicht so!« Geduldig wartete der Mann ab. Patan ordnete seine Gedanken, unterdrückte die Vor stellung seines Todes im Wahnsinn. »Ich will sagen, ich bin schon tausendmal gestorben. Ich kann's nicht mehr ertragen, in der Einbildung fortwährend zu sterben.« »Warum hältst du dir die Bilder nicht fern?« fragte Chester, faltete die Hände im Schoß. Patan senkte das Messer und hob die Schultern, die grausige Schneide glänzte im schwachen Schein der Ster ne und Dritter Monds. »Ich kann dagegen nichts tun. Weißt du, irgend was in meinem Verstand ... Es zwingt mich zu sehen. So grauenvoll die Visionen auch sind, sie nicht zu sehen, wäre jedenfalls noch schlimmer.« »Könnte es sein, daß du ein Prophet bist?« »Ein Prophet? Ich? Ein ...? Ich bin nur 'n armer Junge.« Bei dieser Äußerung versteifte sich Patans Haltung. »Mein Vater ist tot ... Meine Mutter besitzt nichts. Ich bin kein ... kein Prophet, nur ein ...« »Jeder Tod, den du schaust, ist eine mögliche Wirklich keit. Davon abhängig, wie Cusps entschieden werden, kann jeder von ihnen eintreten. Hätte ich dich nicht ange sprochen, lägst du jetzt tot im Pferch, und deine Seele stie ge zu Spinne empor, während dein Blut den Dung tränkte. Du siehst deshalb ausschließlich Tod, weil deine Furcht deine Visionen beschränkt. Entscheidest du dich fürs Sehen, wirst du sehen. Wenn du dich dazu ent-schließt, statt deiner selbst deine Furcht zu töten, und wenn du stark genug bist, um deinen bisherigen Begriff davon, wer und was Patan Andojar Garcia ist, völlig aufzugeben, wird dir die Gesamtheit der Visionen zuteil werden. Weißt du, die
große Wahrheit dabei ist, du kannst nicht Patan bleiben. Heute abend mußt du dieses falsche Selbst abstreifen und eins mit Zeit und Spinne werden. Das ist dein Cusp, die Entscheidung, vor der du stehst. Gleich wie dein Ent schluß ausfällt, mit Patan wird es am heutigen Abend hier in diesem Pferch ein Ende nehmen. Spinne hat dich auser wählt, junger Freund.« Patan schloß die Augen. Diesen Moment hatte er ge fürchtet. Es schauderte ihn; seit er fünfzehn gewesen war, rangen in ihm Besessenheit hinsichtlich der Visionen und seine Furcht miteinander. Auf die eine oder andere Weise mußte er Frieden finden. Ähnlich wie in der zweigeteilten Vision, die er einmal nach einem Sturz vom Pferd gehabt hatte, sah er sich un deutlich in zweifacher Ausgabe, ein Patan lag blutig und tot im Mist, der andere schritt mit Chester davon in die Zukunft. Vielleicht konnten seine Träume dank dieses Mannes, der ihn allem Anschein nach verstand, eines Ta ges wieder froher Art werden. Mochte das Spinnes Weg sein? »Die Träume ... Ich vermisse die Träume. Was muß ich tun, um Prophet zu werden? Zu sehen bin ich bereit.« »Komm, wir werden in die Berge hinaufsteigen, und ich werde dich lehren, deine Furcht abzulegen. Ich werde dir zeigen, daß es Patan Andojar Garcia nicht mehr gibt.« Chesters Stimme bezeugte Herzlichkeit und Aufmunte rung, beschirmte wie ein Mantel gegen das Entsetzen in Patans Gemüt. Dicht vor dem Pferdepferch lag vergessen der Kriegs dolch auf dem Boden. *
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PLAZA DER SIEDELEI VOR DEM WRACK DER NIKOLAI ROMANAN AUF WELT
Tief in Susans Gedächtnis schlummerten noch die Erinne rungen an die alten Zeiten. Sie entsann sich des Schic ksals, das sie gehabt hätte, wäre sie nicht in Rita Sarsas Obhut genommen worden, hätte sie nie die Chance erhal ten, zu den Sternen zu gelangen. Jetzt schritt sie, nachdem sie aus dem ST geklettert war, hochaufgerichteten und zurückgebogenen Kopfs über den Platz. Hier auf der Plaza hatte sie sich einmal wie ein eingeschüchtertes Tier geduckt, die Blicke der Menschen gescheut, sich vor ihrem Onkel und seinen Verwandten gefürchtet. Niemand schenkte ihr auffällige Beachtung, doch sie merkte, daß man sie beobachtete. Etliche junge Mädchen nickten bei sich und gaben sich dann wieder ihrem Lern eifer hin. Die älteren Männer und Frauen warteten, bis sie vorüber war und sie sie nicht mehr im Blickfeld hatte, bevor sie den Kopf schüttelten und den Tag beklagten, an dem Frauen damit begonnen hatten, ins All zu fliegen und sich Gedanken über Spinnes Absichten zu machen. Gegen alle, die den Mund zu laut aufgerissen hatten, war stets die Messerfehde eine Abhilfe gewesen. Susan hatte eine Sammlung von acht romananischen Coups. Das Gefühl des glänzenden Haars, wie es durch ihre Finger glitt, verzog ihre Lippen zu einem grimmiges Lächeln. Die Klinik hob sich augenfällig vom braungelben Hintergrund ab. Sie war ein aus Schaumstahl und Graphit fabriziertes Produkt Sirius' und stand in deutlichem Kon trast zu Leder, Holz und Stein der älteren romananischen Bauten. Am Eingang zögerte Susan, schüttelte dann den Kopf und trat ein. Hochgestützt betrachtete Pike auf einem Bildschirm irgendwelche Zahlen; die Mitte seines Körpers stak im unregelmäßig geformten Gehäuse der Med-Einheit. Aus dem unteren Ende ragten seine unglaublich blassen Füße; nervös bewegte er die Zehen. Susan verweilte am Moni tor, um sich als erstes über Pikes Verfassung zu informie
ren. Alles beschädigte Gewebe war zusammengewachsen und verheilte gegenwärtig bis in die Zellebene, während spezielle Elektroströme, Polymerasen und Strahlung zum Einsatz gelangten, um die Verletzungen der Organe zu beheben. Resigniert atmete Susan tief durch und ging zu Pike, der konzentriert las. Auf dem Antigrav-Tisch neben sei nem Platz lag ein langes romananisches Messer. Lässig nahm sie es in die Hand, prüfte Gewicht und Schneide. Pike fuhr zusammen. Susan sah die Santos-Gravuren auf der Klinge und lachte. »Ein Andenken? Oder hast du be schlossen, nachdem du von dem Santos gestochen wor den bist, daß du 'n größeres Messer brauchst?« Sie ver suchte zu verhindern, daß man ihrem Tonfall ihre Lange weile anhörte. Warum mußten seine Augen jetzt so auf leuchten? »Freut mich, daß Sie mal reinschauen.« Pike wies auf die Med-Einheit. »Ich würde gerne gleich mit Ihnen das Nahkampftraining fortsetzen, aber wie Sie sehen, wär's schwierig. Ich bin mit den Lektionen im Rückstand. Wenn ich dazulerne ... Vielleicht komm ich dann das nächste Mal mit heiler Haut davon.« »Wir sind mit der gesamten Planung um einige Tage zurück. Wir nehmen ein anderes Raumschiff. Die Patrouil le stellt uns schnellere Schiffe zur Verfügung. Ich glaube, bis zum Start sind Sie aus der Klinik entlassen.« Susan setzte sich auf die Kante des Antigrav-Tischs, ließ einen Fuß baumeln. »Wer waren diese Santos-Typen?« wollte Darwin er fahren. »Wieso, zum Teufel, sind sie einfach über uns her gefallen? Der Bär hatte mir den Tag ja wirklich schon schwer genug gemacht.« Susan hob die Schultern. »Die Santos durchlaufen eine angespannte Periode. Ihre Religion befindet sich im Niedergang. Die politische Macht hat das Spinnenvolk. In den letzten Jahren sind aus den Santos keine neuen Pro pheten hervorgegangen, und ihre Welt unterliegt beträcht
lichen Veränderungen. Manche verzweifeln. Du bist der Anthropologe, erkläre du mir ihre Verzweiflung. Was tun Krieger, wenn sie sehen, wie ringsum ihre Art zu leben verfällt?« »Sie gründen eine Erneuerungsbewegung. Veranstal ten Geistertänze. Allerlei nativistischen Aktionismus.« Susan winkte hinüber zur östlichen Wand. »Sie haben in den Bergen zu Herrjesses' Ehren Tänze abgehalten. Ich habe gehört, daß beim Tanz im letzten Jahr vier Männer ans Kreuz genagelt worden sind, einer für jeden heiligen Festtag. Vorher hatten sie nie so viele gekreuzigt.« Sie besah sich das neue Bärenfoto. Reesh hatte erzählt, eigentlich hätte Darwin den Tod finden müssen. Er hatte dem Bären einen außergewöhnlichen Kampf geliefert. Mit seinem Spielzeugmesser hatte er wahrhaftig dem Tier einen Saugteller abgetrennt und es, nachdem er von ihm auf eine Klippe gehetzt worden war, doch noch erlegt. Die Geschichte kursierte ununterbrochen durch die engverf lochtene romananische Volksgemeinschaft und wuchs bei jedem Weitererzählen zu immer unwahrscheinlicheren Formen an. Pike wurde zu einem Lokalhelden. »Vier Männer haben sie ans Kreuze genagelt? Meine Güte, das muß aber schmerzhaft sein. Sie müssen da durch 'n erheblichen höheren sozialen Status erlangt ha ben.« »Das würde ich auch sagen.« In Susans Stimme klang Sarkasmus an. »Normalerweise dauert's drei Tage, bis sie sterben. Das verschafft ihnen ganz schön hohes Ansehen.« »Sterben?« »Kann jemand seinem Volk ein größeres Opfer dar bringen? Sie glauben tatsächlich, daß Herrjesses auf genau diese Weise getötet worden sei, für ihre Ahnen gestorben, damit sie in immerwährender Freiheit leben könnten.« »Nativistische Erneuerungsaktivitäten«, konstatierte Pike halblaut. »Sie versuchen die Geisterwelt zu versöh nen. Es handelt sich um verzweifelte Versuche, Gottes
Gunst wiederzugewinnen.« Tiefe Falten furchten seine Stirn. »Sind weitere Veränderungen zu beobachten? Selbstmord? Alkoholismus? Drogenmißbrauch?« »Woher weißt du das? Man hat in letzter Zeit zahlrei che betrunkene Santos umherstrolchen gesehen. Was Selbstmorde angeht, habe ich keine Ahnung. Allerdings hat man mir von Santos-Banden erzählt, die von sich be haupteten, gegen Blaster gefeit zu sein, und zahlenmäßig weit überlegene Gruppen von Spinnenkriegern angegrif fen haben. Keiner dieser Santos hat überlebt, also ist kei ne Tradition daraus geworden. Außerdem verwickeln sich die Santos auch untereinander in Kämpfe, weil jene, die sich unseren Clans anschließen und ins Weltall fliegen, von den Hügelbewohnern gehaßt und verabscheut werden. Die Santos stellten einmal die Mehrheit der Romananer, jetzt dezimieren sie sich gegenseitig.« »Und Krankheiten grassieren auch bei ihnen?« »Sie sind ja wirklich tüchtig, Doktor. Aber woher ...?« »Naturgemäß haben wir eine außerplanetare Mikrofauna eingeschleppt, die sich jetzt bei den Traditionalisten aus breitet.« Pike hob den Blick. »Was ihr gegenwärtig bei den Santos geschehen seht, hätte euer Volk ebenfalls be troffen, wäre es nicht durch einen maßgeblichen Faktor verhütet worden.« Mit verzerrtem Mund warf Susan ihm einen Blick des Unmuts zu. Ihr Volk hätte zu Abschaum vom Schlag der Hügel-Santos erniedrigt werden können sollen? Ausge schlossen. »O doch.« Darwin wirkte seiner Sache völlig sicher. »Das Spinnenvolk wäre den gleichen Weg gegangen. Es gibt keine Goldene Regel, die besagt, Charakterfestigkeit oder Persönlichkeitsstärke böten gegen negative Akkul turation Schutz. Der Grund, weshalb das Spinnenvolk überlebt, sind die Propheten ... und die auswärtige politi sche Situation. Ihr habt etwas, das der Rest der Mensch heit dringend benötigt.« »Das mußt du mir mal erklären.«
Darwins Miene spiegelte Freude wider. »Die Prophe ten ermöglichen eurem Volk Synkretismus.« Er sah Susans Gesicht ihre Ratlosigkeit an. »Das ist die Fähig keit, äußere Einflüsse hinzunehmen — Verhaltensweisen, Technologie, alles mögliche eben — und in die eigene gesellschaftliche Struktur zu integrieren, ohne die Kultur als Ganzes unzumutbaren Belastungen zu unterwerfen.« »Wir haben nun einmal unsere eigenen Methoden, wie wir ...« »Als ihr zum Sirius geflogen seid, hat euer Prophet Garcia die offizielle Direktoratspolitik zu euren Gunsten beeinflußt. In der Anfangszeit des Kontakts zwischen der Patrouille und eurem Planeten haben eure Ältesten dem Volk dargelegt, wie die absehbaren Veränderungen sich auf alle auswirken würden. Also habt ihr zu entscheiden die Möglichkeit, was ihr in eure Gesellschaft übernehmen wollt und wie schnell die Wandlungen sich vollziehen dür fen, indem ihr ausschließlich erwünschte Elemente zulaßt und das übrige ablehnt, denn die Propheten können auch anleiten und euch die Weiterungen erläutern.« »Und das Direktorat, sagst du, braucht uns?« »Natürlich.« Zerstreut streckte Darwin eine Hand aus und befingerte das Santos-Messer. »Das Direktorat ist reif für den Sturz. Ein gigantisches Machtvakuum ist am Ent stehen. Die Bevölkerung hat in ihrer Gesamtheit nicht mehr die Befähigung, deren es bedarf, um in einer Wett bewerbswirtschaft das Leben zu sichern. Sie hat zu lange in Stagnation dahinvegetiert.« Susan lachte. »Wir nennen sie Schafe.« »Schafe? Kann sein, das paßt. Das Direktoratsregime war eine durch und durch artifiziell aufrechterhaltene An gelegenheit. Ein Meisterwerk gesellschaftlich gesteuerter Propaganda, einer über die Meinungen der Menschen aus geübten Kontrolle, ein totalorchestrierter, sich selbst per petuierender, zur Macht gewordener Mythos, unterstützt durchs Psychen gänzlich verstockter, nicht indoktrinierba rer Abweichler.«
Reserviert verschränkte Susan die Arme. »Solange Menschen noch ein Ehrgefühl haben, kann man sie nicht derartig an der Nase herumführen ...« »Selbstverständlich kann man's. Immer wenn Bildung manipuliert wird, werden dadurch auch die Menschen beherrscht. Folgendes ist der Beweis. Unter den Gesichts punkten der Anthropologie, der politischen Wissenschaf ten sowie der Ökonomie ist die Galaxis eine gänzlich freie Ressourcenquelle. Es dürfte keine Rangelei um Ressourcen wie Toron, Metalle oder Energie geben. Trotz dem wird darum geschachert. Das Direktorat hat eine künstliche Verknappung geschaffen. Freilich nicht über Nacht, es hat dreihundert Jahre gedauert, um das jetzige Stadium zu erreichen. Der Schlüssel bestand in der immer gründlicheren Kontrolle über Bildung und Kommunika tion. Nennen wir's mal das Ausstreuen einer Lüge. Und die Lüge wuchs und wurde zur Realität.« »Sicherlich haben Robinson und seine Handlanger die Menschen zu Schafen erzogen«, pflichtete Susan bei. »Aber die Leute haben doch selbst ein Gehirn. Sie hätten sich längst einen Weg überlegen können, um sich aus die ser Falle zu befreien.« Nachdrücklich schüttelte Darwin den Kopf. »Man kann es nur, wenn man vorher überhaupt erkannt hat, daß man in einer Falle steckt. Aber das ist den Menschen nicht klar gewesen, bevor Dr. Dobra trotz der Direktoratskon trolle über die Medien der gesamten Galaxis das Vorhan densein der Romananer mitteilte. Sie hat das System aus gehebelt, und binnen weniger Wochen hat es angefangen innerlich zusammenzubrechen.« »Also ist das die Ursache ... weshalb Ngen solche Macht gewinnt?« »Entsinnen Sie sich an meine Bemerkung über das Machtvakuum? Für die meisten Menschen ist inzwischen offensichtlich geworden, daß die Direktoratsregierung nur noch nominell existiert. Sie beginnen sich zu fragen, wo die wahren Autoritäten sind. Eine der Antworten bietet das
Höchste, Gott, Deus, wie man will. Die Bevölkerung ist desorientiert, verschreckt, sieht sich einem plötzlich feind seligen Universum gegenüber, darum sucht sie neue Sicherheit. Kriminelle, egoistische Führer, >starkeMän ner< und sonstige Machtmenschen finden Leute, die sich an alles klammern, was sie ihnen zu predigen belieben. Wir treten in eine Phase schwerer Prüfungen und Gewalt tätigkeit ein. Die Menschheit erlebt zur Zeit eine Periode des Kulturschocks, die schlimmer als die ist, die gegen wärtig die Santos durchmachen. Was wir bei den Santos an Beeinträchtigung des Imaginationslabyrinths beobach ten, ist eine Lappalie im Vergleich zu dem, was bald in der von Menschen besiedelten Galaxis los sein wird. Wissen Sie, es ist so, daß mittlerweile der erste Schreck abebbt. Die Leute verlangen nun Schutz und Stabilität. Offen ist einzig die Frage nach dem Preis, den sie dafür zu entrich ten bereit sind.« Pikes Ausführungen verursachten Susan ein Schau dern, sie rieb sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, mit den Händen die Arme. Ihr kamen Erinnerungen an Siri-us, wirr gingen ihr Bilder durch den Kopf: Grauen, ver-stümmelte Leichen, Blasterstrahlen zersprengten Leiber in Fet zen menschlichen Fleischs, Entsetzen in den Augen niedergeduckter Menschen. »Narrenpack«, sagte Susan gedämpft. »Die Mensch heit wird nicht begreifen, was für eine Hölle sie entfesselt hat, bis sie über sie hinwegtobt. Heiliger Spinne, wenn sie richtig losbricht, wird sie kein Ende finden, bis wahllose Massenvernichtung soviel Blut und Tränen gefordert haben, daß man angesichts all des Elends und der scheuß lichen Greuel den ursprünglichen Anlaß aus den Augen verloren hat. Erst wenn das Leiden bis zu dem Punkt gediehen ist, an dem man vergißt, um was der Krieg geht, wird man Schluß machen. Ich hab's erlebt, Pike. Ich bin ... Ich bin dabeigewesen.« »Ach, geben Sie sich nicht mit Sorgen ab. Wir werden schon irgend etwas aushecken. So zügig wie Ngen sich
von Basar her ausbreitet, so rasch greift auch von Welt und Sirius aus Spinnes Einfluß um sich. Beide verkörpern Lösungsangebote, das eine ist möglicherweise schlecht, das andere gut.« »Du sagst, das Direktorat weist ein Machtvakuum auf.« Pike nickte. »Wenn die Patrouille uns nicht widerste hen kann«, meinte Susan daraufhin, »wäre es zum Schutz der Menschheit vielleicht am gescheitesten, vorsorglich im All eine möglichst ausgedehnte Pufferzone zu schaf fen.« Darwin hob die Schultern. »So eine Maßnahme könnte vernünftig sein ... Vorausgesetzt allerdings, man hat die Bereitschaft, auch den Nachteil hinzunehmen.« »Welchen Nachteil?« »Als Eroberer dazustehen. Wer erobert, wird umge kehrt von dem beherrscht, was er erobert hat. Anderer seits hat euer kleines Reich schon jetzt eine sichtbar be grenzte Dauer, die Zeit fängt bereits wieder abzulaufen an ... Ähnlich wie's vor langem der Konföderation erging. Sobald Menschen begreifen, daß freie Rede kein Verbre chen ist, sie merken, das Gehirn ist zum Denken da, ent ziehen sie sich jeder Herrschaft. Ihr befindet euch in einem wieder offenen System, und der Versuch, es trotz völliger Unregierbarkeit zu beherrschen, wäre das gleiche, wenn man so möchte, als wollte man Zäune in einem Universum ziehen, das keine Zäune kennt.« »So ein System wäre für uns erträglich.« »Was?« fragte Darwin; sein Blick drückte Fassungslo sigkeit aus. Voller Genugtuung lächelte Susan ihm zu. »Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht, Doktor.« Darwin merkte auf, in seinen Augen standen sowohl Irritation wie auch Erwartung. »Inwiefern getäuscht?« »Als Admiral Ree dich mir überstellt hat, bin ich ziem lich verärgert gewesen, weil ich keine Lust hatte — um an deine Ausdrucksweise anzuknüpfen —, als deine Beschüt zerin sozusagen 'n Zaun um dich zu ziehen und dich vor
Verwicklungen zu bewahren.« Die Hoffnung wich aus Darwins Miene. »Jetzt verstehe ich allmählich, weshalb der Admiral einen derartigen Wert auf deine Gesundheit legt.« Pike stieß ein langgezogenes Stöhnen aus. »Kriege ich nicht mal 'n Danke«, fügte Susan hinzu, während sie ihm ein flüchtiges Lächeln schenkte, »für die Rückgabe deines Holos zu hören?« Mit lauerndem Blick sah Pike sie an. »Ich weiß deinen Großmut zu schätzen.« Seine Stimme klang hart. »Also stehe ich jetzt in Ihrer Schuld.« Susan versuchte, die Sache mit einem Achselzucken zu übergehen. Das blöde Ding war ihr in ihrer Kabine nur im Weg gewesen. Außer in bezug auf die Gelegenheit, sich mit Pike zu messen, hatte es für sie keinen Wert gehabt. Als sie hörte, daß er verletzt worden war, hatte sie es ihm bringen lassen. »Nein, davon kann keine Rede sein«, entgegnete sie freundlich. »Sie sind also meine Aufpasserin?« Heißer Zorn hatte Darwin gepackt. »Dann hat der Admiral wohl das Gefühl, seinen kostbaren Anthropologen unter Aufsicht halten zu müssen.« »So ist es nicht gemeint«, erwiderte Susan; die Lüge schien ihr auf den Zähnen klebenzubleiben. »Wir haben nur Sorge, daß ...« »Sorge?!« schrie Pike. »Wieso denn Sorge, verdammt noch mal? Verflucht nochmal, ich bin ein Mensch, ich bin eben bloß nicht als Romananer geboren worden. Ich bin kein Bübchen, das 'n Kindermädchen braucht. Wie kann ein Mann sich eigentlich euren Respekt verdienen? Was muß ich dafür tun? Mit einem Finger Welten bewegen? In diesem Umfeld fühle ich mich ständig wie ein Fünfjähri ger. Ich werde von Majorin Sarsa herablassend abgefer tigt. Von Dr. Bruk werde ich herablassend behandelt. Und Sie springen wahrhaftig sogar doppelt so schlimm mit mir um!«
Auf den Monitoren der Med-Einheit entstanden extre me Ausschläge, die Meßwerte aktivierten die Automatik, die Darwin Pike unverzüglich in Schlaf versetzte. Gewissensbisse trieben Susan Schamröte ins Gesicht, während sie ihn betrachtete. Selbst im von der Med-Einheit aufgezwungenen Schlummer bildete der Unmut Krä henfüße an seinen Augen, hinterließ Falten um seine Lip pen. »Tut mir leid, Doktor.« Vielleicht fiel ihre Begegnung das nächste Mal besser aus. Susan checkte die Anzeigen, um festzustellen, ob der Wutanfall ihm womöglich irgendwelche gesundheitlichen Schäden zugefügt haben mochte, da kam ein Med-Techniker hereingestürzt. »Was ist passiert?« rief der Mann, warf einen Blick auf die Daten der Geweberegeneration. Susan schöpfte tief Atem. »Ich glaube, er ist auf uns sauer.« »Ich hatte den Eindruck, daß er 'n recht umgänglicher Mensch ist.« Susan sträubte sich gegen eine Anwandlung von Be klommenheit in ihrer Brust. »Ja, vermutlich ist er einer. Weißt du, es kann aber sein, genau das ist sein Problem.« *
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IN DER KLINIK DER SIEDELEI AUF WELT
Der Santos, in den schwarzglänzenden Augen ein scharfes Funkeln, raunte Darwin ins Ohr. Draußen in der Ebene stand der Bär, schien zu winken, versuchte ihn anzuloc ken. Beider Worte verschwammen und hallten, als ob Dar win sie durch Wasser hörte, unsichtbare Barrieren sie unverständlich machten. Verzweifelt bemühte sich Dar win, sie zu verstehen, erhaschte bisweilen einen Ansatz der Bedeutung, die ihm jedoch jedesmal sofort entglitt, so daß der Inhalt, die Aussagen, ihm ewig verwehrt blieben.
Ein bislang unbekannter Drang packte Darwins Seele. Wind strich ihm über den Rücken, krümmte Welts Gräser, trieb Darwin kraftvoll vorwärts. Er versuchte dem Bären zu folgen, der sich auf sechs bemerkenswert flinken Bei nen in die Richtung der Berge entfernte. Im Brausen des Winds verklang das Lachen des Santos, verwehte hinauf zu den steilen Felstürmen. Dort draußen lag die Antwort ... Irgendwo. Darwin senkte den Blick, ihm entfuhr ein Keu chen, als er sah, wie seine Füße ihm rotbraunen Lehm fest wuchsen, Gras trocken und braun um seine Fußknöchel raschelte. Immer wieder unternahm er Anstrengungen, um vom Fleck zu kommen, wand sich und zappelte, um sich aus dem zähen Erdreich, das ihn festhielt, zu befreien.
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Als Darwin die Augen aufschlug, gähnte er und schaute sich nach einem etwaig anwesenden Babysitter um. Dies mal war es Marty Bruk. »Wie geht's meinem Aufpasser?« »Ich bin kein Aufpasser«, widersprach Bruk. »Ich lei ste lediglich dafür Buße, daß ich Ihren Jagdausflug mit Reesh organisiert habe. Vielleicht möchte ich mich auch entschuldigen, weil ich für Ihren Schlamassel Mitverant wortung trage.« »Es nutzt nichts, Doktor. Ich sehe Ihnen an, was Sie beschäftigt. Sie sind unruhig wegen der Forschungszeit, die Sie hier durchs Rumsitzen verlieren.« Bruk zuckte die Achseln. »Susan ist oben auf den Hö hen. Sie hat seit gestern Urlaub. Reesh hat sich gleichfalls zum Beten in die Wildnis zurückgezogen. Und da alle weg sind, habe ich mich zwecks Aushilfe angeboten.« Er wink te ostwärts, wo am Horizont die Berge standen. Aus Darwins Unbewußtem schlich ein unheimlicher Drang in sein Gemüt. In seiner Erinnerung regten sich zer flossene Bilder aus den Träumen, als wollten, sie ihn nach Osten locken, erwartete ihn dort irgend etwas Außerge wöhnliches. »Was besagt der Monitor?« »Er zeigt an, daß Sie am Genesen sind. Ging's nach mir, würden Sie entlassen. Einiges Kollagen ist noch im Angleichungsprozeß ... Aber manche Leute schädigen sich die Darmflora mit starken Fürzen schwerer als Sie.« »Hören Sie zu, Marty, hauen Sie ab in Ihr Labor. Ich werde schon nicht durchbrennen.« »Die Kommandantin hat gesagt ...« »Eben haben Sie mir erzählt, daß Sie sich draußen in den Bergen aufhält.« Darwin schnitt eine Grimasse. »Ich weiß, Sie stehen unmittelbar vor einem Durchbruch, der's
Ihnen erlauben wird, die Gene des romananischen Hirns zu codieren. Also raus hier mit Ihnen, Sie bremsen den wissenschaftlichen Fortschritt.« »Der Admiral würde mir den Arsch aufreißen.« »Hören Sie, gehen Sie an 'n Kommu-Apparat und ru fen Sie ihn an.« Verdrossen gestikulierte Darwin. »Mich tät's verrückt machen, hier dazusitzen und mir 'n haarigen Alaskaner anzugucken, der rumliegt wie 'n Hot Dog im Brötchen.« »Tja, das wäre 'ne Möglichkeit. Falls der Admiral ein verstanden ist ... Ja sicher, ich werde ihn mal anrufen.« Bruk zuckte die Achseln und ging, ein schwacher Ansatz zur Hoffnung verlieh ihm einen froheren Gesichtsaus druck. Rasch blickte Darwin sich in der Klinik um. Das MedPersonal beteiligte sich vollzählig an einer Konsultation bei einer Med-Einheit am anderen Ende des Saals; darin lag ein von einem Pferd getretenes Kind, bei dem sich irgendwelche Komplikationen abzeichneten. Vorsichtig stemmte Darwin sich hoch, bewegte sich ganz langsam, um nicht den Alarm der Med-Einheit aus zulösen. Er summte vor sich hin, konzentrierte sich dar auf, seinen Herzschlag in normalem Tempo zu halten. Hätte er nicht so lange, hagere Gliedmaßen gehabt, wäre es ihm nie gelungen, sich aus der Med-Einheit zu schlän geln. Die Programmierung der Apparaturen sah keine Zwangsmaßnahmen vor, um unwillige Patienten am Aus steigen zu hindern, aber leicht war es nicht, sich ihrer Obhut zu entziehen. Darwin schaltete die Anlage ab. Er klappte die Fußstütze aus und schwang sich, nackt wie ein Neugeborener, auf die Beine. Mit einer Hand griff er sich seine Kleidung, schlich auf Zehenspitzen hinter einen Wandschirm und streifte die einteilige Montur über. Er hatte eine ansehnliche Narbe, mit deren Beseitigung die Maschine noch beschäftigt gewesen war, aber kam es auf eine Narbe mehr da oder dort noch an? Er nahm seine übrigen Habseligkeiten, darunter den romananischen
Dolch sowie den Skalp, den Reesh ihm überreicht hatte, und huschte zum Ausgang, befürchtete unterwegs, jeden Moment aufgeregtes Geschrei zu hören, schaffte es jedoch, sich unbemerkt ins abendliche Dämmerlicht hin auszustehlen. Er schnallte den Gürtel mit den Messern und dem Coup um und wandte sich nach Osten. Er hatte Marty Bruk fies hereingelegt, doch das erachtete er lediglich als gerechte Vergeltung dafür, daß alle ihn wie ein Gepäckstück behan delten. »Ich bin ein Mensch, keine Bibliotheksdatei voller an thropologischer Theorien oder wandelnde Enzyklopädie. Und das, Admiral, sollten Sie und Susan sich allmählich mal lieber merken!« Der Abendwind reizte ihn auf, weil er ebenso nach Osten wehte, auf die Verlockung des Gebirges zu. »So, jetzt bin ich frei. Aber wie gelange ich nun dort hin?« Als Beförderungsmittel bot sich ihm ein sirianisches Standardmodell-Airmobil an. Es stand in einem wackeli gen romananischen Schuppen geparkt, wahrscheinlich ei nem ehemaligen Pferdestall. Wie bei den meisten neuen romananischen Besitztümern, die eine solche Vorrichtung hatten, stak der Schlüssel im Schlitz. Ins Armaturenbrett hatte jemand mit einem scharfen Gegenstand — vermut lich einer Messerspitze — die Bedienungscodes gekratzt. Diebstahl war das letzte, worum ein Romananer sich Sor gen machte — außer in bezug auf Pferde und Frauen —, und das sollte sich fortan ändern. Darwin prüfte die Bat terieladung, lenkte das Airmobil ins Freie und flog es laut los in die östliche Himmelsrichtung. Was eine volle Woche Fußmarsch geworden wäre, blieb dadurch auf einen dreißigminütigen Flug beschränkt. Er steuerte das Airmobil hinunter in eine kühle Schlucht, ließ den Autopiloten den Biegungen und Windungen eines Flußbetts folgen, genoß das Licht der drei Monde, dank dessen die Nacht kaum dunkler war als ein wolkig düste rer Tag.
Das Flackern eines Feuers erregte seine Aufmerksam keit. Darwin senkte das Airmobil auf den Untergrund hinab und beobachtete den Umkreis des Feuers. Die Decke einer großen, finsteren Höhle warfen den Schein der Flammen zurück. Er sah zwei Pferde von der Stelle vorm Zugang des Unterschlupfs, wo sie grasten, zu ihm herüberblicken. Darwin zuckte die Achseln und flog das Airmobil hangaufwärts, stoppte es an der Tropfgrenze. Das kleine Feuer loderte in einer mit Steinen eingefaßten Grube; so weit Darwin sehen konnte, befand sich kein Mensch in unmittelbarer Nähe der Feuerstelle. Er spähte umher, rech nete halb damit, daß gleich zwischen den Felsen Santos heranstürmten, hielt für den Fall, daß Gefahr auftauchte, die Hand am Beschleunigungshebel. Doch niemand ließ sich blicken. »Hallo!« Nichts. Keine Antwort. Die Pferde schauten herüber, wieherten leise. Sättel und Packtaschen hatten Darwin in-zwischen geläufige Farben. Eine Fläche gegerbten Leders war sorgsam mit einer Spinne bemalt worden. Erleichtert desaktivierte Darwin den Antrieb des Air mobils. Er stieg aus dem Flugapparat und schlenderte zum Lagerfeuer. Am Rande der Kohlenglut dampfte der Inhalt eines kleinen Topfs. Darwin ging in die Hocke und strek kte die Hände aus, wärmte sie sich wohlig, schwelgte bald in Erinnerungen an vergangene Zeiten und andere Orte, an polares Packeis und runde, braune Gesichter voller Heiter keit, die lächelten und sangen, Scherze erzählten und alte Geschichten. »Ich hätte dich längst töten können«, rief die gutturale Stimme eines Romananers. »Das glaube ich gern«, räumte Darwin ein. »Ich bin . Darwin Pike, ein Fremdweltler. Wenn du's wünschst, ge he ich. Willst du mich nicht gehen lassen, kann ich dir ja immer noch Messerfehde schwören und mit dir mein
Glück versuchen. Heißt es bei eurem Volk nicht, daß kein Mensch ewig lebt?« »Spinne wählt eigentümliche Wege«, gab die Stimme zur Antwort. »Und um ehrlich zu sein, im Moment frage ich mich, was er damit, dich in diese Höhle zu führen, wohl bezweckt.« Hinter den Felsen kam John Smith Ei senauge zum Vorschein. »O nein ...!« stöhnte Darwin, schloß die Lider und schüttelte schwächlich den Kopf. Als er den Blick hob, sah er den Blaster in der großen, knotigen Hand des Kriegs häuptlings. »Naja, zum Teufel, 's war ein ganz guter Ver such.« Zu seiner Überraschung steckte Eisenauge den Blaster ins Halfter und hockte sich neben Darwin ans Feuer. »Müßtest du nicht in einer Med-Einheit liegen?« »Herrgott, ja. Ich mußte Bruk übertölpeln, damit er aus meiner Sicht verschwindet. Trag's ihm nicht zu sehr nach. Er konnte nichts dafür. Ich bezweifle, daß es ihm jemals in den Sinn gekommen wäre, jemand könnte aus 'ner MedEinheit entwischen.« Verhalten lachte Eisenauge. »Weshalb wolltest du dich denn verdrücken?« Der Kriegshäuptling suchte zwei Strei fen Dörrfleisch aus der Satteltasche und warf sie in das Wasser, das an der Flammenglut köchelte. Er lehnte sich zurück, lächelte grimmig und musterte mit seinen schwar zen Augen Darwin. »Ich fühle mich wie eine eurer romananischen Kühe. Verflucht noch mal, ich gelte hier nicht mehr als 'n Stück Fleisch, das man vorführt, damit's 'ne Meinung ausspuckt, und danach auf die Weise zum Futtern zurückbringt.« »Zudem steckst du ständig in Schwierigkeiten. Mal sehen: Der Trainingsrobot an Bord der Spinnes Favorit hätte dich fast zerschmettert, beinahe hätte dich ein wüten der Bär gefressen, ein abtrünniger Santos hat dich in den Bauch gestochen. Du fliegst achtlos mit einem zweitklas sigen Airmobil in der Wildnis umher, trampelst an die
Lagerfeuer fremder Leute und drohst dein Glück mit dem Schwören von Messerfehden zu versuchen.« Stumm saß Pike da, betrachtete seine Hände. Eisenauge lachte. »Was Narren betrifft, habe ich immer ein weiches Herz gehabt, Doktor. Aber du solltest wissen, daß du bei uns ein hochangesehener Mann bist. Manche von uns neigen zu der Ansicht, Spinne könnte dich mit besonderer Gunst begnadet haben.« Eisenauge deutete auf die verrußte Spinnendarstellung an der Höhlendecke über ihren Köpfen. »Entweder gehöre ich dazu oder nicht.« Darwin besah sich das Spinnenbild genauer. »Was ist das hier für ein Ort?« »Ich werde sicherstellen, daß du dazugehörst. Diese Höhle heißt Lager Gessali. Mein Volk nutzt sie seit vielen Jahrhunderten. Wahrscheinlich seit die Nikolai Romanan vor sechshundert Jahren gelandet ist.« Der Kriegshäuptling zögerte. »Einmal hätte ich hier nach einem Scharmützel mit Santos fast den Tod gefun den. Ich habe da ...« — er zeigte auf seine Brust — »eine Narbe, wo eine Kugel mich getroffen hat. Mit allem Ge schick hat Leeta mich am Leben gehalten. Jetzt ziehe ich mich gelegentlich in diese Höhle zurück, wenn ich allein sein will ... Um mich selbst verstehen zu lernen. Und in Spinnes Gegenwart. Hier kann ich sämtliche Seiten mei nes Lebens zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen ... Mir Gedanken über die Wege machen, die Menschen, Natur und Ereignisse nehmen. Und ich kann hier in der Stille und Einsamkeit meine Erwägungen und Beobach tungen mit Leeta teilen.« »Du hast sie geliebt?« fragte Darwin, verbarg hinter der Hand ein gieriges Schnuppern nach dem Duft des ko chenden Dörrfleischs. Wie im Selbstgespräch nickte Eisenauge, sein Mienen spiel spiegelte ein innerliches Lächeln wider. »Wir haben nie genug Zeit füreinander gehabt. Sie war eine von so vielen, die aus meinem Leben gerissen worden sind. Der
Pfad zum Lager Gessali und zurück ist mit Tränen getränkt, Doktor. Aber gleichzeitig ist er einer der Ver zückung. Darum begebe ich mich immer wieder an diese Stätte ... Um zwischen Leid und Wonne die Mitte zu ent decken.« Seine scharfen Augen erwiderten Darwins Blick. »Und weshalb bist du hier?« »Ich ... weiß nicht recht.« »Ich glaube, du weißt es. Wenn du nicht mit mir spre chen willst, mir nicht erzählen magst, was dein Gesicht mit solchen Sorgenfalten furcht, kann ich dir nicht helfen. Vielleicht bist auch du hier, Doktor, um irgendeine Art des Ausgleichs herzustellen?« Pike winkte ab. »Sicher hört's sich für dich blödsinnig an, aber ich hatte Träume. Der Bär, den ich erlegt habe, hat immer wieder nach mir gerufen. Dann hing mir dauernd dieser Santos, den ich töten mußte, im Nacken, drängte mich ... Bei dem Volk, bei dem ich auf der Erde gelebt habe — den Inuit —, gibt es den Glauben, daß der Rabe zwischen den Menschen und dem Reich der Seelen ein Band geschaffen hat. Ich denke mir, dieser Glaube hat mich bis nach Welt begleitet.« Er hob den Blick, erwarte te Belustigung zu sehen, doch Eisenauges ganze Haltung drückte vollkommenes Verständnis aus, er nickte. »Ich habe schon erwähnt, daß ich mich frage, welche Absichten Spinne mit dir verfolgt. Bär hat dich zu mir geschickt. Spinne braucht dich für einen besonderen Zweck, Doktor.« »Wie meinst du das?« »Bär ist mein Geisthelfer ... Mein Geistkraft-Spender. Medizin nennen wir's auf romananisch. Leeta hat mir ge sagt, daß unser Volk diesen Begriff schon sehr lange kennt. Er ist ein überaus altes Wort der Macht. Du siehst, hier weilt Leeta andauernd in meinen Gedanken. Ich glau be, ein Teil von ihr ist hier gegenwärtig, wartet in diesem Lager auf mich, um bei solchen Gelegenheiten wie heute mit mir zusammen sein zu können, bis Spinne uns beide wiedervereint. Aber ich schweife ab. Einmal hat Bär sich
von mir das Leben nehmen lassen, um mir ausreichende Geistkraft für die Aufgabe zu verleihen, den Sternen Spin ne zu bringen. Du bist eine wichtige Person, Doktor. Spin ne hat dich mir gesandt. Erzähl mir Genaueres über deine Träume.« Darwins Gaumen wurde trocken. »Während der Bären jagd ... habe ich die Stimme des Bären gehört. Nicht in Worten ... Ich meine, es waren keine gesprochenen Worte. Es verhielt sich so, als entstünde zwischen uns, als ich dem Bären in die Augen blickte, eine Art von geistiger Verbindung. Ich hatte den Eindruck, als wollte er mich zwingen, ihn zu töten. Und danach fühlte ich mich so ein sam, innerlich so leer. Und sowohl der Bär wie auch der Santos kehren beide in Träumen wieder. Der Bär hat immer versucht, mich in die Berge zu locken. Der Santos und der Bär flüstern auf mich ein, fragen mich, ob ich würdig sei. Ich verstehe das alles nicht, aber ich hatte schlicht und einfach das Empfinden, ich muß in die Berge. Darum bin ich jetzt hier. Ich bin zufällig in diese Schlucht geflogen und habe Halt gemacht, sobald ich dein Lager feuer sah.« »Du mußt Medizin machen.« Eisenauge rieb die star ken Hände aneinander. Sein harter Blick schien Pike zu durchbohren. »Glaubst du an Spinne, Mann von den Ster nen?« Pike hob die Schultern. »Es gibt viele Götter, darunter auch den Raben und den Großen Riesen. Auf meiner Hei matwelt haben diese Geisthelfer mir das Erlegen eines Bären ermöglicht. Ich habe zu lange bei den Inuit gelebt, um an ihrem Gott und den Geisthelfern zu zweifeln. Spin ne kenne ich nicht.« Eisenauge nahm das Dörrfleisch, nach dem DarwinsMagen hungerte, vom Feuer, stellte es beiseite. »Du hast in der Med-Unit gelegen. Deine Zeit ist reif. Folge mir. Das da brauchst du nicht.« Er wies auf das ge kochte, warme Fleisch. »Meine Zeit ist ...?« Unschlüssig stand Darwin auf,
schielte sehnsüchtig das Fleisch an. Resigniert seufzte er und folgte Eisenauge in die Dunkelheit. Es konnte ja wohl nicht lange dauern, bis er sich endlich vollstopfen durfte. Nun gut, wenn das irgendeine Art von Probe sein soll, dann werde ich sie eben bestehen, verdammt noch einmal. Ich bin es leid, daß diese Romananer sich ständig wie weit Überlegene aufführen. Soll der Kriegshäuptling doch von mir haben, was er will. Oder ich werde, bei diesem Spin ne, dabei sterben! Wenig später fingen sie aufwärtszusteigen an. Also stand kein kurzer Ausflug bevor, wie ihn sich Darwin er hofft hatte. Er keuchte und japste vor Anstrengung, als er sich die steilen Felshänge hochschleppte. Der Kriegs häuptling erklomm die Felsen mit einer Leichtigkeit, als wäre er selbst eine Spinne, eine Spinne in Menschenge stalt, während zwei der Monde hinter den Horizont san ken. Pike kraxelte sich hinter ihm mühselig ab, spürte seine Kräfte schwinden. So lange ohne feste Nahrung aus kommen zu müssen, ausschließlich durch die Med-Einheit ernährt zu werden, hatte seine Konstitution geschwächt. Die Elektrostimulation vieler Behandlungstage hatte sei nen Muskeltonus erhalten, doch die jetzige Belastung ging weit über die Effekte hinaus, wie die Stimulation sie erzeugte. Schweiß perlte über Darwins Stirn, wieder ein mal bluteten seine Finger. Dritter Mond senkte sich im Westen in den Ozean, als Darwin seinen von Beschwerden zermürbten Körper über einen letzten Gesteinshöcker zog und plötzlich über sich den freien Himmel sah. Er dachte an das Dörrfleisch, das zweifellos inzwischen wieder kalt war wie Stein. »Hier wirst du bleiben, Dr. Pike. An diese Stelle hat der Bär dich gerufen. An diesem Ort wollte der Santos dich schicken.« »Der Bär, ja, das kann ich nachvollziehen. Aber inwie fern der Santos?« »Ich selbst mußte mir vom ersten Mann, den ich in der Messerfehde getötet hatte, Segen erbitten«, sagte Eisen
auge unterdrückt. »Du bist hier, um Medizin zu machen, wenn du kannst. Deshalb bist du zu mir gekommen. Spin ne hat dich zum Beten in die Berge geschickt ... Um als Krieger des Volkes nach einer Vision zu trachten. So liegt es in der Natur der Dinge.« »Was habe ich zu tun?« »Bleibe und bete. Iß nichts. Trinke nicht. Denke nur an Spinne ... und daran, was du zu werden wünschst. Du weilst als Spinnes Stellvertretung in der Welt, um deine Seele für ihn zu hüten. Wie würdest du einen Teil Gottes behandeln? Was wärst du zu leisten bereit, um achtbar zu sein?« Eisenauge hob einen muskulösen Arm, deutete hoch an den Nachthimmel. »Blicke empor zu den Ster nen, zu denen wir bald fliegen werden. Welches Los wünschst du ihnen?« Darwin schaute hinauf in die Weite des Alls. Als er den Blick senkte, war der Kriegshäuptling fort, als wäre er im nächtlichen Wind davongestoben. Nicht essen? Nichts trinken? Wie lange? Darwin strek kte sich auf dem Fels aus. Beizeiten würde der Kriegshäupt ling zurückkehren. Daran hegte er keinen Zweifel:Es ver hielt sich in diesem Fall ähnlich wie bei den Visions-Suchen der Inuit. Irgendwann ging die Probe vorüber. In dieser Nacht blieben seine Träume friedvoll. Als er aufwachte, glühte die Sonne aus der Höhe des Himmels herab. Seine im Heilen begriffene Verletzung fühlte sich empfindlich an. Die Aussicht verschlug ihm den Atem: Sie war wirklich äußerst bemerkenswert. Spöttisch folgerte er, daß es schlimmere Orte gab, um sich im Hungern und Dürsten zu üben. In der Ferne, in den Ausläufern des Vor gebirges, konnte er einen kleinen Punkt erkennen: Einen romananischen Bären. Die Winzigkeit desAnblicks beru higte ihn, und weil er nichts anderes zu tun hatte, dachte er über sein Leben nach. Der Kriegshäuptling hatte sich Zeit genommen, um die Mitte zu suchen, vielleicht um seines Bären würdig zu sein. So verstrich der erste Tag. Aus Flüssigkeitsmangel fie
berte Darwins Körper, der leere Magen knurrte. In der dar auffolgenden Nacht fröstelte und bibberte er vor Kälte. Wie lange mochte es noch dauern, bis Eisenauge ihn holen kam? Wie lange noch, bis Susan oder Majorin Sarsa ein flog, um ihn auszuschimpfen und fürs Weglaufen her unterputzten? Weshalb widerfuhr ihm das alles? Ob Eisen auge ihm Rückhalt gab? Oder war er Opfer irgendeines undurchschaubaren romananischen Jux geworden? Er entsann sich, als sähe er in diesem Moment in die Augen des Kriegshäuptlings, an die bittere Schonungslo sigkeit des Aufstiegs. Im Feuerschein des Lagers Gessali hatte er den feierlich-ernsten Gesichtsausdruck des Ro mananers sehen können. Nein, die Sache war kein Spaß. Inuit-Schamanen gingen aufs Eis, um Erfahrungen mit der jenseitigen Welt zu sammeln. Wie die Alten der Inuit hatte auch Darwin Visionen gesucht. Er hatte gedacht, sich bereits damit auszukennen. Jetzt war der Anthropologe ihm abgestreift worden wie die Schale einer Banane, sein tiefstes Ich, seine Seele, lag ungeschützt bloß. An der Uni versität hatte man, was er über die Inuit zu vermitteln beabsichtigte, nicht verstanden. Begriff nun er, was Welt ihn über die Romananer lehren wollte? Während des nächsten Tages, in dessen Verlauf sein Körper zunehmend an Gefühllosigkeit litt, überlegte Dar win, was er wohl gerne lernen würde. Die Stelle, an der er den Stich erhalten hatte, brannte und juckte. Hatte er sich beim langwierigen Erklettern der Felsenhöhe etwas aufge rissen? Als auch der dritte, schier endlose Tag schließlich end ete, durchlebte Darwin noch einmal das Entsetzen, das ihn gehetzt hatte, als er auf das Felssims geflüchtet war und der Bär mit den greulichen Saugtellern nach ihm griff. Mit ausgedörrter Kehle versuchte er zu schlucken, während er sich an seine Furcht erinnerte, die Lähmung, die ihn bei nahe befallen gehabt hatte. Da hätte der Bär ihn töten kön nen. Der Bär hätte auch seine Seele verschlungen. Wäre er dem Bären in seinen Träumen erschienen?
»Nein, Mensch«, erklang hinter ihm die Stimme des Bären. Darwin brauchte sich nicht umzuwenden; er fühlte die Nähe des Tiers. »Du kennst die Realität, nicht wahr?« flüsterte Darwin mit trockenen, gesprungenen Lippen. »Ich stehe nicht mit mir selbst im Zwist, Mensch. Ich bin eins mit allem, was mich umgibt. Spinne ist, ich bin, wir sind. Das ist es, was einzusehen Menschen so schwer fällt. Sie wissen nicht, daß du und ich und es eins sind. Du bemühst dich um Abstand zwischen Darwin Pike und Spinne. Du möchtest deine Seele in etwas anderes ver wandeln. Du klammerst dich an Wahnvorstellungen vom Leben und erklärst das Dasein als heilig, wogegen Gott es dir nicht sein soll. Du nährst deinen Verstand und läßt deine Seele hungern. Das Universum ist nicht da, um zu unterteilen. Es ist geschaffen, um zu vereinen.« »Aber ich bin ich«, rief Darwin. »Ich bin ein Lebewe sen. Ich existiere.« »So? Zu welchem Zweck? Woher weißt du Bescheid?« »Es ist so, weil ich es sage. Ich fühle ... was ich erlebe. Ich kenne mich.« »Du kennst nichts. Vielleicht hätte ich dich töten sol len. Du lernst schlecht. Du eitler Mensch, du bist zu stolz auf dein Wissen und deine Unwissenheit zu ersehen unfä hig. Vielleicht sollte ich dich jetzt töten?« Darwin spürte, wie ein Tentakel auf ihn zuschwang, der Saugteller verharrte über seinem Kopf. Er schaute auf und sah einen schwarzen Fleck die Sterne verdunkeln. Sein Leben hing an einem Faden, ihn packte ein Schau dern. Seine Finger fummelten am Gürtel, zogen das alte Solinger Messer. Gelassen wurde er sich des drohenden Todes bewußt — und fürchtete sich nicht mehr. »Na komm, dann nur zu, verdammt noch mal!« krächz te er mit ausgetrockneter Kehle. »Ich habe das Warten satt. Tu's doch! Los, verschlinge meine Seele! Nimm diesen Teil Spinnes und gib ihn zurück!« Er blickte mitten in das schwarze Rund, lechzte fast danach,
die Trennung von Körper und Seele zu erleben. Der schwarze Fleck fing zu schrumpfen an. »Was ist denn? Weshalb machst du jetzt einen ...?« »Du lernst. Es kann sein, du lebst lange genug, um auch noch den Rest zu lernen. Den ersten Schritt hast du getan. Verwirf den Wert, den du deinem Leben zumißt. Befreie dich vom Hangen an dir selbst. Mache dich frei von Darwin Pike ... frei vom Leben.« Die Worte verweh ten im Säuseln des Winds. Waren sie Wirklichkeit gewe sen? Aus Erschöpfung und infolge der Kälte bebte Dar win. Er rang darum, bei Bewußtsein zu bleiben. Seine Seele schien ihm entgleiten zu müssen, als wäre sie schlüpfrig geworden. Er strengte sich an, um die schwache Identität Darwin Pike zu bewahren; dabei hatte er ein Gefühl regel rechter Erbärmlichkeit. Er lag auf dem Bauch, seine Wange ruhte auf der kalten, körnigen Fläche des Felsge steins. Auf die andere Seite seines Gesichts strahlte warm die Sonne. »Ich halte es nicht durch«, sagte er sich, lauschte dar auf, wie seine Stimme ihm aus der nachgerade verdorrten Kehle rasselte. »Ich muß ablassen. Von Darwin Pike las sen. Wie der Bär sein.« Willentlich entsagte er seiner Kör perlichkeit. »Von Pike lassen. Vom Leben. Das Leben ent weichen lassen ... verfliegen ... wie den Wind überm Gras.« »Es ist nicht schwer, zu sterben«, ermutigte ihn von oben eine Stimme, die er erkannte. Es verursachte Darwin Schwierigkeiten, die Lider zu heben. Auf dem Fels saß, die Knie an die Brust gezogen, der Santos, erwiderte Dar wins Blick durchdringend aus schwarzen Augen. »Nein«, röchelte Darwin mit starren, rissigen Lippen. »Sterben ist überhaupt nicht schwer.« »Anscheinend verehrst du den Tod, obwohl du ihn fürchtest, Alaskaner.« Der Santos schaute in die Ferne, in die Richtung des Ozeans, der im Westen lag. »Du bist sehr stolz auf deine Fähigkeit zum Töten, aber sobald der Tod
dir droht, hast du vor ihm Furcht. In meinem hast du dei nen Tod gesehen. Dein erster Stich hat mich nicht um gebracht. Du hast nur Glück gehabt, mußt du wissen. Ei gentlich hätte ich dich töten müssen. Es war ein reiner Glücksfall, daß ein Schwächling wie du jemanden töten konnte, der so stark wie ich ist.« Der Santos neigte den Kopf zur Seite. »Bist du würdig? Bist du stark genug?« »Ich bin nicht schwach! Ich bin Alaskaner. Auf meine Kraft kann ich stolz sein. Ich habe Blizzards und Bären getrotzt. Ich bin stark.« »Du bist nie wirklichem Leid unterworfen gewesen. Noch nie bist du in einer Lage gewesen, in der du nichts mehr zu verlieren hattest!« Wütend begann der Santos zu schreien, schüttelte eine geballte Faust. »Was weißt du von Elend, Durst oder Schmerz? Wann ist dir schon ein mal die Seele aus dem Leib gerissen worden? Wann hast du dir je gewünscht, weinen zu können, während du alles, was du liebtest, tot in den Armen gehalten hast? Dein Kör per ist nicht schwächlich, o nein — aber dein Geist ist es. Du kennst Gottes Regeln nicht.« »Ich bin stark. Sta ... Stark.« »Du hast eine unerprobte Seele ... Eine weichliche Seele. Würdest du heute sterben, Spinne schickte sie dir zurück.« »Ich möchte stark sein. Ich will stark sein! Ich will ... will ...« Darwin verlor den Durchblick. »Stärke hat ihren Preis, Alaskaner.« Der Santos blickte empor ins Sternenglitzern des Nachthimmels. »Dort drau ßen befindet sich ein ganzes Menschengeschlecht. Im Ver gleich zu diesen Menschen bist du eine Säule an Kraft, Alaskaner. Schenke ihnen Stärke ... Aber bring sie ihnen in Blut! Mache sie stark! Weißt du, wie man einen Dolch schmiedet? Ein Schmied formt die Klinge in der Esse mit dem Hammer. Wenn der Stahl recht ist und von Geistkraft leuchtet, wird das Metall in die angestrebte Gestalt gehäm mert. Während das rohe Eisen noch glost, wird es in kal tes Öl getaucht und erneut erhitzt, wonach man die Glut,
um dem Stahl die Geistkraft zu bewahren, in altem Leder erstickt. Anschließend wird die Klinge geschliffen und poliert, erhält ihre endgültige Schärfe.« »Ist ein Mensch ein Messer?« Darwin versuchte den Blick auf die verwaschene Erscheinung des Santos zu hef ten. »Ist das Schmieden vollbracht, wird das Messer er probt, Alaskaner. Weißt du, was geschieht, ganz gleich, wie umfangreich die Erfahrung des Messerschmieds ist, wie groß seine Geschicklichkeit, wenn das Metall von minderer Güte ist oder es Mängel hat?« Der Santos zog die eigene, lange Klinge aus Darwins Gürtel, fuhr mit dem Daumen über die Schneide. Eine Faust umklammerte den Griff, die andere Hand packte die Messerspitze. »Unter Druck zerbricht das Messer«, knirschte der Santos mit krampfhaft angespannten Kie fermuskeln. Seine braunen Finger strengten ihre Kräfte an, Span nung drang aus den Sehnen der Unterarme. Er bog das Messer, unter der Belastung zitterte der Stahl. Das Metall begann zu singen, als er die Klinge beinahe zu einem Kreis gebogen hatte. Ein metallisch-harter Knall hallte von den Felsen wider, als Darwin die Klinge entzweibre chen sah. Er schlotterte, während er, aus Grausen vollends ge schwächt, nach Worten suchte. »Ähnlich mag das Los der Menschheit werden. Mögli cherweise kannst du dagegen etwas unternehmen.« Ver sonnen betrachtete der Santos die zerbrochene Klinge. »Wir werden sehen, wie gut wir die Menschheit schmie den ... Und dich, Darwin Pike.« Damit warf er die beiden Bruchstücke auf den Stein, daß es klirrte. Zittrig hob Darwin den Blick vom zersprungenen Stahl. Der Santos verschwand mitten in der kristallklaren Luft, als wäre er nie zugegen gewesen. Darwin blinzelte, versuchte seine Sicht zu klären. Ringsum gleißte heller Sonnenschein. Er rollte sich ein,
schlang sich um die eigene Mitte, versuchte die Erinne rung aus seinem Denken zu verdrängen. Benommen be mühte er sich, in die Welt zurückzufinden. Sein Bewußtsein konzentrierte sich aufs Atmen, wäh rend er Luft in den Brustkorb saugte und wahrnahm, wie er sich dehnte, sie danach aus den Lungen preßte. Er ko stete das Erlebnis aus, als handelte es sich um den ersten Atemzug eines Neugeborenen. Er tastete mit den Händen an seinen Beinen hinab und herauf, befühlte das leibhaf tige Fleisch, genoß das Gefühl des Lebens. Er öffnete die Augen und schaute über die Aussicht aus, sah Farben, spürte den Wind, und sogar Entbehrung und Not des Hun gers und Dursts glichen etwas Schwelgerischem. Er raffte sich hoch, straff bewegten sich in seinem er hitzten Körper die Muskeln; warf den Kopf in den Nak ken und die Arme nach den Seiten, erfreute sich an den Empfindungen des Lebens, das ihn durchströmte. Seine Frist auf dem Berg war vorüber. Er hatte dem unabweisbaren Drang nachgegeben und sich dem Not wendigen gestellt. Der Kriegshäuptling hatte klarer als er erkannt, um was es ging. Ein letztes Mal blickte Pike sich um. Etwas nahebei schimmerte im Sonnenlicht, spiegelte es wider — ein länglicher Gegenstand von blendender Helligkeit. Darwin zwinkerte in das den Augen unangenehme Leuchten, beschattete sie mit der Hand. Er bückte sich und hob den romananischen Kriegsdolch auf; das heiße Metall ver sengte ihm die Finger. Die Klinge war mitten durchgebro chen.
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KOMMANDOBRÜCKE DER SPINNES VERGELTUNG (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Susan Smith Andojar schlürfte bitteren Tee, einen Aufguß von Klingenbuschwurzeln und Stengeln des Melonennuß strauchs, ein Getränk, das die Romananer sich seit Gene rationen aufbrühten. Unter der Beobachtung ihres stren gen Blicks schob der ST sich in den Rumpf des Raum schiffs. Er füllte den Monitor aus wie ein hochgefährli ches, aerodynamisches Pfeilgeschoß. Im Licht der Sonne Welts glänzten die Stummelflügel weißlich, hoben sich kontrastreich vom Rund der Nachthalbkugel des Pla neten im Hintergrund ab. Die Waffenkuppeln oberhalb der kardanisch montierten Fusionsreaktoren wirkten harmlos; doch Susan hatte sie auf Sirius im Einsatz gese hen und wußte es besser. Bläulich-weiße Flammen schos sen aus den Reaktoren, während der ST in eine Andok kbucht schwebte. Susan blähte die Wangen und atmete gedehnt aus. Das war zeitlich knapp gewesen. Schlimmer noch: Pikes Aus reißen hatte den Admiral in einen Wutanfall hineingestei gert. Ree hatte geröteten Gesichts Bruk ausgescholten, das erste Mal, um Verärgerung und Verdruß auszutoben, dann ein zweites Mal, um keinen Zweifel an seinem Urteil zu lassen — und weil niemand anderes zur Stelle gewesen war, den er hätte anbrüllen können. Humorlos lächelte Susan. Die Med-Einheit überlistet zu haben, war ein echter Beweis für Pikes Gerissenheit. Sicherlich zeigte es nicht gerade anständige Disziplin, die dadurch hervorgerufene Aufregung jedoch hatte Susan Anlaß zu einer gewissen Belustigung geliefert. Letzten Endes war ja kein Schaden entstanden. Bruk hatte für sie den Blitzableiter abgegeben. Und die Person, die sich am
wenigsten dazu berechtigt fühlte, wegen ihres Aufenthalts in den Bergen mit ihr zu schimpfen, war Damen Ree. Er wußte, ein Krieger brauchte zwischendurch für sich Zeit, Momente des Forschens nach Sinn. Und warum ist mein Geisthelfer mir ferngeblieben ? Weshalb hat Spinne mir, gerade da ich sie am dringend sten brauche, keine Ermutigung zuteil werden lassen? Liegt es an mir? Stimmt mit mir alles? Habe ich etwas falsch gemacht? Die Träume sind ... »Nein, Susan«, sagte sie mit ernstem Nachdruck zu sich selbst. »Daran darfst du nicht einmal denken.« Doch eine Beklemmung beengte ihr Herz. Sie drehte den Kommandosessel, las die Anzeigen der Monitoren ab. Nach der Gewöhnung an die Spinnes Favo rit empfand sie diese Kommandobrücke, die nur Platz für drei Personen bot, als viel zu klein. An der oberen Wand verkleidung, deren Abdeckplatten hohlkehlig in die Decke übergingen, glommen aufgereihte Monitoren. Die Katho den warfen unheimliche Glanzlichter auf die Kontrollkon solen, tauchten das unvermeidliche Raumfahrtweiß in weiche Pastellfarben. Auf einigen Bildschirmen sah man Welt; andere zeigten den Reaktorstatus, Kursberechnun gen sowie Betriebsvorgänge an. Mosche Raschid lehnte, den Kopf ins Konturenpolster gelegt, in seinem Sessel, hatte die Augen geschlossen, während er per Kontaktron Zahlen und Daten an Kom munikation und Steuerzentrale übermittelte. Sig Marg gaff, der Navigator, gab dem Navigationscomputer Infor mationen ein, speicherte seine Computerkalkulationen für den Überlichtflug. Eine Leuchtanzeige des Maschinenraums blinkte auf: Die Materie-Antimaterie-Reaktion befand sich im Prozeß der Stabilisierung. Das Raumschiff wartete praktisch le diglich noch auf Susans Startbefehl. Formell handelte es sich bei dem Raumfahrzeug um PVA1-775: P für Patrouil le, V für Versorgung, A für die Heimatbasis Arcturus, die 1 stand für das Patrouillenschlachtschiff Viktoria, dem
man es zugeteilt hatte. Nach der vor zwei Tagen erfolgten Ankunft war es von den Romananern umgehend in Spin nes Vergeltung umbenannt worden. »ST hat angelegt, Kommandantin«, meldete Jose Grita Weißer Adler durch die Kommu. »Verankern.« Die BK erbebte unter ihren Füßen, als die Greifarme den ST anflanschten. »ST festgemacht, Kommandantin.« Susan stellte eine Verbindung zur Projektil her. »Wir sind fertig zum Abflug, Admiral. Der letzte ST ist an Bord genommen, alle Systeme sind gecheckt und gegenge checkt worden. Alles im Grünstatus. Dr. Pike ist da, und die Ausrüstung für die Umbauten sind verstaut.« Neben Ritas Miene erschien Rees kantiges Gesicht auf der Bildfläche; einen Augenblick später wurde auch Iver sons Konterfei projiziert. Zerstreut lauschte der Admiral auf irgend etwas, das auf seiner Kommandobrücke vorging, und nickte schließ lich, bevor er Susan anschaute. »Sehr gut, Kommandan tin. Geben Sie in meinem Auftrag dem verfluchten Blöd mann einen Anschiß. Richten Sie ihm aus, er kriegt's noch mit mir zu tun, sobald er zurück ist. Sagen Sie ihm, viel leicht hat er Glück ... und die Padri erwischen ihn zuerst.« Mißvernügt nickte Susan, dachte darüber nach, was sie Pike wirklich sagen sollte. Im großen und ganzen machte er einen passablen Eindruck. Außerdem sah er seinerseits auch einen Grund zur Klage. Nach seinem Zornausbruch hatte sie über ihn mancherlei Überlegungen angestellt. Es konnte sein, er war von Anfang an unzuvorkommend behandelt worden, daß man von ihm zuviel verlangt hatte. Immerhin war er nur ein durchschnittlicher Direktorats bürger. »Majorin Sarsa«, fügte Ree hinzu, »die Mission steht offiziell unter ihrem Befehl. Ich wünsche Ihnen Spinnes Gunst und Beistand. Sie sind mit aller Sorgfalt eingewie sen worden und haben das Beste dabei, was wir Ihnen mit
geben können. Ich weiß, wie die nächsten Monate sein werden. Leute, ich möchte, daß Ihnen klar ist, wie sehr ich Sie schätze. Ganz Welt steht in Ihrer Schuld. Tun Sie uns einen großen Gefallen: Passen Sie auf sich auf. Kehren Sie lebend zurück.« Sarsa ergriff das Wort. »Danke, Admiral. Wir werden das Äußerste leisten, Sir.« Sie wandte sich an Susan und Neal. »Sie haben die Kursdaten. Die Kommu wird Ihnen die Beschleunigungswerte übermitteln. Fünfunddreißig Ge konstant, Korrekturen je nach Erledigung der bauli chen und technischen Modifikationen.« »Verstanden«, antwortete Susan, spürte ein schwaches Gefühl des Andrucks, den die Gravo-Kompensatoren je doch sofort ausglichen. »Ich hoffe, Spinne fliegt mit Ihnen«, sagte Ree in ver ändertem Tonfall. »Wir warten hier auf Ihre Rückkehr. Bleiben Sie auf der Hut.« »Ich wollte, wir hätten einen Propheten dabei«, drang Iversons Stimme aus der Kommu. »Ich konnte Chester nicht ausfindig machen«, teilte Ree mit. »Er hält sich irgendwo in den Bergen auf. Die vier Ältesten fliegen nicht ins All. So leid's mir tut, Sie sind ganz auf sich gestellt. Hat jemand irgendwelche abschließenden Fragen? Nicht? Also gut, Leute. Ich wün sche Ihnen nochmals viel Glück.« Der Bildschirm erlosch. »Kommandantin?« Josés Gesicht erschien auf einer Bildfläche. »Möchtest du vielleicht mal nach achtern kommen? Mit dem letzten ST ist ein zusätzlicher Fluggast eingetroffen.« Susan verkniff sich eine Frage. Die Betroffenheit in Josés Miene sprach für sich. Was hatte dieser verdammte Pike denn nun wieder verbrochen? Eine Frau mitge bracht, um Gesellschaft zu haben? War er deswegen für fünf Tage weggeblieben? »Bin gleich dort.« Verdrossen blickte Susan in die Optik. »Mr. Pike und sein ... >Fluggast< sollen sich im
Casino einfinden.« Ihre Mißstimmung steigerte sich zu äußerster Gereiztheit, während sie durchs enge Innere der Spinnes Vergeltung eilte, durch die schmalen Korridore. »Das geht zu weit!« murrte sie unterwegs vor sich hin. »Wir haben 'n Kampfauftrag, sollen mitten in Ngens Machtsphäre vorstoßen. Die Vorräte an Bord sind be grenzt, nur für drei Monate bemessen. Jeder Fresser mehr beschneidet meine Optionen, gar nicht davon zu reden, daß ich nicht weiß, wo ich Pikes Schiunze unterbringen soll. Ich murkse ihn ab. Ich werde ... Ich werde ...« Falls es erforderlich war, das Weibsbild von Bord zu schicken und darum eine Verzögerung eintrat, bliebe die Spinnes Vergeltung um einen Tag hinter den beiden ande ren Raumschiffen zurück, und die Blaster sowie die Schutzschirm-Generatoren müßten bei 40 Ge installiert werden. Schon bei 35 Ge erfolgte eine Ausnutzung des Sicherheitsfaktors bis zum Grenzwert. Fiel eine GravoPlatte zum falschen Zeitpunkt aus, konnte die übrige An lage den Ausfall kompensieren. Aber bei 40 Ge? Wer wollte da noch sicher sein? Kam es bei diesem Andruck zu einer Katastrophe, mußte man anschließend die Überreste der Besatzung mit Rasierklingen von den Schotten krat zen. Als Susan das Casino betrat, fühlte sie sich ausrei chend zu einer gehörigen Schimpfkanonade geladen. Pike wartete, einen sonderbaren Ausdruck in der Miene, am Ende eines langen Tischs; sein Gesicht war hohlwangig geworden, und in seinen Augen stand eine ungewohnte Distanziertheit. War er sich darüber im klaren, wieviel Ärger und Umstände er verursachte? Die zweite Person war keine Frau. Susan stockte, mu sterte mit zur Seite geneigtem Kopf den mageren Mann. Nein, ein Junge war er noch, allerhöchstens zwanzig, doch genau ließ es sich ihm nicht ansehen. Abgewetzte Leder kleidung umhüllte seine ausgezehrte Gestalt. Wo Schmutz sich mit Schmiere aus Schweiß und Fett vermischt hatte, glänzte das Leder speckig. Seine langen, schwarzen
Haare, in denen noch Grasfetzchen und Bruchstückchen von Reisig staken, trug er zu zwei Zöpfen geflochten. Die Clan-Farben an den Fransenärmeln waren ausgeblichen, doch anscheinend, mutmaßte Susan, die Farben der Ando jars und der Garcias. Auf dem Brustteil des Hemds konn te man noch schwach eine Spinne erkennen. Die Messer scheide baumelte leer an seinem Gürtel. Momentan hielt er die Augen geschlossen, als ob ihn irgend etwas sehr stark beschäftigte. »Also, raus mit der Sprache, Pike, verdammt noch mal! Wer ist das?« Susan stapfte auf Pike zu, hatte nicht übel Lust, ihm den Hals umzudrehen. »Wir haben zuwenig Platz, um diesen Burschen einzuquartieren ... Und zuwe nig Zeit, um ihn zurückzuschicken. Heiliges Kanonenrohr, was hast du dir dabei gedacht?! Heiliger Spinne, wo bist du gewesen? Ree hat fast der Schlag getroffen, und er ist, bei Spinne, das reinste, harmlose Katerchen, wenn ich daran denke, was ich jetzt am liebsten mit dir anstellen möchte. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du, daß man dir Respekt erweist. Na, dann mußt du dich aber vor her wie jemand verhalten, den man respektieren kann.« Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb sie, praktisch Nase an Nase mit Pike, vor ihm stehen. Doch es war ein anderer Pike, der nun ihren Blick erwiderte. Seine Kiefer muskeln spannten und ballten sich unter der bronzebraun gewordenen Haut. Dieser Darwin Pike konnte, anders als es in der Vergangenheit gewesen war, nicht so leicht ein geschüchtert werden. Pike holte Luft, um eine Antwort zu geben, doch sein Begleiter kam ihm zuvor. »Ich glaube, der Doktor hat auf die einzige Weise gehandelt, wie sein Cusp sie ihm offenließ. Zu Spinne zu finden ... und die eigene Seele zu entdecken ... sind die beiden bedeutsamsten Errun genschaften im Leben eines jeden Menschen, Komman dantin.« Susan ruckte herum, schaute in die altklugen Augen des Burschen, und die hitzige Entgegnung erstickte ihr in
der Kehle. »Bei Spinne«, raunte sie, fühlte ihre Mundwin kel sich straffen. »Wer bist du?« »Man nennt mich Patan Andojar Garcia«, sagte der Mann mit ruhiger Stimme, deutete eine Verbeugung an. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Kommandantin. Du hast jetzt auf alle deine Fragen die Antwort und kannst wieder an das gehen, was du als deine Pflicht erachtest. Für mich ist das alles noch ganz neu ... Also habe mit mir bitte Nachsicht.« Er schloß wieder die Augen und schien einzudösen, indem er gegen die Sitzbank des Casinos sackte. Susan schluckte; ihr Körper war mitten in der Haltung erstarrt. »Ich bin dem Kriegshäuptling begegnet«, durchdrang Darwins Stimme ihre Verwirrung. »Der Bär und der Santos haben nach mir gerufen. Ich ... ich glaube, euer Spinne hätte mir nie Ruhe gelassen. Darum bin ich fort gegangen. Ich nehme an, du verstehst diese Angelegen heiten.« Wie geistesabwesend nickte Susan, blieb den Blick von dem Propheten abzuwenden außerstande. »Eisenauge hat mich zur Siedelei zurückgebracht. Dort trafen wir jeman den namens Chester Armijo Garcia und« — Pike wies auf Patan — »diesen jungen Mann, Chester besprach sich mit Eisenauge, und unser Freund hie'r stieg einfach in den ST. Geflügelter Stier Reesh war in der Nähe. Er hat den Wachtposten zurückgescheucht und sah dabei aus, als hätte er regelrechten Bammel.« Kein Wunder, daß Patan Andojar Garcias Ankunft keine Ankündigung vorangegangen war; niemand mischte sich ins Tun eines Propheten ein. Propheten taten, was sie als richtig ansahen, und wann sie es für angemessen hiel ten. Susan zwang sich willentlich zum Durchatmen und setzte sich, befallen von einem leichten Schwindelgefühl, auf einen Stuhl. »Warum wir?« murmelte sie. Der Pro phet rührte sich nicht. »Normalerweise bleiben Propheten
... Ich meine, es ist ... Heiliger Spinne, was wird uns drau ßen im All zustoßen?!« »Möchtest du was trinken?« Darwin reichte ihr einen Becher Kaffee, und endlich gelang es Susan, ihren Blick von dem Propheten zu lösen, den Anthropologen anzu schauen. »Hat er irgendwas gesagt?« »Nein«, gab Pike unbekümmert zur Antwort, nahm neben ihr Platz. Ein Schweigen dehnte sich in die Länge. Aus dem Gürtel zog Pike ein Stück eines zerbrochenen Messers. »Ich habe im Leben schon allerhand gesehen und mich mit vielen ungewöhnlichen Phänomenen befaßt. Daheim in Alaska habe ich mich einmal aufs Erhalten einer Vision vorbereitet, und tatsächlich ist mir der Rabe erschienen. Er hat sich beim Bären für mich verwendet, so daß ich ihn erlegen konnte. Aber hier auf Welt hat euer Bär selbst mit mir gesprochen, bevor ich ihn tötete ... und auch danach noch. Der Santos, den ich ... erstochen habe. Er hat seinen Dolch entzweigebrochen. Ich habe nie zuvor eine Vision erlebt, die einen materiellen Gegenstand zerbre chen konnte.« Voller Ehrfurcht strich er mit den Fingern feinfühlig über die rauhe Bruchstelle. »Die Seele des von mir getöteten Santos verhieß mir, ich würde, so wie das Messer, auf die Probe gestellt. Er sagte, ich würde quasi geschmiedet ... und falls das Ma terial mangelhaft ist, müßte ich ...« Sein Blick fiel auf die Messerhälfte in seiner Hand. Unwillkürlich grauste es Susan. »Ich bin einmal ... so gründlich auf die Probe gestellt worden, Doktor.« Ihre Stimme klang gepreßt, während sie Erinnerungen an Ngen Van Chows Stimme zu unterdrücken versuchte, sei nen hageren Leib. »Du bist nicht gebrochen worden.« »Vielleicht bin ich ... Ach, verflucht. Ich ... weiß es wirklich selbst nicht, Doktor. Es sind gewissermaßen Risse bei mir zurückgeblieben, Schwachstellen ... Wenn er
das Richtige zu mir sagte ... mich auf diese Weise an schaute, könnte es sein, daß ich ... Ich würde ...« Ihr Blick fiel auf den Propheten. Patans Atemzüge gin gen leicht und regelmäßig; er erregte den Anschein gänz lichen Weggetretenseins. Chester hatte sie mit Giorjs und Freitags Unterstützung vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt. Ihr Herz ließ einen Schlag aus. Freitag? O Gott! Heiliges Kanonenrohr, was machst du da eigentlich? tobte sie insgeheim mit sich selbst. Was erzählst du hier diesem ... diesem Fremden? Nimm dich zusammen, ver dammt noch einmal! Komm zur Vernunft, ehe du etwas tust, was du dein Lebtag bereuen wirst! Er ist ein Mann ... Und Männer benutzen gegen dich, was sie können! Wie in Panik gab sie sich einen Ruck und stürzte den Kaffee hinunter. »Ich werde auf der Kommandobrücke gebraucht.« Sie fuhr, angetrieben vom Adrenalinschwall, geradezu vom Stuhl auf. »Ich bedaure, daß ich so grob geworden bin. Mir war nicht klar, wo du gewesen bist ...und warum.« Darwin Pike nickte. »Mir sind auch ein paar Gemein heiten durch den Kopf gegangen. Verzeih mir.« Susans Versuch, ein versöhnliches Lächeln aufzuset zen, scheiterte. Ihrer Lippen zuckten. »Tja, na gut ... Sor ge dafür, daß der Prophet es angenehm hat, ja?« »Kann ich mich sonst irgendwie nützlich machen? Vielleicht beim Montieren der Waffen helfen? Es sollen doch Umbauten stattfinden, nicht wahr? Mit Geräten bin ich immer gut zurechtgekommen.« Die Hand schon nach der Tür ausgestreckt, drehte Su san sich um, sah nervös, wie still der Prophet auf der Sitz bank lehnte. »Ich werde mich danach erkundigen, was getan werden muß.« *
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ARCTURUS, DIREKTORATSSITZ
Skor Robinson schwebte zusammengerollt wie ein Fötus im Blau des Giga-Verbund-Kontrollraums. Nach wie vor strömten ihm Daten zu, deren Entsetzlichkeit ihm die Fas sung raubte. Unheil folgte auf Unheil: Nur indem er sein Gemüt betäubte, vermochte er das alles zu verkraf-ten, während die Ungeheuerlichkeit des Geschehens ihn schier überwältigte, so daß er sich immer enger einkrümmte. Hätten die immer größeren Informationsmengen, die ihn erreichten, ihn nicht vollständig in Beschlag genommen, wäre er in Panik verfallen, hätte er angesichts der von Hilfsschiffen und Überlebenden gemachten Aufnahmen vor Schrecken geschrien. Die Zahl der Toten wuchs. Die Lider geschlossen, sämtliche gentechnisch abge wandelten Fähigkeiten seines immensen Hirns aufs Pro blem konzentriert, bot er alle Mühe auf, um die Not der betroffenen Bevölkerung, die von seiner Verfügungsge walt über sämtliche Ressourcen abhing, zu lindern. Seine Befehle splitteten Medizinische Hilfsteams und Katastro phenschutztrupps. Wo früher eine integrierte Gruppe qua lifizierten Personals an einen Unfallort beordert worden wäre, traf jetzt auf FLF-Routen lediglich eine Einzelper son ein, von der man hoffen mußte, daß es ihr dank der Bevollmächtigung durch das Direktorat gelang, unter Mobilisierung lokaler Mittel und Kräfte die verfahrene Situation zu beheben. Gleichzeitig implantierte Robinson jeder dieser Personen per Psyching die unerschütterliche Überzeugung, eine solche Leistung erbringen zu können. Doch von nun an hatte Skor keine Teams und Trupps mehr aufzusplittern, er konnte keine weiteren FLF umdirigieren, er hatte keine Notunterkünfte, keine Nahrungs-vorräte und keine Überlebens-Grundausstattungen mehr zu verteilen. Wie konnte es soweit kommen? fragte Nawtow jedes mal durchs Verbundsystem an, sobald die dringenden Hil ferufe, die es zu überlasten drohten, etwas abnahmen. Wie?Wie? Wie? »Weil ich Ngen vertraut habe«, flüsterte Skor leise,
aber hörbar zu sich selbst, eine flüchtige Erinnerung an Damen Rees Gesicht löste bei ihm ein heftiges Schuldge fühl aus. Mir liegt eine neue Meldung vor, gab An Roque durch. Station Swilensk ist zerstört worden. Überall im dortigen Sonnensystem funken Notrufsender. Meine Möglichkeiten sind erschöpft. Ich brauche sofort Unterstützung. Die Ret tung der Überlebenden ist ... Wir können keine Hilfe mehr leisten. Während Skor noch ein letztes Mal die tabellarische Erfassung des einge setzten Schiffsraums sichtete, bemerkte er eine unge wohnte Trockenheit seiner Kehle. Vorhin ist die volle Aus lastung eingetreten, Assistenz-Direktoren. Das Umdirigie ren weiterer Raumschiffe hätte auf Welten von entschei dender Bedeutung eine kulminative Lebensmittelverknap pung und Mangel an Rohstoffen für Produktionszwecke sowie dadurch bedingte, absehbare Krawalle zum Resul tat. Wir würden Ngen noch stärker in die Hände arbeiten. In Verladestationen stapeln sich bereits überfällige Güter. Eine anderweitige Verwendung zusätzlicher Transpor traumschiffe müßte zu einer Ausdünnung der ... Ich MUSS Frachtraum haben! Während wir uns hier unterhalten, sterben Menschen. Ich habe ... Ich trage die Verantwortung ... Ich brauche Hilfe für Swilensk! Ich MUSS Hilfe für Swilensk haben! Ich MUSS ... MUSS ... Roques Bioindikatoren blinkten im kritischen Bereich. Roque? Machen Sie jetzt nicht schlapp. Daß Sie ausfal len, können wir uns gegenwärtig nicht ... Roque? Das Monitoring zeigte Spitzenwerte an, vor Panik drohte dem Assistenz-Direktor ein Kreislaufkollaps. Im Schweben schauderte Skor zusammen, beobachtete achtsam die eigenen körperlichen Reaktionen. Ich habe Assistenz-Direktor Roque ruhiggestellt, informierte er Nawtow. Er spürte echte Beschwerden in seinem ver krampften Leib. Er stand dicht vor dem Zusammenbruch. Ich verstehe und billige die Maßnahme. Nawtow zögerte und schwieg, während er in den seiner Zuständig
keit untergeordneten Giga-Verbund-Teilen angestaute Datenmassen umleitete. Direktor, ich habe auch meinen Stoffwechsel beeinflußt. Sie müssen wissen, daß ich mei nem Blutkreislauf null Komma null sieben Prozent Stre ßinhibitoren zugeführt habe. Deshalb könnte mein Urteil in manchen Fragen suspekt sein. Aber darauf zu verzich ten, hätte bedeutet, daß ich vielleicht die gleiche unvor hersehbare Reaktion wie Roque erleide. Ich nehme davon Kenntnis und habe Verständnis für Ihr Vorgehen. Wenn es mir möglich ist, werde ich Ihre Entscheidungen gegenprüfen. Aufgrund der Erschöp fungssymptome, auf die die Kurven von Roques Bioindi katoren hinweisen, habe ich die Absicht, ihn vorerst schlafen zu lassen. Abgesehen von dem Schock, den er eben bekommen hat, ist er auch rein körperlich völlig überlastet. Was sollen wir tun, Direktor? Was soll aus den Überle benden der Station Swilensk werden ? Tausende von Men schen ... Im Moment werden sie eigene Initiative entwickeln müssen, um sich zu retten. Im endlosen blauen Licht sei nes Kontrollraums schnitt Skor Grimassen. Bilder von Menschen, die erfroren, erstickten oder Strahlungsüberdo sen absorbierten, schossen ihm durch den Kopf. Zuviel! Er verdrängte die Gedanken an die Ereignisse, checkte sein Monitoring. Sich retten? Es sind Menschen, Direktor! Es ist unsere Pflicht, ihr Leben zu schützen, egal was der Preis für ... Geben Sie auf sich acht, Nawtow. Ihr Monitoring ver weist trotz des Tranquilizers auf Unregelmäßigkeiten. Wahren Sie Ruhe. Beherrschen Sie sich. Sie dürfen nicht zulassen, daß es Ihnen wie Roque ... Wir stehen vor dem SCHEITERN, Direktor! Wie kann so etwas passieren? Was geht mit uns vor? Wissentlich nahm Skor Robinson im System eine Fehl schaltung vor, überlud für eine frappante Sekunde den
Giga-Verbund, verpaßte auf diese Weise Nawtows Gehirn eine Art von neurophysischer Ohrfeige. Der Assistenz-Direktor erschrak, instinktive Reflexe griffen ein. Nawtow, Sie müssen die Kontrolle über Ihren Körper selbst ausüben. Ich kann keine Zeit mehr abzweigen, um Ihr und Roques Monitoring zu überwachen. Haben Sie mich verstanden? Sie müssen selbst die Verantwortung für sich übernehmen. Ich ... ich ... habe verstanden. Ein kurzes Schweigen folgte. Was kann uns nur passiert sein, Direktor? Warum sind wir nicht dazu in der Lage, diese Krise zu meistern ? Wir bringen uns fast um, und dennoch gelingt es uns nicht, die Zivilisation aufrechtzuerhalten. Wie konnte es dahin kommen? Skor zwinkerte, sich der zahllosen dringlichen Bitten um Hilfe und Rettung bewußt, die übermäßig sämtliche Transduktionsfrequenzen beanspruchten, ins unendliche Blau. Sogar den Giga-Verbund überforderte die Aufgabe, den Direktoren Millionen von Funksprüchen durchzu stellen. Skor verschloß seinen Geist dem Lärmen der Mensch heit und hob dünne Finger, um sich die vor Übermüdung wunden Augen zu reiben. »Es ist so gekommen, weil ich einen Fehler begangen habe, Nawtow«, nuschelte er halb laut. Ein Erinnerungsbild von Damen Rees aufgewühlter Miene durchzuckte seinen enormen Verstand. »Ich habe Ngen Van Chow Vertrauen geschenkt.« Egal wie es sich ergeben hat, Assistenz-Direktor, wir tragen die Verantwortung, übermittelte er Nawtow. Sie, ich und Roque tun alles, wozu wir fähig sind. Es werden Menschen sterben, ja, aber wir haben nur so viele Raum schiffe, uns stehen nur so viele Alternativen offen. Fürs erste erteile ich Ihnen die Weisung, mit den verfügbaren, beschränkten Mitteln die größtmögliche Anzahl von Men schenleben zu retten. Alle anderen werden der Preis sein, den wir entrichten müssen.
Mühsam schluckte er. »Wie lange wird es noch dauern, bis wir uns zugrunderichten, Semri? Wo sind unsere Gren zen?« Skor stöhnte zutiefst menschlich, schabte sich mit den zierlichen Fingern die entzündeten Augen und widmete sich erneut der nachgerade unerfüllbaren Aufgabe, der Menschheit wenigstens einen Teil ihrer Zivilisation zu bewahren. »Durchhalten ... Wir müssen durchhalten, Nawtow. Ohne uns fällt alles auseinander.« *
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AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DER AKZELERATIONSPHASE VOR DEM ÜBERLICHTFLUG
Susan vertiefte sich vollständig ins Anleiten der Monta ge der Blaster und Schutzschirm-Generatoren. Sie befahl das Dekompressieren des halben Raumschiffs, Techniker zerschweißten Schotts und umverlegten Energiekabel. Ihr schwindelte fast vor Ausgelaugtheit, und sie wünsch te sich, Giorj wäre nicht angewiesen worden, auf der Projektil zu bleiben. Ihr technisches Personal bewährte sich tüchtig, doch Giorj hatte die Arbeiten dank seines Improvisationstalents in der Hälfte der Zeit abwickeln können. »Und ich belüge mich selbst. Ich habe ... Furcht. Ich habe davor Furcht, in meiner Kabine allein zu sein.« Auf dem Weg in ihr beengtes Quartier seufzte sie vor sich hin. Sogar in einer Werft hätte, was ihre Besatzung wacker binnen zwei Wochen zu schaffen versuchte, einen vollen Monat beansprucht. Susan betrat ihre Kabine, klappte die Koje hoch, um Zutritt zur Dusche zu haben, und genoß die warmen Wasserschwälle. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, indem sie gegen die Müdigkeit ihrer Augen anblinzelte, auf die Kommando
brücke zurückzukehren. Aber ihr Körper lechzte nach Schlaf. Mit bangen Gefühlen klappte sie die Koje herab und streckte sich darauf aus. Sie hatte noch keine Viertelstunde geschlafen, als aus den Tiefen zwischen ihren Hirnwindungen der Alptraum emporkroch. Vor ihr stand Ngen, feixte hämisch, indem er mit der Elektropeitsche über ihren bebenden Leib strich. Aus Grauen schweißbedeckt, keuchte und stöhnte sie im Schlaf, durchlebte abermals jede einzelne der ewigen Sekunden der Qual, während in ihrem Geist Ngens Stim me gurrte und säuselte. »Lust, mein Täubchen ...«, wiederholte er immerzu in seinem schmierigen Tonfall. »Laß mich dich Lust lehren.« Susan schrie, schrak senkrecht von der Koje hoch, in der selben Sekunde schaltete sich die Kabinenbeleuchtung ein. Sie hielt den Atem an, drückte eine verkrampfte Faust gegen den Halsansatz. Sie zitterte, kalter Schweiß rann ihr über den wie fiebrigen Körper. Wie bei einer Rasenden huschte ihr Blick durch die Kabine, blieb endlich auf der Stelle haften, wo Giorj hätte sein müssen, um sie in die Arme zu schließen. Die schmale Koje bot an ihn nicht ein mal eine Erinnerung. Susan orderte am Automaten einen Becher Kaffee und hockte sich in einen Winkel der Koje. Sie kauerte sich zusammen, stützte das Kinn auf die Knie, so daß das glän zende, schwarze Haar ihr wie ein Vorhang übers Gesicht fiel. Nicht einmal der dumpfe Schmerz in ihrem Herzen konnte das Entsetzliche des Alptraums verdrängen. »Giorj ... Wo bist du? Er ... er wartet irgendwo dort draußen. Und ich ... ich komme ihm näher und näher ...« Es schauderte ihr. Sie blieb allein mit den fürchterli chen Erinnerungen, dem Alptraum, den sie einmal in Wirklichkeit erlebt hatte. Es gab niemanden, der bereit war, sie von den gräßlichen Verunsicherungen, an denen sie seither krankte, zu befreien, sie davon zu erlösen. Schlaflos saß sie da, völlig vereinzelt in einem Raumschiff
voller Fremder, allein mit sich selbst und dem abscheu lichen Phantom Ngen Van Chows. Allein. Könnte sie sich irgendwem anvertrauen? Mit jeman dem über ihre Angstzustände sprechen? Vielleicht mit Mosche? Ihn kannte sie schon recht lange. Würde er sie in den Armen halten? Das Phantom verscheuchen? Nach drücklich schüttelte sie den Kopf. Es wäre zu unsicher mit ihm. Er würde mehr wollen — mehr als sie nach dem, was Ngen ihr angetan hatte, je wieder einem Mann geben konnte. Giorj dagegen war für sie ungefährlich. Während er eines der Schmuggler-Raumfahrzeuge Ngens umgebaut hatte, war er von einem Strahlenunfall betroffen und voll ständig desexualisiert worden. Der Teil seines Gehirns, der die männlichen Reaktionen steuerte, war schon vor Jahren irreparabel geschädigt worden. Er konnte sie in die Arme schließen, ohne daß sie ihn fürchten mußte. Jeder andere Mann würde das zarte Vertrauensverhältnis, das sie sich mit wahrer Verzweiflung ersehnte, bald zerstören. Susan trank den Becher Kaffee leer und lehnte den Hinterkopf an die Wand, lauschte auf die Vibrationen des Raumschiffs, eine der Konstanten an Bord. Durch die Schotts war gedämpft ein Hämmern zu hören: Irgendwo versuchte jemand widerspenstigem Stahl ein neues Ener giekabel aufzuzwingen. Wieso war sie so allein, obwohl sie ständig die Furcht zur Begleiterin hatte? Schlaflos und verängstigt blieb sie auf der Koje sitzen. Lange, eintönige Stunden verstri chen. * * * Patan Andojar Garcia rang ums Überleben. Sein an die unaufhörliche, einem Wasserfall vergleichbare Flut von Ereignissen, die ihm aus der Zeit entgegenstürzten, noch nicht gewöhnter Verstand bemühte sich, dem Andrang gewachsen zu sein, den Vorgang zu begreifen. So viele Kenntnisse! Sie erfüllten ihm ganz den Schädel, durch
brausten sein Dasein. Kaum hatte er seine Aufmerksam keit einer bestimmten möglichen Zukunft gewidmet und sah sie sich entfalten, wurde auch schon ein Cusp ent schieden, änderte sich ihr Gesamtbild, während Tausende von anderen Zukunftsausblicken auf ihn zudrängten, durcheinandertrudelten, auf ihn zugaukelten wie irrsinni ge Gespenster, so daß seine geistige Fassenskraft zerstob wie Spreu im Wind. Patan zwang sich vorsätzlich zu innerer Ruhe und ver suchte sich zu entspannen, Chester hatte erklärt, es bräuchte einige Zeit, um sich der wirren Gefühle zu entle digen, die fortwährend die Zukunftsgesichte trübten. Wie lange? Nochmals machte Patan seinen Geist von allem frei, um die Zukunft ihre Stränge entwickeln und zu einer Gegenwart flechten zu lassen, die ihn durchströmen und in die Vergangenheit weichen konnte. Doch das Wirkliche, das ihn umgab, störte ihn immer wieder; das unausgesetzte Pochen und Umherbewegen im Raumschiff beeinträchtigte sein Konzentrationsvermögen, machte es ihm unmöglich, die Veränderungen zu erfassen, wenn ein eine halbe Galaxis entfernt entschiedener Cusp alles wandelte. Die Unwägbarkeiten des freien Willens waren schlimm genug, aber dieses Stampfen und die Schwerkraftschwankungen ...?! Patan war benommen zumute, der Wirrwarr verursachte ihm körperliches Unwohlsein. Wie beim Donnernamen Spinnes hatte Chester je dazu die Zeit gefunden, so viele klassische Werke der Mensch heitsliteratur zu lesen? Beklemmung nahm Patan den Atem. »Was wenn ... wenn mir die Fähigkeit ermangelt, die Visionen meiner Gewalt zu unterwerfen? Propheten können wahnsinnig werden. Es kann ihnen widerfahren, daß die Zukunft sie aufsaugt wie ein Mahlstrom, so daß sie immer mehr von dem sehen, was werden könnte, und immer weniger von dem, was war ... Spinne, laß mir so etwas nicht zustoßen!« Noch während er vor sich hinmurmelte, verwirbelte
seine geistige Sicht, gestaltete sie in eine Erinnerung an etwas um, das einmal sein könnte: Einen bejammerns werten, unterernährten, dahingesiechten Schatten Patan Andojar Garcias, dessen Augäpfel ihm im Kopf nach oben verdreht waren, den er einen gellenden Schrei ausstoßen hörte, ein durchdringendes Geheul des Grausens, dessen Verzweiflung die Seele marterte. Patan zwinkerte, die Bilder, die sich abwechselnd auf ihn zu- und von ihm fortbewegten, flößten ihm abartige Furcht ein, während sein Geist mit den Sturzfluten aus der Zukunft, die ununterbrochen auf ihn zuwogten, irgendeine Art von Ausgleich herzustellen versuchte. Irgendwo zwischen Licht und Finsternis, zwischen Hoffnung und Verzagen, Furcht und Zuversicht verlief ein Weg, auf dem man den Irrgarten zahlloser ineinander ver zahnter Cusps und in stetigem Entfalten begriffener Ereig nisse mühelos zu durchqueren vermochte. Es kam darauf an — alles hing davon ab —, daß Patan Andojar Garcia diesen schmalen Pfad fand, bevor die Wirbelströ-me des Künftigen ihn unrettbar einsaugten ... oder durch unbe schreibliche Schrecknisse ihm die Verlockung, den Weg zu suchen, das Problem zu lösen, doch noch ein für alle mal verleideten. Verbarg sich in diesem grenzenlosen Labyrinth tatsäch lich die Wahrheit? Patan wirkte, als schliefe er, während er in tapferem Ringen um seine geistige Gesundheit stand; Schmerz zer furchte seine Miene, seine Hände ruhten im Schoß, die Lider hielt er geschlossen, um sich besser auf all das Ge waltige einstellen zu können, das sich in seinem Verstand ausbreitete. Nur sein Herz verriet, Schlag um gleichmäßi gen Schlag, seine Furcht. In seinem Körper sank, weil er hungerte, der Blutzuckerspiegel, und seine Fettreserven waren restlos aufgebraucht. * * *
»Wir liegen zu kurz.« Jose Grita Weißer Adler unter drückte einen Fluch, während er die durch den halben Korridor verlegte Länge Energiekabel betrachtete. »Wir müßten es geradlinig vom Reaktor heraufführen.« Darwin Pike wischte sich mit verdreckter Hand über die Stirn, um zu verhindern, daß ihm aus den triefnassen Brauen Schweiß in die Augen sickerte. »Das heißt, wir müssen unten, drei Schotten vorher, ein Loch in die Wan dung des Reaktorraums schneiden, alle Nahrungsvorräte umräumen, die Waffen und Schutzpanzer in den ST la gern und — am schlimmsten von allem — die zehn schon verlegten Meter Kabel aufrollen und die in die Zwischen wände gebohrten Löcher flicken.« Weißer Adler biß auf der Innenseite seiner Backe her um, ehe er aus einer mit Werkzeug vollgestopften Tasche ein Laser-Vermessungsinstrument kramte und den Ab stand zwischen dem Ende des Kabels und der Blasterla fette vermaß, die in einer dem Rumpf der Spinnes Vergel tung aufmontierten, neuen Waffenkuppel stand. »Fünfzehn Zentimeter zu kurz.« Er zuckte die Achseln. »Das heißt, außer du kannst Energiekabel in die Länge ziehen.« Pike stützte die Hände auf die Hüften und atmete hör bar aus. »Weißt du, sollte ich's noch erleben, daß ich ir gendwann mal zur Universität zurückkehre, breche ich Emmanuel Chem den alten Geierhals an fünf verschiede nen Stellen.« Darwin machte sich daran, das schwere, dicke, un handliche Kabel durch die Öffnung im letzten Schott zu rückzuschieben, durch die er es erst vorhin bugsiert hatte. Der einzige Vorteil der Schufterei bestand darin, daß er nicht zum Nachgrübeln über die irrwitzige Vision kam, die ihn seit der Suche nach Geistkraft verfolgte. Gleichzeitig ermöglichte die Plackerei es ihm, die Gehetztheit und Erschöpfung zu ignorieren, die er jedesmal in Susans Augen sah, wenn er ihr in den engen Gängen begegnete. Er schüttelte den Kopf, stemmte sich mit ganzem Körper
gewicht gegen das Schott, schaffte es, mindestens noch drei weitere Zentimeter des Kabels durchs Loch zu zerren. Was an ihr beschäftigte ihn so? Daß sie eine von fünf Frauen an Bord war — und davon unzweifelhaft die schönste? Oder hatte er sich tatsächlich in das Mädchen vernarrt? »Na los, Pike«, knurrte Weißer Adler herüber. »Wir müssen das Prunkstück in weniger als dreißig Stunden an der Leitung haben. Dann ist's nämlich Zeit für den Über gang zum Überlichtflug, weißt du noch? Die Komman dantin wird stinkwütend sein, wenn sie aus 'm wirklichen Weltraum hüpfen will und wir haben die Blaster nicht an 'n Reaktor gekoppelt. « Pike verdrängte Susan, das Schicksal und die toten Santos-Krieger aus seinen Gedanken und zog mit aller Kraft am Kabel. Zehn Stunden später taumelte Darwin — so müde, daß er kaum noch den Weg durch die schmalen Korridore fand — zu den Duschen und wusch sich den Schweiß und Schmutz ab. Er streifte frische Kleidung über den von Muskelkater geplagten Körper und überlegte, ob er schla fen sollte oder sich den leeren, ausgehungerten Magen vollschlagen, der unter seinen Rippen knurrte. Der Bauch behielt die Oberhand. Gegenwärtig aß die Crew unregelmäßig, griff sich im Kasino einen Bissen, wann sich gerade dazu eine Gele genheit ergab, etwa wenn die Arbeit Fortschritte gemacht hatte oder die Fäuste infolge der unentwegten Strapazen einfach erlahmten. Momentan hatte Darwin das Kasino ganz für sich allein. Er streifte ein Kontaktron über und tippte die Order für eine ausgiebige Mahlzeit ins Pro gramm. Er gähnte, reckte die Gliedmaßen und setzte sich, froh darüber, seine Ruhe zu haben, in eine Ecke. Sobald er das Tablett mit dem Essen vor sich hatte, ließ er sich erst einmal einen Augenblick lang das Wasser im Mund zusammenlaufen, bevor er das Besteck zur Hand nahm. Er wandte den Kopf und erstarrte mitten in der Bewegung.
Gebeugt stand Susan vor dem Getränkespender, sie zitter te sichtbar, ihre dunkle Haut war befremdlich blaß. Sie umklammerte einen Becher Kaffee, versuchte verzweifelt, ihn an die Lippen zu heben, ohne etwas zu verschütten. Spritzer der braunen Flüssigkeit rannen ihr über die Fin ger, Tröpfchen besprenkelten das Deck. Darwin klaubte Susan den Becher aus den Fingern — Kaffee schwappte nach allen Seiten, als sie zusammen fuhr —, faßte sie an den Schultern, fühlte ihre Muskeln beben. Sie blickte ihn an, war offensichtlich verärgert über seine Unverfrorenheit; doch aus Mattigkeit blieben ihre Augen stumpf. »Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?« fragte er leise, versuchte in ihrem Gesicht zu forschen, obwohl sie sofort eine Trotzmiene aufsetzte. »Mir ge-geht's gut, Doktor. Laß mi-mich in Ruhe.« »Dir geht's alles andere als gut. Ich würde sagen, du stehst 'n halben Schritt vorm Zusammenklappen.« »Es wird... Mir wi-wird's gleich wieder gut gehn.« Nun brauste sie auf. »Laß mich in Ruh! Ich kann hier nicht rumlungern. Wenn mich jemand von der Besatzung ... Laß mich los!« Darwin nickte, nahm sein Tablett und Susans Kaffee. Vom heckwärtigen Gang kamen Weißer Adler und ein Patrouillentechniker in das Kasino, unterhielten sich über Energiekabel. »Klar, Kommandantin«, sagte Darwin jovial. »Ich schaue mir die Daten mal an. Ich nehme das Tablett mit.« Ungezwungen lächelte er, nickte Weißer Adler zu und hob die Schultern. »Selbst dem abgeschlafftesten armen Schwein wird keine Pause gegönnt, Jose«, frotzelte er. Dann schob er Susan zum Kasino hinaus, schlug die Rich tung zu ihrer Kabine ein. Sobald die Tür hinter ihr zugerollt war, fiel Susan in die Koje, Konvulsionen schüttelten sie. Sie schloß die Lider, atmete gründlich durch. »Machst du hier oft sauber?« fragte Darwin, der be
merkte, daß der Fußboden in der hellen Beleuchtung glänzte. Alles in der Kabine war blitzblank. Nicht einmal in den Ecken sah man das kleinste Staubkorn. Verbrauch te sie so überschüssige nervöse Energie? »Danke für die Mühe«, sagte Susan matt, sah ihn aus rot geränderten Augen an. »Plötzlich ... habe ich so ein Zittern gekriegt. Ich konnte überhaupt nichts dagegen tun. Ich war auf dem Weg zur Kommandobrücke und dachte mir, 'n Becher Kaffee könnte mir helfen. Bisher war's immer so ...« »Klar, Koffeinrausch. Genau das richtige für flattrige Nerven. Aber darüber bist du inzwischen hinaus, Susan. Du brauchst Schlaf.« »Ich bin so stark beschäftigt gewesen. Es gibt soviel zu ...« »Ist es Trauer? Bedrückt dich noch immer das durch Freitags Tod verursachte Verlustgefühl? Du solltest nicht ... He!« Unversehens stand Susan geduckt auf den Beinen, hatte den ganzen Körper angespannt, war bereit zum An griff. »Nimm ja niemals wieder diesen Namen in den Mund!« In ihren schwarzen Augen drohte glitzrig der Irr sinn, sie stand in der Tat dicht vorm Überschnappen. Bedächtig nickte Darwin, wich um einen Schritt zu rück. Er wartete einen Moment lang ab, entsann sich des Bären, der aus dem Dunkel nach ihm gerufen hatte. Vor sicht, Darwin. Sie könnte durchdrehen und dir den Bauch aufschlitzen. Nur die Ruhe. Du mußt ganz locker und schlau an die Sache herangehen. Wenn sie jetzt verrückt wird, dürfte sie sich nie mehr erholen. »Ich bedaure wirklich, daß ich ihn nie kennengelernt habe«, sagte er unter Aufbietung aller Nervenstärke in gleichmäßigem Ton. »Mein Leben ist deswegen ärmer.« Im nächsten Augenblick zögerte Susan. Der Zorn in den dunklen Augen schwand, milderte sich von wilder Erbitterung zu bloßer Resignation. Sie sank in ihrer Kör
perhaltung ein wenig ein, dann ließ sie sich langsam wie der in die Koje sacken, senkte den Kopf in die Hände. »Entweder bin ich eine unglaubliche Närrin ... oder halb eine Prophetin«, sagte sie; ihre Stimme klang wie das Schrammen einer Raspel auf Holz. »Gerade hat wenig gefehlt, und ich hätte dich umgebracht.« »Ich weiß ... Aber meine Furcht vor dem Sterben ist nicht mehr so schlimm wie früher. Sie ist der Furcht vor dem, was noch bevorsteht, beinahe vorzuziehen. Ich hof fe, es wird nicht so grauenvoll wie die Hölle, der du stän dig zu widerstehen hast.« Susan lehnte sich zurück, das lange Haar rutschte ihr locker auf die Schultern, schimmerte im Lampenlicht. Darwin beobachtete, wie an ihrem Hals der Pulsschlag pochte. In ihren Fingern hatte das Zittern nicht nachgelas sen. Doch am schlimmsten war der Anblick ihrer Augen: Sie spiegelten Ruhelosigkeit, Zerquältheit und Wahn. »Pike, stell dein Glück nicht auf die Probe. Nicht jetzt. Ich bin so gut wie fix und fertig. Ich bin völlig überreizt und nervlich am Ende, und das letzte, was ich nun brau che, ist deine Fürsorge. Naja, jedenfalls danke ich dir, weil du mir eben aus der Patsche geholfen hast. Ich weiß 's zu schätzen und werde künftig besser aufpassen. Vielen Dank noch mal. Die Tür ist direkt hinter dir.« »Möchtest du mir nicht verraten, weshalb du nicht schlafen kannst? Ich habe zu allen möglichen und unmög lichen Uhrzeiten gearbeitet und immer deine Stimme aus der Kommu gehört. Anscheinend bist du pausenlos im Dienst. Irgend etwas zehrt doch innerlich an dir. Nach dei ner Reaktion vorhin geurteilt, spielt Freitag dabei nur teil weise eine Rolle.« »Du bist unbelehrbar, was?« Wachsam musterte Susan ihn. »Ich habe unmißverständlich den Drang, dich zu töten. Das wäre erheblich einfacher, als sich mit einem lästigen Quertreiber wie dir herumzuplagen. Und zudem wäre mir danach voraussichtlich wohler zumute.« »So? Eigentlich glaube ich das nicht ... Wenigstens
wär's auf lange Sicht nicht so. Du würdest nur das Unab wendbare aufschieben. Was wäre geworden, hätte Haupt mann Raschid dich dermaßen schlottern gesehen? Du hast im Kasino die Beherrschung verloren ... bist fast in Panik geraten. Du müßtest jetzt in der Bordklinik liegen und einen Tranquilizer verabreicht bekommen haben. Dadurch würde deine Führungsfähigkeit in Frage gestellt. Es kann sein, man zweifelt sie schon an. Susan, zu vielen Leuten fällt schon auf, daß du dich mit irgendwelchen Schwierig keiten herumschlägst.« Susans Lachen glich eher einem Schnauben. »Pike, du gottverdammter Scheißkerl, du gibst nie auf, was? Kein Wunder, daß du überall bloß Ärger verursachst. Du kennst überhaupt keine Rücksicht. Verflucht, nur weil ich nicht schlafen kann, ohne schlecht zu träumen, hast du noch längst kein Recht ... Es ist ... dieser Alptraum ... Er kommt jedesmal, wenn ich ... die Augen zumache ... Und ich ... ich ...« Ihre Fäuste krallten sich in den Stoff der Uniform. Plötzlich hob sie, als sie merkte, was sie ausgesprochen hatte, den Blick, ihre Augen neigten zum Glasigwerden. »Ich ...« Vorsicht. Sie steht auf der Kippe. Sie befindet sich auf einer sehr gefährlichen Gratwanderung ... wankt am Rande des Abgrunds, kann jeden Augenblick ins Verderben stürzen. »Mir geht's manchmal auch so«, log Darwin. »Die Schlafstimulation hilft ganz gut dage gen.« »Nicht ... wenn man die Kommandantin ist ... und be fehligen muß. Die Schlafstimu ... vermindert in der ersten Stunde nach dem Aufwachen die Reaktionszeit.« »Hör mal...« Irritiert winkte Darwin ab. »Vielleicht hilft's dir, wenn ich hier sitzen bleibe und einfach bloß meine Mahlzeit esse, während du dich hinlegst und end lich mal 'n bißchen pennst. Ich bin die letzte Person in der Welt, die über dich herfällt, wenn du's am wenigsten erwartest. Erstens mache ich so was schlichtweg nicht, und zweitens ... würdest du mich so schnell kaltmachen,
daß meine Seele zu Spinne heimfliegt, bevor meine Lei che auf 'n Fußboden knallt. Stimmt's?« »Ich werd's gleich überwunden haben«, beharrte Susan verstockt. Aber der Ausdruck von Wahnhaftigkeit hatte aus ihren Augen zu weichen begonnen, war durch tiefste Abgekämpftheit ersetzt worden. »O Gott, was ist nur mit mir los ...?« »Es könnte dir helfen, wenn du weißt, daß jemand bei dir ist. Jemand Vertrauenswürdiges. Ich denke mir, das ist bisher auch sehr wichtig für dich gewesen.« Er hatte recht; in ihren Augen erkannte er es. »Dein Kommandoposten hängt davon ab, Susan. Du bist zu gut, um ihn wegen so etwas zu verlieren.« Mit merklichem Unbehagen lachte Susan auf, rieb die Hände an der Uniform. »Na gut, Doktor. Ich bin nicht si cher, ob's klappt, aber ich will's versuchen. Inzwischen bin ich so verzweifelt, daß ich sogar den Rat eines irrwitzigen Terraners annehme.« »Vielen Dank für das großzügige Vertrauen«, antwor tete Darwin gedämpft und machte sich über sein Essen her. »Und du hast recht. Ich brächte dich um, solltest du je ... je ... Egal.« Sie legte sich aufs Bettzeug der Koje, blieb jedoch dabei, zwanghaft regelmäßig zu ihm herüberzu schielen. Darwin beendete die Mahlzeit und nahm Susans Kon taktron vom Regal. Versonnen glitt sein Finger übers glat te Metall. Er warf einen Blick auf Susan und beobachtete, wie ihre Brust sich hob und senkte. Beim Einschlafen waren in ihrem Gesicht die finsteren Schatten der Sorge milder, war ihre Miene sanfter geworden, so daß sie jetzt wie eine schutzlose Schönheit aussah. Pike aktivierte das Kontaktron, doch diese neue Facette Susan Smith Ando jars beschäftigte ihn nachhaltig. Dies Kontaktron saß täglich auf ihrem hübschen Köpf chen? Er betrachtete ihre Gesichtszüge. Ihm war klar, daß sie ihn unter anderen Umständen, bei all den Kriegern, die
sie umgaben, nie beachtet hätte. In wohlwollender, aller dings mit Bedauern vermischter Stimmung schob er sich das Kontaktron auf den Kopf, spürte den vertrauten Vor gang der Erwärmung. Er griff auf ein technisches Hand buch zu und fing mit Interesse zu lesen an, versuchte nach träglich zu durchschauen, was er heute an den Blastern verrichtet hatte. Es las vielleicht fünf Minuten lang, während seine Li der immer schwerer wurden. Er blickte zu Susan hinüber: Sie schlief fest. Darwin lächelte, schaltete das KommuGerät ab, schwang die Füße auf das Tischchen und ließ sich eindösen, indem sich tief in ihm ein frohes Gefühl der Befriedigung ausbreitete. Ein unterdrückter Aufschrei weckte ihn. Als er auf springen wollte, fiel er, weil seine Beine völlig taub ge worden waren, vom Stuhl/Susan wand sich in der Koje, trat um sich, die Schrecken eines Alptraums verzerrten ihr Gesicht. »Susan? Susan! Es ist nur 'n Traum. Verdammt, wach auf!« Er humpelte zu ihr, stieß ihr eine Ecke des Tabletts in die Seite. Wie eine Katze wirbelte sie herum, schmet terte das Tablett an die Wand, blinzelte anschließend, in dem sie allmählich zu sich kam, wie eine Eule. »Es ist alles in Ordnung, 's war bloß wieder dein Alp traum.« Einfältig schmunzelte Darwin. »Ich habe das Ta blett genommen, weil ich dachte, sonst brichst du mir womöglich das Genick.« »Pike?« fragte Susan mit vom Schlaf schwerfälliger Stimme, hob den Blick und zwinkerte ihn an. »Ja, ich bin's.« Darwin bückte sich nach dem Tablett und stieß ein Keuchen aus. In seinen Beinen kribbelte es heftig, indem die Durchblutung sich wieder belebte, ihm war, als würde er mit Nadeln gestochen. »Alles klar mit dir?« »Mir sind die Beine eingeschlafen. Komm, leg dich wieder hin. Ich bin hier. Du kannst ruhig weiterschlafen. Du bist in Sicherheit.«
Susan wälzte sich herum, brummelte irgend etwas, rollte sich ein. »Danke, Giorj.« In achtloser Erleichterung seufzte sie. Pike öffnete den Mund, hatte eine hitzige Bemerkung auf den Lippen, aber verkniff sie sich. »Schlaf, Susan«, flüsterte er statt dessen. »Schlaf nur.« Als Darwin fünf Stunden später zum zweitenmal er wachte, waren seine Beine infolge des Hochlegens erneut gefühllos geworden, aber Susan schlief noch. Er durchlitt noch einmal die Beschwerden der wiederbelebten Durch blutung, bevor er aufstehen konnte. Auf dem Monitor hinterließ er eine Mitteilung. Hallo! Sah so aus, als lägst du in richtig gesundem Schlaf. Ich gehe mal davon aus, daß das Problem für diesmal erledigt ist. Falls ich mich täusche, ruf mich an. Dein Reparateur * * * Zu seiner Verwunderung sah er sie fast drei Tage lang nicht mehr. Als er ihr dann wiederbegegnete, befand er sich gerade inmitten einer Gruppe Soldaten und Techni ker. Er wirkte, als wäre er cyborgisch in ein Schott inte griert worden, wie er da ein Energiekabel hoch über sei nen Kopf hielt, Schweiß ihm die Nase hinabtroff. Der kurze Moment, für den er Susan sehen konnte, reichte aus, um zu erkennen, daß sie einen wesentlich ausgeruhteren Eindruck als vorher machte, wenn auch nicht hundertprozentig erholt aussah. Flüchtig erwiderte sie seinen Blick und nickte, überraschte ihn mit einem zu rückhaltenden Zuzwinkern. Darwins Herz wummerte, langsam verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, während Susan sich zur Kom mandobrücke entfernte.
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AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DES ÜBERLICHTFLUGS
Sie wechselten planmäßig in den Überlichtflug über. Zu Darwins Mißfallen verringerte sich dadurch keineswegs das Arbeitsquantum. Vielmehr brachte er schier endlos viele Stunden an der Aufgabe zu, die Anlagen des Raum schiffs umzumodeln und die merkwürdigsten, durch in novative Ingenieure und ihre fähigen Techniker ausge heckten und zurechtgebastelten Maschinerien zu vervoll kommnen. Da die Spinnes Vergeltung nun die Funktion eines Kriegsschiffs übernehmen sollte, mußte sie gewisse Anforderungen bezüglich der Schadensbekämpfung so wie Reparatur- und Wartungsmöglichkeiten erfüllen. Nach und nach eignete Darwin sich Kenntnisse der co dierten Spezifikationen für Patrouillen-Raumflugkörper an. »Weißt du was?« meinte Weißer Adler zu ihm und beugte sich über einen Teil einer Gravo-Platte, die sie aus einander- und in anderer Form wieder zusammenge schweißt hatten. »Du hast 'ne echte Begabung fürs Durchschauen von Maschinen.« Er zog sich die Spektroskop-Sensorbrille von den Augen und desaktivierte sie durch Tastendruck. »Ich staune noch immer über diese Sachen. Vor einem Jahr hat wer mir erklärt, Wasserstoff ist ein Gas. Früher dachte ich, Gase kämen von zuviel Essen. Jetzt achte ich hier auf Wasserstoff-Kontaminatoren. Und was, wenn ich welche entdecke? Ich besprühe sie und glühe sie weg, damit die Gravo-Kompensatoren funktionieren und wir nicht hinklatschen und auch platt werden.« Darwin wischte sich eine verschmierte Hand am Ove rall ab und beugte sich vor, um eine Kompressorlagerung in ihren Laufring einzusetzen. »Das stammt noch aus der
Zeit, als ich meinem Vater behilflich sein mußte. Er hat daheim auf der Erde eine Menge mit der Klimakontrolle zu tun gehabt. Ich würde sagen, ich bin mit Gerätschaften aufgewachsen. Und man lernt viel darüber, wie man Appa raturen zurechtflickt, wenn das eigene Leben davon abhängig ist. Wenn das Airmobil auf 'm Packeis ausfällt, muß man sie eben reparieren, oder man kommt nicht le bend nach Hause. Wie du siehst, ist's mir jedesmal gelun gen, mein Airmobil wieder hinzukriegen.« »Auf 'm Eis lernt man keine Gravitationstheorie«, sagte der Patrouillentechniker, der mit Weißer Adler und Darwin zusammenarbeitete. Pike grinste. »Nee, die habe ich buchstäblich im Schlaf gelernt.« »Unter Schlafsynchronisation?« Der Tech massierte sich das Kreuz. »Ich glaube fast, ich treibe euch zuwenig an.« »Was soll ich dazu sagen? Keine Ahnung. Ich bjn eben zum Studieren geboren.« Und genausowenig habe ich eine Ahnung, was, zum Teufel, Spinne für mich bereithält, Kamerad. Und dabei ist Wissen Macht ... und bedeutet Überleben. Pike führte das Sonik-Schweißgerät um den Laufring des Kompressors. »So, das war's. Ich lege jetzt 'n Päus chen ein. Falls mit dem Ding irgendwelche Betriebs schwierigkeiten auftreten« — er tippte mit dem Schweißgerät gegen den Kompressor — »nehme ich's in der nächsten Schicht als erstes auseinander.« Er fand den Propheten, wie er auf dem Deck ruhte und schlief. Er betrachtete den hohlwangigen Jugendlichen, sah seine Augen in der REM-Phase zucken, hob ihn behut sam auf seine Arme. Da entdeckte er, der Prophet war mittlerweile dermaßen abgemagert, daß er nur noch aus Haut und Knochen bestand. Darwin fühlte seinen Puls, schnitt eine Miene ernster Bedenken und trug die klapper dürre Gestalt in die Bordklinik. »Wissen Sie irgendwie über diese Prophetentypen Be scheid?«
Die Medizinerin, eine Frau im Obergefreitinnenrang, die ihm entgegengekommen war, blieb stehen, spähte un behaglich rundum. »He, lassen Sie bloß keinen Romana ner was Respektloses über Propheten hören. Was Prophe ten anbelangt, werden sie ganz fix nervös.« »Es dürfte sie noch nervöser machen, wenn wir Patan sterben lassen. Untersuchen Sie ihn. Ich glaube, er hat ta gelang nichts gegessen ... oder sogar seit Wochen nicht mehr.« »Helfen Sie mir, ihn da hineinzuschieben.« Die Ober gefreitin klappte den Deckel einer Med-Einheit hoch. Gemeinsam mit Darwin streckte sie den Propheten auf dem Liegepolster aus, legte ihn zurecht. Sobald sich der Deckel senkte, nahmen Monitoren den Betrieb auf. »Heiliger Spinne, er ist am Verhungern.« Ratlos sah die Obergefreitin Darwin an. »Was ist mit ihm los? Selbst wenn er noch nie 'n Spendeautomaten benutzt hat, hätte er doch nur zu fragen brauchen.« Darwin hob die Schultern. »Soviel ich gehört habe, sind Propheten was besonderes. Kann es sein, daß er aus irgendeinem Grund fastet? Vielleicht sollten wir lieber auf intravenöse Ernährung verzichten.« Die Med schüttelte, während sie das Scanning des Gehirns beobachtete, den Kopf. »Gottverdammt, es stimmt, was Bruk erzählt. Schauen Sie sich mal die Aktivität des Gehirns an. Es müßte eigentlich völlig überlastet sein. Marty hat, wie aus seinem Bericht hervorgeht, bei seinen Untersuchungen Chesters das gleiche Syndrom festgestellt. Ich wüßte gern, ob ... Sie haben während Ihres Studiums doch auch ontogenetische Anatomie studiert, oder? Denken Sie mal an die Veränderung der Hirnstromkurven während des Hirnwachstums. Sicher wissen Sie noch, daß das Gehirn bis zum zweiten Lebensjahr ausschließlich mit Lern- und Problemlösungsprozessen befaßt ist? Vielleicht liegt hier das gleiche vor. Er lernt sein Hirn zu benutzen. Ich glaube, wir vermuten richtig. Ich würde wetten, er wird ganz einfach viel zu stark von den Visionen überwältigt.«
»Und was nun?« Die Med kaute am oberen Ende ihres Stifts, während sie am Monitor Datei um Datei einsah. Schließlich nickte sie, sichtete einen Text. Beim Lesen gab sie bisweilen ein Brummen von sich. »Ja, ich glaube, das ist's. Wie's aus sieht, befindet er sich in einem Zustand, den Bruk in sei nem Bericht als Orientierungsphase bezeichnet. Er ist noch dabei, die Beherrschung seiner Fähigkeit zu lernen. Entweder übersteht er die Phase und kann von da an mit dem Zukunftschaos umgehen, das er sieht ... oder er wird vollständig autistisch, weil er geistig so weit in der Zukunft ist, daß er nicht umkehren kann. Und zudem wird er, falls Bruk recht hat, gar nicht zurückkehren wollen.« »Können wir irgend etwas für ihn tun?« »Klar«, antwortete die Med mürrisch. »Warten Sie mal ... Aha, da. Mir ist bekannt, daß das letzte, was man bei einem Propheten probieren sollte, Psyching ist. So ein Versuch geht katastrophal schief. Überhaupt sprechen nur ein Drittel aller Romananer aufs Psychen an, bei einem Drittel hat die Methode gar keine Wirkung, und beim letz ten Drittel ... Na, da wird die Sache echt schaurig.« »Inwiefern schaurig?« Ernst musterte die Med ihn, klemmte mit einer Geste der Endgültigkeit ihren Stift an den tragbaren KommuApparat. »Ihr Verstand wird dadurch in einer Weise über lastet, deren Folgen Sie sich nicht mal in den ärgsten Alpträumen ausmalen können. Sie drehen vollkommen durch. Das Ergebnis ist ein Psychotiker, dessen Körper buchstäblich von innen platzt. Wirklich wie im Alp traum.« In der nächsten Zeit nutzte Darwin jede Gelegenheit, die sich ihm bot, um nach dem ausgemergelten Schamanen zu sehen. Dank der Fürsorge und Behandlung in derBordkli nik stabilisierte sich seine Verfassung, ohne daß sich jedoch an seiner Situation viel änderte; seine Hirnaktivität blieb hochgradig rasant.
Pike merkte nicht genau, wann es geschah, aber ir gendwann wurde er mitten während all der Arbeit zu ei nem Mitglied der Besatzung. Geflügelter Stier Reesh und Jose Weißer Adler akzeptierten ihn als Ebenbürtigen. »Was macht ihr, wenn wir zurück auf Welt sind?« er kundigte sich Darwin einmal in einer Pause. »Ich habe vor, für 'ne Weile zu Hause zu bleiben«, sagte Reesh mit festem Nachdruck. »Fünf Kinder muß ich aufziehen. Ich werd's leid, zwischen den Sternen umherz uflitzen. Ein Mann braucht Zeit, um seine Kinder großzu ziehen.« Weißer Adler schüttelte den Kopf. »Er wird's niemals daheim aushalten. Wenn der Kriegshäuptling uns ruft, nimmt er sein Messer.« »Nein.« Ansatzweise lächelte Reesh. »Ein paar Kriegs züge kann ich ruhig auslassen. Auf Sirius ist mir klar geworden, daß Spinne meine Seele jederzeit zu sich holen kann. Ich bin der Ansicht, zu Spinnes Vorteil noch viel ler nen zu können, indem ich miterlebe, wie Söhne groß und Töchter schön werden. Hast du irgendwo 'ne Frau, Dar win?« »Ich hatte mal eine.« Darwins Gedächtnis rief die Erin nerung an einen längst vergangenen Tag herauf. »Sie war die Schwester meines engsten Freunds Jokut Iglulik. Sie und ihre Mutter sind im Golf von Alaska umgekommen. War ein total blödes Mißgeschick. Der Bordcomputer ihres Turboboots hat ein Navigationssignal fehlinterpre tiert, und das Boot hat einen von Solarsatelliten gebündel ten Strahl Sonnenlicht durchfahren. Diese Strahlen dienen zum Erwärmen arktischer Gewässer für die Plankton zucht. Beide sind augenblicklich zu Tode gesengt wor den.« »Ich hoffe, Spinne hat ihre Seele bei sich behalten.« »Es ist nicht mehr so wichtig«, sagte Darwin stoisch. »Inzwischen ist es lange her. Jokut ist ein paar Jahre spä ter bei einem Airmobilunfall umgekommen. Anscheinend verliere ich meine Freunde immer durch diese oder jene
Pannen. Aber wenn man noch jung ist, fühlt man den Schmerz nicht so tief und weniger lange. Vor seinem Tod hatte ich Jokut fast für 'n Jahr nicht gesehen. Ich war an der Universität und hatte mich zu tief in meine Studien verbissen, als daß ich Zeit zum Trauern gefunden hätte.« »Der Tod verschont keinen von uns«, stellte Weißer Adler fest. Geflügelter Stier lächelte. »Das ist das passen de Stichwort, um wieder an die Arbeit zu gehen.« Darwin lachte und nahm die Schleifmaschine, die er vor der Pause in Gebrauch gehabt hatte. Seit den alten Zeiten am Beringmeer hatte er sich nicht mehr so sehr wie jetzt als Teil einer Gemeinschaft gefühlt. Vier Wochen Flugzeit von Basar entfernt verließ die Flottille das Überlicht-Kontinuum. Von nun an sollte die Geschwindigkeit progressiv verringert werden, um zu ver meiden, daß Fernsonden-Sensoren die Schiffe erfaßten. Darwin schaute zu, wie auf einem Bildschirm Rita Sarsa und Neil Iverson ihre Raumschiffe jedes auf einen anderen Kurs steuerten und sie langsam im Weltraum schwarz davonschrumpften. »Da fliegen sie«, murmelte Weißer Adler wie im Selbstgespräch. »Nun sind wir auf uns gestellt. Sie greifen Arpeggio und Mysterium an, um für den Fall, daß unsere Mission auf Schwierigkeiten stößt, Ngen abzulenken. Wir wollen hoffen, daß Basar nicht durch Kriegsschiffe geschützt wird, hm?« »Drei kleine Raumschiffe vor einer solchen Aufgabe«, sagte Darwin. »Nie in meinem ganzen Leben hätte ich je gedacht, ich könnte irgendwann mal mitten in 'm Krieg stecken.« Auf der Kommandobrücke behielt Susan die Anzeigen im Auge, während Antennen und Sensoren den benachbar ten Weltraum scannten. Drei Stunden später nickte Sig Marggaff ihr zu, schaltete den Transduktionsempfänger auf die Kommu. Susan lehnte sich in den Kommandoses sel und wartete, bis die Computer den Großteil der Hinter grundgeräusche herausgefiltert hatten.
»Es ist 'ne Funksendung aus dem Umkreis Arpeggios«, rief Sig ihr schließlich zu. »Spielen Sie mal ab.« Auf dem Hauptmonitor erschien die Wiedergabe eines Mannes, der eine mit Gold bestickte Keffijeh trug. Susan zuckte zusammen, verharrte stocksteif an ihrem Platz. Sie schloß die Lider, umklammerte die Armlehnen des Sessels, lauschte der ihr nur allzu bekannten, öligen Stimme, die über Deus und die Schandtaten Satans im Direktorat schwatzte. »Nehmen Sie's ... auf«, befahl Susan mit gepreßter Stimme, rang um Beherrschung. »Ich bin in meinem Quartier, falls was Wichtiges anliegt. Bei Alarm bin ich sofort zu verständigen.« Auf wackeligen Beinen verließ sie die Kommando brücke. Kaum war sie im Korridor, erstickte sie einen Auf schrei des Grauens in ihrer Kehle, sie torkelte gegen die Wand, taumelte; zum Glück kam gerade niemand vorbei. Vor ihrer Kabine klatschte sie die Hand auf den Servomat-Scanner, schwankte hinein, drückte sich in eine Ecke; ihr Verstand war wieder ins Wanken geraten, Erinnerungs bilder Ngens bedrängten sie, drohten sie zu überwältigen, seine Stimme schien ringsum aus der Luft zu säuseln. Susan krümmte sich vornüber, beide Ohren mit den Hän den bedeckt, als könnte sie sich so die schmeichlerischen Töne seiner Stimme fernhalten. »Ich muß damit fertigwerden«, sagte sie sich zähne knirschend. »Er ist dort irgendwo. Ich komme ihm immer näher. Aber er kann mir nichts tun. Er weiß nicht einmal, daß ich noch lebe.« Ich muß daran glauben. Unbedingt. Wir befinden uns in feindlichem Weltraum. Jede Begegnung kann unseren Untergang bedeuten. Als Kommandantin muß ich jederzeit handlungsfähig, gelassen und gefaßt sein. Jedes einzelne Menschenleben auf diesem Raumschiff — vielleicht sogar ganz Welts — hängt von meinem Leistungsvermögen und meinem klaren Kopf ab. Ihr Körper verkrampfte sich,
wenn in der Erinnerung Ngens Gesicht sie höhnisch angrinste, während er in sie eindrang und sie sich gegen ihren Willen ihm sehnsüchtig und gierig öffnete, sie von Grauen und Ekel erfüllt die Reaktionen ihres eigenen Kör pers registrierte. Susan versuchte sich zu beruhigen, sich an Chester Armijo Garcia und die Dinge zu entsinnen, die er an dem Tag zu ihr gesagt hatte, als es ihm gelungen war, sie aus ihrem halb psychotischen Wahn zu reißen. Doch wie an gestrengt sie sich auch abmühte, die einzigen Worte, die ihr durch den Kopf gingen, blieben Ngens Faseleien. Nahezu hysterisch griff sie nach dem Kontaktron, drehte das zierliche Stück Elektronik grob zwischen den Fingern. Falls ich mich täusche, ruf mich an, hatte Pike geschrieben. Wenigstens er war harmlos, ein friedlicher Terraner, der lediglich komische Vorstellungen von sich selbst hatte. »Bevor diese Woche um ist, meine süße Susan, werde ich dich nach mir rufen hören ...« »Ngen, du sollst verflucht sein!« schrie Susan, schüt telte die geballten Fäuste, ihr entfuhr ein verzweifeltes, wildes Schluchzen. »Du wirst die höchste Wollust auskosten dürfen, meine wunderbare Susan ... Bevor diese Woche um ist ... werde ich dich rufen hören ... rufen hören ...« »NEIN!« Nur mit Mühe schaffte sie es, während sie ihr Zittern zu unterbinden und das Schluchzen zu unterdrük ken versuchte, sich das Kontaktron auf den verschwitzten Kopf zu setzen. »Dr. Darwin Pike bitte in die Kabine der Kommandan tin.« Nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, nahm sie zusammenschaudernd, das Kontaktron ab und warf es auf die Koje. Was nun? Es stand ihr noch immer frei, ihm einfach ein paar Routinefragen zu stellen und dann weg zuschicken. Ihre Hand bebte. Es hätte keinen Zweck: Er mußte auf den ersten Blick merken, daß mit ihr etwas nicht stimmte.
»Besser ... besser als Ngen. Besser als die Erinnerun gen.« Sie lag halb eingerollt in der Koje und wartete. Er hatte ihr zu schlafen ermöglicht. Danach hatte sie ihn unter genauer Beobachtung behalten. Kein einziges Mal hatte er Bemerkungen über ihre Schwäche gemacht. Nicht eine einzige Andeutung hatte er zu irgendeinem der Krieger geäußert. Dennoch: Wie weit durfte sie ihm trauen? »Dr. Pike«, informierte der Tür-Servomat sie per Kommu. »Her ... Herein.« Pike trat ein; er war vom Arbeiten verdreckt, aus der Tasche hing ihm ein Ultraschallhammer. »Setz dich«, sagte Susan gedämpft, bewegte den Mund, um die Trockenheit ihres Gaumens zu lindern. Darwins flinke Augen musterten sie, während er auf dem Stuhl Platz nahm. »Du hast geweint.« Susan schloß die Augen. »Ich brauche bloß jemanden, mit dem ich reden kann.« »Wir haben alle gehört, daß eine Funksendung Van Chows aufgefangen worden ist.« Darwin betrachtete sei ne schmutzigen Handrücken. »Hör mal, Susan, ich weiß, daß hinter dem, was dich quält, irgendwie Van Chow steckt.« Er schob die Hände in den Ionisator neben dem Einstieg zu der kleinen Dusche, schaute Susan an. »Was kann ich tun, um dir zu helfen?« Susan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Es war verrückt von ihr, so ein Risiko einzugehen! Warum hatte sie nicht darauf bestanden, daß Giorj sie begleitete? Er wußte Bescheid. Er war dabei gewesen. Nur von Giorj ging für sie keine Gefahr aus. »Die Energiekabel der Blaster sind beinahe betriebsbe reit. Inzwischen verstehe ich fast, was wohin gehört und warum so einiges bis jetzt nicht funktioniert. Für einen naiven Akademiker ist das eine unglaubliche Steigerung.«
Susan winkte ihm zu. »Sprich bitte weiter. Rede ganz einfach drauflos, damit ich ... klar denken kann.« Wäh rend er weitererzählte, beruhigten sich ihre Gedanken gänge. Ngen blieb im Hintergrund ihres Bewußtseins, fürs erste verdrängt, so daß sie Kräfte sammeln konnte, die Fähigkeit fördern, ihm zu trotzen. Pike sprach eine Stunde lang, ließ sich ausgiebig über das Raumschiff aus, sein Verhältnis zu Geflügelter Stier Reesh und Jose Grita Weißer Adler sowie den Propheten, dem er immer, wenn er Freizeit hatte, einen Besuch ab stattete. Schließlich lachte Susan nervös auf und hob eine Hand. »Es genügt, Doktor.« Trübsinnigen Blicks besah sie sich das Fußende der Koje. »Weißt du, es ist merkwürdig. Ich habe einige der schwersten Kämpfe auf Sirius mitge macht. Dort habe ich Sachen gesehen, die ... Na, jedenfalls bin ich, so unwahrscheinlich es gewesen sein mag, jetzt hier, Doktor. Ich habe die sirianische Gefangenschaft durchgehalten ... und sogar durchgestanden, was ... was Ngen Van Chow mir angetan hat. Aber was mich sorgt, ist die Frage, ob ich es tatsächlich hinter mir habe ... oder ob ich tief innen immer seelisch labil bleiben werde.« Sie preßte harte Handflächen auf ihre rotgeränderten Lider, rieb sich die Erbitterung aus den Augen. Darwin legte den Kopf seitwärts, wartete ab. »So ein verdammter Schuft!« Susan rieb sich den Nak ken. »Ich muß damit leben ... Aber er hat Psyching ver wendet ... Verstehst du? Ich ... Bei Spinnes Fluch, ich weiß nicht einmal, ob ich für eine Kommandofunktion tauge, Pike. Was wäre, wenn ich ... es abgeben muß? Ich werde nun wieder mit Van Chow zu schaffen haben. Ich könnte ... könnte Fehler begehen, die uns alle das Leben kosten. Weißt du, einmal hat er mich schon kleingekriegt. Er hat mich fertiggemacht... mit seinen... seinen...« Müh sam schluckte sie, die Kehle zog sich ihr zusammen.
»Weshalb hast du's nicht herumerzählt? Du hast doch ge sehen, wie dicht ich vorm Zusammenklappen stehe. War um nicht?« Darwin hob die Schultern. »Ich wüßte keine bessere Kommandeurin. Du bist die beste Kommandantin, die ich kenne.« Er runzelte die Stirn und stützte die Fingerkuppen aneinander. »Ich kann's, verflucht, selbst nicht erklären, aber ich vertraue dir. Wenn jemand uns hin- und zurük kbringen kann, dann du. Trotz Ngen.« »Vertrauen? Das ist eine schreckliche Bürde, Doktor. Nur wenige sind würdig. Und bedenke, ich bin's nicht. Es könnte sein, du wirst erwischt, und ich bin weg.« Pike nickte. »So könnt's kommen. Du mußt an das Raumschiff denken. Mein Leben ist unwichtig. Es ist we sentlich, daß Ree Daten und Informationen erhält. Damit habe ich mich abgefunden.« Susan schloß die Augen und atmete tief durch. »Und dort irgendwo ist Ngen und strahlt Funksendungen aus, die mir Grauen einflößen. Bei Spinne, was soll ich nur machen, wenn ... wenn ...« »Ich weiß es auch nicht. Möchtest du dir vielleicht die Aufzeichnung dieser Funksendung einmal anschauen und sehen, welche Wirkungen sie auf dich ausübt? Wir können sie ja jederzeit abschalten. Ich glaube, es ist den Versuch wert, mal zu prüfen, ob du's verkraften kannst.« Mit neu traler Miene nahm Darwin den Blick von seinen Fingernä geln. »Die meisten Probleme lassen sich beheben, wenn man sie nach und nach angeht, sozusagen stückchen weise.« »Kommu, ich brauche die Datei mit der Funksendung Van Chows, die wir vorhin aufgenommen haben.« Susans Stimme hatte den Klang von Autorität. Doch sobald der Holo-Bildschirm Ngens fanatische Gesichtszüge zeigte, schrak sie zusammen. Es schauderte ihr, als die schleimig schmeichlerische Säuselstimme die Kabine zu durchrau nen begann. »Er beherrscht ein sehr stilvolles Auftreten, sein Cha
risma übertüncht die Fehler in seiner Argumentation«, spekulierte Darwin. Er warf Susan einen kurzen Blick zu. »Was meinst du?« Denke nach! Behaupte dich! Beantworte Pikes Frage! Konzentriere dich! Es ist nur ein Test, sonst nichts. Ein Test, um herauszufinden, ob du auch beim Anblick Van Chows noch zum Denken imstande bist. »Ich ... ich glaube ... er leistet me-mehr als das. Er ... ist Meister darin, Emotionen anzusprechen. Er hat sei-seine Berufung verfehlt, indem er ein Holo-Filmstar geworden ist. Ich denke mir, er könnte jede Rolle spielen, bis hin zum Direktor ... und ... und zwar so überzeugend, als wäre er sein Lebtag nichts anderes gewesen.« »Ich habe den Eindruck«, erwiderte Darwin, »er ist das größte Verbrechergenie seit Hitler oder vielleicht dem sowjetischen General Rostokiew, der im einundzwanzig sten Jahrhundert die Deportationen geplant hat. Du kennst Ngen besser als sonstwer. Was ist, falls er überhaupt eine hat, seine persönliche Schwäche?« Konnte sie es wagen, darauf zu antworten? Susan rang innerlich mit ihrer Reaktion, als sie sich an das einzige Mal erinnerte, daß es ihr gelungen war, Ngen Van Chow zu kränken. »Er ... ist sehr ei-eitel in bezug auf seine Männlichkeit. Er hält sich für ... für einen ...« »Hmm ...« Darwin ließ kein Stocken im Gespräch auf kommen. Er schien nicht einmal, als Susan erneut zu schlottern angefangen hatte, ihr Zögern bemerkt zu ha ben. »Susan, wenn du's kannst, solltest du über diesen Aspekt noch einmal gründlicher nachdenken. Vielleicht fällt uns etwas ein, wie sich dieser Schwachpunkt zu un seren Gunsten ausnutzen ließe.« O Gott! Niemals! Nachdenken über so einen ...? Bitte, Spinne, nicht das! Die Holo-Aufnahme endete, der Bildschirm erlosch. Mit zusammengebissenen Zähnen lockerte Susan willent lich ihre verkrampften Finger und nahm einen ergiebigen Atemzug.
»War es so schlimm, wie du befürchtet hast?« »Ich hab's ausgehalten, würde ich sagen«, brachte Su san mit heiserer, rauher Stimme hervor. »Das ist doch wenigstens schon etwas, oder?« »Ein erster Schritt. Und nun solltest du, weil dir eigent lich gar keine andere Wahl bleibt, auf die Kommando brücke gehen und dir Van Chow noch einmal anschauen. Denn dort wirst du dich, wenn's ernst wird, mit ihm aus einandersetzen müssen. Bau deinen Erfolg aus.« Er zwin kerte, während er aufstand, Susan zu. »Warte! Heute a-abend ... Ähm ... Würd's dir was aus machen, wieder zu mir zu kommen, wenn mein Dienst vorbei ist? Ich habe Sorge, daß sonst ... mein Schlaf ...« »Klar, kein Problem.« Darwins Antwort klang völlig unbefangen. »Aber diesmal bring ich ein Kissen mit, um meine Füße draufzulegen. Nachdem sie mir 's letzte Mal eingeschlafen waren, konnte ich drei Tage lang kaum noch gehen.« Dann ging er. Susan sah, wie hinter ihm die weiße Schiebetür zuroll te. Vorerst standen die Dinge gut. Doch bis wann mochte es dauern, bis auch er von ihr wollte, was sie nicht geben konnte? Susan ließ die Lider sinken, atmete tief ein und erhob sich, zwang sich dazu, auf die Kommandobrücke zurückzukehren und sich Ngens scheußliche Visage noch mals zuzumuten. *
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DEUS-VERWALTUNGSGEBÄUDE IN BASAR AUF BASAR
»Die Schwierigkeiten entstehen durch das Psyching.« Nachdenklich biß Pallas in einen dicken Pfirsich, so daß ihm beiderseits des Munds der Saft hinabrann. Seine Rin ge schillerten in allen Farben, als er sich ihn abwischte. Rings um ihn spiegelte das Verwaltungsgebäude die stren ge basarische Einfachheit wider. An den lehmgelben Mau
ern sah man noch ein paar verblaßte Reste eintönig grau brauner christlicher Wandmalereien; den größten Teil ver deckten inzwischen die Konsolen diverser Kommunika tionsanlagen sowie Monitorschirme. Da und dort hingen Leitungen oder waren wie Aufreihungen schwarzer Stri che, die zum Dach hinaufverliefen, mit Schellen an den Wänden befestigt worden. »Und das wären welche?« fragte Ngen auf der DeusKommandobrücke, die man hinter seinem Rücken in de tailgetreuer Holo-Wiedergabe erkennen konnte. Im Ver gleich zu Basars schmuddlig-dunklen Erdfarbtönen er weckte die Kommandobrücke einen unglaublich sauberen und hellen Eindruck. Pallas runzelte die Stirn, schluckte den Bissen Frucht fleisch. »Es wirkt zu gut. Leider haben wir den Feldeffekt wohl zu drastisch angewandt. Die wenigen ungepsychten Individuen sind in die tiefste Wüste geflohen. Was die potentielle Gefahr betrifft, die von ihnen ausgeht ... Tja, dazu läßt sich gegenwärtig noch gar keine Aussage machen. Auf alle Fälle möchte ich klarstellen, ich habe zwecks Anwerbung von Wachpersonal meine Kontakte auf anderen Welten bemüht. Ich hatte nicht ...« »Was ist mit den Überzeugungsbekehrten?« Ngen neigte den Kopf zur Seite, verkniff die Lider. »Bedauerlicherweise ist ihnen, sobald sie die Folgen des Tempel-Psychings sahen, die Überzeugung abhanden gekommen. Die Mehrheit hat sich den Flüchtigen im Wüsteninneren angeschlossen.« »Und wie steht die Situation? Wie stark wird nach Ihrer Einschätzung die Produktion beeinträchtigt? Sie wissen, wie hochbedeutsam ...« »Bitte, Ngen ...« Pallas winkte ab. »Wir werden doch keine Unannehmlichkeiten durch irgendwelche Plebs ha ben, die gelegentlich mal bei Sandsturm aus der Wüste gekrochen kommen. Erstens können sie nicht an Gerech tigkeitssinn oder Patriotismus des Durchschnittsbürgers appellieren, denn solche Flausen sind dem Mob dank des
Feldpsychings nachhaltig ausgetrieben worden. Zweitens sind sie ebensowenig unsere Produktionskapazitäten zu mindern oder den Nachschub zu stören imstande. Unsere gesamte Logistik wird überwacht und geschützt. Das Wachpersonal, das ich habe einfliegen lassen, verwehrt ihnen jede Möglichkeit, uns durch Sabotage zu belästi gen. Bisher ist nichts dergleichen vorgefallen, aber ich plane gerne voraus, um ...« »Warum haben Sie mich dann angerufen? Ich begreife nicht, wo das Problem ...« »Es geht ums Psyching, Ngen. Es ist zu wirksam. Ich muß ...« »Was soll das heißen, >zu wirksam Pallas, was ist das Problem? Sie sind doch dafür da, um solche Angele genheiten zu bereinigen, veranlassen Sie, daß das Pro gramm fehlerfrei gemacht wird.« »Das kann man nicht.« Pallas richtete sich etwas höher auf, fuchtelte mit dem Pfirsich in seiner schwammigen Faust, dessen Saft ihm aufs schlaffe Fett des Unterarms tropfte. »Ngen, hören Sie zu, bis ich den Sachverhalt zu Ende erklärt habe. Das Psyching ist, wie erwähnt, zu wirk sam. Die Leute betreten den Tempel und werden konditio niert, konvertiert, egal wie wir's nennen wollen. Notwen digerweise ist das Programm so ausgerichtet, daß es sei nen Effekt auf eine möglichst große Zahl unterschied licher, individueller Hirntypen ausübt. Wie jede menschli che Eigenschaft sind die Gehirnfunktionen mehr oder weniger in Form einer standardisierten Kurve ausdrüc kbar. Einer glockenförmigen Kurve, wie die Experten sagen. Die gonianischen Psychingspezialisten haben das Feld so adjustiert, daß es seine Wirkung auf die Mehrzahl einer beliebigen Mischung von Personen hat, quasi auf den Mittelbereich der glockenförmigen Kurve.« »Wie groß ist diese Mehrzahl in Prozenten?« »Für unser Psychingprogramm liegt die Quote bei sechsundachtzig Prozent. In Anbetracht der vielseitigen menschlichen Unterschiedlichkeit, Stoffwechseleinflüsse,
Verschiedenheit der Hirnmorphologie und einer Menge sonstiger Variabler ist das ein außergewöhnlich gutes Re sultat. Die beiden Enden der Kurve verkörpern Fehlschlä ge, das heißt ganz einfach, einige werden nur teilweise gepsycht, der Rest wird debil, ihr Geist erlischt gewisser maßen. Wir beseitigen die mißlungenen Fälle mit aller Effizienz.« »Dann verstehe ich die Problematik noch immer nicht.« Nachdrücklich schüttelte Pallas den Kopf. »Ngen, das Problem besteht aus Mangel an Initiative. Bitte betrachten Sie's einmal folgendermaßen. Für Bazar und die Art von Arbeit, die wir hier erledigen, ergeben sich daraus keine sonderlichen Nachteile. Naja, sicher, ich mußte durch meine direktoratsweiten geheimen Verbindungen Wach personal anwerben. Diese Figuren machen alles mit. Wei ber, Gesöff und Drogen kriegen sie kostenlos, und sie wer den besser denn je bezahlt. Freilich werden sie sich irgendwann zu langweilen anfangen, also muß ich mir für die qualifizierteren Leute Vergünstigungen ausdenken ... Aber das ist alles nicht so schlimm. Inzwischen habe ich jedoch das gonianische Psychingteam auf das Problem angesetzt, vor dem in Kürze Sie stehen werden.« Ngen schnitt eine genervte Miene. »Und was wird das für ein Problem sein?« »Sie werden Ihre Bewerber künftig sehr genau sieben müssen, Ngen. Wenn die Leute durchs Psychingfeld ge laufen sind, können sie nicht mehr denken, verstehen Sie? Äh ... Sie schauen nicht mehr voraus, sind nicht innovativ. Sie müssen die Individuen mit besonderer Befähigung heraussuchen, sie für unsere Sache gewinnen oder beste chen, oder es bleibt nichts anderes übrig, als sie einzeln, unter Berücksichtigung ihrer speziellen Hirncharakteristi ka, zu psychen, so wie's das Direktorat mit einzelnen Abweichlern gemacht hat. Andernfalls haben sie bloß Roboter zur Verfügung, die zwar ihre Aufgabe erfüllen, aber darüber hinaus nichts leisten, weil's ihnen nicht ein
getrichtert worden ist. Sehen Sie jetzt, was ich meine?« Pallas schmatzte an seinem Pfirsich, saugte Saft, wäh rend er beobachtete, wie Ngen lebhaft auf der Lippe kau te, sie wiederholt zwischen seinen Zähnen verschwand. Ngen nickte, eine tiefe Falte furchte seine Stirn. »Ich hätte Armeen gehorsamen Blasterfutters, aber keine Kom mandeure, die dazu fähig sind, sie so zu führen, daß sie strategische und taktische Aufgaben bewältigen kön nen. Ja, jetzt verstehe ich, um was es geht. Sie sagen, Sie haben die Gonianer mit der Problemlösung beauftragt?« »Ein wenig verspätet, muß ich leider zugeben.« Pallas biß nochmals in den Pfirsich. »Vielen Dank für die Über stellung der agrikulturellen Stationen. Ich glaube, ich werde so stark an Gewicht zulegen, daß ich mich nur noch mit Antigrav-Hilfe fortbewegen kann.« »Ist es den Experten gelungen, die Auswertung der Bruderschaftsdaten zu vertiefen? Diesen Informationen verdanken wir ja überhaupt erst die Feldpsyching-Methode. Können sie sie nicht verfeinern? Den Feldeffekt ver ringern?« Pallas nickte, leckte sich die klebrigen Lippen. »Nur bei gleichzeitiger Herabsetzung der Sechsundachtzig-Prozent-Quote. Je schwächer das Feld, um so weniger Perso nen werden beeinflußt. Außerdem haben wir Verdruß mit den Kindern. Anscheinend sind junge Gehirne besonders anfällig.« Mit einer knappen Geste tat Ngen die Mitteilung ab. »Es ist nichts dabei, wenn wir eine Generation aus dem Verkehr ziehen. Solange sich der Mob fortpflanzen kann, wird uns immer Menschenmaterial nachwachsen.« »Also gut. Ich schlage vor, Sie experimentieren auf Arpeggio und Mysterium selbst in dieser Hinsicht. Aber seien Sie vorsichtig. Die Personen, die unbeeinflußt blei ben, gelangen manchmal in bezug auf das, was sie erlebt haben, zu überraschenden Schlußfolgerungen. Bei Unachtsamkeit könnten sich häßliche Rückwirkungen ergeben.«
»Wie verhält's sich denn mit Ihrer Tiara? Verbrennt Sie Ihnen keine Kalorien mehr?« Ngen schmunzelte, wäh rend er sich die langen Hände rieb. Pallas seufzte und schnippte mit den Fingern. Tiara trat vor, blieb stehen, verharrte ausdruckslosen Gesichts. »Auf gewisse Weise, Ngen, bin ich durch sie auf das Phänomen aufmerksam geworden. Wissen Sie, eines Abends ist sie, während ich zu tun hatte, in den Tempel gegangen. Dort hat das Feldpsyching ihre erotischen Fähigkeiten auf die schlichte Vollziehung des Kopulierens reduziert. Leider gestattet mir mein Körperumfang, selbst wenn ich dazu Lust hätte, so etwas nicht. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein anderes Mädchen anzufordern, aber es wird wohl mindestens einen Monat dauern, bis es von Arcturus eintrifft, vielleicht länger. Im Direktoratswel traum herrscht ein so schreckliches Durcheinander, daß sogar Schmuggler behindert werden.« »Das tut mir aufrichtig leid. Ich könnte Ihnen ein paar Frauen schicken, aber zu meinem Bedauern muß ich ge stehen, daß keine davon die erforderliche Geschicklichkeit aufweist, um eine so großartige Kurtisane wie Tiara zu ersetzen.« Kurz schwieg Ngen. »Sind Sie sicher, daß nichts getan werden kann, um ihre geistigen Qualitäten wiederherzustellen?« Pallas ließ den Kopf hängen, in seinem feisten Mond gesicht stand Trauer. »Um die Sechsundachtzig-ProzentQuote zu erreichen, muß man einige Abstriche machen, Ngen. Zu den Nachteilen dieser Kompromißlösung zählt auch eine unwiderrufliche Programmierbarkeit des Ge hirns. Tiara kann jetzt auf die Ausführung bestimmterVer haltensweisen programmiert werden. Gegenwärtig kennt sie sich bestens in der Blasterproduktion aus. Indu zierte ich ihr ein anderes Programm, könnte sie Maschi nen bedienen, die Schutzpanzer oder Raumanzüge anfer tigen, oder was man sonst eben gerade will. Aber der in tuitive Gebrauch ihres herrlichen Leibes ...? Nein, alter Freund, mit ihrer wunderbaren erotischen Phantasie ist es
— erst recht zu meinem Bedauern — ein für allemal vor bei. Sie ist einfach bloß noch ein geistesschwacher weib licher Körper.« »Ich werde versuchen, eine talentierte Frau für Sie zu finden, Pallas. Aber wenn ich Ihnen eine tüchtige Mätres se geschickt habe, halten Sie sie aus dem Tempel fern. Unterdessen werde ich in den Direktoratsarchiven nach Personen suchen, die sich durch Initiativgeist oder durch militärische Qualitäten beziehungsweise Führungsstärke auszeichnen. Meine Experten sollen diese Leute einzeln psychen. Wer weiß, vielleicht finden wir im Rahmen Ihrer Forschungen ja eine Lösung.« Pallas rückte seinen Wanst auf der Antigrav-Liege zu recht, grunzte vor Anstrengung, während sein Fett schwabbelte. »Ich werde Ihnen umgehend mitteilen, zu welchen Ergebnissen die Gonianer kommen. Achten Sie solange darauf, daß die Besetzung Ihrer Befehlsstellen besondere Priorität verlangt.« Innere Erregung belebte Ngens Miene. »Sie sind ein überaus wertvoller Mitarbeiter, Pallas. Wenn alles vorbei ist, sollen Sie Ihren Planeten haben, das verspreche ich Ihnen. Jeden Planeten, den Sie wünschen. Treue belohne ich gut.« Das Holo verblaßte; Pallas starrte die dunkle, leere Bildfläche an. Er biß erneut in den Pfirsich, setzte einen düsteren Gesichtsausdruck auf; er mußte mit dem be schränkten Vergnügen zufrieden sein, das Tiaras Hände seinem Körper spendeten. Solche Befehle verstand sie noch zu befolgen; doch sie bereitete ihm nicht mehr die ekstatischen Wonnen, wie es die alte Tiara gekonnt hatte. *
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AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM ANFLUG IN DEN UMRAUM BASARS
Versonnen betrachtete Darwin Pike die Scanningdaten, während die Spinnes Vergeltung fast im Leerlauf, mit so weit heruntergefahrenem Reaktor, daß er nur noch das absolute Energieminimum erzeugte, in Basars Nachbar schaft ungeniert durchs All schwebte. Im ganzen Raum schiff variierte die Schwerkraft. Diese Vorkehrungen hat ten den Zweck, der feindlichen Fernerfassung seine An wesenheit zu verheimlichen. Seit Tagen fiel das Raumschiff von der entfernteren Seite eines exzentrischen Orbits auf Basar zu. Susan ließ die Geschwindigkeit, je näher sie in Sensorenreichweite gelangten, zusehends drosseln. Mosche ruhte bequem in seinem Konturensessel, hielt die Augen geschlossen, wäh rend er, das Kontaktron auf dem Kopf, zum Täuschen der gegnerischen Peilung elektronische Gegenmaßnahmen betrieb, ihre Geräte mit einem Verwirrspiel wechselnder Feldstärken irreführte, um zu verhindern, daß die Satelli tenstationen rund um Basar die Annäherung des Raum schiffs entdeckten. Susans Aufmerksamkeit galt denselben Monitoren wie Pikes; sie hoffte, sie könnte irgend etwas bemerken, das er vielleicht übersah, linderte damit die Langeweile, die sie verspürte, während sie eine nichtssagende Aufnahme nach der anderen, die Bilder glanzloser Ortschaften, eintöniger Felder und matter Felslandschaften vorbeihuschen sah. Auf einigen Monitoren erfolgte die Observation bestimm ter basarischer Städte, auf anderen dagegen die Beobach tung schäbiger Fabriken, während man auf einem Bild schirm, wenn das Gebäude im Laufe der planetaren Rota tion sichtbar war, permanent einen großen Tempel sehen konnte. Darwin lehnte sich in den Konturensessel und räkelte sich, sein Gesicht hatte einen Ausdruck des Unmuts an genommen. »Das kapier ich nicht.« Susan hob den Blick.
Pike nahm in mehrere Dateien Einsicht. »Schau mal hier. Ich habe die Kommu-Computer alle Personen, die den Tempel mehrmals aufsuchten, erfassen lassen.« Zah len flimmerten über den Monitor. »Vergleichen wir mal vier verschiedene Tage.« Die Bildfläche teilte sich in vier Ausschnitte auf. »Nun strei chen wir jeden, der nur einmal hingegangen ist.« Die Hälf te der Zahlen erlosch. »Und danach diejenigen, die zwei mal dort gewesen sind.« Nichts geschah. »Dann alle, die dreimal hin sind.« Auf dem Monitor blieb alles unverän dert. Darwin sah Susan an, Befremden in seiner von Ver drossenheit zerfurchten Miene. »Die noch verzeichneten Personen sind ausnahmslos solche, die viermal im Tempel gewesen sind. Keiner von denen, die einmal hineingegan gen sind, ist noch ein zweites oder drittes Mal hin. Warum nicht? Fünfhundertachtundzwanzig Leute haben den Tem pel alle vier Mal aufgesucht. Von ihnen hat niemand eine Veranstaltung versäumt. Weshalb nicht?« »Kann 'n statistischer Fehler infolge zu kleiner Test gruppe vorliegen? Wie groß ist sie?« »Rund eintausend«, antwortete Darwin sardonisch. »Ist dir klar, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit gegen das einzustufen ist, was wir hier sehen? Zwischen unseren Erwartungen und den Beobachtungen besteht ein himmelhoher Unterschied. Erhebe die Daten mal ins Chi-Quadrat, um herauszufinden, ob eine signifikante ...« »Können wir uns sparen. Der Fall ist ganz eindeutig.« »So, nun sieh dir mal folgendes an.« Darwin lud ande re Dateien. »Beachte bitte die Aktivitäten in den Straßen. Es fällt auf, daß ständig — mit Ausnahme der Gebetsstun den — eine ausgeprägt rege Geschäftigkeit herrscht.« Aufnahme um Aufnahme erschien für jeweils dreißig Sekunden auf dem Bildschirm und verschwand. »Diese Holo-Bilder habe ich an den letzten vier Tagen gemacht, . seit die für die Optiken praktikable Höchstdistanz unter schritten worden ist, und zwar in halbstündigen Abstän
den und mit voller Monitoringunterstützung seitens der Kommu.« »Ich sehe überhaupt keine Veränderungen«, sagte Su san, die Darwins Verwunderung erstaunte. »Für meine Begriffe wirkt alles normal. Mein Eindruck ist, die Auf nahmen unterscheiden sich kaum voneinander.« In Pikes Augen stand ein Glitzern. »Genau das meine ich. In jeder regulären Gesellschaft, die ich kenne, folgt das Verhalten gewissen Mustern. Zu bestimmten Tages zeiten, etwa direkt nach Arbeitsschluß, nimmt die Ver kehrsdichte auf den Straßen zu. Zu anderen Zeiten müß ten die Straßen leer sein, zum Beispiel, weil die Menschen zu Hause schlafen, nicht wahr? Nun betrachte mal die Nachtaufnahmen. Die Aktivitäten bleiben konstant. Und es gibt noch eine Anomalie zu beobachten. Allgemein zugängliche Örtlichkeiten, die man umgangssprachlich als >Anlaufstellen< bezeichnet, ziehen gewöhnlich Men schen an und begünstigen Gruppenbildung, das heißt, dort treffen sich Menschen, unterhalten sich, tauschen Infor mationen aus, betreiben Geselligkeit. Es kann ein Markt sein, ein Waschplatz, oder es ist einfach ein öffentlicher Platz. Wo siehst du so etwas auf Basar? Das einzige Ver haltensmuster wird determiniert von völliger Monotonie.« »Auf Raumschiffen geht's aber auch nicht so zu«, wandte Susan ein. »Wir haben einen VierundzwanzigStunden-Dienst.« Pike schüttelte zerstreut den Kopf. »In unserem Rau mer gibt es fünf sogenannte Anlauf stellen. Kasino, Reak torraum, Mannschaftsquartiere, Kommandobrücke sowie die Gefechtsstationen mit den Blasterkuppeln und Schutzschirm-Generatoren.« Nachdem Susan kurz darüber nachgedacht hatte, er kannte sie, daß er ein stichhaltiges Argument anführte. Besatzungsmitglieder fanden sich, wenn sie dienstfrei hat ten, zu Gesprächen zusammen. Man erzählte Geschichten, machte die Betten, schwatzte über dies und das, flirtete, tat alles mögliche. Ihr Blick fiel wieder auf die aneinanderge
reihten Aufnahmen. Bei Sonnenaufgang nahmen die Akti vitäten zu, erreichten eine halbe Stunde später eine stabile Gleichmäßigkeit und begannen eine Stunde nach Sonnen untergang nachzulassen. »Man könnte glattweg meinen, sie wären gar keine Menschen«, bemerkte sie, allerdings mehr zu sich selbst als zu Pike. »Ja, genau«, stimmte Darwin zu. »Genauso habe ich's auch empfunden. Dieses Verhalten hat nichts mit dem zu schaffen, was wir mit Menschsein assoziieren. Alle Men schen benötigen Essen, Wasser, Unterkunft und ein ge wisses Maß äußerer Reize. Achte mal auf das riesige Antigrav-Transportfahrzeug dort. Es fährt durch die Straßen und setzt vor jeder Haustür ein Paket mit Lieferungen ab.Ein Mann oder eine Frau kommt heraus und holt es hin ein, bleibt drinnen. Es geht beinahe wie in einem Insekten staat zu, nur macht das dort auf mich den Eindruck, als wär's versorgungsmäßig perfekt durchorganisiert. Kein Durcheinander. Kein überflüssiger Aufwand.« Susan ließ sich vom Automaten einen Becher mit Kaf fee füllen. »Was hat das alles bloß zu bedeuten?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das läuft schlicht und einfach nicht normal. Dort unten benehmen die Menschen sich wie kleine Roboter. Ich gäbe meinen rechten Arm dafür, könnte ich mal einen Blick in den Tem pel werfen. Weshalb suchen manche Bürger ihn immer wieder auf, andere dagegen nur ein einziges Mal? Wieso gibt es keine sogenannten Anlaufstellen? Was ist aus Geselligkeit und allen übrigen gesellschaftlichen Be tätigungen geworden? Warum verhalten sie sich nicht wie Menschen ?« »Vielleicht hängt's mit dem zusammen, was Ngen aus den Bruderschaftscomputern gemolken hat.« »Ist bei der Bruderschaft je eine Tendenz zur Insektenstaat-Mentalität vorhanden gewesen? Wie ich gehört habe, sollen bei ihr die abstrusesten Sachen getrieben worden sein.« In Pikes Augen glänzte plötzlich auffälli ges Interesse.
»Sie war wohl nicht so schlimm, wie ihr nachfabuliert wird. Tatsächlich stand sie in freundschaftlichem Verhält nis zur Patrouille. Urheber ihrer Vertreibung aus dem Di rektoratsweltraum waren die Sirianer, Arpeggianer und ein paar einflußreiche Piratengruppen.« »Ich verstehe nicht, weshalb Ngen eigentlich Stunk macht. Wenn das seine mustergültige Gesellschaftsform sein soll, kann ich nur sagen, sie steht dem Direktorat in keiner negativen Beziehung nach.« Pike zögerte. »Ich muß hinunter. Es ist erforderlich, daß ich mir persönlich ansehe, was dort passiert. Ich muß in den Tempel, und ich will wissen, was in den Häusern geschieht.« Unwillkürlich zog Susan den Kopf ein. Das bedeutete, die Sicherheit des Raumschiffs zu verlassen. Pike hatte sich gewandelt, war nicht mehr der unerfahrene, lässige, sorglose Gelehrte, als der er im Arcturussystem an Bord kam, aber sah er die Risiken? Im Raumschiff konnte sie durchstarten und den Kampf aufnehmen. Wie jedoch stand es auf der planetaren Oberfläche? Erdkampf bräch te sie erheblich weiter in die Nähe von Ngen Van Chows Klauen. Seine Flüsterstimme hielt sich hartnäckig am Rande ihres Bewußtseins. Später sprach Susan ihn noch einmal auf sein Vorhaben an, nachdem sie ihn im Casino ausfindig gemacht hatte, wo er mit Sig Marggaff Kaffee trank. Sig äußerte eine höf liche Floskel und ging. Susan besann sich, während sie mit den Fingerspitzen auf den Tisch trommelte, einen Moment lang, suchte nach Worten, die die Wirkung dessen, was sie zu sagen beab sichtigte, abschwächen könnten. »Du weißt«, begann sie schließlich, »wie gefährlich es dort unten sein wird.« Darwin nickte, sein Gesicht bekam einen sanfteren Ausdruck. »Ja, ich habe davon 'ne ziemlich gute Vorstel lung. Trotzdem bin ich nicht übertrieben besorgt. Ich ha be mir über Nacht die Sprachkassetten eingelegt. Das Standard hat sich auf Basar ein bißchen abseitig entwik
kelt, aber ich kriege das Idiom hin. In Zivilkleidung gehe ich jederzeit als Einheimischer durch.« »Es paßt mir absolut nicht, meinen Anthropologen aufs Spiel zu setzen. Ich wage gar nicht daran zu denken, was Ree mit mir anstellt, falls ich ohne dich zurückkomme.« »Ist das dein einziger Grund?« Darwin wölbte die Brauen, Erwartung machte ihm die Augen groß. »Um 'ne Redewendung des Kriegshäuptlings zu ge brauchen: Ich gehöre gerne zu den Gewinnern. Du hast schon mehr von Basar gesehen, als Mosche, Weißer Adler und Reesh zusammen.« Verdammt, warum bin ich auf ein mal dermaßen nervös? Und was meint er damit, >dein einziger Grund »Ich werde mich drunten schon zurechtfinden. Du setzt mich mit 'm ST ab, ich schaue mich 'n bißchen um, dann treffen wir uns an der Landestelle wieder.« Darwin hob die Schultern. »So einfach ist das.« »Bist du sicher, daß du die Informationen, die dich in teressieren, nicht aus dem Fernorbit erlangen kannst? Hast du dich nicht mit Giorj über Observationsinstru-mente verständigt?« Susan spürte, wie ihre Mißgelaunt heit sich rasch steigerte. »Doch. Aufgrund seiner Erklärungen habe ich ange nommen, daß die standardisierten Geräte für unsere Zwecke genügen. Das ist auch der Fall. Aber das Problem ist, daß eine ferngesteuerte Drohne dort unten auffiele wie 'ne arcturische Nutte. Die Beobachtungen, die man mit so einer Drohne macht, bleiben irgendwie unwirklich, Susan. Ich muß ... Na, es ist erforderlich, daß ich hinter die Fas sade blicke. Verstehst du, auf was es mir ankommt? Durch einen Apparat kann man mit einem Menschen nicht in Interaktion treten, man kann nicht ermitteln, inwiefern sein psychisches Profil von der Norm abweicht, wenn man ihn nicht in seiner alltäglichen Umgebung erlebt. Und außerdem muß ich herausfinden, was in dem Tempel vor geht. Du hast ja das Scanning gesehen ... Es erlaubt kaum irgendwelche Rückschlüsse, oder? So-bald wir noch näher
am Planeten sind, werden wir mit den Schiffsinstrumenten hineinlauschen können. Aber selbst im Tempel zu sein, gibt mir die Gelegenheit, intuitiv zu erfassen, wie er sei nen Deus popularisiert. Ein anderer eigentümlicher Aspekt ist der Energiepegel des Gebäudes. Das Infrarotscanning hat interessante Meßwerte ergeben, es schwirrt dort nur so von Elektronen.« Unbekümmert lächelte Darwin. »Tut mir leid, Susan, aber ich bin jetzt heiß auf Klärung. Ich kann meine Aufgabe nicht erfüllen, wenn ich nicht die informativen Basisdaten erweitere.« »Du wirst nicht allein gehen. Ich schicke dir ein Team mit.« Verdammt noch mal, warum mußte er im Recht sein? »Ich weiß das Angebot zu schätzen, Susan, aber es besteht kein Anlaß, gleich mehrere Personen in Gefahr zu bringen. Dadurch würde es für mich nur schwieriger, die ...« »Deine Einwände sind abgelehnt. Weißt du, aus wel chem Grund Admiral Ree mir das Kommando über die Absicherung der Mission übertragen hat?« Skeptisch hob Susan die Brauen. »Weil ich auf Sirius die Beste im Erd kampf gewesen bin. Wenn jemand dich hinunterfliegen und herausholen kann, dann sind's ich, Reesh und die an deren. Vielleicht ist dir der hohe Anteil an Sirius-Veteranen aufgefallen, die mitgeflogen sind? Es gibt dafür Grün de, daß ich sie an Bord habe. Ich wünschte nur ... Ich wünschte, wir hätten auch Freitag noch.« »Wir haben doch gar nicht vor, ein Gefecht anzuzet teln«, widersprach Darwin. »Das soll doch nur 'ne einfa che ... Susan, was ist los?« Sie seufzte und musterte ihn aufmerksam. »Ich hoffe nicht, Doktor. Sicher, es ist wahrscheinlich, daß du ... Nein. Wir haben's hier mit Ngen zu tun. Falls es zum Kampf kommt, stecken wir in wirklich ernstem Schlamas sel. Aber wenn die Notwendigkeit entsteht, möchtest du dann nicht lieber, daß es die besten Krieger der Galaxis sind, die dich rauszuhauen versuchen?«
Pike winkte in die Richtung des Holos auf dem Bild schirm. Halb im Schatten rotierte mit lehmigem Ausse hen Basars Globus durchs All, umgeben von einem Ring silbernen Schimmerns. »Siehst du diesen glänzenden Ring rund um den Pla neten? Mit so vielen Stationen hatten wir nicht gerechnet. Es sind dreimal soviel, wie's sein dürften ... Und jeden Tag ziehen Kosmoschlepper welche ab. Seit wir uns in Sicht weite des Planeten befinden, ist die Gesamtliefermenge der Stationen um zehn Prozent gesunken. Egal was auf Basar betrieben wird, man ist dabei, es zurückzuschrau ben. Die Stationen werden nach Mysterium transferiert. Ich vermute, daß man auf Basar nicht mehr sonderlich achtgibt. Ngen steht davor, da würde ich wetten, dieses Kapitel abzuschließen ... Und ich möchte wissen, warum, verdammt noch mal. Ich kann mir gut vorstellen, der Admiral will's auch wissen. Ich werde bestimmt nicht in Gefahr geraten.« »Das Kommando habe ich«, konstatierte Susan noch mals. »Wir begleiten dich. Es ist das Unerwartete, um das ich mir Sorgen mache, Doktor. Du bist kein Krieger — oder muß ich dich erst daran erinnern, daß ein unwissen der Santos dir den Leib aufgeschlitzt hat? Du verkörperst für mein Volk eine andere Art von Kriegsdolch, und ich habe vor, dich gut zu verwenden.« Damit stand sie auf, verbeugte sich knapp und verließ das Casino. Eine andere Art von Kampfmesser? Warum hatte sie diesen Vergleich gewählt? Nachdenklich saß Darwin da und trank seinen Kaffee, die Finger an der zerbrochenen romananischen Klinge, die er noch am Gürtel trug.
19
IM HAUS ALHAR IN ARPEGGIOS HAUPTSTADT
»Ich kann ihn nicht ausstehen«, bekräftigte Afid, während er die Wiedergabe des gewaltigen Schlachtschiffs auf dem Holo-Monitor betrachtete. Er schüttelte den Kopf, lausch te der Nachrichtensendung, die die Bekehrung der Welt raumstation Deeter zu Deus' Dschihad meldete. »Natür lich sind sie konvertiert. Angesichts eines Patrouillen schlachtschiffs würde jeder sich zu allem bekennen.« Afid lehnte sich in den Sessel, im mit Goldrändern dekorierten Monitor verflimmerten die Holo-Nachrichten. Er seufzte, füllte sich einen Spritzer Brandy von satter rot brauner Färbung in ein Rundglas aus geschliffenem Kristall. Er ließ das Getränk im Glas rundumschwappen, betrachtete M'Klea unter herabgezogenen Brauen, die Lip pen irritiert gespitzt. »Vater, dir mißfällt es einfach, daß der Messias hier anruft.« M'Klea lächelte ruhig, zwang sich zu dem Auf wand, unterwürfig dreinzuschauen. »Ich hätte gedacht, du empfindest es als Ehre, daß er zu meinen Freunden zählt. Dabei müßtest doch gerade du die Vorteile erkennen, die unsere Familie dadurch haben könnte.« Eine sehr sorgsame Wortwahl. Ist sie ihm verdächtig? Nein? Liebes Väterchen, mir bist du nie gewachsen gewesen. Afid drehte den Sessel, ohne den verständnisvollen Blick von seiner Tochter zu wenden. »Ja, Mädchen, er hat Torkild erlaubt, ins All zu fliegen, es unserer Familie ermöglicht, den Rang einzunehmen, der ihr gebührt. Sta tionen werden in unseren Orbit verlegt, das ist wahr. Aber ich traue ihm nicht. Und was hat's mit diesen Tempeln auf sich? Was passiert dort? Ich begreife nicht, was da los ist. Einige meiner ältesten Bekannten sind in seinem Tempel gewesen und mir nichts, dir nichts bekehrt worden.« Afid
runzelte die greise Stirn. »Ihr Verstand ist nicht mehr so scharf wie früher. Weißt du, was ich meine? Ihnen fehlt auf einmal ... Irgend etwas ist ihnen ...« Ratlos schüttelte er nochmals den Kopf. »Ich vertraue ihm nicht. Jedenfalls langfristig nicht. Ja, deine Kontakte zu ihm passen mir überhaupt nicht.« In ihrem abgebrühten Gemüt dachte M'Klea über seine Worte nach, während sie langsam über den dicken Tep pichboden schlenderte. Sie blieb stehen und strich mit dem Finger über eine der Konföderationsvasen ihres Va ters: Ein ausgesucht schönes Stück der Tschuhutien-Manufaktur. Unermeßlich kostbar. Ihre Hand glitt über die Gefäßwölbung. Es handelte sich um ein echtes Meister werk. Ja, die Konvertiten verloren einiges von ihrem Grips. Mehrere ihrer Freundinnen, ohnedies dumme Dinger, hat ten sich bekehren lassen. Seit dem Besuch im Tempel ver fügten sie nicht einmal noch über ihre primitive Halbgar heit, sondern quasselten nur noch schwärmerisch von Deus und dem Messias. Und nun errichtete man nur einen Blick vom Haus Alhar entfernt einen neuen Tempel. Ob seine Gemeinde auch so unterdurchschnittlich helle sein würde? Sie schob einen Fingernagel in die Lücke zwi schen ihren vorderen Schneidezähnen, während sie sich die dunkel glänzenden Farben der Vase ansah. »Vater?« Auf dem Absatz wandte sie sich um, ihr prachtvolles Laserlichtkleid knisterte und schillerte bei ihren Bewegungen, sie schwenkte die Hüften, um den Effekt ein wenig zu verstärken. »An deiner Stelle ginge ich einfach einmal in den Tempel und guckte mir an, was denn nun eigentlich von diesen vielen Bekehrungen zu halten ist. Mir ist völlig klar, du mißbilligst es, wenn der Messias mich anruft. Weshalb verschaffst du dir nicht selbst davon einen Eindruck, was für eine Religion er ver tritt? Und wenn du danach noch immer dagegen bist, werde ich von ihm keine Anrufe mehr entgegennehmen ... obwohl er der Oberbefehlshaber meines Bruders ist ... und
obwohl ihm ein so mächtiges Kriegsschiff zur Verfügung steht.« Afid stutzte, musterte sie argwöhnisch. »M'Klea, dein Vorschlag, dort hinzugehen, wäre mir normalerweise War nung genug, um so einer Einrichtung fernzubleiben. Im Gegensatz zu deinem Bruder kenne ich dein hintersinniges ...« »Vater!« schrie M'Klea auf, schlug sich beide Hände vors Gesicht. »Wie kannst du so etwas sagen ...?!« Afid hieb eine Faust auf den Tisch, auf dem sein Bran dy stand. »Ach, nun komm, M'Klea, spiel mir hier nicht die hirnlose Schöne! Du bist eine intelligente, schlaue junge Frau. Und meistens machst du mir die größten Sor gen.« Er schaute zur Seite, sein matter Gesichtsausdruck spiegelte Ermüdung wider. Einen Moment lang hätte M'Klea ihn beinahe bedauern können, während er sich, den Blick auf das Holo hinter seinem großen, silbernen Schreibtisch geheftet, die altersfleckigen Hände rieb. M'Klea kehrte ihm den Rücken zu, senkte den Kopf, indem sie ihn gleichzeitig so günstig ins Licht drehte, daß es auf ihrem Haar den effektvollsten Schimmer erzeugte. »Dann geh eben nicht in den Tempel. In diesem Fall werde ich die Anrufe des Messias weiter annehmen.« Ihre Stimme klang, wie ihr vollauf bewußt war, nach Gefühllo sigkeit. Afid hob den Blick, sein Mundwinkel zuckte. »Das glaube ich dir gern, M'Klea. Ach, also gut. Auch wenn's wohl nichts nützen wird. Jawohl, ich werde wirklich in den Tempel gehen, ja. Ich werde mich in die hinterste Reihe setzen und mir die Sache anschauen. Sonst nichts, klar? An einer Kommunion oder was sie dort machen werde ich nicht teilnehmen. Ich werde dort nichts essen und nichts trinken. Nur zusehen. Und wenn mir nicht ge fällt, was ich dort sehe, wirst du den Kontakt zum Messi as abbrechen.« Er schwieg, rechnete anscheinend mit ei ner patzigen Entgegnung. »Und denke dran, M'Klea, wir sind hier noch immer auf Arpeggio. Wenn ein Vater sei
ner Tochter einen bestimmten Umgang verbietet, wird daraus ein Gebot der Familie, selbst wenn's einen Mann wie den Messias betrifft. Dem wirst nicht einmal du dich widersetzen.« M'Klea reckte das Kinn empor, hob ihr vorteilhaftes Profil ins Licht. »Damit bin ich einverstanden. Ich glaube, du wirst sein Wirken gutheißen, Vater.« Afid beobachtete sie mit einem Ausdruck von Distan ziertheit in den Augen, als hätte er vor sich nicht die eige ne Tochter, sondern ein Exemplar irgendeines fremdarti gen Lebewesens. »Und noch etwas, M'Klea: Falls du in bezug auf den Messias ungehorsam bist, werde ich deinen Bruder informieren. Darf ich unterstellen, daß dir klar ist, was das bedeutet?« M'Klea nickte, spürte eisiges Grausen in der Brust. Mit Torkild konnte sie fertigwerden, nur mußte er außeror dentlich vorsichtig angegangen werden — oder von einer Machtposition aus. Beim Nicken saugte sie die Lippen zwischen die Vorderzähne. In den Augen ihres Alten ließ sich nicht die kleinste Spur von Nachgiebigkeit wahrneh men. Sollte der Verdacht richtig sein, den sie hinsichtlich des Tempels hegte, mochte es dahin kommen, daß ihr Vater als ernste Gefährdung ihrer ehrgeizigen Pläne aus fiel. Und wenn man sich auf die Andeutungen verlassen konnte, die Ngen Van Chow machte, hatte er hinlängliche Macht, um Torkild zu neutralisieren. »Sobald du den Tempel besucht hast, erwarte ich deine Entscheidung, Vater«, beteuerte sie, wunderte sich gelin de, weil sie keinerlei Gewissensbisse empfand. Doch schließlich entsprach es seit jeher den Gesetzmäßigkeiten der Natur, daß die Jungen irgendwann ihre Eltern ablösten. *
*
*
IN ELLIPTISCHEM ORBIT ÜBER BASAR
Ein Sturmtransporter, stellte Pike fest, war eine in äußerst bemerkenswertem Maß leistungsfähige Kampfmaschine. Bei knapp über einhundert Metern Länge gehörte es zu seinen Optionen, mit seinen vier inzwischen durch Fujiki-Verstärker modifizierten, mittleren Blastern einen Geg ner mit verheerenden Feuerschlägen belegen zu können. Die Rumpfspitze wies eine Panzerung auf, die es ermög lichte, feindliche Raumschiffe zu rammen und durch die Sturmrampe der eingedrungenen Spitze Sturmtruppen ins aufgebohrte Raumfahrzeug zu schicken. Für Interstellar flüge hatte er keine Kapazität, schützte sich jedoch durch an wichtigen Rumpfabschnitten vorhandene Panzerplatten sowie Schutzschirme begrenzter Belastbarkeit Außer der regulären Crew konnten an Bord dreihundert Soldaten befördert werden. Dank seiner hochkomplizierten Senso ren und Elektroniken konnte der ST der Ortung durch ein fachere Detektoranlagen entgehen. Basar hatte ohnehin nur wenig Detektoren verfügbar. Neugierig schaute er zu, wie einige Mannschaftsmit glieder, gekleidet in die auf Basar üblichen, weiten, lok keren Gewänder, ihre Plätze belegten und sich in den Si cherheitsgurten festschirrten. Der Einflug würde, weil der ST dem Sensorschatten eines zurückgekehrten Kosmo schleppers folgen sollte, ziemlich lange dauern. Pike kaute auf der Lippe, während er Überlegungen anstellte. Weshalb waren die Weltraumstationen über haupt nach Basar transferiert worden? Warum verbrachte man sie nun nach Mysterium? Überwiegend handelte es sich bei Stationen um auf Selbstversorgung gestützte Ha bitate, hermetisch abgeschlossene Milieus, deren Bewoh ner ihre Nahrungsmittelerzeugung selbst unterhielten, ihre übrigen Bedürfnisse gleichfalls durch Eigenproduk tion deckten und darüber hinaus einen Überschuß für den Markt produzierten. Stationen benutzten hochgradig ver besserte Fusionsreaktoren zur industriellen Herstellung gängiger Grundelemente oder betrieben auf Asteroiden
oder in Gaswolken Bergbau, um ihre Einnahmen aus dem Direktoratshandel zu ergänzen. Darwin sah den langgestreckten, schmalen Umriß der Spinnes Vergeltung achtern zu einem winzigen Punkt zu sammenschrumpfen, dann zwischen den Myriaden weiß glitzriger Sterne verschwinden. Die Gravitation begann zu sinken, als der ST sich dem von den Kosmoschleppern verwendeten Vektor näherte. Pike war darüber froh, dies mal nicht die wüste Verwirrung der Sinneseindrücke erle ben zu müssen, die jedesmal bewirkte, daß sein Magen sich auf würdelose Weise entleerte. »Mir wär's noch immer lieber, du hättest dich nicht dazu entschlossen.« Susan betrachtete ihn; um die Lippen hatte sie einen harten Ausdruck. Der Burnus verlieh ihr ein exotisches Äußeres, das weite, lose Gewand verhüllte ihre reizvolle Gestalt vollständig, machte sie dadurch jedoch nur um so verlockender. »Ich glaube, wenn wir entdecken, was auf Basar ab läuft, wird uns auch klar sein, welche Strategie Van Chow ersonnen hat.« Pike hing im Gurtwerk des Geschirrs wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Spinnes Netz? fragte er sich unwillkürlich. Susan gab keine Antwort, befaßte sich mit eigenen Gedanken. »Wie geht's dir inzwischen?« erkundigte sich Darwin mit leiser Stimme, sobald er sah, sie waren für den Mo ment allein. Wachsamen Blicks schaute Susan auf, ehe sie nach denklich lächelte. »Die Träume treten noch immer auf ... Ich versuche einfach, damit zurechtzukommen. Unter uns, Doktor, ich habe schreckliche Furcht vor dem Hinabflug. Es behagt mir überhaupt nicht, so angreifbar zu sein. Falls wir im All abgefangen werden, sind wir alle tot. Drunten auf der Oberfläche hängt es von zu vielen Variablen ab, die sich meinem Einfluß entziehen, ob wir in Gefangenschaft geraten oder nicht.« »Du siehst entschieden besser aus«, sagte Darwin mit
neckischem Grinsen. »Dein Haut ist wieder rosiger. Deine Haare glänzen ... Und in deinen Augen funkelt frischer Schwung.« Susans Augen erweiterten sich leicht, während sie ihn betrachtete. Ein Ruck fuhr Darwin durchs Herz, er fühlte sich, als müßte er in diesen tiefen, dunklen Teichen versin ken, teils konnte er darin die Wirbel und Strömungen ihrer konfliktreichen Emotionen ersehen. Dann merkte er, wie Entschlossenheit, um eine tiefsitzende Schwäche zu verbergen, eine feste Wand der Ablehnung errichtete. »Wir wollen uns an unsere Aufgabe halten, Doktor.« Er sah ihr an, wie sie eine steife Haltung einnahm, wie sie sich erneut in Zorn und Bitterkeit hineinsteigerte, ihr Mißtrauen wuchs. »He, also wirklich ... Entschuldigung. Aber ich bin Darwin Pike, weißt du noch? Ich bin der Bur sche, der auf deiner Seite steht. So redet man nicht mit 'm Freund.« »Verzeihung, Dr. Pike.« Darwin hörte ihrer Stimme ehrliche Reue an. »Ich checke wohl mal lieber den Reak torstatus. Ich vernachlässige meine Pflichten.« »Warte«, rief Darwin, legte ihr sacht eine Hand auf die Schulter. »Hau jetzt nicht einfach so ab. Ich wollte keine zudringlichen Bemerkungen machen. Ich habe mich bloß gefreut, weil deine gesundheitliche Verfassung sich so deutlich gebessert hat. Du darfst nicht glauben, ich würde jemals gegen dich ausnutzen, was ich weiß.« Als sie sich umwandte, flößten die innere Kraft und Entschiedenheit, die in ihren Augen standen, ihm Bestür-zung ein. »Vielen Dank für deine Anteilnahme, Doktor. Dein Entschluß, dich nie gegen mich zu verge hen, be-weist mir, daß deine Intelligenz meine Erwar tungen übertrifft.« Mit einem schwachen Tritt stieß sie sich ab und schwebte geradezu kunstvoll hinaus in den Gang. Betroffen verbiß Darwin sich eine Erwiderung und schaute ihr nach, fühlte sich durch ihren barschen Tonfall vor den Kopf gestoßen. Was hatte er gesagt? Was verbro
chen? Ihn derartig zu behandeln, hatte sie kein Recht. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, um ihr Freund zu werden, zu versuchen, ihr zu helfen. Selbst wenn sie an ihm als Liebhaber kein Interesse haben sollte, verdiente er etwas besseres als so eine Behandlung. Begriff sie nicht, daß mit Freundschaft auch eine gewisse Ebene der Ver trautheit entstand? Am ärgsten von allem war, daß ihre Zurückweisung ihn kränkte, daß eine Frau, zu der er ein so enges Verhält nis entwickelt hatte, zu ihm so grausam sein konnte. In seinem Bauch begann Wut zu schwelen. »Wenn so ihre Dankbarkeit aussieht, soll sie doch zum Teufel gehen. Sie ist ja schlimmer als die armen Hunde auf Basar. Susan, du bist nichts als 'n mieser Robot.« Und ich bin der Prügelknabe für ihre Unzulänglichkeiten. Als sie endlich auf dem Planeten eintrafen, glaubte Darwin den sicheren Tod vor Augen zu haben, Sekunde um Sekunde rechnete er mit einem feurigen Ende, wäh rend der ST eine tiefe Felsschlucht durchkürvte. Nur Mil limeter schienen die Felswände von den Außenoptiken zu trennen, starke Andruckkräfte warfen bei den Manövern Darwins plötzlich wehrlosen Körper hin und her. Sobald alle Bewegung zum Stillstand kam, machte Darwin mental eine Bestandsaufnahme seiner Glieder und Knochen. Anscheinend war noch alles vorhanden. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er im Laufe der letzten, fürch-terlichen Minuten die Lider geschlossen gehalten hatte. »Ach du Schande ...« »Was hast du denn gedacht?« rief ihm hinterrücks Ge flügelter Stier Reesh zu. »Daß wir dich mitten auf 'ner Plaza absetzen? Hier ist die beste Stelle, die wir finden könnten, um unser Liebchen vor dem ganzen Planeten zu verstecken.« »Es ist so gut wie das einzige Versteck«, stimmte ihm Weißer Adler zu. »Ich vermute, ich muß das alles noch einmal durchste hen, wenn wir starten«, klagte Pike.
»Falls du Glück hast.« Reesh gab ihm einen Klaps auf die Schulter, als Darwin die Füße auf belastungsfeste Deckplatten stellte. »Was soll daran als Glück zu bezeichnen sein?« fragte Darwin, achtete darauf, das Zittern seiner Beine zu ver heimlichen. Reesh stieß ein Lachen aus. »Die Tatsache, daß wir dann noch am Leben sein werden.« »Hm-hm.« Darwin fragte sich, ob Susan auch ein biß chen geschlottert haben mochte, als sie gesehen hatte, wie die Felswände der Schlucht ihnen entgegenzustürzen schienen. War ihr insgeheim auch der Mut geschwunden, hatte sie ebenso für den Fall, daß der ST an den schroffen Klippen zerschellte, einen schnellen Tod vor Augen gehabt? »Beachtlicher Flug.« Weißer Adler grinste. »Ich wußte, daß sie uns durchbringt.« Endlich normalisierte sich Pikes Atmung wieder. »Wer?« »Na, die Kommandantin natürlich. Du hast doch nicht geglaubt, sie würde irgendeinem von uns gestatten, einen derartigen Alptraum von Flug durchzuführen, oder? Es braucht jemanden mit richtigem Mumm und Nerven aus Stahl, um durch so einen Geländegraben zu pilotieren.« Weißer Adler schüttelte den Kopf, in seinen Augen schim merte Bewunderung. Pike biß sich auf die Lippe, ihm kam immer stärkerer Unmut hoch, wenn er an das menschliche Wrack zurück dachte, das sich noch vor kurzem vorn über und über mit Kaffee bekleckert hatte. Was würde ihre treue Mann schaft sagen, erführe sie, daß ihre Kommandeurin am Rande der geistigen Instabilität wankte? Er drehte sich in der Absicht um, es den Männern zu erzählen, wollte sich an der Frau rächen, für die er soviel getan und die sich dann gegen ihn gestellt, ihm — bildlich gesprochen — ins Gesicht gespuckt hatte. »Also los!« Reesh schubste ihn vorwärts. »Es ist deine
Aktion, Doktor. Schwing die Hufe! Wir laden das Airmo bil aus und bringen die Angelegenheit hinter uns.« Kühler Abendwind blies Darwin ins Gesicht, während er die Rampe hinabtappte; in Basars 0,8-Ge-Schwerkraft fühlte er sich etwas leichter als sonst. Die Luft war der maßen trocken, daß sie seiner Haut sofort Feuchtigkeit zu entziehen begann; die Luftfeuchtigkeit war so gering, daß sie ihm Beschwerden seiner Nasenschleimhäute verur sachte. Jetzt knirschte unter seinen Stiefeln der Sand wie der eines anderen Planeten. Basar war eine arme Welt. Am Tag war es heiß und des Nachts bitterkalt, Elektro- und Sandstürme wetterten und fegten um seine Oberfläche, Wasser gab es nur in geringen Mengen, Ressourcen an Mineralien sogar noch weniger. Im Verlauf der Zeit hatte die Bevölkerung sich an den min deren Sauerstoffgehalt und die höheren Stickstoffkonzen trationen gewöhnt. Terraforming in gewissem Umfang hatte stattgefunden, und heute lebten mehr Kinder als frü her lange genug, um das Erwachsenenalter zu erreichen. Auf einen Wink Reeshs hin sprang Darwin ins Airmo bil, wickelte sich in die weite Kleidung, um sich warmzu halten, und hob den Blick an den dunklen Nachthimmel. Durch den Staub, der ununterbrochen in Basars dünner Atmosphäre umherwehte, ließen sich nur die hellsten Sterne erkennen. Darwin schnupperte; die trockene Kälte drang ihm in die Nase. Die Luft roch nach Staub. »Ist 'ne ruhige Nacht«, sagte von der Seite Reesh zu ihm, wies nach oben. »Normalerweise ist der Himmel vom aufgewirbelten Sand pechschwarz.« »Würde mich interessieren, wie hoch die hiesige Staublungensterblichkeit ist. Mit der Zeit könnte eine bemerkenwerte biologische Anpassung eingetreten sein. Lungen wie Leder.« Eine weitere Person verließ im Laufschritt den ST und stieg mit einem behenden Sprung ins Airmobil. Pike brauchte nicht erst genauer hinzuschauen, um zu wissen, es war Susan. Während des ausgedehnten Flugs hatte er
sich ihre sämtlichen Charakteristika sorgfältig eingeprägt. Bisher war ihm bei ihrem Erscheinen stets der Atem ge stockt, hatte er sie sehnsüchtig beobachtet, sich für die Zukunft Bestimmtes gewünscht. Doch diesmal schwoll sein Groll empor, und es wäre ihm lieber gewesen, sie bliebe in dem verdammten ST und träumte von ihrem blei chen Ingenieur. Lautlos erhob das Airmobil sich vom Untergrund, schwebte zur der engen Kluft hinaus. Weißer Adler hatte nicht übertrieben. Nur ein unwahrscheinlicher, dummer Zufall könnte das Versteck des ST preisgeben. »Dieses Mal haben sie kein Kriegsschiff im Orbit, an ders als damals auf Sirius.« Reesh feixte grimmig. »Ge priesen sei Spinne.« »Doktor«, fragte Susan in ausdruckslosem Tonfall, »wo möchtest du von hier aus hin?« »Bringt mich zum Stadtrand. In einer halben Stunde dürfte die Sonne aufgehen. Von dort aus gehe ich zu Fuß.« Darwins Stimme nahm einen rauhen Klang an, als ihm bewußt wurde, daß sein Plan nun Wirklichkeit zu werden begann. Intellektueller Wissensdurst mochte eine Sache sein, doch eine gänzlich andere war es, sich in Ngen Van Chows persönliche Domäne zu wagen. In die sem Moment verwandelte sich die unerquicklich-prekäre Faktizität des einsamen Erkenntnissegewinnens auf feind lichem Territorium in Pikes vertrauteste Begleiterin. Susan steuerte das Airmobil zwischen zwei niedrige Bau ten, in denen Pike Lagerhallen erkannte. Mit steifen Gliedmaßen kletterte er aus dem Airmobil, seine Stiefel scharrten durch grusigen Kies. Im Dunkeln sammelten sich um ihn vermummte Gestalten. Er hörte, wie Susan befahl, Weißer Adler sollte beim Airmobil blei ben und es bewachen. »Doktor, Reesh ... gehen wir.« Darwin eilte voraus in die enge Straße. Reeshs Hand auf seiner Schulter bremste ihn, widerwillig verlangsamte er sein Tempo. »Nicht so schnell«, ermahnte Geflügelter Stier ihn ge
lassen. »Nach den Aufnahmen, die wir gemacht haben, bewegen sie sich hier meistens im Schlendrian.« »Ja, richtig«, stimmte Darwin zu, versuchte willentlich seine Atmung zu beruhigen. »Meint ihr nicht, ihr solltet lieber auch beim Airmobil warten? Es ist nicht nötig, daß wir alle den Kopf hinhalten.« »Wir gehen zusammen, Doktor«, zischelte Susan zu rück. »Du hast den Befehl.« Im Innersten hatte Darwin durchaus nichts dagegen, von einer Eskorte bewaffneter Romananer beschützt zu werden. Im Osten färbte die Sonne sich rot, während die drei sich zwischen den kruden, rechteckigen, aus Stein und gepreßtem Lehm errichteten Häusern einen Weg suchten, aus denen man gedämpfte Stimmen hörte. Gelegentlich schrie ein Kind. Nur Hühner, Ziegen, Hunde und Katzen sahen das Grüppchen vorüberstreben. Unwillkürlich fühl te Darwin sich in die irdische Vergangenheit versetzt. Aus schließlich die Solarzellentürme und Kommunikationsan tennen sowie das ferne Schrillen eines Shuttle-Starts stör ten diesen Eindruck. Darwin bemühte sich, ein Gefühl für das Umfeld zu entwickeln, die Atmosphäre dieses Vororts der gleichna migen Hauptstadt Basars zu erspüren. Die Gerüche von Tieren, das miefige Odeur menschlicher Ausscheidungen und der Duft gut gewürzter Speisen durchzogen die mor gendliche Brise. An den Seiten der flachen, lehmfarbenen Häuser hatte sich verwehter Sand angehäuft. Stücke von Metallschrott, Lumpen sowie da und dort Tierknochen waren, wohl mit Fußtritten, an die Ränder der schmalen Straße gefegt worden, die zwischen den Gebäuden verlief. Um eine Ecke bog eine verhüllte Gestalt, die Kleidung stramm um den Körper geschlungen, kam auf das Trio zu. Unbeabsichtigt ging Darwin langsamer, bis Reesh ihn anstieß. »Salam«, sagte der Mann halblaut, »Deus ist der Herr.« »Salam, Deus ist der Herr«, antwortete Darwin das
gleiche, indem er seine Stimme wiederfand. »Bruder«, fügte er hinzu, »du bist früh dran. Wohin in Deus' Namen gehst du?« »An meinen Platz, Bruder.« Der Basarer wollte weiter latschen. »Was ist das für ein Platz?« fragte Darwin, in dem Neugierde und Furcht miteinander rangen. »Wir haben alle unseren Platz in Deus«, antwortete der Mann, dem man schon anmerkte, daß er sich sorgte, er könnte zu spät eintreffen. »Dann geh mit Deus«, sagte Darwin, trat beiseite. Der Einheimische würdigte Darwin und seine Beglei tung kaum eines Blicks, beeilte sich nun fast. Aus dem Schatten seiner Keffijeh schaute Darwin ihm nach. »Komisch.« »Irgendwie war er nicht richtig normal«, äußerte Reesh unterdrückt. »Nein, auf keinen Fall«, bestätigte Darwin. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, seine Augen waren sonderbar leblos.« Einige Minuten später lief Darwin zu einem Mann, der sich im frühmorgendlichen Licht irgendwohin unterwegs befand. »Salam, Deus ist der Herr. Gibt es hier einen Ort, wo ein müder Wanderer einen Happen zu essen erhalten könnte?« Der Mann wandte sich um. »Salam, Deus ist der Herr. Hast du keinen Platz, Bruder?« Die Augen des Kerls spie gelten lediglich geringes Interesse; anscheinend bean spruchten andere Angelegenheiten seine Gedanken. »Ich bin vorhin erst angelangt«, sagte Darwin freund lich. »Meine Freunde und ich würden gern zunächst ein mal unseren Hunger stillen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Deus wird euch euren Platz zeigen.« Der Mann sprach mit monotoner Stimme. »Geht in den Tempel, und euer Platz wird euch gewiesen.« Er verneigte sich und setzte den Weg fort.
Darwin folgte ihm mehrere hundert Meter weit. Der Mann betrat ein großes Gebäude, bei dem es sich laut Beschriftung um ein Lagerhaus für Wolle handeln sollte. Indem sie sich unter sorgsamster Achtsamkeit außer Sicht hielten, führte Darwin unauffällig Reesh und Susan zu einem Fenster und wischte mit einem Zipfel seiner Klei dung die Scheibe sauber, bis man hindurchsehen konnte. »Bei Spinnes Propheten ...!« raunte Geflügelter Stier. In der Stille des frühen Morgens surrte und klapperte eine lange Reihe von Maschinenanlagen. Die gesamte Halle stand voller wuchtiger, blauschwarzer Apparaturen, die an Montagebändern rasselten; robotische Fließband fertigung fand statt. Selbst aus seinem ungünstigen Blik kwinkel seines Standorts vermochte Darwin die Pro dukte zu erkennen, die auf Antigrav-Transportwagen vor beischwebten: Nach dem Muster verbreiteter Militär modelle hergestellte Handblaster. »Lagerhaus?« schnob Darwin. »Wolle? Pah! Behaltet den Eingang im Auge. Ich werde mich mal drinnen um schauen.« »Warum?« fragte Susan. »Der Mann kam mir nicht wie ein Waffenfabrikant vor. Dafür hatte er einfach zuwenig Intelligenz in den Augen. Es dauert nicht lang. Ich möchte einen Verdacht überprü fen.« Damit ließ er sie und Reesh stehen und flitzte, obwohl Susan ihm einen Widerspruch zufauchte, zum Eingangstor. Pike betrat das Gebäude. Der Büroraum vorn roch noch muffig nach Wolle. Auf der vertieften Pultfläche des alten PlaStahl-Schreibtischs lag einen Zentimeter hoch Staub. Darwin stapfte auf dem in den sandigen Kehricht getretenen Trampelpfad zur inneren Verbindungstür und blickte hindurch. Dahinter sah er zehn Männer an Monitoring-Geräten hocken. Am letzten Gerät nahm der Mann, dem Darwin nachgeschlichen war, soeben den Sitz eines der Operatoren ein; letzterer verabschiedete sich mit einer Verneigung und schlenderte gemächlich auf Pike zu.
»Salam, Deus ist der Herr«, grüßte Darwin ihn. Gleich gültig erwiderte der Mann den Gruß und trollte sich aus der Fabrikationshalle. Darwin näherte sich, während sein Herz gegen die Rippen wummerte, dem anderen Mann. »Hier ist mein Platz in Deus«, sagte er zu ihm, versuchte seiner Stimme einen möglichst eintönigen Klang zu geben. »Salam. Du kommst zu früh, um mich abzulösen.« Der Operator richtete die halb blöden Augen wieder auf den Bildschirm. Darwin sah grafische Darstellungen und tech nische Daten über die Mattscheibe flimmern. In Abstän den erfaßte das Monitoring ein fehlerhaftes Gußstück, und der Operator drückte eine Taste. Dann holte ein Roboter das mißlungene Teil und warf es in einen Sammelbehälter für zu retournierende Einzelteile. »Du leistest gute Arbeit.« Darwin beobachtete den Mann auf seine Reaktionen. »Bist du hier schon lange tä tig?« »Hier bin ich in Deus. Deus ist der Herr.« »Was machst du da?« »Hier ist mein Platz.« »Hast du keinen anderen Platz?« Unvermindert blieb Darwin bei seiner Umgänglichkeit. »Außer in Deus findet niemand einen Platz.« Der Ope rator kehrte sich Darwin zu. »Hast du gesagt, hier sei dein Platz?« »Mein Platz ist in Deus«, beteuerte Darwin, während er angestrengt überlegte, wie er ihn zu mehr Aufgeschlossen heit verleiten könnte, ohne durch abweichendes Betragen aufzufallen. »Also weißt du Bescheid. Dann gibt es nichts mehr zu besprechen.« Damit widmete der Mann sich wieder sei ner Betätigung, und nichts, was Darwin unternahm, konn te ihn noch davon ablenken. Ein weiterer Einheimischer, diesmal ein großer, an scheinend stark behaarter Mann mit üppig-struppigem Vollbart, kam herein und schritt, ohne Pike zu beachten, an
der Aufreihung der Monitoring-Abteilung entlang. Bei einem anderen Operator blieb der Bärtige stehen. »Du wirst abgelöst«, teilte er ihm mit. Wortlos bummelte der Mann zur Halle hinaus. »Du wirst abgelöst«, sagte Darwin zum Bärtigen, kaum daß er das Kontaktron aufgesetzt hatte. Der Hüne neigte den Schädel seitwärts. »Hier ist mein Platz.« »Das ist mein Platz«, behauptete Darwin. »Du wirst abgelöst.« Der hochgewachsene Mann händigte ihm, Unzufrie denheit in der Miene, das Kontaktron aus, schlurfte ein paar Meter weit, kam jedoch umgehend zurück. »Du wirst abgelöst«, sagte er leidenschaftslos zu Pike. Darwin hatte sich das Kontaktron übergestreift und wahllos per Tastendruck Blastereinzelteile auszusortieren begonnen. »Du wirst abgelöst«, wiederholte der Bärtige; eine ab sonderliche Art von Frust verzerrte seine groben Gesichts züge. »Du wirst abgelöst.« In seiner Stimme wurde ein Anklang von Aufdringlichkeit hörbar. »Du kommst zu früh, um mich abzulösen.« »Hier ist mein Platz.« Verzweifelt versuchte der Basa rer nachzudenken, die Mühsal entstellte seine Miene zu einer Karikatur. »Dein Platz ist in Deus«, argumentierte Darwin. »Ich habe meinen Platz in Deus. Mein Platz ist hier.« »Wenn das dein Platz ist, warum bin dann ich da?« Darwin schaute zu, wie der Bärtige sich abmühte, um die Situation zu verstehen. »Du wirst abgelöst«, versuchte der Mann es nochmals, griff erneut auf das eingefahrenes Handlungsschema zurück, das sich hätte bewähren müssen. Von da an ent lockte alles, was Darwin äußerte, ihm nur noch eine Wiederholung des »Du wirst abgelöst.« Darwin gönnte dem Mann seinen Monitor, verließ ge räuschlos die Halle und danach durchs Haupttor das Ge bäude, stiefelte zügig, tief in Gedanken, in die Richtung
der benachbarten Gasse. Als er um die Ecke bog, erregte ein Airmobil, das durch die Straße heransauste, seine Auf merksamkeit. Achtlos-lässig sprangen drei bewaffne te Männer heraus, schwatzten miteinander, während sie das Tor öffneten, durch das Darwin eben das Gebäude ver lassen hatte. Susan huschte an ihm vorüber, in der Faust einen Blaster. »Es muß drinnen irgendwo Überwachungs-Monitoring geben«, flüsterte sie. »Laß uns abhauen.« Darwin folgte, sich darüber im klaren, wie knapp er ei ner Gefangennahme entgangen war, Susan dichtauf, bis sie beide und Reesh mehrere Häuserblocks hinter sich ge bracht hatten. »Was hast du herausgefunden?« »Sie denken überhaupt nicht! Ich kapier nicht, wieso, aber sie können nicht einmal noch die einfachsten Fragen klären, zum Beispiel, wer wann zu arbeiten hat.« Er drosch eine Faust in die andere Handfläche. »Sie haben kein einziges Mal gefragt: >Wer hat dich geschickt?< Sie wissen nicht mal, daß sie Blaster fabrizieren. Alles, über was sie quatschen, ist ihr >Platz.<« Susan schüttelte den Kopf. »Es sind Verrückte ... Geist lose. Einer ist vorhin, während du in dem Haus gewesen bist, direkt an uns vorbeigetrottet, und wir haben >Salam< zu ihm gesagt, aber er hat uns völlig übersehen, als gäb's uns gar nicht. Was ... Ich meine, wie ist so etwas ... Bei Spinnes haarigen Beinen, es ist wahrhaft unheimlich.« »Die Wächter, die aufgekreuzt sind, waren keine Dumpflinge, die nur >Salam< lallen konnten«, rief Geflü gelter Stier Reesh in Erinnerung. »Also besteht eine Oberaufsicht über das Gesamtsy stem«, folgerte Susan. »Wahrscheinlich hat schon jemand Verdacht geschöpft, was unsere Anwesenheit betrifft ... Auf jeden Fall, wenn diese Aufpasser gekommen sind, weil Pikes Umherschnüffeln in der Blasterfabrik bemerkt worden ist.«
»Es sieht ganz so aus«, brummte Reesh, wies mit den Augen auf ein Airmobil hin, mit dem weitere Aufsichts kräfte zu ihnen herabschwebten. »Ich hätte nie gedacht, daß ich so was sagen würde, aber ich wünschte, ich wäre auf Sirius. Dort kannte ich die Regeln. Am besten ziehen wir nun 'n dummes Gesicht.« »Guckt geradeaus«, riet Susan im Flüsterton. »Schaut gar nicht hin.« Darwin widerstand der Furcht, die in seinen Därmen rumorte. »In Deus' Namen, halt!« Der Anruf erscholl in rüdem Ton. Darwin hob den Blick und sah vier Bewaffnete dem Airmobil entsteigen. Susan hatte sich ihnen zugedreht und verbeugte sich tief, das »Salam«, mit dem sie sie grüßte, drang ihr mit völlig echtem Klang über die Lippen. »Drei auf einem Haufen, hm?« fragte einer der stäm migen Aufpasser argwöhnisch. »Ihr kommt nicht zufällig gerade von dem Schafstall, was?« Susan richtete sich auf; Reesh und Darwin waren bei derseits neben sie getreten, hatten vor sich die Hände ge faltet. »Deus ist der Herr.« Darwin versuchte zu verhin dern, daß man seine insgeheime Anspannung seiner Stim me anmerkte. »Deus am Arsch«, maulte einer der Männer ihn an, trat vor, langte zu und zog Susans Keffijeh zur Seite. »Ui, du bist ja 'ne richtige Schönheit. Vielleicht sollten wir dich erst mal für 'ne Weile bei uns behalten, ehe wir dich zum Tempel bringen.« Er amüsierte sich so köstlich, daß ihm der plötzliche Ausdruck rasender Wut in Susans Gesicht entging. Ihre Finger schienen sich, als sie zupackte, wie Geschosse in seine Gurgel zu bohren. Während ihm Augen und Zunge aus dem Kopf quol len, sackte der Wächter zusammen. Mit einem Hieb brach Susan ihm das Genick. Reesh rammte seinen Kriegsdolch dem zweiten Wäch ter in den Leib, während Susan mit dem dritten Mann um seinen Blaster kämpfte. Darwin tat, obwohl sein Herz
hämmerte, seine Knie zu erweichen drohten, einen Schritt seitwärts und bohrte dem vierten Aufpasser das Messer zwischen die Rippen, während er dem Mann in die Augen und tief in eine von Furcht und Ungläubigkeit überflutete Seele blickte. Darwin taumelte zurück, hatte den Alptraum dieses Sterbens unauslöschlich seinem Gedächtnis eingeprägt, vergaß für den Moment das blutige Messer in seiner ver krampften Faust. »Keine Coups nehmen! Das wäre ein Hinweis.« Susan wandte sich um und rannte los. Reesh faßte Pike am Arm und stieß ihn in einen höch stens mannsbreiten Durchgang zwischen zwei Häusern. Darwin konnte den Blick abgrundtiefen Entsetzens, mit dem der Mann gestorben war, nicht aus seinem Bewußt sein verdrängen. Das jämmerliche Grauen des Sterben den war ihm nachhaltig ins Mark gefahren, würde ihm immer unvergeßlich bleiben. »Wohin nun?« fragte Reesh, der völlig unbeeindruckt wirkte. »Zurück zum ST? In zehn Minuten wird's hier von solchen Burschen wimmeln.« »Zum... zum Tempel.« Fast versagte Darwin beim Sprechen die Stimme. Er mußte mehr erfahren! Darin er blickte er jetzt eine gebieterische Unabweisbarkeit: Er hatte der Tötung des Mannes einen Sinn zu verleihen. Und wenn er jetzt umkehrte, würde er nie mehr den Mut zusammenraffen können, um noch einmal etwas ähnli ches wie diese Aktion zu versuchen. Etwas seines Wesens stürbe ab. Er fühlte, wie ihm aus seinem Innersten neue Kraft und Stärke zuflossen. Reesh klappte der Unterkiefer herab. »Du hast doch wohl vollends deinen übergeschnappten Narrenverstand verloren, wenn du meinst, wir ...« »Wir müssen hin!« Darwin hielt Reeshs und Susans skeptischen Blicken stand. »Dort ist die Antwort auf alle unsere Fragen zu finden, und ... außerdem werden sie in ihrer eigenen Mitte nie nach Flüchtigen fahnden. Be
stimmt halten sie uns für radikale Regimegegner, die jetzt die Absicht haben, schnellstens abzutauchen. Deshalb werden sie als erstes auf den naheliegenden Fluchtwegen suchen. Nicht im Stadtzentrum.« In Reeshs Wange zuckte ein Muskel. Er schaute Susan an. »Also?« »Zum Tempel«, entschied Susan mit verkniffener Miene. »Aber es wird besser sein, du behältst recht, Dok tor. Der ST braucht, um uns hier rauszuholen, eine halbe Stunde Zeit. Damit dürfte jeder Überraschungsvorteil da hin sein ... Falls wir überhaupt so lang am Leben blei ben.« Darwin nickte und seufzte erleichtert. »Laß uns eins nach dem anderen erledigen.« Er sah an sich hinunter und stellte fest, daß seine Kleidung nur durch winzige Blut ströpfchen bespritzt worden war; das restliche Blut war seinen Arm hinabgesickert, klebte jetzt kalt und feucht im Innern des Ärmels. In ungefähr Dreißig-Sekunden-Abständen trennten sie sich, nahmen einzeln, in derselben Richtung, den Weg zur Stadtmitte. Ihr Vorgehen hatte zum Ergebnis, daß Darwin sich in seiner Benommenheit allein fühlte. Er be ruhigte durch mehrmalige Willensanstrengungen seinen Herzschlag, gab sich Gedanken über die Veränderungen hin, die sich in ihm vollzogen. Er hatte das Empfinden, ein anderer als früher zu sein, mit dem Adrenalin, das ihm in den Adern kreiste, etwas Fremdes durch seine Gliedma ßen kriechen zu spüren. Seit Alaska hatte er den Nervenkitzel des Daseins nicht mehr so intensiv wie heu te ausgekostet, und damals war alles weniger lebenssprü hend, nicht so lebensgefährlich, allerdings auch minder bedeutsam als jetzt gewesen. Niedrige, verstaubte Bauten säumten die breite Haupt straße, die er entlangwanderte. Mittlerweile befanden sie sich im Geschäftsviertel. Man bemerkte jedoch keine Ak tivitäten, keine Ausstrahlung der Art, wie sie sich norma lerweise an Drehscheiben von Kommerz und Wirtschaft
beobachten ließen. Die Straße kam Darwin nichts als schä big vor, die Fenster waren fleckig und trüb. Hier und da hatten sich in den kleinen Dünen, die der Wind an den Ecken der schmuddligen, jeder Zierfassade baren Gebäu de aufwehte, sastrugi gebildet, entfernt kammförmige, geriffelte Ablagerungen verfestigten Sands und Staubs. Am Himmel verschwammen von Staubaufwirbelungen schwere, düstere Wolkenbänder und das Blutrot der Son ne Basars. Darwin schleppte sich ähnlich wie die verdreh ten Wolkenknäuel vorwärts. Das Bewußtsein, daß sie unterwegs in die Höhle des Löwen waren, nötigte ihm ein Schaudern ab; im Geist beschwor er den Bären und den Santos, deren Seelen er zu Spinne heimgesandt hatte. Zwei Männer hatte er mittler weile getötet — ihre warmen, lebendigen Leiber mit sei nem Messer aufgeschlitzt, sie tödlich verwundet in ihrem Blut liegen gelassen: Eine Vorstellung, die ihn beunruhig te. In wen verwandelte er sich? Am Hauptportal des Tempels stand eine lange War teschlange. Darwin hielt sich dicht hinter Susan, während Reesh, wie er merkte, direkt hinter seinem Rücken blieb. Es bereitete ihm eine flüchtige Anwandlung des Trosts, sich zwischen seinen Leibwächtern so unmittelbar gebor gen fühlen zu dürfen. Es erleichterte ihn, sich daran zu erinnern, wie blitzar tig und glatt Susan ihren Gegner erschlagen hatte. Er ent sann sich nicht einmal noch an die Reihenfolge ihrer Be wegungen, doch der Mann war tot auf den Untergrund geprallt. Wie schnell es abgelaufen war, wie umstands los ... In der Warteschlange zuckelten sie durch die hohen Flügeltüren des Portals in den Tempel. Im Innern des rie sigen Bauwerks schielte Darwin umher. Vorher war es ei ne Moschee gewesen, doch die Wasserbecken waren zu zementiert worden. Sobald vor ihm die Tempelbesucher hinknieten, tat er das gleiche, fühlte links neben sich Su sans warmen Körper, während ihn rechts Geflügelter Stier
Reeshs Muskelbepacktheit deckte. Indem er das Ge baren der Gläubigen nachahmte, fing Darwin wiederholte Male den Kopf zu neigen an, nuschelte dabei unentwegt etwas, das ähnlich wie die ringsum hörbaren Gebete klang. In den gegen die Seitenmauer geworfenen Schatten der Säulen fiel ihm eine seltsame Erscheinung auf; das Indivi duum benahm sich, als ob es lediglich beobachtete, warte te. Es trug eine lose geschnittene Kapuzenkutte, die sich jedoch von der Bekleidung der Basarer deutlich abhob. Im Dunkeln unter der Kapuze blieben das Gesicht unkennt lich, die Gesichtszüge ununterscheidbar. Die Person schien beinahe zu schweben, während sie sich hinter den massigen, runden Säulen, die das Dach stützten, an der Mauer entlangbewegte. Aus dem Verhalten dieser Person erahnte Darwin eine Zweckgerichtetheit, die keineswegs zu dem allgegenwär tigen Stumpfsinn paßte, den er bisher in Basar-Stadt mit angesehen und inzwischen auch schon zu erwarten sich angewöhnt hatte. Langsam geisterte die etwas gespensti sche Gestalt längs der Mauer durch den Tempel, verhielt ab und zu, um über die fromme Menschenmasse auszu spähen, die ihre Gebete greinte. Darwin krampfte sich unwillentlich zusammen, als die Kapuze sich in seine Richtung drehte und verharrte. Während es ihm vor Furcht eiskalt über den Rücken lief, duckte Darwin nach Art der Gläubigen den Kopf, murmelte gedämpft, in der Hoffnung, sich nicht verraten zu haben, ein eigenes Stoßgebet. Sekunden verstrichen, bevor die ungewöhnliche Er scheinung sich abwandte und in den Schatten verschwand. Der Atem war Darwin im Brustkasten gestockt, er ließ ihn, weil ihn Beklemmung quälte, stoßartig ent weichen, widmete seine Gedanken erneut den Menschen, die ihn umgaben. »Fällt euch was auf?« fragte er gedämpft auf romana nisch.
»Sie stinken«, knirschte Susan. »Es sind weniger geworden. Die Besucherzahl ist ge sunken. Nicht nur das, da und dort sieht man auch Leute, die sich bewußt umschauen, man sieht's an ihren Augen. Man merkt, daß die Vorgänge ihnen Unbehagen einflößen ... sogar regelrechte Furcht.« Susan begann umherzulugen. »Du hast recht. Was be deutet das, Doktor? Wir haben dich aus weiter Ferne her beigeholt, um von dir Auskünfte zu kriegen.« Ein Mann erklomm eine Kanzel und streckte die Hände zum Segen in die Höhe. »Deus!« Das donnerlaute Auf brüllen überraschte Darwin und seine Begleiter. »Deus! Deus!« Anschließend sang die Versammlung ein Lied, und danach fing die Predigt an. Darwin spürte, wie sich Susan neben ihm fast auf den Fußboden preßte, als an der Rük kwand des Tempels ein übergroßes Holo aufglomm. Sie blickten in Ngen Van Chows fanatische Züge. Be hutsam schob Darwin einen Arm hinter sie und zog sie näher zu sich. »Nur die Ruhe.« Kurz sah er sie an und er kannte Wutentbranntheit in ihren Augen. »Es ist bloß 'n Holo.« Die Muskeln ihrer Kiefer traten hervor, als ob sie stumm schwörte, ihn bei nächstbester Gelegenheit zu tö ten. Doch in seiner jetzigen Gemütsverfassung bewahrte er Gleichmut. Wenn sie ihn nicht umbrachte, taten es vor aussichtlich Ngens Spitzbuben. »Nimm deine Hand von mir!« zischte Susan; ihre Stim me glich einem Dolch. Darwin erlaubte sich ein verhalte nes Auflachen, schenkte seine Beachtung wieder der Gemeinde. »... und so geht das Scheusal Satan im Kosmos um. Er hat seine abscheuliche Hand auf die Menschheit gelegt und das Verhängnis über die Sterne verbreitet. Wie können wir das Universum von diesem Unheil erretten?« »Mit Deus!« schrie die Menschenmenge. »Deus! Deus!« Etliche Anwesende waren aufgesprungen, tanzten und
hüpften. Andere fielen der Länge nach auf den hartenStein, traten um sich, wanden sich in Konvulsionen hy sterischer Begeisterung. »Wer ist Satan?« rief Ngen. »Der falsche Gott Spinne!« lautete die im Chor gegröl te Antwort. »Nieder mit Spinne! Tod den Romananern! Dschihad! Dschihad! Dschihad!« Bei diesen Tönen waren beide Begleiter Darwins starr geworden. Als er zur Seite linste, sah er Haß in Reeshs Augen glitzern, unter der Kluft umklammerte die Faust des Romananers den Griff des Blasters. Susans Gesicht spiegelte einen Ausdruck tiefsten Abscheus wider. Ver zweiflung und blinder Zorn prägten ihr Mienenspiel mit. »Nur ruhig«, flüsterte Darwin. »Unsere Zeit kommt später.« Die Predigt dauerte so lange, daß sie nach und nach dagegen abstumpften, doch unterdessen nahm Darwin die merkwürdige Veränderung wahr, die sich bei den Anwe senden vollzog, die vorher furchtsame Blicke um sich geworfen hatten. Allmählich nämlich steckte der allgemei ne Enthusiasmus sie an; das erklärte allerdings noch längst nicht die in der Blasterfabrik beobachtete Verblödung. »Bewahrt die frohe Botschaft in euren Herzen. Mein Segen gilt euch allen. Deus sei mit euch.« Als Ngen die Schwafelei beendete, geschah es mit einer Miene seliger Verzückung und Verklärung. Das große Holo erlosch. Ringsum entstand ein andächtig-ernstes Stimmengewirr, leise raschelten, während eine Anzahl Menschen sich er hob, ihre basarischen Gewänder. Man öffnete die Seitenpforten. Darwins Aufmerksam keit galt den Tempelbesuchern, die aufgestanden waren; sie hatten zu denen gehört, denen man noch normale In telligenz hatte ansehen können. Jetzt schwankten sie wie Benommene aufs Tageslicht zu, während die Mehrheit der Besucher blieb, die Köpfe gesenkt hielt. »Rührt euch nicht«, warnte Darwin spontan seine Ge fährten.
»Was? Wieso nicht? Was ist los?« Susans Blick ruckte durch die Tempelhalle, als wäre sie ein Raubvogel, der nach Beute ausschaute. An beiden Seiten der nächstgelegenen Pforte bedienten Techniker Konsolen. »Ja natürlich!« »Laßt uns verschwinden.« Reesh war Unruhe anzu merken. »Nein.« Darwin versuchte, die Lautstärke seiner Stim me zu mäßigen. »Wenn ihr euch vom Fleck bewegt, sind wir erledigt. Jetzt weiß ich, was hier getrieben wird. Guter Gott, was für ein Ungeheuer Ngen ist ...« Da dröhnte erneut eine Stimme durch die Halle. »Wir haben euch entlarvt. Ich sehe euch, wie ihr euch inmitten der Frommen versteckt. Steht auf und gebt euch zu erken nen, Agenten Satans!« Der Priester auf der Kanzel deute te geradewegs auf Darwin Pikes kleines Grüppchen. Ein höllisches Durcheinander brach los.
20
KOMMANDOBRÜCKE DER GABRIEL WÄHREND DER VERSORGUNGS AUFNAHME IM FERNRAUM, GULAG-SEKTOR
Torkild betrachtete aus düsterer Miene das auf den Bild schirmen wiedergegebene Raumschiff und zupfte nach denklich an seinem hellblonden Bart, drehte sich zerstreut Haarzipfel um die Finger. Eben war von Santa del Cielo die Deus eingetroffen. Die Deus ging längsseits, indem sie die Geschwindigkeit der der Gabriel anpaßte, um ihr, bevor Torkild zum nächsten Auftrag startete, Nachschub an Waffen, Nahrungsvorräten und sonstigen Materialien anzuliefern. Der Anblick des immensen Kriegsschiffs bereitete Tor kild gleichzeitig frohe Genugtuung wie auch Sorge. Warum mußte ein Sirianer auf Arpeggio dermaßen großen Einfluß haben? Gewiß, Ngen hatte neuen Wohlstand beschert, den Arpeggianern die Raumfahrt wieder ermög licht, ihnen Waffen zur Verfügung gestellt. Erstmals seit dreihundert Jahren flogen Arpeggianer erneut in mit ar peggianischen Blastern armierten Raumschiffen durchs All — doch die technischen Entwürfe hatte ein Sirianer angebracht. Dieser Gedanke wurmte Torkild. Er stützte das Kinn auf einen angewinkelten Arm und heftete den Blick auf den Monitor, auf dem sich der An flug des Shuttles der Deus verfolgen ließ, eines stummel flügeligen Raumfahrzeugs, das langsam den Abstand zwi schen den beiden Kriegsschiffen überquerte. Bruno, der Kommunikationstechniker, sprach halblaut ins Kommu-System, koordinierte mit dem Shuttle, indem es sich näherte, die erforderlichen Daten. Als das Shuttle anlegte, bebte ein schwacher Stoß durch die Gabriel. »So ein täppischer Schwachkopf!« entfuhr es Torkild. »Kann der Messias denn keine tüchtigeren Piloten finden?
Bruno! Man soll unverzüglich eine Schadensmel-dung heraufsenden, und veranlassen Sie, daß der Nach-schub gebunkert wird. Ich wünsche, daß unsere besten Technikerteams die Blaster auspacken und installieren — vorausgesetzt, dieser idiotische Shuttle-Pilot hat sie nicht demoliert.« »Jawohl, Sir.« Torkild kniff sich in die Nasenwurzel, um den leichten Kopfschmerz zu lindern, der ihn hinter den Augen quälte. Gereizt gab er ein Brummen von sich, lehnte sich in den Kommandantensessel und reckte die Gliedmaßen. Verdrossen besah er sich nochmals die Holo-Wiedergabe der Deus. »Nun ja, vielleicht haben wir keinen Grund zum Klagen. Wir erhalten die ersten Geschütze, die die arpeggianische Industrie seit dreihundert Jahren produ ziert hat, und ein Flaggschiff liefert sie uns. Die Gefechts kapazitäten stückweise aufzustocken, ist allerdings eine etwas ungewöhnliche Methode. Weshalb läßt man uns für die Umbauten nicht heimfliegen?« »Kapitän, unsere Industrie hat vorher nur Airmobile und Vakuumprodukte fabriziert«, erinnerte Bruno ihn, »Kompressoren und ...« »Ja, ich weiß, Modernisierung und Ausbau einer Indu strie kann man nicht über Nacht bewältigen. Aber es ist ... Also, irgendwie läuft es falsch. Es wird von einem Siria ner gemacht.« »Darüber denken wir alle nach, Kapitän. Wir sind allesamt Arpeggianer. Wir empfinden ausnahmslos das gleiche Unbehagen. Unsere Ehre und unser Stolz ... Trotz dem, der Messias hat sein Wort gehalten.« Torkild schnaubte, aber nickte. Das hatte der Messias. Die Blaster und die Versorgungsgüter waren da. Bruno ergänzte am Kommu-Apparat Torkilds Befehl mit einem elektronischen Plazet für die Wachmannschaft, rückte sich im Konturensessel zurecht, griff nach einem Becher Kaffee. »Unsere Leute sind an die Arbeit gegan gen. Heinar hat die Leitung des Umladens übernommen.«
Bruno neigte den Kopf auf die Schulter, richtete den Blick auf die Deus, die mehrere Kilometer entfernt im All schwebte. »Ausgezeichnet.« Torkild nickte nochmals. »Er hat die Kosmoschlepper-Wartung unter sich gehabt, nicht wahr? Ach, es ist egal, daß der Messias ein Sirianer ist, wir betreiben wieder Raumfahrt und haben Waffen, Bruno. Und nicht bloß Kosmoschlepper. Beachten Sie nur unser hiesiges Rendezvous. Die Deus trifft uns während des Flugs auf halber Strecke, um die Frist zu verringern, die wir fürs Herabsetzen der Delta-Geschwindigkeit brau chen. Wir werden in wenigen Stunden, ohne Zeit zu ver geuden, das Zyklopus-System angreifen.« Bruno leerte den Plastikbecher und zerdrückte ihn an der Kommu-Konsole. »Und es grenzt an ein Wunder an Navigationsvermögen, das Rendezvous so zügig zustan dezubringen. Das Raumschiff muß unglaubliche Instru mente an Bord haben. Diesen Faktor müssen wir unbe dingt berücksichtigen, wenn wir endlich den Kampf mit der Patrouille aufnehmen.« Verkniffenen Gesichts beäugte Torkild, dem Brunos Bemerkungen Grund zum Nachdenken boten, das Abbild der Deus. »Bruno, es kann sein, Sie haben uns gerade das Leben gerettet. Ihre Beobachtungsgabe ist sehr scharf ausgeprägt.« Und dabei war Bruno nicht einmal ein An gehöriger eines der führenden Häuser Arpeggios, son-dern entstammte lediglich einer Familie des Durchschnitts volks ohne jeden gesellschaftlichen Rang, ohne Ansehen. »Ich werde dieser Erkenntnis höchste Aufmerksamkeit schenken. Man stelle sich einmal vor, daß ich anfangs geglaubt habe, wir könnten uns einfach ins Gefecht stür zen, unsere Geschütze mit ihrer Feuerkraft messen. Das wäre ja der reinste romantische Selbstmord geworden.« Das Lob bewog Bruno zum Lächeln, ehe er sich wie der über den Kommu-Apparat beugte, einen Anrufbeant wortete. »Ein Transduktions-Gespräch für Sie, Kapitän«, teilte
Bruno mit. »Ihre Schwester möchte Sie sprechen.« »Schalten Sie durch«, sagte Torkild, ein herzliches Lächeln machte seine harte Miene sanfter. Aus Diskretion setzte Bruno sich eine vollausgestatte te Kommu-Kontakthaube auf den Schädel, damit Torkild ungestört privatim reden konnte. Ein wirklich hervorragender Offizier. Mit einer von solchen Leuten bemannten Flotte wäre es mir möglich, Arpeggio an die Machtspitze des Direktorats zu hebeln, an die es vor dreihundert Jahren gelangt wäre, hätte nicht der Verfall es den Sirianern erlaubt, die Direktoren zu institutionalisieren. Aber vielleicht, wenn ich die rich tigen ... Auf dem Holo-Bildschirm erschienen M'Kleas reizvol le Gesichtszüge. Sie lächelte, und Torkild hatte angesichts ihres Lächelns immer das Empfinden, die Welt würde hell und wunderbar. Ein Schopf langen, goldblonden Haars umschimmerte ihr Gesicht, fiel ihr vom Scheitel auf die Schultern. Torkild musterte sie, genoß den Anblick ihrer vertrauten Miene, der blauen Augen, des festen Kinns und der nahezu durchsichtigen Haut. Auf lange Sicht hatte die arpeggianische Eugenetik sich in der Tat ausgezahlt. »Ah, M'Klea! Was für eine Freude, dich zu sehen. Wes halb rufst du an? Es ist doch mit Vater, Mutter oder dem Rest der Familie nichts vorgefallen?« Er spürte sein Gesicht spitzig werden. »Aber wenn du ein so teures Transduktions-Gespräch ...« »Nein, mein lieber Bruder. Alle sind gesund an Kör per... und Seele.« M'Kleas Gesicht spiegelte wachsende Aufregung. »In der Nachbarschaft ist gerade ein neuer Deus-Tempel fertiggestellt worden. Das hat mich an dich erinnert, also dachte ich, ich rufe dich mal an und erkun dige mich, wie's dir geht.« Ihre Augen funkelten. »Und Vater hat es dir genehmigt, soviel Kredits auszu geben? Das ist ja kaum zu ...« M'Klea verengte die Lider und hob keß das Kinn. »Pssst! Das wissen wir noch nicht, Torkild. Vater ist ...
Na, er ist außer Haus, weißt du, und Mutter auch. Sie werden's erst merken, wenn die Gebührenrechnung kommt, und dann ist's zu spät. Es ...« »M'Klea!« Torkild sprang halb aus dem Kommandan tensessel hoch, ließ sich jedoch zurücksinken, als sie ihm zublinzelte. »Tja, ich denke mir, wärst du nicht das schön ste Mädchen der ...« »Jetzt haben wir aber genug von mir geredet. Wie geht's dir, Torkild? Wir hören hier die glanzvollsten Sachen über dich und deine Gabriel. Der ganze Planet kennt dei nen Namen. Es hat den Anschein, als erführen wir jeden zweiten Tage neue von deinen kühnen Unternehmungen. Manche Leute sagen, du wärst der großartigste Raum schiffskapitän seit den Zeiten der Konföderation.« »Ich habe keinen Grund zur Klage.« Aufgrund seiner rührseligen Schwäche für M'Klea wurde Torkild fast sen timental. »Wenn man der Kapitän ist, kann man sich nicht einmal über das Essen beschweren.« »Ich vermisse dich.« M'Kleas zartes Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Kummers. »Allerdings habe ich das Vergnügen gehabt, deinen Messias, Ngen Van Chow, etwas näher kennenzulernen. Er ist ein höchst bemerkenswerter Mann.« Sie seufzte. »Ich versuche ihn zu überreden, eine Einladung zu sich auszusprechen, damit ich dich besuchen kann. Er meinte, wenn ich's fer tigbrächte, dem Tempel so lange fernzubleiben, wäre er damit einverstanden, daß ich ihm einen Besuch abstatte. Warum er das wohl gesagt hat, frage ich mich?« Erwar tungsvoll neigte sie den Kopf ein wenig zur Seite, als glaubte sie, Torkild könnte Mitwisser irgendwelcher ge heimer Kenntnisse sein. »Woher soll ich das wissen?« Torkild spreizte die Hände. Flüchtig trübte ein neuer unliebsamer Gedanke sein Gemüt. Warum mochte Ngen Van Chow Neigung zei gen,. M'Klea Gefälligkeiten zu erweisen? Eine Aufwal lung hitzigen Zorns verwirrte kurz seine Überlegungen, bevor er sie entschieden unterdrückte. Bestimmt kannte
der große Messias die Bedeutung, die die alten arpeggia nischen Familien der Tugendhaftigkeit beimaßen. Auf grund der allgegenwärtigen Vergewaltigungsgefahr behü teten sie ihre Töchter mit der leidenschaftlichsten Eifer sucht. »Zweifellos hat deine unübertreffliche Schönheit ihn tief beeindruckt, liebe Schwester«, versicherte Torkild, indem er sich sein vorteilhaftestes Lächeln abrang. »Aber ich würde keinesfalls ...« »Ich halte ihn für einen sehr gutaussehenden und schneidigen Mann, Bruder. Glaubst du, ich könnte an sei ner Seite zur Kaiserin aufsteigen? Kannst du dir so was vorstellen? Wie ich Macht über das gesamte Direktorat habe?« Trotz des Kältegefühls, das sich plötzlich in seiner Magengrube ausbreitete, lachte Torkild. »Ich habe dir immer gesagt, kein Mann könnte jemals gut genug für dich sein, es sei denn, es wäre ein Halbgott.« So hatte er sich ausgerückt. Und daß ihm damit ernst war, hatte er mehr als einmal gewissen Verehrern bewiesen, die M'Kleas Keuschheit zu bedrängen versuchten. Und er hatte vor, bis zu seinem letzten Lebenstag dazu zu stehen — außer natürlich, er fand für sie einen Mann, dem sich nachsagen ließ, daß er eine Frau wie M'Klea verdiente. Aber der Mes sias? Er vermochte sich schlichtweg nicht mit der Vorstel lung anzufreunden, daß dieser Mann das heilige Gefäß von M'Kleas Leib in Besitz nahm. Irgend etwas an ihm ... Doch was M'Klea da andeutete, war ohnedies undenkbar — nur die törichte Phantasterei einer jungen Frau. M'Klea neigte den Kopf zur anderen Seite. »Halbgott? Aber genau das ist Ngen Van Chow ja, lieber Bruder.« Verunsicherung verengte Torkild die Kehle. »Schwe ster«, sagte er zur Warnung und hoffte, daß sie ihm sein Mißfallen ansah, »der Messias ist ein großer Mann, und er kennt viele Frauen. Ich weiß, daß keine davon so schön wie du ist, aber er verfolgt gewaltige Pläne. Du wirst doch nicht enttäuscht sein, falls er dein Wunschdenken nicht
erfüllt? Du bist noch jung. Solche Sachen ... Nun ja, jemandem wie dir kann es leicht so vorkommen, als stün de auf einmal das Universum offen, wenn ein älterer Mann einfach nur eine beiläufige Bemerkung äußert.« »Ich weiß darüber gut Bescheid«, stichelte M'Klea.»Aber ist ein Kaiser nicht der Traummann jeder Frau? Denk dir doch nur mal den Fall, er findet mich tat sächlich anziehend, Torkild. Als Kaiserin wäre es mir machbar, daß ich dir in vielerlei Hinsicht unter die Arme greife, Bruder. Es bliebe nicht beim Kommando über ein Raumschiff, sondern du könntest sicher Gouverneur wer den ... Oder vielleicht Oberbefehlshaber der ganzen Flot te. Die Möglichkeiten sind endlos, wenn du's mal genauer durchdenkst ... Und das wirst du, oder? Für mich, nicht wahr? Für deine M'Klea.« »Ja.« Torkilds Stimme klang heiser. »Wußtest du, daß wir hier unerhört viele wundervolle Neuerungen haben? Nachts sieht man jetzt derartig viel Stationen am Himmel, daß das ganze Firmament nur so glitzert. Es gibt mehr Delikatessen zu futtern, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Die Händler jammern bloß noch, entweder weil sie alte, teure Waren nicht mehr ab setzen können, oder weil sie alles Erdenkliche zu Schleu derpreisen verhökern müssen. Aber egal, sie scheffeln so oder so mit beiden Händen Kredits. Die Fabrikanten schreien nach Arbeitskräften. Die Menschen wimmeln wie überdrehte Insekten umher, schuften den vollen Tag hindurch. Ich sage dir, es findet praktisch keine Gesellig keit mehr statt. Niemand hat noch Zeit für Parties. Ich hätte nie gedacht, daß Arpeggio je wieder der König un ter den Planeten werden könnte. Ich bin ja so stolz auf dich, Torkild! All das haben wir dir und deiner tapferen Crew zu verdanken.« Torkild lächelte erneut, seine gute Laune war wieder hergestellt. »Für dich, mein kleiner Engel, würde ich das Universum erobern.« »Und genau das, mein Frechling von Bruder, wirst du
für mich tun.« Ihr Tonfall vermittelte eine Andeutung von Gereiztheit. »Hättest du mich nur mitfliegen lassen.« »Für jemanden wie dich, Blume des Paradieses, ist ein Kriegsschiff nicht der passende Aufenthaltsort.« Mit gespielter Herablassung zwinkerte er ihr zu. »Romananerinnen und Patrouillenfrauen fliegen in Raumschiffen«, schmollte M'Klea. »Wir haben Bilder ge sehen. Der Messias sendet allerlei Informatives über sie. Aber ihre Frauen ... Sie sind fett wie Säue. Außerdem er weisen sie den Männern die widerwärtigsten sexuellen Dienste. Ich schwöre dir, sie sind sich nicht zu gut, um ...« »M'Klea!« fuhr Torkild auf, schoß senkrecht aus dem Kommandantensessel hoch. M'Klea kicherte fröhlich über die Reaktion, zu der sie ihn getrieben hatte. Verärgert hob er die Hände, klatschte sie auf den Sessel. »Eine Frau dei nes ... Wie kannst du nur?! Gütige Götter, Schwester! Wäre ich nicht zwanzig Lichtjahre entfernt, ich würde dir so den Po versohlen, daß du eine Woche lang nicht sitzen könntest.« Er steigerte seine Lautstärke. »Du bist eine Dame!« wetterte er. »Benimm dich entsprechend!« »Das war's dann für heute, Bruder.« M'Klea lächelte sichtlich zufrieden. »Wir alle senden dir unsere herzlich sten Grüße und wünschen uns, wir dürften bei dir sein.« Sie warf ihm eine Kußhand zu, und das Bild verflackerte. Torkild starrte die Mattscheibe an, lauschte auf das greuliche Geräusch seines Zähneknirschens. Unwillkür lich schenkte er — konnte in diesem Moment nicht anders — seine Aufmerksamkeit von neuem dem Holo, das zeig te, wie die Deus im Schwarz des Weltraums schwebte. Torkild schüttelte den Kopf. Nein, nicht Ngen Van Chow ... Das alles war nur M'Kleas überspannter Vorstellungs kraft entsprungener Unfug. *
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DEUS-TEMPEL IN BASAR-STADT, BASAR
Noch während die Donnerstimme durch den riesenhaften Saal der ehemaligen Moschee hallte, stand Susan schon auf den Beinen, hatte den Blaster gezückt und schußfertig in der Faust. In äußerster Hast suchte sie nach dem nächst besten Ausgang. An den Konsolen drehten die Techniker den Kopf, spähten im Saal umher, sahen schließlich Susan sowie Darwin und Geflügelter Stier Reesh, die sich jetzt ebenfalls schleunigst aufrichteten. »Da hinüber!« befahl Susan, tat einen Satz über nieder gekniete, mit Beten beschäftigte Basarer. »Nicht!« schrie Darwin, konnte sie gerade noch packen und zurückhalten. »Wir müssen durchs Hauptportal hin aus. Es ist der einzige Ausweg! Die Seitenpforten sind gefährliche Fallen. Auf diese Weise haben sie das Ganze nämlich abgezogen. An den Seitentüren ...« Ein Mann griff nach Susan. Nur dank seiner überlege nen Körpergröße gelang es Darwin, sie zurückzuzerren. Mit einem Mal erhoben sich die Gläubigen alle gleichzei tig vom Fußboden und starrten das Trio an. »Wir müssen hier raus ... Dort entlang! Schnell, ver dammt noch mal!« Darwin zog Susan mit sich durch die Menschenmenge in Richtung Mauer. Reesh deckte ihnen, indem er mit dem Blaster bedrohlich tief zielte, den Rük ken. »Wer ist Satan?« fragte der Priester auf der Kanzel. Seine Stimme durchdrang die plötzliche Stille mit der Schärfe eines Kriegsmessers. »Spinne!« grölte die Gemeinde. »Spinne! Spinne!« »Nieder mit Spinne!« brüllte der Priester, deutete mit beiden Händen auf Darwin und seine Beschützer. »Tod dem Direktorat!« »Tod!« gellte es aus den Mäulern der hohläugigen Menschenmasse, sie riß die Fäuste empor, schwang sie im Takt des eigenen Krakeelens. »Tod! Tod!« Sie drängte vor wärts, eine vom Rascheln der Gewänder und dem Tappen zahlreicher Füße begleitete Welle in Wutgekoller verfalle
ner Zeloten, Hände grapschten nach den Eindringlingen. Susan wandte sich um, kehrte den Rücken der Mauer zu, feuerte rasch einen Schuß auf den blökenden Priester ab.Fast traf sie ihn, der Blasterstrahl krachte ins Kanzelge länder, zertrümmerte es in Stücke, so daß der Mann eilig das Weite suchte, furchtsam und mit Holzspänen gespickt durch eine schmale Tür floh. Dann richtete sie den Blaster auf die Horden in Wü stengewänder gehüllter Fanatiker, die sich, die Fäuste ge reckt, Tollheit in den Augen, brüllend auf sie und die zwei Männer zuwälzten wie eine übermächtige Brandung. Drei Blasterstrahlen knatterten ins dichte Heranwogen der Gestalten. Glieder, Brustkörbe und Schädel barsten, als die verwundbaren menschlichen Leiber der Getroffe nen die geladenen Partikel absorbierten. Die Realität ver wandelte sich in ein Chaos aus Blut und Tod. Eine Sekun de lang blieb die Phalanx unbeeindruckt — dann jedoch jagte die schiere Gewalt der drei Waffen, indem deren Wirkung bei den Einzelnen im geistlosen Getümmel einen restlichen Selbsterhaltungstrieb wachrief, die Haufen zurück. Darwin zwang sich zur Ruhe und visierte durch die Zielvorrichtung die Nebenpforte an; sein Schuß traf eine Kontrollkonsole, so daß die Techs, als Metallsplitter und Keramikbrocken sie überschütteten, hastig Deckung such ten. Die wenigen Personen, die noch an der Pforte standen, kreischten auf einmal gräßliche Schreie hervor, langten sich an die Schädel, droschen auf die eigenen Köpfe ein, ehe sie zusammenbrachen, spastisch mit den Gliedmaßen um sich schlugen und traten. Mit grellem Aufblitzen loh ten Stichflammen aus den Konsolen, Rauch entquoll ihnen. Irgendwo im Tempel knisterten und knatterten Kurzschlüsse. Ein Alarmsignal schrillte durch den Wirr warr. Susan erhaschte einen Blick auf die entsetzliche Frat ze, zu der sich Pikes Gesicht entstellt hatte, während er aus
dem Blaster auf eine andere Seitentür feuerte. Auch dort hatte sein Treffer die gleichen Folgen und bescherte den in unmittelbarem Umkreis befindlichen Personen einen fürchterlichen Tod. »Bringt sie um!« erscholl ein Befehl aus der Mitte der Gemeinde, und sofort rückte die Menschenmenge wieder heran. »Da hinunter!« Susan begann sich an der Mauer ent langzudrücken. Sie hörte, wie Reesh und Darwin, wäh rend sie sich ihr anschlossen, untereinander tuschelten. »Ist dir klar, was Ngen macht?« rief Darwin ihr mit aus Entsetzen verpreßter Stimme zu. »Hast du's durch schaut?« Er packte sie am Arm und drehte sie zu sich um. Sie blickte in die Augen eines Menschen, der sich zum Äußersten genötigt fühlte. »Ja, ich hab's verstanden«, antwortete sie mit rauhem Krächzen, entwand sich seinem Griff und bestrich eine Gruppe von fanatisch brüllenden Zeloten mit mörderi schen Energiestrahlen. »Du mußt diese Information Admiral Ree und dem Direktorat mitteilen. Versprich mir, daß du's tust!« Pike kreischte regelrecht auf Susan ein. »Versprich's mir! Versprich's ...!« »Ja, verdammt noch mal, ich werd's tun!« schnauzte sie. »Und jetzt schieß, verfluchter Dummkopf! Wir müs sen sie uns vom Hals halten.« Sie wirbelte auf dem Absatz herum und erschoß einen Mann. Dabei sah sie nicht, wie Reesh und Darwin unvermutet mit Gebrüll mitten auf die Padri zustürmten, auf sie schossen, sie niederschlugen und -traten. »Halt, nicht, zurück!« schrie Susan ihnen einen Befehl nach, doch es war längst zu spät, um die beiden noch zurückzurufen. Zu ihrer Verblüffung fuhr Pike herum. »Duck dich!« heulte er. Reflexmäßig warf Susan sich flach auf den Tem pelboden, als Darwins Blaster unversehens auf sie zeigte — und mehrere Meter neben ihr ein Loch in die Mauer schoß.
Susan sah, behäuft mit aus der Wand gesprengtem Mörtel, halb blind vom herausgestobenen Staub, wie Pike ihr zuwinkte, sie aufforderte, durch die Bresche zu flüch ten. »Wir kommen gleich nach«, rief Darwin. »Halt uns den Weg frei!« Susan rannte, froh darüber, durch die Lücke Tageslicht zu sehen — helle Strahlen fielen durchs Umherwirbeln des Staubs —, zu der Öffnung. Sie tat einen Satz hindurch, stolperte über die Steintrümmer, vollführte eine Rolle, kam in Nahkampfhaltung, den Blaster bereit, auf die Füße. Doch sie stand lediglich in einer leeren Gasse. Der ersten folgte eine zweite Explosion, Mauerwerk stürzte herab, verschüttete die Bresche vollständig. Fas sungslos starrte Susan den Schutt an. Pike hatte sich den eigenen Fluchtweg verlegt! Seine Handlungsweise blieb unbegreiflich: Praktisch hatte er gerade sich selbst und Reesh zum Tode verurteilt. »So ein blödsinniger...!« Sie lief zur Vorderseite des Tempelgebäudes, beobachtete dort, wie in Massen bewaffnetes Wachpersonal aus Air mobilen quoll. Zusätzlich sausten Mannschaftswagen heran, Staub wallte über den Vorplatz. An allen Seiten strömten Verstärkungen aus ihren in rücksichtsloser Ra serei herbeigesteuerten Fahrzeugen. Pike hatte sich ge dacht, daß es so kam. Natürlich — er und Reesh, diese beiden verfluchten Narren, hatten sich abgesprochen! Darum hatte Pike sich so hartnäckig vergewissert, daß ihr in bezug auf Ngens Vorgehen alles klar war — und jetzt be fand er sich mit Reesh noch im Tempel, erschindete ihr Zeit für die Flucht. »Scheißkerl! Verdammter Scheißkerl!« Susans in der gegenwärtigen Kampfsituation verständliche Furcht wich höchstem Zorn. Dieser lausige Anthropologe hatte sie her eingelegt. Er hatte sofort erkannt, was die Geräte an den Nebenpforten bedeuteten, warum dort Techs an Kon trollpulten saßen, und gleich einen Plan ausgeheckt. Immer stärker erfüllte ein Gefühl von Schuld und Un
fähigkeit Susans verworrene Gedanken. Sie trug die Ver antwortung für diese Aktion. Pike hatte sich erneut als besonnener als sie erwiesen, das Handeln geplant, einen Ausweg gesucht, während sie sich wegen nichts anderem als einem Hologramm egozentrisch in Gefühlsmatsch ge suhlt hatte. Seit sie durch Ngen gedemütigt und demora lisiert worden war, hatte sie sich nicht mehr so wenig be rechtigt zum Leben wie heute gefühlt. Sie biß sich auf die Lippe und machte sich im Sprinter tempo zu Weißer Adler und dem Airmobil auf, zerbrach sich unterwegs angestrengt schier den Kopf, um diesen kleinen Wichtigtuer Darwin Pike zu begreifen, bedauerte es schmerzlich, daß ihm nun der Tod drohte. Doch gleich zeitig schalt sie sich, weil das, was sich in ihrer Seele spie gelte, ihr überhaupt nicht behagte, für diese neue Gefühls duselei. *
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DEUS-VERWALTUNGSGEBÄUDE IN BASAR-STADT, BASAR
Pallas Mikros wandte sich, mehr als nur gereizt, in sei nem Büro dem Kommu-Apparat zu. »Haben Sie sie?« »Wir haben zwei von ihnen im Tempel in die Enge getrieben, Lord-Gouverneur«, erteilte ein dunkelhäutiger Wachmann ihm Auskunft. »Sobald wir gefechtsfeldbe herrschende Schußpositionen besetzt haben, können wir sie zusammenblastern.« »Nicht doch!« brauste Pallas auf, drosch eine Faust auf den Tisch, so daß aus den innenbeleuchteten Ringen an seinen Fingern Lichtblitze gleißten. »Ich will sie lebend. Wir müssen wissen, wer sie sind. Es handelt sich ja um keine Basarer. Es muß geklärt werden, was sie hier woll ten. Ist Ihnen einsichtig, weshalb das seine Bedeutung hat, Korporal?« Der Mann nickte, entfernte sich im Laufschritt von sei nem Terminal und schnauzte Befehle. Pallas schwenkte eine unter dem Kuppeldach montierte Observationska
mera aufs Innere des Tempels ein. Nun konnte er das von den Störenfrieden verübte, unglaubliche Gemetzel sehen. Kreuz und quer lagen in der Tempelhalle die Leichen. Aus überall verstreuten, Rümpfen abgerissenen Gliedmaßen sickerte Rot auf den Steinboden. Leblose Augen stierten herauf in die Optik. Der übrige Mob der Gläubigen wimmelte durcheinan der, Wachpersonal schimpfte auf den Pöbel ein, versuchte alles, um Ordnung zu schaffen, die Haufen sinnvoll umzu gruppieren. Schließlich gingen die Padri unter dem Kommando kompetenterer Männer erneut vor, drangen auf den Winkel der Halle ein, in dem die beiden Fremden, teils gedeckt durch dicke, steinerne Säulen, Zuflucht gesucht hatten. Pallas sah, wie mehrere Angehörige des Wachpersonals eine zur Krawallbekämpfung bestimmte Stunnerkanone auffuhren. Deus sei Dank! Das Ding war für den Transport nach Arpeggio schon in einen Frachtcontainer gepackt gewesen. Als hätte Pallas etwas geahnt, hatte er den Versand noch aufgeschoben. Da fegte ein Blaster strahl empor an die Decke, schoß ein Loch in das alte Dach, so daß Ziegel, Mörtel und Staub auf die Gemeinde mitglieder herabhagelten. Deren Vorrücken stoppte, wäh rend Pallas' Monitorbild wackelte und schaukelte. Eine zweite Strahlbahn aus einem Blaster röhrte hinauf ans Dach, und noch mehr Gemäuer zerbrach, prasselte herab. Pallas raffte sich mit Mühsal von seinem Platz hoch, gepackt von Faszination, als er durchschaute, wel che Absicht dahinter stak. Diese verdammten Idioten wollten das Dach zum Einsturz bringen! Und wo sie sich hinter den Säulen verschanzt befanden, hatten sie durch aus eine Chance, das Unheil zu überleben. »Die Stunnerkanone zurückziehen!« keifte Pallas in den Kommu-Apparat. »Zurück! Unter der Kuppel weg!« Er sah die Stunnerkanone gerichtet werden. Ein blaues Energiegespinst flackerte aus der Mündung, waberte in die Ecke des Tempels, gerade als ein weiterer violetter
Blasterstrahl die Decke traf. Vor Pallas' aus Schreck ge weiteten Augen trudelte die Kamera auf das Geschiebe der Menschenmenge drunten im Saal hinab. Als sie laut los aufprallte, zuckte er zusammen, begaffte die eintönig graue Mattscheibe. Er stellte eine andere Verbindung her. »Nehmen Sie die beiden Blasterschützen in Gewahrsam«, befahl er dem Offizier, der die vor dem Tempel aufgefahrenen Verstär kungen kommandierte. »Sie finden sie links hinter den Säulenreihen. Das Team drinnen hat sie noch lähmen können, ehe das Dach eingestürzt ist. Es geht keine Ge fahr mehr von ihnen aus ... Und vielleicht sind sie mit dem Leben davongekommen.« Pallas setzte sich wieder in den Sessel. Wer waren diese wahnsinnigen Berserker? Er schüttelte den Kopf. Nach allem, was er mitverfolgt hatte, war von einem der Eindringlinge ein Loch in die Außenmauer geblastert wor den, durch das der dritte Komplize geflohen war, und da nach, sobald er als vorerst entwischt gelten konnte, hatte der andere Fremde den Fluchtweg durch noch einen Bla sterschuß zerstört. Aber war der Flüchtende tatsächlich ins Freie gelangt? Nochmals schüttelte Pallas den Kopf. Es blieb egal. Ein Einzelner konnte in der Stadt unmöglich weit kommen »Der Raumhafen ist bei Tag und Nacht unter strengste Bewachung zu stellen«, ordnete er an, schenkte sich ein Glas Wein ein. »Außerdem sind vierundzwanzig Stunden am Tag Streifen durch die ganze Stadt durchzuführen. Jede Person, die nach der Sperrstunde angetroffen wird und keinen Dienstplatz nachweisen kann, ist sofort zu verhaf ten und bei Gegenwehr zu exekutieren.« Ein Korporal salutierte, und Pallas desaktivierte das Kommu-Gerät. Er seufzte und trank vom Wein. Gerade als Basar keinen höheren Stellenwert mehr einnahm, war endlich einmal etwas Interessantes passiert. Unter Pallas' straffem Regime hatte die Bevölkerung längst jede Fähig keit verloren, sich zu einer Gefahr zu entwickeln. Die
Rebellen in der Wüste, eine jämmerlich winzige Clique, schafften es nicht, die Mehrheit des unter Psychingkon trolle gezwungenen Volks aufzuhetzen. Basar war ge zähmt worden. Pallas lachte vor sich hin. Und jetzt ver suchte man es mit einem so läppischen Anschlag? Er war zu schwach gewesen und zu spät geschehen. Inzwischen hatte die Unterwerfung Mysteriums ange fangen, auf einem Großteil des Planeten stampfte man Deus-Tempel aus dem Boden. Nach der Vollautomatisie rung der basarischen Produktionsstätten sollte Pallas dort seine Gewitztheit an einer gebildeteren Population erpro ben dürfen. Auf Basar wurden momentan die letzten ver waltungsmäßigen und logistischen Probleme behoben. Schon hatte ein weniger begabter Administrator als Pallas die Basarer an die Kandare genommen. Auf dem Bildschirm erschien ein Gesicht. »Wir haben sie, Sir. Beide leben. Sind sind in Magnetfesseln gelegt worden.« Pallas lächelte. »Prächtig. Bringen Sie sie in mein Ver hörzimmer.« Er stand auf, und wie eine Marionette tat Tiara das gleiche, schloß sich ihm augenblicklich an. Zu nächst hatte ihre geistlose Gegenwart, weil sie ihn daran erinnerte, was Tiara einmal gewesen war, ihn verärgert. Aber die Blicke, die die wölfischen Typen des Wachperso nals ihr zuwarfen, glichen jedesmal seine Mißstimmung aus. Egal wie es um ihren Geist stand, ihr reizvoller Kör per konnte noch immer Eindruck machen.
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DREISSIG KM WESTLICH BASAR-STADTS IN DER NEENEGEV-WÜSTE, BASAR
Susan sprach kein Wort mit Weißer Adler, während das Airmobil über die Dünen und kahlen Sträucher hinweg
flitzte, felsige Höhenkämme überquerte und in vom Wind durchpfiffene Täler hinabtauchte. Nicht einmal die ungleichmäßige, ruckhafte Flugweise des Airmobils konn te sie von der Wut ablenken, die in ihr kochte, dem Gefühl einer bitteren Niederlage. In der engen Schlucht geriet das Airmobil, während Weißer Adler es durch die fürchterlich böigen Windströ mungen steuerte, die aus der tiefen Felskluft herauf schwallten, beinahe ins Kippen. Er flog langsamer und manövrierte vorsichtiger, Sandkörner schrammten über den Bug des Airmobils. Nach dem Parken wollte der trocken-heiße Wind sie von den Beinen reißen, kaum daß sie hinausgesprungen waren, umrauschte sie, während sie gebückt das Airmobil abstützten und darauf warteten, daß man die ST-Rampe aufklappte. Drinnen trennte das Zufallen der Luke sie vom Wind gewinsel Basars. Nur der körnige Sand in ihrem Haar und der Kleidung blieb vorhanden — und die Erinnerung an Darwin Pike. »Welche Nachricht liegt vor?« fragte sie, als sie die ST Zentrale betrat. Der Pilot hob den Blick. »Per Rafferstrahl ist ein Funk spruch von Mosche eingegangen. Er hält die feindliche Kommunikation unter Monitoring. Reesh und Pike sind geschnappt worden. Beide leben.« Mühsam schluckte Susan, krallte die Finger in die Rücklehne des Konturensessels. »Heiliger Spinne ...! Das heißt, sie sind Ngens Gefangene.« »Der Befehl lautet«, konstatierte der Pilot, »im Ver steck zu bleiben.« Susan biß sich auf die Lippe, preßte die Lider zusam men. Benommen nickte sie. »Ich ... ich habe Pike ja ge sagt, daß wir ihn... ihn zurücklassen, falls...« Sie knirschte mit den Zähnen. »Verflucht noch mal! Er hat das Risiko gekannt!« *
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DEUS-VERWALTUNGSGEBÄUDE IN BASAR-STADT, BASAR
Die Gefangenen waren bei Bewußtsein, als Pallas mit Watschelschritten seinen korpulenten Wanst in den klei nen Raum walzte. Er hatte mitangesehen, wie Ngen je manden vom Schlage Zekial Likuds in einen zittrigen Klumpen tränenüberströmten Fleischs verwandelt hatte, ehe er den Mann dem Psyching unterzog und damit dem jüdischen Widerstand das Rückgrat brach. Jetzt hatte er den Raum zur Verfügung, und es waren seine Gefange nen. Pallas betrachtete die acht eierschalenweißen Wän de, die sich vom Dach herabschrägten, unter dessen Mitte zwei kugelförmige Kommu-Geräte hingen. An der Seite stand die von Ngen so sachkundig benutzte PsychingAnlage. Selbstverständlich hatten die Wachleute die Festge nommenen entkleidet und unter Scanner-Verwendung ihre Körpern in jeder erdenklichen Hinsicht auf etwaig implan tierte Bomben untersucht. Der eine Gefangene, ein bronzebrauner Kerl, unter des sen Haut sich kraftvolle Muskelstränge wellten, sträubte sich energisch. Unter einem Schopf schwarzen, zu langen Zöpfen geflochtenen Haars blickten zwei wilde, dunkle Augen grimmig in die Welt. Der zweite Mann wirkte kläg lich deprimiert, mit seiner blassen Haut und den hellbrau nen Augen hinterließ er im Vergleich" zu seinem Kumpan, dessen Verhalten an ein eingesperrtes Raubtier erinnerte, einen ziemlich wehrlosen Eindruck. Gut. Wir bringen den Starken zum Quieken, dann wird der Schwache plaudern. »Wer seid ihr?« fragte Pallas ganz gelassen, checkte die Magnetfesseln, die seine Opfer auf den Paletten niederhielten. Nachdem er sich so davon überzeugt hatte, daß es keine Befreiungsmöglichkeit gab, schickte er die Lümmel des Wachpersonals mit einem Wink hinaus. Tiara trat vor, den Blick auf die Männer geheftet. Irritiert zog Pallas sie zurück. »Ihr wollt nicht antworten? Tja, ich dachte, wir hätten
auf diesem Planeten längst jedes Widerstandsnest ausge räuchert. Unsere Methoden sind sehr effektiv. Ihr solltet mir lieber die Wahrheit sagen. Dann wär's einfacher für uns alle. Zum Schluß werde ich sie doch erfahren, aber wenn ihr sie mir freiwillig erzählt, wären die Umstände ja für alle Beteiligten angenehmer, oder nicht?« Keiner von beiden sagte etwas; Pallas hatte auch nicht ernsthaft damit gerechnet. Pallas wandte sich dem flachen Behälter zu, in den man die Waffen der zwei gelegt hatte, hob einen Blaster heraus und besah ihn sich genauer. »Natürlich ... Patrouil lenmodelle. Aber wie seid ihr hergelangt? Es ist eine Tat sache, daß ihr oben im Orbit kein Schlachtschiff habt, soviel weiß ich. Habt ihr euch an Bord eines Kosmo schleppers eingeschmuggelt?« Er wölbte die Brauen, wäh rend er den Schwarzhaarigen anschaute. Der Mann spie ihn an. Pallas seufzte. »Ich hatte ehrlich gehofft, du wärst ein bißchen zugänglicher.« Belustigt lachte er auf. »Aber weißt du, es bedeutet keinen Unterschied.« Er plazierte ein Kontaktron auf seinen Kopf und lud das Psychingpro gramm. Von der Aufhängung in der Ecke schwenkte die kastenartige Vorrichtung herüber und senkte sich auf Oberende der Palette. Fast wünschte sich Pallas, er stünde vor einer etwas anspruchsvolleren Aufgabe. In mißver gnügter Gelangweiltheit leitete er die Psyching-Behandlung ein, die Maschine begann ihre Tätigkeit, tastete dem Mann ins Gehirn und ... Der markerschütternde Schrei, den der Gefangene aus stieß, schockierte Pallas dermaßen, daß er gar nicht daran dachte, das Programm abzuschalten. Statt dessen stierte Pallas Mikros völlig entgeistert den Mann an, der plötz lich, als erlitte er einen Anfall, im stahlharten Griff der Magnetfesseln zuckte und zappelte, unter dessen Haut sich konvulsivisch Muskeln wölbten und verkrampften, manche rissen infolge der rigiden Anspannungen, bildeten rundliche Beulen. Im Leib zogen sich Organe spasmisch
zusammen, Urin und Kot sprühten durchs Verhörzimmer. Doch es war das Gesicht des Mannes, das trotz Pallas' Grauen seine Aufmerksamkeit bannte. Die Augen quollen ihm buchstäblich aus dem Schädel, rollten da- und dort hin, je nachdem, wie sich die Gesichtsmuskulatur verzerr te. Die nervenzermürbenden Schreie des Gefangenen drohten Pallas das Blut in den Adern zum Gerinnen zu bringen, und ihn befiel ein heftiges Schaudern, als der Mann sich die Zunge abbiß, bis ihm an einem Streifen unzertrennten Gewebes ein Teil des blutigen Muskels seit lich auf die von Zuckungen entstellte Wange baumelte. Blut schäumte ihm von den Lippen, während er, anschei nend ohne Schmerz zu empfinden, seinen eigenen Mund zerfleischte. Pallas verspürte körperliche Übelkeit, als es ihm mit einer nachgerade gewaltsamen Willensanstrengung end lich gelang, die Augen von dem Anblick zu wenden, und er beendete das Programm. Die Gestalt auf der Palette er schlaffte, lag gleich darauf stocksteif da. Während der Sekunden, die Pallas abwarten mußte, bis sich sein ins Rasen geratener Herzschlag mäßigte, warf er einen Blick auf den zweiten Gefangenen. Dessen Gesicht hatte sich zu einer Grimasse ungläubigen Entsetzens ver zogen, aus nahezu glasigen Augen glotzte er auf den Leichnam seines Kumpanen. Sogar Tiara wirkte, als übte der Vorfall auf sie einige Faszination aus; vielleicht hatte er bei ihr an eine tiefsitzende Angst gerührt. »Ganz erstaunlich«, hörte Pallas sich äußern. Der überlebende Gefangene blickte auf; seine Pupillen waren geweitet, mühevolle Atemzüge durchbebten seinen Körper. Fast blicklos schaute er Pallas an, ehe er seine von Furcht geschärfte Aufmerksamkeit wieder den gräßlichen menschlichen Überresten auf der Palette widmete. Pallas verständigte die Wache. »Entfernen Sie hier die sen ... ah ... und veranlassen Sie eine Autopsie. Ich will wissen, was vorgenommen worden ist, damit beim Psy chen so ein Ergebnis herauskommt.« Ein Posten kam her
ein — und blieb ruckartig stehen, um erst einmal seinen Schrecken zu überwinden. Er streifte Pallas mit einem furchtsamen Blick, und als er den Leichnam zur Tür hin ausschleifte, hatte er zu zittern begonnen. Pallas rang die Hände, als könnte das farbenfrohe Schillern seiner Ringe sie vom Blut des Fleischabfalls reinwaschen, in den er seinen ersten Gefangenen verwan delt hatte. Abschätzenden Blicks musterte er Darwin. »Ihr seid also gegen das Psychen immunisiert worden?« Diesmal klang sein Lachen unsicher. »Dann muß ich wohl, denke ich mir, zu anderen Maßnahmen greifen. Wie lautet dein Name?« »D-D-Darwin Pike«, quetschte der Mann nach mehre ren vergeblichen Versuchen hervor. »Aha.« Pallas griff auf die Kommu-Datenspeicher zu. Über einen Darwin Pike lagen keine Informationen vor. »Wer hat dich geschickt, Pike?« Keine Antwort. »Wie bist du hergelangt, Pike?« Keine Antwort. Pallas trat näher und gab Pike einen wuchtigen Box hieb ins Weiche unterhalb der Rippen. »Das ist nur der Anfang, Pike. Ein ganz bescheidener Einstieg im Ver gleich zu dem, was dir noch bevorsteht. Hast du mich ver standen? Weißt du, ohne das Psyching wird eine Verneh mung nämlich zu einer echten Herausforderung. Ich muß dir Schmerzen zufügen. Wenn dein Leid unerträglich wird, wirst du sprechen. Das ist ein altes, seit der Einfüh rung des Psychings weitgehend vergessenes Verfahren. Aber ich habe mich darüber informiert, mußt du wissen. Es ist faszinierend, zu was Schmerzen einen Menschen treiben können.« Pike nickte und schaute auf; eine Sekunde lang be trachteten seine Augen die Decke, dann beließ er den Blick dort, hielt ihn fest nach oben gerichtet. In diesem Moment hatte es den Anschein, als ob ihm irgendeine sonderbare Kraft zuströmte, und auf einmal war er Pallas
ohne Furcht anzusehen imstande. Pallas blickte ebenfalls aufwärts, bemerkte jedoch nichts außer der Decke und den kugelförmigen Kommu-Apparaten; beruhigt holte er unter der Palette ein Instrument hervor. Äußerlich hatte das kompakte Gerät eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Zepter. Pallas lachte vor sich hin, während er den Roller an der Spitze des Instruments über Darwin Pikes nackten Körper bewegte. Die Schreie des Mannes klangen beinahe so schrecklich, wie sich vorher das Brüllen des anderen Gefangenen angehört hatte. »Also, Pike: Warum bist du hier? Wer hat euch zwei geschickt?« Keine Antwort. Tiara hatte sich vorgebeugt, während Darwins Geschrei ertönte, ihre Lippen hatten sich geöffnet; sie kam an die Palette und ergriff Pikes Glied. »Nicht jetzt, Tiara«, wies Pallas sie ab. Er neigte den Kopf, indem er ihn wieder Pike zuwandte, auf die Schul ter. »Sie ist konditioniert, weißt du. Ein nackter männli cher Körper ... Na, du kannst dir sicher denken, was ihr dabei einfällt.« Er zögerte. »Aber vielleicht könnten wir ja, wenn du vernünftig bist ... Sie ist eine begehrenswerte Frau. Sieh dir nur ihren Leib an, er ist wirklich der Inbe griff der Sinnlichkeit, bist du nicht auch dieser Meinung?« Pike biß die Zähne zusammen und schaute weg. Pallas rümpfte die Nase. »Na schön, dann eben nicht.« Er besah sich das bereitliegende Folterinstrumentarium und durchdachte die Optionen. Als er sich umdrehte, hatte Tiara sich mit den Lippen über das Glied des Gefangenen hergemacht. Mit gequälter Miene wand sich Pike und ächzte widerwillig. »Jetzt nicht, habe ich gesagt!« Verdrossen scheuchte Pallas sie beiseite. »Was für üble Folgen das Psyching bei ihr gehabt hat ... Du hast ja gar keine Ahnung, wie sie einmal gewesen ist ... Aber daß wir uns darüber unterhal ten, ist zwecklos, Pike. Du wirst von nun an meine Fragen
beantworten.« Pallas drückte einen elektrischen Stachel in Pikes Anus und schaltete den Strom ein. Der Schrei, den er Darwin damit entlockte, bereitete ihm tiefste Genugtuung.
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DEUS-VERWALTUNGSGEBÄUDE IN BASAR-STADT, BASAR
Leise summte die Kommu. Pallas wischte sich den Schweiß aus dem fleischigen Gesicht und hob den Blick. Auf dem Wandbildschirm erschien Ngen Van Chows Kon terfei. »Meinen Gruß in Deus, Gouverneur.« Seidenweich säuselte Van Chows Stimme durch den Raum. »Wie ich erfahren habe, interessiert die Patrouille sich endlich für Basar? Sie haben zwei ihrer Agenten dingfest gemacht?« Pike hatte um Atem gerungen; nun schaute er hinüber zum Wandmonitor und stöhnte röchelnd. »Wir haben nur noch einen Gefangenen, Messias. Lei der habe ich am anderen das Psyching versucht. Dabei ist er auf scheußliche Weise gestorben ... und ich möchte nicht, daß mir mit ihm hier das gleiche passiert.« Pallas machte eine Verbeugung. »Aber er wird reden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Allerdings muß ich zugeben, daß seine Standfestigkeit mich überrascht.« »Sind Waffen erbeutet worden?« Pallas zeigte ihm erst die Blaster, dann die Dolche. Ngen nickte. »Kein Wunder, daß der eine irrsinnig gewor den ist. Sie haben Romananer erwischt, Gouverneur.« Ngen runzelte, während er überlegte, die Stirn. »Romana ner ...? Keine Patrouillenleute? Das ist ja ein ganz unglaublicher Fang, der Ihnen da gelungen ist. Er erlaubt Schlußfolgerungen, die ... Na, aber darüber werden wir uns später den Kopf zerbrechen. Lassen Sie mich Ihnen nun ein paar Anregungen geben ...« Eine Stunde verstrich, in der Pallas über das eindruk ksvolle Sachwissen des Messias ins Staunen kam. Anscheinend wußte Van Chow genau, wo man dem menschlichen Körper am stärksten zusetzen konnte. »Das ist ein Resultat meiner >Experimente<, wie ich's mal nen nen will, an Frauen. Ein Bestandteil des Vorgehens, mit dem man bei ihnen Geist und Leib separieren kann. So wie
ich es mit allen Finessen bei Lishia getan habe.« Pike drehte den Kopf; kalter Schweiß rann ihm übers Gesicht. Er sah den Messias mit unverhohlenem Haß und Abscheu an. »Er gafft nur an die Decke und schreit herum, Messi as«, faßte Pallas das Ergebnis der bisherigen Bemühun gen zusammen, tupfte sich mit einem Handtuch den Schweiß von Gesicht und Hals, spürte ihn zwischen seine Schulterblätter sickern. Tiara wartete, die Lippen leicht geöffnet. Verdammt noch einmal! Sie lechzte praktisch nach dem Mann. Ngen verzog das schmale Gesicht, und in seinen Au gen entstand ein dämonisches Glitzern. »Zu dumm, daß keine Freundin oder Geliebte da ist, um zuzusehen. Das Leid einer anderen, nahestehenden Person zerbricht Men schen stets schneller als eigenes ... Aber mir fällt etwas ein, daß ihn zum Sprechen bringen müßte. Wissen Sie, Pallas, der Mensch hat noch andere als seine körperli chen Schwächen.« Pike schloß die Lider, atmete tief durch. Sinnig legte Van Chow den Kopf seitwärts. »Sie sagen, Ihre Tiara taugt nichts mehr? Gut. Psychen Sie sie neu und konditionieren Sie sie darauf, alle Ihre Anweisungen genau zu befolgen.« Pallas zauderte; dann wandte er sich doch um und lud das Programm. Etwas später beobachtete Pike aus vor Schmerz und Elend stumpfen Augen, wie Tiara nackt unter dem Ka stenapparat hervortrat. Auf seinem Brustkorb glänzte an gesammelter Schweiß. Blase und Mastdarm hatten sich ihm, ohne daß er Scham empfunden hätte, längst entleert. In seiner Körperhülle schien die Qual fortwährend auf- und anzuschwellen. »Jetzt nehmen Sie das Skalpell«, sagte Ngen, »und schneiden Sie ihm den kleinen Zeh ab ... Einen von bei den.« Pike zitterte kaum, während Pallas das Glied abtrenn
te. »Und nun geben Sie den Zeh Tiara zu essen. Stellen Sie sicher, daß ...« »Ngen!« japste Pallas ungläubig, sein Kopf ruckte zu rück. »Zu essen ...? Tiara? Sie können doch nicht verlan gen ...« Ngen stützte die Fingerkuppen aneinander, verkniff leicht die Augen. »Pallas, denken Sie darüber nach, wel che Alternativen Sie haben. Sie arbeiten für mich. Von Anfang an sind Sie für mich tätig gewesen. Werden Sie mir jetzt nicht untreu ...« »Aber Tiara ist meine ... meine ...« »Entsinnen Sie sich an Zekial?« Van Chows Brauen rutschten aufwärts. »Aus dem, was Zekial zugestoßen ist, kann man eine ganze Reihe von Lektionen ableiten.« Er sprach sehr bedächtig und mit deutlicher Betonung. »Ich fordere sofortigen Gehorsam von allen meinen Mitarbei tern.« Pallas rang mit der Beengtheit seiner trockenen Kehle, schluckte hörbar. »Sorgen Sie dafür«, beendete Ngen seine unterbroche ne Anordnung, »daß Pike zuschaut, wie vor den eigenen Augen sein Fleisch verzehrt wird.« Pike schrie vor Grausen, als Pallas das gummiartige Stückchen Fleisch und Knochen Tiara reichte, die stumm und mit völlig leblosen Augen in der Nähe stand. »Tiara ... iß«, befahl Pallas mit vollkommen tonloser Stimme. Pallas schauderte zusammen, als er hörte, wie ihre Zähne auf den Knochen mahlten. Unmöglich! Er erinner te sich an die vielen Male, die ihr Mund seine lüsternen Küsse erwidert hatte, die sie mit ihren Lippen ... Er schüttelte sich. Pike stieß ein Geheul aus, während Pallas seine Lider festklebte und mittels eines Fixierfelds seinen Kopf in die richtige Haltung brachte. »Jetzt den nächsten Zeh«, befahl Van Chows Säusel stimme.
Pallas Zunge leckte über seine ausgetrockneten Lip pen. Van Chow schenkte nun seine Aufmerksamkeit Pike. »Hör zu, Pike. Du kannst uns ruhig sagen, wie du nach Basar gelangt bist. Wir sind wahrhaftig nicht deine Fein de. Du selbst, mein Freund, kannst diesem schrecklichen Alptraum ein Ende bereiten. Sprich ganz einfach mit uns. Ist es denn nötig, daß du dich um solche Standhaftigkeit bemühst? Sicherlich ist dir doch einsichtig, daß niemand der Hand Gottes widerstehen kann? Deus tritt die Herr schaft über das Universum an. Willst du Gott trotzen?« Pikes Augen zuckten, er verdrehte sie, schielte nach oben, als könnte das ihm irgendwie eine Hilfe sein. Tiara stand jetzt dicht neben ihm. Van Chows Stimme, von der geradezu eine Einschläferungswirkung ausging, raunte immerzu weiter, während Pallas mit seiner schauerlichen Prozedur fortfuhr. »Nein!« wiederholte Pike ständig zwischen nervtöten den Schreien. »O mein Gott, nein!« »Sein Verstand läßt nach«, stellte Van Chow fest. »Ich bin wirklich nicht mehr davon überzeugt, daß wir aus ihm noch etwas herausholen können. Das ist ja reichlich unge wöhnlich.« »Soll ich weitermachen?« fragte Pallas. Schweiß perl te ihm über Nase und Speckbacken, rann ihm in die Wül ste des Kinns. Trotz seiner Umsicht trübte inzwischen Blut den Glanz seiner Ringe. Eine Sekunde lang dachte Ngen nach, dann schüttelte er den Kopf. »Hör zu, mein Freund«, sagte er zu Pike in schmeichlerischem Ton, indem in seiner Stimme nachge rade eine traurige Flehentlichkeit anklang. »So muß es doch nicht weitergehen. Sind ein paar Worte denn soviel wert? Verrate mir, was dich dazu verleitet, dich für so gut wie überhaupt nichts derartig aufzuopfern. Werden deine Freunde je von deiner Standfestigkeit erfahren? Dich da für anerkennen, daß du dich als so erheblich tapferer als sie erweist? Sie haben dich längst abgeschrieben. Wo
stecken sie denn jetzt, Darwin Pike? Fühlen sie, was du gegenwärtig fühlst, spielt es für sie eigentlich eine Rolle, wo du bist? Nein, natürlich nicht. Eine halbe Galaxis ent fernt sind sie, lachen über dein Schicksal. Sprich mit mir ... Sei mein Freund.« Pallas wackelte mit dem Kopf. Ngens sanfte Stimme zerrüttete allmählich sein mittlerweile ausgelaugtes Ge müt. Er ertappte sich dabei, wie er flüsterte, er würde al les sagen, zwang sich mit einem Ruck dazu, seine Beach tung wieder der scheußlichen Wirklichkeit der Situation zu schenken. In tiefem Staunen maß er Pike mit einem langen Blick, fragte sich, wie der Mann es schaffte, der maßen hartnäckig zu bleiben. In Rinnsalen schimmerten Tränen auf Pikes Gesicht, während Pallas die Folterung fortsetzte. Der Gouverneur mußte gegen immer stärkere Mulmigkeit in seinem Ma gen ankämpfen, schöpfte einen ergiebigen Atemzug küh ler Luft. Er war doch wohl abgebrühter, als er jetzt zu sein schien? Wie konnte Pike sich selbst so behaupten, woge gen er, Pallas Mikros, der ihn vernahm, infolge der Streß belastung schon kurz vorm Umfallen stand? Hatte Zer marterung und Anblick seines Fleischs auf ihn denn kei nerlei ...? Es gruselte Pallas. »Darwin«, murmelte Van Chows Stimme salbungsvoll, »würdest du nicht lieber in einem Stück auf deine Heimat welt zurückkehren?« Sein in der Wiedergabe des Wandmonitors stark vergrößertes Gesicht dominierte das Verhörzimmer. »Dort muß doch eine Frau auf dich war ten ...« Pike zuckte zusammen, und Ngen schmunzelte, seine Stimme sank auf einen samtigen Flüsterton ab. »Ja, eine Frau ... Eine Romananerin, die dich wiedersehen und in ihre weichen, warmen Arme schließen möchte. Ei ne Frau mit schwarzem Haar und tiefen, leidenschaftli chen Augen.« Für einen Moment schwieg Van Chow, schloß die Au gen, als besänne er sich auf etwas. »Eine Frau mit einer Haut wie Seide. Fühlst du sie, Darwin? Spürst du ihre
Wärme? Denk an sie, Darwin. Denk an sie und daran, wie gerne du jetzt bei ihr wärst ... wie gerne du sie in den Ar men hieltest, um ihre Liebe zu genießen.« Nach knappem Zögern: »Eine Frau wie Tiara.« Pike wand sich auf der Palette, winselte kläglich, sein verzerrtes Gesicht spiegelte seine ganze Qual wider. »Ich muß für einen Moment hinaus, Messias«, sagte Pallas mit rauher Stimme. Er mußte sich ganz einfach vorübergehend Ngens suggestivem Geflüster entziehen. Er brauchte frische Luft. Achtlos schwankte er zur Tür, überließ es Pike und dem Messias, sich selbst miteinander zu befassen. Pallas Mikros schloß hinter sich die Tür, sackte müde rücklings dagegen, gab momentan nichts um die Wache, die ihn befremdet anstarrte. Er schnaufte nach Atem, saug te die kühle, reine Luft in die Lungen. Nichts in sei nem gesamten, langen Leben hatte ihn jemals in solchem Maß wie dies hier aufgewühlt. Er ließ seine massige Ge stalt auf den Boden hinabrutschen, bibberte fast, während der kalte Durchzug, der den Gang durchwehte, und die trockene Luft ihm die Ströme von Schweiß vom fetten Hals sowie aus dem Hemd verdunsteten. Die Augen geschlossen, blickte er zum erstenmal auf sein verflossenes Leben zurück. In Teufels Namen, war um wurde Pike nicht weich? Verfluchter Kerl! Pallas be fürchtete, er könnte zusammenklappen, bevor Pike end lich nachgab und redete. Worin fand der Mann so eine unglaubliche Widerstandskraft? Er glotzte nur empor an die Decke, und schon war sein Mumm wiederhergestellt. Pallas stutzte, setzte sich auf: Was gab es da oben an der Decke? Er raffte sich hoch und öffnete die Tür. Der Gestank aus dem Verhörzimmer rief augenblicks die dar in geschehenen Widerwärtigkeiten in Erinnerung und schlug ihm wie eine feuchtklamme Riesenfaust entgegen, raubte ihm so den Atem, daß ihn Brechreiz befiel, er sich fast vollkotzte. Er zwängte seinen Fettwanst hinein, sein Blick streifte
Pike, dessen trocken-matte Augen Brunnenschächten des Grauens glichen, während Ngen ununterbrochen seine Halsstarrigkeit zu untergraben versuchte. Pallas schaute hinauf zur Decke, an die Pike von Zeit zu Zeit kurz hin aufstierte. Die zwei dunklen Kugeln der Kommu-Monitoren, eine größer als die andere, hingen nebeneinander; die acht Kanten der Wände verliefen abwärts wie dünne Spinnenbeine. Bemerkenswertes gab es dort nichts. Die Stirn zu einem finsterem Ausdruck gefurcht, wand te sich Pallas um, beobachtete Pike. Die Lösung des Pro blems, wie Pikes Wille gebrochen werden konnte, schwebte unmittelbar unter der Oberfläche von Pallas' Wachbewußtsein. »Schneiden Sie ihm einen Streifen Fleisch heraus, wenn Sie so freundlich sein wollen, Gouverneur.« Es schien Van Chow Kummer zu verursachen, diese Wei sung erteilen zu müssen. Pallas nahm das Skalpell zur Hand und machte sich erneut an die Arbeit. Er hörte zu schneiden auf, weil plötz lich der Fußboden schwach erbebte. Weil kein weiteres Beben sich anschloß, setzte er gleich darauf, während Pikes überanspruchte Stimmbän der ein grauenhaftes Kreischen hervorgellten, zu einem weiteren Schnitt an. Die unheimlichen Töne taten Pallas' Ohren weh und stachen ihm bis in seine Seele. In der Ferne rumorte Donnerschlägen ähnliches Rum peln, und das Gebäude erzitterte ein zweites Mal. »Was war das?« fragte Ngen Van Chow. »Nichts weiter, Messias. Sie wissen, wie der Sand in die Atmosphäre hochgeweht wird, wenn der Wind kräftig bläst. Die Luftströmungen steigen höher, und die Rei bung unterschiedlicher Luftzonen ionisiert den Staub. Sobald die positive und negative Ionisierung eine gewisse Stärke erreicht, entstehen Blitze. Für heute abend ist ein Elektrosturm vorhergesagt worden. Anscheinend ist er jetzt da. Es wird noch lauter donnern.« Nochmals erbebte das Gebäude. Ngens Stimme sprach
wieder in der zuvorigen, schläfrigen Monotonie. »Sag mal, Pike: Wer ist Gott?« Der Mann wisperte etwas, seine fiebrigen Augen blik kten abermals hinauf zur Decke. »Wer?« Pallas beugte sich vor, versuchte das mit brü chiger Stimme gewisperte Wort zu verstehen. Die krampf artigen Anfälle von Tremores, die Pikes Körper immer wieder durchschlotterten, bereiteten ihm Sorge. »Spinne ...«, flüsterte er schwächlich. Pallas vollführte ruckartig einen Rückwärtsschritt und hob den Blick an die Decke. Nun wurde ihm alles klar. »Na freilich ...!« »Was ist los, Gouverneur?« wollte Ngen halblaut erfahren. »Dieses Zimmer ist so konstruiert, daß er in der Weise, wie die runden Kommu-Geräte und die Wände unter der Decke in seinem Blickfeld zusammenlaufen, die Gestalt einer Spinne sieht. Für ihn ist es, als ob wir unter einer rie sengroßen Spinne stünden.« Pallas schwenkte den Ausleger der Psyching-Anlage so über die Palette, daß der am äußeren Ende befindliche Kasten Pike den Blick auf die Zimmerdecke verwehrte. »Nun werden wir ihn kleinkriegen, Messias«, versi cherte Pallas und spürte, als weitere Blitzschläge seine Beteuerung unterstrichen, wie der Fußboden erneut zitter te. »Nein!« kreischte Pike auf, versuchte verzweifelt, die Augen wieder an die Decke zu richten, stemmte den Kopf gegen die Magnetfesseln, doch der Kasten mit den Scan ninginstrumenten der Psyching-Anlage, der über ihm schwebte, versperrte ihm effektiv die Sicht. Er schrie noch entsetzlicher, stieß ein langgedehntes Klagegeheul aus, das Mikros' Nerven gehörig angriff. Pallas nahm das Skalpell zur Hand. »Kastrieren Sie ihn«, befahl Ngen. Pallas zitterte, spürte, wie sein Magen sich aufbäumte. Pikes verworrenes Stammeln und Lallen hatte auf sein
ervlich angeschlagenes Gemüt eine ähnliche Wirkung, als ob jemand auf Schiefer herumkratzte. »Überlege mal, Pike. Überlege!« Von neuem drang Ngens halblaute Stimme in Pallas' vom Ekel verwirrte Sinne. »Erinnere dich an dein romananisches Mädchen, das soviel Ähnlichkeit mit Tiara hat. Schau dir die Herr lichkeit ihres Körpers an. Sieh sie dir an, wie sie nach und nach dein Widerstandsvermögen aufzehrt, Darwin. Weißt du, genau das ist es, was Frauen tun. Sie richten dich zugrunde und verschlingen, was du bist. Komm, sprich mit mir. Sei mein Freund, und ich werde die Romananerin vernichten, die dich so entmannt. Denk an die vielen Male, die sie dir weh getan hat. Sogar dein Spinne ist fort, hat dich verlassen. Du bist jetzt mit uns allein. Laß dir von uns helfen. Hilf mir, Darwin. Schließ dich mir an. Laß uns dem Leid ein Ende machen. Wir wollen ...« »Ich ... ich ...« Zwischen seinem jämmerlichen Schluchzen quetschte Pike erstickt Wörter heraus. »SuSusan ...?« Er verfiel in ein spasmisches Zucken, nu schelte unterdrückt. »Sie hat gesagt ... sie wird mich ... wird mich ...« »Jetzt haben wir ihn soweit«, stellte Ngen leise fest. Ein Blitz knallte, erschütterte bedrohlich den ganzen Bau. »Meine Güte, das war nah.« Nervös lachte Pallas. Ihn beschäftigten Gedanken an Tiaras Mund, die Art und Weise, wie sie damit ... In diesem Augenblick übergab sich Tiara. Pallas sah es, versuchte seinen Magen, der sich gleichfalls umdrehte, noch zu bändigen — und erbrach sich ebenfalls. »Pallas!« maulte Van Chow grob aus der Kommu. »Das ist doch wohl das Dümmste, was ... Verflucht noch mal, Pallas, gerade hatten wir ihn reif! Es kann Stunden dauern, ihn wieder soweit zu bringen.« Nochmals dröhnte Donner, das ganze Verhörzimmer schien zu wackeln, und diesmal hatte Pallas, während er sich mit seinem überreizten Magen abplagte, den Ein druck, er hörte gleichzeitig Menschen rufen.
»Spinne!« grölte Pike plötzlich mit voller Stimmge walt. »Ich kann dich nicht sehen! Reesh, komm zur mir zurück! Verleih mir Kraft, Bär! Laß mich nicht im Stich!« Sein Brüllen, das selbst härteren Naturen als dem Gouver neur an die Nieren gegangen wäre, zersetzte Pallas' Durchhaltewillen vollends, er wankte rückwärts. Der Gouverneur schüttelte den Kopf, stierte Tiara an, die wieder still dastand und wartete; Rinnsale roten Bluts gaben ihrem Hals und ihren Brüsten ein gemasertes Aus sehen. »Ich muß ... ich muß gehen«, murmelte er, wischte sich den Mund, fragte sich beim Geschmack des Erbro chenen, ob er je wieder dazu fähig wäre, irgend etwas zu essen. »Bleiben Sie da!« hallte ihm ein neuer Befehl Ngen Van Chows hinterher. Pallas torkelte zur Tür, riß sie gerade rechtzeitig auf, um die Wache in einem grellen Aufblitzen verschwinden zu sehen, ein abgetrennter Arm trudelte an Pallas Gesicht vorbei und klatschte gegen die Wand. Er lehnte sich an die Tür, schwankte auf der Stelle, hin ter ihm tobte Ngen Van Chow vor Wut und stieß Pike ein furchtbares Gezeter aus. Pallas versuchte zu begreifen, was eigentlich in der Welt vorging. Er sah eine junge Frau — ein wirrer Schopf langen, schwarzen Haars umflatterte sie — eine Gruppe Bewaffneter in Schutzpanzern, die sich mit lautstarken Rufen verständigten, durch den engen Korridor führen. Sie drückte ihm einen Blaster ans Kinn. »Wo ist Pike? Wo ist er?« Ihr ungestümer Blick schüchterte ihn restlos ein, trieb ihm alle Neigung, sich womöglich zu wehren, endgültig aus. »D-Da«, vermochte er nur heiser zu krächzen. Da bemerkte sie den Gestank, sie verzog das Gesicht, drängte sich an seiner fettleibigen Gestalt vor über. Pallas taumelte über die Schwelle, sah die Schwarzhaarige verharren, die Augen auf Ngens Monitor-Abbild geheftet.
»Susan...!« gurrte Ngens Stimme. »Wie schön, dich endlich wiederzuse ...« Die Frau hatte zur Seite geschaut, Pike erkannt, warf dem Messias nun einen Blick unermeßlichen Hasses zu. »Scheusal! Sirianischer ABSCHAUM!« »Ja, ich habe ihn dir zerschnippelt. Aber laß nur ... Komm zu mir. Ich sehne mich danach, deinem wunder vollen Körper die größte Lust zu ...« Das Gesicht des Messias zeigte noch ein erwartungs volles Lächeln, als die Frau den Monitor von der Wand schoß, dann sichtlich erschüttert zurückwich, ihre Miene erbleichte, während sie um Beherrschung rang. »Spinne?« rief Pike schwächlich, versuchte den Kopf zu drehen, als die Romananer durch den Eingang herein stürmten; ihre Mienen spiegelten äußersten Abscheu wi der, während sie sich, ihren Schwung abbremsend, im Ver hörzimmer umherblickten. Zittrig straffte sich das Kriegsweib, desaktivierte mit tels der Kontrollen an der Wand das Fixierfeld. Pikes ver stümmelte Gestalt erschlaffte vollständig. Die Frau fing ihn auf, als er von der Palette zu plumpsen drohte, ob wohl der Anblick der blutigen Scheußlichkeiten sie merk lich anwiderte, ihr Gesicht wurde spitzig, als sie seinen blutigen Unterleib sah. »Den ST her, schnell!« Danach wandte sie sich an Pal las. »Wo ist Reesh?« »Der andere ist tot«, hörte Pallas sich antworten. »Das Psyching hat ihn um den Verstand gebracht ...« Pallas entging es, wie der Romananer zuhackte, doch unvermutet rollte mit unverändert dumpfen Augen Tiaras Kopf über den Fußboden, durch Blutschwälle aus den Halsschlagadern besudelte jetzt weit mehr als nur das ge ronnene Blut ihren Mund. Ihre enthauptete Gestalt fiel seitwärts um. Daraufhin begann Pallas zu weinen. Er weinte, als ein Dolch sich in seinen feisten Bauch bohrte, wie ein Sengen durchs Fett schnitt, er dann den glutheißen Schmerz zer
trennter Eingeweide spürte. Er weinte noch, als man ihm das Haar samt Kopfhaut vom Schädel fetzte und liegen ließ, als wäre er schon tot. Zu seinen letzten Eindrücken zählten das Pfeifen eines Patrouillen-ST und das jetzt deutlich unterscheidbare Knattern mittelschwerer Militär blaster, wie es Millisekunden vor den nachfolgenden Ex plosionen erscholl, die die Welt bis in ihre Grundfesten zu erschüttern schienen. Er sah eine mit einer Kapuzenkutte bekleidete Erschei nung hereinkommen und sich bedächtig im Verhörzimmer umschauen. Pallas kauerte, halb blind von dem Blut, das ihm vom wie glühenden Schädel in die Augen rann, auf dem Fußboden. Die Gestalt schien zu schweben, ihr Gesicht blieb im Schatten der weiten Kapuze verborgen. Kein Geräusch ertönte, als sie sich an ihm vorbeibewegte. Pallas' Augen hatten sich, als er tot war, zur Decke hin aufverdreht, so daß man hätte meinen können, er blickte die riesige Spinne an, die über ihm stand. Susan führte ihren Stoßtrupp zurück durch die Flure des Verwaltungsgebäudes. Das anscheinend nur noch zum Wimmern fähige Wrack von Mensch, das sie als Darwin Pike gekannt hatte, flößte ihr tiefste Betroffenheit ein. Gleichzeitig jedoch pochte ihr Körper von Lebendigkeit, strotzte vor Kraft, wie auf einem Wellenkamm trug die Wut, die sie antrieb, sie vorwärts. Oh, wie herrlich war der Augenblick gewesen, in dem sie Ngens Visage in Stücke geschossen hatte! Das war der erste Schritt auf dem Weg der Rache, du sirianischer Lumpenhund! Ich schwöre dir bei Spinne, Ngen, daß ich dir von nun an auf den Fersen bleibe. Ich werde dich stellen, und dann werde ich die Siegerin sein. Ihr Blick fiel auf die Holo-Kassette in ihrer Hand. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Ngens Gefangene hatte sie mit so etwas gerechnet gehabt und es an sich genommen, anschließend die Kommu-Geräte zu Schrott zerblastert. Sie schob die Kassette in eine Gürtel tasche, entsann sich plötzlich an Rita Sarsa, die an einem
anderen Zeitpunkt ähnlich gehandelt hatte. Unversehens machte eine anfallartig-rasereihafte Regung schlechten Gewissens ihr zu schaffen. Sehr vieles wurde ihr jetzt auf einmal klar. Wie hatte man es nur so lange mit ihr ausge halten, ihr die ganze Zeit hindurch sogar noch Vertrauen schenken können ...? Der ST flog ein, jaulte auf seinem Kurs über die niedri gen Flachdächer der lehmbraunen Häuser hinweg. Er sauste aus dem Staubgewirbel nieder wie ein Wurfspieß der Rache, gleißende Blasterstrahlen fauchten auf alles herab, was einem einigermaßen lohnenden Ziel ähnelte. Im blutroten Schein des Sonnenuntergangs verwüsteten die violetten Strahlen Bauwerke in einem Aufstieben von Dreck, Stein und Wolken aus Graphitstaub. Im Lauf schritt kamen zwei andere Stoßtrupps Susan entgegen, zerblasterten Bauten, schleuderten Sonikgranaten in Transformatorstationen, schleppten die eine oder andere Beute mit. An einigen Gürteln hingen frische Coups, al lerdings längst nicht so viele, wie man sich normalerweise hätte versprechen dürfen — aber wer könnte es als Ehre betrachten, lebende Tote niederzumachen? Der ST landete inmitten eines neuen Aufwallens pulve rigen Sands. »Bringt Pike an Bord«, befahl Susan, ver suchte Darwins Verletzungen vor Verunreinigung durch den Staub zu bewahren. »Er hat erste Priorität.« Kaum war die ST-Rampe in den rotbraunen Lehm herabgerumst, beförderten Männer ihn ins Innere des mörderisch gefährlichen, weißen Flugapparats. »Sammeln«, rief Susan durch den Staub, den die Dü sen aufpeitschten, den Gestank, den sie verbreiteten. »Wir haben keine Ahnung, wieviel Zeit uns bleibt. Ngen weiß, daß wir hier sind. Wir setzen uns ab.« Sie zählte ihre Männer, während sie nach und nach die Rampe hinaufhasteten. Sobald sie sich davon überzeugt hatte, daß niemand fehlte, sprang sie geschmeidig selbst die Rampe empor und hieb die Hand auf die Taste des Ser vomaten. Hinter ihr schloß sich der ST, während Susan
sich einen Weg durch das Gewimmel ihrer Krieger bahnte. Die Beleuchtung trübte sich, als die Bordblaster Energie akkumulierten. Für eine Sekunde verhielt Susan, als sie im Vorbeigehen sah, wie man in der Krankensta tion Pikes blutverklebte Gestalt in eine Med-Einheit schob, dann eilte sie nach vorn, zur ST-Zentrale. Unter Geklapper klemmten die Krieger mit geübter Sicherheit ihre Blastergewehre in die Wandgestelle, schnallten sich in die Gurte, während die Gravo-Kompensatoren, als der ST himmelwärts schoß, die Neutralisie rung des Andrucks übernahmen. Als sie den Eingang zur ST-Zentrale durchquerte, stopfte Susan ihren Blaster ins Halfter und ließ sich in den Kommandosessel fallen. »Feuerleitoffizier!« blaffte sie, während sie ein Kon taktron überstreifte. »Beim Abflug alles beschießen, was in Reichweite liegt!« »Verstanden.« Sie stellte eine Verbindung zur Spinnes Vergeltung her. »Mosche, was habt ihr an Raumflugverkehr in der Naher fassung?« Auf dem Bildschirm erschien Mosches Gesicht. »Drei Kosmoschlepper kommen vom Transfer einiger Stationen zurück, Susan.« Sein Blick glitt durch seine Umgebung. »Ähm ... Und wir haben vier Stationen in der Ortung, die gerade von Kosmoschleppern abtransportiert werden.« »Kannst du die Stationen unter Feuer nehmen, wäh rend ihr uns entgegenfliegt? Wir steigen in den Orbit auf und belegen unterwegs alles mit Beschuß, was in Reich weite ist, ehe wir auf den Abflugvektor beidrehen.« »Läßt sich machen, Kommandantin.« Mosche nickte, die Andeutung eines grimmigen Lächelns auf den Lip pen. »Wir geben also die Tarnung auf, nehme ich an?« »Ja«, bestätigte Susan ermüdet. »Es gibt jetzt kein Zu rück mehr.« Mosche verstand die Antwort und nickte noch einmal, ehe sein Abbild verflackerte.
»Feuerleitoffizier!« Susan wandte den Kopf einem anderen Monitor zu. »Wir machen einen Rundflug. Den wollen wir nutzen, um einen Trefferrekord aufzustellen. Maschinenraum, volle Leistung! Wir setzen alles auf eine Karte.« Bestätigungssymbole flimmerten über die Bildfläche. Während der ST aus der planetaren Atmosphäre in den Weltraum überwechselte, blitzten blendend-helle Blaster strahlen aus dem Flugapparat und bohrten sich in die gro ßen Metallrümpfe der Stationen, die im Orbit kreisten. Die Wandungen der Habitate platzten auf, die Dekompression erfolgte, heraus schossen Humus, Luft, Maschinen, Tiere, Menschen und Vegetation. Susan ließ sich, den Blick unverwandt auf die Monito ren geheftet, vom Spendeautomaten einen Becher mit Kaffee füllen. Sie prüfte jeden Schuß auf seine Trefferwir kung. Optiken beobachteten jede Strahlbahn in ihrer Ziel richtung. In den bauchigen Außenseiten der Stationen bildeten sich Beulen, sie zerfielen, Atemluft trat in Form von Dunstwolken aus und kristallisierte, Feuchtigkeit ge fror. Flüchtig loderten Brände, bis aller Sauerstoff entwi chen war und die Flammen erstickten. Eine Station explo dierte, als es zur Überlastung ihres Reaktors kam, in einer grellen Detonation. Trümmer, Stahlplatten, Zerstäubtes und gefrorene Flüssigkeiten trudelten und sprühten aus zersprungenen Konstruktionen, so daß hinter dem ST eine Zone chaotischer Verwüstung zurückblieb. »Die meisten waren für Kampfhandlungen ungeeig net«, sagte Weißer Adler leise. »Sie dienten bloß zur Nah rungsmittelerzeugung und sonstigen Produktion für den Planeten.« »Ja, stimmt. Hast du deswegen Bedenken?« Weißer Adler hob die Schultern und senkte den Blick. »Mit so was verdient ein Krieger sich keine Ehre, hm? Nein, vielleicht nicht, Jose. Das hier ist eine etwas schmutzige, dafür aber um so wichtigere Attacke. Wir füh ren einen bedeutsamen Schlag gegen Ngens industrielle
Basis. Es würde mich nicht überraschen, wenn dort drüben in den Stationen ebenfalls nur geistlose Roboter tätig wären ... So wie unten.« Sie zeigte auf den Planeten. »Er läßt dort ein Heer gepsychter Menschen zurück. Wenn wir nicht schnell und wirksam zuschlagen, können wir nicht siegen. Darüber denke mal nach, Jose. Entweder wir — oder sie.« Jose Grita Weißer Adler nickte, schluckte schwer, ver folgte grimmigen Blicks, wie der ST unter den schutzlo sen Stationen Tod und Verderben säte. »Ich habe ihnen in die Augen geschaut, Susan. Was ich gesehen habe, ist Spinne ein Greuel. Menschen ohne Seele. Verstehst du, was ich sagen will?« Susan streckte den Arm aus, faßte Weißer Adler an der Schulter und schüttelte sie kameradschaftlich. »Mosche ...« Susan kontaktierte nochmals die Spinnes Vergeltung. »Ich übermittle euch alle Informationen, die wir haben, darunter Aufzeichnungen von Befragungen einiger der Zombies, die drunten anzutreffen waren, und Bildmaterial. Es muß sofort dem Admiral weitergeleitet werden.« »Alles klar, Kommandantin, wir empfangen und spei chern. Wir strahlen es ab, sobald ich die Antenne ausrich ten kann. Das müßte ... Moment mal, bleiben Sie dran. Der Admiral ist am Apparat. Ich schalte Sie zu.« »Nicht übel, eine so schnelle Antennenkorrektur«, kommentierte Susan gleichmütig, während etliche Se kunden vertickten. Auf einmal füllte Rees knorriges Gesicht — er war unrasiert und triefäugig — Susans Monitor aus. Er gähnte, weil man ihn wohl im Schlaf gestört hatte, und nickte ihr zu. »Raus mit der Sprache, Kommandantin. Ich behalte beide Monitoren im Auge. Gehe ich richtig mit der Annah me, daß Sie aufgeflogen sind?« »Ja, Sir. Wir sind mitten in ein Subraum-Transduktions-Funkgespräch zwischen Ngen und seinem basarer Gouverneur geplatzt. Van Chow hat mich auf den ersten Blick wiedererkannt.«
»Machen Sie Meldung, Kommandantin.« Rees Stimme klang rauh wie Scharren in Kieseln. Susan berichtete ihm in allen Details. »Du siehst also, Admiral, er hat gar keinen rückwärtigen Machtbereich, in dem er politische Stabilität erzeugen müßte. All das Zeug, das uns Pike über einen Messias erzählt hat ... Naja, Ngen hat das Rezept geändert. Er braucht nicht mehr zu tun, als bei den Leuten Interesse zu wecken, sie in einen seiner Tempel zu locken, und schon hat er sie unter seinem Ein fluß, sie werden nämlich dort einer Gehirnwäsche unter zogen. Er degradiert seine Anhänger zu menschlichen Maschinen, die er durch Psychen lenkt, wie es seine Bedürfnisse erfordern. Diese vielen Tempel, die er baut, haben ohne Zweifel keinen anderen Zweck, als die Mas sen seiner Gefolgsleute immer mehr zu vergrößern, sie sind regelrechte Zombiefabriken. Das Regime kam auf Basar mit einer einzigen Verwaltung aus. Alles andere wird durch Kommu-Monitoring überwacht. Wir haben im Verwaltungsgebäude einen Großteil ihrer Programme erbeutet. Wir sortieren sie und liefern sie dir dann zur Aus wertung.« Einen Moment lang schwieg Ree, blinzelte lediglich vor sich hin. »Je weiter er also vordringt, um so größer wird seine Ressourcenquelle, und im gleichen Maß wird das Direktorat zurückgedrängt.« »Sir, ist dir klar, was er ...? Ich meine, hast du daran gedacht, was für Bodenstreitkräfte er mit dieser Methode aufstellen kann. Falls Ngen an genug Raumschiffe ge langt, um seine Streitmacht zu transportieren, wer könnte ihn dann noch aufhalten? Er wäre dazu imstande, uns einfach durch die schiere Übermacht niedertrampeln zu lassen. Wie lange wird es uns möglich sein, uns zu vertei digen, wenn das Verhältnis hunderttausend zu eins steht? Gegenwärtig dienen die Massen ihm noch vorwiegend zu Produktionszwecken. Sobald erst einmal genug Nach schubbasen vorhanden sind und seine Versorgung gesi chert ist, er die Arbeitskräfte gepsycht hat, werden diesel
ben Männer die Uniformen anziehen, die von ihnen fabri ziert worden sind, und die Blaster nehmen, die sie produ ziert haben, um in ihrem eingeimpften religiösen Wahn auf uns loszugehen.« »Wie lautet Pikes Einschätzung der Situation?« »Ich weiß es nicht, Sir.« Susan zögerte. »Er liegt in der ST-Krankenstation. Ngen hat ihn für sechs Stunden in der Mangel gehabt. Ihm sind einige schreckliche Sachen angetan worden. Ich berichte Genaueres, wenn er sich in besserer Verfassung befindet.« »Na, wenigstens lebt er noch.« Wieder schwieg Ree kurz. »Aber sagen Sie, Kommandantin, wieso haben Sie ihn in Gefangenschaft fallen lassen?« Sein stahlharter Blick bohrte sich in Susans Augen. Susan erwiderte den Blick, fühlte in der Magengrube das Brennen ihres Ärgers und Grolls. »Er und Reesh hat ten beschlossen, die Helden zu spielen. Sie haben einen Fluchtweg gedeckt, die Innenseite einer Mauerbresche, aber statt mir zu folgen, haben sie dafür gesorgt, daß das Loch verschüttet wird. Vermutlich dachten sie, wenn sie nicht durchgelangen, können's auch die Padri nicht. Ich ... Tja, ich muß sagen, so hat's auch geklappt, aber ich bin mir nicht sicher, ob Pike der Preis behagt, den er und Geflügelter Stier Reesh dafür zahlen mußten.« Sie spitzte die Lippen, legte trotzig den Kopf schräg. »Pike ist im Recht gewesen, Admiral. Wir mußten in den Tempel. Im Rückblick bleibt mir nichts anderes übrig, als einzugeste hen, daß ich die Schuld an seiner Gefangennahme trage. Dafür übernehme ich die Verantwortung. Aber ohne sei nen Mut und Einfallsreichtum, Admiral, würdest du alle die Daten und Informationen nicht erhalten.« Die schwache Andeutung eines Lächelns umzuckte Rees Lippen, in seinen Augen glomm ein Funke von Ver ständnis. »Er möchte wohl kein Anthropologe bleiben, hä? Will er Krieger werden? So ein verdammter Mistkerl, man hat mit ihm nichts als Verdruß. Also, wenn's nötig ist, mehr Druck auf ihn auszuüben, um ihn im Zaum zu hal
ten, legen Sie ihn von mir aus in Ketten, ich habe dagegen keine ...« »Ich glaube, Spinne hat ihn in sein Netz gezogen, Ad miral... Solche ... äh ... so etwas soll schon vorgekommen sein.« Bei dieser Bemerkung, die er offenbar als an der Gren ze zur Herausforderung einstufte, glitzerten Rees Augen. »Falls das etwa eine Anspielung auf mich sein soll, mache ich Sie darauf aufmerksam, Kommandantin, daß Ihr Betragen auf Insubordination hinausläuft. Ich will aber die Streßsituation berücksichtigen, in der Sie sich befinden, und deshalb nicht kleinlich sein. Und nun ziehen Sie dort ab und fliegen Sie heim. Bis Sie eintreffen, haben wir uns wahrscheinlich etwas ausgedacht. Möglicherweise ist mit Unterstützung seitens der Patrouille zu rechnen, und Spin ne allein weiß, was das Direktorat künftig unternehmen wird.« »Jawohl, Sir. Wir gehen auf Heimatkurs, sobald das Rendezvous mit Mosche erfolgt ist.« Der Monitor erlosch, als Ree die Verbindung trennte. Susan setzte sich im Kom mandosessel zurecht, spürte nun bewußt die schreckliche Erschöpfung, die sich in ihren sämtlichen Gliedern aus breitete, seit die Erregung des Gefechts ver ebbt war. Wie viele Stunden hatte sie nicht mehr geschla fen? Die verbissenen Mienen der Patrouillencrew erinnerten sie an den fürchterlichen Blutzoll, den ihre Blaster bei den Stationen forderte. Es konnte sein, daß sie während der einen Orbitalumrundung Basars so viele Menschen tötete, wie im Verlauf der gesamten Sirius-Militäraktion den Tod erlitten hatten. Nun blieb zu hoffen, daß diese Menschen nicht umsonst gestorben waren: Vielleicht hatten die Lei chen, die jetzt auf spiraligen Bahnen durchs Vakuum trie ben, dem Rest der Menschheit die Frist erkauft, deren es bedurfte, um gegen Ngen Van Chow und die sinnlose Exi stenz, die er ihr aufzuzwingen drohte, Abwehrmöglichkei ten zu finden.
Stunden später bugsierte Susan Smith Andojar hohlen Blicks ihren ST in die konkave Andockbucht im Rumpf der Spinnes Vergeltung. Die Verlegung Darwin Pikes aufs Mutterschiff — wie eingeschreint ruhte er in einer MedEinheit — überwachte sie persönlich. Sein blasses Ge sicht verstörte sie, rief die Erinnerungen an den blutbe spritzten Raum wach, an die greuliche Frau mit den Blut krusten am Mund. Eine gewisse Düsterkeit des Aus drucks rings um seine Augenwinkel verlieh den Gesichts zügen Ähnlichkeit mit einer Totenmaske. Leise stöhnte er, während in der REM-Phase seine Lider zuckten. Susan wandte sich ab; sie schmerzte das kaum hörbare Wimmern, das von seinen Lippen drang. Sie riß sich zusammen und suchte ihre Kabine auf; dort duschte sie, ließ sich benommen in die Koje sinken und dimmte die Beleuchtung herab. Im Dunkeln dachte sie an die abscheu lichen Träume, die Ngen bei ihr hinterlassen hatte, und fragte sich, was für einen Alptraum jetzt wohl Pike durch stehen mochte.
22
KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Ein Patrouillensoldat von vierschrötigem Aussehen stand vor einem Mann in weiter Gewandung und mit stumpfer Miene. Hinter den beiden erstreckte sich eine karge Land schaft bis zu zerklüfteten Hügeln am Horizont, das Tages licht wirkte seltsam gelblich, als wäre die Luft mit gräulich-braunem Sand verschmutzt. Eine flache, aus Lehm und Ziegeln errichtete Behausung war hinter dem Mann in Wüstengewändern zu erkennen, mattäugige Frauen und Kinder schauten zu, ihre zerfledderte, ver dreckte Kleidung flatterte in staubigem Wind. »Wie ist dein Name?« erkundigte sich der Patrouillen feldwebel. Der Gefragte lächelte schwach. »Ich bin Jeschua Ma hid.« »Wo wohnst du?« »In meinem Haus«, lautete die lasche Antwort. »Wo ist das?« »Wo mein Haus ist.« »Wo arbeitest du?« Der Feldwebel warf dem Mann einen drohenden Blick zu. »An meinem Platz«, antwortete der Mann unbeein druckt. So ging die ganze Befragung weiter. Bestürzt verfolg ten Maya ben Ahmad und Toby Kuryaken den Fortgang an ihren Monitoren. Die auf Basar gefilmten Aufzeichnungen hatten sie bereits gesehen, die Aufnahmen von Fabriken, des zertrümmerten Tempels, der geistlosen Horden der Padri sowie der übrigen Basarer, die wie Schafe achtlos durchs Kampfgeschehen tappten, sich nicht einmal um das Blasterfeuer kümmerten, das um sie prasselte. »Du meeeine Güte«, stöhnte Toby erschüttert, warf sich den Pferdeschwanz blonden, inzwischen etwas ausge blichenen Haars über die Schulter.
»Ich glaube, wir haben jetzt genug gesehen, Damen«, sagte Maya in scharfem Ton. Sie drehte den Kopf und wandte sich an Toby. »Ich würde sagen, das bedeutet für uns die Entscheidung. Die bloße Tatsache, daß die Roma naner uns diese Informationen zugänglich machen und nicht das Direktorat, beweist doch, wie weit der Zerfall gediehen ist. Heiliges Kanonenrohr, was treibt Robinson eigentlich in Arcturus?« Toby Kuryaken nickte und seufzte. »Uns bleibt gar keine Wahl. Verflucht noch mal!« Verzweiflung stand in ihrem gequälten Blick, während sie Grimassen schnitt. »All die Jahre ... Ich gäbe viel dafür, wäre ich jetzt dazu in der Lage ... die Menschen zu schützen. Sich nun einfach abzusetzen ... Es kommt mir vor wie ... Verdammt noch mal ...!« »Es ist uns allen unangenehm«, stellte Maya mit sanf terem Tonfall ihrer rauhen Stimme klar. »Wir müssen das höhere Gesamtinteresse der Menschheit in den Vorder grund rücken. Ich habe gerade eine ergebnislose Verfol gungsjagd quer durch meinen halben Sektor abgebro chen, eine Jagd nach Schatten. Es ist mir unmöglich, Schutz zu gewähren, und herumzulungern, bloß um Über lebende zu versorgen, ist nicht die Aufgabe des Militärs. Statt dessen ist es da, um das Problem an der Wurzel anzu packen.« Toby schaute Damen Ree an. »Der Rest der Patrouille wird uns nicht unterstützen, Admiral. In Übereinstim mung mit dem Direktorat ist man zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die Romananer in der Direktoratspolitik ein zu großer Machtfaktor werden. Man befürchtet, daß Sie, wenn man Ihnen und Ihren Wilden erlaubt, Ngen Van Chow zu schlagen, mächtig genug sein werden, um selbst die Macht zu ...« »Bei Spinne«, rief Ree, schwang die knotigen Fäuste in die Höhe. »Man fürchtet sich vor einer halben Million Romananer? Während Ngen die Bevölkerung eines gan zen Raumsektors in menschenähnliche Roboter verwan
delt? Er ist es doch, der einen galaktischen Dschihad pre digt! Die Romananer verfügen lediglich über schlappe drei umgebaute FLF. Begreift man denn überhaupt nicht, von wo die Gefahr ausgeht?« »Verdammt, Damen, Sie gelten dort als schurkiger Renegat. Der Patrouille ist gut bekannt, was Ihre Romana ner auf Sirius angerichtet haben. Ihnen untersteht eine unbezwingbare Streitmacht, und Sie haben gezeigt, daß Sie zu unberechenbarem Verhalten fähig sind. Was könnte derartige Waschlappen mehr beunruhigen? Sie haben Sorge, daß sie statt eines Imperators Ngen einen Imperator Ree vor die Nase gesetzt bekommen. Ngen ist schlicht und einfach ein machtgieriger Irrer ... Sie dagegen sind's nicht. Sie sind so verflucht erschreckend tüchtig, daß Sie die tie fere Furcht wecken. Sie bilden sich ein, mit Ngen fertig werden zu können. Aber Sie?« »Und wie stehen Sie dazu?« fragte Ree mit hartem Gesichtsausdruck. Toby Kuryaken vollführte eine Gebärde der Ratlosig keit. »Ich habe den Sachverhalt mit meiner Crew disku tiert.« Nervös senkte sie den Blick auf ihre Hände; man merkte ihr an, daß sie nur widerwillig aussprach, was sie nun zu sagen hatte. »Mehr als nur eine Handvoll meiner Mannschaft ist noch am Leben, weil da und dort ein ver rückter romananischer Kerl eingegriffen hat, wo jeder mit nur soviel Verstand wie eine Hafenratte das Weite gesucht hätte. Heiliges Kanonenrohr, meine Leute — wenigstens die Sturmtruppen — mögen die Romananer. Überall in meinem Raumschiff sind schon kleine Spinnenbilder hin gepinselt worden. Nach der Sirius-Aktion waren die Zei chen der Zeit ja deutlich ersichtlich. Das Direktorat kann unseren Raumsektor, in dem wir Patrouille fliegen sollen, nicht mehr verteidigen. Die Patrouille selbst zersplittert sich. Ngen hat ein Patrouillenschlachtschiff gekapert! Ich bin mir ziemlich sicher, daß meine Besatzung ... Tja, daß sie's vorzöge, auf Ihre Seite überzuwechseln, Admiral. Natürlich würde unser gesamter Sektor sich anschließen.
Unsere Sektoren grenzen aneinander. Wir wären also dem Risiko nicht abgeneigt, die Führerschaft des Direktorats gegen Ihre Führung auszutauschen.« Sie hob den Blick; ihre Augen schauten klar, die Haltung war aufrecht. »Und nach dem, wie die letzten Tage der Aktion im Siriussystem verliefen, können Sie sich denken, was dies Eingeständnis mich kostet. Ich hätte die Projektil ohne weiteres aus dem Weltall geblastert. Und Sie mit ihr, Damen.« Ree nickte. »Einfach vergessen läßt das sich nicht, Toby. Es ist nun einmal passiert — eine Realität, mit der wir alle einfach werden leben müssen. Aber warum ziehen wir daraus keine Lehre, anstatt darin einen Anlaß zu gegenseitigem Groll zu sehen? Was uns allen klar werden muß, ist doch, daß die Menschheit gegenwärtig in einer zu beschissenen Situation steckt, um sich Zerrissenheit lei sten zu dürfen. Ich brauche Sie ... Und die vielen talentier ten Profis der Miliken auch. Sie brauchen uns, Welts Ressourcen und die Projektil. Aus den Ereignissen der Vergangenheit sollten wir lernen, daß niemals das Wort eines Einzelnen die gemeinsame Ethik diktieren darf.« Tobys Lippen zitterten. »Wenn diese Aussage die Ein stellung der Projektil wiedergibt, glaube ich, daß meine Leute nicht halb so lange wie ich darüber disputieren wer den. Stolz kann ein ... Er ist für meine Besatzung eben wichtig, Damen.« Ree lächelte. »Stoßen Sie erhobenen Kopfes zu uns, Toby. Spinne will von uns, daß wir Stolz und die Gründe, die jemand dafür hat, aufrichtig respektieren.« »Heiliges Kanonenrohr, haben Sie etwa vor, ihr Raum schiff derartig durch Spinne unterwandern zu lassen, wie's bei mir vorgegangen ist?« Maya schüttelte, den Blick an die Deckenplatten ihrer Kommandobrücke erho ben, den Kopf. »Wollen Sie sich beschweren, Maya?« fragte Ree, sah sie an. »Und das, nachdem Ihr eigener Stellvertreter wer weiß wie viele Stunden zusammen mit dem Propheten verbracht hat, den wir zum Sirius geschickt haben?«
»Halten Sie Ben da raus«, maulte Maya. »Sie haben noch keine Stellung dazu genommen, was die Viktoria tun wird.« »Toby hat alles gesagt.« Mayas gedehnter Seufzer drückte ihre ganze Resignation aus. »Unser Überleben hängt von unseren Kräften ab. Ich bin der Überzeugung, daß Sie die Erwartung, Ngen besiegen zu können, am ehesten rechtfertigen, Damen. Außerdem kenne ich Sie. Ich bezweifle, daß Sie einen guten Diktator abgäben. Sie lieben Ihre alte, grausliche, verrostete Konservenbüchse von Raumschiff viel zu sehr. Die Projektil zu verlassen, um ein Imperium zu regieren, wäre Ihr Untergang.« Maya erwiderte Rees humorigen Blick mit gewölbten Brauen, die ihre Gesichtszüge betonten und noch einmal die außergewöhnliche Schönheit ihrer Jugend wiederbe lebten. »Dann willkommen in unseren Reihen. Strategisch besehen, steht an erster Stelle die Aufgabe, Ngens Aus breitung zu stoppen. Dafür sind romananische Raumschif fe zur Zeit eingesetzt, sie attackieren Ngens ökonomische Grundlagen. Die Schäden an den basarischen Fabrika tionsanlagen, die Sie vorhin in den Filmaufnahmen sehen konnten, hat eine meiner Kommandantinnen ihm zuge fügt. Die Möglichkeit von Angriffen gegen andere, ähnli che Ziele wird momentan geprüft. Wir unternehmen mit unseren beschränkten Mitteln, was machbar ist.« Nachdenklich musterten beide Obristinnen ihn. »Ahnte ich's doch, daß Sie uns 'n Schritt voraus sind, Damen.« Maya lächelte. »Bei Spinne, das ist genau das, was ich jetzt hören mußte. Robinson sitzt in ArcturusStadt herum und versucht, jeden Zwischenfall, den Ngen anzettelt, einzeln zu bewältigen, während Sie ihn an der Gurgel packen.« »Zweifellos romananischer Einfluß«, bemerkte Toby in neutralem Tonfall. Das war also geschafft. Ree lehnte sich zurück, dachte an seine erhöhte Verantwortung. Von nun an stand eine
weitere Billion Menschen unter seinem Schutz. Furcht sam hockten sie in Stationen und einzelnen Planeten zu sammen, beobachteten die Sterne, fragten sich, wann Ngens Attacke auch ihre Leben in feurigen Explosionen beenden mochten ... Sie zählten auf ihn. Er schaltete sich der Kommu zu. »Ich übermittle Ihnen die Baupläne der Bruderschaftsblaster, die Ngen auf Sirius entdeckt hatte. Sie werden das Potential in bezug auf die Feuerkraft sofort erkennen. Ihre Techs können unverzüg lich mit den Modifikationen anfangen. Konfiszieren Sie sämtliche FLF-Transporter und alles andere, was irgend wie raumfluggeeignet ist. Innerhalb einer Woche müßten fünf Transporter, die wir im Außensektor ...äh ... requiriert haben, komplett umgerüstet sein, bewaffnet und startbe reit. Den Bruderschaftsdaten zufolge, die wir aus den Alt speichern der Projektil geborgen haben, dürften sie erheb lich schneller als Ngens Raumschiffe fliegen, aber bisher hat keiner unserer BK mit irgendwelchen seiner Schiffe einen Zusammenstoß gehabt, so daß diese Theorie vorerst unbewiesen bleibt. Wie Sie sich denken können, bin ich deswegen noch ein wenig nervös. Da fällt mir folgendes ein: Es besteht die Möglichkeit, daß sich auch an Bord der Miliken Bruderschaftsdaten bergen lassen, sie ist ja fast zweihundert Jahre alt. Sie ist noch zu Bruderschaftszeiten gebaut worden. Vielleicht werden Sie selbst davon über rascht sein, was alles in den Datenspeichern Ihres eigenen Raumschiffs vergessen worden sein kann.« Er lächelte, als er das Erstaunen in den Gesichtern der zwei Obristinnen sah. »Was glauben Sie wohl, wo die Daten für die FujikiVerstärker gefunden worden sind? Sie waren die ganze Zeit in der Projektil.« »Wir werden unsere Kommunikationsanlagen gründ lich durchforschen«, versicherte Maya, nahm die Enthül lung mit trockenem Humor, allerdings leicht gereizt auf, als ärgerte es sie, daß sie nicht selbst daran gedacht hatte. »Bis dahin gebe ich Ihnen«, sagte Ree, »diverse Sätze Daten zur Weiterleitung an Ihre Fabrikstationen durch.
Ihnen wird sofort auffallen, daß wir bestimmte industriel le Produktionsbranchen gekennzeichnet haben, die sich mit einem Minimum an maschineller Veränderung oder montagerelevanter Umorganisation zwecks Herstellung militärischer Güter konvertieren lassen. Falls Sie mehr Daten brauchen, kontaktieren Sie Dr. Montaldo. Er ist unser Logistikexperte.« Maya sichtete bereits die Daten, die Rees Kommu ihr zufunkte. »Sieht so aus, als hätten Sie das alles schon gründlich durchdacht, Damen. Als ob Sie geahnt hätten, daß wir auf Ihre Seite übergehen.« »Wie Sie gesagt haben, die Zeichen der Zeit waren er kennbar. Sie waren unsere einzige Hoffnung. Deshalb ha ben wir entsprechend geplant.« »Wieso ist der Romananerplanet als hauptsächliche Bastion eingeplant?« wollte Toby erfahren; ihr Blick maß Ree aufmerksam. Der Admiral hob die Schultern. »Er liegt am Rande des Direktoratsweltraums, folglich ist er am leichtesten zu verteidigen. Zudem müssen wir irgendwo eine Auf marschzone haben, und sollte die geringe Wahrschein lichkeit eintreten, daß Ngens Truppen eine Landung durchführen, werden sie merken, die Romananer sind die härtesten Gegner der ganzen Galaxis. Können Sie mir ei ne bessere Position mit hartnäckigeren Verteidigern nen nen? Gleichzeitig hat Welt, das gebe ich zu, seine Nach teile. Es fehlt an Möglichkeiten zur Reparatur von Ge fechtsschäden oder zur Instandsetzung. Die Industrieka pazität ist gleich Null, außer man hat Interesse an ein schüssigen Flinten und vierzig Zentimeter langen Dol chen.« »Eine einleuchtende Argumentation.« Toby zupfte sich am Ohr. »Dort kann man uns nicht umfassen.« »Im Weltraumkrieg ist keine rückwärtige Zone unan greifbar«, widersprach Ree. »Diese Lektion haben meine Kommandeure gerade Ngen gelehrt.« »Sie glauben, Sie haben sein Vordringen gebremst?«
Toby tippte sich mit einem Stift gegen das Kinn, mit dem sie sich Notizen aufzuschreiben angefangen hatte. »Susan schätzt, daß sie achtzig bis fünfundachtzig Prozent der basarischen Fabrikationskapazität zerstört hat — allerdings ist zu berücksichtigen, daß man dort inzwi-schen mit einem wesentlichen Abbau begonnen hatte. Majorin Sarsa hat erhebliche Schäden auf Myste rium an-gerichtet und die Orbitalindustrie stark beein trächtigt, und Major Iverson hat soeben auf Arpeggio die erste Militäraktion seit nahezu dreihundert Jahren abge schlossen. Neal hatte keine große Chance, viel zu errei chen, weil ein Kriegsschiff Ngens ihn unter Beschuß nahm, aber er hat beim Rückzug eine Reihe von Indu striestationen geortet.« »Und wie verhindern wir, daß der Gegner uns das glei che zufügt?« fragte Toby. Ree zögerte, suchte nach den richtigen Worten. »Wüßte ich darauf eine Antwort, flöge ich gleich los, um den Dreckskerl Ngen aus dem All zu blastern. Leider müs sen wir vorerst hoffen, daß Ngen glaubt, er stünde einem einigen Direktorat gegenüber. Solang er dieser Überzeu gung bleibt, bietet sich ihm eine sehr große Auswahl an möglichen Zielen. Sein gegenwärtiger Vorteil besteht darin, daß er eine relativ kleine Ressourcenbasis leicht verteidigen und gleichzeitig praktisch überall im Direkto rat Ziele angreifen kann, ohne Gegenwehr befürchten zu müssen.« »Er kann also nicht wissen, wo unsere militärische Pro duktion stattfindet.« Toby nickte. »Deshalb ist es eine unserer vorrangigen Prioritäten, Industriestationen von ihren jetzigen, allgemein bekann ten Positionen fortzutransferieren. Noch sind Ngens Mit tel beschränkt, kann er nur eine begrenzte Anzahl von Zie len zur gleichen Zeit attackieren. Ich denke mir, am besten ist es, Sie verlegen Ihre Industrie möglichst schnell so weit weg wie möglich. Manchmal muß man eben hoffen, daß alles gut ausgeht. Den letzten umgebauten FLF — die ehe
malige Helk — müssen wir über Sirius stationiert lassen. Kapitänleutnant Breeze hat das Kommando, falls Sie von dort etwas brauchen.« »Die Stationen verlegen?« Maya stützte den Kopf in die Hand, den Blick auf ein Holo geheftet, das sich in einer oberen Ecke ihrer Wiedergabe auf Rees Monitor noch knapp erkennen ließ. »Leichter gesagt als getan, bedenkt man ihre Antriebssysteme. Zu beachten ist auch, daß schon der primitivste Scanner eine so starke Radio quelle wie eine Station mühelos ortet. Ich kann jetzt schon sagen, daß die Sybar-Stationen sich unmöglich aus der Nähe ihrer Rohstoffbasen entfernen können. Sie gewinnen Metalle aus Asteroidenbergwerken. Verlegen lassen sie sich also nicht, aber wir könnten ihnen einen gewissen Schutz bieten, indem wir sie kompartieren, um die Dekompressionsgefahr zu verringern, und Maßnahmen zu ihrer Despezialisierung einleiten.« »Das sind vernünftige Überlegungen«, meinte Ree. »Wir müssen uns angewöhnen, in anderen Zusammen hängen als früher zu denken. Man hat uns nicht darin ge schult, allumfassende Strategien zu entwickeln, sondern unser Denken auf die Begrifflichkeit individueller Vorge hensweisen reduziert. Eisenauge ist mir eine unbezahlba re Hilfe dabei gewesen, meine Auffassungen in dieser Hinsicht zu korrigieren.« »Totaler Krieg ...«, sagte Toby nachdenklich, während ihr Blick zwischen Ree und Maya hin- und herglitt. »Wer hätte gedacht, daß das Direktorat einmal auf diese Art zugrunde geht? Wir waren doch so zivilisiert ...« »Und nun müssen wir lernen, Barbaren zu sein«, sagte Ree verhalten. »Wir müssen gemeiner als Ngen sein. Wir müssen ihn bezwingen — oder in dem Bewußtsein fliehen oder sterben, daß wir unsere Spezies in einer Alptraume xistenz zurücklassen.« Rees Blick schweifte hinüber zu dem inzwischen stummen Bild des Patrouillen feldwebels, der sich vergeblich mit einem in Wüstenge wänder gehüllten Individuum zu verständigen versuchte,
dessen Augen trotz des zufriedenen Lächelns seines Ge sichts seelenlos stierten. Admiral Damen Ree schauderte zusammen.
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AN BORD DER DEUS (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER SANTA DEL CIELO)
Auf dem Deckenmonitor konnte man ein schwarzhaari ges romananisches Mädchen, nackt und gefesselt, sich unter Ngens Elektropeitsche winden sehen. »Ja, meine Liebe, du hast mich schwer geschädigt ... Mir Basar zerblastert, verwüstet, ihn aus meinen Res sourcenquellen herausgebrochen. Und Pallas ...? Wie soll ich jemals wieder jemanden mit seinen administrativen Fähigkeiten finden? Sein Tod grämt mich mehr als Basars Verheerung. Verflucht sollst du sein, Susan ... Tausendmal verflucht, elende romananische Amazone! Aber eines Tages wirst du zu mir kommen. Und wenn es soweit ist ...« Ngen lag bequem auf den Kissen, seine Augen glom men, während er sah, wie sein Holo-Abbild Susan be stieg. »Kapitän Velkner«, informierte ihn die Kommu. Ngen straffte sich, schaltete das Holo aus. »Herein!« An einer Wand rollte ein mit in Gold gefaßten Smarag dintarsien verzierter Türausschnitt beiseite, als sich der Zugang öffnete, den Blick in den kahlen Korridor vor Ngens Privaträumen freigab. Es hatte Wochen gedauert, sie vom öden Patrouilleninterieur zu dem jetzigen, opu lenten Prunk umzuarbeiten. Die Wände glänzten von fi ligranem Gold. Lichtskulpturen und vielfarbene HoloKunst, die herausragendsten Werke von sechs Welten und
ebensoviel bedeutenden Weltraumstationen, spiegelten das Ausmaß seines Reichtums und seiner Macht wider. Den Fußboden bedeckte echtes Svee-Moos, dessen aro matischer Duft so zart und abwechslungsreich war wie die Lichtmaserung der Beleuchtung. Die Decke über Ngens Kopf bestand komplett aus einem Holo, einer Dar stellung der Galaxis, wie sie sich vor einer scheinbaren Unendlichkeit drehte: Einem Symbol seiner wachsenden Macht. Sira, der herzlose Schmuggler, Meuchelmörder und Dieb trat ein, verharrte und riß die Augen auf, starrte den Pomp an. Amüsiert kostete Ngen seinen Anblick weidlich aus. Einmal im Leben einen solchen Ausdruck andächti gen Staunens in Siras Gesicht zu sehen, wäre Ngen schon für seine Mühen Lohn genug gewesen. »Ich darf annehmen, Sie haben einen guten Flug ge habt, Kapitän.« Ngens Lächeln fiel herzlich aus, obwohl sein Blick durchdringend blieb. »Ja, hab ich.« Sira grinste und entblößte dabei seine Zahnlücken, während er sich vom Eindruck, den der Raum auf ihn machte, zu befreien versuchte. »Das ist ... ist ...« »Imposant, ja. Aber ich habe Sie nicht herbeordert, um mit Ihnen Innenarchitektur zu diskutieren, Sira. Wie lautet Ihre Schadenseinschätzung?« Ngen lehnte sich in seinen Kissenberg. Es verdroß ihn tief, flößte ihm nachhaltigen Unwillen ein, daß man ihm einen so herben Schlag ver setzt hatte. Verfluchte Romananer! Hätte die Patrouille den Angriff ausgeführt, wären ausschließlich militärische Ziele unter Feuer genommen worden. Sie hätte nicht unbarmherzig so viele Arbeitskräfte massakriert. Ngen kaute auf seiner Lippe; er war sich darüber im klaren, daß er die Romananer wieder einmal unterschätzt hatte. Er richtete den Blick in Velkners scharfgeschnittene Gesichtszüge und wartete. »Ich glaube, wir können sämtliche Anlagen binnen drei Wochen wieder mit voller Produktion am Laufen haben,
Messias. Eine Begleiterscheinung der Angriffe, die sich zu unserem Vorteil auswirkt, ist die Zunahme der Bekehrun gen in den Tempeln. Bei fünfundneunzig Prozent der Try staner ist das vorläufige Psyching abgeschlossen. Wir werden nun mit der Aufgabenverteilung anfangen. Nach dem Erstpsyching können wir beliebig modifiziert kondi tionieren, wie es der Bedarf verlangt, ohne daß es den Rest stört. Der Zuwachs gleicht die Verluste aus. Gleich zeitig haben wir weitere Autarke Stationen übernommen. Wir psychen so schnell, wie unsere Truppe die Leute durchs Psychingfeld jagen kann.« »Wenn die Angriffe für uns so vorteilhaft sind ...« Sira hob die Hand. »Das waren sie keineswegs. Basar und Mysterium sind effektiv ausgefallen. Es ist ein Nach teil, daß die Produktion jetzt im Sektor Moskau erfolgt, anstatt näher an unserer gegenwärtigen Machtsphäre. Romananische Blaster haben einen Großteil der Fabrika tionsstätten vernichtet. Infolgedessen sind wir ge schwächt worden. Zur Zeit sind Maschinen für uns noch wichtiger als Menschenmaterial. Sollten die Romananer die Stationen angreifen, die wir uns im Sektor Moskau gekrallt haben, wäre das gegen uns ein schwerer Schlag. Andererseits ...« Sira zuckte die Achseln. »Uns steht das gesamte Direktorat zur Ausplünderung offen.« »Ich habe Cheng und Roskolnikowski befohlen, Arpeggio abzuschirmen, dort hat der Überfall wenig Unheil zur Folge gehabt. Sobald Sie fort sind, werde ich die Deus nach Tryst fliegen, um dort für Schutz zu sorgen. Vielleicht gelingt es uns, einige feindliche Schiffseinhei ten zu eliminieren. Momentan sind wir noch auf Arpeggio und Tryst angewiesen.« Und sie ist hier. Was für eine Ver schwendung, einer einzigen Frau ein Raumschiff zu schicken. Ngen seufzte und nickte. Die Lage war durchaus nicht so ernst wie er zunächst gedacht hatte. Seine Befürchtung war gewesen, die Romananer könnten ihm eine entschei dende Niederlage beigebracht haben. Wäre es bloß mög
lich, seine frommen Schäfchen sofort einem Komplettpsy ching zu unterziehen! Damit könnte er die für die Unterwerfung eines Planeten erforderliche Zeitspanne um einen Monat verkürzen und die noch vorhandene Lücke zum Sektor Moskau schließen. Doch dann stünde er vor eben dem Problem, vor dem Pallas ihn gewarnt hatte: Er hätte keine kompetenten Befehlshaber für seine Massen an Kanonenfutter. Nein, es war das Risiko nicht wert. Wenn eine Popula tion mit dem Erstpsyching eine Konditionierungsgrund lage erhielt, scherte sie sich nicht um ihre spezialisierten Mitglieder, die hohlen Blicks umherliefen, ihre Familien, eigentlichen Berufe, ja sogar die eigene Persönlichkeit vergessen hatten. Das Erstpsyching entschied über alles Weitere. Alles andere müßte nur Revolten auslösen. »Wir müssen einen Gegenschlag führen«, beschloß Ngen. »Könnten wir bloß die romananische Heimatwelt angreifen ...! Aber im Moment wird sie zu gut geschützt. Meine Informationen besagen, daß die Projektil ständig im Orbit bleibt und modernisierte Waffen getestet wor den sind.« Plötzlich lachte Ngen Van Chow. Die Wasser köpfe würden niemals glauben, daß er so verwegen sein könnte. »Sira, ich wünsche, daß Sie und Torkild einen Angriff gegen Arcturus fliegen. Vernichten Sie die Statio nen und zerblastern Sie die Industrie zu Schrott. Flößen Sie denen dort Todesfurcht ein! Wir werden ihnen die At tacken auf Basar und Mysterium heimzahlen und dem Di rektorat eine Schlappe beibringen, wie es noch keine er lebt hat. Wir wollen ihre Seelen in Furcht und Schrecken versetzen, Sira, sie werden vor Entsetzen gelähmt in den Betten liegen bleiben ...!« Langsam verzog ein Feixen Siras Lippen. »Mit dem größten Vergnügen. Wir können schnell ein- und ausflie gen.« »Halt mal.« Ngen überlegte, projizierte ein Holo des roten Sterns und des silbernen Gespinsts der endlosen Aufreihungen von Stationen, die ihn umgaben. »Zerstö
rungen anzurichten, wäre schon ganz gut. Aber ...« »Ja, Messias?« »Nehmen Sie Sturmtruppen mit und dringen Sie ein. Wir benötigen Gehirne, Sira, nicht bloß Befehlsempfän ger. Sie kennen die Lage der Universität? Hier.« Ein Licht lein blinkte. »Ich kann sie finden.« »Tun sie's. Ich wünsche, daß Sie, während Torkild die Patrouille und die arcturische Wachtruppe in Schach hält, die Technische Fakultät der Uni ausheben. Ich will, daß Sie so viele Techniker, Spezialisten, Konstrukteure und Physiker mitnehmen, wie Sie in die Finger kriegen. Vor allem ein gewißer Ten MacGuire ist von Bedeutung. Er ist der führende Experte des Fachgebiets Singularitätsmani pulation.« »Wird gemacht, Messias.« »Das wär's, Sira. Ich erwarte, daß Sie und Kapitän Al har die Aktion schleunigst abwickeln. Je eher wir zuschla gen, um so größer wird die Wirkung sein.« Ngen verneig te sich knapp, als Sira mit einer Verbeugung ging, die Tür sich hinter ihm schloß. Erleichtert ließ Ngen die Lider sinken; er war heilfroh darüber, daß bei dem Überfall auf Arpeggio die Station, in der sich seine fähigsten Technologiespezialisten befan den, keinen Schaden erlitten hatte. Das provisorisch zu sammengestellte Team hatte gerade über den Bauplänen für Massenkonverter zu schwitzen begonnen. Falls es herausfand, wie man sie baute, hätte Ngen gegenüber den Romananern nicht allein wieder einen technischen, sondern auch einen psychologischen Vorsprung. Viel leicht war es möglich, falls Sira es schaffte, MacGuire und seine Mitarbeiter zu schnappen ... Falls. Ein so kleines Wort — und doch so furchtbar in seiner Tragweite! *
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AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
»Ich sage Ihnen, es ist die einzige richtige Methode. Hören Sie, Direktor, ich appelliere an Sie ...« »Und ich sage Ihnen, daß Ihre Reaktion überspitzt ist.« Skor Robinson zwinkerte mit den kleinen, rot geränder ten Augen. »Ja, Admiral, ich habe Ihre Daten gesichtet. Ihre Spione sind höchst geschickt. Gleichzeitig habe ich die materiellen Realitäten der Situation überprüft, von der Sie mitteilen, daß sie in Ngen Van Chows Machtsphä re existiert. Meine sämtlichen Berechnungen haben die von Ihnen genannten Zahlen nicht bestätigen können. Um lediglich eine Million Menschen zu psychen — also ein Zehntel der Bevölkerung Basars —, brauchte Ngen bei einem Einsatz von dreihundert täglich vierundzwanzig Stunden lang betriebenen Geräten sieben Komma neun undachtzig Jahre. Eine solche Leistung kann nicht einmal durch Unterstützung seitens der entführten gonianischen Techniker ...« »Ich versichere Ihnen, es wird in den Tempeln gemacht. Meine Leute sind im Tempel Basars gewesen. Sie haben gesehen, wie ...« »Und wie? Wie wird es gemacht, Admiral? Wie lauten die physikalischen Fakten des Massenpsychingfelds?« Ree zögerte, sein Mund zuckte. »Ich ... Der Mann, der sich damit auskennt, liegt momentan in einer Bordklinik. Ich bin kein Psychingexperte. Ich weiß nicht ... Verdammt noch mal, Direktor, wir verschwenden unsere Zeit!« Ree hieb eine Faust auf die Kommu-Konsole. »Während wir debattieren, vergrößert Van Chow seine Macht.« »Und Ihre Überfälle haben dazu beigetragen, den Zu lauf an Gläubigen seiner unlogischen Religion zu stei gern.« Ratlos fuchtelte Ree mit den Händen. »Kann sein, aber das ist immer noch besser, als zu warten, bis Ngen unbe siegbar geworden ist. Wir haben seine Produktion stark beeinträchtigt. Rita Sarsa hat in der Nachbarschaft Myste
riums seine Fabrik für schwere Blaster aus dem All gebla stert.« »Zu guter Letzt werden die Menschen seines logikwid rigen Humbugs überdrüssig sein und ihn stürzen.« »Aber nicht, wenn sie gepsycht worden sind, Direk tor!« »Und Sie können mir nicht erklären, wie ein Psyching in solchem Umfang praktizierbar sein sollte, Admiral. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Der Anforde rungsdruck auf mein System nimmt ständig zu.« Das Holo erlosch. Rot angelaufenen Gesichts wartete Ree volle zehn Se kunden lang ab, bis er dem stummen Holo-Bildschirm seine ganze Wut und Erbitterung entgegenschrie. Sobald er seine Lungen mit dem Gebrüll erschöpft hatte, atmete er einmal tief durch und drehte sich um. »Den Versuch war's wert, Damen.« Eisenauge, der mit verschränkten Armen an einem Planungstisch lehnte, straffte seine Haltung. Ree blinzelte und rieb sich die Augen. »Heiliges Kano nenrohr, es war, als ob er gar nicht zuhörte. Als wäre er mit anderen Angelegenheiten dermaßen beschäftigt ge wesen, daß er, verflucht, nicht einmal dazu kam, ernsthaft über meine Worte nachzudenken.« Eisenauge schlug die Hände zusammen und fing, den Kopf nachdenklich gesenkt, hin- und herzustapfen an. »Sein Reich zerfällt. Wie stark würde so etwas dich bean spruchen? Er ist in der gleichen Lage wie ein Viehzüchter, dem die Rinder gestohlen werden, jeden Tag eins, und der dem Dieb nicht das Handwerk legen kann.« »Aber wenn er nichts unternimmt, wird ihm das Reich insgesamt geraubt.« Ree stieß ein Brummen aus. »Und wir werden in die Läufe von Ngens Blastern blicken. Und wenn wir hinter sie schauen, werden wir in den Augen unserer Gegner keinen Funken von Seele sehen.« * * *
AN BORD DER DEUS WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM FLUG NACH TRYST
Inmitten seiner Kissen lehnte Ngen sich zurück und klatschte in die Hände. Hinter einem Gehänge aus arc turischem Gewebe im rückwärtigen Bereich des Raums kam ein weißbärtiger Mann hervor. Er hatte einen offenbar sportlich trainierten Körper, blieb jedoch mit geistlos stumpfen Augen vor Ngen stehen und wartete auf Befehle. »Serviere zwei Brandys!« schnauzte Ngen. Dann schaute er hinüber zum Eingang und sah die Tür aufrol len. Die Frau trat in einer Pose der Vornehmheit ein, aus Erregung glitzerten ihre blauen Augen, während sie anmu tig den Teppich aus Svee-Moos überquerte. Mitten im Zimmer blieb sie stehen, wirkte leicht verunsichert; doch da sah sie Van Chow bequem in den großen, dicken Kis sen ruhen. Ngen neigte den Kopf und lächelte wohlwol lend. »Ich fühle mich hochgeehrt, Messias.« Kühlen Blicks nickte M'Klea Alhar. »Zuerst, als ich noch auf Arpeggio war, dachte ich, Ihre Einladung wäre bloß eine Schmei chelei.« Ngen lachte herzlich. »Ich schmeichele niemals irgendwem, meine liebe M'Klea. Hat niemand Sie abrei sen sehen?« Sie schüttelte den Kopf, betrachtete mit sichtlichem Gefallen ihre Umgebung. »Ich habe Ihre Instruktionen wortgetreu befolgt, Messias. Sie haben dafür, nehme ich an, Ihre Gründe. Das ist für mich kein Anlaß zu Beden ken.« »Bitte setzen Sie sich hier neben mich.« Ngen lächelte und patschte mit der Hand auf ein Kissen. »Sie sind mutig, meine Liebe. Kühnheit ist eine Eigenschaft, die ich bei Frauen als attraktiv empfinde.« Mit einem Gehabe der Züchtigkeit nahm sie bei Ngen Platz, erwiderte aus ihren blauen Augen seinen Blick. an
Chow konnte unter ihrer glatten, hellen Haut ihren Puls rasen sehen. Er gönnte sich die Freude, sie auf eine Weise zu mustern, als könnte er sie mit den Augen verschlingen, prägte sich die Konturen ihres Gesichts ein, ließ den Blick zärtlich über die Rundungen ihrer Brüste streichen, besah sich lüstern ihren flachen, festen Bauch über dem durch ihre Kleidung reizvoll betonten, femininen V ihres Unter leibs. Gemäß der arpeggianischen Mode fielen ihre Röcke bis hinab zu den Fußknöcheln, verbargen aber nicht das stramme Fleisch ihrer Schenkel und Waden. Ngens Ver langen wuchs. »Ich habe Sie zu mir gebeten, um mit Ihnen über ein Anliegen zu sprechen«, sagte Ngen, während der Sklave zurückkehrte, auf einem Silbertablett zwei Brandys brach te. Ngen reichte ein Glas M'Klea, beobachtete die elegan te Geste, mit der ihre langen, schlanken Finger den Stiel faßten. Der Sklave verschwand hinter den Vorhang. »Ein Anliegen, Messias?« M'Kleas Stimme klang kul tiviert, weiblich und nach Verlockung. Ngen schwieg, während sie mit gezierter Gebärde ein Schlückchen ihres Brandys nippte. Leicht glitt ihre Zunge über die vollen Lippen. Ngen nickte; sie bemerkte die Bewegung, forschte in seiner Miene. »Was gäben Sie dafür, Imperatorin zu sein, M'Klea Alhar?« Er sah das Aufflackern in ihren Augen, das plötz liche Scharfwerden ihres Blicks. »Was wäre es Ihnen wert, die mächtigste Frau der Galaxis zu sein?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Sie hielt ihn zum Narren! In den Tiefen ihrer unglaub lichen, wie Teiche blauen Augen, getrübt vom Schleier ihrer Gedanken, verspottete sie ihn. In seinem ganzen Leben hatte noch keine Frau ihn so herausgefordert! »Ach, kommen Sie, M'Klea.« Angesichts ihrer gespiel ten Naivität winkte Ngen ab. »Ich habe Sie auf den Emp fängen Ihres Vaters im Auge behalten. Sie sind nicht das Musterbild an Sanftheit und Unschuld, das zu sein Sie vorgeben. In Wahrheit sind Sie eine blitzgescheite, junge
Dame, ohne Zweifel darin versiert, die Spielchen der arpeggianischen Anstandsregeln mitzumachen, aber trotz dem ein gerissenes Persönchen.« M'Klea nahm eine abweisende Haltung ein. »Derartig freche Bemerkungen möchte ich nicht hören. Sie sprechen mit einer Angehörigen des Hauses Alhar. Ich bin eine Dame ...« »Sie sind ein Nichts!« brüllte Van Chow sie an, sah sie mit Genugtuung vor seinem ungewohnten Aufbrausen zurückschrecken. »Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß ich Sie auf Arpeggio für so ein Verhalten erschießen lassen könnte!« fauchte sie, während ihr unterdrückte Wut aus den Augen funkelte. »Prachtvoll«, rief Ngen, rieb sich in Vorfreude die Hände. »Sie sind genauso, wie ich Sie mir vorgestellt habe ... Sogar noch schlimmer. Eine verwöhnte, habgierige junge Frau, die nur ein Ziel kennt: Sich zu verbessern. Sie haben einen unbezähmten Geist, meine Liebe. So etwas wirkt auf mich unerhört anziehend.« »Mein Bruder würde Sie umbringen.« Zusätzlich mußte man ihr zugutehalten, daß sie wäh rend des Wortwechsels keinen Tropfen Brandy verschüt tet hatte. Ngen klatschte in die Hände. Erneut kam der Sklave hinterm Vorhang hervor. »Das ist ein Sklave, M'Klea. Ich schenke ihn Ihnen, nehmen Sie ihn mit. Er wird jeder Anweisung gehorchen, die Sie ihm erteilen. Er wird, wenn Sie es wollen, selbst seine Hand ins Feuer strecken, bis sich das geröstete Fleisch von den Knochen löst.« M'Klea musterte den stumpfäugigen Mann, ehe sie sich wieder an Van Chow wandte; ihre Miene spiegelte eine Mischung aus Neugierde und Verwirrung wider. »Warum? Welche Absicht verfolgen Sie, Messias?« »Ich versuche herauszufinden, was Sie dafür gäben, Imperatorin zu sein.« Ngen zuckte die Achseln. »Was wä re Ihnen unbegrenzte Macht wert? Um welchen Preis wä
ren Sie gerne meine Gattin? Was würden Sie dafür op fern?« Noch einmal betrachtete M'Klea den Sklaven, wohl nur, um Zeit zu gewinnen, während sie ihre Alternativen abwog. Aufmerksam und beherrscht besah sich Ngen, ins geheim jedoch vollauf hingerissen, ihr Profil. »Wer ist er?« »Darf ich sie mit Oberst Ben Mason bekanntmachen, vormals Kommandant des ehemaligen Patrouillen schlachtschiffs Gregorius, an dessen Bord Sie sich gegen wärtig aufhalten? Da sehen Sie's, ich habe Ihnen schon einen Patrouillenoberst als persönlichen Diener überlas sen.« Zufrieden wartete Ngen auf M'Kleas nächste Reak tion. Nun laß sie ihn mit einem Blick deutlicher Anteilnah me. »Sie meinen es ernst, stimmt's? Jetzt haben Sie meine Neugier geweckt. Weshalb ich?« Sie wölbte die gepfleg ten Brauen; in den wie ein See tiefblauen Abgründen ihrer Augen quirlte Interesse. Ngen wedelte, ein Lächeln der Belustigung auf den Lippen, mit der Hand. »Teils aus albernen Gründen ... Aber auch aufgrund einiger weniger banaler Überlegun gen. Erstens sind Sie eine der vollkommensten schönen Frauen, die mir je unter die Augen gekommen sind. Also rundum die Richtige für eine Gottgestalt wie mich. Zwei tens stammen Sie aus dem Hause Alhar und haben damit eine Herkunft, die am ehesten an das heranreicht, was an echtem Adel noch in der Galaxis vorhanden ist, mit Aus nahme vielleicht der Monarchen auf New Maine. Ich, Ngen Van Chow, Sohn einer Prostituierten, früher eine Hafenratte und ein Niemand, hätte eine Frau aus der Adelsfamilie der Alhars zur Gattin. Sie haben Courage, sind risikobereit ... Das ist mir schon an dem Tag aufge fallen, als ich im Palais Ihres Vaters gewesen bin. Und jetzt sind Sie hier. Darin sehe ich Beweis genug. Aber die Füße haben Sie mir nicht geküßt. Sie haben wegen mei ner Entgleisungen genau das stimmige Maß an Entrü
stung gezeigt, aber sich von Ihrer Empörung nicht aus der Fassung werfen lassen. Nein, M'Klea, von dem Tag an, als ich Sie auf Arpeggio gesehen habe, war ich der Hoffnung, Sie könnten meiner würdig sein. Sie haben die Fallen gemieden ... So wie den Tempel. Sie sind so pragmatisch wie ich. Übrigens, ich bin darüber erfreut, daß Sie Ihren Vater zu einem Tempelbesuch angeregt haben. Seither ver hält er sich Ihnen gegenüber viel fügsamer.« »Sie glauben also, ich bin für Sie die geeignete Gat tin?« Ein verstohlenes Lächeln umspielte M'Kleas Mund winkel. »Was würden Sie dafür geben?« Ngens Miene blieb ausdruckslos. »Sie haben alles, was ich bei einer Frau brauche und begehre. Und falls meine Charakteranalyse Ihrer Persönlichkeit richtig ist, müßten Sie für das, was ich zu bieten habe, sogar Ihre Seele einzutauschen gewillt sein.« »Torkild würde Sie für das töten, was Sie eben ange deutet haben«, sagte M'Klea mit fester Stimme, »selbst wenn er bloß einen Verdacht hätte.« Ngen verdutzte sie, indem er lachte. »Natürlich, liebe M'Klea. Diese Option steht Ihnen jederzeit frei. Ich ver mute, Sie würden Ihren ach so anhänglichen Bruder, soll te ich Sie verärgern, nur aufgrund dieser Laune sofort op fern und ins Unheil schicken. Wissen Sie, meine Liebe, genau darum habe ich Ihnen den Oberst überlassen: Um Ihnen zu verdeutlichen, daß Sie, falls Sie jemals so dumm sind, Ihren Bruder gegen mich aufzuhetzen, nicht bloß Oberst Mason, sondern Ihre vollzählige Familie als per sönliche Bedienstete haben werden.« M'Klea ersah das Maß seiner Entschiedenheit aus sei-ner Miene und rückte sich in den Kissen zurecht. Diesmal trank sie einen herzhafteren Schluck Brandy. Andeutungsweise neigte sie den Kopf schulterwärts. »Und was fällt mir zu, wenn ich Ihr Angebot annehme? Arpeggio?« »Sie können ein Dutzend Planeten haben, falls Sie's
wünschen. Der ganze Weltraum gehört Ihnen, wenn Sie an meiner Seite herrschen. Sie werden die Macht über Leben und Tod ausüben. Sie können jederzeit an jeden Ort, alles tun, was Sie wollen. Denken Sie an diese auf gute Partien geile Rivalinnen, mit denen Sie sich auf Arpeggio grämen mußten. Sie könnten sie unter Juwelen begraben, wenn Sie dazu Lust haben, oder im teuersten Parfüm ersäufen.« Ngen bog den Kopf zurück, wartete die Wirkung seiner Worte ab. Noch überlegte M'Klea. »Was dürfte ich nicht?« Ngen kannte kein Zögern. »Ich werde Sie den gräßlich sten Tod sterben lassen, sollten Sie je einen anderen Mann in Ihrem Bett haben. Andererseits werden Sie sich an meinem Umgang mit Frauen nicht stören.« M'Klea begegnete der Drohung festen Blicks. »Das ist alles?« »Das ist alles. Was sind Sie für Macht, Reichtum und mich zu geben bereit?« Ngen streckte einen Arm aus und streichelte mit den Fingern sachte den geschmeidigen Stoff, der M'Kleas Bein umfing. Sie griff zu und schob seine Hand fort, bevor sie auf stand und auf dem Svee-Moos-Teppichboden auf- und abzuschreiten anfing, schließlich vor dem kläglichen Überbleibsel Oberst Masons verhielt, sich den Mann nochmals ansah. »Wie machen Sie so etwas? Wie haben Sie den Oberst in so einen Zombie verwandelt? Durch das Verfahren, das auch in den Tempeln angewandt wird?« »Das Ergebnis wird durch die Methode einer sehr raf finierten Psychingtechnik erzielt. Sie ist der Kern meiner Macht. Innerhalb eines Monats werde ich auch den Sek tor Moskau unterworfen haben.« Scharfen Blicks beob achtete Ngen sie. »Auf Arpeggio ist der Prozeß gerade in die Wege geleitet worden. Es stimmt, der Zweck der Tem pel ist das Massenpsyching ... Und deshalb bin ich froh, weil Sie der Versuchung widerstanden haben, in den Tem pel zu gehen ...« Bedächtig nickte M'Klea. »So ähnlich hatte ich es mir
schon zurechtgereimt. Nicht einmal Torkild hat geahnt, um was es Ihnen gegangen ist.« »Ich erachte es als nicht erstrebenswert, daß meine ar peggianischen Kapitäne über diese Vorgänge Bescheid wissen. Dadurch könnten Probleme entstehen, gerade wenn ich diese Männer am dringendsten brauche. Ich stel le sicher, daß sie nie die Heimat anfliegen, und scheue dabei nicht einmal den Aufwand, sie unterwegs zu ihren Flugzielen mit Nachschub zu beliefern. Damit bei Subraum-Transduktions-Funkgesprächen nichts auffällt, wer den die Familien durch leichtes Psyching passabel kondi tioniert — wie Sie an Ihrem Vater Afid bestimmt gemerkt haben.« M'Klea drehte sich um und befingerte versonnen ihr Kinn. »Sie hätten auch mich psychen und auf diese Weise haben können, hätten Sie's unbedingt gewollt. Warum las sen Sie mir die Wahl? Was wird, falls ich ablehne? Grei fen Sie dann aufs Psychen zurück?« »Nein, ich werde Sie ungehindert gehen lassen. Selbst verständlich wird nie irgendwer glauben, was Sie über mich erzählen ... Und bis Sie auf Arpeggio eintreffen, wird's ohnehin völlig belanglos sein. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie kein Psyching zu befürchten brau chen.« »Damit ich mich reuevoll daran erinnern kann, was ich einmal ausgeschlagen habe?« »Ihr Bruder hat die Tiefe Ihrer intellektuellen Verstän digkeit wahrhaftig nie auch nur im entferntesten ausgelo tet.« M'Klea lachte; offensichtlich genoß sie die Situation. »Das alles ... für mich«, äußerte sie nachdenklich, indem satte Befriedigung ihrer Haut eine rosigere Färbung ver lieh. Sie atmete tief ein, brachte so ihre Brüste zum Schwellen. Mit einem Wink schickte Ngen den Sklaven weg. Der Mann tappte hinter den Vorhang. »Ich habe nie eine Frau gekannt, die bei mir ein derartiges Interesse wie Sie er
weckt hätte. Ich bin einmal einer bemerkenswerten Ro mananerin begegnet, aber sie war zu barbarisch, um zu begreifen, was ich ihr zu bieten hatte. Wissen Sie, eigent lich verabscheue ich Frauen. Ich finde Spaß daran, sie zugrundezurichten. Glauben Sie mir?« Still schritt M'Klea umher, die Hände auf dem Rücken, tief in Gedanken versunken. »Ja. Ich glaube Ihnen. Ich respektiere diese Ihre Eigenschaft. Auf meine Weise, müs sen Sie wissen, habe ich das gleiche mit jungen Männern getan. Je stärker sie mich begehrten, um so mehr konnte ich sie an der Nase herumführen — und ich habe sie in Torkilds Fäuste gelockt. Man könnte sagen, das war eine der wenigen Vergnügungen, die mir erlaubt waren. Und wie machen Sie es?« Seitwärts geneigten Kopfs und her ausfordernden Blicks schaute sie Ngen an. Ngen rief an seinem persönlichen Kommu-Terminal seine Privataufzeichnungen ab, und M'Klea schnappte gedämpft nach Luft, als sie sich dem Bildschirm zukehrte und darauf ein Abbild Ngens erscheinen sah. Unter seinem nackten Körper stöhnte und wand sich eine Frau. Ngen raunte mit sanfter Stimme neckisch auf sie ein, brachte sie mit durchaus echter Zärtlichkeit zu einem äußerst leidenschaftlichen sexuellen Höhe punkt. »Das Gerät, das Sie an ihren Schläfen sehen, dient zum Psychen. In diesem besonderen Fall hat es im Geist der jungen Frau die Vorstellung erzeugt, ich sei ihr Vater. Gleichzeitig wird die Furchtreaktion durch elektromagne tische Wellen unterdrückt, so daß der Körper auf eroti sche Reize völlig natürlich anspricht. Alle Empfindungen bleiben gänzlich unabgeschwächt. Dank meiner umfang reichen Erfahrungen bin ich gewissermaßen zu einem Fachmann der menschlichen Anatomie geworden. Kein Liebhaber hätte ihr die gleiche Lust wie ich bereiten kön nen.« Beim letzten Wort stand er auf, während schon Schweiß M'Kleas Leib befeuchtete, sie um Atem rang und
ihr Busen wogte. M'Klea erkannte Grauen in den Augen der Frau. Die unglückliche Person brach in Tränen aus krümmte sich schutzlos wie ein Fötus zusammen und wimmerte leise vor sich hin. »Wissen Sie, der Trick dabei ist«, erläuterte Ngen of fenherzig, »daß ich ihnen Selbstabscheu einflöße. Gehen wir einmal davon aus, daß ein menschliches Wesen aus Körper und Geist besteht. Normalerweise bilden diese ein einheitliches Ganzes, so wie es sich im jetzigen Moment bei Ihnen oder mir verhält. Was Sie eben gesehen haben, verlangte auf gewisse Weise Kunst. Erst erniedrige ich sie, indem ich sie sexuell in Besitz nehme. Das bedeutet keine Schwierigkeit, Männer haben dergleichen jahrtausende lang getrieben. Das Kunststück ist jedoch, sie auf Dauer sexuell in Besitz zu nehmen und zu unterwerfen, bis sie aus meinen Handlungen großen Lustgewinn erlangen. Während ihr Körper immer mehr nach mir zu lechzen beginnt, weicht ihr Geist voller stärkstem Haß, der anfangs mir gilt, immer weiter vor mir zurück. Aber indem sie zusehends feststellen, daß ihr körperliches Dasein mei ner Gewalt unterliegt — und man kann ihre Körper durch einfache Reaktionskonditionierung quasi abrichten —, kehrt ihr Haß sich nach und nach gegen sie selbst, sie internalisieren ihren gesamten Abscheu und die ganze Demütigung. Daran gehen sie, wie man so sagt, schließ lich kaputt.« Erstaunt über die Erregung in M'Kleas Augen, zeigte er ihr Aufnahmen mehrerer vollkommen degradierter Frau en. Ihm entging weder die Beschleunigung ihrer Atemzü ge, noch die Spannung, mit der die festen Brüste den Stoff ihrer Kleidung dehnten. An ihrem Halsansatz war ein auf fälliger, rosafarbener Fleck entstanden. Bei einer Frau, einem schwarzhaarigen, dunkelhäutigen, muskulösen Mädchen, das haßerfüllt aus dem Bildschirm zu starren schien, schaltete er auf Standbild um. »Sie ist Ihre einzige denkbare Rivalin, M'Klea. Da se hen Sie Susan Smith Andojar, die Romananerin, die ich
erwähnt habe. Sie lebt noch, und ich werde sie wohl töten müssen, weil es voraussichtlich nicht gelingen wird, sie ein zweites Mal gefangenzunehmen. Ich bezweifle, daß Sie sich ihretwegen jemals ernsthaft Sorgen zu machen brauchen. Sie ist viel zu wildentschlossen, mich abzu murksen. Sollte sie mir je wieder in die Hände fallen, werde ich sie lediglich zerschinden, so wie die anderen Weibsstücke.« M'Klea nickte. »Ich habe mich in Gedanken stets mit Männern wie Ihnen beschäftigt, Messias. Selbst in der abgeschiedenen Geschütztheit Arpeggios erfahren wir von solchen Dingen. Den Eindruck eines dumpfhirnigen Entarteten, den man uns von Ihnen vermittelt hat, hinter lassen Sie wirklich nicht im geringsten. Sie sind eindeutig kein Schwachkopf. Aber warum zeigen Sie mir diese Filme?« Ironisch verzog sie die Lippen. »Um mich noch mals auf die Probe zu stellen? Zu testen, ob ich in Gekreisch ausbreche und weglaufe?« »Bitte ...« Ehrlich unzufrieden winkte Ngen ab. >»Messias< klingt so gestelzt, meinen Sie nicht? Sagen Sie Ngen zu mir, meine Liebe. Ich habe Ihnen mein spe zielles Hobby nur aus dem Grund gezeigt, weil es zwi schen uns keine Geheimnisse geben soll. Ich möchte, daß unsere Beziehung ausschließlich auf gemeinsamer Ver ständigung beruht.« Er lächelte. »Ich brauche verzweifelt jemanden, zu dem ich Vertrauen haben kann. Es hat zwan zig Jahre gedauert, jemanden wie Sie zu finden. Sie wer den meine Gattin sein.« Behend erhob er sich und küßte M'Klea zart auf den Mund. »Falls ich mich zur Annahme Ihres Angebots ent schließe«, entgegnete M'Klea, streifte seine Hände von ihren Schultern und trat beiseite, drehte ihm ihr Profil zu. »Ist Ihnen klar, daß Sie der erste Mann sind, von dem ich je geküßt worden bin? Den letzten, der's versuchen woll te, hat Torkild umgebracht.« »Ich bitte Sie, M'Klea, Ihre Einwände sind überflüssig. Meine Leute haben Sie gecheckt. Sie sind Jungfrau.«
»Sie sind sehr hinterlistig. Es hieß, das Scanning ge schähe zu Sicherheitszwecken.« »Oh, das war nicht gelogen. Man hat Ihnen lediglich nicht die ganze Wahrheit gesagt. Risiken kann ich mir nicht leisten. Viele Menschen gäben so manches dafür, mich killen zu lassen.« M'Kleas Blick fiel erneut auf das Holo. »Sind Sie zu der Auffassung gelangt, daß ich Ihnen genug biete?« Ngens schwarze Brauen ruckten aufwärts. »Ziehen Sie die Kleider aus.« »Das ist eine dreiste Aufforderung«, antwortete M'Klea unschlüssig. »Seit mein Vater mein Deckchen angehoben hat, um nachzuschauen, ob sein Neugeborenes ein Junge oder ein Mädchen ist, hat kein Mann meinen Körper mehr nackt gesehen.« Ihre blauen Augen erwiderten Ngens Blick, schürten seine Begierde, so daß ihm das Blut laut durch die Adern pochte. Er konnte ihren feinen Duft rie chen, ihre Brüste sich beim Atmen heben und senken sehen. »Ist mein Angebot gut?« fragte er mit heiserer Stimme. »Wenn Sie Ihre Kleidung ablegen, biete ich Ihnen das Universum. Ich garantiere Ihnen, daß Sie ein lustvolles Erlebnis haben werden. Wie Sie vorhin selbst mitansehen konnten, habe ich ein großes Talent, was den weiblichen Körper betrifft.« M'Kleas Finger zitterten, als sie die Hände ans Kleid hob. Ngens Herz setzte für einen Schlag aus, das Blut rauschte in seinen Ohren. Aus Erwartung hatte er zu schwitzen begonnen. Nervös schluckte er, während M'Kleas diverse Kleidungsstücke in weichen Stoffbäu schen zu Boden schwebten, bis sie endlich nackt vor ihm stand. Er hörte sich aufstöhnen, sobald seine Finger ihren Körper berührten, ihn zu streicheln anfingen. Sein loses Gewand rutschte auf den Fußboden. M'Kleas Blick konzentrierte sich auf sein Glied. Es ragte ihr in einer makellosen Erektion entgegen, und er lächelte befriedigt. Er senkte M'Klea auf die Kissen, küßte
ihren Hals und die Brüste, kam zum erstenmal seit Jahren außer Atem. Sein Körper war erhitzt, M'Kleas Körper fühlte sich auf seiner Haut kühl an. »Weshalb jetzt?« flüsterte sie, als er mit einem dunklen Knie ihre alabasterhellen Schenkel teilte. Ngen erbebte vor Lust, während seine Hände an ihrem Leib hinabglitten. »Meine MedTechs haben dich ganz gründlich durchgecheckt, liebe M'Klea, du bist auf dem Höhepunkt des Eisprungs ... Im fruchtbarsten Zustand, meine Liebe. Also bist du in der geeignetsten Verfassung, um mein Kind zu empfangen.« Sie stöhnte, als er in sie eindrang.
23
PLANUNGSSAAL AN BORD DER PROJEKTIL
»Wir müssen etwas unternehmen.« Mit einem knorrigen Daumen massierte Ree sich die Brauen, weigerte sich, noch länger die Holo-Aufnahmen anzuschauen, die Neal Iverson per verschlüsseltem Transduktions-Funkspruch übermittelt hatte. »Spinnes Fluch, sehen Sie sich das mal an! Sie sind überall, in allen Stationen und auf allen Pla neten von Van Chows Machtsphäre. Horden sind's, das ist die richtige Bezeichnung. Genau wie in den alten Schmö kern der Konföderationsära. Horden.« Rings um die Anwesenden hatten sich Kaffeebecher, aufgestapelte Schreibfolien, Auszüge etlicher Berichte sowie ein Durcheinander von Kommu-Aufzeichnungen angehäuft. Eine Holo-Projektion der stellaren Domäne Van Chows bedeckte eine ganze Wand; Lichtpunkte in unterschiedlichen Farben glommen und verwiesen auf Territorien, in denen sich Padri eingenistet hatten, und Regionen, die ihnen zuzufallen drohten. Mühsam schluckte Eisenauge, blickte in die geistlosen Augen der Padri, die eine Gruppe von Iversons Sturmtrup pen angriffen. Irgendwo in seinen Eingeweiden verspürte er ein mulmiges Gefühl; der Anblick, der sich bot, berei tete ihm eine seelische Kränkung, der körperliche Nach wirkungen folgten. »Nachdem der Befehlshabende gefal len war, hat sich nichts geändert. Habt ihr das bemerkt? Solange der Offizier Befehle gab, blieben sie flexibel, stellten sich auf die jeweilige Situation um. Er war dazu fähig, die Aktionsweise zu lenken. Danach rennen sie ein fach nur an.« »Aber es sind ausgebildete Soldaten, John. Man kann beobachten, wie sie erfolgreich gegen Neals Truppe vor rücken. Es handelt sich um eine tadellos durchgeführte si rianische Gefechtstaktik. Neals Leute haben sich nur
gerettet, weil sie sie schon einmal auf Sirius erlebt hatten und einen Gegenangriff kannten, mit dem sie den An sturm brechen konnten. Am wichtigsten an diesen Kampf handlungen ist, daß sie die Padri bis zum letzten Mann niedermachen mußten. Bis zum letzten Mann! John, diese Männer ergreifen beim Anblick eines Roma naners nicht die Flucht. Man muß jeden einzelnen von die sen durch Spinne verfluchten Kerlen umbringen.« Eisenauges Finger umstrichen sein Kinn, während er dastand und weiter das Holo anschaute, bis der letzte Pa dre allein gegen die Patrouillensoldaten focht, unentwegt auf sie feuerte. Man forderte ihn zum Kapitulieren auf, aber er schoß unaufhörlich um sich, blieb für alles Zure den taub. Ein Blasterstrahl traf ihn schließlich mitten in die Brust und zerfetzte seinen Körper. Romananer in wei ßen Schutzpanzern gingen vor, besetzten die den Padri entrissenen Positionen längs der Krümmung der Stations wandung, gaben den Verwundeten den Gnadenstoß, nah men Coups. Ein Spähtrupp drang vorüber an Männern und Frauen vor, die kein einziges Mal von ihren Tätigkeiten aufblickten — an Maschinen arbeiteten, als wären sie selbst Maschinen. In Eisenauges Brust breitete sich ein Gefühl der Taubheit aus. Wie kämpfte man gegen einen solchen Gegner? Wie sollte ein Krieger auf dem Kriegs pfad gegen einen Feind Ehre erringen, der schon tot war in jeder, außer in körperlicher Hinsicht? Er erteilte durch das Kontaktron eine mentale Weisung, ließ den Holo-Film bis zu den Aufnahmen des Kampfge schehens zurücklaufen und stoppte ihn an einer Stelle, kurz bevor man den letzten Padre in Stücke geblastert hatte. Für einen ausgedehnten Moment betrachtete Eisen auge die leidenschaftlosen Augen des Mannes. »Wie konnte Ngen ...?« fragte Eisenauge mit belegter Stimme. »Was für eine Art von Mensch ist er? Und wir haben Skor Robinson für ein Ungeheuer gehalten ...!?« Fortgesetzt rieb Ree sich die Brauen, blieb den Blick zu heben außerstande. Die harten Konturen im Gesicht des
Admirals waren einem Ausdruck der Abgehärmtheit gewi chen, seine Wangen schwammig geworden. Während seine Schritte sonst markig gefallen waren, schleppte er sich jetzt schlaff seines Wegs, ganz wie ein Mann, dessen Körper sich nur noch nach Ruhe und Erholung sehnte. Ungefähr ähnlich sahen alle Anwesenden aus: Zu viele Stunden des Koordinierens der Logistik, der Vorbereitun gen für das Anpassen handelsüblicher Maschinenanlagen und herkömmlicher Transportsysteme an den militäri schen Bedarf sowie der Bemühungen, in drei verstreuten Raumsektoren eine kampftüchtige Flotte zu organisieren, lagen hinter ihnen. Die Monitoren im Planungssaal flackerten, auf man chen flimmerten Symbole, Statusmeldungen und Funk tionsanzeigen, wie man sie zur Führung eines Raum schiffs wie der Projektil haben mußte, auf anderen Bild schirmen sah man lesebereite Reports. Die weißen Wände des Schiff sinnern schienen Ree zu verhöhnen, als gehör ten sie zu einer Gruft, der er niemals entrinnen könnte. Sogar die Atemluft, so schien es, war stickig geworden; doch das war bloße Einbildung. Er kannte die Wunder, die die Luftaufbereitungsanlage leistete. Aber diese Luft ent hielt, egal wie gründlich sie präpariert wurde, nichts vom Geruch der Freiheit, nur Erinnerungen an endlose Stunden der Verzweiflung, des Planens und der Gegenplanung, um gegen einen Feind antreten zu können, der unbegreiflich blieb. Eisenauge drückte den Finger auf die Taste des Getränkespenders, orderte noch einen Becher Kaffee, um seine längst flattrigen Nerven anzuregen. Er schabte sich am Kinn und schlürfte ein paar Schlückchen, fühlte sei nen Magen infolge der Bitterkeit der im Kaffee enthalte nen Reizstoffe in Wallung geraten. So wie der Kaffee fade war, schien alles irgendwie sinnlos geworden zu sein. Und Rita? Sie war fort. Irgendwo draußen im All, unter Ngens fürchterlichen Scharen. Allein. Seinem Schutz entzogen.
»Wir können sie zu Hunderten töten«, erklärte Eisen auge, ließ sich mit gespreizten Gliedmaßen schlapp in den Sessel gegenüber Ree sinken. »Neals Leute haben's vorge macht. Obwohl sie im Verhältnis zwei zu eins un terlegen gewesen sind, haben sie keinen einzigen Verlust gehabt. Das Problem liegt in der Überzahl, die Ngen ge gen uns aufbieten, nicht in der Qualität der Truppen, die er einsetzen kann.« Ree bog den Hals rückwärts, schnitt eine Grimasse, als er Beschwerden in den müden Muskeln spürte, zog den Kopf ein. »Das ist ja eben das erschreckende: Wir haben keine Möglichkeit, so schnell Soldaten auszubilden ... Solange nicht, wie wir uns nicht dazu herablassen, die Rekruten, so wie Ngen es treibt, einfach zu psychen, und das wäre nur durchführbar, wenn Pike herausgefunden hat, wie die Geräte in den Tempeln funktionieren. Falls Pike, wenn er zu sich kommt, noch bei Verstand ist.« Eisenauge starrte in den schwarzen Kaffee, sah auf der Brühe Wellen in Form konzentrischer Ringe schwappen. »Ich ...« Ein Teil seines Innenlebens erregte schon jetzt einen Eindruck der Verderbtheit. »Ja?« »Damen, ich kann keine Krieger führen, die man ... Na, schau sie dir doch an!« Er gestikulierte in die Richtung des Holos. »Doch nicht solche Gestalten. Eher würde ich meine Seele zu Spinne zurückschicken.« »Ich wünschte, ich hätte dem etwas entgegenzuhalten. Das ist mein Ernst. Es könnte nämlich unsere Rettung sein. Aber wie soll ein Mensch mit Gewissen etwas derar tiges über sich bringen? Wie soll man dann noch sich selbst ertragen können? Hä? Wie?« Während des langen Schweigens, das sich nach seinen Worten hinzog, kaute Ree auf seinem Daumen. »Wir ste hen fassungslos vor der Schnelligkeit seiner Expansion. Ich versteh's schlichtweg nicht ... Verdammt, wie könnten wir ihm einen wirklich ernsten Schlag versetzen? Ihn bremsen? Sein Dschihad greift täglich weiter um sich.
Wohin hatte er seine Fabriken verlegt? Offenbar hat ihn bis jetzt nichts stoppen können. Wieso schließen sich ihm nach wie vor so viele Menschen an? Es ist doch offen sichtlich, daß man's mit einem menschlichen Monster zu tun hat, einem ...« Erbost hieb Ree die Hände auf die Armlehnen des Ses sels, daß es klatschte. »Die Menschen sind ratlos, Damen. Sie suchen einen Beschützer, sie wollen Sicherheit und Orientierung. Er macht ihnen ein entsprechendes Angebot. Er spricht nicht ihren Verstand an, sondern erfüllt mit seinen Worten ihre leeren Seelen. In diesen unruhigen Zeiten beschwichtigt sie sein Versprechen, für Stabilität zu sorgen.« »Wir senden unsere Aufklärungsreportagen auf allge mein empfänglichen Frequenzen. Er behauptet lediglich, sie seien reine Propaganda, eine Schmähkampagne, die angeblich nur beweist, wie tief wir gesunken sind.« Ree blinzelte und fuchtelte. »Dieser niederträchtige Inbegriff des Abschaums guckt in die Kamera und sagt: >Welche scheußliche Ausgeburt des Satans kann den Sohn Gottes so verleumden? Sehen Sie, was Satans Gewalt aus dem Direktorat gemacht hat? Erkennen Sie es nun? Aber ihre eigenen Worte sollen den Giftmischern zum Verhängnis werden. Blicken Sie in meine Augen und sagen Sie mir: Können Diener Deus' Schandtaten verüben?< Und noch mehr Leichtgläubige rennen in seine verfluchten Tempel. Weitere Krawalle richten sich gegen uns. Verdammt noch mal, er hat ein weitgespanntes Agentennetz aufgebaut, auf das wir erst jetzt allmählich aufmerksam werden.« »Ich glaube, ich habe geklärt, wo Chester steckt. Mark Reesh sagt, er sitzt oben in den Bärenbergen in einer Höhle.« Auf einmal verspürte Eisenauge Sehnsucht. Die Bärenberge ... Fast konnte er den Gebirgswind auf den Wangen fühlen, den Duft von Klingenbusch und Degen gras wahrnehmen. Doch momentan sah er vor sich ledig lich die vier Meter bis zur nächsten Wand. Ree straffte seine Haltung, erstmals seit längerem zeig
te sich in seinen ausgelaugten Gesichtszügen wieder ein Funke Enthusiasmus. »Gepriesen sei Spinnes Name! Kannst du mit ihm sprechen? Ihn fragen, ob er für uns in 'ner Reihe Propagandasendungen mitmacht? Vielleicht, vielleicht klappt es, Ngens Deus mit einem Propheten ent gegenzutreten, wenn die Menschen erleben, wie er die Zukunft vorhersagt und ... Und dann müssen sie sich doch fragen, wer es mit ihm aufnehmen kann? Das ist es doch, wie Ngen sie übertölpelt. Die Leute halten ihn tatsächlich für so einen verdammten Messias.« Aufmerksam sah Eisenauge seinen Freund an. »Pro pheten beunruhigen mich.« »Und ich drehe vor Verzweiflung fast durch, wenn ich an Ngen denke.« Eisenauge nickte; das Mißvergnügen in seiner Seele wühlte ekelhafte Empfindungen auf. Er schaute nochmals das Holo an, beobachtete die Menschen ohne Leben, die Ngen auf Habbers Stern zurückgelassen hatte. »In Spinnes Augen sind sie ein Greuel.« »Und wir werden genauso enden, wenn Chester nicht bereit ist, auch etwas dagegen zu tun.« Ree unterstrich seine Äußerung mit einem Heben des Zeigefingers. Eisenauge seufzte, der dunkle Fleck seiner Seele brannte wie eine Verbrühung. Und Rita befand sich dort draußen unter derartigen Menschenwesen? »Ich werde versuchen, Chester zu finden.« *
*
*
AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM ÜBERLICHTFLUG NACH WELT
»... Lust, meine süße Susan. Du wirst der Lust nicht wider stehen können, wenn ich deinen Leib beglücke ... Ich werde dich mit deiner eigenen Wonne bezwingen.« Aus
diesigem Schwarz säuselte Ngens Stimme auf Susan zu. Sie kauerte sich zusammen, drückte sich an die von Moder und Schimmel scheckige Gipswand, der Atem stockte ihr in der Kehle. Die Mauer gegenüber verwandelte sich inmitten geisterhaften Wallens in ein Gestrudel aus Schwaden schwärzlichen Rauchs. Wohin? Der Gang ver schwand im Wirbeln der getrübten Luft. Das Brodeln der Finsternis begann Susan zu umhüllen. Sie sprang auf, weil sie im Dunkeln die Nähe einer Hand Ngens spürte. Verzweifelt versuchte sie, sich seiner gesichtslosen Erscheinung mit Tritten zu erwehren. Doch die Mauer, die ihr eben noch Zuflucht geboten zu haben schien, erwies sich jetzt für sie als Falle, bannte sie wie eine besonders scheußliche Art von magnetischem Fixier feld, hielt sie fest, während Ngen sie zu kosen, die eroge nen Zonen ihres Körpers, der sich zu erwärmen begann, zu reizen anfing. »Nein!« schrie sie in die Dunkelheit. »Verdammt, Ngen, ich habe dich doch getötet!« Seine schmiegsamen Finger brachten ihr Fleisch zum Schaudern. »Du kannst dich mir nicht widersetzen, liebste Susan. In deinem Innersten weißt du das ganz genau ...Du wirst zu mir kommen ... kommen ... Bald wirst du wieder die Meine sein ...« Wie eine Rasende bäumte sie sich auf, wand sich und zappelte, widerstrebte der Zähigkeit, mit der die Mauer sie umfing, in höchster Panik. Als sie auf den Fußboden schlug, schrak sie aus dem Schlaf. Die Sensoren erfaßten den Aufprall ihres Körpers und fluteten die kleine Kabine mit Licht. Benommen starr te sie die Deckplatten unmittelbar vor ihrer Nase an, fühl te die schwachen, von leisem Summen begleiteten Vibra tionen des Raumschiffs. Das Bettzeug ihrer Koje war durch die Weise, wie sie sich im Schlaf hin- und hergewor fen, umhergewälzt haben mußte, völlig zerwühlt worden. »Heiliges Kanonenrohr ...!« Sie drosch eine Faust auf
den harten Graphstahl, rang um Atem, indem sie sich auf setzte; Spinnweben ähnliche Strähnen ihres zerzausten Haars fielen ihr ins Gesicht wie ein schwarzes Netz. Als sie sich aufrappelte, merkte sie, daß sie klamm war von eiskaltem Schweiß; sie stolperte in die Dusche und aktivierte sie per Handflächendruck. »Verflucht noch mal, Ngen ...!« Während des Anklei dens bemühte sie sich, ihre Gedankengänge zu ordnen. Die kurze Freude über den Sieg war verflogen; geblieben waren nur Ngen ... und die Träume. Das Tablett mit der Mahlzeit, die zu essen sie zu müde gewesen war, stand noch auf dem kleinen Tisch, war inzwischen abgekühlt und sah unappetitlich aus. Susan orderte am Automaten einen Becher heißen Kaffees und begann sich kalte Bissen über die widerwilligen Lippen zu schieben, aß lediglich, um bei Kräften zu bleiben. Das Knurren ihres Magens verebbte, während sie das Essen beendete, das Tablett wegstellte und sich den Becher mit Kaffee nachfüllen ließ. Die Filmkassette, die sie Mikros' Kommu-Apparat ent nommen hatte, lag ebenfalls noch auf dem Tischchen, sah nach nichts anderem aus als einer harmlosen schwarzen Scheibe. Eine Büchse der Pandora aus Ngens Händen. Welches Grauen würde sie freisetzen, wenn sie sie sich anschaute? Was könnte sie daraus über Pike erfahren? Wollte sie all das wirklich wissen? Nach mehreren, langen Minuten des Abwägens nahm sie die Kassette zur Hand. Das Plastik fühlte sich in ihren Fingern kühl an, flößte ihr trotz der geringen Größe Angst ein. Wieder zögerte Susan, betrachtete den Schlitz, in den sie die Kassette stecken mußte: Sie brauchte sie nur einzuführen, und dann ... Sie biß sich auf die Lippe und schob die Kassette in die Kommu. Während sie mit anschaute, wie man Pike und Reesh in das Zimmer schaff te, entkleidete, durchsuchte und auf die Paletten fesselte, trank sie Kaffee. Pallas Mikros kam. Einige weitere Minuten später ließ Susan den Kaffee
stehen und goß sich einen großen Whiskey ein. Danach einen zweiten; und noch einen. Als ihr Holo-Abbild an dem aufgedunsenen Fettwanst von Gouverneur vorbei hereinstürmte, hatte sie das Glas erneut geleert; trotzdem war ihr so nüchtern zumute, als wäre sie ein asketischer Prophet. Sie hätten Pallas mitnehmen und ihn von einem Fel senegel verschlingen lassen, einem langsamen Tod unter den Qualen des Lebendgefressenwerdens ausliefern sol len, statt ihm den gnädigen, schnellen Messerstich zu gön nen, den ihm die Hand Sam Eisenauge Smiths versetzt hatte. Hätten sie nur gewußt, was für ein Monstrum dort vor ihnen stand ...! Susan füllte ihre Lungen mit Luft, zwang sich dazu, obwohl es ihrem Gemüt davor grauste, sich manche Ab schnitte der schauderhaften Aufzeichnungen noch einmal anzusehen. Zwar mußte sie sich regelrecht selbst nötigen, aber sie lauschte wiederholt Ngen Van Chows freundlich gütiger Stimme, schaute wiederholte Male zu, wie ihr weichlicher Anthropologe, von Schmerzen zermürbt, den abartigen Überredungsversuchen widerstand, sah sich voller Abscheu mehrmals an, wie das weibliche Scheusal gemächlich Pikes Fleisch kaute. »Spinne? Solche verdammten ... Ich ...« Heftig schüt telte Susan den Kopf, zwinkerte und ballte die Hände zu Fäusten. Als sie erneut hinblickte, spielte sich auf dem Bildschirm immer noch dieselbe unglaubliche, höllische Szenerie ab. Sie beugte sich näher zum Monitor, hörte genauer zu, während Ngen etwas über schwarzhaarige Romananerinnen faselte. Der Mund wurde ihr wäßrig von Brechreiz. »S-Susan?« rief Pike mit Krächzstimme. Sie kniff fest die Augen zusammen; die Kabine rings um schien ihr seltsam fern zu sein. Vollkommen nieder geschmettert von dem Maß an Zerrüttung, das in dem ei nen Wörtchen zum Ausdruck gelangte, schaltete sie per Kommu die Wiedergabe ab.
Es schauderte ihr; sie fragte sich, ob es nicht die beste Lösung wäre, einfach die Med-Unit so zu adjustieren, daß Pike einschlummerte und nie mehr erwachte. »Und er hat nach mir gerufen ... Verfluchter Kerl ... Er kannte doch das Risiko. Er wußte Bescheid. Und er hat mich gerettet. Er und Reesh haben mir den Rücken gedeckt, während ich die Befehlshabende war ... Er ...« Aus ihrem ohnehin überreizten Magen stieg der widerli che Geschmack der Scham empor, verbreitete im Gaumen eine schale Ranzigkeit. Sie speicherte die Dokumentation, sicherte sie mit ih rem persönlichen Abrufcode und erhob sich, strich ihre Uniform glatt. Verdrossen betrachtete sie das Whiskey glas, verspürte Lust auf eine weitere Stärkung, entschied sich jedoch dagegen. Sie betätigte den Türöffner und be trat den Korridor. Die vorgenommenen Umbauten hatten aus dem Raumschiff ein einziges Flickwerk gemacht; überall verschandelten unregelmäßig geformte Ersatz platten und durch Röhren verlegte Energiekabel das Strah lendweiß der Patrouille. Der Raumer ist eine Behelfskonstruktion ... ähnlich wie meine Seele. Spinne allein weiß, wie gut ich oder das Schiff die letzte Probe bestehen werden. Gerufen hat er nach mir ...! Die sogenannte Bordklinik umfaßte lediglich einen kleineren, unmittelbar an der rundum Hauptabschirmung des Reaktors eingerichteten Raum. Die Decke bog sich seitlich herab, als befände man sich in einer Muschel. Ei gentlich gab es nur für vier Med-Einheiten Platz, doch hatte man, um den vorhandenen Raum voll zu nutzen, ei ne fünfte hineingezwängt. Trotz der Enge mochte infolge dessen also, sobald es ums Ganze ging, eine Person mehr mit dem Leben davonkommen. In einer Med-Einheit lag — lebendig, aber ohne Besinnung — der Prophet, im ausgemergelten, empfindsamen Gesicht einen zermarterten Ausdruck. Drei weitere Einheiten standen in tadelloser Sauberkeit leer in Bereitschaft; Stromkabel mündeten in
die rundlichen Behältnisse, die Monitoren blieben stumm. Und in der vordersten Med-Einheit ruhte Pike. Von ihrem Sitz herüber nickte die Ärztin, ein Fachbuch in den Fingern, vor sich sämtliche Überwachungsmonito ren ihrer Patienten im Blickfeld, Susan zu. Pike lag reglos auf dem Rücken ausgestreckt, ähnelte im glänzendweißen Gehäuse der Med-Einheit der Karika tur einer umgekippten Schildkröte. Er war bei Bewußt sein, blinzelte ihr entgegen, als sie sich näherte. Sonst rührte er sich nicht; sein Gesicht war so bleich, daß es ei ner schmutzigweißlichen Maske glich. Susan lehnte sich an die Seite der Med-Einheit, suchte angestrengt nach Worten. »Wie geht's?« brachte sie endlich hervor. Er sah sie nicht an. Ausschließlich ein leichtes Verknei fen des Munds zeigte, daß er die Frage gehört hatte. »Es tut mir leid, daß 's so lange gedauert hat, dich rauszuhauen. Wir haben so schnell eingegriffen, wie wir's konnten. Käme ich noch einmal in die Situation, würde ich ...« »Nicht«, sagte er heiser. »Entschuldigungen sind über flüssig.« Sein halb geistesabwesender Blick richtete sich auf irgendeinen Punkt außerhalb der weißen Deckenplat ten über seinem Kopf. Durch die schmale Schneise zwischen dem Haar, das ihr ums Gesicht herabhing, betrachtete Susan, die Arme fest verschränkt, Füße und Beine aneinandergepreßt, den Fußboden. »Wir haben Mikros und ... und das Wesen dort eliminiert. Hätten wir gewußt, was vorgegangen ist, hätten wir sie am Leben gelassen, dafür gesorgt, daß sie ...« »Es ist egal«, nuschelte Pike. »Nach dem, was sie ...« Er kniff die Lider zusammen, beim Schlucken zuckte seine Kehle. »Sie hat mich befummelt ... an den ... Dann hat sie ...« Stumm stand Susan bei ihm, wünschte sich, sie wüßte, was sie sagen sollte; sie kannte den Inhalt seiner gräm lichen Gedanken, vermochte sich genau vorzustellen, wie er in seinem Kopf angestrengt Mauern gegen die Erinne
rung zu errichten versuchte. Sie hatte, nachdem sie Van Chows psychisch-sexuellen Aggressionen entronnen war, das gleiche getan. Allerdings hielten die Mauern den Druck nie aus, ganz gleich, wie sie den mentalen Mörtel mischte, wie geschickt sie daran mauerte. Irgendwann gaben die Stützen nach, das seelische Bollwerk brach in Trümmer, das widerliche Gemurmel, das sich ihrem Ge dächtnis unauslöschlich eingeätzt hatte, suchte sie wie ei ne Flut erneut heim, drohte sie vollends zu zerrütten. Und er hat nach mir gerufen! Sei verflucht, Ngen! Du sollst verflucht sein, weil du mit den Seelen der Menschen Schindluder treibst. Du bist nichts als Abschaum, Van Chow. Eine Eiterblase in der kollektiven Psyche der Menschheit. »Dein Verstand ist noch vorhanden«, sagte sie mit lei ser Stimme. »Ich habe ihn auch wiedergefunden, nachdem er ... Nach dem, was er mit mir angestellt hatte. Ngen hat auch mir Hirn und Körper mißhandelt.« Sie hatte nervös, mit eckigen Bewegungen, die Hände zu rei ben begonnen. »Jetzt hast du die Kenntnis dieser Art von Grauen mit mir gemeinsam. Du weißt also, warum ich ... Weshalb Giorj bei mir gewesen ist, damit ich jemanden zum Reden hatte.« Unsicher musterte sie ihn; die eigene Einlassung verur sachte ihr Angst. »Ich bin da, wenn du mich brauchst. Du kannst mich jederzeit rufen. Dir werden Träume kommen. Ich habe festgestellt, daß es hilft, wenn jemand in der Nähe ist. Entsinnst du dich dessen, was du für mich getan hast? Ich ... ich werde gern ... Pike, ich bin für dich da. Denk daran.« Sie stemmte sich von der Med-Einheit in eine aufrech te Haltung hoch, wartete darauf, daß er sich dazu äußerte, ihr Antwort gab. Er befeuchtete sich die Lippen. »Die Träume treten schon auf. Sie sind ... immer in mir. Ich kann ... kann die Augen nicht vor ihnen verschließen. Das Psyching ... Diese Frau ...« Seine Stimme erstickte in einem Auf
schluchzen, und er schloß die Lider, eine einzelne Träne rann ihm über die Seite des Gesichts ins Haar der Kotelet ten. Susan faßte ihn an der Schulter und drückte sie kräftig. »Ruf mich, wenn du mich brauchst«, wiederholte sie. Ihre Beine regten sich mit der Anmut von Blei, wäh rend sie die freien Med-Einheiten umrundete. Mit einer Gebärde des Kopfs bat sie die Ärztin mit hinaus. In ihrem Leib rumorte es, die unverdaute Mahlzeit lastete als durchweichter Klumpen wie ein Eisengewicht in ihrem Magen. »Wie ist sein Zustand?« Die ganze Angelegenheit brachte sie zutiefst aus der Fassung: Ihre Schuld, Pikes Mut, die innerliche Hölle, die er durchlitt. Und am Rand ihres Bewußtseins lauerte immerzu Ngen. Er wartete ir gendwo draußen auf sie, gleich außerhalb, wie es schien, der sicheren Wandung des Raumschiffs. Die Medizinerin zuckte die Achseln. »Wir haben gewisse Behandlungsmethoden, etwa volle Elektrostimu lation und Polymeraseinjektionen, vorerst aufgeschoben, bis sich seine Verfassung stabilisiert. Es ist uns lieber, er findet erst einmal ein wenig Ruhe, bevor wir's mit einer Psychoadjustierung versuchen.« »Nein!« schnauzte Susan entschieden. »Kommt nicht in Frage! Das ist ein dienstlicher Befehl, Obergefreitin! Er hat schon unter einem Psychingapparat gelegen ... Reesh ist daran verreckt. Romananische Reaktion der schlimm sten Art. Hat ihm praktisch den Körper zerrissen. Danach ist dieselbe verdammte Maschine benutzt worden, um Pike zu drangsalieren. Verstehst du mich?« Sachlich nickte die Frau. »Pike ist kein Romananer. Jedes Psyching unterscheidet sich ...« »Hast du mich verstanden, Obergefreitin?!« »Jawohl, Kommandantin. Ich werde Ihre Anweisung in der Krankendatei speichern, damit hinsichtlich der Verant wortlichkeit keinerlei Unklarheiten entstehen.« Susan zögerte; ihre Lider wurden schmal. Nein, die
Obergefreitin wollte sich nur absichern. Für alle Fälle. »Außerdem sind sämtliche Veränderungen seines Zu stands — und wenn ich >sämtliche< sage, meine ich: aus nahmslos — mir unverzüglich zu melden.« »Ja, Kommandantin.« »Wie verhält's sich mit seinem Bein? Wann wird er wieder gehen können?« Susans erhitzt gewordener Blick schweifte hinüber zur Eingangstür der Bordklinik. Die Med mußte erst am Monitor nachschauen. »Falls kein Rückfall eintritt, wird der Großteil der Beinmuskeln sich innerhalb von sechs Wochen regenerieren. Die Infek tion haben wir unter Kontrolle. Er muß erst einen emotio nalen Rückwärtssprung tun, ehe wir zusätzlich Chemika lien zur Stimulation der DNS-Wachstumsmodi einsetzen können. Trotz allem ist er nicht so schwer verletzt, wie es beispielsweise durch einen Blastertreffer geschehen wäre, bei dem in der Regel auch Knochen regeneriert werden müssen. Der grundsätzliche Muskelbau steckt ja noch im Körper. Seine Zehen dürften ungefähr so schnell wie die Wadenmuskulatur nachwachsen. Die oberflächlichen Ver brennungen werden binnen einiger Tage geheilt sein. Er hat Beeinträchtigungen der Augen davongetragen, die wir später behandeln werden, offenbar sind sie ihm nahezu aus den Höhlen gedrückt worden. Das Trauma seiner Genita lien könnte sich als etwas schwieriger therapierbar erwei sen. Er weiß noch nicht Bescheid, aber wir haben den übriggebliebenen Hoden entfernt und regenerieren ihn. Außerdem haben wir einen Klon in Arbeit. Innerlich sind eine Anzahl Blutungen aufgetreten, im wesentlichen des Dickdarms, der Nieren und der Leber, und es liegt eine Herzquetschung vor. Man muß ihn ganz schön in die Man gel genommen haben, schon ehe man mit dem Verstüm meln angefangen hat. Stellenweise Schädigungen des Gehörnervs könnten längere Zeit zum Ausheilen bean spruchen. Alles in allem: Es wäre möglich, ihn in drei Wochen aus der Med-Einheit zu holen, wenn sie ihn wirk lich unbedingt brauchen. Aber berücksichtigen Sie, Kom
mandantin, ihn so früh in eine Normalsituation zurückzu versetzen, müßte einige bleibende Spätschäden hinterlas sen. Ich ließe ihn lieber länger in der Maschine, damit das gesamte Gewebe ordnungsgemäß zusammenwächst und wir Gelegenheit erhalten, die Folgewirkungen zu beob achten. Außerdem sind heilgymnastische Anwendungen angezeigt. Eine Reihe motorischer Nerven müssen regene riert werden, und die diesbezüglichen Fähigkeiten muß er sich neu erarbeiten. Insbesondere muß er wieder das Lau fen lernen. Und die Nerven der Geschlechtsteile ... Man hat ihm Stromstöße beachtlicher Stärke durch den Sakral plexus gejagt. Die Schädigung .. Tja, also ... nun ... es könnte sein, sie haben das Gehirn in Mitleidenschaft gezo gen.« »Sterben wird er also nicht?« »Nicht an der Folter. Aufgrund der körperlichen Wun den schwebt er in keiner kritischen Gefahr.« »Du machst dazu aber kein sonderlich optimistisches Gesicht, Doktorin.« »Ich habe >aufgrund der körperlichen Wunden< gesagt, Kommandantin. Aber was geht in seinem Kopf vor? Tja, das ist eine vollkommen andere Frage. Ohne das Psyching, das ...« »Ausgeschlossen.« »Dann kann ich für seine geistige Genesung oder seine spätere geistige Gesundheit keine Garantie übernehmen.« Die Ärztin verschränkte die Arme auf der Brust. »Sechs Wochen«, sagte Susan nachdenklich. »Hast du ihn schon informiert?« »Ja, aber ich hatte den Eindruck, er hat's nicht mitge kriegt«, antwortete die Medizinerin mit einem gewissen Unbehagen. Susan schaute die Obergefreitin strengen Blicks an. »Dieser Mann hat vor kurzem etwas ausgestanden, durch das von ihm nichts anderes als Wackelpudding hätte übrig sein dürfen. Das wirst du beachten.« »Ja, Kommandantin.«
Susan warf einen letzten, sorgenvollen Blick zu Pike hinein, bevor sie ging, um ihren Dienst auf der Komman dobrücke anzutreten. *
*
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TIEF IN DEN BÄRENBERGEN WELTS
Hohl hallte das Klirren eines eisernen Hufs auf Granit den steinigen Bergpfad herauf. Heiter-gelassen lächelte Chester. Er hatte den Aufent halt in der Höhle, die Abgeschiedenheit, sehr genossen. Der Besucher sollte ihm trotz seiner Aufgewühltheit des Gemüts willkommen sein. Im Tal hauste ein Bär und ver harrte häufig, um zu dem einzelnen Mann aufzulugen, der am Höhleneingang saß. Heute war der Bär, der den Ankömmling längst erspäht hatte, in höhergelegene Au en emporgestiegen, um der weniger scheuen Abart des Grünen Schnitters nachzustellen, die in den oberen grü nen Gebirgsgegenden lebten. Auf Propheten nahmen Bä ren soviel Rücksicht; jedem anderen Menschen dagegen würden sie auflauern. Aber warum sie sich so verhielten, blieb das Geheimnis der Bären. Auf der anderen Seite des Tals krochen die Schatten näher und verfinsterten die abgerundeten Auswüchse ver witterten Granits. Die Felsen, die sich auf den Bergkäm men schroff gegen den im Abkühlen begriffenen Himmel abhoben, strahlten im Ausklingen des Tages noch vom Sonnenscheins gespeicherte, brutwarme Hitze aus. Der Herbst war angebrochen, ganz Welt änderte, bevor die kühlen Regen herabzuprasseln anfingen, sein Gesicht. Hier in dieser Höhe würde bald Schnee fallen, das Sma ragdgrün der Grashänge zu goldbraunem Lehm aufwei chen. Chester drehte sich seitwärts, beugte sich vor undblik kte den Pfad hinab.
Die Rappenstute schnaubte und wieherte gedämpft, während sie die letzten Abstufungen des Pfads erklomm. »Ältester?« »Hier.« Der Reiter saß ab, griff mit kraftvoller Rechter die Zügel der Stute und führte sie das letzte Stück des Wegs. Chester neigte den Kopf zur Seite, lächelte zur Begrü ßung herzlich. Verlegen wartete der hochgewachsene An kömmling, hielt den Kopf respektvoll gesenkt. An seinem glänzend-verwetzten Ledergürtel hing ein Handblaster, während er das schwere Gewehr am Kolbenhals, wo er es im Gleichgewicht halten konnte, in der zernarbten Linken trug. Das ähnlich verschlissene Lederhemd wies als Ver zierung eine gemalte Spinne auf; am Gürtel baumelten zahlreiche seidig-schwarze Coups, verdeckten fast den langen romananischen Kriegsdolch. Schweiß und Blut hatten den ledernen Griff schwarz verfärbt. »Du brauchst da nicht herumzustehen, als wärst du ein Knabe, dem man beim Wühlen im Mist erwischt hat, Kriegshäuptling. Wir zwei sind alte Freunde.« Lässig deu tete Chester auf einen Felsklotz neben sich. »Sei ganz freimütig und komm dich stärken. Ich möchte nicht, daß du zaudrig bist oder dich mit übertriebenem Respekt ab plagst. Sei ganz du selbst.« Unbehaglich huschte Eisenauges Blick umher. »Ach, nun komm schon.« Unterdrückt lachte Chester. »Unter uns: Propheten finden geheimnisvolle Mittel und Wege, um zu vermeiden, daß sie ständig von Leuten belä stigt werden, die wissen wollen, was ihnen die Zukunft bringt. Da, nimm Platz. Genieße den Sonnenuntergang. Schön, nicht wahr? Schau dir mal diese imposanten Wol ken über den Gipfeln an. Was meinst du, wie viele Farben siehst du dort?« Eisenauge pflockte die Stute an und setzte sich beklommen auf den von Chester gezeigten Felsen. Nervös wandte er den Blick in den Westen, verkniff die Lider. »Alle Farben, die's gibt, würde ich sagen, Ältester.«
Leise lachte Chester, schaukelte auf seiner Decke hin und her, die Knie an den Brustkorb gezogen. »Ja, John, alle Farben. Setz dich für ein Weilchen zu mir. Sieh dir an, wie der Abend sich herabsenkt ... und lausche der Stille. Hier findet du für deine Seele Frieden. Nimm diese kleine Weile der Beschaulichkeit an und mache sie eins mit dir selbst. Speise mit diesem Momentchen der Ewigkeit deine Seele. Es kann sein, obschon nur Spinne es weiß, daß du in den kommenden Tagen dafür kaum Gelegenheit haben wirst.« Unruhig rückte Eisenauge sich auf dem Felsbrocken zurecht, ließ seinen Blick über die Berggipfel schweifen. Wie Wächter hüteten die letzten Piks der Bärenberge den Zugang zu den Plains und dem angrenzenden Meer. Ein kühles Windchen strich durch den Canon, ein sanfter Vor bote der Nacht, der die zwei Männer umschlich, wäh rend ringsum der Abend dunkelte, den Ausblick auf den anderen Abhang des Canons gräulich trübte. Schließlich seufzte Chester in die immer tiefer werden de Dunkelheit, drehte sich auf seiner Decke herum und knipste mit einem Tastendruck eine sirianische Lampe an. »Magie.« Er lächelte fröhlich. »Elektrizität«, berichtete Eisenauge. »Wir haben seit sechshundert Jahren Beleuchtung im Schiffswrack.« »Aber für sie braucht's den Generator. Ich habe den Generator gesehen, John. Er ist ein großes Ding, das summt und rattert, während es läuft. Diese Lampe ist ein kleiner Gegenstand. Ich kann sie überallhin mitnehmen, und sie funktioniert immer.« »Der Generator ist nur kleiner, Ältester.« Ein andersartiges Lächeln furchte Chesters breites Ge sicht. »Du wirst damit aufhören, mich >Ältester< zu nen nen.« Er hob eine Hand. »Widersprich nicht. Es ist dein Cusp. Wie du's in der Öffentlichkeit hältst, ist deine Sa che, aber hier, heute abend, und wenn wir allein sind, bin ich schlicht und einfach dein Verwandter mit Namen Che ster.«
Eisenauge nickte, richtete seinen Blick in den Höhlen eingang, der hinter der Sitzdecke des Propheten klaffte. Die Höhle war weit und geräumig, ein Erwachsener konn te darin problemlos stehen. Holo-Kuben, Decken so wie verschiedenerlei Bündel Gras und Utensilien hingen an Schnüren, die sich zwischen ins Felsgestein gehaue nen Nägeln spannten. Die Rückseite der Höhle blieb, so weit massige Vorsprünge der Feldwände sie nicht ohne hin verbargen, im Dunkeln unkenntlich. Der Sand auf dem Boden war zu seltsamen, aber dem Auge angenehmen geometrischen Muster geharkt worden. In einer Kochgru be lagen Reisig und Scheite von Säulenpflanzenholz gestapelt; letztere waren säuberlich mit einem Laser zer teilt worden. Noch mehr >Magie »Nett hast du's hier. Ich beneide dich.« Chester nickte, stand auf und richtete den Handlaser aufs Anmachholz. Flämmchen knisterten empor. »Du mußt etwas Zeit für dich haben, John. Darum habe ich dich zu mir reiten lassen. Du hast die Möglichkeit ver mißt, wieder einmal mit deiner Stute allein zu sein, im Feuerschein eines Lagerfeuers zu sitzen und die Sterne hervortreten zu sehen. Heute wird ein herrlicher Abend sein. Die Monde sind noch nicht aufgegangen. Keine Wol ken sind da, um die Sterne zu verhüllen. Ich habe ein paar Steaks im Kühlschrank. Und am Vormittag habe ich Melo nennüsse gepflückt. In diesem Topf ist romananischer Tee. Und in der Kanne da habe ich für später, wenn wir gemüt lich beisammengesessen, Scotch getrunken und uns wie in alten Zeit unterhalten haben, Kaffee warmge stellt. Zu vieles ändert sich zu schnell. Aus diesem Grund tut uns alles gut, was uns das Gute der Vergangenheit be wahrt — damit wir es in Erinnerung halten und nicht ver gessen —, und sollte gepflegt werden. Der Wandel ist unaufhaltsam, aber wir dürfen niemals außer acht lassen, was wir waren, wer wir sind und was aus uns wird. Alles fließt ineinander: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Unsere Seelen sind das Erzeugnis all dessen ... Und muß
ich jetzt ersehen, daß Zeit, Raum und Wahrnehmung alle Ausdruck ein und desselben sind ...?« Eisenauge stieß ein Lachen aus. »Man sollte es besser wissen, als versuchen einen Propheten zu überraschen. Ich vermute, du weißt, daß ich beschäftigt gewesen und aus der Siedelei fortgeritten bin, ohne mir irgend etwas einzu packen? So vieles fehlt mir ... Ich kann von Glück reden, daß ich an mein Gewehr gedacht habe.« »Sorgen bekommen dir schlecht, John. Mir ist bekannt, wieviel ihr, du und Ree, euch aufgebürdet habt. Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht, Kriegshäuptling.« Chester lächelte. »Ich will bei dir hinsichtlich der Zukunft keine Erwartungen wecken, indem ich sage, sie lebt. Ebensowe nig will ich dich belügen und behaupten, sie wäre in Sicherheit ... Zu viele Cusps sind noch fällig. Sie ist Krie gerin. Im Krieg wird eine unglaubliche Anzahl von Cusps entschieden. Viele davon betreffen Kleinigkeiten. Bis hinab zu der Frage, ob ein Mann den Blick senkt, um nachzuschauen, ob er sich den Hosenlatz zugeknöpft hat, oder nicht. Aber du kennst dich selbst damit aus. Es dro hen ständig Gefahren. Sie wird Proben unterworfen. In manchen meiner Visionen sehe ich sie heimkehren. In anderen ... Wir alle sind in Spinnes Netz verwoben.« Eisenauge nickte, schaute zu, wie Chester an Spießen Steaks über die rosig-rötliche Glut des Säulenholzfeuers legte. »Nein, Ältester ... Chester ... Ich suche dich nicht auf, um mich nach Rita zu erkundigen. Der Admiral und ich ...« »Psst, Eisenauge.« Chester schmunzelte. »Ich kenne den Anlaß deines Kommens. Genauso weiß ich, daß du meine Antwort nicht erfahren wirst, bevor du morgen früh deinen Fuß in den Steigbügel setzt, um zur Siedelei zurückzureiten. Weil ich es weiß, können wir uns Behag lichkeit gönnen, unser Beisammensein auskosten, alle Probleme und Widrigkeiten vergessen, vor denen wir ste hen. So wie eben den Sonnenuntergang laß uns auch den Abend genießen. Die Zeiten für solche Gelegenheiten ver
streichen, Kriegshäuptling, also muß man sie nutzen und sich daran erfreuen. Hier, trink diesen Becher Tee.« Erneut nickte Eisenauge, bemerkte am Rande des Feu erscheins die Rappenstute. »Einen Moment. Ich habe vor hin drunten einen Bach gesehen. Ist das Wasser gut?« »Es ist köstlich. Das Gras sprießt üppig. Ich scheuche die Grünen Schnitter weg, damit es so bleibt.« Eisenauge erhob sich, ging zu der Stute, schnallte den Sattel ab und warf ihn mitsamt der Satteltasche beiseite. Er löste das Zaumzeug, hakte die Führungsleine ans Half ter und lotste das Pferd hinab zu dem Gewässer, das sich unterhalb der Höhle zu einem kleinen See staute. Ei senauge band die Stute an einer Stelle fest, wo sie saufen und äsen konnte, ohne sich in der Leine zu verheddern. Mit den weichen Lippen knabberte die Rappenstute an seiner Hand. Weil sie darin kein Futter entdeckte, gab sie ihm einen derben Kopfstoß, ehe sie die Umgebung zu beschnüffeln anfing. Eisenauge lachte, tätschelte ihr den Hals und kraulte sie hinter den Ohren. Die Stute schüttel te den Schädel, wich ihm aus und trat zur Seite, um Gras zu atzen. Er bog den Kopf zurück und schnupperte in Welts düf tereicher Luft. Der Prophet hatte recht. Er brauchte diesen Abend, diese Gelegenheit, um seine Mitte wiederzufin den. Die Padri hatten zuviel von seiner Seele in Beschlag genommen. Und das andauernde Planen und Drillen. Das Grauenhafte dieser geistlosen Augen in den Holos. Eines Tages mußte er solchen Greuelgestalten mit dem Blaster in der Faust entgegentreten. Schon beim Gedanken daran fröstelte es ihn bis ins tiefste Innerste. Über ihm, hoch dro ben, blinkten die altvertrauten Sternbilder, ein flüchtiges Aufflammen zeigte die Beschleunigung eines im Orbit befindlichen Raumflugkörpers an. Welts Eindrücke füllten Eisenauge aus, besänftigten in seinem Gemüt Male des Grolls, Ängste und Sorgen entströmten ihm mit dem Atem. Zum erstenmal seit Tagen schwand die Anspannung
aus seinem müden Körper. Er lächelte hinauf zum oran geroten Schimmer, der Chesters Höhle erhellte, lenkte seine plötzlich leichteren Schritte den Pfad empor, pfiff ein Lied vor sich hin, dessen Melodie er auf Sirius gelernt hatte. Die Morgendämmerung verstrahlte gelbliche Lichtke gel in den Canon, brachte den rosa Granit in rot-orangenen Pastellfarbtönen zum Leuchten, während die Schatten hin ter den abgeschieferten Seitenpartien der Felshänge als bläulich-rotes Streifenmuster lasteten. Klingenbusch tüp felte das harte Felsgestein, die Wurzeln krallten sich in jeden Riß, jede Kerbe. Auf der Talsohle wuchs das Gras in kräftigem Hellgrün; da und dort zottelte ein Grüner Schnitter auf seinen sechs Stummelbeinen entlang, schlang sich Gewächse ins Maul. Chester trat vor die Höhle, einen letzten Becher damp fenden Kaffees in der Hand, während Eisenauge die Pfer dedecke über den Rücken der Stute breitete, anschließend mit der Mühelosigkeit des Geübten den Sattel an seinen Platz schwang und zurechtschob. Fügsam stand die Stute still. Er langte nach den Sattelgurten und schloß sie. Dann wandte er sich um und nahm dankbar den Becher entge gen, blickte talaufwärts, wo die Sonne gerade über den Gebirgsgrat lugte. »Wieder schließt sich ein Kreis«, sagte Chester demü tig. »Von der Abend- zur Morgenfrühe. Den Menschen entgeht viel, wenn sie so schlichte Wahrheiten überse hen.« Versonnen nickte Eisenauge. »Ja, leider. Aber einige von uns müssen sicherstellen, daß uns überhaupt die Frei heit bleibt, um wenigstens so weit zu sehen. Ngen stellt Heere aus Seelenlosen auf. Für mich sind diese Kreaturen ein Greuel, Chester.« Der Prophet nickte, faltete die braunen Finger vor dem Bauch. »Sie sind ein Greuel für Spinne. Ein Verstoß gegen eines seiner wenigen Gesetze: Das des freien Willens.«
Nachdenklich neigte Eisenauge den Kopf. Er setzte einen Fuß in den Steigbügel, saß auf und blickte dem Pro pheten aus dem Sattel in die Augen, um zu ergründen, wieviel er am Vorabend erreicht hatte. »Wir brauchen dich, Chester. Der Admiral hat mich geschickt, um her auszufinden, ob du an Bord der Projektil zu kommen be reit bist. Du wirst gebraucht, um zur ganzen Menschheit zu sprechen. Es bedarf eines Propheten, um die Galaxis über Ngens falschen Gott Deus aufzuklären und ...« Chester lächelte, während er, den Ansatz eines bitter süßen Lächelns auf den Lippen, bedächtig den Kopf schüttelte. »Der Cusp liegt nicht bei mir, Eisenauge. Ich kann nicht den freien Willen einschränken. Nicht einmal zu Gunsten der Menschheit ... Obwohl sie mich im Rah men meiner Studien auf faszinierende Weise beschäftigt. Nein, ihr braucht jemanden, der stärker als ich ist. Sollte er bei der Auseinandersetzung mit seinem Cusp sterben ... Nun ja, dann müßt ihr euch selbst behelfen. Ich ... ich habe meine Wahl längst getroffen ... Den Cusp entschieden, der mich auf den Weg geleitet hat, den ich jetzt beschreite.« »Chester, du verstehst nicht den Ernst der ...« Der Prophet hob seine sonnengebräunte Hand. »Alle deine Argumente sind mir ersichtlich ... So wie deine Ver zweiflung. Ich muß tun, was ich tun muß. Ich glaube, du begreifst mich.« Eisenauge nickte, leerte den restlichen Kaffee aus dem Becher und gab das Gefäß mit gutmütigem Lächeln zurück. »So wie ich dich vor längerem in Großer Manns Santoslager begriffen habe. Jedenfalls glaube ich, daß ich dich verstehe. Und vielen Dank für den gestrigen Abend, Chester. Heute habe ich wieder ein besseres Verhältnis zum Dasein. Ich war drauf und dran, etwas zu verlieren, das ... Na, du weißt Bescheid.« Chester Armijo Garcia sah dem hünenhaften Kriegs häuptling nach, während Eisenauge seine Rappenstute wendete und sie den Pfad hinunter zur grasbewachsenen Talsohle des Canons lenkte.
Einmal drehte sich Eisenauge um, ehe er die Stute zum Trab antrieb, und winkte. Chester lächelte, sammelte seine Töpfe und Tiegel auf und spazierte hinab an den See, um sie zu waschen. »Und wenn du irgendwann Rückschau hältst, Kriegshäuptling, wirst du erkennen, wie schrecklich deine Cusps wirklich sind. Es ist ein Segen, nur die Vergangen heit zu kennen. In die Zukunft zu blicken, ist viel grausa mer.«
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BORDKLINIK DER SPINNES VERGELTUNG
Darwin Pike schauderte zusammen und ließ die Lider sin ken. Sobald er die Augen geschlossen hatte, entstand aus dem Chaos in seinem Kopf das Bild des Psychingapparats. So kristallklar deutlich sah er das Gerät vor Augen, als befände er sich wieder in dem grauenvollen Zimmer auf Basar. Es dehnte sich aus, als bestünde es aus irgendeinem entarteten Schwamm, wurde zu einer Widerlichkeit aus Metall, die Spinnes Gestalt verdunkelte, den einzigen Schutz. Um ihn von der Realität abzutrennen, dem Uni versum, wie er es kannte und durchschaute. Er widersetz te sich dem Drang zu schreien, biß die Kiefer aufeinander, bis die Zähne wehtaten. Solange er über sich die Spinne gesehen und sie ihm Mut eingeflößt gehabt hatte, war es ihm gelungen, sich zu behaupten, Stärke zu bewahren, trotz der Schmerzen und des Entsetzens standzuhalten. Könnte er nur schreien, einfach schreien, schreien. Lange genug schreien, um sich alles aus dem Leib zu schreien. Sich die Erinnerungsbilder aus dem Kopf zu schreien. Oder von der Seele. Oder vielleicht bloß für eine Sekunde einen Blaster in die Hand kriegen. Kaum einen Augenblick würde es dauern, und alle Qualen wären beseitigt, ausgemerzt in einem grellen Blitz, gemeinsam mit seinem Hirn und Schädel zu Atomen zerstoben. Dann wäre das Leid behoben, es für immer vorbei mit den Erinnerungen, hätte er sie ausgelöscht. Er blinzelte und atmete tief ein, versuchte die zerfran sten Bestandteile seines Bewußtseins, die in ihrer Zerrüt tung durcheinanderjagten, zu beschwichtigen. Er hatte das Erlebnis hinter sich. Allerdings waren die Erinnerungen
genauso Wirklichkeit: Er hatte das Grauen erlebt; und er erlebte es jetzt. Susan hatte ihm einen Besuch abgestattet; ihre Besorg nis hatte für ihn sehr gezählt. Er wünschte, er hätte es fer tiggebracht, sie anzuschauen und zu fragen, ob er sich nun endlich ihren Respekt verdient hatte. Zur Aufmunterung hatte sie ihm die Schulter gedrückt, und für einen Moment waren Einsamkeit und Angst von ihm gewichen. Er war von ihr wie ein Mensch behandelt worden, nicht wie ein nichtsnutziges Stück Dreck. Aber hatte Reesh nicht erwähnt, sie hätte Männer kastriert? Sie während der Kämpfe auf Sirius entmannt, ähnlich wie andere Krieger Coups nahmen? Ein scheußliches Phantasiebild Susans als Kannibalin kam ihm: Ihre blutbesudelten Kiefer kauten an seinem abgeschnittenen Glied. Im Hintergrund seines Wesens regte sich eine unheimliche, unsinnige Furcht. Susan? Sie und sein Fleisch verzehren? Nein. »Aber sie hat Männer kastriert ...« Eine andere Vorstel lung Susans: Ihre Augen blitzten, silbern sauste der Dolch herab. Ein Schnitt durchstach scharf seinen Unter leib, und als sie sich aufrichtete, hielt sie sein blutiges Geschlechtsteil in der Hand. Aus Pikes eingeschnürter Kehle drang ein heiseres Röcheln. Er versuchte zu schlucken; sein Mund war dermaßen ausgedörrt, daß die Zunge am Gaumen klebte. Die MedEinheit sedierte ihn wieder, er spürte, wie sich seine Kör pervorgänge verlangsamten. Er stöhnte auf, weil er wuß te, daß gleich hinter dem Horizont seines Bewußtseins die Träume lauerten. Er wollte schreien, doch Pallas Mi kros beugte sich über ihn, in seiner Hand blitzte das Skal pell. Die Klinge senkte sich. Er konnte sie fühlen; er spür te sie völlig realistisch. Sie entfernte ein rotes, von Blut nasses Stückchen seines Körpers. Dem folgte das gluthei ße Brennen, als Pallas die Wunde kauterisierte, durchseng te seine Nerven bis herauf ins Gehirn.
Pikes trockene, gemarterte Augen blieben zwangs weise auf die Frau geheftet, deren rabenschwarzes, ge locktes Haar ihr bis auf die Schultern wellte und schim merte; Pallas reichte ihr die blutige Kugel. Darwin war es verwehrt, den Blick abzuwenden oder die Augen zu schließen, während er mitansah, wie sie sein lebendes Fleisch in den roten Mund stopfte, es mit der Zunge zu rechtwälzte und zubiß. In seinem zermürbten Geist wur de die Erinnerung an diese unerbittlichen Kiefer immer noch deutlicher. Hin und her mahlten die Kiefer, kauten im Takt seines überlauten Herzschlags. »Eine Frau wie Tiara ...«, erklang Ngens leise Stimme, als sickerte eine samtige Flüssigkeit in den Traum, durch tränkte ihn. Und das Gesicht ... das schöne Gesicht ... formte sich ein wenig um, der Knochenbau nahm ein zierlicheres Aussehen an, die Wangen wurden hohl. Und im Licht glänzte, während sie mampfte, bläulich-schwarz Susans Haar. Darwin stockte der Atem, während Ngen auf ihn ein raunte. »Eine Frau mit schwarzem Haar und tiefen, lei denschaftlichen Augen. Eine Frau mit einer Haut wie Seide. Fühlst du sie, Darwin? Spürst du ihre Wärme? Denk an sie. Denk an sie und daran, wie gerne du jetzt bei ihr wärst ... wie gerne du sie in den Armen hieltest, um ihre Liebe zu genießen.« Und Susan begaffte ihn aus geistlosen Augen, wäh rend sie nach ihm griff, auf ihren Lippen schimmerte Blut, rann ihr aufs Kinn und auf den Hals. Pikes Aufheulen zerriß ihm die Seele, fegte ihm den Belag von der Kehle. Die Erinnerungen strudelten davon und verschwam men in Grauschleiern. Stimmen. Ein Herandämmern von Wirklichem. Ein wie durch Dunst gesehener Anblick. »Es ist nichts. Nur ein schlechter Traum. Wenn ich bloß das Psyching anwenden dürfte ... Das halbe Schiff muß ihn gehört haben ...«
Darwin schwebte, trieb dahin, sank in wie Nebel diffu se Wallen. »Wenn ich bloß das Psyching anwenden dürfte ... das Psyching ... das ...« Seine Seele schrak zurück, wimmerte ein Klagen wie ein Gespenst. »Sei mein Freund ...«, bat Ngens Stimme, tastete sich wie mit Fühlern in Darwins Geist. »So muß es doch nicht weitergehen ... Deine Freunde haben dich längst abge schrieben. Wo stecken sie denn jetzt ...? Laß uns dem Leid ein Ende machen ...Du selbst, mein Freund, kannst diesem schrecklichen Alptraum ein Ende bereiten. Sprich ganz einfach mit uns ... Laß dir von uns helfen.« Die sanften Klänge der Stimme schwatzten schmeich lerisch auf Pike ein, unterminierten nach und nach die Wurzeln seiner Widerstandskraft, untergruben Stück um Stück seinen Willen. Weil er sich ihr nicht zu entziehen vermochte, hebelte das honigsüße Geseire allmählich die Grundfesten seines Gemüts locker, erweiterte die bedroh lichen Risse in seinem Geist. Der Schweiß, der Mikros' Nase hinablief, glitzerte in der Beleuchtung, brannte in Pikes frischen, offenen Wun den, indem er hineintropfte. Ngens Stimme leierte unauf hörlich weiter, wühlte ihre Einflüsterungen wie Fühler in seinen Verstand. Jede Sekunde dehnte sich aus, bis sie ei ner Ewigkeit nahekam. Sechzig solche Ewigkeiten bilde ten eine Minute, die Minuten reihten sich zu einer Stunde aneinander, aus den Stunden wurde ein Tag, Tage mehr ten sich zu einer Woche, einem Monat, einer Lebenszeit und schließlich einer Unendlichkeit. Kaleidoskopische Erinnerungsmomente drangen auf Pike ein, Geflügelter Stier Reeshs Geheul durchgellten ihn, als das Psyching erneut einen Funken Spinnes aus löschte. Darwin blickte in sein Inneres, sah Geflügelter Stiers Geist, empfand die auf sich geladene Schuld und erkannte, er würde Reeshs Schreie sein Leben lang hören. Er hatte seinen Freund diesem gräßlichen Tod entgegenge führt. Das gespenstisch-hohle Klagen der Kinder und Wit wen Reeshs winselte ohne Ende ein Echo.
Nur Spinne hatte ihm beigestanden, über ihm ge schwebt: Unüberwindlicher Spinne. Dann folgte das Psy ching, und Spinne ... Spinne ... Aus dem Gestrudel von Schwarz wallte die Zukunft wie ein höllischer Erguß auf Pike zu. Rundum flackerten die Sterne ein letztes Mal und erloschen. In interstellarem Sternenwind schwoll ein geisterhaftes Stöhnen an — das Todesröcheln dahingeraffter Milliarden — und verklang, das Licht der Ewigkeit und das Nichts des Todes saugten das vielfache Elend auf wie ein Mahlstrom. Als er eine Hand hob, um den Andrang abzuwehren, schaute er eine fürchterliche Offenbarung, einen unübersehbaren Alp traum verrenkter Leichen, Millionen über Millionen, die Augen leer, doch die Kiefer bewegten sich, kauten. Sie trudelten näher, rülpsten ihm den Auswurf des Künftigen entgegen, Tausende von Krallenfingern schlugen nach ihm, bohrten sich in seine schutzlose Haut, aus verwa schenem Dunkel hackten messerscharfe Fingernägel. Er wandte sich ab, wollte die Flucht ergreifen, voller Panik ausreißen — doch da stand Susan vor ihm, der stin kige Wind wehte ihr das schwarze Haar um den Kopf. Er verharrte, hatte unter den Füßen plötzlich glasigen, von warmem Blut klebrig-schlüpfrigen Boden. Er warf einen kurzen Blick abwärts und erstarrte, heiß schoß ihm Furcht das Rückgrat herauf — und sah nur die Knochen seiner entfleischten Füße durch die Brühe rutschen. Mit einem Aufwinseln hob er den Blick — zu spät, um Susans Armen noch ausweichen zu können. Sie packte ihn, starke Finger drückten sich seinem Fleisch ein, seng ten bis ins Mark. Susan beugte sich über ihn, öffnete den blutigen Mund. Erbärmlich wimmerte er, während ihre Zähne sich in seinen Leib gruben. Ewigkeit umfing Pike. *
*
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Ein andere Realität: Schmerz. Pike zwinkerte, schlug die Augen auf; ein PatrouillenSanitätsobergefreiter untersuchte ihn mit einem Instru ment, das unregelmäßiges Licht in die Pupillen strahlte, seine Augen. Dazu stellte der Med ihm sinnlose Fragen. Manchmal antwortete er; manchmal nicht. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen. Wie Spinne durch den Psychingapparat verdrängt wor den war, so hatte die Maschine auch Pikes Willenskraft zermalmt. Zusammen mit Brocken seines Fleischs hatte die Kannibalin mit den toten Augen auch Teile seiner Seele gefressen. Ähnlich wie Ngen die Galaxis ver schlang, Menschen die Seelen raubte; wie er Darwin Pike die Seele entrissen hatte. Jetzt war Ngens Kannibalin tot — wahrscheinlich verweste sie schon —, nahm den Pike entwundenen Teil seiner Seele in die Hölle mit, die wohl ihre Endstation sein mußte. Doch alles bestand aus einer oder anderer Art von Hölle. Das Dasein war ein einziges Leiden, nur unzureichend übertüncht mit gelegentlichen, kurzen Illusionen des Glücks. Susan hat Männer kastriert. Reesh hat es mir erzählt. Das Ganze ist Wahrheit. Was Ngen gesagt hat ... beruht auf Tatsachen. Der MedTech checkte die Monitoren, nickte und trat zurück. Etwas fiel Pike ein. »Sind meine Privatsachen gebracht worden?« »Ich glaube, es ist alles da.« »Ich hatte ein altes Messer«, rief Pike in plötzlicher Verzweiflung. »Es ist doch nicht zurückgeblieben, oder? Mein Großvater hat's in einem alten Flugzeugwrack ge funden. Es ist 'n Erbstück. Ich muß es haben!« »He, mal langsam!« Der Med legte Pike eine Hand auf die Schulter, versuchte ihn zu beruhigen. Er bückte sich, kramte in einer Schublade. Hohl klapperten Gegenstände. »Ja, es ist da. Hier, sehen Sie? Alles ist bestens. Also bewahren Sie Ruhe. Ich möchte, daß Sie nun ein paar tiefe
Atemzüge tun und sich innerlich völlig auf Heilung und Genesung konzentrieren, ja? Das ist gegenwärtig am wichtigsten. Wir müssen Sie wiederherstellen.« »Wiederherstellen, ja klar«, nuschelte Pike halblaut. »Danke.« Er drückte das Messer an seine Brust. Der Sani winkte ihm zu und entfernte sich. Aufmerksam verfolgte Pikes Blick ihm zum Ausgang. Der Alaskaner lächelte vor sich hin. Die Med-Einheit würde ihn nun für eine Weile wachhalten. Es stand zu er warten, daß unterdessen die Wachsamkeit des Oberge freiten nachließ. Und dann? Ganz einfach. Es kam nur dar auf an, die Klinge an genau dem richtigen Punkt anzuset zen und mit aller Kraft nach unten zu stoßen. Er mußte das Rückenmark durchtrennen, oder die Med-Einheit mäße ein Absinken der Körperblutmenge und gäbe Alarm. Er sah den Med hinausgehen und hob das Messer, blickte an seinen Armen hinab und bemerkte, wie seine Sicht im Umkreis der Hände und der scharfen Klinge ver schwamm. Der Griff fühlte sich hart an; die von Pallas ausgerenkten Finger spürte er kaum. Das Solinger Messer schwebte wie eine Speerspitze über der Mitte seines Bewußtseins. Der Moment war da. »Bist du mit dem zufrieden, was du Spinne zu senden beabsichtigst?« erkundigte sich eine leise Stimme. Pike hielt inne, seine Muskeln zitterten. Niemand keif te Alarmrufe. Er bewegte den Mund, betrachtete die scharfe Spitze, ihm begannen vor Anstrengung die Arme zu beben. Er schluckte, schielte hastig zur Seite. Der Pro phet beobachtete ihn strengen Blicks. »Deine Seele vorsätzlich Spinne zurückzuschicken, ist Vermessenheit, meinst du nicht? Du maßt dir an, zu wis sen, wann Gott deine Seele zurückhaben will. Warum glaubst du, Spinne wüßte diesen Zeitpunkt nicht selbst? Bist du klüger als Gott, Dr. Pike?« »Ich ... ich will nicht ... mehr leben.« »Ein Santos hat einmal gefragt, ob du würdig bist.« Der Prophet sprach jetzt in verständnisvollem, freund
licherem Tonfall. »Wie lautet dein eigenes Urteil? Hältst du dich für würdig?« »Du ... du hast ja keine Ahnung«, flüsterte Pike, fühlte Tränen in seinen Augenwinkeln brennen. »Du warst nicht dabei ... Du kannst's nicht verstehen ...!« Er schnaubte durch die verstopfte Nase. Der Prophet lächelte und nickte. »Dein verlorenes Fleisch war nichts als eine Anhäufung von Zellen, An thropologe. Fleisch wächst nach. Wie sonderbar, daß du dir einbildest, deine Seele sei eins mit dem Körper. Die Seele ist ein Teil Spinnes, ein Fünkchen Gottes. Sollte deine Ansicht etwa bedeuten, daß Sam Eisenauge, als er die Kurtisane enthauptete und bei ihr den Coup nahm, den Teil Spinnes tötete, den sie verzehrt hatte? Das wäre ein abenteuerliches Schicksal für einen so kleinen Anteil Spinnes gewesen.« »Woher weißt du davon?« Offenen Munds stierte Pike ihn an. »Ich bin wochenlang bewußtlos gewesen. Du kannst unmöglich ... Du kannst überhaupt nicht ... Das gibt's doch nicht!« »Du selbst wirst mir über deine Gedanken und deine schrecklichen Träume alles erzählen. Ich weiß es aus einer Vision, Darwin. Ich habe dich auch tot daliegen sehen, im Hals das Messer. Eine weitere Möglichkeit ist, daß du infolge verletzten Rückenmarks vom Hals abwärts gelähmt wirst. Die Entscheidung ist dir überlassen — es ist dein Cusp —, ich darf dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich kann dir voraussagen, daß Susan versuchen wird, sobald sie erfährt, daß du nach deinem Messer gefragt hast, es dir fortzunehmen. Der Mediziner hat der Kom mandantin noch nicht Meldung gemacht. Du hast, abhän gig davon, wie groß deine Entschlossenheit ist oder wie gründlich du dir einreden kannst, im Recht zu sein, noch ungefähr eine Minute Zeit, um dich zu töten oder zu ver sehren. Spinne hat dir Beistand geleistet. Er wird dich nicht beeinflussen, falls du dich nun entschließt, dich gegen ihn zu stellen. Spinnes Hauptinteresse gilt dem
freien Willen. Es ist dein Cusp. Was wirst du tun? Was wirst du Spinne lehren?« Patans Ton blieb gütig, herzlich. Darwin besah sich das Messer. Dann richtete er den Blick wieder auf den Propheten. »Macht es einen Unter schied aus, ob's so oder so kommt? Wird die Welt nach meinem Tod stillstehen? Wird es irgendwen scheren, wenn ich tot bin?« Er schwieg; bittere Ironie umzuckte seine Lippen. »Werden die Erinnerungen je verschwin den, wenn ich weiterlebe, wird die Erniedrigung je nach lassen? Kann ... kann ich das Geschehene vergessen?« »Es wäre ein Hohn, würdest du es vergessen. Niemand von uns geht durchs Leben, nur um es zu vergessen, Dar win Pike. Die Frist ist fast abgelaufen. Wenn es dein Wunsch ist, töte dich nun. Wenn nicht, tu nichts ... Auch das ist eine Entscheidung.« Der Blick aus Patans müden Augen blieb fest. Zur Aufmunterung lächelte er Pike nochmals zu; diese Geste besagte mehr als Worte. Darwin schluckte, spürte sein Herz wummern. Kühl und glatt lag der Griff des Messers in seinen Händen. Er brauchte es nur kräftiger zu fassen, an der Klinge hinab zublicken ... und wuchtig genug zuzustechen, um die Rückenwirbel zu durchtrennen. Mehr wäre nicht nötig. Genügend Kraft hatte er, und das Messer war mörderisch scharf und spitz. Woher weiß der Prophet soviel ? Was hat er gemeint ? Wieso wäre es ein Hohn, die vielen, langen Stunden der Qualen, des Leidens und der Schrecknisse zu vergessen? Kehre ich Spinne den Rücken zu ? Ruhig legte Darwin Pike das Messer am Rand des klei nen, an der Seite der Med-Einheit festgeklammerten Tabletts ab. »Aha ...« Patan Andojar Garcia seufzte, schloß die Li der, als sähe er etwas in seinem Kopf. »Es verblüfft mich noch immer, aber ich habe an Erfahrungen gewonnen. Du hast mich viel gelehrt, Darwin, während ich deinen Weg verfolgt habe. Ich habe mir angewöhnt, mich von Zeit und Ereignissen einfach durchfließen zu lassen. All das ist
außerordentlich faszinierend. Man muß nicht alles wissen. Es wäre unsinnige Eitelkeit, es bloß zu versuchen, und müßte den Blick für Spinnes Zwecke blind machen. Die schwierigste Lehre, die man ziehen muß, ist die Einsicht, daß sein wird ... was sein wird.« Der Sanitätsobergefreite kam hereingestürzt, im Ge sicht blaß vor Furcht. Er sah Pike und schlitterte, sichtlich erleichtert, ein Stückchen, bis er zum Stehen kam, Schweißperlen auf der Stirn. Er schnaufte auf und trat langsamer näher. »Geht's Ihnen gut? Ich habe da was auf 'm Monitor gesehen ... Sie hatten das Messer in den Hän den ...« Böse schaute Pike ihn an. »Ob's mir gut geht? Nein, ein beträchtlicher Teil meines Beins ist mir zerfleischt und einer halbmenschlichen Kannibalin verfüttert worden. Ich habe das Gefühl, als gäbe mein Körper bei einem Festes sen in der Hölle das Hauptgericht ab, und ich bin derma ßen durstig, daß ich den Golf von Alaska aussaufen könn te. Und obendrein durchlebe ich, sobald ich die Augen zumache, jede verdammte Sekunde des Ganzen noch ein mal.« Jede Sekunde, kapierst du, du unfähiger Gimpel?! Bis hin zu Susans ... Nein. Du bist wach, Pike. Nicht sie war die Kannibalin. Das hat Ngen nur vorgetäuscht. Du befindest dich nicht im Traum. Reesh hat erzählt ... Nicht Susan hat mir das angetan. Ngen ... In diesem Moment stoppte vorm Eingang Susan ihren Lauf, schwang sich um die Türfassung in die Bordklinik; ihre Augen spiegelten grimmige Gewißheit, doch da sah sie, daß Pike lebte, holte tief Luft. Ein Gruseln befiel Pike. »Sie ist nicht die Kannibalin«, vergegenwärtigte er sich. »Nicht die Kannibalin. Nicht die ... Pfoten weg!« Der MedTech hatte die Hand nach dem Messer ausge streckt, sie jedoch zurückgezogen, als Pike ihn anschnauz te. Beunruhigt blickte der Sani Susan an. Sie schüttelte den Kopf und wies mit dem Kopf in Richtung Tür. »Ich habe gehört, du hast nach deinem Messer ge
fragt«, sagte sie, versuchte ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Ja, hab ich.« Und du bist nicht die Kannibalin. Nein, ich erkenne den Unterschied. Deine Augen haben eine andere Farbe. Susans Haut ist dunkler. Sie ist nicht die Kannibalin! Reiß dich endlich zusammen! Du mußt verste hen, was Ngen getan hat. Aber der Träume konnte er sich nicht erwehren. Resigniert nahm er das Messer zur Hand, betastete den kalten Stahl der Klinge. Achtsam näherte sich Susan, umrundete bedächtig die übrigen Med-Einheiten, balancierte sprungbereit auf den Fußballen. »Doktor, ich mache mir Sorgen um dich. Ich weiß noch genau, wie mir zumute gewesen ist, nachdem Ngen mit mir seinen Zeitvertreib gehabt hatte. Damals hatte ich vor, nur noch lange genug zu leben, um ihm den Garaus zu machen, bevor ich den Blaster gegen mich selbst richten wollte.« Reesh hätte mich nie belogen. Sie hat Männer kastriert ... Ähnlich wie die Kannibalin. »Reizender Einfall. Anscheinend bist du noch nicht soweit.« Ruckartig straffte sich Susans Haltung ein wenig. »Ja. Statt dessen habe ich mich bei einem Propheten ausge sprochen. Propheten haben bemerkenswerte Gaben. Sie ...« Susan schaute hinüber zu Patan Andojar Garcia, der gelassenen Blicks alles mitverfolgte, auf den Lippen ein Lächeln des Wohlwollens. »Hau ab! Ich werde schon klarkommen. Zerbrich dir wegen deines Anthropologen nicht den Kopf. Ich werde nicht dulden, daß Ngen dich um ihn bringt ... Wenigstens nicht in naher Zukunft. Aber ihr werdet mir nicht das Mes ser wegnehmen. Jetzt nicht ... und überhaupt nicht.« Er musterte sie; zwischen ihnen entstand kalte Feind seligkeit. »Ich bin's satt, von dir, Ree und dem gesamten Rest wie ein Depp behandelt zu werden. Wenn Eisenauge mir das Messer fortnehmen möchte, naja, vielleicht schafft er's. Falls er keinen Wert drauf legt, bei jedem anderen werde ich lieber sterben, als es herzugeben.«
Voller Abweisung nickte Susan. »Wie du willst, Doktor.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Bord klinik. Darwin sank auf sein Polster zurück und schöpfte gründlich Atem. »Sie hat den Wunsch, dir zu helfen.« Patan neigte den Kopf zur Seite. Pike merkte, wie die Med-Einheit ihn erneut schlafen legte. Er hatte noch vor, sich an den Propheten zu wen-den und ihm zu erzählen, was für eine Schwäche er für Susan entwickelt, wie energisch er sicherzustellen versucht hatte, daß sie auf Basar aus den Klauen der Padri entkam, doch sein Mund gehorchte ihm schon nicht mehr, er sank in die Welt Ngens, Pallas' und der regelmäßig in Susan verwan delten Kannibalin. Furcht, Einsamkeit und äußerste Gewalt bedrängten ihn, während im Hintergrund Reeshs Kreischen erscholl. *
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NACH DEM ÜBERLICHTFLUG AN BORD DER SPINNES DOLCH WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM EINFLUG IN DEN UMRAUM BASARS
Die Spinnes Dolch beendete den Überlichtflug, ihre Sta sisfeldgeneratoren verstrahlten Photonen und geladene Partikel heckwärts, die sich im Stieben des zerfransten magnetogravitatorischen Schweifs verstreuten, der dem Raumschiff nachwirbelte. »Austritt vollzogen«, rief Rita, checkte die Monitoren. »Auf vierzig Ge gehen. Wenn wir in die Reichweite der Fernerfassung gelangen, ungleichmäßige Dezeleration betreiben. Wir wollen keine Frühwarnsysteme auslösen. Es kann sein, daß hier, nachdem Susan die Bande aufge mischt hat, neue Waffen stationiert worden sind.« »Verstanden.« Rita stand auf und reckte die Glieder, heftete den Blick auf den Hinterkopf des Piloten, der matt in seinem Kom
mandosessel lag und per Kontaktron mit dem Steuerraum kommunizierte. Die Beendigung des Überlichtflugs stellte vor strapaziöse Aufgaben. Bereits dicht unterhalb der Lichtgeschwindigkeit mußten die vom Raumschiff gene rierten Energien gewissenhaft zur Masse-Geschwindigkeit-Relation kompensiert werden. Rita spürte eine geringfügige Schwerkraftschwankung, als die Gravo-Kompensatoren die Beschleunigung ausgli chen. An den Konsolen indizierten die Monitoren überall Normalstatus. »Bud? Wie sieht's draußen aus?« Mishima beobachtete seine Monitoren: Die Kommu übermittelte Korrekturdaten zur Kompensation der durch die Schockwelle des Bugs hervorgerufenen, heckwärtigen Turbulenzen. »Entweder haben wir einen Defekt, oder dort ist alles still. Warten Sie einen Moment, ich lasse ein Diagnoseprogramm durchlaufen ... Keine Defekte, Majo rin. Es ist so ruhig, als wäre alles mausetot. Transduktion ist nur als normale direktoratsweite Hintergrundstrahlung meßbar.« Mit einem Fingernagel stocherte Rita, die grünen Au gen auf den Bildschirm gerichtet, zwischen ihren Schnei dezähnen. Während die Sensoren rings ums Raumschiff infolge Masseneinwirkung gekrümmtes, rotverschobenes Licht entzerrten, sah sie auf den Monitoren der Komman dobrücke die Galaxis sichtbar werden. Die Kommu führte eine Sicherheitsanalyse durch und konnte keine Unregel mäßigkeiten ermitteln. »Na gut, ich glaube, wir dürfen uns 'ne Ruhepause gön nen. Es macht nicht den Eindruck, als wären sie dort ner vös. Entweder das, oder Susan hat ihnen alles gekappt, was elektronischen Augen und Ohren gleichkommt.« So? Aber wenn sie angegriffen worden sind, warum sollten sie die Warnsysteme abschalten? Wird man einmal über rascht, ist man nachher doppelt so wachsam. »Irgendwie behagt mir die Sache nicht. Bud, strengen Sie mal 'n bißchen Ihren Grips an. Versuchen Sie's mit
allern, was Ihnen einfällt, solang's passiv ist. Bei aktivem Scanning hätten sie uns schneller angepeilt, als 'n Bär 'n Grünen Schnitter ausspäht. Sie müssen doch über irgend welche Anlagen verfügen, über gewisse Mittel zu ihrer Verteidigung.« Einige Stunden später strebte sie durch die engen Kor ridore zum Casino, stellte sich per Tastendruck ein Menü zusammen. Hinter ihr kam Bud Mishima, wählte ebenfalls eine Mahlzeit. Rita setzte sich an eine Längsseite des rechteckigen, zerschrammten Tischs. Das Casino der umgebauten Blitz korvette umfaßte kaum mehr Rauminhalt als ein größeres Kabuff. An einer Wand befanden sich die Spendeautoma ten aufgereiht; um in jeder einzelnen Kabine einen Auto maten zu installieren, wie es an Bord der Projektil der Fall war, fehlte es in der BK an Platz. Die zuvor glänzend-weißen Tablettregale, Tellerständer und Becherhalter glänzten nicht mehr weiß. Der gesamte Ablauf der inneren Modifi kationen der Spinnes Dolch ließ sich aus den Schichtun gen der Fingerabdrücke ablesen. Braune Abdrücke waren während des Auseinanderschweißens und Rekonstruierens zurückgeblieben, schwarze hatte die Umarbeitung der Maschinen hinterlassen, graue stammten von der Auf räum- und Reinigungstätigkeit, und die weißen gingen zurück auf das abschließende Neustreichen des ganzen Kuddelmuddels. Sicherlich würde es danach im Casino weniger heimelig aussehen, doch die Zeit war reif fürs Putzen. Rita gab der Kommu eine entsprechende Anwei sung durch. Etliche Patrouillensoldaten mochten ein wenig Disziplinierung ganz gut vertragen können. Die Mehrheit der Sturmtruppen hauste und aß weiter hin in den ST, die im Rumpf der Spinnes Dolch ange flanscht hingen. Für die eigentliche Crew jedoch war das kleine Casino eine Art von Zuhause geworden: Der ein zige Treffpunkt, an dem man bei einem Becher Kaffee zusammenhocken und belanglose Gespräche führen konnte.
»Sie sind also der Meinung, sie lauern dort nur darauf, uns unter Feuer zu nehmen?« Mishima unterdrückte ein Gähnen, massierte sich mit den Händen die Muskulatur seiner haarigen Unterarme. Rita kaute nachdenklich. »Ich weiß nicht recht«, brummte sie. »Irgendwie ist mein sechster Sinn erwacht. Du verstehst schon, es ist einem echt mulmig, aber man begreift nicht, wieso. Ich hatte sofort ein schlechtes Ge fühl, als wir aus der Überlichtphase wechselten ... Als gäb's hier etwas, wovon ich gar nichts wissen will. Dürfte ich's, würde ich verduften. Nach einigem von dem, was wir auf Mysterium gesehen haben, möchte ich mich am liebsten für den Rest meines Lebens nur noch in Johns Arme kuscheln, Vieh und Pferde züchten und Kinder auf ziehen. Aber der Admiral wünscht, daß wir die Lage auf klären, um herauszufinden, wie schnell sie sich auf Basar von Susans schweren Angriffsschlägen erholt haben.« Bud runzelte die Stirn, beugte sich vor, um Essen in seinen breiten Mund zu löffeln, kaute so aggressiv, wie er auch alles übrige verrichtete. Rita schätzte Mishima seit jeher. Er hatte zwei Methoden, um mit dem Leben zurechtzukommen. Entweder ging er mit vollem Einsatz vor und pfiff auf die Konsequenzen, oder er döste vor sich hin. In all den Jahren, seit Rita ihn kannte, hatte sie nie erlebt, daß Bud irgend etwas halb getan hätte. Er machte eine Geste mit der Gabel; nach wie vor furchte das Stirnrunzeln seine Bulldoggenmiene. »Na gut, gehen wir mal davon aus, Ngen hält dort unten eine Falle bereit. Ich habe das verdammte Sonnensystem von oben bis unten und von vorn nach hinten gescannt. Basar hätte als stärkste Radioquelle in diesem Teil der Galaxis erkenn bar sein müssen. Aber ich habe keine entsprechenden Meßergebnisse vorliegen. Im unteren Bereich der EMSkala wird Basar von seiner Sonne überlagert. Ich habe das Scanning im gesamten Spektrum vorgenommen, von tausend Kilometer bis hinunter zu zehn Nanometern. Der Planet ist nicht völlig tot, aber unter Berücksichtigung der
geophysikalischen Eigentümlichkeiten doch verflucht ziemlich ruhig, es läßt sich kaum mehr peilen, als schon aufgrund der Elektrostürme und einer geringen mensch lichen Population zu erwarten ist.« Nachdenklich kratzte Rita sich hinterm Ohr. »Wenn's 'ne Falle ist, müssen Sie bedenken, hat Ngen sie ganz be stimmt mit äußerster Hinterlist gestellt hat. Mißverstehen Sie mich nicht, Ngen ist in seinem Handeln ausschließlich brillant. Er müßte alles auf dem Planeten stillgelegt haben. Und woher sollte er wissen, daß noch einmal jemand vor beikommt? Susan hat seine meisten Anlagen zusammen geschossen. Ich kann mir nicht ...« »Vielleicht hat Ngen die Funksprüche des Admirals aufgefangen? Sie entschlüsselt? Ist vor uns hier eingetrof fen? Heiliges Kanonenrohr, es kann sein, er war schon im Orbit um Basar, als auf Mysterium irgendwer in die rich tige Richtung gelauscht und bei uns mitgehört hat.« Rita beendete ihre Mahlzeit und schob das Tablett von sich, lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Sie schloß sich ans Kommu an und blickte auf den Monitor. »Ki, verlegen Sie den Vektor. Wir durchrun den das Sonnensystem. Wir können die Gravitationsquel len der beiden Gasriesen benutzen, um die Delta-Geschwindigkeit zu reduzieren, ohne zuviel Reaktionsmasse zu versprühen. So bleibt uns Gelegenheit, erst einmal ge nau zu observieren, bevor wir uns für ein bestimmtes Vor gehen entscheiden.« »Verstanden, Majorin. Nach vorläufiger Schätzung werden wir dann allerdings zwei Wochen länger unter wegs sein.« Rita langte nach ihrem Kaffee, starrte das Schott ge genüber an, schlürfte einen Schluck. »Damit können wir leben, Ki. Ist immerhin besser, als aus 'm All geblastert zu werden, hm? Halten Sie die Augen nach gegnerischen Aktivitäten offen. Bud und ich haben gerade das Für und Wider eines feindlichen Hinterhalts diskutiert.« »Verstanden, Majorin.«
Rita spürte schwachen Andruck von den Gravo-Kompensatoren ausgehen, als Ki eine Kursänderung einleitete. »Nichts als Ärger«, murrte Mishima. »In letzter Zeit haben wir nichts als Ärger. Wie lange ist es her, daß einer von uns sich das letzte Mal gelangweilt hat?« Versonnen lächelte Rita, drehte den Kaffeebecher in den Händen. »Ich glaube, damit war schon vor langem Schluß, nämlich während des Patrouillenflugs, den wir damals in den Außensektor unternommen haben. Entsin nen Sie sich? Der Auslöser war, daß ein FLF irgendein verdammtes Bruchstück des planetaren romananischen Funkverkehrs aufgeschnappt hat.« Mishima schwang ein massiges Bein auf die Sitz bank. Er lehnte sich an und rückte sich in der Ecke zurecht. »Sind's nicht Sie gewesen, der die Anthropolo gin geholt hat? Ree hatte doch Sie zur Universität geschickt, oder?« Rita lachte, nickte über dem Kaffeebecher, den sie noch in beiden Händen hielt. »Ja, dort habe ich Dr. Dobra kennengelernt. Ich bin auch dem nichtsnutzigen Doofen begegnet, mit dem sie zusammenlebte. Jeffray. Mann, Mann ...! Naja, es kam raus, seine Blödheit war nicht seine Schuld, er war auf Veranlassung des Gesundheitsministe riums gepsycht worden, weil er sich eigene Gedanken zur Transduktionstheorie gemacht hatte. Ich weiß es nicht genau, aber 's kann sein, das ist der Punkt gewesen, an dem alles anfing. Der Knabe wurde gepsycht und Leeta stinksauer. Ich fand sie sympathisch, deshalb habe ich ihr aus der Patsche geholfen, das Gesundheitsministerium erhielt keine Möglichkeit mehr, sie zu psychen, bevor sie nach Welt abflog. Sie blieb geistig völlig klar. Auf Welt gab's Schwierigkeiten mit den Santos, dann sind wir an Spinnenkrieger geraten, haben uns verliebt und verhindert, daß das Direktorat Welt komplett sterilisierte. Hat ein Dominostein den anderen gekippt? War es Schicksal? Spinne allein weiß es. Aber jetzt werden wieder Menschen gepsycht — und das in einem Umfang, wie das Direktorat
es sich vormals nie hätte träumen lassen. Und wenn wir das durchgestanden haben, was kommt danach?« Mishima streckte den Oberkörper, hielt seinen Becher unter den Getränkespender und drückte die Kaffee-Taste. Fast bekam er das Übergewicht, als der Becher voll war, aber es gelang ihm, keinen Tropfen zu verschütten. »Wis sen Sie, an dem Tag, als Sie mit Gebrüll 'n Rudel Roma naner in den Reaktorraum geführt haben, gab's 'ne Men ge Leute, die Sie liebend gern zerblastert hätten.« Rita zuckte nur die Achseln. »Stellen Sie sich vor, das zweite Mal, als ich Leeta Dobra gesehen habe, stand sie kurz davor, aus einer unterstklassigen Raumfahrerspe lunke der Universität abgeschleppt zu werden. Ich war schon angeheitert, ich hatte auf Patrouillenkosten Mete orschwarm getrunken. Ich habe den Sausack verscheucht, und da hockte Leeta ... völlig durcheinander, ratlos, ein typisches Direktoratsschäfchen. Aber irgendwie merkte man ihr 'ne gewisse Courage an, also dachte ich mir: Egal!, und habe mich zu ihr gesetzt. Ich erinnere mich noch, wir hatten eine längere Diskussion über die Zustän de im Direktorat, über die Stagnation und den allgemeinen Niedergang. Ich glaube, ich habe zu ihr gesagt: >Zu dumm, daß es keine Möglichkeit gibt, wie man den gan zen gottverdammten Misthaufen wenden und die Wasser köpfe drunter begraben könnte.<« »Wahrhaftig?« »Hm-hn.« Rita wölbte die Brauen, stellte den Kaffee becher ab. »Das Problematische am Zusammenbruch einer Zivilisation ist, daß man nie weiß, wohin er führt.« Sie schwieg für einen Moment. »Wir haben auf Welt viel gewagt, um ein Völkchen vor der Ausrottung zu retten. Danach sind wir zum Sirius geflogen und haben einen höl lischen Krieg ausgefochten, aber er war noch sozusagen >normal<, es ging bloß darum, den Feind zu besiegen, ehe er siegen kann.« Sie verzog das Gesicht. »Ngen wäre nie an die Macht gelangt, hätten wir nicht mit dem Romana nerproblem die Aufmerksamkeit vom Sirius abgelenkt.
Maya wäre mit der Viktoria in 'n Orbit gegangen und hätte die Revolution im Keim erstickt.« »Das ist jetzt alles Vergangenheit und Geschichte.« Mishimas Blick forschte in ihrer Miene. »Na und?« Rita lächelte matt. »Als Dr. Dobra und ich damals in der Kneipe Maulfechtereien dahergeredet haben, hätten wir uns die Art von Gräßlichkeiten, wie wir sie auf My sterium gesehen haben, nicht im entferntesten vorstellen können. Seit ich dort diese Zombies umhertappen gese hen habe, schlafe ich nachts schlecht.« »Ja, na klar«, sagte Bud. »Ich verstehe, was Sie mei nen.« »Und ich bin der Ansicht, die Schrecken haben erst an gefangen. Ich glaube, wir werden noch viel schlimmere Dinge erleben. Damals in dem Lokal konnte ich mir noch nichts mieseres als Skor Robinson ausmalen.« Unter höchster Wachsamkeit, während die zuständigen Diensthabenden ihre vollkommene Konzentration den Monitoren widmeten, flog die Spinnes Dolch in die basa rische Gravitationsquelle und schwenkte allmählich in ei nen Orbit ein. Die ganze Zeit hindurch blieb es auf dem Planeten unheimlich still. Es gab keine Hinweise auf die Anwesenheit anderer Raumschiffe, auch keine Spur von der Gregorius; die hochempfindlichen Antennen der Spin nes Dolch empfingen keinerlei Funksprüche. Die Tage zogen sich hin, an Bord wuchs die Spannung, das lange Warten dehnte sich. Ständig träumte Rita von Eisenauge. Im Traum ritten sie gemeinsam durchs Wogen eines Gräsermeers, sie auf Philips rotem Wallach, John auf seiner geliebten Rappen stute. Über ihnen verströmte die Sonne in weißlich-gelbem Gleißen den Segen ihrer Wärme. Vor ihnen lag Welt, harrte der Erkundung, verlockte sie zum Eingehen in sei ne Fülle. Dank der magisch-mühelosen Veränderlichkeit der Träume wechselten die Bilder, der Himmel dunkelte, sie
schmiegte sich in Eisenauges Arme, fühlte sich geschützt und sicher, genoß den Flackerschein eines Säulenholzfeu ers. Er schlang die Decke, die er ihr umgelegt hatte, enger um ihren Leib, beugte sich herab, um sie zu küssen, in sei nen schwarzen Augen glomm die zärtliche Liebe, die er ihr schenkte. In ihr regten sich die warmen Empfindungen des Verlangens, sobald sie seinen Mund auf ihren Lippen fühlte, sie umfing ihn mit einem Arm und drückte ihn an sich, die Nähe seines starken Körpers wirkte auf ihre ermüdeten Glieder wie ein Belebungsmittel. Mit kühlen Fingern streichelte sie wohlig seine dunkle Haut, spürte die männliche Härte seines Äußeren, die Narben, das Spannen seiner Muskulatur, während er ihre Liebkosun gen erwiderte. Das Lagerfeuer knisterte, sie zog ihn auf sich, kostete das Schwellen und Sichwellen des Muskelto nus an seiner festen Gestalt aus, die sich an sie preßte. Sie begannen den ewigen Ritus. »Majorin Sarsa?« Rita blinzelte, bemerkte, als sie sich aufsetzte, die Au gen rieb, in sich eine heftige Begierde. Bei ihrer ersten Bewegung war in der winzigen Kabine die Beleuchtung aufgeflammt. Basar. Fernraum. Aus der Stimme, die sich durch die Kommu an sie gewandt hatte, sprachen Verant wortungsbewußtsein und Sorgenschwere. »Ja?« »Wir erreichen Basar. Falls es dort einen Hinterhalt gibt, will ich verdammt sein, wenn er sich erkennen läßt, Majorin. Aber ...« Rita stand, irritiert durch die physische Wirkung, die der sinnliche Traum in ihrem erhitzten Leib ausgelöst hatte, auf den Füßen, griff nach ihrem Schutzpanzer. Ver dammt! »Was ist los, Ki?« »Tja, wir haben eine ziemlich gute visuelle Erfassung, Majorin. Auf dem Planeten herrscht ausnahmsweise mal ein klarer Tag. Die Übertragungsqualität der Teleoptiken ist unglaublich gut. Aber ich glaube, Majorin, Sie sollten
sich das selbst ansehen.« Wegen der Angespanntheit, die in Kis Stimme zum Ausdruck kam, verzichtete sie aufs Duschen und legte hastig den Schutzpanzer an. In dem Ton redete Ki nur, wenn etwas wirklich Ernstes der Fall war. Rita öffnete die Kabinentür und eilte im Laufschritt den Korridor entlang.
25
AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DES ÜBERLICHTFLUGS VON BASAR NACH WELT
Als Darwin Pike ein weiteres Mal aus den Alpträumen zu sich kam, stand die Med-Einheit des Propheten leer, war der schwere Deckel aufgeklappt; Pike befand sich als ein ziger Patient in der Bordklinik. Wie immer, wenn er erwachte, stand die Ärztin am Eingang und checkte die Monitoren. Ohne personelle Aufsicht ließ man ihn nicht mehr aufwachen. Pike war erbärmlich zumute, während er seine Atemzüge fließen ließ, darüber staunte, wie wun dervoll es sein konnte, Luft in die Lungen zu saugen und entweichen zu lassen: Das Atmen war ein so schlichter Ablauf, daß man ihn als selbstverständlich empfand und eigentlich nie richtig wahrnahm. Es tat gut, zu atmen. »He«, rief Pike lautstark, weil er sich plötzlich der Worte des Propheten entsann. »Wo ist der Prophet?« »Vor zwei Tagen entlassen worden.« Die Frau kam zur Tür herein. Pike schaute zur Seite und sah das Messer noch auf dem angeklammerten Tablett liegen. »Zwei Tagen?« »Wir wecken Sie alle drei Tage.« Die Obergefreitin lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Türfas sung, wartete ab. »Alle drei Tage?« Verpennte er hier sein Leben? »Warum denn das?« »Sie gesunden uns besser, Dr. Pike, wenn Sie schlafen. Wir führen Ihrem Organismus jede Menge Wachstumssti mulantien zu. Die DNS muß überlistet werden, wir täu schen ihr vor, sie müßte Fötalgewebe produzieren, und regen die entsprechenden genetischen Nodi mit RNS, Schwangerschaftshormonen, Polymerase Typ römisch drei und DFSK drei an. Gleichzeitig muß rund ums rege nerierende Gewebe eine sorgsam ausgewogene Elektrosti
mulation mit genau der passenden Intensität beibehalten werden. Wissen Sie, Regeneration ist ein Spiel mit dem Feuer. Wenn der Vorgang außer Kontrolle gerät, riskieren wir eine Verkrebsung. Ihre Verfassung ist ernst genug, ohne daß Komplikationen in Form von Sarkomen auftre ten sollten. Darüber hinaus zeigt Ihre mentale Aktivität an, daß Sie im Wachzustand unruhiger als im Schlaf sind. Wenn Sie träumen, können wir aus der Art der von Ihnen erzeugten Hirnwellen sowie der Veränderungen in der Körperchemie ersehen, ob es Alpträume sind, und in dem Fall sind wir die Folgen zu minimieren imstande. Sind Sie wach, regen Sie sich nicht nur auf, sondern sind anschlie ßend auch noch in gedrückter Stimmung. Dadurch entste hen in Hypophyse, Hypothalamus und diversen sonstigen Drüsen gewisse Reaktionen. Infolgedessen wiederum kommt es zu heftigen Schwankungen in der chemischen Zusammensetzung des Blutes, die dann der Wirkung der Chemikalien zuwiderlaufen, die wir Ihrem Bein injizieren. Verstehen Sie die Problematik? Solange wir nur diese zwei Alternativen haben, müssen wir den schlechten Träu men vor Depressionen den Vorzug geben. Die Alpträume, könnte man sagen, sind das kleinere Übel.« Die Ärztin machte einen verlegenen Eindruck. »Aha«, meinte Darwin gedämpft, stellte fest, daß er ohne Beschwerden die Finger zu krümmen vermochte. An seinen Handgelenken sah er Male. Seine Augen schmerzten nicht mehr, und seine Sicht war wieder klar. »Sie haben mich in Totaleinkapselung gehabt, stimmt's? Ich bin festgeschnallt gewesen, ich seh's an den Striemen auf meinem Körper.« »Sie haben recht«, räumte die Medizinerin ein. »Ihr Denkvermögen erholt sich. Sie sind geistig wieder reger. Wenn Sie sich dazu durchringen, im Interesse Ihrer Hei lung aktiv an unseren Maßnahmen mitzuwirken, wäre vie les erheblich einfacher.« »Wie lange liege ich inzwischen hier?« »Vier Wochen. Ihr Bein ist größtenteils nachgewach
sen, und wo man Ihnen die Zehen abgeschnippelt hat, sit zen lustige kleine Stummel. Die Nerven ...« »Anscheinend verbringe ich meine Zeit bloß noch in dieser verdammten Med-Einheit! Ich bin's leid, mein Le ben ...« Die Ärztin schnitt eine härtere Miene. Eilig hob Pike zur Beschwichtigung die Hände. »Also gut. Warten Sie! Ich will brav sein. Legen Sie mich nicht wieder schlafen. Ich denke positive Gedanken.« »Das ist eine echte Verbesserung«, sagte die Med spöt tisch. Sie trat näher. »Wie positiv?« Pike schaute zu ihr hoch, fühlte sich auf einmal unsi cher. »Nun je, ziemlich positiv.« War es möglich? Konnte das, was er um ihren strengen Mund sah, die Andeutung eines Lächelns sein? Bei Spin nes Blut! Die Walküre zeigte eine Schwäche. »Na gut, Dr. Pike. Ich verlasse mich darauf, obwohl's riskant ist, daß Sie mich nicht auf den Arm nehmen. Fol gendermaßen steht's wirklich um Sie: Sie stecken tief in der Scheiße. Die Nervenregeneration entwickelt sich nicht innerhalb der von uns prognostizierten Kurve. Damit nenne ich Ihnen einen weiteren Grund, weshalb wir Ihnen soviel Schlaf verordnen. Die Elektroströme, die wir im Rahmen unserer Bemühungen anwenden, um Ihre Muskeln neu zu trainieren, sind unangenehm zu ertragen. Sie haben reichlich Nervenschädigungen erlitten. Die Fol terungen, denen Sie unterworfen worden sind, haben ver heerende Folgen für Ihre Synapsen gehabt, allem Anschein nach hat irgendein EM-Feld die Neuronen gestört. Das Resultat war eine Form zellulärer Mikroschä den. Haben Sie mir bis jetzt folgen können?« Darwin nickte zurückhaltend. »Ich habe in beachtli chem Umfang Humanbiologie studiert ... Gehört zu den Nebenfächern der Anthropologie.« »Also, weil ich ehrlich zu Ihnen sein möchte: Wenn Sie sich nicht selbst mit allem Einsatz anstrengen, kann es sein, daß sie nie wieder richtig allein laufen können. Soll
te das Bein nicht völlig ausheilen, ist es möglich, Ihnen eine Neuroprothese anzupassen, aber das bedeutet subku tane Neurofasern, eine permanente Batterie sowie Tragen eines Kontaktrons auf Lebenszeit. Nun hat das Gehirn aber große Macht. Sicherlich sind Ihnen Bio-Feedback, Psychosomatik und sämtliche übrigen Körper-Geist-Relationen geläufig. Ihre Einstellung wird den Ausschlag geben.« Pike machte ein finsteres Gesicht; seine Aufwallung gerechten Zorns war verflogen. Verdammt noch einmal, wie konnte eine so segensreiche, vielseitige Erfindung wie die Med-Einheit ihn dermaßen im Stich lassen? Ihm wäre nicht einen Moment lang in den Sinn gekommen, daß die Maschine an ihm scheitern könnte. »Technik bringt uns nur soundsoweit, Doktor«, fügte die Ärztin ihren Darlegungen hinzu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Wollen Sie uns unterstützen und da mit sich selbst helfen?« Pike biß sich auf die Lippe. Der Sand, auf dem sein Geist gegenwärtig stehen mußte, hatte erneut zu schwim men begonnen. Diese Frau begriff ihn schlichtweg nicht; niemand verstand ihn. Bist du würdig? hallte es mit hohlen Echos durch sein Gemüt. Susan hatte erwähnt, sie hätte sich mit dem Vorsatz ans Leben gekrallt, eines Tages Ngen Van Chow alles heimzu zahlen. Es mochte ein tauglicher Anfang sein, es ebenso zu halten. Dadurch fand er ein Ziel. Ngen trieb ungehin dert sein Unwesen, brachte massenhaft immer mehr Zom bies hervor ... Folterte Anthropologen und andere Leute. Vielleicht konnte er, überlegte sich Pike, falls man es schaffte, ihn wieder auf die Beine zu stellen, dagegen etwas unternehmen. Ich werde es Ngen Van Chow noch geben. Ich will überleben. Um ihn zu kriegen. Irgendwie, auf irgendeine Weise. Das schwöre ich bei Spinne. Und gleich, sobald er seine Wut auf einen Daseinszweck kanalisiert hatte, fühl
te er sich wohler. Und Susan ist nicht die Kannibalin, Ngen. Du Mißgeburt ... »Würden Sie der Kommandantin bitte ausrichten, daß ich sie bei Gelegenheit sprechen möchte? Ich wüßte ger ne, was sich ereignet hat, während ich soviel geschlafen habe. Vielleicht kann ich bald wieder an die Arbeit ge hen.« Die MedTech nickte, maß ihn aufmerksamen Blicks, um die Ernsthaftigkeit seiner Äußerungen einzuschätzen, möglichst abzuklären, ob sie seine Verweigerungshaltung durchdrungen hatte. Susan kreuzte nach ungefähr einer halben Stunde auf; sie musterte ihn verhalten, als sie die Bordklinik betrat. »Wie ich gehört habe, geht's dir besser. Die Obergefreitin sagte, du siehst die Dinge jetzt wieder etwas optimisti scher.« Pike furchte die Miene. »Ich habe ein Gefühl, als wäre ich überhaupt nicht hier. Nach dem, was passiert ist, weiß ich nicht mehr, wer ich bin oder was aus mir geworden ist. Mir ist alles ganz schön durcheinandergeraten. Ich glaube, ich bin gehörig unfreundlich zu dir gewesen. Bitte ent schuldige. Ich komme mit Schuldgefühlen schlecht zurecht ... So schlecht, um's klar zu sagen, wie ich Schmerzen ertragen kann.« »Mir geht's genauso. Seit den Vorgängen auf Basar habe ich mir oft Vorwürfe gemacht.« Susan spitzte die Lippen und zuckte die Achseln. »Weißt du, du hast an dem Tag auf Basar im Tempel uns beiden das Leben gerettet. Ich stehe in deiner und Reeshs Schuld. Dank dessen, was ihr zwei auf euch genommen habt, konnten wir Admiral Ree neue, wichtige Informationen liefern.« »Ich frage mich, ob ich auch so gehandelt hätte ... wäre vorhersehbar gewesen, daß es so ausgeht. Es war ja meine Idee. Reesh hat bloß eingewilligt. Ich dachte, wir würden einfach umgebracht. Die Art, wie er gestorben ist ... Ich hätte doch nie ... Ich hatte keine Ahnung, daß das Ergebnis für ihn aus so etwas ...«
Susan winkte ab und nahm auf einem Klappstuhl Platz. »Krieg verläuft eben nicht so, wie man's erwartet, Doktor. Ich habe schon genug miterlebt. Menschen kommen nun einmal ums Leben. Spinne zieht an den Fäden ... und wenn man an einem davon klebt, ist man dran. Das hängt von nichts ab, was man mit logischem Verstand durchschauen könnte. Ich habe den Mann verloren, den ich ... Und ein tüchtiger Stoßtrupp ist gefallen, weil er nach rechts ging und ich nach links. Menschen handeln und tragen die Fol gen ... Das ist alles, was es damit auf sich hat. Es liegt an den Cusps, glaube ich. Und jedesmal grämt man sich des wegen, versucht das Geschehene zu rechtfertigen, wenn's längst passiert ist ... Aber es bleibt immer aussichtlos.« Pike betrachtete sie, wunderte sich über ihre unvermu tete Offenheit. »Na gut. Kann sein, es ist so. Trotzdem kommt's mir ungerecht vor.« »Das verhält sich stets so.« Susan neigte den Schopf seitwärts, ihre Brauen rutschten empor. »Man gewöhnt sich mit der Zeit ganz einfach daran. Was wäre gesche hen, hätte man zuerst dich gepsycht? Denke mal darüber nach. Ngen hätte von unserem Auftrag erfahren. Er hätte gewußt, daß Rita und Neal in seiner Machtsphäre Aufklä rungsflüge unternehmen. Du wärst zu einem seiner gehor samen Monster geworden, und Reesh wäre voraus sichtlich genauso gestorben, wie's passiert ist, weil man ihn sicherheitshalber sowieso gepsycht hätte, um eventu ell noch irgend etwas aus ihm herauszuholen, das man von dir noch nicht wußte.« Ihre Augen bekamen einen freundlicheren Ausdruck. »Oder was wäre geworden, hät test du mir nicht die Flucht ermöglicht? Wenn sie uns alle drei erwischt hätten? Um wieviel übler wäre jetzt un sere Lage? Ngen wüßte über die Strategie des Admirals Bescheid. Reesh wäre auch in dem Fall so schrecklich gestorben. Du wärst ein Willenloser. Ich läge in Magnet fesseln ... und wäre wieder unterwegs zu ... zu ...« Sie ball te an den Seiten die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf, versuchte ihren Gedanken zu vertreiben.
»Du hast gesagt, du hättest dich mit dem Vorsatz auf rechtgehalten, dich einmal an Ngen zu rächen.« Pike hob den Blick. »Ich weiß nicht, was er mit dir gemacht hat. Was mit mir angestellt worden ist, war für mich ... Ich meine, er hat mich zerfleischen lassen ... Mein Fleisch ver füttert ... Er ... er ... er ... Oh ... ich ...!« Mühsam atmete Pike tief durch, preßte sich die Handteller auf die Augen. Unversehens spürte er Susans Hände an seinem Arm. »Verstehst du jetzt, weshalb ich nachts nicht mehr schlafen konnte? Das war's, weswegen ich damals im Casino so fix und fertig gewesen bin ... Es lag an dem Wis sen, daß ich zu ihm flog. Kannst du nachvollziehen, was es für mich bedeuten müßte, noch einmal in Gefangen schaft zu fallen?« Pike nickte beklommen. Er merkte ihr plötzliches Zögern und warf ihr einen fragenden Blick zu. Die Lippen verkniffen, ihren Kopf geneigt, beobachte te sie ihn. Diesmal jedoch verdutzte ihn ihre Miene. Irgendeine Verunsicherung, hatte er den Eindruck, ebbte in ihr auf und ab, als wollte sie die Antwort, die sie sich wünschte, eigentlich gar nicht hören. »Was ist? Komm, ich kenne dich zu gut. Du bist wegen irgendwas nervös.« »Ich habe die Aufnahmen gesehen, die Pallas gemacht hat«, sagte sie schließlich. »Ich ... Warum hast du nicht nachgegeben?« »Du hast alles gesehen?« fragte Pike zutiefst verstört. »Du hast gesehen, was man mir angetan hat? Du ... O mein Gott ...!« Susan verklammerte die Finger in seine Hand. »Nicht! Werde mir nun nicht weich, Darwin! Du hast dich behaup tet. Du hast ihm widerstanden. Ich ... ich bin unter seiner Quälerei schwach geworden. Für mich ist's zuviel gewe sen. Wieso hast du durchhalten können, während ich ... ich ...« Ihr Griff begann ihm fast die Hand zu zerquetschen. Sie hatte gesehen, wie man ihm die Menschenwürde
vollkommen genommen hatte. »Spi ... Spinne war bei mir.« Er biß die Zähne zusammen, um zu verhindern, daß sie zu klappern anfingen. »Spinne stand über mir. Dann haben sie das Psychinggerät über mich geschwenkt, und Spinne ... Da habe ich auch aufgegeben. Du hast es doch selbst gesehen, daß ich von da an nicht mehr konnte.« Die Widerstandskraft war wie Wasser aus einem durchlöcher ten Behältnis aus ihm gewichen. Bewegt nickte Susan. »Ngen dachte, er hätte dich so weit. Daß es bloß an der Zeit fehlte, um den Rest zu erle digen. Aber ich ... Ich hab's mir angesehen. Ich bin da nicht ... nicht so sicher. Er hat dich nicht bezwungen. Dar auf kommt es an. Du hast dich gewehrt ... Viel länger, als ich es geschafft habe. Du hast noch widerstanden, wäh rend ich längst kapituliert hätte.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Spinnes Wege sind ... Würdest du mir noch etwas erklären?« Ihre Stimme verklang, indem sie sich zerstreut ihren Überlegungen widmete. Pike erwiderte ihren ruhelosen Blick; ihm war dabei zumute, als wäre er aus Holz. »Als ... als Ngen eine ... eine Romananerin erwähnte, hast du meinen Namen gerufen.« Rückblick: Der Traum, Tiaras Gesicht verschmolz mit Susans Gesichtszügen. Heftig schauderte es Pike, kalter Schweiß brach ihm aus, perlte über seine Haut. Nicht Su san ... Susan war nicht die Kannibalini »Nicht die ... Kan nibalin. Es war nicht Susan!« »So ein verdammter Schweinehund!« erbitterte sich Susan, die aus Pikes Reaktion ihre Schlußfolgerungen zog. »Ich werde diesen dreckigen Felsenegel von unten bis oben aufschlitzen.« Darwin hörte, wie sie zurücktrat, blieb sie anzuschau en außerstande. »Es ist ... nur ein Traum. Er ... Ich weiß nicht. Gut gemacht ... die Sache ...« »Es war eine hypnotische Suggestion, Darwin.« Susan hob die Hände, ließ sie matt an ihre Seiten sinken. Aus den Winkeln ihrer dunklen Augen rannen Tränen der Wut und
des Wehs. »In so etwas ist der Mann ein Meister. Mich hat er damit geschafft. Als ich dort in das Zimmer gestürmt bin, hat mich sein großes Holo-Abbild angeblickt und zu reden angefangen, und ... und ...« Sie knirschte so laut mit den Zähnen, daß Pike es deutlich hören konnte. »Und es wirkt noch immer, Doktor. Er hat mich wieder tief drinnen zu packen gekriegt, mit einem Satz allen Unrat neu aufge wühlt. Ich bin nur dadurch wieder völlig aus der Bahn geworfen worden.« Schweigen entstand. »Susan ... Auf Welt ist mir von Reesh erzählt worden, du hättest Männer kastriert. So wie Pallas ... es bei mir gemacht hat.« Mit so beherrschter Miene, daß sie aus Stein hätte sein können, hob er endlich den Blick. Susan erbleichte, schaute fort, ihr Haltung nahm eine krampfhafte Steifheit an, als müßte sie ein Frösteln unter drücken. Und Pike erkannte mit kaltem Entsetzen im Leib, daß es stimmte. »Es ist also wahr. Du kannst es nicht leugnen ... Es geht wohl nicht, so wie du ... Warum?« Hektisch fuhr Susans Zungenspitze über ihre rote Lip pe. »Pike ... ich ...« Sie schüttelte den Kopf und atmete angestrengt aus. »Es lag am Krieg, Pike. Menschen ... Nach Hans' Tod war ich ein wenig durchgedreht ... Ngens Blaster hatten ihn in Angla erwischt. Ich konnte mein Schuldgefühl nicht ertragen, die Trauer, den Verlust nicht verkraften. Ich ... ich war wohl damals selbst nicht ganz richtig im Kopf. Manchmal kommt's mir so vor, als wäre ich mein Leben lang verrückt gewesen. Ich weiß nicht, was ... Doch, ich weiß 's. Es war Schwäche. Die Unfähigkeit, die Sachlage vernünftig einzuschätzen, zu verstehen. Mir war Schmerz zugefügt worden. Alles und jeder sollte dafür büßen. Nur wurde dadurch für mich selbst alles noch viel schlimmer.« Flehentlichen Blicks, voller Scham und Unsicherheit, sah sie ihn an. »Ich bin keine Heilige, Pike. Ich ... Ich bin genauso einsam, furchtsam und jämmerlich wie du. Ja, ich
habe Männer kastriert. Und ich trage schon lang an dieser Schuld. Ngen hat mich gewissermaßen dafür bestraft. Bloß habe ich das Empfinden, als sollte ich immer wieder ... und wieder bestraft werden.« Ihre Ehrlichkeit flößte Pike Betroffenheit ein; nun fühl te er selbst sich beschämt. »Was hat sich noch auf Basar abgespielt?« Unbeholfen wechselte er das Gesprächsthema. »Ich habe alles zusammengeschossen. Wir haben im Orbit sämtliche Stationen zerstört und auf dem Boden, soweit wir sie lokalisieren konnten, die wichtigsten Indu strieanlagen vernichtet. Energieerzeugung und Kommu nikation sind ausgefallen. Außer den Wohnhäusern ist nichts übrig ... Und den seelenlosen Gestalten natürlich.« »Sie werden im Laufe von Tagen verhungert sein«, sagte Darwin dumpf. »Es waren keine Ressourcen mehr vorhanden, und es fehlte ihnen an den grundlegendsten Fähigkeiten zum Überleben. Das flexible menschliche Anpassungsvermögen war ihnen ausgemerzt worden. Ihr Unterhalt hing von Logistik und Kommunikation ab. Als sein Programm zum Massenpsyching fast abgeschlossen war, hatte Ngen die Versorgung aufs Notwendigste beschränkt. Er wäre zurückgekehrt, sobald er Soldaten brauchte.« Susans Miene wurde härter. »Dann steht seine Armee jetzt näher vor dem Untergang. Es hätte mir einmal Ge wissensbisse bereitet, den Tod so vieler Menschen zu ver ursachen. Vor dem Blaster-Flächenbeschuß auf Sirius, vor Hans' Tod ... vor meinen Erlebnissen bei Ngen.« »Seine Zombies sind keine Menschen mehr«, raunte Darwin; die Erinnerung an die Kannibalin, die sein Fleisch kaute, brachte ihn zum Zittern. »Er hat sie bereits getötet. Wir liquidieren sie nur noch.« »Es kann sein, wir haben gar keine andere Wahl.« Su san setzte sich wieder auf den Klappstuhl, stützte denKopf in die Hände. »Anhand der annähernd wahrschein-lichsten Zahlen, die sich errechnen lassen, besteht die Aussicht —
je nachdem, wie schnell er seine Machtsphäre im Direkto rat erweitert —, daß wir im Verhältnis von einer Million zu eins unterlegen sind.« »Das macht auf mich den Eindruck, als müßten wir einen verseuchten Wald niederbrennen«, meinte Pike ge dämpft, dachte an eine Erinnerung aus seiner ferneren Ver gangenheit. »Einmal befiel eines Jahres die Fichtenblatt laus die Weißtanne. Als wir dann immer mehr befallene Wälder abbrannten, war ich mir nicht mehr sicher, ob's nicht besser gewesen wäre, der Natur ihren Lauf zu las sen.« »Haben diese Läuse die Seelen der Bäume geraubt? Haben sie die Bäume in menschenfressende Monster ver wandelt?« »Nein.« »Welche Wahl bleibt uns denn? Ich habe einen ver schlüsselten Funkspruch des Admirals erhalten. Das Di rektorat gewährt uns keine Unterstützung ... Allerdings sind zwei Patrouillenschlachtschiffe auf unsere Seite ge wechselt. Übergelaufen, sagt man nicht so? Unterdessen haben auf Santa del Cielo, Tschuhutien, Letztchance und im Ambrosius-Sektor Krawalle stattgefunden, hat teils der Pöbel die Herrschaft übernommen und sind Tempel aus dem Boden gestampft worden. Auch dort läuft an-scheinend jetzt alles nach Ngens Plänen. Sein Aktionsbe reich hat sich ums Dreifache vergrößert.« »Eine typische Erneuerungsbewegung. Eine religiöseManie ohne Konkurrenz. Nur seitens einiger Sonnensy steme in Welts Nachbarschaft betreibt man begrenzte Gegenmaßnahmen. Es gibt nichts, was den Padri in die Quere kommen könnte.« »Es gibt Spinne.« »Er hat die falsche Sorte Religion.« Pike schüttelte den Kopf, sah in seinem zermürbten Gemüt von neuem, wie der schwarze Kasten des Psychingapparats Spinnes Gegenwart verdunkelte. »Inwiefern?«
»Mit Spinne eine religiöse Bewegung zu gründen, würde glattweg schiefgehen. Es sind zuwenig Propheten da. Keiner von ihnen macht sich die Mühe, sich irgendwo hinzustellen und Spinnes Weg zu predigen. So etwas befindet sich einfach außerhalb ihres Vorstellungsrah mens. Schau dir Patan an. Beinahe ist er wahnsinnig geworden, weil er zuviel Zukunft gesehen hat, bis er lern te, es einfach fließen zu lassen. Er sagte, er sei gewesen.« Pike ballte Fäuste. Aber darin läge eine Chance. Es brauchte nur einen Mann, der so hirnrissig ist — oder so heldenhaft —, daß er diese selbstmörderische Verantwor tung auf sich nimmt. Könnte ein Prophet sich zu missiona rischer Tätigkeit aufraffen, dürfte davon eine beispiellose Wirkung ausgehen. Ein Gegenmessias wäre Ngen Van Chows Heiligem Krieg die Spitze abzubrechen, sie gegen die Padri zu richten und mit der Waffe ihres eigenen, abscheulichen Fundamentalismus zu schlagen fähig. Susan war offensichtlich verwirrt. »Aber Spinnes Ein fluß wächst. Überall entstehen kleine Kulte, die Jugend würde am liebsten massenweise nach Welt übersiedeln. Spinne ist im gesamten ...« »Klar.« Pike nickte, seine lebhaften Gedankengänge färbten ihm das Gesicht rosig. »Und in ein- bis zweihun dert Jahren könnte der Spinnenkult wahrscheinlich die bedeutendste Religion der Galaxis sein — gäbe es nicht Ngen. Spinnes Weg hat zuviel Stärken und gleichzeitig zuwenig Schwachpunkte, als daß es bei ungehinderter Entfaltung anders kommen dürfte. Die Tatsache, daß Pro pheten die Zukunft schauen, bleibt nun einmal bestehen. Niemand kann es bestreiten, nicht mal Ngen Van Chow.« Susan stand auf und ging an den Kommu-Apparat. Sie schloß sich gerade an, als Patan Andojar Garcia zur Tür hereinkam und zu Pikes Med-Einheit ging. Susan seufzte lediglich und unterbrach den soeben her gestellten Kontakt. »Du siehst erheblich besser aus, Darwin Pike.« Ein Lächeln leuchtete aus Patans Gesicht. »Um deine Frage zu
beantworten: Ja. Ich bin dein Hirnrissiger. Zweifellos hast du dich schon gefragt, warum ich so lange zwischen Leben und Tod geschwebt habe ... zwischen geistiger Ge sundheit und Wahnsinn? Aus genau diesem Grund, solltet ihr unter euch beschließen, mich als so einen >Messias< einzusetzen. Die Bezeichnung mißfällt mir. >Prophet< gefällt mir auch nicht. Aber Wortgebilde, mit denen man Dinge benennt, haben keinen großen Einfluß auf die Wirk lichkeit, oder?« »Wenn du Bescheid wußtest, weshalb hast du dann bloß rumgelegen?« erkundigte sich Darwin. »Wieso hast du dich nicht von dir aus in die Bordklinik gelegt?« Mit heiter-ruhiger Miene verbeugte sich Patan. »Ich hatte wichtigeres zu tun, Doktor. Es hätte mein Vermögen beeinträchtigt, mich mit dem Wesentlichen zu befassen, wäre ich durch körperliche Belange abgelenkt worden. Aber deshalb bin ich keiner erhöhten Gefahr ausgesetzt gewesen. Du konntest mich unmöglich im Gang liegen lassen. Dein Mitgefühl hätte dir so etwas nicht gestattet. Ich wußte, daß du mich in die Bordklinik schaffst, also habe ich mir den Zeitaufwand gespart.« »Du riskierst Geistesgestörtheit, nicht wahr?« fragte Susan, mußte alle Mühe aufbieten, um den Blick gesenkt zu halten, wie es sich vor einem Propheten gehörte. »Nein«, widersprach Patan sachlich. »Zum Risiko zählt eine Chance — bei Ungewißheit können verschiede ne Folgen eintreten. Ich stehe vor einer eindeutigen Gewißheit: Ich werde Entscheidungen zu treffen gezwun gen, gegen die Regel allgemeiner Freiwilligkeit zu versto ßen genötigt sein. Ich werde den Verstand verlieren.« »Und warum tust du's dann?« Darwin stotterte vor Verwirrung. Patan legte eine warme Hand auf Darwins Stirn, die andere auf Susans Arm. »Ich tu's für Spinne. Für die See len, die Ngen noch verschleudern würde. Vergeudung ist eine der echten Sünden ... Und Kleingeistigkeit. Wir sind alle ein Teil des Netzes, an dem Spinne webt. Doktor, du
hast in letzter Zeit Schreckliches erleiden müssen. Du, Kommandantin, hast lange in Gemütsverwirrung und Schmerz gelebt. Diese Erscheinungen sind so vergänglich wie unser ganzes Dasein. Allzu bald wird Spinne uns zu sich zurückholen, so daß wir wieder mit ihm eins werden. Wir alle werden geformt, um Spinnes Augen und Ohren zu sein. Die Gefäße seines Wissens.« »Was siehst du für uns voraus?« wollte Susan erfahren. »Haben wir eine Erfolgsaussicht?« Patan lächelte unbekümmert. »Entscheidet man die Cusps richtig, die den Ausschlag geben, ist alles möglich. Mancherlei sprach dagegen, daß dieser Augenblick, den wir jetzt erleben, je kommt. Der Doktor hat eine ganze Reihe von Entschlüssen gefaßt ... Geradeso wie du, Kom mandantin. Der Doktor beschloß, sein Leben zu opfern, um deines zu retten. Er hat den Cusp jenes Moments nicht erkannt. Seine Gefühle für dich waren ihm wichtiger als sein Leben. >Ich bin du.< Du, Kommandantin, hättest unverzüglich den Rückzug antreten müssen — wie es deine befehlsgemäße Pflicht gewesen wäre —, statt Maß nahmen zu seiner Befreiung zu ergreifen. Du hast dich dazu entschlossen, ohne zu ahnen, daß du damit einen Cusp entschieden hast. Ich selbst hätte mich dafür ent scheiden können, einen anderen anstatt diesen Weg zu gehen, um nicht im Wahnsinn zu sterben. Das war mein Cusp.« Susan war blaß geworden, sie wankte ein wenig, wäh rend sie, den Mund leicht geöffnet, Pike anblickte. Pike kaute auf seiner Lippe. Wie, zum Teufel, kann der Mann da so gefaßt, derartig stoisch herumstehen? Er weiß, wann er sterben wird. Verdammt noch einmal, er ist ja längst verrückt! Es kann doch niemand in aller Ruhe der Zukunft entgegensehen — den Ereignissen, die auf uns zukommen — und einfach warten, bis das eigene Unheil eintritt. Niemand! »Wir werden die Kausalitäten«, sagte er humorlos, aber insgeheim voller Ehrfurcht, »ganz schön durcheinanderbringen.«
Susan zuckte die Achseln. »Wenn nicht, wird von derMenschheit wenig übrigbleiben.« Patan lächelte. »Und genau diese Gefahr ist es, der ich meinen Mut verdanke, Doktor. Nein, es ist nicht leicht, sich für das eigene, absehbare Verhängnis zu entschließen. Nur sind die anderen Aussichten sehr viel schlimmer. Und das Leben ist, wie ich dich eben erinnert habe, eine zeit weilige Sache. Nur meine Seele gehört Spinne, und er ist in Ewigkeit. Sollte Ngen den Sieg davontragen, wird Spin ne eine Menge über Langeweile lernen. Aber täuscht euch nicht. Spinne lernt außer von Menschen auch von anderen Wesen. Wir sind nicht die einzigen vernunftbegabten Geschöpfe. Spinne gehören alle Seelen. Falls wir unsere Aufgabe einmal nicht mehr erfüllen, wird er uns verwer fen.« »Das finde ich aber ziemlich irritierend«, murrte Pike. »Es wird viele Menschen irritieren, während wir im Di rektorat die Netze weben. Leider hat Skor Robinson von Chester Armijo Garcia zuwenig gelernt. Er hätte vielen Menschen großes Elend ersparen können. Aber Cusps sind nun einmal Fragen des freien Willens. Menschen müssen sich selbst ihren Weg suchen. Jedes Lernen muß, soll es ehrlich ablaufen, schmerzhaft sein.« Darwin rieb sich die Nase, während er überlegte, zö gerte. Mit unentwegtem Lächeln nickte Patan. »Ja, Doktor, es wird noch viel Gewalt, Tod, und Leid geben. Mehr als in jedem früheren Abschnitt der menschlichen Geschichte. Wenn alles vorüber ist, werden ganze Planeten kahlge brannt, weite Gebiete des Weltraums verwüstet sein. Und ob das Ergebnis es wert ist — darüber zu befinden, bleibt Spinne überlassen.« »Und du siehst den Ausgang nicht voraus?« Ohne es zu merken, tappte Susan wiederholt mit der Faust gegen die Med-Einheit, neben der sie stand. »Kannst du nicht sehen, ob wir siegen oder unterliegen werden?« Patan lächelte wohlwollend. »Nein. Zu viele Cusps
werden zuviel Zukünftiges verändern ... Darunter auch meine Zukunft. Für euch, meine Kinder, halten die kom menden Monate sowohl Freude wie auch Leid bereit, aber ihr habt schon entschieden, daß ihr euch durch den Preis, den ihr entrichten müßt, von eurem Weg nicht abbringen laßt.« Pike fühlte seine Zuversicht sinken. Mühselig schluk kte er und blickte in Susans grimmige Augen. Ngen wartete. Und mit ihm seine Armee von Zombies.
26
PLANUNGSSAAL AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
»Das ist alles, Leute.« Ree erhob sich vom mit Utensilien und Arbeitsmaterialien wirr behäuften Konferenztisch, nickte rundum in den Kreis der Gesichter. Die Waffentech niker beendeten die Sitzung mit dem seit einiger Zeit bei ihnen beobachtbaren frischen Schwung. Ree trat beiseite und blieb den Techs aus der Quere, während sie, indem sie sich angeregt unterhielten, lebhaft diskutierten und scherz ten — oder tiefsinnige Nachdenklichkeit zeigten —, den Planungssaal verließen, zur Panzertür hinausdefilierten. Sie wirkten alle so jung — selbst die Gesichter, die Damen Ree schon seit dreißig Jahren kannte. Die Erregung in ihren Augen trug nicht zur Linderung seines Unbehagens bei. Worin sollte man nach den Ereignissen der letzten Monate noch einen Anlaß zum Optimismus finden? Ree hatte den Eindruck, daß Giorjs theoretische An wendungskonzeptionen zum Zweck der Zielgenauig keitssteigerung der Blaster bereits im jetzigen Stadium der Ausführung seine Erwartungen überstieg. Bei den Feuer leitfunktionen für die überlichtschnellen Fujiki-Blaster fraktale Geometrie nutzbar zu machen, wäre ihm nie mals eingefallen. Die Techniker würden alle Hände voll damit zu tun haben, der Kommukation unter allseitiger Berücksichtigung von Rotverschiebung, ZielobjektGeschwindigkeit, Reaktionszeit, Vakuum-Störfaktoren sowie der neuartigen Fraktalinterpretation das entspre chende Programm zu implementieren. Ree massierte sich den Nacken, betrachtete den ver schmuddelten Spendeautomaten. Wann hatte der graue Ingenieur nur dazu Zeit gefunden, so verdammt genial zu werden? »Und man muß sich mal vorstellen, daß ich ihm, als
Susan ihn an Bord brachte, fast den Hals umgedreht hät-te ...!« brummte Ree vor sich hin, ohne den Blick vom Auto maten zu wenden. Er drückte die Taste, die seinen Becher mit bittersüßem romananischem Tee füllte. »Admiral?« Ree verband die Kommu mit dem Fragezeichen in sei nem Kopf. »Ja, was ist?« »Die Viktoria hat den zugewiesenen Parkorbit akzep tiert und schwenkt in die Kreisbahn ein. Obristin ben Ach mad ist per ST im Transit und wird in zwanzig Minuten eintreffen. Das ST-Leitzentrum hat ihr zum Andocken Schleuse Sieben zugeteilt.« »Verstanden.« Ree zögerte einen Moment lang, ehe er sich anschickte, den inzwischen still gewordenen Pla nungssaal zu verlassen. Maya kam an Bord! Der schwa che Kopfschmerz hinter seinen Augen verdroß ihn, blieb eine ständige Mahnung an den Streß, dem er sich aus-setzte. Die Bordklinik empfahl ihm: Ausruhen und Ent- span nen. Aber bei Spinne, wann ? Maya war unterwegs, um an Bord zu kommen! In zwanzig Minuten? Er hatte sich Zeit reserviert, um die Fortschritte zu inspizieren, die Major Glick bei den Admissionsduktoren für die Stasis-Kohibition erzielte. Er trank vom Tee, während er sich auf den Weg zur Kom mandobrücke machte, blieb jedoch plötzlich mitten im alt vertrauten Korridor stehen. Wegen des Kopfwehs zog er den Schädel zwischen die Schultern. Maya kam! Rings um ihn ertönte das leise Summen der Projektil. Er hatte Glick zugesagt, sich mit ihm zu besprechen, zu fragen, ob er irgend etwas brauchte. Es würde nicht länger dauern als ... »Scheiß drauf! Nein, ich lege 'ne Pause ein.« Der Druck hinter seinen Augen ließ ein wenig nach. Er lächel te die weißen Abdeckplatten ringsum an. Wer hätte gedacht, der stark zerblastert und versengt gewesene Rumpf der Projektil könnte jemals wieder dermaßen von lebhaften Aktivitäten strotzen?
Zärtlich betatschte Ree die weißen Platten. »Weißt du was, altes Mädchen? Ich gehe zu Fuß. Ein bißchen Sport lichkeit kann mir nicht schaden. Wahrscheinlich ist's die letzte Gelegenheit für 'ne kleine Plauderei, hm?« Er drehte um, durchquerte den Korridor in Gegenrich tung und stieg den Aufgang zum F-Deck hinauf, genoß das Gefühl der Bewegung in seinen Beinen. »Weißt du, altes Mädchen, an sich ist Maya gar nicht deine Rivalin. Ich habe kein persönliches Gespräch mehr mit ihr gehabt, seit wir auf Sirius gewesen sind. Und au ßerdem, sobald irgend etwas passiert, muß sie abfliegen. Es wird bloß 'n kurzes Zwischenspiel sein. Sie ist so an die Viktoria gebunden, wie ich's an dich bin.« Er ging an zwei Patrouillensoldaten vorbei, einem Matrosen und einem Sturmtruppler, die ihn von der Seite anschauten. Was hatten die beiden denn? Hatten sie noch nie mit dem Raumschiff geredet? »Ich glaube, sie verstehen so was nicht, altes Mädchen. Aber sie sind ja auch noch jung. Sie haben vorläufig über haupt keine Ahnung, was für ein Verhältnis man zu einem Raumschiff entwickeln kann.« Rees Finger strichen liebe voll über die Abdeckungen, spürten an den Stellen, wo das Schiff zerrissen, zerborsten und später repariert worden war, die geringfügigen Unregelmäßigkeiten der Ultra schallschweißnähte. Sie hatten vieles gemeinsam, er und sein Schiff: Beide waren sie vernarbte Veteranen. Seit er in der Patrouille seinen ersten Kommandopo sten angetreten hatte, war die Projektil immer sein Leben gewesen, hatte sie stets seinen Lebenszweck verkörpert. »In deinen Decks steckt mein Blut, altes Mädchen. Du und ich werden immer zusammenhalten. Verdammt noch mal, vielleicht kann ich meinen Leichnam, wenn ich tot bin, durch den Konverter jagen lassen, so daß die Ele mente für Deckplatten verwendet werden können, hmm? Dann wären wir wirklich eins.« Er lachte gedämpft vor sich hin, schob die Schuld an seinen gefühlsduseligen Gedanken der Erschöpfung zu.
Trotz der Steifheit seiner Glieder, verursacht durch zu viele Stunden des Stehens, erklomm er den Aufgang zum ST-Deck, indem er jeweils zwei Stufen auf einmal nahm, streckte die Beine, indem er auf den letzten paar Hundert Metern zu Schleuse 7 besonders große Schritte machte. Ein wenig war er außer Atem, als er dort anlangte, doch er spürte das Herz mit beruhigender Kräftigkeit gegen die Rippen schlagen. Auf dem Bildschirm beobachtete er, wie Mayas ST das Bremsmanöver ausführte, aus den Hauptantriebsdüsen Reaktionsmasse in langen, hellgelben Flammen gegen den mit Sternen übersäten Hintergrund des Weltraums abstach. Eine Seite des schlanken, gefährlichen Flugapparats gleiß te weißlich, weil Welts Sonne sie beschien; die andere Seite beleuchtete das sanftere Licht des Monds, den die Romananer Kanker nannten. Die Viktoria, ein elfenbein heller, bikonvexer Obovoid, füllte eine andere Bildfläche aus; sie war als genaues Duplikat der Projektil konstruiert, allerdings erst ein Jahrhundert später gebaut worden. Der Kameraoptik-Bildwinkel kappte die Anderthalb-Kilometer-Länge der Viktoria visuell um ein beträchtliches Stück, entzog insbesonders die Mulden der ST-Hangars, die wie eine Kette schwarzer Perlen die oberen Decks säumten, der Sicht. »Wie lange dauert's noch bis zum Andocken?« erkun digte sich Ree bei dem Obergefreiten, der gegenwärtig als Befehlshabender des Wachpersonals fungierte. Mit feder sanften Berührungen schlich sich eine gewisse Leichtig keit in sein Herz. Zerstreut und nervös schabte er mit dem Daumennagel eine Kerbe in den Plastikbecher. »Um die fünf Minuten, Sir.« Der Obergefreite schwieg und furchte seine Stirn, während er auf irgend etwas lauschte, das ihm die Kommunikation per Kontaktron in den Kopf durchgab. »Die Kommu teilt mit, es hätte im Zeitplan ein Problem gegeben, durch das eine geringe Ver spätung eintritt.« Ree wartete, trank den restlichen Tee und schob den
Becher in eine Gürteltasche. Vorfreude verlieh seinen Muskeln frische Spannkraft, während er zuschaute, wie der ST sich näherte, auf den Hangar zuschwebte und der Pilot ihn einwandfrei hereinsteuerte. Die Teleskoparme der Magnetgreifer fuhren aus, legten sich um den stromli nienförmigen ST-Rumpf, verankerten ihn, fuhren ein und positionierten den Flugapparat an der Schleuse. Man fühlte ein hohles Klangen durch die Deckplatten dröhnen und den länglichen Verbindungstunnel hallen. »Anlegemanöver beendet.« »Verstanden.« Ein leises Winseln verebbte vollends, während der ST den Energiepegel minimierte. Gewohnheitsmäßig behielt Ree seine Leute im Augenmerk, überzeugte sich davon, daß das Wachpersonal auf der Hut blieb. Seit Rita für das irrwitzige Unterfangen, die Romananer vor der Ausrot tung zu retten, den Reaktorraum der Projektil gestürmt und besetzt hatte, versah das Wachpersonal den Dienst ohne jede Nachlässigkeit. Niemand sollte Damen Ree nachsagen, daß er aus seinen Fehlern nicht lernte. Zischen ertönte, während in der Schleuse der Druck ausgleich erfolgte. Sicherheitshalber wurden die Anzei gen gegengeprüft. Die Schleusentür klickte, ihre Pneuma tiken schoben die schwere, weiße Pforte auf, und wo vom Weltall kaltes Metall feucht-lauer Luft begegnete, entstand der gewohnte Kondensationsnebel. Maya trat in den Verbindungstunnel. Ihre tiefdunkle Haut kontrastier-te auffällig mit der Umgebung, ein Effekt, der das Ein-drukksvolle ihrer Erscheinung unterstrich. »Damen«, rief sie. »Wie schön, Sie zu sehen.« Sie ver zog das Gesicht zu einem herzlichen Lächeln. In ihren schwarzen Augen funkelte Freude. Ree lächelte gleichfalls, fühlte sich sonderbar aus der Fassung gebracht. War sie während der langen Zwischen zeit noch schöner geworden? Er prägte ihren Anblick sei nem Gedächtnis fest ein, als er ihre schlanke Gestalt sah, das schwarze Haar, das in Kringeln auf die Schulterstücke
ihrer weißen Galauniform fiel. Die stolze Haltung betonte ihre geraden Schultern und die Rundungen der Brüste. Ihre geschwungenen Hüften, der flache, muskulöse Bauch sowie die strammen Beine vervollständigten die Wirkung ihres Auftritts. Als ob sie Rees Empfindungen ver stünde, hielt sich ein Ausdruck von Keßheit um Mayas Lippen, während sie langsam, mit Bewegungen, die an eine Sandland-Tigerin erinnerten, auf ihn zukam. Geschmeidig und kraftvoll, in den Augen eine Herausforderung, blieb sie vor ihm stehen. »Willkommen auf der Projektil, Maya. Im Namen mei ner Offiziere und der Besatzung äußere ich die aufrichtige Hoffnung, daß Ihr Aufenthalt sowohl zufriedenstellend wie auch angenehm sein möge.« Ree ergriff ihre Hände, ein Glücksgefühl beengte ihm den Brustkorb. Für einen ausgedehnten Moment blickte er ihr in die Augen. »Im Namen von Offizieren und Besatzung der Viktoria spreche ich Ihnen zur Begrüßung alle Bewunderung und Hochachtung aus, Admiral. Wir sind sehr froh darüber, Welt als Ihre Freunde und Verbündeten betreten zu dürfen. In aller Form bietet die Viktoria Ihnen sämtliche Einsatz mittel und Fähigkeiten an, über die sie verfügt — wir ste hen zu Ihren Diensten, Admiral Ree.« »Und wir nehmen sie mit Begeisterung an. Ihrer tapfe ren Mannschaft und Ihrem vortrefflichen Raumschiff gilt unsere tiefste Dankbarkeit. Und wenn Sie nun so freund lich sind, mir zu erlauben, daß ich Sie an Bord begleite: Ich glaube, wir müssen in ernste Verhandlungen treten.« Förmlich verbeugte sich Ree und gab Maya den Weg frei. »So, jetzt sind wir aus 'm Holo. Das war fürs Offizielle. Wie war ich?« »Haben Sie irgendwas von Abendessen erwähnt?« fragte Maya, legte keck den Kopf schief, während sie Ree zuzwinkerte. »Ich habe seit sechs Stunden keinen Bissen gegessen. Ich bin so hungrig, daß ich in Graphstahl beißen könnte.« Kurz schwieg sie. »Wir essen doch allein,oder?« »Selbstverständlich. Die Projektil hat sich selbst über
troffen, um Ihnen zu zeigen, wie wir barbarischen Verrä terschweine Feste feiern.« Er nahm Mayas Arm und führ te sie das Deck entlang. »Heute abend bewirte ich Sie mit Köstlichkeiten und Wein. Morgen veranstalten die Roma naner etwas, das sie Barbecue nennen. Das ist ein altes amerikanisches Wort. Es handelt sich um eine Art von Grill- und Sauffest im Freien. Natürlich ist Ihre gesamte Mannschaft eingeladen, soweit sie dienstfrei hat.« Dreist blinzelte er sie an. »Man könnte sagen, es ist das Äußer ste, was Spinne aufzufahren versteht, um Ihre Crew zu korrumpieren.« Maya lachte, hängte sich fest bei Ree ein, schaute sich auf dem ST-Deck um. »Hier sieht's beträchtlich besser aus, als bei meinem letzten Besuch an Bord. Offenbar haben Sie die ganzen häßlichen Leichen inzwischen exter nalisiert. Und ich sehe keine Stolperdrähte, Barrikaden oder Blasterlöcher mehr.« Großspurig wies Ree rundum. »Und alle Leuchtkörper funktionieren wieder.« Er stampfte mit dem Fuß aufs Deck. »Und da, merken Sie's? Gravitation. Weder heben Sie ab, noch fallen Sie ins untere Deck. Das alte Mädchen ist wieder in glänzender Verfassung.« Maya schenkte ihm einen Blick aus ihren dunklen Au gen. »Sie haben für Ihr Schiff wirklich viel übrig, nicht wahr?« Damen nickte. »Und ob. Sie hat mich am Leben gehalten, Maya. Meinem Dasein einen Sinn gegeben. Jeder braucht im Leben einen Zweck — irgend etwas, für das er sich engagiert. Vom ersten Moment an, als ich sie gesehen habe, hat die Projektil mich für sich einge nommen. Ich habe für sie gekämpft, für sie getötet. Ich gäbe für sie sogar meine Seele her ... Aber sie gehört Spinne.« Maya musterte ihn spöttisch. »Sie und Ben, Sie sind mir zwei ...« Resigniert schüttelte sie den Kopf. »Beinahe hätte ich mich auf meine Befehlsgewalt berufen müssen, um ihn zum Verbleib auf der Kommandobrücke zu
bewegen. Er ist völlig verrückt danach, einen Ihrer Pro pheten kennenzulernen.« Rees Brauen hoben sich. »Tja, wir haben drunten einen in 'ner Höhle wohnen, Chester, den Propheten, der für einige Zeit als Geisel bei Skor Robinson gewesen ist. Ich werde Ben informieren. Falls der Prophet ihn empfangen will, wird er ihn erwarten. Falls nicht, wird Ben 'ne leere Höhle vorfinden.« »Ben führt sich wie ein Kind auf, seit wir Kurs auf Welt genommen haben. Glauben Sie, Ihr Prophet emp fängt ihn?« »Puh ...« Ree hob die Hand. »Bis jetzt hat noch nie mand erraten, was ein Prophet tun wird.« Sie betraten einen Lift. »Admiralskajüte.« Die Tür glitt zu. Maya drehte sich um und nahm Rees Hände, allmäh lich wich die Dienstlichkeit aus ihrer Miene. »Damen, Sie sehen übermüdet aus. Ich habe den Eindruck, so ausge laugt und abgeschlafft sind Sie nicht einmal gewesen, als Ngen Ihnen im Siriussystem die Projektil zu entreißen ver suchte. Sie haben ...« »Aber ich bin entschieden sauberer als damals.« Ree breitete die Arme aus, zeigte auf seine Galauniform. »Schauen Sie her. Kein Tropfen Blut. Nicht das kleinste Spritzerchen. Genießen Sie diesen Anblick, solange er er halten bleibt. Bisher ist mir von Ihnen jedesmal vorge worfen worden, wenn Sie den Fuß an Bord der Projektil gesetzt haben, zu was für einem verdreckten Subjekt ich heruntergekommen sei.« Maya gab ihm spielerisch einen Rippenstoß. »Das ist nicht, was ich meine. Und jedesmal bisher, wenn ich die Projektil besucht habe, hatte sie gerade schwere Kämpfe hinter sich.« Die Lifttür rollte auf, und Ree führte Maya in den Kor ridor zu seiner Kajüte, öffnete die Tür, indem er die Hand fläche auf den Scanner des Servomaten legte. »Willkom men bei mir zu Hause.«
Maya ging hinein, verschaffte sich zunächst einen Überblick in der ordentlich aufgeräumten Kajüte, besah sich die an einer Wand aufgehängten romananischen Waf fen einen Moment länger. An der Wand gegenüber prunk te eine auf gegerbte Ochsenhaut gemalte Spinne. In der Mitte der Kajüte war ein Tisch für zwei Personen gedeckt worden. Zwischen zwei Tellern glänzte eine braungeröste te Lammkeule vor Fett; in der gedimmten Beleuchtung glitzerten Trinkgläser aus Kristall, in denen ein bernstein gelbes Getränk lohfarbene Schatten auf den Tisch warf. »Haben Sie Hunger?« Ree deutete auf einen AntigravSessel. Maya schüttelte den Kopf und nahm Platz. »Wäre ich's nicht längst, würde ich's ganz bestimmt jetzt. Sie haben nicht übertrieben, als Sie von >Köstlichkeiten< sprachen. Was ist das?« Sie wies auf grüne Stangen. »Klingenbuschstengel. Versuchen Sie sie, es schmeckt wie eine Mischung aus Kartoffel und Yamswurzel. Eines der wichtigsten Lebensmittel der romananischen Küche. Klingenbuschstengel geben allein eine rundum ausgewo genes Nahrung ab.« Maya hob ihr Kristallglas. »Als erstes wollen wir auf die Projektil und ihren feschen Admiral anstoßen.« »Auf die Viktoria und ihre hervorragende Obristin«, antwortete Ree. Die Kristallgläser klangen leise, als ihre Ränder aneinanderstießen. Für einen langen Moment blickten Ree und Maya sich in die Augen. Maya lächelte; ihre normalerweise herbe Miene wurde dadurch sanfter. »Ich habe Sie vermißt.« »Und ich habe oft ... Also, ich habe mir gewünscht, zwischen uns stünden die Dinge anders.« Maya nickte, hielt Ree ihren Teller hin, während Ree mit dem Lasermesser säuberlich eine Scheibe Fleisch ab schnitt. Geruhsam verzehrten sie Gang um Gang die Mahlzeit. »So essen die Romananer? Kein Wunder, daß sie auf Sirius alles plattgemacht haben. Sie hatten einen enormen
Kalorienvorteil.« Maya schob den Teller mit den Es sensresten von sich und seufzte zufrieden. Ree erhob sich und füllte die Gläser nochmals mit ark turischem Scotch. Maya trat zu ihm, nahm das Kristallglas aus seiner Hand entgegen, stellte es beiseite, schlang den Arm um Rees Hals und zog seinen Kopf zu sich hinab. Zart küßte er sie. »Seit Sirius ist viel Zeit verstrichen.« Sachte legte er die Hände auf Mayas Schultern, ihm war, als müßte er in den Tiefen ihrer Augen versinken. »Das Leben ist nicht mehr wie früher. Etwas fehlt, Maya. Ich glaube, ich ... Naja, noch nie hat eine Frau mir soviel bedeutet. Damit zurechtzukommen, fällt mir um so schwe rer, je älter ich werde. Ich hätte gedacht, es verhielte sich anders herum.« »Stehen Sie noch zu der Entscheidung, die Sie in mei nem Büro auf Sirius getroffen haben?« Maya hob die Brauen und wartete auf seine Antwort. Ree atmete tief. »Ja ... und nein.« »Es behagt mir gar nicht, wie Sie aussehen, Damen. Sie haben allein die hiesige Region des Direktorats unter Kontrolle gehalten, während Toby und ich nach Welt ge flogen sind. Ich merk's Ihnen an, Damen. Nicht nur das, Sie sind richtig krank vor Sorge.« Mayas Blick forschte in seinen Augen. »Sie sind abgemagert. Wenn Sie so weiter machen, bringen Sie sich noch um.« Mit schwieligen Fingern streichelte er ihre Wangen, staunte über die Weichheit der Haut, umstrich die Umris se des Kinns. »Bleibt mir eine Wahl? Ich weiß, was Ngen treibt. Ich habe Robinson praktisch angefleht, mir irgend eine Art von Unterstützung zu geben, mit unseren Streit kräften und der Patrouille einen vereinten Schlag zu füh ren. Er ist ...« Ree schüttelte den Kopf. »Ach, ich weiß nicht ... Zu abgehoben? Konfus? Ist ihm denn nicht klar, daß ... Erkennt er nicht ...« Maya drückte ihn an sich. »Er ist ein psychisches Wrack, das versucht, das Direktorat so zu regieren, wie
er's seit jeher getan hat. Das gleiche gilt für Nawtow und An Roque.« Sachte fuhren ihre Finger über die Seiten von Rees Gesicht. »Die Direktoren können sich nicht umstel len. Daraus besteht das verhängnisvolle Manko ihrer gen technischen Zucht.« Ree küßte sie zum zweitenmal; doch plötzlich ging er auf Abstand, und Maya bemerkte, wie sich in seinem In nern ein Abgrund der Einsamkeit auftat. »Was ist passiert?« fragte Maya, rückte nach, legte ihre Hände auf seine Brust. »Du hast auf einmal einen schrek klichen Ausdruck in den Augen.« »Sie. Sie sind mir passiert. Ich habe verdammt den stärksten Drang, mich in Sie zu verlieben, Maya.« Ree faßte ihre Hände und küßte sie. »Und das jagt mir grausi ge Furcht ein. Ich weiß nicht, ob ich mir so was erlauben kann. Ob ich mir so eine Schwäche leisten darf. Weil alles so leicht in Unheil und Unglück enden kann.« Maya warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Wenn sie so denken, sind sie wirklich völlig ausgezehrt. Wir sind doch kein unschuldiges, junges Pärchen, Damen. Wie alt sind Sie? Fünfzig und 'n paar Zerquetschte? Und ich bin Ende vierzig ... Gut erhalten, mag sein, aber man wird keine Kommandantin eines Patrouillenschlachtschiffs, ohne sich als Halsabschneiderin und Intrigantin zu bewäh ren, ohne Gegenspieler so tief in den Dreck zu trampeln, daß sie nie wieder die Nase heben.« »Ihre romantische Ausdrucksweise überwältigt mich vollkommen, Maya.« Ree drehte sich ihr zu und zog sie mit sich auf die Polsterung des großen Antigrav-Sessels. Sie schmiegte sich in seine Armbeuge, ihre Finger stri chen über den Stoff seiner Uniform. »Diese blöde Galau niform ist mir schon immer zuwider gewesen«, bekannte Maya halblaut. »Sie ist so steif und lästig.« »Seien Sie vorsichtig. Möglicherweise kann ich für mein Betragen keine Verantwortung übernehmen. Män ner unter Druck sind zu den extremsten Taten fähig.« »Wissen Sie, nach Ihrem Abflug vom Sirius ging's mir
richtig mies. Erinnern Sie sich noch an unsere schmak khaften Abendessen? Unsere ausgiebigen Unterhaltun gen? Nach einer Weile hatte ich mich sehr daran gewöhnt, Damen. Als Sie fort waren ... Irgendwie war ein Licht aus meinem Leben verschwunden. Ich hatte ein Loch in mei nem Herzen, da hätten Sie 'n Blasterstrahl hindurchschie ßen können.« »Es gibt genug andere Männer, die ...« Maya preßte ihm Finger auf die Lippen. »Das stimmt nicht, und Sie wissen's genau. Sicher, ich könnte mir für nebenbei 'n Liebhaber suchen, um mit ihm Sexualsport zu betreiben. Aber hätte ich dadurch Liebe gefunden? So was ist unmöglich, solange ich das Raumschiff komman diere. An Bord der Viktoria funktioniert noch die alte in terne Hierarchie. Wer ist der ehrgeizigste Aufsteiger? Wer sägt an meinem Stuhl? Inwiefern könnte ein Liebhaber intime Kenntnisse gegen mich ausnutzen? Man muß immer wachsam bleiben. Und bei den unteren Rängen herrscht auch nie Ruhe. Gegenwärtig kursieren auf dem Geschützdeck zu viele Gerüchte. Nein, wenn man an der Spitze steht, muß man im Zölibat leben, oder man hat jede Menge zusätzliche Scherereien in Kauf zu nehmen.« Sie küßte ihn. »Sie sind mein Freund geworden, Damen. Ver flucht noch mal, ich ... Menschenskind, an dem Tag, als die Projektil gestartet ist, ich bin fast durchgedreht. Es hat mir beinahe das Herz gebrochen.« »Für mich war's auch nicht leicht.« Ree gestand la chend. »Während des letzten Flugs in den Orbit habe ich daran gedacht, so eine sirianische Penthousewohnung zu mieten, mir 'n paar Fläschchen guten Weins zu besorgen, etwas Musik dudeln zu lassen und Sie zu verführen.« Maya strich ihr Haar nach hinten. »Nun ja, Sie haben immerhin schon 'n guten Anfang gemacht. Wie soll ich sein? Schwer zu haben? Schüchtern? Oder voller hitziger Lust?« »Ich glaube, das klären wir, wenn's soweit ist.« Reezwin kerte ihr zu, massierte ihr durch die Uniform die Schultern.
»Na fein. Was mich betrifft, wär's mir am liebsten, Sie sind in Gedanken bei mir, statt bei dem, was Sie andau ernd so beschäftigt. Früher waren Sie weniger geistesab wesend, Damen. Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Aus wirkungen gefallen, die diese übergroße Verantwortung auf Sie ausübt. Spinne hat Ihrer Seele zuviel aufgebür det.« »Kann sein. Aber es ist seine Seele, der er soviel zumu tet. Nein, so wie die Lage ist ... Es wird noch wesentlich schlimmer kommen. Ich würde sagen, uns bleibt höch stens noch eine Gnadenfrist von sechs Monaten. Danach wird nichts und niemand mehr sicher sein. Ngen erweitert seine Machtsphäre nahezu exponential. Ich habe keine Ahnung, wie's gemacht wird, aber seine Wühler sind über all. Fast würde ich wetten, er hat die alten Schwarzmarkt verbindungen aus seiner Schmugglerzeit für seine messia nischen Zwecke eingespannt und ausgeweitet. Jedenfalls läuft's so, daß als erstes seine Plakate auftauchen. Danach kreuzen einige Wanderprediger auf und schwafeln an öffentlichen Kreuzungen ihren Humbug. Dann werden Holos gesendet, ein Krawall bricht aus. Das Direktorat versucht ihn zu beenden — natürlich ohne Erfolg, weil seine Mittel schon andernorts überbeansprucht werden. Und damit spielt es Ngen mit seiner rundum perfekt orchestrierten Stimmungsbeeinflussung der Massen gera dewegs in die Hände. Klar, gegen einen Tempel hat nie mand Bedenken. Nachher sind es auf einmal zwei, vier, acht, vierundsechzig. Und die Menschen irren verblödet umher, suchen ihren >Platz<. Und Ngen fliegt zur näch sten Welt.« Maya hob die Hand und öffnete an Rees Kragen die Knopfleiste, zog die dreieckige Kragenbrosche heraus und ließ sie fallen. »Ist das alles, an was Sie denken können? Nur immer Ngen?« Ree umarmte sie, genoß das Gefühl ihres straffen Kör pers unter der Uniform. »Sie halten sich fit.« Maya nickte, bewegte ein muskulöses Bein über Rees
Schenkel. »Darauf können Sie sich verlassen. Ich belege auf der Viktoria beim Frauenkampfsport den dritten Platz. Nicht schlecht für 'n altes Weib, hä? Wollen Sie meine Frage beantworten? Oder soll ich's für Sie tun?« »Ja, es stimmt, ich denke fortwährend an Ngen. Sie kennen nicht seine ganze Vorgeschichte. Manche der Ver brechen, die er im Siriussystem begangen hat, sind roma nanisches Staatsgeheimnis, weil ihr Bekanntwerden das Ansehen einiger meiner besten Untergebenen beeinträch tigen könnte. Alles was ich mache, geschieht in seinem Schatten, und er weicht nicht einmal von mir, wenn ich Sie zum Essen einlade.« Maya seufzte. »Der Kerl geht Ihnen an die Nieren, wie?« »Ja, tatsächlich. Die Wahrheit ist, wir haben vor ihm mehr Furcht, als ihn der durchschnittliche Direktoratsbür ger fürchtet. Wir sind auf Sirius gewesen. Die Hälfte der romananischen Krieger, die wir mitgenommen hatten, sind in seinem Blasterfeuer umgekommen. Von wie vielen Kriegen wissen Sie, die um den Preis fünfzigprozentiger Verluste gewonnen worden sind? Auf jedem Deck der Projektil habe ich gegen ihn gekämpft. Ich habe die Psychoprofile der Menschen gesehen, die in seiner Gefan genschaft gewesen sind. Und was am scheußlichsten ist: Ich habe gesehen, welchen Alptraum er heute aus dem Leben halbwegs zufriedener Männer, Frauen und Kinder macht. Und er hat vor, diese geistlosen Massen gegen uns zu hetzen, Maya. Die Padri sind nichts anderes als eine Zombie-Armee. In allem, was Van Chow anfängt, beweist er krankhaftes, diabolisches Genie. Und er will uns. Er hat der Projektil, den Romananern, Welt — uns allen — noch manches heimzuzahlen. Wir haben ihm den Sieg entrun gen. Ihn gegen alle Wahrscheinlichkeit geschlagen und mit der Visage in den Dreck gestoßen. Einen größenwahn sinnigen Irren wie Ngen dürfte es ständig wurmen, was wir ihm angetan haben. Wir haben ihm sogar seinen Spit zeningenieur ausgespannt. Ich bezweifle, daß Ngen ein
löcheriges Gedächtnis hat. Ich glaube, daß er uns all das nicht vergißt. Und diese Vorstellung hindert mich nachts am Schlafen. Sie und der Gedanke an die Zombies.« Maya lag still in seinen Armen, nippte gelegentlich an dem Scotch. »Ich neige keineswegs dazu, ihn zu unter schätzen. Du kennst das Grauen nicht, das er in meinem Raumsektor verbreitet hat. Ben hat einige annähernde Kalkulationen hinsichtlich seiner Feuerkraft angestellt. Ich habe den Eindruck, die Zahlen stimmen. Van Chow hat jetzt die gleichen Blaster in Verwendung, die er im Umraum Sirius' gegen uns eingesetzt hat. Nachbauten der Exemplare in seiner Raumjacht, lautet unsere Vermu tung.« »Damit wird er die Patrouille in Fetzen schießen.« Ree schnitt eine grimmige Miene. »Folglich stehe ich vor einem neuen Problem. Was gebe ich Toby? Überlas se ich ihr die Konstruktionszeichnungen der Fujiki-Blaster? Händige ich ihr die Quantenaugmentation für die Schutzschirm-Generatoren aus? Toby hätte Jaischa Men dez geholfen, uns zu eliminieren, hätte sie nicht Ngen auf seiner Flucht aus dem Siriussystem verfolgen müssen. Und nun soll ich ihr trauen? Sie wieder mit der Möglich keit ausstatten, uns schaden zu können? Guck mich nicht so skeptisch an. Wir haben aus den Bruderschaftsdateien sehr viel informatives Material gewonnen. Bei ihrer gegenwärtigen Armierung kann die Projektil es mit der kompletten Patrouillenflotte aufnehmen. Nein, das ist keine Protzerei. Ich bin gerne bereit, Ihnen die entspre chenden Zahlen zu zeigen. Es ist mein Ernst. Giorj hat die Daten ausgewertet, und das alte Mädchen ist vom Bug bis zum Heck umgebaut worden, modernisiert. Unsere Schutzschirme sind dazu imstande, die zusammengefaßte Feuerkraft der gesamten Patrouille zu deflektieren. Freilich, dadurch wird soviel Energie bean sprucht, daß kaum etwas für die Blastergeschütze übrig bleibt, aber wenn man nicht getroffen werden kann, ist das nicht so tragisch, oder?«
Maya sank der Unterkiefer herab. »Sie machen keine Scherze, oder?« Ree neigte den Kopf. »Nein. Und trotzdem bin ich be sorgt, weil wir nicht wissen, was Ngen auf Frontier aus den Bruderschaftscomputern gemolken hat. Er ist von Freitag Garcia Gelbes Bein gestört worden, ehe er alles herauszapfen konnte. Davon gehen wir auf alle Fälle aus. Ngens Computerexpertin stand noch an der Konsole, als der Schuß sie in den Rücken traf. Bloß traue ich Ngen nicht im geringsten über den Weg. Darum möchte ich un sere Gefechtsfähigkeit konsolidieren, soviel Erkenntnisse wie möglich sammeln und dann dem dreckigen Scheiß kerl gehörig die Tour versauen. Und danach werden wir ja sehen, ob 'ne Aussicht besteht, ihm den Dschihad ins gesamt zu vermasseln.« »Sie bringen sich noch um vor lauter Grämerei«, mahnte Maya nochmals in vorwurfsvollem Ton, wandte sich um und küßte Ree. »Jetzt bin ich doch da.« Ihre Fin ger glitten am Reißverschluß seiner Uniform hinab, öff neten ihn. »Ich werde Ihnen 'n bißchen von dem Druck ablassen, unter dem Sie stehen. Sie sind nicht mehr allein, Damen. Ich bin eine ziemlich tüchtige Bundesge nossin.« Ree küßte sie. Ihm war, als schwände eine Last von sei nen ermatteten Schultern. Er strich mit der Hand seitlich an ihrem Körper entlang, schwelgte lüstern im Gefühl ihrer Hüftwölbung, der Festigkeit ihres muskelstarken Schenkels. Als Maya sich die Uniform abstreifte, schien es, als wichen gleichzeitig auch Sorgen und Streß von ihm; begierig küßte Maya ihn, während sie anschließend ihm, indem ihre Finger zart über seine Haut fuhren, die letzten Stoffzipfel von den Beinen zerrte. Als seine Männ lichkeit sich aufrichtete, seine Hand eine pralle Brust umfaßte, die Warze zu kosen anfing, stieg gleichzeitig eine praktisch vergessene Glut der Leidenschaft in ihm empor Maya krümmte sich vor Lust, umarmte ihn fest, während seine Finger sanft ihren Körper erkundeten, er sie hinge
bungsvoll küßte, dabei spürte, wie in ihrem Leib die sexuelle Spannung wuchs, das Verlangen schwoll. Sie seufzte in wonnevoller Zufriedenheit auf, während sie sich zurechtrückte und sein steifes Glied einführte. Er blickte ihr in die Augen, ein Teil seiner selbst fand zum erstenmal seit viel zu langem wieder Frieden. Sie lä chelte zu ihm auf, paßte sich seinem Rhythmus an, um fing ihn, umschlang ihn unbändig mit Armen und Bei-nen. So konnte er die seelenlosen Augen, die geistlosen Mörder, die bereitstanden, Deus ihren Jubel zublökten, mit Blastern trainierten, zeitweilig vergessen. Während er die ganze Herrlichkeit von Mayas warmer Umarmung auskostete, darin mit ihr verschmolz, schien das Spinnenbild, das die eine Wand dominierte, ihnen zuzuschauen. * * * AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DER BREMSPHASE AUF DEM EINFLUG INS SONNENSYSTEM WELTS
»Religion dient bei gesellschaftlichen Lebewesen wie den Menschen mehreren Zwecken. An erster und wich tigster Stelle liefert sie einen Existenzgrund und einen Sinn sowohl für das Leben wie auch das Universum, das wir rings um uns wahrnehmen. Im Ergebnis gibt sie uns einen rationalen Mittelpunkt — ein Selbstverständnis — ,der als Basis herhält, von der aus wir uns mit dem Uni versum auseinanderzusetzen beginnen können. Sie läßt sich als das Fundament betrachten, als allgemeinstes Bezugssystem, mit dem als Grundlage wir das Weitere erforschen und das uns mit dem Maßstab versieht, an dem wir unsere Entdeckungen messen. Außerdem ist Religion ein soziokulturelles Bindemittel. Sie verleiht einer Gesellschaft vertikalen und horizontalen
Zusammenhang. Um ein Beispiel anzuführen: Das Ego, wie man das Individuelle nennt, bewahrt im wesent lichen denselben Glauben wie Vater, Großvater, Urgroß vater und so weiter, und eben diesen Glauben werden auch Sohn, Enkel, Urenkel und so fort pflegen. Das ist vertikale Integration, das Band zwischen den Generatio nen. Horizontale Integration durch Religion gestattet dem Ego die Überzeugung, daß jedes Mitglied seiner Gesellschaft zur Bewältigung der Realität im Kern die selben Verhaltensmuster befolgt. Also kann das Ego den anderen auf dem gemeinsamen Boden einer einheit lichen Weltsicht begegnen. Alle befinden sich innerhalb eines grundlegenden spirituellen Rahmens, der im Grundsatz Einigkeit und Verständnis zwischen Fami lien, Sippen oder Gruppen der gleichen Generation ermöglicht.« Pike spreizte die Hände; er ruhte halb in Sitzhaltung auf dem Polster, lediglich Beine und Hüften staken noch in der Med-Einheit. »Ohne Religion, egal ob sie geistlichen oder profanen Charakters ist, können Menschen nicht ihren Standort in Natur und Gesell schaft bestimmen.« Rundum hörte man die leisen Geräusche des Raum schiffs, die Energieentwicklung des Reaktors pulsierte durch das Deck. Susan lehnte in dem kleinen Klappstuhl, in dem sie immer Platz nahm, wenn sie Pike besuchte, um einfach nur bei ihm zu hocken und mit ihm zu plau dern. Patan kauerte im Schneidersitz, die Hände gefaltet, die Lider geschlossen, auf dem glänzenden Gehäuse einer Med-Einheit. Irgendwo hatte irgendwer ihn zum Ablegen seiner schäbigen, alten Lederkleidung überredet; statt des sen trug er jetzt eine saubere Dienstmontur der Patrouille. Seine Haare waren gewaschen, sein Gesicht leuchtete hell vor Reinlichkeit; in seiner Miene schien eine bildhafte Gegenwart uralter Weisheit der Realität seines jugendlichen Alters aufzuliegen. Susan nickte, während sie mit den Fingern durch die Fülle ihres Haars fuhr. »So habe ich mir das noch nie ver
deutlicht. Nach deiner Beschreibung könnte man meinen, Spinne wäre nur ... eine Ausgeburt der Gesellchaft.« »In gewissem Sinn ist jede organisierte Religion — beachte bitte das entscheidende Wort: >organisierte< Religion — genau das, nämlich ein von einer Priester schaft, die hohen gesellschaftlichen Rang und große Macht anstrebt, veranstalteter Betrug. So etwas unter scheidet sich völlig von einer schamanistischen Religion wie dem Spinnenkult. Sobald eine Kirche gegründet und die Religionsausübung organisiert wird, ist sie mächtig genug, um eine politische Institution zu werden. Tat sächlich läuft es bei den meisten Religionen so ab. Man kann sie bekämpfen, indem man analysiert, welche ele mentaren Aufgaben sie auf Kosten des Individuums erfüllt, dann das Dogma auf eine Weise kritisiert, die entlarvt, daß die Mängel den gesellschaftlichen Wert überwiegen.« »Was mir auf dem Berggipfel widerfährt, ist keine ge sellschaftliche Funktion.« Susan wies mit dem Finger auf Pike. Darwin nickte, betastete die Stücke des gebrochenen Santos-Kriegsmessers. »Stimmt, ist es nicht. Gleichzeitig verhält es sich aber so, daß mystische Erfahrungen jedem zugänglich sind ... Falls er sich der Mühe unterzieht, sie anzustreben. Das Wirksame solcher Erfahrungen besteht im Nähren des spirituellen Funkens — nur handelt es sich um einen Brennstoff, der organisierten Religionen unan genehm ist. Denke nur an all die echten Mystiker, die sich gegen organisierte Religion gesträubt haben. Damit geht man einen schwierigen Weg. Islam, Judaismus und Chri stentum springen am übelsten mit ihren Mystikern um. Nimm die Verfolgung der Sufis durch den Islam als Bei spiel. Oder die christliche Inquisition. Die religiöse Hie rarchie versucht ihre Autorität und überlegene Kompetenz in spirituellen Fragen glaubhaft zu behaupten. Sobald Leute des Fußvolks inbrünstig von Begegnungen mit Gott zu erzählen beginnen, werden die oberen Bosse nervös
und reagieren darauf ganz empfindlich, weil sie ihre Macht und ihre Zuständigkeit gefährdet, von Unterminie rung bedroht sehen.« »Ich begreife das nicht.« Susan setzte eine düstere Miene auf und schüttelte den Kopf. »Wie kann etwas, das für mich ein persönliches Erlebnis ist, derartig mißgedeu tet werden?« »Es möchte eben nicht jeder seinem Gott begegnen. Die Mehrheit der Menschen verläßt sich auf das, was ih nen einflußreiche Führer erzählen, die schon Generatio nen von dem ursprünglichen, wunderbaren Ereignis tren nen, das am Ursprung ihrer Religion stand.« Pike zuckte die Achseln. »Daß bei Spinne das Gegenteil der Fall ist, macht eine der Stärken seines Kults aus. Die Propheten haben ihre mystischen Erfahrungen Tag für Tag. Die Krie ger gehen selbst ihre eigenen Visionen suchen. In diesen Vorzügen liegt sehr viel Macht. Zudem gibt es seit dem Niedergang der Santos keine Spaltung mehr zwischen den Propheten.« Er runzelte die Stirn. »Man könnte meinen, die Propheten hätten mit ihren höherentwickelten Gehir nen gewissermaßen den Stau des menschlichen Gefühls matschs und der menschlichen Engstirnigkeit durchbro chen. Sie haben einen permanenten Nirwana-Zustand erreicht. Stehen schlußendlich in Kontakt mit der wahren Realität.« »Es dürfte schwerfallen, über Dogmen zu streiten, wenn man den Ausgang schon kennt«, erwiderte Susan spöttisch und blickte hinüber zu Patan, der gelauscht hat te, die Augen nach wie vor geschlossen, auf den Lippen ein schwaches Lächeln. »So etwas wäre offenkundig unvernünftig«, pflichtete der Prophet bei. »Außerdem ist es nicht so, daß es zwi schen Santos und Spinnenvolk eine religiöse Spaltung gäbe. Sie haben lediglich verschiedene Namen für das Unbeschreibliche, unterschiedliche Mythen, um das glei che zu vermitteln. Es ist belanglos, ob Herrjesses als Mensch gekreuzigt oder Spinne als Tier ans Holz genagelt
wurde, bestehen bleibt die Tatsache, daß das, was man als Gottheit bezeichnet, den Menschen etwas Lehrreiches gezeigt hat, nämlich daß sie immer daran denken sollen, sich ihre Freiheit zu erhalten ... Und indem sie sie verteidigen, Verantwortung übernehmen. Verantwor tungsbewußtsein beruht aus durch Erfahrung gesammel tem Wissen.« Darwin lachte. »Ich frage mich, was wohl der Rabe davon hält, daß ich mich mit Spinne abgebe?« »Wenn du dich mit dieser Frage genauer befassen möchtest, Doktor«, entgegnete Patan, »stehst du vor ei nem wilden Haschen nach Schatten, bei dem du nie eine endgültige Antwort finden wirst. Die Entscheidung liegt bei dir. Aber darf ich dir meinerseits eine Frage stellen?« »Natürlich.« »Gott ist Realität, nicht wahr? Zählt es dann überhaupt, welchen Namen man der höchsten aller Realitäten ver leiht?« »Also wäre so eine Beschäftigung sinnlos?« Ein knappes Nicken und Patans ständiges Lächeln be lohnten seine Einsicht. »Und wie führen wir nun unsere religiöse Umwälzung durch?« fragte Susan, lenkte das Gespräch aufs ursprüng liche Thema zurück. »Ging's nach mir, hielten wir an je den Kopf im Direktorat 'n Blaster und fragten: >Ist Spin ne Gott, ja oder nein?<« »Das könnte nur klappen, wenn man genug Blaster und genügend Zeit hat«, erwiderte Pike lächelnd. »Uns fehlt's an beidem. So ein Projekt kann nur durch Öffent lichkeitsarbeit Erfolg haben, durch das überzeugungskräf tige Auftreten einer Persönlichkeit in Verbindung mit Patans Fähigkeit, an Wunder grenzende Vorhersagen der Zukunft zu machen. Zusätzlich müssen wir uns auf Ge genkampagnen vorbereiten. Die Padri — und wahr scheinlich nicht bloß sie — werden unsere Postulate kriti sieren.« »Und die lauten?« fragte Susan perplex.
»Erstens gehen wir naturgemäß davon aus, daß ein Gott existiert. Zweitens unterstellen wir, daß Menschen Seelen haben. Drittens behaupten wir, daß die Seele un sterblich und Teil der Gottheit ist. Viertens nehmen wir an, es ist der Daseinsgrund der Gottheit, durch die unter uns aufgeteilten Seelen zu lernen beziehungsweise Erfah rungen zu sammeln. Das heißt, wir glauben, Gott ist, ob wohl er allmächtig ist, durchaus nicht allwissend.« »Wieso sollte Spinne nicht allwissend sein?« fragte Susan. »Die Propheten sagen uns, daß unsere Seelen da sind, um für Spinne zu lernen. Wäre Spinne allwissend, wes halb müßte er uns den Prüfungen des Lernens und Erfah rungensammelns unterziehen? Warum stünde der freie Wille unter seinem besonderen Schutz? Und was wäre der Zweck des Universums?« Susan nickte. »Schön, ich knüpfe da an, Doktor. Was ist der Zweck des Universums?« »Spinne strebt letzten Endes seine eigene Vollkom menheit an. Nach menschlichen Maßstäben handelt es sich um ein unendliches Streben. Aber ist es nicht zur glei chen Zeit ein edles Ziel?« »Genauso ist es«, stimmte Darwin zu. »Also lautet unsere Annahme, daß Gott unvollkommen ist. Solange die Gottheit unvollkommen bleibt, müssen Schmerz und Leid ertragen werden.« »Man wird zahlreiche Fragen nach Gut und Böse an uns richten.« Patans Gesichtszüge zeigten väterliche Be lustigung. Susan warf Pike einen fragenden Blick zu. Darwin nickte. »Natürlich. Die Problematik von Gut und Böse ist immer ein Buhmann der Religionen mit streng umrissenen spirituellen Hierarchien gewesen. Al les ist von der Natur Gottes abhängig. Wenn Gott gütig ist, warum läßt er zu, daß es das Böse gibt? Verschiedene Zweige des Buddhismus sehen Gutes und Böses zu glei chen Teilen vorhanden, als Gleichgewichtigkeit der Rea
lität. Spinne lehrt, daß das Böse ein Resultat des Zufalls ist, im einzelnen konkreter gefaßt, des freien Willens. Spinne selbst ist neutral, weder gut noch böse, lernt jedoch aus dem Vorfallen von beidem, für ihn bedeutet beides eine Versuchung, er bleibt darin unsicher, ob das Univer sum mit nur einem und ohne das andere besser beschaffen wäre, darum interessiert es ihn so sehr, weiter dazuzuler nen. Aufgrund unseres freien Willens begehen wir Fehler, damit Spinne zum Schluß keine Fehler mehr zu machen braucht.« »Das Direktorat hat der Menschheit das Böse auszu merzen versucht und ist dabei am Ende gescheitert. Ich frage mich, ob das Ergebnis überhaupt die Mühe wert wäre? Der Versuch des Direktorats, das Gute zum Allge meinzustand zu entwickeln, hat es anfällig für Van Chows Absicht gemacht, das Böse zur Normalität zu erheben.« Susan streckte die Hand aus, nahm Darwins Solinger Survival-Messer vom Tablett, betrachtete die Spiegelung des Lichts auf der Klinge, während sie überlegte. »He, für eine Romananerin bist du ja gehörig gewitzt«, frotzelte Darwin. Susan schmunzelte und zwinkerte ihm zu, wendete das Messer in ihren geschmeidigen Fingern hin und her. »Der Schlüssel zu einem Dasein mit Gutem und Bösem liegt in ihrem Ausgleich«, sagte Patan dazwischen, »in ihrem ausgeglichenen Kennenlernen, um die Eindringlich keit des Erlebens zu erhöhen. Die jetzige Regelung erfolgt rein natürlich, ausschließlich durch Ereignisse, die entwe der das eine hervorrufen, oder das andere, dadurch Kreis läufe mal des Leidens, mal des Glücks einleiten, die durch die Art der menschlichen Wahrnehmung etwas gemäßigt werden. Wie oft habt ihr euch beim Hungern an frohe Augenblicke erinnert? Wie häufig hat euch, wenn Freude euer Leben erfüllte, die Sorge um mögliches Unheil Kum mer bereitet?« Pike lachte. »Ja, das ist das jahrtausendealte Problem, nie genau zu wissen, wann es einem tatsächlich gut geht.
Die Menschen, die in einem Goldenen Zeitalter leben, wissen es in den seltensten Fällen zu schätzen ... Oder sie begreifen überhaupt nicht, was für ein großes Glück es ist, in so einer Realität zu leben. Und jene, die sich in fin steren Zeiten durchschlagen müssen, sind zu unwissend, unterliegen dem Zwang, viel zu schwer fürs bloße Über leben zu rackern, als daß sie deswegen deprimiert sein könnten. Sonderbarerweise tendieren gute Zeiten dazu, Perioden des Pessimismus zu sein, während schlechte Zeiten eine ausgeprägte Neigung zum Optimismus auf weisen.« »Ich bezweifle, daß Ngens gepsychte Zombies optimi stisch sind.« Es gruselte Susan, sie vergaß das Messer in ihren Händen, während sie leeren Blicks, versunken in Erinnerungen an Basar, in die Ferne außerhalb der Dek kenplatten starrte. »Nein, sind sie bestimmt nicht«, bestätigte Darwin sie in ihrer Meinung. »Ngen erschließt neue Spitzenleistun gen der menschlichen Erniedrigung. Kultur besteht teils aus Rückwirkungen der Technik und Umwelt, der Stimuli aus inneren und äußeren Quellen. Bei Ngen ist es so, daß er über eine technische Innovation verfügt — ein System zum Massenpsyching —, das es ihm ermöglicht, eine Population mit größerer Effizienz zu versklaven.« »Nach allem, was wir beobachtet haben, ist die Wir kung nicht rückgängig zu machen.« Susan lehnte sich zu rück. »Das Ich des betroffenen Menschen wird mitsamt seiner Persönlichkeit, seinen Erinnerungen und dem So zialverhalten ausgelöscht. Er wird zu etwas, das mehr als eine Maschine ist, aber weniger als ein Mensch. Wir kön nen ihn nicht mehr in das zurückverwandeln, was er vor her gewesen ist. Vielleicht kann man ihm dabei helfen, im Laufe längerer Zeit eine neue Persönlichkeit zu entwik keln, aber vollauf normal wird er nie wieder sein.« »Ngen verübt ein Verbrechen gegen Gott«, sagte Patan. »Er verweigert diesen Menschen den freien Willen. Dadurch blendet er Augen, durch die Spinne zu sehen
beabsichtigt. Er untergräbt den Zweck der Seele. Körper lich empfinden die Padri Schmerz und Ekstase, aber ihre Seelen haben davon keinen Nutzen. Nur aus diesem Grund werden die Propheten sich diesmal in menschliche Angelegenheiten einmischen. Nur deshalb gedenke ich mich selbst zu opfern.« »Würden durch Ngen keine Seelen gepsycht, könntest du dich heraushalten?« »Bisher sind nur einmal Propheten auf den Kriegs pfad gegangen.« Patan lächelte. »Das geschah während des ursprünglichen Zwists zwischen uns Romananern und der Projektil, als zwei Propheten des Spinnenvolks ins All flogen, um den Bestrebungen eines Santos-Propheten entgegenzuwirken, die das Dasein der Menschen maßgeblich beeinflußt hätten. Nachdem die Gefahr abge wendet worden war, kehrten sie nach Welt zurück und befinden sich noch heute dort. Auch Chester Armijo Gar cia flog in den Weltraum, aber nicht, um das Direktorat zu verändern, sondern um zu lehren und vielleicht Susan Smith Andojar zu retten, so wie ich vielleicht Darwin Pike gerettet habe.« Susan wurde bleich, ihre Haltung verkrampft. Pike bemerkte, daß ihm der Atem stockte: In blitzartig-schlaglichthafter Erinnerung sah er sich das Solinger Messer an die eigene Kehle setzen. »Warum gerade uns?« Gleichgültig zuckte Patan die Achseln. »Weil du, soll test du jemals in der erforderlichen Weise geneigt und Spinne ergeben sein, sehr wohl seinen Zwecken dienen kannst. Natürlich unter der Voraussetzung, daß du, in dem sich die Pfade der Zukunft verzweigen, deine Cusps richtig entscheidest.« »Und was ist mit der Menschheit?« fragte Pike, der den Propheten und sein Lächeln mit höchster Aufmerk samkeit beobachtete. »Die Menschheit hat für Spinne keine Bedeutung, Doktor. Die Propheten kümmert es nicht, ob Menschen leben oder sterben. Wenn das Menschengeschlecht über
dauert, dann weil es Spinne fortgesetzt mit Erkenntnis sen versorgt. Falls die menschliche Rasse ausstirbt oder untergeht, gibt es andere Wesen, die weiterhin lernen und Gottes Zwecke erfüllen. Wir Menschen sind nichts besonderes, Doktor. Menschen haben lediglich eine sonderbare, gefühlsbedingte Schrulle: Das Bedürfnis zu glauben, das Universum sei ausschließlich für sie geschaffen worden. Das ist eine äußerst einfältige und unreife Auffassung.« Darwin nickte, schluckte nervös. »Inwiefern sind Su san und ich wichtig?« Seine Stimme klang mit einem Mal rauh. Keinem Menschen behagte die Vorstellung, von Gott auserwählt worden zu sein. Gott war dafür berüchtigt, seine Günstlinge reichlich rücksichtslos zu verschleißen. Doch wenn man Gott war, verursachte es den Auserwählten ziemliche Schwierigkeiten, seine Zumutungen zurückzuweisen. »Das hängt von den Cusps ab, Doktor.« Diesmal hatte Patans wohlwollendes Lächeln nichts Beruhigendes an sich. »Es mag notwendig werden, daß du und die Kom mandantin Spinnes Werk verrichten, wo andere gemein sam scheitern. Vielleicht könnt ihr tun, was andere nicht zu leisten vermögen.« »Vielleicht?« wiederholte Susan gedehnt. Verstohlen warf sie Pike einen trübseligen Blick zu. »Es kommt dabei darauf an« — Patan lächelte und verbeugte sich andeutungsweise —, »ob ihr, du und der Doktor, stark genug seid. Und selbstverständlich bestim men die Cusps sämtliche Ereignisse. Ich kann eine erhebliche Vielfalt eures möglichen Handelns vorausse hen. Es kann sein, ihr werdet bald zu Ngens geistlosen Zombies zählen. Oder es mag sein, ihr werdet Retter der Menschheit. Oder vielleicht seit ihr in Kürze tot. Es kann auch so kommen, daß ihr nie auf die Probe gestellt wer det. Wie immer wird die Zukunft vom freien Willen gestaltet. Jetzt habe ich euch alles gesagt, was ich verra ten darf, ohne euer Vermögen, die Cusps zu bewältigen,
die ihr möglicherweise durchzustehen habt, zu beein trächtigen.« Patan lehnte sich zurück und schloß die Lider. Susan kannte sich hinlänglich mit Propheten aus, um zu wissen, daß er die Unterredung beendet hatte. Darwin brauchte länger, um sich damit abzufinden; er rannte noch eine ganze Zeitlang vergeblich gegen Patans Mauer des Schweigens an.
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AN BORD DER ROMANAN WÄHREND DER DURCHQUERUNG DES TRYSTSYSTEMS
Major Neal Iverson betrachtete das Bild auf dem Monitor. Tatsächlich, sie hatten die Gregorius entdeckt, sie schweb te untätig im All, bot ein leichtes Ziel. Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen, durchdachte die Optionen. Einerseits hatte der Admiral ihm die Rückkehr nach Welt befohlen. Andererseits hatte er hier eine verführerische Gelegenheit, um aus günstiger Ausgangsposition einen Angriff auf die durch Ngen Van Chow gekaperte Grego rius zu fliegen, das jetzige Flaggschiff des >Messias<. Iverson verschafft sich einen Eindruck von den Mienen seiner Offiziere, die sich auf der engen Kommandobrücke befanden. Das Glitzern in ihren Augen, während sie das Ziel betrachteten, ließ sich nicht übersehen. Die Gregorius war ihnen an Feuerkraft im Verhältnis fünfhundert zu eins überlegen. Trotzdem: Es bedurfte nur einer geringen Vek torkorrektur, und ihr umgebauter FLF schoß mit Lichtge schwindigkeit geradewegs auf die Gregorius zu, quasi dem Feind in den Rachen. Das Schlachtschiff kreiste im Standardorbit um Tryst. Wahrscheinlich herrschte an Bord die unterste Wachsamkeitsstufe, hatte die Mehrheit der Geschützbedienungen dienstfrei. Iverson zögerte, blinzelte auf den Monitor. Anfunken konnte er den Admiral in der gegenwärtigen Situation nicht. Die Entscheidung lastete ganz allein auf seinen Schultern. Sein Blick schweifte über die Gesichter der auf der Kommandobrücke anwesenden Diensthabenden. Sie schauten ihn regelrecht tatendurstig an. Einige wiesen mit den Daumen aufwärts. Nakai kaute auf den Lippen, behielt die Monitor-Wiedergabe, die Lider zu Schlitzen verengt, im Auge.
»Wir greifen an«, beschloß Neal. Er hatte vier FujikiBlaster und einen verstärkten Bugschutzschirm, und bei neunundneunzigprozentiger Lichtgeschwindigkeit konn ten sie innerhalb von dreißig Sekunden in Schußweite sein. Masse, Schutzschirme und Zielerfassungssensoren würden ihre Annäherung erst fünf Minuten vor Erreichen der maximalen Schußentfernung preisgeben. Die Lage war außerordentlich vorteilhaft. Diese Frist ließ der Besat zung der Gregorius kaum Zeit zum Reagieren. »Höchste Alarmstufe!« befahl Neal. »Gesamte Besat zung gefechtsbereit machen! Blaster-Bedienungen und Schadenbekämpfungstrupps auf die Posten! Die Sturm truppen haben für alle Fälle die ST zu bemannen.« Neal verfolgte mit, wie seine sorgsam ausgesuchte Crew ihre Funktionen mit der Regungslosigkeit einer einwandfrei en Maschine erfüllte. Nichts Überflüssiges oder Hinderli ches geschah, als sein kleines Kriegsschiff sich darauf vor bereitete, das nahezu Unmögliche zu wagen. Das Korri gieren des Vektors beanspruchte fünfzehn Minuten, wäh rend sie auf Tryst und die Gregorius zurasten. »Ihre Sensoren haben uns geortet«, rief Jacob Anson, dessen Computer den rotverschobenen Wirrwarr ge krümmten Lichts entzerrten. »Fernscanner mit Transduktions-Signalisatoren müssen auf unsere Masse angespro chen haben. Feindliche Peilung konzentriert sich auf uns.« Neal blickte aufs Chronometer. Noch sieben Minuten, bis das Feuer eröffnet werden konnte. Ob der Gegner die Fähigkeit hatte, die Signale so schnell zu entschlüsseln? Er bezweifelte es. Ngen konnte die Blaster-Bedienungen unmöglich in ständiger Alarmbereitschaft halten. Sie wa ren Menschen. Kanoniere fingen sich zu langweilen an, wenn sie nichts zu tun hatten. Die Moral sank. Ließ man Leuten zwischendurch keine Zeit fürs Amüsement, riß bald Schlamperei ein. Nur herumzustehen oder -zusitzen und ein Blastergeschütz anzuglotzen, war etwas ähnli ches, als wollte man einem Felsen beim Verwittern zu schauen.
»Waffen testen«, ordnete Iverson an, sah gleich darauf die grellen Blasterstrahlen durchs Weltall schießen. »Feuer frei in drei Minuten«, rief Neal. Seine Blaster gaben ihm einen Vorteil. Er konnte fast fünfzehn Sekun den länger feuern als die Gregorius mit ihren vergleichs weise primitiven Patrouillenblastern. Oder war Ngen un terdessen Zeit geblieben, um das Schlachtschiff auf das Niveau umzurüsten, das seine Raumschiffe im Siriussy stem gehabt hatten? Aber es spielte weder so noch so eine Rolle. Es bestand eine gute Chance, mit der verfügbaren Beschußdauer das gewaltige Schlachtschiff zumindest schwer zu beschädigen. Die Zielerfassung verarbeitete Masse, Beschleunigung, Lichtgeschwindigkeit, Rotverschiebung, Partikelvertei lung und eine Vielzahl sonstiger Variabler, errechnete die Bahn der Blasterstrahlen sowie den Grad ihrer geschwin digkeitsbedingten Krümmung und Abweichung; die Feu erleitcomputer setzten die Informationen in konkrete Ziel daten um, richteten die verheerenden Waffen, bis aufs Ängström genau adjustiert, auf Punkte im All, an denen die Gregorius schließlich getroffen werden konnte. »Gegner peilt uns an, Kommandant«, erscholl Ansons Stimme. »Feindliches Schiff schwenkt auf Triangulations kurs aus dem Hochorbit. Trysts Umraum muß mit Senso ren gespickt sein.« »Bei unserer Geschwindigkeit kann der Gegner von einer nur begrenzten Trefferwahrscheinlichkeit ausgehen. An Daten haben sie drüben bloß Massenbewegung, Vek tor und Geschwindigkeit. Die Aussicht, daß sie treffsicher auf uns zielen können, ist gering.« Allerdings hatte Ngen überraschend schnell reagiert. Neal malte sich das Durcheinander auf der Komman dobrücke der Gregorius aus, als man die Geschwindigkeit gemessen hatte, mit der er auf sie zustürzte. Hektische Konfusion mußte herrschen, während man zu ermitteln versuchte, wie lang es noch dauerte, bis man die Waffen in Einsatzbereitschaft gebracht hatte. Vermutlich glaubte
aber niemand, ein so kleines Raumschiff könnte eine erns thafte Gefahr bedeuten. Die Zeit diktierte, während Neal wartete, sich dessen bewußt, daß die Aktivitäten auf der feindlichen Komman dobrücke für seine Augen lediglich als einem Menschen ununterscheidbares, verschwommenes Gekleckse sichtbar wären, wogegen er, ein vorübergehend relativiertes Lebe wesen, sich aus der Perspektive des Gegners überhaupt nicht regen würde. Die Feuerleitcomputer beendeten ihre Berechnungen, und vier violette Strahlen stachen hinaus ins All, schienen sich, indem sie auf die Gregorius zuschossen, irgendwo auf ihrer gekrümmten Bahn zu vereinen. Um das riesige Raumschiff flackerten die Schutzschirme auf, schillerten bunt in allen Farben. Voraus flammte Violett durchs Vakuum, als die Gregorius das Feuer erwiderte. »Wir verzeichnen Treffer!« schrie Anson. »Wir bla stern denen glattweg durch die Schutzschirme.« »Volle Energie auf Schutzschirme!« befahl Neal, spür te das übliche, seltsame Rucken, das auftrat, wenn die Gravo-Kompensatoren sich veränderten Beschleuni gungswerten anpaßten. Sie schienen Schleier aus Violett, Blau, Grün, Gelb und Rot zu durchstoßen, als sie die Strahlen durchquerten. Es waren zu viele Blasterstrahlen, erkannte Neal in plötzlicher Verwirrung. Das gesamte Geschützdeck der Gregorius feuerte auf sie, hatte sich auf ihren Vektor eingepeilt. Aber wie? Neal blieb ein flüchtiger Augenblick der Verblüffung, ehe seine Schutzschirme infolge Überlastung aufglosten. »Volle Beschleunigung!« schrie Neal. Er fühlte, wie Andruck ihn in den Kommandosessel stieß, war sich dar über im klaren, daß er mit seiner Korrektursteuerung die Blaster und in bestimmtem Umfang auch die Kapazität der Schutzschirme geschwächt hatte, aber das Farbgeschiller verschwand. Neal sah sich die Anzeigen an, während ein Alarm
plärrte. Aus den heckwärtigen Sektionen entwich mit be stürzender Schnelligkeit Luft. Sie waren getroffen wor den! Wie ernst? Neal warf einen Blick auf die Statusdaten des Reaktors. Er stutzte, schluckte mühsam. Die Stasisfel der schwankten, oszillierten auf und ab. Erbittert schlug Neal eine Faust auf den Kommandosessel. Wie hatten die Padri es geschafft, so rasch die Sensordaten zu entschlüs seln? Wie war es ihnen gelungen, so zügig zur Verteidi gung überzugehen? Nicht einmal unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Relativitätseffekts hatten sie sonderlich viel Zeit verfügbar gehabt. »Maschinenraum«, rief Neal in die Kommu. »Was können Sie hinsichtlich des Reaktors tun?« »Beten«, lautete die lakonische Antwort. Genau das tat Neal, hob flehentlich den Blick zu der Spinnendarstellung, die jemand über ihm auf die Decken platten gemalt hatte. Mit der Zunge befeuchtete Neal sich die Lippen. »Na kai ...!« Seine Stimme klang jetzt nach Distanziertheit. »Leiten Sie alle Energie, soweit sie irgendwie entbehrlich ist, dem Transduktionssender zu. Die Energieabfuhr wird dabei helfen, die Stasisfelder zu effusieren. Übermitteln Sie in verworfelter Rafferfassung alles dem Admiral. Womöglich bleibt uns nur noch wenig Zeit. Beeilung, Mann!« »Jawohl, Sir. Wir sind schon auf Sendung, Sir. Ich prä zisiere den Richtstrahl während des Sendevorgangs.« Neal wartete ab, versuchte mit den Geräuschen, die das Mahlen seiner Backenzähne verursachte, die verzweifel ten Anrufe aus der Kommu zu übertönen. Der Anruf, den er schon die ganze Zeit befürchtete, kam fünf Minuten später. »Kommandant, die Reaktion entgleitet unserer Kontrolle. Sie haben keine Minute mehr, um den Reaktor abzuschalten ... Sonst wird hier aus uns 'n neuer Stern.« Neal Iverson spürte, wie sein Herz für einen Moment aussetzte, und klappte das Fach auf, das die Notfallschal
tung enthielt, betrachtete die beiden roten Schalter. Die Kommu-Kameras dokumentierten das Geschehen auf der Kommandobrücke, sendeten auf der Patrouillenfrequenz eine lückenlose Aufzeichnung an Admiral Ree. Neal kipp te den ersten Schalter; dann zögerte er erneut. Voraus erstreckte sich ununterbrochenes Weltraumschwarz, der nächste bewohnte Himmelskörper lag neunundachtzig Lichtjahre entfernt. Die Aussicht auf Bergung? Es gab keine. Selbst wenn Ngen der Meinung sein sollte, eine Gefangennahme könnte sich lohnen, würden seine Raum schiffe eine Ewigkeit brauchen, um die Romanan zu fin den. Iverson starrte den zweiten Schalter an, der ihnen fürs erste das Leben retten konnte. Auf der Bildfläche mit den Reaktoranzeigen überstiegen die Werte weitaus die kriti sche Marke. »Kommandant!« erreichte ihn aus dem Maschinen raum ein gepreßter Aufschrei. Neal blickte in die aschfah len Gesichter auf der Kommandobrücke. Keine zwei Monate würden verstreichen, bis sie zur Menschenfresse rei herabsanken — aber in fünf Wochen wäre ohnehin der Sauerstoff verbraucht. So weitab von Sternen ließ sich nicht genug Solarenergie akkumulieren, um die Generato ren in Betrieb zu halten. Neals Finger lagen noch auf dem Schalter, als das Raumschiff erbebte, der Reaktor hochging. »Kommandant!« schrie die Stimme durch die Kommu. »Um Gottes willen, schalten Sie ...!« Die Reaktion zerfiel. Materie und Antimaterie annihi lierten sich gegenseitig, ohne daß es irgendwie hätte ab gewendet werden können. Die Explosion im Innern des Schiffs dauerte nur einen Augenblick, erzeugte ein sicht und aufzeichenbares Aufblitzen grellen Lichts, verstrahlte es — wie Ringe, die ein ins Wasser geworfener Stein auf einem Teich hinterläßt — zu den Sternen. * * *
Auf der Kommandobrücke der Deus war Ngen Van Chow beinahe überrascht, als die Sensoren den Lichtblitz vierzig Minuten später auffingen. Er lachte in hämischer Schadenfreude. Also hatte er sie doch erwischt! Aus schließlich die Explosion des Raumschiffs konnte soviel Energie freigesetzt haben. Er machte es sich im Komman dosessel bequem, sein Blick streifte die Monitoren, auf denen er die Bedienungsmannschaften der Geschütz decks sehen konnte, die in Reih und Glied an ihren Bla stern standen, sie mit ausdrucklosen Gesichtern anstarr ten. Solange sie alle zwölf Stunden rotieren konnten, blie ben sie dort so stehen, befanden sich immer in Gefechts bereitschaft, waren sie pausenlos wachsam; sie hatten nichts mehr außer dem in den Köpfen, dessen es zur Tä tigkeit in den Waffenkuppeln bedurfte. Die Schadenbekämpfung meldete sechs von den my steriösen feindlichen Blastern in den Rumpf geschossene Lecks. Die Schutzschirme waren mühelos durchschlagen worden. Ngen langte nach M'Kleas Hand, strich mit den Fingerkuppen über ihre glatte Haut. »Das war wirklich sehr aufregend ...!« sagte sie halb laut, während sie sich die Filmaufnahmen des Kampfs ansah. »Zu dumm, daß sie sich selbst vernichtet haben. Hätten wir mit ihnen nicht riesigen Spaß haben können?« Ngen gab ein Brummen von sich, beschäftigte sich in Gedanken mit diesen sonderbaren Blastern. Er rief die Spektralanalysen ab, checkte die Rotverschiebung. Un möglich! Die Strahlbahnen konnten doch unmöglich die Lichtgeschwindigkeit überschritten haben...? Die Blaster strahlen hatten nicht die normalen Kennzeichen. Der gemessene Effekt wies Ähnlichkeiten mit dem Auftau chen eines Partikels aus einem Bereich auf, woher Partikel gewöhnlich erschienen — von außerhalb der Raumzeit. »Was bedeutet das?« überlegte Ngen laut, stützte das Kinn in die Hand. Zerstreut streichelte er mit den Fingern der anderen Hand das feste Fleisch von M'Kleas Becken,
als wollte er darauf ein Muster ziehen, als bildete er die Umrisse des Lebens nach, das im warmen, feuchten Schutz ihres Leibes heranwuchs. *
*
*
ARKTURUS, UNIVERSITÄTS-STATION
Ten MacGuire schritt durch die weit ausgedehnten Korri dore der Technisch-physikalischen Fakultät der Universitäts-Station. Er rieb sich die müden Augen. Eine Fakul tätssitzung? So spät am Abend? Dann konnte nur der Direktor sie anberaumt haben. Aber schließlich herrschten längst keine normalen Verhältnisse mehr. Das gesamte Direktorat glich einem Tollhaus, seit widersprüchliche Geschichten über aus dem All geblasterte Stationen, bom bardierte Planeten sowie die Ausbreitung des Deus-Kults in den Ambrosius-Sektor und sein Vordringen in den Gulag-Sektor umliefen. Inzwischen predigten die Padri in aller Öffentlichkeit, sogar an der Universität. Mittlerweile fiel Deus' Name überall, kritzelte man ihn — zusammen mit anderen Schmierereien, wie direktoratsfeindlichen Parolen — an die Wände. Gleichzeitig durchstreiften Anhänger des Spinnenkults die Straßen und Korridore. Zu vieles stand heutzutage Kopf. Und nun sollte auch noch mitten in der Nacht eine Fakultätssitzung stattfinden? Ten betrat den großen Sitzungssaal der Physikalisch technischen Fakultät, sah dort einen Großteil aller Mitar beiter sowie eine Anzahl Physikprofessoren bereits ver sammelt; sie saßen in den Sesseln und warteten, alle wirk ten, nach ihren Augen geurteilt, genauso übernächtigt wie er. »Ten?« fragte Veld Arstong, erhob sich von seinem Platz. »Was soll das alles hier? Wir haben eine KommuMitteilung erhalten. Dringende Angelegenheit, hieß es. Was hat's denn damit ...?«
»Ich habe keine Ahnung«, unterbrach Ten ihn. »Mir ist auch nicht klar, was das alles zu bedeuten hat.« »Aber Sie haben uns doch verständigen lassen.« Coree Mancamp fuhr hoch, zeigte mit dem Finger auf Ten. Plötz lich erscholl im Saal ein Gewirr gereizter Stimmen. Ten winkte mit beiden Armen ab, schaffte es endlich, die aufgeregten Kollegen einigermaßen zu beruhigen, während noch ein paar Nachzügler sich einfanden und so baff dreinschauten wie der Rest. »Jetzt reicht's! Hören Sie mir doch mal zu! Ich habe diese Versammlung nicht ein berufen. Ich bin auch bloß durch die Kommu darüber informiert worden, es wäre etwas Dringendes zu erledi gen, und ich habe angenommen, die Direktoren hätten eine Zusammenkunft veranlaßt. Ich schlage vor, ehe wir übereilte Schlußfolgerungen ziehen, wir warten erst ein mal ein wenig ab und sehen, was passiert. Falls die Direk toren uns brauchen, um irgendein Problem zu lösen, wer den sie sich sicherlich gleich mit uns in Verbindung set zen. Und denken Sie an folgendes, liebe Kollegen: Wenn tatsächlich etwas Dringliches anliegt und die Direktoren zu Beratungszwecken eine Art von Kader im Hintergrund wünschen, wären sie bestimmt empört, fänden sie nieman den vor, sobald sie sich an uns wenden wollen, nur weil wir ohne jede Überlegung nach Hause gegangen sind.« »Das ist 'n Argument«, gab Helmut zu. »Ich ...« Ihm sank der Unterkiefer herab. »Mensch, glauben Sie, dahin ter könnten mal wieder die Studenten stecken?« »Das will ich nicht hoffen.« Veld drosch eine Faust in die Handfläche und blickte rundum. »Na, an dumme Strei che müßten wir ja inzwischen gewöhnt sein. Sollte so was der Fall sein, Coree, glauben Sie, Sie können den oder die Urheber, die dafür verantwortlich sind, ausfindig machen?« Vom Eingang ertönte eine unbekannte Stimme. »Das wäre sicher ganz lustig, meine Herrschaften — aber völ lig zwecklos.« Verkniffen zwinkerte Ten in den Mittelgang, dann
sperrte er vor Entgeisterung die Augen weit auf: Die Per sonen, die jetzt zur Tür hereindrängten, trugen Polizeibla ster von bedrohlichem Aussehen. »He, was zum ...?« Er verstummte, als er in den Lauf einer der Waffen blickte, mit der ein dunkelhaariger, jun ger Mann ihn bedrohte. Der magere, kaum zwanzig Jahre alte Kerl sah nicht nach einem Polizisten aus. Die grellfar bene Kleidung, die er am Leib hatte, glänzte abgewetzt. Ten bemerkte den schwachen Schweißgeruch eines unge waschenen Körpers. »Ihre Fragen werden umgehend beantwortet, Dr. MacGuire. Aber als erstes wollen wir, daß Sie sich alle schön brav hier aufstellen. Versuchen Sie nicht, uns irgendwie aufzuhalten oder uns abzuhauen. Ich versichere Ihnen, daß wir keine Bedenken haben, jemandem 'n Fuß oder 'ne Hand abzuschießen. Alles was wir unversehrt brauchen, meine Damen und Herren, sind Ihre Gehirne.« An der häßlichen Blastermündung vorbei schaute Ten dem Mann in die Augen. Ein Student war er nicht, dafür zeichnete er sich durch zuviel Härte aus. »Ich glaube, es ist besser, wir hören auf ihn«, sagte Ten in die Stille, die sich plötzlich ergeben hatte. »Ich finde, da haben Sie völlig recht«, bekräftigte der Sprecher der Bande mit öligem Tonfall. »Ich werde alle mal bezahlt, egal ob Sie in Bestform sind, oder ob Ihnen was fehlt. Für mich bedeutet's keinen Unterschied.« »Die Direktoren werden ...«, rief Veld, aber seine Stim me verklang mit einem Gestammel, als ein dürres, blondes Mädchen, gekleidet in eine der trostlosen Kutten, in denen man sonst die Deus-Padri umherlatschen sah, ihm einen Blaster direkt am Unterleib aufsetzte. »... we-werden ...« Das Mädchen feixte boshaft und schaute Veld, dem schier die Augen aus dem Kopf fielen, ins Gesicht. »Ja? Was möchten Sie sagen, Dr. Arstong?« Veld bewegte die Kiefer, doch kein Laut drang ihm mehr aus dem zu einem O aufgerissenen Mund. »Schieben Sie los, oder 's geht in die Hos', Doktor.«
Albern kicherte das Mädchen, drückte Veld den Blaster kräftiger in den Unterleib. Der Bandensprecher lachte meckernd. »Wie ich mir dachte, da verzichtet Dr. Arstong doch lieber auf seine Kommentare. Also marsch-marsch, meine lieben Intellek tuellen, wir ziehen ab. Uns bleiben dreißig Minuten Zeit, um zur Zentralachse zu gelangen. Bis dahin dürfte Ihre Bootspartie vorbereitet sein.« »Unsere ... Bootspartie?« Ten hob den Kopf, war in Gedanken halb bei seiner Frau und den Kindern, die eini ge Etagen entfernt schon in tiefem Schlaf lagen. »Ja. Das ist bloß so 'n Ausdruck. Sie sind jetzt sozusa gen Rekruten.« Heiter grinste der Bandenführer. »Also los! Wir haben nicht allzuviel ...« »Ich denke gar nicht daran, von hier wegzu ...« Coree torkelte, als ein Hieb mit einem Blaster ihn am Hinterkopf traf. Der Bandenführer schmunzelte in die auf einmal blas sen Gesichter der Wissenschaftler, während Coree stöhn te und zusammensackte, die Hände auf die hintere Schä delrundung gepreßt. »O doch, Sie werden uns ausnahms los begleiten, und Ihre Familien sind schon unterwegs. Beruhigen Sie sich, machen Sie sich keine Sorgen, unsere Leute haben die Zentralachse unter ihre Kontrolle ge bracht, sie kümmern sich darum, daß alle ins Shuttle pas sen. Und nun vorwärts, kommen Sie!« Grobe Fäuste zerrten Coree auf die Beine; er schwank te, wiederholt von Händen geschubst, durch den Mittel gang. »Auf geht's, Doktor«, sagte die Blondine, drängelte Veld. »Versuchen Sie uns fortzulaufen, dann werden wir sehen, ob ich Ihnen mit dem Ding die Eier abballern kann. Wissen Sie, viel Zeit zum Üben hatte ich bisher nicht. Kann sein, ich blastere Ihnen mehr als die Klöten weg.« Beklommen setzte sich Veld mit widerwilligen Schritten in die Richtung zur Tür in Bewegung.
Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Damit werden Sie niemals ...« »Niemals davonkommen?« beendete der Bandenführer an seiner Stelle den Satz. Er lachte, führte vor seinem Bla ster Ten ab, während seine Kumpane bereits die ersten Männer und Frauen zur Tür hinausdrängten. »Wollen wir wetten, Doktor? Wenn ich mir vorstelle, was Arcturus bald noch alles zustoßen wird, können Sie echt von Glück reden, daß Sie nicht da sein werden.«
* * * AN BORD DER GABRIEL WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM EINFLUG INS ARCTURUSSYSTEM
»Identifizieren Sie sich und erwarten Sie unsere Bestäti gung!« Eine Patrouillenoffizierin blickte Torkild Alhar, kaum daß ihr Konterfei auf dem KommandobrückenMonitor der Gabriel erschienen war, streng in die Augen. Torkild informierte sich über die Position seines Rau mers. Die Gabriel und Siras Michael verminderten mit vollem Gegenschub die Geschwindigkeit. Willentlich setzte Torkild eine Miene der Erleichterung auf, während er sich auf den bevorstehenden Wortwechsel einstellte. Mit gespielter Erregung, deren Vorspiegelung durch seine insgeheime Nervosität begünstigt wurde, stieß er die so fleißig eingeübten Sätze hervor. »Wir fliegen zwei unbewaffnete FLF und kommen von Santa del Cielo, ich glaube, Sie werden verstehen, daß wir nicht avisiert sind. An Bord befinden sich Zivilisten, es sind Flüchtlinge und andere Opfer der Padri. Wir suchen Schutz. Schließ lich leben wir ja immer noch im Direktorat, oder nicht?« Die Patrouillenoffizierin zögerte. »Erklären Sie die Situation.« »Sie wissen gar nicht, was wir mitansehen mußten!
Wir verlangen Zuflucht! Bei uns daheim ermorden die Padri Direktoratsbürger, wohin wir blicken. Also, geben Sie uns die Andockerlaubnis? Oder sollen wir zu den Romananern ausweichen? Soviel wir gehört haben, unter nehmen sie wenigstens etwas gegen die Padri.« Wie in höchster Verbitterung stierte er der Frau ins Gesicht. »Ver dammt noch mal! Wir brauchen HILFE!« Nach wie vor zögerte die Frau, doch in ihren Augen konnte man jetzt eine gewisse Verunsicherung erkennen. Dann nickte sie langsam. Es hatte geklappt! Er hatte ihr vorgetäuscht, ein entnervter Verzweifelter zu sein, und mit Erfolg. »Die Ganges gestattet Ihnen den Weiterflug auf Ihrem gegenwärtigen Vektorkurs. Halten Sie diese Flugrichtung unbedingt ein, oder Sie werden eliminiert. Folgen Sie den Signalen der Funkbojen und legen Sie an AdministrationsDock Dreihundertsiebenundfünfzig beziehungsweise Dreihundertachtundfünfzig an. Es wird Sie Personal erwarten, um Ihnen bei der Erledigung von Formalitäten und Replazierung behilflich zu sein.« »Ich danke Ihnen, Ganges«, sagte Torkild mit einem Aufatmen, das er nicht spielen mußte. Er holte tief Luft, um seine überreizten Nerven zu beruhigen, ließ sich in den Kommandosessel sinken. »Wir sind lang unterwegs gewesen. Die Schiffe sind überfüllt, Nahrung und Wasser knapp. Außerdem haben wir Verletzte an Bord, die der ärztlichen Behandlung bedürfen.« »Verstanden, FLF, wir stellen Med-Techs bereit. Beachten Sie, daß Sie an den Schleusen Wachpersonal erwarten und nach dem Andocken an Bord gehen wird, weil Ihre Schiffe und die Passagiere sicherheitsmäßig inspiziert und gecheckt werden müssen.« Respektvoll nickte Torkild. »Wir haben verstanden und keine Einwände ... Solang's bloß keine Padri sind.« Torkild heftete den Blick auf andere Kommandobrükken-Bildschirme, die die Reihen arpeggianischer BlasterBedienungen zeigten, die an ihren Geschützen saßen,
lachten und scherzten, an den Überfall dachten, den sie durchführen sollten. Seit fünfhundert Jahren hatte nie mand einen Schuß auf Arcturus abgefeuert. Sie machten Geschichte. Jetzt erlosch der Monitor, auf dem die Verbindung zur Patrouille gestanden hatte, und Torkild konnte erkennen, daß die Ganges sich langsam aus dem Vektor der beiden Raumschiffe entfernte. Sie würden das kolossale Schlachtschiff im Abstand von dreißig oder vierzig Kilo metern passieren. Wieviel Zeit ließ die Planung noch? Zwanzig Minuten? Vielleicht etwas länger? »Mikhail! Wir haben einen Antimaterie-Torpedo an Bord. Laden Sie ihn und halten Sie sich zum Abschuß auf meinen Befehl bereit. Speisen Sie dem Feuerleitcomputer Zieldaten für die Ganges ein.« Torkild lachte. Ha, könnte er nur drüben die Mienen sehen, wenn sie dort sein küh nes Spiel ahnten! »Geschützbedienungen! Bereitschaft zu einem Zweit schlag gegen die Ganges herstellen! Man wird versuchen, unseren Torpedo abzufangen. Mit etwas Glück können wir den Gegner überraschend so demoralisieren, daß er dazu keine Gelegenheit findet.« Krampfhaft schluckte Torkild. Es war ein des Hauses Alhar würdiges Wagnis, das er einging. Möglicherweise reagierte die Patrouille so schnell, daß sie ihn aus dem All blasterte, bevor der Torpedo das Ziel traf. Ihm wurde die Kehle trocken, während er die trigonometrischen Daten der Ganges durchrechnete, die ihnen den Kurs freigab. Vom Abschuß bis zum Treffen brauchte der Torpedo zehn Sekunden. In dieser Frist mußte er sein Schiff durchbrin gen. Torkild bemerkte, wie ihm grimmiger Humor aufkam. »Kontaktieren Sie Sira, nur Ton, maximale Richtstrahl bündelung.« Er wartete. »Ja, was denn?« fragte Sira in barschem Ton. »Halten Sie sich zur Beschleunigung auf meine Order bereit. Ich benötige Unterstützung.«
»Das entspricht nicht dem Plan.« »Tun sie's! Sie haben keine Wahl. Sonst sind wir gleich alle tot.« Torkild maß den anderen Kapitän durchdringen den Blicks. »Sie spielen mit Ihrem Leben, Alhar.« In Siras Stimme klang eine unverhohlene Drohung an. »Ja, richtig«, bestätigte Torkild halblaut, beobachtete die Ganges, deren Rumpf man immer größer auf dem Bildschirm erkennen konnte. Hinter der weißen Masse des gigantischen Patrouillenschlachtschiffs umspannten die verstrebten, ineinandergekoppelten Habitats-Hohlröhren Arcturus', des größten Stadtstaats der Galaxis, ihr rotes Gestirn wie ein Gebilde aus Ringen schimmernden Drahts. Heiliger Deus, es gab wahrhaftig keine Bilddar stellungen, die sich eigneten, um jemanden auf den tat sächlichen Anblick vorzubereiten. Eine ganze, unvorstell bar titanische Stadt, die einen Stern umkreiste! Torkilds Herz wummerte schmerzhaft gegen seine Rip pen, während er sich vergegenwärtigte, was er zu versu chen beabsichtigte: Im Verlauf einer einzigen Aktion wollte er gewaltsam ins Zentrum der Zivilisation vorsto ßen und dabei eines der riesigsten, jemals von Menschen gebauten Kriegsschiffe vernichten. Seit Alarich 410 A. D. Rom niedergebrannt hatte, war kein derartig verwegener Plan mehr ersonnen worden. Die Minuten schleppten sich hin; Torkild ballte wieder holt die Fäuste, rang sie, krampfte die Muskeln zusam men, um zu verhindern, daß die Hände durch Zittern seine Furcht verrieten. »Verdammt, ist das ein großes Schiff«, raunte Bruno unterdrückt. »Wenn das auf uns ballert ...« Torkild schluckte. Falls es feuerte ... Ja, das war das entscheidende Moment: Falls. Wie mochte M'Klea es auf nehmen, sollte sie erfahren, daß ihren liebevollen Bruder im Kampf gegen die Patrouille der Tod ereilt hatte? Wie lange würde sie das Martyrium, mit dem er seinen Namen bekränzte, wohl beweinen?
Er sah auf dem Chronometer die Sekunden verticken. »Fünf, vier, drei, zwei, eins, Feuer!« schrie er. »Sira! Be schleunigen!« Ein Gefühl starker Erleichterung durchströmte ihn, als aus Siras Michael Reaktionsmasse eruptierte und das Raumschiff vorwärts-, der Gabriel vorausschoß. Torkilds Blaster bestrichen die Rumpfseite des Riesenschlacht schiffs, die Strahlbahnen durchschlugen die Schutzschir me, zerschmolzen in Folgen unausgesetzter Explosionen die weißen Flächen, so daß Platten sich verbogen, Luft hervorschwallte. Wie er gehofft hatte, zog die vorbeigeraste Michael das stärkste Abwehrfeuer auf sich. Gleichzeitig hielt Torkilds Geschützdeck jene Waffenkuppeln der Ganges unter Beschuß, die Sira am härtesten mit Feuer eindeckten. Das Aufblitzen, als der Antimaterie-Torpedo die Ganges traf, überforderte die Optiken, die Monitoren leuchteten nur noch weiß, überlasteten die Sensorsysteme, verursachten in Kontrollkonsolen Kurzschlüsse. »Beschleunigung!« befahl Torkild, sobald er in den wenigen Kilometern Entfernung, die sie von dem Patrou illenraumschiff trennten, die grelle Detonation sah. Nur anhand der Gase, die aus dem Schlachtschiff brodelten, der Trümmer, die heraustrudelten, ließ sich der angerich tete Schaden nicht einschätzen. »Mikhail, sorgen Sie für Austausch der ausgebrannten Sensoren! Die Backbordinstrumente müssen sofort er neuert werden. Sonst bleiben wir an der Seite blind. Scha denbekämpfung, melden Sie mir, was wir abgekriegt haben! Wir sind durchgebrochen, Leute. Bei Deus' heili gem Geist, wir sind mitten unterm Feind.« »Sira ist an der Kommu«, rief Bruno. »Unsere Sicht ist reduziert, und er drückt uns noch ein Auge zu.« Torkild klatschte die flache Hand auf die Arm lehne des Kommandantensessels. »Na gut, schalten Sie durch.« »Mein Gott!« Siras Gesicht zeigte, als es auf dem Bild
schirm erschien, völlige Ungläubigkeit. »Was haben Sie da gemacht? Wie ... wie haben Sie ...?« Torkild winkte ab. »Wir mußten uns für den Rückflug den Weg von etwaigen Gefährdungen freihalten. Jetzt liegt Arcturus wehrlos vor uns, Sira. Die Lösung des Pro blems war wirklich einfach. Wie groß die Ganges auch war, sie hatte eine Schwäche. Sie hatte eine so gewaltige Kampfkraft, und wir machten einen Eindruck gänzlicher Harmlosigkeit, und darum konnten wir etwas Unerwar tetes vollbringen. Daraus können wir eine Lehre ziehen.« Der Kapitän der Michael musterte ihn voll neuer Hoch achtung. »Die Lektion ist verstanden, Torkild Alhar. Ich glaube, ich hab's kapiert. Mein Kompliment für Ihre Schläue. Ich bin von Ihrer Klugheit tief beeindruckt.« »Schluß mit dem Gerede, nun müssen Taten folgen.« Torkild lächelte, ihn durchwallte ein euphorisches Tri umphgefühl. »Fliegen Sie zu Ihrem Rendezvous an der Universitäts-Station. Wir werden mit der Gabriel durchs System kreuzen und uns lohnende Ziele suchen, dies und jenes zerstören. Vorwärts, es bietet sich uns eine großarti ge Gelegenheit, unsere Blaster im Einsatz zu erproben. Noch liegt Arcturus unversehrt vor uns. Vielleicht wird der Stern eine Sauerstoffatmosphäre haben, wenn wir fer tig sind.« »Gut gesprochen, Torkild! Und ich werde Ihren Mut und Ihre Tapferkeit in meinem Bericht an den Messias gebührlich hervorkehren.« Wie zwei Raubvögel stürzten sich die Kriegsschiffe auf Arcturus. Vor ihnen erstreckte die Sternenstadt sich weit hin ausgebreitet, glomm im Schein der roten Sonne — sie war schlicht und einfach viel zu ungeheuer in ihren Aus maßen, um mit nur einer Attacke zerstört werden zu kön nen. Außerdem blieb offen, wann die Patrouille mit zah lenmäßig überlegenen Kräften auftauchen und einen fürchterlichen Gegenangriff fliegen mochte. Versonnen saß Torkild auf der Kommandobrücke, peilte Ziel um Ziel an, sah voller Staunen zu, wie seine Blastergeschütze die
großen Röhren, aus denen Arcturus bestand, zerrissen und zersprengten, durchlöcherten und zerfetzten. *
* *
ARCTURUS, DIREKTORATSADMINISTRATION; DIREKTORENSEKTION
Der Raum rings um Direktor Skor Robinson pulsierte in ewigem Leuchtendblau. Robinson schwebte, so zusam mengekrümmt, daß er einem Fötus glich, die dünnen Ar me und Beine fest an die Brust gepreßt, in der Null schwerkraft des Giga-Verbund-Kontrollraums. Wäre je mand anderes zugegen gewesen, hätte er mitanschauen können, wie Robinsons Gesicht grimassierte, er die Lip pen über den verkümmerten Kiefern fletschte. Zuckun gen innerer Qual verkniffen seine Miene, Konvulsionen verspannten seine Gliedmaßen, verkrampften die zierli chen Hände vor Grauen zu machtlosen Fäustchen. Aussei ner selten benutzten Kehle drang ein Wimmern, das den Lauten eines Tiers in furchtbarem Schmerz ähnelte. Mit äußerster Hast schloß Skor, völlig im Bann des Entsetzens, das ihn gepackt hatte, überall in der weitver zweigten Weltraumstadt Antidekompressions-Querschotts, ohne Rücksicht auf die von Panik befallenen Menschenmassen zu nehmen, die durch die Hohlkörper drängten. Wo Wände in Hitzebahnen glutheißen Plasmas schmolzen, durchtrennten die Treffer auch die Leitungs bündel des Kommunikationssystems. Blasterstrahlen ver wüsteten Station um Station und ganze Sektionen, schleu derten das Innere ins Vakuum des Alls, wo die Schreie der Sterbenden in Kondensationswolken aus Luft und Blut erstickten. Skor koppelte Schaltungen um, rekonstruierte den Giga-Computerverbund in veränderter Konfiguration, versuchte gleichzeitig, das endlose Labyrinth der Korrido re kompartimentiert dicht zu halten sowie weiter die Ener giezufuhr und -Verteilung zu gewährleisten. Er spürte die
parallelen Aktvitäten An Roques und Semri Nawtows, die Evakuierungen leiteten und sich bemühten, die völlig schutzlose Stadt zu verteidigen. »Wie konnte es soweit kommen ?« Ein Aufschrei entfuhr Skor Robinson, seine Lungenflü gel bebten, während ununterbrochen ganze Stadtviertel detonierten und zu glühendem Plasma und feurigem Tod zerfielen. Erschütterungen durchzitterten Arcturus-Stadt, die enorme Röhre des Hauptzylinders verbog sich, knick te mehrfach, löste sich, als Blasterfeuer einen halben Kilo meter Graphstahl zerschnitt, stellenweise von den übrigen Strukturen. Skor sauste mit einem Ruck durch die Schwe relosigkeit, als wuchtige Stöße den Boden erzittern ließen, ringsum alles schüttelten. Er prallte schmerzhaft an eine blaue Wand und schrie noch einmal erschrocken auf, als die Energieversorgung für einen Sekundenbruchteil aus blieb und die Beleuchtung erlosch, dann jedoch wieder aufglomm. Aus den geprellten Körperteilen — Arm, Knie undHüf te — stach ihm heftiger Schmerz in die Seite. Im ersten Schreck blinzelte er einen Moment lang le diglich vor sich hin, ehe er merkte, daß er noch lebte. In seinem Kopf nahm er den Ausfall umfangreicher Ab schnitte des Giga-Verbunds wahr, der Kontakt zu ihnen wich schwarzem Nichts, zurück blieb an ihrer Stelle eine abgründige Leere in seinem Geist. Benommen, überwäl tigt von Grausen, begann er laut zu weinen, Tränen schim merten im scheinbar grenzenlosen Blau seines Kontroll raums, trübten ihm die Sicht. Rotz verstopfte ihm die Nase, sickerte aus den Nasenlöchern. Nacheinander desin tegrierten Segmente seiner gewohnten geistigen Existenz weise, als ob in seinem Kopf die Neuronen selbst verflak kerten und erlöschten. Er heulte in das Dröhnen des Alptraums, der Arcturus verheerte. Die atrophierten Hände ums übergroße Schädelrund gelegt, winselte er schrill, fürchtete sich wie nie zuvor
inseinem Leben. Zittrig, ja fast spastisch vor Hysterie, hob er sich die Kontakthaube vom Schädel. Er rang um Atem, bibberte, aber hatte sich von all dem Schwarz, all der Ver finsterung befreit, sich von dem Gemetzel und der Zerstö rung abgetrennt. Es schauderte ihn, wie er da zusammen gekauert am Ende seiner Katheder und sonstigen Schläu che schwebte und wimmerte, die plötzliche, völlig unver traute Isolierung verursachte ihm krasse Bestürzung. Jetzt erst, außerhalb des Giga-Computerverbunds, vermochte er ernsthaft die Aufgabe anzugehen, seinem gründlich ver störten Bewußtsein die Fassung zurückzuerringen. Inmitten der Isolation seiner Vereinzelung schluchzte er, geblendet durch das Wasser, das ihm aus den Augen perlte, vor sich hin, röchelte in den Schleim, den seine Nasenhöhlen absonderten. Zutiefst niedergeschlagen, voller Verwirrung und Elend, schwankte er am Rande der Kapitulation vor den Dämonen des Wahnsinns, die ihn wüst bedrängten, mit Krallenfingern an seiner Geistes klarheit kratzten. »Was ist geschehen?« rief er. »Was ist mit mir pas siert?« In seiner Verzweiflung griff er auf das einzige, schwa che Bindeglied zur Menschheit zurück, das seinem zer rütteten Verstand einfiel. »Prophet?« greinte er. »Komm und belehre mich ...« Tränen hingen sich an seinen Wimpern, blieben in der Schwerelosigkeit wie winzige Glaskügelchen an ihnen kleben. »Prophet?« Seine Stimme hallte durch den kahlen Kontrollraum; nur unterschwellige, schwach weitergelei tete Schwingungen, die von dem Tod und der Vernichtung ausgingen, die der Beschuß anrichtete, antworteten ihm. »Prophet, was hat dieser Irrsinn zu bedeuten?« In der Erinnerung hörte er Chesters Stimme in unbe kümmertem Tonfall sagen: »Leben heißt Erfahrungen sammeln, es ist keine Aneinanderreihung akademischer, durch eure Giga-Verbund-Computer interpretierter Puzzle
... Wir stehen am Übergang in ein Zeitalter der Leiden schaft ... Leidenschaft ist kanalisierte Emotion ... So wie eine Mauer aus aufgeschichteten Ziegeln zusammengefügt ist.« »Leidenschaft? Rings um mich sterben Millionen einen sinnlosen Tod. Sie sterben, Prophet.« »... Tod ist nichts. Er wartet überall beiderseits unseres Wegs, ein Cusp bringt ihn uns näher, ein anderer entfernt uns von ihm.« »Und was hat es mit dem Tod auf sich, Prophet? Ich ... Jede Sekunde kann ich sterben. Tod umgibt mich auf allen Seiten. Man kann die Furcht in der Luft riechen. Ich fürch te mich, Prophet. Irritation kann ich jetzt nicht gebrau chen. Sag mir, was ich tun soll! Sag's mir ... Sag's ... mir...« Seine Lungen rasselten, der Atem fauchte ihm durch die Kehle. Wieder hörte er Chesters Stimme, ihren Beschwichti gungston. »Ich bin ein Lehrer ... Ein Lehrer verkörpert zwangsläufig eine ständige Irritation. Und der Wert eines Menschen ist gleich Gott ... Tod ... wartet überall ... Er gründet die Wirkungen der Leidenschaft ... Jeder von euch sollte darüber nachdenken, was Gefühl ist ... Gemütsbe wegung ist ein Schlüssel zum Wissen. Das ist der Weg Spinnes.« »Spinne ... Du hast mir gesagt, ich sei ein Teil Gottes, Prophet. Ein Teil Gottes. Er wäre in mir. In meiner Seele.« Skor schniefte, verrieb sich den klebrig-zähen Schleim aus seiner Nase im Gesicht. Er zwinkerte die Tränen fort, sie trieben in der Schwerelosigkeit wie winzigkleine Kristall planeten davon. Indem er seine Katheder hinter sich her zog, schwamm Skor zu seiner Kontakthaube, drückte sie sich wie ein furchtsames Kleinkind an den Bauch. »Spinne hat mir einen Propheten geschickt. Einen Leh rer.« Diese Überlegung flößte ihm Zuversicht ein, tief in sich entdeckte er eine Kraft, von der er bisher nichts geahnt hatte. Ein hohler Knall hallte durch den Bannkreis des tiefgestaffelten Sicherheitsareals rund um seinen Kon
trollraum. Irgendwo außerhalb der schweren Eingangslu ke brüllte ein Mann Befehle. »Sie brauchen mich«, raunte er leise. »Sie brauchen mich.« Er hob die massige, helmartige Kontakthaube, stülpte sie sich achtsam auf den Kopf, so daß die Tiefen elektroden sich überm Gehirn genau auf die richtigen Punkte senkten, fühlte sofort die schwarzen Sphären der ausgefallenen Komponenten des Computerverbunds. Mutig machte er sich daran — trotz der Beschwerden, die seinen zermürbten Körper plagten —, Arcturus' Rest zu retten, stellte sich taub für die Verzweiflung der Milli arden von Menschen, denen der Tod drohte. Nur das Ausmaß des Desasters brachte ihn nun noch zum Schauern. Daß eine ernste Gefährdung sich anbahnte, hatte er gleich bemerkt, obwohl er völlig überrascht worden war von dem blendend-hellen Aufblitzen, das den Untergang der Ganges anzeigte. Die Sensoren hatten anhand der Spektralanalyse unverzüglich eine Antimaterie-Explosion gemeldet. Er fuhr zusammen, als schlagartig der Kommunika tionskontakt zu einem weiteren Bereich der immensen Stadtkomplexe vollständig abbrach. Entschlossen widerstand er dem Schwindelanfall, der ihn übermannen wollte. Sein Schrumpfmagen bäumte sich auf, die Ner ven reagierten mit Brechreiz. Er würgte, ein widerwärti ger Geschmack stieg ihm herauf in die Kehle. War das der Tod? Zerquält durch die Eindrücke der fürchter lichen Zerstörungen, versuchte Skor sein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Außenoptiken übermittelten ihm Bilder Tausender von Gestalten, die zappelten und strampelten, während Dekompressionen sie durch auf geborstene Stationswandungen ins All hinausrissen. Wie viele? »Nicht dran denken. Rette alle, die du noch retten kannst. Die Toten kann man später zählen.« Trotz des ekelhaften Geschmacks in seinem Gaumen biß er sich auf
die Zunge, behalf sich mit selbstverursachtem Schmerz, um sich der Verzweiflung zu erwehren. Nawtow? Roque? Wo sind Sie? Immer wieder rief er seine Kollegen, versuchte unablässig zwischen durch Bla sterbeschuß voneinander getrennt gewordenen Gliederun gen des Verbundsystems neue Brücken zu schlagen. »Ich bin allein«, flüsterte er; die Erkenntnis erfüllte ihn mit angstvoller Betroffenheit. »Ich bin noch nie allein gewesen. O Gott, wie entsetzlich!« »Gott ist in dir selbst. Das ist Spinnes Weg, Direktor.« »Prophet, du verfluchter Schurke! Und du hast das al les vorausgesehen. Verdammter Schuft!« Noch drei Stunden dauerte der Alptraum, in deren Ver lauf Robinson Notruf um Notruf funkte, ergänzt um Auf nahmen von der Vernichtung der Ganges und der Arcturus-Stadt zugefügten Schäden. Er bezähmte seine Gemüts regungen, unterdrückte die Empfindungen seiner neuentdeckten Menschlichkeit, zwang sich zum Arbeiten, zu vollem Einsatz, trieb sich über alle Erschöpfung hinaus zum Aushalten und Weitermachen an. Er schaltete Reak toren ab, bewahrte bedrohte Abschnitte der segmentierten Habitatszylinder vor Dekompression, sperrte die Wasserversorgung, überwachte die Disposition von Kos moschleppern, dirigierte Schadenbekämpfungsteams an die gefährdetsten Havariezonen, plagte sich im Schweiße seines Angesichts ab, um wenigstens Teile seiner Haupt stadt und des Direktoratssitzes zu retten. In seiner rase reihaften Hingabe und Selbstaufopferung fand er Kraft. Jedes andere Verhalten hätte ihn in ein durch die Unge heuerlichkeit dieser Vergeudung, des Massakers und des Verderbens am Brennpunkt von sechshundert Jahren menschlicher Zivilisation im Weltraum geistig ruiniertes, nur noch zum Sabbern und Lallen fähiges Menschen wrack verwandelt. Arcturus, das Kronjuwel der Menschheit, brannte und blutete, mörderische Weltraumkälte hatte seine kostbaren Ressourcen, gräßlich entstellte Leichname trieben in Ha
los des eigenen, kristallisierten Bluts, Atems und Urins, und alles beschien unheimlich das tiefrote Licht der na hen Riesensonne. Skor merkte es kaum, als der Angriff verebbte. In sei ner Station endeten das Wackeln und Rucken, Knirschen und Rumpeln. Der Energiepegel blieb gleichmäßig. Skor wartete auf neue Lecks; doch sie blieben aus. Er schweb te in gänzlicher Reglosigkeit, sämtliche Lebensvorgänge minimiert, im Blau des Kontrollraums, während noch Atmosphäre aus den geschwärzten Breschen der Sternen stadt brodelte, Leichen träge durch die Verflüchtigung der Gaswolken und das höllische Licht des Gestirns kreisel ten. Semri? Assistenz-Direktoren ? Roque? Schweigen. Der Giga-Verbund war zu einer unheilvoll stummen Leere geworden. Nicht einmal die Überlebenden bean spruchten das Kommunikationsnetz mit einem wirren Krakeel von Hilferufen, wie man es eigentlich hätte an nehmen sollen. Eine Sekunde lang torkelte ArcturusStadt in einer Stille, die lähmender Fassungslosigkeit ent sprang, durchs All. Wie ein Gespenst in einer elektronischen Realität taste te Skor sich durch das fragmentierte Durcheinander noch funktionstüchtiger Kommunikationsstränge und -anlagen, drang zu den Wohn- und Arbeitsresidenzen seiner beiden Kollegen vor. Er aktivierte vor Ort die Optiken, erhielt ein Holo aus Nawtows Null-Ge-Kontrollraum. Skor schloß die Lider, eine Aufwallung erbärmlichen Elends und Unglücks trübte seine Gedanken. Eine andere Art von Weh durchstach sein Herz. Er verbesserte die Bildqualität, sah seinen Direktorkollegen mit ausgestreckten Gliedma ßen — die Finger zuckten — und halb aus dem Schädel gequollenen Augen in der Luft schweben. Nawtows Gehirnaktivität ließ rasch nach, während Skor ihn beob achtete, die biologisch-medizinischen Daten ablas, im gleichen Moment, als es ihm gelang, den Kontakt zu Sem
ris zeitweilig separierten Computerbänken wiederherzu stellen, klärte er die Todesursache: Nawtow war soeben an einer schweren Hirnblutung gestorben. Auf dem Höhe punkt des Überfalls hatte ihn der Schlag getroffen — nur Sekunden, nachdem Skor sich die Kontakthaube vom Kopf genommen hatte. Skor klinkte sich in Nawtows Computersystem ein, machte endlich eine Parallelverbindung ausfindig und brachte eine Koppelschaltung zu Komponenten des GigaVerbunds zustande, die noch mit Roques Computerbän ken in Kontakt standen. Roque? An Roque, sind Sie am Leben? Ich ... Am Leben? Ich ... Übernehmen Sie Nawtows Computersystem. Ich muß mich darum kümmern, zu retten, was noch zu retten ist. Die Toten zählen und versuchen, Hilfe anzufordern. Hilfe? Hilfe anfordern ? Hilfe anfordern ...? Skor verlegte seinen visuellen Empfang auf andere Kabel, schaltete kreuz und quer durch einen verworrenen Übertragungsmischmasch, bis er Verbindung zu den Ka meras in Roques seltsam purpurrotem Kontrollraum hat te. Dort stierte der Assistenz-Direktor schlaffen Munds ausdruckslos geradeaus, Speichel rann ihm übers Kinn und hing in der Schwerelosigkeit wie ein durchsichtiger Wurm. Roque? Antworten Sie, Roque! An Roques Augen glotzten nur beständig ins Unendli che. »Gütiger Gott«, flüsterte Skor. »Er ist wahnsinnig ge worden. Jetzt ... jetzt bin nur noch ich da.« Robinson betrachtete die Anzeigen der Monitoren, trennte Roque vom Giga-Verbund. Trotz seiner Demorali sierung und seines Schocks fing er an Rettungsmaßnah men zu organisieren und die Bergung der Verletzten zu koordinieren. Er schickte Reparaturmannschaften an die Arbeit, um die Kommunikationsnetze wieder zu vervoll ständigen und überall die Energieversorgung zu erneuern.
Schwerpunktmäßig setzte er an kritischen Punkten Kos moschlepper ein, um die Abschnitte von Arcturus-Stadt, die entzweigeschossen worden waren, zu stabilisieren und ihr Auseinandertreiben zu verhindern. Skor sah durch Dekompression in Richtung auf den Außenrand des Son nensystems geschleuderte Trümmer in die Fernen des Weltraums davontreiben. Die nach innen, zur Zentralach se der Sternenstadt, gerichtet gewesenen Dekompressio nen hatten Gegenstände und Material ausgeworfen, das jetzt langsam zurücksank, manches blieb an den Wänden hängen, einiges fiel vorbei und schwebte davon. Robinson steigerte durch die Schläuche, die ihm Flüs sigkeiten zuführten und seinen mageren Körper ernähr ten, seine Adrenalinschübe. »Ich bin allein.« Er schloß die Augen. »Spinne, steh mir bei! Was soll ich tun? Wie kann ich als einziger, letz ter Direktor das Ganze steuern?« Noch vier Patrouillenschlachtschiffe hatte er übrig: Uhuru, Kamikaze, Toreon und Amazone. Vor drei Jahren hatte er über eine Flotte von elf so großartigen Kriegs schiffen verfügt. Drei waren von den Romananern über nommen worden. Zwei hatten die Sirianer vernichtet, ei nes war von den Padri gekapert, ein weiteres zerstört worden. Seiner seelischen Angeschlagenheit zum Trotz bemüh te sich Skor, seine Optionen gründlich abzuwägen, gelangte schließlich zu der Einschätzung, daß es keinerlei strategischen Wert hatte, die riesigen, mit Blastergeschüt zen bestückten Raumschiffe in ihren jeweiligen Sektoren zu belassen. Er sah nicht ein, welchen Vorteil eine solche Stationierung haben könnte, wenn Raumschiffe binnen Tagen vom einen zum anderen Ende des von Menschen besiedelten Alls überwechseln konnten. »Aber ich muß ... ich muß ...« Er rotzte die verstopfte Nase frei und bemerkte neue Tränen in seinen Wimpern. »Ich muß unbedingt ... Prophet? Hilf mir ...!« Skor summierte die vorläufigen Verlustmeldungen.
Während des dreistündigen Wütens von Gewalt und Tod waren zweihundertneunzig Millionen Menschen umge kommen. Kosmoschlepper sammelten nicht nur, soweit möglich, die zahllosen Bruch- und Trümmerstücke sowie verstreuten Materialien ein, sondern auch die Leichen, bevor sie außer Reichweite abtrieben. Zweihundertundneunzig Millionen Menschen? Und sie alle hatten sich auf ihn verlassen, den Direktor. Er gab mehrere Notrufe an die Überreste des Sicher heitsdienstes weiter, bis zuletzt von dort ein Prioritätsre port kam. In den Arkadia-Wohnkuppeln des Russischen Di strikts, dem ehemals ärmsten Teil Arcturus', waren Kra walle ausgebrochen. Skor verfolgte die visuelle Observa tion, schaute mit starrer Miene zu, wie furchtsame Men schen durch die Straßen tobten, Schutz seitens der Pa trouille verlangten. »Schutz?« murmelte Robinson matt. »Wessen Schutz? Die Patrouille hat uns nicht schützen können. Vielleicht ... vielleicht kann sie nicht einmal sich selbst schützen.« Er zoomte die Optiken auf einen in eine weite Kutte gehüllten Mann zu, den andere Personen auf ihre Schul tern gehoben hatten. »Deus ist unser Heil! Der Messias hat recht. Im Direktorat waltet Satan. Tod den Direktoren! Wir fordern Frieden! Wir wollen Deus!« Der Pöbel grölte seine Zustimmung. »Dreckiger Halunke«, knirschte Skor, unterband die Sauerstoffversorgung des dortigen Segments, bis alle Auf rührer aus Atemmangel niedersackten. Niemals zuvor war ein Direktor gezwungen gewesen, Teile der Bevölke rung so drastisch zu neutralisieren. Arcturus-Stadt, der Heilige Gral des Direktoratswelt raums, war demoliert und geschändet worden. Unter der Einwohnerschaft reifte eine Revolte heran, anscheinend schrak man nicht einmal noch davor zurück, dem Direkto renregime die Padri und ihre Greuelpolitik des Massen psychings vorzuziehen. Mühevoll schluckte Skor.
Fürchterlicher Schmerz bohrte in der Beklemmung sei ner Brust. Auf der Körperseite, mit der er gegen die Wand geprallt war, hatten sich scheußliche Verfärbungen gebil det. Nur ein Weg stand noch offen, der ihn, Arcturus und die Menschheit retten mochte. Er schaltete auf eine Subraum-Transduktionsfrequenz und wartete in der Hoffnung, daß die Bedingungen seines Kapitulationsangebots sich als verhandlungsfähig erwie sen, dachte darüber nach, was für ein Glück Semri Naw tow eigentlich gehabt hatte.
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AN BORD DER ABRAHAM (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER SANTA DEL CIELO)
Winston Zimbuti nahm Haltung an, als auf dem Monitor das Gesicht des Messias erschien. »Guten Tag, Kapitän.« »Messias ...« Winston ließ sich in die Bequemlichkeit des Kommandosessels sinken. Ringsum verstummten seine arpeggianischen und cielonischen Offiziere, täusch ten Geschäftigkeit vor, während sie auf jedes Wort lausch ten. Ngen bog den Kopf zurück. »Sie und ich, Winston, kennen uns schon lange Zeit.« »Ja wahrhaftig, Ngen. Vom Raumhafen Sirius'. Sie haben mich überrascht.« Winston hob seine schwarzen Hände. »Schauen Sie her: Wer hätte je gedacht, daß ein gewöhnlicher Assassine wie Winston Zimbuti einmal ein Kriegsschiff kommandieren würde?« Ngen schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Ja, wer? Aber was mich angeht, ich habe Ihre Intelligenz und Ihre Geschicklichkeit immer bewundert.« »Und am besten halten Sie's auch künftig so.« Ngen richtete sich etwas höher auf, machte die Lider schmal. »Ja, es wird dafür wohl auch in Zukunft Gründe geben, nicht wahr? Ich nehme an, Sie haben die Ihnen zugeteilte Nachschublieferung bekommen?« »Klar, Ngen, haben wir. Vielen Dank für die schnelle Erledigung. Wir sind froh, uns nun 'n bißchen Erholung gönnen zu dürfen. Wird uns guttun, uns mal wieder aus zutoben. Ein-, zweimal anständig einen zu schlappen, ein paar Weiber mit dicken ...« »Sie starten unverzüglich wieder.« »He, Mann, das war aber nicht ...«
»Haben Sie mich verstanden?« Ngen wies mit schlan kem, braunem Finger auf Zimbuti, seine Augen glitzer ten, sein flaches Gesicht hatte einen grimmig-grausamen Ausdruck angenommen. »Denken Sie mal nach, Winston. Denken Sie genau nach. Wer hat Ihnen das Raumschiff unterstellt? Ich. Das war ich. Ich habe es als angebracht erachtet, Deus' Gnade auf Sie auszudehnen. Verstehen Sie? Vergessen Sie nie — niemals! —, daß ich Deus' Aus erwählter bin. Ich bin Ihr Messias. Ngen gibt's für sie nicht mehr. Sie nennen mich >Messias.<« Winston biß die Zähne auf die Unterlippe, verkniff sich eine hitzige Erwiderung. Und wo wärst du, Großmaul, hätte ich nicht die Opposition liquidiert ?Die Bomben gelegt ?Für einen ehemaligen Raumhafenschmuggler benimmst du dich reichlich großkotzig, Ngen Van Chow. Aber eines ließ sich nicht leugnen: Ngen hatte die Macht. Und Winston Zimbuti verdankte seine Erfolge nicht der Dummheit. »Aha...« Ngens schmieriges Lächeln wurde breiter und boshafter, man sah ihm an, daß er Zimbutis Überle gungen erriet. »Sie verstehen mich, was? Ich habe Sie stets ausgezeichnet durchschaut, Winston. Ein früher Be weis meiner Göttlichkeit. Ja, Sie haben sie schon damals in mir erahnt, nicht wahr? Sie wußten von Anfang an, daß ich ein Auserkorener bin, daß ich — ich, Ngen Van Chow — zum Messias bestimmt bin.« »Ja, natürlich ... Messias.« Winston schluckte die Gal ligkeit, die ihn wurmte, ihm schier die Kehle zuschnürte. »Und wohin sollen wir fliegen?« Betulich klatschte Ngen die Hände zusammen. »Ich habe einen Sonderauftrag für Sie. Eine Aufgabe, die genau das richtige für jemanden mit Ihren Fähigkeiten ist. Wäh rend Sira Arcturus angreift, habe ich die Romananerwelt für Sie aufgespart.« Winston nickte bedächtig. Danke, Ngen. Du bist ein echtes Goldstück. Du lumpiges, aufgefranstes Arschloch. »Na sicher, Ngen, wir werden alles zu Klump ...«
»Messias! Sie werden mich Messias nennen!« Winston,blickte, während ihm plötzlich das Herz flat terte, in Ngens von Besessenheit entstellte Augen. DerMann war übergeschnappt! »Jawohl, Messias.« *
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AUF DER KOMMANDOBRÜCKE DER SPINNES DOLCH (IM ORBIT ÜBER ARPEGGIO)
Ritas Finger krallten sich in die Armlehnen des Komman dosessels, beulten die schwere Polsterung ein. Ange spannt wie eine Stahlfeder beobachtete sie auf einem Kommandobrücken-Monitor der Spinnes Dolch, wie der pfeilförmige Rumpf des ST sich der grauschattigen Seite der Weltraumstation näherte, auf die Zentralachse zu-hielt. Die Station erfüllte sämtliche Kriterien einer Orbitalfarm. Der längliche Zylinder, der da rotierte, hatte eine Länge von etwas über einem Kilometer und einen Durch messer von dreihundertfünfzig Metern. Im Innern erzeug te ein Fusionsreaktor Atmosphäre und Licht für Niedrigschwerkraft-Nahrungspflanzen, die in durch Winkelbe schleunigung zusammengehaltenem Humus gediehen. Ritas Atemzüge stockten, als der Sturmtransporter seinen gepanzerten Bug in die Rumpfplatten der Station rammte. Rings um die hineingebohrte Bresche wehten Dunstfähn chen irgendwelcher Gase hervor. »Wir sind durch, Kommandantin«, meldete Oberge freiter Mishimas Stimme durch die Kommu. »Es ist auch 'ne Farm, wie angenommen. Die Sturmtruppe hat sie geen tert.« Mehrere Sekunden verstrichen. »Kein Widerstand, Majorin, genau wie im Umraum Mysteriums.« In Ritas Haltung lockerte sich die Verkrampfung, sie wickelte ein rotes Haarzöpfchen um ihren Finger, wäh rend sie sich an ihrem kompakt mit Instrumenten be stückten Platz in den Kommandosessel lehnte und darin
zurechtrückte, den Blick über die im ganzen vorderen, engen Halbrund der Kommandobrücke hängemontierten Monitoren schweifen ließ. Die Konsolen mußten wieder einmal gereinigt werden, überall auf dem weißen Graph stahl sah man Fingerabdrücke. Im Hintergrund summte die Klimaanlage. Mißmutig zupfte Rita an dem Zöpfchen, wartete auf Lagemeldungen der Sturmtruppen. Im PilotenKonturensessel behielt Max Wan Ki besorgt gleichfalls die Bildschirme im Auge, sein Mienenspiel verriet Beunruhi gung, mit den Fingern trommelte er nervös auf der Kommu-Konsole ein Stakkato. In der Luft an Bord der Spinnes Dolch knisterte Spannung. Neal war kurz an Arpeggio vorübergeflogen. Große Schäden hatte er offen bar nicht angerichtet. Unverändert wimmelte es in diesem Sonnensystem von feindlichen Aktivitäten — im Gegen satz zu Basar, den Susan in eine Stätte des Grauens ver wandelt hatte. Ritas Leute hatten die Hinterlassenschaft, die nach dem Einsatz von Susans Blastern auf Basar verblieben war, mit eigenen Augen gesehen. Ungehindert gingen in der trok kenen, staubigen Luft des Wüstenplaneten die düsteren Gespenster des Hungers und des Todes um. Verschrumpel te, skeletthaft dürre Leichen säumten zuhauf die Straßen. Unbeachtet lagen Tote, wo sie zusammengebrochen waren, während verhärmte, hohläugige Menschen Tag für Tag beharrlich ihre ausgefallenen Monitoren aufsuchten und sie anglotzten, zu begreifen außerstande, daß ihr >Platz< nicht mehr existierte. Abends kehrten sie heim, aber am nächsten Tag unweigerlich zurück an die Stelle, wo sie vorher tätig gewesen waren, stierten seelenlosen Blicks die erloschenen Mattscheiben an, bis auch sie zusammensackten, wo sie sich gerade befanden, die unüberschaubare Menge verwesender Toter erhöhten, deren Fleisch faulte und den Gestank, der alles durchweh te, noch gräßlicher machte. Der ganze Planet stank nach Tod; Fliegen schwärmten über toten Augen, während die Leichen im trocken-heißen
Wind ausdörrten. Für Rita und die Gruppen Sturmtruppler, die sie begleitet hatten, war der Erkundungsaufenthalt auf dem Planeten wie ein Abstecher in einen abscheulichen Kreis der Hölle gewesen. Die makabre Szenerie hatte aus schließlich für die zuvor zahm gewesenen Hunde und Kat zen offenkundige Vorteile, die mit geschwollenen Bäu chen zwischen den Leichnamen umherschlichen. Pete Wing Smith hatte versehentlich mit dem Fuß eine aufge quollene Leiche angestoßen und war erschrocken zurük kgesprungen, als aus dem zerfressenen Bauch einer jun gen Frau ein Klumpen weißer Maden rutschte, die Tiere sich in der trüben, sengend-heißen Luft krümmten und wanden. Nur die Toten hatten Frieden. Erinnerungsbilder der Überlebenden suchten jene, die ihnen begegnet waren, im Schlaf heim, das Knistern ihrer versengten, verdorrten Haut umraschelte die Randberei che beklemmender Träume, nach denen man im Dunkeln gequält wachlag und aus geweiteten Augen die Decken platten anstarrte. Stellte man ihnen Fragen, faselten die ausgezehrten Überlebenden von ihren >Plätzen<, versuchten hartnäckig zu zerblasterten, zerstörten Fabriken oder verwelkten, abgestorbenen Farmpflanzungen vorzudringen. Andere saßen in geparkten Airmobil-Bussen und warteten trotz leerer Batterien auf Weisungen und Nennung irgendwel cher Flugziele zwischen den schon mit Sand bestäubten Ruinen. Wieder andere demontierten Motoren und bau ten sie wieder zusammen, die sie bereits am Vortag de montiert und wieder zusammengebaut hatten — Moto ren, für die es keinen Brennstoff mehr gab. Dennoch ar beiteten sie weiter, obwohl sich an ihren ausgehungerten Leibern die Knochen abzeichneten. Geistlose Augen starr ten aus maskenhaften Gesichtern, in denen sich naher Tod ankündete, unter der erschlafften Haut konnte man schon den Totenschädel grinsen sehen. Das unheimliche Schweigen an einem für Menschen so
typischen Ort wie der Großstadt Basar zermürbte das Gemüt. Nur der Wind war unablässig zu hören, er pfiff und stöhnte zwischen den Leichenhaufen, zerfledderte in der Hitze brüchig gewordene Kleidung, entblößte von der Sonnenglut geschwärzte, eng um die Gebeine ge schrumpfte Haut. Dann und wann fuhren Blitzschläge herab, durchzuckten den vom Sandstaub durchwirbelten Himmel, spiegelten sich als Flackern in den eingesunke nen, leblosen Augen der Toten. Harter, trockener Donner folgte. Die Lebenden murmelten bei sich; irgendwann starben sie stumm. Leise war das Schlurfen ihrer Füße vernehmlich, weil sie sich immer wieder vorwärtsschlep pen und ihren >Platz< aufsuchen wollten. Sogar abgebrühte Mitglieder von Ritas romananischen Sturmtrupps — Veteranen Hunderter von blutigen Kriegs zügen und der Sirius-Militäraktion — waren vor diesen Scheußlichkeiten zurückgeschreckt angesichts des Gestanks nach Tod, der schwer die widerlich mit Grus ver mischte Luft durchzog. Sie lugten sich über die Schultern, während sie breite Hauptverkehrsstraßen entlangstrebten, an deren Seiten reihenweise Tote lagen. Ihre Blaster gezückt, die Nerven angespannt, waren die Krieger bei den harmlosesten Geräuschen eines todgeweihten Plane ten erschrocken zusammengefahren. Und auf meinen Befehl hin haben wir Mysterium in gleichem Zustand zurückgelassen. Allerdings werden wir nicht wieder hinfliegen, um uns die Folgen anzusehen. Niemand von uns könnte es verkraften. Spinne, was haben wir getan? Wir haben Mysterium so gründlich verwüstet, wie Susan Basar. Was für ein Erbe vermachen wir der Menschheit ? Sie hatten alles versucht, um Padri in eine normale menschliche Bewußtseinsverfassung zurückzuversetzen. Weder Schmerzen noch Drohen, weder Prügel noch Gut zureden, ja nicht einmal das Psychen in der Bordklinik konnten an den eingeprägten Routineprozeduren etwas ändern. Bestenfalls waren ganz geringfügige Resultate
erzielt worden. Man hatte das Verhaltensschema solcher Zombiepersonen so beeinflussen können, daß sie keinen Drang mehr verspürten, an ihren >Platz< zu gehen, doch Wertbegriffe oder die zum Weiterleben erforderlichen All tagsfähigkeiten ließen sich nicht restaurieren. Man ver mochte ihnen nicht mehr das Denken beizubringen. Die Psychingapparate der Patrouille hatten nicht die Kapazi tät zum Rekonstruieren einer kompletten individuellen Persönlichkeit. Folglich mußten Rita und ihre Untergebenen fortan ler nen, mit ihren Alpträumen zu leben. Sie hatten Basar dem Verhungern und dem Untergang preisgegeben und waren nach Arpeggio geflogen. Hier hatten sie endlich einen in voller Funktionstüchtigkeit und emsiger Aktivität befindlichen Ameisenhaufen von Menschmaschinen ange troffen. Ich kann hinabblicken und die Menschen erkennen, die ich auch hier töten werde. Auf Arpeggio werde ich die gleiche Art von Hölle schaffen, wie sie schon Susan auf Basar und ich auf Mysterium erzeugt haben. Spinne, hilf uns! Welchen Wahnsinn schicken wir dir mit all diesen gequälten Seelen ? »Majorin«, rief Max Wan Ki, »wir bekommen Gesell schaft. Soeben sind zwei feindliche Raumflugkörper aus dem Überlichtflug heruntergewechselt, sie gehen in dieBremsphase über. Sie nehmen starkes Sensorscanning vor.« »Können sie uns schon orten?« Rita schaute auf die Bildschirme, sah die Quelle der Scannerimpulse. Wenn sie sich nicht irrte, kamen die Schweinebacken aus dem Ambrosius- Sektor. »Negativ, Majorin.« Ki schüttelte den Kopf. »Uns blei ben noch fünf oder vielleicht sechs Stunden, bis sie eine hinlänglich deutliche Ortung hinkriegen, um die Orbital stationen differenziert zu sondieren. Außerdem ist nicht sicher, ob sie wissen, wonach sie zu suchen haben. Ich glaube, diesmal ist es für uns günstig, daß wir eine kleine re Einheit fliegen.«
Rita hatte sich vorgebeugt, aber lehnte sich jetzt wie der in den Kommandosessel. Sie hatten Arpeggio unge schützt vorgefunden, nicht ein einziger Sensor scannte nach Masse oder Reaktoremanationen etwaiger Einflü ge. Unangefochten hatten sie sich im Sensorschatten eines Kosmoschleppers dem Planeten genähert und unbeobachtet in den Kranz aus Stationen eingefädelt, der ihn umringte. Die einzigen Ortungsanlagen, die anzupeilen gewesen waren, hatten ihren Standort hinter dem Globus Arpeggios, an Bord eines riesigen Schiffs ausstattungszentrums in geostationärem Orbit, das sich gegenwärtig mit dem Umbau von FLF für militärische Zwecke befaßte. Was also waren ihre Optionen? Rita besah sich die aus den Messungen von Dopplersensoren herausgefilterten Einflugvektoren der georteten feindlichen Einheiten. Sechs Stunden lang hatte sie noch Zeit, um darüber nach zudenken, wie sie die Situation handhaben wollte. Sollte sie sich zum Kampf stellen? Schnelligkeit und Manövrier fähigkeit der Spinnes Dolch sowie ihre vier Fujiki-Blaster gegen die unbekannten Kapazitäten der Kriegsschiffe Ngens in die Waagschale werfen? Nach zwei Monaten des Umherkreuzens, Beschießens von Planetensystemen und Hin- und Herrasens zwischen Ngens Welten waren die Vorräte stark erschöpft. Antima terie konnte jederzeit aus buchstäblich allem generiert werden. Nahrungsmittel dagegen mußten wiederaufge stockt werden. Überfälle auf die Stationen der Padri wa ren leicht, ergiebig und ungefährlich. Geistloses landwirt schaftliches Personal pflegte die Pflanzungen, ließ die Romananer aussuchen und mitschleppen, was sie wünsch ten. »Majorin? Schauen Sie sich mal das da an.« Ki zeigte auf einen Monitor. Eine der Optiken hatte sich auf die Planetenoberfläche eingezoomt, übermittelte vergrößerte Aufnahmen einer weiten, offenen, felsigen Landschaft. Dort bewegte sich eine größere Menge Männer und Frau
en durchs Gelände, exerzierte offenbar eine militärische Taktik. »Das läuft ja tadellos ab«, sagte Rita, beobachtete das Vorgehen der Soldaten; es zeichnete sich durch eine Per fektion aus, als würde es von einem Computer orche striert. »Und das ist nicht das ganze Bild«, antwortete Ki grimmig. »Mit Ausnahme der industriellen und agrikultu rellen Zentren ist überall auf Arpeggio das gleiche in Gang. Wohin ich auch sehe, finden Übungen mit Blastern oder Sprengmitteln statt, übt man Brückenkopfbildung, Einigelung, alles was man sich nur denken kann. Die Arpeggianer spielen dort unten allesamt Krieg.« Rita war zumute, als saugte eisiges Vakuum ihre Seele auf. »Sie spielen nicht, Ki. Das ist die Generalprobe für die Eroberung des Rests der Galaxis. Ich bin davon über zeugt, daß irgendwo in den anderen Sektoren eine zweite Armee gedrillt und auf Stationskriegsführung vorbereitet wird.« »Ich dachte, Ngen bekäme die Galaxis von seinem Gott überreicht.« Kis Miene verriet Skepsis. Er drehte einen Schreibstift in den Fingern, schüttelte den Kopf. Ritas schiefes Lächeln bereitete ihm sichtlich eine Überraschung. »Die Sektoren, die wir unter Kontrolle haben, wird er ihm nicht übergeben. Glauben Sie etwa, der Admiral würde ihm erlauben, in unserer Einflußsphäre auch bloß einen einzigen Tempel hinzustellen? Im Leben nicht. Davon abgesehen, sind wir gar nicht auf dem lau fenden. Wir wissen nicht, welche Verwendung der Admi ral inzwischen für unseren Anthropologen ausgeheckt hat. Ich würde wetten, Ngen setzt sein Vertrauen nicht aus schließlich auf diesen Heiligen Krieg. In zu vielen Gegen den des Direktorats erfährt man jetzt von den Vorgängen auf Basar und Mysterium und wird vor seinen seelenlosen Zombies einen gehörigen Abscheu entwickeln.« Besorgt richtete sie den Blick auf die zwei georteten Kriegsschiffe. Kis Bestimmung ihres Vektors war inzwi
schen um einen halben Grad reduziert. Was sollte sie in bezug auf diese beiden Einheiten unternehmen? Sollte sie sich mit ihnen anlegen? War es das Risiko wert? Sie ver legte ihre Aufmerksamkeit auf Buds ST, der noch in der Seitenwandung der Station stak und mit ihr rotierte. Allmählich formten sich in ihrem Bewußtsein vage Vorstellungen zu einer Idee. »Bud? Wie Sie's machen, ist mir egal, aber schneiden Sie uns, sobald Sie mit dem Verladen der Lebensmittel fertig sind, ein großes Loch in diese Blechbüchse. Zwei feindliche Einheiten fliegen ein. Ich will unser Schiff darin verstecken, kapieren Sie? Sind drinnen irgendwelche nor malen Menschen?« Auf dem Bildschirm war Mishimas ernstes Gesicht erschienen. »Nur Ngens Zombies. Wird erledigt, Majorin. Gehe ich richtig mit der Vermutung, daß Sie's so unauffäl lig wie möglich erledigt haben wollen?« »Sie haben mich bestens verstanden. Wir stellen eine Falle.« Rita wandte sich an Ki. »Steuern Sie uns näher an die Station. Ich möchte, daß wir möglichst bald außer Sicht verschwinden. Bleiben Sie in Koordination mit Mi shima. Ich will, daß die Station tüchtig perforiert wird, damit wir den Umraum beobachten können. Sagen Sie mir Bescheid, wenn die Zielerfassung der Gegner erfolgen kann, sie müssen ständig unter Monitoring stehen. Es darf uns nicht passieren, daß wir böse Überraschungen erleben.« »Jawohl, Kommandantin.« Ki führte die Weisungen sofort aus. Er war bis ins Mark ein altgedienter Patrouil lenmilitär, einer der Draufgängertypen aus Rees Umfeld, durch und durch ein Eliteoffizier. Rita orderte am Spendeautomaten einen Becher Kaffee und wartete aufs Kommende. Mishimas Truppe bestand aus der Creme der Krieger, die den Sirius-Feldzug überlebt hatten. Nun begannen schwere, mit dem ST-Reaktor energetisierte Sturmblaster am stumpfen Ende der Station Teile der Außenwandung aus dem Rumpf zu schneiden, in bauschigen Kristallwol
ken brodelte Atmosphäre heraus. Daß Farmstationen eine so hohe Luftfeuchtigkeit hatten, war unter diesen Um ständen ein wenig nachteilig. »Zielerfassung erfolgt«, meldete Ki eine Stunde später. »Behalten Sie sie im Visier. Denken Sie schon mal drü ber nach, wie wir am günstigsten die Ortung bewerkstelli gen, wenn wir in der Büchse da sitzen.« »Ich glaube, ich kann Drohnen einsetzen, Majorin.« Rita schwieg für eine Weile nachdenklich. »Etwas wundert mich, Max. Wissen Sie, Ngen versäumt wichtige Schutzvorkehrungen. Diese Menschen, die er psycht« — sie wies mit einem Rundumwink auf die Stationen, die sie umschwebten — »interessieren sich nicht im geringsten dafür, daß hier 'n fremdes Raumschiff parkt und unser ST 'ne benachbarte Station aufschlitzt. Niemand drunten auf dem Planeten hat davon Kenntnis genommen. Man bleibt völlig gleichgültig. Wie kommt es, daß der sonst so bril lante Ngen Van Chow so etwas zuläßt?« Ki überlegte. »Ich denke mir, er sucht die Mitte zwi schen stabilen Verhältnissen und den existenten Sicher heitsrisiken. Zu diesem Kompromiß ist er ganz einfach gezwungen.« Ritas Blick galt der Station, während ein letztes Stück der Außenwand erbebte und man es unter Mishimas ge schickter Anleitung nach innen kippte. Das Innere der Sta tion, erhellt durch die mit dem Fusionsreaktor betrie benen Leuchtkörper, wurde entblößt, ein schwacher Nebel aus Kristallen dampfte von den dekompressierten Humus flächen und langgestreckten, grünen Pflanzungen auf, deren Gewächse vom Vakuum zerspellt worden wa ren und in der Weltraumkälte gefroren. »Das ist eine schwache Stelle, die man ausnutzen könnte. Aber es ... nein, verdammt, der Schweinehund plant einen Blitzkrieg gegen das Direktorat, Ki. Bestimmt weiß er um den Schwachpunkt, minimiert aber das Risiko, bereitet alles auf einen baldigen Großangriff vor, entledigt
sich zügig seiner Abhängigkeit von Arpeggio als einer sei ner bedeutenden Operationsbasen. Verflucht noch mal, hätten wir nur mehr Zeit ...!« Ki nickte. »Wir müssen diesen Planeten nachhaltig beblastern. So hart zuschlagen, wie wir können. Vielleicht gelingt es uns, sein Aufmarschtempo zu vermindern.« Ki atmete tief ein, drehte den Kopf in die Richtung des Hängemonitors, auf dem sich die Vektoren der einfliegen den feindlichen Einheiten beobachten ließen. »Erst einmal müssen wir so lange überleben, Majorin. Ich hoffe, wir kriegen unsere Chance.« Die Spinnes Dolch glitt in die dekompressierte Station wie in einen eigens für sie konstruierten Hangar. »Ja, falls wir so lang am Leben bleiben.« Rita nickte. »Naja, fürs erste sind wir sicher. Wann werden die feind lichen Schiffe in Schußweite sein?« »In vier Tagen, Majorin.« »Na schön. Machen Sie eine Durchsage: Alle sollen sich ausruhen und ihren Frieden mit Spinne schließen. Ist Ihnen klar, was geschieht, wenn wir diese Schiffe nicht vernichten? Falls drunten irgendwer doch die Augen of fengehalten hat?« Ki schluckte. »Ja, dann werden wir aus dieser Dose gepustet wie Federn aus 'm Kissen.« *
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LADERAUM AN BORD DER DS (DEUS' SCHIFF) MICHAEL WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM ÜBERLICHTFLUG/VERLASSEN DES ARCTURUSSYSTEMS
Veld Arstrong blickte in dem beengten Laderaum umher: Er maß zehn mal zehn Meter, Wände und Decke waren vollständig glatt und kahl. In einer Ecke hatte man eine kleine, transportable Toilettenzelle aufgestellt. Inzwi
schen stand davor andauernd eine nervöse Warteschlan ge. Der überfüllte Raum hatte eine Belegung von einer Person pro 0,75 m2. Wie, um alles in der Welt, hatte ihm nur so etwas zu stoßen können? Er kauerte in einem Winkel, hatte den Rücken senkrecht an die Wand gelehnt. Vor ihm befand sich ein dermaßen zusammengepferchter Haufen Men schen, daß sie mühelos mit einer Herde Vieh verwechselt werden konnten. In der Ecke gegenüber schrie ein zum Trost an die Mutterbrust gedrückter Säugling. Manche Personen schliefen, andere starrten nur, so wie Veld, vor sich hin, waren noch immer fassungslos vor Ungläubig keit. Die Körper der zusammengedrängten Eingesperrten rochen nach Furcht. Veld konnte es ihnen kaum verübeln. Zum erstenmal war er darüber froh, Junggeselle geblie ben zu sein. Natürlich wäre es vielleicht anders gekom men, falls Leeta ... Aber nein, das war längst vorüber: Sie hatte schon vor langem auf einem fernen Stern den Tod gefunden. Wie von dem Bandenführer abgekündigt, hatten sich die Familien der Entführten schon in der Zentralachse der Universitäts-Station befunden, nachdem sie durch Kommu-Benachrichtigungen aus dem Schlaf gerissen und — vorgeblich auf Veranlassung ihrer Männer — zu einer plötzlichen, angeblich erforderlichen, Fahrt zu einer Reede-Einrichtung in der Direktoratssektion Arcturus' gelockt worden waren; dort allerdings hatte man sie zusammengetrieben und trotz hysterischen Aufbegehrens zum Besteigen eines großen Shuttles genötigt. Der Flug mit dem Shuttle war kurz gewesen. Ein Raumschiff hatte es aufgenommen, die Verschleppten wurden vor Blastermündungen in den Raumer hinüber geführt, in dem irgendeine unglaublich starke anderweiti ge Inanspruchnahme der Reaktorenergie sowohl Gravita tion wie auch Beleuchtung Schwankungen unterwarf. Seitdem mußten die Gefangenen sich ins Warten fügen, ihre ausschließliche Realität bestand aus den Wahrneh
mungen, die das Raumschiff verursachte, und den Gerü chen tiefer menschlicher Verunsicherung. Vorsichtig bahnte sich Ten MacGuire eine Gasse durchs Gedränge und kauerte sich neben Veld. Für lange Momente sagte keiner von beiden etwas. »Was werden Sie tun, wenn wir dort eintreffen, wohin wir unterwegs sind?« Tens Stimme hatte ihre gewöhnli che Lebendigkeit verloren. Veld rieb mit den Händen die Knie der Hose, wischte mit dem rauhen Stoff den Schweiß von den Beinen. »Ich werde tun, was mir gesagt wird.« Er hob den Kopf. »Im Ernst, Ten, Sie haben doch selbst gesehen, was im Fakul tätssaal dieses abscheuliche, niederträchtige Weibsstück von Mädchen mit dem Blaster mit mir anstellen wollte. Sie hätt's gemacht. Verdammt noch mal, ich habe ihr di rekt in die Augen geblickt. Sie hat regelrecht darauf ge wartet, daß ich ihr 'n Vorwand biete, damit sie mich mit der Scheißknarre kastrieren könnte.« »Veld, hören Sie mir zu. Ich sage, wir lehnen jede Art von Zugeständnis ab. Wir legen die Hände in den Schoß und weigern uns rundheraus. Wir ... wir fordern, daß man uns den Direktor kontaktieren läßt. Es handelt sich ja wohl um eine Erpressung. Wahrscheinlich brauchen diese Leute ganz dringend Kredits. Sie dürfen ... Ja, Veld?« Arstong hatte ausdruckslos den Kopf geschüttelt. »Sie sind einer der ... Nein, kann sein, Sie sind der herausra gendste aller lebenden Ingenieure, Ten. Schauen Sie sich doch mal um, Mann. Sehen Sie sich an, wen wir hier alles haben. Hochkarätige Experten der Technik und Physik, stimmt's? Was schlußfolgern Sie daraus? Lösegelderpres sung? Doch wohl kaum. Man will, daß wir irgend etwas bauen. Der Einfall, es könnte um Freikauf gehen, dient hier unter uns bloß als so was wie 'n Beruhigungsmittel. In Wahrheit sind wir Zwangsarbeiter.« MacGuire brummte: »Trotzdem werde ich keinerlei Zugeständnisse machen. Wir brauchen ... Wir müssen uns auf eine Absprache einigen, Veld. Jeder von uns muß kla
ren Standpunkt gegen diese Verbrecher beziehen. Wenn wir zusammenhalten, kann man uns nicht zwingen, ir gend was zu tun, das wir ablehnen. Wir werden ...« »Wenn Sie das tatsächlich glauben, sind Sie 'n Einfalts pinsel.« MacGuires Gesichtsmuskeln zuckten, während er um Selbstbeherrschung rang. »Ich darf Sie daran erinnern, Doktor«, erwiderte er mit gepreßter Stimme, »daß Sie mein Untergebener sind. Noch bin ich Leiter der Techni schen Abteilung, und ich leite sie so, wie ich's als richtig erachte. Darum werden Sie meine dienstlichen Anwei sungen befolgen. Ich untersage Ihnen, an irgendwelchen Projekten mitzuarbeiten, zu denen diese Piraten Sie mög licherweise zwingen wollen. Haben Sie mich verstan den?« Veld lächelte. »Glauben Sie wirklich, was Sie da reden, Ten?« MacGuires strenger Blick konnte unmöglich mißdeutet werden. Veld nickte, spitzte die Lippen, während er sich in dem beengten Laderaum umschaute. Ihm fiel ein, daß man auf ähnliche Weise Rind von Range transportierte. Man zwängte es in Laderäume und verfrachtete es dorthin, wo man es am Ende schlachtete. »Ja wahrhaftig, Sie glauben's.« Er wies auf die vielen Menschen im Laderaum. »Offenbar hat Ihr grandioser Verstand noch nicht begrif fen, was das hier zu bedeuten hat. Was Sie ringsum sehen, hat zu besagen ...« »Versuchen Sie mir nicht weiszumachen, daß es ...« »Verdammte Scheiße, halten Sie doch den Mund, Ten! Jawohl, Sie hören richtig. Halten Sie die Klappe und las sen Sie nun mal mich Ihnen etwas erklären. Ich bin Rea list. Vielleicht ist es für uns alle am vernünftigsten, reali stisch zu sein, weil wir nämlich nicht bloß 'n Alptraum durchleben, aus dem wir bald aufwachen werden. Was wir erleben, ist eine völlig andere als unsere bisherige Realität. Kapiert? Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin kein
Traumtänzer. Ich bestehe darauf, daß Sie mir zuhö ren — und nachdenken.« Ten machte Anstalten, sich aufzurichten, schüttelte den Kopf. Veld klammerte eine Hand in seine Kleidung, krall te die Faust hinein und zog MacGuire zurück zu sich her unter. Im Laderaum war es auf einmal still geworden, die anderen Gefangenen schauten eingeschüchtert und furcht sam der Streitigkeit zu. Verstört versuchte MacGui re sich Veld zu entziehen, befeuchtete sich mit der Zun genspitze die Lippen. »Sie hören mir zu, Ten. Sie werden mir nun zuhören, weil ich nämlich nicht wegen Ihrer Verbohrtheit zu leiden haben möchte.« »Sie ... Sie sind verrückt, Veld. Sie sind es, seit Sie mit dieser Person Umgang hatten, um deretwillen Jeffray Selbstmord begangen hat.« »Hmm-hmm, kann sein, ich bin verrückt. Genausogut kann's aber sein, daß ich mir, weil ich Leeta kannte, in zwischen ein paar Fakten zusammengereimt habe. Viel leicht habe ich der Transduktions-Funksendung über die Romananer, die von ihr ausgestrahlt worden ist, ja wirk lich gründliche Beachtung geschenkt. Vielleicht habe ich mir über sie Gedanken gemacht ... Und über Jeffray ... Und darüber, wieso er sich umgebracht hat. Kann sein, ich habe mich in Gedanken mit dem alten Jeffray be faßt ... und ebenso mit dem Jeffray, mit dem Leeta nichts mehr zu schaffen haben mochte.« Veld reckte den Kopf. »Ich habe, um's klar zu sagen, damit angefangen, auch andere als wissenschaftlich-technische Texte zu lesen, weil Leeta nämlich bei Kriegshandlungen umgekommen ist, Ten. Allzu eng befreundet waren wir nicht, aber ge kannt habe ich sie. Sie ist fortgeflogen und hat den Tod gefunden, während sie ein ganzes Volk vor der Ausrot tung bewahrte. Und das hat eine Frau geleistet, die ich lediglich auf Parties gesehen und mit der ich mich bloß 'n paarmal verabredet hatte. So etwas verändert die Betrach tungsweise eines Menschen.«
»Also, dann ... Wenn sie für das den Kopf hingehalten hat, was sie glaubte, warum wollen Sie nicht auch für Ihre Überzeugung geradestehen?« »Weil ich davon eine Vorstellung habe, um was es hier geht.« Veld seufzte. »Ten, ich bitte Sie doch bloß, einmal nachzudenken. Tun Sie mir den Gefallen. So wie man unsere Entführung durchgezogen hat, ist es ... Verdammt, Ten, diese Leute sind zu effizient. Begreifen Sie, was ich meine? Überlegen Sie bloß mal: Wie werden Sie sich ver halten, wenn man Ihre älteste Tochter da herauspickt und ihr 'n Blaster an den Kopf setzt? Werden Sie dann arbei ten, wie man's von Ihnen verlangt, oder nicht?« MacGuire riß die Augen auf. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sie ist 'n kleines Mädchen. Welcher Men schenschlag würde denn ...« »Der Menschenschlag, der mir mit 'm Blaster ange droht hat, mich zu kastrieren. Möchten Sie, daß ich Ihnen eine noch ärgere Wahrheit sage? Dahinter stecken die Pa dri. Nicht die Romananer. Ich kenne alles, was Leeta und ihre Freunde über die Romananer und ihre Welt verbreitet haben. Nein, wir sollen als Denkfabrik für den Dschihad dienen. Es gibt für uns keinerlei Aussicht auf Befreiung, Ten. Wir sind vollkommen auf uns gestellt.« MacGuire schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich glau be, Sie haben einen Ausflug zur Gesundheitsbehörde wirklich nötig. Hätte ich geahnt, daß Sie sich zu so einem Interesse an Romananerangelegenheiten, Anthropologie und all dem Kram versteigen, hätte ich eine Meldung ein gereicht, und Sie wären ...« »Und ich wäre zu einem genauso hirnlosen Dumpfling wie Jeffray gemacht worden, was?« Veld schnob. »Meine Güte, Ten, ich weiß nicht, wen ich mehr fürchten soll, Sie oder die Padri. Aber im Moment ist das gar nicht die Fra ge. Gegenwärtig geht es ausschließlich darum, am Leben zu bleiben. Sonst nichts. Nur ums Überleben. Und Sie denken lieber noch einmal gut darüber nach, was Sie tun wollen, denn wenn Sie's mal so richtig von allen Seiten
betrachten, sind unsere Familien die eigentlichen Geiseln, nicht wir. Möchten Sie, daß Ihre Familie am Leben bleibt? Dann werden Sie arbeiten.« Ten wich zurück, bis er sich außerhalb der Reichweite Velds befand, dann stand er auf, sein Blick huschte unru hig umher. »Sie sind ein ganz verkommenes Subjekt, Veld. Ich habe nicht geahnt, daß Sie dermaßen verludert sind. Arbeiten Sie für diese Kriminellen, wenn Sie Lust haben. Aber wir anderen ... Wir lehnen es ab. Schließen Sie sich den Gangstern ruhig an ... Ich hoffe, daß Ihre Entschei dung Ihnen einbringt, was Sie verdienen.« Veld schloß die Augen, während MacGuire sich wieder durch die drangvolle Enge zu schieben begann und von ihm entfernte. Niedergeschlagen stützte er den Kopf in die Hände und rang unversehens mit den Tränen.
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AN BORD DER SPINNES DOLCH (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER ARPEGGIO)
»Majorin ...?« Die Stimme schreckte Rita aus festem Schlaf. Sie stemmte sich in ihrer Koje hoch und zwinkerte, bis sie sich wacher fühlte. Die kahlen, weißen Wände waren längst eine allzu altgewohnte Realität für sie geworden. Irgendwie mußte die Kajüte ein wenig aufgemöbelt werden, sie brauchte etwas mehr Lebendigkeit, Farben. »Ja, Ki? Was ist los?« »Die beiden feindlichen Einheiten werden in einer Stunde in Schußweite sein. An den Verladeluken der Sta tion ist ein Robotfrachter aufgetaucht. Wir haben massig Kohlköpfe hineingebaggert, damit alles normal wirkt. Ich bezweifle, daß den Padri die Dekompressionsschäden auffallen.« »Ich komme sofort.« Rita schwang sich aus der Koje,
räkelte sich, verspürte beträchtlichen sexuellen Frust, zählte die Tage, seit sie Eisenauge das letzte Mal besucht hatte. »Für 'ne lebenslustige alte Fregatte wie mich ist's schon entschieden zulange her«, befand sie verdrossen. Verdammt noch mal, sobald er sie in die Arme nahm, hatte sie das Gefühl, irgendwann könnte doch noch alles gut werden. Wenn sie mit Eisenauge über ihre Probleme reden konnte, hatte das Leben einen Sinn. Aber die zwei Kriegsschiffe, die sich näherten, konnten alles zunichte machen. Atomares Plasma hatte schlichtweg nicht mehr die gleichen Sorgen wie Rita Sarsa in ihrer jetzigen Form. Sie legte den Schutzpanzer an, checkte seine gege benenfalls im Vakuum unentbehrlichen Systeme und nahm ihren Helm aus dem Regal, ehe sie sich auf den Weg zur Kommandobrücke machte. Dort beugten Ki und Mishima sich über ihre Konsolen, beschäftigten sich mit Berechnungen. »Nach der Registrierung müssen es Zymer Chengs Joseph und Pjotr Raskolnikowskis Daniel sein. Allem zufolge, was wir erfahren haben, verüben sie überall im Direktoratsweltraum Überfälle, binden die Kräfte der Patrouille und hindern sie so an durchgreifenden Gegen maßnahmen.« »Wie nah werden sie unsere Position passieren?« frag te Rita, hielt den Blick auf die beiden gegnerischen Raum schiffe gerichtet, bemerkte die Waffenkuppeln für Blaster geschütze, mit denen man in die normalerweise glatten, abgerundeten Rümpfe der ehemaligen FLF gespickt hatte. »Auf ihrem momentanen Kurs müßten sie im Abstand von acht- bis neuntausend Kilometern vorbeifliegen, Ma jorin. Das ist fast Kernschußweite.« Ki antwortete grim mig: »Und sie haben uns praktisch nur beiläufig beachtet. Ich vermute, die Masse, die sie geortet haben, paßte unge fähr für eine Station dieses Typs. Nicht nur das, anschei nend hat auch alles einen normalen Eindruck hinter lassen.«
Rita schwallte der Andrenalinschub der Kampfbereit schaft ins Blut. Mit vollem Bewußtsein hob sie den Blick zu der kunstvoll an die Deckenplatten gemalte Spinnen darstellung. »Spinne, wirf uns diese beiden widerlichen Halunken vor, und wir werden mit ihren Schweinereien Schluß machen.« Sie setzte sich in den Kommandosessel und spürte, wie sich das Konturenpolster ihren Umrissen anglich, begann die Statusanzeigen abzulesen. »Feindliche Einheiten sind in Schußweite, Majorin.« »Gefechtsbereitschaft!« befahl Susan, klappte sich den Helm des Schutzpanzers über, kontrollierte Lebenserhal tungssystem und Kommu-Verbindung. »Geschützbedie nungen, bereithalten zum Feuern, Ziel ist visuell in Sicht, Feuer wird über Visier eröffnet! Laser-Entfernungsmesser, Doppleranalyse-Sensoren und Abstrahlfokus-Konstruktion sind aber vorsichtshalber zu aktivieren.« Sie schnitt eine finstere Miene. »Maschinenraum, seien Sie darauf gefaßt, auf hundertprozentigen Schub zu schalten. Falls wir einen Alarmstart aus dieser Gemüsedose durchführen müssen, kann es ums Ganze gehen.« »Verstanden.« Mißmutig grinste Rita, während sie wartete. Die Erre gung nahen Kampfs durchpochte ihre Adern. Im Laufe seiner gesamten Geschichte hatten Angehörige des Men schengeschlechts immer diese Art von Hochgefühl emp funden. Es rumpelte in den gelockerten Därmen, die At mung ging schneller, die Muskeln ähnelten gespannten Gummibändern. »Abstand zwölftausend Meter, Tendenz sinkend«, rief Ki. Rita beobachtete die hellen Punkte, als die der Feind sichtbar war und die vor dem bestirnten Hintergrund des Weltalls vorüberzogen. »Treffer-Fehlerquote?« fragte sie, unterdrückte den Drang, kurzerhand Feuer! zu schreien. »Fünf Prozent«, lautete Mishimas Auskunft. »Entfernung achttausendfünfhundert Meter.«
»Bud, Geschütze Nummer eins und zwei sollen das linke Raumschiff unter Beschuß nehmen. Geschütze Nummer drei und vier haben auf das rechte Schiff zu feu ern. Wie hoch ist die Treffer-Fehlerquote jetzt?« »Ohne Einsatz der Elektroniken vier Komma fünf Pro zent, Majorin.« Buds Rücken hatte sich verkrampft, unter dem Schutzpanzer ballten sich seine Muskeln. An lediglich 4,5 % Treffer-Fehlerquote störte sich Rita nicht. »Feuer!« Ohne Mühe durchschlugen die Strahlen der Fujiki-Blaster, mit denen man die beiden kleinen Punkte, als die man die feindlichen Kriegsschiffe erkennen konnte, visu ell anvisiert hatte, das dünne Metall der Stationswandung. Rita schaltete die Vergrößerung höher und sah, wie die Feuerleitoffiziere die mörderischen Blasterstrahlen direkt ins Ziel lenkten. Aus der Joseph schossen grelle Explo sionsblitze, deren Blendwirkung die Daniel zeitweilig der Sicht entzogen. »Erwischt!« jubelte Mishima. »Der Lump hat nicht mal was gemerkt. Geschütze drei und vier auf verbliebe nes Ziel richten!« »Alarmstart, durchstarten mit Vollschub!« befahl Rita. »Doppleranalyse-Sensoren und Feuerleitcomputer kop peln! Feuer frei auf die Daniel bis zur Vernichtung!« Sie verfolgte das Geschehen, während die Spinnes Dolch aus dem Stationswrack glitt, das zweite zielerfaßte Kriegsschiff ins Taumeln und Gieren geriet, den Blaster strahlen auszuweichen versuchte, die es bestrichen, Stich flammen herausschossen und, als der Rumpf aufbarst, Dunstwolken der Bordatmosphäre hervorstoben. Ritas übrige Blastergeschütze zielten nun ebenfalls auf die Daniel und nahmen sie unter Beschuß. Noch eine Sekun de, zwei Sekunden ... Und da verglühte die Daniel, als ihr Reaktor versagte, im Gleißen einer heftigen Detonation. »Zwei für Spinne!« Rita drosch eine behandschuhte Faust auf die Armlehne. »Wir haben's geschafft, Leute, Arpeggio gehört uns. Kurs auf das Schiffsausstattungs
Zentrum! Wenn wir damit fertig sind, knöpfen wir uns die Stationen und danach Bodenziele vor.« Ki steuerte das Raumschiff um den Planeten. Die mit Fujiki-Verstärkern aufgerüsteten Blaster verschossen vio lette Strahlen in die Stationen, die platzten, als ballerte man mit altmodischen romananischen Gewehren auf reife Früchte. Die Militäraktion gegen Arpeggio steigerte sich zu ei ner Aufeinanderfolge ständiger Zielerfassung, Trigono metrie und andauernden Flackerns der Beleuchtung, wenn die Fujiki-Blaster dem Reaktor Energie entzogen, in eine Reihe unentwegt wiederholter Handlungs- und Ereignis abläufe, die bald zur Routine wurden und verschwommen ineinander übergingen. Den Planeten völlig zu verwüsten, beanspruchte zwei Tage, an denen die Spinnes Dolch durch einen Regen verbogener, versengter Stationstrüm mer, der in die Lufthülle hinabhagelte, ununterbrochen Vernichtung säte. Auf Arpeggios Oberfläche brannten Städte, man erkannte die Feuersbrünste an den gewaltigen, braunen Rauchsäulen, die in die Höhe quollen. Aus einem destabilisierten Orbit stürzte ein Reaktor mitsamt seiner Antimaterie auf den Planeten. Der Krater, den er hinterließ, schuf eine Bucht, die einen halben Kon tinent mit Meer überflutete. Die Glocke aus Qualm, Dunst und Fallout, die entstand und wuchs, machte bald ein genaues Zielen unmöglich. »Feindliche Einheit geortet, Majorin. Diesmal ist es ein großes Schiff. Könnte die Cregorius sein.« Kis Stimme scheuchte Rita auf; sie hatte im Kommandosessel gedöst. »Na gut.« Rita sammelte ihre Gedanken. »Das Schiff soll schnell sein, also arbeiten Sie uns den optimalsten Kurs für den Rückzug aus. Volle Pulle, Max. Nun wollen wir mal sehen, was unser Prachtstück wirklich leisten kann.« Sie las die Massedaten des einfliegenden Raum schiffs ab. Die Doppleranalyse zeigte an, daß es die Ge schwindigkeit nicht verringerte. Wenn es zu einem Ren nen kam, konnte der Ausgang knapp werden.
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AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONAREM ORBIT ÜBER WELT)
»Verdammt noch mal!« brüllte Ree mit voller Kraft seiner Lungen. »Abschalten, Neal! Verdammt, Mensch, schalt den Reaktor ab!« Er stand mit vorgeschobenem Kinn da, hatte an den Seiten die Fäuste geballt, am Hals traten ihm die Adern hervor. Sein Herz wummerte wie eine Ramme. Trotz aller Verzweiflung völlig dazu außerstande, Geschehnisse zu beeinflussen, die sich zweihundert Lichtjahre entfernt ereigneten — von der Unmöglichkeit, die temporale Ver schiebung der Zeitdilation zu überwinden, ganz zu schweigen —, keuchte er vor Anstrengung, wenigstens einigermaßen die Beherrschung zu bewahren, sah den stahlharten Ausdruck in Neals Augen, das Entsetzen, das sich in jedem der vom Streß verzerrten Gesichter auf Iver sons Kommandobrücke widerspiegelte. Dann erlosch der Bildschirm einfach, ohne jede Vorwarnung. Worte der Ratlosigkeit entrangen sich Rees Kehle. »Warum ist er so abgetreten ...?« »Sein Schiff flog dicht unterhalb der Lichtgeschwin digkeit«, machte Maya, die in einem Konturensessel saß, ihn aufmerksam. »Damen, welche Wahl hatten sie denn? Doch nur, entweder schnell zu sterben, oder unter unsäg lichen Leiden langsam zu verrecken, oder nicht? Wir hät ten ihn erst nach Monaten gefunden, vielleicht Jahren. Es hätte ihnen an Energie für Funksprüche oder für den Be trieb der Versorgungssysteme gefehlt. Was glaubst du, wieviel Lebensmittelvorräte sie an Bord hatten?« Ree ließ sich in seinen Kommandantensessel sacken. »Ich weiß«, sagte er dumpf. »Sobald Ngen das Schiff an geschossen hatte, waren sie so gut wie tot. Als der Ma schinenraum die Reaktion nicht mehr unter Kontrolle be
kommen konnte ... Naja, danach war's nur noch 'ne Frage der Zeit gewesen. Bloß ist es so ... Er war eben ...« »Ein besonderer junger Mann«, meinte Maya leise, legte sanfte Finger auf Rees Hand. Damen atmete tief durch. »Das ist wahr. Ein ganz besonderer junger Mann ... Aber sind sie das nicht alle?« »Ehrlich gesagt, nein. Einige sind besser als andere. Neal ...« Ree sprang aus dem Sitz, begann auf der Kommando brücke hin- und herzustapfen, die Hände auf dem Rücken gefaltet. »Weißt du, im Umraum Sirius' ist eigentlich er Seele und Hirn des Widerstands gegen Van Chows Enter kommandos gewesen. Genau hier in dem Sessel hat er gesessen, unermüdlich Gegenstöße geplant, Abwehrtakti ken ersonnen ...« Damen blieb stehen, hob den Kopf, seine Augen schienen ausdruckslos in irgendwelche Weiten zu starren, während er sich Erinnerungen hingab. »Wie oft ertönte aus der Kommu seine Stimme, während wir irgendwo im Raumschiff in völliger Schwärze schwebten, in einem Korridor im Hinterhalt lauerten ... Verdammt noch mal, Maya, er ... Du ahnst gar nicht, wieviel eine ruhige Stimme bedeuten kann, wenn du in Finsternis und Kälte steckst und ringsumher von nichts als Tod umgeben bist. Bis heute weiß ich nicht, wie's ihm gelungen ist, immer mit einer derartigen Gelassenheit in der Stimme zu sprechen, während Ngens Stoßtrupps uns eins ums andere die Decks der Projektil entrissen und besetzten.« »Er war ... Ach, verflucht. Aber wir sollten ebensowe nig vergessen, was er jetzt für uns geleistet hat. Er hat uns Zeit erkämpft. Nicht nur das, wir sind durch ihn auf etwas hingewiesen worden. Ngen hat viel schneller als erwartet reagiert. Neals Angriffstaktik war tadellos. Es hätte an sich ausgeschlossen sein müssen, daß die Gregorius so rasch zur Verteidigung übergeht. Ich glaube, jetzt haben wir end lich auswertbare Daten vorliegen, die uns zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Neals telemetrische Messungen sind für uns unermeßlich wichtig. Die Spektrometrie kann
herausfinden, ob Ngen Blaster sirianischen Typs einsetzt — und ich würde wetten, es sind welche. Wir können den Effekt der Fujiki-Blaster auf Ngens Schutzschirme analy sieren. So verschaffen wir uns einen Eindruck seiner Stär ken, und dadurch gelingt's uns möglicherweise, Rük kschlüsse auf eventuelle Schwächen zu ziehen. Alles was wir feststellen müssen, ist der Grund für seine kurze Reak tionszeit. Vielleicht durch technische Tricks aus dem Arse nal der Bruderschaft?« »Unsere Leute haben ihm spürbare Schläge versetzt.« Ree nickte vor sich hin, versuchte Neal Iverson aus seinen Gedanken zu verdrängen, die Erinnerungen an den eifri gen, jungen Kadetten, der ihm von Anfang an gut gefallen hatte. »Susan hat Basar ausgeschaltet. Rita hat einen schweren Angriff gegen Mysterium geflogen und eine Anzahl Station eliminiert. Ihr letzter Funkspruch kam aus dem Umraum Basars. Ihre Meldung legt nahe, daß wir den Planeten endgültig aus unseren Berücksichtigungen strei chen können.« Denke nach, Damen! Aber ... Neal ... Neal ...! »Die Umbauten nach euren Spezifikationen kommen voran«, sagte Maya. »Gleichzeitig erhalten wir romanani sche Sturmtruppen. Ich habe keine Ahnung, wer wen zu was ausbildet. Die Hälfte meiner Besatzung kraxelt in den Bärenbergen herum, während die Hälfte der Romananer mein Raumschiff überall mit scheußlichen schwarzen Spinnen beschmiert. So wie da.« Sie zeigte auf die Spinne über ihrem Kopf. Er ist tot, verdammt noch einmal. Finde dich mit dieser Tatsache ab. Du weißt, daß Menschen sterben. Ein Befehlshaber schickt dauernd Menschen in lebensgefähr liche Situationen. Es ist möglich, daß du sie alle verlierst. Rita. Eisenauge. Susan. Ja, und sogar Maya. Ree hob den Blick, schluckte krampfhaft, fühlte noch einmal einen älteren Kummer, während er nachdenklich die verblichene Spinnenabbildung auf den Deckenplatten betrachtete.
Spinne gibt uns keine Garantien. Siehe Leeta. Siehe Neal. Wie viele wird es noch treffen? »Diese Spinne hat vor etlichen Jahren Leeta Dobra da hingemalt, kurz bevor du mein Schlachtschiff vernichten wolltest. Wenig später haben deine Blastergeschütze sie getötet. Es ist alles so seltsam, nicht wahr? Es ist merk würdig, wie Spinnes Netz uns umwoben, in seine Pläne eingesponnen und unser Leben auf eine Weise verändert hat, wie wir's nie geglaubt hätten.« Und Neal hat es das Leben gekostet. »Direktor Skor Robinson auf Transduktionsfrequenz«, teilte die Kommu ohne alle Umstände mit. Unter demHammer der galaktischen Wirklichkeit zersprang die Me lancholie des Augenblicks wie ein Kristall. »Stellen Sie durch«, befahl Ree, vollführte mit der Hand eine lasche Gebärde. Blöder Wasserkopf. Warum muß er ausgerechnet jetzt anrufen? Kann man mir denn nicht einmal ein wenig Zeit zum Trauern lassen? Er gab sich einen Ruck, nahm seine Gedanken zusammen, ver suchte trotz des schmerzlichen Verlustgefühls einen klaren Kopf zu wahren. Auf dem Bildschirm erschien der kolossale Schädel des Direktors. Sofort stutzte Ree. In einem spitz geworde nen Gesicht blickten Robinsons Augen aus geröteten Höh len. Entweder hatte er gesundheitliche Probleme oder einen gehörigen Schock erlitten. »Meinen Gruß, Direktor«, äußerte Ree, blieb zurück haltend. Er rückte seine Schultern gerade, seine Miene nahm einen Ausdruck der Härte an, seine Augen glitzer ten. »Admiral, ich habe keine Zeit für Floskeln«, leierte Robinson mit piepsiger Stimme. »Ich bin ... dazu bereit, die Macht im Direktorat an Sie und Ihre Flotte abzutreten. Es ist mir nicht mehr möglich ... Es fällt mir schwer, aber ich glaube, Sie und Ihre Romananer sind vielleicht ... für die Zivilisation die einzige Rettung. Vor wenigen Stunden haben Streitkräfte Ngen Van Chows über zweihundert
Millionen Menschen ermordet ... und wir stehen weiteren Anschlägen völlig schutzlos gegenüber. Vollkommen wehrlos. Arcturus' Bevölkerung ... tobt in den Straßen. Die gesellschaftliche Ordnung zerfällt. Die Menschen flehen um Schutz, und ich ... ich kann ihn nicht gewährleisten. Ich muß meine Stadt wiederaufbauen, aber habe ich dafür überhaupt noch einen Grund? Was soll ich tun, Admiral? Die Patrouille taugt nichts mehr. Ngens Streitmacht hat die Ganges torpediert. Sie ist explodiert. Ich habe nicht mehr die Mittel, um den Zusammenbruch der Zivilisation auf zuhalten.« Erschüttert saß Ree da, während vom Arcturus HoloAufzeichnungen eintrafen. Er und Maya schauten sich beklommen die ausgewählten Bilder einer Dokumenta tion an, die den Angriff auf die Sternenstadt vom Gluttod der Ganges bis zum letzten, explosiven Aufplatzen von Habitats-Schweißnähten anschaulich zusammenfaßte. Ree nickte, mußte angesichts der Ungeheuerlichkeit des Desasters schwer schlucken. In seinem Innern klaffte die Leere immer abgründiger. Erst Neal ... Und jetzt das ...? Ein derartig grausamer Anschlag auf Arcturus — mit solchen Folgen — mochte das gesamte Direktorat in Anar chie stürzen. Ree war regelrecht benommen zumute, während er sich die Tragweite des Geschehenen zu überblicken und zu verarbeiten bemühte, erkannte bald, was für begrenzte Optionen er hatte. Was konnte er denn schon unterneh men? Wie sollte er zum Arcturus gelangen, wie romana nische Macht demonstrieren? Wäre nur Chester... Nein, ein Weg stand ihm offen. »Ich schicke Ihnen noch im Laufe des Tages eine Blitzkorvette, Direktor. Sie werden innerhalb eines Monats soviele Romananer wie möglich im Arcturussystem haben. Bis dahin müssen Sie die Stel lung halten. Befolgen Sie in der Zwischenzeit meine Instruktionen.« Ree improvisierte, während er auf den Direktor einre dete, schöpfte aus seinen mit den Romananern gesam
melten Erfahrungen, aus dem, was er aus Leetas Erläute rungen wußte, aus den Anthropologietexten, die er gele sen hatte, und aus Pikes Erklärungen. Indem er sein Ge hirn zermarterte und ihm ständig neue Einfälle abrang, konzipierte er für Skor Robinson einen Aktionsplan. Der Direktor nahm Rees Redefluß willig zur Kenntnis. Wie lange dauerte es? Eine Stunde? Zwei Stunden? »... und darüber hinaus geben Sie der Allgemeinheit bekannt, daß die Romananer kommen und Spinne sie schützen wird. Wenn Arcturus unter unserem Schutz steht, wird kein neuer Überfall stattfinden. Darauf gebe ich mein Wort.« Robinson zögerte. »Ich wüßte gerne, was aus ... wie Sie über unser persönliches Schicksal disponieren. Assistenz-Direktor Semri Nawtow ist tot, bei dem Angriff umgekommen. Assistenz-Direktor An Roque ist ...« Ro binsons Stimme klang auf einmal rauh. »Sein Verstand hat Schaden genommen, Admiral. Die Ursache dürfte der zeit weilige Ausfall weiter Teile des Giga-Verbunds gewesen sein. Die Belastung ... Werden ... werden Sie unsere Gefangennahme oder Exekution anordnen?« Skor Robinson blinzelte besorgt in das längere Schwei gen, das sich seiner Frage anschloß. Ree wirkte, als hätte er einen Felsenegel verschluckt. »Ihre Exekution? Ich wüßte nicht, wozu ... Wie ist Ihre Verfassung, Direktor?« »Normalerweise verhängen Eroberer die Hinrichtung gestürzter Herrscher«, stellte Robinson sachlich klar. »Im allgemeinen erfordert die Konsolidierung neuer Regime, daß ...« »Ach was, Unsinn!« brauste Ree auf und erhob sich aus dem Kommandantensessel. »Nein, Sie sind nicht abge setzt. Und ... und das allerletzte, was mich interessiert, ist 'ne Übernahme Arcturus', Spinne sei mein Zeuge!« »Aber das Patrouillen-Oberkommando hat hinsichtlich dieser Einschätzung keinen Zweifel gelassen. Es hat dar auf bestanden, Ihre Ziele seien ...«
»Aus reiner Mißgunst!« erwiderte Ree heftig, fuchtel te mit den Armen. »Was haben Sie denn von denen erwar tet, wie sie auf meinen sogenannten Verrat reagieren? Direktor, Sie sind unübertroffen und unentbehrlich in der Verwaltung dessen, was vom Direktorat übrig ist, aber sobald's aufs Durchschauen menschlicher Motive ankommt, haben Sie soviel Gespür wie 'n toter Fisch. Sie und Ihre Kollegen sind so lange mit Ihrem verfluchten Giga-Computerverbund eingesperrt gewesen, daß Sie nicht die mindeste Vorstellung mehr davon haben, wie Menschen denken, empfinden und handeln, Sie wissen von ihnen nichts, was über Ernährung, Produktion, Kon sum und die effizienteste Beseitigung organischer Abfälle hinausgeht. Chester hat recht gehabt, was Sie betrifft.« Ree keuchte und schnaufte vor Erbitterung. »Na schön, sagen Sie den Arcturianern, wenn sie sich nicht wie brave, anständige Jungs und Mädels aufführen, werden meine Romananer sie dermaßen in den Arsch treten, daß sie mit den Ohren furzen. Alles klar?« Unvermittelt grinste Ree, weil er plötzlich noch eine Idee hatte. »Sagen Sie ihnen, wir senden ihnen einen Pro pheten, der ihnen Frieden bringt! Dadurch müßten neue Krawalle sich abwenden lassen. Sie hängen jetzt in Spin nes Netz, Direktor.« Robinson nickte. »Ich bin erleichtert. Wir haben Ihre Ankündigungen bekanntgegeben. Viele Menschen sind an Ihre Beschäftigung zurückgekehrt. Manche sind aller dings noch etwas verwirrt. Natürlich treiben auch Auf rührer ihr Unwesen und versuchen Unruhe zu schüren. Nach meiner Einschätzung besteht eine Wahrscheinlich keit von neunundachtzig Komma siebenundsechzig Pro zent, daß es sich um Agenten Van Chows handelt, quasi seine Vorhut, obwohl aufgrund der momentanen Scha denslage solche Zahlen vorsichtshalber als dubios einge stuft werden müssen. Anscheinend gilt die Taktik dieser Personen ausschließlich dem Anstiften politisch-gesellschaftlicher Revolten.«
»Lassen Sie sie schleunigst festnehmen und zur näch sten Schleuse hinauswerfen. Solange sie sich frei tum meln können, wird es ...« »Mord?« fragte Robinson. Sein Gesicht zuckte. »Sie wünschen, daß ich Morde sanktioniere und ...« »Was soll das?« Ree schlug eine Faust in die andere Handfläche. »Sie haben mir einmal befohlen, den gesam ten Romananerplaneten kahlzusengen, erinnern Sie sich? Sie sind kein Heiliger, Robinson. Bloß haben Sie seither gemerkt, daß Sie sterblich sind, und Ihre Sünden zu groß, um Sie nicht zu drücken. Fangen Sie mir bloß nicht mit Zimperlichkeit an. So was nehme ich Ihnen nicht ab ... Und Spinne auch nicht.« »Ich ... ich verstehe, was Sie meinen. Ich glaube, wir haben die Lage wieder unter Kontrolle. Darf ich Sie, falls zusätzliche Probleme entstehen, nochmals zwecks Kon sultation anrufen?« »Sicher.« Ree nickte. »Wie weit erstreckt sich Ihre Kooperation? Auch auf die Patrouille?« Skor Robinsons Lippen zitterten. »Ich habe bedin gungslos kapituliert.« Ree verkniff die Lider, schabte sich am Kinn. Er warf Maya einen Seitenblick zu. »Dann geben Sie unverzüglich Ihren Patrouillenschlachtschiffen durch, sie sollen den Vektor auf Welt legen. Außerdem brauche ich ... Moment mal ... Sechs FLF. Dirigieren Sie sie zur Station Tygi. Ich wollte, wir hätten hier 'ne Orbitalwerft zur Verfügung, aber wir werden schon zurechtkommen. Die Schiffe müs sen umgebaut werden. Wir arbeiten schon seit einiger Zeit wie verrückt an der Umrüstung von FLF. Auf den Schlachtschiffen werden wir die Modifikationen selbst verständlich auch durchführen, es läßt sich schneller erle digen, und das Endresultat ist besser. Gleichzeitig über mitteln wir Ihnen die Informationen und Daten unserer Umbaupläne und -verfahren. Sie sind tausendmal tüchti ger darin, dergleichen zu koordinieren, als wir. Gegenwär tig orientiert Sirius seine Fertigungskapazitäten auf unsere
Anforderungen um, und auch in Mayas und Tobys Raum sektoren haben wir inzwischen entsprechende Änderun gen veranlaßt. Wenn Sie so freundlich wären, diese Vor gänge für uns zu überwachen und anzuleiten, wüßten wir das sehr zu schätzen.« »Was ist mit den übrigen Patrouillenkommandeuren?« fragte Maya. »Ich habe das Gefühl, sich unserem Oberbe fehl zu unterstellen, ist so ziemlich das letzte, worauf sie Wert legen.« »Was sagen Sie dazu, Direktor?« »Berücksichtige ich ihre zuletzt gemachten Äußerun gen, nehme ich an, daß sie sich widersetzen werden — möglicherweise bis zur Auflehnung gegen meine Anwei sungen und bis zur Meuterei. Seien Sie sich dessen be wußt, daß Sie selbst dafür ein Vorbild geliefert haben ...« Skor Robinson verstummte, sein zwergenhaftes Gesicht war plötzlich bleich und verriet tiefe Verlegenheit. »Ja, stimmt.« Ree gelangte zu einem Entschluß und nickte. »Also gut — Maya, Toby und ich werden uns darum kümmern. Die Patrouilleneinheiten bekommen Romananer an Bord. Es wird nicht das erste Mal sein, daß Spinne für seine Zwecke die Gegebenheiten verändert. Mein Kriegshäuptling und seine Männer können auf die hartnäckigste Art und Weise beharrlich sein. Sie und ihre Überzeugungen nisten sich gegen jeden Widerstand in jeder Ritze und Spalte ein. Spinne wird die Schwierigkei ten für uns ausräumen.« »Ist das die Methode, wie deine Piraten bei mir vorge gangen sind?« Ree zwinkerte ihr zu. »Tja, wer weiß, Maya? Möglich ist alles.« »Ich habe soeben alle Patrouillenschlachtschiffe nach Welt befohlen.« Robinson schniefte, rieb sich mit einem Finger unter der Nase. »Ich habe keine Fragen mehr. Ich bereite einen Erlaß über die Einführung des Kriegsrechts mit Ihnen als oberstem Militärbefehlshaber vor. Es wer den jetzt Padri wegen umstürzlerischer Machenschaften in
Gewahrsam genommen, und zwei von ihnen sind schon zur Schleuse hinausbefördert worden.« Skor Robinson blickte auf, als ob er weitere Anweisungen erwartete; in seiner Miene standen Verunsicherung und Ratlosigkeit. »Direktor«, sagte Ree umgänglich, »tun Sie einfach, was Sie als am besten für Ihre Bevölkerung erachten. Sie sind nicht allein. Noch sind wir da, und Hilfe ist unter wegs.« Er verstummte, schnitt ein Gesicht, als lauschte er in die Kommu. »Ach, übrigens: Mir liegt eine Mitteilung von Chester vor. Er befindet sich momentan weitab von jedem Kommu-Apparat, aber er läßt Sie grüßen, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er Ihnen alles Gute wünscht. Ich soll Ihnen sagen, er weiß, daß Sie Ihr Bestes geben.« Skor Robinsons Mund bebte; es flackerte in seinen kleinen, blauen Augen. »Sa ... Sagen Sie dem Propheten, daß ... Bringen Sie ihm meine Dankbarkeit zum Aus druck. Haben Sie weitere Anweisungen?« Ree schüttelte den Kopf. »Nein. Halten Sie nur Arctu rus in einem Stück, bis meine Krieger eintreffen. Falls neuer Ärger entsteht, rufen Sie an. Dann werden wir ihn gemeinsam beheben.« Der Monitor erlosch. Maya beäugte Ree argwöhnischen Blicks. »Wirst du auf die alten Tage etwa noch übermäßig menschenfreund lich? Ich weiß nicht, ob mir so was bei einem Verbündeten behagt.« Ree legte die Fingerkuppen aneinander und zog einen Schmollmund. »Nein. Mir ist lediglich etwas eingefallen, was Chester einmal über Robinson und über Freund-schaft gesagt hat. Ich habe gewissermaßen meine Lektion gelernt. Sicher, er ist ein Monstrum, Maya, aber nicht al les ist seine Schuld. Außerdem ist es so, daß wir — die ganze Menschheit — ihn in handlungsfähigem Zustand benötigen, bei Verstand und zum Denken fähig, damit er versucht, alles beisammenzuhalten. Er ist es, durch den der Giga-Verbund — beziehungsweise was davon übrig ist — auch künftig funktionstüchtig bleiben kann. Klar, es
war gelogen, daß Chester ihn grüßen ließe, aber ich glau be, Chester hätte dafür Verständnis. Nebenbei erwähnt, ich glaube wirklich, daß der Prophet ihn trotz allem ganz gut leiden mag. Nein, Skor Robinson zu schassen, wäre 'n Fehler gewesen. Vielleicht hätte er dann völlig durchge dreht. Wir brauchen jetzt allen Beistand, den wir gewinnen können, und ich denke mir, nun wird Robinson dank unse rer Politik eindeutig auf unsere Seite wechseln.« »Aber du wirst doch auf ihn achtgeben?« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Und die Patrouillenkommandeure?« »Sie müssen natürlich abgelöst werden. Ich kriege im mer meine Probleme mit Leuten, die alle Bereitschaft ha ben, mir in den Rücken zu fallen ... Und sie bekommen auch nichts als Verdruß.« Maya atmete tief ein. »Genau meine Meinung. Aber wie willst du sie von ihren Schlachtschiffen holen? Sie werden sich wohl kaum einfach so fügen.« »Da haben wir tatsächlich noch 'ne harte Nuß zu knacken.« Mürrisch betrachtete Ree über sich die Decken platten. »Und du kannst dir in den nächsten Monaten, bis sie hier anlangen, dein schlaues Köpfchen darüber zerbre chen.« Maya drehte ihren Konturensessel, senkte die Nase nachdenklich hinter die aneinandergestützten Hände. Ree ging zum Spendeautomaten, vermochte sich nicht zwischen Kaffee und Tee zu entscheiden, schüttelte schließlich den Kopf. »Komm, Maya, ich habe noch etwas köstlichen sirianischen Whiskey übrig. Ich muß das Ganze erst einmal verkraften. Neal ist tot ... Und ich bin mir nichts, dir nichts zum mächtigsten Mann der Galaxis geworden. Angelegt habe ich's nie darauf ... Warum gera de ich?« Ruckartig reckte er den Kopf, setzte eine finstere Miene auf. »Verdammt nochmal, noch einer meiner Freunde ist tot ...!« »Du hast während des Gesprächs mit dem Direktor das Nötige gesagt.« Maya stieß ein Brummen aus. »Ich weiß
nicht, aber ich habe das Gefühl, als ob ich mich allmählich selbst auch zu Spinne zu bekehren anfange. Wie nennst du das: Spinnes Netz?«
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CASINO AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM EINFLUG INS SONNENSYSTEM WELTS
»Kommandantin? Hätten Sie wohl 'n Momentchen Zeit?« Susan drehte sich um, in der Hand einen frischgefüll ten Becher Tee. Die MedTech wartete auf Antwort, im gewöhnlich grimmigen Gesicht einen sachlich-nüchternen Ausdruck. Vielleicht stammte ihre Härte daher, daß sie stets mit Leidenden zu tun hatte. »Sicher, Obergefreitin.« Die Ärztin schaute sich im Casino um; offenbar behag te ihr die große Zahl Anwesender nicht. »Sollen wir lieber in meine Kajüte gehen?« Die Obergefreitin nickte. Susan ging voran, mußte über notdürftig mit Verkleidungsblechen abgedeckte Energie kabel steigen, ehe sie ihre Kajütentür öffnen konnte. Geduckt trat die Medizinerin ein, und Susan folgte ihr; hinter ihnen schloß sich die Tür. »Es geht um Pike«, erklärte die MedTech. »Er hat Krebs, Kommandantin.« Susan setzte sich an das kleine Tischchen und trank von dem starken romananischen Tee. »Vermutlich im re generierten Gewebe? Als Folge der Stimulation seiner Genmaterial-Wachstumsnodi? Wie ernst ist die Erkran kung?« Mit verschränkten Armen lehnte die MedTech sich an die Wand. »Das kommt darauf an, Kommandantin. Bis
nach Welt ist's noch eine Woche Flugzeit, vielleicht weni ger, wenn dem Gerede zu glauben ist. Falls ich ihn dort umgehend in die Bordklinik der Projektil verlegen kann, droht ihm kaum eine Gefahr. Phil hat die Möglichkeit, ihn in eine der größeren Med-Einheiten zu stecken, und bin nen eines Monats holen wir ihn in besserer Verfassung heraus, als er's je im Leben gewesen ist.« »Aber dann bleibt er einen Monat lang weggetreten?« »Genau. Völlig ohne Besinnung. Er ist dann nicht an sprechbar, sogar die Hirnaktivität wird auf ein Minimum reduziert. Wir müssen seinen Körper permanent unter vollkommener Kontrolle haben. Ihm die richtigen, positi ven Gedanken suggerieren, sein Blut — und eigentlich auch alles andere — ständigem Monitoring unterziehen, und so fort.« Susan kaute auf der Innenseite ihrer Wange, während sie überlegte. »Und wenn wir uns keinen einmonatigen Ausfall seiner Person erlauben können? Wie lautet dann die Prognose?« Die MedTech zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Stimulation der DNS-Wachstumsnodi schon verringert und die Dosierung der Polymerasen herabgesetzt. Natur gemäß wird dadurch die Regeneration verlangsamt, aber sie ist's ja, durch die die Komplikationen entstanden sind. Was die Tumore anbelangt, bin ich dabei, eine Gruppe loci-spezifischer Zytostatika zu entwickeln, die Pikes Autoimmunsystem rundum angepaßt ist.« Susans hob die Brauen. »Einfacher ausgedrückt, ich initiiere einen Tumor-Nekrose-Faktor, kurz TNF, der mit Interleukinetinen, mono klonalen Antikörpern, mehreren Typen Interferon sowie modifizierten Angiogenerativa gekoppelt wird, um das tumuröse Gewebe zu isolieren.« »Das ist dein Fachgebiet, Obergefreitin. Tu was du für richtig hältst.« Die Ärztin zögerte. »Ganz so einfach ist es nicht, Kom mandantin. Alles hat seinen Preis. In diesem Fall ist's ein
toxischer Effekt. Im wesentlichen geht er vom TumorNekrose-Faktor aus. Ein TNF kann Nervengewebe schädi gen. Er kann einen Schockzustand oder eine ganze Reihe anderer unerwünschter Nebenwirkungen verursachen. Sollten Pikes Beinnerven betroffen werden ... Naja, der Wadennerv ist weitgehend regeneriert, der Schienbeinnerv sogar schon komplett. Die stärksten Beeinträchtigungen der Synapsen sind weiter oben im Nervensystem erfolgt.« »Du redest schon wieder dein Kauderwelsch.« »Es kann sein, daß er das Bein nie wieder ganz in der Gewalt hat. Möglicherweise wird er für den Rest seines Lebens hinken — oder jedenfalls, bis ich ihn in 'ne große Med-Einheit stecken und sozusagen generalüberholen kann.« Susan dachte nach; ihre Fingerspitzen trommelten auf der Tischplatte. »Verfluchter Mist ... Der Admiral will ihn in die Planungen einbeziehen, sobald wir im Orbit parken.« Die Medizinerin spreizte die Hände. »Mag sein, und das kann er haben, aber ich bin Ihnen vorherzusagen außerstande, Kommandantin, was für ein Ende es neh men wird. Wenn Pike es wollte — falls er's wollte, meine ich —, könnte er sich, indem er entschlossene Willens kraft aufbietet, über diese Hürden hinweghelfen. Aber unter uns, ich bezweifle, daß er dazu den Willen auf bringt. Ansonsten ist mein ärztlicher Rat: Totaltherapie in einer Med-Großeinheit unter Phils Aufsicht und Betreu ung auf der Projektil. Im übrigen liegt die Entscheidung — und damit die Verantwortung für seine Heilung — bei Ihnen, Kommandantin.« Susan nickte und starrte in ihren Tee. *
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AUF DER KOMMANDOBRÜCKE DER DEUS WÄHREND DES EINFLUGS INS ARPEGGIANISCHE SONNENSYSTEM
»Daß sie der Satan verschlinge!« heulte Ngen Van Chow. »Bei lebendigem Leibe sollen sie verfaulen! Man schaue sich nur an, was sie jetzt wieder gemacht haben! Jede Welt, die ich in ein Trainingszentrum umwandle, zerstören sie mir.« Er stapfte auf der Kommandobrücke auf und ab, während die Fernortung die ersten Bilder Arpeggios übertrug. Holo um Holo huschte über die Bildschirme. Von allem Aufwand, den Van Chow in Pro duktionsanlagen und Ausbildungsstätten investiert hatte, gab es nur noch von Schwelbränden durchglutete Ruinen zu sehen. Klimatografische Observationen zeigten, daß über allen drei Kontinenten nuklearer Winter entstand. Neben Ngen keuchte M'Klea vor sich hin, nur nach und nach begriff ihr Gemüt gegen alle Ungläubigkeit die Bedeutung des Anblicks, der sich bot. »Bei Deus«, flüster te sie mit erstickter Stimme. »Für das, was sie meiner Heimatwelt angetan haben, will ich diese Kreaturen bü ßen sehen ...!« Ngen brüllte vor Wut, zerschmiß auf dem Deck eine Kristallkaraffe und brüllte gräßliche Beschimpfungen. Das diensthabende Personal der Kommandobrücke zog angesichts der Zornausbrüche Ngens die Köpfe ein und hielt voller Unbehagen den Blick auf die Monitoren gehef tet. M'Klea starrte die Holo-Aufnahmen an, als könnte sie sich davon nicht losreißen. »Wie schön es war...! Die Parks, die Wiesen, die Städte ... Dahin ...? Alles dahin?« Mit einem Glitzern in den Augen wandte sie sich an Ngen. »Töte sie! Bring sie alle um! Ich will ihren Tod! Ich will sie büßen sehen!« »Beruhige dich, meine Teure«, versuchte Ngen sie zu beschwichtigen, während sie um einen Schritt rückwärts wankte, ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Seine Lip pen teilten sich zu einem Lächeln. »Zum Schluß werden sie dafür teuer bezahlen müssen. Das verspreche ich dir.
O ja, ich verspreche es dir mit allem Nachdruck! Für jede meiner Welten, die sie beschossen und verbrannt haben, werden sie meinen Grimm zu spüren bekommen.« »Ich habe ein Raumschiff in der Erkennung, Sir«, rief der für die Ortung zuständige Gulaganer, war jedoch so klug, nicht den Blick vom Monitor zu nehmen. »Es ist soeben aus dem Orbit gestartet. Wir haben in der Teleme trie eine Fünfzehn-Minuten-Verzögerung, aber auf alle Fälle ist der Start mit Vollschub erfolgt.« »Die Joseph? Oder die Daniel? Ist es eines von unse ren Raumschiffen?« »Nein, Sir. Es antwortete nicht auf unseren Code. Ich vermute, es ist ein Patrouillenschiff.« »Lassen Sie mich mal sehen«, befahl Ngen, betrachte te die Monitoren. Bei äußerster Vergrößerung konnte er gerade noch die schlanken Umrisse eines Patrouillen-Versorgungsschiffs unterscheiden, dessen Rumpf vor einem langen, hellen Strahl ausgestoßener Reaktionsmasse dahinjagte. »Der gleiche Typ wie die Einheit«, sagte er, »die wir im Umraum Trysts vernichtet haben. Fliegen Sie uns in Schußweite. Höchste Beschleunigung. Ich will, daß wir das Schiff erwischen1.« Die Kommu machte eine Durchsage. »Achtung, Ach tung: Auf maximale Beschleunigung vorbereiten!« Ngen nahm M'Kleas Hand, führte sie von den Bild schirmen weg, deren Holo-Bilder sie noch immer in wil der Aufgebrachtheit anstarrte. Arpeggio drehte sich als jetzt schlammbraune Kugel durch die Stille des Alls, Sta tionswracks und dekompressierte Trümmer bildeten rund um den verwüsteten Planeten einen schimmernden Ring der Zerstörung. »Komm, mein Liebling. Du siehst angeschlagen aus. Du brauchst Ruhe.« M´Klea fügte sich, sah sich aber, geschockt wie sie war, noch mehrmals über die Schulter nach den Holos um, während Ngen sie zur Panzertür der Kommandobrücke hinausführte. Im Lift zu Ngens Räumen, in dem sie erst
mals, als die Deus die Verfolgung aufnahm, GravoSchwankungen spürten, blieb sie zunächst stumm. »Dafür werden sie mir büßen«, raunte sie schließlich erneut; ihr Blick irrte ins Ferne. »Dafür will ich ihr Blut ...« In seinem Privatquartier kümmerte Ngen sich erst ein mal um M'Kleas Befinden, half ihr, sich auf das breite Bett zu legen, schloß dessen Vorhänge, als sie um ihren Hei matplaneten zu weinen begann. In seiner Brust staute sich heiße Erbitterung. Er ließ M'Klea allein und suchte seine Prunkkajüte auf. Mit düsterer Miene klinkte er sich in die Kommu ein. »Verbinden Sie mich mit dem Patrouillenraumschiff.« Zu seiner Überraschung kam der Kontakt tatsächlich zustande. Auf der Bildfläche erschien das Konterfei einer rothaarigen Frau. Abweisenden Blicks maß sie ihn aus grünen Augen, und um den Mund zeigte sich ein leichter Ausdruck der Härte, als sähe sie gerade etwas Ekelhaf-tes. »Majorin Rita Sarsa«, konstatierte Ngen halblaut. »Warum wundert mich jetzt gar nichts mehr?« Die Lippen der Majorin verzogen sich zu einem schie fen Lächeln. »Ich hätte nicht gedacht, daß Gestank Licht minuten weites Vakuum überwinden könnte, Ngen. Aber alles passiert irgendwann das erste Mal.« »Ihnen dürfte wohl klar sein, daß Sie nun erledigt sind«, sagte Ngen in leidlich beherrschtem Ton. »Diesmal schnappe ich Sie mir. Am einfachsten wäre es, Sie kom men zu uns in Gefangenschaft. In diesem Fall schenke ich Ihnen das Leben. Sie haben mein Wort, daß ich Ihnen die erlesenste Behandlung zugestehen werde.« Rita Sarsa lachte sarkastisch. »So etwas wirst du von mir nie erleben, Ngen. Ich habe gesehen, was du Susan angetan hast. Wenn du glaubst, ich würde mich freiwillig zu dir in eine Nähe von unter vierzig Parseks begeben, mußt du so blöde sein, wie du in der widerwärtigsten Weise entartet bist. Nein, ich glaube, wir bleiben auch ohne deine Gnade am Leben ... Und daß wir schneller sind, als du denkst.«
»Sie können mir nicht entfliehen.« Ngen hätschelte seine Wut, heizte sie stillvergnügt an, steigerte sie zu glu theißer Leidenschaft, während er sich ausmalte, was er mit dieser Frau, die ihm auf Sirius die Macht entwunden hatte, anstellen wollte. Er mißachtete den Widerwillen in ihren Augen und zwang sich zur Mäßigung. »Sie erwartet nichts als der Tod.« »Ngen, alter Junge, meine Leute und ich werden unsere Chancen nutzen.« Fröhlich warf Sarsa den Schopf nach hinten. »Erst mußt du abgefuckter alter Arsch uns mal kriegen. Deinetwegen werden wir uns erst Gedanken machen, wenn du deinen rostigen Kahn nahe genug herangebracht hast, um überhaupt 'n Schuß abfeuern zu können.« »Du hast mir gewaltigen Schaden zugefügt, Weibs bild.« Ngen ließ die Lider sinken, schwelgte in der Auf gewühltheit und dem Groll, die sein Gemüt durchwog ten, schöpfte von der Stärkung, die er daraus gewann. »Ich würde mich gerne einige Zeit lang mit dir amüsie ren. Ich könnte dich vieles über Lust lehren. Es wäre mir eine Freude, zu sehen, wie deine Seele sich in dir auf bäumt, während du deine Körperlichkeit, die dir dein Lebtag lieb und wert war, immer mehr verabscheust.« Seine Stimme bekam, während er diese Vorstellungen auskostete, einen seidenweichen Klang. »Ja ... So wie ich mit Susan meinen Spaß hatte, werde ich ihn auch mit dir haben, Rita. Ich schwöre dir, du wirst mir eines Tages zu Füßen liegen.« »Nie im Leben, du ekliges Stück Scheiße. Statt dessen habe ich vor, du hirnrissiger Angeber, dir auch künftig nach Kräften die Luft aus dem verrotteten Wanst zu prü geln.« Rita lachte, in ihren Augen leuchtete unerbittliche Entschiedenheit. »Unterwirf dir nur weiter immer neue Planeten, Ngen. Ich verspreche dir, ich werde persönlich sicherstellen, daß auf keinem einzigen davon irgend et was anderes als die ödesten Schutthalten übrigbleiben werden. Eher nehme ich dich mit in die Hölle, als daß ich
mitanschaue, wie du die Menschheit zu einem Haufen Zombies erniedrigst.« »Oho-oho«, säuselte Ngen, »du bist ja wirklich ein wahrer Schatz. Es gibt nur wenige Frauen, die mich so beeindrucken. Du, meine Liebe, wärst mir wichtiger als ein ganzer Planet. Aber du kannst einem Gott nicht den Weg versperren, Rita, meine Teure. Ich verkörpere die Zukunft der gesamten Menschheit. Wie die Seelen aller Menschen mir zufallen werden, wird auch deine Seele mir gehören. Mir, hast du mich verstanden?!« »Das Gottgetue hat dir dein bißchen Verstand verwirrt, was, Ngen?« Rita senkte den Blick auf ihre Finger, zückte aus einem Mäppchen eine Feile und fing sich die Finger nägel zu feilen an. »Arpeggio war schon eine dreckige Gegend, seit du die Atmosphäre verpestet hattest.« Sie winkte mit der Nagelfeile in Richtung Kamera. »Ein Gott? Du? Eine typische Schnapsidee für einen stinkigen Strich jungen aus dem sirianischen Raumhafen-Distrikt wie dich.« Ngen merkte, wie sein Gesicht unbeherrscht zuckte, die Muskeln sich verkrampften, er sich unwillkürlich hö her aufrichtete. »Wa ... Wag's ja nicht, mich ... mich s-so zu nenn-nennen, du elendes, widerliches Weibsstück! Ich ... ich werde dich ...« Ngen hatte nicht gehört, wie sich die Tür öffnete. Auf einmal stand M'Klea an seiner Seite, das Gesicht erstarrt zu einer Miene des Grams. »Sie hat das getan? Sie hat meine Heimatwelt zer stört?« M'Klea beugte sich vor, in den Augen ein seltsa mes Glimmen, und betrachtete das Monitorbild. Ihr ma kellos gewachsener Mund ließ die Unterlippe hängen, während sie auf den Monitor starrte, mit blasser Hand nervös den dünnen, weißen Stoff auf ihrer Brust zu einem Knoten verkrallte. »Wer ist denn das?« erkundigte sich Rita mit leichtem Stirnrunzeln. »Etwa eine, die dir aus deiner Schreckens kammer entsprungen ist?« »M'Klea, mein Liebling, ich darf dir Majorin Rita
Sarsa vorstellen, die Frau, die mich um die Herrschaft über Sirius gebracht und gerade die Oberfläche deines geliebten Heimatplaneten Arpeggio in Schutt und Asche verwandelt hat.« Ngen wies schmunzelnd auf den Bild schirm. »Ich will sie haben, Ngen. Und wenn du hier bist, du Romananerhure, werde ich eigenhändig dafür sorgen, daß du dir wünschst, du wärst schon fünftausendmal gestor ben! Ich werde sie zerstückeln, Ngen, in kleine Fetzen schneiden ... Ich will ihr Blut sehen ... ihr Blut ...« M'Klea stöhnte vor Rachdurst, hatte die Lider der eisblauen Augen zu Schlitzen verengt, so daß sie einer wütenden Raubkat ze ähnelte. Mit erhobener Hand hielt Ngen sie zurück, schob sie aus dem Erfassungsbereich der Optik. Ungerührt trank Rita Kaffee. »Ich muß sagen, Ngen« — ihre Stimme klang nach Langeweile, beinahe matt —, »es ist dir gelungen, eine Schlampe aufzustöbern, die ebenso boshaft und mißraten ist wie du. Trotz der enormen Größe der Direktoratsbevölkerung hätte ich nicht gedacht, es könnte irgendwo eine Schlunze geben, die würdig zu dir paßt, aber heiliges Kanonenrohr!, du hast wahrhaftig ein gefunden. Ehrlich, ich bin perplex.« M'Klea kreischte vor Haß, während Sarsa sich keine Mühe gab, ein Gähnen zu unterdrücken. Ngen zerrte seine Gattin vom Monitor fort, ehe sie die Mattscheibe zerkratzen konnte, und lachte. »Du bist ein wahrer Schatz«, wiederholte er, machte die Lider schmal. »Ich weiß nicht, wer von uns an dir mehr Freude hätte, ich oder meine geliebte M'Klea.« »Gibt's sonst noch was zu quatschen, Ngen?« fragte Rita, die durch und durch angeödet wirkte. Van Chow zuckte die Achseln. »Welcher eurer Kom mandanten hatte so ein Raumschiff wie du? Ich habe näm lich im Umraum Trysts eines vernichtet. War's ein Freund? Vielleicht dein Liebhaber Eisenauge? Oder kann's Susan gewesen sein?«
Ngen beobachtete Rita aufmerksam, sah ihre Pupillen sich weiten. Aha! Das hatte gesessen. Sie hatte den um gekommenen Raumschiffskommandanten in der Tat ge kannt und geschätzt — aber sie bewahrte sehr gut die Hal tung. Seine Enthüllung machte auf sie keinen so starken Eindruck — dafür fiel die Reaktion zu schwach aus —, als wenn Eisenauge oder Susan betroffen gewesen wären. Die Majorin gab, alles in allem besehen, ein glän zendes Musterbeispiel dafür ab, was eine Frau sein konn te. Der Gegensatz zwischen dieser stahlharten Amazone und seiner aus Hysterie ins Schlottern verfallenen M'Klea war auf einmal mit krasser Deutlichkeit ersichtlich. Doch andererseits war M'Klea noch jung und unerprobt. Zudem mußte man ihr wegen ihrer Schwangerschaft erhöh te Anfälligkeit zubilligen. »Tja, Majorin«, sagte Ngen in vertraulichem Flüster ton. »Ich habe alle an Bord getötet. Sie hatten sich einge bildet, ihre Blaster könnten es mit meinen bestens gedrill ten Mannschaften aufnehmen. Diesen Wahn haben sie mit dem Leben bezahlt. Wenn du's möchtest, funke ich dir die Gefechtsaufzeichnung hinüber.« »Spar dir die Mühe.« Unter der wie Eisen harten Maske der Selbstbeherrschung wurde Ritas Gesicht spitz. »Ich nehme an, daß ich Cheng und Raskolnikows ki aus dem All geblastert habe, ist 'n gewisser Ausgleich, oder?« »Du wirkst weniger erschrocken, als ich mir erhofft hatte«, räumte Ngen ein. »Offenbar ist meine geliebte Susan gemeinsam mit dem Dummkopf, den sie befreit hat, wieder einmal davongekommen. Beinahe hätte ich auch seine Seele gehabt, Rita. Ach, wie gerne hätte ich deine...! Deus' Wege sind wunderbar... Wer weiß, vielleicht wirst zum Schluß auch du mir gehören.« »Susan lebt und ist wohlauf, Ngen.« Ritas Haltung hatte sich gestrafft. »Solange wir atmen, wirst du uns nicht in die Klauen kriegen. Du kannst uns nichts anhaben, ohne uns auszulöschen. Es ist ausgeschlossen, daß ich oder
einer meiner Leute jemals deiner Seelenfängerei zum Opfer fällt, du kleine miese Hafenratte.« Jetzt hatte sie Ngens Nerven dermaßen gereizt, daß er nur mit äußerster Willensanstrengung eine Aufwallung blindwütiger Tobsucht meistern mußte. Rita gab ein Lachen von sich, als sie ihm seine Reak tion ansah, gähnte noch einmal, schwang offen provokant lässig ein Bein auf eine Konsole. »Also, hast du noch was zu sagen, oder kann ich mein Nickerchen fortsetzen? Es hat uns nicht viel Mühe gemacht, den arpeggianischen Ameisenstaat auszuräuchern, den du gegründet hattest. Deine beiden umgebauten FLF haben nicht mal zurück geschossen. Ist unter deinen Leuten denn niemand, der noch 'n bißchen Initiative kennt?« M'Klea stieß einen erstickten Laut aus, während ihr Gesicht knallrot anlief, die Muskeln an den Kanten ihrer Kiefer traten verkrampft hervor. Ihre Finger krallten sich in Ngens Arm, bis die Fingernägel Blut herauspreßten. »Ich werde noch erleben, wie deine Atome sich im Unendlichen verteilen, Rita«, versicherte Ngen im Tonfall nachsichtiger Herablassung. »Entweder das, oder du wirst mein Gast sein. Richte der lieben Susan von mir aus, daß ich mich darauf freue, unsere alte Bekanntschaft demnächst zu erneuern. Sie nimmt in meinem Herzen noch immer einen Sonderplatz ein.« Gib es ihr. Vielleicht wird sie sich doch noch etwas anmerken lassen. Bösartig lächelte Ngen, bewegte die Hände, als ob er Ritas Holo-Abbild streichelte. »Ja, Rita, ich habe ihren Willen gebrochen. Ihr Ich von ihrem herrlichen Leib entfremdet. Sie dazu gebracht, nach mir zu lechzen ... So wie du's eines Tages auch tun wirst.« Sarsa erstarrte, verkniff die Miene, indem sie die Hän de zu Fäusten ballte, dann machte sie eine kurze Bewe gung des Zurückweichens, nicht des Erschreckens, son dern mehr der absichtlich ausgedrückten Aversion. Sie hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt, gäbe für Ngens
Betten und Psychingapparate eine lohnende Opponentin ab. Ob es ihm gelänge, sie kirre zu machen? »Ich werd's ihr sagen. Aber bilde dir bloß nichts ein, Ngen.« Ritas Ton war ein wenig schnippischer geworden. »Ich weiß, daß sie tatsächlich auch für dich besondere Gefühle hegt. Im Gegensatz zu dem, was du über sie quas selst, sind sie allerdings nicht sehr schmeichelhafter Natur. Sie hat mal erwähnt, mit 'm Zehnjährigen könnte man Aufregenderes als mit dir erleben. Wenn ich dich so anse he, glaub ich's ihr aufs Wort. Grüß den Hafenstrich von mir. Gib deiner Mutter, der alten Hure, von mir 'n Kuß. Du dürftest auch deinem Vater einen geben, wenn wir wüßten, wer's ist.« Ngen fuhr zusammen, als hätte er eine Ohrfeige erhal ten, Tollwut kochte in ihm empor. Zum Abschied winkte Rita ihm respektlos zu. Der Bildschirm erlosch. »Du Luder ...! Du Hexe! Du ... Dir werde ich die Seele aus dem Leib reißen. Du wirst nach dem Tod schreien. Ich werde dir lebendig das Fell abziehen. Jeden Bissen wirst du schlucken, den ich dir von den Knochen schneide. Ha, du sollst 'ne Mißgeburt austragen und ihr rohes Fleisch fressen, während ich dir die Schnalle aus der Fut säbele!« Mit voller Wucht schlug er die Faust auf den dünnen PlaStahl des Kommu-Apparats, daß es nur so dröhnte. M'Klea tat einen Schritt rückwärts; erbitterter Haß glühte ihr aus den Augen. »Schaff sie her, Ngen. Bring sie mir, und wenn's das letzte ist, was du jemals für mich tust. Ich will sie vor Qual schreien hören, bis ich ihr zu letzt auch die Stimmbänder heraustrenne. Ich will ihr Blut sehen!« Auf der Kommandobrücke der Spinnes Dolch sank Rita Sarsa im Kommandosessel fast zusammen, versuchte ihr jetzt ungehemmtes Zittern zu unterbinden. Mit tiefen, stoßweisen Atemzügen holte sie Luft, atmete laut aus,
während sie das Grauen niederrang, das sie gepackt hatte. Ki reichte ihr ein fast volles Glas Whiskey. »Echt netter Kerl«, kommentierte er gedämpft. »Hat er gemerkt, daß ich dicht vorm Zusammenklap pen stand? Oder ... oder habe ich mich gehalten? Ich ...ich hatte das Gefühl, so stark zu bibbern, daß ich befürchtete, das Raumschiff könnte hüpfen.« Rita tupfte sich den Schweiß ab, der über ihre bleiche Stirn zu perlen begon nen hatte. »Nein, Majorin, Sie haben unerschütterlich wie ein Fels gewirkt.« Mishima klopfte ihr auf die Schulter; sein rauhes Gesicht verriet aufrichtige Sorge. »Ist das alles wahr? Könnte er wirklich so etwas mit Ihnen anstellen?« Stumpfen Blicks nickte Rita widerwillig. »Ja, es ist wahr. Er selbst ist wie der Satan, gegen den er in seinen Predigten wettert. Sie haben gesehen, was er aus den Men schen macht, die er niederzwingt. Mit den Opfern, die er sich persönlich vornimmt, treibt er es noch weit übler.« »Und Susan hat's überstanden?« fragte Ki. Ritas Stimme erinnerte an Glasscherben. »Sie werden davon niemals nur ein Sterbenswörtchen zu irgend jeman dem erwähnen ... Sonst töte ich Sie mit eigener Hand. Sie haben schon vergessen, daß es erwähnt worden ist. Das ist, gottverdammt, mein voller Ernst.« Einsichtig nickte Ki. »Ich kann nachvollziehen, wie schlimm das für Susan sein muß.« Mishima klatschte eine Faust in eine knorrige Hand. »So ein erbärmliches sirianisches Stück Scheiße. Den knöpfe ich mir vor. Ich werde ...« »Bud?« Aus verengten Lidern musterte Rita ihn. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe, ja?« »Selbstverständlich, Majorin. Ich habe vor Susan sehr viel Respekt. Wenn sie ... wenn sie in Van Chows Gewalt war ... Also, Majorin, wenn sie das durchgestanden hat, bin ich darauf stolz, sie zu kennen. Ich habe nichts gehört, nein. Aber ich wünsche mir 'ne Gelegenheit, um diesen jämmerlichen Lumpen kaltzumachen.«
Rita blähte die Backen und seufzte. »Naja, 's kann sein, Sie finden eine. Aber sollte ich je in Gefangenschaft gera ten, habt ihr mich rechtzeitig auszuknipsen. Todesschuß, klar? Ganz im Ernst. Der Tod ist besser, als Ngens Gefan gene zu sein.« »Verstanden, Majorin.« Ki kehrte zurück an seinen Monitor. Rita blieb im Kommandosessel sitzen, bemühte sich ums Beschwichti gen der aufgewühlten Emotionen, die in ihr tobten. »Ich habe eine schlechte Neuigkeit für Sie, Majorin«, rief Ki nach mehreren Minuten herüber. Rita richtete sich im Sessel auf, spürte Beklemmung in der Brust. »Und das wäre?« »Sie müssen ihn sich das nächste Mal vornehmen.« Ki bewahrte eine ausdruckslose Miene. »Wir sind ihm an Geschwindigkeit deutlich überlegen. Es verlangt fast fünf zig Ge und somit einiges an Belastung, aber schaffen kann's die Spinnes Dolch, falls die Gravo-Kompensatoren uns nicht im Stich lassen.« »Nach dem, was wir eben gesehen haben, ist es wohl angenehmer, geplättet zu werden, als sich mit dem Kotz brocken abzugeben.« Mit dem Daumen wies Mishima in die Richtung, wo Ngens Schlachtschiff fliegen mußte. »Gelobt sei Spinne!« stieß Rita inbrünstig hervor und trank ihren restlichen Whiskey mit einem Zug aus. Sie zwinkerte der über ihr säuberlich an die Decke der Kom mandobrücke gemalten Spinnendarstellung zu. »Spinne, steh uns bei.«
30
AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG NACH EINSCHWENKEN IN EINEN GEOSTATIONÄREN PARKORBIT UM WELT
Darwin Pike krümmte sich in der Med-Einheit, als Susan die Bordklinik betrat. Er stöhnte und wand sich, im Ge sicht war ihm der Schweiß ausgebrochen, glänzte auf der Haut und rann abwärts, sickerte unter ihm in den Stoff. Die Zuckungen seines Mienenspiels sprachen in bezug auf den Inhalt seines Alpdrückens Bände. »Doktor!« Susan faßte ihn an den Schultern, rüttelte ihn. »Wach auf! Es ist nur 'n Traum!« Sie sah seine Wim pern flattern, er öffnete die Augen, heftete den Blick auf Susan; im gleichen Moment schrak er zusammen, Furcht verzerrte seine Gesichtszüge, er vollführte Gebärden, als wollte er vor ihr zurückweichen. »Pike! Verflucht noch mal! Ich bin's. Susan. Kapier's doch endlich mal: Ich bin nicht die Kannibalin!« »O Gott ...«, quetschte Pike heiser hervor, schnaufte vor sich hin, während sich seine Gestalt entspannte. »Hört das denn nie auf ...?« Langsam schüttelte Susan den Kopf. »Bei mir hat's bis heute nicht aufgehört. Ich glaube, ich bin gerade dabei, damit leben zu lernen. Du wachst auf, starrst 'ne Zeitlang die Schotts an und pennst schließlich trotz der Furcht, daß der Traum noch einmal kommt, wieder ein. Im Laufe der Zeit hast du dann und wann auch angenehmere Träume, die sich mit allem übrigen vermischen.« »Aha. Und was ist die gute Nachricht?« Pike versuch te zu lachen, aber die Laute, die aus seiner Brust drangen, erinnerten an Keuchhusten. »Wir haben Welt erreicht.« Susan kauerte sich auf den Rand der Med-Einheit. »Wir haben lange genug Aufent halt, um 'ne Abteilung romananischer Sturmtruppen an
Bord zu nehmen, dann fliegen wir unverzüglich zum Arc turus.« »Wann kann ich endlich aus diesem Kasten steigen?« Susan las die Anzeigen der Monitoren ab, suchte nach den richtigen Worten. »Es sind Komplikationen eingetre ten, Doktor. Die Stimulationstherapie bewirkt, daß die DNS sich verhält, als befände sie sich in einem Fötus. Manchmal schießt sie übers Ziel hinaus. Zuviel Gewebe wächst. Du hast krebsige Tumore bekommen. Deshalb liegst du jetzt schon so lange in der Med-Einheit. Wir ha ben uns um Stabilisierung deines Zustands bemüht.« Pike schluckte und hob den Blick in Susans Gesicht. »Na gut, aber dagegen hilft doch eine unkomplizierte Be handlung. Ein bißchen zytostatische Beeinflussung und ... Was stimmt denn nicht?« »Pike, Pallas Mikros hat doch bei dir diesen Elektro stab benutzt. Entsinnst du dich?« Unterdrückt stöhnte Pike. »Ja, ich werd's wohl kaum jemals vergessen. Ich dachte, mir platzte der Schädel. Wahrscheinlich gibt's keinen fürchterlicheren Schmerz.« »Tja, und daran liegt's. Dadurch sind deine Nerven angegriffen worden. So ganz verstehe ich's nicht, aber die Obergefreitin hat mir erklärt, der TNF hätte 'n toxischen Effekt. Und den können deine Nerven, weil Pallas sie schon so stark geschädigt hat, nicht mehr verkraften.« »Ich bin einigermaßen auf 'm laufenden, was Regene ration angeht.« »Schön, dann kennst du ja die eventuellen Gefahren umstände.« Susan verklammerte die Finger, betrachtete den Fußboden. »Ich muß einen Entschluß fassen, Doktor. Eine Risikoentscheidung, wenn man so will. Die Pläne sind umgeändert worden. Dein Bein steht auf dem Spiel, vielleicht deine Fähigkeit, einmal wieder ohne Prothese zu laufen. Oder möglicherweise läßt sich dem Krebs nicht mehr gegensteuern.« »Würdest du bitte zur Sache kommen?« »Bist du dazu bereit, dich voll und ganz, mit Geist und
Körper, in den Kampf gegen Ngen zu werfen? Auch wenn es dich deine Gesundung kosten kann? Es ist dein Gehirn, dein Körper. Wir fliegen zum Arcturus. Die Obergefreitin möchte dich auf der Projektil für einen vollen Monat in 'ne Med-Großeinheit legen. Ree will, daß du für die Verteidi gung Arcturus' zur Verfügung stehst. Aber die letztendli che Festlegung hat er mir anheimgestellt. Es ist dein Kör per, Darwin. Was soll ich tun?« Pike blinzelte, während er sich die Konsequenzen ver gegenwärtigte. »Zeig mir die medizinischen Aufzeich nungen über den TNF und die Wachstumsrate der Ner venregeneration.« Susan rief die Informationen am Kommu-Apparat ab und gab Pike Einblick in die Analysen, auf denen die Pro gnose fußte, die die MedTech bezüglich seiner Heilungs chancen gemacht hatte. Lange Minuten hindurch hielt Pike die Augen ge schlossen, biß sich auf die Lippe. »Ich ... Laß mich erst mal darüber nachdenken.« »Klar. Falls es dir hilft, du kannst noch für 'ne Weile in unserer Bordklinik bleiben. Ich habe mich mit Phil ver ständigt. Er ist der Meinung, daß aufs Nervenwachstum abgestimmte Begleitbehandlungen die Folgen lindern können. Du darfst in eine mobile Med-Einheit wechseln, sobald deine Hoden ... Was ist los?« »Meine ... Hoden? Nein! Ich bin doch nicht ...? Ich bin kein ...« Schwächlich mahlte Darwin mit den Kiefern während das Monitoring seine panikartige Erregung in Form nüchterner Zahlen auf die Bildschirme projizierte. Susan packte seine Hände, zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Es ist alles in Ordnung. Die Obergefreitin hat aus dem übriggebliebenen, verletzten Hoden zwei neue Exemplare gezüchtet. Sie liegen da drüben in dem Tank zur Implantation bereit. Du bist kein Eunuch! Ist es das, was du wissen willst?« Sie sah, wie seine Hoffnung wiederkehrte, wunderte sich darüber, was für ein empfindsames Geschöpf so ein
Mann doch war: Hing bei allen das Selbstverständnis von so kleinen Stücken Bindegewebe ab? »Spinne sei Dank«, flüsterte Pike, blickte plötzlich zur Seite; offensichtlich verursachte es ihm Verlegenheit, vor Susan diese Schwäche preisgegeben zu haben, schämte er sich, weil sie über die Verstümmelung seiner Geschlechts teile Bescheid wußte. Doch sie vermochte die Erinnerung an die Weise, wie mit ihm umgesprungen worden war, nun einmal nicht einfach auszulöschen. Diese Kastration ... Das blutverschmierte Gesicht Susans ... Tiaras ..., die sein Fleisch verzehrte ... sich über dem Grausen erbrach ... »Weißt du, bisher hat keiner von uns beiden sich von dem erholt, was uns von Ngen angetan worden ist«, sagte Susan. »Ich glaube, wir werden's nie ganz verwinden. Was mich ... Bei mir ist es so, daß ... Wäre es bloß kör-perliche Vergewaltigung gewesen, dann ... Aber er ... er ... Ach, egal.« Darwin Pikes Faust umschlang Susans Hand fester. »Ich bring's auch nicht fertig, darüber zu reden. Kann sein, ich bin nur zu genant.« Sein Grinsen konnte nicht sein Unbehagen kaschieren. »Weshalb? Weil Ngen dir dabei mein Bild suggeriert hat?« »Ich weiß es nicht.« Völlig gelang es ihm nicht, seine Tränen vor Susan zu verbergen. »Es liegt wohl daran, glaube ich, daß ich dich trotz allem doch sehr gern habe. Aber Ngen hat aus dir und Tiara ... Ich kann euch nicht mehr richtig ... Also, es ist eben so, daß ich ...« Er ließ die Lider sinken. »Ach, zum Teufel«, murmelte er, »ich weiß 's einfach selbst nicht ...« Susan konnte nicht anders, sie mußte lachen. Pike wirkte so vollständig hilflos. Und irgendwie hatte er sie gerührt. Sie fühlte sich etwas aufgelockert. »Hör mal«, sagte sie ernst zu Pike, »laß es nun einfach erst mal dabei bewenden. Ich habe dich bloß besucht, um mir 'n Eindruck von deiner Verfassung zu verschaffen und dir zu erzählen, was draußen sich geht. Und schrei nicht
wieder die Meds an. Sie hatten für ihr Schweigen Gründe. Nach ihrer Einschätzung ist deine geistige Gesundheit ein wenig gefährdet. Ich vermute, die Ärztin dachte, wenn du's zu früh erfährst, würd's ... Na, sie hat sich wohl gesorgt, dadurch könnte deine Genesung beeinträchtigt werden. Vielleicht hat sie völlig recht gehabt.« »Ja, wahrscheinlich«, antwortete Pike sarkastisch. »Ohne Klöten fühlt man sich eben nicht wie 'n ganzer Mann ... Ihr Verlust ist wie ein Symbol für das, was Ngen mir zugefügt hat.« »Die neuen Hoden gedeihen prächtig. Du wirst keinen Unterschied bemerken.« »Aber ich weiß, was passiert ist. Ich werde mich immer erinnern.« Pike mied Susans Blick. »Du bist nach dem, was Ngen an dir verübt hat, auch eine andere gewesen. Es ist möglich, daß ... Kann sein, ich hätte mich nicht erschreckt, wenn ... Aber als du hier standst, unmittelbar nachdem ich di ... nachdem ich im Traum Tiara gesehen hatte ...« Susan atmete tief durch und stieß einen Fluch aus. »Was ist im Arcturussystem geschehen?« erkundigte sich Pike, indem er sich mit einiger Mühe einen Ruck gab und das Gesprächsthema wechselte. »Während unseres Heimflugs haben zwei Kriegs schiffe Ngens Arcturus-Stadt beblastert. Zahllose Men schen sollen umgekommen sein ... Millionen von Men schen. Ich glaube, die Verlustbezifferung ist noch immer nicht abgeschlossen. Auf jeden Fall, Skor Robinson hat die Macht übers gesamte Direktorat an uns abgetreten. Wir schicken Truppen nach Arcturus, um die Stadt zu besetzen und zu sichern, und fangen dort eine Kampag ne zugunsten Spinnes an. Wir sind die neue Militärregie rung. Patan ist der Hohepriester. Du sollst die Kampagne koordinieren, und ich habe für jeden erforderlichen Rückhalt zu sorgen.« Susan verschränkte die Arme; seltsamerweise beunru higte es sie, daß Pike die Unterhaltung so unvermittelt auf
einen anderen Gesprächsstoff gelenkt hatte. Durch seine vertraulicheren Äußerungen, wie peinlich sie auch für sie beide gewesen sein mochten, war in ihr etwas angetastet worden, das seit langem verschüttet lag. »Kannst du mir die Aufzeichnung des Funkspruchs reinreichen? Ich würde gerne hören, was der Admiral zum Direktor gesagt hat.« »Na klar.« Susan lächelte ihn an. »Ich schicke dir alles, Rees Verfügungen, die Holo-Aufnahmen vom Arcturus, die komplette Dokumentation.« Sie stand auf. »Das heißt, denke ich mir, du siehst Giorj wieder?« Pikes Stimme hatte plötzlich einen gepreßten Klang. Susan blieb stehen, senkte den Blick. »Er ist zur Zeit unterwegs, macht mit der Viktoria 'n Testflug.« »Tut mir leid«, quetschte Pike heraus, versuchte ange strengt, ein freundliches Gesicht zu ziehen. »Ich weiß, daß du ihn vermißt.« Schlagartig spürte Susan von neuem die Leere in ihrem Innern. »Ja, er fehlt mir. Es ist niemand bei mir, wenn ich schlafe. Daß ich mich inzwischen mehr oder weniger mit meinen Problemen zurechtfinde, bedeutet nicht, es wäre leicht, mit den Erinnerungen allein zu sein.« »Nein, das heißt's nicht ...« Unerwartet brauste Pike auf. »Ich stecke hier in 'm Gefängnis! Diese verdammte Maschine zwingt mich zum Schlafen, und dann habe ich meine Alpträume! Jedesmal wenn ich schlafe. Pallas kommt darin vor, Reeshs Tod, und währenddessen höre ich ständig Ngens Stimme flüstern. Und du ... Und Tiara frißt mein ... Diesen Patan soll der Teufel holen! Wäre er nicht gewesen, hätte ich mich längst durch den Tod er löst.« Entgegenzuhalten wußte Susan ihm darauf nichts. Sie hatte selbst so tiefe Verzweiflung und Zerrüttung durch lebt. Das Leid in Pikes Augen wirkte wie eine Widerspie gelung ihrer Leiden. »Doktor, ich werde tun, was ich kann. Du mußt über den Weg nachdenken, den du gehen willst. Viel Zeit haben wir nicht.«
Sie zeigte ihm einen emporgereckten Daumen und ging hinaus. Pike betrachtete die Tür, durch die sie sich soeben ent fernt hatte. Mühsam schluckte er, entsann sich des sorg sam abgewogenen Wortlauts des ärztlichen Berichts. Ver dammt, er konnte es schaffen. Der Krebs ließ sich auf Kosten der Nerven besiegen. Doch die Folge mochte eine Nervoprothese sein. »Millionen und Abermillionen von Toten?« Er ver suchte, sich eine solche Menge Toter vorzustellen, schüt telte aber ratlos den Kopf. »Das Direktorat den Romana nern überantwortet?« Unmöglich. Es sei denn, Ngen ... »Stärke hat ihren Preis, Alaskaner.« Darwin besann sich der Worte des Santos. »Weißt du, wie man einen Dolch schmiedet? Ein Schmied formt die Klinge in der Esse mit dem Hammer. Wenn der Stahl recht ist und von Geistkraft leuchtet, wird das Metall in die angestrebte Gestalt gehämmert. Während das rohe Eisen noch glost, wird es in kaltes Öl getaucht und erneut erhitzt, wonach man die Glut, um dem Stahl die Geistkraft zu bewahren, in altem Leder erstickt. Anschließend wird die Klinge geschliffen und poliert, erhält ihre endgültige Schärfe ...Ist das Schmieden vollbracht, wird das Messer erprobt ...« Darwin griff nach der zerbrochenen Klinge des San tos, strich mit dem Daumen über die unregelmäßige Bruchstelle. »Kommu«, rief er halblaut. »Bitte informieren Sie die Kommandantin, daß ich mit ihr zum Arcturus fliege.« Er blickte hinauf an die Deckenverkleidung. »Letzten Endes werden wir ja sehen, Ngen, ob du mich schlagen kannst. Mit ... oder ohne Bein.« An diesem Tag fand Susan keine Zeit mehr, um sich nochmals mit Pike zu unterhalten. Statt dessen bean spruchte sie der Transfer romananischer Sturmtruppen auf ihr kleines Raumschiff, den man von Welt per ST durch führte. Ballenweise lud man Vorräte an Bord, während
sirianische Experten und Patrouillentechniker die Spinnes Vergeltung vom einen bis zum anderen Ende checkten, die auf dem Flug vorgenommenen, technischen Abänderungen inspizierten und in Details verfeinerten sowie neue Verbesserungen vornahmen, die der unermüd liche Giorj Hambrei schon auf anderen Patrouillenraum schiffen hinsichtlich ihrer Tauglichkeit geprüft hatte. Zur letzten Vervollkommnung bemalte man beide Seiten des Schiffsrumpfs mit einer großen Spinne, kennzeichne te somit das Raumschiff ein für allemal als Einheit der romananischen Flotte. Während einer Besprechung mit Admiral Ree, John Smith Eisenauge und Maya ben Ahmad gelang es Susan trotz der Strapazen noch, ihre Konzentration aufrechtzu erhalten. Sie merkte, daß die Obristin und Ree sich zuein ander besonders aufmerksam betrugen, spekulierte kurz darüber, ob sie sich vielleicht ineinander verliebt hatten, stellte jedoch fest, daß es ihr irgendwie an der Geduld mangelte, um sich, falls es so war, darüber zu freuen. »Es liegt eine Nachricht von Majorin Sarsa vor«, erklärte Ree grimmig, nachdem sie die Routineangelegen heiten geregelt hatten. »Im Gegensatz zu anderen Meldun gen, Susan, habe ich die Kommu sie nicht speichern las sen.« »Rita hat doch nichts abgekriegt?« »Nein, sie hat nichts einstecken müssen. Zwar hat Ngen sie im Arpeggiosystem überrascht, aber sie ist ihm davongeflogen. Zwischendurch hatten sie eine kleine Plauderei. Sie ist gegenwärtig auf dem Rückflug in unse re Einflußsphäre.« »Und?« Susan hob die Brauen. »Hier ist die Dokumentation. Schauen Sie sie sich an, wenn Sie wollen. Ich sehlage vor, Sie tun's allein. Danach dürfen Sie entscheiden, was daraus werden soll. Wenn Sie sie archiviert haben möchten, wird sie gespeichert. Wenn nicht, haben wir sie nie gesehen.« »Du übernimmst die militärische Sicherung Arcturus'«,
sagte Eisenauge zu Susan. »Es ist deine Aufgabe, die dor tige Situation zu stabilisieren und dafür zu sorgen, daß das System unter unserer Kontrolle bleibt. Wir haben keine Ahnung, wann Ngen das nächste Mal zuschlägt. Sobald auf der Miliken die Umbauten beendet sind, schicken wir sie nach. Du hast zu garantieren, daß die Bevölkerung auf jeden Fall Ruhe und Ordnung bewahrt. Deine Truppe ist klein, aber besteht zum Großteil aus Sirius-Veteranen. Du mußt berücksichtigen, daß dein Auftrag im wesentlichen die Friedenserhaltung ist. Es kann sein, daß die Spinnes Vergeltung Kriegsschiffe Ngens abwehren muß, aber infolge der Abschüsse, die Rita erzielt hat, sind seine Ope rationsmöglichkeiten mittlerweile ziemlich einge schränkt.« »Wir werden die Sache meistern.« Susans Lippen ver zogen sich zu einem boshaft-hintergründigen Lächeln. »Es kommt nicht das erste Mal vor, daß ein Prophet Arc turus aufsucht. Nur wird man sich dieses Mal erheblich länger an ihn erinnern. Bis du eintriffst, Kriegshäuptling, wird man an jeder Wand Arcturus' Spinnen sehen.« Dann hatte sie Ladungsverzeichnisse, Gefechtsanaly sen und technische Berichte unterzeichnen müssen, ihre neue Crew kennenlernen, die Sturmtruppe mustern und alle in ihre Dienstpflichten einweisen sowie zum Schluß all die vielerlei Obliegenheiten erledigen müssen, die nicht aufgeschoben werden durften. Als sie endlich vor ihrem Quartier anlangte, fühlte sie sich halb tot. Ein Schwindelanfall packte sie, als sie hinter der Schwelle stand, die winzige, rundum weiße Kabine sah. Einen Augenblick lang überlegte sie, ehe sie kehrt machte und erneut durch den Korridor strebte, in dem momentan emsiges Kommen und Gehen herrschte. Sie ging in die Bordklinik; unter Überwachung der Med-Einheit lag Pike gerade in festem Schlaf. Susan faltete den Klappstuhl auseinander und nahm darauf Platz. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, um dir zu danken, Pike. Weißt du, du bist doch ein tapferer Mann.«
Sie setzte sich zurecht, um auf dem Klappstuhl ein Schläf chen zu machen. *
*
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AN BORD DER GABRIEL WÄHREND DER DURCHQUERUNG DES SAMARKANDSYSTEMS
Torkild Alhar beobachtete das Geschehen auf den Monito ren, während die Gabriel das blendendhell-grelle Aufblit zen hinter sich ließ, das Samarkand eliminierte. Die Deto nation verglühte, als Strudel aus verschlungenen, langge zogenen Wolken stürzte aufgewühlte Atmosphäre in den entstandenen Krater. Selbst aus dieser Höhe mußte man die Wirkung des Angriffs als spektakulär einstufen. Die Antimateriebombe hatte ein derartiges Loch in den Plane ten gerissen, daß er wie ein angebissener Apfel aussah. Damit war Samarkand effektiv eine tote Welt. Ngen hatte doppelte Gegenschläge befohlen: Für jeden seiner Planeten, den ihm das Direktorat zerstört hatte, soll ten zwei Direktoratswelten vernichtet werden. Diesen Beschluß hatte der Messias per Transduktionsfunk ins All gesendet. Torkild nickte. Arpeggio hatte etwas besseres verdient gehabt, als eine leblose Wüste zu werden. Vielleicht war die Romananerwelt schon als nächste an der Reihe? Daß diese Mission Winston Zimbutis Abraham zugeteilt worden war, hatte Torkild fast als Affront emp funden. Zimbuti verfügte nicht über die Hälfte der Qua litäten, deren es bedurfte, um Welt aus dem All zu spren gen. Der als unbezwingbar verschrieene Damen Ree war tete mit seiner famosen Projektil auf ihn. Ach, das wäre eine Torkilds Begabung und Fähigkeiten angemessene Herausforderung gewesen! Torkild behielt ein gründliches Monitoring bei, damit die Kommu den Untergang Samarkands umfassend auf zeichnen und danach die Aufnahmen der Deus übermit teln konnte.
Als er die Deus kontaktierte, bekam er jemanden vom Kommandobrückenpersonal an den Apparat, einen neuen Mann, dem Aussehen nach wohl Arpeggianer. »Einen Moment bitte«, sagte der Mann. Gleich darauf schaute er wieder in die Optiken. »Der Messias ist zur Zeit unab kömmlich. Ich verbinde mit der Imperatorin.« Torkild straffte sich in seinem Kommandosessel. Er hatte von der Imperatorin gehört, einer Frau von angeb lich himmlischer Schönheit. Bei der Erinnerung an seine geliebte Schwester M'Klea wäre ihm beinahe ein Auf stöhnen entfahren. Jeder Vergeltungsschlag, der eine Di rektoratswelt eliminierte, erfüllte ihn mit Genugtuung, weil er das Gefühl hatte, dadurch Rache für seine arme, hingemordete, kleine Schwester zu nehmen. Seine Reak tion grenzte er daher an einen Schock, als er nun ins Ge sicht einer offensichtlich vollkommen lebendigen M'Klea schaute. »Sei mir gegrüßt, Bruder«, sagte sie; ihre Stimme ließ eine neue, höhere Stufe des Hochmuts heraushören. »Aber ...du bist doch tot!« entfuhr es Torkild laut; damit zog er die Blicke seiner Offiziere auf sich, die an ihren Plätzen saßen. »Ich bin es, Bruderherz, und ich bin genau da, wo ein mal zu sein ich dir vor längerem angekündigt habe.« Entgeistert schüttelte Torkild den Kopf. »Du bist tot, so wie Mutter und Vater, wie alle anderen.« »Im Gegenteil, ich bin quicklebendig, Bruder.« Herab lassend neigte sie ihren Kopf. »Ich bin jetzt deine Impera torin. Natürlich wirst du meine besondere Gunst genießen. Siehst du, Torkild, nun kann ich mich dir aus Dankbarkeit für all die Jahre, in denen du mich verwöhnt hast, auf weit vielfachere und umfangreichere Weise erkenntlich zei gen.« »Ngen hat...« Torkild ließ den Satz unvollendet; er ver mochte ihn nicht zu beenden. »Ich bin seine Frau, Bruder. In jeder Hinsicht, die die Bedeutung des Worts umfaßt.« In ihren Augen war ein
unmißverständliches Überlegenheitsgefühl zu erkennen. Sie tat einen Schritt rückwärts, so daß Torkild unter ihrer körperengen Kleidung die noch schwache Wölbung ihres Leibes sehen konnte. »Mein Kind ist in sechs Monaten fällig. Unser Sohn wird Deus' Imperium erben. Er wird den Rang eines Gottes haben.« »Nein ...«, entrang es sich Torkild unterdrückt; er ver spürte völlige Ungläubigkeit. »Hattest du denn Vaters Ein willigung? Du mußt Arpeggio verlassen haben, bevor er angegriffen worden ist. Wo hat die Hochzeit stattgefun den? Wann hat diese ...? Warum hast du mich nicht benachrichtigt? M'Klea, du hast doch wohl nicht ...« Er bemerkte, daß seine Stimme, während ihm infolge der Tragweite der Neuigkeit schier der Schädel schwirrte, ei nen schrillen Klang angenommen hatte. M'Klea lachte ihn aus, amüsierte sich über seine Ver wirrung. Sie senkte die Stimme, schlug einen spöttischen Ton an. »Vater hätte nie sein Einverständnis gegeben! Er hat den Messias gar nicht ausstehen können. Und was dich angeht, ich hatte schlichtweg keine Lust, mir dein Ge quassel anzuhören. Ehrlich, Torkild, bei all deiner Zunei gung zu mir hast du niemals was vernünftigeres zustan degebracht, als mich mächtig anzuöden. Aber inzwi schen, Brüderchen, habe ich meine Angelegenheiten in die eigene Hand genommen. Ich bin dabei ziemlich gut gefah ren, meinst du nicht? Statt irgendeinen deiner laffenhaften Freunde zu heiraten, bin ich Imperatorin geworden. Die >Hochzeit< haben wir schon am Tag meiner Ankunft in Ngens Gemächern gefeiert.« »Aber was ist mit deiner Ehre?!« schrie Torkild, hieb die Faust vor sich auf die Konsole. »M'Klea, ich werde dich windelweich prügeln! Daß du dazu fähig bist, deine Ehre derartig in den ...!« »Ehre? Du selbstgerechter...« Sie richtete sich zu vol ler Körpergröße auf, ihr Gesicht verfärbte sich vor Zorn dunkelrot. Ihre Stimme verwandelte sich ein verpreßtes
Fauchen. »Mit der Ehre ist es endlich vorbei, Torkild! Dafür hat der Messias gesorgt. Ich trauere der Ehre nicht nach!« Sie schnitt eine Fratze. »Wenn du je wieder so mit mir sprichst, wird's keine Rolle mehr spielen, daß du mein Bruder bist. Dann werde ich mir deinen Kopf auf einem goldenen Tablett bringen lassen. Du wirst nie wieder so mit mir reden!« Torkild saß da, als wäre er zu Stein geworden, sein Herz wummerte, er vermochte nur noch mit Mühe zu at men. »Was hat denn deine Ehre für mich bedeutet?« zischte M'Klea ihn gehässig an. »Ich bin auf Arpeggio eine Ge fangene gewesen. Oh, du hast das Leben genossen, mein teurer Bruder! Du bist jeden Abend auf Parties, zum Tanz und auf Feste gegangen. Und wo war M'Klea?« Ihr Blick forschte in seinen Augen. »In ihrem Zimmer. Dort habe ich herumgehockt und mich danach gesehnt, auch einmal Mensch sein zu dürfen, aber ich mußte immer warten, bis du halb betrunken, halb überdreht und mit selbstzufrie dener Visage aufgekreuzt bist und mir aufgeregt von den Kleidern der Frauen und den gutaussehenden jungen Män nern erzählt hast. Das war deine blöde Ehre!« Erbitterung funkelte ihr aus den Augen. Während Tor kild sich in äußerster Betroffenheit im Kommandosessel zurücksinken ließ, drang ihm langsam die Einsicht ins Bewußtsein, daß sie sich verändert hatte. Dieses Wesen konnte unmöglich seine Schwester sein. Er entsann sich ihrer Keßheit, ihrer Wutanfälle, der Szenen, die sie ge macht, ihrer Launenhaftigkeit, die er stets amüsant ge funden hatte, solange sie lediglich seine kleine Schwester gewesen war; jetzt jagten eben diese Eigenschaften, weil unbegrenzte Macht hinter ihr stand, sie verstärkte, ihm Furcht ein. Der Messias hatte sie so beeinflußt. Der Mes sias hatte sie verdorben, die hübsche, kleine, arglose M'Klea in diese ... in dieses Flittchen verwandelt! Torkild erkannte in ihrem Blick Triumph. M'Kleas Auftritt wich nun gemäßigterem Verhalten. »Jawohl, Bru
der, du verstehst mich völlig richtig.« Kokett schob sie eine Fingerspitze in den Mund. »Du bist mir immer das liebste Studienobjekt gewesen, Torkild. Im Gegensatz zu Vater hast du mir immer alles durchgehen lassen. Das war wohl eine Form von selbstgewählter Blindheit, meinst du nicht auch? Aber um dich fügsam zu machen, mußte ich besondere Manipulationen anwenden. Ich mußte dich an der Nase herumführen. Ich habe regelrecht kunstvoll daran gearbeitet, um sicherzustellen, daß du tust, was ich will. Daß du dank eigener Tüchtigkeit Kapitän geworden bist, freut mich. Trotzdem, es können sich für dich Privi legien daraus ableiten, mit mir verwandt zu sein, also soll test du diesen Umstand sinnvoll nutzen.« »Aber ... was ist mit der Ehre?« Angestrengt versuchte Torkild zu begreifen, was für eine Art von Frau er da vor sich sah, verspürte ein schreckliches Gefühl des Verlusts. Das wonnige Mädchen mit den leuchtenden Augen, das seine unschuldige, kleine Schwester gewesen war, gab es nicht mehr. »Sie ist futsch, ich hab's dir doch klar gesagt, Bruder.« Aus ihrer Stimme klang Hohn. »Deine kostbare Ehre und dein Stand haben für mich keine Bedeutung mehr. Es zählt nur noch, ob du die Gunst des Imperators genießt, oder nicht. Ngen begründet neue Realitäten. Entweder bist du dabei oder dagegen. Entscheide dich, Bruder!« Ihre Worte brannten in Torkilds Gemüt wie eine Peitsche auf emp findlicher Haut. Alles hatte er für sie getan. Nun starb seine Liebe zu ihr, als bräche ein Kartenhaus zusammen. Niemals wie der würde er so schöne Momente haben, wie er sie ein mal erleben durfte, wenn sie ihn voller Bewunderung an geblickt, wenn sie, weil er ihr ein Geschenk mitbrachte oder eine Geschichte erzählte, froh in die Hände geklatscht hatte ... Es war geradeso, als wäre M'Klea von Ngen Van Chow ermordet worden, er hatte sie sich ge nommen und in Jauche ertränkt, sie war unter seinem Schmutz verschwunden. Er hatte sie mißbraucht, um ei
nen abscheulichen Bankert zu zeugen! Die beiden waren ja nicht einmal verheiratet! Gütige Götter, entrückt mich ...! Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Daß so etwas aus ihr werden mußte ... Die Edelnutte des Messias! Aber was nun, Torkild? Nachdem die Ehre dahin ist, welchen Weg sollst du neh men ? »Ich habe angerufen, um die vollständige Zerstörung Samarkands zu melden«, sagte er barsch, fühlte sich nicht mehr dazu fähig, ihr in die Augen zu schauen. »Ich dach te, mit seiner Vernichtung würde ich deinen Tod rächen, M'Klea.« Nur wußte ich noch nicht, wie tot du wirklich bist, Schwester. Erneut lachte M'Klea. »Das ist ja köstlich! Ich hatte nur auf die passende Gelegenheit gewartet, um dich in mein Riesenglück einzuweihen. Das ist ja herrlich, daß es sich jetzt so ergeben hat, einfach wundervoll!« Vergnügt klatschte sie in die Hände. Trotz der widerwärtigen Niederträchtigkeit, in die sie abgesunken war, blieb M'Klea eine strahlende Schönheit. Doch Torkild schien es, als sähe er in ihren vertrauten Ge sichtszügen eine Fremde. Aber habe ich sie jemals tat sächlich gekannt? Vielleicht ... vielleicht waren Vaters Warnungen doch nicht nur bloße Worte? Jetzt ist nur die Erinnerung an das übrig, was sie einmal war ... und das Ungeheuer, zu dem sie geworden ist. Bei der Vorstellung, wie Ngens Hände sie betatschten, drohte sich ihm der Magen umzudrehen. »Meine Mel dung ist abgeschlossen. Ich fliege nach Radian weiter und werde den Planeten im Namen des Messias eliminieren.« Er trennte die Verbindung, sich darüber im klaren, daß er damit M'Klea die Möglichkeit beschnitt, noch länger in ihrer Häme zu schwelgen. Zweifellos hatte er sie bereits mit dieser Kleinigkeit erneut verärgert. Ihr konnte nicht entgangen sein, wie sich während des Gesprächs seine Empörung gesteigert hatte. Sicher hatte sie ihm auch seinen Kummer angesehen. Eine Frau ohne
Ehre war zweifellos dazu imstande, über seine Einstel lung und seine Empfindungen bei Ngen zu tratschen. Wenn Torkild die Augen schloß, sah er sie wieder vor sich, er malte sich aus, wie Van Chow ihren jungfräuli chen Leib begrapschte, sie sich ihm öffnete, und er in sie eindrang und sie schwängerte. Er unterdrückte den Wut schrei, der sich seiner beengten Brust entringen wollte. Wie konnte er den Mann bestrafen, der seine unschul dige M'Klea verführt und so erniedrigt hatte? Das süße Kind, das früher für Torkild schwärmte, dessen fröhliche blaue Augen voller Verehrung zu ihm aufgeblickt hatten, war durch Ngen ausgelöscht worden. Dieselben Augen hatten ihn vorhin mit arroganter Geringschätzung ange schaut — ohne jedes Fünkchen Ehre! Van Chow hatte sie aufs übelste umgekrempelt, sie besudelt und verunreinigt. Für so etwas forderten arpeggianischer Stolz und ar peggianische Pflicht das Blut des Täters! Er spürte ein Stechen hinter seinen Augen, Kopf schmerz setzte ein. Ehre war die Grundbedingung des Daseins. Ngen wußte, welchen hohen Stellenwert die Eh re für Arpeggianer einnahm. Dennoch hatte er sich der Schwester eines seiner besten Kapitäne bemächtigt und sie geschändet. Torkild Alhar straffte sich. Eine derartige Beleidigung ließ sich nur durch den Tod sühnen. Doch wie könnte er weit genug in Van Chows Nähe gelangen, um ihn zu töten? Wie? Diese Frage begann ihn zu quälen, scheuchte ihn endlich aus dem Kommandosessel hoch; beiläufig nahm er die beklommenen Blicke seiner Offiziere wahr. Das Blut in ihren Adern war auf Arpeggio genährt worden. Vom Mutterboden Arpeggios war ihnen die Stärke einge flößt worden, dank deren sie sich zu den Sternen erhoben hatten. Ihre Ahnen hatten sie mit der Milch arpeggiani scher Sitten und Ehre gesäugt. Er mußte handeln — oder er verlor den Respekt seiner Männer. Getrieben durch die vom Zorn mobilisierten Kräfte, stapfte er auf den Dek kplatten der Kommandobrücke hin und her.
Hinter seinem Kommandosessel hing das Bild des Messias; die rauchigschwarzen Augen schienen Torkilds Blick spöttisch zu erwidern, seine Miene der Überlegen heit wirkte auf einmal, als wollte sie nun auch noch Tor kilds Seele vergewaltigen. »Nehmen Sie das da runter!« befahl Torkild und deu tete auf das blasphemische Bildnis. Während tieferrangige Offiziere die Anweisung eilig ausführten, widmete Torkild seine Aufmerksamkeit der Sternkarte. Von seiner jetzigen Position aus ließ sich im großen und ganzen jeder Punkt innerhalb der bewohnten Galaxis binnen sechs Wochen erreichen. Zwei Monate lang würde niemand ihn vermis sen. Von seiner Crew blieb zu erwarten, daß sie ihm und den Idealen seines Volkes die Treue hielt. »Kurs nach Radian eingespeist«, rief Bruno, während er der Kommu Zahlen eintippte. »Stornieren«, ordnete Torkild an. Er sah Überraschung in den Mienen der Offiziere. Allmählich konkretisierte sich in seinen Überlegungen eine Idee. »Bruno? Heinar? Sagen Sie mir eines: Genieße ich die Achtung meiner Besatzung? Habe ich durch Scharfsinn, Klugheit und Sieghaftigkeit — die Tugenden, die bei uns seit fast fünfhundert Jahren zum Führer qualifizieren — das Recht erworben, Ihr Kapitän zu sein?« Unsicher schaute Bruno auf der Kommandobrücke rundum. Er nickte, bevor er antwortete. »Ja, Kapitän.« »Meine Schwester ist durch den Mann, dem wir die nen, entehrt worden. Er hat sie geschändet und geschwän gert. Er hat sich nicht einmal so gnädig erwiesen, sie zu heiraten.« Heinar senkte den Blick; ihm wurden die Wangen hohl, während er an ihren Innenseiten saugte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie mich verstehen. Aber wir wollen unsere Überlegungen noch etwas weiter trei ben. Wir gehen davon aus, daß die Romananer unsere Hei matwelt verwüstet haben. Ist es aber nicht genauso wahr, daß Ngen es ihnen durch Nachlässigkeit ermöglicht hat?
Welche Treue schulden wir einem Mann, der nicht einmal Vorkehrungen zum Schutz unserer Heimat und Familien getroffen hat? Verdient eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unserem Heimatplaneten Respekt, oder kann man uns angesichts derartiger Umstände Gehorsam zumu ten?« Bruno stand auf, salutierte vor dem Kapitän. »Ich kann nur für mich sprechen, Kapitän, aber der Erste Offizier wird Ihnen, Alhar, unabdingbar folgen. Ihre Feinde sind meine Feinde. Ich baue darauf, daß Sie uns verläßlich füh ren, uns zu Beute verhelfen und einen Weg zum Wieder aufbau unserer Heimatwelt ebnen werden.« Torkild trat vor, faßte den Mann an den Schultern und schloß ihn in der altüberlieferten arpeggianischen Gebär de gegenseitiger Treueverpflichtung in die Arme. »Für mich gilt das gleiche, Kapitän.« Auch Heinar er hob sich aus seinem Konturensessel. »Auch ich folge Ih nen, solang's um den Wiederaufbau unseres Planeten und um unsere Ehre geht.« Aus Stolz auf seine Männer quollen Torkild Tränen in die Augen, während er Heinar und danach — einen um den anderen — auch die übrigen Offiziere umarmte. Ngen sollte büßen. Es gab vielerlei Mittel, um die Ehre wiederherzustellen. *
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KOMMANDANTINNENKAJÜTE AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG (IN GEOSTATIONAREM ORBIT ÜBER WELT)
Müde patschte Susan die Hand auf den Servomat-Scanner und betrat ihre enge Unterkunft. Darwin Pike saß zusammengesunken, den Kopf nach hinten gesackt, auf einem der kleinen Stühle, schnarchte in Tönen, die an einen Verbrennungsmotor erinnerten. Die untere Hälfte seines rechten Beins stak vom Knie an in einem Gehapparat.
Susan war allein gewesen, fühlte sich ausgelaugt und zermürbt, als sie aus einem ihrer Träume zu sich kam, hatte noch Ngens Säuselstimme im Ohr gehabt. Triefäu gig war sie zu Pike in die Bordklinik gewankt. »Du wirst heute entlassen, oder?« »Ist mir jedenfalls angekündet worden.« Er grinste sie an, wurde jedoch ernst, sobald er ihre Augen sah. »Wie der Träume?« Sie hatte ihr Haar über die Schulter zurückgeworfen, sich vergewissert, daß niemand sich in Hörweite befand. »Wenn es dich nicht stört, deine Reputation und deine kostbaren neuen Hoden zu riskieren, kannst du heute nacht in meiner Kajüte schlafen. Ich ... Es sind zwei Ko jen vorhanden. Vielleicht können wir uns gegenseitig 'ne Zeitlang stützen.« Augenblicklich war sie gegangen, ihre eigenen Äuße rungen hatten sie zu sehr erschreckt, als daß sie den Mut aufgebracht hätte, auf Antwort zu warten. Also war er gekommen. Sie hatte es geahnt. Susan zwängte sich an ihm vorbei und klappte die zweite Koje aus; währenddessen begriff sie plötzlich, was es bedeute te, das Quartier mit ihm zu teilen. »Darwin, wach auf!« Er blinzelte beim Erwachen, war froh, als er die Koje sah, die sie für ihn vorbereitet hatte. »Ich wußte nicht, wo ich mich nach deiner Ansicht niederlassen soll«, sagte er mit unschuldigem Lächeln im Gesicht. »Ich wollte in deiner Kajüte auch kein Durcheinander anrichten.« »Anscheinend hast du keine Träume gehabt.« Todmü de zwinkerte Susan, wünschte sich auf einmal, er wäre fort, obwohl sie sich dessen bewußt war, daß seine Abwe senheit ärgere Folgen hätte. »Bei so verdrehtem Hals war's wohl nicht möglich.« Er verzerrte die Miene, als er sich den Nacken zu reiben anfing. Verlegen trat Susan vom einen auf den anderen Fuß.
»Kleine Kabinen haben ihre Nachteile. Hör mal, ich hoffe, du wirst nicht rot.« »Ich schaue weg.« Susan pellte sich aus der Kleidung, löschte das Licht und streckte sich mit einem Aufseufzen in ihrer Koje aus. »Hoffentlich schreie ich nicht«, ertönte Darwins Stim me nervös durch die Dunkelheit. »Ich hoffe, ich auch nicht. Wenn's dir lieber ist, also bitte, du kannst jederzeit in die Bordklinik zurück. Du bist unruhig, ich merk's an der Anspannung in deiner Stimme.« »Was wird Giorj sagen?« Susan lachte. »Was glaubst du eigentlich, was für eine Beziehung ich zu ihm habe?« »Nun ja ...« Pikes Tonfall bezeugte Verwunderung, »'ne normale.« Susan rang mit einer Beklemmung tief in ihrer Kehle. »Ich kann keine >normale< Beziehung zu einem Mann haben. Seit dem, was Ngen mit mir gemacht hat, nicht mehr. Giorj ist für mich kein Problem. Er ist steril, infolge eines Strahlungsunfalls ist er schon lange impotent.« »Und Freitag?« Versonnen lächelte Susan ins Dunkel. »Freitag und ich waren mal 'n Liebespaar. Aber nach meinem Aufenthalt in Ngens Schreckenskammer ... Naja, ein Bestandteil der Gewalt, die er gebraucht hat, war Psyching. Wenn Ngen mich vergewaltigte, sah und fühlte ich geistig Freitag ... Nur der Neokortex wußte es besser. Nachdem alles vorbei und ich Ngen entkommen war ... da nutzte es nichts mehr, daß ich Freitag immer noch verzweifelt liebte, ihn so drin gend brauchte, daß ich weinen mußte. Ich konnte die Vor stellung, daß ein Mann mich berührte, nicht mehr ertra gen. Ich ... ich hätte ihn so, wie er es wünschte, nicht mehr lieben können. Er hat es auch nicht von mir verlangt, möge Spinne dafür seine Seele hegen und pflegen. Nicht einmal Fragen über Giorj und mich hat er ge stellt ... obwohl er sich damit innerlich geplagt und es ihn unglaublich traurig gemacht hat.« Sie erinnerte sich an
den Kummer, der einmal in seinen Augen zu sehen gewe sen war, während sie gelacht und übermütig irgendeine wilde Geschichte erzählt hatte. »Ich werde deswegen mein Leben lang ein schlechtes Gewissen haben«, fügte sie leise und kläglich hinzu. »Was unterscheidet mich von Freitag?« Susan starrte in die Finsternis. »Anfangs bist du eine beinahe komische Gestalt gewesen. Nimm's mir nicht übel. Ich konnte dich einfach nicht ernstnehmen, deshalb habe ich dich nicht als Bedrohung empfunden.« »He, vielen Dank.« »Es lag an unseren verschiedenen Erfahrungen. Du hast eben nicht solche Greuel gekannt, wie ich sie gese hen und erlebt habe.« »Und jetzt?« »Inzwischen hast du die Schrecknisse selbst kennenge lernt, Darwin. Du weißt jetzt, wie klein man dadurch wer den kann. Ich glaube nicht, daß du dazu fähig bist, mir etwas anzutun.« In der Dunkelheit lachte Darwin verhalten. »Was ist daran so lustig?« »Susan, du bist 'ne beachtliche Herausforderung. Ich habe nie richtig gewußt, woran ich bei dir bin. Zunächst einmal dachte ich, du bist die schönste, prachtvollste Frau, die's je gegeben hat. Aber ich habe dich auch für eine Frau aus Stahl gehalten, eine Person, die ganz für Leistung und grimmige Härte lebt. Ich habe mich gefragt, wieso du es nötig hättest, mich mit soviel Aufwand runterzuputzen, aber gleichzeitig konnte ich nicht anders, als von deiner Stärke fasziniert zu sein. Du hast einen dermaßen kompe tenten Eindruck erweckt — fast übermenschlich tüchtig gewirkt —, daß es schien, als hättest du überhaupt keine Schwächen. Keine Eigenschaften wie ein normaler, echter Mensch. Bei mir habe ich dich immer >Eiserne Lady< genannt, und ich hatte mir zurechtgereimt, der Grund, weshalb du Giorj magst, könnte sein, daß du ihn nach Lust und Laune zur Schnecke machen kannst, wann's dir paßt.
Mein Bild von Susan Smith Andojar war wirklich nicht besonders vorteilhaft.« Im Dunkeln wälzte Susan sich herum und blickte zu Pike hinüber. »Warum hast du dann soviel Zeit mit Bemü hungen vergeudet, mich zu beeindrucken?« »Weil ich dir angemerkt habe, daß du irgend etwas Schreckliches verheimlichst. Und einmal habe ich dich unbeabsichtigt beobachtet, als du zu Freitag in den Kühl raum gegangen bist. Da habe ich dich als Mensch erlebt.« Seine Stimme nahm einen Ton der Verbissenheit an. »Aber ich bin dabei geblieben, daß du die umwerfendste attrakti ve Frau bist, die mir je begegnet ist. Wenn ich dir in die Augen schaue, ist mir, als müßte ich darin versinken.« Diesen Gedanken fand Susan albern. »Du redest wie 'n verträumtes Jüngelchen.« »War ich früher auch mal.« Darwin zögerte. »An sich bin ich's noch immer. Ein ganzes Stück weit wenig-stens.« »Darwin«, sagte Susan gedämpft, »ich kann nicht dei ne Geliebte werden. Nicht mal versuchen darf ich's. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals wieder von einem Mann lieben lassen kann.« Zwischen ihnen zog sich ein Schweigen in die Länge. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich je dein Liebhaber werden kann.« Susan hörte, wie er sich ruhelos in seiner Koje wiederholt umdrehte. »Es hat mit etwas tief in mir zu schaffen. Mit Tiara, dem Blut, das ihr vom Mund rann ... meinem Blut ... Mit Ngens Anspielungen auf meine angebliche >Romananerin<. Ja, du bist es gewesen, deren Erscheinung er mir vorgespiegelt hat. Tiara und du, ihr verschmelzt in meinen Träumen, seid eins ... Das letz te Mal, als ... Pallas mich geschnitten hat und ... und ... Seitdem habe ich keine Erektion mehr gehabt.« »Vielleicht lag's bloß am Katheder der Med-Einheit.« »In meinen Träumen wirst du zu Tiara. Du bist es, die ... Na, du hast dir ja die Filmaufzeichnung angeguckt. Ich ... ich weiß nicht. Solang ich wach bin, kann ich mir jederzeit verdeutlichen, daß du du bist. Du bist die Frau,
in die ich vernarrt bin, seit ich dich den Übungsrobot durchklopfen gesehen habe. Ich bin hier, weil ich so viel leicht mit der realen Gegenwart der Susan, in die ich mich verliebt habe, den Traum austreiben kann, das Schreckge spenst, das Ngen meinem Geist eingeimpft hat.« Auf Susans Weisung blieben die Lampen aus, als sie sich aufsetzte. »Weißt du, ich muß dir noch etwas sagen. Dieser Elektrostab, mit dem du von Pallas gefoltert wor den bist, hat auch etwas angegriffen, was man den Scham nerv nennt. Ursprünglich hatte die Obergefreitin sogar befürchtet, das Gehirn könnte was abbekommen haben.« »Dann brauchst du dir ja meinetwegen keine Sorgen zu machen. Zwischen uns wird nichts passieren.« In spürba rer Mißstimmung warf Pike sich in der Koje umher. »Hör zu, in 'n paar Stunden hast du wieder Dienst. Du solltest 'n bißchen pennen. Ich möchte nicht, daß du noch mal so übermüdet bist, wie ich dich 's letzte Mal gesehen habe. Ich bin ja da, falls du von Ngen träumst.« Seine Stimme klang nach insgeheimer Einsamkeit. Susan stand auf, legte die Hand auf den Sensor der Beleuchtung, so daß es dunkel blieb. Ihr Herz wummerte, als sie in Darwins Koje rutschte, sich neben ihn schob. Im Vergleich zu seinem Körper war ihre Haut kühl. »Susan? Was hast du ...?« »Seht ...« Sie streckte die Arme aus und drückte ihn an sich. »Laß uns nun schlafen ... Vielleicht kommen die Träume diesmal gar nicht.« Doch sie kamen. Zuerst schrak Darwin aus dem Schlaf, schlotterte vor sich hin. Und später, als Susan sich auf bäumte, weil sie glaubte, Ngens Hände streichelten ihren Körper, seine Stimme säuselte ihr trügerisch ins Gemüt, hielten Darwins starke Arme sie umfangen, brachten sie zurück in die Sicherheit der Wirklichkeit. *
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GROSSE FRACHTSCHLEUSE DER DEUS (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER SANTA DEL CIELO)
»Was Sie tun werden, liebe Leute, ist folgendes: Diese Baupläne studieren.« Vor den Ankömmlingen stand Ngen Van Chow, der Messias der Padri. Skeptisch blickte Veld sich um, bemerkte die Unent schlossenheit seiner Leidensgefährten. In dem großen Raum, in den man sie geführt hatte, war es zu kühl, bei nahe eisig. An einem Ende des zwanzig Meter langen Raums hatte Ngen, gekleidet in leuchtend rote, gelbe und schwarze Stoffe, ein Podium erstiegen, blickte auf die wie furchtsame Schafe zusammengetriebenen Leute herab. Padri mit stumpfen Augen, in den Fäusten Blaster, säum ten die kahlen, weißen Wände. In der Luft lagen der Mief der Angst und ungewaschener Leiber sowie ein metalli scher Geruch, der die Nase ätzte. Alle waren sie von der Zukunft eingeholt worden. »Gewisse Fortschritte sind schon erzielt worden«, er gänzte Van Chow seine Äußerung. »Das grundlegende Konzept entstammt von uns entschlüsselten Original-Bruderschaftsdaten. Ihre Aufgabe ist es, mir Deus' Faust zu bauen, eine Weltraumstation, die's mir erlauben soll, außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums eine Singularität zu bewegen.« »Er ist wahnsinnig«, flüsterte Ten MacGuire. »O nein, Ingenieur.« Ngen lächelte, während er über die zaghaft gehobenen Köpfe der Verschleppten aus schaute. »Ich bin keineswegs wahnsinnig. Meines Erach tens hat die Bruderschaft einmal eine ganz ähnliche Anla ge konstruiert. Ich habe die Arbeit für Sie schon begonnen. Station Kobalt ist von der Einwohnerschaft geräumt wor den. Die Techniker, die mir für dies Projekt bereits zur Verfügung stehen, haben damit angefangen, Reaktoren zu installieren und den Umbau der Station Kobalt in Deus' Faust in den Grundzügen vorzubereiten.« MacGuire war blaß geworden. Wie hatte der Messias seine Bemerkung hören können? Velds Blick huschte um
her, suchte Monitoringgeräte, doch er entdeckte keine. »Ihre Frauen und Familien werden solange bei mir an Bord der Deus bleiben.« Gelassenheit sprach aus den Ge sten von Ngens Händen. »Erfolgreiche Arbeit wird durch Besuche bei Ihren Lieben belohnt. Aufsässigkeit, mangel hafte Kooperation und dergleichen werden andere Konse quenzen haben. Sie sind ja schon einigen Padri begegnet. Ziemlich geistlose Zeitgenossen, was? Ich bin sicher, nie mand von Ihnen möchte, daß Ihre netten Frauen, Männer, Söhne oder Töchter eine so beschränkte Existenz führen müssen.« Ten MacGuire schloß die Lider, sein abgehärmtes Ge sicht verriet dumpfen Jammer. Rasch griff Veld zu, um zu verhindern, daß er hinstürzte. MacGuire fühlte sich schlaff an, als müßte er jeden Moment zusammensacken. »Nur ruhig Blut!« nuschelte Veld im Mundwinkel, sorgte sich nervös, der Messias könnte auch ihn hören. »Selbstverständlich werden Ihre sämtlichen Bedürf nisse erfüllt, liebe Leute. Sie erhalten an Baumateriel geliefert, was Sie brauchen. Sie können essen, trinken und sich vergnügen, wie's Ihnen paßt, solange Sie bei der Arbeit vorankommen. Sie dürfen tun, was Sie wollen, wenn Sie nur die erforderliche Arbeit leisten. Gleichzeitig stellen Sie damit sicher, daß Ihre Familien auf meinem Flaggschiff die gleichen Annehmlichkeiten genießen. Natürlich sähe ich es nicht gerne, sollten Sie sich etwa einen Transduktionssender basteln. Fluchtversuche wären mir ebenso unlieb. Falls so etwas vorfällt, werden Ihre Verwandten leider schrecklich darunter zu leiden haben.« Irgendwo hinter Veld fing wieder der dreimal verfluch te Säugling zu plärren an. »Das war's«, sagte Ngen mit erneutem Lächeln. »Wir sind vorerst fertig. Ich gewähre Ihnen den heutigen Abend noch zum Beisammensein mit Ihren Angehörigen. Bei Beginn der nächsten Wache wird ein Shuttle alle Tech niker und Physiker zur Station Kobalt transferieren. Bis dahin wünsche ich noch einen schönen Tag.« Unbeküm
mert verließ Ngen, umwallt von seiner weiten Kleidung, die große Schleusenkammer. »Wie haben Sie das geahnt?« fragte Ten, sah Veld trüb sinnig an, während ringsum ein Stimmengewirr der Ungläubigkeit ausbrach. Veld rieb sich den Nasenrücken. »Ich habe ganz ein fach logische Schlußfolgerungen gezogen. Natürlich hatte ich nicht die Befürchtung, daß er durch Psyching Men schen zu Sklaven macht. Einen Blaster an 'n Kopf gesetzt ... Na, das ginge schneller und wäre in gewisser Hinsicht gnädiger. Wie hat er bloß ...? Verdammt noch mal! Was hat nur ein derartiges Ungeheuer hervorgebracht? Wollen Sie sich noch immer weigern?« Ten MacGuire blickte verstört drein, während Therisa, seine Frau, sich an seinen Ärmel klammerte, mit ausge weinten Augen zu ihrem Ehemann aufblickte. Er schüt telte den Kopf, strich mit der Hand durchs goldblonde Haar seiner Frau. »Und dulden, daß sie gepsycht wird? Nein, er kann mit mir rechnen, Veld. Ich werde ihm seine abscheuliche Maschine bauen. Wir ... wir wollen bloß bei Gott hoffen, daß wir diese Sache lebend durchstehen.« »Na klar, aber das setzt voraus, daß es Gott wirklich gibt.«
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GROSSDRUCK DES ADMINISTRATIONSTRAKTS AM ZUGANG ZUR DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS
Der Anblick der riesigen Fragmente geborstenen Stahls, die wirr aus den zerschossenen Distrikten Arcturus-Stadts ins All ragten, verursachten Darwin Pike tiefe Betroffen heit. Ganze Abschnitte der spaghettiartig ineinander ver flochtenen Komplexe waren verbogen und geknickt, stel lenweise zertrennt. Über die Lücken gespannte Stahltros sen hielten separierte Abschnitte zusammen. »Das ist ja unglaublich!« stieß er unterdrückt hervor. Susan stand auf der engen, überfüllten Kommandobrücke an seiner Seite. »Anlegemanöver einleiten. Mosche, ganz vorsichtig bugsieren. Wenn wir dagegenstoßen, fällt vielleicht alles auseinander.« Spinnes Vergeltung schwebte in eine Reede-Bucht, die bisher als Schlippe für Patrouillenraumschiffe gedient hatte. Susan sah, wie die Kommu sich den Compu-Systemen der Sternenstadt einstöpselte. »Erste Gruppe, anlan den!« Auf einem Monitor zeigte sich eine neue Bildfolge: Unter der Führung Jose Grita Weißer Adlers stiefelte eine Abteilung in Schutzpanzer gehüllter, mit Blastergewehren bewaffneter Sturmtruppler durch den Schleusentunnel. Obwohl Patan unbesorgt wirkte, mochte Susan keine unnötigen Risiken eingehen. Patans Haltung zu irgend welchen Ereignissen zählte wenig; was ein Prophet als wichtig erachtete und was Susan im Moment beschäftigte, konnten zwei vollauf verschiedene Dinge sein. »Schleusenumfeld gesichert, Kommandantin«, drang Weißer Adlers Stimme durch die Kommu herüber. »Ad miral Kimianjui ist mit einer Ehrengarde Patrouillensolda ten zur Stelle.« »Richte dem Admiral unsere Grüße und den herzlich
sten Dank aus.« Susan blickte sich auf der Kommando brücke um und winkte. »Na schön, 's sieht so aus, als wäre der Landekopf sicher. Also los, Leute, gehen wir. Mosche, wir behalten aber 'n hohen Energiepegel für den Fall bei, daß wir uns den Weg freischießen müssen.« »Ganz meine Meinung, Susan.« Mit grimmigem Hu mor grinste Mosche. »Das wollen wir erst mal sehen, wer uns reinlegt.« Neben dem Solinger Survival-Messer trug Darwin den Santos-Coup am Gürtel. An seiner anderen Hüfte baumel te, in Karabinerhaken getragen, ein leistungsstarker Patrouillenblaster. Im Vergleich zu Susans eindrucksvol lem Gürtel machte seiner wenig her. Sicherheitshalber hatten alle Besatzungsmitglieder der Spinnes Vergeltung Schutzpanzer angelegt. Spinne allein wußte, was für Über raschungen ihnen in Arcturus-Stadt blühen mochten. Drohten Mordanschläge? Sein prothetischer Gehapparat störte Darwins Gleich gewicht, so daß er leicht humpelte. Das Mistding hatte beim Gehen alle Nachteile einer ans Bein geketteten Ei senkugel, obwohl es nur halb so schwer war; doch das Gerät setzte die Geweberegeneration und Neurotherapie fort, und darauf blieb er dringend angewiesen. Vielleicht half es. Als er die jenseitige Schleuse betrat, mußte Pike daran denken, wie deutlich sich die frisch aufgemalte Spinnen darstellung vom Weiß seines Brustpanzers abhob. Wo hatte er den alten Adam abgestreift, der vor gar nicht allzu langer Zeit hier von Arcturus-Stadt in der Erwartung abge flogen war, ihm stünde ein rein akademisches Abenteuer bevor? Bedeutsamer noch war die Frage: Wer oder was war aus Darwin Pike geworden? An seinem Gurt wehte das Haar eines Menschen. Das Messer, mit dem er ihn getötet hatte, hing in Höhe der Rechten. Früher hatte er Theorien und Fakten kultureller Dynamik im Kopf gehabt; jetzt lauerte unter der Oberfläche seiner Gedanken ein unvergeßlicher, einer gräßlichen Realität entsprungener,
immer wieder durch Ngen Van Chows hartnäckige Säusel stimme heraufbeschworener Alptraum. Die Patrouillensoldaten standen mit ernsten Mienen, die Augen geradeaus gerichtet, beiderseits der Schleuse. Hier vor ihnen ging das letzte Kapitel einer langen, ruhm reichen Historie zu Ende. Die Patrouille existierte prak tisch nicht mehr, und was sich in diesen Augenblicken abspielte, glich lediglich letzten Daseinsregungen. Das Überwältigende der Stunde mit all seinem aus Stolz und Wehmut geborenen Pathos und ihre starke Geschicht strächtigkeit bewegten Pike tief. Aus der Schleusenkammer gelangte man in einen läng lichen, überkuppelten Wartesaal, in dem sich zahlreiche Menschen drängten, aus vielen Gesichter den Ankömm lingen entgegenstarrten, unterdrücktes Stimmengewirr herrschte. Am anderen Ende der Phalanxen angetretener Patrouillensoldaten stand ein kleiner, schwarzhäutiger, makellos proper in eine strahlendweiße Patrouillen-Paradeuniform gekleideter Mann, dessen dreieckiger Kragen in kräftigem Laserblau leuchtete. Während Darwin hinter Susan nach vorn hinkte, er stieg der Admiral allein ein kleines Podium. Eine ab schließende Geste würdigen Abgangs sollte erfolgen. Ein wenig verlor der Ablauf allerdings an Wirkung, als Susan vor Kimianjui stehenblieb. In ihrer Hochgewachsenheit und Anmut hinterließ sie — Auge in Auge mit ihm — ei nen guten Eindruck. Kimianjui machte eine Verbeugung. »Kommandan tin Susan Smith Andojar, ich bin da, um meine Oberbe fehlsgewalt an Sie als Führerin der romananischen Streitkräfte Admiral Damen Rees zu übergeben. Ich versichere Ihnen, daß ich und mein sämtliches Personal Ihnen die besten und zuverlässigsten Dienste erweisen werden. Unser Kooperationsangebot geht mit der Hoff nung einher, daß die Machtübergabe friedlich vollzogen und für alle Beteiligten von Vorteil sein wird. In dieser Zeit schwerer Prüfungen haben wir keinen anderen
Wunsch, als der Menschheit auch künftig dienen zu dürfen.« Susan nickte, erwiderte den zackigen Gruß, als der Admiral salutierte. »Wir kommen in dieser Zeit der Not nicht als Eroberer, Admiral, sondern als Verbündete. Hiermit stelle ich das Arcturussystem unter Kriegsrecht. Alle Befehle und Verordnungen ergehen ausschließlich durch mich, Dr. Darwin Pike oder einen meiner Unterge benen. Vorhandene Patrouillenverbände bleiben beste hen.« Die Augen der Zuschauer hatten sich, sobald sie zu sprechen anfing, in ihre Richtung zu drehen begonnen; Susan drehte sich langsam um die eigene Achse, erwider te die von Zurückhaltung gekennzeichneten Blicke. »Ihr gehört zu den tüchtigsten Militäreinheiten der Galaxis. Wir Romananer wissen eure Ehre zu achten. Leider gibt es von den Besten zuwenig. Ihr werdet unsere romanani schen Regelungen der militärischen Vorgänge zunächst als fremdartig empfinden.« Sie schritt die Reihen der Patrouillensoldaten ab, inspizierte sie, wie man es von Oberkommandierenden kannte. »Zur Beruhigung will ich klarstellen, daß ich jederzeit erreichbar bin, um Unklar heiten zu beseitigen. Anders als die Patrouille halten wir uns nicht an irgendwelche Dienstvorschriften. Ich erwar te von euch allen, daß ihr als Profis tätig seid. Bewährt euch als Profis, und ihr werdet euch mit euren neuen Waf fengefährten gut verstehen. Ab sofort gilt ein Dauerbe fehl: Keine Messerduelle!« Herrisch blickte sie die weißglänzenden Reihen der Patrouillensoldaten entlang. »Weil ihr die romananischen Gesetze nicht kennt, eine kurze Erklärung: Ich habe die Krieger quasi auf den Kriegspfad gerufen, und das heißt, sie werden sich mit euch nicht streiten. Ich empfehle euch, möglichst viel an Informationsveranstaltungen und gemeinsamem Training teilzunehmen, sie bieten euch die Gelegenheit, euch die erforderlichen Kenntnisse anzueig nen. Was wir nicht dulden, sind Schmähungen unserer Religion, unserer Propheten und unserer Mütter. Als er
stes habt ihr die Aufgabe, die romananische Truppe ein zuquartieren. Schließt mit den Kriegern Bekanntschaft. Ich glaube, wir werden alle durch das bevorstehende Zu sammenwirken unsere Vorteile haben. Irgendwelche Fra gen? Keine?« Sie schmunzelte. »Das dachte ich mir. Bei Spinne, ihr seid echte Profis.« Markig kehrte Susan zurück an Kimianjuis Seite und drehte sich auf dem Absatz um. »Weggetreten!« Voller Staunen gafften die Patrouillensoldaten und Arc turier sie an. In Reih und Glied marschierten nun die Romananer aus der Spinnes Vergeltung in die Sternen stadt, schwatzten unterwegs aufgeregt durcheinander, weil sie fast ausnahmslos zum erstenmal eine Habitats-station betraten. Sie deuteten mit den Fingern auf dies und jenes, spähten nach allen Seiten, betasteten die Deckplatten, und manche Krieger stampften mit dem Fuß auf, um zu prüfen, ob der Boden unter ihrem Gewicht bebte. »Weißer Adler«, rief Susan. »Du hast zu verhüten, daß es Ärger gibt.« Sie winkte den Kolonnen romananischer Krieger zu, die aus der Schleuse gezogen kamen. »Die Patrouille wird euch Unterkünfte zuweisen. Sam Smith Eisenauge, du wirst dafür sorgen, daß die neuen Rekruten keinen Quatsch anstellen ... Etwa aus den Kloschüsseln trinken oder so was.« Während ihre Leutnants sich fortbeeilten, wandte Su san sich an Kimianjui. »Admiral, könnten wir wohl um gehend Dienstpläne, Einteilung von Streifen, eventuell hinsichtlich der Befriedung kritische Stadtteile und unse ren Zugang zu Versorgungsgütern sowie die Vernetzung unserer Kommunikationsanlagen diskutieren? In den nächsten Tagen werden wir viel zu erledigen haben. Es dürfte günstiger sein, wir fangen gleich an.« »Ganz bestimmt. Hier entlang bitte.« Der kleinwüch sige Admiral strebte voran, seine Ehrengarde bahnte ihm mit äußerster Effizienz eine Gasse durch das Gedrängel. »Wie war ich?« flüsterte Susan aus dem Mundwinkel Pike zu.
»Gar nicht übel.« Verstohlen zwinkerte Darwin ihr zu. »Ich kann mir niemand Fescheres vorstellen, vor dem eine Zivilisation kapitulieren könnte.« Susan atmete auf, schaute beklommen rundum. »Na fein. Aber es ist jederzeit möglich, daß ein Debakel ein tritt. Dessen solltest du dir bewußt sein. Wir haben fünf hundert Krieger ... Gegen wie viele Arcturier?« *
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SKOR ROBINSONS GIGA-VERBUND-KONTROLLRAUM, DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
Da waren sie also. Skor blinzelte; ihm fiel ein, daß das verwaschene Schimmern in seinem Blickfeld von ihm in die Augen gequollenen Tränen stammte. Er flatterte ange strengt mit den Wimpern, ein Mittel, das sich als die ein zige Methode erwiesen hatte, um in Null-Schwerkraft die Augenhornhäute nässefrei zu halten. »Das Symbol meines endgültigen Scheiterns ... Die Romananer sind eingetroffen.« Er beobachtete per Holo Übertragung, wie Susan Smith Andojars Sturmtruppe nach Arcturus einmarschierte; mit ihren Waffen und dem Menschenhaar, das an ihren Gürteln und den weißen Schutzpanzern baumelte, sahen die Krieger zum Fürch-ten aus. Auf den Schutzpanzern prangten Spinnenbilder in vielen Farben und Größen. Hier und dort zierte noch ein Santoskreuz einen Oberarm oder eine Schulter. »Die Barbaren haben Rom erreicht«, flüsterte Skor, bemerkte neues Wasser in seinen Augen. »Und sie sind auf meinen Wunsch hin da. Wie konnte es soweit kommen? Wo habe ich Fehler begangen? Alles was ich unternom men habe, war logisch, basierte auf den jeweils vernünf tigsten Überlegungen ... Aber habe nicht trotzdem ich uns in diese Situation gebracht? Was ... was für ein Erbe hinterlasse ich? Ach, arme Menschheit ...! Wie schrecklich habe ich an dir versagt.«
Er sah Susan Smith Andojar sich wie eine junge Tige rin unter den Soldaten und Kriegern umherbewegen. Ih rer Schönheit wegen schauten die Männer zweimal hin. Doch Skor war nicht zu mehr imstande, als das Gesche hen in dumpfem Gram mitzuverfolgen, eine abgründige Leere klaffte in seinem Innern, wie er sie nie zuvor ge kannt hatte. »Weint niemand um mich?« fragte er sich. »Interessiert es niemanden, daß ich innerlich leide ... und die Schläuche mir keine Abhilfe bringen? Bei deinem vermaledeiten Spinne, Chester, ich wollte, ich wäre tot.« * * * SLUMS DER ARKADIA-WOHNKUPPELN, RUSSISCHER DISTRIKT, ARCTURUS-STADT
Der Alte fuchtelte mit den Armen, vollführte auf dem Gehäuse des Sauerstoffkonverters regelrechte Pirouetten. Arkadia erstreckte sich längs der vier Meter breiten Stra ße. Sie war kaum mehr als ein beiderseits von schäbigen Billigläden gesäumter Gang mit kehrichtgrauem Boden belag; mit Graffitti bekrakelte Fassaden reichten hinauf bis zur in vier Meter Höhe befindlichen Überdachung. Kein Arkadier konnte sich je dem Eindruck entziehen, in einem Stollen zu leben. Die Gerüche von Menschen, Ar mut und Abfällen durchzogen die Luft. Das Pochen der Pumpen, das unaufhörlich aus der Klimaanlage wum merte, durchdrang alles. Da und dort sah man an den Graphstahl-Wänden noch von den kürzlichen Krawallen zurückgebliebene Schrammen, stellenweise zeugten ver sengte, verrußte Stellen von gelöschten Bränden; Säube rungsarbeiten waren nicht erfolgt. Doch die Supervisoren Arkadias scherten sich nie um Recht, um die Zukunft oder — nachdem jetzt so vieles zerblastert worden war — um die Gefahr des Hungers.
Der Kreis von Menschen, die sich um den Alten sam melten, wuchs zusehends, etliche Leute blieben stehen, um der Vogelscheuche zuzuhören, die da auf der Maschi nenabdeckung tanzte. Offenbar hatte das Leben ihm nur Härten zugemutet, ihm wie zum Zeichen des entrichteten Tributs Falten um seine Augen und den Mund eingekerbt. Er trug ein schmutzig-gräuliches, verdrecktes, am Saum ausgefranstes Sackgewand. Seine fanatischen grauen Augen lasen in den Gesichtern der Umstehenden, ehe er den zahnlosen Mund aufklappte und mit einer Tirade los legte. »Ich sage euch: Wir empfangen den Lohn unserer Sün den! Weil wir dulden, daß wir in den greulichen Krallen händen des Direktorats vor uns hinfaulen, hat Deus uns dies Strafgericht gesandt. Und jetzt? Jetzt ist uns die größ te aller denkbaren Gotteslästerungen angetan worden. Satans Brut hat sich im heiligen Arcturussystem eingeni stet. Satans Dämonen haben uns heimgesucht. Meine Seele steht am Rande der ewigen Verdammnis ... Und das gleiche gilt für alle eure Seelen!« Ringsum ertönte Geschrei der Zustimmung, einige Leute schüttelten erhobene Fäuste. »Tod der Satansbrut!. Tod! Tod!« »Uns obliegt die heilige Pflicht, diese Geißel Satans aus unserer Mitte zu vertreiben. Zu lange haben wir mit angesehen, wie unterm Direktorenregime die Menschen Hunger litten. Zu lange haben wir die Lügen der Patrouil le, das Psyching des Gesundheitsministeriums und den verhängnisvollen Einfluß der Romananer ertragen. Erhebt euch! Schließt euch mir an! Arcturus betet um Befreiung. Deus' Weg ist der wahre Weg. Folgt mir! Helft mir dabei, Spinnes Scheusale in den Orkus zu schleudern!« »Macht die Romananer kalt!« kreischte eine Frau, er kletterte die halbe Höhe eines Stützmasts, ließ sich an einem dünnen, von Schmuddel schmierigen Arm hängen. »Nieder mit Spinne!« brüllte jemand anderes, während
die Menschenansammlung in Wallung geriet. Irgendwer hatte sich eine Metallstange gegriffen und fing an die Kommu-Terminals kaputtzuschlagen. Der ganze Haufen Verhetzter schrie durcheinander, drängte vorwärts, verstopfte vor dem zerlumpten Alten die Straße. Aus sonst nur von Verzweiflung gezeichneten Mienen leuchtete auf einmal wild gerechter Zorn. Der Alte tänzelte, hüpfte vom einen auf den anderen Fuß. »Spinne ist Satan«, johlte er dabei. »Sein Prophet ist ein Greuel! Satans Geschmeiß ist über uns gekommen. Erhebt euch! Erhebt euch! ERHEBT EUCH!« Die allgemeine Begeisterung verschaffte sich lautstar ken Ausdruck, während der Alte vom Gehäuse auf die Straße sprang, sich an die Spitze der Zusammenrottung setzte. Ein Pavillon wurde niedergerissen. Fenster zer klirrten. Der Mob stürmte dem Alten nach, heulte ange staute Wut heraus, schwang die Fäuste, demolierte La denfronten. Der Alte hielt geradewegs auf den langen Korridor zu, der zur Direktoratsadministration führte. Plötzlich blieb er ruckartig stehen, als wäre er an eine Wand gelaufen, weil hinter einer Ecke hervor eine Faust nach ihm langte, ihn an der besudelten Kutte packte, und taumelte rück lings gegen die Nachfolgenden. »Du hast Spinne ein Greuel genannt?« Der Mann, der jetzt mitten in den Korridor trat, schob den Alten vor sich her; der Mob wimmelte umher, kam schließlich zum Ste hen, man glotzte, wisperte unterdrücktes Getuschel. Der Mann trug einen Schutzpanzer in glänzendem Weiß; zwei lange, schwarze Zöpfe hingen seitlich der Schläfen bis auf die muskulösen Schultern. Auf das Brust teil war eine schwarze Spinne gemalt, und ein an einen Traggurt gehaktes, langes Blastergewehr baumelte mit metallisch-grauem Schimmer an seiner Hüfte. »Spinne! Was ...? Ja, ja! Ein Greuel!« Der Alte stei gerte sich in neues Gezeter hinein. »Unflat! Und dieser Prophet ist der über uns gekommene Dämon Satans. Wir
werden diese vom Satan besessenen Romananer hinweg fegen.« Gewaltsam hob der Soldat den Alten an und warf ihn rücklings in die Arme des fanatisierten Pöbels. Breitbeinig stellte er sich der Menschenmenge in den Weg, blockierte den Zugang zur Direktoratsadministration, verschränkte die Arme. »Also gut, Alter. Dann fege mich hinweg.« »Fege ... Fegen ...?« stammelte der Alte, der auf ein mal ziemlich perplex wirkte. »Bevor ich euch Gehorsam lehre und bei den Störri schen den Coup nehme, muß ich euch befehlsgemäß auf fordern, alle nach Hause zu gehen, wie's sich für brave Direktoratsschäfchen gehört. Wenn ihr nicht sofort ver schwindet, werde ich ...« »Ein Romananer!« grölte jemand. Die Spinnendarstel lung auf der Brust des Kriegers war jetzt im Licht für alle deutlich erkennbar. »Tötet ihn!« Der Alte deutete mit krummem, knochi gem Finger auf den Romananer. »Deus gebietet es!« Erneut rückte die Horde vor, streckte die Hände nach dem Gepanzerten aus, in den Gesichtern glänzte blutgie rige Vorfreude. Sam Smith Eisenauge schnappte den Alten, riß ihn herum, in der Beleuchtung schimmerte der lange Kriegs dolch, als er ihn dem Alten an die Gurgel drückte. »Nun gut. Ihr wollt Spinnes Macht auf die Probe stel len? Kommt näher, und dies Stück arcturischen Ab schaums holt der Tod!« Unschlüssig zögerte die Menschenmasse, die gequälte Miene, die der Alte schnitt, während er trotz der scharfen Klinge an seiner Kehle zu schlucken versuchte, beein druckte sie immerhin soweit, daß sie sich ein wenig mä ßigte. Hinter Sam dröhnten Stiefelschritte, als weitere Romananer erschienen und den Korridor abriegelten. »Geht heim«, riet Sam gutmütig. »Dieser Nichtsnutz wollte euch zum Kampf gegen Spinne aufwiegeln. Da durch wärt ihr Werkzeuge Ngen Van Chows geworden.«
»Laß den Padre los!« keifte aus dem Hintergrund die dürre Frau. »Mitbürger, hört auf mich: Es ist Deus' Wille, daß ihr die Romananer töten sollt!« Sams Arm machte eine blitzartige, waagerechte Bewe gung, und im nächsten Moment schubste er den Alten von sich, so daß er in den freien Raum zwischen den Sturmtrupplern und den Arcturiern fiel. Der Alte hechel te ein ersticktes Röcheln, während er vorwärtskroch, ein Schwall hellroten Bluts bespritzte unter ihm die dreckigen Bodenfliesen. Er wälzte sich herum — einmal nur —, ent blößte seinen aufgeschlitzten Hals, aus dem ein Blutstrom sprudelte. Sams Stimme behielt, als er in die plötzliche Stille sprach, einen ruhigen Klang bei. »Schmäht Spinne nicht mit Beschimpfungen. Beleidigt nicht unseren Propheten.« Die Leute begannen zurückzuweichen. »Ich bin auf Basar gewesen. Ihr wißt gar nicht, was >Geschmeiß< ist, solan ge ihr nicht Deus' Zombies kennengelernt habt. Ihr habt keine Ahnung, was Leid bedeutet, solange ihr nicht gese hen habt, was Ngen auf Sirius angerichtet hat. Geht nach Hause. Dankt Spinne dafür, daß wir euch das Leben schenken.« »Bringt ihn um!« gellte die Stimme der Mageren, die sich um einen Laternenpfahl geschlungen hatte. »Roma nanisches Gezücht! Macht sie alle nieder und ...!« Ein Blasterstrahl durchzuckte die Luft und sprengte der Frau den Schädel auseinander. Der enthauptete Leichnam zuckte und plumpste in den vor Schrecken wie gelähmten Menschenauflauf herab. »Nach Hause mit euch!« erscholl Sam Smith Eisenau ges Stimme lauter, indem er dem Mob mit gestrecktem Zeigefinger die Richtung wies. »Denkt einmal nach, kommt zur Vernunft! Ist das es, was ihr für Spinne an Er fahrung machen möchtet? Die Erinnerung an ein Verhal ten wildgewordenen Gesindels? Wo bleibt eure Ehre? Wo ist euer Stolz? Seid ihr eine Hammelherde oder Männer und Frauen? Seid ihr Tiere oder Menschen?«
Ein junger Mann — er hatte die Metallstange — attackierte ihn, indem er wie mit einer Keule ausholte, von der Seite. Sam wich mit einem geschmeidigen Schritt aus, die Stange traf eine Wand, daß es knallte. Sam wirbelte durch eine halbe Drehung und bohrte dem Angreifer den Dolch in die Rippen, zog ihm die Klinge nach hinten, schräg aufwärts, durch den Leib. Mit einer Hand faßte er das Haar des jungen Manns und skalpierte ihn, bevor er den Sterbenden mit einem Fußtritt neben den Leichnam des Alten beförderte. »Da seht ihr's«, sagte Sam. »Ich habe in Arcturus mei nen ersten Coup errungen. Kehrt heim. Betragt euch wie Menschen, die noch Ehre besitzen. Wenn ihr euch nicht benehmen könnt ... Für den Fall, glaube ich, hält irgendwo ein Romananer einen Kriegsdolch für euch bereit.« Stumm aus Entsetzen betrachteten die Leute den An blick vor ihren Augen. Langsam schlichen die Vordersten rückwärts. Die Blicke streiften immer wieder das blutige Haar in Sams Faust. Gemurmel der Fassungslosigkeit durchgeisterte die feuchtlaue Luft. Einzelne Personen ent fernten sich zügig aus der Menge. Und mit einem Mal löste sie sich auf, alle liefen auseinander, unauffällig ver schwanden die Menschen in den labyrinthischen Gängen und Korridoren Arkadias. Die Romananer hatten ihre Herrschaft über Arcturus angetreten. *
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KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
»Da haben wir ihn«, stieß Ree, der auf der Kommando brücke auf- und abstapfte, halblaut hervor, als die Monitoring-Sensoren das Objekt erfaßten. »Zielverfolgung auf nehmen! Maya, wir geben euch den Vektor der Feindein heit durch. Könnt ihr sie abfangen?«
»Verstanden. Bestimmt, Damen. Die Viktoria funktio niert besser denn je. Giorj ist bei mir auf der Kommando brücke. Er kalkuliert schon die Zahlen. Ahm ... Einen Moment noch, Damen. Ja, ja ... Jawohl, Damen, wir sind dazu in der Lage, den Gegner abzufangen. Wir können ihn im Abstand dreier Lichtstunden von Welt zum Gefecht stellen.« Ree wandte sich um, sah auf der Karte des Welt-Sonnensystems nach. Drei Lichtstunden? »Das ist ziemlich nah, Maya. Wir erwarten, daß man beim Angriff auf Welt einen Torpedo verwendet. Übernimm du das Abfangen der Feindeinheit. Wir werden uns um den Torpedo küm mern.« »Verstanden.« Damen Ree starrte das Leuchtpünktchen an, das auf Welt zuflog. Mittlerweile hatte Breeze mit seiner Coup schon zwei feindliche Kriegsschiffe im Umraum Sirius' vernichtet. Ngen hätte seinen Rachefeldzug nicht so groß kotzig hinausposaunen sollen. Es mochte sein, daß sie es diesmal schafften — es vielleicht gelang —, ein gegneri sches Raumschiff zu erbeuten. Falls die aufgerüsteten Schutzschirme und die mit Fujiki-Verstärkern verbesser ten Blastergeschütze der Viktoria sich bei dem geplanten Trick bewährten. Und falls die Zielerfassungscomputer der Projektil den Weltraumtorpedo ins Visier bekamen. Düster-ernsten Blicks besah Ree sich den Planeten, der unter dem Schlachtschiff schwebte. Als erhaben-schöner Globus drehte Welt sich durchs All, ohne daß dort jemand ahnte, daß knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit von den Sternen der Tod heranraste. Sollte man den Torpedo verfehlen, mußten drunten alle sterben. Eine zweite Gele genheit bekäme die Projektil nicht. »
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DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
Darwin Pike senkte das Bein zurück auf den Fußboden, während die Ärztin die Anzeigen ablas. »Na?« »Die Aussichten stehen fünfzig-fünfzig, würde ich sa gen.« Die Frau sah sich auf dem Monitor einige grafische Darstellungen an. »Ohne Behandlung müßten Sie ohne jeden Zweifel in Zukunft eine Prothese tragen. Zum Glück verfügt Arcturus, wenn Sie schon unbedingt umherreisen mußten, über die besten medizinischen Behandlungsein richtungen des gesamten Direktorats.« Pike nickte seufzend. »Und von den Krebswucherun gen haben Sie den Eindruck, sie sind unter Kontrolle ge bracht?« Die Ärztin wog den Kopf hin und her. »Ich glaube ja. Das ganze Syndrom ist ausschließlich eine bloße Folgeer scheinung des Regenerationsprozesses. Er ist viel zu schnell forciert worden.« Pike spitzte die Lippen und nickte nochmals. »Wenig stens ist's nicht so schlimm, wie ich's befürchtet habe. Vie len Dank, Doktor. Ich weiß Ihre Kompetenz zu würdigen. Ich bleibe mit Ihnen in Kontakt.« »Und wenn Sie ein gesundes Bein haben wollen, lassen Sie es bei uns therapieren.« Pike nickte abermals, heftete den Blick auf Susan, während die Ärztin sich zur Tür entfernte, die romanani schen Posten passierte und ging. Susan lehnte sich zurück, rieb sich mit Daumen undZeigefinger den Nasenrücken. »Diese Übereilung habe ich zu verantworten, Darwin. Daran mußt du mir die Schuld geben.« Sie stand auf, setzte das Kontaktron ab und wir belte den Reif um ihre Finger. »Tja, die gute, alte Susan, durch und durch Waghals, aber keinen Verstand. Ich erle dige gerne alles schon gestern, damit ich nichts auf mor gen zu verschieben brauche.« »Ach was, reg dich ab. Ich mache dir keine Vorwürfe.« Pike erhob sich, fuhr zusammen, als er das Kribbeln spür
te, das die Behandlung in seinem Bein hinterließ. »Weißt du noch, wie's war, Susan? Auf Basar? Bei den Zombies? Erinnerst du dich daran, wie ich ausgesehen habe? Jawohl, ich habe mir die Aufnahmen angeschaut. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob ich es an deiner Stelle für vertretbar gehal ten hätte, einen Menschen daliegen und über solche Erleb nisse nachgrübeln zu lassen. Außerdem bin ich gebraucht worden. Als Berater des Admirals, entsinnst du dich? Es war 'ne kriegswichtige Entscheidung, stimmt's? Verant wortung? Schuldgefühle?« Er grinste. »Übrigens glaube ich, du hast mich auch damals schon gemocht.« Susan seufzte, lächelte ihn schüchtern an, schob sich eine verirrte Haarsträhne über die Schulter. »Weißt du, Pike, du kannst immer noch 'ne ganz üble Nervensäge sein.« Pike schmunzelte, hinkte zu ihr, warf einen Blick auf die Projektionen des Monitors. »Wie geht's voran?« »Mosche und ich haben mit der Einrichtung eines Hauptquartiers und dem Aufbau der erforderlichen Logi stik angefangen. Gemischte Streifen von Romananern und Patrouillensoldaten machen die Runde durch unruhege fährdete Distrikte Arcturus'. In Arkadia ist fast unverzüg lich ein Krawall ausgebrochen, aber Sam hat ihn ziemlich wirksam im Keim erstickt. Ein paar Stunden später hat 'n Trupp Schläger Sams Patrouille aufgelauert. Sam und seine Leute hatten großen Spaß. Zwar sind nur fünf Perso nen vor Ort umgekommen, aber eine komplette Wohnkup pel ist vertrimmt worden. Hunderte von verstörten Arka diern liegen jetzt in Med-Einheiten, um zerschlitzte Bäu che zusammenflicken und neues Haar nachwachsen zu lassen. Möchtest du mal das Gezeter der Em pörung hören? Verkniffenen Blicks sah Pike die immer längere Liste von Beschwerden und Anschuldigungen durch. »Und? Was willst du weiter unternehmen?« »Für 'ne Weile dürfen sie sich noch austoben. Dann werde ich 'n Erlaß bekanntgeben, daß Aufrührern das
nächste Mal keine medizinische Versorgung mehr zu steht. Sollen sie ihre Schädeldecke doch sonstwie verhül len ... Zwei Padri sind erwischt worden, wie sie Plakate mit Ngens Fresse aufhängten, auf denen der Bau eines Tempels verlangt wird. Ich lasse von den Medien Aus schnitte unseres Erkundungsaufenthalts auf Basar und anschließend längere Diskussionen von Psychingexperten der Universität senden. Weißer Adler hat die Padri feier lich zur Schleuse hinausbefördert. Die nächsten Padri, die sich in der Öffentlichkeit gezeigt haben, sind von Arka diern in Stücke gerissen worden. Ich glaube, allmählich gelingt's uns, was die Orientierung der Bevölkerung betrifft, das Blatt zu wenden.« Susan hob den Kopf. »Und was hast du gemacht, außer erstklassiges ärztliches Perso nal von der Arbeit abzuhalten?« »Möchtest du nachts wieder allein pennen? Nein? Na gut. Ich habe eine Veranstaltung mit führenden Gelehrten der Philosophischen Fakultät anberaumt. Es soll ein um fangreiches Gespräch stattfinden, bei dem Patan seinen Charme voll entfalten darf. Ich glaube, danach wird die Fakultät nach mehr schreien.« Susan nickte. »Ich besorge dir Sendezeit. Wir nutzen die Transduktionsanlagen und strahlen alles durchs ganze Netz aus. Das gesamte Direktorat soll's sehen und hören.« Noch einmal nickte Susan; ein düsterer Ausdruck furchte ihre Stirn. »Was ist?« Mit schlanker Hand winkte Susan ab und schüttelte den Kopf. »Ach, ich muß nur immer wieder an Sirius den ken. Mir fällt andauernd ein, daß Krieg nie den Verlauf nimmt, den man plant. Was wir tun, kann ohne weiteres den Tod von Milliarden Menschen nach sich ziehen.« Ernst erwiderte Darwin ihren Blick. *
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KYTHROS, SEKTOR MOSKAU
Kythros ist ein erdähnlicher Planet des Typs VII mit gewissen marsianischen Charakteristika. Nach der Erst besiedlung in der frühen Konföderationsära ist Kythros mittels artifizieller Vulkanismusstimulation zur stärkeren Nutzung des Sauerstoffzyklus einem ausgedehnten Terra forming unterzogen worden. Kontinuierliche Weiterbesied lung, die Einfuhr genetisch angepaßter terrestrischer Pflanzenarten sowie orbitale Ozonproduktion haben die Bewohnbarkeit des Planeten erhöht. Die Population wächst ständig. Die Mehrheit der Bewohner lebt in der Hauptstadt Kytheria, deren Bauten zum Schutz der Atem luft noch überkuppelt sind.
Regis Hyplar verschränkte die Arme auf der Brust, ein deutliches Zeichen der Ablehnung. In seinem Büro herrschte die säuberliche Ordnung unbedingter Effizienz. Im Sitzen oder Stehen warteten ringsum seine Mitarbei ter, die Blicke sorgenvoll auf die Monitoren gerichtet. Weshalb waren die Padri diesmal mit fünf Raumschiffen gekommen? »Es tut mir leid, Kapitän, aber wir haben eine Volksbe fragung durchgeführt. Der mißlungene Versuch Ihres Agenten, mich zu ermorden, hat die Abneigung unserer Bevölkerung gegen Ihre Politik um so mehr vertieft, und das gleiche kann man Ihrem Überfall auf Arcturus nach sagen. Wir möchten mit Schlächtern, die zig Millionen Menschen ermordet haben, keinen Umgang. Wir haben die von Damen Rees Stab gesendeten Holo-Aufzeichnungen gesehen. Darum bleiben wir dem Direktorat treu. Sie genießen hier kein Hafenrecht, also schlage ich vor, Sie fliegen nach Basar oder Arpeggio, oder Sie kehren dort hin zurück, wo Sie gestartet sind.« »Sie zwingen mich zum Durchgreifen«, antwortete Teder Vincente, indem er die Achseln zuckte. »Es ist jetzt das dritte Mal, daß Deus' Diener bei Ihnen um Einver ständnis vorsprechen, einen Tempel errichten zu dürfen. Wir haben Ihren Standpunkt zur Kenntnis genommen.« Das Holo erlosch.
»Das klingt ja, als würden sie niemals klüger.« Regis füllte tief die Lungen und atmete gedehnt aus, wandte sich um und sah seine Assistenz-Sekretärin an. »Glauben Sie?« Sie hob die Schultern, blickte ihm in die Augen. »Bis jetzt sind sie dazu unfähig gewesen.« »Tja ... So, wir gehen wieder an die Arbeit, Leute. Das Affentheater ist ...« , »Sir?« rief Will Weemer, beobachtete angestrengt sei nen Monitor. »Von den Raumern der Padri legen Shuttles ab. Sechs, sieben, neun ... Mindestens zwanzig müssen's sein.« »Shuttles? Aber ich habe denen doch klar gesagt ...« »Wir empfangen eine Funksendung.« Regis drehte sich um, heftete den Blick auf den Kommu-Monitor. Padre Teder Vincente schnitt eine grimmig strenge Miene. »Volk von Kythros, in dieser Stunde er folgt die Besetzung eures Planeten durch eine militärische Streitmacht unter dem Oberbefehl des Messias. Wer Widerstand leistet, wird erschossen. Wer sich friedlich verhält, dem wird nichts geschehen. Wir übernehmen die Kontrolle über euren Planeten. Jede Gegenwehr ist frucht los und wird bloß überflüssige Gewalt und sinnloses Leid verursachen. Sobald wir Deus' Tempel erbaut haben, erge hen weitere Weisungen.« Danach folgte Schweigen. Regis fuhr herum. »Wachpersonal alarmieren! Ich will ...« Die Erschütterung einer Detonation brachte das Direktorats-Verwaltungsgebäude ins Wanken. Durchs Fenster konnte Regis Feuer auflodern, Rauchwolken emporwallen sehen. Entgeistert starrte er hinaus. »Das war die Kaserne des Wachpersonals«, konstatier te Will halblaut. »Und dort fliegen die Shuttles an.« Auf den Bildschirmen ließ sich mitverfolgen, wie die deltaflügeligen Shuttles landeten, Rampen ausklappten, Aberdutzende bewaffneter Padri in Schutzpanzern her ausstampften.
»Was nun?« stieß Regis gedämpft hervor. »Wo bleibt die Patrouille? Ist denn überall der Wahnsinn ausgebro chen?« Teder gewährte ihm keine Gelegenheit zu weiteren Fragen. Auf dem Dach des Gebäudes explodierte eine gut plazierte Plastikbombe. Regis und seine Mitarbeiter fan den augenblicklich den Tod. In den Straßen unter der Kuppel schaute die fassungs lose Bevölkerung dem Einmarsch der seelenlosen Padri zu. Hier und da trat ein Mann oder eine Frau mutig auf und rief den Invasoren Beleidigungen zu. Systematisch wurde jede solche Person niedergeschossen, die entstell ten Leichen blieben liegen, wo sie fielen. Deus hielt auf Kythros Einzug. * * * DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
»Fühlst du dich ausreichend vorbereitet?« fragte Pike, hatte eine Hand auf Patans Schulter gelegt. Der Prophet blickte hoch, seine Miene nahm einen sanftmütigeren Ausdruck an. »Es hat alles längst begon nen, Dr. Pike ... Doch ja, ich bin bereit, und ich verspüre inneren Frieden. Aber ich muß dich fragen: Verhält es sich bei dir auch so? Du bist in mancher Hinsicht zu mitleidig, als daß es für dich selbst gut ist.« Darwin runzelte die Stirn. »So? Ich bin nicht derjenige, der dazu verurteilt ist ...« »Wir alle sind zu irgend etwas verurteilt. Das ist Spin nes Weg. Doktor, du darfst dich von deinen Gefühlen, dei nem Mitleid, nicht dazu verleiten lassen, mich etwa daran hindern zu wollen, meinen Teil des Wegs zu gehen. Verstehst du mich?« Pike setzte zum Widerspruch an. »Nein, Doktor. Gleich, was geschieht, du mußt beach ten, gegen wen und was wir kämpfen. Wenn du mitanse
hen wirst, wie ich der Gegenwart entrücke, mein Irrsinn zunimmt, rufe dir in Erinnerung, was du auf Basar er blickt hast. Ja, jetzt begreifst du mich, nicht wahr? Was zählt der Irrsinn eines Einzelnen im Vergleich zum geisti gen Tod einer ganzen Rasse?« Patan hob die Hand, drük kte Pikes Schulter. »Ich muß zu meinem Auftritt, mich der Galaxis zeigen. Vorhin ist der Erzbischof eingetroffen und hat an mich einige faszinierende Fragen gerichtet.« Einer nach dem anderen erbaten die Oberhäupter der Religionsgemeinschaften um Audienz, und Darwin gab ihnen Termine: Islamische Ajatollahs, jüdische Rabbiner, buddhistische Mönche, katholische Kardinale und neo christliche Priester, alle standen sie an, um eine Unterre dung mit Patan Andojar Garcia zu haben. Der Prophet ver ständigte sich ohne größere Mühe mit ihnen, stimmte ihnen zu, was die Heiligkeit ihrer Religion anbelangte, und erklärte ihnen, daß es sich bei Spinne lediglich um einen anderen Namen der höchsten Daseinsform handelte. Mit den Fundamentalisten kam er zurecht, indem er ihnen nachwies — solange sie die Seele als in Gottes Zu ständigkeit gehörig akzeptierten —, daß sie das gleiche wie er behaupteten. Vor lauter Neid vermochte Darwin Pike nur noch den Kopf zu schütteln. Patans Darlegungen ließen alles so plausibel klingen, entschärften irgendwie sämtlichen of fenkundigen, schwierigen Konfliktstoff. Aber er hatte sei nen Tribut zu zollen. Nach jedem Auftritt mußte Darwin ihn fast vom Podium tragen. »Es strengt fürchterlich an«, erläuterte Patan ihm. »Ich muß eine Art von Mittelpunkt finden, von wo aus ich gewissermaßen einen Teil meiner selbst in die Zukunft schicke, um zu erfahren, was meine Gesprächspartner sagen werden. Danach muß ich mir eine Antwort überle gen, mir die Entgegnungen zusammensuchen, die man machen wird, anhand dessen durchdenken, was wiederum ich erwidern will, und dann nochmals erforschen, was sie mir antworten werden, und so fort. Gelange ich in eine
Sackgasse, muß ich noch einmal ganz von vorn anfangen. Gleichzeitig muß ich so tun, als ob ich allen ihren Fragen und Argumenten mit äußerster Aufmerksamkeit zuhörte. Ich habe im Kopf Hunderte von Problemen gleichzeitig abzuwägen.« »Du solltest dich nun erst mal ausruhen, Patan. Für heute bist du fertig.« Darwin klopfte ihm auf die Schulter. Unterdessen begannen Patans Voraussagen sich auszu zahlen. Er prophezeite den Bruch einer sicherheitsrele vanten Schweißnaht im Amerikanischen Distrikt, der hun derttausend Einwohnern das Leben gekostet hätte. Darwin hatte seine Freude am Jubel der Menschenmassen, die Patan, während er den Distrikt durchfuhr, als ihren Held und Retter feierten. Doch nach jeder seiner Prophezeiungen zog Patan sich zurück, lehnte Essen ab, und seinen Augen konnte man ablesen, wie stark ihn strapazierte, was er tat. Seine längst verhärmte Miene verriet Erschöpfung und Furcht. »Es wird jedesmal schwieriger«, flüsterte Patan ein mal, »aus der Zukunft zurückzukehren.« Darwin Pike beobachtete, indem er dann und wann stutzte und staunte, den phänomenalen Umschwung im Denken und Fühlen der arcturischen Bevölkerung. Neue Lebendigkeit stand in den Gesichtern der Menschen. So gar die Wirtschaft erfuhr eine Belebung. Spinnensymbole erschienen an Orten, wo sie am unwahrscheinlichsten zu erwarten gewesen wären, beispielsweise der großen ka tholischen Kirche am Freien Markt. Der Bischof ließ die Spinne nicht entfernen. Patan nahm in der gewaltigen Sternenstadt, die um den Arcturus kreiste, an Gottesdiensten in allen bedeu tenden Tempeln, Synagogen, Kirchen, Pagoden und reli giösen Logen teil. Erfolg reihte sich an Erfolg. Eine Flut über Kommu gehaltener Anfragen nach Informationen bewirkte eine völlige Überbeanspruchung der Bibliothek. Nachdem der Prophet versichert hatte, Musik sei Balsam für die Seele, verschwanden nachgerade alle Musikin
strumente aus den Läden, waren über Nacht ausverkauft. Die Bekleidungsmode entwickelte einen ausgeprägten Trend, sich romananischem Stil anzupassen. Veteranen wie Jose Weißer Adler sagten, es wiederholte sich alles genau wie auf Sirius. Während man die romananischen Streifen ursprünglich gemieden oder angefeindet hatte, erhielten sie nun freies Essen und Einladungen zu Mahl zeiten, man bot ihnen kostenlose Unterkünfte und sexu elle Gunsterweise an, schenkte ihnen Andenken und be nahm sich ihnen gegenüber auch sonst in jeder erdenkli chen Weise freundlich. Ein echter romananischer Kriegs dolch bekam einen geradezu unschätzbaren Liebhaber wert, und schon belanglose Utensilien, die die Krieger in ihren Beuteln mitführten, konnten ein Vermögen einbrin gen. In den Kasernen stapelten sich die Sachzuwendun gen, mit denen man die Besatzungstruppen überhäufte. Sobald Darwin veranlaßt hatte, daß Patan ein ausgiebi ges Mahl verzehrte und sich unter dem Schutz seiner obli gatorischen romananischen Leibwache, befehligt vom stets argwöhnischen Jose Grita Weißer Adler, sicher hinter verschlossenen Türen befand, kehrte er in seine Unter kunft zurück. Dort war er umgeben von hochfein xylogra fierter Holztäfelung und mit dickem Svee-Lebendmoos auf dem Fußboden. Abwechselnd in Gold und Silber aus geführte Filigranarbeiten akzentuierten die Schnitzereien. Das Mobiliar hatte ein antikes Aussehen, die Sitzgelegenheiten im Innern jedoch Antigrav-Aggregate, die den Benutzer in der Schwebe hielten. Dank ihres kunstvollen Designs harmonierten die Kommu- Apparate mit dem übrigen Dekor. Die Luft war immer schwach aro matisiert, duftete nach einem Hauch Jasmin. Er überarbeitete gerade die Ansprache, die er am näch sten Tag vor der Versammlung der arcturischen Handels kammer zu halten beabsichtigte, um dem Text den letzten Schliff zu verleihen, da kam, Zermürbung in der Miene, Susan herein. »Du machst ja 'n schwer niedergedrückten Eindruck.«
»Wie kommt Patans Missionierungskampagne voran?« »Glänzend.« Darwin setzte das Kontaktron ab. »Heute haben die Christen praktisch kapituliert, nämlich die Er klärung veröffentlicht, Spinne sei ein Aspekt des Heiligen Geistes. Ich weiß verdammt nicht, wie das gerechtfertigt werden soll. Unter logischen Gesichtspunkten ist es nicht nachvollziehbar, aber der arcturische Papst hat's ex cathe dra verkündet.« »Ngen hat noch drei Planeten vernichtet«, sagte Susan, als hätte sie an Pikes Darlegungen kein ernsthaftes Inter esse. »Laut Rees neuester Nachricht ist den Padri wieder ein ganzer Raumsektor zugefallen. Wir haben sechs weite re umgebaute FLF mit Besatzungsmitgliedern der Viktoria und Miliken bemannt und sie in Ngens Machtsphäre in den Einsatz geschickt, damit sie in seinem Rücken operieren. Die Padri haben nochmals versucht, Sirius zu bombardie ren. Breeze hat sie noch rechtzeitig aus dem All gebla stert.« Sie hob die Hände; in ihren Augen war tiefe Besorgnis erkennbar. »Es ist alles eine Frage der Zeit. Die Padri unterwerfen so weite Bereiche des Weltraums, daß sie irgendwann durchbrechen und meine Heimatwelt ausra dieren werden. Die Höhe ist, Kythros ist von ihnen ein fach militärisch okkupiert worden. Nachdem die Kythe rianer die Baustelle, wo die Padri einen Tempel errichten wollten, planiert hatten, sollte diese Invasion wohl die er ste probeweise planetare Landungsaktion sein. Der Krieg eskaliert, Darwin. Er wird nun für jeden Einzelnen zu ei ner todernsten Sache. Wo wird er enden?« Darwin lächelte. »Die Miliken ist zum Arcturus beor dert worden. Du brauchst nicht zu befürchten, daß man uns im Hemd erwischt. Rita ist auch schon zu uns unter wegs und wird in wenigen Tagen eintreffen. Zumindest Arcturus droht keine Gefahr mehr. Wir erzielen hier er hebliche Fortschritte.« Mit kühlen Fingern strich Susan ihm an den Schläfen entlang. »Ich bin sehr beunruhigt, Darwin. Unser erster
umgebauter FLF ist vor einer Woche zum Padri-Weltraum gestartet. Unsere Kriegsschiffe werden immer mehr Pla neten schwarzsengen. Ngen wird Vergeltungsschläge befehlen. Beide Seiten schaffen in diesem Krieg verbrann te Zonen. Ganze Raumsektoren werden entvölkert. Etliche Autarke Stationen steuern volle Pulle unkartografiertes All an. Auf der Erde sind zwei FLF gekapert worden und vol ler Flüchtlinge wer weiß wohin abgedüst, um den Schrecken dieses scheußlichen Kriegs zu entfliehen. Ganze Planeten würden aufgegeben, könnten die Bewoh ner sie verlassen. Überall herrscht Aufruhr, die gesamte Menschheit hat entsetzliche Furcht vor den Padri.« »Die Transduktionssendungen haben ihre Wirkung.« »Sicherlich, die haben sie, aber wir haben den Men schen allen Rückhalt genommen. Es gibt nichts mehr, woran sie glauben könnten. Aus Grauen vor Ngen kommt es sogar zu Massenselbstmorden.« »Die Spezies als Ganzes ist toll geworden«, meinte Darwin leise. »Tod durch Psyching oder Tod durch Anti materie. Einen derartigen Krieg hat es noch nie gegeben.« »Wie wird er wohl ausgehen?« fragte Susan gedämpft. »Wird zum Schluß auch Welt vernichtet sein? Das Poten tial ist vorhanden, um alles auszulöschen, Darwin. Am Ende könnte jeder Planet von irgendeiner Bedeutung zu Staub zerblastert worden sein. Vielleicht sind dann bloß noch ein paar Habitatsstationen übrig. Es kann dahin kom men, daß komplette Raumsektoren völlig tot sind. O Gott ...! Welche Zwecke mag Spinne damit verfolgen?« Aus düsterer Vorahnung gruselte es Darwin. Er stand auf, schlang die Arme um Susan, dimmte die Beleuch tung herab, zog Susan hinüber zum Bett. Sie schmiegten sich aneinander. »Wir verlieren den Krieg«, flüsterte Susan voller Ver zweiflung. »Wir können Ngen nicht aufhalten.«
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KOMMANDOBRÜCKE DER VIKTORIA, RANDZONE DES WELT-SONNENSYSTEMS
Maya ben Achmad schmunzelte boshaft in die KommuKamera. »Sie haben die Wahl. Kapitulation oder Tod.« Sie richtete den Blick auf einen anderen Monitor, sah den umgebauten FLF auf der Bildfläche größer werden, indem die Viktoria sich ihm näherte, die modifizierten Gravo-Kompensatoren neutralisierten den vom Reaktor erzeugten, zusätzlichen Schub. Im Maschinenraum der Viktoria beobachtete Giorj Hambrei die Instrumente, tat alles, wozu er fähig war, um dem riesigen Patrouillen schlachtschiff die äußerste Leistung zu entlocken. Winston Zimbuti schluckte schwer, seine dunklen Ge sichtzüge erbleichten, als noch eine Salve seiner Blaster batterien wirkungslos an den verstärkten Schutzschirmen der Viktoria verpuffte. Nervös huschten seine Augen im mer wieder zu seinen Kommandobrücken-Monitoren. Maya hob den Kopf höher, sich dessen bewußt, daß er genau mitverfolgen konnte, wie die Viktoria ihm unerbitt lich näherrückte, ihre Schutzschirme unterm vergeblichen Feuer seiner Blastergeschütze zwar in allen Farben des Spektrums schillerten, jedoch standhielten. »Wir sind über die Konstruktion der FLF genau informiert«, fügte Maya hinzu, strich sich gelassen mit der Hand um den Hals, während sie Zimbutis Beunruhigung wachsen sah. »Nicht nur das, in dieser Entfernung befinden wir uns in Kern schußweite.« Über die Schulter wandte sie sich an ihren Ersten Offi zier. »Ben? Setzen Sie der Abraham einen Schuß in den vorderen Kühlraum.« »Verstanden, Obristin.« Maya heftete ihren Blick auf den Monitor des Feuer leitComputers, sah einen grellbläulichen Strahl zur Abra ham hinüberzucken, deren Schutzschirm durchschlagen,
eine leuchtstarke Explosion aufblitzen und Atmosphäre hervorbrodeln. In der Holo-Übertragung konnte man Zimbuti schwan ken sehen, als sein Raumschiff unter dem Treffer erbebte, auf seiner Kommandobrücke Alarmsignale gellten. Er klammerte sich an die Armlehnen seines Kommandoses sels, starrte auf die Anzeigen seiner deckenmontierten Monitoren. Ihm war der Unterkiefer herabgesackt und hatte gerade, weiße Zähne entblößt. Er atmete offensicht lich ziemlich angestrengt, als er wieder in die KommuOptiken schaute. »Braucht's noch mehr«, erkundigte sich Maya, »um Ihnen zu beweisen, daß ich es ernst meine?« Zimbuti schloß die Lider und schüttelte den Kopf. »Nein, Obristin. Ich muß kein Monitoring haben, um die Zeichen zu erkennen.« Aus seiner Kommu nahm er eine für Maya unhörbare Schadensmeldung entgegen. »Aber eine Wahl bleibt mir doch, Obristin«, sagte er, indem er seine Beachtung erneut Maya schenkte. »Ich kann mein Schiff sprengen, statt in Gefangenschaft zu gehen. Und wenn mein Torpedo sein Ziel trifft, haben sie es ohne Er folg zu beschützen versucht.« Maya beugte sich vor. »Kann sein. Aber ich würde wet ten, daß Damens Blaster Ihren Torpedo sehr wohl in die Zielerfassung kriegen werden. Wir kennen den anvisierten Vektor. Und was die Sprengung Ihres Raumschiffs angeht ... Wir legen keinen Wert darauf, Sie soweit zu treiben. Wir sind keine Ungeheuer, Winston, egal was Ngen behaupten mag.« Zimbuti verzog den Mund zu einem Ausdruck des Widerwillens, in der hellen Beleuchtung seiner Komman dobrücke glänzte Schweiß auf seinem breiten, schwärz lichen Gesicht. »Aber offen steht mir diese Möglichkeit.« »Das stimmt. Allerdings ist die Viktoria von Ihnen so weit entfernt, daß Sie uns nicht mit in den Untergang rei ßen können. Aber warum wollen Sie sterben, Kapitän? Sie sind noch ein junger Mann, Sie sind ein erfolgreicher
Schmuggler gewesen. Jahrelang hat Mendez versucht, Sie zu fassen. Weshalb Ihr Talent und Ihre Jugend verschleu dern? Übermitteln Sie uns Ihre Torpedo-Zieldaten — oder zerstören Sie den Torpedo selbst —, und Sie können bei bester Gesundheit bleiben, statt zu sterben. Außerdem weiß man nie, Winston, was die Zukunft noch bringt.« In Zimbutis Augen glomm Erbitterung, er beugte sich etwas näher an die Optiken, vollführte vor der Kamera eine wilde Gebärde. »Ich habe nicht vor, mich psychen zu lassen, Obristin. Weder vom Direktorat ... noch von den Romananern. Bis jetzt bin ich dem Gesundheitsministe rium immer entwischt.« Er deutete auf seinen Kopf. »Mein Gehirn gehört mir! Es ist unversehrt. Und so soll's auch bleiben. Habe ich erst einmal kapituliert, verliere ich jedes Recht, mein Leben selbst zu bestimmen. Kapiert, Obristin? In Ngens Streitkräften bin ich ein hohes Tier. Wollen Sie mir etwa einreden, man würde mir die vernich teten Planeten verzeihen? Ich dürfte das Leben behalten, obwohl ich daran mitgearbeitet habe, Ngens Zombiear meen aufzustellen? Und was, wenn mein Torpedo durch kommt? Wenn der Planet dort hinten in Stücke zerfliegt? Werden Sie darüber vielleicht hinwegsehen?« »Oh, hinwegsehen werden wir über nichts, Zimbuti. Aber ich will Ihnen einige Zusagen machen. Wir werden Sie nicht exekutieren, und Sie werden auch nicht ge psycht. Natürlich hat alles, was man tut, seine Konse quenzen. Sie sind Krämergeist, genug, um zu wissen, daß alles eine Frage des Gebens und Nehmens ist. Betrachten Sie's als 'n Handel. Ihr Leben gegen Informationen. Sie wissen über Ngens Organisation eine Menge. Wie möch ten Sie's haben? Wollen Sie weiterleben und die Chance nutzen? Oder sterben? Sie müssen sich entscheiden. Ihre Zeit läuft ab. Ben, unser nächstes Ziel ist der Reaktorraum der Abraham.« »Ziel anvisiert, Obristin.« »Ich lasse Ihnen fünf Sekunden, Zimbuti. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fü ...«
»Also gut!« Zimbuti hob die Hände. »Wir kapitulieren. Zu Ihren Bedingungen.« Mit merklichem Unbehagen schielte er umher. »Übrigens, Ngen wird mir sowieso zu abartig. Wissen Sie, was ich denke? Ich habe den Ein druck, er glaubt den ganzen Deus-Scheiß jetzt schon selbst.« Winston hob den Kopf, senkte die Lautstärke der Stimme. »Ich weiß 's nicht genau, aber ich und meine Jungs haben oft daran gedacht, uns abzusetzen, bloß wuß ten wir nicht wohin. Etwa zu den Wasserköpfen?« »Was ist mit dem Torpedo?« »Bedaure, Obristin, ich kann nichts tun. Die Zündung besteht bloß aus 'm Stasisfeld, das beim Aufprall zerfällt und die Antimaterie freisetzt.« »Übermitteln Sie uns die Vektordaten über Ihr Ge schoß. Reduzieren Sie die Geschwindigkeit und folgen Sie uns. Jede Kursabweichung wird Ihre unverzügliche Ver nichtung zur Folge haben. Alle ...« »Was wird aus meiner Crew, Obristin?« »Sie alle werden als Kriegsgefangene behandelt, Kapi tän. Das ist eine alte Konzeption, die auf lange Traditionen zurückgeht. Es bedeutet, daß wir Ihnen nicht kurzerhand die Rübe wegpusten. Nein, statt dessen wird man Sie vor aussichtlich irgendwo auf Welt internieren. Das Dasein ist dort nicht so übel. Pferche auszumisten und Dung zu Gär ten zu karren ist immer noch besser, als von jetzt an in alle Ewigkeit als Strahlung durchs All zu flimmern, nicht wahr?« Verdrossen verzog Zimbuti die Lippen. »Steuerraum«, rief er über die Schulter. »Geschwindigkeit verringern! Wir ergeben uns. Richten Sie sich nach den Kurskorrektu ren, die die Viktoria uns rüberfunkt.« Erneut blickte er Maya an. »Sie haben gewonnen, Obristin.« »Und Sie übermitteln uns die lückenlosen Zieldaten über den abgefeuerten Antimaterie-Torpedo.« Maya lehn te den Kopf in den Kommandosessel. »Wahrscheinlich wird Damen ihn abschießen ... Aber hoffen Sie für alle Fälle, daß es Ihnen erspart bleibt, sich auf einem Planeten
mit so heftigen klimatischen Turbulenzen, wie eine schwere. Antimaterie-Materie-Explosion sie nach sich zieht, aufhalten zu müssen.« Zimbuti blähte die breiten Nasenflügel und schlug sich — eine Gebärde der Hilflosigkeit — die Hände auf die Knie, »Feuerleitoffizier, funken Sie die Vektordaten des Torpedos der Viktoria zu.« *
*
*
KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL (IM ORBIT ÜBER WELT)
Damen Ree hatte seinen Kommandobrücken-Bildschirm im Augenmerk. »Tony! Verarbeiten Sie die Daten schnell weiter. Laden Sie sie in eine Reservedatei und verglei chen Sie sie mit den Informationen, die wir bisher durchs Monitoring gesammelt haben.« »Schon dabei, Admiral.« Anthony runzelte die Stirn, während die Computer die Daten verglichen. »Sieht ganz gut aus. Falls in dem, was sie uns übermittelt haben, 'n Fehler steckt, ist er minimal.« Rees Kiefermuskeln schmerzten, so fest biß er die Zähne zusammen. »Wie klein darf der Fehler sein, den wir uns erlauben dürfen, Tony? Das Ding ist vielleicht acht bis zehn Meter lang und fliegt mit achtundneunzig Prozent LG ein. Per Doppleranalyse empfangen wir bestenfalls Verschwommenes. Wir kennen den exakten Vektor nicht. Falls der Torpedo ein integrales Leitsystem hat, könnte es sein, daß er den Kurs ein paarmal geringfügig ändert und infolgedessen den Planeten doch trifft. Selbst wenn wir nur knapp danebenschießen, wird Welt ein toter Planet sein.« Tony schwieg, hatte sich vollends in die Computerbe rechnungen vertieft, koordinierte Sensordaten mit Zieler fassungsparametern und spektroskopischen Analysen.
Die Minuten vergingen. »Reaktor hochgefahren«, meldete Major Glick von sei nem Leitstand im Reaktorraum. »Kommt, kommt, schneller, schneller«, flüsterte Ree, beobachtete die Telemetrie, das Zusammenwirken der vielen elektronischen Augen, Ohren und sonstigen artifi ziellen Sinne, über die die Projektil verfügte, um das töd liche Geschoß auf seinem Kurs aufzuspüren. »Spinne, wenn ich dich je um eine Gefälligkeit gebeten habe, dann jetzt!« Zerstreut krampfte er die Fäuste um die Rückleh ne des Kommandosessels. Ringsum glänzte die geräumi ge Kommandobrücke in blitzsauberem Weiß, erfüllt von den Geräuschen der Männer und Frauen, die mit äußer ster Hast an ihren Posten den Dienst versahen. »Entfernungsschätzung in zehn Sekunden, Sir«, rief Tony. »Treffer-Fehlerquote unbekannt.« »Feuer eröffnen, sobald die Schußweite erreicht ist. Geschütze an Feuerleitcomputer koppeln. Spinne sei mit Ihnen, Leute, Sie müssen ins Schwarze treffen!« Pulsationen durchpochten die Projektil, während sie probehalber violette Strahlbahnen zwischen die Sterne verschoß. Sekunden verstrichen, man verfeinerte die Zielverfol gung. Ree blickte starr, die Hände zu Fäusten geballt, auf die Monitoren, wartete auf den grellen Blitz eines Tref fers. Auf Tonys Stirn schimmerte eine Schweißschicht. Damen wandte den Blick nicht von den Bildschirmen, obwohl die Blasterstrahlen, die wie Fühler aus Energie das All durchzuckten, vergeblich ein so winziges Ziel mit geringer Masse suchten, seinen Augen Beschwerden ver ursachten. Wo in all dieser Weltraumweite sauste der Tod heran? »Kommt, kommt, los doch«, knirschte Ree durch auf einandergebissene Zähne. »Spinne, hilf uns!« Sekunden schienen sich wie Stunden hinzuziehen, ja als wären sie endlos. Bläuliche Glutbahnen durchharkten das Weltall ohne Ergebnis.
»Maximaler Energieaufwand, Admiral«, drang Glicks Stimme in Rees Ohr. Jedes überschüssige Erg, das der Reaktor der Projektil produzierte, schoß aus den Blaster rohren der Geschützbatterien, um in alle Ewigkeit zwi schen den Gestirnen dahinzurasen, die Interaktion der Par tikel zerstreute jeden violetten Strahl schließlich ins Nichts. Und drunten schwebte Welt, ahnte nichts von dem Tod, der auf ihn zustürzte. »Los doch!« krächzte Ree, schielte nervös aufs Chro nometer. »Noch eine Minute bis zum Aufschlag, Tony. Wo steckt denn das verfluchte Ding?« Tony blieb stumm, konzentrierte sich voll auf die Kommu, leitete den Feuerleitsystemen ununterbrochen Daten zu. Es gab so viele Variablen zu berücksichtigen. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich der Torpedo näherte, hatte das All einen ähnlichen Widerstand wie Luft für ein Geschoß. Sonnenwind, Gravitation und sogar verstreute Wasserstoffatome beeinflußten seinen Kurs. »Wir empfangen ein Kerenkow-Bild.« »Ranholen!« »Wird schärfer ... schärfer ...« Die Schußrichtung der Blasterstrahlen änderte sich etwas, die mörderischen violetten Glutbahnen flimmerten weißbläulich, indem ihre Partikel auf ihrem Weg durch den Weltraum alles annihilierten. »Kerenkow-Bild wird klar, Admiral. Wir korrigieren Zielverfolgung.« »Verdammt noch mal, machen Sie schnell!« Ree wipp te auf den Zehen, starrte den Bildschirm an, sein Herz wummerte. »Heiliges Kanonenrohr, wo ist er?« »Noch dreißig Sekunden bis zum vorausberechneten Aufschlag«, rief die Pilotin halblaut herüber. Ree fing hin- und herzustapfen an, rang die Hände, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. »Zielverfolgung wird präzisiert«, sagte Tony, dessen
Stimme als einzige ruhig die allgemeine Anspannung durchdrang. »Bei Spinne, wenn Zimbuti uns hintergangen hat, werde ich ...« »Kerenkow-Schwelle überschritten! Ziel im Visier. Sechs null null eins eins drei. Feuer!« Ruckartig blieb Ree stehen, sah auf den Bildschirmen die mit unendlicher, für das bloße Auge kaum nachvoll ziehbarer Genauigkeit feinkorrigierten Blasterstrahlen flackern, in ihrer Zielrichtung ein grellweißes Aufflam men das Gespinst der bläulichen Glutstränge durchblit zen, sich übers gesamte Bild ausbreiten. »Kommu! Maximale Energie auf Schutzschirme schal ten!« Das Blasterfeuer der Projektil verschwand in geister hafter Lumineszenz, indem nun die Energie den Schutz schirmen zufloß, ihnen undurchdringliche Stabilität ver lieh, so daß sie den Strahlungsschauer der Explosion ab sorbierten. Ree sackte in den Kommandosessel, schnaufte nach Atem. »Bei Spinne«, nuschelte er. »Das war haarscharf am Untergang vorbei.« Tony setzte sich aufrecht hin, sein Blick klärte sich, als er das Kontaktron von der verschwitzten Stirn zog. »Da ist jemand mit uns geflogen.« Er wies auf die an die Decken platten gemalte Spinnendarstellung. »Und Zimbutis Daten?« »Lagen innerhalb der Variabilitätsparameter. Er hat nicht versucht, uns zu bescheißen.« Unter herabgezoge nen Brauen schaute Tony den Admiral an. »Ich würde so gar sagen, ohne seine Korrekturdaten hätten wir den Tor pedo wahrscheinlich verfehlt.« Ree blähte die Wangen, seine Schultern sanken herab. »Wissen Sie was? Ich werde allmählich zu alt für solche Aufregungen.« *
*
*
KONFÖDERATIONSSEKTION, ARCTURUS-STADT
Patan Andojar Garcia hob die Hände bis über den Kopf empor, aus den Augen glomm ihm die ganze Kraft seiner Persönlichkeit. »Ich bin zu euch gekommen, um euch Spinnes Botschaft zu bringen. So viele unter euch fühlen sich ratlos, sie betrachten ihr Leben und beschäftigen sich mit der Frage, ob ihr Dasein einen Sinn hat. Rings um euch seht ihr das Direktorat zerbrechen. Die Patrouille hat versagt. Und des Nachts schaut ihr die Sterne an und fragt euch, welche Schrecken euch aus den ungeahnten Fernen des Alls noch heimsuchen mögen. Ihr fragt euch, ob aus dem Universum jede Vernunft geschwunden ist.« Darwin Pike spürte, wie in ihm Spannung aufkam, während er die Antwort abwartete, ganz als wären die Worte des Propheten nur für ihn bestimmt. Vor ihm war ten atemlos dichtgedrängte arcturische Menschenmassen. Vor dem Angriff hatte die Halle einen weiten, freien Platz umfaßt; danach war sie als Flüchtlingslager genutzt wor den. Jetzt diente sie, nachdem die öffentliche Ordnung weitgehend wiederhergestellt war und die Reparaturarbei ten sämtliche Arbeitskräfte beanspruchten, Patan als Forum. Die starken Holo-Projektoren unter dem Hallendach übermittelten Patans Abbild den Aufreihungen der Transduktionsfunk-Trichterantennen und durch sie zu den Sternen. Hier im größten geschlossenen, unverbauten Raum Arcturus' erfüllte mit lautem Klang die Stimme der Menschlichkeit ihre Umgrenzung, hallte über das Men schenmeer des Publikums, das zusammengeströmt war, um die Predigt des Propheten zu hören. Spinne lag hier auf der Lauer, harrte geduldig auf seine Gelegenheit, um sich in die verzagten Seelen der Menschenwesen vorzuta sten, in ihrem Gemüt einzunisten. In Patans Augen tanzten Lichter, ätherischer Glanz schien sein Gesicht zu erhellen. »Es gibt in eurem Leben einen Sinn, meine Kinder. Ihr habt Seelen, die euer Band zur Gottheit sind.« Patans Stimme nahm an Tonhöhe zu.
»Es gibt in euch einen Funken, der Gottes ist. Vernehmt Spinnes Botschaft! Bewahrt und nährt diesen Funken. Hegt und behütet ihn. Zieht hin auf eure Planeten und zu euren Weltraumstationen. Schaut! Fühlt! Jubiliert vor Freude. Weint vor Trauer. Ihr seid da, um zu leben und zu lernen, jeden Augenblick eures Daseins auszukosten. Fürchtet den Tod nicht. Er ist nur das Vergehen des stoff lichen Körpers. Gott ist der immerwährende, ewige Teil eurer selbst. Was werdet ihr der Gottheit zurückgeben? Fragt euch, ob euer Leben des Vertrauens würdig ist, das Gott in euer Dasein gesetzt hat. Beantwortet euch die Frage, was ihr im Leben erfahren habt. Welches besonde re Juwel an Wissen könntet ihr Gott lehren? Die Suche nach dieser Kostbarkeit ist ein Auftrag, vor dem jeder von uns steht, der erhabener als die Suche nach dem Gral ist, vornehmer als die Vigilien des einstigen Rittertums, edler als das Martyrium der Heiligen ... Und sie ist in jedem von uns eine bleibende, lebendige Aufgabe! Fürchtet nichts als die Finsternis, die uns verschlingen will, denn der Unhold Ngen Van Chow hat vor, uns von Gott zu trennen. Seine Absicht ist es, uns unserer Seelen zu entkleiden, den gött lichen Funken in uns zu ersticken. Er macht Spinne das Prinzip der Entscheidung nach freiem Willen streitig. Um diese Schändlichkeit abzuwenden, verwirke ich meine geistige Gesundheit.« Jetzt leuchteten Patans Augen, er vollführte eine Geste, als wollte er die gesamte Menschen menge in seine Arme schließen. Darwins Blick huschte durchs Publikum, er beobachte te den Effekt, den die Prophetenpredigt ausübte. So wie Pike selbst lauschten die Menschen auf jedes einzelne Wort Patans. Alle außer der Gestalt im Kapuzenmantel, die sich an der Seite hielt. Darwin spähte zu der Erschei nung hinüber. Konnte es sein, daß es diesselbe ...? Nein, unmöglich. Gleich zog Patan wieder Darwins Aufmerk samkeit auf sich. Patan hatte die Lautstärke seiner Stimme gesenkt, sprach in ernstem, beinahe flehentlichem Ton. »Mir bleibt
wenig Zeit, um bei euch zu sein. Ich bin zu euch gekom men, um meine Liebe zu geben, mein Wissen und mich selbst. Das ist alles, was ich bieten kann. Gerne gäbe ich euch auch meine Seele, aber sie ist ewig und Gott zu eigen.« Sein scharfer Blick schien Darwin zu durchdringen, an die Stelle zu bannen, wo er stand. »Spinne beschützt den freien Willen. Wir Propheten, so haben viele von euch gehört, verzichten im allgemeinen darauf, die Zukunft zu beeinflussen. Sie beeinträchtigen nicht leichtfertig den freien Willen. Wagen sie dergleichen, droht ihnen Irrsinn. Auf diesem Weg liegt eine Falle, in die ich wissent- und willentlich gehen werde.« Plötzlich dröhnte seine Stimme wie Donner. »Ich werde zum Zeichen meiner Liebe zu euch und zu Spinne meine Seele in den Irrgarten der Zukunft senden. Ich werde mich frohen Herzens aufopfern, um Ngen Van Chow, den Schandfleck der Menschheit, zu vernichten.« Er sprach wieder leiser weiter. »Kann jemand mehr tun? Wenn ich mich opfere, geschieht es für euch.« Ein gütiges Lächeln auf den Lippen, ließ er seinen Blick über die Volksmenge schweifen, die sich vor ihm versam melt hatte. »Ich schaue die Zukunft. Ich sehe Ngen Tod und Zerstörung säen. Feuer und Tod ereilen den Halifax Sektor. Ngen will mit zwei umgebauten FLF die Bergwerkskolo nien der Quantum-Domäne in die Zange nehmen. Den Bewohnern der Quantum-Domäne, die ihre Seele vor Ngens Greueln retten möchten, rate ich: Eure Bergbau-Kosmoschlepper können in mit Antimaterie beladene RammRaumflugkörper verwandelt werden. Setzt sie gegen Ngens Kriegsschiffe ein.« Patan schwankte auf den Füßen, seine Miene hatte sich verzerrt, auf seinem wachsfahl geworde nen Gesicht bildeten sich Schweißperlen. »Der Planet Antares Fünf wird bis auf weiteres ver schont bleiben. Gute Leute, ihr erhaltet einen Aufschub. Ngen wird nun eure Vernichtung wollen, um zu bewei sen, daß ich nicht alles vorhersehe. Während ich diese
Worte spreche, schaue ich eure Rettung. Setzt euer Ver trauen in den jungen Volkstribun Markus. Er weiß Mittel und Wege ... um euch zu schützen.« Patan taumelte, die Anstrengung kerbte ihm tiefe Furchen in die Gesichts züge. Aus dem Publikum erscholl das Aufkeuchen vieler Kehlen. Darwin trat vor, doch Patan wies ihn mit einem Wink zurück. Der Prophet hob den Blick der vor Qual feuchten Augen zu den Kameras, die sein Bild in den gesamten Direktoratsweltraum übertrugen. »Die Zukunft ... lockt mich«, sagte er mit einem Aufstöhnen. »Wie herrlich wä re es, dem Schicksal in die Arme zu fallen, meinen Geist in die Verästelungen und Verzweigungen des Künftigen entschweben zu lassen, sie sich verändern zu sehen, in dem ein jeder von euch seine Cusps entscheidet ...« Patan straffte sich zu voller Körpergröße. »Ngen Van Chow!« schrie er zornig. »Hüte deine Trainingsbasis im Ambrosius-Sektor! Ich sehe die Überfälle, die du auf Re fugium und Apasha auszuführen planst. Dort haben die Menschen sich den Machenschaften deiner Tempel wi dersetzt und den Glauben an die eigene Religion be-wahrt. Ihr Gott hat sie erhört. Sie werden dich erwarten. Du kannst sie nicht mehr überraschen. Sie vernehmen meine Stimme. Sie wissen, daß Spinne über sie wacht, ihnen dabei hilft, sich selbst zu helfen. Tausende von Seelen sind vor deinen scheußlichen, niederträchtigen Anschlägen gerettet worden.« Zitternd schüttelte Patan trotzig eine hochgereckte Faust. Aus den Reihen des Publikums ertönte ein Stimmenge murmel ehrfürchtigen Staunens. »Die Zukunft ruft mich«, raunte Patan in plötzlicher Desorientierung. »Ach, in ihre Wonne hinsinken zu dür fen ... Warum verharre ich auf diesem Gerüst der Martern und der Pein?« Sein Gesicht wandte die Augen in selbst vergessener Sehnsucht einer für Darwin unwahrnehmba ren Vision zu.
Das Schweigen in der riesigen Halle schien ohrenbe täubend zu sein. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Patan sich in die Gegenwart zurückgerissen hatte. Sein Blick klärte sich, überschaute erneut die jetzt reglose Masse seines Publi kums. »Eure Liebe und Hingabe sind es, die mich zurük kholen. Dank jener unter euch, die meine Worte wahrhaft hören, finde ich wieder zu euch, setze ich den Kampf gegen Ngen fort. Mit jedem unter euch, der sich voller Abscheu von Deus abkehrt, verzeichne ich Erfolg. Jeder von euch, der zu lernen und sein Leben durch Erfahrung zu bessern schwört, macht mir die Aussicht des bevorste henden Irrsinns erträglicher. Mein Tod wird nicht verge blich sein.« Seine Stimme gewann wieder an Lautstärke, schwoll gemeinsam mit dem ebenfalls erneuerten, lebhaf ten Leuchten in seinen Augen zu neuer Ausdrucksstärke, einer Säule der Kraft empor. Die Kraftfülle, die Patans Persönlichkeit ausstrahlte, brachte Darwin beinahe ins Wanken. Sie erfüllte den Saal mit spürbarer, ansteckender Intensität. Es schien, als wüchse der magere Prophet, nähme an Statur zu, würde er eins mit der Menschheit. »Ich bin Spinnes Macht!« dröhnte die Stimme des Pro pheten wie Donnerhall. »Ich bin die Zukunft! Ihr ... ihr seid die Zukunft!« Vor ihm wogte die Menschenmenge vorwärts, wälzte sich wie Brandung auf ihn zu, drängte gegen die EM-Barrieren, die sie von ihm trennte. »Wir sind die Zukunft!« griff ein Mann aus der Vielfalt der Gesichter das Schlagwort auf. Man wiederholte den Ausruf mit vielstimmigem, tumultösem Aufschrei. »Spin ne!« fing das Publikum zu skandieren an. »Spinne! Spin ne! Spinne!« Unter Patan Andojar Garcias Armen begann der Takt eines leidenschaftlich-erregten Singsangs zu brausen. Darwin sah die Kapuzengestalt durchs Gewühl stre ben, unbewußt gaben die Leute ihr den Weg frei. Er
bemerkte, wie das sonderbare Individuum allem Anschein nach die Reaktionen der Menschen auf die Worte des Pro pheten beobachtete. »Weißer Adler?« »Hier.« Weißer Adlers Stimme knisterte aus Darwins Ohrhörer. »Seht ihr die Gestalt mit der Kapuze?« »Verstanden. Ja, Person ist erkannt.« »Sie war auf Basar in Ngens Tempel. Oder ihr Zwil ling. Versucht sie anzuhalten, wenn die Veranstaltung vor bei ist. Aber ohne Aufsehen.« »Verstanden, Doktor. Wir haben sie im Auge.« Während langer Minuten lärmender Ovationen stand Patan wie ein ungebeugter Baum da, bis Darwin sich schließlich besann und die Saalbeleuchtung dämpfte. Kaum war der Prophet den Blicken der Zuschauer entzo gen, brach er zusammen, blieb als schlaffes Bündel Mensch auf dem Podium liegen. Die Kehle aus Furcht beengt, kauerte Pike sich neben ihn, zwängte die Hände unter Patans schweißigen, heißen Körper, hob ihn an. Lasch wie Fleisch ohne Knochen kippte Patan ihm in die Arme. Der Prophet hustete, murmelte mit fast unhörba rer Stimme etwas vor sich hin, seine Augen hatten sich nach oben verdreht. Wäre nicht die hitzige Rötung seines Gesichts gewesen, hätte er einem Mann an der Schwelle des Todes geähnelt, Zwei Angehörige des Andojar-Clans kamen gerannt, entledigten Pike des Gewichts. »Schnell, schafft ihn in seine Unterkunft.« Die Krieger legten den besinnungslo sen Propheten in ein Airmobil, sausten durch verlassene, weiße Korridore. Susan betrat, ein Kontaktron auf dem Kopf, in der Hand ein tragbares Terminal, die Unterkunft des Prophe ten, gerade als Darwin den wie ein Gerippe dürren Leib Patans auf dem Bett ausstreckte. Pike bewegte einen Dia gnosescanner an ihm entlang, checkte die Lebenszeichen. »Wie schlimm steht's um ihn?«
»Er braucht Ruhe. Wir stellen ihn unter ärztliche Auf sicht. Sollte sein Blutzuckerspiegel wieder zu tief absin ken, müssen wir ihn nochmals in 'ne Med-Einheit legen.« Susan nickte, ihre Haare umwehten sie in seidig schwarzen Wellen. Der Kontrast, den das weiche Haar zum scharfgeschnittenen Knochenbau ihres Gesichts bil dete, ließ ihre Miene um so zierlicher wirken. »Wie macht er das nur? Sogar auf den Observations-Monitoren hatte er eine überwältigende Wirkung.« »Ja, und die Leistung bringt ihn um.« Darwin zwinker te gegen seine Müdigkeit an, während er die hinfällige Gestalt betrachtete, die vor ihm lag. »Jedesmal wenn er die Zukunft beeinflußt, steht er unter dem Druck, immer mehr Abänderungen vorzunehmen. Er verschleißt seine Kräfte dabei, sich diesem Drang zu widersetzen. Ich glau be, er ist wie ein Falter, der ein offenes Feuer sieht. Irgend wann wird er darin verbrennen.« »Ich habe immer gedacht, ich sei tapfer«, sagte Susan leise, faßte Darwins Hand. »Aber er wirft die Fäden für Spinnes Netz in der ganzen Galaxis aus. Er ist der Mut und die Hoffnung der Bevölkerung. Er gibt ihnen den Fingerzeig in die rechte Richtung und den Willen zum Leben.« Pike befestigte Monitoring-Elektroden an Patans ent kräftetem Fleisch, begleitete Susan aus dem Zimmer und veranlaßte, daß Weißer Adlers Untergebene die Wache übernahmen. »Darwin?« Jose winkte Pike mit erhobener Hand bei seite. »Diese Person mit der Kapuze ...« Er senkte den Blick. »Es ist merkwürdig. Es scheint, als ob er ...« »Raus mit der Sprache.« »Nun, als ob er sich einfach in Luft aufgelöst hätte. Ich habe die Posten verdoppelt. Alle Krieger sind gewarnt worden, daß vielleicht ein Meuchelmörder umher schleicht, der's auf den Propheten abgesehen hat, und wer den deshalb nur leicht schlafen.« »Halte mich auf 'm laufenden.« Besorgt gab Darwin
ihm einen Klaps auf die Schulter und schloß sich Susan an. Sie durchquerten den bewachten Korridor zu dem opu lenten Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten. Pike zog das verschwitzte Hemd aus und hängte es auf einen Stuhl, während Susan sich ins Kommu einklinkte, um sich über die aktuelle Lage zu informieren und ein paar letzte Änderungen des Dienstplans anzuordnen. »Du siehst ganz schön angeschlagen aus«, sagte sie, während sie sich hinter Darwin stellte und seine Schul tern zu massieren anfing. »Er gibt soviel ... Ich ... ich muß Tag für Tag mitan schauen, wie er sich zugrunderichtet, kenne genau das Opfer, das er sich abverlangt. Und ... und ... nutzt es wirk lich etwas? Er bringt sich um ... für sie alle. Ist denen das eigentlich klar? Bedeutet es ihnen wenigstens etwas? Ver dammt noch mal!« Er hieb eine Faust aufs dicke Plastik einer Kommode. »Irgendwo draußen im All ist Ngen ... und lauert.« Susan beugte sich vor und küßte Darwins Hals. »Um's offen klarzustellen, noch kennen wir den Effekt, den er hat, gar nicht. Aber es ist Patans Cusp, Darwin. Überlaß ihm die Entscheidung. Von dir hat Spinne das deine schon eingefordert.« »Tatsächlich? Woher sollen wir das wissen? Er hat Leeta Dobra, Philip Eisenauge, Freitag und Hans zu sich gerufen. Wie viele werden's noch sein, Susan, und wer? Du? Ich?« Zerstreut blickte Darwin ins Weite. »Patan hat mich vorgewarnt. Ich ... ich habe bloß nicht geahnt, daß es solchen Kummer verursachen könnte. Ob ... ob uns jemand zuhört?«
33
QUANTUM-DOMÄNE, HALIFAX-SUBSEKTOR
Die anfängliche Erforschung fand in den Jahren 2380 bis 2397 statt. Während der Konföderationsära erfolgte die Besiedlung durch Autarke Stationen, angelockt von den nach montanindustriellen Maßstäben besonders fün digen Lagrangschen Punkten rings um das örtlich als 'Hel ler Knabe' bekannte Primärgestirn des Sonnensystems B 2. Die aktuellen Volkszählungsinformationen verweisen auf eine in insgesamt zwölf verschiedenen, an LP positio nierten Stationen wohnhafte Population von vierunddrei ßigtausend Personen. Die Industrie betreibt Schürftätig keit zur Gewinnung von Erzen und kommerziell verwert baren Keramikkristallen aus Asteroidenverwertung. Offen sichtlich beruht der Wohlstand der Region auf einem ano mal hohen Prozentanteil an Oktahedrit- und Ataxit-Asteroiden, von denen einige bis zu 30 km Durchmesser haben. Außer so kostbaren Rohstoffen geben ³He, Galliumarse nid, Siliziumkarbidfasern und Graphite wichtige Produk tionszweige ab. In jeder praktischen Hinsicht ist die Quantum-Domäne eine ebenso isolierte wie wirtschaftlich unab hängige stellare Region, deren Import/Export in Quartals abständen durch vollautomatische FLF im Interstellaren Pendelverkehr (IPV) befördert wird.
Feng Gosh Wan schlang ein blasses, dünnes Bein um den Stuhl, einen langen, pilzförmigen Auswuchs, der aus der Wand ragte, die den zylindrischen, beigefarbenen Konferenzsaal einfaßte. Wan musterte seine Ratskollegen, die den Eindruck erweckten, als wollten sie hauptsächlich die Wandsegmente gegenüber betrachten, ihre Kopfbehaa rung in Gegenrichtung des Blicks gesträubt, nach der Seite, von der sie sich gerade abgewandt hatten. Der Bild schirm erlosch, die Transduktionssendung des Propheten im fernen Arcturussystem war zu Ende. In der Stille, die der Übertragung folgte, wirkte das
Geräusch der lebenswichtigen Pumpenanlagen, das die Station durchdrang, ungewöhnlich laut. Die Mienen rundum verrieten Betroffenheit. »Die Pa dri ... kommen zu uns?« meinte Fiper Dish, schwebte hin über zum Kaffeeautomaten und drückte sein Null-GeTrinkglas in den Zapfstutzen. »Anscheinend«, sagte Feng Gosh Wan. »So hat die Warnung des Propheten gelautet. Wir können die Kosmo schlepper verminen. Er hat prophezeit, das wäre unsere Rettung. Es dürfte wirklich besser sein, wir lassen nicht zu, daß ...« »Wieso zu uns ?« In Sing Hamiltons Gesicht stand Ungläubigkeit. »Ich glaube diesem Propheten nicht. Er behauptet, die Zukunft zu sehen. Niemand kann in die Zukunft schauen. Was für eine Art von Gott ist dieser Spinne überhaupt? Deus ist mehr nach meinem Geschmack. Meine Großeltern stammten von der Erde. Sie haben mir von Jehowa erzählt. Das ist ein Gott, wie man ihn sich ...« »Und was ist im Ambrosius-Sektor passiert?« hielt Wan ihm entgegen. Sein Blick durchschweifte den Kreis verstörter Mienen. »Kommt, Kollegen. Die Zeit ist da, um einen Entschluß zu fassen. Wie der Prophet es genannt hat: Es ist unser Cusp.« »Die Patrouille wird ...«, begann Teng Fry Bang. »Die Patrouille ist zu den Spinnenkriegern übergelau fen«, widersprach Wan, stieß sich mit einem Tritt ab und schwebte in die Mitte des Konferenzsaals. Langsam dreh te er sich in der Schwerelosigkeit um seine Achse, blickte nacheinander jedem seiner Ratskollegen ins Gesicht. »In unserer Galaxis vollziehen sich Veränderungen.« Er unter strich seine Äußerungen durch knappe Gesten der Hände. »Es verhält sich, wie der Prophet sagt: Wir müssen uns entscheiden. Wir haben Holos der Kämpfe auf etlichen Planeten gesehen. Wir kennen die Holos, die die Romana ner in von den Padri okkupierten Weltraumstationen auf genommen haben. Ich persönlich weigere mich, in eine
geistlose Menschmaschine verwandelt zu werden. Mir ist die Vorstellung unerträglich, mein Recht auf Gedanken freiheit könnte derartig ...« »Der Messias lehrt, daß alle, die Deus' Hand berührt, in ewiger Seligkeit leben«, kolportierte Hamilton. »War um sollten wir den Spinnenanhängern glauben, wenn der Messias ihre Sendungen zu Lügen erklärt? Zu gegen sei ne Wahrheiten gerichteter Propaganda?« Wan lächelte, seine stengeldünnen Arme vollführten eine gezierte Gebärde der Sympathie. »Fliegt er nicht mit Kriegsschiffen an, um uns Deus' Lebensweise zu besche ren?« Er neigte den Kopf auf die Schulter. »Muß Seligkeit durch Blaster gebracht werden? Ist es vielmehr nicht so, daß er das Helium drei braucht, das Alabandit, Carlsbergit, Gold, Chrom und die Galliumarsenide, die wir in der Quantum-Domäne gewinnen? Uns bleibt nur begrenzte Zeit zum Diskutieren. Was mich angeht, mich überzeugt vieles von dem, was der Prophet predigt. Auf BergwerksKosmoschlepper mit abgeschalteten Funksignalisatoren sprechen Raumschiffs-Ortungsgeräte nicht an.« Zum Zeichen der Zustimmung bewegte Fry Bing den Kopf. »Antimaterie ist billig. Ich bin dafür, daß wir unse re Kosmoschlepper verminen. Wenn wir sie den Padri ent gegenschicken, sobald sie in ihren Kriegsschiffen ein treffen, sind wir in Verteidigungsbereitschaft. Falls die Padri nicht aufkreuzen, haben wir nichts außer Zeit ver loren. Und wie schlimm wäre das schon? Wegen des Kriegs sind sowieso sämtliche Planungen durcheinander geworfen. Und wir werden feststellen, ob der romanani sche Prophet nur ein Maulfechter ist. Sollten die Padri kommen, wie er es angekündet hat, haben wir eine neue Wahrheit entdeckt.« Begeistert schloß Wan sich ihrem Standpunkt an. »Wenn das Direktorat zusammenbricht, könnten diese Romananer die künftigen Inhaber der Macht sein. Im Falle es möglich wird, daß wir unsere Autonomie erklären, lie ßen sich unsere Mineralien zu höheren Preisen verkaufen.
Die Romananer haben Toron anzubieten, und wir handeln mit Rohstoffen.« Hamilton wirkte skeptisch. »Ihr wollt mit den Romana nern um mehr Kredits schachern? Das ist kein Verhalten, das dem Allgemeinwohl dient. Es ist gegen die Doktrinen das Direktorats. Ihr würdet Menschen das Essen vom Mund wegreißen, um eure Taschen zu füllen? Ich kann kaum glauben, daß ihr so tief gesunken seid.« »Die Lehren des Spinnenpropheten widersprechen al lem, womit wir vom Direktorat indoktriniert worden sind«, räumte Wan unbekümmert ein. »Aber gleichzeitig sendet Arcturus seine Predigt. Die Romananer haben dem Direktorat Schutz vor den Padri zugesagt. Sie haben Arcturus den Frieden gesichert. Ihr habt doch die Holos gesehen. Der Messias hat Millionen von Menschen abge schlachtet.« »Romananer haben seine Planeten zuerst angegriffen!« »Und ihr habt den Grund gesehen! Ich will Freiheit für die Quantum-Domäne. Ich möchte ...« »Um welchen Preis?« fragte Hamilton. »Ich schlage vor, wir ergreifen Verteidigungsvorkeh rungen und lassen's nicht darauf ankommen«, brummte Wan im Brustton der Überzeugung. Der Rat schritt zur Abstimmung. Die Kosmoschlepper befanden sich in Position, wäh rend die zu Kriegsschiffen umgerüsteten FLF einflogen, ihre Kapitäne die unverzügliche Kapitulation der Quantum-Domäne forderten. Es war Wan, der per Fernsteue rung die Antimaterie-Stasisfelder desaktivierte und Ngen Van Chows Raumschiffe vernichtete. Am folgenden Tag sah man die weißen Schotts der Stationen innerhalb der Siedlungsregion mit Spinnen bemalt. Zum erstenmal in der Geschichte der Quantum-Domäne bestellten die Bewohner als Gegenleistung für ihre nächste Ladung wertvoller Metalle und Keramikgrundstoffe Bücher. * * *
ANTARES V, AMBROSIUS-SEKTOR Antares V, dessen anfängliche Erschließung durch Siedler wäh rend der Endzeit des Weltsowjets geschah, genügt zahlreichen Kriterien des Titan-Modells. Die erste Siedlung auf Antares V, einem großen, kalten Planeten, machte ihren Anfang mit einer Verarbeitungsanlage, die aus den Aerosolschichten der antari schen Atmosphäre organische Polymere extrahierte. In der Fol gezeit entwickelte Antares V sich zu einem Vorposten für die Erforschung des Ambrosius-Sektors. Unter diesen Umständen schlug er sich zum Sturz der Sowjets auf die Seite der Bruder schaft, hatte danach jedoch zu geringes politisches Gewicht, um auf die Konföderation Einfluß auszuüben. Während Industrie in gewissem Umfang auf Antares V ihren Standort beibehielt, ten dierte die ökonomische Expansion im Innenbereich des Ambrosius-Sektors zum Übergehen des Planeten. Die Volkszählung schätzt die Population auf ca. 1,2 Millionen terrastämmige Bewohner, die in den unter der planetaren Oberfläche ausgeho benen Tiefbauten ansässig sind, die angelegt wurden, nachdem die Polymergewinnungsich nicht mehr lohnte und man statt des sen leicht abbaubare Mineralien und Toron entdeckt sowie sich auf geothermische Energieerzeugung umgestellt hatte.
Fidor Roch, Direktoratskoordinator auf Antares V, empfand Unbehagen, während er sich die Sendung mit der Predigt des Propheten ansah. Natürlich erfolgte die Über tragung in jede Wohnung und auf jeden öffentlichen Bild schirm auf dem gesamten Planeten. Die Menschen mußten sich davon tief betroffen fühlen. Und was sollte das hei ßen, sie wären bis auf weiteres verschont worden? Er blickte zum Fenster hinaus, betrachtete das Wallen des Methan-, Ammoniak- und Nitrogengemischs der At mosphäre außerhalb der Kuppel des alten Regierungszen trums. Eigentlich war es schiere Dummheit, hier oben herumzustehen, wo jederzeit ein Meteor durchs Dach knallen konnte; doch auf der Oberfläche standen die Trichterantennen, befanden sich die Startplätze zu den Transferstationen, die Shuttle-Verkehrskontrolle und
sämtliche anderen Infrastruktur- und Verwaltungseinrich tungen. Und hatte der verdammte Prophet ausgerechnet Mar kus erwähnen müssen? Unwillkürlich zuckte Roch. War um mußte der Prophet ein dermaßen unglaublich schlech tes Urteilsvermögen haben, gerade diesem Ver-rückten ein Forum zu geben? Indem er verdrossen vor sich hinbrummte, klinkte er sich ins Kommu. Markus Vyhar folgte einer Drohne in die luxuriösen Büroräume, in denen Fidor Roch präsidierte. Aus bösen Augen schaute er sich mißgünstig im Büro um, ehe er den Blick auf den weißhaarigen Koordinator heftete. »Bin ich jetzt endlich verhaftet?« »Sie haben die Rede des Propheten gesehen?« fragte Roch, dessen Aufmerksamkeit noch vornehmlich den Dünsten außerhalb des Kuppelbaus galt. »Habe ich. Wie er wohl von mir erfahren hat?« Nervös blickte Markus sich im Zimmer um, überlegte wohl, wo die Aufnahmegeräte verborgen sein mochten. »In der vergangenen Woche hätte ich beinahe verfügt, daß Sie gepsycht werden. Sie sind ein sozialer Störfaktor. Sie verführen die Jugend zu karrieristischem Anspruchs denken. So etwas bringt die Gesellschaft aus dem Gleich gewicht ... Es verursacht Konkurrenzdenken, Profitgier und letzten Endes Gewalt.« »Die Leute, die sich zu meinen Auffassungen beken nen, sind der Ansicht, daß es an der Zeit zu mancherlei Änderungen ist. Ich meine ... Also, Mann, sehen Sie sich doch bloß mal um! Wir stecken hier in einer Sackgasse. Manche von uns wollen eben mehr. Wir verlangen eine Chance, etwas aus unserem Leben machen zu können, statt nur immer eine Frachtladung nach der anderen zur IPV-Station hinaufzuschießen.« Er hob die Arme, ließ sie schlapp fallen. »Und was das betrifft, um was Sie sich sorgen, habe ich den Eindruck, daß uns sowieso Gewalt bevorsteht. Das heißt, falls der Prophet recht hat.«
Da er ohnehin schon mit dem Leben abgeschlossen hatte, setzte sich Markus, ohne um Erlaubnis zu fragen, auf eine Couch. Roch rieb sich im Nacken. Schweigen zog sich in die Länge. Schließlich stützte Roch die Fingerkuppen aneinander. »Sollten die Padri als Invasoren zu uns kommen, wie der Prophet es vorhergesagt hat, was würden Sie dann tun?« Markus sprang auf, in seinen Augen glomm ein seltsa mes Leuchten. »Können Sie 'n Holo des ganzen Planeten projizieren, ich meine eins, das sämtliche Tunnel, Kuppeln und Strollen zeigt?« Augenblicklich ließ Roch die gewünschte Darstellung mitten in die Luft projizieren. Markus stapfte rundherum, verkniff die Augen, nickte. »Günstiger als wir dachten«, brummelte er. »Sie und Ihre Ruhestörer haben längst darüber nachge dacht.« Roch fletschte die Zähne. »Unser Geheimdienst ist keineswegs debil, Markus. Nur dem von den Padri verur sachten Wirrwarr und ihrem Überfall auf Arcturus haben Sie's zu verdanken, daß Sie noch in Freiheit sind.« »Tja, Mann, und nun brauchen Sie uns, hä? Weil wir nämlich sozusagen alle im selben Boot sitzen, wenn die Padri mit ihren Psychingapparaten kommen. Na schön, hören Sie zu. Da, hier und dort« — Markus deutete mit dem Finger — »könnten wir Sprengladungen zünden. Dann wär's nur noch auf zwei Wegen möglich, ins Plane teninnere vorstoßen. Uns fehlt es an allem, um zu verhin dern, daß die Padri den Orbit unter ihre Kontrolle brin gen, oder daß sie auf dem Planeten landen, wo's ihnen paßt. Wenn wir ihnen die äußeren Stollen überlassen, wer den sie glauben, sie hätten die planetare Oberfläche in ihrer Gewalt.« »>Glauben<, so ein Quatsch! Sie werden sie in ihrer Hand haben.« »Von mir aus«, gestand Markus dem Koordinator zu. »Also werden sie alles weitere ruhig angehen, hm? Sie dürften glauben, es sei nur 'ne Frage der Zeit, bis wir ka
pitulieren müssen. Diese beiden Korridore sind wir we nigstens einen Tag lang zu verteidigen imstande. Weil es auf den Strecken, die sie okkupieren, 'ne Sauerstoffver sorgung gibt, werden sie nicht allzu sehr um ihre Sicher heit fürchten. Leute werden achtlos, wenn sie glauben, sie hätten alles unter ihrer Fuchtel. Sie werden damit aufhö ren, Atemmasken mit sich umherzutragen. Die Dinger sind ja lästig, stimmt's?« »Drunten haben wir auch eine, 'ne zweite Sauerstoff versorgungsanlage. Worauf wollen Sie hinaus?« Roch war eindeutig verwirrt. »Ich kapiere nicht, was ...« »Wir verminen die Oberflächenschleusen da, da und da.« Markus feixte. »Wenn wir die zwei Hauptzugänge sprengen — so daß sie auf hundert Metern Strecke fest verschlossen sind, meine ich — und anschließend mittels Fernzündung die Oberflächenschleusen, was passiert dann?« »Mein Gott!« Roch fuhr von seinem Platz hoch. »Damit erledigen wir sie allesamt auf einen Streich. Wenn das Methan und der Sauerstoff zusammenströmen, wird das Gemisch katastrophal brennen.« »Aber nicht explodieren«, stellte Markus klar. »Es bleiben genug unentzündliche Edelgase übrig, so daß die Padri einfach nur geröstet werden. Die blockierten Zugangstunnel werden uns vor der Hitze schützen. Ich schlage vor, wir graben gleichzeitig zwei neue Tunnel an die Oberfläche, sie werden auf den direktoratsamtlichen Lageplänen nicht ersichtlich sein. Ich könnte einige unse rer Leute dafür ausbilden, zur gleichen Zeit, wenn wir die Schleusen sprengen, den Gegner auf der Oberfläche zu attackieren. So müßte es uns gelingen, den Planeten von den Padri zurückzuerkämpfen. Ohne große Unordnung, ohne viel Umstände. Aber Ihr Büro hier, Mann, das ginge freilich drauf.« Roch lehnte sich zurück. »Darf ich annehmen, daß Sie mit Ihrem Kooperationsangebot Ihre Politik aufgeben?« Markus schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Erst
mal müssen wir den Planeten retten, hm? An erster Stelle will ich am Leben, Denken und Atmen bleiben. Ein ge psychter Zombie Ngen Van Chows zu sein, habe ich kei ne Lust. Und außerdem, Mann, sollten Sie sich mal mit dem Propheten befassen. Er bringt was völlig Neues. He, Mann, Leeta Dobra war's, die das alles in Gang gesetzt hat. Viele von uns haben mitverfolgt, was im Umraum des Spinnenvolk-Planeten aus Ree geworden ist. Daraus haben wir was gelernt. Es wird nie mehr wie früher sein. Machen Sie mit — oder sind Sie dagegen?« Roch lachte auf, schmunzelte. »Anscheinend hat die Welt sich verändert. Verfahren Sie, wie Sie's als richtig erachten, Markus. Ich für meinen Teil traue diesem Pro pheten. Der Romananer hat nicht erwähnt, welche Frist uns bleibt, deshalb fangen Sie am besten sofort an. Sagen Sie mir, was getan werden muß, und ich garantiere die Logistik.« Binnen weniger Stunden begannen in den Korridoren Antares' V Spinnenbilder aufzutauchen. Markus enga gierte sich bei den überstürzt aufgenommenen Aktivitä-ten mit allem Nachdruck, vertrat währenddessen das Ideal individueller Freiheit. Sein Vorbild wirkte. Arbeiter trie ben, von ihm mitgerissen, neue Tunnel durch die Pla netenkruste, sangen dabei Spinne gewidmete Lieder, ver minten die bislang vorhandenen Schleusen mit Spreng sätzen. Auf diese Weise vorbereitet, wartete Antares V grim mig auf die Padri. * * * STATION TIERBAULT, SOL-SEKTOR
Bei der im Jahre 20 75 der Sowjetischen Ära gegründeten Station Tierbault handelt es sich um eine der ältesten Autarken Stationen des Direktoratsweltraums. Einige Bestandteile der Station datieren bis in die Zeit zurück, als
man bei der montan-industriellen Tätigkeit der Sowjets in der Achillesgruppe derauf der Jupiter-Umlaufbahn in L 4 Position befindlichen Trojaner erste Solarenergie-Satelliten einsetzte. Später demontierte man die Station und ver legte sie immer weiter aus dem Solsystem hinaus, wäh rend sie ununterbrochen expandierte, um die wachsende Einwohnerzahl ernähren zu können. Im Anschluß an die Relokation nach Barnards Pfeilstern wurde Station Tier bault mit einem Materie-Antimaterie-Kraftwerk ausgestat tet und ging von da an eigenständig auf Suche nach Klein nebeln und Asteroidenakkumulationen. Laut letztem Stand der Volkszählung beträgt die Population schät zungsweise 1,6 Millionen Einwohner. Im Laufe der Jahr hunderte ist zusammen mit der Station auch die industriel le Basis gewachsen. Station Tierbault besteht heute aus einem durch Anbauten erweiterten Zylinder von 8,2 km Länge sowie 1,5 km Durchmesser und produziert einige der qualitativ hochwertigsten Gewebe, Elektronika, Isolier materialien und Bauindustrie-Fertigteile des ganzen Direk toratsweltraums.
Station Tierbault, eine der ältesten Autarken Statio nen, rotierte unaufhörlich, während sie durch die kosmi sche Staubwolke trieb, von der sie seit fünfhundert Jah ren ihre Existenzsicherung bezog. Der umkonstruierte FLF des Messias dockte seit fünf Tagen am Ende der Zentralachse. Pieter Vas Goah sah den Padri erbittert bei den Arbei ten am Tempel zu. Natürlich war die Transduktionssen dung des romananischen Propheten zum illegalen Tabu erklärt worden. Um einen Transduktionsempfänger zu basteln, brauchte es, wie bei so vielen Dingen, keine son derlichen Fähigkeiten, und seit der Funksendung Dr. Lee ta Dobras waren rings um die Außenwandung Station Tierbaults zahlreiche Empfänger installiert worden. Also schaute Pieter sich samt einem Großteil seiner Freunde und Bekannten den Verlauf der Bauarbeiten an. Er hatte die Augen des Propheten gesehen, seine Qual und Opferbereitschaft erahnen können, die Ausstrahlung
seiner Persönlichkeit gespürt. Jetzt sah er die Arbeitskräf te der Padri am Werk. Ihre Augen stierten stumpfsinnig, genau wie man es bei den Leuten in den Holos von Basar gesehen hatte. Solche Zustände sollten auch hier geschaf fen werden? Er blickte sich nach seinen Bekannten um, die ihn be gleitet hatten, ihn umstanden. Einer von ihnen malte ge rade eine Spinne an eine Wand. Der Romananerprophet hatte gesagt, die Padri stählen Gott — Spinne — die See len der Menschen. War es dann nicht besser, man starb und gab Spinne zu wissen, daß man das Leben zu schät zen gewußt hatte? »Ich bin ein Mensch«, konstatierte Vas Goah. »Wenn ich dort hinüberschaue, sehe ich nichts als Vieh. Geistlose menschenähnliche Hüllen.« »Hast du schon das Neueste gehört? Kythros hat sich widersetzt, und daraufhin sind vom Messias mit Blastern bewaffnete Truppen geschickt worden. Die letzte Über tragung von dort zeigte, wie man Menschen in die Tem pel trieb ... Sie erschoß, wenn sie sich sträubten.« »Da steht nur ein Wächter«, stellte Taeler leise fest. »Wir müßten seinen Blaster erbeuten, den Rest könnten wir mit bloßen Händen umbringen.« »Bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, sich gegen die Padri zu behaupten«, warnte jemand anderes. »Nur den Romananern.« »Hat's denn außer ihnen je irgendwer versucht?« frag te Vas Goah. »Ob man uns auch den Geist rauben will?« Er lachte sarkastisch. »Übrigens habe ich zu hören gekriegt, daß die Romananer die Direktoratsbevölkerung als Schafe bezeichnen. Schafe, ja? Habt ihr euch je wie Schafe gefühlt?« »Es wäre mir immerhin lieber, als ein Zombie zu sein.« Micah, eine junge Frau, schüttelte den Kopf. »Wie es wohl ist, nicht mehr zu denken? Menschen müßten bei der Vorstellung doch halb verrückt werden, daß ihr Denk vermögen ... einfach so ausgelöscht werden soll.«
»Es gibt in Station Tierbault viele Leute, die ehrlich glauben«, äußerte ein Bärtiger, »der Messias sei von Deus gesandt worden.« Pieter Vas Goah wandte sich ihm zu. »Mein Gott ist Deus nicht. Spinne ist mein Gott. Ich bin ein Teil Spinnes. Hier in meiner Brust schlägt nicht nur mein Herz, sondern wohnt auch meine Seele. Ich und Gott, wir sind ein und dasselbe. Verstanden? Was bedeutet der Tod einem Men schen, der weiß, er hat Gott in sich?« Vas Goah fühlte, sich dessen bewußt, daß sie von Spinne ausging, innerliche Wärme. Seiner Gürteltasche entnahm er ein kurzes Stück Metall. Mit einem Laserschleifer hatte er die Spitze, die hell wie ein Spiegel glänzte, zu einer Schärfe geschliffen, die bis auf die Molekularebene reichte. Das Metallstück ruhte kühl und schwer in seiner Hand. »Seht ihr die Leute?« fragte Vas Goah. »Die Men schen, unsere Einwohner, stehen herum und gaffen, sie kommen gar nicht auf die Idee, daß sie einschreiten könn ten. >Die Padri sind da<, sagen sie, >wir werden tun, was die Padri verlangend. Und das ist falsch!« Er vermochte seine leidenschaftliche Erregung nicht aus der Stimme fernzuhalten. »Wir sind Teil Spinnes, und Spinne wünscht nicht, daß wir Schafe sind!« »Ich kann den Padri abservieren, der Wache steht«, meinte die blonde Micah. »Es ist kein Grund ersichtlich, wieso Deus Gott sein sollte. Was der Prophet über Spin ne predigt, macht für mich Sinn. Spinne erklärt mir, daß es Ordnung und einen Daseinszweck gibt. Welches Ziel hat Deus? Mich zur Geistlosigkeit zu erniedrigen?« Sie holte ein Vibro-Messer unter ihrem Cape hervor. »Nein, statt Schaf zu bleiben, möchte ich lieber Romananerin sein.« »Wenn du den Posten erledigst«, sagte Vas Goah, aus dessen Mienenspiel Eifer leuchtete, »wird der Rest von uns die Padri töten, die am Tempel arbeiten. Sollte es da zu kommen, daß sie uns töten, dann werden sie — beim Bart meines Großvaters! — freie Menschen hinmorden.
Dann werde ich sterben, um Spinne diese Tatsache mitzu teilen. Daß sie einen freien Mann ermordet haben.« Micah lächelte, während sie zu der Wache schlenderte. Sie hatte trotz mancher Jahre der Hurerei in den Tavernen ein unvermindert attraktives Äußeres. Sie schmiegte sich an den Wächter, nahm verführerische Posen ein, während sie ihm ins Ohr flüsterte. Lüstern besah der Mann sie sich, beugte sich vor, versuchte ihre Brüste und ihren Hintern zu begrapschen. Er brach zusammen, als sie die Klinge durch seinen Leib schnitt und ihn praktisch zweiteilte. »Für Spinne!« schrie Vas Goah, stürzte sich mit seinem spitzen Stück Stahl auf die geistlosen Arbeitspadri. Fünf Tage hindurch erschütterten Krawalle Station Tierbault, bis blasterbewaffnete Padri auch die letzten Oppositionellen ausgemerzt hatten. Innerhalb einer weiteren Woche war der Tempel fertig, ein glänzend-neues Gebäude, in das vom Hauptkraftwerk der Station dicke Stromkabel mündeten. Hocherfreut hiel ten alle, die sich zu Deus bekannten, hocherhobenen Kop fes, Kolonne um Kolonne, in den Tempel Einzug, um ihren angekündigten Heiland zu preisen. Die hohe Zahl der Unbekehrten beschränkte sich aufs Zuschauen, wun derte sich über den Unterschied, als ihre Mitbürger glasi gen Blicks zu den Seitenpforten wieder herauskamen, die Miene selig, aber geistlos. Mit Unbehagen betrachtete die Mehrheit der Bevölkerung die da und dort hingemalten Spinnendarstellungen — und die Blutflecken auf den Geh wegen. Als die Padri erneut ausschwärmten, Menschen vor den Blasterläufen in den Tempel nötigten, konnte man rasch immer mehr Spinnenbilder sehen. Über Nacht ver fiel Station Tierbault in die Konvulsionen, in den Alp traum eines blutigen Bürgerkriegs. *
* *
STATION SOLAKRIIS. RANDZONE ZWISCHEN AMBROSIUS- UND GULAGSEKTOR
Anfangs trug die Station nach dem Planeten, den sie umkreist, die Bezeichnung Solakriis III. Gebaut in der frü hen Konföderationsära — im Zeitraum ca. 2380 bis 2400 —, diente die Station als Brennstoffproduzent und lieferte schweres Wasser sowie Helium drei, die für die ersten Fusionsreaktoren unerläßlichen Grundelemente. Solakri is, das Primärgestirn des Solakriissystems, ist eine Klasse-R-V-Typ-K-Sonne mit variabler Leuchtstärke, ein soge nannter T-Tauri-Stern. Die Station umläuft den Planeten Solakriis III, einen dem Jupiter ähnlichen Gasriesen mit einem hohen Gehalt an flüssigmetallischem Wasserstoff um den Nickel-Eisen-Kern. Infolgedessen erarbeitete die Abraumindustrie unter Ausnutzung der Kräfte der planeta ren Magnetosphäre allmählich verbesserte Extrahier-Verfahren, behielt jedoch die traditionelle Gewinnung gasför miger Brennstoffe durch die Partikelsammler-Absaugmethode bei. Volkszählungsschätzungen zufolge nähert die Population sich gegenwärtig einem Stand von fünfhun derttausend Einwohnern.
Solakriis schwebte wie eine altmodische, riesige Pravaz-Spritze im Orbit, deren Nadel immerzu in die wolkige Oberfläche des vielfarbig gestreiften Gasriesen gebohrt blieb. Im Licht der Sonne gleißte Station Solakriis weiß lich, die um den Hauptzylinder aufgereihten Tori hatten Ähnlichkeit mit einem Stapel Reifen. Reede, Antennen und Transduktions-Trichterantennen hätten der Druckkol ben sein können. In der weiten, innen unbebauten Kuppel des Hauptzy linders blickte Ngen Van Chows Gesicht herab auf eine große Versammlung von Fluidtechnikern, Elektrolysespe zialisten, Karbonylprozessoren und Containingexperten. Das Auditorium war voll besetzt; der gewaltige HoloMonitor nahm eine komplette Wandfläche ein. »Satan sucht uns heim!« heulte Van Chows Stimme durch die Kuppel. »Er hat seine Krallen in das Direktorat geschlagen, um Deus von den Seligen zu trennen!«
Die in seinen Bann gezogene Menschenmasse starrte sein Abbild an, viele verhielten sich wie Hypnotisierte, man sah Leiber in Spasmen religiöser Ekstase zucken. »Schart euch zusammen, meine Brüder«, rief der Messias. »Treibt Satans Schändlichkeiten aus! Säubert euch vom Makel seiner unreinen Klaue! Tod sei Spinne und seinen Machenschaften!« »Tod!« grölten Zuschauermengen im Chor. »Tod! Tod!« »Deus bedeutet Freiheit!« übertönte Van Chows Stim me sie. Peng-bumm! Plötzlich erlosch das Holo, als Projektor und Monitor zersprangen, ihre Bruchstücke ins Publikum hagelten. Wo eben noch Van Chows Gesicht die Wand ausgefüllt hatte, schmorte und brannte jetzt nur Plastik. Aus den vorderen Reihen der Versammlung, die mitSplit tern der Bombe überschüttet worden waren, erschollen Schreie. Ein Aufheulen der Empörung entfuhr den Zuschauern. Auf einmal betrat ein einzelner Mann das Podium, sein Blick schweifte über das Gewimmel der Versammelten. »Spinne ist Gott«, rief er, verschlug damit der Volksmen ge fürs erste die Sprache. Halblautes, von Untertönen der Wut durchzogenes Getuschel raunte aus dem Gewoge der dichtgedrängten, im ersten Schreck vom Podium zurückgeprallten Gestal ten. »Hören Sie mir zu«, rief der Mann. »Es ist weit genug gegangen. Wenn es Deus gibt, wenn er Frieden beschert, wo bleiben sie dann? Statt dessen sehe ich, wie Krieg das Direktorat durchtobt. Was schickt uns Ngen außer Holos? Wo war in den Aufnahmen von Basar Frieden zu sehen?« »Gotteslästerer!« kreischte eine Frau, stürzte nach vorn, wies mit dem Finger auf den Sprecher. »Tod dem Gottes lästerer!« Der Mob besann sich, stürmte vorwärts, zerrte ihn vom Podium herunter. Tausende von Solakriiten, die an
Kommu-Apparaten die Veranstaltung mitverfolgten, sahen voller Entsetzen, wie der Pöbel den Mann in Stücke riß, sich an seinem Blut berauschte. Am nächsten Tag begannen Spinnenbilder auf den Wänden zu erscheinen, und Holo-Aufzeichnungen der Prophetenpredigt fingen mit Van Chows Holos zu konkurrieren an. Indem die Gemüter sich erhitzten, kam es zu Gewalttä tigkeiten. Die schöne Orbitalstadt Solakriis erbebte von Explosionen, Tod und Zerstörung griffen um sich. Den Tempel, an dessen Errichtung die Padri sich gemacht hat ten, riß man nieder. Zwei Wochen später war auch der letz te Padre in die Gasschwaden des Planeten hinabge-schleudert worden. Mit einem gänzlich neuen Gefühl ge-genseitigen Respekts blickten die aufgeschreckten, ver-störten Solakriiten sich sorgenvoll an und gingen, sichschmerz lich der hohen Zahl von Mitbürgern bewußt, die im Namen einer Religion den Tod gefunden hatten, an die Aufgabe, ihr Leben wieder zu normalisieren. *
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* REFUGIUM, GULAG-SEKTOR
Die Besiedlung Refugiums, kaum mehr als eine wüste, von Winden umfegte Gesteinskugel, geht auf die spätso wjetische Epoche zurück: Nach dem Streik des Jahres 2098 deportierte Bergarbeiter wurden auf dem unwirt lichen Planeten abgesetzt. Die zunächst winzige Refugium-Kolonie erlebte ein ständiges Wachstum. In der Kon föderiertenrevolution stand Refugium auf der Seite der Bruderschaft und konnte von da an expandieren, weil sich für die mühsam aus dem harten Untergrund geschürften Edelsteine und -metalle ein aufnahmefähiger, nachfrage starker Markt fand. Wegen der atmosphärischen Stürme, die während der turbulenten jahreszeitlichen Wechselpha sen Geschwindigkeiten von über 600 km/h erreichen, ent wickelte die refugianische Zivilisation sich unter der Plane tenoberfläche, entfaltete sich im Labyrinth der mittels
schwerer Montanlaser angelegten Bergbaustollen. Auf grund der Gravitation von 1,95 Ge litten die Refugianer während der ersten beiden Jahrhunderte unter erheb lichen Anpassungsschwierigkeiten: Schlaganfälle, Herzver sagen sowie Kreislauf- und Verschleißleiden traten besonders häufig auf. Trotzdem entstand bis zur sechsten Generation ein belastbarer, kleinwüchsiger, stämmiger Menschenschlag. Bereits unter dem Joch des Direktorats war Refugium ein perma nenter Unruheherd gewesen und hatte Dr. Leeta Dobras Funk sendung mit Neugierde und Genugtuung aufgenommen. Zu lange schon mußten die Refugianer auf ihrer staubtrockenen Welt am äußersten Ende der Wasserversorgung vegetieren.
Während aus dem Orbit die Padri herabgeschwärmt kamen und sich den Untergrund-Raumhafen als befestig ten Landungskopf einrichteten, sahen die langmüti duldsa men Bewohner Refugiums ihnen erstaunt zu. Als Tage später die Padri loszogen und mit schußbereiten Blastern eine kleine Gruppe Bürger in den gerade fertiggestellten Tempel abzuführen versuchten, ergab sich ein Aufruhr, der dreihundert Refugianern das Leben kostete. Zu diesem Zeitpunkt entdeckte Juri >Tito< Amahghre, daß Montanlaser, benutzte man sie, um sich gegen Militärmodell-Blaster zu wehren, auch ihre mörderische Wirkung hatten. Er und seine vierschrötigen Kumpel nahmen ihre Geräte in die behaarten Fäuste und laserten die Padri buchstäblich in Fetzen. Der FLF in der Umlaufbahn ebnete unverzüglich die wenigen, aerodynamisch konzipierten Gebäude der Stadt ein. Die Refugianer verbrachten drei Tage mit Bohren und Graben sowie dem Einbuddeln von Sprengladungen im soliden Granit des uneinnehmbaren Raumhafens. Die zwecks Vergeltung gezündete Explosion zerstob sämtli che anwesenden Padri, ihre Shuttle und den Tempel in Atome. Zwei Monate später schwenkten fünf FLF in die Kreisbahn ein und landeten Tausende von aufgeputschten Padri, die mit rachedurstigen Kampfgeschrei zum Angriff übergingen.
Die refugianischen Bürger legten auf den Strecken Bomben, säuberten Tunnel mit Montanlasern von Padri und sprengten Blindschächte, um Eindringlinge auf Soh len zu ersticken. Tage später gruben sie sich zu den Toten durch, sammelten die Waffen ein und verwendeten sie, um an die Oberfläche vorzustoßen. Eine Patt-Situation trat ein. Aus ihren Löchern spähten die Refugianer hinauf an den Himmel, den sie vom Boden aus nicht beherrschen konnten, grinsten sich an und beteten zu Spinne. Damen Rees Gesicht blickte aus einem schneeigen Holo. »He, Admiral, tut uns leid, daß die Bildqualität nicht so gut ist, aber 's ist schwierig, 'ne taugliche Trichteranten ne zu fabrizieren, wenn man bloß 'n Krater und 'n paar Drähte hat. Und das ist nicht 's einzige Problem. Auch Hyperkonduktoren werden durch Sprengmitteleinwir kung ... äh ... sagen wir mal, 'n bißchen verformt.« Infolge der Stromschwankungen flackerte Rees ver schwommenes Abbild. »Und was stellen Sie sich vor, was ich für Sie tun soll, Mr. Amahghre? Zur Zeit können wir Ihnen keinen Beistand bieten. Van Chow setzt uns unter zu vielfältigen Druck.« »He, um Refugium machen Sie sich mal keine Sorgen, ja? Wir wollen nur, daß Sie wissen, Ihr Prophet hat Refu gium aus 'm Herzen gesprochen. Spinne schütze Sie, Admiral. Spinne schütze auch Sie, romananische Krieger! Wenn Sie was brauchen, wenden Sie sich an uns. Wir sind fair. Liefert uns Wasser, und wir tauschen es gegen ver dammt kostbare Edelsteine und guten Chromstahl ein.Wir werden hier aushalten. Bloß können wir nicht an diese Scheißschiffe im Orbit ran.« Ree lachte. »Sobald alles vorbei ist, schicken wir Ihnen Wasser, Mr. Amahghre.« »He, Sie und die Romananer dürfen mich Tito rufen. Dieser Ngen Van Chow, er müßte Mister zu mir sagen. Kommen Sie geflogen, sobald Sie Gelegenheit haben, und blastern Sie uns diese Dreckspadri aus 'm Orbit. Bis dahin
halten wir durch. Wir machen uns solang über Spinnes Absichten Gedanken und beschäftigen uns mit der neuen Bedeutung des Daseins. Klar?« Auf der Kommandobrücke der Projektil verblaßte das Bild in gräulich-blauem Geflimmer. Ree schüttelte den Kopf. »Refugium? Ist das ein Planet?« »Jawohl, Sir. Es sind Informationen archiviert. Es muß eine wahrhaft höllische Welt sein. Die Menschen müssen wie Maulwürfe im Felsgestein hausen. Ich ver mute, die Bevölkerung hat sich den dortigen Bedingun gen stark anzupassen gehabt, die Schwerkraft beträgt nämlich fast zwei Ge. Es gibt kein Wasser außer dem, das sie dem Granit entziehen können, und lediglich begrenztes Fabrikationspotential.« Ree kratzte sich am Kinn. »So, Tito? Und er und seine Leute haben die Padri bis auf weiteres abgeschmet tert? Tja, Tony, ich denke mir, dann müssen wir tatsäch lich bei nächster Gelegenheit ein Raumschiff dorthin in Marsch setzen. Bei Menschen von der Sorte wird's mir einfach immer irgendwo warm ums Herz.« Anthonys Brauen rutschten in die Höhe. »Sie stecken mitten in Ngens Hegemoniesphäre.« »Er hat gesagt, sie würden durchhalten.« Ree ging zum Spendeautomaten und drückte die Kaffee-Taste. »Und irgendwie glaube ich ihm.« *
* * STATION APHAS, SOL-SEKTOR
Wegen einer Streitigkeit, über die in den Direktoratsarchi ven kein Aufschluß mehr zu erlangen ist, spaltete die späte re Station Aphas sich im Jahre 2460 von Station Santa Cruz ab. Ökonomisch gesehen, ist Station Aphas ein Mikromontan-Unternehmen, das heute zum Betrieb seines Fusionsre aktors einen hochmodernen Bussard-Partikelsammler ver wendet. Die Mobilität der Station wird durch einen leistungs
fähigeren Materie-Antimaterie-Antrieb gewährleistet; aller dings hat die Station keine Überlichtflug-Kapazität. Neue Volkszählungsdaten beziffern die gegenwärtige Population Station Alphas auf rund siebenhunderttausend Menschen. Die Gesellschaft unterliegt einer Zweiteilung; ausschließlich die ältesten Senioren beider Sozietäten fällen im Konzil die endgültigen Beschlüsse über Wirtschaftsbeziehungen, Kurs der Station usw.
Pedro Angustura, wohnhaft in Station Aphas, hatte Spaß an Lektüre. Ihn begeisterte der Zauber des geschrie benen Worts, das Lesen war seine große Leidenschaft. Die Alt-Senioren hatten gehofft, als sie den Beschluß faßten, den Bau eines Deus-Tempels zu genehmigen, sie könnten damit das heilige Vermächtnis Guadalupes wiederbeleben. Pedro hatte der Aufforderung seines Vaters widerstanden, den neuen Tempel der Padri aufzusuchen. Als die Eltern und seine kleine Schwester nach Hause zurückkehrten, ihnen Begeisterung für Deus, ja Verzückung aus der Miene strahlte, war Pedro ein wenig neugierig geworden. »Warum ist Deus Gott«, fragte er, »und nicht Spinne?« »Spinne ist der Satan. Satan ist die Hand des Bösen. Du wirst in meinem Haus nie mehr seinen Namen nennen!« Pedro nickte und hockte sich wieder an seine Bücher; außerdem fing er an, sich die Holos des Messias und die Prophetenholos vom Arcturus anzuschauen und sie mit einander zu vergleichen. Es erregte sein Interesse, als er auch die Holos von Basar mit Aufnahmen aus anderen Sonnensystemen verglich. Endlich begriff er, daß es sich beim Tempel in Wirklichkeit um nichts anderes als eine Psychinganlage handelte. Er schaute hinüber zu seinem Vater, der im Lehnstuhl saß und stumm betete. »Wann gehst du wieder in den Tempel, Vater?« »Wenn Deus mich ruft. Du wirst morgen hingehen, mein Sohn. Deus hat mir offenbart, daß alle den Tempel besuchen müssen. Die Mehrheit leistet ihm Gehorsam. Es ist gut, Deus zu gehor chen, mein Sohn.«
»Der Tempel ist nicht Gott, Vater. Man hat dort dein Gehirn gepsycht.« Pedro empfand Überdruß. Sein Vater hatte ihm nie nahegestanden, nicht näher als die vielen Freunde seines Vaters der Familie standen. Mama, seine Stiefmutter, war ganz nett, aber gab sich reserviert. Es fehlte an familiärer Bindung und Liebe. Je länger Pedro darüber nachdachte, um so stärker wurde seine Überzeu gung, daß die Padri ein Unrecht begingen. »Du hast nichts als Satan im Kopf!« schnauzte Senor Angustura, sprang auf, um seinem Sohn ein Ohrfeige zu verpassen. Pedro wich dem Hieb aus und betrachtete sei nen Vater vom anderen Ende des Zimmers aus. Er ent sann sich der Worte des Propheten, sie schwirrten ihm wie Fliegen durch die Gedanken. »Ich gehe morgen zum Tempel«, versprach er; der Alte nickte und widmete sich wieder seinen Gebeten. Pedro ging zum Tempel, betrat ihn allerdings nicht. Er sah zu, wie Menschen durch das große, ornamentierte Hauptportal hineindefilierten; manche erweckten einen Eindruck der Unsicherheit und Ängstlichkeit. Er sah, daß Männer eine Anzahl Personen vor Blastermündungen ins Gebäude führten. Sie wirkten eingeschüchtert, genau wie die Menschen, die man in den Informationssendungen des Propheten gezeigt hatte. Sklaverei. Entweder ließ man sich psychen — oder wurde umgelegt. Andere lächelten selig vor sich hin, ihr Gesichtsausdruck spiegelte inneres Glück wider, von der geistlosen Hingerissenheit des Gemüts glotzten ihre Augen glasig. Wenn die Leute anschließend den Tempel verließen, bemerkte man an ihnen allen dieselbe Art zu gehen und zu reden, das gleiche Lächeln. Niemals kam jemand durch das Portal heraus, durch das er den Tempel betreten hatte. Pedro stellte darüber seine Überlegungen an und kehrte zu seinen Büchern heim. Seine Freunde und Lehrer hatten ihm stets vorgeworfen, was für ein sonderbarer Junge er sei. Einige hatten angedeutet, es wäre viel-leicht besser, sein Vater ließe ihn psychen, ihm einmal gründlich das
Hirn zurechtrücken. Sefior Angustura hatte nur mit den Achseln gezuckt. Was kümmerte ihn sein Sohn? Nur Pedro hatte sofort, sobald man es das erste Mal erwähnte, in die Tech-Dateien über Psyching Einsicht genommen. Was war schon dabei, wenn alle ihn für komisch hielten? Sollten sie doch. Pedro begann Chemie- und Physiktexte zu lesen, hörte sich an, was Spinne wirklich lehrte. Er zog Vergleiche und seine Schlußfolgerungen, ging dazu über, aus den Sam melbehältern der Fabrik, die Subraum-Transduktionsgeräte herstellte, Einzelteile zu stibitzen. Traurig sah Pedro seinem Vater beim Beten zu und bastelte unterdessen an einem eigenen Apparätchen. »Was ist das für ein Ding, an dem du da rummurkst? Alle anderen Jungs lernen, Soldat zu sein, nur du murkst herum. Warum tust du so was?« »Deus hat mich beauftragt, es zu machen, Vater. Ich habe im Tempel von ihm die Weisung erhalten. Weil ich im Kopf etwas merkwürdig bin, hat er mich dafür auser wählt.« Pedro achtete auf die Reaktion seines Vaters. Senor Angustura nickte zufrieden. »Aha, siehst du, jetzt hast du deinen Platz. Nun wird meine gesamte Fa milie in den Tempel gehen.« Pedro nickte gleichfalls. In den letzten Tagen hatte er Menschen gesehen, die umherliefen wie in den Holos. Anscheinend erregten sie in den Straßen nicht einmal noch Aufsehen. Bald mußte es auch hier wie auf Basar sein, wie man es in den Aufnahmen der Romananer gese hen hatte. Die Alt-Senioren hatten angeordnet, daß jeder den Tempel aufzusuchen hätte. Wenn Pedro auf den Stra ßen Padri begegnete, ahmte er das stumpfäugige, geistlo se Auftreten der Gepsychten nach. Es gab niemanden mehr, dem es eingefallen wäre, ihm nachzugaffen. Alle Bürger waren in Deus' Bann gezogen worden, oder man hatte sie mit Blastern unter seine Herrschaft gezwungen. Pedro würde künftig allein und einsam sein. Er versteckte seinen selbstgebastelten Apparat unter
dem Poncho. Vorm Tempel huschte er, vom blasterbe waffneten, aber gelangweilten Wächter ignoriert, aus der Warteschlange. Unmittelbar vor einem Nebenausgang setzte er seine Bastelarbeit ab und besah sich die Pforte genauer. Er klemmte einen Draht an ein Stromkabel, ei nen zweiten an einen der bei Betrieb energetisierten Psyching-Feldprojektoren. Danach malte er die Umrisse einer Spinne in den Staub und ging nach Hause. Dreißig Minuten später brachte die Explosion Station Aphas bis in ihr Gerüst ins Beben. Pedro zuckte die Ach seln und befaßte sich weiter mit seinen Büchern. Hätte er die Bücher nicht, wäre ihm in dieser Stadt der lebenden Toten ziemlich mies zumute gewesen. Pedro hatte viel Zeit. Die Zombies alle auszurotten, würde langsam vor sich gehen und lange dauern, aber er war der Überzeu gung, daß Spinne ihm die erforderliche Beharrlichkeit und Geschicklichkeit schenkte, solange er nur Zugriff auf die Bücher hatte.
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ADMIRAL REES KAJÜTE AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONAREM ORBIT ÜBER WELT)
Die Beleuchtung war soweit herabgedimmt, daß man in den Schatten von Rees Kajüte nur noch schwächste Umrisse erkennen konnte. Die weißen Wände wirkten grau, während die Spinnendarstellung sich fast gar nicht von dem handgegerbten Leder abhob, auf die sie gezeich net worden war; nur die Augen glänzten, als hätte der Künstler in diesen Aspekt seines Werks besondere Auf merksamkeit investiert. An der Wand gegenüber bildeten die romananischen Kriegsdolche und Gewehre auf dem Weiß ein Mosaik schwarzer Formen. Die Hauptbeachtung der Anwesenden galt jedoch der mitten in den Raum projizierten, holografischen Stern karte. Unbekümmert strebte Ree für eine Sekunde quer durch die Projektion. Manche Lichter glommen gelb, kennzeichneten Ngen Van Chows Sphäre. Andere, bis lang neutrale Sonnensysteme des Direktorats hatten eine weiße Kennzeichnung; die in Spinnes Hegemonie einbe zogenen Sonnensysteme schimmerten blau. Maya saß, die Ellbogen auf die Armlehnen des Sessels gestützt, mit übereinandergeschlagenen Beinen da, der goldene Ring des übergestülpten Kontaktrons gleißte auf ihrem Kopf wie ein Kronreif. Ihre Miene bezeugte Frust und Ermüdung. John Smith Eisenauge machte sich per Kontaktron mental eine Notiz, zwirbelte gemächlich den Zipfel einer seiner langen Zöpfe zwischen dicken, schwieligen Fin gern. Schon seit einer Stunde besah er sich die Sternkarte, forschte nach einer Möglichkeit, wie sich die Situation zum Vorteil ausnutzen ließe. Das Problem ähnelte der Auf gabe, einen bestimmten Räuber aufzuspüren, der die Her den des Volkes umschlich. Wo mochte der Gesuchte, der auf seinem Raubzug selbstständig und unabhängig vor
ging, wohl unterschlüpfen? Wie konnte man ihn in die Enge treiben und mitsamt seinen Begleitern niederkämp fen? »Tja, wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, daß jetzt Santa del Cielo seine hauptsächliche Operationsba sis ist, können wir entschlossen handeln und dort einen Schlag führen.« Ree deutete auf das gelbe Lichtlein, das das genannte Sonnensystem markierte. »Wieviel uns von seiner Flotte zu vernichten gelingt, bleibt eine offene Fra ge, aber es wäre ein Anfang.« »Und wenn er nicht dort ist, wenn wir eintreffen?« fragte Maya aus der Düsternis der Schatten. »Was dann? Wenn es einen Planeten gibt, von dem Ngen genau weiß, daß wir dort irgendwann zuschlagen, dann ist es Santa del Cielo. Stell dir nur mal vor, er wartet irgendwo darauf, daß wir...« »Irgendwo müssen wir doch ansetzen«, sagte Ree ernst. »Aber nur zu, Maya, sag du mir, wo. Ich bin für alle Anregungen offen.« »Werde nicht hochnäsig, Damen. Heiliges Kanonen rohr, wüßte ich eine einwandfreie Lösung, hätte ich sie schon längst ausgesprochen.« Einen Moment lang starrten die beiden sich erbittert an, bis Eisenauge sich räusperte. Allmählich macht sich die nervliche Belastung bemerkbar. Die Patrouillen schlachtschiffe sind im Anflug. Damen plagt sich mit Sor gen. Maya fühlt sich ratlos. Das Machtgleichgewicht ver schiebt sich, und wir dürfen der Lage nicht trauen. Wäh renddessen okkupiert Ngen jetzt Planeten mit Gewalt, seine Bekehrten betätigen sich als Verräter an ihrer Hei matwelt und ebnen ihm den Weg. Und wir sitzen hier auf Welt und können nicht gegen ihn einschreiten. Kein Wun der, daß wir uns gegenseitig anfahren. Eisenauge stand auf, begann leise zwischen den Licht punkten hin- und herzuschlendern. »Er hat sich aufs glei che wie wir verlegt, nämlich Zeitgewinn herauszuschin den, um Kräfte für den Endkampf zu sammeln.« Verknif
fenen Blicks blinzelte Eisenauge ins stellare Pünktchen muster, wies mit einer Armbewegung auf die Projektion. »Nein, leicht wird's nicht sein, Ngen an der richtigen Stel le zu packen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die Realitäten eines Weltraumkriegs voll überblicken, Kriegshäuptling. Ich...« »Maya«, griff Ree ein, »wenn jemand die Verzwickt heiten des Weltraumkriegs versteht, dann Eisenauge.« John hob die muskulösen Schultern. »Ich hoffe, dein Vertrauen in mich ist berechtigt, Damen.« »Möchtest du ein Verlierer sein, Kriegshäuptling?« Eisenauge straffte seine Haltung. »Verlieren möchte ich nie. Der bloße Gedanke daran ist mir zuwider. Das Verlieren ist meinem Blut fremd, Damen.« »Also reden wir nicht mehr darüber.« Ree drehte sich um, durchquerte gleichmütig die Orion-Region der Gala xis, um seinen unentbehrlichen Becher Kaffee zu ordern. »Na gut, was hast du dir ausgedacht? Raus mit der Spra che, damit wir's diskutieren können.« Mit der Zunge befeuchtete Eisenauge sich die Lippen, während er ins Gewirr der Sterne starrte. »Das Übel be steht aus der gewaltigen Größe des Weltalls. Ich bin Mayas Meinung, ich bezweifle, daß Ngen sich im Umraum Santa del Cielos aufhält. Nach dem, was Rita während der Attacke auf Arpeggio herausgefunden hat, kann er's sich leisten, Welten zuhauf zu opfern. Was er ver schlissen hat, zählt nicht mehr. Nein, ich glaube, Santa del Cielo ist für kurzfristige Etappenziele ausgesaugt worden und ihm jetzt nicht mehr wichtig. Der Planet dient nur noch zur Ablenkung, als Falle. Ich bezweifle, daß er sonst von dort aus so viele Transduktionssendungen ausstrahlen würde ... Falls er von dort sendet. Ngen hat längst mit dem Großteil seiner Operationsbasis einen neuen Standort bezogen. Er ist einfach zu trickreich, um anders zu han deln. Wie ein Santos mit gestohlenen Pferden bleibt er ständig in Bewegung.« »Warum?« wollte Maya wissen. »Weshalb sollte ihm
nicht an Konsolidierung gelegen sein, wieso sollte es ihn nicht interessieren, auf Santa de] Cielo feste Machtstruku ren zu etablieren? Das stünde doch mit seiner Politik auf Sirius in Übereinstimmung.« »Wenn er aus der Niederlage, die wir ihm zugefügt haben, seine Lehren gezogen hat, wird er kein zweites Mal so vorgehen. Bedenke, daß er dort unterlegen ist. Und wie wir aus den übermittelten telemetrischen Daten ersehen haben, sind Ngen von Neals BK sechs Löcher ins Flaggschiff geschossen worden. Wegen der Geschwindigkeiten, der Entfernungen und der durch die Rotverschiebung bedingten Verzerrungen waren die Meßergebnisse ungenau, aber es sind wenigstens drei Volltreffer feststellbar. Und das trotz der Verstärkung sei ner Schutzschirme. Ngen ist kein Dummkopf, er wird seine Deus aus der Nähe unserer Fujiki-Blaster fernhal ten. Uns ist bekannt, daß von Zimbuti per Transduktions funk Aufnahmen der ersten Salven, die er auf die Vikto ria abgefeuert hat, Ngen zugeleitet worden sind. Zu sehen, wie die Strahlen der sirianischen Blaster wir kungslos auf Mayas Schutzschirmen verpufften, wird ihm zusätzlich Vorsicht eingeflößt haben.« »Eben darum müssen wir ihn uns jetzt schnappen.« Ree klatschte eine Faust in den anderen Handteller. »Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem er uns hinsicht lich der Flottenstärke immer weiter zu überholen beginnt. Sicher, momentan könnten Projektil, Miliken und Viktoria ihm seine Deus zu Schrott zerblastern, aber wie werden die Verhältnisse in sechs Monaten stehen, wenn er noch zwanzig oder dreißig FLF umgerüstet hat? Als Flottillen eingesetzt, wären sie unsere Schutzschirme zu bezwingen imstande. Sie blenden uns durch Blasterbeschuß lange genug, um einen Antimaterie-Torpedo ins Ziel zu jagen, und paff!, schon sind wir bloß noch Plasma ... So wie's der Ganges passiert ist.« »Sollen wir es mit einem Blitzkrieg versuchen?« mein te Maya. »Schneisen durch seine Machtsphäre blastern?«
»Und wer schützt Welt? Kann einer unserer umgebau ten FLF sich mit irgendeiner Erfolgsaussicht gegen die Gregorius wehren?« Ree schüttelte den Kopf. »Die Umrü stung, die wir an einem Schlachtschiff und an einem FLF vornehmen können, sind zwei verschiedene Dinge. In einem umgemodelten FLF kann man den sirianischen Bla stern kaum etwas entgegensetzen — und sein Flaggschiff strotzt von diesem Geschütztyp.« »Breeze hat Sirius bisher gegen seine Angriffe gehal ten.« »Breeze hat die Coup, Ngens ehemalige Helk. Das Schiff ist kein so auf die Schnelle umstrukturierter FLF wie die, die wir umgebaut haben. Wir mußten bei den spä teren Konversionen viele technische Raffinessen zugun sten der Effizienz und Geschwindigkeit vernachlässi gen.« Eisenauges Blick ruckte durch die Projektion der Sterne. »Ich habe mir das hier immer wieder angesehen. Ich erken ne keine Regelmäßigkeiten — oder zumindest keine, die wir ausnutzen könnten, um Ngen irgendwo in die Enge zu drän gen. Der Weltraum steht ihm nach allen Seiten unendlich weit offen. Es gibt keine Möglichkeit, um ihn irgendwie zu umzingeln. Angesichts dessen, was uns im Moment zur Ver fügung steht, könnten wir ihn nur durch einen Glücksfall erwischen. Und wir wissen natürlich, welche Überraschun gen Spinne für alle auf Lager hält, die gerne das Glück zu ihrer Gottheit erheben möchten.« »Das war's?« maulte Maya schnippisch und mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Das ist alles, was sie zu bieten haben?« »Maya ...!« mahnte Ree. Eisenauge winkte ab. »Laß nur, Damen. Wir stehen zur Zeit alle unter gehörigem Druck. Wir sitzen schon zu lang untätig herum.« Er wandte sich an Maya. »Aber außer meinen Beobachtungen, die lediglich Offensichtliches betreffen, habe ich Überlegungen angestellt, über die wir einmal reden sollten.«
Maya neigte den Kopf; im Düstern glitzerten ihre Augen. »Dann lassen Sie mal hören, Kriegshäuptling.« »Ngen kann jederzeit überall sein. Nur sähe ein Roma naner den Sachverhalt anders. Das Problem lautet gar nicht, wie sich Ngen aufspüren ließe. Wir könnten nach ihm suchen, bis Spinnes Netz vermodert in Fetzen hängt. Das romananische Vorgehen wäre, einen unwidersteh lichen Köder auszulegen, um ihn zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu locken und dort zur Strecke zu bringen. Wäre Ngen ein Santos, würde ich sagen, 's macht keine Schwierigkeiten. Statt den Rest des Lebens damit zu vergeuden, Canon um Canon die Bärenberge zu durchkämmen, wäre eine Herde erlesener Reitpferde das richtige Lockmittel, er käme geradezu herbeigerast. Wir können's uns nicht erlauben, ein Sonnensystem nach dem anderen zu durchsuchen, also befassen wir uns doch mit der Frage: Was ist das geeignete Mittel, um Ngen anzulocken? Welche Beute, die in übertragenem Sinn dem Wert eines Rassepferds entspricht, hätten wir ihm als Köder vorzusetzen?« Ree nickte. »Welt? Sirius? Er hat sich von Breeze schon drei Raumschiffe bei dem Versuch, Sirius zu torpe dieren aus dem All blastern lassen. Vielleicht gelingt es uns, ihm dort so große Verluste zuzufügen, daß er Sirius' Vernichtung zu seiner Ehrensache macht?« »Wie wäre es, wir leiten irgendeine Art von Täu schungsmanöver innerhalb seiner Raumsphäre ein? Ein großangelegtes Wiederaufbau- und Rehabilitierungspro gramm ... Sagen wir mal, auf Basar. Gewissermaßen ihm als Schlag ins Gesicht ...« »Arcturus«, sagte Eisenauge plötzlich leise, die Lider zu Schlitzen verengt. »Sirius will er nicht. Dort will er uns nur eine Lehre erteilen. Nein, er muß etwas haben, das als Symbol dient.« »Aber Arcturus hat er doch schon zusammengeschos sen«, entgegnete Maya. »Warum sollte er ...? Ach, ich glaube, ich komme dahinter ...«
»Aha, du siehst's selbst, ja.« Frech zwinkerte Eisenau ge ihr zu. »Sicher, überfallen hat er Arcturus. Das war um des Effekts willen, um die Moral des Direktorats zu beein trächtigen. Dabei ging's ihm darum, den gesamten bewohnten Weltraum zu destabilisieren. Wie es bei allen Kriegszügen geschieht, hat nicht alles so wie vorgenom men geklappt. Das Direktorat ist schwer erschüttert wor den, aber was an Macht noch übrig war, hat er damit uns, als Skor kapitulierte, direkt in die Hände gespielt. Diese Folgen hat Ngen gewiß nicht erwartet. Trotzdem hat er den Rest des bewohnten Weltalls so aufgerüttelt, daß die Menschen sich angehalten sehen, sich entweder für ihn oder für uns zu entscheiden, dadurch entstehen klare Fron ten. Hätte Patan sich nicht zu seinem Opfergang entschlos sen, wäre unsere Lage wesentlich schlechter. Deus hätte sich im All wie ein Steppenbrand ausgebreitet. Ja, Ngen hat Arcturus überfallen, aber er war's nicht einzunehmen imstande. Das ist der maßgebliche Punkt.« »Na gut. Arcturus ist das Symbol menschlicher Macht im All. Wie nutzen wir die Situation zu unseren Gunsten? Wie locken wir Ngen in die Falle?« Eisenauge mahlte mit den Kiefern. »Das ist die Klei nigkeit, die ich noch nicht geklärt habe. Tatsache ist, daß Ngen, was Arcturus angeht, zweierlei tun kann. Er kann's okkupieren, oder er kann's vollständig vernichten. Sonst verbleibt im All ein Symbol des Widerstands gegen sei nen Deus, das allen Welten und Stationen, die sich noch für keine Partei entschieden haben, unübersehbar zeigt, daß er nicht unbesiegbar ist.« Ree schlurfte zu ihm, besah sich nach allen Seiten den Umraum des roten Sterns. »Das ist der am schlechtesten zu verteidigende Standort in der gesamten Galaxis.« »Genau deshalb hatten die Konföderierten ihn ausge sucht«, rief Maya in Erinnerung. Bedächtig neigte Eisenauge den Kopf. »Trotzdem ist er der Schlüssel zur Lösung des Problems.« »Wir können dort keine Entscheidungsschlacht aus
fechten.« Ree spreizte die Arme. »Klar, ich gebe zu, mit allem, was du anführst, hast du recht, Kriegshäuptling. Er muß Arcturus besetzen oder vernichten. Im Moment haben wir die Stadt. Toby ist mit der Miliken und ihrer erhöhten Feuerkraft zu uns unterwegs, und Rita kommt mit der Spinnes Dolch. Entreißen kann er sie uns nicht. Also hat er nur die Wahl, sie auszuradieren. Bei Spinnes haarigem Arsch, Eisenauge, es ist ausgeschlossen, die Stadt zu verteidigen. Sie hat mehrere Milliarden Einwoh ner. Wenn er von allen Seiten gleichzeitig angreift und mit Lichtgeschwindigkeit anfliegt, ist Arcturus verloren!« Eisenauge verschränkte die Arme. »Das ist wahr. Was also sollen wir tun, Damen? Diese Milliarden von Men schen von ihm auslöschen und ihn obendrein das Symbol des Widerstands gegen seine Herrschaft hinwegfegen las sen? Oder die Chance wahrnehmen, daß es uns gelingt, die Deus und einen großen Teil seiner Flotte ins Visier zu kriegen? Das ganze Direktorat steht auf der Kippe. Was könnte der Gegenwert der Hauptstadt und all der Milliar den von Leben sein? Die Zukunft der Menschheit?« »Das ist vollkommen inakzeptabel«, sagte Maya barsch. »Ich kann keinesfalls das Risiko einer Massenver nichtung mittragen, wie sie dann dort zu befürchten ist.« »Ich schließe mich gern jedem besseren Vorschlag an«, antwortete Eisenauge in sachlichem Ton. »Nur gäbe Arcturus genau die passende Falle ab, allerdings unter erheblicher Gefährdung Unschuldiger. Wollen wir diesen Preis zahlen, um Ngen zu schnappen? Wißt ihr, ich bin mir nicht sicher, ob diese Strategie, sich gegenseitig Wel ten und Stationen zu eliminieren, auf lange Sicht nicht der blutigere Weg ist. Die letztendlichen Auswirkungen wer den um so schlimmer sein, je länger sich der Konflikt hinzieht.« Ree seufzte und schüttelte den Kopf, ehe er sich im Nacken rieb. »Weißt du, so habe ich die Sache noch nicht betrachtet, John. Das ist eben der Unterschied zwischen dir und mir. Daß Arcturus die beste Wahl ist, die wir in
bezug auf 'n Köder haben, läßt sich erst einmal überhaupt nicht bestreiten. Was meinst du, Maya?« Maya stand auf und trat mitten ins Holo, ein paar Ster ne der Projektion leuchteten auf ihren Wangen wie bunte Tränen. »Leider kann ich keinen tauglicheren Vorschlag machen. Heiliges Kanonenrohr, wir müssen drei oder vier Milliarden Leben in die Waagschale werfen! Verdammt noch mal, das ist keine einfache, rein akademische Diskussion ... Wir ... Damen, wir sprechen über lebende Menschen.« »Ich wurde dort geboren«, erklärte Ree mit dumpfer Stimme. »Meine Familie lebt dort. Zwei Schwestern, ein Bruder, alle ihre Kinder. Alles was mir je ... Ach, lassen wir's.« Er wandte sich ab. »Ob wir gewinnen oder verlieren, auf der Seele wird es uns immer lasten.« Maya schloß die Lider, ballte an den Seiten die Fäuste. »Falls wir unterliegen, wird unsere Verantwortung noch viel schrecklicher sein«, sagte Eisenauge. »Wenn wir scheitern, wird die ganze menschliche Rasse in Zombies verwandelt.« Aus geröteten Augen sah Maya ihn an, ohne etwas zu erwidern. *
*
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NGEN VAN CHOWS PRUNKKAJÜTE AN BORD DER DEUS WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE BEIM VERLASSEN DES PELLARSYSTEMS
»Das Problem, Messias, steckt in der Qualität. Wir haben überreichlich Menschenmaterial zur Disposition, aber die Anzahl der Individuen, die eine unkomplizierte mechanische Störung zu beheben fähig sind, ist bedauer lich gering. Wenn eine minimale Spannungsschwankung bloß ein altmodischer elektrischer Unterbrecher ausfällt, kann es sein, daß eine Fabrik einen vollen Tag lang stilliegt, bis ein kompetenter Techniker in der Anlage ein
trifft. Sobald er da ist, dauert es selbstverständlich nur fünf Sekunden, die Abdeckung abzunehmen und den Defekt zu beseitigen. Dann muß er bloß noch ans andere Ende der Fabrik und den Laden per Tastendruck neu anwerfen. Während der gesamten übrigen Zeit passiert in der Fabrik gar nichts, die Padri stehen nur an ihren Plätzen und war ten.« Die Stirn gefurcht, kaute Ngen auf der Lippe. »Das gleiche ist bei militärischen Maßnahmen beobachtet wor den, Sira. Sobald einmal ein Angriffsplan feststeht, erwei sen sich strategische Änderungen — oder taktische, falls die Operation schon begonnen hat — als kaum noch durchführbar. Es fehlt an Flexibilität. Ich weiß momentan nicht, was wir tun sollen, um in dieser Beziehung Abhil fe zu schaffen. Die gonianischen Experten haben das Psy chingverfahren ja zu verfeinern versucht, aber bis jetzt sind sie nicht über den gegenwärtig praktizierten Ent wicklungsstand hinausgelangt. Ein so großes Psyching feld erlaubt schlichtweg keine differenziertere Adjustie rung. Wenn wir mehr Zeit hätten ...« In Siras Miene stand Beklommenheit. »Vielleicht könnten wir die Konvertierten vom Psyching aussparen, statt alle Leute zu psychen? Mit ihrer intellektuellen Lei stungsfähigkeit könnten Ihre treuen Anhänger ...« »Treu?!« Halb fuhr Ngen vom Sitz hoch. »Treu? So wie meine lieben Mitbürger während der sirianischen Revolution? Wie auf Sirius? Verdammt nochmal, Sira, erzählen Sie doch mir nichts von »treuen Anhängern
die Armlehnen des Sessels. »Von demselben Volk, das ich befreit habe, bin ich hintergangen worden. Kann man so was glauben? Nach allem, was ich für sie getan hatte, sind sie trotzdem zu den Romananern übergelaufen! Wie getre tene Hunde haben sie den Schwanz eingeklemmt und sich davongeschlichen! Ngen Van Chow die kalte Schulter gezeigt. Dem Ersten Bürger ihrer glorreichen Revolution! Nach dem, was ich für sie geopfert hatte, für sie!« In Ngens Augen begann ein abartiges Glitzern sichtbar zu werden. »Nein, Sira, die Leute, die sich nachsagen, treu zu sein, sind nur Abschaum. Man darf ihnen nicht mehr als einer ausgehungerten Ratte trauen.« Sira saß starr da, seine Gedanken rasten, unter seiner schwärzlich-dunklen Haut zeichnete sich eine plötzliche Blässe ab. Schweigen dehnte sich hin, während Ngen sich unausgesprochenen Grübeleien hingab. »Messias?« Endlich wagte Sira erneut das Wort zu er greifen. »Messias, wir müssen irgendeine Lösung finden, die's uns ermöglicht, einen höheren Prozentsatz unge psychter Arbeitskräfte einzuspannen. Vielleicht eine Me thode in der Art der Entführung dieser Techniker aus ...« »Ja!« Beschwingt sprang Ngen auf, fing in seinem Salon auf- und abzugehen an; die Kamera schwenkte sei nen Bewegungen nach. »Das ist es! Hervorragend, Sira. Das ist der Grund, weshalb Sie zu meinem Zweiten Offi zier aufgestiegen sind. Sie verdanken's Ihrem erstaun lichen Gehirn. Und Ihrer entschiedenen Verfolgung der eigenen Interessen.« Sira runzelte verdutzt die Stirn, der Mund stand ihm halb offen, indem er diesen schlagartigen Stimmungs wechsel Van Chows von Jähzorn zu begeisterter Aufre gung zu verwinden versuchte. »Ha!« Ngen schlug die Hände zusammen, so daß ein hohler Knall dröhnte. »Ihnen fällt auf, daß ich Sie nicht >treu< nenne, was? Genau das hat damit was zu tun. >Treue Anhänger< lassen einen zum Schluß doch allein. Aber Sie, Sira, Sie haben eigene Ziele, die Sie anstreben.
Das ist etwas, auf das ich bei einem Menschen vertraue. Sie arbeiten für sich selbst. So wie Pallas es gehalten hat. Ach, Pallas, Pallas ...! Susan, das werde ich dir heimzah len!« Er verstummte geneigten Kopfs, starrte versonnen auf einen anderen Monitor, der Station Kobalt zeigte. Aus dem Außenrand des Torus sprossen riesige, lange Anbauten hervor; ihre genauen Umrisse ließen sich nicht unterschei den, weil Gespinste silberner Baugerüste die Konstruktio nen wie in Schleier hüllten. »Ähm ... Messias?« fragte Velkner nervös. »Ja?« »Äh ... Tja, was soll ich nun machen? Ich meine, was das Problem mangelnder Kompetenz bei unseren Arbeits kräften angeht?« Ngen bog den Kopf in den Nacken. »Ja, wirklich her vorragend, Sira ... Wir werden von heute an jeweils die Hälfte jeder Population vom Psyching aussparen. Sie wird berechenbar sein, weil sie nicht >treu< ist, kapiert? Wir können sicher sein, daß sie uns haßt. Man weiß, woran man ist. Da kommt niemand her und fällt Ihnen in den Rücken, nachdem Sie für ihn wer weiß wieviel getan, soviel von sich eingebracht haben und ... und ... Sie brau chen Techs, Sira? Lassen Sie sie ungepsycht — aber holen Sie sie aus den Reihen unserer Gegner. Sollen sie die Arbeit für uns erledigen ... und uns dafür, daß wir sie zwingen, zu unserem Erfolg beizutragen, um so mehr has sen. Sie werden ...« »Unseren Gegnern? Aber sie würden doch alles tun, was in ihrer Macht steht, um Sabotage zu verüben und unseren Sieg zu verhindern. Uns schaden, wo sie nur ...« »Genau! Es geht um Berechenbarkeit, Sira. Darauf haben wir's abgesehen. Eines weiß man bestimmt von sei nem Feind, nämlich daß er berechenbar ist. Und das macht einen Teil seiner Schwäche aus.« In Siras dunklen Augen spiegelten sich Bedenken. »Ich verstehe nicht so richtig, wie ... Tja, ich meine ... Ich glau
be, ich habe schon reichlich unberechenbare Feinde gehabt, Messias.« Spöttisch lächelte Ngen. Er hob einen Finger, das prachtvoll leuchtende Zinnoberrot seines Gewands rutsch te ihm vom Handgelenk, entblößte einen dünnen, bleichen Arm, der einen augenfälligen Gegensatz zu seinen dunkle ren Gesichtszügen bildete. »Ganz so verhält's sich nicht, Sira. Letztendlich hat doch kein Feind je etwas zu Ihrem letztendlichen Nutzen getan. Das eine, auf was man sich bei einem Gegenspieler verlassen kann, ist ja, daß er einen zu schädigen versuchen wird. Aber auf einen >treuen Anhängen ist absolut gar kein Verlaß. Das ist bloß Geschmeiß. Sonst nichts. Geschmeiß.« Sira schwieg. »Sie haben noch Zweifel?« Belustigt lachte Ngen auf. »Sogar nach dem, was man mir auf Sirius angetan hat, empfinden Sie noch Skepsis als möglich? Überlegen Sie doch mal, Sira. Denken Sie an all die vielen glubschäugi gen Gimpel, die in unsere Tempel geströmt sind. Könnten Sie denn im Ernst glauben, sie wären so geblieben? Wir haben ihnen eine Gefälligkeit erwiesen. Das Psyching hat ihnen jede Gelegenheit zum Widerruf genommen, die Wahrscheinlichkeit beseitigt, daß sie irgendwie schismati sche Zwietracht säen. Sie sind als Bedürftige zu uns gekommen, ja, sie hatten das Bedürfnis, geistlose Unterta nen zu werden. Wir haben nur dafür gesorgt, daß sie krieg ten, was sie brauchten ... Und zum Ausgleich haben wir die Gewißheit, daß sie uns nicht in den Rücken fallen.« »Ich glaub's Ihnen, Messias. Was wünschen Sie, wie ich Ihre neue Politik der ... äh ... der Güte gegenüber unse ren Feinden in die Praxis umsetzen soll?« Ngens Augen funkelten. »Ich mag Sie, Sira. Sie versu chen wirklich nie, mich an der Nase herumzuführen. Wis sen Sie, falls Sie mir jemals schmeicheln sollten, um mir Ihre >Treue< zu beweisen, werde ich Ihnen den Garaus machen, verstanden? Ja, ich sehe Ihnen an, es ist Ihnen klar. Gut. Solange Sie mit Ihrem Skeptizismus ehrlich zu
mir sind, werde ich für Sie alles tun, was ich kann. Diese Art von Aufrichtigkeit verdient Lohn. Also schön, fürs erste dürften planetengebundene Konzentrationslager für unsere ... — wie sollen wir sie nennen? — Für unsere Gei seln wird so etwas am geeignetsten sein.« »Die kann ich einrichten.« »Glänzend. Da Sie wissen, daß Sie mit Feinden unse rer Sache zu tun haben werden, überlasse ich die Einzel heiten der Durchführung vollständig Ihnen. Sie haben sich trotz vieler Feinde bis heute durchgeschlagen, Sira, des halb würde ich sagen, Sie verstehen sich darauf, damit zurechtzukommen. Natürlich interessieren die Details mich nicht. Setzen Sie die Leute ein, wie Sie es als am sinnvollsten erachten. Stellen Sie sicher, daß sie für uns arbeiten ... und daß die Arbeit ihnen verhaßt ist. Dadurch bleiben sie berechenbar. Wenn das alles ist, sind wir fer tig.« »Ich danke Ihnen, Messias.« Das Holo flackerte; der Bildschirm erlosch. Ngen kehrte zu seinem Sessel zurück. »Geiseln? Was kann man gegen Geiseln eintauschen? Vielleicht Welten? Und was dich betrifft, Admiral Ree, du bist ein richtig guter, anständiger Widersacher. Ein würdiger Gegner. Haß und Zorn treiben dich an ... und dein idiotischer Ehrbe griff. Und darin besteht deine Schwäche. Na gut, wir wol len sehen, wie berechenbar du bist. Jawohl, wir werden es erleben. Was wirst du nun machen, Ree, nachdem Sira mir gegen dich eine neue Waffe in die Hand gegeben hat? Was wirst du für deine treuen Spinne-Gläubigen tun? Hmm? Wollen wir mal schauen, ob du ihnen den Rücken zukehrst?« * * *
GROSSDOCK DES ADMINISTRATIONSTRAKTS DER DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
Reibungslos schwebte die Spinnes Dolch ins Dock und auf den schlangenähnlichen Schleusentunnel zu. Die Monito ren zeigten ihre schlanken, glänzend-weißen, bedroh lichen Umrisse sowie die Konturen der beiden unterm Rumpf aufgehängten ST. Man hörte das Rumsen und Dröhnen der Greifarme durch die Bodenplatten, während die Kommunikation sowohl seitens des Raumschiffs wie auch der Großdock-Kontrolle im frenetischen Lärmen auf geregter Stimmen unterging. Zuschauer preßten sichin großen Menschentrauben gegen die EM-Barrieren. Auf den Deckenmonitoren ließ sich mitansehen, wie der Laufkran den Schleusentunnel ausfuhr und der Durch stieg sich an der Spinnes Dolch festsaugte. Nun drang hoh les Donnern durch den gekrümmten Tunnel. Das satte Fauchgeräusch, mit dem sich die Schleuse öffnete, konnte allgemein gehört werden. Darwin hielt sich im Hintergrund, während Susan die grimmigen romananischen Veteranen begrüßte, die durch die Schleuse ins helle Licht und in das Tohuwabohu her übermarschierten, frische Coups an Hemden und Gürteln befestigt. Er prüfte noch einmal, indem er sich umschau te, den Standort der optimal verteilten Kommu-Kameras, die für die Übertragung der Ankunft dieser Krieger, die den Padri einen hohen Blutzoll abgefordert hatten, auf je den Bildschirm sorgen sollten. Alles lief tadellos. Vor den Augen der ganzen Galaxis schienen die Romananer dem nächsten Sieg entgegenzuziehen. Ein lautes >Hurra!< erscholl aus der Menge der Arctu rier, die Darwin allesamt sorgfältig ausgesucht, gedrillt und eingewiesen hatte. Sie schwenkten Spinne-Fähnchen, überschütteten die Krieger mit Blütenblättern und Papierschlangen. Einige Krieger wurden auf Arcturier schultern gehoben und durch die Schleusenvorhalle ge tragen. Eine regelrecht ausgelassene Feststimmung be herrschte das Geschehen.
Majorin Rita Sarsa trat zum Klang von Trompetenge schmetter aus der Schleuse; die sorgsam präparierten Jubelarcturier schnappten bei ihrem Begeisterungsbekun den beinahe über. Die Ovationen der dichtgedrängten Menschenmasse nahmen zu, schwollen zu ungeheuerem Getöse an, von den gewölbten Deckenplatten rollten Echos herab. Rita ging auf Susan Smith Andojar zu, die sie in hochaufgerichteter Haltung erwartete und salutierte. Rita schielte aus den Augenwinkeln rundum. »Um Himmels willen, was soll denn das?« Darwin ging nach vorn, auf den Lippen ein gut einge übtes Lächeln. »Alles Propagandamache, Majorin«, brummelte er ihr zu, wahrte den Schein, indem er sich, den Rücken den Kameras zugekehrt, vor ihr verbeugte. »Wir weihen Sie später ein, aber ich glaube, Sie werden mit den Resultaten zufrieden sein.« Rita warf ihm einen skeptischen Blick zu und zuckte die Achseln. »Versuchen Sie bloß nicht, mich als Mario nette zu mißbrauchen, Pike.« »Spielen Sie die Rolle der siegreichen Heldin, Majorin, und freuen Sie sich an dem Spaß. Diese Menschen hier sind so verzweifelt, daß sie dringenden Bedarf an Helden haben. Vor unserer Ankunft hatten sie noch nie leibhaftige Heroen gesehen. Wir sind froh, ihnen jetzt noch mehr vor führen zu können.« Rita nuschelte eine Reihe von Flüchen. »Ach, was soll's? Von mir aus«, sagte sie schließlich und stapfte zu einer Frachtkiste. Die Zuschauer schrien ein Crescendo des Jubels, als Sarsa auf die Kiste stieg, sich darauf für alle sichtbar aufstellte. Mit beiden Armen winkte sie das Johlen nieder, das ihr entgegengellte. »Arctu ... Arcturier! Ihre Begrüßung erfüllt meine Seele mit Frohsinn. Ich empfinde diese herz liche Aufnahme ... Na, sie flößt mir ein Glücksgefühl ein, das ich bis ans Lebensende nicht vergessen und das ich danach Spinne weitergeben werde.« Überlauter Radau
durchtobte, als Männer und Frauen Beifall brüllten, die Vorhalle. Füße stampften, von Händen in rhythmischem Takt orgiastisch geklatschter Applaus füllte die Vorhalle. Wieder winkte Sarsa ab, bis sie weiterreden konnte. »Ihr Willkommen ... Also, es übertrifft alles, was wir zu hoffen gewagt hätten. Das letzte, was mir gehört hatten, war nämlich, Arcturus wäre von Ngen das Rückgrat ge brochen worden, er hätte Ihnen allen Lebenswillen und Lebensmut ausgetrieben.« In dem gespannten Schweigen, das ihren Gesten gefolgt war, blickte Sarsa in der Halle umher. »Na, Sie sehen gar nicht so entmutigt aus ... Und meine Krieger haben den Padri höllisch zugesetzt.« Ener gisch hob sie die Stimme und schlug kämpferische Töne an. »Noch können wir den Verbrecher bezwingen!« Die Zuhörermenge brach, indem sie durcheinander tümmelte, nahezu in eine Randale des Überschwangs aus. Von der Stelle aus, wo er stand, sah Darwin, daß die Ver anstaltung effektvoller ablief, als er es sich versprochen hatte. Vor einer Stunde war die Miliken aus dem Überlicht flug heruntergewechselt. Sie mochte sich noch etwa zweieinhalb Flugwochen von Arcturus entfernt befinden, doch jedes Raumschiff Van Chows war weiter weg. Bis auf weiteres genoß Arcturus sicheren Schutz. Die Militärkapelle spielte zwischendurch Märsche, während zivile arcturische Persönlichkeiten nacheinander die von Darwin sorgfältig vorformulierten Reden vortru gen. Danach flackerte, um zum Höhepunkt der Festivität überzuleiten, erneut der große Holo-Bildschirm auf, der die Ankunft der Spinnes Dolch wiedergegeben hatte. Die Leute fingen zu tuscheln an, allgemeine Gedämpft heit griff um sich, als das Holo Skor Robinsons Riesen kopf und Gesicht zeigte. Darwin nickte Rita zu und lächelte stillvergnügt; sie dagegen wurde etwas blaß. »Meinen Gruß, Majorin Rita Sarsa«, empfing der Di rektor sie. Hinter Robinsons massiger Schädelwölbung schien sich grenzenloses Blau bis ins Unendliche zu er
strecken. Wie das Azur eines Himmelsrunds kontrastierte die leuchtende Farbe mit dem Weiß der Wände. »Im Namen des Direktorats heiße ich Sie im schwergepüften Arcturussystem willkommen. Dreihundert Jahre lang hat Arcturus keine Helden begrüßen dürfen. Sie und Ihre Krieger verkörpern den Anfang einer neuen Tradition. Willkommen. Arcturus-Stadt heißt Sie mit offenen Armen willkommen. Wir, das Volk, entbieten Ihnen unseren Gruß.« Auf dem Podium trat Rita vor, lieferte von Kopf bis Fuß den Auftritt einer kampferprobten Veteranenkomman dantin. »Direktor Robinson, wir danken Ihnen für Ihre herzliche Begrüßung. Nach den Greueln, die wir gesehen haben, die Ngen mit seiner Welle des Schreckens ange richtet hat, bedeutet soviel enthusiastische Anerkennung uns mehr, als Sie sich vorstellen können. Unsere heutige Begegnung soll in der Tat den ersten Schritt in eine neue Ära des ruhmvollen Blühens und Gedeihens der Mensch heit markieren. Im Namen des romananischen Volkes und der Krieger Spinnes danke ich Ihnen für Ihre herzlichen Begrüßungsworte und bezeige Ihnen meinen Respekt.« Beim letzten Wort salutierte sie vor dem Holo, daß ihre Absätze nur so knallten. Die Zuschauer drehten beinahe durch, sie stießen Pfif fe, Zurufe und Juchzer der Zustimmung aus. In seiner Regiekabine sorgte Darwin Pike für eine allumfassende Dokumentierung des Ereignisses, zeichnete auch die Gesichter der Arcrurier auf. Dort hockte ein kleines, blon des Mädchen auf den Schultern eines mit Coups behäng ten romananischen Kriegers, dessen Lächeln gar nicht zu der Narbe auf seiner Wange passen wollte. Hier stellte sich eine attraktive junge Frau auf die Zehenspitzen, um einen ungeschlachtenen Krieger in glänzendem Schutzpanzer abzuküssen. Darwin gelang eine Momentaufnahme eines Jungen an der Schleuse, der mit einem Stift eine etwas mißglückte Spinne auf die weiße Wand malte. Ein Greis drückte seine grauhaarige Frau an sich, Freudentränen
rannen ihm über die verhutzelten Wangen. Vornehmlich bemühte sich Pike darum, Mienen der Hoffnung und Aus druck der Freude am gegebenen Anlaß filmisch festzuhal ten; er ließ alles senden, die Transduktionseinrichtungen hatten alle Hände voll zu tun. In den letzten Minuten der Veranstaltung, als die Leute zur dichtgefüllten Schleusenvorhalle hinauszuströmen anfingen, während sie Arm in Arm mit romananischen Kriegern Lider sangen, alle zum Ort der schon vorbereite ten, großangelegten Feier mitsamt Festbankett strebten, gesellte sich Susan zu Pike. »Na?« fragte sie, beugte sich über seine Schulter, um einen Blick auf den Monitor zu werfen. »Das ist ein klares Plus für uns. Wenn da nicht einige Szenen enthalten sind, die das Herz der Galaxis zum Schmelzen bringen, dann ist die Spezies längst tot.« »Ich möchte mit euch beiden reden«, sagte Rita, die hinter dem Paar stand, die Hände in die Hüften gestemmt, zu Susan. »Nachdem das Affentheater jetzt vorbei ist, haben wir so manches nachzuholen. Können wir uns hier irgendwo zu einer Besprechung zusammensetzen?« »Noch sehen wir kein Gesamtbild«, meinte Rita, das sommersprossige Gesicht zu einer düsteren Miene verzo gen, aus der sie den Monitor betrachtete, während sie, Susan und Darwin in Susans Unterkunft um den Tisch mit dem Kommu-Apparat saßen. Skor Robinsons Schädel füllte die Bildfläche aus, seine eingesunkenen Augen und der gequälte Zug um seinen Mund spiegelten die Bela stungen der vergangenen Wochen. »Der Admiral und Eisenauge improvisieren, so gut es geht, aber die Strate gie, mit deren Erarbeitung wir angefangen haben, ist etwas völlig neues. Ich weiß noch nicht, wie ich die Erfolge Patans und Ihrer Kampagne zur moralischen Aufmöbe lung einschätzen soll, Doktor. Liegen Ihnen darüber Infor mationen vor, Direktor?« Robinsons Zwergenmund schien sich kaum zu
bewegen. »Leider sind die Transduktionsfunktionen mei nes Giga-Verbundsystems als Kommunikationsmittel weitge-hend ausgefallen. Auf Anweisungen oder Anfragen durch den Verbund bleibt jede Reaktion aus.« »Verdammt. Und unter den Gesichtspunkten der mili tärischen Aufklärung tappen wir im großen und ganzen auch noch im dunkeln.« Rita langte nach dem Becher Tee, den sie sich beim Spendeautomaten geordert hatte. Pike spreizte die Arme. »Wir wissen schlichtweg nicht, welchen Einfluß Patan auf die Menschen ausübt. Unbe streitbar ist die Tatsache, daß Arcturus jetzt fest hinter uns steht. Gleichzeitig wird die Kommu durch Informations nachfragen geradezu blockiert. Sämtliche Planeten und die Hälfte aller Stationen des bewohnten Weltalls möchten eigene Propheten geschickt haben. Nimmt man das zur Grundlage der Beurteilung, wächst unsere Ein flußsphäre mit unerhörter Schnelligkeit.« Susan schaukelte, in den vom Tisch etwas abgerückten Stuhl gelehnt, darauf vor und zurück, das Knie ans Kinn gehoben. »Wir ersehen, wenn auch nur unvollständig, in Teilbereichen und Bruchstücken, die Auswirkungen, die Patan auf Ngens militärische Pläne hat. Jetzt sind wir jedesmal bereit, wenn er einen neuen Vorstoß unternimmt. Nicht alle Informationen Patans werden öffentlich verbrei tet. Die Toreon hat eine komplette Invasionsflottille aus dem All geblastert, als er das Solarsystem zu okkupieren versuchte. Vorerst ist die Erde sicher. Wer sie hat, genießt vom Standpunkt der Moral aus einen gewissen Vorteil.« »Wieso kann Patan uns nicht verraten, wo sich Ngen finden ließe?« »Keine Ahnung«, antwortete Darwin zögerlich. »Es ist, als ob ... Nun ja, gefragt habe ich ihn ein paarmal. Aber er hat immer nur so verflucht wohlwollend gelächelt und gesagt, er hätte seine eigenen Cusps zu entscheiden.« »Wissen Sie, wir sind noch weit davon entfernt, den Konflikt zu gewinnen.« Rita trank vom Tee, schaute vom einen zum anderen Gesicht. »Ngen hat seine Macht bis zu
einem Punkt gesteigert, an dem es uns nicht möglich ist, ihn ohne weiteres militärisch niederzuringen. Der Un terschied zu uns ist, daß er über eine etliche Millionen starke Armee verfügt, die er überall landen kann, wo's ihm paßt. Er psycht die Menschen, macht sich ihre Produk tionsstätten zunutze und schickt seine Truppen ans nächste Einsatzziel.« »Wie eine menschliche Form von Virus«, meinte Skor leise. »Ja, ich glaube, das ist ein brauchbarer Vergleich. Er hat seine Fabrikation auf dermaßen viele, versteckte Ört lichkeiten verteilt, daß wir sie mit den Raumschiffen, die wir einsatzfertig haben, gar nicht angreifen können, und wenn Patan uns noch so viele Informationen gibt.« »Wie steht's mit langfristigen Prognosen?« erkundigte sich Susan. Rita winkte ab. »Falls der Status quo in jeder Hinsicht erhalten bleibt, haben wir die Aussicht, ihn vielleicht in etwa fünf Jahren zu erwischen.« »Fünf Jahren?!« entfuhr es Darwin. »So lange kann Patan nicht durchhalten. Mit jeder Entscheidung, die er fällen muß, wird er immer schwächer und schwächer. Nach jedem Auftritt braucht er länger, um sich bloß soweit zu erholen, daß er wieder auf den Beinen stehen kann. Er geht dabei kaputt.« »Spinne hütet sehr wachsam den freien Willen.« Schwächlich bewegten sich Skors Lippen. »Ich hätte nie ... So vieles ... hat sich so verändert.« Auf einmal änderte sich seine Miene. »Transduktionsgespräch. Admiral Ree.« Ebenso plötzlich erschien auf dem Holo-Bildschirm Rees Konterfei. Er sah die Anwesenden mit dem ernsten Blick an, der in letzter Zeit zu einem Kennzeichen seiner Persönlichkeit geworden zu sein schien: Halb spiegelte er Verzweiflung, halb Erschöpfung. »Vorhin ist eine Mittei-lung von Ngen Van Chow eingegangen«, sagte Ree ohnealle vorherigen Förmlichkeiten. »Der Krieg ist
damit noch komplizierter geworden. Schauen Sie's sich selbst an.« Die Bildschirmfläche halbierte sich, und eine Hälfte zeigte jetzt Ngens Gesichtszüge. Darwin spürte, wie er sich unwillkürlich zusammenkrampfte, unbewußt griff er nach Susans klammer Hand. Nur die Ruhe. Es ist bloß ein Holo. Sonst nichts. Er ist nicht da. Wir sind hier in Arcturus-Stadt. Nicht auf Basar. Susan ist da. Sie ist Realität. Sie hält meine Hand. Keine Panik, Pike. Sie hat Schlimme res als du durchgestanden. Keine ... keine Panik. »Euer Prophet ist ein sehr interessanter Mann«, drang Ngens verhaltene Stimme aus der Kommu. Darwin ver biß die Zähne, um sich gegen die Säuselstimme zu be haupten, er hatte das Empfinden, als fräße sie sich wie Säure in seine verstörte Seele. »Das gleiche gilt für die Überfälle, die ihr auf meine Welten und Anlagen verübt habt. Doch die Hand Gottes selbst steht gegen euch, Sa tansanbeter. Folgendes sollt ihr wissen: Wenn ihr das nächste Mal einen meiner Planeten verwüstet, werdet ihr eure eigenen Anhänger vernichten. Von jetzt an werde ich nur noch die Hälfte meiner Untertanen vom Makel Satans läutern. Ich veranlasse Maßnahmen, um auf jedem meiner zu Deus konvertierten Planeten wenigstens eine Siedlung euer durch Satan verunreinigten Haufen zu dulden. Ähnlich werden künftig Stationen Quoten an Gefangenen haben. Solltet ihr also weiter derartig schändliche Anschläge verüben, wie es in der Vergan genheit geschehen ist, wird ihr Blut an euren Schurken händen kleben.« Launig winkte Ngen. »Ich habe eurem Propheten sehr genaue Aufmerksamkeit geschenkt. Darum weiß ich, wie wichtig es euch ist, Seelen für Satans Reich zu gewinnen. Also will ich Satans eigene Handlanger gegen ihn selbst benutzen, um der Menschheit eine neue Ordnung zu er richten. Zu guter Letzt werde ich Satan aus der Galaxis vertreiben. Bis dahin will ich jedesmal, wenn ihr eure ei genen, treuen Vasallen hinmordet, mit der größten Freude
die Menschen über eure Heuchelei aufklären. Was wäre euch ein Sieg wert? Eine Milliarde Leben Unschuldiger? Zwei Milliarden? An der Zahl der Millionen von Wehrlo sen, die ihr umbringt, kann ich eure Verzweiflung erse hen.« Ngen lachte und verschwand vom Bildschirm, der sich so veränderte, daß wieder Rees Abbild ihn ausfüllte. »Dreckskerl!« preßte Susan hervor. »Von nun an«, erklärte Ree, »müssen wir den Umraum eines Planeten sichern, auf dem wir den Gegner ausheben wollen, und ihn am Boden niederwerfen. Das macht die Bekämpfung erheblich langwieriger, und unsere militäri schen Verluste werden in die Höhe schießen.« »Andererseits verwandeln wir keine bewohnbaren Pla neten mehr in verwüstete, kahle Einöden«, hielt Darwin dagegen. »Um einen solchen Preis zu siegen, ist nicht zu verantworten. Es ist das gleiche, als wollte man einem Patienten, um ihn von seinen Kopfschmerzen zu erlösen, die Rübe abhacken.« Ree nickte. »Aber Menschenleben wird ein Sieg auf alle Fälle kosten — auf unserer und auf feindlicher Seite.« Er zögerte. »Weil Sie gerade alle am Apparat sind: Wir haben uns über Ngen so einige Gedanken gemacht. Mit den Einzelheiten befassen wir uns noch, aber es kann sein, wir haben eine Methode ausgeheckt, wie wir ihn schnap pen könnten.« Rita beugte sich nach vorn. »Ich bin ganz Ohr, lassen Sie mal hören.« Ree schluckte, die Farbe wich ihm aus dem rotbacki gen Gesicht. »Die Idee ist nicht ohne Risiken. Wir werden Sie in vollem Umfang informieren, sobald wir alles ausge arbeitet haben. Aber Sie sollten schon jetzt wissen, daß der Plan vorsieht, Arcturus als Köder zu benutzen. Es genügt wohl, wenn ich sage, daß reine Verzweiflung uns so etwas eingibt.« »Alles hat Risiken«, brummte Susan, betrachtete zer streut eine Stelle des dicken Teppichbodens. »Was ist dazu Chesters Meinung?« fragte Rita im
Ton der Erregung. »Ich kann mir nicht denken, daß er einfach ...« »Chester spricht überhaupt keine Meinung aus. Er zeigt uns bloß sein verfluchtes Prophetenlächeln, summt klassische Musik und murmelt irgendwelches Zeug über Cusps und Flüge zu den Sternen. Was wüßten denn Sie damit anzufangen, Majorin? Na?« Rita schnaubte. »Sicher, klar, ich kenne diese Prophe tentour doch selbst. Entschuldigen Sie, Admiral. Wir hier haben auch Fragen an Patan gerichtet. Er lächelt nur, daß es einem mulmig wird, und antwortet: >Wartet.<« »Also gut, das ist es jedenfalls, was unsere Denkfabrik auf Welt ausgebrütet hat. Bis uns etwas in den Sinn kommt, an das sich leichteren Herzens herangehen läßt, konzentrieren wir unsere Planung auf Arcturus.« Rees Blick ruckte seitwärts. »Zufällig verhält es sich so, Dok tor, daß Ihre hervorragende Direktübertragung von Ritas Ankunft sich als einleitender Schritt unseres Plans eignet. Wir schlachten sie als uhwiderleglichen Beweis für Ngens Versagen aus. Wie kann er sich als Befreier bezeichnen, wenn er in Arcturus nicht den mindesten Anklang findet?« »So, ich gebe das erste Werkzeug des Endsiegs ab?« flüsterte Darwin kaum hörbar. In seinem Geist entstanden Bilder, die ihm Grausen einflößten. »Wer ist dann schlim mer, Admiral? Ngen oder ich?« »Was haben Sie gesagt, Doktor?« »Nichts.« Schließlich stumm vor Grauen, drohte Dar win unter der Bürde seiner quälenden Gedanken zusammenzubrechen. Trockenen Gaumens zog er die Schultern ein, ein Erinnerungsbild an Patans fiebrige Miene beherrschte sein Denken, er teilte in diesem Moment mit ihm das Leid, das er so oft in den ausgemergelten Gesichtszügen des Propheten sah, den Kummer, dessen Anblick ihn verfolgte. Erst als Susan seine Hand fester drückte, kehrte er zurück in die Gegenwart. »Wüßten wir nur einen Weg, wie wir ihn kriegen könn
ten«, sagte Susan. »Könnten wir bloß eine einzige Abtei lung Sturmtruppen auf sein Flaggschiff bringen. Ein Trupp Krieger würde reichen, um auszumisten ...!« »Wenn Sie ihn finden können, tun Sie's. Die Viktoria ist bereits auf der Pirsch, aber es gibt nun mal verdammt viel Weltraum. Maya will ihn sich genauso gerne vorknöp fen, das versichere ich Ihnen. Haben Sie sonst irgendwel che Vorkommnisse zu melden?« Ree hob die Brauen. »Nichts außer dem, was wir vorhin gesendet haben.« Rita schüttelte den Kopf. »Bitte bestellen Sie Eisenauge, daß ich ihn vermisse.« Wie geistesabwesend nickte Ree, und das Holo erlosch. »Ein Trupp Romananer wäre genug«, betonte Susan. »Wir müßten sie nur an Bord der Gregorius schaffen. In nerhalb eines Tages hätten wir Ngen. Stünde uns ein hin länglich schnelles Patrouillenraumschiff zur Verfügung, so daß er uns nicht davonfliegen kann, hätten wir ihn im Handumdrehen.« Die Kälte einer bösen Vorahnung verstärkte das Un wohlsein in Darwins Magengrube. »Aber wir kämen auch wieder in seine Reichweite.« Hohlen Blicks musterte er Susan, während tief im Hintergrund seines Gemüts Ngens Stimme säuselte.
35
AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Damen Ree durchmaß die langen, weißen Korridore der Projektil. Allein wanderte er durch die Weite seines Raumschiffs, gab sich Reminiszenzen an seine Jugend hin, rang mit dem Weh, das ihm die Pläne verursachten, die er im Zusammenhang mit Arcturus hatte. »Tja, altes Mädchen, wir haben mit dem Ausstrahlen der Sendungen angefangen. Wir lassen Zimbuti öffentlich aussagen, daß der Messias ein Wahnsinniger ist, und be kennen, daß Ngen ihn irregeleitet hat. Darauf wird Ngen reagieren müssen. Arcturus wird von uns zur letzten Ba stion des Widerstands gegen Deus ausgebaut. All die vie len Menschen dort wollen wir aufs Spiel setzen. Sie ha ben mir vertraut, und nun ahnen sie nicht einmal, daß wir sie als Köder mißbrauchen.« Im Vorbeigehen schlug er mit der Faust gegen die Schotts. »Soviel zum Vertrauen, hm? Heiliger Spinne, was ist bloß aus mir geworden?« Er legte einen Handteller an die kühle Graphstahl wand. Unter seinem warmen Fleisch konnte er in den Räu men der Projektil das Leben pulsieren fühlen. Wie stets beruhigte es ihn, das Schiff zu spüren, es beschwichtigte seine innere Aufgewühltheit, vergegenwärtigte ihm, daß er sich im Leib der Projektil — wenigstens hier — in Sicher heit befand. »Sag mir, altes Mädchen, haben wir richtig gehan delt?« Das leise Summen und unterschwellige Vibrieren ringsum mochte als eine sotto voce gegebene Zustimmung der Projektil auslegbar sein. Ree faltete die Hände auf dem Rücken, schlenderte langsam durch den stillen Korridor, lebte ausschließlich mit seinem Raumschiff in Frieden. »Verflucht noch mal,
welche andere Möglichkeit hätten wir denn? Sollten wir nach dem größten Nutzen der Mehrheit streben? Weshalb ist mir nicht wie einem Helden zumute? Was würde Leeta sagen? Welchen Rat wüßte sie für mich?« Er betrat eine Beobachtungskuppel, blieb dort stehen, wippte auf den Zehen, schaute hinaus in die verwasche nen Schlieren der Gestirne. Im Muster der Sterne ver mochte er sich Leetas Gesicht vorzustellen, er konnte sich ausmalen, wie ihre blauen Augen seinen Blick fest und klar erwiderten. Ihm schien es, als hörte er aus dem Dunkel des Alls ihre Stimme, spräche sie sich für eine Handlungsweise aus. Es geht um einen hohen Einsatz, mein lieber Oberst. Weiß Gott, wir könnten dadurch alle schuldig werden. Aber Sie müssen die Verantwortung auf sich nehmen, Damen. An Ihrer Stelle ginge ich genauso vor. Das hätte sie zu ihm gesagt. Außerhalb der transparenten Kuppelwölbung durch flammte wie ein Kometenschweif ein Strahl ausgestoße ner Reaktionsmasse die Sternhaufen. »Ich weiß, was Sie mir sagen würden, Doktor. Daß dies Opfer eine Voraus setzung fürs Überleben der Menschheit ist. Das ist so et was, das Sie aus Ihren Sammlungen vergammelter prähi storischer Knochen erlernt haben, nicht wahr? Diese Schlußfolgerung hätten Sie aus Ihrer Anthropologie ge zogen, aus der Lektion, die Sie auf Welt dazulernen muß ten.« »Damen?« Ree drehte sich um, sah im Licht, das durch den mit einer druckgeschützten Sicherheitspforte verschließbaren Einstieg zur Beobachtungskuppel fiel, Eisenauges Gestalt sich in Umrissen abzeichnen. »Hier, Kriegshäuptling.« Ree wandte sich wieder dem All zu, betrachtete die Myriaden von Sternen, die das Schwarz des Weltraums mit gräulich-silbrigen Schwaden verschleierten. Wie friedlich war es draußen in der Kälte des Vakuums.
»Ich bin umherspaziert, habe mit dem Schiff geredet ... Und mit Leeta.« Eisenauge nahm auf einem der Sitze für Spektroskopie-Observationen Platz, zog ein muskulöses Bein an den Leib und richtete den Oberkörper hoch auf, um hin ausblicken zu können. »Es gereicht Leetas Andenken zur Ehre, daß du so mit ihr sprichst. Eines Tages wird sie es erfahren. Deine Seele wird — wie alle Seelen — zu Spinne zurückkehren. Dann werdet ihr euer Wissen ein ander mitteilen.« Versonnen lächelte Eisenauge. »Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, soviel weiterreichen zu dürfen.« Ree nickte, sein Blick erhaschte in der Schwärze des Weltalls erneut, nur diesmal schwächer, ein Aufflammen von Reaktionsmasse. Im Umraum Welts manövrierten große Raumschiffe, schwenkten in eine Kreisbahn ein. Über dem Planeten füllte sich der Orbit mit Schiffsein heiten. Die Leere in Rees Innenleben blieb. Ree wartete, genoß die Ruhe des Augenblicks. Ihm war, als könnte er mit der Stille außerhalb der Kuppel ver schmelzen; wie die Sterne in friedlichem Selbstbetrug leben. Nach einer Weile ergriff Eisenauge mit gedämpfter Stimme das Wort. »Du hast noch immer Gewissensbisse wegen des Arcturussystems?« Damen nickte. »Nachdem ich derartig viel Tod, Leid und Greuel mitangesehen habe, Kriegshäuptling, ist mir die Aussicht zuwider, womöglich noch mehr Unschuldi ge ins Verderben zu stürzen. Sie haben mir Vertrauen geschenkt, John. An mich haben sie sich um Schutz gewandt. Und was mache ich? Ich versuche mich schon auf die Zeit nach ihrem eventuellen Verrecken vorzube reiten. Auf Alpträume von Leichen. Verbrannten ... Dekompressionstoten. Auf zahllose tote, aus den Schä delhöhlen gequollene Augen, die mich anstarren und fragen: Warum?« Er hob die Hände, kehrte die Handflä
chen nach oben. »Und ich weiß darauf keine Antwort.« Eisenauge strich mit den Fingern über den straff gespannten Stoff seiner Hose, als ob er den Quadrizeps massierte. Auch er schaute düster-ernsten Blicks hinaus in den Frieden des Alls. »Die Antwort ist Spinnes Sache. Niemand von uns ist unschuldig, Damen. Wir werden als Menschen geboren und tragen die Verantwortung für unser Tun und Lassen. Erst wenn das Gespräch auf Gerechtigkeitsvorstellungen kommt, geraten wir in Schwierigkeiten. Gegenwärtig fühlst du dich schuldbelastet, weil so viele Menschen ster ben müssen, wenn wir Ngen zur Strecke bringen. Schuld gefühle entspringen dem Empfinden, ungerecht zu han deln. Aber nicht du hast das Universum so geschaffen. Spinne hat's. Nicht nur das, du würdest es, hättest du die Wahl, gar nicht anders beschaffen haben wollen. Was ist denn Gerechtigkeit? Ein von Menschen erdachtes Kunst gebilde. Eine symbolische Abstraktion der menschlichen Machtlosigkeit. Existierte Gerechtigkeit als endgültige Wahrheit, wäre sie, glaube ich, letzten Endes ein Mittel der Selbsteinschränkung. Daraus entstünde eine Vermi schung der Verhaltensweisen, die zum Schluß in Gleich förmigkeit enden müßte. Ungerechtigkeit ist — zusam men mit Schmerz und Leid — der Brennstoff des Univer sums. Ohne sie würde sich nie irgend etwas ändern.« »Na schön. Also finde ich mich mit der Schuld ab. Trotzdem ist es mein Handeln, meine Entscheidung, die vielleicht das Todesurteil für Milliarden von Menschen bedeuten. Ich hintergehe ihr Vertrauen. Das ist der Teil daran, der mir auf den Magen schlägt. Und nun? Vom Hel den des Sirius bin ich zu einem Ungeheuer geworden, das Arcturus verrät. Ja, ich weiß, du hast einerseits recht mit dem, was du über Ungerechtigkeit sagst. Aber andererseits muß es mir, bloß weil es so ist, wie es sich verhält, nicht unbedingt gefallen.« Eisenauges harte Finger glitten durch die Coups an seinem Gürtel. »Solange wir Schuld zu tragen haben,
Damen, solange sie uns drückt, werden wir versuchen, daran etwas zu ändern. Aber du wirst den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Ich werd's ebensowenig. Daß wir darun ter leiden, ist vollauf in Spinnes Sinn. Dadurch lernen wir ... Und vermitteln ihm Lehrreiches über seine Schöp fung.« Ree langte mit einem Arm nach dem Spektroskop und versetzte mit einem Schubs die Schutzhaube ins Kreiseln. »Weißt du, ich muß immer wieder an früher zurückden ken. An alles, was ich gesehen habe, an die Gerüche, an bekannte Gesichter ... All das läßt mich nicht los. Sogar die dreckigen, verschlissenen Korridore der unteren Eta gen haften mir noch im Gedächtnis. Ständig entsinne ich mich an Dinge, die ich längst vergessen geglaubt hatte. Ich habe Arcturus verabscheut. Meine Familie ... Naja, sie hat mehr als genug Schweres durchzustehen gehabt. Mein Vater wurde als Kind übel verletzt. Er ist mit dem Kopf aufgeprallt, hat einen Hirnschaden erlitten. Mutter und er lebten zusammen, weil keiner von beiden je 'n anderen Partner gefunden hätte. Das sagt einiges über meine Mut ter. Sie war nicht die größte ... Ach, soll sie in Frieden ruhen. Im Direktorat hungert niemand, aber wohnen muß jeder nach seinen Verhältnissen. Wir zählten zu den Rand sässigen. Andauernd hat irgend jemand einen neuen Wohncontainer auf die Außenseite geschweißt. Genau auf diese Weise ist Arcturus fortwährend gewachsen. Am Außenrand tritt permanent hohe Winkelbeschleunigung auf. An seinem Wohnsitz ließ sich der soziale Rang eines Menschen ablesen. Die Bewohner der Niedrig-Ge-Sektionen oben waren wohlhabend. Wir wohnten so weit unten, daß mich unter dem Fußboden meines Schlafzimmers nur zwei Zentimeter Graphstahl vom Vakuum trennten. In einer Schwerkraft von eins Komma zwo Ge aufzuwach sen, hat mir aber immerhin zu einem starken Körper ver holfen. Das war ein Pluspunkt, als es um die Aufnahme in die Patrouille ging. Jedenfalls, vier Etagen höher und ein paar Trakte weiter achsenwärts gab's 'n kleinen Laden. Der
Inhaber war 'n kleines, altes Männchen von der Erde. Er stammte aus Moratuwa auf irgendeiner Insel südlich Indiens. Er verstand es, aus Schokolade, gefrorener Milch und Trestermalz die wunderbarsten Getränke zu mixen. Ich werde immer in Erinnerung behalten, daß er mir dann und wann ein Glas umsonst zuschob, weil ich nicht mal 'n Zehntel der Kredits hatte, um so 'n Drink zu bezahlen. Inzwischen ist's lange her ... aber falls der alte Chanandras noch dort lebt, danke ich ihm herzlich schlecht, was er für mich getan hat. Er ist zu mir, als ich 'n Junge war, immer freundlich gewesen. Hat mit mir gesprochen. Mich zum erstenmal in meinem Leben wie einen richtigen Menschen behandelt ... Und guck dir nur mal an, wie jetzt am Ende mein Dank aussieht.« Eisenauge bewahrte Schweigen. »Bis zum letzten Stündlein werde ich mich daran erin nern, wie er mir erläutert hat, es sei die einzige wahre Sünde, die ein Mensch begehen könnte, einen Traum erlö schen zu lassen. Jedesmal wenn jemand das täte, erzählte er mir, würde im Universum ein Licht dunkel werden.« Ree stellte einen Fuß aufs Geländer. »Es ist komisch, wie man sich ausgerechnet an derartige Dinge entsinnt, sie einen das ganze Leben hindurch beschäftigen. Ich habe es nie vergessen. An der Universität habe ich es sogar zu meiner Devise gemacht, und ich hab's beibehalten, als ich auf die Projektil versetzt worden bin. Ich denke mir, in mancherlei Hinsicht ist es Chanandra gewesen, der mich hier hergebracht hat, in diese Situation, ganz einfach, indem er sich die Zeit genommen hat, um damals an dem Tag etwas Beeindruckendes zu mir zu sagen.« Eisenauge füllte seine Lungen mit Luft und atmete aus. »Und wie viele Träume werden erlöschen, wenn wir Ngen nicht zerschmettern? Hat dein Freund je erwähnt, daß man auch einen Traum opfern kann, damit ein anderer weiter lebt? Träume sind wie Menschen, Damen. Wenn einer ver geht, wird ein anderer geboren.« Ree nickte. »Ich will gar nicht versuchen, mich irgend
wie herauszureden, John. Uns bleibt überhaupt keine andere Wahl. Es ist so, wie Leeta es mir gegenüber einmal ausgedrückt hat: >Wir haben nichts zu verlieren.< Sollten wir scheitern, gerät die Menschheit unter Ngens Knute. Ich bin der Meinung, um eine solche Zukunft abzuwen den, ist kein Opfer zu groß. Nur wenn man sein Bewußt sein auf die Gesamtheit ausdehnt, so wie Schopenhauer es beschrieben hat, nämlich die Einheit mit ihr findet, sich mit allen Menschen identifiziert, wird diese Vorstellung zur Belastung. Wir sind ich, ich bin wir. Ohne eine gewis se zeitliche Zufälligkeit könnte ich es sein, dem in dieser gewaltigen Sternenstadt der Tod droht.« »Glaubst du nicht, daß das auch die Lösung des Pro blems ist, Damen? Du hast dich schon so oft in Gefahr gebracht, denkst du nicht, nun könnte auch einmal die Menschheit als Ganzes ein Risiko hinnehmen? Wenn du dein Bewußtsein so erweitern kannst, daß du >Wir sind ich< zu sagen imstande bist, ist dir dann nicht klar, daß auch das Gegenteil stimmt? Kann die Gesellschaft nicht zur Abwechslung einmal den Standpunkt beziehen: >Wir sind du Und da es bei dem gesamten Konflikt um die Menschheit geht, muß nicht immer nur Damen Ree sich Gefahren aussetzen ... Die Risiken sollten von allen ande ren mitgetragen werden.« »Völlig logische Überlegung, Eisenauge. Aber die Pa trouille hat mir Jahr für Jahr eingehämmert, ich sei dazu da, was die Menschheit betrifft, um sie zu schützen.« »Die Menschen sind jetzt frei. Laß sie selbst die Oblie genheiten der Freiheit übernehmen, Chester hat zum Direktor gesagt, wir seien alle zum Freisein verurteilt.« »Falls Ngen diese Bestimmung nicht aufhebt. Du weißt, er kennt Methoden, um den freien Willen zu besei tigen.« Ree spreizte die Hände, richtete den Blick zwi schen die Sterne. »Ich weiß es nicht, aber ich habe den Eindruck, manche von uns sind zu härteren Folgen des Freiseins als andere verurteilt. Ich fühle mich ausgelaugt, John. Ich trage die Bürden anderer Leute schon seit
langem. Jetzt warte ich bloß noch darauf, daß einmal alles vorüber ist. Im vergangenen Jahr habe ich mich damit befaßt, junge Männer und Frauen auszubilden, damit sie zu den Sternen und in den Tod fliegen. Ngens Macht wächst wie Schimmel auf verdorbenem Fleisch. Spinnes Wort verbreitet sich von Stern zu Stern aus, aber wir müs sen warten, obwohl wir wissen, daß noch sehr viele Men schen sterben werden, und es läßt sich kein Ende der Gewalt und des Schreckens absehen.« »Damen, plage dich nicht mit Selbstvorwürfen, die Spinne gemacht werden müßten. So eine Haltung bleibt Heiligen und Propheten überlassen, nicht Soldaten.« Ree rieb sich den Nacken, gab ein gereiztes Brummen von sich. »Was würdest du treiben, John, hätten wir end lich einmal unsere Ruhe?« Nachdenklich spitzte Eisenauge die Lippen, verkniff die Lider, als spähte er angestrengt in weite Fernen. »Eine Zeitlang Pferde züchten. Wilde Fohlen zu schnellen, klu gen Reittieren abrichten. Und ich hätte gerne Rita bei mir, einfach um sie zu lieben und mich über ihre Nähe zu freu en, mit ihr zu reden, sie zu fühlen, mit ihr zu lachen und Späße zu machen, sie an mich zu drücken, wenn ich müde bin.« Er schwieg kurz. »Vielleicht ein Kind aufziehen ...« Er lächelte aus plötzlicher Verlegenheit. »Weißt du«, fügte Eisenauge schließlich hinzu, »Che ster hat recht. Man muß die Seele nähren. Und wenn man ihr nichts als Gräßlichkeiten zuführt, bin ich mir nicht si cher, ob man dadurch ein gesunder Mensch bleibt. Ich würde Spinne gerne eine ausgewogene Beschreibung des Daseins zukommen lassen. Nicht nur Leid, sondern auch ein wenig Vergnügen und Wonne.« »Kann sein, genau da liegt bei mir das Problem.« Ree straffte sich, bog den Rücken hintenüber, ächzte. »Viel leicht habe ich, seit das alles begonnen hat, einen Teil mei ner selbst verloren. Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich das Empfinden, mich bloß noch mit Sorgen zu zermar tern. Wenn ich den Eindruck habe, zu hart und herzlos zu
sein, erschreckt es mich selbst. Dann fühle ich mich wie der so wie heute, als trüge ich die Haftung für jedes ein zelne lebende wehrlose Individuum, und dann sorge ich mich, ich könnte ein weinerlicher Jammerlappen werden. Und ich finde keine Zeit, um das Gleichgewicht wiederzu erlangen, in Spinnes gefahrvollem Netz zur Mitte zurük kzukehren.« Nochmals hob er die Hände. »Und um ehr lich zu sein, mir fehlt Chester. Ich wünschte, er wäre noch hier, so daß ich mit ihm sprechen könnte. Auch wenn er meine Fragen nie beantwortet hat, war es doch ein gutes Gefühl für mich, ihn bei mir zu haben.« »Und natürlich hast du keine Ahnung, weshalb er an Bord der BK wollte?« Eisenauge hob die Brauen. »Propheten fallen nicht in meine, sondern in deine Zuständigkeit, Kriegshäuptling. Heiliges Kanonenrohr, nein! Verrät ein Prophet überhaupt irgendwem irgend etwas? Was hätte ich denn tun sollen? Chester kommt rein, summt was von Bach und fragt mich, ob er auf die BK darf. Und was tu ich? Sollte ich etwa nein sagen? Einem Propheten?« Ree stieß einen dumpfen Laut aus, als bliebe ihm die Luft weg, und schüttelte den Kopf. »Aber die Angelegenheit ... beunruhigt mich. Zwei von ihnen zur selben Zeit in Arcturus-Stadt? Beide an einem Ort, der gute Aussichten hat, demnächst zum nuklearen Zielgebiet zu werden? Und beide lächeln nur auf diese Art und Weise vor sich hin, daß man am liebsten über schnappen möchte.« Zwischen den Gestirnen gleißte ein greller Leuchtstrei fen aus Reaktionsmasse. »Die Patrouillenobristen sind eingetroffen«, sagte Eisenauge halblaut. »Darum habe ich dich gesucht. Ich bin etwas nervös geworden, als die Kommu mir mitteilte, daß dein Kontaktron abgeschaltet ist. Ich habe eine Weile gebraucht, um dich zu finden. Ich dachte mir, es sei besser, ich sehe mal nach dem rechten. Unterhalte mich mal 'n Moment lang mit dir, um mich zu vergewissern, daß mit dir alles in Ordnung ist. Du stehst jetzt schon ziemlich lang unter erheblicher Anspannung.«
»Wolltest den Babysitter spielen, hä?« Mit den trocke nen Lippen machte Ree T-t-t. »So, du meinst, es ist jetzt soweit, daß ich dafür büßen muß, hm?« »Wir alle sind Teil von Spinnes Netz, Damen. Sie sind da. Bleiben wir bei unserem Plan?« Ree schloß die Augen, atmete tief. Er nickte, bewegte den Kopf ruckartig auf und nieder. »Weißt du, ich beneide dich, Eisenauge. Falls wir all das wirklich einmal lebend überstanden haben sollten, kannst du tatsächlich einen Schlußstrich ziehen, auf dich warten Rita und Pferde. Ich habe nur meine Projektil, aber vielleicht genügt sie mir ja ...« Er trat auf den Durchstieg zu, blieb dort jedoch stehen, schaute sich mit zur Seite geneigtem Kopf nach Eisenau ge um, der soeben aufstand. »Nein, das ist eine Unwahr heit, mit der ich mich selbst anlüge. Wie sehr mir die Pro jektil auch lieb ist, ich vermisse in meinem Leben etwas. Manchmal frage ich mich, ob's überhaupt die Mühe wert ist, das Ringen fortzusetzen, es weiter zu versuchen, ohne jemals sicher zu sein, ob nicht doch alles zusammen bricht.« »Wir sind zum Freisein verurteilt«, rief Eisenauge ihm zum zweitenmal in Erinnerung, seine verhärtete Faust faßte Ree an der Schulter. »Das ist eben Spinnes Weg, Damen. Du mußt kämpfen, oder deine Seele wird morsch. Man lebt nur, um zu lernen, um Spinne zu dienen. Aber wenn du darüber nachdenkst, was du geleistet, wozu du so vielen verholfen hast, ist dein bisheriges Leben wirklich so übel gewesen? Müßtest du morgen sterben, hättest du Spinne jede Menge zu erzählen. Ist das nicht der großar tigste Gewinn, den jemand aus seiner Lebenszeit erzielen kann?« Ree erwiderte seinen Blick, ein grimmiges Lächeln verzerrte ihm die blutleeren Lippen. »Ich würde sagen, ein so mieses Leben war's nicht. Aber sobald alles vorbei ist, werde ich mich, falls es Arcturus' Untergang bedeutet, wenn wir Ngen eliminieren — und ich bin der Überzeu
gung, daß es so kommen wird —, von allem zurückziehen. Ich fliege mit der Projektil irgendwohin und suche mir meine Art von Pferden ... Egal was es sein mag.« Eisenauge gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Ich glaube, da wird bereits ein neuer Traum geboren, Damen.« »Aber erst haben wir noch mehr Drecksarbeit zu erle digen.« Ree schüttelte den Kopf, betrat das Weiß des Kor ridors; Friede und Stille der Sterne blieben hinter ihm fern. »Kann ich davon ausgehen, daß man sich um sämtliche Einzelheiten gekümmert hat?« Eisenauge feixte boshaft. »Ich bezweifle, daß Ihre ehe maligen Kameraden irgendeinen Begriff davon haben, was die bevorstehende Konferenz ihnen zumuten wird.« »Wir wollen hoffen, daß wir wissen, was sie uns zumu tet, Kriegshäuptling.« *
*
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DIREKTORATSADMINISTRATION, ARCTURUS-STADT
»Es bleibt die Tatsache bestehen, daß wir die gesamte Stadt evakuiert haben. Ist Ihnen eigentlich klar, was das heißt? Anderthalb Millionen Menschen können nicht ein fach ihren Krempel nehmen und fortgehen. Wenigstens auf Kidian nicht. Hier findet der Verkehr unter der Ober fläche statt. Bei der Panik sind Leute umgekommen. Und weshalb? Wegen einer Atomkatastrophe, die nicht passiert ist. Also, ich weiß nicht, was das für ein blödsinniger Humbug sein soll, den Sie ...« »Haben Sie das Ventil überprüft? Patan sagte, eines der Ventile in den Kraftwerksturbinen hätte einen Defekt.« Pike umklammerte die Eckkanten der Kommu-Konsole, versuchte beherrscht Haltung zu wahren, während er in die Aufnahmeoptiken blickte, die sein Abbild nach Kidian übermittelten.
Der Supervisor fuhr sich mit nervöser Hand übers flei schige Gesicht, zauste die buschigen, weißen Brauen, die wie Federbüschel in die Richtung seiner rosa Glatze hin aufragten. »Jawohl, das Ventil ist vor zwei Wochen ausge tauscht worden. Und ja, es stimmt, der Grund, warum's ausgewechselt worden ist, war 'n Riß in der Antriebswelle der Turbinen für die Flüssigkeitslenkung. Aber das war vor zwei Wochen. Wo ist denn da der Prophetentrick? Mann, Sie spielen mit dem Feuer, die Padri bemühen sich hier schon lange um die Genehmigung für den Bau eines Tempels. Jetzt hat Ngen natürlich doppelt soviel Anhänger als vorher auf Kidian. Wie soll ich hier die Situation im Griff behalten, wenn Sie ...« »Ich bitte Sie, Supervisor, ich verstehe Ihre Lage voll kommen. Ich habe Basar gesehen. Ich habe sogar beim ersten dortigen Aufklärungsunternehmen mitgemacht. Helfen Sie uns. Wie war das mit dem Ventil? Wie ist der Defekt erkannt worden? Was war vorgegangen? Wie kam es zur Auswechslung? Erzählen Sie mir alles, was Sie dar über wissen. Bitte, wir sind genauso verwirrt wie Sie. Patan hat noch nie eine derartige Fehlankündigung getan.« Und wieso, bei Spinne, ereignet sich so etwas gerade jetzt, verflixt noch einmal ? Der Supervisor seufzte. »Na schön ... Alles, was ich weiß, ist, daß die Frau des Cheftechnikers ihn vor drei Wochen verlassen hat. Sie sagte, der Knabe wäre mehr mit seinem Beruf als mit ihr verheiratet. Auf jeden Fall hat sich dann Vik — das ist der Cheftech — im Kraftwerk total in die Arbeit gestürzt. Die Inspektion der Ventile war längst überfällig, und weil er sich so deprimiert fühlte, wollte er sich mit etwas Sinnvollem beschäftigen. Er hat die Hauptanlage abgedeckt und angefangen, eine fluoro skopische ...« »Aber er hatte eine Entscheidung getroffen, nicht wahr? Er mußte diese Inspektion nicht durchführen, oder? Sie gehörte nicht zu seinen üblichen pflichtgemäßen Auf gaben?«
»Nein, es kam durch das, was ich erwähnt habe, näm lich wegen seiner Frau ... Ähm ... Auf was möchten Sie hinaus? He, geht's Ihnen gut? Sie sind um die Nase ganz käsig geworden.« Pikes Schultern sanken herab, er schloß die Lider. »Der Cusp. Patan hat den Cusp übersehen.« Der Supervisor hob den Kopf. »Tja, 's wird wohl bes ser sein, Sie zügeln den Burschen etwas, Doktor, es ist nämlich möglich, daß sie gerade sämtliche zehn Millionen Kidianer Ngen in den Rachen geworfen haben. Seine Auf wiegler ziehen schon durch die Straßen, nutzen das Versa gen des Propheten für ihre marktschreierische Demagogie aus und ...« »Verdammt noch mal!« brauste Darwin auf, ein Anflug drohender Panik beschleunigte seinen Herzschlag. »Begreifen Sie denn nicht, was los ist? Er geht kaputt! Stürzt immer weiter in die Zukunft, beeinflußt Cusps. Er wird irrsinnig, Supervisor. Opfert sein Leben, verliert die Fähigkeit, in seine Realität umzukehren, weil der Abstand zwischen unserer Gegenwart und der Zukunft, in die er Einblick nimmt, immer größer wird, zu groß. Er erliegt ... Ach verflucht, Patan...!« Pike sackte auf dem kleinen Stuhl in eine schlaffe Haltung. Unruhig rutschte der Supervisor an seinem Platz hin und her; die Übertragung zeigte hinter seinem Rücken mit Schiefer getäfelte Wände und auf seinem Schreibtisch das Holo einer Frau, die freundlich aus dem Bild lächelte, und eines Paars Kinder. »Hören Sie, es tut mir leid, daß der Prophet nicht mehr kann, Doktor. Aber es stecken zur Zeit zahlreiche Men schen in Schwierigkeiten. Einer davon bin ich. Sollte es hier gelingen, der Bevölkerung den Tempel aufzuschwat zen, oder falls ein Padri-Agent mich wegpustet, werden binnen kurzem auf Kidian 'ne Masse Zombies rumlaufen. Wegen der allgemeinen Verknappung ist die Stimmung der Kidianer sowieso äußerst schlecht. Sicher, es ist Krieg, aber leere Bäuche haben zusammen mit Mißtrauen gegen
über den Wasserköpfen zur Folge, daß Ngens Predigten für die Einheimischen wie echte Verheißungen klingen. Die Basar-Holos müssen sie ja nicht unbedingt für wahr halten. Ihre Darstellung steht gegen Ngens Aussagen. Die ser Planet schaukelt auf der Kippe. Sie haben zu dem Schlamassel beigetragen, also helfen Sie mir nun gefäl ligst aus der Scheiße, ja?« Darwin nickte; er fühlte sich abgespannt. »Ich verstän dige Admiral Ree. Ein neu umgerüsteter FLF wird momentan mit einer von der Miliken abkommandierten Patrouillenbesatzung bemannt. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Sagen Sie den Kidianern, daß ein Patrou illenraumschiff kommt, um ihnen Ngens Zombies vom Hals zu halten.« Der Supervisor nickte gleichfalls. »Ausgezeichnet. Ein Kriegsschiff wiegt fünfzig unzuverlässige Propheten auf.« Der Bildschirm wurde dunkel. Pike bemerkte, während er da auf dem Stuhl saß, wie hinter seinen Augen ein Kopfschmerz entstand. Der Tech hatte aus freiem Willen gehandelt, den Entschluß gefaßt, sich mit Arbeit abzulenken. Er hatte einen Cusp entschie den — und Patan war hinsichtlich der Zukunft, die Rea lität werden sollte, ein Irrtum unterlaufen. Er hatte die Per spektive verloren. Und es mußte immer nur noch schlim mer werden, indem Patan sich stets weiter von der Realität entfernte, im Künftigen verirrte. Für lange Augenblicke starrte Pike den leeren Monitor an. Mit tauben Fingern nahm er das Kontaktron von der Konsole, wischte sich die kalte Stirn, ehe er das Metall band überstreifte. »Ich brauche eine Transduktionsverbindung«, gab er der Kommu durch, »und zwar mit Admiral Ree auf Welt.« *
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GLENDIVIAN, SEKTOR MOSKAU
Die Errichtung der Glendivian-Kolonie geschah in der Frühzeit des Direktorats. Aufgabe der kleinen Siedlung ist es, aus dem glendivianischen Schlammeis Deuterium, Flüssigwasserstoff, Ammoniak, Methan, Äthan, Acetylen und Schwefel abzubauen. Zu diesem Zweck leben die Glendivianer in einer mobilen Planetenbasis, die sich als autonome Habitatseinheit >schwimmend< durch den Oberflächenmorast bewegt. Exporte werden in die gasför mige Grenzschicht transportiert, mittels motorisierter Bal lonfähren zu IPV-Verladestationen hinaufbefördert und anschließend per FLF nach interstellaren Industriezentren wie Argus, Range, Tschuhutien und Simons Planet ver frachtet. Die Bevölkerung beträgt gegenwärtig etwa 1,2 Millionen.
In Max Westilskis Büro erlosch das Holo mit den Ge sichtszügen des Propheten. Der Supervisor wölbte die dicken, schwarzen Brauen, furchte die in seiner abfallenden Stirn eingerunzelten Fal ten tiefer. Seine Wurstfinger trommelten auf dem Schaumstahl-Schreibtisch, während sein Blick über die Mienen seiner Ratgeber schweifte, die ringsum in den Polsterses seln des Büros saßen. »Also?« fragte Seely, warf sich die dichte schimmern de Pracht ihres Blondhaars über eine wohlgeformte Schul ter. »Haben Sie beschlossen, sich auf die Seite der Roma naner und des Spinnenpropheten zu stellen? Irgendwie habe ich's geahnt, daß es so kommt, Max. Wird sicherlich am Barbarenblut in Ihren Adern liegen, hm?« Ja, es ist klar, daß du so denkst, du mißgünstige, hinter listige Hexe. Nun ja, das macht die Sache etwas schwieri ger, du frigider Vampir. Verkniffen betrachtete Max den dunklen Holo-Bildschirm, wies mit dem Daumen auf den Kommu-Apparat. »Das hat dieses dünne Bürschchen in Arcturus wenigstens nahegelegt.« Seely hob den Kopf, im tiefen Meerblau ihrer Augen
stand offene Herausforderung. »Manche unter uns wird es freuen, zu sehen, daß jemand, der sich immer als >eigen ständig< bezeichnet hat, doch die eine oder andere Schwäche hat.« Max rückte sich zurecht, bemerkte die grimmigen Reaktionen rundum im Büro. Damit hatte sie den Konflikt auf die Tagesordnung gesetzt. Gewiß, er hatte daran gedacht, sich auf die Seite der Romananer zu schlagen, den kürzlich eingetroffenen Haufen Padri in den Schlamm und die Kälte hinauszuwerfen. Dann hätten sie nachprüfen können, ob ihr Glaube an Deus sie am Leben hielte, wenn sie bei minus zweihundert Grad Äthan atmeten. Und die Romananer machten auf seine harte Persönlichkeit starken Eindruck. Nur würde Seely eine solche Entschei dung nun gegen ihn auszunutzen verstehen. Schon seit Jahren gierte sie nach seinem Amt, seiner Macht. Und sie verfügte — das mußte er zugeben, verdammt noch einmal — über ausreichende Gerissenheit und Schläue, um seinen Posten an sich zu reißen. Ganz davon zu schweigen, daß sie wie das vollkommene Ebenbild einer Göttin aussah, wogegen er mit seinen struppigen Brauen und dem grob knochigen Gesicht eher die Leute an einen Troll erinnerte. »Tja«, meinte Max, »da uns das Holo von Ihnen prä sentiert worden ist, darf ich wohl annehmen, daß Sie auch schon Ihre Pläne geschmiedet haben?« Seely reckte das Kinn in die Höhe, ließ das lichte Wei zenblond ihrer Haare in Wellen vom Dunkelblau ihres Manteaus wogen. »Ich habe bekanntgegeben, daß Sie sich dem Insektengott unterwerfen möchten, ja. Man hört in Bevölkerungskreisen bereits gewisse Äußerungen der Enttäuschung. Jetzt hat der ferne Arcturus dafür gesorgt, daß ich Sie doch noch kleinkriege, Max. Morgen um diese Zeit werden Sie dies Büro geräumt haben und wieder in der Produktion tätig sein, in der Qualitätsprüfung, wohin Sie gehören.« In Max' verdrossener Miene zuckten die Lippen. »So, glauben Sie, hä?«
Seely richtete den Kopf höher auf, ihre Brauen ruckten empor. Die übrigen Berater zappelten an ihren Plätzen, warfen einander, sich dessen bewußt, daß sie höchst wahrscheinlich am Vorabend einer neuen Machtstruktur standen, unbehagliche Blicke zu. »Kommu?« Max lehnte sich zurück, faltete die Hände auf dem Bauch. »Jawohl, Sir?« »Bitte informieren Sie die Padri-Delegation, daß ihrem Gesuch um Baugenehmigung für einen Deus-Tempel stattgegeben ist. Richten Sie außerdem der Delegation mein herzlichstes Willkommen aus und teilen Sie ihr mit, daß Glendivians Ressourcen dem Messias zur Verfügung stehen.« »Aber ... das können Sie doch nicht machen! Doch nicht einfach so ... Die Padri verkörpern das Gegenteil von allem, was Sie je vertreten ...« Seelys makelloses Gesicht hatte einen Ausdruck der Bestürzung und Fas sungslosigkeit angenommen. »Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sie elender, falscher ...« »Wenn Sie das nächste Mal vorbeischauen, Seely, klopfen Sie bitte vorm Eintreten an.« Max erlaubte sich ein Lächeln der Genugtuung. »Und wenn Sie uns nun bitte weiterarbeiten lassen würden ... Dort ist die Tür.« *
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ADMINISTRATIONSTRAKT, DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
Ich hätte nie gedacht, ich könnte einmal darüber froh sein, wenn der wasserköpfige Halunke mir über die Schul tern guckt. Kein Wunder, daß er und seine Kollegen ein bißchen durchgedreht sind. Der Angriff hat sich wie ein zweimal verfluchtes Desaster ausgewirkt. Und das sind nur die Folgen für das Arcturussystem ... Die Kommu unterbrach Rita Sarsas Überlegungen. »Ein Anruf für die Majorin.«
»Durchstellen«, rief Rita, der jede Ablenkung von den düsteren Gedankengängen, die ihr Konzentrationsvermö gen beeinträchtigten, recht sein sollte. Die Stapel der For mulare, Genehmigungen, Dementis, Requisitionen sowie diversen anderen Verwaltungsvorgänge verfilzten sich zu einem Alptraum an Bürokratie. Und dabei hatte sie nur mit dem zu schaffen, was zu erledigen blieb, nachdem Skor schon sämtliche geistig anspruchsvollen Angelegenheiten erledigt hatte. Rita heftete den Blick auf den Hauptmonitor, auf dem das Gesicht eines jungen Mannes erschien. Trotz der rela tiven Jugendlichkeit seines Äußeren verriet sein Gesichts ausdruck alles andere als Unschuld. Innerliche Anspan nung verzerrte die Muskeln um seine Wangen und um die Augenwinkel, während er Rita anschaute. Sein Blondhaar hatte er makellos gekämmt, und er trug eine Art von Uni form, deren Schnitt ein wenig an arpeggianische Mode erinnerte. Seine unterkühlten, blauen Augen verrieten nicht mehr Freundlichkeit, als sähe er sie über den Lauf eines Blasters hinweg an. Trotzdem wirkte er nervös, als fühlte er sich unsicher. »Ich bin Majorin Rita Sarsa, zeitweilige Gouverneurin des Arcturus. Was kann ich für Sie tun?« Der Mann räusperte sich. »Was wären Sie für Informa tionen über Ngen Van Chows Maßnahmen zu geben bereit?« Er sprach das Standard mit auffälligem Akzent, bewahrte eine starre Haltung, die Miene so ausdruckslos als wäre sie eine aus Ton gebrannte Maske. An ihren Arbeitsplätzen beugten Susan und Darwin sich vor, widmeten ihre Aufmerksamkeit dem Bild schirm. »Das hängt davon ab, wer Sie sind.« Rita lehnte sich in den Sessel und nahm einen Stift zur Hand. »Und davon, was Sie wollen. Wir hegen absolut keine Bedenken gegen Absprachen ... solange keine überhöhten Forderungen gestellt werden.« »Ich bin Torkild Alhar, Kapitän der Gabriel«, stellte
der Anrufer sich voller merklichem Stolz vor. »Ich habe als erster Mensch der Geschichte Arcturus angegriffen. Das Patrouillenschlachtschiff Ganges ist von mir vernich tet worden. Meine Crew und ich haben vier Planeten anni hiliert. Ich bin ... der letzte Arpeggianer.« Rita nickte, Abweisung in den Augen, während ihre Gedanken rasten. »Trifft die Annahme zu, daß Sie er kannt haben, was Ngen aus Ihrem Volk gemacht hat? Ist das der Grund, weshalb Sie ihn nun abservieren möch ten?« »Ihre Patrouille hat meine Heimatwelt verwüstet.« Alhars Stimme nahm einen haßerfüllten Klang an. »Wir sollten uns nicht anlügen, Majorin. Schon aufgrund die ses Vorfalls werde ich nie Ihr Freund sein. Aber Sie haben meine Heimat im Rahmen einer Kriegshandlung attak kiert. Es war kein ehrloser Akt, aber verzeihen kann ich ihn nicht. Wir wollen zur Sache kommen. Weil Sie im Krieg und aus Pflicht so vorgegangen sind, bin ich den noch geneigt, mit Ihnen Übereinkünfte zu treffen. Auf lange Sicht kann es zwischen uns keinen Frieden geben. Ich vergesse nicht, was geschehen ist, Gouverneurin. Unsere Vereinbarungen in bezug auf Van Chow sollen aus schließlich seine Eliminierung herbeiführen. Danach wer den unsere gegenseitigen Kampfhandlungen wiederaufge nommen. Das ist der Umfang meines Angebots.« Seine Faust knallte vor ihm auf eine Tischplatte, setzte ein Zei chen der Unwiderruflichkeit. »Sie schieben der Patrouille die Schuld zu, so, hä?« Verdammter Blödmann! Was hättest du denn an meiner ... Nein. Halt. Er weiß nicht Bescheid. Ngen hat ihn unwis send gehalten. Rita kaute auf dem oberen Ende des Stifts. »Sie glauben, wir wären hingeflogen und hätten all die vielen Menschen einfach abgeschlachtet? Bei Spinne, das ist Quatsch, Kapitän! Sie waren ... Nein, anhand von Wor ten können Sie's nicht verstehen. Wie wär's, Sie lassen mich Ihnen ein paar Aufzeichnungen zufunken, die wir über Arpeggio angefertigt haben?«
»Aufnahmen kann man fälschen. Warum sollte ich Ih nen Glauben schenken?« Verstimmt zuckte Rita die Achseln. »Kapitän Alhar, es ist mir völlig egal, was Sie glauben. Ich versuche nur, mich mit Ihnen zu verständigen, weil Sie mich für einen Mann Van Chows gehörig überraschen. Sie erwecken den Anschein eines lebenden Menschen, der denkt und atmet ... sich sogar durch Integrität auszeichnet. Sie sind anders als die letzten Arpeggianer, die ich gesehen habe. Sie waren alle im Tempel der Psyching-Umkonditionierung unterzogen worden. Hören Sie zu, Kapitän. Es kann sein, daß wir letztendlich Feinde bleiben, aber Sie kann ich zumindest als Menschen anerkennen, Sie kann ich respek tieren, wenn wir aufeinander schießen. Van Chows Zom bies läßt sich das nicht nachsagen.« »Funken Sie Ihre Aufzeichnungen. Meine Kommu ist auf Empfang.« In den stahlharten Augen des Kapitäns glomm eine Andeutung der Neugier, als wüßte er die Möglichkeit zu schätzen, Ritas Behauptungen eventuell widerlegen, einen etwaigen Betrug entlarven zu können. Und als Rita den Tempel erwähnte, hatte sie offenbar ei nen wunden Punkt berührt. »Arpeggio war einmal für den Mut seiner Bewohner bekannt.« Rita hob die Brauen schüttelte den Kopf und stieß sich auf dem Sessel mit steifen Armen vom KommuTerminal zurück. »Ich begreife nicht, wie Ngen sie derma ßen übertölpeln konnte.« Auf dem Bildschirm ließ sich mitverfolgen, wie Alhar sich die Dokumentation ansah, die ihm die Kommu in di rektionalisierter Form übermittelte. Während langer Au genblicke beobachtete sie das Wechseln seines Mienen spiels, das sich von Gereiztheit zu Betroffenheit, von Un gläubigkeit zu Entsetzen wandelte. »Das waren doch keine ... Das sind Arpeggianer? Sie verhalten sich ja wie Roboter. Wie Tiere ohne ... ohne ...« »Schlimmer als das, Kapitän. Wir mochten nicht ein mal auf Arpeggio landen. Auf Basar hatten wir schon
genug von Ngens Alptraumverhältnissen gesehen. Wir haben uns schlichtweg für die einfachste Aktion entschie den. Der ganze Planet ist gründlich sterilisiert worden. Ich werde Ihnen auch zeigen, was auf Basar los war, ich rufe die Dokumentation ab und funke Sie Ihnen zu ... Jetzt müßte Ihre Kommu sie empfangen. Das ist das komplette Material, Kapitän. Schauen Sie es sich gut an. Verschaffen Sie sich ein Bild davon, zu was Ngen Ihren Heimatplane ten erniedrigt hatte.« Rita zögerte; sie merkte, daß sie Alhar beeindruckt hatte. »Darf ich fragen, wenn Sie nichts dagegen haben, wie lange Ngen Sie Ihre Heimat nicht mit eigenen Augen hat wiedersehen lassen?« »Beinahe zwei Jahre Planetenzeit. Allerdings verrin gert die durch hohe Geschwindigkeit bedingte Dilation ... Ich war nicht mehr ...« Seine Miene wurde härter, als er daran dachte, wie lang er der Heimat hatte fernblei ben müssen. »Zeit hat er reichlich gehabt, um ... Wir sind immer auf dem Flug mit Nachschub versorgt wor den. Ich habe unterstellt, es geschähe aus Gründen der Effizienz.« »Vielleicht war's auch so. Ngen hat die Angewohn heit, verflucht effizient zu sein. Der Schweinehund ist tat sächlich ein echtes Genie. Hören Sie zu: Ich habe nichts gegen einen richtig harten Kampf, aber einen Planeten voller Menschen zu entvölkern, selbst wenn sie Feinde sind ... So etwas tut mir leid, Kapitän. Sie wissen, Sie haben als Teil Ihrer Pflicht auch ein paar Scheußlichkeiten verübt. Welten zu annihilieren, hinterläßt zwangsläufig Gefühle der Scham und der Reue ... So sollte es wenig stens sein, wenn man noch einen Rest Menschlichkeit in der Seele hat. Wie wir mit Arpeggio verfahren sind, war aber eher ein Gnadenakt ...« »Warum sollte ich diesen Aufnahmen glauben? War um?« Argwöhnisch erwiderten Alhars kalte, blaue Augen Ritas Blick. Gleichzeitig bewegte er ununterbrochen die Finger, verklammerte sie, lockerte sie wieder, klammerte sie erneut ineinander. Er saß wie ein Denkmal da, Körper
und Glieder verkrampft. Eine Strähne blonden Haars hat te sich gelöst und klebte im Schweiß auf seiner blassen Stirn. Rita rückte dicht vor den Kommu-Apparat und blickte unmittelbar in die Kamera, drohte Alhar mit dem Stift. »Es ist mir ziemlich gleich, ob Sie glauben, was Sie sehen, oder nicht, Kapitän. Sie erregen mir bloß nicht den Ein druck jemandes, der sich gern an derartigen Ungeheuer lichkeiten beteiligt. Wenn ich mich recht entsinne, war Alhar eine der ältesten Familien Arpeggios. Ich glaube, Ihr Vater dürfte Ihnen beigebracht haben, Wert auf Ehre und Stolz zu legen.« Gut gesagt. Das hat gesessen. »Aber Sie brauchen sich nicht auf mein Wort zu verlassen, prüfen Sie's selber nach. Oder erlaubt Ngen Ihnen nicht, hinter die Kulissen zu gucken? Ich würde wetten, er ist dagegen. Andernfalls hätte er kaum einen tüchtigen Mann in seinen Reihen. Natürlich kann er jederzeit irgendwelche Hafen ratten, wie er selbst eine ist, für Hilfsdienste auflesen. Pal las war so ein ...« »Vielleicht werde ich Nachforschungen anstellen«, sagte Torkild Alhar mit gepreßter Stimme. Auf den Han drücken seiner kraftvollen Fäuste, die die Tischkante gepackt hielten, zeichneten sich die Sehnen ab. Ritas Augen blickten immer eisiger, während sie den Stift zwischen ihren sommersprossigen Fingern hin- und herschob. »Tun Sie das, Kapitän. Finden Sie selbst die Wahrheit heraus ... und erzählen Sie den anderen Offizie ren und Kommandeuren arpeggianischer Herkunft, was aus ihren Familien und Freunden geworden ist. Eigentlich haben wir auf Arpeggio niemanden getötet. Alle waren in Geist und Verstand längst tot.« Anscheinend versuchte Alhar, Rita zu durchschauen, hinter ihren Darlegungen die Tatsachen zu erkennen; alles was er sah, war die bittere Gewißheit ihrer Erlebnisse. »Hören Sie, es ist doch so, Kapitän: Sie werden nichts, was ich sage, als Beweis anerkennen. Sie haben recht, die Aufnahmen könnten gefälscht sein. Ich habe nicht vor, zu
versuchen, Sie übers Ohr zu hauen, Kapitän. Es gibt für mich wichtigere Dinge zu tun, als mich damit abzumühen, Ihnen zu verdeutlichen, daß Fakten Fakten sind und blei ben. Sie würden doch nur glauben, ich wollte Sie über'n Tisch ziehen. Überprüfen Sie das Ganze selbst. Dann wer den wir uns unterhalten. Ich bin der Ansicht, bis dahin wird die Gegenleistung, die Sie verlangen, gesunken sein.« Rita trennte die Verbindung. »Weshalb hast du ihn abblitzen lassen?« rief Susan, sprang von ihrem Platz hoch. »Er war unbezahlbar! Ein Kontaktmann zu ...« Rita lachte fröhlich. »Ach, setzen, Mädel! Ich rechne damit, daß er sich deswegen keine zehn Stunden lang den Kopf zermartert. Wir haben ihn am Kanthaken, Susan. Er hätte nicht angerufen, wäre er nicht sowieso aus irgendei nem Grund von Van Chow bedient. Das ist ein Mann, der aus nichts als Ego und Ehre besteht. Und ich habe sie ihm um die Ohren geschlagen. Ganz gleich, zu welchem Ent schluß er gelangt, er muß nochmals anrufen, um das Gesicht zu wahren.« Schwungvoll erhob sich Rita aus dem Sessel, ihr Körper strotzte plötzlich von frisch mobi lisierten Kräften, sie drosch die Faust wiederholt in einen schwielig-harten Handteller. Sie winkte ab, als Susan sich anschickte, skeptische Einwände zu äußern. »Du mußt auch folgendes berück sichtigen: Er ist Arpeggianer, ich bin eine Kommandantin. Arpeggianer sind komisch, was Frauen anbelangt. Bei ihnen ist es schlimmer als bei euch Romananern, weil sie sie zu allem Überfluß auch noch aufs Podest heben. Also habe ich eine Anzahl Pluspunkte auf meiner Seite. Ursprünglich hat er angerufen, um zu schachern, er bilde te sich ein, er hätte alle Trümpfe in der Hand, aber er ist von mir reichlich gönnerhaft niedergeredet worden. Ich habe seine Unkenntnis dessen, was auf seinem eigenen Heimatplaneten passiert ist, gegen ihn ausgespielt. Den Verlauf des gesamten Gesprächs habe ich bestimmt. Mit
Sicherheit schäumt er momentan vor Wut und weiß nicht einmal genau, warum. Daß ich besser als er informiert bin, verschlechtert seine Lage. Nun muß er beweisen, daß er was taugt. Und Ngen zu hintergehen, ist er ohnehin längst entschlossen. Ich habe ihn bloß noch stärker gegen ihn aufgehetzt.« »So, und was ist, wenn du so gut Bescheid weißt, sein Motiv?« »Etwas im Zusammenhang mit der arpeggianischen Ehre. Die Alhars sind ein altes Geschlecht. Vielleicht hat Ngen seinem Alten eine verpaßt, oder so was. Oder eine gemeine Bemerkung über sein Mütterchen gemacht. Was weiß denn ich? Auf Arpeggio haben sie sich wegen sol cher Vorkommnisse gegenseitig abgemurkst.« Rita hob die Hände. »Für einen Haufen Ex-Piraten waren sie im Verlauf der Zeit ganz schön mächtig und großkotzig ge worden. Ich habe keine Ahnung, aber kann's nicht sein, daß man, wenn man auf keine gloriose Geschichte zu rückblickt, eine Reihe willkürlicher Regeln für Rangver halten ausheckt und an ihnen festhält, um die lumpige Ver gangenheit zu kaschieren?« Wieder unterbrach die Kommu sie. »Dr. Pike? Der Erz bischof erwartet Sie.« Darwin stemmte sich aus seinem Sitz; unter der son dergefertigten Hose sah man die Klobigkeit der Prothese kaum. »Das ist mein Stichwort. Wir sehen uns später. Ich freß mein Kontaktron, wenn der Bursche noch mal anruft.« »Gebongt.« Pikes Hand öffnete am Servomaten die Tür, und er ging hinaus. Susans sorgenvoller Blick ruhte auf der Tür, nachdem sie sich geschlossen hatte. Rita hob die Brauen. »He, was ist denn das? Bemerke ich da etwa verhaltenes Interesse?« »Nein, es ist nur ... Ich meine ... Es geht darum ... Ach, es ist so, daß wir 'ne gemeinsame Bleibe haben. Das hält
uns die Träume fern. Seine und meine.« Trotzig schaute Susan geradeaus. »Seine? Ist er von Ngen dermaßen in die Mangel ge nommen worden?« Susan reagierte auf Ritas Blick, der in ihrer Miene forschte, mit einem Achselzucken. »Entsinnst du dich der Aufnahmen von Ngen und mir, die du sichergestellt hat test? Ich habe aus Basar-Stadt Aufnahmen von Ngen und Pike mitgenommen. Es war nicht das gleiche. Ngen hat nicht ... Ich meine, die Weise, wie er Pike Gewalt angetan hat, war ... In gewisser Hinsicht ist es schlimmer gewesen. Würde ich dir erzählen, was dort geschehen ist, du wärst außerstande, es mir zu glauben.« »Quatsch! Sobald's um Ngen geht, glaube ich jede Art von Abscheulichkeit, die ein Mensch sich nur ausdenken kann. Unser Pike ist nicht mehr das blauäugige Jüngel chen wie anfangs, was?« Susan stand auf und reckte ihre Muskeln. »Niemand ist derselbe Mensch wie vorher, nachdem er in der Hölle gewesen ist, Majorin.« Gemächlich schritt sie auf und ab, die Arme auf der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt, das Gesicht halb unterm herabgefallenen Haar verborgen. »Lange habe ich mir Sorgen um dich gemacht, Susan. Mit dir bin ich ein großes Risiko eingegangen.« Bedächtig nickte Andojar. »Spinne weiß warum. Und das Risiko war größer, Rita, als du's dir je denken kannst. Du bist dir überhaupt nicht darüber im klaren, wie dicht ich nach der Militäraktion im Siriussystem am Rande des Untergangs stand. Es hat wenig gefehlt, und ich wäre zu sammengeklappt, und man hätte mich nie wieder hinge kriegt. Ich ... ich habe mir sogar überlegt, ob ich dich umbringen soll, weil du alles wußtest. Und jeden Tag, wenn ich aufstehe, habe ich nach wie vor mit dem Alp traum zu ringen, Rita. Ich bin nicht geheilt, nicht gesund, lediglich mit knapper Not kann ich zurechtkommen ... Muß es jeden Tag neu.« »Und Pike?«
»Geradeso wie ich hat er eine notdürftig zusammenge flickte Persönlichkeit. Alles, was es braucht, ist ein fal sches Wort, und er geht kaputt. Und er ist krank, Majorin. Er weiß es nicht, aber er hält den Tod nur mühsam in Schach, es ist ein ständiges Hin und Her. Es steht halbund-halb, ob er lebt oder stirbt. Wir ... Ich habe auf dem Rückflug von Basar die Regenerationstherapie forciert. Seine Beinnerven wachsen Stück um Stück nach, so daß die Schäden langsam behoben werden, aber der Krebs greift in ihm um sich. Falls wir die Zeit finden und ihn in eine Med-Einheit legen können, hat Pike eine Chance, zu überleben. Bloß haben wir keine Zeit. Es läuft immer so ab, wie es heute abend wieder sein wird, nach dem Ge spräch mit dem Erzbischof wird er sich, ehe er heim kommt, um Patan kümmern, damit gewährleistet ist, daß der Prophet sich unter den besten Umständen befindet. Dann grämt er sich um Patan, bis er einschläft. Ein paar Stunden später treten dann die Alpträume auf, und er sitzt die halbe Nacht lang in kaltem Schweiß wach. Morgen früh wird er sich, aufgeputscht durch die Träume, wieder eine neue Taktik ausdenken, wie sich noch irgendein reli giöses Oberhaupt auf Spinnes Seite ziehen und in den Kampf gegen Ngens Zombies einbinden lassen könnte. Und ich verschweige seinen Gesundheitszustand ... ver heimliche ihn sogar ihm.« Sie krampfte an den Seiten die Fäuste zusammen. »Wir können uns nicht die Zeit nehmen, die seine Heilung erfor dert. Sein Gehirn, die Methoden, mit denen er Ngens Pro paganda zerpflückt, sind unersetzlich. Und niemand außer ihm kann Patan betreuen, die Aussagen, die er macht, durchschauen und deuten. Du weißt, daß Patan keineswegs in hundert Prozent der Fälle recht behalten hat? Na, wir haben die Neuigkeit jedesmal zu unterdrük ken verstanden, bevor sie sich herumsprechen konnte. Und Pike hat sich eine Permutation ausgedacht, die vor täuschen soll, wir stünden in dieser Beziehung bestens da.« Sie mahlte mit den Zähnen. »Also verstecke ich die
Arztberichte, schöne die medizinischen Befunde, um ihn bei Laune zu halten, während er praktisch im Stehen kre piert. Kannst du dir ausmalen, wie ich mich dabei fühle?« »Klingt recht übel. Vielleicht sollten wir ihn bremsen. Ihn abziehen und ihn im eigenen Interesse in komplette Behandlung schicken? Jemand anderes einsetzen, um ...« Susan schüttelte den Kopf. »Dadurch brächten wir ihn genausogut um, Majorin. Wie ich lebt er nur für das Ziel, Ngen niederzuzwingen ... ihm heimzuzahlen, was er ... was er ... Im Gegensatz zu mir hat er wenigstens eine Per son, der er vertrauen darf, ich bin ja auch dort gewesen. Nimm ihm seinen Daseinszweck, und er wird zugrunde gehen. Er wird sich den Tod wünschen und sterben, bloß um nicht mehr unter den Träumen leiden zu müssen.« »Du liebst ihn?« Susan blieb stehen. Scharfen Blicks straffte sie sich, strich das lange, glänzende Haar nach hinten. »Ich habe nicht die Fähigkeit zu lieben, Rita. Das müßtest du doch wissen, verdammt noch mal. Ngen hat mir damals über Sirius die Liebe ausgetrieben. Ich werde niemals ...« Sie verstummte, wandte sich auf dem Absatz um, klatschte die Hand auf den Servomat-Scanner und polterte zur Tür hinaus. Langsam atmete Rita aus und lehnte sich erneut vor dem Kommu-Apparat in den Sessel. Hinter ihren körnig verklebten Augen saß ein dumpfes Gefühl der Mattigkeit. Untätig sah sie hinüber zu der Sternkarte, die gegenüber an der Wand glitzerte. Nahmen diese höllischen Ereignis se jemals ein Ende? fragte sie sich, dachte an Blutbäder, Tod und Gewalt, denen ihre Krieger im Namen eines hal ben Hunderts Welten entgegensehen mußten. Und was Pikes genialen Einfallsreichtum betraf, hatte Susan recht, darauf konnten sie unmöglich verzichten. »Und ich habe auch keine Zeit, um dir den Mann zu retten, Mädchen. Nicht einmal ich bin dazu imstande.«
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ZENTRALADMINISTRATION, DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
Gewichtsfrei schwebte Skor Robinson im Blau seines Kontrollraums, ordnete den Kommerz seines geschrumpf ten Imperiums neu. Manche Planeten und Stationen hiel ten Ngen Van Chow stand. Andere gaben ihm nach, begrüßten das Greuel der Tempel mit offenen Armen, weil sie den Beweisen, die Romananer und Patrouille dank ihrer Aufklärungsflüge vorweisen konnten, nicht glauben mochten. »Warum nicht?« rief Skor in die Stille seines Kontroll raums. »Was haben wir getan, daß sie Ngen glauben und uns nicht? Wie ist so etwas möglich geworden?« In seiner Erinnerung hörte er Chesters Stimme. »Die Antriebsgründe des Handelns gewöhnlicher Menschen sind für euch nicht nachvollziehbar.« »Ja, das waren sie.« Ohne etwas zu sehen, starrte Skor in die scheinbar endlose Weite des Blaus, das ihn umgab. »Hohlköpfe, wir sind Hohlköpfe gewesen. Und ... jetzt habe ich niemanden mehr, mit dem ich sprechen könnte.« Inmitten des stillen Kontrollraums glotzte er in die flimmrige Ausdehnung des Blaus und empfand es auf ein mal als abscheulich. Mittlerweile hatte er eine Bestätigung seiner ärgsten Befürchtungen erhalten. Die NachwuchsDirektoren, die drei Kinder, die noch im Labor heran wuchsen, hatten durch den Überfall der Padri Schaden genommen. Infolge von Fluktuationen der Energieversor gung waren offenbar die Lebenserhaltungssysteme vor übergehend — nur für einen Moment — ausgefallen gewesen. Weil die Kinder ihr Blut nicht selbstständig küh len konnten, war in den Minuten bis zur Bereinigung der Situation ihre Gehirntemperatur erheblich angestiegen, und diese Folgen dieses zudem mit traumatischer Furcht
verbunden gewesenen Vorgangs, ernste Beeinträchtigun gen des Hirns, ließen sich nicht rückgängig machen. »Also bin ich jetzt der letzte meiner Sorte.« Skor blin zelte ins ewige Himmelblau. »Nawtow ist tot. Roque ist verrückt geworden ... Ein Gefangener im eigenen Geist. Sprache ist ein sehr beschränktes Mittel der Verständi gung. Der letzte meines Schlages ...« Er krümmte sich in Fötalhaltung zusammen, wie er es seit einiger Zeit häufig tat, spürte die Berührung seiner wie bei einem Vogel dün nen Knie an seinem Brustkorb, die ihm ein tröstliches Gefühl des Geschütztseins einflößte. »Ach, Chester, ich bin so allein. Wo bist du, Prophet? Komm und rede mit mir. Bitte komm. Ich kann es nicht mehr lange aushalten. Ich kann keine Einsamkeit ertra gen ...!« * * * AN BORD DER DEUS WÄHREND DER BREMSPHASE AUF KURS ZUR STATION KOBALT
Mißgestimmt beobachtete Ngen Van Chow die Gescheh nisse auf dem Kommu-Bildschirm. Eine Welle Romana ner stürmte mit Kriegsgeheul vorwärts, zersprengte die Schützenlinien der Padri, die sich ihr entgegenstellten. Es lag keineswegs daran, daß die Padri nicht gekämpft hätten — sie fochten, und zwar mit bewundernswerter Zähigkeit. Immerhin waren sie ja eigens für den Zweck gepsycht worden, um so etwas zu leisten. Die Vitalität der Romana ner gab den Ausschlag. Die mit Spinnen bemalten Barba ren hatten allem Anschein nach regelrechten Spaß am Sichaustoben. Ngen war zumute, als sähe er sich alte Auf nahmen vom Sirius an. Das alles sah ihm nur zu bekannt aus. Regiment um Regiment warf er seine Streitkräfte in den Ansturm gegen den romananischen Landungskopf, und Regiment um Regiment wurden sie restlos niederge
blastert und zusammengehauen. Den Romananern unter liefen keine Fehler. Sie wiesen, die Schutzpanzer mit Blut bespritzt, von Streifschüssen angekohlt und abgesplittert, alle Vorstöße zurück. Sie sangen, grölten Gebete an ihren Spinnengott und setzten das Gemetzel unentwegt fort, blu tige Skalpe wehten an ihren Schutzpanzern, beschmierten an ihren Beinen das Weiß des Materials mit einem karmin roten Streifenmuster. Ngen knirschte Flüche und Beschimpfungen. Könnte er nur zwecks Entlastung der Bodentruppen ein Raum schiff einfliegen, ehe die Romananer sie völlig vernichte ten — aber genau das blieb ihm verwehrt. Das im Orbit postierte romananische Raumfahrzeug war mit den infer nalischen Blastern ausgerüstet, die seine umgebauten FLF zerschnitten, als wären sie aus Butter geformt. Violette Strahlen fauchten wie ein Tornado der Ver nichtung durch die Verbände der Padri, säten Tod in den Abteilungen, die zum Kampfgebiet eilten. Sie schossen auf das Kommunikationszentrum zu, und gleich darauf erlosch der Bildschirm. Ngen fluchte, gab dem nächstbesten Schott einen Fuß tritt, beherrschte sich und fing zu grübeln an. Die Verbin dung war zerstört. Nach allem, was er mitangesehen hatte, war die Schlacht so gut wie vorüber. Er hatte Angelus an die Romananer verloren. Er stapfte hin und her, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Gesichtszüge vor Nachdenklichkeit tief gefurcht. Die Spinnenreligion hatte den noch neutralen Welten und Sta tionen quasi neues Leben eingehaucht, der Opposition gegen Deus Rückhalt gegeben. Bei der Schnelligkeit, wie Ngens Dschihad gegenwärtig der Ausbreitungskraft ver lustig ging, mußte er zum Erliegen kommen, bevor er die Hälfte des besiedelten Weltraums unter seiner Herrschaft hatte. Wie sollte man es mit einem Propheten aufnehmen, der die gesamte Strategie und Taktik kannte, noch ehe man sie überhaupt konzipierte? Mit der Faust Gottes! Ngen schlug die Fingerknöchel
in die Handfläche, erzeugte ein hohles Klatschen. Er fum melte an seinem Spitzbart und klinkte sich ins Kommu ein. Auf der Holo-Bildfläche erschien MacGuires gehetzte, verschwitzte Miene, er hatte überm fleischigen Gesicht ein Kontaktron leicht schief auf dem graublonden Schopf sitzen, es wohl in überstürzter Hast aufgestülpt. Im Hinter grund konnte Ngen das übrige Wissenschaftlerteam über seine Aufgaben gebeugt sehen. Farbdarstellungen von Zahlen und Diagrammen flackerten über die Monitoren. Die Luft schien von allgemeiner Emsigkeit zu knistern, als ob eine insgeheime Spannung sie auflüde. Ngen bemerkte auch das charakteristische Durcheinander, das Physiker und Ingenieure bei der Arbeit hinterließen. Kaffeeflecken trübten großflächige Diaprojektionen. Auf jedem freien Fleck häuften sich unregelmäßig schräge Stapel von Folien, Computerausdrucken und technischen Zeichnun gen. In intensiv laserhellen Farben projizierte die Kommu Holos, die einander überlappten, ineinander übergingen. Schlagartig entstand, als die Experten in die Richtung des Monitors mit Ngens Konterfei schauten, beklommenes Schweigen. »Messias?« meinte MacGuire zur Begrüßung, verneig te sich andeutungsweise; man sah ihm seine Furcht an. Das war die großmäulige Lusche, die ihm angedroht hatte, ihn zu boykottieren? Wie lachhaft! »Dr. MacGuire, haben Sie inzwischen Fortschritte er zielt?« erkundigte sich Ngen Van Chow. Der Mann nickte. »Ja, Messias. Es ist uns gelungen, das Problem des Energieflusses zu lösen. Die von uns induzierten Gravitationswellen hatten den Graphstahl der Stationsstruktur verformt. Wir haben das Gerüst gefestigt, zusätzliche Streben eingefügt und durch artifizielle Anti gravitation die Beanspruchung herabgesetzt. Sie müssen beachten, bisher hat noch nie jemand etwas dieser Grö ßenordnung gebaut. In diesen Dimensionen reagiert Mate rie recht eigentümlich auf Gravitation. Station
Kobalt bedarf noch beträchtlicher Umbauten. Momen tan wird der Rand verstärkt. Was Sie dort am Sockel der Projektionsmasten sehen, sind die Reaktoren. Helmut Eng, mein Stellvertreter, forscht zur Zeit nach der optima len Prozedur, um die Gravo-Pulsation zu symmetrieren.« »Und was ist mit dem Bruderschafts-Massenkonverter?« »Auch damit kommen wir voran, Messias.« Kläglich schielte MacGuire zur Seite. »Aber nicht besonders, habe ich den Eindruck.« Ngens Stimme zischelte. »Messias, wären uns sämtliche zugrundeliegenden Voraussetzungen geläufig, stünden wir lediglich vor einer Frage technologischer Innovation. Aber wir müssen aus ein paar Bruchstücken und Andeutungen eine gänzlich neue Physik erschließen.« Flehentlich streckte der Wis senschaftler Ngen eine Hand entgegen. »Wenn Sie uns die vereinheitlichende Theorie nennen könnten, auf deren Grundlage Sie von uns verlangen, die ...« »Kann ich nicht! Sie haben alle Daten, die mir verfüg bar sind.« »Dann verstehen Sie sicher die Schwierigkeiten, vor denen wir ...« »Sie haben doch nicht die Verantwortung vergessen, die Sie für Ihre Angehörigen tragen, oder?« Ngen feixte. »Ihre Tochter ist noch so jung ... Reizende Haare hat sie. Ich habe eine Schwäche für junge Mädchen, Ingenieur. Denken Sie daran.« »Meine... Aber sie ist doch erst zwölf.« MacGuires Gesicht wurde teigigfahl. Gesenkten Blicks stammelte er, begann zu betteln. »Nein, Messias«, nuschelte er zum Schluß. »Wir haben's nicht vergessen.« »Gut.« Ngens Stimme dröhnte in jovialem Ton. »Sor gen Sie dafür, daß das Projekt gelingt, MacGuire. Geben Sie mir eine Faust, mit der ich das Direktorat und den Göt zen Spinne zermalmen kann.« Er unterbrach die Verbindung. Für lange Momente
starrte er die strahlend-weißen Deckenplatten über sei nem Kopf an, versuchte sich einen Gesamtüberblick der Situation zu verschaffen. Nein, unverändert war der Sieg ihm sicher, aber bis dahin würde es länger dauern. Die Befehlshierarchie hatte effektiver zu werden begonnen. Es fanden sich genug Menschen, die das Schicksal anderer, unwilliger Zeitgenossen so einschüchterte, daß sie — und zwar mit Eifer — die Bereitschaft zum Eintritt in Ngens Streitkräfte aufbrachten. Allmählich eigneten seine Trup pen sich eine gewisse Flexibilität an. Vielleicht konnte die erhöhte Anpassungsfähigkeit ... »Messias«, rief der Funkoffizier. »Wünschen Sie Arc turus' neue Propagandasendung zu sehen?« Eisigen Blicks musterte Ngen den Mann. »Enthält sie irgend etwas, das ich wissen müßte?« »Ja, Sir. Winston Zimbuti ist ...« »Durchschalten.« Auf dem Monitor erschien Zimbutis Gesicht. »Mitbür ger und Mitbürgerinnen«, fing Ngens ehemaliger Raum schiffskapitän mit seiner verhaltenen Stimme den Auftritt an, »mir ist die Gelegenheit gewährt worden, zu Ihnen zu sprechen, um Ihnen die Wahrheit über den Mann zu ent hüllen, in dessen Diensten ich einmal stand. Sie kennen ihn, der Ngen Van Chow heißt, unter der Bezeichnung >Messias<. Ich kannte ihn auf Sirius. Er war eine kleine Hafenratte, feige, mies und verschlagen. Während seiner Zeit als kleiner Krimineller auf Sirius, hätte ich — das ver sichere ich Ihnen — niemals geglaubt, welche Ausmaße sein Wahnsinn eines Tages ...« »Das langt!« Augenblicklich erlosch das Holo. »Arctu rus sendet das?« Der Funkoffizier nickte, wagte Van Chow nicht anzu sehen. »Jawohl, Sir. Natürlich hat man Zimbuti gezwun gen, derartige Lügen ...« »Das wird man mir büßen!« Ngen kochte vor Wut, während er die Kommando brücke verließ, malte sich im Geiste aus, wie er Zimbutis
Körper Stück um Stück zersägte. Erbittert durchquerte er die stillen Korridore seines Flaggschiffs. Hatten die Romananer es womöglich geschafft, den ganzen Konflikt zu ihren Gunsten zu beeinflussen? Angelus war nicht die erste Welt, die sie ihm entrissen hatten. Ja gewiß, er befand sich nach wie vor in der Offensive, aber Arcturus hatte den Anfang mit dem Wiederaufbau gemacht, ver breitete Schmähsendungen in der Art wie diesen Auftritt Zimbutis, um seine Autorität zu unterminieren. Die HoloSendungen des Propheten, die Aufnahmen der riesigen Maschinen, die die zerknickten Abschnitte der Sternen stadt Tori zusammenschweißten ... Das alles bezeugte eine Erneuerung der Macht. Man hielt ihm Arcturus als Spiegel seiner Unfähigkeit vor, benutzte es als Symbol seines Unvermögens. Was wäre erforderlich, um dem ein Ende zu machen? Wieviel Antimaterie-Torpedos müßten eingesetzt werden, um die Sternenstadt völlig zu Schrott und Plasma zu zerschie ßen? Versucht werden mußte es, und zwar bald. Außer man erzielte beim Bau der Faust einen Durchbruch. Der Faust ...der Faust ... DER FAUST ... Hatte er erst einmal sie, dann war er selbst Gott! Er betrat seine Privaträume und fand dort M'Klea vor; sie lag in dem großen Bett. Über ihre Gestalt hatte sie in elegant gewellten Lagen ein zartes, hauchdünnes, weißes Spitzengewebe gebreitet, und Ngen genoß den Anblick ihres goldblonden Haars, dessen Locken auf dem Dunkelblau des Bettzeugs schim merten. Sie hob den Blick, in ihren blauen Augen taten sich Abgründe tiefer Gefühlsbewegtheit auf; ihre Brüste hatten zu wachsen begonnen, dehnten prall den Stoff ihrer Kleidung, und ihr Leib war inzwischen sichtlich ange schwollen. Gleichzeitig hatte sich auch ihr Teint verän dert, ihre Haut wirkte lebendiger, hatte einen Glanz der Gesundheit und Vitalität angenommen. Ngens Grimm und Zorn schmolzen dahin, zurück blieb lediglich dumpfer Groll. Wenigstens hier in seinen Räu
men stellte niemand seine Macht in Frage. Ihren Beweis hatte er dieser beeindruckenden, herrlichen Frau einge pflanzt. Er lächelte und setzte sich aufs Bett, legte eine Hand aufs feste Fleisch ihres gewölbten Leibs, fühlte das Leben darin sich regen. »Hast du Sorgen, mein Gatte?« »Eben haben wir Angelus verloren. Mit nur einem umgerüsteten FLF und tausend Romananern haben sie ihn zurückerobert.« Im Gaumen hatte Ngen einen bitteren Geschmack. Eine Hafenratte hat Zimbuti mich genannt! MICH EINE HAFENRATTE! EINE FEIGE, MIESE VER SCHLAGENE HAFENRATTE! Er schloß die Lider, Ärger durchstach sein Inneres wie eine messerscharfe Lanzen spitze. »Mit Rückschlägen müssen wir rechnen, mein Impera tor«, sagte M'Klea, strich mit den Fingern über die emp findsame Haut an Ngens Arm. Unter dem feinen Spitzen kleid verschob sie die Beine. »In letzter Zeit haben wir einen Rückschlag nach dem anderen einstecken müssen. Dieser verdammte Prophet! Gegen jede meiner Maßnahmen weiß er einen Gegenzug. Eine Pattsituation ist da. Jeder Planet, jede Station, jeder Parsek Weltraum wird zu einem blutigen Schlachtfeld. Sira meldet sogar aus den Lagern unserer Geiseln Spin nensudeleien. Schaut man sich die Ungepsychten an, sieht man regelrecht an den Blicken dieser Figuren, daß sie sich wieder Hoffnungen machen. Auf Welten, wo meine Padri landen, leistet man ihnen wahrhaftig Widerstand. Natür lich vergeblich, aber man widersetzt sich!« Er biß die Zähne zusammen. Zimbuti hat MICH eine feige, miese, verschlagene Hafenratte genannt! »Ihr Prophet predigt immer seltener. Er wird irrsinnig, Ngen. Aus Transduktionsfunkgesprächen wissen wir von Gerüchten, denen zufolge er mehrmals falsche Voraussa gen gemacht hat, ein Unglück auf Kidian ausgeblieben ist. Angeblich soll es sich um einen Übertragungsfehler bei der Transduktion gehandelt haben. Vielleicht nimmt sein
Wahnsinn zügig zu. Verlieren solche Vorhersagen viel leicht an Verläßlichkeit, wenn man sich in der Zukunft >verirrt?<« M'Klea lächelte. »Bisher ist kein anderer Pro phet aufgekreuzt, um seinen Platz einzunehmen. Er wird bald nicht mehr können. Er sagt's ja selbst. Unseren letz tendlichen Sieg können sie nicht voraussehen.« »Nein, das nicht«, stimmte Ngen erleichtert zu. »Ein Grund mehr, als nächstes gegen Arcturus einzuschreiten. Es vollständig zu vernichten und mir diesen Propheten vom Hals zu schaffen. Mich dieser lästigen Plage Arctu rus zu entledigen. Daraus wird langsam ebenso ein vom Pack bewundertes Wahrzeichen, wie dieser Spinne eins abgibt. Der Direktor, das alte Scheusal, läßt sein Holo bei jeder öffentlichen Amtshandlung dabei sein, die Rita Sar sa verrichtet. Letzten Endes ist aber der Prophet der Schlüssel zum Endsieg. Sobald er erledigt ist, erlischt auch Spinnes Einfluß. Wenn wir zu guter Letzt den Ro mananerplaneten erobert haben, werde ich die Propheten auf kleiner Flamme schmoren. Ich werde sie über offener Glut aufhängen und zuschauen, wie sie zappeln und schreien.« »Du bist völlig verspannt«, sagte M'Klea, strich mit den Händen an seinem Gewand empor und dann an seiner Brust hinab. »Ich sehe deinen Augen an, daß du innerlich sehr erregt bist. Brauchst du vielleicht ein wenig Zerstreu ung?« Sie machte Anstalten, sich zu entkleiden. »Ja.« Ngen grinste, schwang sich plötzlich vom Bett. »Ich habe mir zu lange keine Abwechslung mehr ge gönnt. Aber es soll nicht mit dir sein, meine Liebe. Nein, diesmal muß ich jemanden erniedrigen bis zum Zusam menbruch, unter meiner Geilheit schreien hören.« Er lach te und klinkte sich in seine privaten Kommu-Anschlüsse ein. »Es sind viele Neue da. Möchtest du die Auswahl tref fen? Welche soll's sein?« M'Klea streifte einen Mantelet über und stand auf — ihr mittlerweile rund und plump gewordener Körper be wegte sich jetzt linkisch —, spitzte die Lippen, während
sie die Bilder auf dem Monitor betrachtete. Nacheinander forschte sie in jedem der verstörten Gesichter, suchte nach einem Opfer, das für Ngen eine Herausforderung bedeuten mochte. »Die Rothaarige von Santa del Cielo. Aber dieses Mal, Ngen, will ich dabei sein und mir's ansehen. Du weißt, daß du diese Kunst ausübst, habe ich im stillen immer bewun dert. Ich möchte auch etwas vom Vergnügen haben, wenn du sie in ein wimmerndes Häufchen Elend von geilem Luder verwandelst.« Sie lächelte Ngen an, ihre Finger streichelten ihm mit zärtlichen Gesten die Seiten des Gesichts. »Ich möchte deinen Triumph miterleben. Wirst du dafür sorgen, daß sie lange schreit?« »Aber natürlich.« Ngen lächelte. »Willst du die Peit sche an ihr erproben?« M'Klea lachte, schlang die Arme um ihn, legte den Kopf in den Nacken, entblößte die Kehle, ihre weißen Zähne glänzten. »Mein liebster Schatz, du machst dir keine Vorstellung davon, was für einen Spaß das mir machen wird. Dich wird's gehörig antörnen, und ich kann dir zeigen, was ich übers Foltern gelernt habe, während du so stark vom Krieg beansprucht gewesen bist.« Arm in Arm verließen sie die Prunkkajüte. Ngen freu te sich schon auf die Schreie der Rothaarigen. *
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PLANUNGSSAAL AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Damen Ree wartete in einem schummrigen Korridor, beobachtete seine einstigen Pendants, während sie die Gänge des Raumschiffs durchmaßen. Alle hatten eine Gruppe von Elite-Sturmtrupplern mitgebracht. Zusammen gaben sie eine ganz beträchtliche Leibgarde ab. Keiner von ihnen hatte zu kommen gewünscht, jeder sich auf
seine Weise geziert und herauszuwinden versucht, der Subraum hatte von ihren hektischen Transduktionsgesprä chen, in denen sie Intrigen und Taktiken erörterten, nur so geknistert. »Da die Projektil Ihnen im Verhältnis eins zu drei unterlegen ist, können Sie sich ja wohl sicher fühlen«, hatte Ree, auf den Lippen den Ansatz eines Schmunzeins, ihnen gegenüber geäußert. Und daraufhin waren sie doch gekommen. Patrouillenkommandeure hatten eine Schwachstelle: Sie zeichneten sich durch viel zuviel Auf geblasenheit und egozentrischen Stolz aus. Ich bin gar nicht darauf vorbereitet. Statt dessen bin ich das alles leid. Egal was ich tun, was ich sagen werde, es läuft auf ein Machtdemonstration hinaus. Ich kann nicht gewinnen, nur den Haß und die Gräben zwischen uns vertiefen. Ich fühle mich erschöpft. Zum erstenmal im Leben wünsche ich mir, es gäbe irgendeine leichte Mög lichkeit, um sich aus der Affäre zu ziehen, und weiß doch, daß ich keine haben werde. Spinne, warum prüfst du mich so schwer? Was, um Himmels willen, mutest du mir zu? Er schluckte, öffnete per Handflächenkontakt mit dem Servomaten die Panzertür des Hintereingangs zum Pla nungssaal und betrat den funkelnd-weißen Raum. Er blieb stehen, stand unversehens Auge in Auge mit der restlichen Macht der Patrouille. In den feindseligen Mienen erkann te er nichts als Verurteilung. Die bevorstehende Ausein andersetzung würde scharf und hart sein. »Meinen Gruß allerseits. Willkommen über Welt. Ich hoffe, Sie ...« »Lassen Sie die Scheiße, Damen.« Tabi trat vor. »Was wollen Sie? Wir sind alle da. Aber wir sind kein Risiko eingegangen. Für den Fall, daß der Funkkontakt zwischen uns und unseren Schlachtschiffen abbricht, haben wir befohlen, die Projektil sofort aus dem All zu blastern und anschließend Ihren lausigen Barbarenplaneten zu Schlak ke zu verbrennen.« »Schön, Sie mal wieder zu sehen, Tabi.«
Die Leibwächter gebärdeten sich schroff, hatten die Finger an den Blasterpistolen, ihre Blicke huschten über die glatten Schotts. Als erstes hatte Ree seine Aufmerksamkeit Tabi Mika su gewidmet, der Kommandantin der Kamikaze, die eine Körpergröße von gerade einmal einem Meter vierzig, das angegraute Haar im Nacken zu einem Dutt verknotet und am Leib eine makellose Galauniform hatte. Die breiten Wangenknochen des Gesichts verrieten ihre irdisch-fernöstliche Herkunft. Unter den deutlichen Mongolenfalten der oberen Lider erwiderten glutvolle schwarze Augen Rees Blick. An den Augenwinkeln hatte die braune Haut runzlig zu werden begonnen. Tabi wartete in hochaufge richteter, arroganter Haltung, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Claude Devaulier von der Uhuru mochte in den fünfzi gern sein, war einen Meter fünfundsiebzig groß und sah entschieden zu dünn aus, glich beinahe einem lebendigen Skelett. Das Gesicht mit den geraden Kiefern war unge wöhnlich mager. Sein Schädel war nahezu kahl, doch die Brauen ähnelten an die ausgeprägte Stirn geklebten, grau en Büscheln. Hinter der Fassade seiner stets schläfrigen Augen verbarg sich ein raffinierter Verstand. Amelia Ngurnguru von der Amazone dagegen strotzte geradezu von Lebenskraft, unter der seidenweichen, bläulich-schwarzen Haut ihrer tigerschlanken Gestalt spielten straffe Muskeln. Überm linken Ohr hatte sie das Haar zusammengebunden, eine steife Masse tintenschwarzer Kräusellocken baumelte ihr auf die Schulter. Sie sagte sich eine reinblütige Ashanti-Abstammung und die Abkunft aus einer der ältesten der während der Gulagperiode des Weltsowjets nach Kumasi deportierten Fa milien nach. Sie blieb im Hintergrund, musterte Ree zurückhaltenden, aber bedrohlichen Blicks aus ihren seltsam geschlitzten Augen. Sie war von den dreien die klügste, am schnellsten darin, in jeder Situation die Vorteile zu erkennen, und darum die gefährlichste von ihnen, sechsunddreißig Jahre alt; kaum
jemand war je in jüngeren Jahren in den Dienstrang einer Obristin aufgestiegen. »Bitte nehmen Sie Platz. Machen Sie's sich bequem. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß wir eine lange Sit zung vor uns haben. Und wenn wir fertig sind, werden wir die Befehlstruktur völlig ummodeln müssen.« Ree setzte sich an den Konferenztisch, merkte auf ein mal, daß das Trio noch stand. Er klatschte eine Hand auf die Tischplatte. »Ach, nun kommen Sie schon! Heiliges Kanonenrohr, die Zeit fürs Schmollen ist längst vorbei. Ich weiß genau, wie Ihnen in der gegenwärtigen Lage zumute ist. Jaischa Mendez hat sogar der Order des Direktors den Gehorsam verweigert. Trotzdem habe ich nicht gehört, daß sie deswegen angeprangert worden wäre.« Claude Devaulier schüttelte den Kopf. »Damen, so ein fach geht das alles nicht. Wir, das heißt, Tabi, Amelia und ich, haben einer Anweisung Skor Robinsons gehorcht. Wir sind auf Befehl nach Welt geflogen. Deshalb sind wir jetzt hier.« Er straffte sich. »Um offen zu sein, wir dachten zuerst, wir sollten den Auftrag erhalten, die Projektil zu vernichten und der Romananergefahr zu begegnen. Hätten wir den wahren Zweck des Flugs von Anfang an gekannt, wären wir auch geblieben, wo wir waren, und hätten die Padri auf eigene Faust bekämpft. Gott weiß, wie viele Tote mehr es wegen unseres Abflugs aus unseren Raumsekto ren geben wird ...« »Heiliges Kanonenrohr, Claude!« Ree biß die Zähne aufeinander, wandte das Gesicht ab, während er um Beherrschung rang. Sobald er seinen Wutanfall unter drückt hatte, heftete er den Blick in Devauliers bläßlich braune Augen. »Ist Ihnen denn noch immer nicht klar, wie die Dinge stehen? Ben Mason hat sein Schiff an Van Chow verloren. Es heißt jetzt Deus. Und was ist aus Peter Petruschka geworden? Er wollte immer besonders schlau sein, hm? Durch einen läppischen Trick eines umgebauten FLF ist er mitsamt seiner Ganges zu Plasma zerstoben. Und was den Schutz der Planeten und Stationen betrifft —
das ist ein Anspruch, den wir aufgeben müssen. Wir kön nen nicht alle schützen ... können nicht! Warum nicht? Weil Sie alles sind, was von der Direktoratsraumflotte übrig ist. Sicher, Jaischa ist im Solarsystem, hat sich in Lebensgröße und zu allem entschlossen dort festgesetzt, und ja, sie hat Ngens Versuch vereitelt, die Erde zu okku pieren. Einen Planeten hat sie vor ihm gerettet. Aber was ist mit all den anderen? Neu-Macao? Verloren. Bahia? Futsch. Die Antillen-Stationen? Dahin. Zähle ich nur Pla neten und Stationen in Jaischas Zuständigkeitsbereich auf? Sollen wir mal einen Blick in die Raumsektoren wer fen, für die Sie verantwortlich sind? Soll ich eine Aufli stung der ...?« »Was wollen Sie eigentlich sagen, Damen? Lassen Sie's hören, damit wir auf unsere Schiffe zurückkehren können.« »Es ist vorbei.« Ernst hob Ree den Blick. »Das will ich sagen. Die Jahrhunderte des Zeitalters der Patrouille sind vorüber ... Die Geschichte hat sie überholt. Unsere einzi ge Hoffnung besteht aus einem konzertierten ...« Tabi Mikasu reckte den Kopf. »Die Kamikaze ist nicht hier, um sich anzuhören, wie Sie Defätismus verbreiten. Wir haben an Bord den Energiepegel maximalisiert, Damen. Man wird auf meinen Befehl hin das Feuer eröff nen. Meine ST sind bemannt und startbereit. Vielleicht sollten Sie nun von Ihrem Kommando zurücktreten. Dann bereinigen wir die Sache ohne Blutvergießen. Wir werden nicht abfliegen und die Romananer in unserem Rücken belassen. Wir sind nach Welt geflogen, um zu erledigen, was an sich Sie hatten durchführen sollen. Es ist unsere Absicht, die ursprüngliche Weisung des Direktors auszu führen — den Planeten zu neutralisieren —, und an schließend werden wir die Rettung der Menschheit in die Wege leiten. Soviel haben wir schon festgelegt. Ihre Ein ladung, uns persönlich bei Ihnen einzufinden, haben wir nur angenommen, um an ein etwaiges, restliches Verant wortungsgefühl zu appellieren, das Sie vielleicht noch
haben. Übergeben Sie uns ganz einfach Ihr Schiff, Damen. Wir setzen Sie mit den übrigen Renegaten auf dem Pla neten ab und werden dann Van Chow gründlich unschäd lich machen.« Ree kaute auf den Innenseiten seiner Backen, während er nachdachte. »Also hat sich nichts geändert, wie? Ngen treibt, was ihm paßt, unterwirft sich Welten dutzendweise, und ich habe mich nach wie vor mit der Patrouille herum zuärgern.« Devaulier beugte sich über den Konferenztisch, schaute dösiger als je zuvor drein. »Nein, Damen, es hat sich nichts geändert, außer daß Abtrünnige Ihres Schla ges die Macht der Patrouille gebrochen haben. Uns effektiv der Möglichkeit beraubt, gegen Ngen Van Chow durchzugreifen. Aber nun wollen wir diese untragbare Lage beheben. Erst eliminieren wir Sie, danach Maya und Toby. Mit wiedervereinigter Flotte und erneuerter Einsatzfähigkeit fegen wir die ... Was denn? Worüber lachen Sie?« »Kommu«, gab Ree Befehl, während er sein Kichern unterdrückte, »bereiten Sie die Abwicklung des Probe schießens auf den Mond Kanker vor. Wenn sie fertig sind, fangen Sie selbständig an.« Er schaute seine Gegenüber an. »Hoffentlich stehen Sie noch in Verbindung zu Ihren Schiffen. Vielleicht ist es besser, Sie geben zwecks vorhe riger Klarheit durch, daß eine Demonstration unserer Bla sterbatterien und kein Angriff erfolgen wird. Bitte ver anlassen Sie Ihre Feuerleitoffiziere, speziell eine Analyse unserer Feuerkraft anzustellen. Und falls Sie beabsichti gen, uns unter Beschuß zu nehmen, muß ich Ihnen mittei len, daß unsere verstärkten Schutzschirme ebenso lei stungsfähig wie unsere Blaster sind. Trotz Ihrer zahlenmä ßigen Überlegenheit kann die Projektil jedes Erg absorbie ren, das Sie auf sie verschießen.« Der Holo-Bildschirm leuchtete auf, zeigte Kanker; der Terminator verlief über ein volles Drittel der pockennarbi gen Oberfläche. Kaum hatten die Obristinnen und der
Oberst den Blick auf ihn gerichtet, zuckten zwei dunkel violette Strahlen auf den Mond zu. »Feuer einstellen«, ordnete Ree an. »Wir wollen ihn nicht entzweiballern. Und wir haben nur zwei Geschütze eingesetzt, um die Verwüstung möglichst gering zu halten. Was die Wirkung der Fujiki-Blaster auf die Schutzschirme Ihrer Raumschiffe betrifft, haben wir bereits Kopien der Aufzeichnung von Neal Iversons Attacke auf die Deus übermittelt. Ngen dachte, er hätte seine Schutzschirme ausreichend verstärkt, aber Neal hat ihm trotzdem erhebli che Schäden zugefügt.« Er sah, wie die drei sich auf die Informationen aus ihren Kontaktrons konzentrierten, man ihnen Daten über die Fujiki-Blaster mitteilte. »Es ist aus.« Ree seufzte, drehte sich mitsamt dem Ses sel, um seinen zerbeulten Kaffeebecher noch einmal in den Spendeautomaten zu stellen. »Nichts ist aus, solange wir unsere Schlachtschiffe haben, Damen.« Aggressiv verschränkte Tabi die Arme, bog den Kopf in den Nacken. »Sie haben eines übersehen. Wir sind hier, und Sie sind allein. Von diesem Augenblick an stehen Sie unter Arrest, Damen. Ich bezweifle, daß es Ihnen möglich ist, sich gegen uns zu sträuben.« »Das ist eben Ihr Irrtum. Ich kann's. Falls Ihr Muskel mann da eine Waffe gegen mich erhebt, sind Ihre Raum schiffe allesamt verloren. Sie werden zu nichts als Orbital schrott zurückkehren können. Ich möchte so etwas ver meiden. Sie sicherlich auch. Warum mich dazu zwingen? Es gibt einen Ausweg.« Ree rang sich ein mattes Lächeln ab. »Sie haben Ihre Schiffe nicht mehr. Wissen Sie, die Projektil verkörpert jetzt die größte einzelne Macht im Weltall. Sie sind also hier, um mich zur Niederlegung mei nes Kommandos aufzufordern? Nun verlange ich das glei che von Ihnen. Die Tatsache, daß ...« »Sie?« rief Devaulier, schlug sich angesichts der scheinbaren Verrücktheit Rees auf den Schenkel. »Sie ver langen etwas von uns?« Er schüttelte den Kopf. »Damen,
vielleicht sind Sie nicht mehr richtig zu klarem Denken imstande. Sie sind uns eins zu drei unterlegen. Sie sind ...« »Ich bin vollauf dazu in der Lage, es mit allen dreien Ihrer Schiffe aufzunehmen. Bitte, Kamerad, Kameradin nen, die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Geben Sie auf oder riskieren Sie ein Gefecht. Was ich sagen wollte: Tat sache ist, die Zeit läuft ab. Für uns alle. Ich kann es mir nicht erlauben, noch Zeit mit Patrouillenehre, Tradition oder irgend etwas anderem jenes Quatschs zu vergeuden, mit dem wir uns lange Jahre hindurch gegenseitig auf die Schulter geklopft haben. Ich will Krieg gegen Ngen füh ren, und dafür benötige ich Ihre Schlachtschiffe.« Tabi schnaubte durch die Nase. »Er ist übergeschnappt. Lassen Sie uns gehen.« Leise teilten sich die Wandsegmente. Hinter Energie barrieren sah man Eisenauge und weitere Romananer mit angelegten Blastern stehen. Die Obristinnen und der Oberst sowie ihre Leibgarde blieben reglos stehen; nie mand regte sich auch nur im geringsten. »Admiral?« drang Tonys Stimme aus der Kommu. »Von den drei Patrouillenschlachtschiffen ist eine Kapitu lationsaufforderung eingetroffen. Wir müßten in dreißig Sekunden das Kommando an ihre Vorgesetzten abtreten, andernfalls werden sie das Feuer eröffnen.« Gelassen winkte Ree ab. »Sollen Sie's doch. Verfahren Sie nach unserem Plan, Tony. Zertrennen Sie das Energie kabel vor den Stützelementen des Hauptreaktors, sobald ich den Befehl gebe. Warnen Sie sie und sagen Sie durch, wohin wir zielen, damit sich trotz der Treffer Menschen verluste minimieren lassen. Falls sie drüben verstockt bleiben, beachten Sie beim weiteren Beschuß Giorjs Skiz zen, um die Beschädigung der strukturellen Bauteile geringzuhalten. Wir wollen nachher nicht zuviel Zeit mit Reparaturen verschwenden.« »Sie sind ja völlig durchgedreht!« schrie Tabi. »Admiral, die Kamikaze feuert.« Ree blickte hoch, sah die violetten Strahlbahnen den
Schutzschirmen der Projektil entgegenzucken. Er schüt telte den Kopf. »Claude, Amelia, ich schlage vor, Sie ver zichten vorerst darauf, ebenfalls das Feuer zu eröffnen. Wir belassen Ihnen die Funkverbindung. Hören Sie, neh men Sie sich ruhig Zeit, schauen Sie sich genau an, wie verläßlich unsere Schutzschirme sind. Tony? Gewähren Sie der Kamikaze eine Minute, um das Personal aus dem Zielpunkt zu entfernen, dann zerschießen Sie ihr das Hauptenergiekabel.« Zwei bläuliche Strahlbahnen trafen die Schutzschirme der Kamikaze. Die Schutzfelder flammten auf, durchwa berten rasend schnell die Quanten, bis sie zusammenbra chen und verpufften. Rumpfplatten zerbarsten, Atmo sphäre brodelte hervor, als die Strahlen sich ins Innere der Kamikaze brannten. »Gebt Feuerbefehl!« schrie Tabi den Obersten und Amelia an. »Verdammt, schießt! Er zerstört mein Schiff!« In einem Abschnitt des Geschützdecks der Kamikaze erlosch das Licht. Wenige Sekunden später geschah das gleiche in einem zweiten Abschnitt. »Die Maschinisten haben noch eine reichliche Frist, um den Reaktor runterzufahren. Wenn wir weitere Ener giekabel durchtrennen, wird die Situation schwieriger.« »Sie können uns nicht bluffen, Damen«, entgegnete Claude halsstarrig. Ree las in den Mienen der drei, drosch schließlich eine dicke Faust auf den Konferenztisch. »Heiliges Kanonen rohr, Leute, ich gebe mir hier alle Mühe, um Menschenle ben zu retten! Was ist denn erforderlich, um Sie zur Ver nunft zu bringen ? Muß ich über Ihre Leichen gehen ? Ist Ihnen denn nicht einsichtig, daß nicht ICH Ihr Feind bin?!« Ree stand auf, stellte sich breitbeinig hin, stemmte die Arme durchgedrückt auf die Tischplatte, schob das Kinn nach vorn. »Kommen Sie zur Besinnung! Da, jetzt sind Tabis ST gestartet, und ich werde sie einen nach dem an deren aus dem All zu blastern genötigt sein. Dann werden
die vielen Männer und Frauen an Bord tot sein, haben Sie kapiert? Tot! Und warum? Ich flehe Sie an, überlegen Sie's sich! Was tun wir uns an, daß wir's soweit kommen las sen? Sogar das Direktorat steht gegen Ngen auf unserer Seite. Was wollen Sie mehr?« »Tabi«, sagte Amelia gedämpft, »lassen Sie das Feuer einstellen. Seine Schutzschirme halten — sie werden nur minimal beansprucht. Bemerken Sie hier auch nur die schwächste Energiefluktuation?« »Es kann sein, der Planungssaal hat eine autonome Stromversorgung. Der Rest des ...« »Tabi ...« Amelia trat vor die Obristin, richtete den Blick ihrer rauchdunklen Augen fest auf die kleine Frau. »Die Kommu-Verbindung zu unseren Schiffen besteht weiter. Hätte die Projektil nicht noch mehr als genug Ener gie zur Disposition, wären wir längst abgeschnitten.« »Amelia?« Claudes Gesicht zeigte einen Ausdruck des Gestreßtseins, in seinen sonst so stumpfen Augen stand ein sonderbares Glitzern. »Was haben Sie ...« »Ich handele in meinem Interesse, Claude. Ich verbün de mich mit Ree. Schließlich bin ich nicht dank Blödsin nigkeit Schlachtschiffkommandantin geworden.« Amelia wandte sich wieder an die Kameradin. »Tabi, stellen Sie das Feuer ein, bevor die Projektil Ihre ST ausradiert. Rufen Sie sie zurück, Tabi. Sie und Claude haben gegen Projektil und Amazone keine Chance.« Tabis Gesicht zuckte, sie schloß die Lider, als sie ihre Niederlage einsah, spitzte den Mund zu einem Schmollen. Ihr Widerstandswille war gebrochen. Tabi Mikasu setzte sich in einen der Sessel. Das Gleißen des Blasterfeuers verflimmerte, bis in den Schutzschirmen der Projektil, indem sie die fürchterliche Strahlung verstreuten, nur noch Nachbilder des Geflackers glommen. »Die ST verlegen den Delta-Vektor, Admiral«, gab Tony von der Kommandobrücke durch. Ree winkte mit dem Zeigefinger. Eisenauge und Sammy Andojar Rote Wolke kamen herein, um die
Patrouillenmitglieder zu entwaffnen. Verkniffenen Blicks machte Amelia eine Geste, als die Romananer sich ihrer Gruppe näherten. »Ist das Ihre Weise, sich erkenntlich zu zeigen?« Damen spreizte die Hände. »Im Moment, bis klar wird, wie sich die Dinge entwickeln, kann ich nicht anders han deln, Amelia. Ich meine, versetzen Sie sich doch mal an meine Stelle. Sie haben gerade nur einen Rückzieher gemacht, weil etwas passiert ist, das Sie als ausgeschlos sen erachtet haben. Um die eigene Haut zu retten? Kann sein. Wären die Rollen umgekehrt verteilt, würden Sie einfach zu mir sagen: >Willkommen an Bord, Damen, hier ist das Geheimnis der Unbesiegbarkeit, wie schön, daß Sie jetzt zu uns gehören, ich nehm's Ihnen auch nicht übel, daß Sie wieder mal versucht haben, mir die Gurgel durchzu schneiden<, und mir freundlich zulächeln?« Amelia hob den Kopf, ein Lächeln der Anerkennung entblößte reinweiße Zähne. »Nein, wahrscheinlich nicht.« »Und was wird aus uns?« schnauzte Claude. »Was ist mit den Kommu-Verbindungen zu unseren Schiffen? Was hat das zu bedeuten, Ree? Was für eine Schweinerei soll das geben? Meine Leute werden das nicht dulden. Sie kön nen uns doch nicht einfach als Geiseln nehmen.« »Wollen wir wetten? Sie bleiben erst einmal, wo Sie sind. Ich brauche Verzeichnisse Ihrer tüchtigsten Offizie re. Alle Angaben, die Sie machen können. Qualifikatio nen, Leistungsstand, Führungsqualitäten, Psychoprofile, Belastbarkeitsfaktor ...« »Wofür?« fragte Amelia. »Ich muß Ihren Besatzungen alle geeigneten Offiziere aussieben, die ich finden kann. Ich stelle eine Flotte um gebauter FLF auf, aber mir fehlt das Personal, das sie kommandieren könnte. Romananer lernen schnell, nur bedarf es für das Befehligen eines Kriegsschiffs bestimm ter Befähigungen, die schon seit langem nur die Patrouille gefördert hat.« »Und was soll aus unseren Belegungen werden? Sie
glauben doch wohl nicht im Ernst, die Uhuru ließe sich mit leeren Plätzen fliegen. Das ist ja lächer ...« »Sie bekommen Romananer an Bord, Claude. Sie wer den an ihnen Ihren Spaß haben. Was mir zur Verfügung steht, ist nämlich eine Menge ausgebildeter romananischer Techs, die Blaster warten, Kommu-Anlagen reparieren, Spektrometer ablesen und so ziemlich die schlagkräftig sten Sturmtruppler abgeben, die Ihnen je begegnet sind.« »Weshalb diese Eile?« wollte Amelia wissen. Langsam drehte Ree den Kaffeebecher zwischen den Fingern. »Wir benutzen Arcturus als Köder für Ngen. Er wird es irgendwann nächstes Jahr angreifen, um es end gültig zu annihilieren. Sobald er ...« »Arcturus?! Sie verdrehter Irrer! Sie liefern all die vie len Menschen dem ...« »Dessen bin ich mir verdammt bewußt, Claude! Und nun halten Sie die Klappe und setzen Sie sich hin! Es muß Arcturus sein. Es kommt darauf an, ihn zu einer Großof fensive zu verlocken. Er soll in Vorbereitung der Attacke soviel von seinen Streitkräften massieren, daß sein Hand lungsspielraum eingeengt wird. Unsere Aufklärung wird uns rechtzeitig ...« »Wenn Ihre Projektil so verflucht stark ist, warum zer blastern Sie dann nicht einfach die Gregorius zu Plasma und machen dem ganzen Wahnwitz ein Ende?« fragte Tabi. »Oder kämpfen Sie nur, wenn Sie aus dem Hinter halt zuschlagen können, Damen?« Eisenauge straffte sich unwillkürlich, seine Lider ver engten sich zu Schlitzen, seine Finger betasteten den Griff des Kriegsdolchs. Ree blinzelte und zuckte die Achseln. »Würde ich gerne tun. Aber wo steckt er, Tabi? Station Kahn? Freiha fen? Kallonijagrad? Oder hält er sich woanders auf? Aha, ich sehe, allmählich verstehen Sie das Problem. Ich weiß 'ne Überraschung für Sie, Tabi: Wir zermartern uns wahr haftig schon seit geraumer Zeit die Köpfe über diese Frage. Freilich, wir könnten Arcturus zu unserem Protek
torat erklären, dort mit einem massiven Aufgebot rum hocken und jahrelang abwarten, während Ngen seine Herrschaft über den restlichen bewohnten Weltraum kon solidiert. Dummerweise habe ich aber mit einigen Widerständ lern in seiner Machtsphäre in Kontakt gestanden. Mit ganz normalen Menschen, die sich Ngen entgegengestellt, nein zu ihm gesagt haben. Und um ganz offen zu sein, Obristin, es sind diese paar schneidigen Männer und Frauen, denen zuliebe ich mich weiter abrackere. Aber das ist es gar nicht, um was es mir im Moment geht. Das Gespräch drehte sich um Arcturus. Also, Ngen würde seinen Macht bereich immer weiter ausdehnen. Und dann? Er könnte Arcturus völlig ignorieren, während wir dort verhungern. Bis dahin hätte er nämlich sämtliche Ressourcendes Direktorats in seiner Verfügungsgewalt, und wir wären zahlenmäßig in solchem Maß unterlegen, daß jede Vertei digung gegen seine Milliarden von gepsychten Zombies eine äußerst strittige Sache wäre.« Amelia blickte auf. »Und er wird Arcturus angreifen? Sie sind sich vollkommen sicher?« Ree fuhr mit dem Daumen über den Rand des Kaffee bechers. »Eines wissen wir über diesen Lumpen Ngen: Seine große Schwäche, das ist die Eitelkeit. Jawohl, er wird Arcturus angreifen. In den vergangenen Monaten haben wir ihm Arcturus' Wiedererstehen ständig unter die Nase gerieben.« Amelia verschränkte die Arme, schabte mit der Stiefel spitze auf dem Fußboden. »Auch ohne Zugriff auf meine Kommu zu haben, würde ich voraussagen, daß Ihre Stra tegie mindestens die halbe Einwohnerschaft das Leben kosten dürfte. Wir können unmöglich alles abfangen, was er einsetzt. Berücksichtigen wir die Anzahl der Kriegs schiffe, die er in die arcturische Gravitationsquelle einflie gen, die Zahl der Torpedos, die er abfeuern kann, und dazu die Vielfalt der Trümmer, die im Laufe der Kämpfe umhergeschleudert werden, ergeben sie zu viele Objekte,
als daß wir sie samt und sonders eliminieren könnten.« Apathisch nickte Ree. »Ja, ich weiß. Und ich habe mich damit abgefunden. Gäbe es nur eine andere Möglich keit ... Aber wir haben ...« »Ich bin dafür, ihn aufzuspüren und zu jagen.« Claude Devaulier neigte den Kopf in den Nacken. »Soviel Zeit bleibt uns nicht.« Eisenauge ergriff das Wort. »Dieser Krieg wird dauern und dauern, und er wird kein Ende nehmen, solange Ngen nicht zum Stehen gebracht worden ist. Ein für allemal.« »Dazu müssen wir ihn erst einmal fassen«, sagte Ame lia in sachlichem Ton von der Seite herüber.
37
AN BORD DER DEUS WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM ANFLUG AUF STATION KOBALT
Ngen kletterte in die Observationskuppel und blickte in ernüchterter Stimmung hinaus auf die Sterne. Seine letz te Eroberung war eine Enttäuschung gewesen: Die Frau hatte keine Spur von Rückgrat gehabt. Im allgemeinen konnte man Frauen, wenn sie sich energisch zu wehren anfingen, sich gegen die EM-Fesseln aufbäumten, einige innere Widerstandskraft anmerken. Er hatte erwartet, sich mit der Rothaarigen Zeit gönnen, an einem langwie rigen Kräftemessen ergötzen zu dürfen, während er sie langsam, nach und nach, seinen Gelüsten unterwarf. Das größte Vergnügen bestand darin, es gemächlich zu tun, ihre Psyche zu spalten. Aus ihrer Seele die höchste Form untrennbarer Zweiheit zu machen. Ihr Selbsthaß einzuflö ßen. Statt dessen war das Weib fast unverzüglich zusammengebrochen, hatte wirr gequasselt, sich ohne den schwächsten Funken Haß in den Augen von ihm vögeln lassen. Nicht einmal M'Kleas gesteigerte Kunstfertigkeit in der Anwendung der Elektropeitsche hatte dem stumpf sinnigen Stück Fleisch eine sonderlich lebhafte Reaktion abgerungen. Sein Blick durchforschte die Weite des Weltraums, die sich vor ihm erstreckte, die Glitzerschwaden ferner Son nenfeuer, die sich durchs Schwarz dehnten, lauter endlose Sternhaufen über Sternhaufen. Die helleren Lichter, so wußte er, waren unvorstellbar ferne Galaxien. Was moch te es dort zu sehen geben? Welche Lebensformen existier ten dort, die entdeckt werden könnten? Was für sehens werte Ausblicke mochten sich seinen Augen darbieten? Ngen spannte die flechsigen Muskeln seines Brustkorbs und der Arme zu einem Gleichmaß des Frusts und der Bit terkeit an. Vor ihm lag die Galaxis ausgebreitet, wartete
nur auf ihn. Sie umfaßte größeren Reichtum und gewalti gere Pracht, als je irgendein Einzelner sich untertan gemacht hatte. Aber ganz gleich, welche großartigen Erfolge er noch verzeichnen sollte, selbst wenn er jeden Mann, jede Frau, jedes Kind psychte, das im All lebte, es konnte ihm nicht gelingen, sich alles zu unterwerfen. Er, Ngen Van Chow, würde gar nicht lange genug leben, um sich all diese Grenzenlosigkeit unterzuordnen. Zum erstenmal in seinem Dasein drang ihm mit unabweisbarer Zudringlichkeit die gräßliche Wahrheit seiner Winzigkeit ins Bewußtsein. »Ich will ... ich will alles!« Er hieb eine Faust an die glasartig transparente Kuppelwandung. Menschliche Hin fälligkeit und Vergänglichkeit sowie kosmische Entfer nungen verhinderten unweigerlich, daß er jemals hinläng lich lang lebte. Und sein Sohn? Wie viele Milliarden Lichtjahre durchmaß das Univer sum? Wieviel Welten, Rassen, Schlachten und Tod trenn ten die Menschheit noch von ihrer schlußendlichen Be stimmung? So viele, ungeheuer viel ... Zu viele, als daß selbst sein Sohn sie alle kennenlernen könnte. »Ich will ALLES! Die Romananer und ihr betrügeri scher Götze werden mich nicht aufhalten. Ich werde Gott sein!« Er reckte seinen Schädel dem Glitzern der Gestirne entgegen. »Hört ihr mich? Ich ... werde ... Gott ... sein! Ich bin es, der die Seelen der Menschen verschlingt. Hört mich und verbeugt euch vor mir! Ich bin Ngen Van Chow. Herr des Universums. ICH BIN GOTT!« Seine Stimme hallte laut durch den leeren, engen Raum der Observationskuppel, hatte jedoch einen hohlen Klang, der nicht einmal Ngen Van Chow entging. Er dreh te sich rundum, starrte zu den Sternen hinaus, die jetzt sei ner zu spotten schienen. »Nun gut«, mäßigte er sich widerwillig. »Ich werde euer Herr sein ... oder ich werde euch und den Romana nern nichts hinterlassen.« Er verfestigte diesen Einfall
zum Vorsatz. »Jawohl, nichts. Habt ihr gehört? NICHTS!« Auf dem Absatz machte er kehrt und überließ die Ob servationskuppel den Sternen und der Stille. *
*
*
ADMIRAL REES KAJÜTE AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
John Smith Eisenauge stapfte durch den langen, weißen Korridor. Seine Muskeln hatten an Straffheit verloren, an der Elastizität, die er früher stets beibehalten hatte. Wäh rend er sich einst der Fähigkeit zu klarem Denken rühmte, Aussichtsreiches ebenso wie Holzwege zu erkennen imstande zu sein glaubte, schien jetzt alles zu einem einzi gen Wirrwarr geworden zu sein. Sein Verständnis der Rol len Gottes und des Menschen war soeben erschüttert wor den. Patan, Patan, was ist geschehen ? Spinne, was hat es zu bedeuten, wenn ein Prophet nicht mehr vorausschauen kann, was kommen wird? Erstmals weiß ich keinen Rat. Was ist aus unserem Volk geworden, aus unseren Prophe ten? Was aus mir? Tag für Tag schlage ich mich mit Pro blemen herum, die andere Leute als der Feind verursa chen. Ist das der Weg, den du mir offen läßt, Spinne? Ist das der Zweck, auf den du mich vorbereitet hast? Bär, handele ich richtig? Müßte ich nicht woanders sein, Ngens Zombies auflauern und ihnen Fallen stellen, statt hier Bits elektronisch gespeicherter Daten nachzujagen ? Sollte ich nicht lieber Patan eine Hilfe sein ? Vor einer glatten, weißen Tür blieb er stehen, betrach tete nervös den Gürtelkommunikator, den er mitführte. »Damen?« rief er laut, richtete den Blick in die Kame raoptiken. »Herein.« Als die schwere Tür zur Seite glitt, ging Eisenauge hin
ein, betrat den Wohnraum, schenkte unterwegs dem auf eine Ochsenhaut gemalten Spinnenbild an der Wand ledig lich beiläufige Beachtung, ehe er Rees Schlafkammer betrat. Im Vergleich zu Macht und Einfluß Damen Rees machte sein Schlafraum wenig her. Ein Holo zeigte einen Sonnenaufgang Welts. Auf einem zweiten Holo sah man den jungen Damen Ree während seiner Studienzeit an der Militärakademie. Beim dritten, größten Holo, dem Bild, das die wesentlichste Dekoration des kleinen Raums ausmachte, handelte es sich um eine Echtzeit-Aufnahme der Projektil im Orbit. Sie war das letzte, was Ree abends vorm Einschlafen sah, und das erste, was seine Augen morgens nach dem Aufwachen erblickten. Neben der Galauniform hingen mehrere Arbeitsanzü ge. Der Schutzpanzer lag in Reichweite, und das gleiche galt für seinen abgegriffenen Handblaster und ein großes Blastergewehr, die er beide über Nacht Ladegeräten ange schlossen hatte. Auf dem Nachttischchen neben seiner kargen Koje stand ein zerdrückter, noch halb mit kalter, schwarzer, inzwischen leicht eingedickter Flüssigkeit gefüllter Kaffeebecher. In der Unterwäsche hockte Damen mitten auf dem Bett, die Augen gerötet, das Gesicht aus Verschlafenheit aufgedunsen. Als er Eisenauges Miene sah, blinzelte er angestrengt, setzte sich aufrechter hin. Seine Stimme knarrte wie ein altes Scharnier. »Was ist jetzt passiert? Vielleicht möchte ich's lieber gar nicht wissen. Hat Ngen gerade Arcturus aus dem All geschmettert? Neue Ann exionen vorgenommen? Haben wir Schwierigkeiten im Raumschiff, irgendwelche Fehlfunktionen ...?« »Patan versagt. Seine letzte Prophezeiung ...« Eisenau ge atmete tief ein, knirschte mit den Zähnen. »Verdammt, ich habe nicht geahnt, es könnte so übel kommen.« Er schluckte, nahm Rees gebrauchten Becher und schüttete den Inhalt in den Konverterschacht, bevor er das Trinkge fäß am Spendeautomaten neu füllen ließ. »Weißt du, wenn man als Romananer geboren wird,
wächst man voller Verehrung für die Propheten heran. Sie sind in einer Hinsicht unübertrefflich, die sich ge-wöhnliche Menschen nicht einmal ... Ich glaube, wir hatten nie einen Begriff davon, was ein Prophet wirklich ist, Damen. Wie menschlich sie trotz dessen sind, was Spinne ihnen auferlegt hat. Patan ... Es wird zusehends schlimmer mit Patan. Er verirrt sich immer mehr in der Zukunft, macht immer häufiger falsche Vorhersagen. Vor ein paar Tagen hat er eine Prophezeiung geäußert ... Anläßlich einer Diskussion mit einem Erzbischof in Arcturus-Stadt hat er die Voraussage gemacht, die Bergleute Glendivians wür den einen Angriff der Padri abwehren. Tja, und jetzt haben die Bergleute anscheinend für Ngen Partei bezogen. Wir wissen nicht, warum, aber getan haben sie's. Van Chow schlachtet den Vorfall gehörig aus.« Mit verhärmtem Gesichtsausdruck nahm Ree den Kaf fee entgegen und trank. »Ich dachte, daß Propheten ...« Er schaute Eisenauge an, erwiderte seinen Blick tiefer Ver störtheit. »Ehe ich mich auf den Weg zu dir gemacht habe, bin ich mit einem ST hinuntergeflogen und habe einem der Alten einen Besuch abgestattet. Sie bleiben seit einiger Zeit sehr zurückgezogen, aber ich durfte vorsprechen. Sie sind nicht sonderlich beglückt von dem, was Patan tut, Damen. Aber zumindest haben sie mir erklärt, was mit ihm geschieht.« »Und?« »Er wird irrsinnig. Je weiter er in die Zukunft vor dringt, um so größer ist die Vielzahl der Cusps, auf die er Ausblick erhält. Es ist, als sähe man zu viele Wege gleich zeitig vor sich und vergäße, wo man die Füße stehen oder welchen Weg man zuletzt genommen hat. Trotz aller see lischen Kraft und Vielschichtigkeit kann der menschliche Verstand so etwas nicht bewältigen. Patan ist klug und empfindsam ... Er kommt um seine geistige Gesundheit, verliert sich so weit im Künftigen, daß er nicht mehr weiß, was eigentlich was ist, sein Leben schwindet dahin.
Damen, ich hätte nie geglaubt, so etwas könnte einmal eintreten. Wir ... wir können uns auf seine Aussagen nicht mehr verlassen.« Rees Kinn sank auf seine Brust; mit klobiger Hand rieb er sich den ledrigen Stiernacken. »Nun ja, um ehrlich zu sein, er hat länger durchgehalten, als ich's für möglich hielt. Und wir wissen ja, daß schon Patzer vorgefallen sind. Bloß so eine Pleite war bis jetzt noch nie der Fall.« »Spinne schützt den freien Willen.« »Verdammt, ich scheiße auf den freien Willen! John, ich bin's leid, andauernd die schwerwiegendsten Entschei dungen fällen zu müssen. Soll Spinne sich doch mal selbst drum kümmern. Warum immer wir, hä? Können wir nicht 'ne Abmachung mit ihm treffen? Am einen Tag beschließen wir, am nächsten Spinne? Wieso müssen stän dig wir es sein, die ... Du wirkst mir nicht, als ob dich meine Idee begeistert. Glaubst du, der alte Knabe zieht nicht mit?« »Nein.« Ree zog den Kopf ein. »Naja, war bloß 'n Versuch, alles 'n bißchen mit Humor zu nehmen. Wir haben ja nicht mehr viel zu lachen.« Eisenauge nickte, warf den Gürtelkommunikator aufs Nachttischchen und nahm auf einem kleinen Stuhl Platz. »Hast du wenigstens geschlafen?« »Mich viel hin- und hergewälzt. Wo steckt Maya, wenn ich sie brauche?« Ree schnitt eine ärgerliche Miene. »Ver dammt, weißt du was? Ich vermisse sie richtig.« »Und wir haben noch mehr Probleme. Es hat Ärger mit Devaulier gegeben. Er wollte Billy Sanchez Weißer Adler zur Sau machen. Sanchez hat ihm eine gründliche Abfuhr erteilt und dabei ein paar Rippen gebrochen. Wachen der Sturmtruppe sind dazwischengesprungen, ehe er beim Oberst den Coup nehmen konnte, aber Devauliers Kopf haut hatte schon einen ganz schönen Einschnitt abge kriegt. Jetzt liegt der Oberst in der Bordklinik. Phil hat ihn in Intensivbehandlung genommen.«
Rees Gesicht erinnerte Eisenauge an jemanden, der sich soeben scheußlich erbrochen hatte. »So ein Mist! Was soll ich bloß mit diesen Typen anfangen? Von der Uhuru und der Kamikaze erhalten wir sowieso kaum Koopera tion. Ich darf Claude, Tabi oder Amelia praktisch nicht unbeaufsichtigt lassen. Und wir müssen die Modifikatio nen auf ihren Schlachtschiffen fertig haben, bevor Ngen Arcturus angreift. Es muß geschafft werden. Das wird vielleicht — vielleicht! — einen großen Unterschied in der Zahl der Menschenleben bewirken, die zu beklagen sein werden.« Eisenauge rückte mit dem Stuhl herum, bis er Ree gegenübersaß. »Weißt du, es verhält sich, als hätte man in den Korridoren Felsenegel losgelassen. Man kann nie absehen, wann man einen am Bein hängen hat, von ihm vergiftet und gefressen wird.« »Bin ich ein zu weichherziger Trottel, John? Aber was ist die Folge, falls ich sie einfach einsperre? Dann müß ten wir uns jahrelang mit ihren Untergebenen herum schlagen. Möglicherweise sinken sie, nachdem wir Ngen erledigt haben, ins Piratentum ab. Und wenn ich sie gehen lasse, darf ich ihnen nicht mehr den Rücken zuwenden. Es ist, als wären wir es, die in der Falle sit zen. Modernisieren wir die Schlachtschiffe nicht, brau chen wir uns gar nicht erst mit Ngen anzulegen. Bringen wir die Schiffe auf den neuesten Stand, verwenden sie sie womöglich, um sich zu rächen und die Projektil zu Schrott zu blastern. Und zudem ist mir nicht klar, woran ich bei Amelia bin. Wie weit kann ich ihr trauen, ver flucht noch mal? Sie ist die Gerissenste, die Schlauste und Gemeinste. Sie läßt sich auf nichts ein, was nicht irgendwelche Verschlungenheiten auf mindestens sechs oder sieben Ebenen aufweist.« »Ich denke mir, jetzt ist auch der passendste Moment, um dir zu sagen, daß eine Gruppe Sturmtruppler der Ka mikaze eine Befreiung Tabis vorbereitet hat. Pedro Grita war auf der Hut, und wir haben sie alle erwischt. Sie sind
entwaffnet und hinunter auf den Planeten deportiert wor den, wo etliche Krieger rund um ihr Lager spazieren, Mes ser schleifen, Geschichten über Bären erzählen und nur darauf warten, daß sie zu flüchten versuchen.« »Großartig.« »Wir sitzen in der Scheiße, egal was wir tun.« Eisenau ge nestelte an einem seiner Zöpfe. »Aber eine völlige Kat astrophe ist es nicht. Es sind schon Romananer an Bord aller drei Schlachtschiffe, und es treffen laufend mehr ein. Die Anwesenheit romananischer Krieger hat sich bisher immer vorteilhaft für uns ausgewirkt, sie untergraben die Moral der Patrouille und machen gleichzeitig dem inter nen Hickhack und den Intrigen ein Ende.« Für lange Augenblicke saßen sie beide stumm da und beschäftigten sich jeder mit seinen Gedanken. »So, Patan hat die Sache verbockt. Hmmm ...« Erneut herrschte Schweigen. »Bei unserer Arcturus-Operation kann eine Menge schiefgehen, soviel sollte dir klar sein. Der Oberst oder eine der Obristinnen könnte ausbüchsen und sich hinter ein Kommu-Terminal klemmen. Es ist nicht undenkbar, daß Ngen die Falle wittert. Oder vielleicht verwirrt sich Patans Geist, und er posaunt eines Tages vor einem Subraum-Transduktionsmikrofon alles aus. Verdammt, wer weiß, was alles passieren kann?« »Du kennst die Alternativen.« »Ja, endloser Krieg, Offensive um Gegenoffensive, eine Seite vernichtet der anderen die Planeten und Statio nen, bis außer Wracks, Trümmern und Leichen nichts übrig ist, um das man noch kämpfen könnte. Und Ngen ist abartig genug, um's soweit kommen zu lassen.« Ree mas sierte sein Gesicht, rieb sich mit den Fingern die Augen. »Gott, was für Aussichten, um in den Untergang zu gehen! Eine Gratwanderung zwischen einem Wahnsinnigen und dem Nichts.« »Spinne ist kein Nichts.« »Nein, so habe ich's auch nicht gemeint. Ich dachte an
die Alternativen. Würden wir schlichtweg verduften, John, hätten wir uns damit 'ne Masse Probleme vom Hals geschafft.« »Aber wir können nicht einfach fort.« Eisenauge zwin kerte Ree zur Aufmunterung zu, bevor er sich reckte, die Armmuskeln spannte. »Das weißt du doch selbst, Damen. Du müßtest dich im tiefsten Innern deiner Seele immer dafür verabscheuen.« »Arcturus, Arcturus, Arcturus! Verdammt, das ist alles, an was ich noch denken kann! Das und die Tatsache, daß wir allem Anschein nach, egal was wir unternehmen, auf der Verliererseite stehen.« »Sieht ziemlich mies aus, was?« »Admiral?« unterbrach die Kommu das Gespräch. »Ja?« »Transduktionsverbindung zu Majorin Rita Sarsa im Arcturussystem.« Ree warf Eisenauge einen sorgenschweren Blick zu. »Verdammt, was ist denn jetzt wieder los?« Er wandte sich an die Kommu. »Schalten Sie durch.« Auf dem Wandbildschirm erschien Ritas Gesicht. »Hallo, Admiral.« »Rita, was gibt's?« Die Majorin schmunzelte sardonisch. »So nervös sind Sie dort?« Dann senkte sie die Lautstärke ihrer Stimme. »Hallo, John. Wie steht's?« Er grinste und winkte ihr zu. »Entsinnst du dich noch an das, was Leeta damals zu dir gesagt hat, als sie von dir deine Absicht erfuhr, die Projektil zu kapern?« »Sie sagte, ich sei wohl völlig übergeschnappt ... Oder so was ähnliches.« »Wir kommen diesem Zustand immer näher. Möchtest du einige garstige Patrouillenkommandeure überstellt ha ben?« »Auf keinen Fall.« Rita hob den Kopf. »Außer natür lich, man könnte sie zurechtbiegen und für die Verwal tungslaufbahn umschulen, dann vielleicht. Wenn ich noch
mehr Gutachten über Nietenverschleiß zu lesen habe, muß ich kotzen. Skor schiebt mir Arbeit zu, soviel er kann. Ich habe den Eindruck, er verwechselt andauernd die Erledi gung militärischer Besatzungsaufgaben mit Urlaub.« Ree lenkte die Unterhaltung zurück auf das Wesentli che. »Wie ist die Situation, Rita?« Sie heftete ihren kühlen Blick auf ihn. »Was gäben Sie, wenn wir 'ne Spur zu Ngen hätten, Admiral?« Entgeistert bewegte Ree zunächst nur stumm die Lip pen, in seinen Augen glomm plötzlich ein Hoffnungs schimmer, und er setzte sich aufrecht an die Bettkante. »Im Ernst?« Rita bemerkte seine Verfassung und wurde sachlich. »Was ist eigentlich bei Ihnen los? Geht irgend etwas vor, wovon ich nichts weiß?« Widerwillig nickte Eisenauge. »Gewissermaßen. Die strategische Gesamtlage wird für uns inzwischen reich lich unübersichtlich. Wir haben Kenntnis von Patans Zu stand. Wie abhörsicher ist die Funkverbindung?« Rita verkniff die Lider. »Ungefähr so sicher wie jede mit Arcturus. Also nicht sehr. Wenn es sich um wichtige Dinge dreht, reden wir besser nicht darüber. Ich kann mei nerseits für nichts garantieren.« »Rita ...« Ree vollführte eine nachgerade flehentliche Gebärde. »Wir sind an jeder möglichen Spur zu Ngen in teressiert.« Mühsam schluckte er, blickte der Majorin ein dringlich in die Augen. »Es kann sein, daß sehr viele Men schenleben davon abhängen. Ich bin zu jedem Risiko bereit. Gehen Sie allem nach. Völlig gleich, was Sie anstellen, wenn es uns auf Ngens Schliche bringt, ist es den Aufwand wert.« Rita erkannte seine Verzweiflung. »Zu jedem Risiko, Admiral? Ich werde sehen, was ich tun kann.« »Setzen Sie Ihre fähigsten Leute darauf an, Rita«, ord nete Ree ernst an. »Was auf dem Spiel steht, verrate ich Ihnen vorsichtshalber lieber nicht. Aber glauben Sie mir, ich würde dafür sogar meine Seele verschachern. Greifen
Sie mir Ngen. Um jeden Preis.« »Jeden Preis?« Rita hob die Brauen. *
*
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DIREKTORENSEKTION, ARCTURUS-STADT
»Hör mal, ich habe keinen Schimmer, was sich da zusammenbraut, aber offenbar ist's 'ne große Angelegen heit, und danach, wie davon gesprochen worden ist, dürf te sie außergewöhnlich gefährlich sein.« Susan stapfte unruhig im Zimmer umher, ohne den dicken Teppichen unter ihren Füßen, dem Hauptexportar-tikel Mamagonians und so kostspielig, daß sie ein Königreich in den Bankrott treiben konnten, Beachtung zu schenken. »Und du weißt überhaupt nichts über Alhar?« Rita zuckte die Achseln. »Er hat mit Ngen irgendeine Rechnung zu begleichen. Ich habe sämtliche Eventualitä ten durchdacht. Falls dahinter ein Komplott steckt, kann ich Methode und Zweck nicht aufdecken. Alhar hat für sein Bündnisangebot keine Bedingungen genannt. Er will lediglich Ngens Tod. Sonst nichts. Ich denke an das, was du gesagt hast, daß man eine Gruppe Sturmtruppler an Bord seines Flaggschiffs schaffen müßte. Vielleicht erhal ten wir dazu eine Chance, vielleicht. Wenn du willst, könnte das deine Gelegenheit sein.« Rita drehte sich um, faßte Susan an den Schultern, blickte ihr in die Augen. »Susan, die Entscheidung liegt bei dir, aber du solltest dir genau überlegen, was du anfängst, verdammt noch mal. Du weißt ja noch, was daraus geworden ist, als du das letz te Mal mit kleiner Truppe in die feindliche Machtsphäre vorgestoßen bist. Das Risiko ist das gleiche ... Nein, es ist größer als auf Sirius. Diesmal können wir nicht verspre chen, daß wir dich heraushauen.« Susan ließ die Lider sinken, mied den durchdringenden
Blick der grünen Augen. »Lust, liebste Susan ... Ich bin hier, um dich Lust zu lehren ... Komm, laß mich dir den Weg zu Friede und Freude zeigen ... Bevor diese Woche um ist, meine süße Susan, werde ich dich nach mir rufen hören ... Du wirst sagen, wie tief du dich danach sehnst, daß ich dir Erfüllung schenke ... mir die Gelegenheit, dir Freude zu bereiten, nicht mehr verweigern ...der Lust nicht widerstehen können, wenn ich deinen Leib beglücke ... die höchste Wollust auskosten dürfen, meine wunderba re Susan ... Lust ...« »Verflucht sollst du sein, Ngen!« Susan schauderte zusammen und entwand sich Ritas kräftigen Armen. »Ich fliege, Majorin. Ich ... ich muß ihn kaltmachen. Ich bin's so oder so satt, auf diese Art weiterzuleben. Ich will es auf diese oder jene Weise hinter mich bringen.« Erhobenen Kopfs und mit reservierter Miene musterte Rita sie. »Hm-hm. Nun ja, du weißt, allein wirst du nicht fliegen. Du nimmst Sam und den Rest deiner Gruppe mit. Es wird nicht nur dein Leben sein, das du hingibst, falls Ngen ...« Susan fuhr herum, beugte sich vor und blickte Rita aus unmittelbarer Nähe ins Gesicht. »Majorin, dessen bin ich mir bewußt, gottverdammt noch mal. Ich bin nicht mehr das eingeschüchterte, verstörte Mädchen, das vor Furcht bloß vor sich hin schlottert, das Opfer, mit dem Ngen es auf Sirius zu tun hatte. Ach, ich will bei der Wahrheit blei ben. Ich bin nicht hundertprozentig berechenbar, wenn ich seine Stimme höre. Aber auf Basar habe ich dem Drecks kerl in die Augen gesehen und die häßliche Fratze vom Holo-Bildschirm geblastert. Nein, ich will diese Chance wahrnehmen, ihn zu packen. Das ist alles, was ich will, und das hast du mir, bei Spinne, einmal versprochen.« »Wirst du auch deinen Verstand benutzen?« Susan lächelte grimmig. »Ich werde meinen Verstand benutzen. Auf Sirius habe ich dafür gebüßt, so emotional, verbittert und stumpfsinnig gewesen zu sein. Nein, ich habe nicht vor, Ngen ein zweites Mal in die Falle zu tap
pen. Es kann sogar sein, ich bin wegen der Dinge, die er mir angetan hat, diesmal um so vorsichtiger.« »Na gut, dann gebe ich meine Einwilligung. Du darfst loslegen.« »Und ich möchte, daß Darwin mitkommt. Er muß uns begleiten. Letztes Mal, auf Basar, hat er den Schlüssel zum Durchschauen der Erfolge Van Chows gefunden. Möglicherweise erschließt er uns dieses Mal einen Weg, wie wir mit den Padri fertigwerden können.« »Damit streichst du ihm die medizinische Behandlung, das ist dir sicher klar.« Susan schluckte angestrengt. »Ich weiß«, bestätigte Susan in heiserem Flüsterton. »Um jeden Preis, sagt der Admiral, das hast du doch erwähnt ...? Ich ... ich glaube, Darwin und ich ... Wir, wir wären kein so hoher Preis. Und wenn es uns gelingt, dazu beizutragen, Ngen aufzuhalten, eine Schwäche aufzudecken, einen Angriffspunkt, der durch den Admiral und Eisenauge ausgenutzt werden kann? Also, ich bin der Überzeugung, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, diesen Preis sind wir zu entrichten bereit.« »Und was wird aus Patan?« Susan seufzte, nahm sich Zeit, um die mit äußerster Sorgfalt und Genauigkeit in die Walnußtäfelung ge schnitzten, cutlanischen Schneckenverzierungen zu be wundern. »Rita, Patan bringt nicht nur sich selbst um, son dern auch Pike. Das ist mein voller Ernst. Zwischen Dar win und Patan besteht irgendeine Art von empathischem Band. Je tiefer Patan in der Zukunft versackt, um so schlimmer wird auch Darwins Verfassung. Weißt du, du hast es doch selbst gesehen. Stell ihm eine Aufgabe, die ihn von hier wegführt. Gib ihm einen Auftrag, dessen Ausgang keinen so schrecklich unausweichlichen Ein druck hinterläßt. Sonst wird Darwin vollständig aufge ben, sobald Patan sich vollends in der Zukunft verirrt hat, aufgeben mit oder ohne medizinische Behandlung. Du kennst die Macht der menschlichen Seele, wenn ein Kör
per so krank wie seiner ist. Der Wille kann den Auschlag nach jeder Richtung geben.« »Und du bist nachts nicht allein, hm?« »Verdammt noch mal, Rita! Das ist 'n schäbiger Vorwurf!« »Aber einer, über den du gefälligst nachdenken soll test!« Sarsa warf sich üppige, rote Prachtlocken über die Schulter. »Wenn du fliegst, wünsche ich, daß es offenen Auges geschieht. Gut, ich bin einverstanden, du und Pike, ihr dürft euch opfern. Um jeden Preis, hat Damen gesagt, ja, aber wir wollen alle Karten auf dem Tisch haben, oder nicht? Ohne allen Scheiß. Beim Abflug sollst du über alles Klarheit haben, auch über das, was du gar nicht wissen magst.« »Du bist ein wirklich gemeines Luder, weißt du das?« »Du auch. Damit sind wir quitt, glaube ich.« Ritas hitziger Blick konnte Susan nicht schrecken. »Ja, wahrscheinlich hast du recht«, gestand sie schließlich zu. »Also diesmal ohne Aussicht auf Rettung. Na, wenn wir's schaffen, den Schuft zu killen, erledigt sich alles andere von selbst, nicht wahr?«
38
AN BORD DER GABRIEL AM RANDE DES ARCTURUSSYSTEMS
Torkild Alhar sah sich das Holo sehr kritisch an. Auf dem sichtbaren Planeten erfolgte eine grellviolette Explosion, die Pilzwolke, die emporschoß, blieb hinter der Globus rundung teilweise verborgen. Wie Ringe auf einer Wasser fläche kondensierten aufgrund der Schockwelle atmo sphärische Strömungen, dann durchlief ein Zittern die gesamte Atmosphäre, und sie strömte in das von Verwü stung umringte Vakuum, das die Reaktion von Materie und Antimaterie am Explosionsort aufgerissen hatte. Der ganze Planet erbebte, es rüttelte ihn durch, tektonische Gewalten wurden freigesetzt, die Achse, Gleichgewicht und naturgewachsene Beschaffenheit schwerstens beein trächtigten. »Prachtvoll«, lobte Torkild den Film. »Ich muß sagen, Ihre Universität hat hervorragende Medientechs.« »Tja, dazu muß ich anmerken, berücksichtigt man, was Ngens Überfall von den entsprechenden Einrichtungen übriggelassen hat, kann man es tatsächlich Glück nennen, daß uns so was geliefert worden ist. Jedenfalls glaube ich, Sie haben jetzt ein plausibles Alibi für das Ausbleiben jeder Kommunikation mit Ngen. Gerade ist die Meldung von Radians Untergang über die Subraum-Sendeanstalten verbreitet worden. Radian hat sich natürlich mit dem Täu schungsmanöver einverstanden erklärt. Sie bleiben dort liebend gern still und ruhig, weil sie froh sind, wenn Ngen sie für ausgelöscht hält. Dadurch sind sie genauso sicher, als hätten sie ein Schlachtschiff im Orbit.« Rita Sarsa maß Torkild unterkühlten Blicks. Stumm musterte er sie seinerseits. Sie war eine äußerst attraktive Person und hätte eine wunderbare Ehefrau ab gegeben. Offenbar zeichnete sie sich durch Intelligenz und
Tüchtigkeit aus, und sie hatte tadellos geschnittene Gesichtszüge. Ihre Nase verschmolz harmonisch mit den Bogen der Brauen, aus ihren grünen Augen blickten ein derartiger Stolz und eine solche Kraft, daß sie für jeden Mann einfach eine Herausforderung bedeuten mußten. Die Umrisse des Kinns unterstrichen die wundervollen Lippen, in der Beleuchtung glomm ihr rotes Haar. Aller dings zählte sie gut und gern zehn Jahre mehr als er, und zweifellos hatte sie — wie die meisten Direktoratsschlun zen — ihre Jungfräulichkeit an den erstbesten harten Schwengel verschwendet, der sich ihr bot. Doch sie hatte Ausstrahlung, eine Persönlichkeit, die ihre Schönheit um so stärker betonte. Ein hintersinniges, humoriges Lächeln verzog Sarsas Lippen, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Ich habe Ihr Schiff im Scanning«, teilte Torkild ihr mit, brach das leicht peinlich gewordene Schweigen. »Rendezvous ist in zehn Stunden zu erwarten.« »Sind Sie sich über die Risiken im klaren, die Sie ein gehen? Ngen ist kein Dummkopf, wenn's darauf ankommt, seine ...« Torkild fühlte sich gereizt. »Majorin, wenn ein Mann keine Ehre hat, verdient er nicht zu leben. Ngen Van Chow hat meine Schwester in Schande gestürzt. Er hat mein Volk zu einer geistlosen Schweineherde degradiert. Meine Familie ist von ihm ermordet und ihre Ehre besu delt worden. Wenn ich dabei den Tod finde, seine Ver nichtung zu bewirken, wird es ein guter Tod sein.« Nimm das zur Kenntnis, eisige Schöne1. Kann sein, ich bin jung, aber du sollst wissen, wie du mit einem Alhar umzugehen hast. »Haben Sie eigentlich von seiner Schreckenskammer gehört?« fragte die Majorin zu seiner Verblüffung. »Falls ich richtig über Ngen informiert bin, hat er irgendwo auf seinem Flaggschiff einen Raum voller gefangener Frauen. Sie sollten sich die Zeit nehmen, um nach dieser Einrich tung zu suchen und sich anzuschauen, auf welche Weise er
möglicherweise« — sie errötete leicht — »Ihre Schwester amüsiert hat.« »So etwas würde er nicht wagen. M'Klea ist die ...« Was denn? Was ist sie? Was für eine Sorte Spielzeug mag Ngen aus ihr gemacht haben ? Und woher weiß diese Majorin, die so engelhaft aussieht, von solchen ...? Aber die Patrouille ist anders. Ohne Moral. M'Klea, M'Klea ... Torkild spürte, wie sich sein Magen Zusammenkrampfte. »Ich werde nachforschen. Ich ver spreche es Ihnen.« Während langer Augenblicke setzte er sich insge heim mit dieser Vorstellung auseinander. M'Klea in Ngens Händen. Sah man einmal von Phantasien ab, konnte eine Frau, die derlei sexuelle Verirrungen erwähnte, unmöglich die ernsthafte Aufmerksamkeit eines Alhar wert sein. Und dabei wäre die Majorin eine außergewöhnliche Mutter, Gattin und in übriger Hin sicht eine Zierde gewesen. »Noch etwas ...« Majorin Sarsa erregte den Eindruck, als wollte sie etwas zur Sprache bringen, aber fiele es ihr schwer. »Ja, Majorin?« Jetzt wirkte Sarsa, als wäre sie zu einem Entschluß gelangt. »Seien Sie achtsam im Umgang mit Komman dantin Andojar und Dr. Pike. Sie sind beide Ngens Gefan gene gewesen, ehe sie fliehen konnten. Ich weiß nicht, wieviel sie Ihnen über sich erzählen werden, aber das ist ihre Sache. Wenn ich Ihnen von Kommandantin zu Kapi tän einen Rat geben darf: Üben Sie auf die beiden keinen Druck aus. Sie leiden schon so genug unter Alpträumen von Van Chow.« »Nachdem ich mir die Bedeutung Ihrer Information vergegenwärtigt habe, hege ich dafür volles Verständnis.« Um die Möglichkeit, auf den Wunsch der Majorin einzu gehen, und seinen Respekt auszudrücken, verbeugte sich Torkild knapp. Welche Geheimnisse mögen sie kennen ? Was wissen sie über Van Chow? Wichtiger ist die Frage:
Wie erfahre ich es und verwende es zu meinem Vorteil ? Oh, Ihr Rat in Ehren, Majorin, aber ich werde die Ohren offenhalten. »Majorin«, fragte er unvermittelt, »weshalb mußten wir auf die Blitzkorvette warten?« Er hoffte, sie mit der Frage zu überrumpeln. »Von der BK ist ein besonderer Passagier gebracht worden, der darum gebeten hat, Sie begleiten zu können. Wer er ist, werden Sie früh genug sehen. Im Moment will ich mich darauf beschränken, Ihnen zu sagen, daß er für Sie und Ihr Vorhaben eine beachtliche Stärkung verkör pert. Bei uns werden Leute seiner Art nicht in Frage gestellt. Sie gehen, wohin es ihnen paßt, und sie tun, was ihnen gefällt. Ich glaube, Sie werden ihn interessant fin den.« »Vielen Dank für Ihre Kooperation und Unterstützung, Majorin. Ich übermittle Ihnen die besten Grüße des Hau ses Alhar. Sollte ich noch Fragen an Sie haben, werde ich Sie nochmals kontaktieren.« »Kapitän, wir alle wünschen Ihnen Glück und Erfolg. Ganz gleich, wie Ihre Aktion endet, ich entbiete Ihnen meinen Salut.« Noch lange, nachdem der Bildschirm erloschen war, saß Torkild an seinem Platz und dachte über die Verände rungen im Verlauf seines Schicksals nach. Ein sonderba rer Passagier? Direkt von Welt? Er klinkte sich in die Kommu ein, ließ Beschleunigungs-, Überlichtflug- und Bremsphase berechnen. Nein, dieser rätselhafte Passagier hatte nichts gewußt. Er mußte längst auf dem Flug gewe sen sein, bevor Torkild überhaupt auf die Idee kam, mit Sarsa Kontakt aufzunehmen. »Aber sollte das ein Trick sein, meine teure Majorin ...« *
*
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AN BORD DER SPINNES VERGELTUNG AUF VEKTORKURS MIT DER GABRIEL
Während sie sich dem zum Kriegsschiff umgerüsteten FLF der Padri näherten, machte sich in Darwin Pikes Magengegend ein mulmiges Gefühl immer breiter. Er warf Susan einen kurzen unsichern Blick zu. Torkild Alhars Gabriel war von einem winzigen Lichtpünktchen zu einem riesigen Objekt angewachsen, das einen Teil der Sternbilder des Weltalls im Hintergrund verdunkelte. Alles geschah so schnell. Rita hatte ihm den Befehl durchgegeben, seine Sachen zu packen und sich an Bord der BK zu melden. Verzweifelt hatte er sich ein letztes Mal einen Eindruck von Patans Zustand verschafft, tiefe Furcht um den Propheten empfunden, während er seine schmalen Gesichtszüge betrachtete, im REM-Schlaf die Lider flattern sah. Herrgott noch mal, Patan war dermaßen bleich und dünn geworden ...! Und ich mußte fort ? Verdammt, wer soll ihn am Leben halten? Begreift denn niemand, was vor sich geht? Sieht denn niemand, daß er sich aufgibt ? Kein Mensch dürfte soviel aufgeben müssen, solange die gesamte übrige Menschheit sich derartig hartherzig benimmt ... Und jetzt füllte das Padri-Raumschiff die Bildschir me aus. Was war das für ein Wahnsinn? Irgendein ver rückter Plan, um in Ngens Umkreis zu gelangen? Ihn vielleicht zu töten? Ausgerechnet so ein Irrsinn ... Und Susan geriet dadurch noch einmal in die Reichweite der scheußlichen Klauen Ngens. Was sollte werden, falls jemand ein Doppelspiel trieb, Ngen selbst einen abarti gen Plan ersonnen hatte, um ... Nein, daran durfte er nicht einmal denken. Darwin schluckte und ging hinüber zu Susan, ließ sei nen Blick an ihrer sportlich-schlanken, muskulösen Gestalt hinauf- und hinabgleiten. Patan. Susan. Gab es überhaupt keinen Weg, wie er sie beide retten könnte? Er sah die Fruchtlosigkeit seines Wunschdenkens ein. Ver flucht noch mal, Spinne, wo steckt der Sinn all dessen? Ich
und würdig? Nein. Ich bin nur ein ganz normales Mensch lein inmitten eines Riesenwahnsinns. Laß die beiden leben und tu mit mir, was du willst. Aber versuchen muß ich es, sagte er sich, indem er Susans vollkommenes Gesicht anschaute. Als wäre er ein Meisterbildhauer, so nahm er alle Eindrücke der leichten Grübchen ihrer makellosen Wangen, der Umrisse ihrer Brauen und der Nase in sich auf, maß sie andächtig bis zur Verehrung. Ihn plagte die Erinnerung an ihr glattes, weiches Haar in seinen Fingern, dessen Pracht und Glanz ihn regelrecht benommen machte. Verdammt, sie war ein fach zu wertvoll, um in Gefahr gebracht werden zu dürfen. »Ich habe mir etwas anders überlegt«, sagte er mit lei ser Stimme zu ihr. »Ich vermute, ich kann dich nicht dazu überreden, bei Rita zu bleiben und mich fliegen zu las sen?« Perplex sah sie ihn an. »Wovon redest du?« Er zuckte die Achseln, spürte Grauen wie mit kaltem Finger an sein Rückgrat rühren. Wie könnte er es ihr ver deutlichen? »Hör mal, sicher wird es ziemlich nach Blah blah klingen, aber ich ... ich liebe dich. Ich gebe mir Mühe, um mich rational davon zu überzeugen, daß du Sol datin bist, eine romananische Kriegerin. Aber alles, was ich dauernd vor mir sehe, ist die Frau, die ich liebe. Hör mal her, flieg nicht mit. Bleib hier und laß mich das Risi ko tragen. Falls du ... Sollte etwas passieren, wäre ich ... Ich hätte ...« Ihm war flau zumute, und durch das Gestam mel wurde ihm nicht gerade wohler. Susan fing zu blinzeln an, und er erkannte, daß sie mit den Tränen rang. Er zog sie an sich, umarmte sie zärtlich. Kostete die vertraute Wärme ihres an seinen Körper geschmiegten Leibs aus. Verflucht, sie war eine solche Kostbarkeit, ein so wertvoller Mensch ... Ihre Arme umschlangen ihn, mit ihrer kraftvollen Umarmung preßte sie ihm nahezu die Luft aus den Lungen. »Danke.« Sie trat zurück und verpaßte ihm einen Rip penstoß. »Sind das wieder deine männlichen Organe, die
da aus dir sprechen?« Ihre Lippen lächelten leicht spöt tisch. »Ich wünschte, 's wäre so«, antwortete Darwin gedämpft, dachte daran, wie er Nacht um Nacht neben ihr gelegen und sich fieberhaft Hoffnungen hingegeben hatte. Es waren Momente zu erleben gewesen, die etwas verhie ßen, doch jedesmal, sobald er körperlich auf Susan ansprach, hatte er Ngens Geraune im Ohr gehabt, und ein unerwünschter Teil seines Gedächtnis zeigte ihm abermals die Susan so ähnlich gewesene Kannibalin. In diesem Augenblick schwand unweigerlich das Verlangen, verflog, und er lag schlaff und zitternd da. »Hast du jemals Dvoraks Karnevals-Overtüre gehört?« fragte eine verhaltene Stimme an Darwins Schulter. Er wandte sich in plötzlicher Verärgerung schroff um, es verdroß ihn, daß jemand sich heranzuschleichen wagte, während er ein persönliches Gespräch mit Susan führte. Es gelang ihm gerade noch, sich die barsche Entgegnung zu verkneifen, die ihm auf der Zunge lag. »Nein, habe ich nicht.« Er merkte, daß er unwillkürlich einen scharfen Ton anschlug. »Du solltest sie dir einmal anhören. Es ist wunderschö ne Musik. Dvorak hat einen Schwung, der die Seele ergreift, sie erhebt und mitreißt, sie durch die Sphären wir belt. Herrlich.« Er holte Atem und entfernte sich, summte dabei vor sich hin, was wohl, wie Darwin vermutete, das genannte Musikstück sein sollte. Susan bog sich vor Lachen. Wie durch einen raffinier ten Zauber wirkte das Komische der Situation plötzlich auch auf Pike. »Ein seltsamer Mensch. Meinst du, das war Absicht?« Susan zwinkerte ihm zu. »Ganz bestimmt.« Darwin senkte die Hände von ihr, schmunzelte ange sichts des erneuerten Funkeins ihrer Augen, machte sich dann daran, den Zustand seines Schutzpanzers zu überprü fen. Für einige letzte Sekunden erwiderte Susan seinen
Blick, in ihren Augen schimmerte eine Weichheit, die er an ihr noch nie angesehen hatte. Schließlich beugte sie sich vor, schnallte die Beine ihres Schutzpanzers stramm um die muskulösen Waden. Sie raffte das füllige Haar, das ihr um Kopf und Schultern wogte und flocht es mit flinken Fingern zu einem glänzend-schwarzen Zopf. »Kann sein, Chester wollte uns zu verstehen geben, daß unsere Sorgen im Vergleich zu dem, was dem Univer sum droht, belanglos sind. Oder es ist tatsächlich seine Auffassung, dann sollten wir uns mehr Zeit fürs Musikhö ren nehmen.« Sie hob den Kopf, furchte die Stirn »Weißt du, wenn ich's mir genau überlege, kann ich mir momen tan überhaupt nichts schöneres vorstellen, als irgendwo in den Bärenbergen an einem warmen Feuer zu sitzen und Musik zu lauschen.« »Hm-hm«, brummte Darwin. Danach standen sie herum und warteten, während der umgebaute FLF sich auf den Monitoren näherschwebte. Das Bewußtsein, daß die nachträglich aufmontierten Waf fenkuppeln sirianische Blaster enthielten, hatte eine ernüchternde Wirkung. Und selbstverständlich hatte man diese gewaltigen Geschütze jetzt voll energetisiert, so aus gerichtet, daß sie ihre mörderischen Strahlen auf die mit lediglich schwachen Schutzschirmen ausgestattete BK feuern konnten, falls Alhar auch nur die kleinste verdäch tige Unregelmäßigkeit beobachtete. Die BK schob sich neben den gemaserten Rumpf der Gabriel, das Kriegsschiff, dem es gelungen war, das Pa trouillenschlachtschiff Ganges zu Plasma zu zerschießen. »Noch dreißig Sekunden, Leute«, sagte Mosche von der Kommandobrücke durch. »Sieht aus, als ginge alles in Ordnung.« »Verteilt euch hinter mir«, rief Susan, stellte sich an die Schleusenpforte. Darwins Herz wummerte, während er geduckt das schwere Blastergewehr an die Hüfte drückte. In den Fü ßen spürte er, obwohl sie in Stiefeln staken, ein schwaches
Beben, als die Raumschiffe den Kontakt zustandebrachten und die Schleusentunnel sich aneinander festsaugten. Hohl klirrte und dröhnte Metall. Manometer registrierten den Druckausgleich, und die Schleusenpforte schwang auf, ein Wölkchen kondensierter Luft puffte heraus. Zwei Offiziere kamen mit geraden Rücken aus der Schleuse, blieben stehen. Susan trat ihnen entgegen und salutierte. Sie grüßten ebenso; für Darwins Begriffe strotz ten sie von Förmlichkeit. Er sah sie sich gut an; sie waren die ersten Arpeggianer, denen er begegnete. Sietrugen sau ber robotgeschneiderte, kobaltblaue Galauniformen mit an den steifen Schulterklappen und längs der nach unten ver jüngten Langärmel aufgenähten Golddrähten. Der eine Mann hatte dunkle, der andere helle Haut, jeder ließ stän dig eine Hand am Halfter der Blasterpistole. Sie knallten die Hacken zusammen und bewahrten abwartende Hal tung. »Wir haben Befehl, Ihnen die Grüße unseres Kapitäns auszurichten«, sagte der eine Offizier. »Wir sind Ihre Eskorte.« Susan deutete eine Verbeugung an. »Bitte entschuldigt unseren Aufzug anläßlich dieser Begrüßung. Nicht daß wir eure Zusage anzweifeln, den Waffenstillstand zu beachten, aber wir haben mit Ngen Van Chow schon unse re Erfahrungen gesammelt.« »Der Kapitän hat uns vorgewarnt, daß damit zu rech nen sein könnte, Gnädigste. Würden Sie uns bitte fol gen?« Zackig machte der Offizier kehrt und sich auf den Rückweg ins arpeggianische Schiff. Wachsam schlossen Susan und ihre Begleitung sich an. In den abweichenden Schwerkraftfeldern des Übergangsbereichs erlitt Darwin einen kurzen Schwindelanfall. Das Innere der Gabriel hätte genausogut das der Spinnes Vergeltung oder irgendeines beliebigen anderen umgebauten FLF sein können. Produktevielfalt war keine Stärke des Direkto rats gewesen. Ein Modell hatte allen Zwecken zu genü gen gehabt.
Die Arpeggianer, an denen sie vorübergingen, wirkten nervös, traten ruhelos, die Hände auf dem Rücken, von einem auf den anderen Fuß. Auf der Gabriel mischte sich ein metallisches Odeur mit dem Geruch von menschlichem Schweiß. An Bord blickte eine große Anzahl Menschen mit all ihrer Körper lichkeit inzwischen auf einen langen Raumflug zurück. Trotzdem sah alles einwandfrei gewartet und gepflegt aus, geradezu sauber und schmuck. Die Gabriel erweckte durch und durch den Eindruck, eine hochgradig tüchtige Crew mit hervorragender Disziplin zu haben. Sie trafen Kapitän Torkild Alhar in einem ehemaligen Frachtbunker. Jetzt befanden sich Tische, Teppiche und Sitze mit Sicherheitsgurten in dem großen Raum. Sie war in einen improvisierten Bankettssaal umgewandelt wor den. Alhar erwartete die Ankömmlinge in einer protzigen Uniform — sie war kobaltblau, hatte weiße Borten, reich lich Goldflitter und sogar Edelsteinbesatz, so daß sie in der Beleuchtung glitzerte — und hochaufgerichtet wie ein junger Gott, aber feierlich-ernsten Gesichts. »Kommandantin Susan Smith Andojar?« Susan nickte, taxierte ihn aufmerksam. »Es ist mir ein Vergnügen, Kapitän Torkild Alhar.« Alhar schaute ihr für einen ausgedehnten Moment in die Augen, in seinem Gebaren vollzog sich eine kaum wahrnehmbare Veränderung. »Eigentlich kann ich das kaum glauben. Ich habe den Eindruck, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Gnädigste.« Er verneigte sich aus der Hüfte und küßte Susans Hand, in seinen Augen glänzte plötzlich auffälliges Interesse, während sie Susans Schönheit schier verschlingen zu wollen schie nen. Darwin brummte unterdrückt vor sich hin, verpreßte die Kiefer. Er ging nach vorn. »Darwin Pike, Kapitän. Freut mich, an Bord zu sein.« Er nahm Alhars Hand, erwiderte ihren stahlharten Griff, ohne etwas schuldig zu bleiben.
Das Lächeln, das er sich damit einhandelte, rang Alhar blutleeren Lippen ab. »Sehr erfreut, Dr. Pike.« Susan spürte die aufgekommene Spannung und unter brach die Begrüßung von der Seite. »Kapitän, ich werde meinen Piloten informieren, daß alles korrekt abläuft. Dann können wir, wenn du einverstanden bist, Nach schubgüter umladen.« »Das ist uns willkommen, Kommandantin.« Knapp verbeugte sich Alhar, schlug die Hacken zusammen. Pike nutzte diesen Moment, um den neuen Bundesge nossen zu betrachten. Torkild Alhar sah voll und ganz so aus, wie man sich einen Nachfahren der arpeggianischen Piraten vorstellte. Seine angenehmen Gesichtszüge ver liehen ihm eine kühle Attraktivität; in mancher Hinsicht war er eine Erscheinung von hinreißendem Äußeren. Auf grund seiner Miene konnte Pike sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Alhar sich an anderer Leute Bewunderung gewöhnt hatte. Unterdessen drängte der romananische Kriegspfadrat herein, die Kriegsdolche blitzten und klap perten auf den Schutzpanzern, in seidigen Wellen wehten an Gürteln und Kriegsröcken Coups; Raubvogelaugen richteten den Blick fest auf den arpeggianischen Kapitän. »Bemerkenswerter Bursche«, konstatierte Darwin im Flüsterton. »Fast wie ein Anachronismus aus der Vergan genheit der Erde.« Verständnisvoll forschte Susan in seinem Gesicht. »Du magst ihn nicht, was?« Darwin hob die Schultern; er kam sich albern vor. »Wir haben auf ihn schießen müssen, weißt du noch?« »Ngen hat sich seine Schwester gekrallt, weißt du das noch? Hier steht die arpeggianische Ehre auf dem Spiel. Die alten arpeggianischen Familien haben auf ihre Ehre nichts kommen lassen. Ich glaube, damit wollten sie sich von ihren eigenen unehrenhaften Ursprüngen distanzie ren.« Susan musterte Darwin mit einem Ausdruck stum mer Mahnung. Torkild verstand es, die Beachtung der Krieger von
sich abzulenken, indem er mit seinen Offizieren bekannt machte. Danach verbeugte er sich andeutungsweise noch einmal. »Ich hoffe, unsere Untergebenen werden ohne Reibereien miteinander auskommen.« Abgebrüht heftete er den Blick auf Susan, trat dicht an ihre Seite. »Meine Männer haben bezüglich der Messerduelle ihre Weisungen erhalten. Sie werden so höflich sein, wie sie können, Kapitän.« Susan zögerte. »Ich verstehe den arpeggianischen Ehrbegriff vollauf. Aber berücksichtige bitte auch, daß meine Krieger einen eigenen Ehrencodex haben. Sie werden keinen Ärger verursachen, solange nie mand sie provoziert.« »Aha.« Umgänglich nickte Torkild Alhar. »Bitte begleiten Sie mich in meine Kajüte, wenn es Ihnen beliebt, Kommandantin, dann wollen wir die Lage diskutieren.« Gallant bot er ihr seinen Arm. Darwin zwang sich zu ruhigem Atmen. Ja nichts her ausfordern. Was ist denn nur mit mir los, zum Donnerwet ter noch einmal? Es ist doch natürlich, daß er versucht, mich auszuschließen. Ich bin als Anthropologe bloß eine Hilfskraft. Klar ist er scharf auf Susan. Welcher Mann mit normalem Hormonhaushalt wäre es nicht? Susan kann selbst auf sich achtgeben. Er könnte sie nicht mit dem Fin ger anrühren, ohne daß ... Also gut: Gib es zu! Du bist eifersüchtig. Und er ist ein aufgeblähter, kleiner Leute schinder und Lüstling. Zu seiner Erleichterung wandte Susan sich ihm zu. »Ich säh's gerne, wenn du dabei bist, Dr. Pike. Ich glaube, deine fachkundigen Stellungnahmen dürften uns nützlich sein.« Gelassen nickte Darwin. »Mit Vergnügen, Komman dantin.« Die nur teils verhohlene Enttäuschung in Alhars Augen bereitete ihm insgeheim hämische Belu stigung. Die Kapitänskajüte konnte man bestenfalls als sparta nisch bezeichnen. Alhar öffnete eine Kristallkaraffe unbe kannten Alters und unermeßlichen Werts. »Darf ich Ihnen
arpeggianischen Brandy einschenken? Angesichts des jet zigen Stands der Dinge ist es voraussichtlich derletzte, den es irgendwo in der Galaxis zu trinken gibt.« »Schönes Gefäß«, kommentierte Darwin. »Schaut aus, als wäre es ein irdisches Fabrikat. Wahrscheinlich rus sisch, einundzwanzigstes Jahrhundert, wenn ich mich nicht irre.« »Tatsächlich?« Alhar reichte ihm die Karaffe. Vorsichtig hob Darwin sie an, besah sich den Boden. »Waterford«, stieß er unterdrückt hervor. »Hergestellt in Irland für den Ministerpräsidenten des Obersten Weltso wjets.« Er senkte die Karaffe in plötzlicher Andacht, strich voller Wertschätzung mit den Fingern über den fein geschliffenen Kristall. »Auf meiner Heimatwelt hat es viele solche Kostbar keiten gegeben. Diese habe ich vor Jahren von meinem Vater erhalten.« Alhar winkte ab. »Ich habe mir die Kenn zeichnung nie genauer angeschaut. Sie war mir unver ständlich.« Behutsam setzte Darwin die Karaffe ab und seufzte. Vermutlich stammte das kostbare Stück aus derselben historischen Periode wie sein Solinger Survival-Messer. Könnte Glas sprechen, welche Geschichten wüßte dieser Wertgegenstand von fremden Welten, Blut, Tod und Pira ten zu erzählen? Welche Liste prominenter Männer und Frauen aufsagen, deren Hände das funkelnde Glas schon berührt hatten? »Vergeuden wir keine Zeit mit Kinkerlitzchen«, sagte Alhar kurzangebunden. »Auf den Sieg.« Markig verneig te sich vor Susan und prostete ihr zu. Sie tranken; Darwin mußte einräumen, daß der Brandy höchste Qualität hatte. »Wie gelangen wir in Ngens Nähe?« fragte Susan, kam zur Sache. »Kannst du uns auf die Gregorius transferieren, Kapitän?« Torkild Alhar nahm in einem der Antigrav-Sessel Platz und lehnte sich mit jetzt ausdrucksloser Miene
zurück. »Wäre dies Raumschiff kampfkräftig genug, würde ich ihn persönlich aus dem All fegen. Es ist meine Verpflichtung, ihn zu töten. Die Ehre erfordert es. Ich glaube, ich kann Ihre Leute und meine Besatzung an Bord bringen. Dann werden Sie eine Ablenkungsaktion starten, damit ich und meine besten Männer die Gelegen heit finden, Ngen Van Chow zu liquidieren. Ich muß mich darauf verlassen können, daß Sie das übrige Schiff für mich neutralisieren.« Anspannung packte Darwin, er befürchtete schon, Susan würde Alhar im nächsten Moment aufschlitzen und skalpieren; das Mahlen seiner Backenzähne knirschte ihm laut in den Ohren. Was war der Mann doch für ein unge schickter Tölpel! Er erwartete zwar, daß die Romananer das Schlachtschiff für ihn einnahmen, aber er wollte Van Chow für sich allein. Aber noch stärker überraschte es ihn, daß Susan zum Zeichen der Zustimmung nickte. Hastig beugte er sich vor, um sich nochmals die Karaffe anzuschauen, verbarg so seine Verblüffung. »Ich glaube, das ist durchführbar«, antwortete Susan mit Untertönen in der Stimme, die sich auf vielerlei Weise deuten ließen. »Meine Krieger haben mit der Erstürmung von Patrouillenschlachtschiffen schon erhebliche Erfah rungen gesammelt. Die Gregorius wird nicht das erste Raumschiff sein, das wir kapern.« Darwin sah Torkild Alhar zufrieden lächeln. »Ausge zeichnet. Auf die Romananer!« Er hob erneut das Glas und kippte einen Zug des letzten arpeggianischen Brandys hinab. »Welches Vorgehen schlägst du vor, um uns an Bord der Gregorius zu schaffen?« Lässig winkte Alhar ab. »Meine Schwester denkt, ich wäre noch ein treuer Handlanger dieses Schweinepriesters Van Chow. Ich werde sie bitten, ihr einen verwandtschaft lichen Besuch abstatten zu dürfen, um ihr für die Zukunft meinen brüderlichen Segen zu spenden.«
»Wird sie auf Sie hereinfallen?« Darwin konnte sich die Frage nicht verkneifen. Unvermittelt sah sich Darwin dem grimmigen Blick ausgesetzt, dem Machos in Gegenwart einer schönen Frau andere Männer aussetzten. Er fühlte sich erheitert, gleichzeitig jedoch machte es ihn wütend, die Banalität der Konfrontation ärgerte ihn; nachdem er Ngen entflo hen, die Zombies auf Basar und das Grauen in Patans Augen gesehen hatte, vermochte er nichts, was dieser Operettenoffizier tat oder sagte, noch als bedrohlich zu empfinden. »Sie wird mir glauben. Mit meinem Verantwortungsbe wußtsein hinsichtlich der Familie werde ich sie überzeu gen.« Alhar lachte, hielt seine Antwort anscheinend für Ironie; aber sein Blick blieb feindselig auf Darwin ruhen. Harmlos nickte Darwin, verschob sein endgültiges Urteil auf später. Seine seit längerem verschlissenen Ner ven zitterten immer merklicher. Torkild Alhar mochte pfif fig genug gewesen sein, um die Ganges mit einem Antimaterie-Torpedo abzuschießen, aber erregte nicht gerade den Eindruck, die Fähigkeit zum Versteckspielen, Irrefüh ren und Täuschen zu haben. Wahrscheinlich würde Ngen lächeln, wenn er ihm zuhörte, ernsthaft nicken, als nähme er jedes Wort für bare Münze — und Alhar anschließend, sobald er ihm den Rücken zukehrte, die Kehle durch schneiden. Susan lächelte sardonisch. »Nur um eines völlig klar zustellen, Kapitän, ich erachte es als Ehrensache, daß du dir dabei keinerlei Patzer erlaubst. Ich trage die Verant wortung für meine Untergebenen. Für Beistand und Gehorsam sind ihnen von mir Coups und Beute verspro chen worden. Ich denke mir, als Arpeggianer müßte dir einsichtig sein, daß ich ihnen gegenüber auch eine Pflicht habe.« Torkild Alhar musterte sie aus verengten Lidern. »Sie wären eine würdige Königin unseres Volkes gewesen, Kommandantin Andojar.«
Darwin zwang sich zur Ruhe, während Alhars Falken augen Susans Gestalt nochmals gierig begafften. Es ent wickelte sich für ihn zu einer anspruchsvollen Übung der Willenskraft, seine wachsende Abneigung gegen den Ar peggianer zu beherrschen. Ein Kommu-Apparat summte. Auch ein noch so gründ lich umgebauter FLF war kein Patrouillenschlacht- schiff. Einrichtungen wie Kommunikationsanlagen über-schritten nie ein Niveau primitiver Unzulänglichkeit. Auf der Bildfläche erschien ein hageres Männerge sicht. »Ich glaube, wir haben einen Spion ertappt, Kapi tän.« »Führen Sie ihn mir vor.« Alhar blickte Susan befrem det an. »Ein Spion, Kommandantin?« Er neigte den Kopf seitwärts. »Noch keine zwanzig Minuten sind Sie an Bord meines Raumschiffs, und schon greifen wir einen Spion auf? Könnten Sie mir das bitte erklären?« Susan verschränkte die Arme, stemmte die Beine ge spreizt auf den Fußboden, aus ihren Augen leuchtete Ver achtung. »Ich habe keine Spione mitgebracht«, entgegne te sie geringschätzig. Unwillkürlich krampften sich Darwins Muskeln an. Er hatte sich schon überlegt, welche Körperstelle Alhars er im Notfall als erstes zu attackieren beabsichtigte. Nach langem Umherhumpeln mit der Prothese befand seine Beinmuskulatur sich wieder in brauchbarer Beschaffen heit. Seine Nahkampfreflexe funktionierten ohne Abstri che. Ihm war nur beiläufig bewußt, wie stark er sich ver ändert hatte. Diesmal würde er kein Zögern kennen. Er gedachte den Mann blitzartig und effizient zu töten. Die Tür rollte auf, und zwei stämmige Uniformierte zerrten einen mittelgroßen Mann herein, schleiften ihn fast. Susan schmunzelte, und Darwin schüttelte bei dem ungehörigen Anblick nur den Kopf. Er hoffte, daß die Romananerkrieger nichts bemerkt hatten. Aber hätten sie etwas gesehen, wäre in den Korridoren des Raumschiffs längst ein Gemetzel ausgebrochen.
Der Prophet schaute zu den Arpeggianern auf, die ihn bösen Blicks festhielten. Sobald sie ihn freigaben, trat er vor, betrachtete die Karaffe, ohne irgendeinen Anwesen den zu beachten. In der Stille des Raums klangen die Laute der Anerkennung, die er brummelte, übertrieben laut. »Wer sind Sie?« fragte Torkild Alhar; natürlich entgin gen ihm nicht die Blicke, die Susan und Darwin wechsel ten, und man sah ihm nun Argwohn an. Die Fingerspitzen des Propheten strichen über das Glas, befühlten die Oberflächen des geschliffenen Kri stalls. »Wie schön.« Er hob den Blick, in seinen Augen glomm Freude. »Etwas so Schönes beschert dem Men schen viele Stunden der Genugtuung. Dergleichen ist ein unentbehrlicher Bestandteil unseres Lebens. Ohne es müßten unsere Seelen dahinwelken. Ein Teil unseres Gemüts würde verkümmern und finster werden.« »Ich habe nach Ihrem Namen gefragt«, erinnerte Alhar ihn mit einem Ausdruck unerbittlicher Feindschaft in den Augen. »Darf ich ...«, begann Susan, doch Chester streckte ihr seine magere Hand entgegen, der weite Ärmel rutschte herab, entblößte die blasse Haut seines Unterarms. »Sicherlich fühlst du dich beunruhigt, Susan, aber laß es gut sein, ich bitte dich. Ich habe selbst Stimmbänder und verstehe sie zu benutzen.« Das Mondgesicht des Pro pheten lächelte ihr zu, und sie senkte den Blick, weil es als vermessen galt, einem solchen Mann in die Augen zu schauen. Dann wandte Chester sich um und sah Torkild Alhar an. »Ja, ich seh's.« »Was sehen Sie?« fragte Alhar, richtete sich zu voller Körpergröße auf, legte eine Hand auf den Griff seiner Bla sterpistole. »Ich habe vorhin über dich nachgedacht.« Die Andeu tung eines Achselzuckens ging durch die Schultern des Romananers. »Und ich werde deine Fragen beantworten, ja. Um die erste zu klären: Ich heiße Chester Armijo Gar
cia. Ich habe nicht spioniert, weil ich, wie du erfahren wirst, nicht zu spionieren brauche. Zum Beispiel kann ich dir ohne weiteres vorhersagen, daß die zwanzig Bewaffneten hinter Schott siebzehn vollständig überflüs sig sind. Es wird zu keinen Gewalttätigkeiten kommen, und die Romananer planen keine Hinterlist.« Torkild Alhar erbleichte. Darwin erhob sich aus seinem Sessel. Susans grimmiges Lächeln der Schadenfreude sprach Bände. »Ich bin da«, erläuterte Chester, ohne sich um die Begleiterscheinungen seines Auftretens zu küm mern, »weil ich den Ausgang dieses Unternehmens selbst miterleben möchte. Das mag die einzige Möglichkeit sein, die sich mir bietet, um einmal von Mann zu Mann mit Ngen Van Chow zu sprechen. Ob es dazu kommt, ist naturgemäß von noch mehreren Cusps abhängig. Zur glei chen Zeit verhält es sich so, junger Mann, daß du so sehr der Belehrung bedarfst wie deine Mannschaft. Zu ent scheiden, ob du in ihren Genuß gelangst, liegt bei dir. Ich bin nicht hier, um deinen freien Willen einzuschränken, aber wenn du dich zu lernen entschließt, will ich dich leh ren.« Chester nickte lächelnd mit einer knappen Bewe gung des Kopfs, sein Blick kehrte voller echter Bewunde rung zurück zur Karaffe. Torkild Alhar, der sichtlich um Fassung rang, sah nervös Susan an. »Ist das die Person, die Majorin Rita Sarsa erwähnt hat?« Das Umherschweifen seiner Augen verriet, daß er sich von tiefer Verunsicherung betroffen fühlte. »Das ist einer der berüchtigten Propheten, Kapitän«, sagte Darwin mit satter Befriedigung. »Seien Sie auf der Hut, sie haben die Angewohnheit, das Leben der Men schen zu verändern.« Chester, der leise vor sich hinsummte, tat Pikes War nung mit einer Gebärde ab. »Spinne ganz allein hat dich in sein Netz geholt, Doktor. Gegen die Cusps eines Men schen gibt's keine Abhilfe.« Er lächelte. »Ich bin nicht so
mutig wie Patan. Ich bin ein viel schlichtmütigerer Mensch, und ich habe, muß ich gestehen, keine Neigung zum Heldentum.« »Skor Robinson wäre anderer Meinung«, bemerkte Darwin halblaut. Chester runzelte die Stirn. »Er hat über das Dasein und sich selbst sehr viel gelernt, Doktor. Ich hoffe, die Cusps werden es uns gestatten, uns demnächst wieder einmal ausführlich zu unterhalten. Im Moment ist Skor in ein ganz besonderes Ringen eigener Art verwickelt, er lernt es, allein zu leben. Nachdem Torkilds Angriff auf Arcturus beinahe der Galaxis jede Hoffnung raubte, hat der Direk tor mit dem Admiral Verbindung aufgenommen. Das war ein hochbedeutsamer Cusp. Durch seinen Entschluß hat der Direktor Tausende von Seelen und Millionen von Cusps zu Spinnes Gunsten gerettet. Jetzt frage ich mich, welche Cusps in die Tat umgesetzt werden müssen, um diese Richtung beizubehalten.« Chester hob die Brauen, betont senkte er die Lautstärke seiner Stimme. »Hast du eine Ahnung, Doktor?« Mühselig schluckte Darwin, Furcht zog ihm wie mit eisigen Klauen die Magengegend zusammen. »Nein, Alter, ich habe keine Ahnung von Cusps. Und ich möchte auch gar keine haben.« Darwin atmete tief durch, all sein vorgespiegelter Mumm war verflogen. Um die Anwand lung von Grausen irgendwie zu zügeln, langte er nach der Karaffe, schenkte sich Brandy ins Glas. Verdammt noch einmal, er hatte durch Patans Augen schon zuviel vom Künftigen gesehen. Freundlich schaute der Prophet Torkild Alhar an. »Um deine nächste Frage zu beantworten, Kapitän, ich brabbe le keineswegs Unfug. Vielmehr habe ich den guten Doktor etwas gelehrt.« »Und ich habe gelernt, Prophet«, flüsterte Darwin ehr fürchtig. Alhar öffnete den Mund und begann etwas zu stam meln.
»Nein.« Nachsichtig schüttelte Chester den Kopf, lä chelte heiter-gelassen. »Gedanken kann ich nicht lesen.« Torkild Alhar bewegte den offenen Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Ja, so ist es«, bestätigte Chester. »Ich beantworte ab sichtlich deine Fragen, bevor du sie stellst. Letzten Endes sparen wir dadurch Zeit ... Deine Tante hat einen Reis händler namens Fillona geheiratet.« Kurz schwieg Che ster. »Die Familie hat drei Kinder«, fügte er dann hinzu, »und sie wohnt in der Zu-Fern-Station am Rande der Siri anischen Spatial-Latifundien.« Alhar stand völlig starr da, eine Schicht Schweiß schimmerte auf seinen Gesichtszügen, er wirkte völlig konsterniert. Nun schmunzelte Chester den beiden ar peg gianischen Raumsoldaten zu. »Ihr könnt mich jederzeit aufsuchen, dann werde ich euch gern erläutern, weshalb ich zu etwas imstande bin. Euer Kapitän braucht euch hier nicht mehr. Ihr kommt also noch rechtzeitig zum Bankett, >ehe die schmutzigen Romananer alles wegfressen<.« Aus Chesters Augen blitzte Heiterkeit. Die Arpeggianer machten den Eindruck, als hätten sie Frösche verschluckt, während sie entsetzt Torkild Alhar anstierten. Mit einem Wink schickte der noch immer bläß liche Kapitän sie hinaus. Chester ließ sich in einem der Sessel nieder und hob den Blick zu Darwin. »Der Kapitän hat die Fähigkeit, seine Schwester zu täuschen. Das wesentliche Wort lautet >Fähigkeit<. Zuvor muß er jedoch etwas über sich selbst erfahren. Die Entscheidung, ob er das will, bleibt freilich ihm überlassen. Als erstes muß er sich die Frage nach sei nen Beweggründen stellen, denn solang er das nicht getan hat, fehlt es ihm an Klarheit über sich selbst und seine Möglichkeiten. Bis dahin ähnelt er einem Gummiball, der auf dem Deck eines Schiffs umherrollt, andauernd da oder dort abprallt, ganz danach, wie das Deck gerade schwankt und schaukelt.« Susan warf dem Arpeggianer einen nervösen Blick zu.
Erschüttert setzte sich auch Torkild. »Beweggründe?« »Aber natürlich«, antwortete Chester. »Du hast keine Vorstellung von den Gründen deines Handelns.« »Doch, es ist die Ehre!« »Ehre?« wiederholte Chester mit herzlichem Lächeln im Gesicht. »Was genau ist das? Verdeutliche es mir, und ich werde dir sagen, wohin deine Ehre dich führt. Du brauchst Zeit, Torkild. Gegenwärtig treiben ausschließlich Gefühle dich an. Denke nicht, Gefühl sie nichts Wün schenswertes. Nein, es ist eine Waffe, die dir, wenn du sie richtig benutzt, zu den größten Errungenschaften dienlich sein kann. Aber wenn man es aufbrausen läßt, Kapitän Alhar, kann man sich dabei ganz ungewollt um den eige nen Kopf bringen.« Ungläubig musterte Alhar den Propheten. »So mit mir zu reden, könnte dich den Kopf kosten.« »Dann hättest du an Bord Kampf bis zum letzten Mann«, knirschte Susan. »Er ist ein Prophet!« Sie wies mit funkelnden Augen auf Chester. Darwin war jetzt auf alles gefaßt, hatte die Faust schon am Messer. Bedächtig streckte Chester beide Hände in die Höhe, lenkte damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sein fröhliches Mondgesicht. »Das alles ist überflüssig. Ihr alle müßt einsehen, daß Streit, Zorn und Drohungen euch nicht ans Ziel helfen können.« Ungezwungen schaute Chester rundum, summte ein paar Takte aus John Willi ams Olympischer Fanfare. Schließlich nickte er zufrieden. »Ihr betrachtet euch nach wie vor als Feinde. Es ist euer Cusp. Soll es so blei ben? Es bedarf nur einer Entscheidung der in diesem Raum Versammelten, es bei der Gegnerschaft zu belas sen, und ein Cusp ist entschieden. Von da an werde ich eine andere Zukunft kennenlernen. Aber falls ihr euch fürs Zusammengehen entschließt, habe ich euch vielerlei zu lehren.« Susan fiel, den Blick respektvoll zu Boden gerichtet, aufs Knie. »Prophet, ich möchte lernen, was du mich leh
ren kannst. Ich bin für Frieden und Vertrauen.« Darwin nickte, sah Chester in die Augen. »Ngen ist die schlimmste Gefahr.« Chester schenkte ihm ein wohlwol lendes Lächeln. Alle Augen wandten sich Torkild Alharzu. Nervös strichen die Finger des Kapitäns über den Griff seines Blasters. Endlich warf er die Hände zu einer beina he flehentlichen Geste empor. »Ich bin ratlos. Ich verstehe euch Propheten nicht. Was ist es, das du treibst? Sind das irgendwelche Scherze? Geht es darum? Machst du dir mit mir einen Ulk? Soll das irgendeine Art von Test sein?« Seine blauen Augen forschten, weil er sich von seiner plötzlichen Verwirrung dazu gedrängt fühlte, in Chesters Gesicht nach Antwort. Gleichmütig winkte Chester ab. »Wir scherzen nicht, Kapitän Alhar. Wenigstens im Augenblick nicht. Frohe Spielereien sind fürs Lehren ein wunderbares Hilfsmittel, um gegenseitiges Verständnis aufzubauen und Wissen über den Lauf des Lebens zu vermitteln. Um es einfach auszudrücken, jetzt ist der Moment, in dem du über deine Zukunft und die Zukunft mehrerer Milliarden von Men schen entscheiden mußt. Ziehst du es vor, zu bleiben, wie du bist, oder bist du ein anderer zu werden bereit? Wünschst du, daß die Galaxis durch Ngen Van Chow, deine Schwester und ihre Kinder beherrscht wird, oder Menschen sie bewohnen, die sich selbst regieren? Du mußt dich zu der Bereitschaft durchringen, dich und deine Motive zu hinterfragen. Weshalb versuchst du so verzwei felt, dich für die Vernichtung Arpeggios zu bestrafen? Wieso fühlst du dich dermaßen schuldig wegen einer Ent scheidung, die deine Schwester aus eigenem freien Willen getroffen hat? Warum fürchtest du, was du über dich selbst herausfinden könntest?« Für eine kurze Weile tobte in Torkild Alhars konfus gewordenem Gemüt ein heftiger innerer Konflikt. Dar wins Faust umschloß den Griff seines Messers. Susan war tete, hatte ein Bein angewinkelt, um jederzeit wuchtig zutreten zu können.
Torkilds fester Blick wich nicht von Chesters Augen. »Hast du keine Bange um dein Leben, Prophet?« »Mein Leben zählt nicht, Torkild Alhar. Je nach Aus gang der Cusps kann ich in wenigen Sekunden, in eini gen Stunden, Tagen, Monaten oder Jahren sterben. Ich kann jeden meiner möglichen Tode voraussehen. Manche sind friedlich, andere nicht.« Chester zuckte die Achseln. »Das letztendliche Ergebnis ist dasselbe: Meine Seele kehrt zu Spinne zurück.« Torkild lächelte schief. Chester seufzte. »Ich erkenne deine Entscheidung.« Susan lockerte ihr sprungbereite Haltung. »Dann belehre mich, Prophet.« Torkilds Skepsis ver lieh seiner Stimme einen spöttischen Tonfall.
39
ADMIRAL DAMEN REES KAJÜTE AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONÄREM ORBIT ÜBER WELT)
Inzwischen waren die ständigen Störungen zur regelmä ßig auftretenden Normalität geworden. Damen Ree hörte die Kommu nach ihm quengeln, scheuchte die ver schwommenen Fetzen seines Traums vollends aus dem Bewußtsein. Mühselig schlug er die Augen auf, schüttelte Schlaftrunkenheit und Benommenheit ab. »Ja«, brummte er in einem Tonfall, der seine Gereizt heit voll zum Ausdruck brachte. »Was ist denn?« Er stemmte sich auf der Koje hoch, gleichzeitig ging, als sich auf dem Bildschirm Rita Sarsas besorgte Miene zeigte, die Beleuchtung an. Hinter der Majorin sah man einen weit läufigen, luxuriösen, mit dicken Teppichen, reichlich Echtholztäfelung, die Schnitzereien und sonstige Orna mente aufwies, blankpoliertem Messing sowie Mobiliar aus kostbaren Antiquitäten ausgestatteten Raum. Der erste Eindruck erinnerte an die Dekadenz der alten Erde. »Admiral ...«, sagte Rita zur Begrüßung. »Tut mir leid, daß ich Sie störe, aber es ist wichtig. Es geht um ...« »Es ist immer alles wichtig«, grummelte Ree sarka stisch. Plötzlich zoomte das Bild in die Halbtotale, die Adjustierung der Tiefenschärfe erfolgte, und er sah Patan Andojar Garcias wie eine Vogelscheuche ausgezehrte Gestalt lasch in einem gepolsterten, zusätzlich mit Kissen ausgelegten Antigrav-Sessel lehnen. Ree zuckte zusammen, als er die Qual und das Grauen im Gesicht des Propheten erkannte. An den Wangenkno chen hingen ihm wachsig-gelbliche Falten, wogegen sich auf seiner Stirn die schweißige Haut straff dehnte. Unter den geschrumpften, erschlafften, teigig wie Lehm gewor denen Gesichtszügen zeichneten sich die Umrisse des Schädels ab. Die Lippen umspannten trockene Zähne. Nur
die Augen glommen, in ihnen leuchtete das unheimliche Irrlichtern des Wahnsinns. In den gräßlich krampfhaften Mienen, die der Prophet schnitt, blieben die Schädelkno chen stets erkennbar. Patan zog von Entsetzen geprägt Grimassen, als versuchte er verzweifelt, den Blick auf Rees Gesicht zu heften. Er vermochte lediglich mit Anstrengung zu sprechen, die heiseren Worte entrangen sich nur mit äußerster Mühe der Tiefe seines Brustkorbs. »Ihr müßt eure Kriegsschiffe ... binnen achtzig Normtagen in den Gaswolken-Kolonien haben«, röchelte Patan hervor, wäh rend die Wahrnehmung der Realität merklich seiner Sicht entschwand. Spasmisch zuckten die seiner Beherrschung entglittenen Gesichtsmuskeln. Schweiß perlte und rann die fiebrige, grobporige Haut hinab, während er darum rang, bei Besinnung zu bleiben. Träge zwinkerten seine Lider, ein Glitzern von Furcht flimmerte ihm aus den Augen. »Ngen ... Ngen Van Chow wird einen Großan griff auf die Gaswolken-Kolonien fliegen, um die dorti gen Faser-, Molekularstrang- und Graphitindustrien zu erobern. Seine Flotte ... wird kein zweites Mal so mas siert eingesetzt sein. Das ist eure letzte Chance ... die Padri aufzuhalten.« Patans Augen flackerten, während er zittrig die Hände ausstreckte die bloß noch aus dürren Knochen und Seh nen bestanden. Er krümmte die Finger mit den zu Krallen in die Länge gewachsenen Nägeln, als wollte er eine rät selhafte Gebärde vollführen. »Hö... Hört zu...! Die Faust ... Station Ko-Kobalt muß ...« Er runzelte die Stirn, verlor den Gedankengang. »Muß ... muß ... zerstört werden. Völlig. Völlig zerstört. Vernichtet...« Trockenen Gau mens schluckte Patan, verzerrte die Lippen. »Bei Beginn ... der Operation ... muß sie erstes ... erstes und wichtig stes Ziel sein. Erstes ... Euer Erfolg ... Erfolg hängt davon ab. Beschießt ... beschießt sie sofort bei Annäherung ... Vernichtet sie mitsamt Ngens ... Ngens ...« Im Sitzen schwankte Patan, sein Kopf wankte auf dem
dünnen, schweißfeuchten Hals, als ließen ihn die Muskeln im Stich. »Ich glaube ... ich glaube, ihr werdet ...« »Achtzig Tage?« nuschelte Ree, dessen Herzschlag sich beschleunigte. »Das ist ja kaum genug Zeit für 'n Alarmstart. Erst recht kaum zum Hingelangen. Auf den Patrouillenschiffen sind noch nicht sämtliche Modifikatio nen vorgenommen worden.« Auf einmal wurde Patans Blick klar; sein Körper richtete sich auf, als er neue Kraft in seine weich gewor dene Wirbelsäule lenkte. »Hört mir zu. Die Erdzeit kann euch als allgemein verständliche Bezugsgröße zum ... zum Koordinieren eures Handelns dienen. Greift um ... Ja, um genau zwei Uhr dreißig müßt ihr angreifen. Nach dem Erdkalender wird das relative Datum der siebte Juni sein. Greenwicher Zeit ... Ihr könnt ... könnt die gesamte Flot te aufreiben. Den Großteil der mobilen Armee ... wenn ihr ... in achtzig Tagen ... um zwei Uhr dreißig Erdzeit ... angreift. Vernichtet Station Kobalt ... die Faust ... die Faust ... Ihr habt ...« Aus Patans Blick wich die Schärfe, ihm wurden die Augen glasig. Für die Dauer mehrerer Sekunden bewegte er nur stumm den Mund. »Ihr habt ..« Aus Schrecken erstarrten ihm die Lippen, dann fingen die Zähne, indem sein Körper zu schlottern begann, zu klappern an, er sank hohlen Blic ks zusammen, seine Muskulatur ermattete, und er sackte auf den Boden. »Patan!« schrie Rita, packte seine Schultern, schüttel te ihn. »Wach auf! Komm zurück!« Kräftig schlug sie ihn auf die Wangen, mit ihrer Erregung nahm auch ihre Gewalttätigkei zu. Aus Patans Augen war jeder Glanz geschwunden. »Majorin«, rief Ree halblaut ins Kommu-Mikrofon, während eine schmerzliche Erkenntnis seine Seele wie ein Stich durchfuhr. Rita wandte sich um. »Ich glaube, es hat keinen Zweck. Er ist fort ... Hat sich in der Zukunft verirrt.« »Was soll ich tun?«
»Ist es schon einmal dermaßen schlimm gewesen? Daß er so gründlich abgetreten war?« »Ich ... Sonst kümmert sich immer Pike ... Lassen Sie mich die Daten nachsehen, dann schau ich ihn mir mal mit 'm Diagnosescanner an.« Während er wartete, Ritas hastige Maßnahmen beob achtete, fuhr sich Ree mit der Hand übers Gesicht. »So war's noch nie«, teilte Rita schließlich mit leiser Stimme mit. »Solche Hirnströme sind bei noch keinem Scanning gemessen worden. Die KommuMed kann sie nicht mal analysieren.« Verstört blickte sie Ree ins Gesicht. Er konnte sehen, wie unter der hellen Haut an ihrem Hals der Pulsschlag raste. »Damen, ich fürchte das Ärgste. Das ... Es sieht aus, als ob ...« Ree holte tief Luft und schluckte. »Ihnen ist klar, was er vorhin gemacht hat, oder nicht? Er hat eben 'ne Million Cusps beeinflußt. Man kann die Tragweite gar nicht ... Er hat einmal zu mir gesagt, ich würd's merken, wenn's vor bei ist.« Damen zog die Schultern ein, leidvolles Bedauern peinigte sein Gemüt. »Eine Million Cusps. Er ist unwider ruflich hinüber, Rita. Er hat mich ein Versprechen ablegen lassen. Wir sind's ihm schuldig, daß ich es halte. Vielleicht hat er gerade die ganze Galaxis gerettet. Erlösen Sie ihn. Stellen Sie keine Fragen, machen Sie's einfach.« Rees Stimme war ausdruckslos geworden. »Admiral!« brauste Rita auf. »Er ist ein Prophet! Ich ...« »Erlösen Sie ihn, verdammt noch mal!« brüllte Ree. Fest bohrte er seinen Blick in ihre erschrockenen Augen. »Denken Sie doch mal nach, Rita! Wir könnten ihn noch vierzig Jahre lang mit Apparaten künstlich das Leben bewahren. Möchten Sie, daß er diese ganze Zeit hindurch unaufhörlich in die Zukunft stürzt? Ich habe Ihnen einen unmißverständlichen Befehl gegeben. Töten Sie ihn, und zwar sofort. Auf menschliche Weise.« Ree stieg halb aus der Koje, unterstrich seine Worte, indem er eine geballte Faust schwang.
Rita schluckte und nickte. Sie schenkte Patan Andojar Garcia einen letzten Blick, betrachtete seine Miene voll ständiger geistiger Abwesenheit, seinen Mund, der inzwi schen offenhing, aus dem ihm nun seitlich an den er schlafften Lippen Speichel zu sickern anfing. »Heiliger Spinne, vergib mir!« Ihr Hieb traf tadellos und erzielte sofortige Wirkung. Ree hörte, wo er auf der Kante der Koje kauerte, das Brechen der Halswirbel. Ihm entfuhr ein Aufstöhnen des Kummers, er rieb sich den Nacken, spürte die ersten Ansätze der heftigen Streßkopfschmerzen, die hinter sei nen Augen entstanden. Der Prophet war tot. Wie lange mochte es dauern, bis sie sein Vermächtnis in vollem Umfang begriffen hatten? Oder war er bereits abgetreten gewesen ? War seine Prophezeiung nichts anderes als das irrsinnige Geplapper eines Menschen gewesen, der den Kontakt zur Realität verloren gehabt hatte? Offenen Mundes stierte Rita den Toten an, ihr Brust korb wogte. »Majorin, was ist mit ...? Majorin! Verflucht noch mal, weinen Sie später! Wenn wir uns so was leisten können. Jetzt brauche ich Ihren Rat.« Mit Mühe entzog Rita Sarsa dem jämmerlichen, ausge mergelten Häuflein Fleisch und Knochen, das auf dem Fußboden ihrer Unterkunft lag, den Blick. Wild musterte sie Ree, ihr Gesicht war gespenstisch fahl, das rote Haar zerzaust, sie ballte an den Seiten die Hände zu Fäusten, jeder Atemzug blähte ihre Nasenflügel; sie hatte eine aus balancierte Haltung eingenommen, als müßte sie sich ver teidigen, beabsichtigte sie gleich zum Angriff überzu gehen. Wann hatte er sie, überlegte Ree, zuletzt so voller Entsetzen, so verunsichert gesehen? Er spürte ein flaues und mulmiges Gefühl in der Magengrube. Sie alle hatten sich nicht mehr in der Hand, sondern befanden sich am Rande des Durchdrehens. »Admiral?« Rita blinzelte; ihr Gesicht war derartig
bleich geworden, daß die Sommersprossen sich krass abhoben. »Sagen Sie mir, was ich davon halten soll. Sie sind in seinem Dunstkreis gewesen. Wie lautet Ihre Meinung? Wieviel falsche Ankündigungen sind ihm in letzter Zeit unterlaufen? Die Pleite mit Glendivian? Wie viele außer dem?« Rita befeuchtete, in den Augen einen Ausdruck der Verhärmtheit, mit der Zunge ihre Lippen, ließ sich, wäh rend sie noch angestrengt atmete, auf einen üppig gepol sterten Diwan fallen. Sie schüttelte den Kopf, strich mit nervösen Fingern beunruhigt durch lose Strähnen ihres Haars. »Ich weiß es nicht. Mit dem Großteil seiner Visio nen sind wir nicht mehr auf Sendung gegangen. Es ... es waren zu viele Pannen, Damen. Zum Schluß kam er einem Halbe-halbe-Verhältnis nahe. In der letzten Woche, seit Pikes Abflug, hatte es sich sogar verschlechtert. Ich ... ich weiß es wirklich nicht, ich bin bis über die Ohren mit dem ganzen Verwaltungskram beschäftigt gewesen, ohne den man hier anscheinend nichts geregelt kriegt.« »Im günstigsten Fall halbe-halbe?« Ree kniff die Lider zusammen, wünschte sich, er dürfte in den Frieden der Träume zurücktauchen. »Rita«, schnaufte er, »wie soll ich vorgehen? Wenn ich nun dem Flottenverband den Alarmstart befehle, und Ngen ist gar nicht in den Gaswolken? Auf was kann ich mich denn stützen? Das Wort eines halb übergeschnappten Propheten? In achtzig Tagen ... Ach du heiliger Spinne ...!« Seine Schultern sanken herab, er starrte vor sich hin, das Herz wummerte ihm in der Brust. »Wir könnten nicht einmal darauf warten, was Susan und Pike ... Die letzte Chance, hat Patan gesagt, um die Padri zu stoppen.« Zuse hends wurde Ree wie betäubt zumute. »Aber haben Sie ihn gehört, Rita ...? Vor dem Ende? Hatten Sie da den Ein druck, er war noch bei Verstand? Das Gefühl, da redet ein Mensch, der noch eine Beziehung zur Realität hat?« Sie schüttelte langsam und schmerzlich den Kopf.
»Unter fünfzig Prozent ...« Ree stützte den Kopf in einen schwieligen Handteller. »Unter ...« »Damen?« Ritas rotgeränderte Augen blickten ihm mitten ins Gesicht. »Es gibt nun mal keine Garantien. Erinnern Sie sich an Leeta? An Philip? Freitag? All die anderen? Wir könnten allesamt so zugrundegehen. Es gibt keine Garantien.« Ree nickte; die Leere in seinem Innern gewann immer mehr an Ausdehnung. »Ich ...« Die letzte Chance, um die Padri aufzuhalten ? Und was ist mit den Machenschaften Devauliers, Mikasus, Ngurn gurus und des gesamten Rests? Wie lange dürfen wir zögern? Wenn ... Falls der Prophet einen letzten klaren Augenblick hatte, wäre das die Rettung für Arcturus? Hätte diese Falle überhaupt eine Erfolgsaussicht? Wozu soll ich mich entschließen? »Kommu«, schnauzte Ree, fällte spontan eine Ent scheidung. »Ich befehle die Mobilisierung sämtlicher raumflugtüchtiger Einheiten. Aller Bodenurlaub ist gestri chen. Großalarm! Die gesamten unerledigten technischen Umbauten sind während des Flugs abzuwickeln. Kontak tieren Sie Maya und Toby, wir treffen uns in genau achtzig Tagen in den Gaswolken-Kolonien. Die Koordination des Einsatzes erfolgt unterwegs.« Ree konnte hören, wie die Kommu die Projektil per Durchsage in Alarm versetzte. Er hob den Blick in Ritas düster-trübselige Augen, merkte in diesem Augenblick, daß er völlig nackt vor der Linse hockte und wickelte sich das Bettzeug um den Leib. Anscheinend war Rita in ihrer Betroffenheit sein Zustand gar nicht aufgefallen. »Damen, sind Sie auch sicher, daß das der richtige Ent schluß ist?« »Ich bin schlicht und einfach meiner Intuition gefolgt. Ich ... Naja, wonach hätte ich mich schon sonst richten sol len, Rita? Was ist es denn anderes, auf was jeder von uns sich letzten Endes verläßt? Es ist die beste Idee, die ich momentan habe. Und wer weiß, wie all die Cusps sich
auswirken werden ... Es ist, wie Sie sagten: Garantien gibt's keine ... Nicht einmal von 'm wahnsinnigen Propheten. Spinne stehe uns bei.« Ritas Hände krallten sich in den Diwan, die Finger drückten tief die Polsterung ein, während sie das Bündel Mensch — das tote Fleisch — zu ihren Füßen ansah. »Patan ... Armer Patan.« »Majorin«, erklärte Ree, als fiele es ihm leicht, »es mußte sein. Er hatte mir vorhergesagt, es müßte so kom men. Er wollte mich im letzten Moment warnen, wenn es soweit sei, daß möglichst viele Cusps entschieden worden wären. Patan wußte, wie es knapp am Schluß sein würde. Bloß die Irrtümer konnte er natürlich nicht voraussehen. Und nicht, wie gewaltsam die Zukunft ihn verschlingen sollte. Ich hatte ihm versprochen, ihn nicht endlos in die Zukunft stürzen zu lassen. Davor hatte er die größte Furcht.« »Bei Spinnes Blut, Damen ...! Wir wollen hoffen, daß er recht behält. Falls nicht ...« Nervös rieb Ree sich mit den Händen die muskulösen Arme; es fröstelte ihn ein wenig. Er saß noch auf dem Rand der Koje, hatte einen Ausdruck andächtiger Ehr furcht im Gesicht. »Recht, unrecht ... Er hat sein bestes gegeben. Schauen Sie doch nur, wie er sich aufgeopfert hat. Kann sein, das ist der Grund, warum ich mich so ent schieden habe. Weil ich mich wohl so entschließen mußte. Um seinetwillen. Möge Spinne ihn zu sich nehmen ... Er war der tapferste Mensch, den ich je gekannt habe.« »Ich werde den Tod des Propheten offiziell bekanntge ben.« Rita richtete sich auf. »Daraus könnte zu unseren Gunsten einiger Widerstand gegen Ngen entstehen. Er hat gesagt, sein Tod werde ... ein Zeichen sein, die Menschen sollten dann die Verantwortung für ihre Freiheit in die eigenen Hände nehmen.« »Einverstanden«, stimmte Ree zu. »Und Sie treffen sich auch mit uns in den Gaswolken-Kolonien. Ich habe das Empfinden, diesmal geht's um Biegen oder Brechen.
Wenn wir dort unterliegen, wird es meines Erachtens kei nen sonderlichen Unterschied mehr bedeuten, ob irgend ein Objekt geschützt oder ungeschützt ist.« Seine Miene verriet Mißmut. »Haah ...! Noch vor zwei Stunden hätte ich dafür gemordet, Arcturus nicht als Köder mißbrauchen zu müssen. Jetzt habe ich gewaltigen Bammel, vielleicht gerade den schwersten Fehler meiner ganzen Laufbahn begangen zu haben.« »Die Gaswolken-Kolonien ... Ich lasse startklar machen. Wir werden am siebten Juni um zwei Uhr dreißig angebraust kommen.« Rita schaute hoch. »Damen ... Was wird, wenn ... wenn ...« Sie verstummte, biß sich mit merklicher Unruhe auf die Unterlippe. »Ach egal.« Der Kommu-Bildschirm erlosch. *
*
*
STATION RIBALLUS, SEKTOR MOSKAU Wie so viele ursprünglich bedeutende Weltraumstationen nahm Riballus seinen Anfang als Anhäufung von Bergwerks siedlungen in den Randzonen der sogenannten Schutthalde, einer Ansammlung stellarer Materie, wie sie mehrfach von den weithin — nach verschiedenen Richtungen des Direkto ratsweltraums — im All verteilten Überresten der Supernova Luzifer ausgestreut worden Ist. Nach der Gründung in der Frühzeit der Konföderationsära war Riballus viele Jahre lang für seine Bildungseinrichtungen und Raum-Bautechnik-Ingenieure bekannt. In der Folge der Etablierung des Direktorats verlor Riballus seine Vorrangstellung und geriet nahezu in Vergessenheit.
Thyakild Mourton, Erster Sprecher der Station Ribal lus, sah sich die feierliche Prozession an, in deren Verlauf man in der fernen Arcturus-Stadt den Leichnam des Pro pheten in mehreren Kubikkilometern Beton bestattete. Er saß in regelrechter Benommenheit da. Der Prophet war gestorben, genau wie er es vorausgesagt hatte.
Mourton schüttelte den Kopf. Die Tiefgründigkeit in den Predigten des Propheten sowie seine Botschaft der Hoffnung — daß Gott und die menschliche Seele eins seien — hatten Mourton tief im Innern gerührt, ihm hin länglichen Mut eingeflößt, um trotz der Okkupation jeden neuen Tag mit frischem Schwung anzugehen. So viele Vorhersagen des Propheten waren Wirklichkeit gewor den; in der Tat alle, von denen Mourton wußte. Mit der Zunge fuhr Thyakild sich über die Flächen seiner rundge schliffenen Zähne, während er gemächlich die Latrinen verließ. Am Ausgang blieb er stehen, beobachtete Angehörige der Padri-Besatzungstruppe, die die Hälfte der RiballusEinwohnerschaft zusammengetrieben und in den unteren Etagen der Station eingesperrt hatte. Von seinem Standort aus konnte er an einer Wand eine linkisch gemalte Spinne erkennen. Der Prophet hatte von Spinne gelehrt. Mourton schlenderte durch eine Verbindungstür, deren Öffnungsmechanismus nicht mehr automatisch funktio nierte. In den langen Korridoren blickte er mal in diese, mal in jene Richtung, während er an den Kommu-Observationsgeräten vorüberschlurfte. Niemand hegte einen Verdacht, daß es in der Latrine einen illegalen Transduktions-Empfänger gab. »Der Prophet ist in den Tod gegangen, damit wir leben dürfen«, flüsterte Mourton im Schlafsaal Brady Batsich ins Ohr. »Man hat ihn in Arcturus beigesetzt.« Erregt hob Brady den Blick. »Dann ist die Zeit da«, raunte er mit leidenschaftlicher Inbrunst zurück. »Auch Spinne ist einmal für die Freiheit der Menschen gestor ben.« Er beugte sich hinüber zur anderen Seite, um die Neuigkeit seinem dortigen Nachbarn zuzuflüstern. Kaum eine Stunde später streiften Leute durch sämtliche unteren Ebenen der Station, forschten nach als Waffen verwendba ren Gegenständen, Rohren, PlaStahl-Stangen, nach allem, was man zum Totschlagen gebrauchen konnte, bastelten neue Mordwerkzeuge wie Würgedraht zwischen zwei
Griffen und schwere, dolchspitze Spieße aus eingerolltem Walzblech. Thyakild erachtete es als sonderbar, daß er keinerlei Furcht spürte. Der Prophet war tot. Unmittelbar hinterm Horizont der Zukunft dämmerte absehbar das Ende der Tyrannei. Spinne wandte sich an die Kräfte der Gerechtig keit unter den Gefangenen, rief sie zum Handeln auf, sprach die Seelen an, die er mit ihnen gemeinsam hatte. Die Zeit war da, um in Freiheit zu leben. Spinnes Bot schaft hatte ihre Zeit gehabt, um sich auszubreiten, seine Netze zu weben. Zeit. Ihr Horizont rückte näher. »Padre«, quengelte Mourton der Wache zu, die vor der Tür stand, die die einzige Verbindung zu den Etagen der Internierten abgab. »Deus ist Gott! Du hältst mich vom Erleben des höchsten Segens fern. Laß mich durch! Der Tempel ruft. Hier im Banne Satans ist mein Dasein ver tan.« Flehentlich streckte er ihnen die Hände entgegen. Die Wachen — natürlich waren es ungepsychte Män ner — öffneten das Gitter, hielten jedoch die Blaster in den Händen, richteten die Mündungen in den Durchgang. »Dann komm raus, Pilger«, grummelte der Wächter. »Aber wenn du zu Deus gehst, mach langsam, ja? Schön vorsichtig, um Mißverständnisse zu vermeiden.« Mourton ließ den Kopf gesenkt, murmelte ein Gebet zu Deus. Der Wächter schaute von einer Seite an ihm hoch und von der anderen an ihm hinunter, drehte sich dem Kommu-Interkom zu. Der letzte Molekular-Blechschneider der Station durchtrennte dem Wächter das Rückgrat, er torkelte über die Schwelle und brach zusammen. Mourton schnitt mit dem Werkzeug die Kommu-Konsole entzwei. Irgendwo heulte eine Alarmsirene, während seine Kampf genossen zur Tür hinausdrängten. »Für Spinne!« schrien sie. »Für Freiheit! Der Prophet ist tot! Spinne! Spinne! Spinne!« Neuer Glanz leuchtete ihnen aus den Augen. Mourton hatte dem toten Posten den Blaster aus den
Fingern gewunden und führte nun die Kampfgefährten durch die nahezu leeren Korridore. Im Vorbeilaufen zer blasterte er jedes Kommu-Observationsgerät. Voraus schloß sich mit einem Knacken die nächste Verbindungs tür, und Mourton verbrauchte fast die Blasterbatterie dabei, sie zu zerschießen. »Spinne!« brüllte er, als er hindurchrannte, hinter sich eine unwiderstehliche Woge aufgebrachter Menschen. »Spinne! Spinne! Für den Propheten! Für Freiheit!« Im Sturmlauf drangen sie in die Hauptsektion des Habitats vor. Dort standen im ersten Gang zwei Posten, und Mour ton röstete beide mit dem Blaster; es bereitete ihm ein wahres, ekstatisches Hochgefühl, zu sehen, wie die ver haßten Gestalten aufplatzten. Er reichte ihre Blaster Kameraden, rammte eine neue Batterie in seine zu schwach gewordene Waffe. Weitere Padri erschienen auf dem Schauplatz des Geschehens, schnauzten und fuchtelten, befahlen ihnen, sie sollten ste henbleiben. »Für Spinne!« feuerte Thyakild seine Mitkämpfer an. »Für Freiheit!« Er schwelgte im Geknatter seiner Blaster schüsse, während die Strahlbahnen durch die Luft fauch ten. Er tötete einen, dann noch einen Padre, bevor ein gut gezielter Blasterschuß ihm ein Bein abtrennte. Er warf auf dem Boden den Oberkörper hin und her, sah aus dem gefühllosen Stumpf, wo sich vorher das Knie befunden hatte, warm und schaumig sein Blut hervor schwallen. »Nimm den Blaster!« krächzte er einem Mann zu, der an ihm vorbeihastete. Mehr spürte er, wie ihm die Waffe aus den Händen gezerrt wurde, als er es sah, doch es verursachte ihm Genugtuung, daß die Ausgebrochenen allesamt weiter-, an ihm vorübereilten. Etwas später hatten sie — alle zweitausenddreihundertundzehn Freiheits kämpfer — die Stelle des Flurs, wo er lag, schließlich pas siert. Alle die laufen, kämpfen und im Namen des Prophe ten sterben konnten: die letzten Freien! Das Dröhnen der vielen Füße, das von ihm fortbrande
te, drang ihm wie ein Hallen in die Ohren, er hörte Stim men gellen, Geschrei, die Rufe von Männern und Frauen, die sich trotz ihrer Unterlegenheit ins Gefecht warfen, das ganze, verworrene Lärmen eines erbitterten Ringens erreichte sein Gehör. Nach und nach verebbte das Getöse, bis Mourton nur noch wahrnahm, wie gedämpfte Geräu sche den Fußboden durchzitterten. An jeder Seite Mourtons lag ein Leichnam. Auf den Unterarmen robbte er zur nächstliegenden Leiche, hinter ließ auf dem Boden eine hellrote Blutspur, ein Zeugnis seines Muts und seines Leidens. Der Tote mochte Jackson sein, doch hatte ein Blasterschuß den Kopf getroffen, so daß Mourton sich unsicher blieb. In der anderen Leiche erkannte er trotz des größeren Abstands die hübsche Ste phanie Guild. Er fühlte sich schwach, sank nieder, stützte den Kopf auf Jacksons noch warme Hüfte. Der Korridor schien um ihn zu kreisen; vor Mourtons Augen verfärbte alles sich gräulich. Er empfand Brechreiz. Als die anfängliche Betäubung wich, fingen die Schmerzen der durch den Bla stertreffer erfolgten Verstümmelung spürbar, allmählich unerträglich zu werden an. Er krampfte sich zusammen, hob den Blick; seine Sicht war längst völlig verschwom men. Er zwinkerte, weil er trotz der Verwaschenheit seiner Eindrücke an der Überzeugung festhielt, daß vor ihm ein in eine Kapuzenkutte gehüllter Fremder stand, ihn in tief sinniger Nachdenklichkeit betrachtete. »Ich bin frei«, lispelte er der schemenhaften Erschei nung zu. »Frei ...« Er versuchte, den ständigen Blutstrom zu stillen. Die Mühe hatte keinen Erfolg. Inzwischen fiel es ihm äußerst schwer, in dem Grau, das ihn zu umgeben schien, über haupt noch irgend etwas zu erkennen, ihm war derartig benommen zumute, daß er zu schweben glaubte. »Spinne ...«, röchelte er halblaut. »Prophet, wir haben dich verstanden. Wir sind Menschen ... und wir sind frei.« Seine Euphorie wuchs in dem Maße, wie das Grau in sei
nem Blickfeld sich schwärzte. »Frei ...!« stieß Thyakild Mourton noch einmal im Flüsterton hervor, als er voller Stolz starb und seine Seele sich auf den langen Heimweg zu Spinne begab. Nachdem er das mit dem letzten Atemzug verhauchte Wispern des Sterbenden vernommen hatte, straffte sich die Kapuzengestalt zu voller Größe und entfernte sich lautlos in die Richtung des Gefechts. * * * APELLA, LENIN-SEKTOR Apella ist der zweite Planet des Sonnensystems Tau Ceti. Als Planet terrestrischen Typs wurde Apella schon in der Anfangsphase der Sowjetischen Periode besiedelt Zum Glück glich der C0²-Kreislauf der größeren planetaren Masse Apellas' die geringe Leuchtstärke des Primärgestirns Tau Ceti aus. Mit Ausnahme der hochgradig salzigen Sumpfge biete hat der Planet sich als relativ gut geeignet zur Kultivie rung erwiesen. Wesentliche Exportartikel sind aus organi schen Stoffen — wie Baumwolle, Hanf und Wolle — fabrizier te Textilien sowie gängig als Feinkost-Viktualien eingestufte Landwirtschaftserzeugnisse der fruchtbaren vulkanischen Scholle.
Auf Apella geschah die Reaktion auf das Ableben des Pro pheten spontan. Selbstgefällig setzte der Gouverneur sich vor den Kommu-Apparat. Im Laufe der vergangenen Monate war die Bevölkerung zunehmend obstinat gewor den. Natürlich hatte er sich nie einen ernsthaften Gedan ken über die Wirkung gemacht, die ein Hungerleben und das grauenvolle Damoklesschwert des Psychings unter zu Gefangenen erniedrigten Menschen haben mußten, die auf eine lange freiheitliche Tradition zurückblickten. In der Menge der Geiseln hoben sich Mienen sorgen vollen ebenso wie aufsässigen Ausdrucks. Der Gouver neur lachte vor sich hin, stellte sich vor, welche Fragen
ihre trübsinnigen Gemüter beschäftigen mochten. Sollten weitere Opfer für Deus' Psychingapparate ausgesucht wer den? Würden die Padri erneut ihre Blaster benutzen? Wollte man abermals einen Trupp Arbeitssklaven auswäh len? Welche Anforderungen hatten die Padri diesmal? Ver stohlen huschten die Blicke der Menschen zu den Toren des Lagers, auf dessen Gelände man sie zusammenge pfercht, einem langsamen Hungertod ausgeliefert hatte. Der Gouverneur feixte auf die zusammengedrängte, elende Menschenmasse hinab. »Ich habe das große Ver gnügen, euch über einen ruhmvollen Sieg informieren zu können. Heute ist Deus' Wille geschehen. Der romanani sche Satansprophet ist tot.« »Der Prophet ist tot?« rief jemand. »Wieder ist seine Vorhersage eingetroffen.« »Der Prophet hat angekündet«, ertönte laut die Stimme eines anderen Lagerinsassen, »wir würden am Tag seines Todes frei werden!« »Ich bin das Hungern leid!« schrie eine Frau, schüttel te den Kommu-Optiken ihre Faust entgegen. »Ich habe kei ne Lust mehr, in Furcht und Schrecken zu leben. Lieber will ich sterben, als mich von Deus' Handlangern zum Zombie machen zu lassen.« »Jawohl, sie hat recht! Man kann uns nicht alle umbringen.« Stimmengewirr entstand. Der Gouverneur setzte sich an seinem Platz aufrecht hin, leistete sich in der eingebildeten Sicherheit hinter dem Kommu-Apparat den Luxus verblüfften Staunens. »Ich habe den Eindruck, ihr habt nicht geschnallt, um was es sich in meiner Mitteilung dreht. Der Prophet ist tot. Er ...« »Für den Propheten!« Sprechchöre brachen aus. Die Posten an den Lagertoren fühlten sich dermaßen sicher, daß die Mehrheit nicht einmal nach den Blastern griff. Niemals erfuhr irgendwer die Namen derjenigen, die in den Elektrozäunen starben, ehe andere über ihre Leiber stiegen, die sie vor der Elektrizität schützten, und die
Wachen in Stücke rissen. Innerhalb von zehn Stunden errang Apella, obwohl die Padri viele Aufständler nieder metzelten, die Freiheit zurück. Die Handvoll mit verbissener Wut erfüllter apellani scher Überlebender fiel mit Blastern, Metallstangen, Keu len und bloßen Händen über die per Psyching erzeugten Monster Deus' her, tagelang hintereinander floß Blut in Strömen, während eine wahre Orgie des Tötens sich voll zog. An eine Außenwand des Gouverneurspalais schmier te man mit apellanischem Blut eine riesige, rotbraune Spinne. Erschöpft widmeten sich die wenigen Davonge kommenen der Aufgabe, ihr Dasein und ihre Verhältnisse neu menschenwürdig zu organisieren, während sie eine Botschaft nach der anderen ins Universum hinausfunkten, im Namen des Propheten ihre Freiheit proklamierten.
* * *
STATION DRITTER SCHRITT, GULAG-SEKTOR Obwohl Dritter Schritt gewohnheitsmäßig als Habitatsstation bezeichnet wird, handelt es sich tatsächlich um eine auf Drit ter Schritt, dem ersten Mond des vierten Planeten — einem Gasriesen — des als Nikitas Rotes Auge bekannten K1-Primärgestirns, eingerichtete Planetenkolonie. (Die diversen Mythen um die Entstehung des Sternnamens muß man aus heutiger Sicht als Fälschungen bewerten.) Dritter Schritt, deren Gründung in der Frühzeit der Konföderation erfolgte, belieferte Industriezentren des Gulag-Sektors mit gereinig tem Schwefel, Phosphaten, Nitraten und Flüssigsauerstoff. Als hermetisch abgeschirmtes, von einer Atmosphäre aus gefrorenem SO2, Ammoniak und H2S umgebenes Habitats milieu ist Dritter Schritt gegen die vom Planeten emittierte, starke Strahlung gesichert Gleichzeitig schützt die Station sich durch den Gebrauch von Gravo-Kompensatoren, zu
deren Energieversorgung man die elektrische Entladung aus nutzt, die der Mond bei seiner Durchquerung der Magnetos phäre des Planeten verursacht, gegen Tideneffekte.
In Station Dritter Schritt traf die Neuigkeit mitten in der Nacht ein. Als am nächsten Morgen Techniker, Fluid experten und restliche Gefangene der Padri aufstanden, sa hen sie die Nachricht vom Tode des Propheten in großen Buchstaben durch die Haupthalle flimmern. »Jetzt ist alle Hoffnung dahin«, sagte ein grauhaariger Tech mit langen Gliedmaßen, kratzte sich in den Bartstop peln seines Kinns. »Der Prophet hat seinen Tod vorhergesagt. Er hat ihn angekündigt.« »Na und? Wer soll nun gegen den Messias kämpfen? Die Romananer? Ist dir eigentlich klar, wie lang sie brau chen werden, um zu uns vorzudringen?« »Tja, was soll nun werden?« fragte eine Frau, in deren Augen Abstumpfung stand. »Wir kommen von hier nicht weg.« Ihr Blick fiel auf den Posten, der sie lüstern abgaffte, eine passende Geste machte, indem er einen Zeigefinger in die umgebogenen Finger der anderen Hand schob. Es grauste der Frau. »Und wenn's keine Hoffnung mehr gibt, dann bin ich's jetzt leid. Ich habe die Vergewal tigungen und die Schläge satt.« »Aber wenn wir nicht am Leben bleiben«, wandte der Grauhaarige ein, »wird der gesamte Stationskomplex ver sagen. Glaubst ihr vielleicht, diese Rüpel« — mit dem Daumen wies er über die Schulter auf die verdrossenen Wachen — »könnten ein gleichmäßiges Funktionieren der Generatoren gewährleisten? Ihr wißt, was passiert, wenn den Tiden nicht gegengesteuert wird. Ein Riß, und die Havarie ist da.« »Wißt ihr was? Ich überlege gerade, wozu wohl dort an der Absperrung der Psychingapparat steht. Meint ihr, er ist in Betrieb?«
Die Frau schaute hinüber zum Durchgang, betrachtete die Stromkabel, die in die Kontrollkonsole mündeten und eine Betriebsbereitschaft nahelegten. »Sie haben meine Familie vollzählig abgeholt. Was denkt ihr wohl, wohin sie sie geschickt haben, was von meinem Mann übrig gewesen ist?« »Wer soll das wissen können ...?« »Unterstellen wir mal, der Apparat ist aktiviert«, überlegte der grauhaarige Anführer. »Nehmen wir mal an, wir psychen uns selbst. Wer würde dann die Gravita tionsfeder ausbalancieren? Wer das Arbeiten der Prozes soren garantieren?« Vielsagenden Blicks betrachtete er die Wachtposten. »Sie nicht. Wenn ich nicht innerhalb der nächsten fünf Stunden die Kondensatoren adjustiere, müssen die Kompensationsfelder entfallen. Niemand wird merken, daß was nicht stimmt, ehe das Licht aus geht.« »Hier drin ohne Strom?« Ein anderer Mann schüttelte sich. »Guter Gott, das wäre schlimmer als das Psyching.« »Meine Familie ist tot.« Die Frau strich sich mit zier licher Hand durch die Locken ihres dichten Haars. »Ich mag nicht mehr, ich will diesem stinkigen, ungewasche nen Gesindel nicht mehr als Matratze herhalten. Und der Prophet ist tot. Alles ist hin.« »Also los.« Im Laufe der folgenden Stunden zog die gesamte, in Gefangenschaft befindliche Resteinwohnerschaft durch das Psychingfeld der Verbindungspforte, lungerte anschließend dumpf und hohlen Blicks herum, wartete darauf, einen >Platz< gezeigt zu erhalten. »Na so was ...« Der Befehlshaber der Wachtruppe war baß erstaunt. »Warum haben sie das getan? Sie wußten doch Bescheid.« »Geht über meinen Verstand.« Sein Untergebener zuckte die Schultern. »Ach Quatsch, was soll's, egal ob sie geistig klar oder blöde sind, bewachen kann ich sie so oder so.«
»Aber wer wird die Generatoren, die Pumpen und ..?« In diesem Moment erlosch die Beleuchtung. * * *
STATION MYTYLENE, TRANSVAALSCHER MIKRONEBEL Die Entstehung Station Mytylenes datiert im Zeitraum der Konfö deriertenrevolution. Am Anfang erfüllte die Station lediglich die Zwecke eines Nachschubdepots und Flüchtlings-Auffangzentrums; dabei gaben die dunklen Staub- und Gaswolken des Transvaalschen Mikronebels für Mytylene ein sicheres Versteck ab. Nach der Einstellung der Feindseligkeiten und der Ausrufung des Konföderiertenkonzils gelangten die Stationseinwohner zu der Einschätzung, daß sich auf der Grundlage des Mikronebel staubs als Rohstoffbasis ein gewinnbringender Handel initiieren ließe. Obwohl der Export sich auf leichte Strahlungsisolatoren beschränken mußte, fand Mytylene so die Möglichkeit zur Entfal tung einer eigenen Wirtschaft.
»Verdammt noch mal! Seht doch nur, 's gibt Randale.« »Ja, was zum ...?« Der andere Wachtposten schabte sich mit der Hand im Nacken, als er die Geiseln auf das Tor zulaufen sah. »Scheiße, sie werden gegrillt, wenn sie ... So ein Mist!« Die Haufen der Eingesperrten rannten das Tor nieder, zwischen den großen Elektroden brutzelten und brannten Gestalten. Aus den Hauptkondensatoren schossen Licht bogen, beißender Qualm entquoll den enormen Gehäusen. »Daß Deus dreinschlage! Das ist 'ne ausgewachsene Rebellion!« Blasterfeuer der Wachen bestrich die Menschenmenge, die mit Geschrei vorwärtsdrang, brachte schutzlose Leiber zum Platzen. »Keine Panik.« Der Supervisor eilte zum Bunker, den man an einer Stelle gebaut hatte, von der aus man das
Konzentrationslager überblicken konnte; zum Glück für die Wachtruppe war Mytylenes Inneres von vornherein so konstruiert worden, daß es das Lenken und Verschieben größerer Menschenmassen erleichterte. Der einzige Weg aus den unteren Etagen führte über die Zentralrampe. Mit flinken Fingern öffnete der Supervisor das Feuer kontrollpult, verschaffte sich Zugriff auf den Steuerhebel. Über seinem Kopf begannen Maschinen und Mechanis men zu brummen und zu surren, als das schwere Blaster geschütz auf seinen Schienen nach vorn rollte, in Schuß position. »In Deckung!« schnauzte der Supervisor seinen Män nern zu, drückte den Feuerknopf. Als das immense Geschütz Energie akkumulierte, trübte sich die Beleuch tung. Violetter Tod flammte durch den Korridor. Rasch verlor der Supervisor, während der fürchterliche Blaster in regelmäßigem Feuertakt die Zentralrampe beschoß, den Überblick über die verheerende Wirkung der Waffe. Schließlich barsten im Blasterstrahl Schotts und Stützträ ger, er vaporisierte Deckenplatten, kaum daß sie herab stürzten. »Gottverdammt ...!« rief ein Posten in die Stille, die sich ergab, nachdem der Supervisor das Geschütz abge schaltet hatte. Ein zweiter Wächter stand vom Boden auf, UV-Streustrahlung hatte ihm eine Hälfte des Gesichts kräftig rotge sengt. Er schluckte und starrte in den Schutt der Halle; die Unmengen von verkrümmten, verschmorten Leichen, die zuhauf zwischen den Trümmern lagen, flößten sogar einem abgebrühten Söldner wie ihm Fassungslosigkeit ein. Niemand hatte überlebt. Die Stationsbevölkerung ruhte ausnahmslos tot auf dem Schauplatz der Verwü stung. »Was ist bloß in sie gefahren?« »Ich frage mich, was in mich gefahren war, als ich bekanntgemacht habe, daß ihr vom Satan verfluchter Pro phet gestorben ist.« Der Supervisor schüttelte den Kopf.
»Ich konnte nicht mehr mitansehen, wie sie da unten alles mit Spinnen vollschmierten. Aber was sie sich wohl dabei gedacht haben? Das werde ich nie kapieren.« *
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PHYGOLD, AMBROSIUS-SEKTOR Der marsähnliche Niedrigschwerkraftplanet Phygold entwickelte sich zum Produktionszentrum der für Hochleistungslaser erfor derlichen epitaxischen Silber-Germanium-Superkonduktoren. Aufgrund der vorhandenen Fachkenntnisse erweiterte die Kolo nie ihr Produkteangebot auf Mikrolinsen, Kondensatoren, Vaku umzentrifugen und diverse High-Tech-Fabrikate. Gleichzeitig expandierten die Kuppelstädte und beschäftigten in immer grö ßerer Zahl Tief- und Bergbauspezialisten, Bildungsexperten sowie Wissenschaftler.
Schon seit geraumer Zeit schmachteten die Phygoldier unter Ngen Van Chows Herrschaft, waren sie entsetzt über den an der Hälfte ihrer Bevölkerung verübten Seelenraub, die massenhafte Zombifizierung. Als in der C-Kuppel Internierte hatten sie mitanschauen müssen, wie ihre Väter, Söhne, Töchter und Mütter, gehüllt in weltraumge eignete Kampf anzüge, im Freien militärischen Drill und taktisches Training absolvierten. Diese Vorgänge waren ihnen vollkommen unverständlich gewesen. Erst nachdem man die Übungsstangen durch richtige Blaster ersetzt und auch die letzten Verwandten und Freunde zu den Sternen geflogen hatte, begannen die Holo-Geräte der Zurückge bliebenen die auf starker Frequenz ausgestrahlten Sendun gen des Propheten zu empfangen. Jetzt war Spinnes Prophet, wie er es vorhergesagt hatte, in der fernen, glanzvollen Metropole Arcturus gestorben. Am selben Morgen, als diese Mitteilung eintraf, erging an die Internierten erneut ein Befehl zum Versammeln. Auf
die Weisung, den Marsch zum Tempel anzutreten, rief ein Mann das eine Wort, das von da an Phygolds Devise wer den sollte: »Niemals!« Sie machten nicht nur die Wachtruppe nieder, sondern kaperten sogar im Orbit einen umgebauten FLF und stie ßen die Besatzung trotz alles Schreiens und Flehens zur Luftschleuse hinaus. Sobald sie auf den Raumschiffs rumpf eine Spinne gemalt hatten, flogen sie auf Jagd nach Padri, blasterten eine Schneise durch Van Chows Macht sphäre, vermochten ihren Rachedurst kaum zu stillen, während sie sich alte Holos verschollener Verwandter anschauten, die sich, zu Geistlosen erniedrigt, Tag um Tag mit niedrigen Plackereien hatten abschuften müssen, ehe man sie zu Killern Deus' umkonditioniert und Spinne weiß wohin geschickt hatte. * * * Die Nachricht vom Tode des Propheten breitete sich wie Wellen im Direktoratsweltraum aus. Überall wo Spin nes Netz inzwischen Halt gefunden hatte, war die eine oder andere Art leidenschaftlichen Ausbruchs das Resul tat. Spinne faßte in der ganzen Galaxis Fuß, spann das Netz immer weiter; die Fäden tangierten jeden Mann, jede Frau, jedes Kind.
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KOMMANDOBRÜCKE DER DEUS WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM ÜBERLICHTFLUG/VERLASSEN DES GULAG-SEKTORS
Erschöpft und gereizt — er zitterte beinahe vor Müdigkeit — orderte Ngen Van Chow nochmals am Spendeautoma ten einen Becher Kaffee. Das ungetrübte Weiß der Kom mandobrücke, das ihn umgab, schien seine Gedanken wie ein Gefäß zu umhüllen. Unter seinen Füßen summte und vibrierte die Deus. In seinem Blickfeld sah er Techs gebeugt mit äußerstem Fleiß — die Drohung des Psy chings blieb ihnen stets gegenwärtig — an ihren verschie denen Aufgaben arbeiten. Ngen pflügte verkrampfte Finger durch sein schütter gewordenes, schwarzes Haar, nahm die Flächen, an denen mittlerweile die Kopfhaut durchschimmerte, nur beiläufig zur Kenntnis, blickte unter düster herabgezogene Brauen aus geröteten Augen stier in die Umgebung. Fast fünfzig Prozent seiner Grenzzonen-Basen waren zur Revolte übergegangen; auf die eine oder andere Weise hatte er sie alle verloren. Die Reaktion aufs Krepieren des Propheten hatte ihn vollständig überrascht. Er erinnerte sich noch an seine Freude, die Aufwallung der Erleichte rung und Genugtuung, die er erlebt hatte, als er vom Abkratzen des Propheten erfuhr. Bittere Ironie mischte sich in sein Lächeln. Überglücklich war er seinerzeit gewesen. Niemand hätte die Folgen voraussehen können. Es war schlichtweg unfaßbar. Unbewaffnete Menschen — schlimmer noch, ungepsychte Männer und Frauen, die gescheiter hätten sein müssen — waren trotz der Blaster bewaffnung ihrer Bewacher in den Tod gerannt, bis zur letzten Person ums Leben gekommen. Andere hatten gekämpft, bis es ihnen gelang, alle Angehörigen der Wachtruppe zu töten, und danach waren sie ausge
schwärmt, massakrierten jetzt geist- und wehrlose Padri, wo sie welche fanden. Die wenigen Gefangenen, die man lebend zu greifen vermocht hatte, legten eine sonderbare Gemütseigen schaft frecher Aufsässigkeit sowie der Entschiedenheit und Couragiertheit an den Tag, wie sie von Ngen bei Di rektoratsbürgern nie zuvor beobachtet worden war. Was hatte das zu bedeuten? Woher stammte diese innere Kraft? Irgendeine absonderliche, tief eingefleischte Überzeugung bewog diese Leute zu ihrem auffälligen Verhalten. Natürlich! Plötzlich durchschaute er die Hintergründe: Sie ahmten die verbohrte Trotzköpfigkeit der Romananer nach. Nervös grub Ngen die Zähne in die Oberlippe, kaute darauf, während er grübelte. Er atmete gründlich ein und ließ die angestaute Luft stoßartig aus dem Brustkorb ent weichen. Verdammt! Er hieb die geballte Faust auf die Armlehne seines Kommandantensessels. »Ich hätte alles gegen Welt und die Projektil einsetzen sollen. Es wäre am vernünftigsten gewesen, als erstes sie zu zerschmettern, ungeachtet der Verluste.« Aber ich hätte meine gesamte Flotte eingebüßt, und damit die Fähigkeit, mich gegen den Rest der Patrouille, sobald sie zur Besinnung gekommen wäre, erfolgreich zu wehren, sagte ihm sein besseres Urteilsvermögen. Wer hätte je als möglich erachtet, daß der Prophet die Seelen der Menschen bis zu dem Punkt aufzuwühlen ver stand, von dem an sie den Tod der Gefangenschaft vorzo gen? Was gab ihnen eine so starke Motivation ein? Welche tieferen Kräfte gingen von der Romananerreligion aus, daß sie in Menschen ein derartiges Feuer der Leidenschaft entfachte? Ngen hob den Blick zu seiner Sternkarte. Jeder Rück schlag bremste seinen Heiligen Krieg, minderte den Schwung seines Eroberertums, doch im Geist sah Van
Chow das Unabwendbare ab. »Zu läppisch«, stellte er halblaut fest. »Und zu spät. Seht euch meine Welten an. Vergleicht eure und meine Ressourcen. Ihr bildet euch ein, ihr könntet mich jetzt noch aufhalten? Meinem Befehl unterstehen Millionen willenloser Soldaten, ich verfüge über Millionen unermüdlicher Arbeiter, die produzieren, bis sie umfallen. Nur ihre Bewacher könnten sich gegen mich stellen. Aber warum so eine Dummheit begehen? Wohin sollten sie sich inmitten ihrer hirnlosen Sklaven wenden? Nein, ich habe die gonianischen Spezialisten an der Kandare, und mit ihnen bleibt mir das Geheimnis des Feldpsychings. Zu spät, Damen Ree. Zu spät, Romananer. Ihr und euer Spinnengott kommt nicht mehr auf die Beine. Ihr habt meinen Siegeszug nur zeitweilig verlangsamt. Hinter mir stehen Angriffswucht und Stoßkraft einer kolossalen Machtkonzentration. Ich bin unbezwinglich.« Kein Einzelmensch hatte jemals ein so ausgedehntes Imperium wie Ngen Van Chow aufgebaut. Dank des Vor teils, den das Feldpsyching bot, brauchte es nie zu brök keln, niemals zu zerfallen. Nie würden die Autarken Sta tionen sich seiner Herrschaft entziehen und in fremden Weltraum abwandern. Was Ngen begründet hatte, war auf Dauer geschaffen. Zum Beherrschen auf Dauer. Und zu welchem Ziel? Der unerbetene Gedanke bewirkte, daß Ngen finsteren Blicks zur weißen Decken verkleidung über seinem Kopf hinaufstarrte. »Um zu beweisen, daß es möglich ist«, sagte er mit Flüsterstimme. »Um dem Universum zu zeigen, daß ich der Messias bin!« Heißer Stolz schwoll ihm in der Brust. Er drehte seinen Kommandantensessel. Nacheinander markierte er auf dem Kommu-Bildschirm die Welten und Stationen, die zur Revolte gegriffen und sich im Namen Spinnes für unabhängig erklärt hatten. Diese Aufstände hatten allzu unvermutet stattgefunden. Wären die Ingeni eure doch bloß endlich mit der Bruderschafts-Superwaffe fertig! Aus der Tiefe seiner Magengrube kollerte Gelächter
herauf. »Ihr Idioten! Meint ihr wirklich, ich hätte aus den Geschehnissen auf Sirius nichts gelernt? Denkt ihr, ich würde noch einmal zulassen, daß jemand mir in den Rük ken fällt?« Sein Blick wurde verschwommen, als er sich die auf seinen Grenzzonen-Basen gründlich versteckten Antimaterie-Bomben vorstellte: Längliche, silbergraue Kästen, deren Stasisfelder durch Energetisierungsgitter bestehen blieben, solange gewisse Schaltkreise funktio nierten. Mittels eines komplizierten, verschlüsselten Transduktions-Funksignals konnten die Schaltungen des aktiviert und so die Bomben gezündet werden. »Hätte ich nur mehr Zeit gehabt. Es ist alles eine Frage der Zeit. Aber vorerst ...« Wütend adjustierte Ngen die großflächigen Trichterantennen. Die Deus schloß die Kommu an; die Signalsequenz wurde abgestrahlt. In plötzlichen Lichtblitzen vergingen sieben Welten und vier zig Stationen. »Wenn ich sie nicht haben kann«," murmelte Ngen, »soll niemand sie haben.« Mit einem Gefühl inbrünstigen Grimms betrachtete er die Sternkarte. Wer ihm Schläge versetzte, sollte dort, wo zuvor Frauen gelacht und Kinder gespielt hatten, nichts als Staub und Vakuum vorfinden. Wo Menschen sich ihren Träumen hingegeben hatten, soll te nur noch schwarze Leere sein. Ein gehässiges Aufla chen entfuhr Ngen. »Ich bin Gott! Niemand soll Gott nehmen, was Gottes ist!« *
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BEOBACHTUNGSKUPPEL AUF DEM RAND STATION KOBALTS; WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM ÜBERLICHTFLUG/VERLASSEN DES GULAG-SEKTORS
Ten MacGuire blickte durch die Bullaugen hinaus auf die riesigen Reaktoren, die man in mühsamer Arbeit an den Seiten Station Kobalts festgeschweißt hatte. Theorie
hatte Gestalt angenommen — eine verrückte, aber erfin dungsreiche Theorie: Die phantastische Idee, daß Realität aus nichts als Illusionsgeglitter bestünde, das jenseits der Fiktionen der Singularität in eine andere Illusion umgemo delt werden könnte. Er schüttelte den Kopf, während er die Flammenstreifen der Reaktionsmasse beobachtete, die ins Nichts schossen, während die Station fürs Überwech seln in den Überlichtflug beschleunigte. Sie folgte der Deus. Noch nie hatte jemand versucht, soviel Masse im Überlichtflug zu transferieren. Es gruselte MacGuire. Es bedurfte der Brillanz und der Macht des Messias, um einen solchen Versuch zu wagen — und seiner Ressourcen. »Und weshalb muß ausgerechnet ich dabei sein?« frag te sich MacGuire. Seine Gedanken kehrten, wie es so oft geschah, zurück zu seiner Frau und den Töchtern. In der Ferne konnte er die gewaltigen Triebwerke der Deus eben falls grelle Reaktionsmasse ausstoßen sehen. An Bord des Flaggschiffs flogen seine Frau Therisa und seine vier Töchter mit, lebten alle in Furcht, er könnte seinen Auf trag, Ngens Anlage funktionstüchtig zu machen, nicht erfüllen. Deshalb befand er sich dabei. Darum hoffte er, daß Station Kobalt den Überlichtflug trotz ihrer Masse durchstand. »Chefingenieur?« Ten wandte sich um, als er die teil nahmslose Stimme hörte. »Ja?« antwortete er dem totgeistigen Zombie, der sich ihm genähert hatte. »Helmut Eng wünscht Ihre Anwesenheit.« Der Untote schaute MacGuire kein einziges Mal an, ehe er sich umdrehte, der Chefingenieur sich ihm anschloß. Sie fuh ren zwei Etagen hinab; es war schwierig, sich zwischen den übereilig installierten Gravo-Kompensatoren fortzu bewegen. Station Kobalt beschleunigte schon seit Wochen mit 25 Ge. Der Verantwortliche — egal wer es war, dessen Befehl die jeder Vernunft baren Arbeitskolonnen der Padri unterstanden — hatte die Platten in zu großen Abständen
plazieren lassen. In den Zwischenräumen wurde ein Mensch von mörderischer Schwere erfaßt. Die Sache gefiel MacGuire gar nicht. Er konnte die Materialermü dung praktisch in den eigenen Gliedmaßen spüren. Erst die Mikropulsationen des Schwerkrafterzeugens, und jetzt das. Sie durften von Glück reden, wenn es ihnen über haupt gelang, eine Singularität zu generieren. Als noch weit größeres Glück mußte es gelten, wenn die Kompres sionskräfte Station Kobalt nicht zu einem Klumpen Metall zusammendrückten. Alles bestand nur aus schlampigem Flickwerk. Die gewaltigen Reaktoren zu justieren, war ein Alptraumjob gewesen. In einem halben Hundert Weltraumstationen hatte Ngen Kraftwerke demontiert — die Habitate kalt und tot zurückgelassen —, um genug Energie für eine Beschleunigung Station Kobalts bis zum Überwechseln in den Überlichtflug entwickeln zu können. Soviel Energie war einmal erforderlich, um die Station während der Uber lichtphase abzuschirmen, zweitens um danach seine Superwaffe einzusetzen. Das hieß, falls sie sie je fertig kriegten. Falls sie funktionierte. Falls die Station nicht auseinanderbrach. Falls sie nicht bei der ersten Erprobung alle ums Leben kamen, die Superwaffe sie nicht allesamt sofort in Ngens Hölle schleuderte. MacGuire betrat das Tech-Büro, traf Eng und Veld über die Darstellung eines farbigen Fluktuations-Holos gebeugt an. Hier sah es aus, als ob die Ingenieure, Techniker und Physiker rund um die Uhr schufteten. Schreibfolien, Kaf feebecher und Stifte bildeten um freischwebend projizier te Holos, in die etliche Leute linsten und auf die KommuComputer gestützte Brauchbarkeitstests durchführten, unordentliche Anhäufungen. Engs Stirn war zu schier tausend senkrechten Falten verkniffen. Veld nuschelte leise vor sich hin, betrachtete auf einem Monitor ein mathematisches Modell. »Was ist, Eng?« »Wo waren Sie?« Eng nahm den Blick nicht vom
Monitor. »Die Kommu konnte Sie nirgends finden. Wie der in der Observationskuppel?« »Wo sonst kann man denn noch in Ruhe nachdenken? Worum dreht's sich denn?« Eng hob die Augen vom Bildschirm, schaute MacGui re mit seltsamer Bedächtigkeit an. »Die Anlage ist nicht nur brauchbar, sie wird wie vorgesehen arbeiten.« In Hel muts grobem, rotem Gesicht stand beinahe Entzücken. »Der Messias hat gesagt, wir verstünden den Zweck der Toron-Halbringe nicht, erinnern Sie sich? Ich weiß nicht, wieso er das Prinzip begriffen hat, aber wir können die Waffe bauen. Überprüfen Sie das mathematische Modell.« Er wies auf den Monitor. »Seien Sie vorsichtig, mein Freund«, flüsterte MacGuire. »Unter uns, das Ganze war Ngens Idee. Bekannt lich ist sie von Deus selbst dem Messias und niemand anderem eingegeben worden. Denken Sie daran, oder Sie sind vielleicht der nächste, dessen Geist man aus knipst.« Helmut nickte, forschte plötzlich verstohlen in den Mienen der übrigen Anwesenden. Wer mochte ein Spitzel sein? Wessen Gegenwart diente zum Überwachen unzu verlässiger Elemente? Veld Arstong bemerkte Engs Umherlugen und schüttelte den Kopf. Anscheinend neigte von allen als einziger Arstong nicht zu Anwandlungen von Paranoia. War vielleicht er der Spitzel? Der schäbige Informant? MacGuire verdrängte das Problem aus seinen Überle gungen und bückte sich ein wenig, um sich die Zahlen auf dem Monitor anzusehen. Nun durchschaute er endlich den Sachverhalt. Auf eine geringe Menge ultradichter Materie ließ sich, wenn man sie entsprechend richtig fokussierte, soviel Energie konzentrieren, daß sie die Materie gewalt sam durch die Lichtbarriere des Schwartzschild-Radius und so mach außen< beförderte. »Das ist die ultimative Waffe«, raunte MacGuire ehr fürchtig. »Damit wird Ngen unbesiegbar.«
»Die Toron-Halbringe ermöglichen die Abschirmung und den Transport all dieser vielen Billionen Erg in das elektromagnetische Gefäß«, faßte Eng zusammen. »Durch Steuerung der Energiezufuhr können wir überall im Uni versum quantenphysikalisch ein artifizielles Schwarzes Loch hervorrufen. Es kommt nur noch darauf an, die Methode optimal auszufeilen und das Steuerungsverfah ren einzuüben.« »Ob es sich um das Geheimnis von Satans Schwert handelt?« fragte MacGuire. Eng zuckte die Achseln. »Das beruhte auf Alien-Technologie. Den Archivunterlagen zufolge ließ Satans Schwert Materie einfach verschwinden. Diese Anlage da gegen verursachte, sobald wir die kompaktierte Materie aus unserer Kontrolle entlassen, eine grauenvolle Explo sion.« MacGuire sank auf einen Sitz. »Der Hawking-Effekt ist schon vor siebenhundert Jahren vorausgesagt worden. Aber man hat ihn nie praktisch erprobt.« Engs bulliges Gesicht verriet mißmutige Belustigung. »Bezweifeln Sie, daß er Realität ist?« MacGuire schüttelte den Kopf. »Im Laufe der Jahrhun derte sind für seine Existenz zuviel Beweise erbracht wor den.« Er verstummte, sein Blick wurde leer, seine Miene ausdruckslos. »Was erschaffen wir hier für Ngen? Was las sen wir ihn dadurch werden?« »Gott«, sagte Veld leise. »Solang er unsere Seelen in der Hand hat und die Singularitätserzeugung beherrscht, ist er genau das und nichts anderes.« MacGuire nickte; seine Gedankengänge rasten im Kreis. »Er hat uns großzügige Belohnung versprochen. Wenn wir die Anlage einsatzfähig machen, will er unsere Familien freilassen. Ich muß an meine Töchter denken ... Bitte, wir müssen dafür sorgen, daß meine Mädchen in Sicherheit sind.« Engs Miene drückte Verständnis aus. »Wie lange werden wir bis zur Fertigstellung brau
chen?« fragte Veld; er verzog das Gesicht zu einer Miene der Drangsal, als wollte er eine unaussprechbare Warnung geben. MacGuire besah sich nochmals das mathematische Modell auf dem Monitor, versuchte die Montagedauer zu schätzen. »Wahrscheinlich bis nach der Beendigung des Überlichtflugs ... Vorausgesetzt wir überstehen ihn. Wenn wir für den Einflug in die Gaswolken-Kolonien abbrem sen, müßten wir soweit sein, daß wir mit dem Probebetrieb anfangen können.« Eng nickte, zerstreut streifte sein Blick das auf der Monitor-Bildfläche dargestellte mathematische Modell. »Dann wird Ngen wirklich und wahrhaftig unschlagbar sein.« »Noch haben wir die Möglichkeit, es zu verhindern.« Arstong wagte die Äußerung kaum zu hauchen. »Denken Sie darüber nach.« Mühsam schluckte MacGuire, eine Aufwallung des starken Schuldgefühls, das ihn unterschwellig plagte, schnürte ihm die Kehle zusammen. Sofort schielte er nach etwaigen Lauschern umher. »Da haben Sie wohl recht«, antwortete Eng. »Aber werden wir's tun? Könnten Sie es ertragen, den Tod der eigenen Familie zu verschulden? Es würde Tens kleine Töchter das Leben kosten. Es wäre der Tod meiner Frau, meines Sohns und meiner Eltern. Möchten Sie von mir verlangen, daß ich dabei mitmache?« Veld seufzte und hob die Schultern an. »Geht's uns um unser Leben? Oder das Leben Millionen anderer Men schen?« »Es wäre barbarisch«, winselte MacGuire. »Ich habe nicht vor, mich ins Unglück und meine Familie ins Verder ben zu stürzen.« Er hatte seine Entscheidung schon gefällt, als Ngen seiner Familie das erste Mal drohte; doch ihn quälte ein schlechtes Gewissen. Aber er konnte sich vor stellen, wie Ngen die Finger ins goldblonde Haar seiner Töchter krallte, sich den Schrecken in ihren Augen ausma
len, wenn er sie berührte und ... Entschieden unterdrückte er das Entsetzen, das ihn packen wollte. *
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MANNSCHAFTSPAUSENRAUM AN BORD DER GABRIEL WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE BEIM VERLASSEN DES ARCTURUS-SYSTEMS
Einhundert Lichtjahre entfernt gab Chester Armijo Garcia ein Aufseufzen von sich, als er in seinem Geist einen wei teren Abschnitt der Zukunft entstehen sah. Ein Cusp war entschieden worden, und er wartete neugierig auf die neue Verzweigung künftiger Wirklichkeit, die ihm nun ent gegenzusprießen begann. Die Entfaltung einer anderen Version der Zukunft setzte ein. Chester blickte hoch, als jemand hereinkam. Er nahm das Kontaktron ab und lächelte. »Meinen Gruß, Kapitän. Heute ist ein schöner Tag, um zu leben, meinen Sie nicht?« »Schöner Tag?« wiederholte Torkild. »Wo besonders? Wir nähern uns der Lichtgeschwindigkeit, Prophet. Wenn das, was wir als einen Tag erleben, für andere eine Woche ist, welche Bedeutung hat Zeit dann noch?« Chester lachte. »Das ist ein guter Einwand. Zählt es, wie lang eine Stunde dauert? Ist es erheblich, welcher Sinn hinter einem Wort steckt? Was abstrakt und was relativ ist? Haben irgendwelche dieser Bezeichnungen irgendeine Aussage außer der, die wir ihnen in deinem und meinem Hirn verleihen?« Torkild hob den Kopf, musterte den Propheten nervös. »Ich glaube nein. Weshalb ist dieser Tag also >schöner< ls andere Tage, Prophet?« »Weil wir ihn erleben, Kapitän. Wir müssen Luft in unsere Lungen einatmen, wir merken, wie das Herz in uns schlägt.« Mit den Fingerspitzen strich Chester über die
Wandplatten. »Wir müssen fühlen, Farben sehen, Hunger verspüren. Wir erfahren das Leben in all seinen vielfälti gen Wahrnehmungs- und Erscheinungsformen. Das Leben, lieber Kapitän, wird allzu häufig als Selbstver ständlichkeit genommen.« Torkild mußte lachen. »Du bist ein sehr ungewöhn licher Mensch.« Chester hob die Schultern; das ständige Lächeln wich nicht von seinen Lippen. »Ich bin noch keinem gewöhn lichen Menschen begegnet. Verrate mir, wie so ein Mensch ist. Wenn es Ungewöhnliches gibt, denke ich mir, dann wohl auch Gewöhnliches.« Torkild überlegte; schließlich schnitt er eine düstere Miene. »Das sind Wortspiele, Prophet.« Unbekümmert nickte Chester, ließ den Blick seiner Mandelaugen auf Torkild ruhen. »Ich habe einmal erwähnt, wie du dich vielleicht entsinnst, daß Spiele höchst aufschlußreich sind. Durch Spiele kann man man ches lernen. Ein Prophet ist ein Lehrer. Du solltest Innen schau halten und prüfen, ob du herausfindest, warum so schlichte, harmlose Worte dich jetzt so beunruhigen. Dir bleibt wenig Zeit, Torkild. Uns trennen bloß noch vier Wochen Bordzeit von den Gaswolken-Kolonien.« Torkild wurde blaß. »Woher weißt du, wohin wir flie gen? Das ist mein Geheimnis! Hast du an meiner Kommu herumgepfuscht? Ich habe es doch selbst eben erst mitge teilt erhalten!« Seine Hände packten den Kleidungsstoff im Nacken des Propheten, hoben Chester an, der keinen Widerstand leistete. Torkild starrte ihm in die heiter-gelassenen Augen. »Ich habe keine Furcht, Torkild.« Chesters Tonfall änderte sich nicht. »Nur zu, verprügele mich. Ich werde mich nicht wehren, weil du dadurch lernen kannst, daß Wut keinem sinnvollen Zweck dient. Aber für den Fall, daß du mich tötest, kann ich dir dein Verhängnis vor aussagen. Du müßtest so schnell sterben, daß du nicht einmal daraus noch etwas lernst. So hätte nicht einmal
mein Tod einen Sinn. Ich hätte keinen Einfluß darauf, was deine Seele Spinne heimbringt. Die Entscheidung allerdings liegt bei dir. Sie hängt von deinem freien Willen ab.« Ein Zittern befiel Torkild; er stellte den Propheten ab. »Ich habe dir in die Seele geblickt, Prophet. Kennst du keinerlei Furcht?« Chesters rätselhaftes Lächeln verbreiterte sich gering fügig. »Furcht ist etwas Menschliches, Torkild Alhar. Ich fürchte vieles, aber es sind alles Dinge, die über die Unwichtigkeit meines Daseins hinausgehen. Statt dessen fürchte ich um das Schicksal der Menschheit, um die zahlreichen Seelen, die ihre Gelegenheit zu verlieren drohen, etwas zu erringen, zu lernen, Erkenntnisse zu sammeln. Ich fürchte die Gefahr einer abgrundtiefen Erniedrigung Gottes. Ich fürchte um den Ablauf des Experiments, das Spinne mit den Menschen macht. Aber so wie deine Furcht um Leben und Existenz bleibt auch meine Furcht auf lange Sicht bedeutungslos, Kapitän. Ngen kann Spinne nicht ermorden. Er kann nicht die höchste Daseinsform abschaffen. Du siehst, ich bin genauso einfältig wie du.« Torkild zog eine Miene der Verbissenheit. »Warum ergeben deine Reden für mich bloß keinen Sinn?« Chester hob die Arme und spreizte die Hände. »Wir sprechen auf der Grundlage zweier unterschiedlicher Erfahrungsebenen. Du hast das behütete Leben eines ver wöhnten Arpeggianers geführt. In deinem ganzen bisheri gen Leben bist du nie gezwungen gewesen, Torkild, von der Gewißheit abzuweichen, daß das, was du wahrnimmst, die Wirklichkeit ist. Du hältst zu verstockt an der Vorstel lung fest, die du von dir selbst hätschelst. Diesen Zustand mußt du überwinden und dich aus einem anderen Blick winkel betrachten.« Ein Lachen entfuhr Torkild. »Meine Wirklichkeit be hagt mir.« »Ja natürlich. Unwissenheit erlaubt den Glauben ans
Vollkommensein. Du brauchst dich nie zu hinterfragen. Gleichzeitig ist es, sich nie Fragen zu stellen, eine der wenigen wahren Sünden, für die eine Seele in der Tat der Verdammnis verfallen kann. Trotzdem ist es denkbar — je nachdem, wie du deine Cusps entscheidest —, daß du dich besserst.« »Anscheinend bist du dir deiner Sache gehörig sicher.« »Selbstverständlich. Man könnte sagen, das ist einer der wenigen Vorteile des Zukunftssehens.« Chester deu tete eine Verbeugung an, achtete nicht auf den höhni schen Tonfall des Arpeggianers. »Ich sehe mehrere ver schiedene Torkilds. Im Moment bist du durchaus nicht so recht mit dir zufrieden, Kapitän. Du bist sehr klug, und dein Widerwille gegen dein jetziges Dasein motiviert dich zu verwegenem Handeln. Beantworte mir folgende Fra gen: Was ist es, das dir an dir selbst mißfällt? Warum bist du unzufrieden mit dem, der du bist? Was wünschst du wirklich zu werden, und vor allem, weshalb möchtest du's?« Geringschätzig schüttelte Torkild den Kopf. »So, nicht? Nun gut, ich bin leicht zu überreden. Wir sprechen uns in den nächsten Tagen wieder, Torkild. Du brauchst lediglich diese vier Fragen zu deiner Zufrie denheit zu klären, und ich werde dir deine Antworten glauben.« Aus seinen blauen Augen maß der Arpeggianer ihn durchdringenden Blicks. Endlich atmete der Kapitän tief durch. »Ich muß die Romananerin über unser bevorste hendes Rendezvous mit Ngen informieren«, sagte er unwirsch. »Du mußt mich entschuldigen, ja?« Trotz der Abfuhr, die er Chester erteilte, war Kapitän Alhar sehr verwirrt, als er den Propheten verließ. Chester stand auf, räkelte sich; sein Gemüt schweifte durch die Klänge von Mozarts Requiem, während er gemächlich einen Gang durchquerte. Er betrat eine mit einem Blastergeschütz bestückte Waffenkuppel, nahm neben dem hochgewachsenen Mann Platz, der dort still in
der Minimalbeleuchtung saß, ein kurzes Messer in den Händen drehte. »Verzweifung ist ein sehr interessantes Phänomen, Doktor. Was lehrt sie dich?« Darwin Pike lachte auf. »Besteht die Natur des Univer sums aus Fruchtlosigkeit und Furcht, Chester?« »Zum Teil. Besteht das Farbspektrum aus Gelb? Gibt es nicht noch mehr Farben? Vielleicht hast du selbst dich mit einer Brille fehlsichtig gemacht, die nur gelbes Licht durchläßt.« »Susan hat mich belogen. Ich ... ich glaube, ich weiß zuviel, als daß es gut für mich wäre. Die gespeicherte Fassung meiner Krankengeschichte sah mir nun doch zu ungereimt aus. Bestimmte Teile sind gefälscht worden ... andere nicht. Jedenfalls bin ich auf den Grund gesto ßen. Ich habe künstlich entstandenen, onkogenetischen Krebs, Chester. Inzwischen sind die Krebszellen überall in meinem Körper. Kann sein, ich darf hoffen, das Lymphsystem hat den meisten 'n Riegel vorgeschoben, aber wer weiß ... Durch Susans Schuld könnte ich schon tot sein.« »Und das bereitet dir ernsten Kummer, Doktor?« »Verflucht noch mal, ja! Ich liebe ... Ich meine, ich hätte für sie alles gegeben. Für sie hätte ich ...« »Würdest du ihr zuliebe die Menschheit opfern?« Che ster hob den Kopf, wartete auf Antwort. »Möchtest du, daß ich uns beiden etwas Zeit spare, Doktor ...? Hoffst du nicht, daß ich dir wunderbarerweise eine weitschweifig hergeleitete Begründung liefere, dank der du Susan die Verantwortung für etwas zuschieben kannst, wovon du längst selbst weißt, daß du es sowieso von dir aus getan hättest? Wäre dir die Wahl geblieben, hättest du Patan ver lassen? Wärst du bereit gewesen, Susan das Risiko dieses Flugs allein aufzubürden, während du sicher in der MedEinheit gelegen hättest?« Pike starrte ihn an; in seinen Augen stand ein Ausdruck jämmerlichen Elends.
Chester streckte eine Hand aus und packte Pike mit einem herzlich-herzhaften Griff der Ermutigung am Ober arm. »Nein, das ist nicht dein Problem. Du würdest Susan gerne die Schuld beimessen. Es ist immer einfacher, irgendeiner anderen Person die Schuld zuzuweisen, anstatt sie bei Ursachen zu sehen, die so unnahbar und gleichgül tig sind wie Spinne oder die Umstände.« »Wahrscheinlich. Es ist nur so, daß ich ... Ich habe kei nen echten Daseinszweck mehr.« Pike warf die Hände in die Höhe, ließ sie fallen. »Vor einiger Zeit, als ich noch mehr oder weniger 'n ahnungsloses Unschuldslamm war, hatte mein Leben immer einen Sinn. Jetzt lebe ich aus schließlich aus Haß und für meinen Rachedurst. Und die Träume, die gottverdammten Träume! Jede Nacht höre ich Ngens Stimme ... Und diese Kannibalin frißt mein ... Alles ist besudelt ... Sogar die Liebe, die ich zu Susan empfinde. Ich habe davor einen Horror, für irgend etwas zu leben, weil ich fürchte, ich könnt's verlieren ... Etwa Susan ... oder meine Gesundheit.« Versonnenen Blicks lächelte Chester ihm zu. »Darin steckt eine Lektion, nicht wahr? Vorwärts, Doktor, momentan ist es an dir, mich etwas zu lehren.« »Hä?« »Ich fühle die gleiche Enttäuschung und die gleiche Furcht, obwohl ich die Antworten auf solche Fragen kenne. Auch ich leide unter dem Gefühl der Fruchtlosig keit. Wie erträgt man diese Empfindungen, wenn man keine Lösungen weiß?« Chester senkte den Kopf. »Durch Glauben?« »Ah! Eine gute Antwort. Aber denken wir einmal genauer darüber nach. Glaube ist eine konstruierte Abhil fe für alle, denen zum Verständnis ihrer Ansichten ein logisches Bezugssystem fehlt. Glaube umfaßt reine Annahmen. Stimmst du mir zu? Ja? Also gut. Behauptest du dich demnach mit Vermutungen gegen Verzweiflung und Sinnlosigkeit?« »Das ist eine Fangfrage, Chester.«
»Freilich. Ähnlich verhält es sich mit der Grundvor aussetzung des Problems, das wir beide haben, oder nicht? Wir betrügen uns selbst. Greifen wir noch einmal auf das Beispiel mit den Farben zurück. Ich bin ein Schwarzseher. Irgendwann habe ich die mit einem Regen bogen vergleichbare Entrückung vergessen, die ich erleb te, als ich das erste Mal Beethoven hören durfte. Und du vergißt das erste Mal, als Susan dir voller Liebe in die Augen geschaut hat.« »Das verstehe ich nicht.« Die Erwähnung Susans ver ursachte Pike sichtliches Unbehagen. »Wir blicken beide zu weit in die Zukunft, Doktor. Wir suhlen uns zuviel in dem, was wir sehen, du in deiner Phantasie, ich in einer von mehreren möglichen Zukünf ten, über die noch gar keine endgültige Entscheidung her beigeführt ist.« »Kann sein, ich bin total begriffsstutzig, aber muß man denn nicht nach vorn schauen? Ich meine, man ist doch nur zu planen fähig, wenn man gewisse Vorstellun gen hat.« »Wir wären tatsächlich äußerst beschränkt, redeten wir uns ein, wir hätten die Zukunft vorherbestimmt und könn ten fortan weder sie noch unser Leben ändern. In dem Fall begingen wir Betrug an Spinne, weil wir nicht die gesam te Mannigfaltigkeit unserer Existenz zum Lernen nutzen, findest du nicht?« Darwin lachte gedämpft. »Möglicherweise. Bloß gibt's Zeiten, in denen es schwerfällt, am Horizont noch 'n Sil berstreif zu erkennen.« »Doktor«, fragte Chester eindringlich, »bist du un glücklich wegen des Versuchs, den ihr zu unternehmen beabsichtigt?« »Ich habe höllische Furcht. Ich habe meine Träume jede Nacht ... Und scheinbar ständig. Wir fliegen, wie man so sagt, in die Höhle des Löwen, Chester. Ich mache mir die größten Sorgen, daß ich oder Susan nochmals in Ngens Gefangenschaft geraten könnte.«
»Und bliebe dir die Wahl zwischen dir und Susan, wen würdest du ihm in die Hände geben?« »Haben wir das nicht schon durchgekaut? Mich natür lich! Ich würde diesem Widerling doch nicht ...« Chester mäßigte Pikes Empörung, indem er die Hand hob. »Also hast du trotz aller Sinn- und Zwecklosigkeit deine Liebe. Erhält dein Leben dadurch keine Bedeutung? Und wenn du und Susan der Preis für den Rest der Menschheit wärt, Doktor, was dann? Vielleicht solltest du dir einmal darüber Gedanken machen.« »Du siehst etwas«, sagte Darwin mit leiser, brüchiger Stimme. »Mein Gott, Chester, verrat's mir!« Ungezwungen lächelte der Prophet. »Nun gut, ich will es tun, weil es keine Auswirkungen auf die Cusps haben wird. Abhängig davon, wie sich die Situation ent wickelt, kann es dahin kommen, daß du zwischen dir und Susan und der Menschheit wählen mußt. Du wirst damit nicht allein sein. Wir alle müssen Entschlüsse fas sen, die Ret- tung oder Untergang der Rasse zum Ergeb nis haben kön- nen. Was wirst du Spinne am Ende über bringen?« Darwin zuckte die Achseln, warf Chester einen gequäl ten Blick zu. »Ich habe keine Ahnung.« »Deswegen brauchst du dich nicht zu grämen. Es ver steht sich von selbst, daß du's nicht weißt. Nicht einmal ein Prophet sieht ab, was er bei einem bestimmten, künf tigen Cusp anfangen wird. Aber im Moment möchte ich, daß du an etwas anderes denkst. Ich muß dir wohl sagen, daß Patan Andojar Garcia tot ist. Er hat seinen letzten Cusp entschieden. Er ist dem Irrsinn verfallen, und Rita Sarsa hat ihm den Gnadentod gewährt.« »Mein Gott...!« Darwin schloß die Lider; tiefer Schmerz wütete in seiner Seele. »Warum läßt du zu, daß du so leidest? Aus welchem Grund? Patans Hinscheiden ist kein Anlaß zum Leiden, es ist bereits Vergangenheit. Er kehrt freudig zu Spinne heim, nachdem er in seinem kurzen Leben mehr gelernt hat, als
Aberdutzende anderer Menschen bei aller unterschied lichen Vielfältigkeit ihres Daseins lernen. Hat Patan nicht seine Bestimmung selbst gewählt? Hat er nicht, obwohl er seinen Tod vorhersah, aus eigenem freien Willen sein Schicksal angenommen?« »Eigenhändig habe ich ihn in die Bordklinik getragen«, rief Darwin weinerlich, »als er zu verhungern drohte ...« Er betrachtete seine Unterarme. »Auf Welt habe ich gesehen, wie er unmittelbar davor stand, sich mit seinem Dolch zu töten, um seinen Visio nen ein Ende zu machen«, erzählte Chester in freund schaftlichem Ton. »Er wäre von eigener Hand gestorben. Später war sein Hungertod nicht ausgeschlossen. Ngen hätte beschließen können, nach Basar zu fliegen, und euch dort vielleicht allesamt umgebracht. Patan hatte die Mög lichkeit, sich trotz Rees Vorschlag auf Welt von euch zu verabschieden. Wir sterben alle. Er hat lediglich den Moment seines Todes selbst ausgesucht.« »Wir wissen nie, woran wir eigentlich wirklich sind, was?« meinte Darwin grüblerisch. Chester schüttelte den Kopf. »Selten. Was würdest du erwidern, wenn ich dir vorhielte, daß du wieder einmal nichts als Gelb siehst? Und was, wenn ich dir sagte, dir blieben bloß noch die nächsten fünf Stunden Zeit, um alle Farben zu sehen? Oder nur noch der morgige Tag? Die kommende Woche? Nein, das ist keine Prophezeiung. Es ist die Lehre meiner Lektion.« >»Und ich sitze hier und vergeude diesen durch und durch kostbaren Tag, indem ich in einer Waffenkuppel herumhocke und Trübsal blase<, würde ich antworten.« »Während in ungefähr fünfzehn Minuten Susan das stärkste Bedürfnis spüren wird, von dir in die Arme ge nommen zu werden. Genauso wie du fürchtet sie sich vor der Zukunft ... und vor Ngen.« »Und es kann sein, daß ich sie durch ihn verliere«, raunte Darwin voller Grauen. »Diese Möglichkeit bleibt bestehen. Geh nun zu ihr.
Schließe sie in deine Arme. Teile deine Hoffnung und deine Kraft mit ihr.« Zum Abschluß lächelte Chester noch einmal, ehe er die schwache Minimalbeleuchtung der Waffenkuppel verließ, sich wieder das Kontaktron über streifte, um der geliebten Musik zu lauschen. *
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PROVISORISCHES OFFIZIERSGEWAHRSAM AN BORD DER PROJEKTIL (IN GEOSTATIONAREM ORBIT ÜBER WELT)
»Da ist ja unser Sieger«, rief Claude arrogant näselnd zu Rees Begrüßung. Tabi lachte, während Amelia mit emporgezogenen Brauen abwartete. Ree blieb stehen; ihm sträubten sich die Nackenhaare, während er den Obersten durch zu Schlitzen verengte Lider ansah. »Oberst, ich bin gekommen, um Ihnen das Angebot zu unterbreiten, Ihr Kommando wiederanzutre ten. Ich habe vorhin Großalarm gegeben.« »Wegen Ngen?« fragte Amelia. Sie hielt sich gesin nungsmäßig stets in der Mitte, blieb in permanenter Bereitschaft, sich so zu drehen, wie der Wind wehte. Claude lümmelte sich an einem Tisch. Tabi saß krumm an einem anderen, kleineren Tisch im Raum. Auf den Holo-Bildschirmen, die die obere Hälfte der weißen Wände bedeckten, gab es Raumschiffe und Pla neten zu betrachten, emsige Geschäftigkeit zu beobach ten. Amelia, die mit verschränkten Armen, ein Knie gebeugt, an einem Schott lehnte, ließ sich nichts davon entgehen. »Unsere Aufklärung meldet, daß Ngen zu den Gaswolken-Kolonien unterwegs ist. Wenn's uns gelingt, ihn dort zu überraschen und in die Enge zu drängen, könnte das sein Verderben sein. Wenn wir seine Flotte vernichten, wird es uns möglich ...« »Und meine Untergebenen wollen ohne mich nicht
kooperieren?« fragte Devaulier hämisch grinsend. »Das hätte ich Ihnen gleich ...« »Entschuldigen Sie, Claude.« Ree blieb von seinem Sarkasmus unbeeindruckt. »Sie müßten's besser wissen. In Wahrheit ist es so, daß schon wenige Stunden nach Ihrer Arrestierung auf der Projektil jemand den Major, der an Bord der Uhuru als Ihr Stellvertreter fungierte, abge murkst hat. Ja, Sie haben 'ne wirklich unerschütterlich treue Crew, das muß ich sagen. Die Hälfte hat unsere Romananer mit offenen Armen empfangen und unverzüg lich um ihr Wohlwollen scharwenzelt. Der Rest hat den Reaktorraum besetzt, mußte aber wegen einer Person, die's sich dann doch anders überlegte, bald aufgeben. Dar auf dürfen Sie echt stolz sein, was?« »Und meine Besatzung?« Tabi hob den Kopf. »Es lief ungefähr gleich ab ... Bloß verhielt sie sich nicht ganz so hinterlistig wie Claudes Personal.« »Und wieso legen Sie dann Wert darauf, uns wieder das Kommando zu überlassen, Damen?« Amelia stieß sich von der Wand ab, trat mit dem für sie typischen, schwül-erotischen Gebaren vor. Geschmeidig wie eine Pantherin, die Augen wie immer verschleiert, verharrte sie vor Ree. Er erwiderte den Blick ihrer rauchigen Augen, begeg nete ihrer Herausforderung und Neugierde. »Weil Ngen zu wichtig ist. Innerhalb einer Stunde werden wir alle Kurs auf die Gaswolken nehmen. Ich habe mich eben mit Giorj verständigt, Modifikationen Ihrer Schlachtschiffe sind veranlaßt worden. Fujiki-Blaster können wir nicht einbau en, wir verfügen im Augenblick über zuwenig Toron. Aber wir sind Ihre Blastergeschütze aufzurüsten, sie auf siriani schen Feuerkraft-Standard zu bringen imstande. Außer dem kennen wir inzwischen ein paar Raffinessen zur Ver stärkung der Schutzschirme, so daß Ngen Ihren Schiffen ohne konzentriertes Feuer nichts anhaben kann.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« Ree wandte sich um, heftete den Blick direkt auf Clau
de Devaulier. »Sie werden alle drei Ihr Kommando wieder antreten, weil ich keine ausreichend qualifizierten Offizie re mehr greifbar habe, die Ihre Kommandeursposten ein nehmen könnten. Die besten und tüchtigsten Leute Ihrer Crews habe ich schon nach Station Tygi und zum Sirius geschickt, damit sie von uns umgebaute FLF bemannen. Der Vorzug Ihrer Fachkundigkeit überwiegt demgemäß den Nachteil Ihrer eventuellen Renitenz.« »Ich werde auf Ihren freundlichen Vorschlag, auf mein Schiff zurückzukehren, gerne eingehen«, rief Devaulier lachend und sprang auf. »Aber die Sache hat einen Haken, stimmt's, Damen?« Amelias Blick blieb fest. Ree nickte. »Klar hat sie 'n Haken. Sehe ich vielleicht völlig schwachsinnig aus? Sie werden — wie ich schon angedeutet habe — Romananer an Bord haben, wenn Sie fliegen. Mein Personal stellt die Hälfte Ihrer Techs. Zudem sind Ihre Sturmtruppen längst von den romanani schen Idealen angesteckt worden. In der Zeit, die Sie ... zu Beratungszwecken hier auf der Projektil zugebracht haben, konnten Ihre Untergebenen sich auf dem ganzen Planeten umschauen. Manche sind in Schwierigkeiten geraten. Ich versichere Ihnen, daß ihr Haar richtig schön nachwachsen wird. Was die Befehlshierarchie betrifft, wird jeder zweite Befehlshabende ein romananischer Kriegshäuptling sein. Bei diesen Männern handelt es sich um Veteranen des Sirius-Feldzugs, die dabei beträchtliche Erfahrungen in moderner High-Tech-Kriegsführung gesammelt haben.« Claudes Hochstimmung war verflogen. Tabi, die sich ohnehin in etwas bedrückter Gemütsverfassung befand, seit die Projektil ihr Schiff mit zwei Blasterbatterien wirk sam in Schach hielt, nickte lediglich. Amelia dagegen funkelten die Augen. Ree kreuzte die Arme auf der Brust, schlenderte umher. »Ich lasse Ihnen also keineswegs freie Hand, nein. Mit Ausnahme der Erfordernisse und Notwendigkeiten, die
bei dem zu erwartenden Gefecht entstehen werden, erhal ten Sie Kurs, Navigationsdaten und sämtliche sonstigen allgemeinen Befehle per Transduktionsfunk von der Pro jektil. Die Romananer sind instruiert worden und sich der Gefahr, daß die gesamte Operation durch Sie sabotiert werden kann, vollständig bewußt. Sie werden dementspre chend hochgradig wachsam sein. Sie müssen damit rech nen, daß sie Sie eher töten, als zu riskieren, daß Sie das Unternehmen hintertreiben. So liegt's ihnen im Blut, könnte man sagen.« Amelia wechselte ihre Haltung, indem sie sich zu vol ler Körpergröße aufrichtete, die Schultern zurückbog. »Na gut, Damen, wir machen mit. Wir sind mit allem einver standen, was Sie verlangen. Und was dann? Ich meine, wenn wir alles durchgestanden haben. Was bieten Sie als Gegenleistung?« »Sie bekommen anschließend Ihre Schiffe zurück.« »Aber wir haben als Sicherheit nur Ihre Zusage.« Clau de befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen, wäh rend er sich die Unwägbarkeiten der Situation vergegen wärtigte. »Das ist wahr. Und ich werde sie einhalten. Denken Sie an die Alternativen. Sie sind aufgrund der moralischen Niedrigkeit, wie sie seit langem patrouillenintern gang und gäbe ist, der Auffassung, ich würde Sie zum Schluß hintergehen. Aber Sie müßten sich fragen, welche Veran lassung ich dazu haben sollte. Oder welchen Anlaß Sie selbst mir liefern könnten. Auf jeden Fall liegt die Ent scheidung bei Ihnen. Ziehen Sie mit, oder lassen Sie's sein.« »Ich bin dabei«, erklärte Tabi Mikasu. »Darf ich nun gehen?« »Eine Romananereskorte wird Sie zu einem ST beglei ten. Claude?« »Ja, ich willige auch ein. Es ist immerhin besser, als hier rumzuhocken.« »Amelia?«
»Ich überlege noch, Damen.« Claude und Tabi gingen, waren merklich froh, endlich der Enge des Arrests zu entrinnen. Ree setzte sich auf eine Ecke des Tischs, ließ die Beine baumeln, während Amelia in dem Raum auf- und abschlich. Plötzlich fuhr sie katzen haft herum. »Ich will mehr, Damen.« »Das habe ich mir schon gedacht.« Zum erstenmal lächelte Amelia, ihre Miene wurde freundlicher. »Gut. Ich spiele Ihr Spiel mit. Mehr als das: Ich werde die perfekte Mitstreiterin in Ihrem Kampf gegen Ngen sein. Ich will mich voll einsetzen und dafür alles geben.« Ihr Gesichtsausdruck und die sinnlichen Bewe gungen ihres Körpers verdeutlichten, wie weit ihre Offer te reichte. Ree stellte das Baumeln seiner Beine ein. »Und?« »Und ich möchte die technischen Daten der Fujiki-Blaster sowie die Quantenaugmentation für Schutzschirme, wie sie die Projektil hat. Darüber hinaus haben Sie irgend welche Veränderungen an der baulichen Konstruktion des Schiffs vorgenommen, etwas das mit den Gravo-Kompensatoren und strukturrelevanten Bauelementen zusammen hängt. Diese Informationen will ich ebenfalls. Für meinen wortgetreuen Gehorsam wünsche ich alles, was Sie an Neuerungen haben.« Langsam nickte Ree. »Und wenn ich ablehne?« Amelia hob das Kinn und senkte die Lider. »Ich bin weder Claude Devaulier noch Tabi Mikasu. Sie haben es mit Amelia Ngurnguru zu tun. Beachten Sie das, Damen.« Sie rückte ihm noch näher, die prallen Wölbungen ihrer Brüste streiften seinen Arm, er fühlte an seiner Seite die harte Rundung ihrer Hüfte. »Und wenn ich >vielleicht< sage?« Sie schüttelte den Kopf, hob einen Finger, strich damit über die Umrisse von Rees Kinn. »Ich glaube, Sie sind zu sehr darauf versessen, Ngen zur Strecke zu bringen. Ich habe den Eindruck, ihn und seine Monsterarmeen unschädlich zu machen, ist Ihnen wichtiger als alles ande
re ... Und ich kann dabei den Ausschlag geben. Halte ich zu Ihnen, Damen, ist das Gleichgewicht der Kräfte unwiderruflich zu Ihren Gunsten verlagert. Dann kann Ihnen niemand mehr etwas anhaben.« Ree spürte einen Adrenalinschub, sein Herz begann zu wummern, als er Amelia in die Augen schaute, deren tiefe Abgründigkeit seine Seele wie auf einen Meeresgrund hinabziehen zu wollen schien. Wollust gloste in ihm empor, als ihre festen Brüste sich ihm aufdringlich entge gen drängten. Ree zwang sich zu einem Auflachen, um den Bann der sexuellen Spannung zu brechen, er faßte Amelia mit bei den Fäusten an den muskulösen Schultern, schob sie zurück, indem er von der Tischkante rutschte, beherrschte sich, obwohl er Amelias tadelloser Figur, ihrer schlanken Taille, der rundlichen Hüften, des flachen Bauchs und des Wogens ihrer Brüste in aller Deutlichkeit bewußt blieb, mit allem Nachdruck. »Ich sage ja zu Ihrem Anliegen, Amelia.« Er machte auf energisch aufgesetztem Absatz kehrt, bemerkte das Glitzern des Triumphs in ihren Augen. »Aber wir soll ten uns über die Einzelheiten einig sein. Was Feind schaften anbelangt, bin ich nicht daran interessiert, zuletzt statt Ngen Sie gegen mich zu haben. Hätte ich eine Wahl, wären Sie mir lieber. Ngen ist krank im Kopf, er hat einen grundschlechten, verdorbenen Char akter, er ist ein Geistesgestörter. Sie sind ganz einfach machtgierig und verdammt gerissen darin, ihre Macht gier zu befriedigen. Grenzenlosen Ehrgeiz kann ich akzeptieren, solang er einem gesunden Hirn ent springt.« Amelia trat wieder näher; ihr Benehmen verriet jetzt Anerkennung. »Sie sind ein bemerkenswerter Mann, Damen. Sie beeindrucken mich.« Unversehens schlang sie die Arme um seinen Hals. »Zusammen wären Sie und ich unschlagbar«, fügte sie hinzu, indem sie den Kopf an seine Schulter lehnte. »Wir ...«
Ree streifte ihre Arme ab, hielt ihre Hände in seinen Fäusten. »Nein. So nicht.« Die Obristin hob den Kopf, dachte nach. »Sie begeh ren mich, Damen. Ich seh's Ihren Augen und dem Anlau fen Ihrer Haut an. Ich spüre Ihren Puls, Ihre Erektion. Sie begehren mich so sehr, daß Sie sich vergessen könn ten.« Sachlich nickte Ree, erwiderte den Blick, mit dem sie seine Miene erforschte. »Ja, ich begehre Sie ganz schön heftig, Amelia. Aber es ist rein körperliche Lust. Und ich habe im Laufe meines Lebens genug gelernt, um mir dar über im klaren zu sein, daß Nachgiebigkeit gegenüber blo ßen sexuellen Gelüsten jahrelange Scherereien nach sich ziehen kann. Nein, wir belassen es bei der ursprünglichen Übereinkunft: Kooperation gegen wissenschaftlich-technische Informationen. Auf diese Weise bewahren wir uns außerdem den wechselseitigen Respekt — und unsere Wachsamkeit voreinander —, anstatt unsere Bekannt schaft mit Gefühlen und allen erdenklichen Beziehungski sten zu vermischen und zu belasten.« Amelia machte einen Schritt rückwärts, senkte den Kopf, hielt die Arme senkrecht-gerade abwärts, ballte die Hände zu Fäusten. »Wissen Sie, es ist lange her, daß ein Mann mich abgewiesen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so was mag.« Ree breitete die Arme aus. »Sie sind eine schöne Frau. Ich bezweifle, daß Sie sich sorgen müssen, es könnte zum Dauerzustand werden. Es ist nur so, ich bin ...« »Verdammt schlau, Damen. Das sind Sie. Und es ist genauso lange her, daß ich mit einem Mann zu schaffen hatte, den ich wirklich respektieren konnte. Heiliges Kanonenrohr, jetzt glaube ich doch, daß Sie Ihr Wort tat sächlich einlösen werden.« »Wenn Sie zu Ihrem stehen.« Allmählich setzte sich auf Amelias Lippen und in ihren Augen ein aufrichtiges Lächeln durch. »Dann schnappen wir uns nun Ngen.«
»Hoffen wir, daß meine Maßnahmen Claude und Tabi bei der Stange halten.« »Und was ist mit Jaischa Mendez?« Ree zuckte die Achseln. »Das weiß Spinne allein. Wir müssen uns schlichtweg darauf verlassen — und uns die Daumen drücken, wie wir sie uns noch nie gedrückt ha ben —, daß uns Ngen in den Gaswolken nicht mit irgend einer bösen Überraschung auflauert.« Aber wahrschein lich wird er uns eine bereiten. Und was dich angeht, Ame lia, du bist so vertrauenswürdig wie eine silurianische Sandkobra. Du wirst mir jederzeit, sobald du es als oppor tun erachtest, in den Rücken fallen. Du drehst dich schnel ler als subatomarer Spin und in ebensoviele Richtungen. Aber bei Spinne, welche Wahl hätte ich denn?!
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AN BORD DER GABRIEL WÄHREND DES ÜBERLICHTFLUGS ZU DEN GASWOLKEN-KOLONIEN
Torkild Alhar blieb gegenüber der Verwirrung, die er emp fand, völlig ratlos. Nach den wiederholten Diskussionen mit dem Propheten marterte ihn die Frage, was er in sei nem bisherigen Leben eigentlich in Ehren gehalten hatte. Er war dazu übergegangen — hatte es sich zu einer Art von spielerischer Gewohnheit gemacht —, zu versuchen, Chester aus dem Gleichgewicht zu werfen, doch anschei nend fand er nie den richtigen Ansatzpunkt. Naturgemäß stand ihm andauernd die Schwierigkeit im Weg, daß er jemanden mit Argumenten übertrumpfen wollte, der stets vorher wußte, was er zu äußern beabsichtigte. Ein zweites Problem beanspruchte immer stärker die Zeit, die Torkild dem Grübeln widmete: Susan Smith Andojar, die wunderschöne romananische Raumschiffs kommandantin. Er überlegte, ob er für den Anthropologen Darwin Pike ein aussichtsreicher Rivale sein könnte. Was fand sie nur an ihm? Unfug! Wie sollte sie den Anthropologen noch eines Blickes würdigen, sobald Torkild Alhar, Erbe einer füh renden arpeggianischen Familie, hervorragender Kapitän und Militärkommandeur, ihre Nähe mit seiner Anwesen heit beglückte? Welche Frau könnte seinem überlegenen Charme widerstehen? Sah er nicht berückend gut aus? Hatte er sich nicht im Kampf bewährt? Auf Arpeggio hat ten Frauen in seiner Gegenwart Ohnmachtsanfälle erlitten, ihm verstohlen ihr Lächeln geschenkt. Mehr als eine Jung frau aus gutem Haus hatte sich ihm insgeheim in seinen Armen hingegeben. Und das gleiche würde schließlich auch Susan Smith Andojar tun. Was für eine prachtvolle Gattin sie sein müßte! Selbst Raumschiffskommandeurin, rundum sport
lich und bestens in Form, dazu intelligent ... Zwischen ihren anmutigen Hüften konnten kräftige Söhne heran wachsen, die die Fähigkeiten zum Wiederaufbau Arpeg gios aufbrachten. Das Haus Alhar brauchte nicht das letz te Überbleibsel Arpeggios zu bleiben. Sie war nicht mit dem Anthropologen verheiratet, war überhaupt nie verhei ratet gewesen; deshalb eignete sie sich als seine Braut. Natürlich betrübte es ihn, daß sie ihre Jungfräulichkeit längst verloren hatte; das war der eine, recht ernste Minus punkt, der gegen sie sprach. Er lieferte in der Tat Anlaß zu schwerwiegenden Bedenken. Wie mochte es sich anfüh len, wenn sie sich ihm endlich hingab? Das Wissen um den vorehelichen Verlust ihrer Jungfernschaft mußte ihn im Verlauf all der folgenden Jahre jedesmal einholen, wenn er sie bestieg. Bei jedem Mal, das er in ihren war men Leib eindrang, würde er sich dessen bewußt sein, daß vor ihm schon ein anderer Mann zwischen ihren Schen keln seine Befriedigung gefunden hatte. Jeden Orgasmus müßte die Kenntnis der Tatsache beeinträchtigen, daß sich vor ihm ein Fremder dort hinein ergossen hatte. »Aber sie ist so schön, sie hat eine so unwiderstehliche Anziehungskraft...« Torkild schloß die Lider, erinnerte sich daran, wie die Helligkeit auf ihrem unglaublichen schwarzseidigen Haar schimmerte, wenn sie es über die von festen Muskeln durchzogenen Schultern zurückwarf. Er schwelgte in der Erinnerung an die Art, wie sie sich bewegte, die tiefgründige Sanftheit der Augen, die makel losen Mulden ihrer Wangen, die Weise, wie die Brüste die Konturen ihrer Magengrube überschatteten. Und die Glut ihrer Augen! Es für sich zu haben, es seinem Willen füg sam zu machen, es für ihn lodern zu sehen ...! Was zählte ein winziges Jungfernhäutchen, wenn man soviel Herr lichkeit erobern konnte? Er traf sie im Sportzentrum an. Dort waren mit glänzend-schwarzer, noch frischer Farbe Spinnenabbildungen an die Wand gemalt worden. Inzwischen fand man solche Schmierereien überall im Schiff; es handelte sich um ein
echtes Ärgernis. Zunächst hatte er befohlen, sie zu entfer nen. Daraufhin war unter seinen Männern einiges Murren aufgekommen. Später hatte er gesehen, wie sein Erster Offizier sich von Chester eine Spinne auf den Schutzpan zer pinseln ließ. Torkild konnte schwerlich ausgerechnet Chester auffordern, die eigene Malerei abzuwischen. Als griffe eine schleichende Seuche um sich, hatten Spinnen bilder sich im ganzen Raumschiff verbreitet. Susan machte gerade einen hohen Luftsprung, als er das Sportzentrum betrat, vollführte sofort, nachdem sie auf den Füßen landete, einen Überschlag, kam danach in ausbalancierter Körperhaltung wieder in die Senkrechte. Handelte es sich um so etwas wie einen romananischen Tanz? Plötzlich schwang sie sich durch eine Drehung und streckte blitzartig ein Bein — wie zu einem Tritt —, und gleichzeitig wirbelten ihre Arme mit erstaunlicher Geschwindigkeit. »Sehr gut!« kommentierte Torkild mit volltönender Stimme und applaudierte. Susan Andojar schleuderte ihre prächtige Haarfülle über die Schulter und lächelte herüber; die weißen Zähne kontrastierten mit ihrer dunklen Hauttönung. »Danke, Kapitän«, rief sie und nickte ihm zu; die körperliche Anstrengung brachte ihre vollen Brüste zum Schwellen. Torkilds Herzschlag holperte. Er schlenderte zur Antigrav-Bar und lehnte sich dort an. »Sie sind eine äußerst attraktive Frau, Kommandantin«, sagte er, reckte den Kopf höher. Er schenkte ihr sein einnehmendstes Lächeln. Auf Arpeggio hatte es immer einzigartig auf Frauen gewirkt. Damit hatte er sogar die älteste Sattar-Tochter verführt. Gott sei Dank hatte der alte Elam Sattar nie davon erfahren. »Nochmals vielen Dank, Kapitän.« Susan hatte die Stimme gesenkt. Ihre Glutaugen begegneten seinem Blick voller Herausforderung. Torkild lächelte sie erneut an, ließ sie die Grübchen sehen, die sich dabei in sein Kinn kerbten, bemühte sich
um eine jugendlich-frisch-fröhliche Ausstrahlung, sich dessen bewußt, wie die Beleuchtung den Muskelreichtum seines Oberkörpers betonte. »Vor Ihnen habe ich noch nie einen weiblichen Raumschiffskapitän gekannt. Nun werde ich immer vor der Frage stehen, wer von uns wohl gesiegt hätte, wären wir im Gefecht aufeinandergeprallt.« Susan schritt auf ihn zu, und es schüttelte ihn fast aus hoffnungsfroher Vorfreude, als er das Schaukeln ihrer Hüften sah, die muskulös-spannkräftigen Schenkel, die zum wonnevollen Dreieck ihres Venushügels zusammenliefen. Ihr anbetungswürdiger fraulicher Leib bestand aus einer bezaubernden Ansammlung reizvoller Kurven. »Ich hätte dich eliminiert. Du bist tüchtig, Kapitän Alhar, aber kein wirklich kampferprobter Kommandeur. Und ich glaube, du kannst von Glück sprechen. Du bist nie auf die höchste Probe gestellt worden, die Prüfung auf Leben oder Tod.« Was für Nerven sie hatte! »Ich habe, wie Sie sich vielleicht entsinnen werden, ein Patrouillenschlachtschiff vernichtet. Ich war Ngen Van Chows erfolgreichster Kapitän.« Alhar widmete ihr einen Blick äußersten Selbstbewußtseins, legte ein Blitzen der Kühnheit in seine Augen, während er die Muskeln straff te, deren es zum Lächeln bedurfte. Sie brachte es tatsächlich fertig, darüber zu lachen! »Aber du bist niemals Auge in Auge mit dem Tod gestan den. Du hast Glück gehabt. Die Patrouillenleute sind von dir übertölpelt worden. Du hast nie erlebt, wie dein Leben oder deine geistige Unversehrtheit an einem dünnen Faden hingen.« Torkild merkte, daß man ihm seine Skepsis ansehen konnte. »Aber der Anthropologe hat's?« »Und zwar gründlich.« Susans Augen spiegelten Belu stigung. »Er hat einen Tag in der Hölle verleben müssen, und seitdem träumt er jede Nacht davon. Bis heute leidet er darunter, daß man seine Seele gefoltert hat, auf kleinem
Feuer gequält. Was er durchlitten hat, hätte jeden anderen Menschen, den ich kenne, unrettbar zugrundegerichtet, ausgenommen vielleicht einen Propheten oder unseren obersten Kriegshäuptling.« »Mich hätte niemand kleingekriegt. Adel gibt nicht klein bei. Ich bin ein Alhar. Ein Sohn von vierunddreißig Arpeggianer-Generationen. Ich ...« »Leider werden wir's wohl nie erfahren«, sagte Susan in umgänglichem, freundlichem Tonfall. »Und nun ent schuldige mich bitte, Kapitän.« Ich kann es nicht glauben! Sie nimmt mich ... MICH nicht ernst? Ich bin Torkild Alhar. Ist ihr denn nicht klar, wer ...? Dann ist der Zeitpunkt zu verwegenem, schwung vollem Handeln da. »Kommandantin ...« Susan drehte sich um und schaute ihn in wortloser Fragestellung an. »Wie ich schon erwähnt habe, sind Sie eine schöne Frau. Sie sollten wissen, daß mein Herz zu rasen anfängt, wenn ich in Ihre Nähe gelan ge. Vielleicht kann ich Sie von dem Anthropologen für mich gewinnen. Wie viele Schiffe hat er vernichtet? Wo sind seine Nahkampf-Coups? Ich sehe an seinem Gürtel nur einen Coup.« Susan machte große Augen. Ein aufschlußreicher Aus druck! Neben ihrem Mundwinkel zuckte die Wange, als sie mitten im Schritt stockte. Gleich nach der ersten Ver blüffung verengte sie die Lider. Torkilds Herz hämmerte, er trat auf sie zu. »Ich ... ich könnte Sie lieben«, gestand er halblaut. »Sie brauchen einen Mann.« Vor Schreck riß sie die Augen wieder auf. Gut! Über rumpelt. Und nun nachstoßen, Leidenschaft und Verlan gen beweisen ... Sie anheizen, bis in ihr das Feuer der Liebe brennt! Er schlang die Arme um Susan und bog ihren Kopf nach hinten, um sie zu küssen. Die Kraft seiner Umar mung versetzte sie ins Zittern, ihr Leib schmiegte sich straff an seinen Körper, krampfte sich ganz kurz zusam
men, und ... ... Torkild trudelte durch den Raum fort in tief ste Dunkelheit. Fürchterlicher Schmerz störte Torkild Alhars Denkver mögen. Er versuchte die Lider zu heben. Der Atem schien sich in seinen Lungen zu stauen. Vor ihm schwebte ein Gesicht, das immer wieder verschwamm. Endlich erkann te er die durch wiederholte Verwaschenheit schwer identi fizierbaren Gesichtszüge. Die Person war der Anthropolo ge Darwin Pike. Benommen bemühte sich Torkild darum, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihm war, als wäre ihm der Schädel geborsten, darin ein weiter, gezackter Spalt aufgeplatzt. Er hörte sich ein Stöhnen ausstoßen. »Da.« Pikes Stimme klang nach Zuversicht. »Das hat ihn zur Besinnung gebracht.« »Glaubst du, wir hätten ihn warnen sollen?« fragte Chesters Stimme. »Rita hatte ihm geraten, im Umgang mit Susan und mir vorsichtig zu sein. Wir ... äh ... Das Gespräch war durch unser Monitoring erfaßt worden. Naja, weißt du, worüber Rita sich nicht im klaren war, ist ...« Torkild hatte endlich lange genug gezwinkert, um Pikes Miene deutlich sehen zu können. »Wa ... was ist pas siert?« röchelte er aus trockener Kehle. »Sie haben sich an Susan vergriffen.« Mußte der verdammte Anthropologe das mit solcher Erheiterung sagen? Tief in Torkilds Gemüt flackerte Ärger auf; da fiel ihm, als er sich nach der Ursache sei ner Verärgerung fragte, alles wieder ein: Das Gefühl von Susans strammem, festem Leib in seinen Armen. Auf einmal schien das Sportzentrum ihn irgendwie umkreiselt zu haben, und dann ... dann war nichts mehr gewesen. »Sie hat sich gesorgt, sie hätte Sie totgeschlagen.« Pike lachte unterdrückt. »Sie war völlig außer sich.« »Sie dachte ... sie hätte mich getötet?« Trotz der furcht
baren Schmerzen runzelte Torkild die Stirn. »Aber sie ist doch so zierlich ... Nur eine ... eine Frau.« »Hm-hm«, brummte Pike. »Die Kleinen sind am schlimmsten. Sie hauen einen jedesmal um.« Torkild setzte sich auf, starrte rundum; es verdutzte ihn zu sehen, daß er sich in seiner Kajüte befand. Pike und Chester beobachteten ihn aufmerksam; Pike starrte ihm in die Augen. »Die Pupillen haben anscheinend normale Größe, sie sind nicht auffällig geweitet. Trotzdem, ich würde wetten, es liegt 'ne leichte Gehirnerschütterung vor.« »Ich verstehe das nicht ...«, winselte Torkild, dem zumute war, als müßte ihm der Kopf vor Schmerz ausein anderbrechen. »Susan ist in der romananischen Flotte Inhaberin des Kampfsportpokals der Damen. Allerdings geht der Titel hin und her, je nachdem, wie Majorin Sarsa Zeit findet, um sich in Form zu halten.« »Kampfsport?« »Nahkampf. Das war's nämlich, was sie im Sportzen trum geübt hat. Sie trainiert jeden Tag.« »Sie hat getanzt ... Auf Arpeggio ist das eine offene Einladung zum ... zum ... Ich meine, für einen Mann ... daß er ...« Pike fing an zu lachen. In Torkilds Ohren dröhnte das Gelächter, als müßte es ihm den Schädel zermalmen. »Getanzt? Was Sie gesehen haben, war eine außeror dentlich fortgeschrittene Art des Nahkampfs. Das Mäd chen ist mit bloßen Händen gefährlicher als zehn mit Bla stern bewaffnete Männer in einem Zimmer.« Torkild raffte genug Entschlossenheit zusammen, um dem Anthropologen einen Blick zuzuwerfen, der ihn, wären Blicke zu so etwas imstande gewesen, auf der Stelle getötet hätte. Pike begegnete ihm seinerseits, wäh rend Alhar aufstand, mit einem boshaften-schadenfrohen Feixen. »Aber Sie werden's überleben. Ich informiere die
Besatzung. Und wie seltsam es auch ist, sogar Susan macht sich um Sie Sorgen.« Per Handflächenkontakt öffnete Pike die Tür und verließ die Kajüte; das Sum men und Knacken des Servomaten begleitete seinen Abgang. Torkild schluckte, versuchte in seiner ausgedörrten Kehle Gefühl wiederzufinden, Chester saß noch bei ihm, aus seinem flächigen Gesicht leuchtete das ewige Lächeln. »Ich glaube, ich muß sterben.« »In der unmittelbaren Zukunft liegt dein Tod nicht. Ich sehe keine Cusps ab, die während der nächsten zwei Wochen daran etwas ändern könnten.« Chester bediente sich eines gelassenen Tons der Beschwichtigung. »Ich sollte diesen Pike umbringen«, murmelte Torkild. »Wie nennt man das? Messerfehde?« Einen Moment lang blickten Chesters Augen leer gera deaus; danach verbreiterte sich sein Lächeln. »Das wäre keine gute Idee. Er würde dich im Handumdrehen erste chen. Bist du schon bereit, um deine Seele Spinne zu sen den?« »Wer sind diese Menschen? Ich ... ich hatte nichts anderes vor, als der Frau meine Liebe zu zeigen.« Chester hob die Hände. »Kapitän Alhar, sie haben mehr gesehen und erlebt als du. Sie schreiten auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit durchs Leben. Gräme dich nicht. Letzten Endes bleibt die Entscheidung dir überlassen, aber dulde nicht, daß die Gefühle, die du für Susan Smith Andojar empfindest, deine Vernunft trü ben.« »Aber sie ist so schön, so talentiert, und sie hat Char akter ... Sie ist eine der wenigen fähigen Frauen, die ich je ... Beantworte mir eine Frage, Prophet. Hätten sie und ich unsere Kriegsschiffe gegeneinander eingesetzt, wer wäre Sieger geworden? Kannst du das sehen?« »Ich brauche gar nicht hinzuschauen.« Chesters Lächeln verzog ihm jetzt das ganze Gesicht. »Es hatte sich
vor längerem einmal ein Cusp abgezeichnet, der zu so einem Gefecht geführt hätte. Sie hätte dich und deine Besatzung vernichtet.« »Sie ist aber doch bloß eine Frau!« »Das ist wahr. Angesichts deines Verhaltens vor erst einer Weile kann ich wohl kaum anzweifeln, daß dir das Offensichtliche aufgefallen ist.« »Ich bin müde, Prophet.« Torkild schauderte zusam men; er empfand vollständige Niedergeschlagenheit. »Geh und laß mich ausruhen.« »Nein, du bist nicht müde, Torkild. Wir wissen beide, weshalb du willst, daß ich jetzt gehe. Und ich werde gehen.« Am Ausgang zögerte Chester. »Denke daran«, rief er Alhar in Erinnerung, »ich habe dir einmal gesagt, es ist nötig, daß du aus verschiedenerlei Gesichtspunkten unter suchst, wer und was du bist. Möglicherweise findest du nun am günstigsten dafür Zeit, um mit einer derartigen Selbsterforschung anzufangen.« Er war fort, bevor Torkild seine Blasterpistole fand. Natürlich hätte ihm schon das Knattern der Blasterentla dung den wehen Schädel spalten können. Das ungewohn te Gefühl der Minderwertigkeit nahm zu, erfaßte sein gesamtes Gemüt; diese unerfreuliche Beeinträchtigung beunruhigte ihn nachhaltig. »Er kommt mit dem Leben davon«, sagte Pike als erstes, sobald er seine und Susans gemeinsame Kajüte betrat. Susan kauerte gedankenverloren in einem Winkel der Koje, hatte die Beine fest angezogen und das Kinn aufs Knie gestützt. »Ich konnte gar nicht glauben, was für Quatsch er da angefangen hat ...« Die Stirn gefurcht, schüttelte sie den Kopf. »Es kam mir völlig idiotisch vor ...« Pike hockte sich zu ihr, ergriff eine ihrer matten Hände. »Dir ist überhaupt nie klar, wie attraktiv du bist. Du machst Männer wild.«
»Ich habe mich rein instinktiv gewehrt. Ist er schwer verletzt worden?« »Gehirnerschütterung. Er wird 'ne Zeitlang üble Kopf schmerzen haben. Außerdem hat er ein paar Rippenprel lungen und 'n geschwollenen Ellbogen davongetragen. Alles nicht so schlimm wie ich's gefürchtet hatte. Was ist mit dir los, wirst du alt?« Susan hob die Schultern. »Ich konnte ja gar nicht fas sen, was da passierte. Ich habe bloß 'n bißchen die Muskeln angespannt und ihn abgeschüttelt. Zugeschla gen habe ich nicht. Das hat ihm wahrscheinlich 's Leben gerettet.« »Er hätte dich ja wohl nicht im Sportzentrum verge waltigt.« »Ich habe ihn nicht ernstgenommen. Muß ich mich denn mein Lebtag gegen Männer wehren?« »Müßtest du nicht, wenn du meine Frau wärst.« Pike schluckte, wußte plötzlich selbst nicht mehr so recht, woran er war; ihn frappierte, verunsicherte die eigene Offenheit. »Ich ... ich weiß nicht, wieso ich ...« Er betrach tete Susan, blinzelte vor Verwirrung. Sie blickte zu ihm auf, schlang die Arme um seinen Hals. »Ich ... ich wär's gerne«, antwortete sie leise. »Du würdest mich nehmen, obwohl du weißt, ich könnte nicht ...?« »Keiner von uns beiden ist noch normal.« Darwin grin ste. »Ich bin nach herkömmlichem Verständnis auch kein richtiger Mann mehr. Meine Impotenz müßte mir weit mehr Kummer bereiten, als ich zulasse.« »Ich dachte, alle Männer seien deswegen besorgt?« »Vielleicht wär's der Fall, würdest du mich nicht sowieso lieben.« Er beugte den Kopf hinab und küßte Susan. »Laß mich nie mehr allein, und ich werde nicht merken, daß ich unvollkommen bin.« Zu seiner Verblüffung streckte sie sich ihm entgegen und küßte ihn gleichfalls. »Das ist eine Abmachung, die ... für uns beide den gleichen Vorteil hat.« Unversehens
wurde sie sachlich. »Darwin, ich ...« Sie schloß die Augen, versuchte anscheinend irgendeine Seelenqual zu verheim lichen. »Ich muß dir was gestehen ... über deine medizini sche Behandlung. Die Regeneration. Es ist alles meine Schuld, und ich übernehme dafür die volle Verant wortung. Wenn das ganze vorbei ist, wirst du mich viel leicht hassen ... Ich ... Es träfe auf mein volles Verständnis, wenn du dann nicht mehr ...« »Scht ...« Pike legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Du meinst das mit dem Krebs? Darüber weiß ich längst Bescheid. Ich weiß, daß und warum du's getan hast. Che ster und ich haben uns deswegen schon ausgesprochen. Es wäre genauso gekommen, hättest du dich anders entschie den, außer daß ich mich vielleicht weniger für Patan ein gesetzt hätte ... Aber er hatte es verdient, daß ich alles für ihn tat, was ich konnte. Was ist schon 'n kleiner Krebs im Vergleich zu dem Opfer, das er gebracht hat?« »Und die Alpträume? Wie schaffst du es, auch nur in meiner Nähe zu bleiben? Ich meine, obwohl dir bekannt ist, daß ich auf Sirius viele Männer kastriert habe? Obwohl du weißt ... Also, wie erträgst du mich, obwohl ich eine dermaßen zerrüttete, psychotische Hexe bin? Ich habe Schreckliches getan ...« »Ach, laß mal gut sein ...« Darwin lächelte und winkte ab. »Ich liebe dich. Damit hat's sich.« Susans Lippen zitterten; silbrige Tränen quollen ihr in die Augen. »Ich liebe dich sehr. Du ... du darfst mich nie verlassen. Niemals, hörst du?!« *
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PLANUNGSSAAL AN BORD DER PROJEKTIL (WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE VOR DEM ÜBERWECHSELN IN DEN ÜBERLICHTFLUG ZU DEN GASWOLKEN-KOLONIEN
Ree überzeugte sich davon, daß ihm die Aufmerksamkeit aller Gesprächsteilnehmer und Anwesenden galt. Auf
jedem der Holo-Bildschirme, die im Halbkreis unter der weißen Saaldecke hingen, gab es eine andere Person zu sehen; in den Rücken ihrer Konterfeis flossen Hintergrund um Hintergrund, einer dem anderen ziemlich ähnlich, auf seltsame Weise zu einem Gesamtbild zusammen. Die Leute des Admirals hoben den Blick von ihren KommuApparaten, beachteten jede seiner Bewegungen. »Schon durch ihre bloße Natur bilden die GaswolkenKolonien eine reichlich isolierte Raumzone. Selbstver ständlich verbindet Subraum-Transduktionsfunk sie mit dem Rest der Menschheit, aber die Gaswolken als solche werden verhindern, daß Ngen unseren Anflug früher als im letzten Moment bemerkt. Seine Massendetektoren wer den uns kaum eher orten, als wir ohnehin im Bereich der visuellen Erfassung sind.« »Falls der Prophet recht behält«, brummelte Tabi Mi kasu. Ree würdigte sie keiner Antwort. »Höchste Priorität hat beim Anflug die Aufgabe, Station Kobalt zu lokalisie ren. Sie ist das wichtigste Ziel, scheren Sie sich um sonst nichts. Patan hat betont, daß ihre Vernichtung uneinge schränkten Vorrang hat. Und nach dem, was wir im Sirius system erlebt haben, wäre ich geradezu konsterniert, hätte er für uns keine scheußliche Überraschung auf Lager.« »Station Kobalt befand sich in meinem Sektor«, sagte Claude Devaulier. »Wie soll sie in die Gaswolken transfe riert worden sein?« »Vielleicht ist es eine andere Station gleichen Namens. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, was Patan mir gesagt hat. Und daß Ngen höchst bösartig auf die Revolte etlicher seiner Grenzzonen-Basen reagiert hat. Eine ganze Anzahl Welten und Stationen sind durch ihn ausradiert worden. Auf anderen hat man entweder die Rebellion unterdrückt, oder die Insurgenten haben die Padri restlos niedergemacht.« Forsch hob Devaulier den Blick. »Mit anderen Worten, Damen, wir fliegen blindlings ins Ungewisse, und zwar
aufgrund keiner anderen Voraussetzung als der Aussage eines romananischen Mystikers, Ngen sowie seine Kom plizen und Marionetten seien in den Gaswolken-Kolonien zu finden und könnten dort von uns aufgerieben werden. Sie verfügen über keine konkreten Informationen Ihrer Aufklärung. Sie haben nicht die geringste Vorstellung von der operativen Verteilung seiner Streitkräfte oder seiner strategischen Situation. Wir fliegen ohne genaue Erkennt nisse über die Gesamtlage.« Ree schöpfte tief Atem, rang um Beherrschung. »Ja, es stimmt, wir sind ausschließlich auf Patans Wort hin gestar tet. Ich persönlich möchte nämlich Arcturus lieber nicht als Köder benutzen. Sie wissen, was geschähe, falls wir's täten. Hier haben wir eine Chance — eine unsichere, gewiß, aber immerhin 'ne Chance —, wie wir Ngen fassen können, ohne dafür einen Blutzoll von drei Milliarden Menschenleben zu entrichten!« »Damen ...« Tabi wedelte mit der Hand. »Nicht alle von uns sind davon überzeugt, daß Ihre Romananer wirk lich derartig sonderbare psychische Gaben besitzen. Diese Wilden schwärmen überall auf unseren Schiffen umher. Sie versteigen sich zu der Frechheit, die Wände zu beschmieren, und natürlich maßen sie sich an, unsere Crewmitglieder und Sturmtruppen zu ihrer Barbarenreli gion zu bekehren. Es gibt an Bord kaum einen Leutnant, der sich nicht über diese Sudeleien beschwert. Die Diszi plin ist völlig zersetzt worden.« »Dieses Risiko war uns bewußt, als wir uns auf die Übereinkunft eingelassen haben«, erinnerte Amelia sie. Ihr Gesicht zeigte ein wölfisches Grinsen. »Andererseits erweist mein zuständiger Kriegshäuptling sich als sehr tüchtig ... In jeder Hinsicht.« Sollte das ein Seitenhieb sein? fragte sich Ree. War Philip Grita Weißer Adler bei Amelia an die Stelle getre ten, die er, Ree, hatte einnehmen sollen? Eisenauge stand auf; neben seiner hünenhaften Erscheinung wirkte die Gestalt des Admirals beinahe
schmal. »Obristin Mikasu, sei wegen der Disziplin unbe sorgt. Dein Kriegshäuptling wird sie durchsetzen. Sollte jedoch wirklich ein Verstoß gegen die Vorschriften ver übt werden, der die Sicherheit eines Raumschiffs gefähr det, jemand mit Messerfehde drohen oder Offizieren respektlos begegnen, wende dich unverzüglich an mich. Aber ich empfehle dir, deiner Besatzung ungehinderten Umgang mit den Romananern zu gestatten. Damen und ich haben damit im Siriussystem vorteilhafte Ergebnisse erzielt. Dank der Kommu-Kontakte mit meinen Kamera den weiß ich schon jetzt, daß deine Sturmtruppen und Techs sehr fasziniert von den Fortschritten jener unserer Krieger sind, die sich auf ihrem ersten Raumflug befin den. Admiral Ree und ich haben uns beim Aufteilen unserer Veteranen ausgiebig Gedanken gemacht, um in der gegebenen Situation die kulturelle Reibung mög lichst gering zu halten. Kommandeure, vertraut euren Offizieren. Sie sind vollauf dazu befähigt, die großartig ste Streitmacht zu schmieden, die die Welt je gesehen hat.« »Als hätten wir eine Wahl ...« Claude schüttelte den Kopf, warf Ree einen gehässigen Blick zu. »Das haben Sie doch die ganze Zeit hindurch gewußt, nicht wahr? Sie waren nicht damit zufrieden, Ihr eigenes Kommando zu ruinieren, Sie mußten die gesamte Tra dition der ...« »Verdammt noch mal!« brauste Ree auf, schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »Ihre Scheißtradition ist keinen Furz wert! Heiliges Kanonenrohr, wir kämpfen für nichts so alltägliches wie die Patrouille. Wir kämpfen weder fürs Direktorat, oder um der Ehre willen, noch aus Pflichtge fühl. Können Sie das denn überhaupt nicht kapieren?! Wir treten zum Kampf um das nackte Überleben unserer Spe zies an. Ngen ist drauf und dran, die Zivilisation, wie wir sie kennen, zu zerschlagen, er degradiert seine Untertanen in Massen zu Zombies, und alles, was zwischen ihm und der übrigen Menschheit steht, sind wir. Hören Sie damit
auf, Claude! Die Gelegenheit, um sich zu entscheiden, hatten Sie über Welt.« Eisenauge beugte sich vor, hatte eine Hand an den Griff seines Kriegsdolchs gelegt. »Es hatte seine Gründe, daß Maya ben Achmad und Obristin Kuryaken zu uns übergelaufen sind. Sie mußten im Siriussystem Seite an Seite mit uns Krieg gegen Ngen Van Chow führen. Wir wissen, mit was und wem wir's zu tun hatten. Neue Takti ken müssen angewendet werden. Wir müssen uns in eine neue Art der Kriegsführung hineinfinden, die es nach der Logik des militärischen Denkens der Patrouille gar nicht geben dürfte.« »Soviel ist mir klar.« Amelia Ngurnguru nickte, ihr Raubkatzenblick taxierte Eisenauge regelrecht. Nahm sie Maß für ihre Koje? Danach widmete sie ihre Beachtung Devaulier und Mikasu, schaute sie während ihres Diskus sionsbeitrags abwechselnd an. »Kameradin, Kamerad, es ist unverkennbar, daß wir vor einem Problem stehen. Zu einem Teil beruht es auf der schlichten Tatsache, daß wir jetzt hier und nicht woanders sind. Ich glaube nicht an Pro pheten per se. Hingegen hat es sehr wohl den Anschein — man kann es aus Kommandantin Andojars in Berichten gegebenen Darstellungen ableiten —, als hätte dieser Patan über Van Chow und seine neue Aufmarschzone zutreffende Angaben gemacht.« Sie lächelte grimmig. »Ich weiß nicht, ,wie es sich bei Ihnen verhält, aber ich habe neue Blaster und verstärkte Schutzschirme, und wir sind im Einsatz, fliegen mit ver einten Kräften in einen Entscheidungskampf. Wir können hin, wohin wir müssen. Die Gregorius kann uns nicht mehr standhalten. Die Spinnenreligion breitet sich in der Galaxis wie ein Lauffeuer aus. Aufgrund dieser Umstände haben wir die taktischen, strategischen und politisch gesellschaftlichen Vorteile auf unserer Seite, die erforder lich sind, um das Blatt zu wenden und das gesamte Desa ster zu beendigen. Ich stehe zum Admiral und den Roma nanern.«
Claude bog den Kopf zurück. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns das Gemauschel darzulegen, das Sie offenbar mit Ree veranstaltet haben, nachdem Tabi und ich fort waren?« Geduckt beugte Amelia sich vor, als wäre es ihre Absicht, ihn anzuspringen. »Claude, ich lasse mir von Ihnen nicht alles gefallen, merken Sie sich das. Ich habe meine Entscheidung nach Maßgabe des größten Nutzens für die größtmögliche Zahl von Menschen getroffen. In Anbetracht der Drohungen, die wir auf dem Flug nach Welt gezetert haben, und der strategischen Fehler, die uns hinsichtlich Van Chows unterlaufen sind, bin ich meine Irrtümer zuzugeben bereit. Ich kann nicht mehr glauben, daß die Romananer der wahre Feind sein sollen ... Zumal ich selbst welche überall auf meinem Raumschiff im nor malen Dienstbetrieb stehen habe.« Aus Widerwillen gegen die gesamte Situation stieß Tabi ein Schnauben hervor. »Es wird wohl so sein, daß wir alle neue Tricks lernen müssen. Das ganze Universum steht Kopf.« »Also gut.« Eisenauge knüpfte an seine vorherigen Ausführungen an. »Wir wissen nicht, wie lange Ngen sich schon in den Gaswolken-Kolonien aufhält, wenn wir dort anlangen. Darum werden wir bei der ersten Gele-genheit die ST einsetzen. Das erlaubt uns in dem Fall, daß er uns mit ähnlichen wie den Überraschungen aufwartet, mit denen er uns im Siriussystem zu schaffen gemacht hat, die weitestgehende Flexibilität. Ich habe vor, mit den ST« — er rief eine Holo-Projektion der Gaswolken-Kolonien ab — »sämtliche von Padri okkupierten Stationen zu attak kieren. Falls vom Gegner noch keine Stationen eingenom men worden sind, werde ich die Padri-Raumschiffe entern, und notfalls auch die Gregorius.« »Während die Sturmtruppen dem Feind auf diese Weise Schaden zufügen«, ergänzte Ree ihn, »riegeln unse re Schlachtschiffe das Koloniengebiet rundum ab, gewährleisten Feuerschutz und nehmen alles unter
Beschuß, was sich uns entgegenstellt. Ich erwarte, daß es uns keine Schwierigkeiten verursachen wird, Station Kobalt zu orten, ins Visier zu nehmen und zu zerstören.« »Was können Sie über etwaige Phänomene der Zielab weichung und Streustrahlung innerhalb der Gaswolken sagen?« fragte Tabi. »Gute Frage. Bei geringer Gefechtsentfernung dürf ten keine Komplikationen auftreten. Die dortigen Kolo nien sind zu dem Zweck gegründet worden, den Gaswol ken die Elemente zu melken. Im Umkreis der Stationen ist der Staub fast völlig aufgesaugt worden. Während ihrer Abraumtätigkeit bewegen die Habitate sich ständig weiter. Im Innern der Gaswolken müßte das All kristall klar sein.« Ree musterte die Mienen der Patrouillenkommandeu rinnen und des Obersten; er konnte nachvollziehen, wie schwer ihnen das Umdenken fiel. Er hatte sie zu seinen Gefangenen gemacht, ihre Raumschiffe vieler altvertrau ter Gesichter beraubt und ihnen schließlich eine nur teil weise Befehlsgewalt zurückverliehen. Wer würde ihn am raschsten hintergehen? Claude? Tabi? Oder die bezau bernde, ehrgeizige Amelia, die sich gegenwärtig als seine stärkste Bundesgenossin aufspielte? »Das wär's dann wohl. Wir wechseln möglichst bald in den Überlichtflug über. Wenn es nichts mehr zu erörtern gibt, erkläre ich hiermit die Besprechung für beendet.« Langsam nacheinander erloschen die Holos; danach wirk ten die weißen Wände des Planungssaals für kurze Zeit ganz besonders kahl. »Ich wäre lieber Herr einer Schlangengrube als Ober kommandierender dieses Haufens«, murrte Ree. »Sie neh men mir übel, was ich Ihnen zugemutet habe.« »Dir ist es einmal ähnlich ergangen.« Eisenauge hatte ein sardonisches Lächeln aufgesetzt. »Ich entsinne mich an einen bestimmten Augenblick in deiner Kajüte. Leeta und ich waren dort zu Verhandlungen. Ich werde nie dei nen Gesichtsausdruck vergessen, als ich gerade mit mei
nem Kriegsdolch Majorin Reary aufgeschlitzt hatte. Du hast ausgesehen, als hättest du einen Felsenegel ver schluckt.« Ree erinnerte sich ebenfalls daran und lachte. »Seitdem ist viel passiert, was? In Echtzeit ist es mir nicht so lange vorgekommen. Verdammt noch mal, aber sieh dir mal die Veränderungen an, die sich im Dasein der Menschheit vollzogen haben! Und wir stehen immer noch an vorder ster Front, Kriegshäuptling. Ich frage mich, ob wir irgend wann einmal eine dauerhafte Stabilisierung erleben wer den, oder nicht.« Eisenauge schaute zerstreut über den Konferenztisch hinweg ins Weite, hatte seine narbigen Hände gefaltet, rieb an den beiden Fingerstümpfen der Linken, romana nischen Symbolen der Trauer. »Ich denke mir, es liegt al les in Spinnes Hand. Was kommen muß, das kommt. Die Cusps werden entschieden, Damen. Unser freier Wille bedeutet nur einen winzigen Teil des Gesamten. Wir le ben inmitten einer gewaltigen Umwälzung. Hat man ein Feuer erst mal entzündet, kann man nicht bestimmen, wohin der Rauch weht.« »Und Spinne macht sich in der Galaxis breit.« Ree seufzte und schlug sich die Hände auf die Schenkel. »Komm, ich hab noch 'n kleinen Rest von dem siriani schen Scotch.« Der Kriegshäuptling nickte und folgte dem Admiral aus dem Planungssaal, warf beim Hinausgehen, als sich die Panzertür hinter ihnen schloß, einen letzten Blick der Spinne zu, die jemand auf die Außenseite der Tür gemalt hatte. *
* *
KOMMANDOBRÜCKE DER SPINNES DOLCH; IRGENDWO IN DEN GASWOLKEN
»Verdammt noch mal, Leutnant, was soll das heißen, >wir sind BLIND?<« donnerte Majorin Rita Sarsas Stimme durch die Kommandobrücke.
Will Hanson hätte wohl den Kopf eingezogen, wäre er nicht wegen der Situation so beunruhigt gewesen. Er checkte stöhnend die dunklen Monitoren. »Majorin«, ant wortete er halblaut, indem ihm sichtlich der Mut sank, »wir müssen zu weit geflogen sein. Wir sind in den Gas wolken aus dem Überlichtflug heruntergewechselt. Momentan durchqueren wir sie mit Lichtgeschwindigkeit. Ich meine, für diese Verhältnisse ist draußen relativ 'ne Menge Masse vorhanden. Die Reibung hat uns außen alles weggesengt, und die Rumpftemperatur steigt. Unsere Schutzschirme sind erloschen. Wir haben keinerlei Abschirmung mehr gegen die ...« »Volle Kraft auf Gegenschub!« schrie Rita, kaum daß sie die Tragweite des Zwischenfalls erfaßte. »Den Kahn mit allem bremsen, was wir aufbieten können! Pusten Sie mit der Reaktionsmasse ein Loch in diese Suppe!« Unter der Wucht der plötzlichen Abbremsung begann die Spin nes Dolch zu rütteln und zu schlingern. Wütend starrte Rita die leeren Monitor-Bildflächen an. Nicht immer verlief der Überlichtflug nach dem Lehr buch. Nach der Beschleunigung auf Lichtgeschwindigkeit hielten Stasisfelder das Raumschiff zusammen, wenn es die Lichtmauer überschritt und in den Bereich >außer halb< des Universums vordrang, das die Menschen als normal bezeichneten. Massenscanning ermöglichte die Navigation, und während es nach Bord- und Normzeit Wochen dauerte, das >Außerhalb< zu durchfliegen, ver hielt es sich anscheinend so, daß sie den Kosmos unter halb der Lichtgeschwindigkeit objektiv lediglich für ein paar Hundertstelsekunden verließen. Im Moment krampfte äußerste Betroffenheit Ritas Magen zusammen: Ihr war klar, daß die Miliken irgendwo einen halben Lichtmonat hinter ihr ins Normaluniversum herabgewechselt sein mußte. »Auf Optik schalten«, rief Rita und hoffte, daß die Rei bung mit den Sensoren und Schutzschirm-Generatoren nicht auch die Linsen zerschmolzen hatte.
Sie fühlte Andruck ihren Körper in den Konturensessel pressen, während Mosche Raschid jedes bißchen an dispo nierbarer Reaktionsmasse auf Gegenschub durch die enor men Triebwerke jagte, die dem hochfrisierten ehemaligen FLF-Transportschiff zwecks Lenkung zur Verfügung stan den. Die visuelle Außenübertragung kam zustande — bei der Übermittlung erfolgte ein Ausgleich der Verzerrun gen, die auf die Weise zurückgingen, wie das Licht sich am Raumschiff krümmte und an ihm vorbeifloß —, und Rita erhielt ein Bild, das sie an einen Flug durch düste ren Qualm erinnerte. Ein greller, zerfaserter Helligkeits strahl durchgleißte die Düsternis, loderte hinter dem Schiff her, indem auf dem erhitzten Rumpf flüchtige Gase verglühten. »Hanson? Wie lang wird's schätzungsweise dauern, die Sensoren zu reparieren? Haben Sie 'ne Vorstellung, wie wir diese verdammten Bojen finden könnten, die die Kolonien positioniert haben?« »Zu den Sensoren kann ich Ihnen nichts sagen, bis wir ausreichend abgebremst haben und der Rumpf genügend abgekühlt ist, um 'ne Außenbordinspektion vorzunehmen, Majorin. Was die Bojen betrifft, müßten sie visuell erkennbar sein.« Ein Fluch entfuhr Rita; sie schwang sich aus dem Kommandosessel und stapfte zu ihrer Kajüte. Ihr blieben praktisch die Hände gebunden, bis das Schiff seine unglaubliche Geschwindigkeit reduziert hatte. Sie hob den Blick zu dem Spinnenbild, das sie persönlich auf die Deckenverkleidung gemalt hatte, schnitt eine vorwurfs volle Miene. »Ich hoffe bloß, du hast 'n guten Grund für diesen Scheiß. Manchmal möchte ich dich noch immer liebend gern in den Hintern treten.« Diese Bemerkung rief ihr Erinnerungen wach, an die zu denken sie seit längerem einfach keine Muße mehr gefunden hatte. Die Drohung, Spinne einen Tritt ins Gesäß zu verpassen, war vor langem einmal — oder
wenigstens schien es geraume Zeit her zu sein — eine ständige, scherzhafte Redensart zwischen ihr und Eisen auge gewesen. Aber jetzt, während das Raumschiff weit gehend im Blindflug durch die Gaswolken raste, mit voller Kraft dezelerierte, verging Rita die Lust zu Spä ßen, sie fragte sich, wie sie je noch das Rendezvous mit dem Admiral einhalten sollte. Eisenauge befand sich bei Ree und würde seine Sturmtruppen befehligen. Unter dessen spukte Majorin Rita Sarsa irgendwo in den Gas wolken umher, ohne Subraum-Transduktionsfunk betreiben, ohne den Echtzeit Ablauf der Ereignisse mit verfolgen oder die Kolonien finden zu können, und suchte den Gegner. An Bord der Spinnes Dolch zog das Dasein sich von nun an auf unerfreulichere Weise hin, während Rita vor Erbitterung schäumte. Die Gravo-Kompensatoren wurden bis an ihre Belastbarkeitsgrenze beansprucht, und hekti sche Patrouillentechniker versuchten die für die Schiffs führung hochwichtigen Sensoren zu erneuern, doch hatten sie wenig Glück. Durch die anfängliche Reibungshitze waren fast alle Außeninstrumente weggebrannt worden, und sie hatte einen Zentimeter rygellianischen Graphit stahls weggeschmolzen wie Wachs. Rita verminderte die Dezeleration, während Hanson trotz des gespenstischen Vorüberfegens von Gas und Staub mutig zur Außeninspektion hinausstieg. In der Bordklinik pflasterte man ihm die erlittenen Mikrotreffer zu, ehe er Meldung erstattete. »Wir müssen alles völlig neu montieren, Majorin. Vor allem wird eine ganze Garnitur Antennen zu improvisieren und auf demRumpf zu installieren sein.« »Gibt's in diesem Eimer denn keine Ersatzteile?« Die Wartungsabteilung teilte ihr mit, daß man keine dabei hatte. Versorgungseinheiten trafen sich stets im freien Raum mit den riesigen Patrouillenschlachtschiffen, um sie mit Nachschub zu beliefern. Auf solche wie die jetzigen Vorgänge waren sie nicht eingerichtet. Rita
knurrte verdrossen vor sich hin, ließ den Gegenschub wieder verstärken, kochte vor Wut wegen der Zeit, die sie verloren. Fünf Tage später begegneten sie einem Sammel- und Verarbeitungsschiff der Gaswolken-Montanindustrie. »Fremder Raumflugkörper visuell gesichtet«, rief Mosche. »Können wir ihn einholen?« fragte Rita, war mittler weile auf jede beliebige Art von Auskunft gefaßt. »Dürfte ein, zwei Tage dauern«, antwortete Mosche, der den Raumflugkörper in optischer Vergrößerung betrachtete. »Wir müssen in weitem Halbkreis beidrehen.« Rita hatte das Empfinden, daß die Stunden sich ent setzlich in die Länge dehnten, während sie versuchte, aus Dezeleration und Verstreichen relativer Zeit zu errechnen, welches Datum man gegenwärtig auf der Erde haben mußte. Das annähernd richtigste Resultat besagte, es müßte ein Datum irgendwann fünf Tage vor oder nach dem festgelegten Rendezvous-Termin sein. Auf den Bildschirmen wirkte das Sammel- und Verar beitungsschiff riesig, während die Spinnes Dolch sich längsseitsschob, doch in Wirklichkeit war es neben dem großen Kriegsschiff eher winzig. Rita zählte zu den ersten, die durch den Schleusentunnel hinübereilten. Beinahe geriet sie ins Trudeln, als sie in die Nullschwerkraft des kleinen Flugkörpers gelangte. Drei Besatzungsmit glieder, Menschen mit zartem Körperbau und langen Gliedmaßen, blickten ihr entgegen, in der hellen Beleuch tung schimmerten ihre rasierten Schädel fast. Vor Schreck bleich, die Augen weit aufgesperrt, standen sie zusammen gedrängt in einem Winkel des Steuerraums und warteten aufs Kommende. »Wir sin friedlig«, beteuerte einer der beiden Männer flehentlich. »Bitte, wir ...« »Spinne zum Gruß!« Rita verbeugte sich, versuchte sich einigermaßen auf die Sitten der Gaswolkenbewohner zu besinnen. »Ich bin Majorin Rita Sarsa von der Direkto
ratspatrouille. Wir sind mit dem romananischen Kriegs schiff Spinnes Dolch auf Feindflug. Beim Einflug in die Gaswolken sind unsere Scanningsensoren ausgefallen. Es ist unbedingt notwendig, daß wir zu den Kolonien weiter fliegen können. Die Padri sind im Anflug, um Ihnen die Freiheit zu rauben und Sie zu ihren Sklaven zu machen. Wir kommen, um Ihnen dagegen Beistand zu leisten.« Rita unterdrückte den Drang, einfach draufloszu schnauzen, während die drei sich darüber unterhielten; ihr Dialekt war ihr unverständlich. »Wir helfen«, gab einer der hochaufgeschossenen, dünnen Männer schließlich Antwort. Sein Fleisch hatte das dicklich-pralle Aussehen, das nahezu an eine zum Platzen reife Frucht erinnerte, wie es die meisten Men schen aufwiesen, die vorwiegend in Schwerelosigkeit lebten. »Können Sie uns zu den Gaswolken-Kolonien lotsen? Wie lange würd's dauern?« »Wir lotsen«, versprach der Mann; der Blick seiner eulenhaften Glubschaugen huschte hin und her zwischen Rita und Mosche, der am Eingang stand. »Dauert nigtlang. Sie okay. Spinne auf Unifohm. Ihre Seel is Gott. Unser Seel is Gott.« Rita zermürbte sich darüber den Kopf, für welche Frist an Echtzeit sie schon durch Gas und Staub schweben mochten, dachte über eine Möglichkeit nach, wie sie Kolonisten, die vermutlich noch nie von Terra gehört hat ten, einen Begriff von der Erdzeit vermitteln sollte. End lich gab sie auf und lächelte freundlich. »Wir danken Ihnen.« »Sie folgen?« fragte die sehnige, zwei Meter sechzig große Frau. »Wir nun lotsen?« »Wir folgen Ihnen, ja. Vielen Dank noch mal. Können wir Ihnen mit irgend etwas aushelfen, das Sie brauchen?« »Is Prophet da?« erkundigte sich der eine Mann gespannt und mit Glanz in den Augen. Rita lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, das tut mir
leid, und zwar aufrichtig, denn ich hätte selbst lieber einen an Bord.« Das Sammel- und Verarbeitungsschiff flog voraus, beschleunigte mit maximaler Kapazität, nämlich ganzen null Komma drei Ge. Berücksichtigte man den Andruck, den die Kolonisten als waghalsig empfanden, bedeutete das für sie einen geradezu selbstmörderischen Schub. Schon bei einem Standard-Ge fielen sie um, splitterten ihnen die Knochen im Leib, platzten die Schädel, konnten ihre Arterien den Druck nicht mehr verkraften, hauchten sie den Geist aus. Schleppend verstrich Zeit. Währenddessen arbeiteten Mosche, Hanson, Sam Gel bes Bein sowie die restliche Crew am Zurechtbasteln von Sensoren, die es ihnen gestatten sollten, in der Entschei dungsschlacht, zu der sie hofften, nicht zu spät einzutref fen, um daran teilzunehmen, wieder die Feuerleitcomputer zu benutzen. »Ich glaube, ich drehe durch!« schimpfte Rita am Ende einer ihrer Dienstschichten. Mosche hob den Blick, Verständnis glomm in seinen Augen. »So ist uns allen zumute, Majorin. Wenn Sie die Plattheit entschuldigen wollen, Gnädigste, aber ich denke mir halt, wir treffen eben ein, wann wir eintref fen.« Aus ihren grünen Augen musterte Rita ihn durch zu Spalten verengten Lidern. Mosche wölbte nur einsichtig die Brauen. Rita beschäftigte sich damit, im kleinen Casino, wo sie für diesen Zweck die Gravitation so hoch wie möglich schaltete, Nahkampftechniken zu üben. Das Schwitzen lenkte sie ab. Soweit Rita es rechnerisch bestimmen konnte, vergin gen mit fürchterlich quälender Langsamkeit zwei weitere Tage Normzeit, ehe die Schiffe die erste Boje passierten. Weil ihr die Navigation innerhalb der Gaswolken ungeläu fig war, hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon,
was das bedeutete. Einen Tag später flogen sie an einer zweiten Boje vorbei. »Wie kommen Sie mit den neuen Sensoren voran?« »Gegenwärtig sind schon ungefähr vierzig Prozent funktionstüchtig, Majorin«, antwortete Hanson, wartete nervös auf ihren Kommentar. Rita überlegte, zog mit einem Finger die Spinnendar stellung auf dem Brustteil ihres Schutzpanzers nach; dann lachte sie. »Ich weiß, Sie tun alles, was Sie können. Aber es ist nun einmal verdammt gut möglich, daß wir die wich tigste Schlacht der gesamten Menschheitsgeschichte ver säumen, und weder Sie, Mosche noch ich sind dazu imstande, irgend etwas dagegen zu tun, außer daß wir her umschimpfen. Tut mir leid, aber meine Nerven sind wirk lich arg verschlissen.« Herzlich lächelte Hanson. »Klar, Majorin, wir verste hen das. Was wäre, wenn letztendlich alles von uns abhin ge, wir den Ausschlag geben könnten? Vielleicht verläßt der Admiral sich auf uns, und wir bummeln hier im Dunst rum.« Rita nickte, gab ihm gutmütig einen Boxhieb gegen die Schulter und nahm erneut in ihrem Kommandosessel Platz. In der Tat war es ein zwar schwerer, jedoch begreif licher Fehler, der Rita unterlief. Wer hätte der Besatzung von Spinnes Dolch, nachdem sie so lang in den Gaswol ken umhergeirrt war, Doppelschichten geschoben hatte, um die fortgesengten Instrumente zu ersetzen, einen Vor wurf machen mögen? Aufgrund durchgebrannter Konduk toren vermochte keine exakte Zeitbestimmung durchge führt zu werden. Zudem hatte die seelische Bürde des Bewußtseins der bevorstehenden Schlacht den Effekt, daß sich die Zeit in schier unerträglichem Maß hinzudehnen schien. Das Sammler- und Verarbeitungsschiff flog scheinbar langsamer voraus, als Phybitkristalle sich durch ein Reagenzglas bewegten. Infolgedessen ahnte Rita nicht, als ihr Kriegsschiff schließlich in den weiten, leeren Raum
im Innenbereich der Gaswolken-Kolonien steuerte, daß sie um einen Tag zu früh eintrafen. *
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KOMMANDOBRÜCKE DER GABRIEL, GASWOLKEN-KOLONIEN
Bei Torkild Alhars Verwünschung setzte Susan sich stok ksteif auf; sein Fluch war das erste Vorzeichen, daß irgend etwas schieflaufen mochte. Sie hatte sich gerade die riesige Station genauer ange sehen. Gigantische Reaktionsmassenbehälter umgaben sie, wiesen allesamt auf eine kleine Kugel, die den Ein druck hinterließ, am Ende einer Stange zu stecken. Von jedem der Behälter führten fünf in bogenförmiger Anord nung aufgereihte, große Halbringe aus Metall auf die Kugel zu. Die ganze Anlage bot einen regelrechten Blick fang, ähnlich wie einst auf Terra die Kathedralen. »Das ist Station Kobalt«, hatte Torkild festgestellt. »Ich war es, der sie erobert hat ... Allerdings mitten im Ambrosius-Sektor. Wie ist sie bloß hierher gelangt?« »Muß unter Verwendung dieser Reaktionsmassenbe hälter als Energielieferanten nach hier transferiert worden sein. Wozu sollen sie dienen?« Torkild zuckte die Achseln. »Als ich sie eingenommen habe, sind die Masten und Türme noch nicht vorhanden gewesen.« Es hatte nicht lange gedauert, um den Zweck herauszu finden. Alle drei bis vier Stunden einmal begannen Vibra tionen die zyklopische Vorrichtung zu durchschwingen, und die Detektoren zeigten starke energetische Aktivitäten an. Gleichzeitig materialisierte irgendwo in den Gaswol ken Masse augenblicklich ortbarer Größenordnung und verschwand sofort. Wenig später war ein Aufblitzen zu beobachten, der Dopplereffekt konnte in den Kolonien gemessen werden. Offensichtlich handelte es sich um eine neuartige, furchtbare Waffe. Entschlossen entzog Susan den Scanningdaten ihren Blick.
»Kennen Sie das Schiff?« fragte Torkild. Noch immer stand, sobald er es mit Susan zu tun hatte, Scham in seinen Augen. »Es ist 'n Patrouillen-Versorgungsschiff. Wir haben Ngen etwa zehn dieser Frachter aus seiner Machtsphäre weggekapert. Diese Einheit muß irgendwie durch die Mangel gedreht worden sein, es sind keine Markierungen mehr sichtbar, und der Rumpf ist völlig glatt.« Plötzlich stand sie auf, ihr Gesicht wurde aschfahl. »Wessen Schiff mag das sein? Ngens? Unseres? Spinne sei gnädig, wenn's unsere Leute sind, befinden Sie sich dort völlig wehrlos auf dem Präsentierteller.« »Sie müssen in die Gaswolken eingeflogen sein und dabei die Orientierungsbojen verpaßt haben«, sagte aus dem Steuerraum der Pilot. »Ich hab's einen von Ngens Kapitänen erwähnen hören.« »Können wir sie per Richtstrahl kontaktieren?« wollte Susan wissen. »Sie sitzen in der Falle.« »Bruno? Verbinden Sie uns mit ...« »Funkspruch von der Deus, Kapitän.« Torkild zog die Schultern hoch. »Durchschalten!« »Bringen Sie das Schiff auf!« erscholl ein Befehl Ngens. »Gabriel! Malachias! Uriel! Vorwärts! Fangen Sie es ab und nehmen Sie's ins Visier!« »Los!« drängte Susan in höchster Beunruhigung. »Vielleicht schaffen wir's, es >aufzubringen<. Möglicher weise läßt sich daraus 'n Vorteil ziehen.« Sie fühlte, wie ihr Herz raste. Wer konnte das sein? Es mußte sich um eine den Patrouillenkommandeuren unter stellte Einheit handeln. Versorgungsschiffe der Projektil befanden sich nicht im hiesigen Raumsektor. »Was ist das?« fragte Torkild. »Sie setzen ST ein«, sagte Susan. »Funken Sie per Richtstrahl den ST auf nächstliegendem Kurs an.« Fast unverzüglich erschien auf ihrem Kommu-Bildschirm ein Gesicht. »Mosche«, rief Susan. »Ihr seid von Streitkräften Ngens umringt. Keine lange Rederei, kapitu
liert! Ich bin auf der Gabriel. Wir werden uns was ausden ken.« »Na gut«, nuschelte Mosche nervös. »Wir kommen an Bord.« Torkild kontaktierte, während Susan sich aus dem Auf nahmebereich der Kameras hielt, die Deus. »Ein ST hat kapituliert«, meldete Alhar. »Wir hangarn ihn und nehmen die Besatzung gefangen. Diese Patrouillensoldaten sind Memmen, Messias. Ich brauchte sie nur an die Vernich tung der Ganges zu erinnern, und schon haben sie sich meinem Willen gebeugt.« »Ausgezeichnet, Kapitän«, säuselte Ngen. Reglos schaute Susan zu, wie aus dem anderen gestar teten ST Blasterstrahlen zuckten. Er verglühte im Abwehr feuer. Einen Moment lang vermittelte das Patrouillen raumschiff den Eindruck, als wüßte man auf der Komman dobrücke nicht weiter. Plötzlich richtete es zusammenge faßten Blasterbeschuß auf einen umgebauten FLF, doch die Strahlbahnen verfehlten den Rumpf, erzeugten ledig lich mit einigen Streifschüssen schwaches Gewaber der Schutzschirme. »Daneben!« Torkild stützte die Ellbogen auf und schüt telte den Kopf. »Das ist ja nicht zu glauben.« »Was den Rumpf dermaßen verkokelt hat, muß auch die Instrumente der Feuerleitcomputer beschädigt haben.« Susan spürte äußerste Anspannung, ihr Herz wummerte gegen die Rippen. Anscheinend korrigierte man jetzt die Zielerfassung; es dauerte und dauerte. Da bohrten sich violette Strahlen in die noch leicht silbrigen Rumpfflächen der Einheit, in bauschigen Wolken brodelte Atmosphäre heraus. Susan wartete; angestauter Atem brannte ihr in den Lungen. Eine Reaktorexplosion blieb aus. Von zwei Sei ten näherten sich vorsichtig Shuttles dem außer Gefecht gesetzten Raumschiff, ein Schwarm von Gestalten in Raumanzügen entquoll den Flugkörpern, sie verteilten sich dank der Steuerdüsen ihrer Anzüge ums ganze
Schiff. In der visuellen Vergrößerung konnte Susan beobachten, wie aus den in den Rumpf geschossenen Lecks Crewmitglieder zum Vorschein kamen. Ngen machte Gefangene. »Heiliger Spinne, nein...!« Es schauderte Susan; sie fühlte sich, als müßte sie in Ohnmacht sinken. Zur gleichen Zeit näherte sich der ST, dockte in einem Hangar der Gabriel an. Susan eilte im Laufschritt zur Schleuse. Mosche Raschid sprang durch den Schleusen tunnel, überschlug sich in seiner Hast, hatte jedoch den Blaster schußbereit. Sobald er Susan erkannte, grinste er vor mit Unbehagen vermischter Erleichterung. »Wie kommt ihr hierher? Wo ist die Majorin?« »Sie ist auf der Spinnes Dolch geblieben.« Raschid zog eine grimmige Miene. »Zu Ngen sind Sie also noch nicht vorgedrungen?« »Er hat uns noch keine Audienz gewährt. Wir sind schon seit fast einer Woche da. Torkild hat solches Muf fensausen, daß er Scheiße fressen könnte.« Susan schalte te einen Kommu-Apparat ein, ließ die Kommu die HoloAufnahmen vergrößern, sah sich einige offenbar bewußt lose Gefangene an, die man durch die Shuttle-Luken schubste. »Da!« schrie Susan auf, zeigte mit dem Finger. »Das ist ihr Schutzanzug. Den erkenne ich überall. O Spinne, nein! Nicht Rita ... Nicht in Ngens Hände ... Nein!« Sie rang mit Tränen erbitterter Wut, die ihr in die Augen quollen. Darwin kam vorbei, sah Mosche und stutzte, begriff plötzlich, daß der Hauptmann eigentlich im fernen Arctu russystem sein müßte. Sein Blick fiel auf den Monitor, und gleich durchschaute er die Situation. »Sie haben Rita«, rief Susan ihm zu. »Das bedeutet, Ngen hat sie.« Fassungslos vor Verstörung stand Darwin Pike da, der Mund hing ihm leicht offen. »Und das ist noch nicht alles«, sagte Mosche. »Der Admiral wird mit einer ganzen Flotte über diese Gegend
herfallen wie eine Lawine von Neutronensternen. Falls Ngen irgendein Besatzungsmitglied psycht, fliegt das Vor haben sofort auf.« Darwin war leichenblaß geworden. »Dann müssen wir unverzüglich handeln. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zuzuschlagen, ehe er die Gefangenen verhören kann.« Kalte Furcht rann wie Eis an Susans Rückgrat entlang. Ungebeten und unerwünscht wisperte aus den Tiefen ihres Bewußtseins Ngens Stimme auf sie ein. »Lust, meine lieb ste Susan ... Laß mich dich Lust lehren. Dein Körper gehört mir ... für immer ... für immer ...«
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HAUPTSCHLEUSE DER GABRIEL, GASWOLKEN-KOLONIEN
Ein Drängen und Schieben dicht zusammengepreßter menschlicher Leiber erfüllte den Sturmtransporter, in den man mehr als das doppelte des von den Vorschriften emp fohlenen Sturmtruppen-Kontingents gepfercht hatte. Allerdings rechnete man mit keinerlei wilden Flugmanö vern. Der vorgebliche, ganz einfache Auftrag lautete: Transfer von Gefangenen. Die wirkliche Aufgabe war der Vorstoß in Ngens Flaggschiff Deus. Falls nicht ein unvor hergesehener Zwischenfall das Vorhaben entlarvte, konn ten sie mit Spinnes Gnade das Schlachtschiff unter dem Mantel der Irreführung im Rahmen des ganz normalen Verfahrens betreten. Der ST sollte in einem regulären Hangar anlegen, und solange kein unerwarteter Vorfall es verhinderte, gedachte man so vorzugehen. Man brauchte sich nicht mit dem zugespitzten, gepanzerten ST-Bug durch den Schiffsrumpf zu rammen, wie es bei gewaltsa mem Entern geschah. In den beengten Mannschaftsräumen wimmelten Patrouillensturmtruppler Schulter an Schulter mit arpeg gianischen Besatzungsmitgliedern durcheinander. Geräuschvolles Klirren der Schutzpanzer durchdrang das Stiefelscharren, Klappern von Stauraumdeckeln und Klicken von Gurtverschlüssen. In sämtlichen einhundert Metern Länge des gefährlichen, nadelspitzen Flugkörpers herrschte die größte Konfusion; das Gewirr zahlreicher Stimmen, die eine die andere zu übertönen versuchten, hallte durch die Räume und Gänge, während Männer und Frauen sich mit Waffen versahen. Ein metallisches Odeur durchzog die jetzt schon abgestandene, schwül erwärmte Luft, und es roch nach dem Schweiß der Spannung, die sich in Menschen aufbaute, kurz bevor ihre Hände Tod und Verderben säten. Gelegentlich malte da oder dort jemand in augenfälliger Leuchtfarbe eine Spinne aufs
Reinweiß eines Schutzpanzers. Romananische VeteranenKrieger betasteten die Coups an ihren Gürteln, trachteten inmitten des Lärmens nach einem Moment innerer Stille, um sich mit der mystischen Geistkraft ihrer Visionen wiederzuvereinen. »Ngen befindet sich noch auf Station Kobalt.« Tor kild beugte sich vor, schloß umständlich die Schnallen des ihm unvertrauten Schutzpanzers. »Wir haben Zeit.« Unmittelbar nach Ritas Gefangennahme war der Mes sias zur Station geshuttelt. Man hätte meinen können, alles in den Gaswolken drehte sich um die enorme Station mit ihren zusätzlichen, seltsamen, mit Energiekabeln und Kondensatoren garnierten Außenaufbauten und -installa tionen. Nach Ngens Eintreffen auf der Station hatten dort Pulsationen und Vibrationen eingesetzt, helle Ausschläge auf den Scanning-Monitoren ergaben Echos starker Mas senfluktuationen. »Station Kobalt?« wiederholte Mosche, blickte über rascht auf; er prüfte gerade den Sitz der übergestreiften arpeggianischen Uniform. »Wo haben Sie von der Station erfahren?« »Was weißt du darüber?« Susan unterbrach ihr Schuß fertigmachen eines schweren Blastergewehrs. »Wir halten sie seit Tagen unter Beobachtung. Was wird dort betrie ben? Wir haben nicht die geringste Ahnung, was ihr Zweck sein soll.« »Bevor er starb, hat der Prophet gesagt, als allererstes müßte Station Kobalt zerstört werden. Ihre Vernichtung sei unbedingt nötig. Warum, weiß ich nicht.« Unruhig schaute Mosche, ein Glimmen in den dunklen Augen, von Gesicht zu Gesicht. Susan atmete tief durch, schob die dicke Batterie ins Fach, ehe sie so ruckartig die Klappe schloß, daß es knall te. »Der Admiral greift am siebten Juni Erdzeit an, hast du gesagt? Mosche, wir haben hier keinerlei Ahnung, wel ches Datum jetzt auf Terra ist. Aber wenn wir einen Sub
raum-Transduktionsfunkspruch absetzen, wird Ngen den Grund wissen wollen.« »Ree kann praktisch jede Sekunde hier aufkreuzen«, sagte Darwin nachdenklich. »Das Ding da« — er fuchtel te in Richtung der Station Kobalt — »ist anscheinend ein Massenabstrahler. Im Funk nennen sie ihn >Deus' Faust.<« Einen Augenblick lang schwieg Susan, rückte auf Tor kilds Schulter den Gurt zurecht, bevor sie das Blasterge wehr daran festhakte. Die Stirn gefurcht, schüttelte sie den Kopf. »Nein, erst müssen wir Rita rausholen.« Sie stülpte sich den Helm über, checkte die Funktionen. »Fer tig?« Mosche öffnete den Mund, um zu widersprechen; doch da bemerkte er den Ausdruck in Susans Augen und nickte, wenn auch sichtlich unzufrieden. Karabinerhaken klic kten, als er auch sein schweres Blastergewehr am Traggurt befestigte. »Na gut, dann also los!« Torkild schenkte Susan einen letzten Blick, blieb dazu unfähig, in diesem entscheidungsträchtigen Moment seine Empfindungen zu artikulieren. Stumm strebte er nach vorn, gab da und dort jemandem einen Klaps auf die Schulter, riß den einen oder anderen Witz mit den nervö sen Arpeggianern. Mosche, der den ST pilotieren sollte, winkte Susan zu. »Spinne sei mit Ihnen, Kommandantin.« »Und mit dir, Mosche.« »Den Schleusentunnel noch kurz montiert lassen«, drang eine Stimme aus der Kommu. »Was, zum ...?« begann Susan. Wer erlaubte sich aus gerechnet vor dieser Aktion Bummelei? »Wir haben abgelegt«, folgte gleich darauf eine Durch sage. Torkild zuckte die Achseln, betrat die ST-Zentrale, schaute umher. Ihn verblüffte dieser Flugkörper. Selbst verständlich hatte jeder schon von ST gehört. Die Berich
terstattung über den Krieg im Siriussystem hatte vielerlei Holo-Aufnahmen und Beschreibungen enthalten. Trotz ihrer geringen Ausmaße umfaßte die Zentrale ein ein drucksvolles Sortiment an Kommu-Anlagen und Monito ren. An der Rückwand stand der Kommandosessel, konn te jeder der ringsum verteilten Konsolen zugedreht wer den. Vorn rechts war der Pilotensitz; links hatte vor seinen Zielcomputern der Feuerleitoffizier seinen Platz. Mosche hatte sich schon in den Pilotensessel gesetzt und deutete auf den Kommandosessel; man sah den Augen des Haupt manns ernste Bedenken an. Torkild schob sich im Sessel zurecht, machte sich mit der Funktionsweise des merkwürdigen, aus diversen Gur ten und Verschlüssen zusammengefügten Gurtsystems vertraut, spürte währenddessen, wie sich der Konturenses sel seinen Körperformen anschmiegte. Einmal holte er noch tief Luft, bevor er befahl, die Ex-Gregorius zu kon taktieren. Wie er es aufgrund irgendeines Verdachts geahnt hatte, erschien vor ihm auf einem der Monitoren M'Kleas Abbild. »Meinen Gruß, Bruder.« Sie neigte den Kopf, konnte sich ein Feixen nicht ganz verkneifen. »Ich hatte gehofft, ich könnte dich in feierlicherem Rahmen empfangen, aber das täppische Hereinplatzen der Patrouille hat als Anlaß auch einen gewissen Reiz, nicht wahr?« Torkild spürte, wie in ihm Ärger schwoll. Ihr Beneh men wurmte, reizte ihn. Doch sie war trotz allem noch immer seine Schwester. Sein Blick forschte in ihrem Gesicht, suchte nach Überbleibseln des blonden Mäd chens, das früher voller Bewunderung zu ihm aufgeschaut hatte. Plötzlich entsann er sich an Chesters Worte. Fragen zur Natur der Pflicht, wahrer Ehre sowie der Verantwor tung drängten sich ihm auf, verwirrten seine Gedanken gänge. Was bist du ihr wirklich schuldig? stellte sich ihm pressant eine weitere, sehr akute Frage. »Ich ... ich bringe die Gefangenen, M'Klea.« Innerer
Konflikt und Gewissensbisse zermürbten Torkilds Gemüt, während er über alles Klarheit zu erringen versuchte, er aus tiefstem Herzen Sehnsucht nach seiner Schwester empfand, er den Wunsch verspürte, ihr die Rettung zu ermöglichen. Sollte er sie warnen? Sie ist meine Schwe ster! Ihr eine Gelegenheit geben, sich aus der Gefahr zu entfernen, in Sicherheit zu flüchten? Wo lag seine eigent liche Verpflichtung ...? »Torkild ...?« Sie wölbte die gold-silbern gefärbten Brauen, als sie sein Zögern bemerkte, das stets deutliche re Unbehagen in seiner Miene sah. Verdammt noch einmal! Sie wird spüren, daß etwas nicht stimmt. So war es immer bei ihr ... Halt. Keine Panik. Nachdenken! Ich bin für sie wie ein offenes Buch. Alles droht zu scheitern. Ich Narr! Ich werde die Sache verderben! Außerhalb der Sicht M'Kleas zwängte sich Chester, sein ständiges Lächeln in der Miene, in die Zentrale. Tor kilds Flatterigkeit begann nachzulassen, einem Gefühl des Verlusts und der Trauer zu weichen. »Keine Sorge, M'Klea, gesundheitlich geht's mir gut.« Versonnen lächelte er ihr zu. »Es hat mit dir zu tun. Na, denk mal nach, Schwester. Weshalb ist mir nicht ganz wohl in der Haut? Kannst du's vielleicht erraten?« M'Klea nahm eine Haltung schroffer Abweisung ein, verkniff die Lider. »Hör mir ja damit auf, Bruder. Ich halte äußerst wenig von deiner oberflächlichen Selbstgerechtig keit. Dir ist anscheinend nicht klar, welche Macht ich ...« »Oh, aber gewiß doch, meine Liebe.« Torkild lehnte sich seitwärts, streifte einen Ellbogen, sein Herz hämmer te. Vorsicht, Torkild. Diese Unterhaltung kann dich das Leben kosten. Du mußt deinen Verstand gebrauchen ... dich zusammennehmen. »Aber ... aber sag mir eines. Wie hat Vater dazu gestanden? Und Mutter? Wie haben sie rea giert, als du ...« »Vater war derselbe griesgrämige Miesepeter wie immer. Mutter dagegen hat vor Freude wie die Morgen
sonne gestrahlt. Sie ist richtig stolz gewesen, Torkild. Zum Schluß hat mir aber, weil soviel Machtgewinn in Aussicht stand, auch Vater alles Gute gewünscht. Ach, ich vermisse beide. Hätten nur diese satanischen Ungeheuer von der Patrouille nicht ...« Sie wandte die Augen ab, verpreßte den Mund. Lügnerin! Du bist eine abscheuliche, geistig verdrehte Lügnerin, M'Klea! Jetzt erkenne ich es. Unser Vater hätte nie, egal für welchen Vorteil, seine Ehre kompromittiert. Nein, Schwester, du hast mir einen deutlicheren Beweis geliefert, als es Sarsa je mit ihren Dokumentationen gelin gen konnte. Du bist verkörperte Lügenhaftigkeit, M 'Klea. Von nun an ist zwischen uns alles gestorben, so tot wie der Geist unserer Eltern es gewesen ist, lange bevor Majorin Sarsa unseren Heimatplaneten bombardiert hat. »Wir legen in fünf Minuten in Hangar Neun an«, gab er ihr mit beherrschter Miene durch. »Meine Männer haben das Patrouillengesindel unter Bewachung. Ihr braucht euch drüben nicht mit verschärften Sicherheits vorkehrungen zu belasten. Meine Untergebenen sind dop pelt bewaffnet und warten nur auf eine Gelegenheit, um ihre Schießkünste zu erproben. Ich glaube, die Gefange nen werden euch ... Wie soll ich mich ausdrücken? Euch fügsam genug sein.« »So stolz, Torkild? Du änderst dich nie, was? Weißt du, es ist eine komische Geschichte mit dem Stolz. Ich verspü re selbst sehr viel Stolz, und zwar besonders auf dich. Kein anderer Kapitän in der Flotte meines Gatten ist ein derart schneidiger Kerl wie du. Sag mal, Bruder, sind unter den Gefangenen viele Frauen? Ach, aber das adelige Haus Alhar ließe sich ja nie zu so solchen Aktivitäten hinreißen, stimmt's?« Ihr Gesichtsausdruck verriet eine seltsame, Torkild bislang völlig fremde Feindseligkeit. Jetzt erblik kte er, als er aufmerksamer hinschaute, dünne Falten um ihre Augen. »Nein, M'Klea.« Seine Stimme war leise geworden. Ohne Zweifel sah M'Klea das Weh in seinen Augen, legte
es jedoch falsch aus, genoß es. »Mit Stolz hat es nichts zu schaffen. Ich tu lediglich, was ich tun muß.« Er widmete Chester einen Seitenblick, erkannte in seinen klugen, braunen Augen Verständnis. »Anscheinend sind mir in letzter Zeit kräftig die Realitäten um die Ohren geschlagen worden«, fügte Torkild hinzu, sprach allerdings nur halb zu M'Klea. »Du und der Messias ... Was die Patrouille an unserer Heimat verbrochen hat ... Ich kann nicht anders, ich muß mich fragen, wer ich gewesen bin ... und was aus mir werden soll. Man könnte sagen, irgendwie bin ich seelisch ausgehöhlt.« M'Klea verzog das Gesicht zu einer Miene siegesbe wußter Überlegenheit, aber auch des Schmollens. »Ich habe den Eindruck, ich mag die Person nicht, die bis jetzt aus dir geworden ist, Bruder. Dir fehlt ... Wie soll ich's nennen? Bei dir ist ein gewisser Esprit verpufft. Früher warst du gräßlich selbstgerecht. Wo bleibt deine Unverfro renheit? Bist du nicht mehr von deiner unsterblichen Voll kommenheit überzeugt? Tu mir einen Gefallen, Bruder: Geh mit deiner müden Seele nicht in den Tempel. Ich ... Na, das Ergebnis wäre mir gar nicht recht.« Ihre Brauen rutschten hoch, doch sie vermochte ihr Mienenspiel nicht beizubehalten, ohne bitter aufzulachen. Den Tempel? Den gottverfluchten, nichtswürdigen Tempel? Dem wir den Ruin unserer Welt verdanken? Damit wagst du jetzt Scherz zu treiben ? Obwohl du weißt, welche Greuel ihr, Ngen und du, verübt habt? Kurz schwieg Torkild, überlegte sich genau seine näch sten Worte. »M'Klea, ich habe das Gefühl, daß du mich nicht verstehst. Ich habe bis heute gebraucht, um alles zu durchschauen. Das Leben besteht doch aus mehr als Baga tellen. Du und ich, wir haben uns etwas vorgemacht.« »Bruder!« M'Klea quietschte vor Vergnügen. »Wie herrlich! Ich kann's kaum erwarten, daß du mich mit die sen interessanten neuen Geistesblitzen zu langweilen anfängst. Ich habe eine umwerfende Idee. Wir werden dar über diskutieren, während wir Spielchen mit der Elektro
peitsche machen. Hast du schon mal eine gesehen? Das ist ein echt wundervolles Gerät. Es verursacht Schmerzen, Torkild. Ich brenne darauf, es an den Romananern auszu probieren. Erst werden wir ein paar von ihnen psychen, um zu genießen, wie sie leiden. Ich habe mir davon Auf nahmen angeschaut. Sie verrecken auf die scheußlichste Weise ... Was? Keine Kommentare?« Torkild musterte sie, während sich ihm der Magen umzudrehen drohte. »Ich hatte gedacht, damit bringe ich dich in Fahrt, Tor kild. Schaffe es, daß du rumschreist, die Faust schüttelst, mir schockiert und empört einen Vortrag über Moral oder Ehre hältst, weißt du? Oder ist es gar nicht so, daß dein ehrenwertes Gemüt solche Arten des Zeitvertreibs ablehnt?« Inzwischen hatte Torkild seine Emotionen gänzlich erschöpft, ihm war innerlich leer und kalte zumute; er blickte seine Schwester nur an. Versonnen hob sie den Kopf, las in seiner Miene. »Du hast dich tatsächlich verändert. Mit der Unbestreitbarkeit meiner Macht abgefunden? Ist es das? Siehst du mich jetzt, wie ich in Wirklichkeit bin? Als deine Herrin? Deine Imperatorin? Gut. Ich habe dich noch immer gern, soviel sollst du wissen. Ich werde für dich alles zum Besseren wenden. Vergiß nie, Bruder, was ich für dich tun kann. Wir werden uns köstlich amüsieren.« »Köstlich, ja ... Ganz sicher.« Torkild schluckte und nickte. »Ich freue mich auf unser Wiedersehen.« Er trenn te die Verbindung. Für eine Reihe von Sekunden, die zeitlos lang zu sein schienen, ließ Torkild Alhar aus der alten arpeggi anischen Familie gleichen Namens die Augen geschlos sen, widerstand dem Pochen und Glühen im Nasenbe reich. Er schnaufte laut, um zu verhindern, daß die ver räterische Nässe von Tränen seine verwundete Seele entblößte. Er merkte, daß Chester ihm eine Hand auf die Schulter
gelegt hatte, obwohl er sie durch den Schutzpanzer nicht spüren konnte. Um wenigstens in gewissem Umfang die Würde zu wahren, fing er zu reden an, fand in der Offenheit seiner Einlassungen eine sonderbare Erleichterung. »Zunächst kam ich mir entsetzlich schlecht vor, weil ich sie hinter gehen muß ... Infolge unserer altüberlieferten Ethik, der traditionellen Lehren, der Prinzipien, die mein Vater mirmit solchem Nachdruck eingeprägt hat. Die Erinne rungen daran, für was ich mich immer ... Aber dann ... Du weißt Bescheid, nicht wahr? Du hast es begriffen. Dann hat sie mich angelogen. Sie wußte, was Ngen auf Arpeggio angerichtet hatte.« Er ballte eine Hand zur Faust, trotz seiner Selbstbeherrschung fraßen die Tränen sich wie Säure durch seine Willenskraft. »Verdammtes Weib! Sie hat es gewußt! Meine Eltern ... Betrogen um der Macht willen. Alles hat sie geopfert, um das Flitt chen des Messias zu werden. Sie ... sie würde gaffen, während du einen grauenvollen Tod stirbst. Im Krieg, Prophet, steht man vor der Notwendigkeit zu siegen, egal um welchen Preis. Furcht und Schrecken sind Waf fen. Alles dient als Waffe, was die Entschlossenheit der Lebenden brechen kann. Man mutet Menschen zu — Männern, Frauen und Kindern —, auf grausige Weise umzukommen. Aber das rechtfertigt keine derartigen Auswüchse, daß man jemandem Schmerz und Leid um ihrer selbst willen zufügt!« »Jeder Krieg wird — so oder so — um die Herrschaft über den Geist geführt. Dennoch ist Grausamkeit als sol che etwas völlig anderes: Eine Erkrankung von Gemüt und Seele. Oft liegen die Wurzeln dieser Krankheit in krasser seelischer Unsicherheit. Einem anderen Schmer zen bereiten zu können, ist ein Beweismittel der eigenen Macht — auf jeden Fall, wenn es um eine Einzelperson geht. In Zeiten wie diesen tritt dergleichen stärker als sonst hervor.« »Einen Moment mal.« Torkild wurde stutzig. »Wieso
bist du überhaupt hier?« erkundigte er sich, als ihm auf fiel, daß Chester eigentlich an Bord des Raumschiffs geblieben sein sollte. »Ich habe vorausgesehen, daß du mich brauchst.« Che sters gütiges Lächeln erlöste Torkilds Seele vom Bedrük kenden einer grauen, unheilschwangeren, dumpfen Last. »Wie du habe auch ich meine Pflicht zu erfüllen. Sobald wir andocken, werde ich meinen gesonderten Weg gehen. Ein Cusp steht bevor.« »Nein, wir dürfen dich keiner Gefährdung aussetzen ...! Das Risiko ... Ich ...« Alhar schaute in Chesters aus drucksstarke Augen, und ihm war, als blickte er mitten in Gottes Ewigkeit. »Spinne sei mit dir, Chester.« Der Prophet lächelte und tätschelte ihm zur Aufmunte rung die Schulter. »Ich bin dir für deine Besorgnis dank bar, Kapitän. Durch die Ausdehnung deines Selbsts auf mich wird deine Seele bereichert. Wir hängen alle in Spinnes Netz, mein Freund.« »Andockmanöver in zwei Minuten.« Als Mosches Stimme ihn aufschreckte, hob Torkild den Blick zum Monitor. Der unentwegt lächelnde Prophet summte gedämpft vor sich hin, während er die ST-Zentrale verließ. Gleichmütig beobachtete Torkild die Monitoren, sah die gigantische Masse der Deus stetig näherschwellen. Mit unübersehbarer Professionalität lenkte Mosche den ST in den zugewiesenen Hangar. Metall dröhnte, als die Greifer den Flugapparat verankerten. »Vorwärts!« scholl Susans Stimme aus der Kommu. Torkild eilte zur Schleuse, drängelte sich durch die dichten Reihen der Truppe. Er nahm seinen Platz an der Spitze ein, wandte sich den Patrouillensoldaten, Arpeggi anern und wölfisch-kampfeslustigen Romananern zu, die sich zur Kolonne formiert hatten; ihren Stimmen ließen sich die bewußten Untertöne anmerken, wie man sie vor jeder militärischen Aktion hören konnte. Vor allgemeiner Spannung und Ungeduld knisterte regelrecht spürbar die
Luft. Stiefel scharrten und schabten auf dem Deck, Waffen klackten aneinander. »Achtet darauf, daß ihr einen rundum überzeugungs kräftigen Anblick bietet. Die >Wachen< müssen besonders grimmig wirken. Ihr >Gefangenen< habt gedemütigt, zornig und verstört auszusehen. Vergeßt nicht, ihr spielt Besiegte. Ich habe mit meiner ... Impe ratorin in Funkkontakt gestanden. Sie hat vor, euch zu foltern.« Ein Schweigen des Unbehagens entstand. Torkild erwiderte die Blicke der vielen Augen, bemerkte in Dar win Pikes verbissener Miene einen dämonischen Aus druck. Aus irgendeinem Grund flößte die Anwesenheit des hochgewachsenen Anthropologen ihm Kraft ein. »Ich werde uns durchbluffen, soweit es geht. Vielleicht ... viel leicht gibt's gleich Gelegenheit, um ... Wie nennt ihr das? Um Coups zu erringen!« Zu seiner Überraschung brachen die Romananer in Freudengeheul aus, und der Lärm steigerte sich noch, als Gejohle und Händeklatschen ihr Kriegsgeschrei verstärk te. Trotz der schon knapp gewordenen, stickigen Luft erwärmte ein sonniges inneres Leuchten der Ermutigung Torkilds vor Furcht eiskalte Magengegend. »Wenn wir auffliegen«, rief Susan, »besetzt soviel vom Schiff, wie ihr könnt. Coups für alle! Denkt dran, jeder von euch hat eine >Wache<, haltet euch an den Mann, jede >Wache< trägt zwei Waffen. Sobald's soweit ist, greift euch die Waffe, die man euch gibt, und den letzten hole sich Spinne!« Aus verkrampften Lungen grölte ein Aufbrüllen begei sterter Erwartung. Susan winkte ab, um Ruhe zu schaffen. Torkild, dessen Herz gegen seine Rippen flatterte, öff nete per Handflächenkontakt die Schleusenluke. Mit arro gantem Gehabe, leichtfüßig vom Adrenalin, aber insge heim starr vor Furcht, schritt er der Kolonne voran, hatte am eigenen Auftreten selbstironischen Spaß. Doch als er sich umblickte und die grimmigen Gesichter der Romana
ner sah, die vor den Blastermündungen ihrer arpeggiani schen >Bewacher< mittrabten, erkannte er in ihren Augen nicht die Spur bloß gespielter Niedergeschlagenheit. Diese verdammten Romananer waren richtiggehend heiß auf den Kampf, dachten nicht im mindesten an die Nachteiligkeit ihrer Lage. Falls der Schwindel platzte, ehe man ihnen die Blaster übergeben konnte, verfügten sie nur über die lan gen Kriegsdolche, die sie sich unter den Schutzpanzern auf den Rücken gehängt hatten — und ihren unüberwind lichen Mut. »Und das dank Spinne?« überlegte Torkild laut. Hinter der Schleusenpforte salutierte Torkild vor den Posten, und das Herz wurde ihm schwer wie ein Klumpen Neutronen. Zahlenmäßig waren sie beinahe im Verhältnis zwei zu eins unterlegen. »Da entlang«, rief eine barsche Stimme, und Torkild folgte einem breitschultrigen Angehörigen des Wachper sonals. Er lugte umher, bemerkte die stumpfsinnigen Augen der Posten; allesamt waren sie gepsycht worden. Sein ganzes Volk mußte den gleichen Eindruck erweckt haben, bevor die Patrouille Arpeggio verwüstet hatte. Langsam wie Flut brandete ihm Zorn in die Brust, ver quirlte sich mit seiner Furcht. Dafür hatte er Planeten zersprengt, Stationen zerstört, bei der Versklavung fast eines Viertels des Direktorats geholfen? Während er die geistlosen Wachen anschielte, dachte er an die Aufnahmen von Basar und die eigene, geliebte Heimat. Hier befand er sich Auge in Auge mit dem wahren Vermächtnis Deus' — und bei dieser Begeg nung erbebte er bis ins Innerste seiner Seele. Wie der Plan es vorsah, marschierten sie ins Schlacht schiff. In einem großen Lagerraum, der ihnen zum Sam meln diente, legte Torkild dem Posten eine Hand auf die Schulter. »Kontaktiere meine Schwester. Ich muß mit M'Klea reden. Ich bringe dem Messias eine ganz beson dere Gefangene.« Er gewahrte, daß Susans Gesicht blaß wurde, in ihren Augen schillerten Funken drohender
Panik. Darwin Pike, der eine arpeggianische Uniform trug, stockte fast der Atem. »Ja, Torkild?« drang M'Kleas Stimme aus einem Kommu-Lautsprecher. »Was für eine Gefangene meinst du?« »Diese hier, Schwester.« Torkild stieß Susan so kraft voll nach vorn, daß sie der Länge nach aufs Deck stürzte. Sie fing zu zittern an, aus ihren Augen, deren Blick wild umherhuschte, leuchtete unverhohlene Furcht. Bloß Furcht? Nein, sie war geradezu in einen Starrkrampf des Entsetzens verfallen. Torkild spürte, wie sich aus Beunru higung sein Magen zusammenzog. Er zwang sich zu einem markigen Tonfall. »Sie ist dem Messias im Sirius system entwischt. Ich glaube, er will sie zurückhaben. Richte ihm aus, sie sei ein Geschenk seines ergebensten Kapitäns.« »Ach natürlich, Susan Andojar! Ich werd's mir gern anschauen, wie er sie diesmal vollends fertigmacht. Er ist äußerst findig, Torkild. Vielleicht erlaube ich dir nachher, dir die Aufzeichnung anzusehen. Ngen ist ein wahrer Künstler im außerordentlichsten Sinn. Du brauchst nur der Drohne zu folgen.« Torkild wandte sich an Mosche. »Ich überlasse die romananischen Gefangenen nun Ihnen«, sagte er kalt schnäuzig. »Stellen Sie sicher, daß diese hirnlosen Barba ren keine Flucht- oder Suizidversuche unternehmen, bis ich zurückkomme.« M'Klea verzichtete — Spinne sei Dank! — auf anders lautende Befehle. Die Möglichkeit, etwa im letzten Moment getrennt zu werden, hatte ihnen erhebliche Sorge bereitet. »Jawohl, Sir!« Zackig salutierte Mosche. Unverzüglich raunzte er Befehle, verteilte die >Bewacher<, ließ die Gruppe Romananer umringen, so daß die zusätzlichen Blaster in unmittelbarer Griffweite blieben. Ein kleines Licht erschien und schwebte durch die Kor ridore voraus. Torkild schob Susan vor sich her, konnte
unmöglich übersehen, wie sie schlotterte, sie hatte ihre Muskeln kaum noch in der Gewalt, alle ihre Reaktionen liefen fahrig ab. Er warf Darwin Pike einen kurzen Blick zu, stellte bei ihm einen ähnlich weitgehenden Zustand naher Panik fest. »Reißt euch zusammen!« zischelte Torkild. Doch auch seine Muskeln zitterten von der Anspan nung. Verflucht, so vieles konnte schiefgehen! Das Licht lein lotste sie fortgesetzt durch kahle, weiße Korridore. Eine Schweißperle kitzelte Torkild am Hals. Der Weg endete vor einer Tür, an der zwei mit Blastern bewaffnete, scharfäugige, ungepsychte Männer wachsam Posten standen. Die Drohne erlosch. »Einlassen!« erscholl M'Kleas herrische Stimme. Der eine Wächter trat, ein scheeles Grinsen im vier schrötigen Gesicht, zur Seite, beglotzte Susan lüstern. »Bis bald, Schätzchen«, meinte er halblaut. Die Knie gaben Susan nach, Torkild und Darwin fingen sie ab, schleiften sie, sobald sich der Eingang öffnete, über die Schwelle. »Das war seine letzte Gemeinheit«, versprach Pike leise, während er Susan stützte. Torkild blieb, als die Tür mit leisem Geräusch hinter ihm zufiel, ruckartig stehen. Das Kinn sackte ihm herab, fassungslos starrte er rundum. In dem Raum waren an den Wänden beiderseits der Tür etliche Betten aufgereiht; auf einigen davon lagen nackte Frauen, zitterten vor sich hin. In seinen und Pikes Armen sackte Susan schlaff zusam men, gab nur noch ein kaum vernehmliches Wimmern von sich. »Zieh sie aus«, forderte M'Kleas Stimme. »Leg ihr EM-Fesseln an und schmeiß sie auf ein Bett. Was? Bist du plötzlich gelähmt, Bruderherz? So etwas kannst du doch — eine Frau entkleiden —, oder nicht, mein teurer, selbst gerechter Bruder?« Torkild verstand sie kaum, seine Beachtung galt den über einigen der Frauen in Betrieb befindlichen Monito
ren, er erkannte auf den Bildflächen Ngens Gestalt, die sich nackt über den Gefangenen bewegte. Die Opfer sahen aus glanzlosen Augen, in denen sich Grausen und Abscheu spiegelte, dem Treiben auf den Bildschirmen zu, hörten sich selbst schreien und stöhnen, während Ngen sich zwi schen ihren Beinen vergnügte. »Ich kann nicht ... Das ist ja ... Was ... M'Klea?« Brech reiz würgte Torkild dicht unterhalb der Kehle. »Was ist das hier für eine ekelhafte ...?« »Ngens Schreckenskammer«, knirschte Darwin, wäh rend M'Klea ein schrilles Gelächter ausstieß, damit seine Äußerung übertönte. »Helfen Sie mir, Susan zur Besin nung zu bringen.« Darwin beugte sich über Susan, hob den Gürtelkommunikator an die Lippen. »Los!« flüsterte er hinein. Benommen wankte Torkild an den Betten entlang, drehte sich wiederholt zur einen oder anderen Seite, such te Sarsa. Er fand sie. Drei Betten weiter lag sie nackt in EM-Fesseln, die ihre Beine weit spreizten. Sie hielt den vor Grauen und Verzweiflung glasigen Blick auf den Monitor über ihrem Kopf geheftet. Torkild merkte nur bei läufig, wie sein Magen rumorte, sich aufbäumte. Wäh renddessen gellte die ganze Zeit hindurch M'Kleas La chen aus dem Kommu-Lautsprecher.
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NGEN VAN CHOWS SOGENANNTE SCHRECKENSKAMMER AN BORD DER DEUS
Die Träume nahmen einen unregelmäßigen, bruchstück haften Verlauf, die Erinnerung an wuchtige Erschütterun gen durchdonnerte, Bilder von Stichflammen, die zu Bränden aufloderten, durchflackerten sie, verbogene Deckplatten stoben empor, Feuer gloste und brauste,
lohte mit der Dekompression auswärts, als Ngens Blasterge-schütze das Raumschiff zum Wrack schossen. Irgendein schwerer Gegenstand hatte Rita getroffen. Ein Aufprall. Und aus. Jetzt fühlte ihr Fleisch sich nach der glühenden Hitze kühl an. Ihr Rücken ruhte auf einer festen Unterlage, die ihren Körper an Länge übertraf. Mit der Luft, die ab und zu über ihre Haut strich — drückender, von einem pene tranten Geruch durchzogener Luft —, erreichte eine gedämpfte Geräuschkulisse ihr Gehör. Sie versuchte sich zu regen; Schmerz durchstach sie. Rita schluckte, die Zunge klebte ihr trocken im Mund. Irgend etwas hielt ihre Handgelenke und Füße fest. Hielt sie fest? Diese Wahr nehmung verfestigte sich allmählich in ihrem noch halb umnachteten Geist. »Wie schön, dich wiederzusehen, Rita Sarsa.« Die Stimme ungezählter Alpträume säuselte in ihrem gutmütig-freundlichen Tonfall auf ihr Bewußtsein ein. Trotz der plötzlichen Beschwerden in ihren gezerrten Muskeln spannte Rita sich an. Nein! Spinne, nein! Das kann doch nicht wahr sein. Das ist nicht ... Sie gewann das Ringen ums Öffnen ihrer Lider. Sie zwinkerte, bis die Trübung ihrer Sicht schwand, und als sie aufblickte, schaute sie direkt in Ngen Van Chows hämische Miene. Ein hohles, flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengru be breit, als ob sich darin eine todwunde Schlange zu sammenrollte. An Ritas anderer Seite stand eine blonde Frau, deren Gesicht sie von irgendwoher kannte; ihr Bauch war infol ge einer fortgeschrittenen Schwangerschaft geschwollen. »So sieht es also in der Hölle aus«, sagte Rita leise, preßte die Lider wieder zusammen. Warme, geschmeidi ge Finger faßten ihr Kinn, drehten ihren Kopf, nötigten sie, den Blick erneut in Ngens eindringliche Augen zu heben. »Aber nein, meine Liebe. Hier ist das Paradies, schöne Rita.« Die fröhliche Stimme hatte durchaus eine eigen
tümliche Art von Überzeugungskraft. Dies Einflüsterungs vermögen verfolgte sie in ihren Träumen, seit sie die Stim me das erste Mal — im Umraum Sirius' — auf erbeuteten Holo-Videos gehört hatte. Komm, komm, Mädchen. Frechheit siegt, so mußt du es auch bei diesem Typ versuchen. Genau wie im Lager Gro ßer Manns. Wie im Reaktorraum der Projektil. So wie du es früher immer hingekriegt hast. Entsinnst du dich noch an Rita Sarsa ? Das stets rebellische Mädel mit dem vor lauten Mundwerk und dem vielen Mumm ? Sie kann sich jetzt hier bewähren. Nun mußt du ein dickes Fell haben, Rita, denn wirst du weich, wird er dir das Rückgrat bre chen, dich schinden, bis du völlig am Ende bist und bloß noch vor dich hinbibberst. »Verdammt nochmal, Spinne«, raunte sie, »jetzt würde ich dich aber wirklich gern in den Hintern treten.« »Wie bitte?« »Ich habe gefragt, wer die aufgetriebene Schlampe ist«, sagte Rita, versuchte die klammen Finger des Entset zens zu ignorieren, die sich in ihre Eingeweide krallten. Ob es ihr gelang, Ngen zu solcher Wut anzustacheln, daß er sie schnell tötete? »Du wirst büßen«, verhieß die Blondine. Hinter ihrem Rücken brachte sie eine längere Metallrute zum Vor schein. Es gelang Rita nicht ganz, ein Schaudern zu unter drücken. Sie hatte das Marterinstrument schon in der erbeuteten Aufzeichnung der Vergewaltigung Susans durch Ngen in Gebrauch gesehen: Es war die Elektropeit sche. »So, du weißt, was das ist?« Ngen lachte, als M'Klea mit der flexiblen Spitze der E-Peitsche Ritas Zehen streif te. Durchdringender Schmerz durchzuckte das Bein, kon vulsivisch ruckte es an der EM-Fessel. Rita schrie schon bei der ersten Berührung. Sie konnte gar nicht zu schreien aufhören, während derartige Schmerzen durch ihren gan zen Körper jagten, als wäre sie auf eine weißglühende Stange gespießt worden. Unter ihrer Haut schmorten Blut
und Fett, buken sich schwarz an Knochen fest. M'Klea blieb mit echter Hingabe bei ihrer Betätigung, ein gräßli ches Lächeln verzerrte ihre Gesichtszüge. »Das ist lediglich die Wirkung des normalen Kon takts«, sagte Ngen, hob eine Hand. Die E-Peitsche schwuppte in die Höhe, verharrte bis auf weiteres über Rita, schwebte als ständige Androhung neuer Qualen über ihrem längst zitterig gewordenen Fleisch. Jovial setzte Ngen sich auf die Bettkante. »Ich kann dir vorhersagen, daß du die Peitsche noch eingehender zu spüren bekom men wirst. Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben, bin ich von dir beleidigt worden, Rita. Entsinnst du dich noch deiner Unverschämtheiten? Du hast mir Pöbeleien von Susan Andojar ausgerichtet.« Rita biß die Zähne zusammen, verkniff die Augen, bis sich ihr Blickfeld auf zwei Schlitze beschränkte; sie wußte, blickte sie an sich hinunter, sähe sie keine Fetzen verunstalteten Fleischs, sondern sich in scheinbar gesun der, rosigroter Verfassung. Verflucht! Und ich habe mich für zäh gehalten. Ich bin es nicht. Wie lange kann ich das ertragen? Wie lang? Kaum hat es seit einem Moment angefangen, neige ich schon zum Aufgeben. Schon bin ich zu allem bereit, um die Schmerzen abzuwenden! Sie schluckte. Komm, Sarsa! Wehr dich! »Ihr sirianischen Raumhafenratten habt ja wirklich den komischsten Schwachsinn drauf.« Ngen straffte sich, in seine Augen trat ein Ausdruck der Genervtheit. »Ich werde dafür sorgen, daß du deine Mei nung von mir änderst, das versichere ich dir. Dein Körper wird auf Wolken der Wonne schweben, das darfst du mir glauben. Oh, dein Verstand wird es ganz widerlich finden, das ist klar. Aber du wirst nichts tun können, meine liebe Rita, um es zu verhindern, das sage ich dir schon jetzt. Ich werde dich bezwingen ... Und es wird dir, während dein körperlicher Widerstand Faser um Faser erlischt, voll und ganz bewußt sein. Binnen kurzem bin ich durch und durch
dein Herr und Meister. Und das alles dank der Fleisches lust.« Seine Stimme säuselte in zudringlich-vertraulichem, leidenschaftlichem Flüsterton auf Rita ein. Sie sah die Ekstase in seinen Augen, als sie aufblickte, und begann unwillkürlich zu schlottern. Komm, komm, etwas mehr Mut, Majorin! Ist das die Amazone, die das Direktorat herausgefordert hat? Wo ist die hitzige Rot schopfige, die der Galaxis trotzen wollte? Aber sie wand sich vor Grauen, als sie sich an all die Schrecken im Siri ussystem erinnerte, der Strapazen und Leiden entsann. Und da fiel ihr auch der Wahnsinn in Susans Augen wie der ein. »Aber meine Teure ...«, rief Ngen, klatschte die Hände zusammen, erhob sich vom Bett. »Du siehst ein wenig mitgenommen aus, Rita. Ich vermute, du bereust in die sem Moment den Ärger, den du mir auf Sirius verursacht hast. Ich bitte dich...!« Er setzte ein nachsichtiges Lächeln auf. »Nun ist die Zeit des Ausgleichs. In unserer Bekannt schaft bricht die Phase höchsten Entzückens und Seligkeit an. Gräme dich nicht wegen vergangener Fehler. Wir werden uns nahekommen. Sehr, sehr nahe sein ...« Er beugte sich vor und saugte, obwohl Rita sich ihm zu ent ziehen versuchte, warme Lippen auf ihrer linken Brust fest. »Scher dich zum Satan ... dreckige Ratte!« Erheitert lachte M'Klea. »Oh, sie wird ganz großartig sein, Ngen. Sieh nur diese Verbohrtheit und Streitsucht in ihren Augen! Ich wette, du brauchst länger als drei Tage, um ihr den Starrsinn auszutreiben.« »Ich wette dagegen, liebster Schatz«, rief Ngen. »Das gleiche hast du auch von der letzten Rothaarigen behaup tet.« Denk nach! Was könnte ihn zum Jähzorn reizen ? Setz dich zur Wehr, verflucht noch mal! In Ritas Bauch begann es zu rumpeln, als ob ihr arge Magenbeschwerden bevor stün den, während Ngen mit geziertem Gehabe aus seinem Gewand schlüpfte, das leichte Kleidungsstück zu Boden
sinken ließ. Er füllte die Lungen, so daß sich seine Hüh nerbrust weitete, reckte sich und wippte auf den Zehen, an seiner Gestalt dehnten sich dünne Muskelstränge. »Als erstes«, erklärte er, indem er sich erneut über Rita beugte, »werde ich deine Gegenwehr ein wenig untergra ben, Rita. Nicht zu stark, bloß gerade genug ...« »Hat dir deine Hure von Mutter eigentlich nicht beige bracht ...« Schmerz fegte Rita den Rest des Satzes von den Lippen. Sie bäumte sich in den EM-Fesseln auf, Zuckun gen schüttelten sie, während die Elektropeitsche in Ngens Hand biegsam auf- und abschnellte. Nur mit abgespellten Fragmenten ihres vor Pein gänzlich desorientierten Ver stands hörte sie die eigenen Schreie, während an den Innenseiten ihrer Waden und Schenkel wie weißblaue Glut fürchterliche Schmerzen entlangwaberten. Das Gefühl, als das Brennen schwand, auf bloßes Gekribbel im Fleisch abebbte, grenzte an Euphorie. Rita spürte, wie ihre Lungen kühle Luft japsten, ihr Herz an den Rippen ein Stakkato wummerte, das Blut ihr in den Ohren rauschte. Sie blinzelte, versuchte mit rauher Kehle zu schlucken — und erstarrte, als sie Ngen wieder sah. Dicht vor ihren Augen pochte es in seinem strammen Pfahl, als müßte er platzen. An der Spitze bildete sich ein Tropfen kristallkla rer Flüssigkeit. »Lust, liebste Rita ...« Die sanften Töne seiner Stim me krochen Rita mit beharrlicher Einschmeichelei ins Gemüt. »Diesmal werde ich allein es sein, der dich nimmt. Aber nächstes Mal ...? Weißt du, es ist so, du bist ja keine Romananerin, die beim Psyching draufgehen könnte, es wird dir also beim Entspannen helfen. Wäh rend ich dir wollüstige Freude bereite, wirst du den Ein druck haben, es sei dein Liebhaber Eisenauge, mit dem du solche Höhen der Wonne erlebst. Und danach werden wir dich langsam wieder vom Psyching entwöhnen, so daß du den gesamten Umfang meiner Fähigkeiten ken nenlernen kannst. Und zum Schluß, Rita, wirst du von dir
aus nach der Lust schreien, die nur ich dir zu schenken verstehe.« »Glaubst du? Habe ich nicht mal Susan erwähnen hören, 'n fünfjähriger Bub hätte mehr Finessen als du zu bieten? Selbst Abschaum deines Schlages müßte ... Aaah!« Ngen hatte ihr die Elektropeitsche über die Brüste gezogen. Während sie sich darum bemühte, ihre zerstobenen, verworrenen Gedanken neu zu ordnen, streckte Ngen sich neben ihr aus. In ihrer Panik stemmte sie sich gegen die EM-Fesseln, zappelte, warf sich umher, soweit es ging, sträubte sich mit aller Kraft ihres von Furcht geschüttelten Körpers. Kühl glitt Ngens Haut über ihren Leib, geübt streichelten seine Finger ihre Verschwitzt heit. Sie unterdrückte einen abermaligen Schrei, als sein heißer Mund über ihr wie von Fieber erhitztes Fleisch strich. Durch die Nebelhaftigkeit ihrer Verzweiflung hörte sie M'Kleas Stimme nur am Rande. Während Rita unter den fest zusammengepreßten Lidern mit Tränen rang, spürte sie, wie Ngen sich bewegte, auf sie schob; jeder Muskel in ihrem gesamten Körper empörte sich gegen sein Eindrin gen. Komm zur Besinnung, Sarsa. Du kannst mit ihm fer tigwerden. Sei standhaft. Er will, daß du aus Panik wehr los bist. Also, Sarsa, sei nicht zickig, es ist nur Vergewal tigung. Später erhältst du eine Chance, um ihn kaltzuma chen. Doch er legte sich nicht auf sie. Rita merkte, wie er sich vom Bett schwang. Was? Was ist das, Ngen ? Ein neuer Trick? Irgendeine raffinierte Art der Folterung, um mich innerlich zu zerrütten? Du miese ster Kotzbrocken alles menschlichen Gelichters, was hast du vor? Wie ... wie lange mag es dauern, bis er mir die Zähne gezogen hat? Bis ich auch bloß noch, so wie die anderen hier, wie eine Idiotin vor mich hinplappere? Müh sam schluckte sie, versuchte willentlich die Spasmen ihres Zwerchfells zu beeinflussen, zu beruhigen, die gewisser
maßen an dem Knoten zupften, der ihr unterm Halsansatz ihrer beengten Kehle zu sitzen schien. In ihrem Elend kam ihr kaum zu Bewußtsein, daß es sie pausenlos schauderte; durch zusammengekniffene Lider schaute sie zu Ngen hoch. M'Klea hatte ihm ein Kontaktron gereicht. Für eine Weile stand Ngen da und lauschte, dann nickte er und seufzte, streifte das Kontak tron ab. »Es tut mir sehr leid, Rita«, sagte Ngen leise und in regelrecht kummervollem Ton. »Gerade bin ich nach Sta tion Kobalt gebeten worden. Man hat endlich herausge funden, wie die Singularitätswaffe, die ich Deus' Faust nenne, sich steuern läßt. Stell dir vor, damit kann ich eine winzige Singularität an jeden Ort des Direktorats transmit tieren. Liebe Rita, ich bin jetzt wirklich und wahrhaftig selbst Gott. Mit Deus' Faust werde ich Damen Ree schla gen, die Patrouille vernichten ... und natürlich auch deine Romananer ausmerzen.« Sein Zeigefinger strich über ihre Brüste und über ihre muskulöse Bauchwölbung, kreiste in ihrem Schamhaar ... und schob sich in ihre Scheide. Ritas ganze Gestalt spann te sich gegen das Tasten seiner Hand an. Ngen verzog das Gesicht, während er sich über ihren Ekel amüsierte, zu einem boshaften Lächeln, das weitere Gemeinheiten ver hieß. »Ich nehme alles zurück, Ngen. Alles was ich je über dich gesagt habe.« Seine Brauen ruckten nach oben. »Ich glaube, es ist doch nicht die Schuld deiner Mutter. Wahrscheinlich hatte sie deinen Fötus abgetrieben und unter einem Stein im Dreck verbuddelt. Du verdankst es nur grünem Schimmelpilz, daß du doch noch aufgewach sen bist, deshalb hast du nie Anstand und gutes Benehmen ge ...« Sie ächzte, als er ihr einen spürbaren Schlag verpaßte, eine Faust nach hinten bog, um ihr noch einen Hieb zu geben. »Sachte, sachte ...« M'Klea packte seinen Arm. »Genau
das ist es, was sie will. Wenn sie dich dazu verleiten kann, die Geduld zu verlieren, wirst du vielleicht den Fehler begehen, sie umzubringen.« Ngen nickte, der Jähzorn wich aus seinen fiebrig glän zenden Augen. »O ja ... Es wird mir ein Vergnügen sein, sie zu zähmen.« »Schade, daß dein albernes arpeggianisches Nüttchen dir nicht genügt, Hafenratte.« Rita richtete den Blick auf M'Klea. »Macht das einer dümmlichen kleinen Nutte wie dir keine Sorgen? Ich meine, daß er darauf angewiesen ist, anderweitig rumzufick ...« Ein hartes Zudreschen Ngens mitten in Ritas Gesicht verhinderte, daß sie den Rest aussprach. Sie bewegte den Mund, schmeckte das Blut. »Du wirst für alles büßen«, knirschte M'Klea durch zusammengebissene Zähne. Nochmals beugte Ngen sich über Rita, saugte seitlich an ihrem Hals. Plötzlich drehte sich ihr der Magen um, sie erbrach sich. Geschickt schlüpfte Ngen beiseite, drohte ihr spiele risch mit dem Finger. »Das war aber gar nicht artig, Rita. Du mußt lernen, Gott höflicher zu begegnen, zumal wenn man berücksichtigt, was für ein Geschenk körperlicher Lust ich dir machen werde. Denk an Wollust, meine süße Rita. Pure, pralle Wonne. Laß mich dich Lust lehren ... deinen Körper zu vollem Erblühen bringen, so daß er nur so nach mir lechzt, meine Liebe.« »Ich bezweifle, daß Hafenratten mich je reizen könn ten, Ngen.« Halb erstickte Rita am Erbrochenen. Er lächelte Rita zu, in seiner Wange zuckte ein Tik. »Es ist mir wirklich zuwider, mich ausgerechnet, wenn du dich so gründlich aufgewärmt hast und reif für die Lektio nen der Sinnesfreuden bist, zurückhalten zu müssen. Aber einem Imperator werden nun einmal leider gewisse Opfer abverlangt. Ich komme wieder. Und vielleicht darfst du zusehen, wie ich die Projektil, Damen Ree, Arcturus und die Romananer annihiliere.« Gutgelaunt
feixte Ngen, seufzte auf, bot M'Klea den Arm; leise rollte die Tür hinter den beiden zu. »Heiliger Spinne, das kann doch gar nicht wahr sein ... Das ist ... Es ist ein Traum. Unmöglich wahr. Ich werde in meiner Koje erwachen. Hört ihr mich, ihr blöden Weiber? Ich werde in meiner Koje an Bord der Spinnes Dolch auf wachen.« Doch die Spinnes Dolch war zu einem Wrack zerblastert worden. Sie hatten nur mit knapper Not ver meiden können, daß der Reaktor explodierte. Einige Minuten später trat ein Mann herein, ließ an der Wand eine Entsorgungseinheit ausfahren und reinigte Ritas Bett; er säuberte auch ihren Körper, verfuhr mit ihr nicht anders, als wäre sie ein Stück Mobiliar. Sie versuch te, ihm mit Beleidigungen eine Reaktion zu entlocken, doch in seinen leblosen Augen zeigte sich keinerlei Anteil nahme. Beim Gefühl seiner kalten Finger auf ihrer Haut bekam sie vom Gruseln eine Gänsehaut. Nachdem er fort war, schaltete sich über ihrem Gefäng nisbett ein Monitor an; als sie aufblickte, sah sie erschrocken sich selbst auf dem Holo-Bildschirm. Sah die Finger ihren Leib befummeln, in ihre Scheide eindringen, sah das aufragende Glied, bereit für eine ... Sie schloß die Augen, nahm sich vor, die Schreie und M'Klea Alhars grelles Gelächter zu überhören. Und diese Kreatur war einmal Torkilds Schwester gewesen! Die Holo-Aufzeichnung lief immer, immer, immer wieder ab. Rita merkte, daß die Versuchung wuchs, doch hinzuschauen, ähnlich wie die unglücklichen Frauen auf den anderen Betten es zwanghaft taten. Ein paar von ihnen stierten die Bilder aus leeren, irren Augen an, einige ande re hingegen, die dabei masturbierten, voller hingerissener Aufmerksamkeit. »Das wird mir nicht passieren«, faßte Rita einen Vor satz. »So werde ich nicht ... Ich nicht.« Wie mochte es sein, fragte sie sich, wenn Ngen genug Zeit fand, um den Kreislauf der Qual und Lust zu vollen den? Wie würde sie langfristig reagieren, sobald sie den
Blick heben und ihn anschauen mußte, ihn und ihren nur zu willigen Körper? Wie lange könnte sie ihren Selbstab scheu verkraften? Und seine Methode funktioniert, ver dammt noch einmal ... Das Gehirn kann konditioniert wer den, egal was das Bewußtsein will. Und er ist darin Mei ster. Aber was wird John ... Nein, daran darf ich nie, nie, nie auch nur denken! Sie brach in Tränen aus, zum ersten mal seit dem Tod ihres einstigen Ehemanns vor langer Zeit schluchzte sie hysterisch. »Admiral ...!« flüsterte sie inbrünstig durch ihre mit Rotz verstopfte Nase. »Kommen Sie schnellstens! Kom men Sie und vernichten Sie dieses verfluchte Raum schiff ...!« Über ihr flimmerte ununterbrochen das Holo.
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NGEN VAN CHOWS SOGENANNTE SCHRECKENSKAMMER AN BORD DER DEUS
Rita war der völligen Zerrüttung nah, als die Gruppe her einpolterte. Als sie Susan erblickte — sie zusammensak ken sah —, vermochte sie nur mit Mühe ein Aufkreischen zu unterdrücken. Wie konnte Spinne Susan diesem Unge heuer Ngen nochmals ausgeliefert haben? Hatte sie eine Möglichkeit, um dagegen irgend etwas zu unternehmen? Fand sich eine Gelegenheit, um Susans Aufpasser abzulenken? Ihr eine Chance zu geben, sie blitzartig zu töten — und damit vielleicht auch sie, Rita, aus diesem Loch zu retten? Langsam begannen die zerborstenen Frag mente ihres Verstands wieder zu arbeiten. Gerade wollte sie zu schreien anfangen, da erkannte sie Darwin Pike, der sich über das entkräftete Mädchen beugte. Und der andere Mann war Torkild. Rita biß sich auf die Lippe. Torkild? Der Bruder dieses Miststücks M'Klea? Widerwillig heftete sie ihren verstörten Blick auf das Holo, ihre Gedanken rasten im Kreis, überschlugen sich. Sollte sie sie ansprechen? Oder war irgend etwas gräßlich schiefgegangen? »Sind Sie gesund?« Rita schaute Torkild an, der sich, unsicher auf ihr Bett gestützt, Seiber des Ekels vom Mund wischte. Er beugte sich vor, besah sich die EM-Fesseln an Ihren Fuß- und Handgelenken. »Ich ... ich weiß ... es se-selbst nicht.« Rita schauderte zusammen. Hinter den Schotts der Schreckenskammer ertönte plötzlich ein Alarmsignal. Im Hintergrund began nen aus Kommu-Lautsprechern Befehle zu blöken. Gleich darauf stand Susan — tief erschüttert, im Gesicht geisterhaft bleich, aber mit grimmiger Miene — neben Ritas Bett, desaktivierte die EM-Fesseln. Rita schaute in Susans dunkle, furchterfüllte Augen, an die sie
sich so gewöhnt hatte. Sie beide kannten jetzt eine gemeinsame Erfahrung des Schreckens. »Schaffst du's hinaus?« Rita merkte, wie sie trotz ihrer Unschlüssigkeit nickte. »Er ist nicht ... soweit gekommen, wie er wollte. Sonst ... sonst hätte ich mich umgebracht.« Susans kräftige Fäuste ergriffen Ritas Hände, zogen sie auf die Beine. »Nein, hättest du nicht«, entgegnete sie halblaut, widersprach in barschem Ton, um ihre ins geheime Aufgewühltheit und Furcht zu kaschieren. Mit brüchiger Stimme stieß sie gehackt Wort um Wort her vor. »Ich hab's nicht getan, und du hättest es auch nicht.« »Du bist stärker als ich.« »Ziehen Sie das an«, empfahl Pike, der in einem Wand fach gekramt hatte. »Die Sachen könnten Ihnen passen. Seien Sie vorsichtig mit den aufgescheuerten Stellen an Ihren Handgelenken und Fußknöcheln.« Rita beobachtete, wie sich unter seiner fahlen, schweißigen Haut die Kiefermuskulatur ballte. Bei jedem Geräusch zuckte Pike zusammen, so nervös war er, unruhig hielt er den Finger stets am Abzug des Bla stergewehrs, während er pausenlos rundum auf etwaige Gefahr achtete. Verdammt, der Mann stand am Rande des Durchdrehens. »Ihr zwei seid unerhört mutig«, sagte Rita leise. »Hier einzudringen ... da wo ...« Ihr Blick fiel auf Torkild. Er starrte auf einen Monitor. Darauf konnte er sehen, wie M'Klea mit der Elektropeitsche Ritas Füße malträtierte. Schockiert starrte er offenen Munds auf den Bildschirm, schüttelte langsam den Kopf. Während der Apparat Ritas Schrei wiedergab, entrang sich Torkild aus der Tiefe seiner Brust ein Wimmern. »Und was ist mit ihm?« Mit dem Daumen wies Rita auf den Arpeggianer. »Torkild! Verdammter Blödian!« Scharf schrillte die Stimme aus der Kommu. »Was ...« Auf einem Bildschirm
erschien, während sie herumschrie, M'Kleas Gesicht. »Was hast du getan?!« Er fuhr herum, hob den Blick zu ihrem Konterfei, in seiner geröteten Miene der Bestürzung mischten sich Wut und Ungläubigkeit, während er sich Tränen aus den Augen zwinkerte. »Das kannst doch nicht du sein?« Völlig fas sungslos deutete er auf das Holo über Ritas Bett. »Du hast diese Frau gefoltert!« Mühselig schluckte er, ein Aus druck des Abscheus umzuckte seinen Mund. »Meine eige ne Schwester! Meine geliebte M'Klea ... Du bist ein ... ein Scheusal!« Auf seinen Wangen schimmerten im Licht zer laufene Tränenrinnsale, sein Gesicht schnitt Grimassen. »Und ich habe an dich geglaubt! Du warst immer so schön. Ein so kostbarer Mensch, den man lieben und schätzen mußte ...« »Torkild!« schnauzte sie ihn in hochnäsigem Tonfall an. »An Bord sind die Romananer los. Ich befehle dir, diese Weibsbilder einzusperren und dich zu deinen Män nern zu beeilen. Wirf diese Revolte gegen den Messias und mich nieder!« »Niemals!« schleuderte Torkild Alhar ihr entgegen. »Ich bin ein freier Mann, M'Klea. Hiermit erkläre ich dei nen Messias zum Schwindler. Deus ist der Satan, Schwe ster, und du bist Van Chows Hure!« M'Klea prallte sichtlich zurück, ihre Augen blitzten. »Das wirst du mir bereuen, du anmaßender kleiner Laffe! Du erbärmlicher Wendehals und Aufschneider! Du lumpi ger ...« Torkild riß den Blaster hoch und schoß den Monitor von der Wand. »Raus hier!« Er stapfte zum Ausgang. Rita, die hastig eine zu große Marlota umgeschlungen hatte, nahm die Blasterpistole, die Alhar ihr reichte. Darwin preßte den Handteller auf die Kontaktfläche der Tür-Servomatik. Nichts geschah. »Arretiert!« stieß er durch die Zähne hervor, drosch mehrmals die Faust auf das Türschloß. »Hier war früher mal das Offizierscasino. Geht da
weg!« Rita winkte ihn, Susan und Torkild von der Wand fort und blasterte ohne Umstände ein Riesenloch hinein. Ein ganzes Wandsegment kippte um. »Das dürfte eine der dünnsten Zwischenwände im Schiff sein.« Sie schluckte schwer, dann sprang sie mit einem Satz zur Bresche hin aus. Furcht durchbebte jede Zelle in Darwin Pikes Körper. Ihm war, als begleitete ihn Ngen Van Chows Gespenst, lugte ihm bei jedem Schritt des Wegs durch das Raum schiff über die Schulter. Sobald er Rita durch die in die Wand geschossene Lücke folgte, platzte er mitten in einen Trupp Padri, die mit schußbereiten Blastergewehren im Zuckeltrab den Korridor entlangstrebten. Das umgefallene Wandsegment hatte ein paar von ihnen unter sich begraben. Die Majorin wütete schon, der Blaster in ihrer Faust verstrahlte Tod zwischen die Padri, während sie in ihrer rasereiartigen Kampfeswut gleichzei tig um sich boxte, hieb und trat. In der Enge des Getüm mels zückte Darwin sein Survival-Messer aus dem Gürtel, er schlitzte, stach und schnitt, wie Susan es ihm bei den Nahkampfübungen eingedrillt hatte. Zwar waren die Padri geistlose Zombies, jedoch auch furchtlos, sie kannten keine Rücksicht auf ihr Wohlbefin den. Alle die auf Darwin losgingen, stürzten sich praktisch in sein Messer. Neben ihm griff Susan ins Gewimmel ein, ihr im Schutzpanzer stahlharter Fuß rammte die Kehle eines Gegners, brach ihm das Genick, und schon schnell te ihr Fuß dem nächsten Padre entgegen. Seine so lang im Zaum gehaltene Furcht machte sich nun in einem langgezogenen Heulen der Wut vehement Luft, indem er sich mit vollem Schwung zwischen eine Gruppe Padri warf, die ihre Blastergewehre in Anschlag bringen wollten. Sein Körpergewicht und die Wucht sei nes Ansturms streckte sie alle aufs Deck nieder, sie zap pelten schreiend auf dem Boden. Darwin wütete unter ihnen, bohrte das Messer in Leiber, stieß mit einem Fuß
tritt einen Blasterlauf beiseite und wirbelte herum, zog die Klinge einem Mann durch die Gurgel. Darwin wälzte sich seitwärts aus dem Gewühl, stolper te jedoch, als er auf die Füße hochtorkelte. Er taumelte gegen die Wand — ein Blasterschuß fauchte dicht an ihm vorbei —, rutschte in Blut aus, fiel aufs Gesicht. Seine Faust prallte auf den Boden, die Blasterpistole flog ihm aus den Fingern und rollte davon. Neben seinem Kopf bar sten die Deckplatten, als ein zweiter Blasterstrahl ihn ebenfalls knapp verfehlte, heißes Metall sprenkelte seine Haut. Hastig kroch Darwin vorwärts, kauerte sich auf alle viere, um aus der Hocke aufzuspringen — und sah sich Auge in Auge mit dem Tod. Der Padre, der ihn ins Visier nahm, hatte eine Hal tung eingenommen, als befände er sich auf dem Schießstand, richtete das Blastergewehr genau auf Dar wins Brustkorb. Um einen letzten Abwehrversuch zu machen, schnellte Darwin empor, hielt das Messer tief, wollte es dem Mann in den Unterleib stechen. Doch er handelte zu spät, der Abstand war zu groß. In höchsten Tönen heulte Darwin enthemmt seine ganze Wut her vor. Eine halbe Sekunde, ehe der Padre den Abzug durch gedrückt hätte, zerbarst ihm plötzlich der Kopf. Die Glied maßen des Enthaupteten schlugen noch um sich, als er zu Boden stürzte. Auf einmal herrschte Stille an dem scheußlichen Kampfplatz im Korridor. Verwirrt drehte Darwin sich um, sah Torkild, aus dessen Blasterlauf sich ein Rauchfähn chen kräuselte. Pike füllte die überanstrengten Lungen mit kühlem Atem, während er dem Arpeggianer in die Augen schaute. Zwischen ihm und Alhar ergab sich ein Moment grimmiger Einmütigkeit. Aus den Leichenhaufen erhoben sich, die Blaster in den Fäusten, Susan und Rita, checkten sofort die Batterien ihrer Waffen. »Wir müssen hier hinaus«, schnaufte Torkild, stieß sich
von den zerblasterten Schotts ab. Hinter ihm ragte zer sprengter Graphstahl in den Korridor, erinnerte an Blü ten blätter verwelkter Rosen. Weißer Qualm zog durch den Gang und machte die Luft diffus, die nach verkohltem Fleisch stank. »Unsere Hauptaufgabe ist es, etwas zu zerstören, das >Deus' Faust< genannt wird«, rief Rita, während sie um Atem rang. »Ngen glaubt, mit dieser Waffe, einer Art Mas senschleuder, könnte er den Admiral schlagen. Vielleicht mitsamt der Flotte.« »Die >Faust Also Station Kobalt.« Rita erblaßte. »Scheiße! Patan hat gesagt, es käme an allererster Stelle darauf an, daß Damen sie vernichtet. Ver flucht noch mal! Wenn wir bloß wüßten, welchen Tag sie jetzt auf der Erde haben.« »Auf der Erde? Zum Donnerwetter, wie sollten wir...?« »Laßt uns gehen.« Darwin, der seinen Blaster gefun den und neu geladen hatte, grinste, als hätte sein Gesicht einen Starrkrampf. »Ngen ist drüben. Ich will mir den Dreckskerl schnappen!« »Nicht halb so sehr wie ich«, fauchte Susan, bückte sich, entfernte vom Koppel eines toten Padre eine Sonik granate. Sie zündete sie und warf sie in die Schreckens kammer. Eine zweite und dann eine dritte ließ sie folgen, dann rannte sie in die Richtung, aus der sie zuvor den Raum aufgesucht hatten. »Warum haben Sie das getan?« rief Torkild, der an ihrer Seite lief. Die Explosionen erschütterten das Raumschiff, beulten die Wände ein, brachte das Deck unter den Füßen zum Beben. Hitze und komprimierte Luft der Druckwellen feg ten durch die Gänge. Während sie sich duckte, schenkte Susan ihm, die Kie fer zusammengebissen, einen ungehaltenen Blick. »Sie mochten nicht mehr leben, Kapitän. Ich habe ihnen eine Gnade erwiesen.« »Aber so viele Frauen ...? Vielleicht hätte man sie
durch Psychingtherapie ...« Torkild erschrak über die eige ne Äußerung und verstummte. »O mein Gott ...!« »Ja, ausgerechnet Psyching, was? Verdammt, Torkild, ich habe das gleiche Grauen einmal selbst durchstehen müssen, kapiert? Es ist nicht leicht, damit zu leben. Jede Nacht mache ich es noch einmal durch. Ich wäre lieber längst tot.« Der bittere, scharfe Tonfall ihrer Stimme bewog Alhar zum Schweigen. Er äußerte kein Wort mehr, während er und Susan eilig Rita folgten, die ihnen durch die Schiffs korridore vorauseilte. Kampflärm, den man zunächst nur entfernt und gedämpft gewahrt hatte, wurde immer lauter. Bald mußten sie über kleinere Anhäufungen von Leichen steigen, lauter Padri, bei denen man Coup genommen hatte. Kundig führte Rita ihre Begleitung nach Deck 9. Rita und Susan gingen geschmeidig in die Knie, als Padri auf sie zukamen, hoben die Waffen. Indem sie gleichzeitig und zielsicher feuerten, blasterten sie die Wachen nieder und liefen zum ST. Im Vorbeieilen hieb Rita die Handflä che auf die Servomatik der Schleuse, sackte dann im ST erschöpft zusammen, japste schwer um Atem. »Lausige Wachmaßnahmen. Auf einem Patrouillen raumschiff wird so was nicht geduldet.« Einen Moment lang ruhten alle sich aus, verschnauften, schauten einander an, während Schweiß ihnen über die erhitzten Wangen sickerte. »Dann wollen wir mal abdüsen.« Pike blies die Backen auf, raffte sich hoch. Rita nickte, stemmte sich vom Metall der Wand ab, strich sich das feuchte, rote Haar nach hinten und setzte sich in die Richtung der ST-Zentrale in Bewegung. Susan grinste, umarmte Darwin, küßte ihn, drückte ihn leicht an sich. »Soweit haben wir's geschafft«, sagte sie zwischen zwei Atemzügen. »Diese Leistung ist viele Coups wert.« Pike lächelte, zog sie an sich und küßte sie. »Ich suche
uns ein neues Sortiment Infanteriewaffen zusammen. Ihr fliegt dieses Ding.« Susan schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln, als sie sich Rita anschloß, die Zähne leuchteten ihr weiß aus dem geröteten Braun des Gesichts. »Und ich?« fragte Torkild. Pike zuckte die Achseln, indem er seinerseits Susan folgte. Schwungvoll nahm Susan im Sitz des Feuerleitoffiziers Platz. »Darwin! Rita braucht einen Schutzpanzer. Du und Torkild, ihr schnallt euch in die Sicherheitsgurte. Wir wer den Station Kobalt auf die harte Tour entern.« »Was wird aus den Kriegern? Wir können sie doch nicht ...« »Sie sind auf sich gestellt.« Nachdrücklich schüttelte Rita den Kopf, aktivierte mit flinken Fingern die STSysteme, schob sich ein Kontaktron über die zerzausten roten Locken. »Mit der >Faust< kann Ngen die gesamten Flotte auslöschen. Spielt's da 'ne Rolle, ob wir alle ster ben? Verdammt, den Einsatz muß es uns wert sein.« Kurz schwieg sie. »Susan, die Bordblaster auf die verdammten Greifarme einschwenken!« Unter Darwins Füßen schüttelte es den ST, fast fiel er in den Waffenschrank, den er gerade durchsuchte. Er fand einen Schutzpanzer in Rita passender Größe und kehrte damit zurück in die Zentrale. Rita warf ihm einen dankba ren Blick zu, als sie die zu weite Marlota abwarf und sich in den Schutzpanzer kleidete. »Ich bin froh, daß wir noch rechtzeitig eingetroffen sind.« »Es wäre zu spät gewesen«, widersprach Rita scho nungslos, aber mit leiser Stimme. »Er ist weggerufen wor den. Aber ich war sowieso schon bedient genug. Verflucht, ich weiß nicht, wie Susan das durchgehalten hat.« Ritas Augen glühten von stärksten Gefühlswallungen. »Wie erträgt sie's nur, Pike?« Darwin schluckte, bemerkte Ritas Verstörung; er erriet,
wie unmittelbar vor dem Zusammenbruch sie gestanden haben mußte. »Vermutlich war es ein Glück, daß sie nicht vorher wußte, was sie erwartete, Majorin. Sie hatten zuvor viel Gelegenheit, um es sich auszumalen. Die ganze Zeit, seit sie Ngens Aufnahmen gesehen hatten. Sie ist ahnungs los gewesen. Spinne mag diese Äußerung verurteilen, aber manchmal ist Unwissenheit ein Vorteil.« Rita senkte den Blick und nickte; sie wirkte auf ein mal ausgelaugt. »Ja, wahrscheinlich haben Sie recht. Danke, Doktor. Ich habe 'n bißchen Zuspruch gebraucht. Kann sein, Sie haben mir gerade ein wenig Selbstachtung zurückgegeben.« »Na, was das angeht, Majorin, es gibt kaum jemanden, den ich mehr als Sie respektiere. Unter Ihnen täte ich jederzeit gerne Dienst.« Darwin zwinkerte ihr zu. Rita verhielt, suchte nach Worten, in ihren Augenwin keln glitzerte Nässe. Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um sie zu drük ken, tatschte ihr die Schultern; dann wandte er sich heck wärts, während sie an Torkild vorbei in die ST-Zentrale zurückstieg. »He, vergeßt ihr zwei bloß nicht, was für kostbare Fracht ihr befördert, ja?« rief Darwin über die Schulter, während er dem Arpeggianer zum Mannschafts raum nacheilte. Als Susan aus den schweren Bordblastern feuerte, trüb te sich im ST die Beleuchtung. Das Krachen und Klirren der zerschossenen Greifarme polterte über den ST-Rumpf, erst winselten, dann dröhnten die Antriebsdüsen, als Rita den Flugapparat von der Deus fortlenkte. Torkild hatte sich inzwischen angeschnallt; sein Gesicht hatte eine farblos-fahle Blässe angenommen, seine Augen verrieten Beklommenheit. Darwin schloß die Gurte, sank erleichtert in die elastische Polsterung. Er holte tief Luft und ließ den Atem durch die Zähne entwei chen; erst jetzt fiel ihm auf, wie blutbesudelt er war, wie gräßlich er aussah. Teilnahmslos starrte Torkild vor sich hin.
»Alles klar?« »Was ist bloß mit ihr vorgegangen? Was ist passiert, durch das sie ...? Wie konnte meine liebe, kleine Schwe ster M'Klea ...?« Er drehte den Kopf, ruhte schlaff in den Gurten. »Ich kann's Ihnen wirklich nicht sagen. Ich habe sie vorher nicht gekannt.« »Sie war meine jüngere Schwester, die ...« Konfus stockte Torkild. »Ich muß sie ... Nun muß ich sie töten. Es ist meine Pflicht ... Um der Ehre willen ... O Gott! Was ist nur aus mir geworden ?!« »Warum lassen Sie's nicht einfach auf sich beruhen, Torkild? Es ist ihr Leben, also soll sie es selber gestalten. Sie hat ihre Entschlüsse gefällt. Sie können sie nicht rük kgängig machen, und Sie dürfen sich nicht die Schuld daran beimessen, daß sie sich in eine solche Person ver wandelt hat. Das liegt in Spinnes Verantwortung. Der freie Wille ist die Erklärung. Überhaupt nichts, weder Liebe, noch Ehre, noch Pflicht ändern daran noch irgend etwas.« »Da bin ich mir nicht so sicher ...« Mit einer Hand zeichnete Torkild die groben Umrisse einer Spinne aufs Brustteil seines Schutzpanzers. »Verantwortung trägt man immer, Dr. Pike. Menschen müssen ihre Entscheidun gen zwischen Gut und Böse, Falschem und Richtigem treffen. Wie dumm war es von mir, es mir je anders vorge stellt zu haben. Wie einfältig, zu glauben, das Leben sei leicht, ließe sich unter den Rahmenbedingungen eines schlichten Codex führen.« Er schwieg; dann lachte er. »Ich muß noch sehr viel lernen, Doktor.« »Das gilt für uns alle, Kapitän. Vielen Dank übrigens für den Rettungsschuß in letzter Sekunde. Vielleicht kann ich mich mal dafür revanchieren.« Torkild nickte, schob den Arm zurück unter die Gurte. »Wissen Sie, als ich Ihnen das erste Mal begegnet bin, konnte ich Sie nicht ausstehen. Ich habe nicht verstan den, wer oder was Sie sind. Das ist durch meinen begrenzten Erfahrungsschatz erklärlich.«
»Tja, ich glaube, dann sind wir quitt. Ich habe Sie für einen großkotzigen, egozentrischen Mistkerl gehalten. Aber ich habe mich getäuscht. Ich war der Ansicht, Sie wären unfähig, sich zu ändern.« »Spinne will, daß wir leben und lernen«, rief Torkild in Erinnerung. »Ich wünschte nur, mein Volk hätte nicht so schwer leiden müssen, damit mir irgendwann die Schup pen von den Augen fallen.« Pike rutschte auf der Stelle umher, wo er saß, rückte sich in der Polsterung zurecht. »Das ist eben Spinnes Weg, denke ich mir. Wer sind wir, daß wir Gottes Zwecke in Frage stellen könnten? Verdammt, ich bin sicher, wenn meine Seele zu dem alten Knaben heimkehrt, wird diese hinterhältige numinose Schweinebacke ein ganz bemer kenswertes Scheibchen meiner selbst abkriegen.« »So ... so sprechen Sie über Gott?« Grimmig kicherte Pike. »Darum sind wir auf der Welt, Torkild. Früher war ich Skeptiker. Ich habe Gottes Exi stenz angezweifelt. Dann habe ich bei den Romananern eine anständige Dosis Realitätsbewußtsein abbekommen. Ja, genau das ist es, was Spinne von uns fordert: Ehrlich keit. Ich frage mich bloß, was Spinne mit Ngens Seele machen wird, wenn sie bei ihm eintrudelt. Das könnte glatt zu einem Präzedenzfall der Selbstamputation spiri tuellen Wesens führen.« Torkild schüttelte den Kopf; ihn machten derartige Blasphemien nervös. Pike seufzte. Er hatte Verständnis für Alhars Ratlosig keit. Im Zeitraum von nur Stunden war alles, was Torkild bis ins Innerste seiner Seele als heilig geschätzt hatte, gewissermaßen im interstellaren Sonnenwind verweht worden. Er war an einem individuellen soziokulturellen Nullpunkt angelangt. Der ST bebte, es rüttelte ihn durch, die Beleuchtung flackerte wieder, als Susan die Bordblaster auf einen im Mannschaftsraum unsichtbaren Feind abfeuerte. Rita hatte Ausweichmanöver zu fliegen angefangen. Pike und
Torkild hüpften im Gurtsystem auf und ab, hin und her wurden sie geworfen, als wären sie zwei der seltsamsten Vögel in Spinnes Netz, während der von Ritas geschickten Händen gesteuerte Flugapparat sich kreuz und quer durchs All schraubte. Torkild schluckte, sein Blick huschte hinüber zur Rumpfwandung, als wäre er sich soeben bewußt gewor den, wie dünn sie war. »Wir hängen alle in Spinnes Netz, Kapitän.« Darwin wies, um seine Worte zu unterstreichen, auf das Gurtwerk, in dem sie sich festgeschnallt hatten. »Ich habe die Schlußfolgerung gezogen, daß es am sinnvollsten ist, man findet sich mit dem ab, was einem zustößt, und gibt sein Bestes.« Einen Moment lang schwieg er, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. »Und noch etwas, Torkild ... Hören Sie, falls ich nicht lebend durchkomme ... kümmern Sie sich um Susan.« »Um Susan? Doktor, ich ...« »Festhalten!« schnauzte Ritas Stimme aus dem Kommu-Lautsprecher. *
* *
AN BORD DER PROJEKTIL WÄHREND DER BREMSPHASE BEIM EINFLUG IN DIE GASWOLKEN
Die Sorge drohte Damen Ree ein Loch in den Bauch zu fressen. Rings um ihn summte die Projektil, bremste mit einem Gegenschub von 35 Ge, um das Timing mit der Uhuru und der Kamikaze einzuhalten. Maya und Toby verfügten selbstverständlich über verbesserte GravoKompensation, aber der Langsamste bestimmte das Tempo. Und sie hatten sich — bei Spinne! — nicht geschont, um sich nach Patans Zeitvorgabe richten zu kön nen.
Das geräumige Halbrund der Kommandobrücke glänz te weiß, vibrierte praktisch von zahllosen elektronischen Abläufen, während Kommu, Feuerleitung, Maschinen raum und Sturmtruppen-Stäbe Daten hin- und herschoben. Die deckenmontierten Monitoren strotzten von laserhellen Farben, projizierten Informationen für Techs, die sie ana lysierten, korrigierten und neu eingaben. In seinem Kontu rensessel ruhte mit geschlossenen Lidern, auf dem Kopf ein Kontaktron, der Pilot, bewältigte mit Hilfe der Kommu-Computer die Navigation. Andere Techs beob achteten aus übermüdeten, trockenen Augen die ScanningBildschirme; die Ortung durchforschte pausenlos das Weltall, die Sensoren der Projektil suchten unablässig nach Anzeichen für die Gegenwart Ngen Van Chows oder eines seiner Raumschiffe. An der Deckenverkleidung der Kommandobrücke prangte die von Leeta Dobra gemalte, etwas ungleichmäßig ausgefallene Spinne, schien über allem zu schweben und zu warten. Die Kommu verzeichnete nicht weniger als elf ver schiedene Flugrouten in die Gaswolken. In wissenschaft lichen Termini ausgedrückt, bestanden sie aus der Form einer Kugelwolke angenäherten, schwärzlichen Agglome rationen von Staub und Gasen, von denen DirektoratsAstrophysiker errechnet hatten, daß daraus in ungefähr einhunderttausend Jahren ein Stern entstehen müßte. Die offiziellen Flugrouten — man hielt diese intrane bularen Passagen aufwendig von kosmischen Trümmern gesäubert, und regelmäßig saugten Staustrahl-Großtrajektoren sie von Gas und Staub frei — ermöglichten den interstellaren Transportschiffen eine Dezeleration ohne allzu starke Reibungsphänomene. Natürlich konnte ein Raumschiff mit aktivierten Schutzschirmen jederzeit auf beliebigem Kurs einfliegen, bis es hinlänglich abgebremst hatte, um Schäden zu vermeiden. Ree hörte es in seinem Bauch gurgeln. Er hoffte, daß auch die anderen vier Schlachtschiffe ihre Einflugwege gefunden hatten. Die umgebauten FLF mit ihren weniger leistungsfähigen
Navigationsanlagen konnten nicht so schnell dezelerieren und kamen quasi als Nachhut. Sie waren letzten Endes ohnehin nur als Reserven eingeplant, und man hegte eine gewisse Hoffnung, sie nicht trotz ihrer schwächeren Schutzschirme ins Gefecht schicken zu müssen. Doch zumindest ihre Fujiki-Blastergeschütze mochten sich als entscheidender Faktor herausstellen. Damen Ree, der vorerst nichts mehr zu tun hatte, als den Verlauf des Einflugs mitzuverfolgen, sah die erste Boje vorbeiflitzen, zwischen den Sternen verschwimmen, die hinter der Projektil zurückblieben, trüber als sonst wirkten. Scanningsensoren hatten schon die zweite Boje angepeilt und eine Kurskorrektur veranlaßt. »Das wär's«, sagte Ree. »Jetzt wird's ernst. Tony, exter nalisieren Sie die erste Bake für die FLF. Streuen Sie die Dinger, wie besprochen, in Abständen von zwei AE.« »Zu Befehl, Admiral.« Über einen der Monitoren sau ste ein Streifen Licht, als die Projektil eine Spur für die FLF zu legen begann, die später in die Gaswolken vorsto ßen sollten. »Ist immer noch keine Nachricht von Rita oder Obri stin Kuryaken eingegangen?« erkundigte sich Eisenauge, die muskelbepackten Arme auf der breiten Brust ver schränkt, mit düsterem Ausdruck in den harten Augen. »Für sie ist die Koordination am schwierigsten.« »Nein. Und um ehrlich zu sein, ich habe auch keine erwartet. Bestimmt versuchen sie gar nicht erst, ihren Flug mit uns zu koordinieren. Sie sind auf der anderen Seite der Gaswolken. Die Wahrscheinlichkeit, daß Ngen einen direktionalisierten Subraum-Transduktionsfunkspruch auffängt, ist viel zu hoch. Anhand der Regga-Oszillationen könnte er feststellen, daß er aus naher Quelle stammt. Selbst wenn's ihm nicht gelänge, den Code zu knacken, würde er auf jeden Fall intensivere Ortungsmaßnahmen anordnen. Er wäre gewarnt. Wir wollen hoffen, daß wir's schaffen, ihn völlig unvorbereitet zu überrumpeln.« Eisenauge nickte; seinem Blick ließ sich tiefe Besorg
nis anmerken. Heiliger Spinne, ein Mann hatte das Recht, sich um seine Frau Sorgen zu machen, oder nicht? »Wie lange brauchen wir noch?« Ree schaute auf seinen Kommu-Monitor. »In Relation zur Normzeit berechnet sind es aus unserer Perspektive noch fünf Tage.« Während die Tage sich langsam dahinschleppten, wur den die Gaswolken dichter, und mit dem Zunehmen ihrer Komprimiertheit stieg, während die Gravitation sich gegen den Molekülwiderstand durchsetzte, die Tempera tur. Das Pechschwarz war ins sichtbare Farbspektrum gewechselt, hatte sich, weil jetzt Licht längerer Wellenlän ge den Staub durchdrang, leicht rötlich gefärbt. Und den Kolonisten gefiel es, in einer Region zu leben, in der man keine Sterne sehen konnte? Was für eine Art von Menschen sie auch sein mochten, sie produzierten die dünnsten Molekülketten und die härtesten Graphitfasern des Universums. In vergangenen Zeiten — so ließ es sich jedenfalls in den Archiven aus bestimmten Aufzeichnun gen schlußfolgern — hatte man aus solchem Graphit kom plette Raumschiffe gebaut. Auch das war ein Beispiel für vergessene Bruderschaftstechnologie. Ree besah sich die als Holo projizierten Karten. Inzwi schen hatten sie die halbe Strecke zurückgelegt. Das Chro nometer, das Erdzeit anzeigte, rückte nur gemächlich vor wärts, weil es sich aufgrund des Relativitätseffekts fortlau fend selbst Korrekturen unterziehen mußte. Daran konnte Ree die Dezeleration wie an einem Geschwindigkeitsmes ser ablesen. Ruhelos stapfte Damen Ree auf und ab, verbrachte lange Stunden mit dem Feuerleitoffizier an dessen Ziel computern, versuchte alle Eventualitäten der bevorstehen den Schlacht vorherzuahnen, veranlaßte eine perfektioni stische Vervollkommnung der Rollmanöver, die es ermög lichten, wenn die Geschützdecks einer Bordseite ausfie len, die andere Seite um 180° in dieselbe Richtung zu dre hen. Die neuen Mannschaftsmitglieder, junge Romananer
auf ihrem ersten Raumflug, bildeten sich in unaufhörli chem Drill zu Experten in der Schadensbekämpfung aus, in Verhaltensmaßregeln bei Schwerkraftverlust und gleichzeitiger Beschleunigung, Tätigkeit unter Vakuumbe dingungen und zu Evakuierungsspezialisten. Eisenauge beobachtete, ständig mit der Kommu in Verbindung, wie seine Romananer und Sturmtruppler sich in Übung um Übung auf Hochform trimmten, bis sie kaum noch stehen konnten, drängte unnachgiebig auf Ausmerzung aller Schwächen. In den Casinos, in denen Null-Ge die Verhältnisse von Weltraumstationen oder des Vakuums simulierten, trainierten seine Leute ihre Kampfmethoden. Schließlich blieb nur noch ein Tag bis zum Rendez voustermin. Eine gewisse Spannung machte sich bemerk bar, es schien, als zöge sich eine riesige Plastikfolie eng und straff ums Schiff zusammen und verursachte all gemeine Beklemmung. Man hörte seltener Späße, das Lachen klang gezwungener. Jeder wußte, voraus befand sich Ngen Van Chow, trieb irgendwo hinter den rötlichen Gasen, durch die sie sich ihm näherten, sein Unwesen. Infolge der erhöhten Infrarotstrahlung in den dichten Gasen ringsum nahm die Außentemperatur des Schiffs rumpfsstetig zu. Längst glühten die Schutzschirme. Wie der blieb ein gelblicher Streifen Helligkeit hinter der Pro jektil zurück, als sie erneut eine der zahlreichen, mit blau weißen Leuchten ausgestatteten Baken externalisierte, die den FLF die Flugrichtung markierten. Das erste Anzeichen drohender Aussichten trat auf, als man Ree Fluktuationen der Massendetektoren meldete; es handelte sich um die lediglich schwache Messung eines Vorgangs in weiter Entfernung. »Verdammt, was ist denn das?« Er hatte gerade über einem imaginären Problem gegrübelt — wie die Projektil einem Rickenbacker-Turn Ngens, um Torpedos abzufeu ern, begegnen könnte — und hob nun den Blick. Den Kaf feebecher in der Hand, konzentrierte er sich mißgelaunt
auf den anderen Monitor. »Wenn das 'n Defekt ist, will ich ihn behoben haben, und zwar sofort, Leute.« Unverzüglich stürzten sich Techniker auf die Geräte, um zu prüfen, ob etwa eine Sensor-Fehlfunktion die Ursa che sei. Verzweifelt wünschte sich Ree, er könnte mit S. Montaldo über die Sache sprechen, dem Direktoratsplanetologen, der auf Welt die kommerzielle Verwertung der Toronressourcen managte. Was konnte über so große Entfernung hinweg eine Störung der Massendetektoren auslösen? Vier Stunden später kam es zu einer zweiten Irregularität. Keines der Instrumente war unzuverlässig geworden, neigte zu Abweichungen bei den Maßangaben, also mußte der Ursprung der Störungen irgendwo in den Gaswolken zu finden sein. »Admiral?« Die herbe Tech im Leutnantsrang schwang den Oberkörper aus einem unter der Rumpfwandung mon tierten Sensor-Gehäuse. »Wenn ich 'ne Vermutung äußern darf, ich würde das eine Mikrosingularität nennen. Aller dings ist es so, Sir ... Naja, an sich ist bekannt, daß derar tige Singularitäten nur in den ersten paar Sekunden nach dem Urknall existiert haben.« Ree schnitt eine finstere Miene, sein Blick huschte ver drossen über diverse Monitoren. Gelegentlich raste die Projektil durch Schwaden gespenstisch erleuchteter Gase. Der Flug ähnelte, dachte er sich, dem Durchqueren einer Nebelbank. Man wußte nie, wo die Hindernisse lauerten. Die Gaswolken verhehlten mehr als nur Licht. Was moch te sich außerdem im Innern der glühendheißen Gase zusammengebraut haben? Ree bekam einen neuen Magen krampf; ihm war, als fräße etwas mit messerscharfen Zähnchen am empfindlichen Gewebe seines Verdauungs apparats herum. Die Situation besserte sich keineswegs, während die Projektil auf die Kolonien zuflog. »Admiral?« rief die Tech. »Wir haben nochmals so eine Gravo-Fluktuation gemessen. Aber diesmal auch auf schlußreiche Begleiterscheinungen. Eine Fokussionswelle
und eine ziemlich starke Gammastrahlung. Anscheinend nimmt die Häufigkeit der Massenfluktuationen zu.« »Und?« Ree kaute seine Daumennägel ab, während die Tech eine Simulation nach der anderen durch die Compu ter laufen ließ, der Streß ihrer Stirn und den Augenwinkeln Falten einfurchte. Am Ende blieb immer nur ein und die selbe Erklärung übrig. »Hawking-Effekt.« »Sind Sie sicher?« Das Aufseufzen der Tech sprach für sich, aber sie ant wortete trotzdem. »Um ganz ehrlich zu sein, Admiral, es verhält sich wirklich und wahrhaftig so, daß ich es nicht weiß. Das Vorhandensein quantenintensiver Schwarzer Löcher in den Gaswolken müßte eigentlich allgemein bekannt sein. Hier sind schon zu lange zu viele Menschen montanindustriell tätig, als daß man so etwas hätte überse hen können. Noch merkwürdiger ist der Umstand, daß die Zahlen der Meßdaten zu niedrig für Urknallüberbleib sel sind. Man muß sich ... Na, stellen Sie sich ein Loch mit den Maßen eines Protons vor, es hat einen Durchmesser, sagen wir mal, von zehn hoch minus dreizehn Zentimetern und eine Masse von etwa einer Milliarde Tonnen. An der Stärke der Hawking-Strahlung kann man den Verfall des Schwarzen Lochs ablesen. Masse dividiert durch Verfalls geschwindigkeit ergibt eine durchschnittliche Lebensdau er von ungefähr zehn Milliarden Jahren. Schwarze Löcher dieser Größe müßten als schon vor vier Milliarden ver schwunden sein. Darum haben wir es an diesem Zeitpunkt in der Geschichte des Universums mit größeren Schwar zen Löchern zu tun. Aber die Meßdaten, die diese Explo sionen uns übermitteln, sind um mehrere Größenordnun gen zu schwach. Parallaxen der Gammastrahlung erlauben die Schätzung, daß die gemessenen Partikel im Umkreis von bis zu zwanzig Astronomischen Einheiten von uns entfernt auftauchen. Tja, Sir, und nach der errechneten Größe der hypothetischen Urknall-Singularitäten müßten beim Verfall Explosionen in Stärke von zehn bis zwanzig
Millionen Megatonnen entstehen. Das ist aber nicht der Fall.« Rees Atem entwich durch zusammengebissene Zähne; er starrte geistesabwesend in seinen Kaffee. »Und wie lautet Ihres Erachtens die plausibelste Schlußfolgerung, Leutnantin?« »Zerfallende Mini-Schwarze-Löcher, Sir. Vielleicht haben sie bloß 'ne Masse von wenigen Kilo. Wird sie weit genug komprimiert, kommt es zum Singularitätseffekt. Sie wird heiß, strahlt höllisch und ist unglaublich instabil. Man könnte sie als kurzlebige Schwarze Löcher des Urknalltypus mit einer Lebensdauer von etwa zehn minus sechsunddreißig Sekunden bezeichnen.« »Aber wir messen ja gleich reihenweise welche. Wieso?« Ungeniert kratzte sich die Tech am Kopf. »Äh ... Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich ... Tja, bei der Energiestärke ist vielleicht irgendwer dazu imstande, sie durchs All zu schleudern.« »O Gott, nein!« Ree stutzte, saß plötzlich stockstarr da. »Die Bruderschaftsgeheimnisse, die Ngen geraubt hat ... Damit muß es zusammenhängen.« Die Tech schluckte und wurde blaß. »Kriegshäuptling?« Ree wandte sich um. »Hast du alles mitgekriegt?« Eisenauge nickte. »Ich glaube ja. Kann das Ngens Überraschung sein? Ähnlich wie er im Siriussystem eine für uns bereitgehalten hat?« »Leutnantin, ich will nicht, daß diese Information sich herumspricht. Ich stufe Ihre Spekulationen als streng geheim ein. Verstanden? Gut.« Ree rieb sich die verspann ten Muskeln rings um die Augen. »John, laß uns in mein Quartier gehen. Es dürfte besser sein, diese Sache einmal von allen Seiten genau zu durchdenken. Daß wir Gedan ken über unsere Optionen anstellen.« Wortlos strebten sie, umsummt von den Aktivitäten der Projektil, zu Rees Kajüte. Bot das Schlachtschiff noch
Schutz? Gegen wirklich alle Arten von Waffen? Per Handkontakt öffnete Ree die Tür, beim Eintreten wanderte sein Blick über die romananischen Waffen, die eine der Wände schmückten, War es tatsächlich in diesem selben Leben geschehen, daß er sie erbeutet hatte? Von der Wand fiel der Blick auf die leere Scotchflasche. Schade. Mit dieser Flasche verband er viele Erinnerungen, und gerade jetzt wünschte er sich nichts sehnsüchtiger, als daß sie voll wäre. Die Tür glitt zu, sobald auch Eisenauge die Schwelle überquert hatte. Er bemerkte den düsteren Ausdruck in Rees Miene, nahm in einem Sessel Platz. »Also, was hat das zu bedeuten? Fliegen wir wieder einem Massaker entgegen? Erwartet uns ein ähnliches Debakel wie auf Sirius? Was können diese Quantenphäno mene uns anhaben? Diese Schutzschirme durchschla gen?« Eisenauges Gesichtszüge bezeugten Unsicherheit. »Müßte die Freisetzung von soviel Energie — ich meine, schon in dem Rahmen, den die Tech erwähnt hat —, uns nicht vernichten?« »Du hast allerhand dazugelernt.« Hintersinnig lächelte Eisenauge. »Ich habe mir viel Zeit in der Schlafstimulation gegönnt, mich öfters mit Techs unterhalten, in die Dinge eingeweiht, die den Betrieb eines Raumschiffs ermöglichen. Quantenphysik übersteigt mein Begriffsvermögen, zumindest ihre Mathe matik und die praktischen Anwendungen. Aber es stimmt, ja, ich habe trotz des Kriegs meine Studien fortgeführt. Daß Rita schon so lange fort ist, war mir eine Hilfe. Es fällt leichter, unterm Einfluß der Stimu einzuschlafen und sich Astrophysik eintrichtern zu lassen, als dergleichen zu lernen, wenn man mit Rita zusammenliegt und sie begehrt.« Weit spreizte er die Finger, betrachtete seine Hände. »Und ich habe vor längerem einmal Leeta Dobra versprochen, lesen zu lernen. Diese Fähigkeit ist wie ein gutes Pferd, sie trägt an so viele wunderbare Orte, von denen man vorher nicht einmal im Traum geahnt hat, es
gäbe sie irgendwo zu entdecken. Aber Mathematik ... Nun ja, das ist eine ganz andere Geschichte.« »Weißt du, sie wäre stolz auf dich.« Eisenauge fuhr sich mit schwieliger Hand übers Gesicht, wechselte das Thema. »Es war die Rede von künstlich generierten Massenphänomenen ...?« »Genau, aber im Gegensatz zu großen Singularitäten haben sie offenbar nur sehr kurze Lebensdauer. Ich glau be, Ngen verfügt über irgend etwas, das Materie so gewaltsam komprimiert, daß ihre Masse nach >außer halb< des normalen Kosmos gepreßt wird, und sobald sie zurückkehrt, ist der innere Druck der Masse größer als die Schwerkraft, die sie zusammenhalten müßte, und es macht Bumm!« »Wie bewirkt man so was?« fragte Eisenauge, während er, die Miene trübsinnig, seinen Kriegsdolch betastete. »Keine Ahnung. Diese Art von Technik ist uns derma ßen weit voraus, als sollten wir mit Steinäxten gegen Bla ster kämpfen. Theoretisch ist eine solche Methode natür lich denkbar, aber nach unseren Kenntnissen, was Materi alien und ihre Belastbarkeit betrifft, bleibt eine Nutzan wendung unvorstellbar.« »Das gleiche gilt für Propheten.« »Erinnere mich bloß nicht daran. Mir ist sowieso schon mulmig genug zumute.« »Dann müssen wir unser Vertrauen auf Spinne setzen«, konstatierte Eisenauge. »Wir haben etwas, das Ngen fehlt, nämlich den Überraschungsvorteil. Er könnte letzten Endes die ganze Schlacht entscheiden.« »Sollten wir ihn womöglich nicht haben, wird die gesamte Operation innerhalb von Sekunden vorbei sein — vorausgesetzt allerdings, er kann mit seiner Superwaffe zielen. Und die FLF, die uns nachkommen, hätten allein keine Chance.« »Darum ist es ratsam, wir machen alles richtig. Wenn wir nicht sofort die ST starten, Station Kobalt anvisieren — sicherlich täuschen wir uns nicht in der Annahme, daß
sie der Standort des Massenkompaktors ist — und Ngens Flaggschiff zerstören, werden unsere Seelen im Handum drehen auf dem Heimweg zu Spinne sein.« Je näher das Rendezvous heranrückte, um so signifi kantere Massenanomalien — bis hin zur Beobachtung von Leuchtphänomenen inmitten der dichten Gaswolken — verzeichneten die Detektoren der Projektil. »Eben haben wir die letzte Boje passiert, Sir«, meldete der Steuerraum. »Uhrzeit?« »Es ist jetzt zwei Uhr fünfundzwanzig Mittlerer Green wicher Zeit, Admiral.« Ree nickte in die Richtung des Kommu-Apparats. »Laß die ST warmlaufen, Eisenauge. Viel Glück! Die Ein heiten sollen in genau fünf Minuten zwischen die Kolo nien einbrechen. Wir riegeln diese Zone ab und geben an Feuerschutz, was wir können.« Um zwei Uhr dreißig beendete Ree die Funkstille. »Im Namen Spinnes, Tod dem Feind«, rief er. Aus den Gasund Staubschleiern fiel die Projektil über die feindliche Flot tenkonzentration her, ihre Blastergeschütze feuerte auf alles, was nach umgebauten FLF aussah. An diesem Tag erhielt Admiral Ree nur eine gute Nachricht: Die Überra schung war perfekt. Den Patrouillenstreitkräften — mit Ausnahme der Kamikaze — gelang ein bestens getimtes Rendezvous. Dann jedoch schlug Deus' Faust zu.
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AN BORD VON STURMTRANSPORTER 22, GASWOLKEN-KOLONIEN
Ein ohrenbetäubend lautes Krachen zerriß die Luft. Ein wuchtiger Ruck schleuderte Darwin Pike ins Gurtsystem. Der Anprall brachte den ST zum Stillstand. Darwin und Torkild baumelten wie Marionetten in den Gurten. Susan griff sich aus dem Waffenschrank Blastergeweh re und eilte flink zur Schleuse. Darwin befreite sich aus den Gurten und nahm ein Blastergewehr von ihr entgegen. Er lächelte ihr kurz zu, während auch Torkild sich mit einem der schweren Gewehre bewaffnete und sich Batte rien um die Taille schnallte. Beutel um Beutel teilte Susan Handgranaten aus. »Schleppt mit, soviel ihr könnt. Sobald wir den ST ver lassen haben, sind wir ganz auf uns angewiesen.« Rita winkte die drei zur Luke. »Draußen ist Vakuum. Raumhelme anlegen!« Mit geschickten Fingern war sie Torkild behilflich. »Helmfunk checken!« Einer nach dem anderen prüften sie die Sende- und Empfangsfunktionen der Helmfunkgeräte. »Alles in Ordnung. Dann mal los! Seid vorsichtig. Auf Verwundete können wir keine Rücksicht nehmen. Wer verletzt wird, bleibt liegen.« Einen Spaltbreit öffnete Rita die Luke, warf eine Sonik-Handgranate hindurch und ging in Deckung. Die Detonation barst an allen Seiten Risse in Schotts, Trüm merstücke stoben im Heulen und Pfeifen des Wirbelwinds davon, der mit enormer Sogwirkung zu der Bresche brau ste, die der ST in die Stationswandung gestanzt hatte. Irgendwo gellte Dekompressionsalarm, dessen Laut stärke im selben Maß schwand, in dem die Luft entwich. »Ich würde sagen, es ist am sinnvollsten, wir greifen zuerst die Energieerzeugung an«, schlug Susan vor, sprang mit einem Satz zum ST hinaus, stemmte sich gegen den
Sog der Dekompression. »Wenn wir's schaffen, dort Zer störungen anzurichten, müßte die Station dadurch lahmge legt werden. Je mehr wir demolieren, um so besser.« Hinter ihr schwang sich Torkild aus dem ST. »Für wie wahrscheinlich halten Sie es, daß es uns gelingt, eine so große Station ernsthaft zu beschädigen?« »Ich klammere mich lieber an eine geringe als an gar keine Wahrscheinlichkeit.« »Alles liegt in Spinnes Wille«, brummte Rita, kletterte über hüfthohe Gebilde aus schwarzen Walzen, dick gebün delte Mengen von Nummer-Fünf-Energiekabeln; zahlrei che der voluminösen Leitungen waren durch den Ein schlag des dolchspitzen ST-Bugs aus ihrer Lage gedrängt und zuhauf zusammengeschoben worden. Der Frach traum, in den der ST sich gebohrt hatte, war völlig ver formt, die Wände hatten sich durch das Eindringen des Flugapparats gelockert, hingen schief. Nur zwei Decken leuchten funktionierten noch. Nach den Schwerkraftver hältnissen mußte der ST sich aus seitlicher Richtung, am Rand, in die Station gespießt haben, anstatt sich durch die Fußböden zu rammen. »Hier.« Rita winkte, plazierte an einer Wand Handgra naten, ging hinter einer Ecke in Deckung. Wumm-bumm! Schon stürmte sie durch die Lücke, Atmosphäre zischte aus dem gezackten Spalt, den sie in die Wand gesprengt hatte. Kein Tür-Servomat war noch in Betrieb, die Mechanis men waren aus Sicherheitsgründen entweder durch zentra le Steuerung oder beim Dekompressionsalarm automa tisch desaktiviert worden. Zertrümmerte Schotts und dekomprimierte Räume kennzeichneten das weitere Vor dringen der vier ins Innere der Station; da und dort liefen sie an einem Padre vorüber, der sich auf dem Boden wand und keuchte, erstickte, während Luft durch den von ihnen freigesprengten Weg in die Richtung winselte, wo der ST im Stationsrumpf stak, sie mit sich Schreibfolien, Schrift stücke und Plastikhüllen hinausfegten.
Jede Wand erforderte zu ihrer Beseitigung eine Sonik granate, und nach jeder Explosion rutschten todgeweihte Padri, trudelten Trümmer durch die Schneise der Zerstö rung und das Leck hinaus ins All. »Achtung!« Darwins Ausruf rettete alle vier. Im Augenwinkel hatte er seitlich hinter ihrem Grüppchen Bewegung bemerkt. Kaum sah er das schwere Blasterge wehr, halbierte Darwins Blasterstrahl den Padre, der es soeben anlegen wollte, dann brachte er sich mit einem weiten Satz in Deckung, unmittelbar bevor eine Handgra nate Ritas die nächste Trennwand zerfetzte. Darwin drückte sich um die Ecke eines durchgesackten Bauelements, kauerte sich klopfenden Herzens im Halb dunkeln zusammen. Zwei Padri sprangen über ein umge kipptes Pult und hielten sich in dessen Schutz außer Sicht. Weitere Padri robbten durch das Gewirr umgewor fener Antigrav-Sessel, defekter Monitoren und verstreuter Kommu-Einzelteile. Schon sprengte Rita zwei Räume weiter die Wand. Sobald die Padri zur Attacke übergingen, stemmte Pike die Waffe fester an die Schulter und blaster te die Angreifer nieder. Beim Vordringen entfernte Darwin sich zusehends von Susan. Noch eine Gruppe Padri stellte sich ihnen entge gen, kam auf sie zu, ihr Vorgehen zeugte von gründlichem militärischen Drill. Pike hob das schwere Blastergewehr und wartete. Die erste Welle durchquerte einen freien Raum. Darwin schoß sie zusammen. »Pike?« »Ich gebe euch Rückendeckung. Immer nur vorwärts! Ich komme schon klar.« »Darwin?« Das war Susans Stimme. »Tu nichts Hel denhaftes. Bleib am Leben.« Angesichts der unterschwelligen Flehentlichkeit ihrer Bitte zog Darwin die Schultern hoch. Aus den Deckungen der zweiten Padri-Welle röhrten Blasterstrahlen herüber. Splitter und heißes Metall über schütteten seinen Schutzpanzer. Darwin schleuderte eine
Sonikgranate, sah erschrocken, wie sie sich unglaublicher weise von ihrer Bahn krümmte und an der Wand detonier te: Coriolis-Effekt! Die Wand flog auseinander, die Explo sion tötete die Padri oder machte sie benommen, und Dar win vernichtete die gesamte Abteilung. Es war geradeso, als lockte man Schneehasen in eine Falle. Falle? Darwin hatte eine Idee. Mit Klebestreifen heftete er eine Sonikgranate an die Wand, befestigte einen dünnen Draht, den er aus einem beschädigten Gerät zupf te, an der Zündung und zog ihn quer vor einen Eingang. Er hängte sich den Blaster um und lief ein Stück weit zurück, verminte auf dieselbe Weise eine ganze Anzahl der in Wände gesprengten Löcher. Ob die geistlosen Padri über haupt je auf den Gedanken kämen, auf so etwas achtzuge ben? Sekunden später spürte er hinter sich eine Erschütte rung. Wie geisterhaft es war, durch die stillen dunklen Räume zu eilen, den Boden unter den Füßen beben zu füh len! In einigen verwüsteten Bereichen brannten noch Leuchtkörper, überall lagen Gegenstände und Utensilien, der andauernde Luftzug der Dekompression wirkte auf Pike wie Gegenwind. Fast hätte er die bereits erhitzte Stel le übersehen. Erst als er vom Ankleben einer weiteren Handgranate aufblickte, sah er, daß die Wand rot glühte, die Hitze steigerte sich gleich darauf zur Weißglut. Das Metall begann zu schmelzen, beulte sich aus, platzte zischend auf. Ein langer ausfahrbarer Tunnel, der offenbar unter Innendruck stand, schob sich durch die Öffnung. Darwin stieg über seinen Stolperdraht und beobachtete die Röhre. Eine mobile Schleuse. Ein Umfassungsmanö ver war eingeleitet worden. »Susan? Rita?« Keine Antwort. Abgeschnitten? Tot? Ihm blieb gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Er mußte fort. Er lauerte neben der Schleu senpforte, als jemand sie einen Spaltbreit aufmachte. Sobald die Handgranate herausflog, grapschte er zu und warf sie zurück in den Schleusentunnel. Er duckte
sich, zuckte zusammen, als Splitter die Tunnelwandung durchschlugen und ihm auf den Schutzpanzer prasselten. Und was nun? Spontan riß er die Schleusenpforte auf, sprang über die Sterbenden und Toten hinweg. Hinter dem anderen Ausgang mußten sich Padri aufhalten, die die mobile Schleuse steuerten. Sie rechneten wahrschein lich nicht damit, daß er hindurchgesprungen kommen und losballern könnte. Ein viel zu verrücktes Betragen. Nicht einmal ein Idiot täte so etwas Verrücktes. Reiner Selbst mord. Mühsam schluckte er. Und sollten Susan und Rita ... Handeln, nicht denken! In Bewegung bleiben. Zeit heraus schinden. Und hoffen, daß Susan am Leben ist. Bestimmt ist sie es. Sie befindet sich nur außerhalb der Helmfunk reichweite. Ich muß für Ablenkung sorgen. Ihnen den Rücken freihalten. Hinter seinem Rücken fiel die Pforte zu, neue Luft wurde in den Schleusentunnel gepumpt, der Druckwech sel verursachte ein Knistern auf Darwins Schutzpanzer. Die letzte Sonikgranate, auf Kurzzündung eingestellt, ruhte schwer in seiner Faust. Die Pforte vor ihm schwang auf, Darwin lächelte in die stumpfsinnigen Mienen der Padri und schleuderte die Handgranate in ihre Mitte. Er knallte die Tür zu, die Detonation erschütterte seine Umgebung. Sofort stieß er die Pforte weit auf und feuer te Blasterstrahlen zwischen die Gestalten, die sich auf dem Fußboden wanden oder umherkrochen. Einen Moment später sprang er hinaus, er schoß, schrie und tötete. Er nahm einem der Toten Granaten ab und suchte hin ter einem Haufen aufgetürmter Gefallener Deckung, als Strahlbahnen in seiner Nähe vorbeifauchten. Er streifte den Helm ab, der Gestank nach verschmortem Fleisch ver schlug ihm schier dem Atem. Er würgte, rang mit dem Brechreiz, um sich nicht zu übergeben. »Ich muß hier weg ...« Blastertreffer bewegten die Leichen, ließen sie rucken und zucken.
»Züge Drei und Vier nach rechts. Feindliche Stellung umfassen. Angriffsschema Drei. Vorwärts ... los!« Pike versuchte, nicht zu atmen, biß sich auf die Lip pen. Ohne klare Befehle konnten Padri nicht kämpfen; irgendwo im Umkreis war ein Ungepsychter. Ngens frei willige Söldner — die Anführer der Padri — rückten jetzt selbst an. »Ich muß verschwinden ... sonst erledigen sie mich.« Darwin zündete eine Sonikgranate und warf sie in hohem Bogen über den Leichenhaufen. Erneut trat der Coriolis-Effekt auf, als die Granate von einer Tür abprall te und explodierte, die Padri mit einem Hagel von Metall splittern eindeckte. Pike raffte sich auf, rutschte beinahe in der Brühe aus, mit der er sich vorn beschmiert hatte, griff an. Er schaffte es nicht schnell genug, die Padri niederzu machen. Ein Strahlschuß waberte über die Seite seines Schutzpanzers, sein Ellbogen wurde gefühllos. Indem er das Blastergewehr nur noch mit aller Anstrengung im Anschlag hielt, belegte Darwin den Raum mit Dauerfeu er, dann hastete er durch eine andere Tür und gelangte in einen Korridor. »Abteilung Zwei, zurückziehen! Feind ist ...« Der Mann schaute hoch, sperrte die Augen auf, das Kinn sank ihm abwärts, als Darwin die Gewehrmündung auf ihn richtete. Der Schuß traf den Mann mitten in die Brust und zerfetzte ihn. Darwin hörte hinter sich Stimmen aus Kommunikato ren quäken. Jemand schnauzte Befehle, gruppierte die Padri um. Pike rannte durch den Korridor, eilte geduckt einen Aufgang hinauf und drang in die nächsthöhere Etage vor. Im leeren Gang blieb Darwin keuchend stehen, zuckte zusammen, als er versuchsweise den Ellbogen bewegte. Es war zu erwarten, daß man die Befehlslücke rasch schloß, die Padri-Abteilungen neu ordnete und sie ihm nachjagte.
»Aber erprobte Kämpfer sind sie nicht«, knurrte Dar win. »Ach, was rede ich da für 'n Quatsch?! Ich bin ja auch keiner.« Irgendwie war er in die Nachbarschaft einer der dem Stationsrumpf aufgesetzten Reaktoranlagen verschlagen worden. Ein Zug Padri stampfte die Treppe herauf, über die Pike eben geflüchtet war; er lief erneut los, sprintete den Korridor entlang. Ein Offizier schlitterte um eine Ecke, verharrte, fing Weisungen in einen Kommunikator zu rufen an. Die ihm unterstellten Zombies drangen vor. Pike ging ins Knie, feuerte blitzartig, erwischte den Offizier seitlich am Kopf. Die Padri legten ihre Waffen an, schossen im Einzel feuer, die energetische Glut der violetten Strahlbahnen ramponierten Wandsegmente des Korridors. Pike krauch te seitwärts, um Schüssen auszuweichen, die plötzlich von hinten ballerten. »Jetzt sitze ich in der Klemme, gottverdammt noch mal«, knirschte er, bemerkte inmitten der größten Ver zweiflung auf einmal das Abdeckgitter eines Lüftungs schachts. Er trat es ein und ließ sich in die Öffnung fallen. Trotzdem wurde das Blasterfeuer fortgesetzt, ja sogar hef tiger und lauter. Rings um Pike erzitterte infolge der Ent ladungen das Innere der Station, während er in dem engen Hohlraum hockte. Bald würde ein weiterer Offizier aufkreuzen und die Koordination übernehmen. Solange Pike sich in Bewe gung hielt, sich nicht in die Enge drängen ließ und als erster die Offiziere tötete, hatte er eine Chance. Auf Hän den und Knien krabbelte er zum Lüftungsschacht, einer ovalen Röhre von ungefähr zwei Metern Durchmesser. Vorsichtig steckte er den Kopf hinein, sah den Schacht durch eine Leuchtfläche je Etage trüb erhellt. Im Schacht führten — Spinne sei Dank! — Steigeisen in beide Rich tungen. Darwin lugte nach unten und sah eine Etage tiefer
grauen Boden. Unter der dicken Stationswandung verlie fen in Bündeln beträchtlichen Umfangs Energiekabel. Pike zuckte die Achseln und schoß die Kabel entzwei, per forierte dabei auch die Außenwandung. Er rammte eine Ersatzbatterie in den Blaster. Grimmig spähte er nach oben. Der Schacht war dermaßen hoch, daß man die ober sten sichtbaren Leuchtflächen nur als winzige Lichtlein erkennen konnte. Das mochte für ihn kaum der richtige Weg sein. Oder doch? Um den Gegner noch wirksamer abzulenken? Damit er, sobald Pike weiter oben zuschlug, seine Kräfte teilte? So daß Susan und Rita entlastet wur den? Er klammerte eine Faust um eines der Steigeisen und fing an, heilfroh über die niedrige Stationsschwerkraft, nach oben zu klettern. Vier Etagen hatte er hinter sich gebracht, als er merkte, daß seine Muskeln etwas erlahm ten. Er hatte wieder zu japsen begonnen, erlitt Schweiß ausbrüche, der Schutzpanzer schabte ihm, wenn seine Lungen sich beim Ringen um Atem dehnten, beim Ausat men schrumpften, den Brustkorb auf; sein versehrtes Bein gehorchte nicht mehr so recht. War die Prothese beschä digt worden? »Ist bloß 'n bißchen Erschöpfung ... Sonst nichts.« Und nicht der Krebs, nicht die in Mitleidenschaft gezogenen Nerven, es ist nicht so, daß sie nun, da das Adrenalin ver arbeitet wird, zu erschlaffen drohen ... Ach was, sieh den Tatsachen ins Auge, du trägst den Tod in dir! Seit nahezu zwei Monaten hast du in keiner Med-Einheit mehr gele gen. Wie viele winzige Tumore wachsen jetzt schon wie Pilze in deinem Körper heran ? Wieviele Hunderte von Onkogenen sind durch die Regenerationstherapie aktiviert worden? Das ist der Grund, warum du schlappmachst. Er biß die Zähne zusammen, zwang sich dazu, zügiger an den Steigeisen emporzuklimmen, um sich zu beweisen, es könnte nicht wahr sein. Die ersten, schwachen Vibrationen entgingen ihm, er gewahrte das Vibrieren erst, als das Geräusch die Luft
durchdrang, es anschwoll, bis es schließlich dermaßen an Lautstärke gewann, daß die Metallstange, um die seine Hand lag, von der hohen Frequenz zitterte. Mit einem Mal erbebte die gesamte Station, ein dunkles, tieffrequentes Summen wuchs zum Brummen, zum Dröhnen an. Furcht sam faßte Darwin, überwältigt von Bestürzung, das Steig eisen fester, schloß die Lider. Völlig desorientiert zwinker te er in die Dunkelheit, bekam einen Schwindelanfall, als Schwerkraftfelder sich überlappten, gegenseitig beein flußten. Danach herrschte für einen Sekundenbruchteil vollkommener Stille. Er erlebte, schlußfolgerte Pike, den Einsatz der >Faust< von innen mit. Um die Ohren vom Druck zu befreien, der auf ihnen lastete, schnaubte er; seine Nasen höhlen schmerzten, fühlten sich verstopft an, als ob sich darin etwas staute. Mit erneut zusammengebissenen Zäh nen setzte Darwin den Aufstieg fort. Schweißüberströmt klomm er aufwärts. Er schien end los lange klettern zu müssen, bis ihm die Muskeln schlot terten, die Gliedmaßen wehtaten, die allgemeine Abstumpfung, wie sie bei Überanstrengungen auftrat, seine Willenskraft untergrub. Aber er weigerte sich, ein fach aufzugeben, in eine der Etagen zu steigen, die Furcht vor dem Krebs trieb ihn immer weiter nach oben. Dank des Sinkens der durch die Stationsrotation verursachten Winkelbeschleunigung war sein Gewicht verringert wor den. Er blinzelte, schaute über die Schulter hinab, starrte in die Tiefe, deren scheinbare Bodenlosigkeit ihm wieder ein Schwindelgefühl bereitete. »Ablenkung ... Du mußt nach oben klettern und noch ein wenig um dich schießen ... Schaden anrichten. Die Padri beschäftigen. Zeit gewinnen.« Inzwischen war er, indem er sich immer weiter vom Stationsaußenrand ent fernte, hoch genug gelangt, um jeweils zwei Steigeisen auf einmal überwinden zu können. Zu guter Letzt endete sein Aufstieg in einem großen Raum, in dem nahezu Null schwerkraft herrschte. An einer Seite befanden sich riesi
ge Filter, an die sich Hochleistungs-UV-Sterilisationsröhren anschlossen, die die Atemluft durchströmen mußte, bevor Pumpen sie in den Schacht preßten. Darwin ver schnaufte, ließ seine warme, schweißfeuchte Haut von der Zugluft kühlen. Die Anlage, die er sah, arbeitete nach einem ausgesprochen gut durchdachten Funktionsprinzip. Pumpen beförderten die Luft durch Ventile zur Reinigung in die Filter, und die Winkelbeschleunigung drückte sie anschließend hinaus. Darwin besann sich auf sein Null-Ge-Training, schwebte zu einer Luke und öffnete sie am Servomaten per Handflächenkontakt. Er schwang sich hindurch, warf sie von der anderen Seite zu. Er geriet in künstliche Schwerkraft. Helles Licht — nach der Düsternis im Lüf tungsschacht empfand er sie als fast unerträglich grell — beleuchtete einen typischen, weißen Stationskorridor. »Und wohin nun?« Er entschied sich für rechts. Lang sam durchquerte er, stets auf der Hut, den Korridor; irgendwie war ihm dabei mulmig zumute, doch konnte er sich das Gefühl nicht erklären, bis er es wiedererkannte: Genauso hatte er sich an Bord der Spinnes Vergeltung während des Neueinbaus der plattenförmigen GravoKompensatoren gefühlt. Leichtere Schwerkraftschwan kungen waren die Ursache, unter ihrer Einwirkung wurde es dem Magen schnell flau. An einer Wand bemerkte er einen Kommu-Apparat. Darwin besah ihn sich genauer, mußte sich allerdings damit abfinden, daß er schlichtweg nicht wußte, wie man Informationen über den Stationssta tus abrufen konnte. Im Laufschritt eilte er durch die Flure, hielt ruckartig an und hob den Blaster, als Personen ihm entgegenstreb ten; doch die Frau und der Mann latschten nur geistlosen Blicks — völlig achtlos — an ihm vorbei. Sie ignorierten ihn vollständig. Als entspränge es der Luft selbst, entstand nochmals das Summen, erst klang es, als sirrten Insekten mit winzig kleinen Flügeln Darwin ums Ohr, dann ertönte es lauter,
immer lauter. Er blieb stehen, legte sich, den Kopf gesenkt, die Hände auf die Ohren. Wieder begann die Sta tion zu vibrieren, danach zitterte und schließlich bebte sie regelrecht, indem man den Massengenerator auf maxima le Leistung steigerte und schließlich der eruptive Ausstoß der erzeugten Masse erfolgte. Pike taumelte, die Gravita tionsschwankungen riefen in seinem Gehör Sausen und Läuten hervor sowie ernstes körperliches Unwohlsein, das auf dem Eindruck beruhte, ihm würden Organe, Blut und Hirn gleichzeitig nach verschiedenen Seiten gezerrt. Irgendwie blieb trotzdem alles beisammen. Natürlich: Er war fast bis zum Mittelpunkt der Station vorgedrungen. Mit einem Ächzen machte er sich auf die Suche nach der Achse. Irgendwo mußte er den Ausgangspunkt der Stange finden können, auf dem die Kompaktorkugel der Massenschleuder stak. Dort mußte es doch bestimmt Energiekabel geben? Dicke Leitungen, die er durchtren nen konnte, um >Deus' Faust< die Sehnen zu zerschnei den. Er beeilte sich, mußte auf seinem kranken Bein hum peln. Im Fuß und in der Wadenmuskulatur war ein schmerzhaftes Brennen spürbar geworden. Krämpfe tob ten in seinen geschwächten Muskeln. Und wie müde er war ... Vor einer Tür drosch er die Hand auf die Kontaktflä che. Leise glitt das Türsegment auf seinen Schienen bei seite. Darwin sprang hindurch — und brachte sich beina he selbst um. Unvermittelt in Schwerelosigkeit geraten, sauste er, während er sich hilflos überschlug, auf die Wand gegenüber zu, prallte so wuchtig dagegen, daß die Wand platten wackelten, und von ihr ab. Schmerzen wüteten in seinem Rücken, während er sich umständlich abfing, durch wiederholtes Abstoßen doch noch die gewünschte Richtung nahm. Weitere Zombies begegneten ihm, langgliedrige Sta tionsgebürtige von zarter Statur, die Darwin an gewisse Fische erinnerten, die tief in den Ozeanen der Erde leb
ten. Sie verkörperten ein Resultat der Variationsvielfalt der menschlichen Rasse, Ergebnis der Anpassung an ein schwerkraftfreies Umweltmilieu. Pike schwebte auf einen runden Raum zu. Ein Gang verlief um ihre äußeren Wände, seine enge Windung legte die Auffassung nahe, daß sie das Zentrum der Station abgab. Hatte er die richtige Etage erreicht? Er bemerkte eine Panzertür, legte die Hand auf die Kontaktfläche. Nichts geschah. Gesperrt. Ausgezeichnet! Hier mußte etwas sein, das Ngen als schützenswert erachtete. Darwin zog die Blasterpistole, blickte sich um, sah den nächsten Niedergang menschenleer. Der violette Blaster strahl zersprengte das Türschloß, Funken sprühten, Qualm wallte. Pike schob die Klinge des Survival-Messers in den Türspalt und konnte ihn so ein wenig erweitern, stemmte einen Fuß und die Hände dagegen, bis er sich durchzu zwängen vermochte. Vorsichtig straffte er seine blutbesu delte Gestalt, die nach verbranntem Fleisch und zerfetzten Därmen stank, an der unordentlich verwu schelte Coups hingen. Eine Gruppe Wissenschaftlicher oder sonstiger Experten betrachtete vorgebeugt und mit gespanntem Interesse eine Reihe von Monitoren. Gerade setzte erneut das Pulsieren ein. Der Rundsaal erzitterte, indem ein Brausen, das fast an ein Donnern grenzte, die Wände durchdrang. Darwin zwinkerte, schüttelte den Kopf, um seine Sicht zu klären. »Wie verläuft das Gefecht am Außenrand?« rief er unmittelbar nach dem neuen Massenausstoß. Ein bleicher Mann mit ausgedünntem, silberblondem Haar, der ziemlich zerrüttet wirkte, stutzte an seinem Platz, blickte auf, zögerte, erhob sich schließlich. »Wer sind Sie?« wollte er erfahren. »Was soll ...?« Er brauchte einen Moment, um Darwins Erscheinung — sei nem Äußeren nach hätte er soeben aus einem Schlacht haus kommen können — zu verkraften. Angestrengt schluckte der Mann, mit fahriger Langsamkeit streckte er eine Hand zur Schreibtischplatte aus.
»Fassen Sie nichts an!« warnte Pike ihn, schwenkte den Lauf des schweren Blastergewehr herum. »Sagen Sie mir, wie das Gefecht steht ... und wer Sie sind.« »Ich bin Ten MacGuire. Die Schießerei beschränkt sich auf den Abschnitt zwischen den Reaktoreinheiten Vier und Fünf.« MacGuire hatte große Augen gemacht, sobald er in die häßliche Blastermündung schaute. Zudem bezweifelte Pike, daß der wüste Anblick, den er dahinter bot, sich sonderlich eignete, um dem Mann Courage einzuflößen. »Ten MacGuire? Der frühere Leiter der Physikalisch technischen Fakultät an der arcturischen Uni?« »Sehr richtig. Und wer sind Sie?« »Kommen Sie, um uns zu befreien?« Von der Seite trat ein anderer Mann näher. »Sie haben eine Spinne auf dem Schutzpanzer. Sie sind ...« »Halten Sie den Mund, Veld!« fuhr MacGuire ihn an. »Er gehört zu den Männern des Messias. Wer sollte denn sonst wissen, wo wir uns befinden? Möchten Sie uns viel leicht um Kopf und Kragen quasseln?« »Es ist scheißegal, wer ich bin. Und nun verraten Sie mir ganz genau die momentane Zeit auf der Erde.« Pike verließ den Erfassungsbereich der Kommu-Kameras, obwohl er sich darüber im klaren war, daß er schon auf sämtlichen Observationsmonitoren des Stations-Wachpersonals zu sehen gewesen sein mußte. Er hörte, wie drau ßen ein Alarm zu gellen begann. »Wo auf der Erde? Die Erde ist ein Planet. Sie können alle möglichen ...« »Gottverflucht noch mal, ich weiß es nicht! Äh ... Wel che würde man denn auf so eine Frage im allgemeinen am ehesten nennen? Von der Datumsgrenze? Oder was?« »Meistens wird auf Greenwicher Zeit Bezug genom men.« Helmut Eng introierte sich der Kommu, während aus Erregung Darwins Herz hämmerte. »Es ist fast drei Uhr morgens am siebten Juni zweitausendsiebenhundert neunundachtzig Anno Domini«, sagte Eng und schluckte nervös.
»Dann hat der Angriff also angefangen«, meinte Pike leise, ließ sich rücklings gegen eine Kommu-Konsole sacken, die hinter ihm stand. Er konnte in der umfangrei chen Anlage schwache Schwingungen spüren. »Ja, das hat er«, bestätigte MacGuire. »Wir haben schon zwei Patrouillenschlachtschiffe vernichtet.« Darwin stieß ein Schimpfwort aus, gleichzeitig bemerkte er im Augenwinkel Bewegung, auf dem Absatz wirbelte er herum, sein Blastergewehr ruckte hoch, er schoß dem Padre glatt den Kopf von Hals. Er belauerte den Eingang, das Herz wummerte ihm im Brustkorb. Würden noch mehr Padri auftauchen? Mit schußbereiter Waffe stapfte er zur Mitte des Rundsaals, ohne den Blick vom Zugang zu wenden. Deshalb überraschte es ihn voll kommen, als jemand ihn hinterrücks ansprang, so daß er vorwärts und in Ten MacGuires Arme torkelte.
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KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL, GASWOLKEN-KOLONIEN
»Sie müssen Station Kobalt finden!« brüllte Ree aus Leibeskräften. Lange brauchte er nicht zu warten. Die Zielerfassung ortete etwas, das Übereinstimmungen mit dem von Clau de übermittelten Holo aufwies. Sonderbare, im Fünfeck angeordnete Aufreihungen von Bogengebilden, die frei schwebenden Stützstreben ähnelten, liefen auf eine klei ne Kugel am Ende eines zugespitzten, als Verlängerung der Achse der riesigen Radform angelegten Masts zu. Während Ree das Objekt betrachtete, konnte er es beben sehen. Als das Zittern aufhörte, schienen die Massende
tektoren durchzuschmoren, und die Existenz der Uhuru endete in einem grellen Aufflammen. »Heiliger Spinne ...!« raunte Ree fassungslos. »Schießt das Ding ab!« schrie er im nächsten Moment ins Mikro fon. »Sofort! Alle Batterien, Feuer frei!« Die Feuerleitcomputer visierten das Ziel an, und Bla sterstrahlen durchzuckten den Umraum der Station. »Es hat Schutzschirme! Das verdammte Ding ist mit Schutz schirmen versehen worden. Es muß vernichtet werden!« Hell gleißten die Strahlen der Fujiki-Blaster über die Schutzschirme, die zu wabern und zu flackern begannen. »Feuer! Feuer! Feuer!« Ree hieb die knorrige Faust in seinen von Schwielen harten Handteller. Ein FLF manövrierte sich zwischen Station und Pro jektil, zog das meiste Blasterfeuer auf sich, seine Schutz schirme absorbierten den Beschuß. »Blastern Sie das Scheißschiff aus dem Weg!« brüllte Ree, der auf der Kommandobrücke hin- und herstapfte. Wenig später verschwand der FLF im zusammengefaßten Feuer der Blastergeschütze in einer glühenden Plasma wolke. Trümmer stoben durchs All, dann erfolgte, als der Reaktor versagte, Antimaterie freisetzte, ein blendend-helles Aufblitzen der völligen Vernichtung. Schweiß perlte Ree über die Stirn. Station Kobalt hatte leicht die Position geändert, zitterte wieder. Diesmal ereil te das Schicksal die Miliken. »Toby! O Gott, Toby! Radieren Sie diese verfluchte Station aus!« Ree schäumte vor Wut und Schmerz, stierte auf die Monitoren, während die Schutzschirme rings um Station Kobalt schimmerten und glosten. Ein zweiter FLF flog an und legte sich ins Schußfeld, nahm das Blasterfeuer auf sich, Lodern und Flimmern durchzüngelte seine Schutz schirme. »Heiliges Kanonenrohr, verdammt noch mal!« tobte Ree, geballte Spannungen durchzuckten seine elastischen Muskeln, während er auf- und abstampfte, mit den Kie
fern mahlte. »Volle Kraft voraus! Wenn wir nahe genug gehen, können sie vielleicht nicht schießen, ohne sich durch einen Treffer selbst zu vernichten.« Wie tausend gleichzeitig abgefeuerte Geschosse durch schwärmten die ST die Kolonien, flitzten umher, flogen Spiralen, während Blastergeschütze sie abzufangen ver suchten. Einige gerieten auf Kollisionskurs oder ins Visier der Padri und explodierten, ihr Untergang glich dem Erlö schen von Lichtpünktchen vor dem Hintergrund in vieler lei Pastellschattierungen verfärbter Gase, vor dem inzwi schen immer mehr der umgebauten FLF Ngen Van Chows kreuzten. Aus irgendeiner Veranlassung nahm die Gregorius die eingeflogenen Patrouillenschlachtschiffe nur sporadisch unter Beschuß. Ree furchte die Stirn. Aber in der momen tanen Situation war er froh über jeden Vorteil und dachte gar nicht daran, sich zu beklagen. Er hob den Blick, sah in die furchterfüllten Augen Tabis und Mayas, mit denen er in ständigem Funkkont akt stand. »Uns bleibt nur diese eine Gelegenheit, um die Station zu annihilieren.« Er wischte sich das schweißige Gesicht. »Wenn wir's nicht schaffen, kann nichts im Uni versum Ngen Van Chow noch aufhalten. Rammt sie, wenn's sein muß. In diesem Fall dürfen wir vor nichts zurückschrecken. Wir sind hier, um auf Leben oder Tod zu kämpfen.« Mühsam schluckte Damen Ree, als sein Blick zurück auf die Station fiel. Der FLF war unter dem Feuer der Fujiki-Blaster explodiert, Station Kobalt auf den Monitoren wieder voll sichtbar. * *
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AN BORD DER RAUMJACHT NGEN VAN CHOWS, GASWOLKEN-KOLONIEN
Ngen Van Chow lehnte bequem im Konturensessel seiner Privatjacht, trommelte fröhlich mit den Fingern auf der Kommu-Konsole einen Rhythmus. Die Wissenschaftler hatten das Rätsel gelöst, Deus' Faust zum Funktionieren gebracht. »Ich bin Gott!« Er lachte, beim Gedanken an das Aus maß seiner Machtfülle fühlte er sich regelrecht benom men. Nun konnte niemand ihm noch irgend etwas anha ben. Nicht solange ihm Station Kobalt zur Verfügung stand. Natürlich mußte er sein Hauptquartier verlegen. Nachdem die Eignung der Station für den Überlichtflug und jetzt auch die Brauchbarkeit der Konstruktion als Superwaffe bewiesen war, hätte er es als die lächerlichste Idiotie angesehen, dieses Machtzentrum auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Ein Indikator machte auf einen Funkspruch aufmerk sam. Ngen aktivierte die Kommu. Auf einem Bildschirm erschien M'Kleas bleich gewordenes Gesicht. »An Bord sind die Romananer los!« Für eine Sekunde starrte Ngen sie an, als könnte er ihre Mitteilung absolut nicht begreifen. »Die Romananer sind ...? Sie müssen zerschlagen wer den. Mit allen Mitteln. Hast du nicht verstanden?! Nach allem, was sie mir schon angetan haben ... Auf Sirius und ... Alarmiere das gesamte Wachpersonal! Ich ziehe soviel Leute vom Wachdienst in den Kolonien ab, wie entbehr lich sind, und bring sie zur Deus. Es ist gerade erst mit der Installation der Psychinganlagen angefangen worden. Die Kolonisten können warten, sie werden uns nicht abhau en.« Er gab die erforderlichen Befehle und lehnte sich wie der in den Konturensessel. Seine Gedanken rasten: WarRi ta Sarsas Erscheinen eine Finte gewesen, um ihn aus der Reserve zu locken? Falls ja, war sie schlecht ausgeführt worden. Staub und Gase hatten ihr Raumschiff schon vor
der Ankunft praktisch außer Gefecht gesetzt gehabt. Nein, in der Vergangenheit hatte er gelernt, daß es ebenso gefährlich war, die Romananer zu überschätzen, wie es unerfreuliche Folgen hatte, sie zu unterschätzen. Aber was soll das alles noch?! Die Faust funktioniert! MacGuire hat ergründet, wie sie eingesetzt werden kann. Jetzt habe die ultimative Waffe. Deus sei Dank für die Bru derschaft. Ihren Computerspeichern entstammen meine Kenntnisse. >Deus sei Dank<, ja wahrhaftig! ICH bin Gott! »Ngen!« Wieder zeigte sich M'Kleas Gesicht auf dem Monitor. Ihre Miene verriet Panik, nervös zuckte ihr Mund, während sie die Hände in den Stoff auf ihrem Bauch krallte. »Sarsa ist entkommen. Torkild hat an uns Verrat begangen und sich mit den Romananern verbün det. Sie kapern einen ST. Was soll ich tun? Du mußt sie eliminieren, Ngen. Liquidiere sie, bevor sie ...« »Aber, aber, meine Liebe ...« Ngen lächelte. »Wo könnten sie denn hin? Wie sollten sie uns entwischen? Egal wohin sie fliegen, unsere Einheiten werden sie zer blastern. Dieser einzelne ST bedeutet für uns keinerlei ernsthafte Bedrohung. Welcher Hangar?« M'Kleas Blick huschte über Monitoren. »Neun.« Ngen schwenkte die Außenbordoptiken, zoomte auf die Deus zu, vergrößerte den entsprechenden Ausschnitt. Als der ST aus dem Schlachtschiff sauste, eröffneten die FLF das Feuer. Lässig schaute Ngen dem Geschehen zu, die Euphorie, die er auf den neuen Höhen seiner Macht empfand, bewog ihn zu Selbstgesprächen. »Komm, Rita, tu mir den Gefal len und geize nicht mit Verwegenheit, nun düse mal rich tig los. Ich kann ein bißchen Unterhaltung vertragen. Mal sehen, wieviel Vergnügen die Hatz uns einbringt ... Oh, du machst mir Spaß, Majorin! Wie ich deinen individuellen Schneid und Mumm vermissen werde ... Von nun an werde ich jede Opposition und jeden Widerstand ganz ein fach aus der Ferne zermalmen. Ein Jammer.« Er lachte,
mußte gleich darauf angesichts der unerhörten Geschik klichkeit, mit der die Pilotin — denn ohne Zweifel handel te es sich um Sarsa — Ausweichmanöver flog, jedoch schlucken. Die ST-Bordblaster bestrichen zwei der Kriegsschiffe Ngens mit heftigem Feuer. Ngen schnitt eine Grimasse, als eine der Einheiten abdrehte, aus einem von Sarsas Blastern in die Außenhülle geschossenen Leck Atmosphäre brodelte. Mit der Dekompression lohten Stichflammen hervor, hagelten Trümmerstücke aus dem grauen Rumpf des umgerüsteten Frachtraumschiffs. Der ST kurvte, entzog sich mit einer Rolle auf ihn abgefeuerten Blasterstrahlen, jagte zwischen zwei Einhei ten hindurch und flog an einem weiteren FLF einen Loo ping um die Trichterantennen der Zielerfassung- und -Ver folgung, löste damit vermutlich äußerste Verwirrung aus. Dann suchte er auf spiralenförmigem Kurs das Weite, aus seinen Triebwerken glühte Reaktionsmasse, zeichnete sich als helle Streifen gegen das Rot und Blau der Gaswolken ab. Ngen erkannte die Flugrichtung. »Nein! Das kann sie doch nicht machen!« Er stemmte sich aus dem Sessel. Seine wonnige Euphorie verflüchtigte sich in einer Auf wallung von Furcht. »Fangt den ST ab!« wütete er in die Kommu. »Schießt ihn ab! Station Kobalt! Alarm! Romananer wollen zu entern versuchen. Unverzüglich sämtliches Wachpersonal in die bedrohte Sektion beordern!« Van Chow fluchte, wippte vehement, aufgewühlt von höchster Beunruhigung, im Konturensessel auf und nie der. Ach, verdammt noch einmal! Was konnte Sarsa denn schon gegen eine komplette Weltraumstation ausrichten? Das Sirius-Trauma spielte in seinem Gemüt die Gefahr in weit übertriebenem Maße hoch. Sarsa und ihr Romananer gesindel ... »Ngen!« Aus schierem Entsetzen zitterte M'Kleas Stimme. Ngens sorgenvoller Blick ruckte zum KommuBildschirm. M'Klea war totenblaß geworden, ihre Augen
waren aufgerissen. Auf ihrem Gesicht glänzte eine Schweißschicht. Ihre Atemzüge glichen gepreßtem Röcheln. » Was ist passiert?« Ngen erhob sich halb aus dem Konturensessel, ballte die Hände zu Fäusten, an sei nem Hals traten die Adern hervor. »Haben die Roma naner ....?« »Es ist das Kind!« japste M'Klea. »Dein Sohn kommt zur Welt.« »Doch nicht jetzt! Verflixt noch mal, M'Klea, das ist wirklich der schlechteste Moment, den du dir aussuchen konntest. Ach, verdammte Scheiße, leg dich sofort in die Bordklinik!« M'Klea wirkte, als müßte sie gleich zusammensinken, sie richtete ihre Aufmerksamkeit nach innen, auf anderes als Van Chow. »Sie ist von den Romananern besetzt«, ant wortete sie in plötzlicher Mattigkeit. »Ich ziehe mich in deine Räume zurück. Ngen, es tut weh ... Ngen ... Das ist ... ein so seltsames Gefühl.« »Gut, dann geh! Ich habe im Augenblick keine Zeit, um mich um dich zu kümmern.« Auf einem anderen Bild schirm sah Ngen, wie der ST sich in Station Kobalts Rumpf bohrte. »Station Kobalt«, schrie er in die Verbin dung, »Sie werden nahe Reaktoranlage Vier geentert. Die Eindringlinge sind um jeden Preis zurückzuschlagen! Ver legen Sie alle Abteilungen des Wachpersonals an den Außenrand!« »Wir hören und gehorchen, Messias.« Wenigstens pennte man in der Station nicht. »Das Wachpersonal ist alarmiert. Erste Gruppen sind schon zum Leck unterwegs. Die Offiziere nehmen ihre aufgabengerechte Gliederung vor, staffeln die sorgfältige Abriegelung der Einbruchstel le und legen Abwehrtaktiken fest.« »Halten Sie mich ständig auf dem laufenden. Alle Mel dungen sind aufs Flaggschiff durchzugeben.« Ngen tupfte sich dicke Schweißperlen aus dem Gesicht. Verflucht nochmal! Ausgerechnet jetzt mußte M'Klea von dem Balg
entbinden. Seine Hoffnung, Sarsas Flucht könnte ihm zum Amüsement dienen, hatte sich nicht erfüllt; im Flaggschiff schlugen Romananer sich mit seinen Leuten; andere Romananer hatten Station Kobalt geentert und gefährde ten die Faust. Wie sollte da noch mehr schiefgehen? Er kochte vor erbitterter Wut, während er seine Privat jacht in einen Hangar bugsierte, sie in Position brachte, bis die Greifarme der Deus sie verankerten. Aus mißtraui scher Vorsicht — sein altbewährter, eingefleischter, inne rer Argwohn machte sich bemerkbar — behielt er in der Raumjacht einen hohen Energiepegel bei. Hinter der Schleuse empfing ihn seine Ehrengarde. Ngen eilte zur Kommandobrücke, stülpte sich unterwegs ein Kontaktron über den Kopf. »Station Kobalt! Erstatten Sie Meldung!« »Wir haben die Eindringlinge zwischen den Reaktor anlagen Vier und Fünf umzingelt. Ein weiteres Vorstoßen ist ihnen unmöglich. Wir ziehen alle Abteilungen zusam men, um den Gegner zu vernichten. In der zweiten Etage ist ein Umfassungsmanöver zum Aufrollen unserer Grup pen vereitelt worden. Beim Abriegeln des feindlichen Ein dringens haben wir schwere Verluste erlitten. Zahlenmäßi ge Angaben über die gegnerischen Verluste werden wir erst nennen können, wenn wir die Trümmer durchsucht und die Leichen gefunden haben. Die zweite Etage ist bei den bisherigen Gefechten stark beschädigt worden. Wir ergänzen die Meldung in Kürze um weitere Informatio nen, Sir.« Eine andere Stimme mischte sich in die Kommu-Verbindung. »Unidentifizierte Raumflugkörper im Anflug auf die Kolonien.« »Was für Raumflugkörper?« Ngen betrat den Lift, tipp te die Taste der Kommandobrücke. Als er sie erreichte, die Panzertür durchquerte, krampfte Furcht ihm den Magen zusammen wie eine eisige Klaue. »Verdammt! O nein!« Auf den Monitoren waren Patrouillenschlachtschiffe sichtbar geworden, wie geister
hafte Schemen kamen sie aus dem Dahintreiben des Staubs und dem gespenstischen Glimmen der Gasmassen zum Vorschein. Die riesigen, länglich-runden Umrisse der Raumschiffe glänzten weißlich, Reaktionsmasse flammte, während sie in den Umraum der Kolonien steuerten, aus ihren Triebwerken. »Verfluchte Bande! Alles nur ein mieses Ablenkungs manöver! Großalarm! Jeder auf seinen Posten! An alle Kommandeure: Im ganzen Kolonienbereich volle Vertei digungsbereitschaft herstellen!« Van Chow stürzte an einen Kommu-Apparat, der Funkkontakt zur Station unterhielt. »MacGuire!« schrie er. »MacGuire! Nehmen Sie die Patrouillenschiffe unter Beschuß! Haben Sie kapiert, Mac-Guire? Vernichten Sie sie! Schmettern Sie sie aus dem All!« »Ich habe verstanden, Messias. Wir korrigieren unsere Position, passen uns den aktuellen Entfernungsverhältnis sen an und zielen auf die am nächsten befindliche Einheit. Feldstärke steigt wieder. Das Enterkommando ist am Außenrand der Station gestoppt worden. Wir schweben in keiner Gefahr.« Falten angestrengter Konzentration furch ten MacGuires fleischiges Gesicht. Er blickte nicht einmal hoch. »Sie brauchen uns nur die Feindeinheiten fernzuhal ten. Unsere Schutzschirme sind aktiviert, und der Abstand zum Gegner ist noch groß genug, darum glaube ich, wir können alle Feindschiffe abfangen.« Verzweifelt verfolgte Ngen die Ereignisse, beobachtete die Patrouillenschlachtschiffe, die sich offenbar noch orientierten. Wellen von ST schwärmten aus wie Elritzen. Van Chow ließ die eigenen ST gegen den Feind starten, obwohl sie jeweils nur halb bemannt waren, weil seine Truppen auf der Deus die Romananer bekämpfen mußten. Die Faust pulste. Eines der eingeflogenen Patrouillen raumschiffe verging in einem bläulich-weißen Vortex. Strahlungsschauer überlasteten die Sensoren des Flagg schiffs. Ein Angreifer weniger.
»An-Bord-Lagemeldung!« »Die Romananer sind zwischen den Decks Fünfzehn bis Zweiundzwanzig abgeschnitten und in den Sektionen D bis I eingekesselt worden, Messias«, erteilte ein stumpf äugiger Padre ihm Auskunft. »Wir attackieren sie mit allen verfügbaren Kräften. Gepriesen sei Deus. Gelobt sei der Messias.« »Gut gemacht. Ich bin fortlaufend zu unterrichten. Eli miniert sie um jeden Preis. Massakriert sie, verstanden?! Bringt sie alle um. Egal wie.« »Verstanden, Messias.« Der Padre wandte sich zur Seite. »Massakriert sie. Um jeden Preis. Der Messias befiehlt ihre Vernichtung mit allen Mitteln.« Aus dem Hintergrund war durch den Kommu-Lautsprecher gedämpftes Geknatter von Blasterfeuer zu hören. Ngen rang um Selbstbeherrschung. Er hatte kurz vor dem Überschnappen gestanden. Wo blieb seine Counte nance? Aber Romananer? Hier? Woher mochten sie wis sen, wo er sich aufhielt? Wer könnte ...? Torkild! Diese Erkenntnis schien ein eiskaltes, stählernes Band um Ngens Herz zu legen. Der Lump hatte ihn verraten. Verfluchter Scheißkerl! Jetzt mußte er die Konsequen zen der idiotischen Besessenheit Alhars tragen, was Ehre anbelangte, einer zu krassen Schwäche, als daß der Arpeg gianer sie hätte überwinden können. Verdammt! M'Klea hatte ihn gewarnt, ihm rundheraus empfohlen, Torkild stillschweigend zu beseitigen. »Arpeggianischer Strolch! Wenn ich dich in die Fin ger kriege, werde ich ... Ich werde dich ...« Ngen schlug die Faust auf die Armlehne, sprang auf und schritt das Halbrund der Kommandobrücke ab, warf immer wieder Blicke auf die Monitoren, während seine Offiziere sich abmühten, mit geübter Schnelligkeit die an sie gestellten Anforderungen erfüllten, den Feuerleitcomputern neue Daten eingaben, taktisch relevante Informationen weiter leiteten, den Abwehrkampf gegen die Angreifer koordi nierten.
»Messias?« MacGuire hob, Verzweiflung in seinen Augen, den Blick. »Könnten Sie uns wohl irgendwie etwas von dem Blasterfeuer entlasten?« Ngen projizierte Aufnahmen der Station auf seine Monitoren, sah die grellen Blasterstrahlen der Patrouillen schiffe auf die Schutzschirme prallen. Hastig befahl er einem FLF, den Beschuß mit den eigenen Schutzschirmen zu absorbieren. Indem er sich allmählich beruhigte, grup pierte er Einheiten um, setzte sie nacheinander ein, um das feindliche Feuer von der Faust abzulenken. Einer nach dem anderen explodierten die FLF, sobald sich der Beschuß einige Zeitlang auf sie konzentriert hatte. Dann erbebte Deus' Faust nochmals, verschleuderte kompak tierte Masse, und ein zweites Patrouillenschlachtschiff verglühte in einem Lichtblitz. Zwei Angreifer weniger. »Noch kann ich siegen. Die Lage bessert sich wieder zu meinen Gunsten. Es sind bloß noch drei, mehr nicht.« Van Chow stand über einen Monitor gebeugt, leckte sich über die Lippen, sein Herzschlag raste. »Station Kobalt hat Sarsa abgeschlagen. Jawohl. Sie hat nicht damit gerechnet, daß sich ihr so viele Märtyrer entgegenwerfen. Die Romananer an Bord lasse ich niedermachen, und die Patrouille blastere ich zusammen. Noch drei Treffer, und es sind nur die ST übrig. Bloß noch drei Treffer.« »Ngen«, rief M'Klea. Van Chow schaltete um, auf dem Monitor erschien ihr Holo-Abbild. Sie lag auf dem Bett, hatte das weite Kleid bis unters Kinn hochgezogen, wo es zerknitterte Falten und Wülste bildete, die weiße Aufgedunsenheit ihres Bauchs entblößt. Auf dem Bettzeug unter ihr sammelte sich Fruchtwasser zu einem immer größeren Fleck. Ihre glasigen Augen stierten Ngen flehentlich an. »Muß ich sterben?« Eine Sekunde lang betrachtete Ngen sie voller aufrich tiger Faszination, während ihr Gesicht aus Furcht und Schmerzen zuckte, Fratzen schnitt. Im Augenwinkel
gewahrte er ein Flackern, das seine Aufmerksamkeit auf die Kommandobrücke zurücklenkte. »Ich habe keine Zeit. Laß mich in Ruhe!« »Ngen!« schrie sie. »Ich habe Angst! Komm und hilf mir!« M'Klea streckte einen Arm aus, während sie ihn anbettelte. An ihrem Hals ruckte Haut auf und ab, als sie schluckte. Bewegung war auf der fahlen, buckligen Wöl bung ihres Leibs zu sehen, das Kind im Innern drängte hinaus in die Welt. »Ich habe solche Angst!« »Halt's Maul!« Unter Ngen erbebte das Schiffsdeck. Ngen wechselte die Leitungen, fand eine noch intakte Ver bindung nach achtern. Romananer, ihre gräßlichen Coups an den Gürteln befestigt, stürzten schnurstracks auf die Kamera zu, als wollten sie im nächsten Moment aus dem Monitor springen, rannten durchs Bild. Also waren sie steuerbords aus der Umzingelung ausgebrochen und unterwegs zum Reaktorraum. Und wenn sie ihn einnah men? In äußerster Erregung kaute Ngen auf der Lippe. Er zuckte, als er plötzlich Schmerz verspürte, fuhr sich mit dem Finger über den Mund, sah Blut. Im Laufschritt trabte eine Gruppe Padri durch den Kor ridor. »Der Messias hat befohlen«, hörte Ngen aus dem Kommu-Lautsprecher, »sie alle zu massakrieren.« Die Padri gingen vor — und eine Horde Romananer metzelte sie mit Kriegsgeheul und Gejohle unbarmherzig nieder. Danach kam der scheußliche Anblick, wie Roma naner ein halbes Dutzend der Gefallenen und Verwun deten skalpierten, ehe sie unaufhaltsam weiterstürmten. Noch einmal durchbebten Erschütterungen das Raum schiff, als schweres Blasterfeuer der großen Patrouillen schlachtschiffe in den Rumpf schlug. Ngen sah sich die Zielerfassungsdaten an, gab Befehl, die Salven der Patrou illeneinheiten zu erwidern. Was war mit der Faust passiert? Normalerweise brauchte MacGuire nicht so lang, um die erforderliche Feldstärke wiederaufzubauen. Wieso hatte er nicht längst
noch mehr Patrouillenraumschiffe vernichtet? »MacGuire!« brüllte Ngen, eilte zu dem anderen Moni tor. Im Kontrollraum Station Kobalts sah es wie in einem Irrenhaus aus, er blickte mitten ins wildestes Chaos. Aus einem Gewimmel von Armen und Beinen taumelte ein Mann auf die Kamera zu, aus einer großen Wunde, die in seinem Leib klaffte, quollen ihm die Eingeweide. Er sak kte auf die Kommu-Konsole. Die Augen des Sterbenden glotzten Ngen voller Grauen ins Gesicht. Während sich an Betäubung grenzende Betroffenheit in seinem Gemüt ausbreitete, heftete Van Chow den Blick auf den Monitor, auf dem er das Vordringen der Romana ner an Bord der Deus beobachten konnte. In vorderster Linie kämpfte ein Arpeggianer, schoß gerade gelassen, als Ngen ihn sah, einem Padre den Kopf ab. Die Romananer polterten durch den Korridor in die Richtung des Reaktor raums. Arpeggianer unter dem romananischen Geschmeiß? Das bedeutete, die Barbaren hatten Leute dabei, die die Funktionsweise des Reaktorsystems kannten und daraus einen Nutzen zu ziehen vermochten. Die Herrschaft über das Flaggschiff drohte ihm zu entgleiten. Mit aus Haß ver kniffenen Augen heftete Ngen den Blick auf den KommuApparat, der ihn mit Station Kobalt verband. Noch immer füllte der Tote das gesamte Bild aus, stierte in die Optiken, ohne die Kommandobrücke der Deus zu sehen, versperrte Van Chow die Sicht. Hau ab! fetzt sofort. Setz dich ab. Sei kein Narr. Rette deine Haut. Kämpfen kannst du ein anderes Mal. Zieh dich zurück. Verschwinde'. Verschwinde, Ngen, VERSCHWIN DE! »Nein. Noch haben sie die Faust nicht.« Er zwang sich zur Ruhe, mißachtete die Mahnungen seiner Intuition. Solange ihm Station Kobalt zur Verfügung stand, konn te er das Blatt wenden. Er schaute sich ein letztes Mal auf der Kommando brücke um, sah die Offiziere und Techs sich desparat um
die Verteidigung des Raumschiffs bemühen. Still und ver stohlen wandte er sich ab, verließ die Kommandobrücke, schloß per Handflächenkontakt hinter sich die Panzertür. Er trat in den Lift, drückte die Taste des Decks, in dem sich der Hangar mit seiner Privatjacht befand. FLIEH! warnte ihn sein Instinkt. SOFORT! SETZ DICH AB!
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NGEN VAN CHOWS PRUNKKAJÜTE AN BORD DER DEUS
Schreie der Furcht entpreßten sich M'Klea. Was geschah mit ihr? Weshalb durchlitt sie solche Schrecken? Aus ihrem Hüftbereich und dem erweiterten Gebärmutterhals wogten grausame Schmerzen durch ihren Körper herauf ins Hirn, trieben ihr bis zum letzten Rest jeden klaren Gedanken aus. Fortgesetzt gingen Krämpfe durch ihre Leibeshöhle, das darin herangereifte Leben beharrte dar auf, daß seine Zeit da war; eine neue Wehe kam, ersticktes Wimmern brach sich aus M'Kleas Kehle Bahn. »Wehr dich nicht dagegen. Du wirst bei der Entbin dung nicht sterben.« In ihrer Furcht übte die Stimme eine beschwichtigende Wirkung auf M'Klea aus, und sie fühlte eine warme, sanfte Hand auf ihrer Stirn. Dankbar schaute sie auf — und keuchte vor Entsetzen, als sie ins Gesicht eines Romananers blickte. »O Gott ...!« Ein Winseln entfuhr ihr, die Panik raubte ihr fast den Atem. »Ngen!« »Wehr dich nicht«, wiederholte die freundliche Stim me. In den Augen des Romananers schien Zeitlosigkeit zu stehen. M'Klea wollte sich hochstemmen, doch eine wei tere Wehe machte es ihr unmöglich, sie sank zurück, blieb der Länge nach ausgestreckt liegen. »Ich kann ... Schmerzen nicht ertragen.« Sie hatte den Eindruck, als wären ihre Augen dick angeschwollen. »Nicht! Was tust du? Was hast du ...? Was ...« Der Romananer war, ein Grinsen im Gesicht, aufs Bett gestiegen, hielt M'Klea fest, als sie sich ihm zu entziehen versuchte. Seine Fäuste packten ihre Knie, zwängten sie auseinander, spreizten ihre Beine. Erneut befiel eine Wehe M'Klea, und sie brachte keine Kraft auf, um Widerstand zu leisten.
»Nein ... nein ... nicht ...« Sie hatte die Absicht zu schreien, doch abermals krampfte eine Wehe ihren ganzen Leib zusammen. Der Barbar wollte sie vergewaltigen, noch während das Kind geboren wurde! Doch statt sich mit vollem Körpergewicht auf sie zu werfen, kniete er sich aufrecht, erhobenen Kopfs, neben sie, seine Hände blieben behutsam auf ihr ruhen; sie schluchzte hysterisch, als er aus dem Gürtel das lange Messer zückte. Die Klinge ratschte durch ihre Kleidung. Ihre Furcht und die Beschwerden vereitelten jeden vernünftigen Gedanken M'Kleas. In ihren Qualen wand sie sich auf der Stelle, hörte das eigene Stöhnen, als käme es aus weiter Ferne. Als sie im Mund die Zunge zu bewegen versuchte, klebte sie, trok ken wie ein Stück Stoff, oben am Gaumen. Sie wälzte den Kopf zur Seite. »So«, sagte die Stimme in ihrem beruhigenden Ton. »Es ist vorbei.« Wieder machte M'Klea Anstalten zum Aufsetzen, aber Hände schoben sie zurück. »Nein, dafür ist es noch zu früh.« »Wer ... wer bist du?« fragte M'Klea schwächlich. Sie war vom Schweiß durchnäßt. Sie hob den Blick, hielt in ne, das Geschehen wurde ihr wieder bewußt. Neben dem Bett stand der Romananer, lächelte auf sie herab. »Hast du mir das Haar abgeschnitten?« »Ich habe bei dir keinen Coup genommen.« Aus sei nem Lächeln sprach heitere Freundlichkeit. »Ich bin hier, um mit dir zu reden. Es wundert mich, daß du dich Ngen zugewandt hast, obwohl dein Bruder zu dir tiefe Zunei gung hegt. Was sind deine Beweggründe? Warum hast du so gehandelt? Welche Überlegungen haben dich gelei tet?« »Du wirst kaltgemacht, das sag ich dir!« »Lautet so deine einzige Antwort auf Fragen, die dein Leben betreffen? Ngen ist von diesem Raumschiff geflüchtet. Er hat dich im Stich gelassen. Trotzdem ver spürst du keinen anderen Wunsch, als zu töten? Dein Bru
der würde dir verzeihen. Diese Möglichkeit habe ich schon vorausgesehen.« »Torkild würde ...? Nein. Niemals! Er ist ein Verräter. Er hat mich den Romananern ausgeliefert. Ich habe Ngen geraten, ihn zu liquidieren. Ich habe Ngen vorausgesagt, daß sein blödsinniger Ehrbegriff uns noch alle ins Unglück stürzt. Ich hab's ihm gesagt!« Sie keuchte vor Schmerzen, aber ihre Augen waren voller Haß. »Willst du deinem Lebensweg nicht andere Wirklich keiten verleihen? Möchtest du nicht deine Seele wandeln, damit du ...« »O nein! Mich nicht, nicht mit mir. Über euch habe ich alles erfahren. Nein, mich werdet ihr nicht mitschleppen, um mich ... auf Welt zu eurer Hure zu machen. Ihr werdet die Imperatorin nicht von ihrem Thron stoßen! Wenn Ngen zurück ist, sorge ich dafür, daß du gepsycht wirst ... langsam gepsycht, so daß du den grauenvollsten Tod stirbst, den man sich denken kann! Du bist ein Vieh und sollst viehisch leiden ... Das verspreche ich dir.« »Die Entscheidung liegt bei dir.« Der Romananer nik kte, in seiner Miene zeigte sich ein Anflug von Trauer. »Du magst Spinne nichts als Haß heimbringen? Während so viele wunderbare ...« »Mich interessiert nichts als dein Tod, du verfluchter Romananer!« Die Gehässigkeit in M'Kleas Stimme klang nach Ätzendem, als könnte sie Säure verspeien. »Wahr scheinlich hast du mich vergewaltigt, während ich besin nungslos war. Du Abschaum! Du abscheulicher ... wider wärtiger ...« Vor ihrer Tollwut wich der Romananer zurück. »Du hast bis jetzt noch nicht nach deinem Kind gefragt«, mein te er leise. Sein Tonfall bezeugte unüberhörbar tiefe Trau rigkeit. »Du hast es nicht umgebracht? Bestimmt ... bestimmt hast du's nur herausgerissen, damit du mich vergewaltigen konntest. Ja, das ist's, was du getan hast. Jetzt ist es mir klar, eine Frau weiß so was. Du widerliche Bestie, ich
werde ... Die Hoden werde ich dir bei lebendigem Leibe braten!« Ihre Stimme keifte in immer schrilleren Tönen. »Ngen wird zurückkommen, um mich zu retten, du wirst's erleben!« Mit gebeugten Schultern stand der Romananer da. Er streifte sein zerfranstes Lederhemd ab, wickelte den Winz ling, der munter vor sich hinquiekste, vorsichtig hinein, lächelte dabei fröhlich, seine Miene strahlte regelrecht vor Wohlwollen. Weil das Neugeborene noch der Säuberung bedurfte, hockte er sich auf die Bettkante, ohne M'Kleas Gezeter zu beachten. Schließlich richtete er seinen Blick auf den Kommu-Apparat, und gleich darauf erhellte sich der Bild schirm. Der Romananer deutete eine leichte Verbeugung an, sobald er Ngens Gesicht sah. »Meinen Gruß, Ngen Van Chow.« »Wo ist meine Gattin?« erkundigte sich Ngen. »Wer bist du?« »Ich bin Chester Armijo Garcia. Manche Menschen bezeichnen mich als Propheten.« Chester neigte den Kopf, sein Lächeln blieb liebenswürdig, er faltete die Hände auf dem nackten Bauch. »Du hast meine Gattin ermordet?« »Sie lebt«, widersprach Chester, ohne daß man seiner Stimme Optimismus angehört hätte. »Sie hat einen Cusp entschieden. Ihre Zukunft steht fest.« »Hast du vor, mich mit ihr zu erpressen?« fragte Ngen, indem sein Blick mit hinterlistigem Ausdruck zu M'Klea hinüberhuschte, die sich jetzt mühselig aufsetzte, in deren Augen Hoffnungsfunken durch die Kläglichkeit schimmerten. »Du würdest sie freikaufen? In der Tat bleibt dir noch Zeit, um dir alles anders zu überlegen. Dein Cusp ist in verschiedenerlei Hinsicht noch offen. Du könntest deinen Anhängern befehlen, den Kampf einzustellen. Noch gibt es in dir etwas, das Spinne als wertvoller Beitrag zur
Erweiterung seines Wissens gelten dürfte ... Das heißt, außer dem, was du schon durch das von dir im Leben anderer Menschen verursachte Leid beigetragen hast. Kannst du dir im Leben einen höheren Zweck vorstellen? Ngen lachte naßforsch. »Du bist mir ja ein lustiger kleiner Kerl! Es gibt keinen Spinne. Es gibt nur Deus, und Deus bin ich. Deus' Faust ist meine Faust, Prophet! Damit werde ich deine und die Existenz deines Volkes ein für allemal beenden. Von hier in den Gaswolken aus kann ich jeden Planeten und jede Weltraumstation innerhalb der gesamten Galaxis vernichten. Sobald ich die Patrouille abgefertigt habe, werde ich das Schiff, auf dem du dich aufhältst, in heißes Plasma verwandeln. Der Tod ist dir und ...« »Du hättest keine Bedenken, dieses Kind zu töten, das da neben mir liegt? Es ist dein Fleisch und Blut, Ngen Van Chow.« »Was bedeutet denn schon ein einzelnes Kind, Pro phet?« erwiderte Ngen geringschätzig. »M'Klea hat mich einige Zeit lang amüsiert. Mit der Schwangerschaft wollte ich sie nur auf die Probe stellen, um herauszufinden, wie viel sie für mich zu leisten bereit ist. Ein Gott wird von zahlreichen Frauen umschwärmt.« Schallend lachte er, während M'Klea der Atem in den Lungen rasselte. »Nein ... nein ...«, stammelte sie halblaut. »Du wirst kommen ... Kommen und mich retten!« »Mal im Ernst, M'Klea. Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet. Deinetwegen soll ich kommen? Und wegen dei nes Bankerts? Glaubst du tatsächlich, ich würde mich dem Blasterfeuer der Patrouille aussetzen, bloß um irgendeinen plärrenden Knirps herauszuholen? Ich bin Deus, Weib!« Van Chows Augen glitzerten herrisch, während er sie abfälligen Blicks musterte, höhnischer Triumph umzuckte seine Lippen, den harten Zug der Selbstzufriedenheit um seinen Mund. »Schau mich an! Ich bin Herr der Mensch heit ... der ganzen Galaxis! Was zählt da ein Sohn? Frauen werden mir ein Heer von Söhnen gebären. Zum Schluß
wird das Menschengeschlecht nur noch aus meinem Erb gut bestehen. Ich bin GOTT!« Versonnen lächelte Chester. »Es ist hochmütig von dir, Spinne eine solche Anmaßung zuzumuten. Ich bin sicher, daß deine Seele ihm Grund zur Belustigung geben wird, Ngen. Spinne kann sehr viel von dir lernen. Leider wird alles Schmutz und Unrat sein.« »Du hast mich mit Messias anzureden!« befahl Ngen, indem seine Augen nachgerade zu glühen begannen. »Ich bin unaufhaltsam, Prophet. Ich werde die Patrouille aus dem All schmettern und Welt vernichten, deinen Heimat planeten ... und Arcturus ... und die Erde ... Alle werde ich auslöschen, die sich mir in die Quere stellen!« Chester achtete nicht auf die Frau, die hinter ihm übers Bett krauchte. Zerstreut sah er sich in der Kajüte um, gelangte zu der Einsicht, daß er in so prunkvoll geschmückte Räume nicht paßte. »Ja, Ngen ist Gott!« schrie M'Klea, der jetzt leiden schaftliche Besessenheit aus den Augen leuchtete. »Und ich bin seine Imperatorin!« In ihrem Blick flak kerte eine neue, noch schlimmere Form von Irrwitz. »Ngen, zerschmettere diesen romananischen Hunde sohn auf der Stelle! Du kannst allein mit deiner Macht und Herrlichkeit seinen Geist psychen. Töte ihn!« Halb hysterisch kicherte sie. »Töte seine Seele, wie du es schon mit so vielen gemacht hast!« Sie hob einen Bla ster, den sie irgendwo hervorgekramt haben mußte, richtete den Lauf auf Chesters Schläfe. »Töte ihn, mein Imperator!« Chesters Lächeln verlor nichts von der Gutmütigkeit und Unbekümmertheit. »Triff deine endgültige Entschei dung, Ngen. Du erkennst dieses Kind nicht an?« Chester hob den Kopf, ohne sich um die harte, gegen seinen Schä del gedrückte Waffenmündung zu scheren. »Du darfst es behalten, Romananer. Säug's mit dem dreimal verfluchten Blut deiner eigenen Adern. Du wirst nicht mehr lange leben. Sende dein Seelchen zu deinem
Spinne und sag ihm 'n Gruß von mir. Du bist Satan, Pro phet. Meine Faust wird dich zermalmen.« »Zermalme ihn!« kreischte M'Klea bösartig. »Zermal me ihn! Zermalme ihn! Zeig ihm deine Pracht und Stärke, mein Imperator! Beweise der Galaxis deine Macht!« Wäh rend ihres Geschreis streckte M'Klea, obwohl sie selbst eine Blasterpistole in der Hand hatte, die Arme erbar mungswürdig, als wollte sie Ngen beschwören, dem Kommu-Apparat entgegen. Langsam und beinahe mitleidig schüttelte Ngen den Kopf. »An dir hatte ich fast soviel Freude wie an meinen übrigen Frauen, M'Klea. Du hast mich amüsiert ... Mir Gesellschaft geleistet. Du bist ganz leicht zu beeinflussen gewesen. Sag mir, war die Zeit als meine Imperatorin den Verlust der Zuneigung deines Bruders wert? War sie die Schmerzen der Entbindung wert? Hast du wahrhaftig in dem Glauben geschwelgt, du würdest immer meine Impe ratorin sein?« Er beugte sich vor, forschte neugierig, aus gespannter Erwartung die Lippen geöffnet, in ihrem Mie nenspiel nach Reaktionen. »War es deine Seele wert, dein Volk und deine kostbare Ehre zu verschleudern, M'Klea?« Ngen lachte. »Ach, was habe ich mit dir meinen Spaß gehabt!« »Ich bin ... Imperatorin. Ich bin ...« Aus plötzlicher Verunsicherung schüttelte M'Klea den Kopf. »Ich habe deinen ... Sohn zur Welt gebracht.« »Ich bin Deus!« herrschte Van Chow sie an. »Was bedeutet ein einzelner Sohn, M'Klea? Ich werde der Vater einer Rasse sein.« Er lachte wie ein Wahnsinniger. »Und du bist tatsächlich für immer mein! Niemand außer mir wird dich je haben, M'Klea. Ich war dein erster Mann ... und ich werde dein letzter und einziger bleiben. Du wirst gleich sterben, M'Klea. Ich, Deus, verfüge es so. Deine Seele gehört mir, du mißratener kleiner Blondschopf. Ich habe dich bis ins Mark verdorben, und jeder Augenblick hat mir diebisches Vergnügen gemacht.« »Nein!« gellte M'Kleas Stimme, als sie endlich den
Sinn seiner Wort begriff. »Nein!« Nochmals schüttelte sie den Kopf. Ein gedämpftes, dumpfes, langgezogenes Heu len drang ihr von den Lippen. Vom Bildschirm schweifte ihr Blick voller Entgeisterung und Ungläubigkeit umher, fiel zuletzt auf den Propheten. »Ich bin ... Imperatorin«, flüsterte sie schließlich, als spräche sie mit sich selbst. Chester seufzte. »Du bist nichts als Spinnes Gefäß. Das ist genug für jeden.« »Lügner!« brauste M'Klea auf, hob wieder die Blaster pistole. »Jetzt wirst du sterben! Sterben von meiner Hand. Sterben durch ...« Ein Krächzen röchelte aus ihrer Kehle. Ihre Miene erstarrte vor Schreck, alle Farbe entwich ihrem Gesicht, sie blickte, indem sie lautlos die Lippen bewegte, an sich hinab. Chester hatte kaum die Hand gerührt. Unter M'Kleas von Muttermilch schweren Brüsten ragte der Griff seines romananischen Kriegsdolchs hervor; die Spitze der langen Klinge dehnte die Haut zwischen ihren Schulterblättern. Einen Moment lang lähmte der Schock M'Klea. Ihre zarten, weißen Finger fuhren über das glatte Holz des Messergriffs, während ihr Blick zu Ngen zurückkehrte. »Ich bin Imperatorin«, raunte sie fassungslos. »Wirst du mein Leben retten?« Ihre blauen Augen bettelten Ngen Van Chow an. »Du bist nur eine elende Schlampe.« Ngen prustete vor Lachen, als M'Klea auf dem Bett zusammenzusinken begann, sich im teuren arcturischen Bettzeug ein schar lachroter Fleck ausbreitete. Sie hustete, helles Rot schäumte ihr über die Lippen, besudelte die alabasterwei ßen Wangen und troff ihr auf den Hals, sickerte in Rinnsa len über die prallen Brüste. Während Ngens letzte Schmä hung noch nachhallte, verkrampfte sie sich schwächlich und starb, ihre Augen stierten ins Nichts. Betrübt schüttelte Chester den Kopf. »Ihre Seele ist zu Spinne eingegangen. Es war ihr Cusp. Wenn eine Seele nichts mehr lernen mag, dient sie in dieser Existenzsphäre
keinem Zweck.« Chester zog den Dolch aus dem Leich nam, wischte das Blut von der Klinge. Ngen lachte, grinste auf die Tote herab. »Von deiner Waffe durchbohrt zu werden, ist wahrscheinlich ebenso tödlich, wie wenn ich meine in jemanden stecke.« Chester nahm das Kind auf den Arm. »Ich muß dem Kleinen Nahrung verschaffen. Er wird bald hungrig sein. Ich möchte nicht, daß er den Haß aus der Brust seiner toten Mutter aufsaugt.« »Tu was du willst. Du wirst in Kürze tot sein. Hast du keine Fragen an Deus? Eine Frage gewähre ich dir, Pro phet. Danach werde ich dich natürlich töten.« Chester hob den Blick zum Kommu-Bildschirm. »In der Tat bin ich genau aufgrund der Absicht hier, Fragen zu stellen. Welchen Sinn sollen deine Verbrechen erfüllen, Ngen? Das ist meine Frage. Welchem Zweck sollen sie dienen? Was ist es, das du treibst? In was möchtest du die Menschheit verwandeln?« »Eine Frage, habe ich gesagt, Prophet.« »Diese Fragen sind eins, Ngen. Du kannst gar nicht eine von ihnen beantworten, ohne Antwort auf alle zu geben. Ich bin ein Lehrer, aber ich wünsche auch zu ler nen. Lehre mich etwas, Ngen. Ich höre zu. Weißt du, der Grund ist, warum ich frage, daß du und ich eins sind. Kannst du das begreifen? Weißt du, es wäre gut für mich, dich zu verstehen, denn in einer anderen Dimension, einem zufällig verschieden ablaufenden Fortgang der Exi stenz, könnte ich du sein.« Inzwischen lächelte Chester wieder so unbeschwert wie sonst stets. »Es ist mein Ziel, das Universum nach meinem Bild zu gestalten. Die Menschheit wird Ngen werden. Ich habe vor, die tüchtigsten Genetiker mit meinem Cloning zu betreuen. Vielleicht ist dir bekannt, daß in der genetischen Beschaffenheit von Mann und Frau ein feiner Unterschied vorhanden ist. Wenn ich das Y-Chromosom entferne und statt dessen ein zweites X-Chromosom einsetze, kann ich mein weibliches Gegenstück züchten. So werde ich an
meine eigentliche Imperatorin gelangen, Prophet. Die Menschheit wird Ngen sein. Sie wird die Gedanken Ngen Van Chows denken, denn ich bin Deus. Du weißt ja, das Leben ist Kampf. Indem ich mich mit dem wirksamsten Nachdruck behaupte, den man sich überhaupt vorstellen kann, beweise ich, daß ich der höchststehende Einzel mensch bin. Ich werde meine Vollkommenheit vervielfäl tigen, zum Allgemeingut erheben.« Chester lächelte. »Spinne dürfte großes Interesse an der Betrachtung deiner Seele finden. Ich frage mich, ob er letzten Endes wirklich der Ansicht sein wird, daß sie den Verlust der Informationen so vieler Seelen aufwiegt, denen du den freien Willen herausgepsycht hast.« »Ich bin das Gerede jetzt leid, Prophet.« Ngen warfChester einen angewiderten Blick zu. »Du hast deine Ant wort erhalten. Viel Spaß mit dem Balg, dir bleibt dafür nur noch wenig Zeit.« Unbeeindruckt lächelte Chester. »Ich werde tatsächlich viel Freude an deinem Kind haben, Ngen.« Er hob den Kopf. »Allerdings bezweifle ich, daß dir das Leben zusa gen würde, das es führen wird.« Der Kommu-Bildschirm war erloschen. Chester stieß ein Seufzen aus und lächelte das kleine Wesen an, das die Arme zu bewegen versuchte. »Spinnes Wege sind rätselhaft«, sagte Chester mit fröh lichem Schmunzeln. * * * STATION KOBALT, ETAGE 1
Susan Smith Andojar lenkte einen Blasterstrahl zwischen die Padri, die durch die in die Wand gesprengte Bresche strömten. In der Düsternis des verwüsteten Raums schie nen die grell-violetten Strahlbahnen die Augen regelrecht
zu versengen. Susans Feuer zerriß Padri, ihre Leiber zuk kten in Krämpfen, platzten auf und wirbelten umher. »Ich kann sie nicht mehr aufhalten!« In hohem Bogen flog Susans letzte Handgranate in die Masse der Angreifer, die Explosion richtete entsetzliche Verheerung an, aber die Angreifer quollen weiter hervor. »Geh zurück, Susan«, rief Ritas Stimme aus dem Helmfunk. »Ich kriege keine Verbindung zu Pike. Entwe der ist er erledigt worden, oder er hat sich außer Reichwei te entfernt.« Darwin? Tot? Wie Hans? Und Freitag? Spinne, nein! Tu mir das nicht an! Nicht mir. Ich habe genug gelitten. Auch ihn zu verlieren, habe ich nicht verdient. Ich ... ich ... Nein ... Nicht wie Hans und ... Susan preßte die Kiefer aufeinander, unterdrückte Trä nen der Panik. Sie durfte nicht einmal daran denken. Zumindest jetzt nicht, solange noch eine Gelegenheit bestand, um sich von solchen Gedanken abzulenken. Nahezu benommen vor Verzweiflung zwang sie sich zu einer Überlegungen der Situation, um die schreckliche Befürchtung, auch Pike könnte tot sein, zu verdrängen. »Knall 'n Loch in unseren Abschnitt der Außenwan dung, Majorin. Dann können wir ausweichen. Vielleicht gibt's draußen Handgriffe oder so was.« Ja, das war es: Handeln, das half. Alles war besser, als an Pike zu denken, sich ihn als einen zerfetzten Leichnam vorzustellen. Susan wehrte unter Einsatz beider Blaster eine Gruppe Padri ab, während sie durch eine andere Lücke zurück wich. Eine Detonation brachte die Wand ins Wackeln, als in dem Raum, den sie gerade verlassen hatte, eine Hand granate explodierte. Verflucht noch mal! Standen denn Padri in unbegrenzter Zahl zur Verfügung? Unter ihren Füßen bäumte sich der Boden auf, warf sie in die immer dünnere Luft empor, und sie stürzte mit gespreizten Gliedern hin. »Was zum ...?«
»Wir sind durch«, ertönte Ritas Stimme. Susan packte ihr Blastergewehr und schleuderte den Padri, die durch die durchbrochene Wand nachstießen, eine violette Lanze des Todes entgegen. »Siehts du irgend was?« »O ja!« Ritas Tonfall klang richtig fröhlich. »Da wird geblastert, es ist das reinste kosmische Feuerwerk. Ich glaube, der Admiral ist eingetroffen. Er bietet alles auf, habe ich den Eindruck, um diese Station in kleinste Teil chen und aus dem All zu ballern. Und uns mit. »Wunderbar!« schnaufte Susan. »Was nun, Majorin? Ich habe bloß noch zwei Batterien für mein Gewehr.« »Ich werde zurückgedrängt«, erscholl Torkilds Stimme aus dem Helmfunk. »Ich kann sie nicht mehr in Schach halten.« »Unsere einzige Chance ist die Außenseite«, antworte te Rita. »Ich sehe 'ne Möglichkeit, wie wir's vielleicht bis nach oben schaffen.« Susan schoß ihre Batterie auf die Padri leer, die ihre Stellung zu stürmen versuchten. In einem Davonwirbeln zerstückelter Leiber brach auch diese Attacke zusammen. Susan rammte eine Batterie in die Waffe. Die Furcht pumpte ihr, während sie sich im Laufschritt absetzte, neue Kräfte in die überanstrengten Muskeln. Darwin ist irgendwo dort hinten ... Auf der anderen Seite dieser Horden. Verdammt, er ist nie ein Krieger gewesen. Bloß ein netter, aufmerksamer Zeitgenosse, der sich mehr oder weniger geschickt durchs Leben schlug. Genau die Art von Mann, die sie brauchte, um in seinen Armen zu liegen. Um ... Mittlerweile war sie dem Tod schon zu oft nur dank ihrer hochgradig geschärften Reflexe entgangen. Darwin, dieser gutmütige Kerl, hatte nicht einmal ihr Training genossen. Ihm fehlte der kleine Vorteil des sechsten Sinns, den sie auf Sirius entwickelt hatte. »Nicht dran denken, Susan«, ermahnte sie sich im Flü sterton, war sich darüber im klaren, daß die wunde Stelle
ihrer Verletzlichkeit immerzu dicht unterhalb ihres Bewußtseins lag. »Selbst wenn er tot ist, kannst du's dir jetzt nicht erlauben, zusammenzuklappen und zu flennen.« Die letzten hundert Meter rannte sie, eilte geduckt durch geborstene, zerlöcherte Wände, sprang über Trüm mer hinweg, erreichte schließlich das Leck, durch das Rita sich gerade hinauszuklettern anschickte. Gegenüber zer siebten Blasterstrahlen die Wand, glutheiß durchschwirr ten abgespellte Metallsplitter die Umgebung. Torkild kam eingezogenen Kopfs hereingestürmt, ging vor einem Schauer stählerner Brocken in Deckung, der von der Wand herabsauste. Er zitterte, bebte am ganzen Körper, kauerte sich über seine Waffe, starrte in die Richtung, aus der er gekommen war; Susan faßte ihn an der Hand, zog ihn hoch. »Bist du noch heil?« »Ja«, keuchte er. »Verdammt, wir sitzen in der Falle! Bei Ihrem Spinne, wir sind so gut wie tot, stimmt's? Es ist nur eine Frage der Zeit.« »Kann sein. Aber auf Sirius sind wir ein paarmal in noch brenzligerer Klemme gewesen.« Eine Strahlbahn fauchte über Susans Kopf hinweg, und sie warf sich herum, ihre Waffe ruckte hoch und erschoß den Padre, der durch ein Loch in der Wand spähte. »Los!« schnauzte Susan, schubste den Arpeggianer hinüber zu dem Leck, durch das Rita inzwischen hinaus geklommen war, half zusätzlich mit einem Fußtritt nach. Nochmals blasterte sie auf die demolierte Wand, rich tete anschließend ihr Feuer auf den Türbereich, um dort einen Vorstoß etlicher Padri abzuwehren; dann schlang sie sich das Blastergewehr um die Schulter, schluckte einmal kräftig und hangelte sich durch das Leck ins Freie. Nur die Weite des endlosen Nichts erwartete sie. Torkild hing an der Außenhülle, starrte offenen Munds, die Augen aufgerissen, während seine Nasenflügel sich blähten und schweres Atmen anzeigten, in das blendend helle Gleißen und Flackern, das sich unter seinen Füßen
darbot. Die zusammengefaßte Feuerkraft der Patrouille überschüttete die Schutzschirme der Station. Gelegentlich lenkte irgendein außer Sichtweite des bloßen Auges befindliches Objekt die Strahlbahnen ab. Im chaotischen Zucken und Lohen der Blastersalven entfaltete sich ein konzentriertes Feuer unvorstellbarer Größenordnungen. »Beweg dich!« schrie Susan den Arpeggianer durch den Helmfunk an. »Ich ... ich ...« Torkilds Stimme versagte, die Furcht staute ihm die Luft in den Lungen. Er und Susan hielten sich mit den Händen am verboge nen Metall fest, ihre Beine baumelten über der Unendlich keit, über den Höllenfeuern der Blaster und der von Entla dungen durchwaberten Schutzschirme. Noch eine halbe Stunde hier draußen, und sie mußten schon an der Streu strahlung krepieren. Susan erkannte, wie Rita sich inzwi schen weiter fortbewegte. Sie hatte eine Leine ausgewor fen, deren Schlinge an einer Antenne hakte; nach Befesti gung des unteren Endes an einem Stück Metall, das aus der Stationswandung ragte, begann sie sich Hand über Hand zu der Antennenkonstruktion hinaufzuziehen. Die Situation, in der sich die drei befanden, ließ sich mit der von Fliegen vergleichen, die an der Unterseite eines großen, in ununterbrochener Drehung befindlichen Rads saßen. Über ihnen erstreckte die graue Stahlwand sich schier endlos in die Höhe. Angestrengt schluckte Susan, krallte ihre Finger um das Seil, nahm es fest in den Griff. Unten klaffte ein von Blasterfeuer durchzün geltes Nichts. Wieder verlieh Furcht ihr neue Kraft. Als sie nach oben blickte, sah sie auch dort Blasterstrahlen kreuz und quer durchs Dunkel schießen. Zurück konnten sie nicht. Susan klammerte die Beine um Torkild. »Los geht's!« Mit einem Ruck, für den sie alle Muskeln ihres Kör pers anspannte, löste sie gewaltsam seine Fäuste vom Metall, hörte ihn schreien. Selbst von Entsetzen gepackt, pendelte Susan mit ihm über der endlosen Leere, streckte
eine Hand nach oben aus. Sogar durch den Schutzpanzer schien Ritas Seil ihr die Finger einzuschneiden. Der Atem rasselte ihr mit hechelndem Keuchen durch die Kehle. »Ist er verwundet?« erkundigte Rita sich besorgt. »Nein, er hat bloß Schiß.« Kurz schwieg Susan. »Und nicht nur er«, fügte sie hinzu. Sie japste, Krämpfe drohten ihre Finger zu befallen. »O Gott ...!« stöhnte Torkild. »Ich schaff's nicht«, knirschte Susan durch zusammen gebissene Zähne, fühlte das Zittern ihrer Muskeln. Leuchtend-hell ergoß sich Licht über sie, als erneut Blaster schüsse an den Schutzschirmen abprallten. »Ich kann nicht mehr ...« »Verflucht noch mal, Mädel, nimm dich zusammen!« schalt Rita sie in scharfem Ton. »Halt durch! Ich komm euch holen.« »Nein!« schrie Susan. »Durch das Mehrgewicht könn te die Leine reißen.« »Susan ...!« drang Torkilds gepreßte Stimme aus dem Helmfunk-Lautsprecher. »Ich klettere selber hoch. Lassen Sie mich los.« Heilfroh lockerte Susan den Scherengriff ihrer Schen kel, ihre Unterarme schienen von den Strapazen zu glü hen, als Torkild die Arme um ihre Schultern legte und an ihr hinaufkraxelte. Beide schwankten und zappelten sie an der Leine, ihre Füße hatten keinen Halt. Gerade als eine von Susans Händen abglitt, langte Torkild über ihr zu und fand an dem Strang Halt. Sie röchelte, Schweiß rann ihr übers Gesicht, während Torkild sie unter den Achseln nahm und aufwärtszerrte. Gemeinsam kletterten sie zu der Antenne. Für einen Moment senkte Susan den Blick hinab. Unter ihnen flammten und flackerten mörderische Todesstrahlen durchs Unendliche. Rita streckte Susan eine Hand entgegen und half Su san, die schwer um Atem rang, auf den mit Sensoren gespickten Mast. Neben ihr kletterte Torkild auf die
Antenne. Rita fummelte an der Leine, löste sie, schleuder te die Schlinge nach einem anderen der vielen Ausleger auf der Außenhülle der Station. »Majorin«, quetschte Susan durchs Winseln ihrer Lun gen, »du bist ja völlig verrückt ...« »Wieso? Wir sind sowieso so gut wie erledigt. Am Ende wird Ree dieses Ei in die Pfanne hauen, und wenn das passiert, bleibt von uns nur Asche übrig. Alles klar, Alhar?« »Jetzt fühle ich mich zu allem fähig. Ich bin schon tot. Mir ist das Herz in der Brust stehengeblieben. Was von nun an folgt, ist bloß noch geborgt.« »Gut«, sagte Rita, zupfte an der Leine. »In fünfzehn Minuten geht uns ohnehin der Sauerstoff aus.« Sie schwang sich in die weite Grenzenlosigkeit hinaus, schau kelte unter dem kolossalen Gewicht der radförmigen Welt raumstation. Nein, sie waren nicht mit Fliegen vergleichbar. Eher mit Spinnen, die im Netz ein dünnes Fädchen entlangkro chen. Susan hielt den Atem an. Torkild winkte ihr zu, gab zu verstehen, sie sollte Rita als nächste folgen, und sie erhaschte die Leine, stieß sich in dem Bewußtsein ab, daß schon die kleinste falsche Bewegung sie kopfüber in Glu ten stürzen müßte, deren Hitze selbst die Höllenpfühle übertraf. Ihre Finger krampften sich um das Seil, sie spür te ein Brennen in der Muskulatur ihrer Unterarme, wäh rend sie sich emporzog, Grimassen schnitt, sich bei jedem infernalischen Hin- und Herschwingen der nächsthöheren Sensorantenne näherte, an der Rita sich jetzt zu schaffen machte, schon den weiteren Aufstieg vorbereitete. Warmer Schweiß sickerte ihr in die Augen, blendete sie, ihre Schultermuskeln schlotterten infolge der unabläs sigen Schinderei. Die Gelenkhöhlen ihrer Arme wurden fortgesetzt abwechselnd gedehnt und zusammenge krampft, schmerzten. Das Kühlsystem ihres Schutzpan zers arbeitete bei völliger Überlastung nur noch unter größter Mühe. Ging es so weiter, würde sie lebendigen
Leibes geröstet, bevor die Strahlung — oder Rees Blaster — sie das Leben kosteten. Susan hing wie an einem Faden über der Unendlichkeit, ächzte in ihren Helm und plackte sich ab, fragte sich, wieviel Zeit ihr noch bleiben mochte, bis ihre Arme einfach nicht mehr gehorchten. Sie blickte hinunter; es schauderte ihr, und sie nötigte sich zum Weiterklettern.
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STATION KOBALT, GASWOLKEN-KOLONIEN
Darwin reagierte augenblicklich. Das große Blasterge wehr klemmte zwischen ihm und MacGuire, der Griff war ihm aus der Hand geprellt worden. Blitzartig grapschten seine Finger nach dem Survival-Messer. Wuchtig stach er nach dem Mann, der ihm in den Rücken gesprungen war, hörte hinter seinem Ohr ein Aufkeuchen des Entsetzens. Doch schon fielen weitere Männer über ihn her, drückten ihn zu Boden. Pike brüllte vor Wut und Verzweiflung, er spürte, wie seine Klinge warmes Fleisch zerschlitzte. Aus Furcht wurde er zum Berserker, säbelte blindlings um sich. Das Handgemenge steigerte sich zu wirrem, dichtem Getümmel. Ein Gegner schrie, als Pike ihm das Messer in den Leib rannte, es drehte. Mit einem Aufkreischen torkel te der Mann zurück, Grauen glotzte ihm aus den Augen, während er versuchte, die Eingeweide, die ihm aus dem Bauch quollen, darin festzuhalten. Mit dem Messer kämpfte Pike sich frei, durchschnitt eine Kehle, kroch hastig beiseite, als ein Strahl Blut das Gewimmel seiner Widersacher besprenkelte. Pike zückte die Blasterpistole. Der Wissenschaftler namens Veld war zur Seite des Kontrollraums zurückgewichen, hatte das schwere Bla stergewehr in den Händen. »Nicht auf mich schießen«, rief er. »Ich behalte die Tür im Auge. Die Padri kommen bestimmt bald.« Veld richtete die Waffe auf die angeseng te Panzertür. »Aufstehen!« schrie Pike, während er die günstigste Position suchte, gleichzeitig Veld und das Blastergewehr beobachtete. »Steht auf ... oder ich lege euch alle um!« Auf der Kommu-Konsole lag ein Toter. »Aufstehen!« brüllte Pike halb außer sich vor Furcht noch einmal.
»Sie haben's doch gehört«, sagte Veld barsch zu seinen Kollegen. »Machen Sie endlich Schluß mit Ihrem Schafs kopfdasein und tun Sie, was er will.« »Warten Sie!« lamentierte MacGuire, der auf dem Fuß boden kniete, die Hände gehoben hatte. »Um Himmels willen, bringen Sie uns nicht um.« Wackelig raffte er sich auf, tappte an der Wand entlang. Der Rest der Wissen schaftler schloß sich ihm an, scharte sich hinter MacGuire zu einer Traube zusammen. Pike widmete Veld einen kurzen Blick, versuchte zu entscheiden, ob er ihn niederschießen oder das Risiko ein gehen sollte. »Wo stehen Sie? Auf wessen Seite sind Sie? Und warum?« »Ich bin Veld Arstong.« Veld wandte den Blick nicht vom Eingang. »Man könnte sagen ... ähm ... ich habe ein gewisses Interesse an den Romananern. Dank einer Frau, die ... Äh, haben Sie mal von Leeta Dobra gehört? Der Anthropologin, die ...« »Sparen wir uns lange Vorgeschichten. Was ist mit ihr?« »Vor langem, noch ehe sie nach Welt flog, habe ich mich ab und zu mit ihr getroffen. Ich habe viel von ihr gelernt. Sie bewundert. Seitdem habe ich alles gelesen, was ich an Literatur über die Romananer finden konnte. Dann hat Ngen uns von der Universität entführt, damit wir ihm diese Superwaffe bauen. Zum Schein habe ich mitge spielt. Abgewartet. Ich bin jetzt, da die Gelegenheit sich ergibt, alles zu unternehmen bereit, um Ngens Treiben zu vereiteln. Diese geistlosen Kreaturen, die er um sich sam melt, diese Vorrichtung, die wir für ihn konstruiert haben ... Man muß ihn unschädlich machen. Was soll ich tun?« Pike wog ab. »Warum? Warum sollte ich Ihnen trauen ?« »Verdammt, ich ...« Am Zugang zeigte sich der Kopf eines Padre. Weil Veld die Handhabung der Waffe nicht gewöhnt war, schoß er zu hoch, aber jedenfalls suchte der Padre Deckung.
»Guter Gott ...« MacGuire fing zu jammern an. »Haben Sie mit uns Erbarmen! Wir haben bloß die Weisungen des Messias befolgt ...« »Maul halten!« Pike war nicht in der Stimmung, um sich sein Gequengel anzuhören, und warf ihm einen grim migen Blick zu. »Veld, wie setzt man diese Anlage außer Betrieb?« »Eng, erklären Sie's ihm.« »Wir müssen die Reaktoren abschalten«, antwortete Helmut Eng. Seine Miene verriet Bestürzung, während er das überall verspritzte Blut ansah. Seine Hände begannen zu zittern; krampfartig schluckte er immer wieder. »Dann fangen Sie endlich damit an!« schnauzte Pike. »Das Ding tötet Menschen. Legen Sie's still!« Er winkte mit der Blasterpistole. Unsicher erhob Eng sich von sei nem Platz. Mit MacGuires Unterstützung machte er sich daran, die Reaktoreinheiten herunterzufahren. »Veld, gehen Sie 'n paar Schritte dort hinüber. Dann haben Sie in Richtung der Tür 'n besseres Schußfeld. Wie lange dauert's, bis das Mistding harmlos ist?« »Das ist es schon.« MacGuires Atemzüge schnaubten mühevoll. »Der Einsatz ist nur bei maximalem Energiepe gel möglich.« Ein schwaches Beben ging durch die Station. Eng akti vierte einen Monitor. »Wir stehen noch immer unter Beschuß. Wenn die Schutzschirme erlöschen, werden die Blaster der Patrouille uns pulverisieren.« »Das wäre vielleicht gar nicht die schlechteste Lösung. Wie lange brauchte man, um den Energiepegel vom jetzi gen Stand wieder aufs Maximum hochzufahren?« »Eine Viertelstunde.« »Lassen Sie ihn auf diesem Stand. Die Schutzschirme werden das Feuer der Patrouille absorbieren, solange sie sich außerdem noch mit Ngens Schiffseinheiten herum schlagen muß. Wenn Sie mir 'ne Funkverbindung nach draußen herstellen, können wir kapitulieren.« Veld gab, wo er lauerte, einen zweiten Schuß ab. »Ver
dammt, Mann! Ich hab einen erwischt. Ich hab einen von diesen verfluchten, geistlosen Halunken weggeblastert. Was sagst du dazu, Leeta? Ich hab einen erwischt!« »Jubeln Sie nicht, Veld, bleiben Sie auf der Hut.« Pike stützte sich auf einen Monitor, von dem aus er alles über blicken konnte und den Rücken frei hatte. Weil er sich nach wie vor nicht so recht sicher war, ob er Veld vertrau en durfte, schnitt er eine finstere Miene, befingerte die Blasterpistole. Herrgott, hätte er nur einen Schluck Wasser zu trinken! Aus dem Schutzpanzer schwallte ihm der Mief seiner Schweißausbrüche ins Gesicht. »Also, weshalb haben Sie Ngen dies Ding überhaupt gebaut?« »Van Chow wird unsere Familien ermorden!« MacGuire wurde um noch eine Schattierung bleicher. »O mein Gott! Er wird meine Töchter umbringen, meine Therisa! Sie müssen uns fortlassen. Uns ... O mein Gott ...! Es ist schon zu spät ... längst zu spät, um ...« »Hören Sie bloß auf!« unterbrach Veld ihn unwirsch von der Seite. »Verdammt nochmal, MacGuire, Ihre Fami lie zählt überhaupt nichts, verstanden? Nichts! Im Ver gleich zu dem, was diese Waffe hier anrichten kann, hat sie keinerlei Bedeutung. Vergessen Sie nicht, Ten, wir haben vorhin damit zwei der größten Schlachtschiffe der Patrouille vernichtet. Und Sie wissen verdammt genau, daß wir von dieser Station aus mit jedem Planeten des Direktorats das gleiche anstellen können. Hol's der Satan, denken Sie doch einmal an mehr als nur an sich!« MacGuire wandte sich auf dem Absatz um; er zitterte am ganzen Körper. »Lecken Sie mich am Arsch, Veld. Sie waren ... Sie sind von Anfang an gegen uns gewesen. Und jetzt verbrüdern Sie sich mit diesem gefährlichen Irren, der...« »Der hier ist, um Ngens Superwaffe außer Gefecht zu setzen. Ihren Arsch werde ich mit dem Blaster aufrei ßen, Ten, Sie Idiot, wenn's sein muß, um diesem Mann zu helfen.«
»Wo sind Ihre Familien?« fragte Pike. »Auf Ngens Flaggschiff«, gab Eng halblaut zur Ant wort; ungläubig sperrte er die Augen auf, während er in einem Gemisch aus Grausen und Faszination die zwei Lei chen betrachtete. Mehrere Leichtverletzte unter den Perso nen, die sich auf der anderen Seite des Kontrollraums gesammelt hatten, betupften täppisch, vom Anblick des eigenen Bluts entnervt, ihre Schnittwunden. »Tja, dann liegt ihr Schicksal wohl in Spinnes Hand.« Mit der vom Durst verschleimten Zunge leckte Pike sich über die trockenen Lippen. »Sie sind in meiner Hand. Krieg ich nun die Funkverbindung, oder nicht?« »Gerade kommt ein Anruf.« Nervös schluckte Eng. »Was soll ich machen, wenn's der Messias ist?« »Gar nicht drum kümmern.« »Man wird unsere Familien psychen!« begann MacGuire ein neues Lamento. »Meine kleinen Töchter. Sie sind ... Sie können doch nicht zulassen, daß meine Klei nen ...« Darwin bleckte die Zähne, blickte ihm erbittert ins schweißige Gesicht. »Hören Sie zu! Im Flaggschiff haben inzwischen romananische Krieger den Kampf aufgenom men. Ihre Familien sind entweder in Sicherheit oder tot. Wie gesagt, der einzige Gott, der auf dem Schiff wirklich was zu melden hat, ist Spinne.« Bissig grinste er, deutete auf das seinem Schutzpanzer aufgemalte Spinnenbild. »Spinne«, wiederholte Veld gedämpft, schoß im näch sten Moment nochmals mit dem Blastergewehr. »Noch einen erledigt! Ich glaube, ich komme allmählich dahinter, wie man mit so einem Gewehr umgeht. Bei Spinne, wenn Leeta mich jetzt sehen könnte! Sagen Sie ... äh ... Soldat, wie ist Ihr Name?« »Darwin Pike.« Zum erstenmal nahm Veld den Blick vom Eingang. »Von der Anthropologischen?« »Genau.« »Na, das ist ja ... Deshalb wußten Sie, wer wir sind?«
»Hm-hmm.« Gallig lachte Pike, heftete seinen harten Blick auf die Experten. »Hören Sie mal her! Sie sehen hier jemanden wie Sie selbst vor sich. Ich bin Anthropologe, Wissenschaftler der Universität. In das alles bin ich eben so unfreiwillig wie Sie hineingeschlittert. Wir sind keine Feinde. Es ist Ngen, der bei allem der gottverdammte Hauptverbrecher ist. Glauben Sie denn im Ernst an sein Deus-Geschwafel?« Er musterte ihre schuldbewußten Mienen, bemerkte gesenkte Augen. »Ja«, brummte er, »das habe ich mir gedacht. Sie haben die Zombies gesehen, die er sich gepsycht hat und durch die Gegend schickt.« »Die was?« fragte MacGuire. »Entschuldigung. >Zombie< ist ein altes terranisches Wort für sogenannte lebende Tote.« Voller Verachtung spie Pike aus. »Ihr körperlicher Stoffwechsel funktioniert noch, aber ansonsten sind sie quasi längst tot.« »Jeder den ich erwische, ist endgültig tot«, kollerte Veld. »Gott, wie habe ich diesen Moment herbeigesehnt ...! Verdammt, wenigstens nehme ich ein paar von denen mit.« »Anfangs habe ich zu Van Chow tendiert«, bekannte Eng, indem er den Blick hob. »Er hat die Einigkeit der Menschheit propagiert. Ich habe das als löbliche Absicht erachtet, vor allem wegen der Zerfallserscheinungen im Direktorat und der Gefahr, daß die Zivilisation Opfer der romananischen Barbar ...« Er verstummte, zog eine Miene, als hätte er eine Handgranate verschluckt. Pike kaute grimmig auf der Lippe; Eng fing erneut zu bibbern an. Der Physiker schloß die Lippen, fing ein Stoß gebet zu nuscheln an. »Lassen Sie's gut sein, Doktor. Solange Ngens Geheimwaffe abgeschaltet bleibt, werde ich Sie nicht umlegen. Wenn sie wieder in Betrieb genommen wird, dann auf meinen oder Admiral Rees Befehl hin ... Oder weil wir alle tot sind. Ist das so nicht vertretbar?« Schweigen entstand, zog sich hin.
Veld feuerte nochmals. »Daneben ...!« »Wie steht das Gefecht am Stationsrand?« Engs Blick glitt über die Monitoren. »Sie sind jetzt auf der Außenhülle. Ich sehe drei Personen. Es sieht aus, als wollten sie an der Wandung heraufklettern.« Drei! Spinne sei Dank, Susan lebt! Spinne, hab Dank! »Gibt's irgendeine Möglichkeit, wie man die Zombies zurückrufen könnte?« »Der Messias hat sie seiner direkten, persönlichen Befehlsgewalt unterstellt.« MacGuire schüttelte den Kopf. »Was ist mit der Verbindung zum Admiral?« erinnerte Pike ihn, spielte vielsagend mit seinem blutigen Messer. MacGuire nickte, schöpfte tief Atem. »Wissen Sie die Frequenz?« »Nee.« Pike hockte sich auf eine Konsole, warf einem Wissenschaftler, der sich hinter den anderen Experten zur Seite schleichen wollte, aus verkniffenen Augen einen warnenden Blick zu. Der Mann blieb stehen. »Ich will's mal versuchen.« Es gruselte MacGuire sichtlich, als er den Toten von der Kommu-Konsole schob. »Verbinden Sie mich mit ... Wie lautet sein Name?« »Ree. Damen Ree.« »Verbinden Sie mich mit Admiral Damen Ree«, sagte MacGuire schwerfällig, als befürchtete er bei jeder Silbe das Schlimmste. »Hier ist die Projektil«, meldete sich eine markige Stimme. »Sprechen Sie.« »Es nutzt nichts«, erklärte MacGuire plötzlich, schüt telte den Kopf. »Die Verbindung ist weg. Jemand sendet Störimpulse.« »Gut erkannt, Dr. MacGuire.« Unversehens drang Ngen Van Chows salbungsvolle Stimme aus der Kommu. Darwin zuckte zusammen, ein Ruck durchfuhr sein Herz, als er die schmeichlerischen Töne seiner Alpträume hörte. »Sie werden nun den Energiepegel wieder aufs Maxi mum hochfahren und auch die übrigen Patrouillenraum
schiffe vernichten. Das Patt hat jetzt lange genug gedau ert. Es ist höchste Zeit, um die Patrouille und ihr schmutziges Hilfstruppengesindel endlich auszurotten. Ich bin ...« »O nein!« Schon bei den Erinnerungen, die die Stimme bei ihm wachrief, fing sich in Pike alles zu sträuben an. »Nichts da, Ngen! Dein Spiel ist aus, du Halunke. Ich bin hier mit Blastergewehr und -pistole zur Stelle. Wenn du jemanden von diesen Leuten zwingst, irgendein Kontroll pult anzurühren, blastere ich alles zusammen. Hast du mich verstanden, du Stück Dreck, du Massenmörder?« »Nanu, wer ...? Warten Sie, mir fällt's gleich ein. Sie sind ein alter Bekannter.« Halblaut sinnierte Van Chow vor sich hin. »Aber wer ...?« Pike zitterte, schnappte nach Luft, Phantome spukten durch sein Gemüt, schemenhafte Erinnerungsbilder an Skalpelle, mampfende Kannibalinnen und Pallas' ver schwitzte Visage durchwallten seine Gedanken. In plötzli chem Grauen riß er den Blaster hoch und zielte auf die Konsole, an der wie gelähmt MacGuire stand, vergeblich zu schlucken versuchte. »Dr. Darwin Pike!« Ngens Stimme klang, als wäre er ehrlich erfreut. »Mein Lieber, wie nett, dich wiederzuse hen! Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, hatte ich den Eindruck, daß du ziemlich abgewrackt warst. Jetzt könnte man fast meinen, du wärst wieder ...« »Legen Sie die Verbindung hier rüber«, knirschte Dar win. Ngens Konterfei erschien auf dem Bildschirm unmittelbar vor Pike, schmunzelte ihn an. Ein zweiter Monitor zeigte, wie Van Chows Raumjacht auf einen Han gar im Bereich der Stationsachse zuschwebte. Pike spürte, wie sich in seinem Kreuz kalter Schweiß sammelte. Es schauderte ihn, als der Schweißausbruch sich auf seinen gesamten Körper ausdehnte. »So, hier sind Sie also?« Ngen wirkte überrascht. »Mein Lieber, sei ja vorsichtig mit dem Blaster, ich sehe, er ist entsichert. Bestimmt ist dir klar, daß du, falls du die
Kontrollkonsolen beschädigst, die Reaktoren destabili sierst.« Er hatte eine beinahe väterliche Miene aufge setzt. Flatterig nickte Pike, Schweiß juckte in seinem Gesicht. »O ja, N-Ngen, das weiß ich genau, du verfluch tes Scheusal.« »Nun mach aber mal 'n Punkt, Darwin, ich bin doch der Messias.« Van Chows Augen leuchteten. »Ich bin Deus! Deine Seele ist mein ... Heute so wie damals auf Basar. Entsinnst du dich noch an das Skalpell in Pallas' Hand?« Er hob die Brauen. »Wir können solche Umstände diesmal vermeiden. Du stehst jetzt einfach auf und verläßt den Kontrollraum. Damit ist alles erledigt. Du darfst gehen. Such dir deine süße Susan und hab mit ihr deine Freude.« »Hören Sie nicht auf ihn«, rief Veld verhalten dazwi schen. Mühsam schluckte Pike, betrachtete die Spinne auf sei nem Schutzpanzer. Er holte gründlich Atem, strich mit den Fingern über die Umrisse der Abbildung. Tief im Kern sei nes Wesens trat eine Festigung ein, sein Herzschlag beru higte sich, er vermochte leichter zu atmen. »Ngen«, sagte er im Tonfall äußerster Entschiedenheit, »du sollst zur Hölle fahren.« »Ganz genau«, knurrte Veld, der sich nach wie vor über das schwere Blastergewehr duckte. Eine Sekunde lang durchdröhnte das Krachen einer neuen Blasterentladung den Kontrollraum. Velds Lippen schmatzten. »Den hab ich schon mal vorausgeschickt. Dieses Ding richtete ja 'ne schöne Sauerei an, wenn's jemanden trifft.« »Bei mir erreichst du nichts, Ngen«, stieß Pike verbie stert hervor. »Noch kannst du kapitulieren. Draußen ist Ree, hier drin bin ich. Sieht ganz so aus, als ob du zwi schen den zwei sprichwörtlichen Feuern stündest.« »Du meine Güte.« Ngen hob den Kopf. »Was für ein unschönes Wiedertreffen. Denk doch mal nach, Darwin! Es ist besser, du verziehst dich. Eigentlich magst du dich ja gar nicht mit mir anlegen. Erinnerst du dich ans letzte
Mal? Waren die Folgen es denn wert? Warum stänkerst du gegen mich, Darwin? Sind vielleicht der Schmerz und das Leid, die du den Menschen zufügst, es wert? Geh, Darwin. Nimm Susan mit, und ihr könnt glücklich werden. Mir liegt nichts daran, mich mit dir herumzustreiten. Du könn test in dem Kontrollraum da irgendwie dran glauben müs sen.« »Nichts da.« Pike schüttelte den Kopf, konvulsivische Zuckungen, die er nicht verhindern konnte, durchfuhren seine Muskeln. »Komm aus deiner Jacht, du Schweinsge sicht. Komm her, und wir unterhalten uns für 'n paar Stündchen.« Darwin winkte mit dem Messer. »Laß uns Versöhnung spielen. Was glaubst du wohl, was ich mit dir machen werde?« »Deine geistige Klarheit läßt wirklich zu wünschen übrig, Darwin. Ich bin nicht dein Feind. Warum erlaubst du mir nicht, dich zu heilen? Vielleicht hilft dir ein biß chen Psyching?« Ein Bild strudelte aus Pikes Gedächtnis hervor, der Anblick des kastenartigen Psychingapparats, der ihm die Sicht auf Spinne und den Rest des Universums verwehrt hatte. An der Seite stand die Kannibalin, deren Kiefer mahlten, deren blutbefleckte Lippen ... »Verfluchter Scheißkerl!. Trau dich nur her, Ngen! Laß dich hier blicken, und wenn ich dich in die Mangel genommen habe, werden wir sehen, wie gottgleich du bist.« Pike fauchte dem Bildschirm seinen Haß entgegen. »Komm zu mir! Zeig mir deine göttlichen Kräfte, du dreckiger Schuft'.« Pikes Atem stockte ihm in der Kehle, ein Schluchzen erstickte in seiner Gurgel. Das eigene Zähneklappern zer mürbte ihn. Er stand da und bebte vor Furcht, jeder Muskel seines Körpers zitterte vor Verkrampfung. »Bleiben Sie ruhig, Pike«, mahnte Veld leise aus dem Hintergrund. »Er versucht Ihre Nerven zu zerrütten. Las sen Sie sich nicht darauf ein.« Ngen schnitt eine Miene des Bedauerns. »Entschuldi
ge, mein Lieber. Ich melde mich wieder. Im Moment muß ich etwas anderes erledigen.« Der Bildschirm erlosch. »Feigling!« brüllte Pike die leere Bildfläche an. »Du traust dich nicht, mit mir zu reden, was?! Ngen, du bist eine verdammte Memme! Du elender, stinkiger Wurm! Du miserabler, schmieriger...« »He, nur die Ruhe, Darwin, regen Sie sich ab«, rief Veld herüber. »Wahrscheinlich ist genau das es, was er will — daß Sie in Wut geraten, gefühlsmäßig herumtoben, anstatt vernünftig zu bleiben und gelassen zu reagieren.« »Ja ... ja, Veld, da haben Sie recht. Ich muß mich abre gen. Völlig richtig.« Ohne es unterbinden zu können, zit terte Pike vor sich hin. Aus aufgerissenen Augen, die Gesichter blaß, beobachteten ihn die Wissenschaftler. Kal ter Schweiß perlte ihm über die klamme Haut, Spasmen verspannten seine Muskeln. In seiner Erinnerung salb aderte Ngens Stimme, zerfraß sein Widerstandsvermögen. »We-Wer von Ihnen ka-kann zeichnen?« Pike wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Niemand regte sich. »Sie da!« Darwin deutete auf einen Experten. »Nehmen Sie 'n Stift. Stellen Sie sich auf den Tisch und malen Sie eine Spinne an die Decke. Eine große Spinne, kapiert?« Der Mann nickte, seine Finger waren so kraftlos, daß ihnen der dicke Stift fast entglitt. Er stieg auf den Tisch, schielte die Blasterpistole an, machte sich an die Arbeit. Seine Zeichnung hätte vermutlich keine Preise gewonnen, doch an der glänzend-hellen Deckenverkleidung sah sie einigermaßen überzeugend aus. Voller Grimm lächelte Darwin. »Jetzt sieht die Sache schon besser aus. Los, MacGuire, Sie müssen irgendwie das Störsignal überwinden, das er uns dazwischenfunkt.« Minuten verstrichen, in deren Verlauf Pike merkte, wie seine Nerven ihn immer spürbarer im Stich zu lassen droh ten. Was plante Ngen? Lauerte er schon vor der Panzertür, um den Kontrollraum zu stürmen, indem er eine Truppe Zombies vorschickte? »Geben Sie gut acht, Veld. Er hat irgend was vor. Blei
ben Sie besonnen. Lassen Sie sich nicht überrumpeln. Nehmen Sie sich genug Zeit, um genau zu zielen. Ballern Sie nicht einfach drauflos.« Bitter lachte Arstong. »Wissen Sie, Pike, ich habe mich innerlich schon auf die Verlustliste gesetzt. Ich habe nichts zu verlieren.« »Verbinden Sie mich noch mal mit Van Chow«, befahl Pike. Er war übernervös und entsprechend gereizt, befand sich am Rande des Überschnappens. Seine Hände bebten. Die verstörten Wissenschaftler konnten geradezu mitanse hen, wie es mit ihm bergab ging. Er wußte, was für einen Anblick er bot, daß sein Gesicht die Grimasse eines Beses senen zeigte, seine Augen wild umherstarrten. »Die Kommu sagt, er will jetzt nicht mit Ihnen reden.« MacGuire hob, den Blick auf den Lauf der Blasterpistole geheftet, die Schultern. »Richten Sie aus, entweder meldet er sich, oder ich zer blasere die Konsole.« Pike richtete die Waffe auf das Kon trollpult, an dem MacGuire lehnte. »Es heißt, er muß momentan einige dumme Fragen Ihres Propheten beantworten«, erklärte MacGuire gleich darauf in weinerlichem Quäken; ihm drohte die Stimme zu versagen. »Ich gebe ihm noch eine Minute«, raunzte Pike, sein Blick streifte das Chronometer. Langsam wich MacGuire von der Kontrollkonsole zurück. »Darwin!« erscholl mit einem Mal Ngens Stimme in scharfem Ton; offensichtlich war er sehr erregt. »Du wirst nun meinen Kontrollraum verlassen. Ich habe eben mit Satan selbst gesprochen. Dieser Prophet namens Chester ist reif für die Eliminierung. MacGuire, fahren Sie den Energiepegel hoch und vernichten Sie die Deus! Die Zeit ist da, um unsere wahre Stärke zu beweisen. Im Namen Deus' befehle ich Ihnen, zu gehorchen!« Ngen schwang eine Faust. »Rühren Sie einen einzigen Schalter an, MacGuire, und ich blastere Sie in Stücke! Sehen Sie sich Ihren Kol
legen an, der da mit zerschnittener Kehle liegt, und seien Sie sich darüber im klaren: Was ich sage, meine ich ernst.« »Pike!« schrie Van Chow. »Hörst du mich? Ich gebe die Befehle. Auch dir. Ich bin Gott, Pike!« Darwin schaute zu der an die Decke gemalten Spinne empor. Auf einmal sah er Chesters gütiges Gesicht vor sei nen Augen, es verscheuchte die Erinnerung an Pallas, das Psychinggerät, die Kannibalin. »Nein, Ngen, du bist nichts!« brüllte Pike zurück; Ngens Miene flößte ihm keine Furcht mehr ein. Chester mußte Ngen irgendwie stark verunsichert haben. »Du bist nur das widerwärtige, abstoßende Zerrbild eines Menschen, Van Chow. Ein Irrer. Weißt du, was das heißt? Es bedeutet, du bist krank im Kopf. Die Art von Person, für die man das Psyching ursprünglich entwickelt hatte.« »Pike, ich werde dich von Susan bei lebendigem Leib auffressen lassen!« grölte Ngen, die Gesichtszüge zu einer gräßlichen Fratze der Tollwut verzerrt. »Du wirst einen grauenhaften Tod sterben! Deine Seele gehört mir ... sie ist MEIN!« »Nicht im entferntesten, Ngen. Ich bin ein Teil Spin nes. Und ich bin ohnehin längst todkrank. Du kannst es mir nicht mehr schlimmer machen.« Seine Seele hüllte sich in Gleichmut wie in einen Mantel. Gesiegt. Ich habe gesiegt. An Pikes Seite drang eine ihm bekannte Stimme aus einem Kommu-Lautsprecher. Eine Antenne fing ein Funk gespräch Kriegshäuptling Eisenauges auf. Darwin gab Eng einen Wink. Der Physiker bekam einen ST, der um die Station raste, auf den Holo-Bildschirm. »Kontaktieren Sie den ST. Der Kriegshäuptling dürfte sehr daran interessiert sein, sich Ngen zu schnappen.« Ganz gleich, was nun noch geschehen mochte: Jetzt war alles zu Ende.
* * * ST-ZENTRALE IN ST 11, GASWOLKEN-KOLONIEN
John Smith Eisenauge verzog das Gesicht, als der Sturm transporter in die Schutzschirme Station Kobalts stieß. Die Maschine vibrierte, bockte, trudelte, der Pilot mühte sich wie verrückt ab, um sie in Flughöhe und auf Kurs zu halten. Das Plasma deflektierten Blasterfeuers versengte die schlanken Rumpfseiten des gefährlichen Flugapparats. Dann waren sie hindurch, der Pilot verringerte die Geschwindigkeit, während sich die Flugbahn stabilisierte, hielt auf die riesige Raumstation zu. »Es ist mir einfach zuwider«, murmelte Eisenauge mit trockener Kehle zu sich selbst. Einfältig betrachtete er die Stellen der Armlehnen, an denen seine Finger tiefe Grüb chen in die Polsterung gedrückt hatten. Der altvertraute Pulsschlag der Furcht machte seinem Herzen zu schaffen. Hinter dem ST gleißten Blasterstrahlen, während er die Station anflog. Bisher waren sie durch schlichtes Glück unbeschadet davongekommen, durch den Wirrwarr der Schlacht gesaust, hatten im vorbeifliegen FLF beschossen, Enterattacken angeleitet. Nachdem Eisenauges Sturmtrup pen jetzt ihre verschiedenen Einsätze ausfochten, verlegte er seine Beachtung auf Station Kobalt. Grimmig schmun zelte der Kriegshäuptling. Glück war gar keine so schlech te Sache. Was für ein abwegiger Ausdruck. »Da steckt schon 'n ST drin, Sir«, rief der Feuerleitof fizier, projizierte ein Bild auf einen Monitor. »ST Zweiundzwanzig«, las Eisenauge ab, und in sei nem Hals schien sich ein Kloß zu bilden. Also ist sie schon hier? Steht im Kampf? Bei Spinne, Rita, ich hoffe, du bist wohlauf. »Das ist Ritas ST. Pilot, flieg sie an. Feuerleitof fizier, nimm diese Reaktoraufbauten unter Feuer, schieß sie weg. Kommu auf Sendung schalten.« »Kommu auf Sendung«, ertönte die Meldung. »Achtung, Spinnenkrieger des ST Zweiundzwanzig, hier spricht euer oberster Kriegshäuptling an Bord von ST
Elf. Wir sehen euren ST. Wie können wir euch Beistand leisten? Rita? Kannst du mich hören? Hört mich jemand?« Er wartete, das Herz hämmerte ihm im Brustkorb. Er rieb sich die häßliche Narbe, die er vor langem davonge tragen, das Überbleibsel der Verwundung, die von einerSantos-Kugel stammte und von der Leeta ihn gesundgep flegt hatte. Die Stimme, die auf seinen Funkspruch antwortete, klang sehr leise, doch er erkannte sie, und die Erregung packte sein Herz noch stärker. »Das wird ... verda ... höch ste Zeit, Eisenauge! Wir versuchen ... an der Station hoch zuklettern. Aber ... führt nirgends hin ... Luft geht uns aus ... noch etwa fünf Minuten ... Wir sehen euch ... kommt auf drei Uhr ... Könnt ihr ... an Bord nehmen?« Eine Aufwallung tiefster Erleichterung durchkribbelte jeden der angespannten Muskeln Eisenauges. »Das klingt, als wärst du außer Atem. Hat Ngen dich endlich zu ein bißchen sportlicher Aktivität gezwungen?« »Schwing du doch ... gottverdammten, fetten Arsch hier runter ... und steig mal ... Ding hoch ...!« Eisenauge lachte, lenkte die Außenoptiken über die Wandung der riesigen Radform, während die Bordblaster des ST eine der externen Reaktoreinheiten zerstörten. Die Anlage zersprang, der Reaktor stürzte, während er sich um sich selbst drehte, in die Schutzschirme und verglühte in grellem Aufflammen. »Da.« Eisenauge deutete auf den Monitor. »Pilot, geh längsseits, wir holen sie herein.« »Blasterfeuer aus dem Leck dort unten, Kriegshäupt ling«, meldete der Feuerleitoffizier. »Handelt sich bloß um Infanteriewaffen.« »Wegputzen«, knurrte Eisenauge, sah zu, wie violette Strahlen die Außenhülle der Station weiter aufrissen, Gestalten hervorstoben, als in der 0,7-Ge-Rotationsgeschwindigkeit Fußböden unter ihnen zerbarsten. Padri purzelten ins Vakuum, kreiselten aufs Gluten der Schutz schirme zu. Die übrigen Bordblaster feuerten auf eine
zweite Reaktoreinheit, Antimaterie explodierte, die Schwere der Detonation erschütterte die gesamte Station, strukturell wesentliche Bauteile brachen, Rumpf segmen te wurden in einem vulkanischen Auseinanderplatzen dekomprimierter Atmosphäre, Flüssigkeiten und Trümmer fortgeschleudert. »Verflucht noch mal!« schimpfte Ritas Stimme aus dem Kommu-Lautsprecher. »Wir fliegen sonstwohin! Wie hast du dir eigentlich vorgestellt, daß wir so was durchste hen?! Dafür trete ich dich in den Hintern.« »Sind sie noch in der Erfassung?« fragte Eisenauge hastig, vermochte den Blick nicht vom Monitor zu wen den, so erschreckte ihn das Ausmaß der Zerstörungen, die über die aus dem Gleichgewicht geworfene Raumstation hereinbrachen: Unablässig kam es zu Folgeexplosionen, aus der inzwischen vielfach rissigen Außenwandung lösten sich größere Abschnitte, Schwärme von Trümmer stücken hagelten durch die langgezogenen Austrittswol ken kondensierter Gase und kristallisierten Wassers. »Wir haben sie gleich, Sir.« Zuversichtlich nickte der Pilot, hielt die Lider geschlossen, konzentrierte sich voll auf die Daten aus seinem Kontaktron, korrigierte den Ablauf des Manövers, steuerte den ST näher. Endlich lie ßen sich auf einem Monitor drei Personen erkennen, die an einem Seil gemeinsam umherschwebten. »Das sieht mir so aus, als wäre Station Kobalt schwer angeschlagen. Vielleicht kontaktieren wir besser Damen, ehe er uns versehentlich alle mitbrät.« »Verbindung hergestellt, Sir.« »Admiral, hier spricht Eisenauge. Die Schutzschirme der Station sind stark geschwächt, und wir befinden uns schon dahinter. Stellt das Feuer ein.« »Verstanden, John. Wenn ihr die Station neutralisiert habt, kümmern wir uns um Ngens Flotte. Voraussichtlich können wir damit kurzen Prozeß machen.« Auf einem Bildschirm erschien Rees kantiges Gesicht — und zum erstenmal seit einer Ewigkeit sah man ihn wieder lächeln.
»Schießt sie zusammen, Admiral. Wir sind kurz davor, Rita aus dem All zu bergen. Sobald wir sie an Bord haben, geben wir dem Ding den Rest.« Eisenauge beobachtete, wie der ST mit den drei Gestal ten ein säuberliches Rendezvous zustandebrachte. Ein Vakuum-Rettungstentakel schnellte hinaus, das klebrige Ende wickelte sich um ein Bein. Rasch und sicher wurden die drei in die Richtung der geöffneten Sturmrampe einge holt, wo hilfsbereite Hände sie in Empfang nahmen. Erleichtert atmete Eisenauge auf. »Also los, Leute, nun nehmen wir die Station auseinander.« Der Feuerleitoffizier beugte sich über seine Konsole, die Bordblaster schossen große Lecks in Station Kobalts Außenhülle. »Kriegshäuptling?« rief eine brüchige Stimme aus dem Kommunikationssystem. »Hier ist Dr. Darwin Pike. Am Hangar in der Achsennabe der Station macht sich eine kleine Raumjacht zum Durchstarten fertig. Ngen Van Chow sitzt in der Jacht. Ich kann mir vorstellen, daß ihr ihn euch greifen möchtet. Wir haben hier drin jede Menge zu tun, um zu verhindern, daß aus Kobalt eine Nova wird, Wir wüßten's zu schätzen, wenn ihr jetzt zu schießen auf hörtet ... Sonst bringt ihr uns allesamt um.« »Feuer einstellen«, ordnete Eisenauge an. Er wandte sich wieder dem Kommu-Monitor zu. »Alles klar, Doktor. Wir schnappen uns Ngen.« Eisenauge spürte, wie der ST beschleunigte und beidrehte, nun auf die Mittelachse der Station zulenkte. Die gewaltige Weltraumstation hatte aus ihrer Bahn zu rotieren begonnen, wo die Antimaterie explodiert war, klaffte in ihrem Rumpf ein enormes Loch. Längs der zerklüfteten Bresche, in deren ganzer Ausdeh nung die Bruchstellen zertrennten Stahls und zersplitterter Bauelemente herausragten, sprühten Dekompressionswol ken ins All. Von der spindelförmigen Achsenkonstruktion lösten sich zwei der großen Bogengebilde — Bestandteile von Ngens Superwaffe —, flogen sich überschlagend vol ler Wucht auswärts zum Rand, so daß der ganze Stations
körper ins Zittern geriet. Ununterbrochen strömten im Bereich der Havarie Dunstwolken, Mobiliar, Menschen und zerstörtes Material aller Art ins All, trieben als ausge dehnte, spiralige Ansammlung fort. Da und dort loderte an Stellen, an denen Atmosphäre aus der schadhaften Wan dung brodelte, kurz Feuer auf, zumeist lediglich in Form einiger Stichflammen. Die Stationsoberfläche verbog und beulte sich stellenweise aus, während andere Abschnitte infolge von Dekompressionen einsackten, das graue Metall zerknitterte wie Folie. Das ganze Gefüge verzog sich in solchem Maß, daß eine komplette Sektion heraus brach und durchs All davonwalzte. »Feuerleitoffizier, das Objekt dort anvisieren!« befahl Eisenauge, als aus dem Hangar, während der ST das Ende der Mittelachse überflog, eine lange, schnittige Raumjacht zum Vorschein kam. Ngen führte ein Schwenkmanöver aus, nahm Kurs hinaus in den Raum. »Feuer frei! Du mußt ihn treffen, bevor er unseren Vek tor errechnen kann. Ich weiß von Giorj, daß er sirianische Blaster an Bord hat.« Vier violette Strahlbahnen zuckten auf die Privatjacht zu, umwaberten ihre Schutzschirme. Die ST-Beleuchtung trübte sich, als Eisenauge den Bordblastern mehr Energie zuleitete. Einen Moment später verflackerten die Schutzschirme, Treffer warfen das kleine Raumschiff umher. Die Jacht brach entzwei, eine Hälfte explodierte, wogegen die Bughälfte mit hoher Geschwindigkeit fort wirbelte. »Da schwirrt Van Chow!« Eisenauge lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Los, Pilot, ihm nach! Diesmal soll er uns nicht entwischen. Bei Spinne, jetzt haben wir ihn!« Nach einer mit Vollschub geflogenen Kehrtwendung jagte der ST dem Vorderteil der Raumjacht hinterdrein, das rasant durch den Umraum Station Kobalts kreiselte. Rita betrat die ST-Zentrale; Schweiß trocknete ihr im Gesicht, sie war völlig verschmuddelt. Sie schaute sich um, winkte Eisenauge zu, schenkte ihm ein hinreißendes
Lächeln. »Mein Held!« Sie grinste und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Ihr folgte Susan in die Zentrale, blieb am Einstieg ste hen; sie hatte einen schwermütigen Ausdruck in den Augen. »Was ist das?« Sie zeigte auf den Monitor, auf dem man immer größer den Bug mitsamt Cockpit und Kajüte der Raumjacht unterscheiden konnte. »Da sitzt dein Freund Ngen drin ... Oder was von ihm übrig ist. Man kann noch nicht sagen, ob er bei der Explo sion was abgekriegt hat.« Bedächtig nickte Susan, verengte die Lider zu Schlit zen, hinter denen es zu glosen schien. »Dann haben wir ihn jetzt vielleicht doch endlich gefangen. Es ist schon reichlich spät, um alte Schulden einzutreiben, aber ich beanspruche den Befehl übers Enterkommando, Kriegs häuptling. Es gilt Messerfehde. Spinnes Recht.« Eisenauge blickte in ihre rauchigen Augen, ersah darin ihre kaum verhohlene Besessenheit. Recht? Ja, das Recht einer Kriegerin stand ihr zu. Sie hatte es, was Ngen betraf, so wie er, Eisenauge, es vor langem hinsichtlich Großer Manns gehabt hatte. »Also gut.« »Ich gehe auch hinüber«, sagte Rita leise. »Dem Mist kerl habe ich noch was heimzuzahlen.« Nässe quoll Susan in die braunen Augen, sie verwandelten sich zu feuchten Abgründen des Leids, als Rita ihr einen Arm um die Schultern legte. Zusammen gingen sie zur Tür hinaus. *
* *
»Er ist für den Untergang meines Volkes verantwort lich«, rief Torkild in Erinnerung; sein Gesicht war starr und blaß. Er stand am Schleuseneingang, lehnte sich aus Müdigkeit an, roch nach Schweiß; um den Mund hatte er einen grimmigen Zug. »Für mich ist es eine Frage der Ehre, persönlich an ihm Vergeltung zu üben.«
»Die halbe Galaxis hat's auf ihn abgesehen«, meinte Susan leise. »Es hat den Anschein, als stäke überall, wo Unheil entsteht, Ngen dahinter.« Sie musterte Torkild, entsann sich der Furcht, die er auf der Außenseite des immensen Stationsrads empfunden, erinnerte sich an das Grausen, das aus seiner Stimme gesprochen hatte — ein Entsetzen, als stünde ihm das Herz still —, während er sich an ihr emporzog; danach hatte er sie an der Wandung hinaufgezerrt, obwohl er wußte, sein Luftvorrat schwand, er voraussichtlich sterben würde, gleich welche Anstrengungen jemand von ihnen noch aufwendete. »Du kannst mitkommen, Torkild.« Sie hob den Blick zu dem Monitor, dessen Bildfläche man Station Kobalt ausfüllen sah, und der dumpfe Schmerz ihres Herzens pochte durch ihre ganze Brusthöhle. Sie schaute gerade rechtzeitig hin, um zu sehen, wie noch eine Sektion abbrach, ihr Inhalt sich ins Weltall verstreute. Unter der maßen weithin verteiltem Bruch würden sie Pikes Leich nam niemals finden. Das Weh wütete mit der Roheit eines stumpfen Messers in ihrem Leib. Greifarme fingen das Wrackstück ein, ehe es nochmals forttrudeln konnte, brachten es zum Stillstand, holten es an den ST heran, und Sturmtruppler fuhren emsig einen fle xiblen Schleusentunnel aus, der sich rings um Van Chows Schleuse festsaugte. Susan führte das in Schutzpanzer gekleidete Enterkom mando wachsam durch den unter Druck gesetzten Tunnel, war auf alles gefaßt. Sie blasterte die Schleuse auf und sprang hindurch; ihr folgten, Rita, Torkild und ein halbes Dutzend Romananer.
47
KONTROLLRAUM, STATION KOBALT
Darwin Pike hörte das Bersten von Metall. Ein Monitor zeigte, wie zwei der übergroßen Halbringe abbrachen. Den Projektionsmast durchfuhr ein Ruck, als wäre er eine Springfeder. Dann schien die gesamte Station einen Satz zu machen, als wollte sie Darwin verschlin gen. Er krachte auf den Fußboden, wurde bis beinahe unter die Decke hochgeschleudert und prallte auf den Boden zurück. Benommen blieb er liegen, rang nach Atem. »Spinne ...« Er hustete, rappelte sich auf und blickte sich um. Der Boden unter ihm bebte heftig, und ein dun kles Rumpeln durchdrang alles. Pike torkelte zur KommuKonsole in der Mitte des Kontrollraums, stützte sich auf sie, sah erschrocken, daß MacGuire, Eng und die übrigen Wissenschaftler in wirrem Knäuel herumlagen. Einem Mann war das Rückgrat in verhängnisvollem Winkel abgeknickt worden, im Tod starrten seine Augen leer gera deaus. Engs Gesicht troff von Blut, offenbar war er schwer verletzt worden. Irgend jemand stöhnte. Veld kroch unter einem umgekippten Schrank hervor, ein langer, gezackter Einschnitt hatte ihm die Wange auf gerissen, verströmte scharlachrotes Blut. Er blinzelte, seine Finger umklammerten noch das Blastergewehr. Pike wankte, befühlte seine Prellungen. Der wider standsfähige Patrouillen-Schutzpanzer hatte ihn gerettet. An jedem Kontrollpult blinkten rote Lampen. Daß über haupt noch etwas funktionierte, wunderte Pike. Noch ein mal bäumte die ganze Raumstation sich auf, warf ihn fast kopfüber gegen eine Konsole. Er beobachtete auf dem Monitor, wie Van Chows Raumjacht aufflammte und aus einanderbrach. Vor Freude schrie Pike auf das Holo ein, schwang eine
Faust über dem Kopf. »Hol ihn dir, Eisenauge! Hol ihn dir auch für mich!« Abermals erbebte und schüttelte sich die Station. Dar win wurde von den Füßen gehoben und in den Haufen sterbender Wissenschaftler geworfen. Veld knallte wuch tig gegen eine Konsole, in seinen Augen irrlichterte uner träglicher Schmerz. Er ächzte. »Ich glaube ... das war's. Die Station ... fällt in Stücke. Und die Stasisfelder erlöschen.« Pike stemmte sich hoch. »Ja, wir sollten jetzt abhau en.« Mit der Zunge befeuchtete Veld sich die Lippen, sein Blick zeugte noch von heftigen Beschwerden. »Ich ... Eben habe ich mir, glaube ich, das Bein gebrochen.« Pike zog ihn in die Höhe, stellte fest, daß Velds Ver dacht stimmte. »Und zwar Ober- und Unterschenkel.« »Ich bin Stationsgeborener«, sagte Veld mit mattem Lächeln auf den blutleeren Lippen. »Ich habe keine so dicken Knochen. Leeta wußte es. Verschwinden Sie schnellstens, Pike. Bringen Sie sich in Sicherheit, solange noch 'ne Chance besteht. Die Station kann jeden Moment völlig vernichtet werden.« »Kommen Sie, halten Sie sich an meinem Arm fest und ...« »Nein ... Ich bin erledigt. Ich habe keinen solchen Anzug wie Sie. Hören Sie das gedämpfte Brausen im Hintergrund? Die Atmosphäre entweicht. Ngen hat schon vor langem alle Raumanzüge aus der Station entfernen lassen. Damit niemand sich fortschleicht. Vakuum gibt eine sehr gute Gefängnismauer ab. Ich ...« »Kommen Sie mit, machen Sie jetzt nicht schlapp. Sicher finden wir eine Möglichkeit, um Sie ... Was ist mit Ihnen?« Veld grinste ihn nur schwächlich an. »Ach, ich glaube, ich habe ganz einfach meinen Teil getan, das ist alles. Ich hab's hingekriegt, meinen Teil zu leisten, Pike. Der kleine, unauffällige Veld, den jeder für einen Feigling gehalten hat. Na, vielleicht alle außer Leeta.«
Der Fußboden zitterte, immer lauteres Grollen dröhnte. »Gehen Sie, Pike. Lassen Sie mich hier, hm?« Schlaff wies Veld auf die an die Decke gemalte Spinne. »Ich brau che, nebenbei erwähnt, noch 'n bißchen Zeit, um meine Seele vorzubereiten. Mich innerlich zu fassen, damit ich weiß, was ich Spinne zu erzählen habe, wenn ich bei ihm anlange.« Pike ließ von ihm ab, schaute hastig rundum. »Ich komme gleich zurück. Ich finde irgendwo 'n Raumanzug für Sie.« Er raffte seine Waffen an sich, bemerkte am Ausgang, daß die Panzertür sich verklemmt hatte. Mit dem Blaster gewehr schoß er sich den Weg frei. In den schief und krumm gewordenen Korridoren herrschte das größte Durcheinander. Aus einem Wandmonitor quoll Rauch und vernebelte seine Umgebung. Beißend-scharfe Gerüche drangen in Pikes Nase, entfernt knirschte Metall, bog und riß mit schrillem Kreischen. Irgendwo schrie ein Mensch unablässig seine Qual heraus. Ein neuer Stoß ging durch die Station, und trotz fehlen der Gravitation rumste Darwin gegen eine Wand. Halb betäubt blinzelte er, um seine Sicht zu klären — und plötz lich sah er vor sich eine Gestalt in etwas ähnlichem wie einem Kapuzenmantel regelrecht durch den Flur schwe ben. Pike schüttelte den Kopf, blinzelte noch einmal. Es handelte sich um die Erscheinung, die er schon auf Basar und nochmals inmitten der Menschenmenge in ArcturusStadt bemerkt hatte. Ihr Äußeres erinnerte ihn an einsti-ge, mittelalterliche Darstellungen des Todes, nur daß sie keine Sense in einer Knochenhand trug. Darwin kauerte sich zusammen, legte den Blaster an,sich dessen bewußt, daß sich ringsum die Atmosphäre zusehends ausdünnte. »Halt!« brüllte Pike. »Bleib stehen!« Die Person gehorchte, unternahm sonst jedoch nichts, und in Pikes Nacken sträubten sich die Haare. Er schluc kte. Tatsächlich hatte das Wesen nichts getan, um seine
Fortbewegung zu bremsen. Es hatte sich nicht an der Wand abgefangen, sondern war schlichtweg mitten in der Luft verharrt, ohne irgend etwas anzurühren. Der Effekt wirkte, als hätte es keinerlei Massenträgheit. Pike empfand die Lautstärke des eigenen Herzschlags wie Trommelwirbel. »Wer bist du?« »Darwin Pike, oder irre ich mich?« fragte das gespen stische Geschöpf mit wohlklingender Stimme. »Völlig richtig«, krächzte Darwin mit trockenem Gau men, spannte den Finger um den Abzug des Blasterge wehrs. »Sie sind verstört, Dr. Pike. Beruhigen Sie sich.« »Verdammt, ich bin verstört, ja. Was ... für eine Art von Scheußlichkeit bist du? Was für ein Greuel ist von Ngen begangen worden, als er dich geschaffen hat?« In dunklem Bariton erklang ein Lachen. »Ich verkörpe re kein Greuel Ngens.« Der Fremde hob einen weiten, braunen Ärmel aus dickem Stoff, schob die Kapuze nach hinten. Aus dem so enthüllten Kopf sproß hellblondes Haar. Das Gesicht zeichnete sich durch vollkommene Menschlichkeit aus, in den hellen Augen glomm Intelli genz. Pike nickte. »Naja, kann sein, du bist 'n Mensch. Aber du bist nicht wie wir alle. Ich habe dich an sehr verschie denen Orten und bei ganz unterschiedlichen Anlässen gesehen. Du schwebst einfach umher. Du hast dich eben nicht erst festhalten müssen. Es war, als ob ... Als träte bei dir kein Trägheitsmoment auf.« »Ich hatte mir gedacht, daß Sie in den Kontrollraum vordringen«, sagte der Fremde mit seiner kultivierten Stimme, wechselte geschickt das Thema. »Berücksichtigt man, was Ngen Ihnen zugefügt hat, sind Sie glänzend mit ihm fertiggeworden. Anscheinend haben Sie ihre Furcht überwunden.« »Sagen wir mal, ich habe gegenüber 'm Bären und 'm Santos 'ne alte Pflicht erfüllt. Moment mal...! Woher weißt denn du davon?«
»Wir haben Sie beobachtet, Dr. Pike.« Der Tonfall des Fremden blieb unverbindlich. »Wir schenken unsere Beachtung vielen Dingen. Ngen hat uns überrascht, als er unsere Melder in den alten Bruderschaftscomputern in Arcturus und danach auf Frontier aktivierte. Wir hatten ihm kein so unerhört schnelles Handeln zugetraut ... Und genausowenig, daß er die erlangten Informationen für Zwecke wie diese mißbrauchen könnte.« Eine muskulöse Hand wies auf die Station rundum. »Aber wir haben ja vor langem — in vertraglichem Rahmen — einen Großmeister-Eid darauf geleistet, uns nie wieder in Direktoratsan gelegenheiten einzumischen. Allerdings enttäuscht es uns, daß wir Ngen so unterschätzt haben. Vielleicht hätten wir die Informationen schon damals beseitigen sollen, aber wir haben immer eine Schwäche dafür gehabt, Wissen zu horten und auszusäen.« Von neuem fuhr ein starker Ruck durch die Weltraum station, und es kostete Pike alle Mühe, den Blasterlauf auf den Schwebenden gerichtet zu halten. »Und wer ist das, >wir?<« Der Mann musterte ihn nur mit ausdrucksloser, jedoch nachdenklicher Miene. »Komm, komm! Meinst du nicht auch, die Menschheit hat sich inzwischen für 'ne Weile mit genügend Horrorge stalten herumgeschlagen? Verflucht noch mal, laßt uns doch in Frieden ...! Laßt uns ganz einfach bloß Menschen sein und als Menschen leben!« Darwins Finger krampfte sich um den Abzug des Bla stergewehrs, Grauen ließ ihm das Blut vollends aus den Wangen weichen, als ein neuer, gräßlicher Schreckens schrei durch den verräucherten Korridor hallte. Für seinen Begriff bekam das Umfeld immer stärkere Ähnlichkeit mit der Hölle. Der Schwebende öffnete seine schwere Kutte, entblöß te eine vollauf menschliche Brust. »Nur zu, Dr. Pike. Schießen Sie. Entweder tun Sie das, oder Sie helfen mir dabei, das zu retten, was von dieser Station übrig ist.
Meine Gefährten halten die drei noch aktiven Reakto reinheiten in Stasis. Wir müssen Zeit gewinnen und Admi ral Ree warnen, damit er die Gaswolken evakuieren kann.« Pike schnitt eine finstere Miene, seine Lippen zuckten nervös. Verwirrt betrachtete er den Mann aus verkniffenen Augen; dann senkte er die Waffe. »Manchmal bin ich ein verdammter Blödmann«, sagte er leise. »Ich habe keine Ahnung, warum ich dir glaube.« »Doch, Sie wissen es, Dr. Pike.« Der Fremde bewegte sich an Darwin vorüber, schwebte ohne ersichtliche Hilfs mittel an ihm vorbei. »Sie können im Kontrollraum den Admiral kontaktieren. Noch ist die Verbindungsaufnahme möglich.« Pike stieß sich von der Wand ab, schloß sich der nur allzu realen Erscheinung an. Er konnte keinerlei Fortbe wegungs- beziehungsweise Antriebshilfe erkennen — dabei mußte so etwas doch vorhanden sein! Niemand ver mochte derart der Physik zu trotzen. Im beschädigten Kontrollraum hatten sich die Zerstö rungen zur Verwüstung gesteigert. Wandplatten knarrten und sprangen, splitterten unter dem Druck der Verspan nungen, die während des Untergangs der Station in ihrem Gefüge auftraten. Veld Arstong lag an der Seite, sein Kopf baumelte zu locker von den Schultern, als daß er noch hätte am Leben sein können; er war in einen Schrank geschleudert wor den und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Es mußte soeben erst vorgefallen sein, denn ihm zuckten noch — ein schauderhafter Anblick — die Beine. Darwin zog die Schultern hoch; es gab für ihn fortgesetzt immer mehr Anlaß zum Trauern. »Was soll das heißen, >die Gaswolken evakuieren?<« fragte Pike, während er sich bückte, vergeblich nach Velds Puls fühlte. »Ja verdammt, Arstong, du hast dich wirklich als Held bewährt.« Der Schwebende hatte sich ein Kontaktron überge
streift. An der Kommu-Konsole wechselten rote Lichtlein zu Gelb. »Unwissentlich hat Ngen Kräfte ausgelöst, auf die er selbst sich nicht eingerichtet hatte. Dieser Raumsek tor insgesamt wird davon bedroht. Diese Zone wird in zehn Stunden Mittelpunkt einer erheblichen Gravitations fluktuation sein. Wo sie jetzt stehen, wird sich das Zen trum eines neuen Sterns bilden. Wenn Sie mir behilflich sind, können wir die Evakuierung all der Menschen rings um sicherstellen.« »Bei Spinne!« entfuhr es Pike halblaut. Was die Physik betraf, konnte er die Behauptungen des Fremden schwer lich nachprüfen. Doch die ständigen Erschütterungen, die die Station durchrüttelten, verliehen seinen Aussagen überzeugende Glaubwürdigkeit. Außerdem: Was wußte er schon von Schwarzen Löchern und Quantenphänomenen? Singularitäten lagen außerhalb des Fachwissens der Anthropologie. »Dann müssen wir schleunigst von hier weg«, rief Pike, sobald er die volle Tragweite der Angaben durch schaut hatte. »Wir? Wenn ich mich entferne, kann ich die Reaktion nicht hinauszögern. Der Kontrollraum braucht zur Bedie nung mindestens zwei Operatoren. Wollen Sie leben, wäh rend so viele Menschen sterben?« Voller Unbehagen sah Darwin den Mann an. Weshalb erinnerte sein Gerede ihn so stark an den verfluchten San tos ... und den Bären? Worte eines Gesprächs fielen ihm ein, das er — in einer verdunkelten Geschützkuppel — mit Chester geführt hatte. »Was bin ich für die Menschheit zu opfern bereit?« flüsterte Pike gedankenschwer vor sich hin. »Welchen Wert hat mein Leben? Chester, du verfluch ter Bursche ...!« Und dann ist da der Krebs. Du weißt, daß er dir immer mehr Beschränkungen aufzwingt, an deinen Kräften zehrt. Vielleicht ist es jetzt aus mit der Zeit des Selbstbetrugs. Zahl die ganze Zeche, Pike. Du hast erreicht, was du wolltest, wofür du dich gequält hast. Ngen ist Einhalt geboten worden. Die Gefahr, das Mas
senpsyching, alldem ist — wenigstens vorerst — ein Ende bereitet. Und was bleibt mir noch? Ein langsamer, elender Tod? Ein paar Monate des Siechtums, des Dahinvegetie rens in so einer beschissenen Med-Einheit? Bin ich wür dig? Habe ich Würde? Pike blickte in die hellblauen Augen des Fremden. »Ich bin sowieso 'n todkranker Mann. Ich müßte ... Nein. Ich vermute, mittlerweile besteht ohnehin keine Aussicht mehr, daß irgendeine Med-Einheit die vielen Tumore beseitigen könnte, die inzwischen in mir wuchern. Tja, wenn Sie mich so fragen ... Kann sein, Spinne braucht nun meine Informationen, hm?« Nachdem er sein Todesurteil selbst verkündet hatte, entkrampfte er sich innerlich. Seine Finger strichen über den kurzen Klingenrest des durchge brochenen Santos-Kriegsdolchs, den er in seiner Gürtelta sche dabei hatte. Er stülpte sich ein Kontaktron auf, setzte sich mit gefurchter Stirn an die Kommu-Anlage, versuchte Admi ral Ree zu kontaktieren. Zu seiner Verblüffung kam eine Verbindung zustande. »Admiral? Hier ist Dr. Darwin Pike. Ich befinde mich im Kontrollraum des Massengenerators. Hören Sie, Ihnen bleibt 'ne Frist von zehn Stunden, um aus diesem Gebiet des Weltraums sämtliche Menschen in Sicherheit zu brin gen. Das ist mein voller Ernst. Ngen hat einen Prozeß aus gelöst, der unzweifelhaft, obwohl ich ihn, offen gestanden, nicht kapiere, in einer Reihe hochenergetischer Gravita tionsfluktuationen gipfeln wird. Leuten zufolge, die sich mit so was auskennen, werden die Gaswolken sich nun ganz schnell zu einem Stern zusammenballen.« »Zehn Stunden? Pike, ist das ...? Na schön, na gut, ich sehe Ihnen an, daß 's Ihnen damit verzweifelt ernst ist. Und nicht nur das, unsere Instrumente zeigen die unge wöhnlichsten Messungen an, die nicht dazu passen, wie die Realitäten eigentlich beschaffen sein müßten.« Ree verzog das Gesicht, rieb sich das kantige Kinn. »Zehn Stunden? Verdammt, das ist knapp.«
»Deshalb schlage ich vor, Sie fangen sofort an«, emp fahl Pike mit trockenem Humor. »Wir schicken 'n ST, der Sie abholt, Doktor.« Pike sah die Augen des Blonden aufmerksam auf sich ruhen. »Lassen Sie das lieber sein, Admiral. Falls ich nicht hier an den Kontrollen sitze, bricht die Katastrophe gleich aus. Die Frist beträgt schätzungsweise zehn Stunden, nur wenn ich bleibe. Vielleicht gelingt's mir, sie noch 'n biß chen zu verlängern.« Unwillkürlich nahm Pikes Stimme eine höhere Tonlage an. »Bringen Sie die Menschen fort, Admiral!« Ree verkniff die Miene. »Wie Sie wollen, Doktor. Brauchen Sie zusätzliche Unterstützung? Möglicherweise finde ich ein, zwei Freiwillige.« Pike bemerkte, wie der Blonde langsam den Kopf schüttelte. »Nein. Ich habe hier alles unter meiner Regie.« »Sonst irgend etwas, Doktor?« In Rees Augen stand fast etwas wie Flehentlichkeit; sein Herz wünschte etwas, was sein Verstand nicht befehlen durfte. »Ja ... ja, durchaus.« Versonnen lächelte Pike. »Wenn Sie zurück auf Welt sind, suchen Sie bitte 'ne ordentlich fette Kuh aus und stellen Sie sie irgendwo hin, wo ein Bär sie finden kann. Und, Admiral ... ähm ... vielleicht ist es ratsamer, Sie bewahren über meine gegenwärtige Situa tion Stillschweigen. Susan hat schon reichlich Probleme gehabt ... Sich in der Vergangenheit genug aufgeopfert. Sie ist so impulsiv, daß sie womöglich ... Ich denke mir, Sie verstehen, auf was ich hinauswill. Und Rita könnte der Auffassung sein, sie wäre mir 'ne Rettungsaktion schuldig, die sich nun keiner mehr erlauben kann.« Er zögerte. »Und sagen Sie Susan ... daß ich sie liebe. Sie wird ... Sie dürfte begreifen, was ich meine, wenn Sie ihr ausrichten, so sei es wohl besser. Sie kennt den Grund. Ich möchte, daß sie mich so, wie ich jetzt bin, in Erinnerung behält.« Darwin trennte die Verbindung, ehe Ree etwas entgeg nen konnte, nahm das Kontaktron ab. Susan ... Ach, Susan. Verflucht, warum muß es nur dermaßen schmerzen ? Geh
deinen Weg, Mädchen. Das Ungeheuer ist tot. In Zukunft wirst du ruhig schlafen können. Er zwinkerte eine Träne fort, die ihm hartnäckig im Augenwinkel hing. Durchs feuchte Glitzern des Tränenschleiers fiel sein Blick auf den Haufen ausgestreckter, toter Wissenschaft ler. Er fragte sich, ob ihre Familien mit dem Leben davon gekommen sein mochten. Er schlurfte zu den Toten, beug te sich über Arstong, legte ihm das zersplitterte Bein und den gebrochenen Hals gerade. Nachdem er Veld behutsam die Augen zugedrückt hatte, hob er den Blick zu dem Blonden. »Man hat ihn als Feigling beschimpft. Hätte er mir keinen Feuerschutz gegeben, ich hätte wahrscheinlich nicht so lange durchhalten können. Vermutlich ist heute ein günstiger Tag für Helden.« »Dr. Pike, wären Sie wohl so freundlich, diesen Moni tor dort zu beobachten? Sollte der rote Strich sich der Gefahrenmarke nähern, sagen Sie mir Bescheid.« »Da wir gerade davon reden, wie soll ich Sie nennen? Raus mit der Sprache, Spukgestalt!« »Ich bin James Thompson.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, James Thompson. So, und nun erzählen Sie mir, wer Sie sind, woher Sie stammen, wie Sie es machen, daß Sie durch die Luft schweben, und wieso Sie an so vielen Schauplätzen auf kreuzen.« Skeptisch schaute Thompson ihn an und lächelte. »Warum sollte ich das tun?« »Welcher Schaden könnte daraus entstehen, wenn hier in Kürze sowieso das Zentrum eines Sterns ist?« fragte Pike sarkastisch dagegen. Thompson nickte, seine Augen verrieten Belustigung. »Sie haben schon von der Bruderschaft gehört? Angefan gen hat alles vor ungefähr dreitausend Jahren ...« *
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AN BORD VON ST 11 AM RANDE DER GASWOLKEN-KOLONIEN
»Alle Mann: Aaa-chtung!« erscholl es aus der Kommu. Eisenauge drehte sich um, heftete den Blick auf den Kommu-Monitor. Auf dem Bildschirm war Rees Gesicht erschienen. »Wir müssen die Kolonien unverzüglich evakuieren. Alle verfügbaren Patrouillenraumfahrzeuge werden Personal und Kolonisten an Bord nehmen. Meine Damen und Her ren, uns bleiben für diese Aufgabe keine zehn Stunden. Das Patrouillenpersonal hat sich vor Ablauf der Frist auf seinen Schiffen zurückzumelden. Wir müssen den Kern der Gaswolken innerhalb dieser Zeitspanne verlassen haben. Wer bleibt, ist auf sich selbst angewiesen. Der Massengenerator auf Station Kobalt ist außer Kontrolle geraten. Binnen zehn Stunden werden die Gaswolken unbewohnbar sein.« »Kommu, bestätigt den Eingang der Durchsage und ruft unsere Abteilungen zurück. Beeilung, Leute!« »Zu Befehl, Kriegshäuptling.« Schlagartig steigerte sich die Geschäftigkeit in der ST-Zentrale. »Rita, bist du auf Empfang?« rief Eisenauge ins Kommu-Mikrofon. »Rita! Ein Notfall ist eingetreten. Kehrt so schnell wie möglich in den ST zurück. Bringt Ngen mit, aber kommt bald!« Er stapfte auf und ab, beobachtete die Monitoren. »Rita? Hast du mich gehört?« »Wir haben verstanden, John.« Ritas Stimme klang grimmig. »Ngen wird uns nicht begleiten. Ich glaube ... Ich glaube, er war weniger zäh als wir.« Als die romananischen Krieger aus dem Wrackteil stie gen, den Schleusentunnel durchquerten, sah Eisenauge ihnen entgegen, in seinem Blick gelangte eine stumme Frage zum Ausdruck. Der Anführer der Gruppe, ein Krie ger mit dreißig sirianischen Coups am Gürtel, zuckte nur schroff die Achseln, schaute zu Boden. Auch die anderen
Krieger mieden ausnahmslos Eisenauges Blick, entfernten sich mit aschfahlen Mienen tiefer Betroffenheit. Als nächster kam Torkild durch den Schleusentunnel; an seinem Gürtel war ein Stückchen roter, feuchter Haut befestigt, von dem Haare wehten. Ohne irgendwen oder irgend etwas zu beachten, strebte der Arpeggianer nach hinten, ließ sich im Mannschaftsraum auf einen Polstersitz sacken. Danach folgte Rita, schaute Eisenauge an, schenk te ihm die Andeutung eines Lächelns und verschwand in die Toilette. Als letzte kehrte Susan zurück, ihr bleiches Gesicht zeugte von tieferer Zerrüttung als je zuvor; so wie Rita und Torkild hatte auch sie das Drittel eines frischen Coups am Koppel hängen. Sie zog die Nase, atmete tief durch und blieb hochaufgerichtet vor dem obersten Kriegshäupt ling stehen. »Laß uns so schnell wie möglich abfliegen«, sagte sie leise, mußte sich sichtlich um Beherrschung bemühen. Herb zuckten ihre Mundwinkel. Eisenauge nickte und eilte in die ST-Zentrale. Der ST beschleunigte und steuerte auf Kurs zur Projektil, um sich an den Evakuierungsmaßnahmen zu beteiligen. Für Susan schien der Flug ewig zu dauern. Sie hatte sich neben Torkild in die Polsterung sinken lassen. Sie empfand, den Kopf in die Hände gestützt, fortwährendes Schaudern. Torkild legte ihr eine Hand auf die Schulter, drückte sie. »Es ist vorbei, Kapitänin. Der Alptraum ist durchge standen.« Susan schniefte nochmals, rang mit Tränen. »Es wird nie vorbei sein. Gott, war das grauenvoll ...!« Sie strich mit den Fingern durch ihr verklebtes, filziges Haar. »Ver dammt, warum fühle ich mich bloß so erbärmlich?« Sie betrachtete die Blutspuren auf ihrem Schutzpanzer. Sie zupfte sich die Handschuhe von den Händen, bewegte die vor Müdigkeit steifen Finger, verglich ihr sonnenge bräuntes Fleisch mit der Farbe des Schutzpanzers. Wäh rend unter ihrer dunklen, warmen Haut das Leben pulsier
te, blieb der Schutzpanzer, obwohl ihn Schlieren von Ruß und Blut überzogen, im wesentlichen kalt und weiß. Susan fuhr mit einer Fingerspitze über einen roten Schmierstreifen, den Ngen hinterlassen hatte, als er mit blutigen Händen um Gnade bettelte, kriecherisch um sich grapschte. »So also stirbt ein Gott«, murmelte Torkild zu sich selbst. »Was mache ich nun bloß mit M'Klea? Wie soll ich mich ihr gegenüber verhalten? Was stelle ich mit Ngens Kind an?« »Ich würde ihm den Schädel einschlagen«, knurrte Susan, widerstand dem Drang, in hemmungsloses Schlot tern zu verfallen. Zerstreut starrte sie ihre blutbesudelten Hände an. »Sie ist tot«, sagte Rita und nahm neben den beiden Platz. »Ich habe mich eben per Kommu erkundigt. Als Sturmtruppen der Kamikaze die Gregorius geentert haben, hat man sie gefunden. Sie muß einem Krieger in die Quere gekommen sein. Sie ist von jemandem erstochen worden, und man hat bei ihr den Coup genommen, Chester hat man mit einem Neugeborenen umherlaufen sehen, er sang was von Beethoven und wollte niemanden an das Kind heran lassen. Daraus könnt ihr selbst eure Schlußfolgerungen ziehen.« »Hast du die Aufzeichnung unserer Bestrafung Ngens dem Kriegshäuptling übergeben?« fragte Susan. Rita nickte. »Ein paar Augenblicke lang hat er sie sich angesehen, aber sich den Rest gespart. Ich bezweifle, daß man sie in die schlußendliche Dokumentation einarbei ten wird.« »Haben wir richtig gehandelt?« fragte Torkild, schaute gequälten Blicks von Gesicht zu Gesicht. Susan holte tief Atem; ihr war zumute, als existierte sie nur noch in Gestalt einer verdorrten Hülse. »Greuel ist Greu ... Ja, wir haben richtig gehandelt. Aber warum leide ich trotzdem noch immer? Was will Spinne von mir? Pike ist tot. Freitag ist tot. Hans ist tot. Alle, die ich
geliebt habe, sind tot!« In dem langen Schweigen, das sich ihren Worten anschloß, ballte sie die Hände erbittert zu Fäusten. »Gottverdammt, wie bin ich alles satt ...« Angestrengt schluckte Susan, besah sich die vertraute Umgebung im Innern des ST, die Sicherheitsgurte, die Schutzgitter an den Schotts, die Ausbuchtungen mittschiffs an beiden Seiten, wo die Triebwerke und die Waffengondeln sich befanden. Da und dort bemerkte sie einen Kratzer auf dem Fußboden. Über ihr glommen hell die Leuchtflä chen, aber sie vermochten kein Licht in die Schatten ihrer Seele zu werfen. Sie ließ sich in Torkilds Armbeuge rutschen und die Lider sinken, endlich rannen ihr Tränen über die verdrek kten Wangen. »Darwin ... Verflucht noch mal, Darwin .. Warum mußtest du es sein?« Ich bin wieder allein. Wieder allein ... *
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KRIEGSHÄUPTLING EISENAUGES KAJÜTE AN BORD DER PROJEKTIL WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE BEIM VERLASSEN DER GASWOLKEN-KOLONIEN
»Tja, ich habe den Eindruck, es ist geschafft.« Rita blickte empor in Eisenauges schwarze Augen, sank an seine Brust, kaum daß die Kajütentür sich hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich ... Ach, bei Spinne, wie habe ich dich vermißt, John.« Eisenauge schlang die Arme um sie, fühlte ihre geball te Kraft, als sie ihn fest an sich drückte. »Und ich bin vor Sorge um dich fast verrückt geworden.« Er fuhr mit Fin gern durch ihr rotes Haar, nahm ihren Kopf zwischen die Hände, betastete ihre vertrauten Gesichtszüge, fühlte in seiner Umarmung ihre wirkliche, handfeste Gegenwart. Ritas Lippen küßten seinen Mund, in ihren grünen Augen tanzte Frohsinn. »Weißt du, ich habe die unglaub lichsten Träume gehabt.« Ihre Finger huschten sachte an
seinem Schutzpanzer hinab, öffneten Verschlüsse. »Die letzten Kolonisten sind an Bord. Die Projektil nimmt Kurs auf Welt. Wir beiden haben momentan nichts mehr zu tun. Warum nutzen wir die Gelegenheit nicht und sprechen über deine Träume?« Neckisch hob Eisenauge die Brauen. »Sprechen? O Mann!« Rita kicherte und knabberte zart an seinem Hals, schmiegte sich an ihn. Er hob sie auf die Arme und wirbelte sie durch die Enge seines Quartiers. »Und ich habe dich endlich ganz allein für mich! Kommu! Der oberste Kriegshäuptling befiehlt: Keine, ich wiederhole, keine Störungen!« »Verstanden, Sir.« Mit flinken Fingern pellte Rita ihm den Schutzpanzer vom muskelbepackten Körper. Augenblicke später senkte er Rita auf die Koje, sein Blick verlor sich in den Tiefen ihrer Augen. »Ich schwöre dir, wir werden uns nun füreinander Zeit nehmen, du und ich.« Ebenso zärtlich wie leidenschaftlich küßte er sie. »Wir zwei allein in einem kleinen Raumschiff ... Wir sehen uns alles an, was es Sehenswertes gibt ... Was du willst. So was ... Ich meine, so was wie Flitterwochen.« Rita seufzte, machte die Augen zu, genoß die sanften Berührungen seiner Finger auf ihren Brüsten, tastete sei nen Leib ab, schwelgte im unvergeßlichen Gefühl seines warmen Fleischs. »Hmmmm«, schnurrte sie. »Wie herrlich ...« Ihre Hände streichelten seine Haut, sie kostete es gründlich aus, endlich wieder seine kraftvolle Gestalt zu spüren. Hingebungsvoll küßte sie ihn, bog ihre Schenkel um seine muskulösen Beine, klammerte sich an ihn, zog ihn heran und öffnete sich ihm. Aus tiefster Seele stöhnte sie auf, als er in sie eindrang. »Alle Ewigkeit, Eisenauge. Die haben wir. Alle Ewig keit.« Gemeinsam entschwebten sie ins Selbstvergessen. *
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KOMMANDOBRÜCKE DER PROJEKTIL WÄHREND DER BESCHLEUNIGUNGSPHASE BEIM VERLASSEN DER GASWOLKEN
Jedes Deck und sämtliche Korridore, fast alle gegen den 1,5-Ge-Druck abgeschirmt, voller Kolonisten, die aus weit aufgerissenen Augen um sich blickten, raste die Projektil als letztes der an der Evakuierung beteiligten Raumschif fe — ihre modernisierten Gravo-Kompensatoren erlaub ten es ihr, der übrigen Flotte beschleunigt zu folgen — die Gaswolken hinaus. Auf der Kommandobrücke ruhte Ree in seinem Kom mandantensessel, den Ellbogen auf die Armlehne, das Kinn in die schwielige Handfläche gestützt. Ringsum glimmte das altbekannte Halbrund der Instrumente und Monitoren von Status-Anzeigen. Gebeugt saßen Offiziere an ihren Tätigkeiten, der Pilot lag halb auf der Seite in seinem Konturensessel, hielt die Augen geschlossen, seine Lider zuckten, während die Kommu-Computer sei nem Kontaktron Navigationsdaten zuleiteten. Die Ein drücke des Raumschiffs und seiner Funktionen durchzit terten die Luft mit ihren Schwingungen, während die Pro jektil ihre Reaktionsmasse ins Weltall verstäubte, in die glühenden Partikel der Gaswolken, die ihr, auf den Bild schirmen in allen Regenbogenfarben sichtbar, unaufhör lich entgegenprasselten, und die Schutzschirme loderten, indem ununterbrochen heiße Gase und Staub an ihnen verpufften, hinter dem Schiff einen langen Schweif bilde ten. Auf dem Holo eines deckenmontierten Bildschirms sah man Girojs ausdruckslose Miene mit den Wimpern flattern. »Sie haben überhaupt keine Vorstellung?« Giorj hob die hageren Hände, ohne daß sich in seinen leblosen Augen etwas geregt hätte. »Admiral, ich kann es Ihnen nicht erklären. In Anbetracht der Masse, die Station Kobalt generiert hat — soweit wir einen Überblick haben —, bleiben derartige Gravitationsfluktuationen schlicht weg unbegreiflich. Schon die Ausdehnung der Schwer kraftfelder widersteht jedem Erklärungsversuch. Selbst wenn man Station Kobalt als Ganzes komprimiert hätte,
ließe sich nach normalem Verständnis keine solche Fluk tuation erzeugen. Die gesamten Gaswolken stürzen auf die Kolonienregion zu, schrumpfen mit einer Geschwin digkeit von fünf Ge. Es ist völlig gleichgültig, welche Zahlen man für Berechnungen nimmt, Kobalt kann unmöglich die Ursache sein.« Ree drehte das Kinn in der Hand hin und her, fühlte in seinem Bauch Unbehagen rumoren. »Tja, wenn es an sich gar nicht möglich ist, weshalb geschieht es dann trotz dem?« Giorj hob den Kopf. »Ich glaube, Admiral, genau dar über werden sich in Zukunft noch jede Menge Leute den Kopf zerbrechen müssen. Aus diesem Grund dokumentie re ich alles, was die Kommu aufzeichnen kann.« »Aber Vermutungen haben Sie keine?« Giorj klappte den Mund auf, zögerte, schluckte. »Spe kulieren möchte ich darüber lieber nicht.« Ree seufzte. »Na gut. Rufen Sie mich an, falls Ihnen was Wichtiges einfallen sollte.« Das Holo erlosch. »Warum werde ich bloß nicht das Gefühl los, daß ...« »Admiral? Transduktions-Funkgespräch aus Arcturus. Direktor Skor Robinson.« »Durchschalten.« Ree blickte hoch. »Guten Tag, Direktor.« Robinsons gewölbter, wie ein Ballon bauchiger Schä del füllte die ganze Bildfläche aus. Seine hellblauen Augen blinzelten, wirkten unter der immensen Hirnschale winzig wie Schweinsäuglein. »Ich rufe an, um Ihnen mei nen Glückwunsch auszusprechen, Admiral. Sie haben sich wieder als außerordentlich standhafter Kämpfer erwie sen.« »Wir alle, Skor. Sie haben die Logistik in Schwung gehalten. Alle haben für diesen Sieg Leistungen erbracht. Er ist schwer erkämpft worden.« Skors Mund zuckte. »Ich hatte daran meine Zweifel, daß wir siegen.«
Ree hob die Schultern. »Wissen Sie, um ein Haar wären wir tatsächlich unterlegen. Es war Patan, der's abge wendet hat. Er hat uns die richtige Aktion zum günstigsten Zeitpunkt empfohlen. Hätten wir Arcturus als Köder benutzt, wie's meine Absicht gewesen war, wären wir durch Ngens Massenschleuder vernichtet worden. Wer jetzt nicht für Patan betet, ist entweder ein Idiot oder ein herzloser Schuft. Er hat uns die Chance ermöglicht, die wir benötigten. Das dürfen wir ihm niemals vergessen.« »Nein. Das darf nicht geschehen. In dieser Beziehung habe ich bereits geeignete Maßnahmen veranlaßt.« Skor Robinson bewegte eine schmale Hand aufwärts, legte die Wange an dünne Finger. »Was nun, Admiral? Was soll ich tun? Sie haben die Macht, welche Weisungen erteilen Sie?« Ree lehnte sich zurück, rieb sich mit dicken Fingern die erstarrte Gesichtsmuskulatur. »Gute Frage, Skor. Was Ngens Reich angeht, so glaube ich, es wird binnen kur zem zusammenbrechen. Es wird schlimmstenfalls stel lenweise Widerstand niederzuschlagen sein. Und hin sichtlich der Padri ... Herrgott, ich weiß es auch nicht. Vielleicht fällt uns dazu noch etwas ein. Hören Sie, rufen Sie die findigsten Köpfe zusammen, die verfügbar sind. Gründen Sie eine Übergangsregierung mit Ihnen als Regierungschef. Die Leute werden Ihnen schon die erforderlichen Ratschläge geben. Greifen Sie alles auf, das etwas taugt, und verwerfen Sie alles übrige. Es gibt so vieles zu tun ... Soviel wiederaufzubauen. Es ist gera dezu erschreckend ...« »Und was ist mit Ihnen?« Ree lachte. »O nein, für mich ist das nichts. Zum Regieren bin ich nicht der geeignete Mann, Skor. Dafür fehlt mir die Ausbildung. Als allererstes muß ich Bergleu ten auf einem Planeten namens Refugium Hilfe leisten. Einige Kriegsschiffe Ngens machen ihnen Ärger, und ... Na-ja, man kann solche Leute nicht einfach im Stich las sen. Danach fliege ich zurück nach Welt.«
»Aber Sie können langfristig Macht ausüben. Wollen sie nicht ...« »Nein, ich wollte sie nicht, und ich will sie nicht. Ich würde mich nicht bewähren.« »Aber wer...« »Sie ... Und jeder, der sich vorteilhaft nützlich zu machen versteht. Welchen Rat gäbe Ihnen jetzt wohl Che ster?« Die Augen geweitet, überlegte Robinson. »Er würde ... Mir ist, als könnte ich im Geist seine Stimme hören, wie Sie mir nahelegt, die Verantwortung für meine Cusps zu übernehmen. Meine Seele zu nähren.« Er zögerte. »Nur ist es so, Admiral, daß ich früher immer wußte, wie ich zu handeln hatte. Heute bin ich nicht mehr jederzeit von der Richtigkeit meines Vorgehens überzeugt. Was soll werden, falls ich Irrtümer begehe? Mir ein Fehler unterläuft ...?« Ree schaute in Robinsons von Beunruhigung erfüllte,blaue Augen. »Willkommen in den Reihen der Menschheit, Skor«, antwortete er herzlich. »Soeben sind Sie in Spinnes Netz kleben geblieben.« Skor Robinson nickte, auf seinen Lippen deutete sich, wie man es bei ihm noch nie gesehen hatte, schwach ein Lächeln an. »Und Sie, Admiral? Was werden Sie auf Welt machen?« »Zeit mit Maya verbringen. Vielleicht mit ihr am Strand Spazierengehen und Händchenhalten.« Ree lächel te. »Und wenn ich schon mal dort bin, werde ich auch, glaube ich, etwas Urlaub auf dem flachen Land machen ... Mit ein paar Pferden.«
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WELTS FELSIGE KÜSTENREGION
Das Schwarz bestand aus vollkommener, allumfassender Leere. Ein schwacher Grauton zeichnete sich gegen die abgründige Schwärze ab, strudelte umeinander und wallte auf ein noch tieferes Schwarz am Mittelpunkt des Phäno mens zu. Susan schloß die Augen, um sich den Vorgang besser vergegenwärtigen zu können. Allmählich wechselte das Licht, als die Gase sich ver dichteten, durchs Spektrum von düsterem Rot zu Orange, Gelb, Grün, Blau und zuletzt hellem, bläulichem Weiß; der Ablauf hatte Ähnlichkeit mit einem Blasterstrahl, der in Längsrichtung rotierte und dabei immer dünner wurde. Dann wich die Dunkelheit, während das weißli che Licht immer stärker zu leuchten begann, die Gase zogen sich, während die Tage verstrichen, stets dichter zusammen, und die Geburt eines Sterns der Klasse B 1 fand statt. Verdammter Kerl, Darwin, warum bist du geblieben ? Weshalb hast du mich mir selbst überlassen? Warum hast du mich, Geliebter, einem solchen Dasein ausgeliefert? Wieso mußtest du mich zu derartiger Einsamkeit verurtei len ? Ich lebe im Dunkeln, während du in strahlendem Licht gestorben bist. Susan spürte das rhythmische Andonnern, die Kraft der Brandung, die gegen die zerklüfteten Felsen wogte, auf denen sie saß. Die ständige Geräuschkulisse der gischti gen Wellen nahm die ganze Wahrnehmung ihrer Sinne in Anspruch. Sie holte tief Atem und schaute über das aqua marinfarbene Wasser aus, auf dem zahlreiche weiße Flecken verquirlter Schaumkronen tanzten. Die salzig
feuchte Brise wehte ihr wie ein Parfüm in die Nase. Hoch am Himmel bremste ein ST, stieß aus dem Orbit herab, um die Siedelei anzufliegen und dort zu landen. Pikes Stern hatte man das neue Gestirn benannt. »Und sagen Sie Susan, daß ich sie liebe. Sie wird begreifen, was ich meine, wenn Sie ihr ausrichten, so sei es wohl besser. Sie kennt den Grund. Ich möchte, daß sie mich so, wie ich jetzt bin, in Erinnerung behält.« »Darwin Pike, du verfluchter Scheißkerl ...!« knirschte Susan in ihre Tränen. Sie preßte fest die Lider zusammen, um das Brennen in ihren Augen zu unterdrücken. Sie hatte schon zu viele Tränen vergossen. Giorj hatte ihr zugehört, so wie früher, sie in den Armen gehalten, doch inwendig beanspruchte ihn fast ausschließlich das Grübeln über den Ursprung der Gaswolken-Gravitation, und inzwischen war sie über den Trost, den er ihr spenden konnte, ohnehin hin ausgewachsen. Torkild war weit fort und leitete die Neu besiedlung Arpeggios, Basars und Mysteriums sowie der sonstigen verwüsteten Planeten und Weltraumstationen. Die Padri machten selbst die tüchtigsten Psychingexperten ratlos, sie blieben menschliche Automaten. Man setzte sie für die Wiederaufbauarbeiten ein und betrachtete sie als furchtbare Mahnung an den Schrecken, der den Namen >Deus< getragen hatte. Maya und Ree waren mittlerweile verheiratet. Rita war schwanger, Chester hatte sich mit Van Chows Kind in die Einsamkeit zurückgezogen. Skor Robinson und seine Hel fer wirkten auf den Trümmern der Zivilisation an einem frischen Anfang, koordinierten die ökonomischen Bedürf nisse einer aus dem Trott geworfenen Spezies. Spinne hatte die Menschheit in die Fäden seines Netzes einge sponnen. Auf Stationen und Planeten waren nicht weniger als achtzig neue Universitäten gegründet worden. Heftig rollten unter ihr die Wellen heran, spritzten eine Fontäne weißlichen Wassers bis hoch über ihren Kopf empor. Ein Kranz aus versprühten Tröpfchen verteilte sich im Schopf ihres losen Haars, als wären sie Diamanten und
blieben in einem Netz hängen, sie glitzerten in der Hellig keit wie Juwelen. »Ein glückliches Ende«, flüsterte Susan, hörte in ihrer Stimme den Nachklang des Leids. Seit einem Jahr war sie jetzt allein, konnte sie Darwin Pikes Lachen nicht verges sen, erlebte nachts geisterhafte Erinnerungen an das Gefühl seiner Arme um ihren Leib. Die Alpträume traten noch immer auf, drängten hart näckig aus den Tiefen des Gedächtnisses in ihr Gemüt, Ngens Säuselstimme betrieb die Zersetzung ihres Wider standswillens. Immerzu wiederholte sich die abscheuliche Empfindung, wie sein Körper sich ihrem Leib aufgezwun gen hatte, er sich in ihr bewegte. Dann betätigte sie, wenn sie erwachte und vor Furcht zitterte, die Taste, ließ das Holo ablaufen, eine Kopie der von Rita gemachten Auf nahmen. Sie sah Ngens vom Raumanzug umhüllte Gestalt sich umdrehen, als sie die Schleuse verließ, ihn aus dem Raum helm zu ihr aufblicken. Er wand sich wie ein Rasender, ein Bein klemmte zermalmt zwischen zertrümmerten Appara turen, seine Finger grabbelten verzweifelt nach dem Bla ster, der knapp außerhalb seiner Reichweite lag. Und hörte, indem sie den Blick auf ihn senkte, ihre ersten Worte. »Hallo, Ngen. Sei mir gegrüßt. Ich ... ich bin gekommen, um dich Lust zu lehren.« Danach stand sie lediglich da, wartete noch ab, hatte ihre Freude an der Hoffnungslosigkeit und hellen Furcht in seinen Augen. Er streckte ihr jämmerlich die Hände ent gegen, zappelte mit dem freien Bein, sein Mund grimas sierte, aus Ungläubigkeit brabbelte er wirres Zeug. Die Brandung schäumte so wuchtig gegen die Klippen, als geschähe es aus Wut. Salziger Sprühnebel strich Susan übers Gesicht. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lip pen, schmeckte das Salz, fand an der kühlen Meeresluft Genuß, die ihr über die warme Haut wehte. Susan holte tief Atem, während sie sich an die Empfindungen, den Anblick, die Geräusche der Abrechnung entsann.
Schließlich hatte sie ihren Kriegsdolch gezückt und war auf Ngen zugetreten, gerade als der letzte Krieger hin ter sich die Schleusenpforte schloß, hatte seinen Rauman zug aufgeschlitzt. Während die Sauerstoffanlage des Anzugs sinnlos auf höchsten Touren arbeitete, um den Luftverlust auszugleichen, hatte Susan den Dolch ange setzt und seine Waden buchstäblich ausgebeint, wie es auf sein Geheiß hin Pike angetan worden war. Sie hatte ihn kastriert und ihm die Hoden in den Mund gestopft, damit er das Grauen voll auskoste, das er so vielen Menschen angetan hatte. Doch zu dem Zeitpunkt hatte er längst das Bewußtsein verloren. Dann hatte Torkild ihn sich vorgenommen, seinen Leib geöffnet und ihn ausgeweidet und ihm zum Schluß bei lebendigem Leib das noch pulsierende Herz aus der Brust geschnitten. Doch da war seine Seele schon längst auf dem Weg zur Hölle. So begegnete sie den Träumen jetzt mit den Bildern der Vergeltung. Wenn Ngens Geist ihren Schlaf störte, tötete sie ihn immer wieder, indem sie sich die Aufnahmen anschaute. »Und wofür?« Matt ließ Susan den Kopf in ihre Arme sinken. Wo blieb die Gerechtigkeit? Weshalb hatten die Träume nicht endlich ein Ende? Warum hatte Spinne sie zum Leiden ausgewählt? »Was hätte ich anders machen sollen?« fragte sie ins Dröhnen der Flutwellen, sah Gischt hochauf in den kri stallklaren Sonnenschein sprühen, bevor sie rings um Susan auf die schroffen Klippen herabregnete. Die gegen die Felsen wogenden Wassermassen strömten in Bächen und Rinnsalen ins Meer zurück, nur um von neuem her aufzuschwellen und nochmals vergeblich gegen das Gestein geschmettert zu werden. »Und wer wird mich wieder zusammenflicken?« Das Brausen der Brandung übertönte Susans Stimme. Ihr Herz schlug, als wäre es eins mit den Wellen,
wie sie rannte es gegen eine unnachgiebige Wirklich keit an. Hinter Susans Rücken zerrte Wasiya, ihr schwarzer Hengst, starrköpfig an den Zügeln, mit denen sie ihn ange bunden hatte. Bestimmt waren die versalzenen Gräser in seinem näheren Umkreis schon von ihm abgeäst, so daß es ihn nun nach den grüneren Wiesen der Umgebung gelüste te. Susan bewegte die Lippen, während sie sich an das Aussehen des im Entstehen begriffenen Sterns erinnerte. »Aus der Dunkelheit ... hat er Licht gebracht«, raunte sie viele Male vor sich hin, während ihre zermürbte, zerrütte te Seele allem einen Sinn abzugewinnen versuchte. »Spin ne ... ich bin so einsam.« Die Wellen schleuderten den schwarzen Felsen ihre Erbitterung entgegen. Tief atmete sie die köstliche, herbfrische Luft ein, nötigte sich endlich zum Aufstehen. Sie spannte ihre Muskeln, füllte die Lungen und hob die Arme an den Him mel, der Wind blies ihr durchs lange schwarze Haar, die Strähnen flatterten wie Wimpel. Sie hatte beschlossen, die Spinnes Vergeltung zu provi antieren, mit ihrem gebrochenen Herzen und einer Anzahl Romananer an Bord zu gehen und zu den Sternen zu flie gen, um den Coup zu erringen, den es bedeutete, außer halb der geläufigen Flugrouten des Alls und abseits der ausgetretenen Wege der Menschheit im Kosmos nach Neuem zu forschen. Sie schaute in den blaugrünen Himmel und stieß, als seine Weite sich ihr auftat, ein Seufzen aus. Dort gab es in unendlichen Fernen Wunder, die sie als erste zu sehen bekommen sollte. Irgendwo dort hielt sich die Bruder schaft verborgen. Spinne hatte ihr die Sterne geschenkt. Wäre nur der Preis nicht so hoch gewesen ...
EPILOG
ACHT JAHRE SPÄTER HOCH IN DEN BÄRENBERGEN
Die sanften Klänge von Nikita Nawaischas Marsianischer Sinfonie vermischten sich mit dem Abendlicht, als der hochaufgeschossene Junge über die Felsen zur Höhle her aufstieg. Unter ihm reckte ein Bär neugierig seine Fangar me aufwärts, während die länger gewordenen Schatten den Canon in düsteres, leicht lavendelfarben schattiertes Blau tauchten. »Chester«, rief der Junge. »Ich bin wahrhaftig auf dem Bär geritten.« Der Mann lächelte, seine Finger zeichneten in der Luft das Auf- und Niederschwellen der Musik nach. »Und was hast du daraus gelernt?« Der Junge runzelte die Stirn. »Ich hatte so ein Gefühl, als wäre ich mit ihm eins, Chester.« »Ach? Eins? Und was lehrt dich das?« Der Prophet wölbte die Brauen, hob den runden Kopf, so daß einer sei ner langen Zöpfe ihm auf die Brust baumelte. »Äh ... Daß ich und der Bär ein und dasselb e sind?« Unsicher musterte der Junge den Propheten; der abendli che Wind zauste ihm die langen, blonden Haare. »Aber du und der Bär habt eine verschiedene Zahl von Beinen. Du hast keine Schwänze ... Und Hände statt Saug teller. Du kochst dein Fleisch. Der Bär verdaut es in sei nem Maul. Dein Blut ist rot. Der Bär hat schwarzes Blut.« Chester machte eine Miene, als wäre er ver dutzt; in sei nen breiten Gesichtszügen stand erwartungsvoll eine stumme Frage. Die Stirn des Jungen lag unverändert in Falten; er nahm einen dünnen Speer aus Säulenpflanzenlholz zur Hand und schürte damit zerstreut das Lagerfeuer. »Aber da war irgendwas. Ich habe Übereinstimmung gespürt.« »Oha! Das Rätsel wird immer größer. War es Einheit?
Oder Übereinstimmung? Wörter sind eine heikle Sache. Was ist es, das du meinst?« »Einheit. Einssein.« »Aha, gut, das wäre also geklärt. Einheit und Einssein. Wenn es nicht dein Körper ist, den man als eins mit dem Bären betrachten kann, was könnte es sein?« »Lebewesen bestehen aus Körper, Geist und Seele, Chester. Wenigstens hast du mich es so gelehrt. Vielleicht ist es der Geist.« »Was hat der Bär denn gedacht?« fragte Chester unbe fangen, schob eine Bach-Kassette in den Kommu-Apparat. Zarte, leise Töne einer Fuge wehten durch die Abend luft. »Was der Bär gedacht hat, weiß ich nicht«, gab der Junge zu; er wirkte perplex, stocherte energischer im Feuer. »Gedanken wie die Gedanken, die wir denken, waren's nicht, sondern es war mehr wie ... wie ...« »Was bleibt denn noch zur Auswahl?« »Die Seele.« Der Junge nickte, überlegte konzentriert. »Ich glaube, jetzt verstehe ich es ... Der Körper spürt, der Geist denkt und die Seele fühlt?« »So ähnlich verhält es sich, nur wirst du noch merken, daß alles sich überschneidet.« Zufrieden lächelte Chester, betrachtete das Netz, das eine Spinne in der Kluft eines entzweigeborstenen Felsens spann. Diese Spinne brachte ihn zum Staunen, sie war ein wirklich schönes Tier, ihr Leib hatte prächtige Farben. Das von dem kleinen Geschöpf gewobene Netz war ein vollkommen symmetri sches Kunstwerk. Kein Wunder, daß seine Vorfahren Gott mit einer Spinne gleichgesetzt hatten. Morgens glitzerte das Netz von Tau wie die Sterne am Himmel, Chester hatte sich die winzige Kreatur von der Erde kommen lassen; es war die erste lebende Spinne, die er je gesehen hatte, und tatsächlich — Freude über Freude! — fing und fraß sie die Fliegen, die ständig am Höhleneingang herumsurrten. »Chester?« Der Junge blickte auf, während er Klin genbuschwurzeln zum Rösten in die Kohlenglut schob.
»Hmm?« Chester hob das Kinn, musterte den Jungen über die Nase hinweg. Es fiel dem Jungen schwer, seine Frage auszusprechen. »Habe ich ... habe ich eigentlich einen Namen? Heute morgen kamen ein paar Santos durch den Canon geritten, und sie haben mich nach meinem Namen gefragt. Ich konnte ihnen keinen sagen. Sie ... sie haben mich ausge lacht, und da habe ich gesagt, ich bin der Prophetenjunge. Ist das mein Name?« »Welchen Namen hättest du denn gern?« »Ich weiß nicht ... Das ist eine der schwierigsten Fra gen, die du mir je gestellt hast. Was für einen Namen soll man haben? Könnte ich Chester heißen?« Der Prophet hob die Schultern. »Würde es dir gefal len?« »Ich gehöre auch zu keinem Clan«, bemängelte der Junge und blickte auf. »Armijo war der Clan deines Vaters. Der Clan deiner Mutter war Garcia. Welche sind meine Clans?« Seine kräftig-blauen Augen forschten mit sehnsüchtigem Blick in Chesters Augen. Chester kauerte sich ans Feuer und starrte in die Flam men. Lange Momente hindurch dachte er lediglich nach, erwog seine Antwort, prüfte alle Permutationen der Zukunft. »Spinne hat dich mir zugeführt«, antwortete er schließlich. »Es ist mein Cusp gewesen, dich an Sohnes statt anzunehmen ... oder dich sterben zu lassen. Es ent springt Spinnes Ironie, daß alles Gute alles Böse ausglei chen muß. Das Universum kennt kein innewohnendes Gut oder Böse. Ebensowenig Spinne. Trotz der Untaten, die deine Eltern verübt haben, mein Kind, habe ich vorherge sehen, daß aus dir etwas großes Gutes erwachsen kann. Das heißt, so kann es werden, wenn du dich aus freiem Willen dafür entscheidest.« »Werde ich auch ein Prophet sein?« Aus den Knaben augen leuchtete Hoffnung. Chester schmunzelte, sein breitflächiges Gesicht spie gelte Vergnügen. »Nein, mein Junge. Prophet wirst du nie
sein. Mein teurer Freund Marty Bruk kann in Köpfe guk ken. Von ihm weiß ich, daß Propheten andere Gehirne als die übrigen Menschen haben. Du hast kein Propheten hirn.« Er bemerkte, wie sein Gegenüber auf einmal kläglich dreinschaute. »Sei nicht traurig. Die Seele eines Propheten ist nicht wertvoller als deine Seele. Und die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, ist im günstigsten Fall eine Last, im ärgsten Fall eine furchtbare Marter.« »Meine Seele ist wertvoll?« Der Junge machte große Augen; die Bemerkung hatte ihn in andächtige Aufmerk samkeit versetzt. Lässig zuckte Chester die Achseln. »Das hängt von dir selbst ab. Womit möchtest du sie erfüllen, bevor sie zu Spinne zurückkehrt?« »Was wäre Spinne denn am liebsten?« »Er zöge es vor, wenn du lebst und Erfahrungen sam melst. Soviel siehst und tust, wie im Laufe deiner Lebens jahre überhaupt nur möglich ist. An erster Stelle ist es sein Wunsch, daß du lernst, denkst, die Möglichkeiten deines freien Willens gebrauchst.« »Das will ich tun«, rief der Junge, während erregte Vorfreude sein Gesicht belebte. »Er möchte nicht nur, daß du selbst lernst, deine Erfah rungen sammelst und fühlst, sondern genauso, daß du die Fähigkeit dazu auch anderen Menschen vermittelst.« Che ster stand auf, vermochte nicht den Blick von dem Spin nennetz zu wenden. Stundenlang konnte er es voller Fas zination betrachten, als wäre er selbst noch ein Bub. »Verdient man damit Coup?« »Dadurch erwirbt man sich ruhmreichsten Coup«, bestätigte Chester, sah das Netz im Flackern des Feuer scheins schimmern. »Dein Wissensstand ist ausgezeich net. Du liest fleißig. Mit deinen Geschichtskenntnissen bist du Jungen gleichen Alters weit voraus. Mit Waffen und Kommu kannst du so gut wie die meisten Krieger und besser als andere Personen umgehen. Ich habe alles für
dich geleistet, was in meiner Macht lag, und jetzt hat der Bär dich seine Lektion über die Seele gelehrt.« Der Junge hatte eine betrübte Miene gezogen, als Che ster sich widerwillig vom Spinnennetz abwandte. »Du schickst mich fort?« »Ob aus dir etwa doch ein Prophet wird?« spaßte Che ster schmunzelnd. »Man könnte meinen, du siehst doch die Zukunft.« »Ich mag nicht von dir fort, Chester.« Der Junge warf sich in Chesters Arme, drückte ihn fest, schniefte, rang mit den Tränen. »Dieser Kummer entspricht nicht deinem Wesen. Wel chen Zweck hat er?« Chester bog dem Jungen den Kopf nach hinten und schaute ihm in die gequälten blauen Augen. »Und wenn ich dich niemals wiedersehe?« »Das wäre ein Ergebnis deines Cusps. Zu was drängt dich dein freier Wille, Kind? Möchtest du bei einem ver träumten, fast schon altersschwachen Propheten bleiben? Oder wünschst du Spinne von Nutzen zu sein? Ich kann dich nur Tatsachen lehren, Junge. Das Leben kann ich dich nicht lehren. Willst du dein Leben verschwenden, deine Seele vergeuden?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete der Junge leise, hockte sich ans Feuer. »Ich habe Angst, Chester.« Chester wuschelte ihm mit brauner Hand das ohnehin wirre Haar und nickte. »Furcht und Angst sind Bestandtei le des Lebens. Ich, Chester Armijo Garcia, werde nun so unfair sein und dir einen Vorteil verschaffen. Ich will dir etwas über die Zukunft sagen. Sterben wirst du noch lange nicht. Es ist dir beschieden, eine besondere Art des Zufrie denseins zu finden. Du wirst deinen Wissensdurst stillen und bis dahin ungesehene Dinge erblicken. Und dort oben, jenseits der Sterne, wirst du dein Herz mit Liebe, Schön heit und der Gemeinsamkeit der Seelen erfüllen. Dir steht Leid bevor ... und möglicherweise Glück.« »Wohin schickst du mich?«
Chester deutete in Weltraumfernen, an Zweitem Mond vorbei auf ein schwaches Geglitzer von Sternen. »Es war einmal die Absicht deines Vaters, daß du alle diese Sterne erben solltest. Wenn du dich dazu entschließt, Spinne zu dienen, wirst du dein Erbe antreten.« »Du kommst nicht mit?« »Ich gehe an einen anderen Ort. Ich muß die Mensch heit über ihre Seelen aufklären. Du wirst der Menschheit, hoffe ich, neue Wirklichkeiten, neue Welten und Heraus forderungen zeigen.« Chester lächelte. »Nichts wird geschenkt, mein Junge. Dort im All lauern Schrecknisse, die schlimmer als Ngen sind. Aber genauso warten dort Herrlichkeiten, die höheres sind als Seligkeit. Die Men schen werden ihnen begegnen, egal wie du dich entschei dest. Wie willst du handeln? Es ist dein Cusp. Fasse dei nen Entschluß.« Chester lehnte sich, die Lider geschlossen, ans Felsge stein; ein Abschnitt des Künftigen rückte an seinen Platz, als der Junge sich entschied. Zu guter Letzt nickte der Pro phet. Aus einem Beutel holte er einen Coup mit ledrig gewordener Kopfhaut. Dem Jungen entfuhr ein Keuchen, als sich langes, goldblondes Haar entrollte, im Feuer schein glänzte. »Ein Coup!« schnaufte der Bub in atemloser Aufregung. »Deine Mutter ist von mir getötet worden, Junge. Am selben Tag, an dem ich dich mit mir genommen habe, mußte ich sie zu Spinne heimsenden ... und mit diesem Messer« — seine Hand tappte an seinen Gürtel — »habe ich ihr das hier vom Kopf geschnitten. Nimm. Ich gebe ihr Haar dir. Es soll dir eine ständige Mahnung an das Böse sein, dem du verfallen kannst.« Er reichte dem Jungen die Trophäe. Mit beiden Händen nahm der Junge unsicher das Ver mächtnis entgegen. Offenen Munds schaute er den Pro pheten ehrfürchtig an. Chester schnallte den Gürtel mit dem schweren Kriegsdolch ab und legte ihn vor ihm auf den Boden.
»Du ... du hast meine Mutter getötet?« »Du wirst mit dem Wissen leben müssen, daß deine Freunde deine Eltern umgebracht haben. In diesem Wis sen verbirgt sich eine wichtige Lehre. Wirst du sie zie hen?« »Ich ... ich weiß nicht. Ich ... Ja, ich werd's.« Kurzes Schweigen folgte. »Wohin schickst du mich?« »Am Morgen werden wir zur Siedelei reiten.« In diesem Moment schoß ein heller Streifen Licht durchs abendliche Firmament. »Ein ST«, rief der Junge, zeigte nach oben. »Er kommt von deinem Raumschiff. Er ist gerade von einem Forschungsflug zurückgekehrt. Fünf Jahre lang ist er unterwegs gewesen.« Chester nickte. »Wenn er das nächste Mal fortfliegt, wirst du an Bord sein. Du hast noch viel zu lernen, Junge, darum wird das Raumschiff dich an einen Ort bringen, den man Universität nennt. Und später wirst du damit gleichfalls einen Forschungsflug antreten ... Eine Reise in die Weiten zwischen den Sternen.« »Ich werde lernen, Chester. Ich versprech's.« »Von deinem Cusp hängt es auch ab, ob von deinem Dasein eine heilsame Wirkung ausgeht.« Chesters Blick verfolgte die Flugbahn des Leuchtstreifens. »Deine Lehre rin wird Susan Smith Andojar sein, sie ist eine große Krie gerin und Kommandeurin eines Forschungsschiffs. Gleichzeitig ist sie sehr einsam, mein Junge. Wenn du bei ihr bist, wird sich das Übel der Vergangenheit — das dein Erbteil ist — in etwas anderes verwandeln, das sich davon sehr unterscheidet.« »Mein Erbteil ist ein Übel?« »Und vielleicht auch deine Zukunft. Was ist dein freier Wille? Darauf kommt es an. Auf den Raumschiffen sind Dokumentationen aufbewahrt. Dein Vater war Ngen Van Chow. Deine Mutter hieß M'Klea Alhar. Sieh dir an, was für Menschen sie waren, was sie getan haben. Immer wenn du vor einem Cusp stehst, nimm den Coup deiner Mutter zur Hand und überlege dir ganz genau, wie du dich
verhalten willst. Lerne aus dem Leben deiner Eltern. Lerne von Susan, die deinen Vater getötet hat, so wie du von mir, der ich deine Mutter töten mußte, gelernt hast. Sei dir jederzeit dessen bewußt, was du Spinne schuldest. Beachte immer, mein Junge, daß dein Leben genau das ist, nämlich deines. Du hast einen freien Willen und kannst werden und sein, was du dir vornimmst, du kannst die Erlebnisse haben und die Erfahrungen machen, an denen dir etwas liegt, um deinem Dasein Erfüllung zu geben.« Der Junge zog das schwere Messer aus der Scheide, besah sich die Klinge, wie sich auf ihr der Flammenschein spiegelte. »Ich müßte einen Namen haben«, erinnerte er Chester. »Van Chow Alhar mag ich nicht heißen.« »Oh, ich werde dich mit den Namen von Helden ins Leben hinaussenden. Susan wird dir alles über sie erzäh len, wer sie waren und was sie getan haben. Man soll dich als Freitag Hans Pike kennen. Das ist ein guter Name. Es ist ein Name, der Heilkraft hat.« Versuchsweise sprach der Junge den Namen aus, als kostete er ihn auf der Zunge, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Als er das große Messer in die Scheide zurückschob, durchquerte als gelber Leuchtstrich ein zweiter ST den Abendhimmel. Irgendwo in der Dunkelheit klöterte ein Bär, und Chester ging in die Hocke, während seine Finger die letzten Töne der Bach-Musik mitdirigierten, sein Blick schweifte hinüber zu dem Spinnennetz, das schön und sil brig im Feuerschein hing.