Spielball der Götter Maddrax Band 67 von Michael Schönenbröcher
»Die Eisfrau...«, sagte der alte Mann, und das Feuer schuf bei jedem der Worte neue Schattenspiele auf seinem verwitterten Gesicht. »Die Eisfrau hatte die Macht uns zu retten, und eines Tages wird ihr ebenso die Macht zukommen, uns alle zu vernichten.« Ein Schaudern ging durch die Körper der Kinder, und sie rückten noch enger um das Lagerfeuer zusammen. Sogar in den Augen der Älteren unter ihnen glomm neben dem Widerschein der Flammen Ungewisse Furcht wie Glut an einem Holzspan. »Die Eisfrau ist der Anfang und das Ende«, fuhr der alte Inuk fort und sog an seiner Pfeife. Der Rauch hüllte für Sekunden sein Gesicht ein, und als es aus den Schwaden wieder auftauchte, lag ein Schatten wie eine Warnung darauf. »Wollt ihr die Geschichte wirklich hören?«
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... *** Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA-Expedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Drax aus der Vergangenheit kam, durchdrehte und Allmachtsfantasien entwickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo hat sich dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe namens Running Men, die gegen die WCA kämpft. Ihr Anführer
Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u. a. Philipp Hollyday, der eine Gedächtnis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Matt Drax, und Merlin Roots, der früher beim Nordmann-Projekt der WCA in Skandinavien dabei war. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus auf den Weg, wo Aruula durch ein Experiment ihre telepathischen Kräfte eingebüßt hat. In Portland steigen sie auf ein Schiff zur Eisgrenze um und setzen einen mitgeführten Eissegler zusammen. Nun geht es an der gefrorenen Westküste entlang hinauf nach Kanada, wo Matt in einer Biosphäre - der Citysphere 01 des Milliardärs De Broglie - von einem LavaDrachen entführt wird. Aiko und Aruula folgen der entschwindenden Kreatur mit dem Zeppelin der Sphäre und retten ihn aus der Gewalt eines Eskimo-Volkes, das ihn den Walen im Großen Bärensee opfern wollte... *** Tami war eines der älteren Kinder, die den Schritt zum Erwachsensein und die Weihe noch nicht vollzogen hatten, und er war in der Gemeinschaft als Raufbold und Spaßvogel bekannt. Auch jetzt kehrte er den starken Mann heraus, warf sich in die Brust und trotzte dem Blick des Alten. »Komm schon, Großvater!«, sagte er, um einen festen Klang seiner Stimme bemüht. »Du kannst uns mit deinen Legenden nicht erschrecken. Erzähl uns schon von der Eisfrau!« Der Alte blickte streng auf ihn herab, doch wer genau hinsah, erkannte das Schmunzeln in seinen Mundwinkeln. »Tami, Tami!«, sagte er. »Möge dein Schutzgeist verhindern, dass ausgerechnet du eines Tages die Eisfrau aufweckst mit deinem vorlauten Mundwerk!« Und während Tami eingeschüchtert zurücksank, wandte er sich an die restlichen Kinder. »Natürlich hat er Recht: Die Eisfrau ist eine Legende, so wie auch die
Geschichte von Bruder Mond und Schwester Sonne eine Legende ist. Doch sehen wir die beiden nicht trotzdem jeden Tag und jede Nacht am Himmel ihre Bahnen ziehen?« Ein verunsichertes Nicken ging durch die Kinderschar, und so rückte der Alte noch näher ans Feuer heran und begann mit leiser dunkler Stimme zu erzählen. »Dieses Land«, sagte er, »wurde uns zu Beginn aller Zeit, als die Erde vom Himmel fiel, von der Großen Mutter geschenkt mit dem Auftrag, es zu behüten. Lange Zeit erfüllten wir im Einklang mit der Natur diese Pflicht, und alles war gut. Doch dann kam der weiße Mann in unser Land. Er riss die Erde auf und holte schwarzes Gold hervor, Metalle und brennende Gase. Und als sich unser Volk gegen das Verbrechen wehrte, vergiftete er es mit Alkohol, der den Geist zerstört und süchtig macht. Die Zeit der Frevel begann, und das Volk der Inuit lud Schuld auf sich, die kein Gott vergeben und kein Opfer ungeschehen machen konnte!« Der Alte hielt einen Moment inne, um einem Mädchen über das Haar zu streichen, bevor es zu weinen anfangen konnte. Sie sah ihn mit großen Augen an und schluckte den Kloß hinunter, der ihr in der Kehle saß. »Also sprach die Große Mutter«, fuhr er fort und hob einen Arm zum Himmel, »›Ich will einen Feuerball schicken, um die zu strafen, die mein Land zerstören, und sie in einer Glutwolke verbrennen!‹ Und so geschah es. Kristofluu kam über die Erde mit Feuer und Sturm und fegte den weißen Mann hinfort - und mit ihm all jene, die sich zum Bösen hatten verleiten lassen.« Wieder legte der alte Inuk eine Pause ein, und während er seine Worte wirken ließ, leerte er den Pfeifenkopf und stopfte ihn neu. Tami zog beflissen einen brennenden Span aus der Glut und reichte ihn dem Alten. Der sog an der Pfeife, bis der Tabak knisternd brannte. Dann erst fuhr er fort: »Doch auch unser Volk wurde von der Großen Mutter bestraft, weil es die Frevel zugelassen hatte. Ein dunkles Tuch aus Finsternis legte sich über das Firmament. Und weil kein Sonnenstrahl mehr die Erde
erreichte, wurde es finster und kalt; kälter als ihr es euch vorstellen könnt. Sogar der Atem gefror in diesen Tagen und fiel als Schnee zu Boden! Bald war die Welt von Eis überzogen, und der Winter wollte nicht mehr weichen, für eine lange, endlos lange Zeit...« »Wie lange?«, fragte zaghaft eine Kinderstimme. Der alte Inuk zog die Brauen zusammen. »Viel länger als das Leben eines Menschen dauert«, gab er Auskunft. »Wie alt bist du, Sohn des Attak?« »Zehn Sommer«, kam die Antwort. »Wenn jeder Finger einer Hand dein ganzes Leben wäre, brauchtest du sieben Hände, um die Zeit zu zählen!« Die Kinder betrachteten unwillkürlich ihre Hände und versanken in ehrfürchtigem Schweigen, in das hinein der Alte seine Geschichte fortführte: »Es war ein grausamer Winter, der das Volk der Inuit strafte, doch schließlich sah die Große Mutter ein, dass es genug sei. Also schickte sie die Eisfrau.« Ein Zischen ging durch die Zuhörerschar, als alle Kinder gleichzeitig den Atem einsogen. »Weil die Weißen die Schuld daran trugen, dass Kristofluu und der dunkle Winter über die Welt gekommen waren, sollte es eine weiße Frau sein, die das Leiden nun beendete. Die Große Mutter hauchte einer Toten neues Leben ein und schickte sie hierher, um den Winter und die Dunkelheit in sich aufzunehmen. Die Eisfrau wanderte über Nunavut. Wo ihr Fuß die Erde berührte, schmolzen Eis und Schnee, und wo sie Atem holte, sog sie die Finsternis in sich auf.« »Aber tat ihr das nicht schrecklich weh?«, fragte ein dünnes Stimmchen. »O ja«, erwiderte der Alte. »Die Eisfrau war und ist eine Verfluchte, die die Sünden der Weißen in sich trägt.« »Was geschah mit ihr?«, fragte ein anderes der Kinder. »Als sie unser Land vom Fluch befreit hatte, legte sie sich nieder und gefror zu purem Eis.« Er beugte sich vor. »Aber sie
ist nicht tot! Die Eisfrau schläft und wartet darauf, den ewigen Winter und die Finsternis auszuatmen, wenn wir das Erbe der Großen Mutter nicht ehren und behüten! Wenn wir die Warnung vergessen und die Fehler wiederholen, wird ein Bote der Großen Mutter vom Himmel kommen und die Eisfrau aufwecken! Und das sei euch gesagt: Dieser Winter wird dann mehr Finger zählen, als ihr alle zusammen an euren Händen habt!« Damit nahm er einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. Es dauerte lange, bis die ersten Kinder es wagten, sich flüsternd zu unterhalten. Der Alte hörte Angst und Sorge in ihren Stimmen und wusste, dass er gut erzählt hatte. Auch diese Generation würde bemüht sein, mit den Gesetzen der Natur im Einklang zu leben. Und das war bitter nötig. Seit Uimag vom Plan des Häuptlings erfahren hatte, in das verbotene Dorf zu ziehen und die dortigen Hinterlassenschaften der Alten zu nutzen, fürchtete er, dass die Große Mutter eingreifen würde. Es war ein Frevel, an das damalige Leben anzuknüpfen, auch wenn es der Dorfgemeinschaft Vorteile versprach. Für ihn selbst war die Legende bindend, seit er vor über vierzig Sommern das Amt und die Bürde des Angakkoq übertragen bekommen hatte. Und das nicht nur, weil in den Geschichten seines Volkes viel Weisheit steckte, sondern weil er die Eisfrau mit eigenen Augen gesehen hatte... *** Dawson, Kanada 18. Juli 2011, 04:22 PM Irgendwo klingelte hartnäckig ein liegen gelassenes Mobiltelefon. Das enervierende Geräusch war nicht gerade dazu angetan, Dr. Amber Floyds Stimmung zu heben; im Gegenteil. Gereizt fixierte die knapp dreißigjährige Wissenschaftlerin das gleichmütig dreinblickende Gesicht des Mannes vor ihr.
Ging man nach seinem Äußeren, hätte man Claude De Broglie eher in die Kategorie der zehn schlecht gekleidetsten Männer der Welt als in die der zehn reichsten gesteckt. Der exzentrische frankokanadische Milliardär trug einen violetten Overall und neonfarbene Turnschuhe, dazu eine futuristische Armbanduhr, die wo hl aus einem Mini-Fernseher und einem Computer gekreuzt worden war. »Ich will Ihre offensichtlichen Fortschritte ja gar nicht leugnen, Dr. Floyd«, sagte er jetzt, »aber Sie müssen zugeben, dass vier Jahre mehr als genug sind, um -« Amber wusste nicht, welcher Teufel sie ritt, dass sie ihrem Brötchengeber ins Wort fiel: »Wovon drei Jahre reine Grundlagenforschung waren! Für so einen Durchbruch in der Kryonetik, wie Sie ihn fordern, mussten wir quasi ganz von vorn anfangen!« De Broglie zog eine Augenbraue seines ansonsten kahl geschorenen Schädels hoch; ein deutliches Zeichen des Unmuts. Der vierzigjährige Kanadier erlaubte es sich selten, Gefühle in die Öffentlichkeit zu tragen. Unvergessen sein Fernsehauftritt mit William Gates II., als er dem ewig jugendlichen Multimilliardär mit stoischer Ruhe dessen neuestes Betriebssystem für Quanten-PCs um die Ohren gehauen hatte. Seither beherrschten die De Broglie Enterprises mit ihrem Quantax-System den Anwendermarkt. »Ich wiederhole mich nur ungern, Miss Floyd«, mit De Broglies Stimme schien ein Eishauch zu Amber herüberzuwehen, »aber anscheinend muss ich noch einmal auf die exorbitanten Erfolge Otto Fortenskys hinweisen, der dieselbe Arbeit in weniger als einem Jahr vollbracht hat und heute kurz vor der Vollendung seines Deep-Freezer steht.« Dass endlich das nervige Mobiltelefon verstummte, half Dr. Amber Floyd nur wenig, die aufwallende Wut zu unterdrücken. »Mr. Fortensky«, brachte sie den Namen wie eine ansteckende Krankheit hervor, »ist entweder ein Aufschneider oder ein
gefährlicher Ignorant, der notwendige Forschungen zugunsten eines Zeitplans unter den Teppich kehrt - Kürzungen, die schließlich Ihr Leben gefährden werden, Mr. De Broglie.« Claude De Broglie erlaubte sich die Nase zu rümpfen. »Mir scheint vielmehr, dass der Ärger über Ihre eigenen mühsamen Fortschritte Ihre Urteilskraft beeinträchtigt, Miss Floyd.« Das saß. Amber fühlte ein kaltes Rieseln, das von ihrem Nacken aus hinunter zu den Füßen strömte. Und das gleichzeitig ihre Wut abkühlte und den Blick für die Tatsachen schärfte. Natürlich hatte sie sich über Fortenskys Projekt informiert, und sie musste neidvoll anerkennen, dass der in Fachkreisen als vorsichtig ausgedrückt - überdreht geltende Kollege aus Milwaukee ihre eigenen Forschungen tatsächlich innerhalb eines Jahres ein-, wenn nicht gar überholt hatte. Wie er das schaffte, war ihr allerdings ein Rätsel. Amber Floyd atmete tief durch, strich sich eine Strähne ihres schulterlangen blonden Haars aus der Stirn und schaffte es, einen freundlichen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zwingen. »Entschuldigen Sie, wenn ich mich von meinen Zweifeln habe leiten lassen. Sie haben natürlich Recht: Für ein fundiertes Urteil müsste ich genaue Einsicht in Fortenskys Unterlagen haben. Konzentrieren wir uns also lieber auf meine Ergebnisse.« Sie wedelte mit der dünnen Mappe, in die sie eine allgemein verständliche Zusammenfassung des Projektstandes für ihren Auftraggeber eingeheftet hatte. »Sie werden erkennen, dass wir kurz vor dem Durchbruch stehen. Ich schätze, noch zwei, drei Monate, und ich kann Ihnen am lebenden Objekt die Tauglichkeit der Anlage demonstrieren.« Der Besitzer der De Broglie Enterprises, zu denen auch das hiesige Labor gehörte, nahm die Mappe entgegen, öffnete sie jedoch nicht. »Ich studiere das im Learjet«, sagte er. »Wenn Ihre Daten mich überzeugen, gebe ich Ihnen weitere acht Wochen Aufschub, bevor ich den Einsatz meiner Geldmittel überdenke.« Dr. Floyd wusste nur zu gut, was es mit diesem »Überdenken«
auf sich hatte. De Broglie, eingefleischter Science-Fiction-Fan und Geldgeber so abenteuerlicher Projekte wie einem »Gedankenleseautomaten«, einer »stets willigen Androidenfrau« und den unmöglichsten interstellaren Raumschiffantrieben hatte sich mit seinem neuesten Projekt, einer Biosphäre mit Großstadt-Ausmaßen, schlicht übernommen. Nun wurden seine Mittel knapp, und er musste sich wohl oder übel einschränken. De Broglie tippte auf seiner klobigen Armbanduhr herum. Es piepste. »Mittwoch, den zehnten August bin ich wieder in Kanada. Wir haben einen Termin um halb zehn Uhr Vormittags. Ich erwarte Erfolge zu sehen.« Im Stillen verwünschte sich Amber dafür, nicht von vier Monaten gesprochen zu haben. Aber besser weitere acht Wochen finanzielle Unterstützung als ein umgehend zugedrehter Geldhahn. Sie und Dr. Broden würden sich eben sputen müssen, um die letzten Tests abzuschließen. Mit einigen Sekunden Verspätung bemerkte sie De Broglies ausgestreckte Hand und ergriff sie. Der Händedruck war kurz und fest. »Ich sehe Sie also am zehnten August«, verabschiedete sie den Exzentriker im violetten Overall. Und erlaubte sich erst aufzuatmen, als die Tür zu ihrem Büro von außen geschlossen wurde. *** Ehem. Nordwest-Territorium, Kanada 3. August 2518 Commander Matthew Drax wedelte mit den Zehen in den tiefblauen Himmel. Nicht zum ersten Mal dankte er Gott dafür, dass es noch immer fleischfarbene, gesunde Zehen waren anstatt schwarzblau verfärbter Stümpfe. Was nach dem unfreiwilligen Aufenthalt im ewigen Eis gar nicht so abwegig gewesen wäre. Nun saß er in einem der bequemen Sessel des silbergrauen N08-Zeppelins, mit dem ihn Aruula und Aiko gerettet hatten,
die Beine hochgelegt, Jacke, Stiefel und Strümpfe ausgezogen und die Fersen auf eine andere Sitzfläche gebettet. Jenseits der geschlossenen Fenster dehnte sich das wolkenlose Firmament über der Eislandschaft. Bei minus elf Grad Außentemperatur waren es hier drinnen mollige vierundzwanzig Grad. Er fühlte sich rundum wohl. Zum Erstem Mal seit Wochen. Das gleichmäßige Brummen der drei Propellermotoren links und rechts der Kanzel wirkte einschläfernd. Er schloss die Augen im Gefühl relativer Sicherheit. In einer Reisehöhe von zweitausend Metern war kein Angriff von Eluus zu befürchten. Die Hülle des Zeppelins hielt der Belastung bislang problemlos stand. Aiko Tsuyoshi pilo tierte das knapp achtzig Meter lange und fünfzehn Meter breite Luftschiff der De Broglie Enterprises mit der Routine eines technisch versierten Cyborg, und Aruula... Aruula legte in diesem Augenblick ihre behandschuhte Rechte auf seine Brust und ließ sie unter sein Unterhemd gleiten. »Gehts dir gut?«, gurrte sie und kraulte sein Brusthaar. Die schwarzen Lederhandschuhe trug sie schon seit Tagen; ihre neueste Marotte. Matt brummte ein wohliges »Hmmmmm« und lehnte den Kopf noch weiter zurück. Aruula stand hinter seinem Sessel; er roch den Duft ihrer Haut und ihres schwarzen, ungezähmten Haares. Ihre Hand glitt tiefer. »Ich habe dich so sehr vermisst«, raunte ihr Mund dicht neben seinem Ohr. »Es tut gut, dich zu spüren.« Matthew wollte gerade dasselbe sagen, als Aruulas Rechte unter seinen Gürtel und den Bund der Unterhose rutschte. Die Erwiderung blieb ihm in der Kehle stecken; mehr vor Überraschung als von den plötzlichen Gefühlen, die durch seine Lenden schossen. Wollte Aruula wirklich mit ihm... hier und jetzt, wo doch Aiko keine vier Meter entfernt am Steuer saß? Er suchte nach Worten, ihr diesen Tatendrang auszureden, da schloss sich der Lederhandschuh bereits um sein Glied. »Aruula... nicht!«, presste Matt hervor und öffnete die Augen.
Ihr Gesicht war direkt neben ihm, ihre grünen Augen auf die Beule in seiner Hose gerichtet. Grüne Augen?! Matt wusste selbst nicht zu sagen, warum es ihm gerade jetzt auffiel - aber hatte Aruula nicht braune Augen? Der Gedanke zerstob, als ihre Hand mit kleinen rhythmischen Bewegungen begann, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. An sich hatte er nichts gegen ein bisschen fegaashaa, wie die Wandernden Völker es zu nennen pflegten, aber nicht in Aikos Gegenwart. »Bitte hör auf damit!«, flüsterte er. »Später, wenn wir allein sind...« Doch Aruula dachte gar nicht daran. Sie rutschte weiter nach vorn und nestelte mit der linken Hand an seinem Gürtel herum. Ihr Busen - jetzt erst bemerkte Matt, dass sie ihr Oberteil abgelegt hatte - presste sich gegen seine Wange, und er spürte die Hitze, die von ihrer Haut ausging. Ihr Blick hatte jetzt etwas regelrecht Gieriges. Derart erregt hatte er seine Gefährtin selten erlebt. Plötzlich lag etwas Bedrohliches über der ansonsten höchst stimulierenden Situation. Matt konnte sich nicht erklären, was es war, aber Aruula schien nicht mehr sie selbst zu sein. Er griff nach ihren Handgelenken und zog ihre Rechte mit Gewalt aus seiner Hose. »Das genügt!«, raunte er barsch. »Ich sagte: später!« Für einen Moment fürchtete er, sie zu scharf angegange n zu haben. Aruulas Temperament ließ sie schnell ins andere Extrem fallen; dann würde sie tagelang nicht mehr mit ihm reden. Doch sie reagierte ganz anders als erwartet. Ein Schaudern schien durch ihren Körper zu laufen, und gleichzeitig erlosch die Gier in ihren Augen. Sie blinzelte, ruckte hoch - dann schüttelte sie den Kopf, als erwache sie wie aus einer Trance, murmelte »Entschuldige, ich...« und zog sich hastig zurück, ohne den Satz zu beenden. Nach einer Sekunde der Verblüffung wollte Matthew ihr nach. Doch Aikos Stimme hielt ihn zurück. Entweder hatte der
Cyborg nichts von Aruulas Aktion bemerkt, oder der Anstand verbot es ihm, darauf einzugehen. »Da unten ist eine Siedlung!«, rief er nach hinten. »Das solltest du dir ansehen, Matt!« Aruula hatte sich bis ans Heck der Gondel geflüchtet und knüpfte mit fliegenden Fingern ihr Oberteil zu. Dabei schaute sie zu Boden, mied den Blickkontakt mit ihm. Seit sie ihre Fähigkeit des Lauschens verloren hatte, benahm sie sich zunehmend seltsamer, stellte Matt besorgt fest. »Kommst du?«, rief Aiko. »Sofort...« Er schritt durch den Mittelgang der zehn mal zweieinhalb Meter messenden Kabine nach vorn zum Steuer, vorbei an den zwölf bequemen Ledersitzen, und ließ sich im Sessel des Copiloten nieder. Das Armaturenbrett war verhältnismäßig schmal und übersichtlich und ließ an beiden Seiten den Blick aus dem Frontfenster zu. Aiko deutete nach rechts. »Dort unten, etwa vier Kilometer voraus. Den Karten nach könnte es Fort Good Hope sein.« Glücklicherweise befand sich umfangreiches, wenn auch über fünfhundert Jahre altes Kartenmaterial an Bord, bei dessen Anwendung nur zwei wesentliche Dinge beachtet werden mussten: Der Nordpol befand sich nach dem Kometeneinschlag und der Verschiebung der Erdachse nun bei Edmonton, Kanada, das bereits hinter ihnen lag. Und das einstmals karge, aber besiedelte Gebiet war einer lebensfeindlichen Schneefläche gewichen. Fort Good Hope - kein Westernfort, sondern eine hier typische Ansiedlung von einzelnen verstreuten Gebäuden - hob sich als dunkler Fleckenteppich weithin sichtbar von der weiß strahlenden Ebene ab. Matt dachte an die einzigartigen Karten, die er, in Plastikfolie eingeschweißt, in einer Hosentasche seiner Uniform mitführte, seit sie von El'ay aufgebrochen waren: die topografischen und radiologischen ISS-Karten vom Kratersee. »Kannst du irgendwelche Anzeichen von Leben erkennen?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augenlidern. Er wusste,
dass die bionischen Augenimplantate des Cyborgs dem normalen Sehen haushoch überlegen waren. Aiko schüttelte den Kopf, dass sein geflochtener Zopf hin und her pendelte. »Nein. Scheint verlassen zu sein.« »Eine Landung lohnt sich also nicht?« Wieder ein Kopfschütteln. »Außerdem ist es ein ziemliches Risiko, ohne Hilfe vom Boden aus zu landen«, gab er zu bedenken. »Wir können zwar den Ankerspeer benutzen, aber wenn der Wind auffrischt, garantiere ich für -« Er brach ab und hob den Kopf. Matt brauchte noch eine halbe Sekunde, um es ebenfalls zu bemerken: Das Motorengeräusch hatte sich verändert, war dumpfer geworden und setzte jetzt stotternd aus. Aikos Blick huschte über die Konsole. »Der Steuerbordmotor macht Probleme. Moment...« Seine Finger huschten über die Regler. Er synchronisierte die Maschinen neu und veränderte das Gemisch für Motor Nummer drei. Sekunden später erhöhte sich kurzfristig die Drehzahl der Maschinen, als Aiko Vollgas gab. Das Stottern ging wieder in einen gleichmäßigen Lauf über. Matt Drax hatte sich besorgt nach rechts gebeugt und schaute am Rumpf vorbei hoch zum Motorblock. Kein Rauch, keine sichtbare Beschädigung. Trotzdem blieb er skeptisch. Wenn die fast zweitausend Kubikmeter unbrennbares Helium über ihnen auch dafür sorgten, dass sie nicht aus allen Wolken fallen konnten, war ein unlenkbar gewordenes Luftschiff keine angenehme Vorstellung. Aruula kam nach vorn. »War was mit den Motoren?«, fragte sie, als hätte sie das Intermezzo von vorhin bereits vergessen. Was vielleicht das Beste war. »Alles wieder in Ordnung«, antwortete Aiko. »Wahrscheinlich hatte sich nur eine Treibstoffleitung zugesetzt. Der Sprit hat schließlich schon einige Jahre auf dem Buckel...«
* * *
Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden Männer sich wieder aus ihrem Versteck wagten, nachdem sich das fliegende Ding abgewandt hatte und in Richtung der Berge weitergezogen war. »Was war das?«, brach einer der beiden schließlich im abgehackt klingenden Gwich'in- Dialekt das atemlose Schweigen. »Ein fliegender Waal?« »Oder ein Gefährt?«, warf der andere ein, und seine Stimme bebte dabei. Er war auf einen Mauerrest geklettert und beschirmte seine Augen mit der Hand. Der Erste sprach aus, was sie beide vermuteten: »Ein... Götterwagen?« Wieder schwiegen die beiden. Aber ihre Entscheidung war längst gefallen. »Wir müssen den Häuptling unterrichten«, sagte der Erste schließlich. »Der Tag des Erwachens könnte bald -« »Still, Tama!«, fuhr ihm sein Begleiter über den Mund. »Beschwöre nicht das Zeitenende herauf! Vielleicht ist es nur die ruhelose Seele eines Waals... oder ein böser Zauber, der vorbeizieht und uns gar nicht bemerkt.« »Du hast Recht. Der Angakkoq soll das entscheiden.« Sie verloren kein weiteres Wort und eilten zu den Lupaschlitten, die windgeschützt in einer der Ruinen abgestellt waren. Nachdem sie die Jagdausrüstung verstaut hatten, lenkten sie die Gespanne hinter der Erscheinung her. *** Dawson, Kanada 18. Juli 2011, 04:38 PM »Kurzum: ein Arsch mit Ohren.«
»Du sagst es.« Dr. Amber Floyd stieß ein Seufzen aus. »Aber
wenn er sich zukneift, bevor Kryo 3 funktioniert, kann ich den Tank verschrotten.« Jack Nooga, am anderen Ende der Leitung, lachte. »Sorry«, entschuldigte er sich sofort. »Deine Ausdrucksweise... Natürlich drücke ich dir die Daumen, dass der Arsch... ähm... offen bleibt.« Nun musste auch Amber lachen. Es tat gut, mit Jack zu telefonieren. Ihr Ex-Mann hatte eine ganz besondere Art, sie immer wieder aufzumuntern. Und er war ein guter Zuhörer. Hatten sie sich durch ihre Karrieren nicht auseinander gelebt, wäre es sicher eine fast perfekte Ehe geworden. Doch Ambers Job bei den De Broglie Enterprises in Dawson und Jacks Beförderung zum Leiter der NWTPC in Fort McPherson hoch im Norden brachten es mit sich, dass sie sich zuletzt höchstens ein Mal pro Woche hatten sehen können - für eine dauerhafte Beziehung entschieden zu selten. Trotzdem waren sie nach der Scheidung gute Freunde geblieben, und da sie weder Kinder noch Haustiere gehabt hatten, gab es auch weder finanzielle noch emotionale Reibereien zwischen ihnen. Wann immer es ihnen möglich war, verbrachten sie sogar ihre Kurzurlaube miteinander. »Du weißt, ich bin immer für dich da«, drang Jacks Stimme aus dem Hörer. Er sprach ein etwas holpriges Englisch. Ein Erbe seiner Kindheit, denn seine Eltern waren Inuit aus dem nordwestlichen Territorium. Der Stamm hatte sein Gebiet mit reichen Erdgasquellen vor über vierzig Jahren an die NWTPC verkauft, und das Geld hatte den Kindern eine Schulausbildung und ein Studium in Dawson ermöglicht. Vor drei Jahren war das Energieversorgungsunternehmen dann größtenteils auf Trilithium-Kristalle umgestellt worden, und man ha tte Nooga in die Chefetage berufen. »Danke, Jack«, sagte Amber. »Und jetzt drück mir die Daumen. Da kommt Will Broden. Gleich werden wir versuchen, die inuat eines Hundes zurückzubringen.«
Am anderen Ende der Leitung ließ Jack Nooga ein Brummen hören, und Amber wurde sich bewusst, dass er noch immer an die alten Legenden und Riten seines Volkes glaubte. Für ihn wohnten in einem Lebewesen eine Vielzahl von inua; fehlte eines, erkrankte es. Es zu heilen war den Schamanen, den Angakkoq vorbehalten. Ein Tier zu neuem Leben zu erwecken, war allein das Vorrecht der Götter. »Dann pass gut auf, dass kein Tupilak daraus wird«, sagte er nur halb im Spaß. »Du weißt, was mit Dr. Frankenstein geschah.« »Wenn ich Elektrizität brauche, wende ich mich an dich«, scherzte Amber. »Du, ich muss jetzt auflegen. Danke fürs Zuhören.« »Grüß Jack von mir!«, raunte William Broden. »... und schöne Grüße von Will«, fügte Amber schnell hinzu, bevor sie den Hörer an die Gabel des Wandtelefons hängte. Dann wandte sie sich ihrem Assistenten zu. »Okay, Will. Gehen wir's an?« Dr. William Broden straffte sich und nickte. »Auf ein Neues. Einmal muss es ja klappen...« Sie gingen den Korridor zu den Labors hinunter, immer der roten Linie auf dem Fußboden nach. Amber fröstelte, als Jacks Worte noch einmal in ihr nachklangen. ›Pass gut auf, dass kein Tupilak daraus wird...‹ Der Tupilak war eine Gestalt aus den Inuit-Legenden, ein seelenloses Zaubertier aus Tier- und Menschenknochen, Erde, Tang und Fellresten. ›Was, wenn die Seele stirbt?‹, ging es Amber Floyd durch den Kopf. ›Diesen Aspekt haben wir in keinem der Versuche berücksichtigt.‹ ›Unsinn!‹, rief sie sich zur Ordnung. War sie Wissenschaftlerin oder ein abergläubisches Weib? Beim Kryo-Schlaf wurden die Körperfunktionen so weit reduziert, dass der Körper bis an die Grenze des Todes ging - aber nicht darüber hinaus. Sie
erweckten keine Toten, sie weckten Schlafende auf. »So nachdenklich heute?«, fragte Broden neben ihr. Amber schrak zusammen. Es dauerte einen Moment, bis sie eine plausible Antwort fand. »Ich hatte vorhin eine Unterredung... nun, wohl mehr einen Disput mit Mr. De Broglie. Er will uns die Mittel sperren, wenn wir in acht Wochen keine handfesten Resultate vorweisen können.« »Acht Wochen... heilige Tiefkühltruhe.« Will Broden verzog das Gesicht. »Konntest du nicht etwas mehr Zeit schinden? Acht Wochen sind verdammt knapp.« »Nicht wenn der Versuch heute gelingt.« Amber übte sich in Zweckoptimismus. Sie erreichten die Schleuse zum Labor, schlossen die Tür zum Gang und schlüpften in die he llgrünen Kittel. Mit dem Mundschutz und den langen grauen Gummihandschuhen sahen sie tatsächlich aus wie Dr. Viktor Frankenstein vor dem entscheidenden Versuch. Das Labor, das sie durch die innere Schleuse betraten, hatte mit Frankensteins Hexenküche allerdings wenig gemein. Helles Licht flutete den sterilen, in Kunststoff und Metall gehaltenen Raum, in dessen Mitte Kryo 3 stand. Das dritte Modell der Kryokammer hatte die Form eines schräg stehenden Zylinders, dessen unteres Drittel ein massiver Sockel mit der Elektronik bildete. Die nach oben gewandte Seite der Röhre bestand aus doppelt gefügten Panzerglasscheiben, zwischen denen feine Kühldrähte verliefen. De Broglie hatte auf einer transportablen Variante bestanden, nachdem Kryo 1 noch die halbe Laborwand eingenommen hatte. Amber trat an die Konsole, die in den Sockel eingelassen war, löste eine Sperre und zog den taschenbuchgroßen Controller hervor, eine Art Organizer ohne Display. Währenddessen wischte Broden mit dem Ärmel seines Kittels den Raureif vom Panzerglas. »So weit alles okay«, meldete er nach einem Blick in die
Röhre. »Das Objekt ist unverändert, Status Grün.« Amber aktivierte den Controller. »Voice-Control ein«, meldete das Gerät aus einem blechern klingenden Lautsprecher. »Abweichungen von den Normalwerten?«, fragte Dr. Floyd. »Negativ.« »Temperatur?« »Konstant bei minus achtundfünfzig Grad Celsius.« »Muskelabbau?« »Bei Null Komma zwei Prozent.« Dieser Wert war besonders wichtig, weil sich die Muskeln in der Stasis - wie auch in der Schwerelosigkeit - rasch abbauten. Wollte man verhindern, dass der Schläfer nach seinem Erwachen kraftlos in sich zusammenfiel, musste sein Muskelgewebe die ganze Zeit über von elektrischen Impulsen in Schuss gehalten werden. Will Broden sah auf das digitale Chronome ter. »Er liegt jetzt fünf Tage und acht Stunden im Eisfach«, sagte er. »Unser längster Lauf bisher.« Amber atmete tief durch. »Dann los. Reanimation starten!« »Sequenz läuft«, meldete der Controller. »Temperatur wird erhöht. Einleitung von Tripazen in den Blutkreislauf. Neuronale Stimulation bei vier Prozent.« »Behalte die internen Kontrollen im Auge«, ermahnte Dr. Floyd ihren Assistenten. »Bei der geringsten Abweichung gehen wir auf Stasis-Level zurück. Ich will nicht noch ein Versuchstier verlieren.« »Geht klar«, kam die Antwort. »Bisher sieht es gut aus.« Minuten verstrichen, in denen Ambers Anspannung kontinuierlich anwuchs. Der Angleich auf Normaltemperatur nahm die meiste Zeit in Anspruch, da das tiefgefrorene Fleisch äußerst behutsam erwärmt werden musste, um keine Gewebeschäden zu verursachen. Das Tripazen allein hätte das Blut schon nach wenigen Minuten wieder auf Normalwert gebracht.
Auch die »elektrische Massage« des Gehirns, wie Amber die neuronale Stimulation nannte, durfte nur langsam erfolgen, weil das Hirn ansonsten durch Reizüberflutung Schaden nehmen konnte. Nach zwanzig Minuten lag die Temperatur des Hundekörpers bei plus vierzehn Grad. Die ersten Muskelzuckungen und Bewegungen der Augenbälle hinter den geschlossenen Lidern waren jetzt erkennbar. Und noch immer gab es keine Komplikationen. Aber noch erlaubte sich Amber nicht zu hoffen. Bisher waren alle Versuchstiere - zuerst Ratten, dann Kaninchen, Katzen und schließlich Hunde - kollabiert. Die letzten beiden Hunde hatte es bei plus zehn und dreizehn Grad Celsius erwischt. Nach Auswertung aller Daten hatte Amber Floyd eine Neuprogrammierung der Reanimationssequenz vorgenommen. Mit Erfolg? Acht Minuten später erreichte das Versuchstier normale Körpertemperatur. »Alles im grünen Bereich«, meldete Will Broden. Seine Stimme bebte vor Erregung. »Countdown bei fünf... vier... drei... zwei... eins...« Amber Floyd schrak zusammen, als die Halteklammern rund um die Panzerglasscheibe nacheinander aufschnappten. Ein Zischen drang aus dem Zylinder. Und ein Winseln. Amber Floyd wurden die Knie weich, als ein nasser Hundekopf in der Öffnung erschien. Sie musste sich an einer Konsole abstützen. ›Er lebt! Herr im Himmel, er lebt!‹ Der Terrier-Labrador-Mischling machte einen Satz aus der Röhre und knickte in den Hinterlaufen ein. Er war zwar etwas wacklig auf den Beinen und schaute verschlafen aus der Wasche, schien aber keine Schäden davongetragen zu haben. »Guter Junge! Willkommen unter den Lebenden!« Will Broden kniete nieder und klopfte dem Mischling auf den Hals. Der Hund quietschte schrill und machte einen Satz zur Seite. »Hoppla - noch etwas empfindlich, was?« Broden nahm
entschuldigend die Arme hoch. »Sorry. War keine Absicht.« Er wandte sich an Amber. »Sieht gut aus. Was denkst du - haben wir den Durchbruch erzielt?« Dr. Amber Floyd war gefangen in einem Widerstreit der Gefühle. Erleichterung und unbändige Freude darüber, endlich ein positives Resultat zu haben, aber auch die Sorge, dass De Broglie dies nicht reichen könnte, vor allem, wenn Fortenskys Projekt weiterhin so rasante Fartschritte machte. »Ein Durchbruch, ja«, sagte sie schließlich. »Aber wir stehen noch immer am Anfang. Inwieweit können die Ergebnisse für menschliche DNA gelten? Unser Gehirn ist ungleich komplexer als das eines Hundes - wird es Schaden nehmen? Solange wir das nicht klären können, haben wir nichts erreicht. Und die Zeit läuft uns davon...« Dr. William Broden erhob sich langsam. Seine Miene verfinsterte sich zunehmend. »Du redest doch nicht etwa von einem Selbstversuch?«, fragte er. »Wie soll ich sonst -« »Bist du wahnsinnig?!«, fuhr er sie an. »Da schaffen wir es gerade mal, dass uns das Versuchstier nicht unter den Händen wegstirbt, und du redest davon, dich selbst einzufrieren?!« Er hämmerte die Faust gegen den Zylinder. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Amber war wie vor den Kopf gestoßen. Wills harsche Reaktion bestürzte sie. Aber ihr Kollege hatte natürlich Recht: Das Risiko war viel zu groß. Sie mussten erst weitere Versuchslaufe durchführen, bevor... Ein Winseln ließ sie herumzucken. Der Hund stand noch immer neben Kryo 3. Er hatte eine Vorderpfote zum Kopf gehoben und strich sich damit über die Schlafe, als säße dort etwas, das ihm Schmerzen bereitete. Und dann, von einem Moment auf den anderen, kippte er einfach um. Ein Zucken lief durch seinen Körper. Mit einem Sprung war Amber bei ihm und legte Zeige- und
Mittelfinger auf die Halsschlagader. Nichts. Sie zog ein Augenlid zurück. Der Blick war gebrochen. Fassungslos sah Amber Floyd zu William Broden hoch, der neben sie getreten war. »Er... er ist tot, Will.« *** Ehem. Nordwest-Territorium, Kanada Matt deutete voraus. »Seht ihr das?«, fragte er. »Da hinten scheint die Eisgrenze zu verlaufen!« In den letzten Stunden war der Schnee unter dem mit hundert Stundenk ilometern fahrenden Luftschiff stetig dünner geworden; Felsgruppen durchbrachen immer häufiger die blendend weiße Flache. Und nun war etwa sechs Kilometer in Fahrtrichtung ein dunkles Band mit nur noch vereinzelten Eisflecken zu sehen. »Wurde aber auch Zeit«, brummte Aiko am Steuer. Aruula sagte nichts. Als Matthew zu ihr hinüberschaute, bemerkte er den starren Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie stierte auf die Fläche jenseits des Eises, als gäbe es dort irgendetwas Sehenswertes. Dabei war nicht einmal ein Baum oder Strauch auszumachen. In dieser Region konnten sich höchstens Moose und niedere Pflanzen an die Felsen krallen. »Ist was mit dir?«, fragte Matt irritiert. Aruula schien wie aus einer Trance zu erwachen. Sie blinzelte. »Was? Oh, nein, nichts. Ich freue mich auch.« Sie lächelte ihm flüchtig zu. »Oh-oh«, machte Aiko Tsuyoshi. Sofort war Matt alarmiert. Er horchte auf das Geräusch der Motoren, konnte aber keine Unregelmäßigkeit heraushören. »Es ist das Helium«, erklärte Aiko. »Ich habe hier einen Verlust von fünf Prozent in der Hauptkammer.« Matt checkte die Instrumente. Noch während er die Anzeige betrachtete, stieg sie auf sechs Prozent. »Ein Leck?« Er trat
dicht an das Steuerbordfenster und blickte zur Hülle hinauf. »Möglich. Aber warum erst jetzt?« Aruulas behandschuhte Rechte schloss sich um den Griff ihres Schwertes. »Ein Tier vielleicht? Ein Eluu?« »Unwahrscheinlich in dieser Höhe und bei diesen Tempera... Moment mal!« Matt trat zurück an die Steuerkonsole. »Wo ist die Anzeige für die Außentemperatur?« »Hier.« Aiko wies auf das digitale Messgerät. »Liegt bei minus fünf Grad Celsius im Schatten.« »Und in der Sonne?« »Um einige Grad höher. Warum?« Im nächsten Moment erhellte sich sein Gesichtsausdruck. »Ah, ich verstehe. Ein feiner Haarriss im Material, der durch Eis versiegelt war -« »- und bei über Null Grad aufbricht!«, führte Matt den Satz zu Ende. »Können wir feststellen, wo genau das Helium entweicht?« Der Cyborg schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Und selbst wenn - wir kämen nicht an die Stelle heran. Dafür bräuchten wir einen Hangar.« »Verdammt!« Matt ballte die Hände zu Fäusten. Zwar waren sie nicht in Gefahr - sie konnten landen, lange bevor es kritisch wurde -, aber es widerstrebte ihm, das vorzügliche Transportmittel aufzugeben. Mit dem Zeppelin hätten sie die Reisedauer zum Kratersee drastisch verkürzen können. »Die Anzeige steht jetzt bei acht Prozent«, gab Aiko durch. Nervös rieb er Daumen und Zeigefinger der Rechten aneinander. »Bald werde ich die Höhe nicht mehr halten können.« »Können wir nicht alles rauswerfen, was uns nach unten zieht?«, fragte Aruula. »Gute Idee.« Matt zog sich die Uniformjacke über und knöpfte sie zu. »Zuerst die Sitze.« »Aber nicht alle!«, warnte Aiko von der Steuerkonsole her. »Wir werden eine Reserve brauchen.« »Warum?«
Er deutete nach vorn. Dort war am Horizont eine schwarze, unregelmäßig gezackte Linie aufgetaucht. »Die Richardson Mountains«, stellte er das Hindernis vor. »Laut der Karte bis tausendzweihundert Meter hoch. Es wäre nicht schlecht, wenn wir die noch passieren könnten, bevor wir auf Schusters Rappen umsteigen.« »Schusters Rappen?«, fragte Aruula. »Was sind das für Tiere? Und warum sollte dieser Schuster sie uns überlassen?« Matt klopfte gegen einen seiner halbhohen Armeestiefel. »Er meint Schuhe. Wir werden mal wieder laufen müssen.« Aruula stöhnte bei dem Gedanken. Entschlossen packte sie einen der Sessel und rüttelte daran. »Dann lass uns die Kammer leer räumen. Je weiter wir kommen, desto besser.« Die fest verschraubten Sitze gewaltsam zu lösen war schwieriger als gedacht. Sie hatten den zweiten gerade aus der Verankerung gerissen, als sich Aiko wieder meldete. »Sieht aus, als würde es da vorn brennen!« Matt wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zum Bug. In einiger Entfernung stieg in breiter Front Rauch auf. Nein, kein Rauch, verbesserte er sich. Dampf! »Das sind Nebelschwaden!«, sagte er. »In diesem Gebiet scheint es heiße Quellen zu geben. So wie am Bärensee auch.« Er erinnerte sich ungern an sein Abenteuer bei den dortigen Eisherrschern, das ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Aiko kniff die Augen zusammen. »Dahinter liegt eine weitere Ansiedlung!«, stieß er hervor. Jetzt sah Matt es auch. Ohne den Kontrast des Eises waren die Gebäude weitaus schlechter auszumachen. Zudem behinderten die weißen Schwaden die Sicht. Er warf einen Blick auf die Karte. »Könnte Fort McPherson sein. Siehst du Menschen?« Der Cyborg schüttelte den Kopf. »Zu weit entfernt. Ich kann näher heranfahren, aber dann verlieren wir kostbare Zeit.« »Wie steht es mit dem Helium?« »Achtzehn Prozent Verlust, davon neun in den letzten fünf
Minuten. Ich fürchte, der Riss dehnt sich aus.« »Dann sollten wir zusehen, dass wir über die Berge kommen«, entschied Matt. »Wie ist unsere Höhe?« Aiko warf einen Blick auf das Echolot. »Achthundert Meter über Bodenniveau. Das wird knapp, wenn wir nicht bald Ballast abwerfen.« Er blickte zurück, wo Aruula sich mit dem dritten Sessel abmühte. »Kannst du das Steuer übernehmen?«, bat er Matthew. »Ich würde sagen, dies ist ein Job für Aikoman, den Stählernen.« »Der noch vor dem Frühstück unschuldige Möbel schlachtet«, ergänzte Matt mit einem Grinsen, während er sich in den Pilotensitz gleiten ließ. Er wusste um Aikos bionische Kräfte. Die der Cyborg in den nächsten Minuten eindrucksvoll unter Beweis stellte, als er die Sessel aus dem Boden riss. Es folgten die Minibar am Heck und eine Truhe mit Werkzeug. Aruula öffnete den Ausstieg. Ein eiskalter Wind fauchte herein. Durch den plötzlichen Druckabfall schwankte die Gondel, aber Matt bekam den Zeppelin schnell wieder unter Kontrolle. Sieben der zwölf Sessel flogen hinaus. Der letzte klatschte in die Fluten eines kleinen Flusses, des Peel River. Die Richardson Mountains, die das Nordwest- vom Yukon-Territorium trennten, schienen schon zum Greifen nahe. Was Matt veranlasste, einen weiteren Blick auf die Instrumente zu werfen. »Heliumverlust bei vierundzwanzig Prozent!«, rief er nach hinten. »Höhe sechshundertvierzig Meter über Grund!« Er zog den Steuerkranz weiter zu sich heran und gab Vollgas. Die Motoren jaulten auf, doch an der Fluglage änderte sich nicht viel. »Werft mehr Ballast ab!« Weitere drei Sessel, die Werkzeugkiste und die Minibar kippten über den Rand in die Tiefe, trudelten abwärts und schlugen lautlos auf; zumindest konnte man von hier oben kein Geräusch hören. Der pfeifende Wind, der kalt hereinfuhr, übertönte alles. Aiko schloss die Tür wieder.
Die Höhenanzeige kletterte. »Sechshundertsechzig... Sechshundertachtzig... siebenhundert Meter!« Aiko kam nach vorn und suchte die Front der aufragend en Bergkette ab, die die Flughöhe deutlich übertraf. »Wir müssen eine Passage finden«, sagte er. »Wie wär’s damit?« Matt Drax deutete auf einen Einschnitt im Berg. Offenbar hatten ihn tektonische Bewegungen einst entstehen lassen, denn es sah aus, als hätte ein Riese den Fels mit seiner Axt gespalten. »Sieht nicht besonders breit aus«, gab der Cyborg zu bedenken. »Wir haben keine große Auswahl«, erwiderte Matt. »Uns bleibt keine Zeit, vor dem Berg zu kreuzen.« Er zeigte mit dem Kinn auf die Instrumente. »Siebenundzwanzig Prozent Verlust. Ich kann regelrecht spüren, wie die Kiste wieder absackt.« Der Höhenmesser bestätigte sein Gefühl: 670 Meter... 665... 660... Innerhalb einer Minute sank das Luftschiff um mehr als fünfzig Meter. »Soll ich die restlichen Sachen abwerfen?«, rief Aruula von hinten. Aiko wandte sich zu ihr um. »Nein! Die brauchen wir bei der Landung, sonst kommen wir zu hart runter! Wir werfen sie ab, kurz bevor wir aufprallen!« Im nächsten Moment bereute er seine Worte. Der Ausdruck auf Aruulas Miene schwankte zwischen aufkeimender Panik und purer Verzweiflung. Es wurde dunkel in der Kabine, als der N08 der De Broglie Enterprises den Eingang der Schlucht passierte. Plötzlich ragten bedrohlich nahe Felswände zu beiden Seiten auf. Matt hielt das Steuer locker, war aber bereit, auf jede Böe blitzschnell zu reagieren. Nun war sein Können als ehemaliger Air-Force-Pilot gefragt - auch wenn er noch nie zuvor einen Zeppelin geflogen hatte. Mit raschen Blicken hielt er die seitliche Distanz, den offenen Weg nach vorn und die Instrumente im Auge. Höhe:
560 Meter. Geschwindigkeit: 80 Stundenkilometer. HeliumVerlust jetzt bei 30 Prozent. Die Schlucht beschrieb einen sanften Bogen, dem Matt behutsam folgte. Die Felsen wichen etwas auseinander und ließen mehr Platz zum Manövrieren. Sie kamen gut voran. Ein Knirschen neben seinem Ohr ließ Matt zusammenzucken, doch es war nur Aikos künstliche Hand, die die Rückenlehne des Pilotensessels zerquetschte. »Du wirst langsamer!«, warnte er. Tatsächlich - nur noch 72 km/ h. Dazu ein Rütteln der Gondel, das mit jeder Sekunde stärker wurde. »Wir haben Gegenwind!«, erkannte Matt. »Was, zum Teufel...?« Die Sturmböe, die in diesem Augenblick das Luftschiff traf, schien ihm die Worte von den Lippen zu reißen. Die Gondel krängte schwer. Der Ballonkörper drehte zur Seite weg. Matt handelte augenblicklich, warf das Steuer herum und ließ den Backbordmotor auf Volllast laufen, während er den an Steuerbord drosselte. Der silbergraue Zeppelin schwang zurück zur Mitte der Schlucht. Von vorn erhellte für eine Zehntelsekunde ein grelles Licht den Dämmer zwischen den Felswänden. Ein Blitz! Und noch einer! »Ein Gewitter auf der anderen Bergseite!«, erkannte Aiko. Aruula war davon nicht überzeugt. »Orguudoo will uns vernichten!«, stieß sie hervor und fiel auf die Knie. »Wudan, steh uns bei!« Matt sagte nichts; stattdessen zerquetschte er einen Fluch zwischen den Zähnen. Gewitter tobten selten in engen Schluchten. Wenn die Blitze des Unwetters bis hierher zu sehen waren, mussten sie fast durch sein. Irgendwo dort vorn öffnete sich der Einschnitt des Berges, war freies Land. Genauso gut hätte er versuchen können, den Mond zu erreichen. Der Gegenwind peitschte den Zeppelin wie mit
riesigen Fäusten zurück; die Motoren schafften es nicht, dagegen anzukommen. Die einzige Chance war es jetzt, irgendwie heil aufzusetzen. Sie mussten zu Fuß weiter... Ein metallisch klingendes Geräusch riss Matts Kopf nach rechts. Der Steuerbordmotor! Die Maschine stotterte, setzte aus, lief noch einmal an und erstarb dann mit einem Knirschen. Im Licht der zuckenden Blitze konnte er sehen, wie die Rotorblätter zum Stillstand kamen. Matts Nackenhaare sträubten sich. Damit hatte sich das Thema »Landung« erledigt. Das Thema »heil« vermutlich auch. Noch stand der Zeppelin günstig; der Propeller links der Hülle kämpfte gegen den Sturm an, während der Heckmotor das fünfundsiebzig Meter lange Ungetüm im Gleichgewicht hielt. Ein Umstand, den schon die nächste kräftige Böe zunichte machen konnte. »Ich kümmere mich darum!« Mit einem Satz war Aiko an der Kabinentür. »Was hast du vor?«, brüllte Matt. Er konnte es sich nicht leisten, den Blick von den Felswänden zu nehmen. Doch der kalte Wind, der im nächsten Moment in die Gondel fuhr, ließ ihn ahnen, was der Cyborg plante. »Bist du wahns innig?« »Aiko - nicht!«, rief auch Aruula, doch der schüttelte ihre Hand ab, die ihn halten wollte. Er langte hinaus und ergriff eines der Stahlseile, die an den Seiten des Luftschiffs herab zur Kabine führten. »Aiko! Das ist Selbstmord!«, brüllte Matthew nach hinten. »Und wenn ich es nicht versuche, sterben wir alle!«, brüllte der Cyborg zurück. Und stieß sich ab. Mit kraftvollen Zügen seiner bionischen Arme hangelte er an dem Seil zum Steuerbordmotor empor, während der Zeppelin sich weiter drehte und wege n des Ungleichgewichts in eine Schräglage geriet. Aruula schaffte es gerade noch, sich festzuhalten, sonst wäre sie aus der Gondel gestürzt. Sorgenvoll blickte sie Aiko hinterher, der bereits die Hälfte des Weges
geschafft hatte. Ein Schlag ging durch das Schiff, als die linke Heckflosse über den Felsen schabte. Der Sturmwind trieb den N08 immer weiter zurück. Matt erhöhte die Leistung der beiden verbliebenen Motoren, doch er spürte unter den Fingerkuppen, wie ihm die Kontrolle entglitt. Draußen erreichte Aiko Tsuyoshi den Motorblock, fasste hinauf und zog sich mit einem kraftvollen Ruck auf das Gestänge des Propellers. Der Sturmwind griff in seine Kleidung und ließ seinen geflochtenen Zopf peitschen. Aruula beugte sich so weit vor, wie sie es riskieren konnte. Die Sorge um Aiko ließ sie die Angst vor der Höhe fast vergessen. Sie sah, wie er sich auf den Motor zog und eine Klappe in der Abdeckung öffnete. Wieder schrammte das Luftschiff über Fels. Matt hielt unwillkürlich den Atem an. Musste die Hülle nicht jeden Moment endgültig einreißen? Nein, sie hielt. Noch. Der N08 federte zurück, bevor ihm eine vorstehende Felsnase den Garaus machen konnte, drehte sich aber weiter - zur falschen Seite! Es half nichts, den intakten Backbordmotor zu drosseln. Matthew konnte das Luftschiff nicht länger halten. Es schwang weiter herum, stellte sich quer. »Festhalten!«, brüllte Matt nach hinten und hoffte, dass auch Aiko die Gefahr kommen sah. Im nächsten Moment riss ihn der Ruck aus dem Pilotensessel. Nase und Heck des Luftschiffs berührten beidseitig die Wände der Schlucht und keilten sich fest. Für eine Sekunde. Dann geschah, was unvermeidbar war: Die Hülle riss ein. Seines Halts beraubt, trudelte der Zeppelin weiter. Matt hatte das Gefühl, in eine Achterbahn mit Looping ge raten zu sein. Die Kabine drehte sich um ihn. Seine Hände tasteten wild umher, bekamen ein Gestänge zu fassen. Für eine Sekunde sah er Aruula, die sich im Rahmen des Ausstiegs festkrallte. Sie schrie.
Draußen raste die Felswand heran. Der nächste Schlag. Aruula wurde in die Gondel geschleudert, als diese mit voller Wucht gegen den Fels knallte. Der Boden stellte sich fast senkrecht auf. Die beiden verbliebenen Sitze rutschten haltlos nach vorn gegen die Frontscheibe und zerschmetterten sie. Aruula folgte auf dem gleichen Weg - als Matt sie an ihrer Fellhose zu fassen bekam. Mit der Rechten hielt er weiter das Gestänge umklammert, mit der Linken bewahrte er seine Geliebte vor dem Sturz aus dem Bug der Gondel. Ob dies letztlich etwas an ihrem Schicksal änderte, war fraglich. Die Ballonett-Hülle, an mehreren Stellen eingerissen, hatte fast ihr ganzes Helium verloren; nur eine Kammer schien noch intakt. Der Grund der Schlucht kam unaufhaltsam näher. Die Reparatur des Motors hatte sich für Aiko Tsuyoshi erledigt. Jetzt war der Cyborg allein damit beschäftigt, die verbleibenden zweihundert Meter nicht im freien Fall zurückzulegen. Funken sprühten aus dem Gestänge, das an der Felswand entlang schrammte. Die Vibrationen waren kaum zu ertragen, doch Aikos bionische Hände ließen nicht los. Neben ihm sackte die silbergraue Hülle des Zeppelins in sich zusammen. Immer schneller ging es hinab. Die Gondel konnte er nicht sehen, aber er hörte Aruulas Schrei. Ein Schauer überlief ihn. Sollte es so enden - zerschmettert in einer namenlosen Schlucht am Ende der Welt? Das Stahlseil, an dem er zum Motorblock hinaufgehangelt war, peitschte ihm gegen die Hüfte. Aikos von Implantaten unterstütztes Gehirn brauchte nur eine Nanosekunde, um die Chance zu erkennen - vielleicht ihre einzige. Er löste eine Hand vom Gestänge und schnappte sich das Seil. Es war noch immer mit Antrieb und Gondel verbunden. War es stark genug, sie zu halten, wenigstens aber den Sturz zu bremsen...? Der Boden kam näher. Noch hundert Meter. Achtzig. Siebzig... Aiko suchte auf dem Motorengehäuse Halt, so gut es ging. Er
brauchte eine Fläche, um sich im richtigen Moment abzustoßen. Dieser Moment ergab sich einen Wimpernschlag später. Ein Felsvorsprung raste zwei Meter links von ihm heran. Und Aiko wagte das Unmögliche. Den Arm mit dem Stahlseil vorgestreckt, stieß er sich ab, hechtete entlang der Wand auf die Felsnase zu - und darüber hinweg. Ein ohrenbetäubendes Kreischen erklang, als der Metallstrang über den Stein ratschte. Der Motorblock wurde nach oben gerissen und wirbelte, vom Schwung getrieben, mehrfach um den Vorsprung. Zu diesem Zeitpunkt hatte Aiko das Seil längst losgelassen. Ihm war klar, dass seine eigenen Überlebenschancen verschwindend gering waren; einen Sturz aus zwanzig Metern Höhe auf felsigen Boden würde nicht einmal sein Vater Miki Takeo mit seinem Androidenkörper überstehen. Doch das Glück war ihm diesmal wohl gesonnen. Ein dunkler Schatten kam seitlich auf ihn zu, und noch bevor er erkennen konnte, was es war, traf ihn bereits die schlaffe Hülle des Zeppelins. Weiter oben schrammte die Gondel in einem Bogen über den Fels, als das Stahlseil sich straffte und den Sturz drastisch abbremste. Aiko krallte seine Finger in das Material. Seine bionischen und organischen Muskeln spannten sich aufs Äußerste an. Der Ruck raubte ihm fast das Bewusstsein. Schwärze drang von allen Seiten auf ihn ein. Wie von fern hörte er die Hülle reißen, fühlte, wie er weiter absackte. Dann ein Schlag in seinem Rücken. Ein scharfer Schmerz an seinem Kopf. Ein Schrei, den er noch als seinen eigenen erkannte. Dann nichts mehr... *** Der Häuptling blieb stehen und blickte in das Halbdunkel der Schlucht hinein. »Sollen wir ihm weiter folgen?«, fragte er mehr
sich selbst als einen der sieben Männer, die ihn begleiteten. Trotzdem erhielt er Antwort. »Wir haben die Pflicht«, sagte Uimag, der Schamane des Dorfes, ein vom Alter gebeugter Mann mit verwittertem Gesicht. »Und wenn es gar kein Abgesandter der Großen Mutter ist?«, zweifelte der Häuptling. »Wer weiß, was Tama und Nakuut wirklich gesehen haben?« Die beiden Jäger fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt, und Tama begehrte auf: »Es war ein Götterwagen, groß wie ein Waal! Ein fliegender Waal!« »Auf jeden Fall war es kein Trugbild«, nahm der Schamane sie in Schutz. »Oder wie sonst erklärst du dir die Dinge, die wir am Boden zerschmettert gefunden haben?« Nachdem die Jäger sie benachrichtigt hatten, waren sie rasch aufgebrochen und in die angegebene Richtung gezogen, wo sie bald auf Gegenstände stießen, die nur von dem Götterwagen oder was es auch sein mochte - stammen konnten: drei Sessel, seltsame Werkzeuge und zuletzt einen Kasten mit zersplittertem Glas, der scharf und ätzend roch. Uimag ahnte, was der wahre Grund für Tanuuqs Ablehnung war: Der Häuptling hatte erkannt, dass er mit seinem Plan, in das verbotene Dorf überzusiedeln, gegen den Willen der Götter handelte. Und fürchtete nun die Strafe. Deshalb wollte er sich dem Argument auch nicht fügen. »Selbst wenn es ein Götterwagen war, er ist weitergezogen«, sagte er bestimmt. »Er wollte also nichts von uns.« »Dann geh zurück zum Dorf«, sagte Uimag. »Ich werde hier bleiben und meditieren. Vielleicht enthüllt mir die Große Mutter...« Ein leises Krachen aus der Schlucht ließ ihn verstummen. »Was war das?«, fragte Nakuut erschrocken. »Donner«, entgegnete der Häuptling. »Hast du Angst vor einem Gewitter?«
»Nicht nur Donner!«, zischte der Schamane und griff unwillkürlich nach dem Knochenmesser, das an einer Lederschnur um seinen Hals baumelte. »Still!« Jetzt hörte man es deutlich: Neben dem Donnern klang ein metallisches Kreischen wie der Schrei einer riesigen Kreatur durch die Klamm - ein Kreischen, das rasch näher kam! »Der Götterwagen!«, keuchte einer der anderen Männer. »Er kehrt zurück!« »Kniet nieder!«, rief der Schamane, als er befürchten musste, dass der Haufen kopflos die Flucht ergriff. »Zeigt Ehrfurcht im Angesicht des Götterboten!« Widerwillig folgten sie dem Befehl. Auch Tanuuq ließ sich auf ein Knie herab und schaute mit einer Mischung aus Trotz und Furpht in die dämmrige Schlucht. Dort waren jetzt der Widerschein von Blitzen und wirbelnde Schatten an den Wänden zu sehen. Die Götter verstanden es, einen Auftritt dramatisch zu gestalten. Derart dramatisch hätte aber selbst der Schamane die Ankunft des Götterwagens nicht vermutet: Hinter einer Biegung schoss plötzlich ein gewaltiges Etwas hervor, das wie ein silbernes Tuch im Wind flatterte und funkensprühend an der Wand entlang zu Boden stürzte. Ein menschlicher Körper löste sich aus dem Tuch und fiel die letzten fünf, sechs Meter herab. Ein Stahlkäfig folgte ihm und schlug nur wenige Meter entfernt auf. Für Uimag war es offensichtlich: Der Götterbote war in Schwierigkeiten. Wenn es denn ein Bote der Großen Mutter war, der da am Boden lag. Kaum anzunehmen, dass er hierher gekommen war, um vor ihren Augen zu sterben. Aber diese Überlegungen waren zweitrangig. Egal ob Götterbote oder Mensch - sie mussten ihm helfen! Die anderen erhoben sich. Auch ihnen stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben, der sich beim Häuptling mit Erleichterung mischte.
»Worauf wartet ihr?!«, rief der Schamane. »Er braucht unsere Hilfe!« Gemeinsam liefen sie hinüber zu den Resten des Götterwagens, der all seinen Zauber verloren hatte. Aus der Nähe betrachtet wirkte er wie ein Wirrwarr aus zerfetzten Stoffen, verbogenem Metall und zerbrochenem Glas. Derjenige, der darin gereist war, lag reglos auf dem felsigen Grund. Uimag wagte sich als Erster an ihn heran. Er kniete nieder und drehte den Kopf des Fremden. Und zuckte verblüfft zurück. Der Mann hatte Gesichtszüge, die den ihren nicht unähnlich waren, mit weniger ausgeprägten Wangenknochen und einem helleren Teint, aber doch vom selben Schlag! Beinahe wie ein Mischling aus Weißem Mann und Inuit. »Lebt er?«, fragte der Häuptling hinter ihm. Uimag tastete nach der Halsschlagader. »Ja«, sagte er dann. »Er lebt.« In diesem Moment erblickte er die klaffende Wunde am rechten Unterarm des Mannes. Eine Wunde, in der es silbern schimmerte. »Er ist verletzt«, fuhr er fort, »aber er blutet nicht! Er kann kein Mensch sein!« Gemurmel wurde hinter ihm laut, und das Scharren von Sohlen auf Stein zeigte an, dass einige aus der Gruppe respektvoll oder erschrocken zurückwichen. Die alten Legenden waren plötzlich sehr lebendig in ihren Köpfen... »Aber ein Götterbote kann er auch nicht sein!«, beharrte der Häuptling. »Die Große Mutter hätte ihn nicht zu Boden geschmettert, wenn er in ihren Diensten reisen würde. Vielleicht ist es ein Dämon, der uns verderben soll...?!« Von einem Augenblick zum anderen senkte sich angespannte Stille über die Gruppe, untermalt nur vom fernen Donnern. Und von einem Stöhnen, das aus den Trümmern des Götterwagens drang! Uimags Kopf ruckte hoch. »Er ist nicht allein gekommen!«, flüsterte er. Und sah aus den Augenwinkeln, wie Tanuuq die Hand auf das Fischbeinmesser an seiner Seite legte.
Kein Zweifel, der Häuptling hatte Angst. Angst, dass das Zeitenende gekommen war, womöglich durch seine Schuld. Und er würde alles tun, um die Gefahr abzuwenden. Auch wenn dies bedeutete, die Boten der Großen Mutter zu töten... *** Dawson, Kanada 19. Juli 2011, 05:20 AM Dr. Amber Floyd hatte schlecht geschlafen. An den letzten Albtraum konnte sie sich noch erinnern: Sie hatte ein Tupilak aus den Kadavern von Hunden und Menschen und dem Kopf von Claude De Broglie zusammengenäht, der ihr während der Operation ständig Vorhaltungen machte, sein Geld zu verschwenden und den Zeitplan nicht einzuhalten. Bis sie ihm den Mund zunähte... Nun fühlte sie sich wie gerädert - und hoffnungsloser als je zuvor. Da nutzte auch der Kaffee wenig, den sie sich an einem Automaten gezogen hatte und der durch den Plastikbecher hindurch ihre Hände wärmte. Was war schief gelaufen gestern Nachmittag? Alles hatte so gut ausgesehen. Und dann war der Versuchshund doch noch kollabiert. Eine erste Untersuchung hatte ergeben, dass er an einem Hirnschlag gestorben war. Die Gefäße waren regelrecht explodiert. Gähnend schob Amber die Schleuse zum Labor auf. Um diese Zeit lag der Komplex wie ausgestorben da. Die meisten Kollegen arbeiteten bis spät in die Nacht; auc h Amber selbst war sonst selten vor drei Uhr im Bett und vor neun wieder auf den Beinen. Sie zog den Kittel über - auf Mundschutz und Handschuhe verzichtete sie diesmal - und öffnete die innere Schleuse. Das helle Licht blendete sie. Mit zusammengekniffenen Lidern trat sie zu einer der drei Kühlkammern, zog die Schublade auf
und - blickte ins Leere. Falsche Kammer. Links daneben... auch leer. Und rechts... ebenso. Schlagartig war Amber hellwach. Verdammt, welcher Idiot hatte die Leiche des Hundes entsorgt? Die Untersuchungen waren noch lange nicht abgeschlossen! Eilig kehrte sie zur Schleuse zurück und stürmte in den Gang. Mit dem Aufzug fuhr sie in den Keller hinunter, wo der Sammelbehälter für die organischen Abfälle stand. Sie kam gerade noch rechtzeitig. Der Bedienstete, der jeden Morgen um halb sechs die Kadaver im hauseigenen Brennofen entsorgte, hatte bereits mit der Arbeit begonnen. Aber sie musste erst ein unerwartetes Hindernis überwinden, das sie wertvolle Zeit kostete: Auf der Klinke des Verbrennungsraumes saß eine fette Spinne. Amber überwand ihre Abscheu und fegte sie mit dem Ärmel ihres Kittels zur Seite. Der Gestank raubte ihr den Atem, als sie in den Raum trat. »Stopp!«, rief sie, als sie den Terrier-Labrador-Mischling in den Armen des Mannes sah. »Ja, Ma'am? - Oh, Dr. Floyd!« Seine Miene hellte sich auf. Amber wusste, dass der stämmige, etwa fünfundzwanzig Jahre alte Tornat - ein alaskanischer Inuk - sie heimlich anhimmelte. Vermutlich weil er wusste, dass sie schon einmal mit einem Landsmann verheiratet gewesen war. »Was kann ich... äh... für Sie tun?« Es war ihm offensichtlich peinlich, mit einem Kadaver in den Armen vor ihr zu stehen. Ein Blumenstrauß wäre ihm vermutlich lieber gewesen. Amber nicht. Ein toter Hund war jetzt genau das, was sie wollte. Sie lächelte Tornat an - und führte das weitere Gespräch auf Gwich'in, der Sprache seiner Heimat, die Jack ihr beigebracht hatte. »Überlassen Sie mir den?«, bat sie und deutete auf den Mischling. »Die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen.« Für einen Moment war er verblüfft, dass sie in seinem Idiom
mit ihm redete, dann strahlte er wieder. »Aber klar! Ich bringe ihn auch gern hoch in Ihr Labor.« »Danke, das schaffe ich schon selbst«, blockte Amber ab. Die Enttäuschung über das fehlgeschlagene Experiment und der Ärger über die vorschnelle Entsorgung des Kadavers waren noch zu frisch, als dass sie ein Schwätzchen mit Tornat hätte genießen können. Fünf Minuten später lag der Kadaver wieder auf der Metallplatte ihres Seziertischs. Weitere fünf Minuten darauf hatte sie eine Hirnprobe entnommen und in das Analysegerät gefüllt. Es dauerte eine halbe Stunde, bis erste Ergebnisse auf dem Spektrometer sichtbar wurden. Um sechs Uhr siebzehn stieg Dr. Flodys Adrenalinspiegel dramatisch an. Die Analyse ergab eine unbekannte Substanz im Gehirn, die dort nicht hingehörte. Sie überlegte, ihren Assistenten hinzuzuziehen, entschied sich dann aber dagegen. Broden hatte zusammen mit ihr bis spät in die Nacht die erste Untersuchung durchgeführt; ihn zu wecken wäre nicht fair gewesen. Den Molekular-Splitter konnte sie auch ohne ihn bedienen. Sie startete Will Brodens Computer, gab das Passwort ein und wartete ungeduldig darauf, dass er hochfuhr. Nervös griff sie zu dem Becher mit Kaffee, nahm gedankenverloren einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. Die braune Brühe war eiskalt geworden. Während sie das Gesöff noch in den Becher zurück spuckte, erhellte sich der Bildschirm. Eine elektronische Stimme sagte: »Sie haben Post!« Aus alter Gewohnheit drückte Amber die ENTER-Taste, bevor ihr bewusst wurde, dass sie nicht an ihrem eigenen Rechner saß. Zu spät. Das Mail-Programm öffnete sich und zeigte eine Meldung, die lediglich aus einer Zeile bestand: NEUE LIEFERUNG M 07/19 Amber starrte darauf, ohne zu begreifen. Weder, was diese offensichtlich codierte Nachricht in Wills Mailbox zu suchen
hatte, noch den Wortlaut selbst. Die Zahlen konnten das heutige Datum bedeuten, den 19. Juli, aber was war »M«? Neugierig geworden, betätigte Amber den Antwort-Button. Ein Fens ter zum Verfassen einer E-Mail erschien, in der obersten Zeile die Adresse des Absenders:
[email protected]. Das Blut wich aus Amber Floyds Gesicht. OFL - Otto Fortensky Laboratories. Sie wusste, dass ihr Konkurent um die Entwicklung einer Kryokammer eine Niederlassung in der Schweiz besaß. Dass von dort aus eine Mail an William Broden abgegangen war, ließ nur einen Schluss zu: Sie standen in Verbindung. Amber merkte, dass ihre Hände zitterten. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Das kann nicht sein! Nicht Will! Aber Fortenskys Fortschritte... Trotzdem, er würde doch niemals... nie? Jeder hat seinen Preis. Sabotiert er unsere Forschungen? Ist er Schuld am Tod des Mischlings? Aber wie hat er es gemacht? Und was ist »M«? An dieser Stelle machte es »Klick« in ihrem Verstand, und das Gedankenkarussell kam zum Stillstand. Sie hatte gelernt, Probleme durch logisches Vorgehen zu bewältigen. Die Lieferung »M« war der beste Ansatzpunkt. Wenn sie Brodens Post abfing, würde sie zumindest dieses Rätsel lösen. Vielleicht ergab sich dadurch auch der Rest...? Mit noch fahrigen Fingern schloss Amber das Mailprogramm und löschte die Nachricht, erst vom Bildschirm, dann aus dem virtuellen Papierkorb. Will durfte sie nicht lesen, wollte sie ihm zuvorkommen. Mit erzwungener Ruhe manipulierte Amber auch noch das Benutzerprotokoll, bevor sie Brodens Rechner herunterfuhr und ausschaltete. Selbst Maus und Tastatur drapierte sie so, wie sie sie vorgefunden hatte. Schließlich war sie sicher, dass ihr Assistent den Zugriff nicht bemerken würde. Blieb der Hund. Wenn ihr Verdacht stimmte, war anzunehmen, dass Broden den Kadaver in den Abfall
befördert hatte. Sie entnahm ihm eine weitere, größere Hirnprobe, brachte sie unter falschem Etikett in einer Kühlbox unter und schaffte den Mischling wieder hinunter zu Tornats Brennofen. Zuvor säuberte sie sorgfältig den Seziertisch und die Instrumente. Abschließend rief sie bei der Poststelle an und bat, sie umgehend zu informieren, »wenn die Lieferung für ihr Labor eintraf, die ihr Assistent bestellt hatte.« Um sieben Uhr achtzehn schloss Dr. Amber Floyd die Tür ihres kleinen Apartments hinter sich. Als die Anspannung der letzten Stunde sich endlich löste, wurden ihr die Knie weich. Sie ließ sich aufs Bett sinken und heulte vor Wut und Enttäuschung hemmungslos in die Kissen. *** Richardson Mountains, Kanada 3. August 2518 Es gab sicherlich schönere Bilder, die man beim Erwachen sehen wollte, als sechs mehr oder minder grimmig dreinblickende Eingeborene, die mit Speeren und Messern auf einen zielten. Außerdem hätte Matthew Drax es vorgezogen, keine Schmerzen am ganzen Körper zu verspüren, als er nach dem Absturz zu sich kam. Aber er konnte es sich wohl nicht aussuchen. »Bleib ganz ruhig«, raunte Aruulas Stimme rechts neben ihm. Gott sei Dank, sie war am Leben. »Die scheinen mehr Angst vor uns zu haben als wir vor ihnen.« Matt drehte den Kopf, was umgehend mit einem stechenden Kopfschmerz bestraft wurde. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Nur zu genau erinnerte er sich an die Eskimos, die ihn am Großen Bärensee den Walen zum Fraß vorgeworfen hatten. Aber dann beruhigte er sich wieder. Das konnte nicht das gleiche Volk sein; zu groß war die Entfernung, und auch ihre
Kleidung war anders. »Wer sind die?«, fragte er gepresst. »Keine Ahnung. Aber sie kümmern sich um Aiko.« Aruula deutete mit dem Kinn nach vorn, und Matt sah den Cyborg reglos am Boden liegen. Zwei weitere Männer untersuchten ihn, dann hob einer den Kopf und rief etwas in einer Sprache, die Matt nicht verstand. Aruula sog die Luft ein. »Was ist?«, fragte Matt alarmiert. »Denkst du, Aiko...« »Nein, nein, er lebt«, erwiderte Aruula rasch. »Es ist nur... ich kann die Sprache verstehen. Nun ja, Bruchstücke davon. Sie ähnelt einem Dialekt meines Heimatvolks!« Matt wusste, dass das »Volk der Dreizehn Inseln«, dem Aruula entstammte, in Skandinavien beheimatet war. Wie konnte es sein, dass... Natürlich, erkannte er im nächsten Augenblick. Das hier waren Eskimos. Durchaus möglich, dass es unter den nordischen Völkern zu einem Austausch gekommen war in den Jahrhunderten, in denen das Eis eine einzige riesige Landmasse gebildet hatte. »Dann sag ihnen, dass wir keine bösen Absichten haben!« Die Frau mit dem wilden schwarzen Haar öffnete den Mund und sagte: »Wir hier mit Frieden! Feinde nicht!« Uimag musste die Worte zwar im Geiste sortieren, aber er verstand ihren Sinn. Das freute ihn, erleichterte es doch die Verständigung. Sie und der Mann, beide Weiße, mussten die Begleiter des Götterboten sein, oder seine Diener. Uimag legte die Hand auf seine Brust. »Ich bin Uimag, der Angakkoq.« Er wies auf den Boten. »Er ist verletzt. Wir bringen euch in unser Dorf, dort können wir ihn besser versorgen. Hat die Große Mutter euch geschickt? Warum fiel euer Götterwagen zur Erde?« Vielleicht hatte er die Frau überfordert, denn sie sah ihn ratlos an und redete dann in einer fremden Sprache mit ihrem Begleiter. »So weit ich verstanden habe, heißt der Typ Uimag und ist ein
Angakkoq - keine Ahnung, was das ist. Vielleicht ein Göttersprecher. Er will uns in sein Dorf bringen, um Aiko zu behandeln. Und dann fragte er nach unserer Mutter und warum ihr Wagen den Gott auf die Erde gebracht hat.« Aruula zuckte mit den Schultern. »Ich versteh’s auch nicht ganz.« »Denken die etwa, Aiko wäre ein Gott?«, überlegte Matt. »Na, auf jeden Fall sollten wir sein Angebot annehmen. Uns bleibt wahrscheinlich gar keine Wahl...« Er rappelte sich hoch. Seine Gelenke schmerzten, und er konnte bereits die blauen Flecken wachsen fühlen, die er sich zugezogen hatte. Aber wenigstens war nichts gebrochen oder verstaucht. Auch Aruula erhob sich ohne größere Probleme. »Sag ihm, Mutter ginge es gut und wir würden mit ihm gehen«, fuhr er fort. »Mutter dankt gut, Uimag«, sagte die Frau. »Wir mit gehen.« Ein Schauer durchlief Uimag. Es schien, als kämen die Fremden tatsächlich im Auftrag der Großen Mutter. Das war auch Tanuuq nicht entgangen; er zuckte zusammen und krampfte die Hand fester um sein Messer. Der Schamane hoffte, dass sich der Häuptling nicht zu einer verhängnisvollen Reaktion hinreißen ließ. Möglich, dass der Bewusstlose ein Bote der Großen Mutter war, aber sein Auftreten hatte nichts Bedrohliches. Uimag war geübt darin, Zeichen zu erkennen. Wäre der Bote hier, um das Zeitenende heraufzubeschwören, hätte er sich gewiss nicht in diese hilflose Lage gebracht. Nein, Uimag war sich jetzt fast sicher, dass die Große Mutter sie alle prüfen wollte. Und dies war der erste Test! Er trat neben den Häuptling und legte ihm die Hand auf den Messerarm. »Handle nicht vorschnell!«, raunte er ihm zu. »Ich glaube, wir sind nicht in Gefahr. Lass uns erst reden, im Dorf.« Tanuuq sah ihn skeptisch an. Dann entspannte er sich. »Gut. Bringen wir sie ins Dorf, dann beraten wir.« Er wandte sich zu der Gruppe um und klatschte in die Hände. »Baut eine Trage! Wir kehren ins Dorf zurück!« Sie waren etwa eine halbe Stunde gelaufen, als Aiko zu sich
kam. Schnell trat Matthew an die Trage, die von einem gehörnten Tier, einer Art Ren gezogen wurde. Die Lider des Cyborgs flatterten, aber sein Blick war klar. »Bevor du dich mit Fragen überanstrengst«, sagte Matt, »wir haben den Absturz überstanden, wurden von einheimischen Eskimos gefunden und sind gerade auf dem Weg in deren Dorf. Aruula versteht halbwegs ihre Sprache, sodass wir uns verständigen können. Sie scheinen nicht gerade begeistert von unserer Anwesenheit zu sein, bleiben aber friedlich bis jetzt... Ach ja, und sie halten dich wohl für einen Gott.« Er grinste. »Herzlichen Glückwunsch. Ist mir auch schon mal passiert.« Aiko schien für humorige Bemerkungen noch nicht bereit. Sein Blick war nach innen gekehrt, als würde er lauschen. Erst nach einigen Sekunden sah er Matthew an. »Entschuldige, ich musste erst mein Diagnoseprogramm beenden«, sagte er. »Bis auf eine Hautverletzung am rechten Unterarm und einigen Schürfwunden am Kopf scheint alles okay zu sein. Wie geht es dir und Aruula?« »Kratzer und blaue Flecke, sonst nichts«, antwortete Matt. »Ich vermute, das haben wir dir zu verdanken.« »War mir ein Vergnügen.« Er richtete sich halb auf, langte mit der unverletzten Linken in eine Hosentasche und zog die Plastikflasche mit Regenerationssalbe hervor, die er auf der Armwunde verteilte. Das Gel würde den Hautriss binnen weniger Minuten schließen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Matthew, dass zwei der Eskimos, der Schamane und vermutlich der Häuptling, ihrer Unterhaltung kritisch folgten. Sie scheinen sich zu überlegen, wie sie die Fremden einordnen sollten - als Freund oder Feind. Dabei setzte der Häuptling die eindeutig finsterere Miene auf. Hoffentlich kein böses Omen... ***
Dawson, Kanada 19. Juli 2011, 09:58 AM Ambers Atem ging stoßweise, als sie die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich schloss. Das letzte Stück Gang war sie gelaufen, in der Angst, doch noch Will Broden zu begegnen. Sie ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder. Ihre Finger zitterten leicht, als sie das in braunes Packpapier gehüllte Päckchen aufriss. Die Poststelle hatte sie verständigt, als es mit der Morgenpost eingetroffen war, und Amber Floyd hatte sich beeilt, es abzuholen, bevor es den Weg zu Dr. William Broden nehmen konnte. Es trug keinen Absender. Logisch. Fortensky hätte schon völlig verblödet sein müssen, es der Konkurrenz so einfach zu machen. Vorhin hatte Broden übers Haustelefon angerufen und sich nach Ambers Verbleib erkundigt. Sie hatte vorgegeben, ihr ginge es nicht gut; die Enttäuschung des gestrigen Abends und eine schlaflose Nacht hätten sie bewogen, in ihrem Apartment zu bleiben. Nun war sie ihn für ein paar Stunden los; Stunden, die sie zu nutzen gedachte. Mit einem letzten Ruck fetzte sie das braune Papier zur Seite. Zum Vorschein kam ein Behälter aus Styropor, auf dem ein Totenkopf-Aufkleber prangte. Na, das fing ja gut an... und bestätigte ihren Verdacht. Vorsichtig öffnete sie den Kasten. Darin steckten Ampullen in drei Vertiefungen. In einer weiteren lag ein breiter Fingerring mit einem Dorn auf der Außenseite. Eine Plastikkappe war über den spitzen, etwa einen halben Zentimeter langen Stachel gestülpt. Amber nahm den Ring und betrachtete ihn genauer. Als sie die Kappe abzog, konnte sie feine Rillen im Dorn erkennen - geeignet, um Flüssigkeit aufzunehmen. Sie legte den Ring zurück und zog eine der Ampullen hervor. Zwei Zentiliter einer farblosen Flüssigkeit schwappten darin, zweifellos dazu gedacht, den Ringstachel damit zu tränken. Amber besah sich das Etikett. »Metrazol-Konzentrat« stand darauf. Die Bezeichnung sagte ihr nichts. Aber sie begann mit
»M« - wie in der Mail an William Broden angekündigt. »Das kriegen wir auch noch raus«, presste Amber hervor, zog sich ihren Laptop heran und schaltete ihn ein. Die Verbindung ins Internet stand in wenigen Sekunden. Sie rief eine Suchmaschine auf und tippte »Metrazol« in das Eingabefeld. Kurze Zeit später hatte sie einen angezeigten medizinischen Artikel überflogen und wusste Bescheid. Metrazol war die Kurzbezeichnung für ein Medikament namens Pentylenetetrazol, das wegen seiner hirnschädigenden Wirkung schon vor Jahren vom Markt genommen worden war. Amber Floyd fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Gehirnschlag des Hundes war keine Folge des Kryoschlafes oder der Reanimation gewesen - Dr. William Broden hatte ihn bewusst herbeigeführt. Deutlich erinnerte sich Amber daran, wie er den Hals des Mischlings getätschelt hatte. Dabei musste er ihm mit einem präparierten Ring wie diesem hier die Substanz verabreicht haben. Es hatte nur wenige Minuten gedauert, bis sie durch die Blutbahn das Hirn erreichte... Ambers Nervosität wurde abgelöst durch kalte Wut. Im ersten Affekt wollte sie aufspringen und ins Laber stürmen, um Broden das Metrazol unter die Nase zu reiben - vielleicht sogar wortwörtlich. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie keine stichhaltigen Beweise für seine Verbindung zu Fortensky hatte. Broden würde die Schuld auf sich nehmen, und der Kurpfuscher aus Milwaukee, der eigentlich Schuldige, kam ungeschoren davon. Die verräterische E-Mail hatte sie gelöscht, das Päckchen war ohne Absender, und das Metrazol in der Hirnprobe allein war noch kein Beweis für Fortenskys Mittäterschaft. Ein anderer Gedanke ließ ihr eisige Schauer über das Rückgrad laufen: Was, wenn ihr Konkurrent noch weitere Mitarbeiter bestochen hatte? Wenn Brodens Verrat nur die Spitze des Eisbergs war? In diesen Augenblicken änderte Dr. Amber Floyd ihren Plan. Wenn sie ihn unbemerkt in die Tat umsetzen konnte, kam
Broden zwar ungeschoren davon – nur fürs Erste, schwor sie sich -, aber die Entwicklung des Kryo 3 würde weitergehen. Sie griff zum Haustelefon und wählte eine selten benutzte Nummer. Auf der anderen Seite wurde abgehoben. »Hallo Tornat«, säuselte Amber im Dialekt der Inuit in den Hörer, »Sie könnten mir einen großen Gefallen tun...« *** Kanada, Dorf der Inuit 3. August 2518 Sie erreichten das Dorf der Eskimos am späten Nachmittag. Es bestand aus einem guten Dutzend großer kuppelförmiger Zelte, aus denen zwei hervorstachen; zweifellos die der höchsten Würdenträger. Etwas abseits stand ein flaches Holzhaus, dessen Bedeutung nicht ersichtlich war. Die Zelte gruppierten sich um den Dorfplatz, auf dem die Karawane, umringt von den restlichen Bewohnern, zum Halten kam. Die Trage mit Aiko stand im Mittelpunkt des Interesses, auch wenn die etwa dreißig Dorfbewohner - Männer, Frauen und Kinder - respektvollen Abstand hielten. Matt und Aruula hatten sich links und rechts der Trage postiert und beobachteten angespannt das Geschehen. Dummerweise befanden sich ihre Waffen - wie auch der Rest der aus den Trümmern geborgenen Ausrüstung - in einem Bündel, mit dem man ein weiteres Ren beladen hatte. Aber Matthew hatte ohnehin nicht den Eindruck, dass sie sich würden verteidigen müssen. Die Gesichter der Leute waren offen und freundlich. Als sich Aiko in die Höhe stemmte, um die Trage zu verlassen, wichen die meisten Dorfbewohner erschrocken einen Schritt zurück. Das bestärkte Matt in seiner Vermutung, dass sie in dem Cyborg eine Art Gott sahen - warum auch immer. Nur der Schamane und der Häuptling traten auf sie zu. Uimag sagte etwas, und Aruula übersetzte, so weit es ihr möglich war.
»Er bittet uns in sein Zelt. Ich glaube, er hat irgendwas von einer Prüfung gesagt.« Matt musste unwillkürlich schlucken. Es war nicht das erste Mal, dass sie eine »göttliche Prüfung« absolvieren mussten. Bislang hatten sie jede bestanden, meist mit mehr Glück als Verstand. Hoffentlich war es diesmal nicht anders... Gestenreich führte der Eskimo-Schamane sie zu dem zweitgrößten und mit allerlei Fellen, geflochtenen Gräsern und anderem Kram geschmückten Kuppelzelt. Bevor sie es durch einen zurückgeschlagenen Eingang aus Renfell betraten, blieb Matt verblüfft stehen. Der »andere Kram« bestand, aus der Nähe betrachtet, eindeutig aus Relikten der alten Zeit: Zündkerzen, Besteck, Münzen, Glas- und Porzellanteilen und weiteren alltäglichen Dingen. Die Eskimos mussten sie irgendwo gefunden und zu Kultstücken verarbeitet haben. Vermutlich in Fort McPherson. Uimag sagte etwas, und Aruula übersetzte: »Er fragt, ob du sein Haus nicht betreten willst.« Matt fuhr schuldbewusst zusammen. »Nein, alles in Ordnung. Sag ihm, ich hätte nur seinen Schmuck bewundert.« Die Dunkelheit des Zeltes nahm die drei Gefährten und ihre Begleiter auf. Der Schamane trat an einen Eisenofen, der im Zentrum stand, öffnete die Klappe und legte Holz nach. Dann entzündete er einige Öllampen, die an Seilen hingen, die kreuz und quer über Kopfhöhe gespannt waren und noch andere Last trugen: Felle von kleinen Tieren, Stoffe, Amulette - und Kräuterbündel, die wohl den miefigen Geruch hier drinnen übertünchen sollten... oder ihn erst verursachten. Im flackernden Schein der Lampen deutete der Schamane auf einige Kissen am Boden, die im Kreis angeordnet waren. Sie nahmen Platz. Für einige Sekunden legte sich eine belastende Stille über sie. Niemand wollte den Anfang machen. Dann ergriff der Häuptling das Wort. Seine Worte waren freundlich, doch ihr Klang ließ vermuten, dass er um sie ringen musste.
»Er sagt, sein Name ist Tanuuq, und wir sind willkommen bei den Inuit«, übersetzte Aruula und fügte hinzu: »So scheint das Volk hier zu heißen.« »Ich kenne den Begriff!«, flüsterte Matt. »So nannten sich zu meiner Zeit die Eskimos. Ihre Kultur scheint die Jahrhunderte überlebt zu haben.« »Er grüßt den Reisenden... nein, den Boten der Großen Mutter«, sagte Aruula. »Er will wissen, warum er gekommen ist.« Sie sahen zu Aiko, vor dem sich der Häuptling während seiner Ansprache verneigt hatte. Kein Zweifel, wen sie mit diesem ominösen »Boten« meinten. Der Cyborg blickte sie unsicher an. »Was erwartet er jetzt? Was soll ich sagen?« »Wie wär’s mit ein bisschen Improvisation?«, meinte Matt. »Lass dir was einfallen. Wenn sie uns danach nicht gleich mit ihren Speeren durchbohren, war’s okay.« Aiko räusperte sich. Dann hob er in einer theatralischen Geste die Hände bis auf Schulterhöhe. »Der Bote der Großen Mutter grüßt euch. Sie schickt uns, damit wir nach dem Rechten sehen.« Während Aruula übersetzte, beugte sic h Matt zu Aiko hinüber. »Wow! Das hatte Christoph Kolumbus nicht besser machen können.« »Wer?« »Vergiss es.« Uimag ergriff nun das Wort. Ein Redeschwall ging auf sie nieder, der Aruula sichtlich überforderte. Zu allem Überfluss fiel ihm auch noch Tanuuq ins Wort. Zwischen den beiden schien es einen Disput zu geben. Als er endete, fasste die Barbarin das Gehörte grob zusammen: »Der Schamane legt das Schicksal des Dorfes in unsere Hände. Der Häuptling beteuert, dass sie sich nicht schuldig gemacht hätten. Es ging um einen ewigen Winter, das Leben der Alten und das Gesetz der Großen Mutter. Tut mir Leid, aber mehr habe ich nicht verstanden.«
»Das Leben der Alten?« Matt zog eine Braue hoch. »Meint er die Zivilisation vor dem Kometen?« Er sah zu Aiko. »Wenn sie Relikte von damals hier aufbewahren, ist vielleicht ein Fahrzeug dabei, das wir flott machen können!« Der Cyborg wandte sich an den Schamanen. »Habt ihr Geräte der Alten hier?« Aruula schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Wort für ›Geräte‹ im Dialekt der Dreizehn Inseln.« »Versuchs mit ›Zauberdingen‹«, schlug Matt vor. Als Aruula übersetzt hatte, erstarrten die Gesichtszüge des Häuptlings. Der Schamane umfasste wie Halt suchend ein Knochenmesser, das er um den Hals trug, und verneigte sich tief. Dann erhob er sich und ging zu einer Art Schrein, der an einer der Zeltwände stand. Er öffnete ihn und holte einen flachen schwarzen Kasten hervor, den er Aiko reichte. Matt stockte der Atem. »Ein Organizer?« Aruula sah ihn verständnislos an. »Or-ga-was?« »Ein Mini-Computer«, erklärte Matthew. »Eine Maschine, in der Wissen gespeichert ist.« »Nicht ganz«, ließ sich Aiko vernehmen, der das Gerät inzwischen aufgeklappt hatte. »Eine Art Rechner, ja, aber ohne Display und Tastatur. Scheint mit Spracheingabe zu funktionieren.« Er drückte auf die POWER-Taste. »Nichts. Kein Wunder; die Batterie müsste seit fünfhundert Jahren leer sein.« »Kannst du das Ding mit deinem internen Stromkreis koppeln?«, fragte Matt. Er blickte sich nach den beiden Inuit um. Der Schamane hatte sich wieder auf sein Kissen niedergelassen. Er und der Häuptling flüsterten miteinander und warfen immer wieder besorgte Blicke in Aikos Richtung. Und als der Cyborg plötzlich den silbernen Sporn aus seinem unteren rechten Handgelenk fuhr, schraken sie zusammen. Spätestens jetzt konnte es für sie keinen Zweifel mehr an seiner »Göttlichkeit« geben. Aiko hatte das Batteriefach des Mini-Rechners geöffnet und
den leeren Akku entnommen; jetzt versuchte er seinen Dorn einzuführen. Es funktionierte nicht. Kein Wunder. Als der Computer produziert worden war, hatte man noch nicht an eine Verlinkung mit Cyborg-Implantaten gedacht. »Ich versuche was anderes...« Aiko nahm den Akkumulator und presste dessen Kontakte gegen die stromführenden Kerben des Dorns. Dann überprüfte er die Verbindung mit seinem Diagnoseprogramm. »Es klappt!«, meldete er. »Die Kapazität des Akkus liegt nach der langen Ruhezeit zwar nur noch bei knapp zwei Prozent, aber für einige Eingaben sollte es reichen... so, fertig.« Er schob die Batterie ins Fach zurück. Als er nun die Starttaste drückte, glomm eine grüne Leuchtdiode auf. Und eine Stimme aus einem versteckten Lautsprecher verkündete: »Voice-Control ein!« Der Schamane und der Häuptling fuhren zusammen. Uimag sagte etwas, und Aruula übersetzte: »Sie fürchten sich vor der Stimme des Erweckers. Dass sie... den Schnee der Frau aufweckt? Hm.« Sie fragte nach und erhielt Antwort. »Die Eisfrau«, berichtigte sie dann. »Sie fürchten, die Stimme könne die Eisfrau aufwecken und den ewigen Winter bringen.« Matt und Aiko sahen sich ratlos an. »Vielleicht ein alter Mythos«, vermutete der Cyborg. »Mit einem Funken Wahrheit?«, führte Matt fort. »Das Ding könnte eine Fernbedienung sein. Kannst du irgendeine Aufschrift erkennen?« Aiko betrachtete den Mini-Computer von allen Seiten. Nachdem er etwas verkrusteten Dreck vom Deckel entfernt hatte, wurden erhabene Buchstaben sichtbar: KRYO CONTROLLER. Matt überlief ein kalter Schauer. Kryo! Die Kurzform eines Wortes, das zu seiner Zeit in aller Munde gewesen war: Kryonetik. Das Einfrieren lebender Organismen... Und damit einher ging schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen der Name eines Mannes, den er und Aruula
bereits in Zürich kennen gelernt hatten: Claude De Broglie. Damals hatten sie den exzentrischen Milliardär aus einer Kältekammer befreit - was seinem Verstand nicht bekommen war. De Broglie hielt sich für den »Gottkaiser aller Universen«. Irgendwas in seinem Hirn hatte die lange Frostperiode nicht unbeschadet überstanden. Dass sie in diesem Teil der Welt erst in eine r Biosphäre auf De Broglies mörderische Nachfahren und jetzt auf den Controller einer Kryo-Einheit stießen, musste mehr als ein Zufall sein. »Frag sie, wo sie dieses Ding her haben!«, zischte er Aiko zu. »Wenn ich nicht ganz falsch liege, ist diese ›Eisfrau‹ mehr als ein Mythos - viel mehr!« Aiko formulierte die Frage, Aruula übersetzte sie - und die Gesichter der beiden Inuit verzogen sich zu einer Mischung aus Verwirrung und kreatürlicher Angst. »Der Bote der Großen Mutter weiß nicht, wo die Eisfrau ruht?«, kam die Gegenfrage. Matt biss sich auf die Lippen. Verdammt - falsche Fragestellung! Natürlich erwartete man von dem Götterboten Allwissenheit. War damit ihr Status dahin? Der Schamane erhob sich nach einer kurzen, im Flüsterton geführten Unterredung mit dem Häuptling, ohne die Frage beantwortet zu haben. »Für heute wurde genug gesprochen«, ließ er sie durch Aruula wissen. »Morgen früh werden all eure Fragen beantwortet. Bis dahin steht das Qasgig zu eurer Verfügung.« Er verneigte sich tief. »Der Inuk Quill wird euch hinbringen.« Er rief den Namen laut, und das Fell über der Tür wurde zurückgeschlagen. Ein halbwüchsiger, kraushaariger Bursche erschien. Der Schamane rief ihm einen Befehl zu, und Quill wartete geduldig, bis die Gefährten aufgestanden waren und das Häuptlingszelt verlassen hatten. Dann führte er sie quer über den Dorfplatz zu dem einzigen Holzbau. Dabei war nicht zu übersehen, dass sein Blick immer wieder zu Aruula huschte. Offenbar hatte sie sein Interesse geweckt.
Matt konnte ihn verstehen. Aruula bot in ihrer Wildheit und mit den augenscheinlichen weiblichen Attributen einen Anblick, der jedes Männerherz höher schlagen ließ. Aber genauso gut wusste er, dass sie einander nicht betrügen würden - nie mehr. Der junge Inuk öffnete die Holztür fü r sie und bat sie mit einer Geste, einzutreten. Das Innere des »Qasgig«, wie Uimag es genannt hatte, war rustikal eingerichtet. Matt vermutete, dass es sich um ein Männerhaus handelte, wie es schon früher bei einigen Eskimostämmen üblich gewesen war. Es gab einen Kamin, Talgkerzen brannten auf einem Holzring an der Decke, und Humpen hingen an Holzpflöcken an den Wänden. Man konnte sich gut vorstellen, dass sich das Mannsvolk hier traf, um abseits von Weib und Kind zünftige Abende abzuhalten - auch wenn der bauchige Kessel mit Wasser, der auf einem kleinen Tisch in der Ecke stand, nicht recht dazu passen wollte. Auch Betten waren vorhanden. Matt ließ sich auf eines nieder und bemerkte, dass Quill noch immer im Türrahmen stand und den Blick nicht von Aruula nehmen konnte. Matt wedelte mit der Hand. »Danke!«, rief er dem Jungspund zu. »Du kannst jetzt gehen!« Obwohl der Inuk seine Worte nicht verstand, begriff er deren Bedeutung. Verlegen schloss er die Tür von außen. Matt sah zu Aiko und Aruula. »So weit, so gut. Jetzt ruhen wir uns erst einmal aus, und morgen früh erfahren wir hoffentlich mehr.« »Wenn wir dann noch leben«, sagte Aruula düster. »Dieser Häuptling machte nicht den Eindruck, als wäre er glücklich über unser Hiersein. Ich bleibe lieber auf und halte Wache.« Sie griff nach einem Schürhaken, der über dem glosenden Kamin hing. »Mein Schwert wäre mir zwar lieber, aber besser als nichts ist es allemal.« »Wir teilen Wachen ein«, schlug Matt vor, »und wechseln uns alle drei Stunden ab. Einverstanden?«
* * *
»Es sind keine Boten der Großen Mutter!«, beharrte Tanuuq, der Häuptling. »Sie verstehen unsere Sprache kaum und wussten nicht einmal von der Eisfrau.« Uimag, der Schamane schüttelte den Kopf. »Du irrst! Ich sage dir: Der Bote will uns auf die Probe stellen! Die Große Mutter gibt uns... gibt dir die Chance, dein Vorhaben zu verwerfen. Es ist nicht gut, an die Traditionen der Alten anzuknüpfen.« Sie saßen in Tanuuqs Kuppelzelt, hatten sich auf mit Renwolle gestopfte Kissen niedergelassen und rauchten. Die Qualmschwaden füllten den Raum und leuchteten im Widerschein des flackernden Feuers. Es schien, als wanderten die Geister der Ahnen mahnend über die Wände aus gegerbtem Leder. Trotzdem wollte der Häuptling nicht von seiner Meinung abrücken. Uimag ahnte, dass sie von der Furcht diktiert wurde, die Fremden - ob Götterboten oder nicht - könnten die Eisfrau erwecken. Uimag konnte nicht leugnen, diese Furcht ebenfalls im Herzen zu tragen. Doch er hatte gelernt, in allen Dingen dem Willen der Götter zu gehorchen. Alle Indizien sprachen dafür, dass der Fremde ein Bote der Großen Mutter war. Er hatte vorgetäuscht, ein Sterblicher zu sein, als sie ihn fanden - doch seine Wunden hatten sich, nachdem sie ihn freundlich aufgenommen hatten, von selbst wieder geschlossen. Er besaß übermenschliche Kräfte. Und er hatte die Stimme aus dem Relikt der Eisfrau erklingen lassen, von der nur die uralten Legenden wussten. Uimag war davon überzeugt, dass er die Inuit auf die Probe stellen wollte, um sich ihrer Loyalität der Mutter gegenüber zu versichern. »Wir müssen ihn zu der Eisfrau führen«, sagte er eindringlich. »So erwartet es die Große Mutter. Tun wir es nicht, wird ihr Zorn über uns kommen!« »Das werde ich nicht zulassen, bevor ich mir nicht sicher bin,
dass er tatsächlich ihr Abgesandter ist.« Tanuuq stieß eine Rauchwolke aus. »Ich werde ihn selbst auf die Probe stellen. Besteht er sie nicht, stirbt er, und seine Begleiter mit ihm.« Der Schamane erschrak und tastete nach dem Knochendolch. »Mit deinem Starrsinn führst du das Dorf ins Verderben!«, warnte er. Und wusste doch, dass er gegen den Beschluss des Häuptlings nichts mehr unternehmen konnte. Als er sich erhob und das Zelt verließ, schien er sich mit seiner Niederlage abgefunden zu haben. Der Schein trog. *** Dawson, Kanada 19. Juli 2011, 11:14 PM »Passen Sie doch auf, Tornat!«, zischte Dr. Floyd auf Gwich'in. »'tschuldigung. Das Ding ist ganz schön schwer.« Der junge Inuk von der Tierkadaver- Entsorgung zerrte an dem übermannsgroßen Gerät, und nach einigen Sekunden gelang es ihm, es aus dem Lastenaufzug im Keller zu bugsieren. Ein langer Kratzer in der Lifttür blieb zurück. »Schon gut.« Amber stemmte sich gegen die Rückseite der transportablen Kryokammer. Auf Vollgummirädern holperte sie über die Rampe hinab auf den Betonboden der Tiefgarage. Dort hielten die beiden aus allen Poren Schwitzenden erst einmal an. »Ich... ich weiß, dass das nicht ganz legal ist, Dr. Floyd«, ächzte Tornat. »Bin ja nicht blöd. Wenn Sie so plötzlich bei Nacht und Nebel verschwinden, muss was passiert sein, hab ich Recht?« Amber nickte. »Sie haben Recht, Tornat. Und nebenbei bemerkt: Ich halte Sie ganz und gar nicht für blöd. Ganz im Gegenteil.« Ein Lächeln flog über sein Gesicht. »Eigentlich müsste ich’s ja
sein. Ich meine, dass ich Ihnen dabei helfe, dieses Ding hier beiseite zu schaffen. Was haben Sie damit vor?« Amber schüttelte den Kopf, dass der Schweiß von ihren schulterlangen Haaren flog. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Tornat. Nur so viel: Ich habe eine Menge Arbeit in dieses Schätzchen hier gesteckt«, sie tätschelte die glänzende Metallhülle von Kryo 3, »und nun, kurz vor dem Durchbruch, will ein Konkurrent alles zunichte machen. Er hat meinen Assistenten bestochen, mich zu sabotieren -« »Dr. Broden?«, fiel Tornat ihr ins Wort. Er setzte eine grimmige Miene auf. »Der Typ war mir noch nie geheuer. Schwänzelt zu viel um Sie rum... äh, ich meine...« »Schon klar«, unterbrach sie ihn. Natürlich war Tornat das ein Dorn im Auge, schließlich wäre er gern selbst an Will Brodens Stelle gewesen. »Weiter!«, presste sie hervor und schob die Kryokammer an. Sie rollten sie quer durch die Tiefgarage auf den dunkelblauen Transporter vom Typ Mercedes Sprinter zu, den Tornat am Nachmittag organisiert hatte. Der Laderaum war hoch genug und verfügte über eine Hebebühne; mit ihr müsste es möglich sein, Kryo 3 zu verladen. Das restliche Equipment Transformatoren, Anschlusskabel, Kontrollgeräte - befand sich bereits im Wagen. Auch das Päckchen mit Metrazol und die Hirnprobe des Hundes in einer Kühlbox hatte sie nicht vergessen - ihre einzigen Indizien, falls es zu einem Prozess kam. Die Räder über den Rand der Bühne zu wuchten war die letzte Kraftanstrengung, die sie zu bewältigen hatten. Danach blieben sie beide keuchend an den schrägen Zylinder gelehnt stehen und schnappten nach Luft. »Soll ich mitkommen?«, schlug Tornat vor. Amber hatte das Angebot schon erwartet. Aber sie konnte es nicht annehmen. Was sie hier abzog, war in höchstem Maße kriminell, wenngleich auch der einzige Weg, ihre Erfindung vor
weiteren Anschlägen in Sicherheit zu bringen. Nicht nur, dass sie Kryo 3 entführte - sie hatte zuvor die Zeit genutzt, alle Geldmittel des Labors, zu denen sie Zugang hatte, auf ein Konto zu überweisen, das ihr Ex-Mann neu eröffnet hatte. Und Jack Nooga war auch das Ziel ihrer Reise. Er hatte sofort zugesagt, sie bei sich aufzunehmen und ihr ein eigenes, wenn auch bescheidenes Labor bei der NWTPC einzurichten. Mehr war auch gar nicht nötig; Amber war davon überzeugt, dass Kryo 3 bereits funktionierte. Nur Brodens Sabotage hatte bisher einen Erfolg verhindert. »Nein, Tornat«, antwortete sie auf die Offerte des jungen Mannes. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, wirklich. Aber das muss ich allein durchziehen.« Sie lächelte ihn an. »Okay.« Er klang enttäuscht, aber so, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. »Kann ich dann wenigstens hier noch was für Sie tun?« »Das können Sie in der Tat«, sagte Amber. Ein Problem hatte sie nämlich bislang vor sich hergeschoben. »Irgendwie müssen wir den Pförtner ablenken. Übernehmen Sie das?« »Klar! Lassen Sie mich nur machen.« Sie traten zurück, und Amber betätigte den Knopf für die Hebebühne des Wagens. Mit protestierendem Ächzen setzte sich die Plattform mit dem Kryotank in Bewegung. Beinahe hätten die Vorderreifen des Transportes die Bodenhaftung verloren, aber der stämmige Tornat eilte schnell nach vorn und stellte sich auf die Stoßstange. Dann war es geschafft, Kryo 3 im Wagen verstaut und vertäut. Nachdem Amber die Hecktür verschlossen hatte, wandte sie sich an ihren Helfer. »Das war's, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Tornat. Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Der junge Mann lief rot an - diesmal nicht vor Anstrengung. Er schien etwas sagen zu wollen, war dann aber doch zu gehemmt. Also grinste er nur verlegen und murmelte: »Dann viel Glück.«
Er machte zwei Schritte zurück, bevor er hinzufügte: »Ach ja: Achten Sie auf ein lautes Rumpeln. Dann warten Sie drei Minuten, bevor Sie losfahren. Die Schranke werden Sie allein öffnen müssen.« »Kein Problem.« Sie hob die Hand. »Auch Ihnen alles Gute, Tornat.« Er verschwand im Lastenaufzug und fuhr nach oben. Amber nahm im Wagen Platz, kurbelte die Seitenscheibe herunter und wartete. Etwa eine Viertelstunde später riss ein lautes Krachen Stuart Wycliff, seines Zeichens Nachtpförtner der Tiefgarage von De Broglie Enterprises, aus seinem leichten Dösen. Er griff zu Schlagstock und Funkgerät und verließ noch halb benommen sein Pförtnerhäuschen, als ihm auch schon der junge Eingeborene von der Tierentsorgung entgegenkam. »Tornat! Was ist los? Machen Sie hier mitten in der Nacht diesen Lärm?«, polterte er. Sein Gegenüber fuchtelte erst wild mit den Armen herum, bis er endlich mit der Sprache herausrückte: »O verwünscht, das gibt Ärger!«, rief er unglücklich. »Ich bin aber auch ein Schussel!« »Was ist denn passiert?«, fragte Wycliff, während er den Schlagstock an seinem Gürtel befestigte. Der arme Bursche in seiner Hilflosigkeit tat ihm Leid. Tornat deutete zu Deck 3, wo der Zugang in den Heizkeller lag. Wieder brauchte er Sekunden, um in gebrochenem Englisch zu antworten: »Ein Riesenschlamassel, Mr. Wycliff. Schauen Sie sich das an!« »Was?!«, wiederholte Stuart Wycliff mit Nachdruck, aber da war Tornat schon losgelaufen, und dem Wachmann blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen, um den »Schlamassel« mit eigenen Augen zu sehen. Und während die beiden ratlos vor dem umgestürzten Rollcontainer standen und vor dem Berg von Tierkadavern, der
sich daraus über das Parkdeck ergossen hatte, und Tornat zerknirscht erklärte, dass er die Rampe »wohl nicht ganz erwischt hätte«, rollte ein dunkelblauer Mercedes-Transporter unbemerkt bis zur Schranke. Dr. Amber Floyd betätigte den Öffner im Pförtnerhaus, passierte die Sperre und schloss sie danach gewissenhaft wieder. Niemand nahm von dem Wagen Notiz, als er in die Nacht hinausfuhr und gen Norden entschwand... *** Kanada, Dorf der Inuit 4. August 2518 Aruula starrte ins Feuer. Eben hatte sie frisches Holz nachgelegt, das die Flammen nun gierig verschlangen. Die neue Helligkeit vertrieb einige besonders dunkle Schatten - und schuf gleichsam neue, die wild umhersprangen und Aruulas Aufmerksamkeit neu belebten. Seit zwei Stunden saß sie nun schon auf einer Bank des Männerhauses, die Hände auf den senkrecht gestellten Schürhaken gelegt, damit ein Wegschlummern nicht ohne Folgen blieb. Denn die Müdigkeit wollte immer wieder von ihr Besitz ergreifen. Sie griff zum Becher mit Wasser, der vor ihr auf dem Tisch stand, und leerte ihn bis zur Neige. Das war nun bereits der fünfte Krug gewesen; der Kessel in der Ecke leerte sich zusehends. Warum sie seit Wochen solchen Durst verspürte, war Aruula noch immer rätselhaft. Es lohnte auch nicht, darüber nachzudenken... Bislang war nichts geschehen, was ihre Wachsamkeit erfordert hätte. Maddrax und Aiko schlummerten auf den Betten, nichts regte sich, und draußen herrschte Totenstille. Von Zeit zu Zeit trat Aruula an eines der zwei kleinen Fenster und blickte hinaus in die Dämmernacht.
In diesen Breiten waren die Nächte kurz und wurden jetzt im arktischen Sommer nie richtig dunkel. Erst ab November würde wieder vollständige Finsternis herrschen - und dann gleich bis Januar. Trotzdem funktionierte das Dorfleben nach Wach- und Schlafphasen. Man richtete sich nicht nach dem Auf- und Untergang der Sonne, sondern nach deren Stand. Zurzeit aber hielt sich der Sonnenball dicht unter dem Horizont versteckt, und die Atmosphäre im Dorf glich der am frühen Morgen. Niemand war zu sehen. Aruula gähnte herzhaft. Noch etwa eine Stunde, bis Aiko die nächste Wache übernehmen sollte. Sie verspürte ein Drängen ihrer Blase - kein Wunder bei ihrem Wasserverbrauch - und entschloss sich, draußen hinter einem Busch zu verschwinden. Die frische Luft würde sie sicher wieder auf Trab bringen. Leise trat sie an die dicke Bohlentür, schob den Riegel zur Seite und öffnete sie langsam. Das Knarren war leise genug, die beiden Schläfer nicht zu wecken. Aruula überlegte einen Moment, dann lehnte sie den Schürhaken innen gegen die Wand. Es würde sicher keinen guten Eindruck machen, wenn jemand sah, dass die »Götterboten« sich vor einem Angriff fürchteten. Kurze Zeit später schlich Aruula leise zwischen den Zelten hindurch in Richtung einer Senke, in der niederes Gebüsch wuchs. Doch seltsam, je näher sie dem kargen Grün kam, desto weiter schien es von ihr abzurücken. Oder war es ihr Bewusstsein, das sich wie in einen Tunnel zurückzog? Verwirrt blieb Aruula stehen und schüttelte sieh. Was war nur los mit ihr? Seit Wochen schon fühlte sie sich... merkwürdig, ohne es näher beschreiben zu können. Es hatte mit den Handschuhen aus Wildleder zu tun, die sie trug, seit sie gemerkt hatte... »Ich grüße dich, Begleiterin des Boten der Großen Mutter.« Aruula fuhr zusammen, als unvermittelt eine Gestalt vor ihr auftauchte. Sie war hinter einem Zelt vorgetreten und verneigte
sich nun tief. Es handelte sich, wie Aruula nach dem ersten Schrecken erkannte, um den jungen Quill. »Was willst du?«, fragte sie im Dialekt der Dreizehn Inseln, unwirscher als gewollt. Sie ärgerte sich darüber, dass er sie hatte überrumpeln können. Noch einmal verneigte sich der etwa sechzehn, siebzehn Jahre alte Knabe. »Ich musste dich wiedersehen«, sagte er - zumindest reimte sie sich das aus den Wortfetzen zusammen, die sie verstand. »Deine Schönheit ist wie die der Sonne, deine Kraft die eines Eisbärs und dein Mut größer als... äh... die Unerschrockenheit der größten Jäger.« Aruula musste an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Wie es aussah, hatte sich das Bürschlein in sie verguckt. Und nun versuchte er sich in der Rolle eines leidenschaftlichen Kavaliers. Na ja, es gab Schlimmeres. Zum Beispiel, wenn er sie in Hockstellung hinter dem Gestrüpp mit seinen Komplimenten überrascht hätte. Nun kniete er nieder und sagte voller Inbrunst: »Mein Herz gehört dir, seit ich dich zum ersten Mal sah. Bitte nimm mich mit, wenn du zur Großen Mutter zurückkehrst.« Das fehlte gerade noch, dachte Aruula. Laut sagte sie: »Das ist unmöglich, Quill. Die Große Mutter verbietet es.« Er ließ nicht locker. »Dann bleib im Dorf und werde meine Frau! Ich bin zwar noch jung, aber ich kann dich versorgen, glaub mir.« »Zu jung«, entgegnete Aruula. »Es tut mir Leid, aber du kannst mich nicht gewinnen.« Damit drehte sie sich um und ging zur Hütte zurück, bevor die Unterhaltung ins Peinliche abdriften konnte. An ihr Geschäft war jetzt eh nicht mehr zu denken. Quill blieb stumm und mit hängenden Schultern zurück. Irgendwann erhob er sich von den Knien und schlich zwischen den Kuppelzelten davon. Aruula war noch keine zehn Minuten zurück im Männerhaus,
als es leise an die Tür pochte. Quill, zweifellos. Erst war sie versucht, das Klopfen zu ignorieren, aber dann entschied sie sich, ihre Abfuhr zu bekräftigen. Vielleicht gab er dann Ruhe. Sie ging zur Tür, schob den Riegel zurück - und erstarrte. Nicht Quill stand draußen, sondern ein dürrer, lederhäutiger Alter, in einen weiten Mantel gehüllt. Der Schamane! Als Aruula sah, dass er ihre Waffen - Schwert, Driller und Maschinenpistole - in den Armen hielt, gab sie rasch den Weg frei. Uimag trat ins Innere der Hütte. Seine Ankunft blieb auch den Anderen nicht verborgen. Aiko schrak aus seinem leichten Schlummer auf, überblickte die Situation und rüttelte an Matts Schulter, der im Bett neben ihm lag. Matthew fuhr hoch, blinzelte und fragte: »Uimag? Was will der denn hier?« »Er hat uns unsere Waffen gebracht«, erklärte Aruula. Der Schamane sagte etwas, und sie übersetzte: »Er will uns zur Eisfrau bringen, jetzt gleich! Er sagt, äh... dass er den Willen der Großen Mutter erfüllt und um Gnade bittet für sein Volk.« »Dem geht ganz schön die Muffe«, sagte Matt. »Ich wüsste nur gern, warum.« Der Cyborg verzog einen Mundwinkel. »Ich fürchte, danach können wir ihn wohl kaum fragen, ohne unseren ›göttlichen Status‹ zu gefährden.« Aruula sprach kurz mit dem Alten, dann wandte sie sich an ihre Freunde: »Ich habe ihm gesagt, die Große Mutter sei zufrieden mit seiner Entscheidung.« »Gut gemacht.« Matt klaubte seinen Driller vom Tisch, wohin Uimag die Waffen gelegt hatte, und kontrollierte das Magazin. »Noch alles da - alle dreiundzwanzig Schuss.« Er seufzte. »Leider gibt’s hier am Anus der Welt keinen Nachschub. Wenn es mal ein Computerspiel über meine Abenteuer geben sollte, bestehe ich auf Munitionspacks an jeder Ecke.« Aruula blickte ihn verständnislos an, aber das war er ja schon gewohnt. Er ging mit einem Schulterzucken darüber hinweg.
Der Schamane drängte zum Aufbruch, und so wie er den Platz vor der Hütte immer wieder mit schnellen Blicken musterte, kam Matt der Verdacht, dass Uimag hier sein eigenes Ding durchzog. Dafür sprach auch, dass keine Abordnung aus dem Dorf bei ihm war, um sie zu begleiten. »Ich denke, unser Freund handelt gegen den Willen des Häuptlings«, vermutete auch Aruula. »Wir sollten uns beeilen.« Der Schamane führte sie um die Hütte herum durch die Senke nach... Norden? Süden? Matt wünschte sich zum wiederholten Mal einen Kompass. Gerade in diesem Teil der Welt wusste er die Himmelsrichtungen nach der Polverschiebung nicht mehr einzuordnen. Uimag deutete auf eine Anhäufung dunkler Kästen, die sich einige Kilometer entfernt zu Boden duckten. »Teet'lit Zhen«, sagte er dabei, was Aruula mit »Kopf des Wassers« übersetzte. Vermutlich der Inuit-Name für Fort McPherson. Ein Stück weiter rechts stiegen die Dampfwolken auf, die sie schon beim Herflug gesehen hatten und die auf heiße Quellen hinwiesen. Sie schritten zügig aus, und Uimag legte ein für sein Alter erstaunliches Tempo an den Tag, das Matt zum Schluss nur noch mühsam mithielt. Aruula war solche Fußmärsche von Kindesbeinen an gewöhnt, und Aiko holte seine Kraftreserven vermutlich aus irgendwelchen Implantaten, von denen Matthew auch gern ein Dutzend zum Einkaufspreis erstanden hätte. Als die Sonne am Horizont erschien und das Land mit ihrem goldenen Licht überstrahlte, waren sie wenige r als einen Kilometer von Fort McPherson entfernt, das sich, wie alle Forts hier, als Anhäufung weit verstreuter, meist einstöckiger Häuser, Schuppen und Scheunen entpuppte. Die allermeisten Bauwerke waren in den Jahrhunderten verfallen oder von den Eismassen zerdrückt worden. Nur einige besonders stabile Stein- und Betonbauten hatten dem Zahn der Zeit standgehalten. Das größte davon war ein flaches zweistöckiges, ineinander verschachteltes Gebäude, das fast wie der Kopf einer Rohrzange
aussah. An einer Wand waren verblichene Buchstaben zu erkennen, die mit etwas Spürsinn »Northwest Territories Power Corporation« ergaben. Also eine Art EnergieversorgungsUnternehmen. Ein Kraftwerk? Dies war das Gebäude, auf das Uimag schließlich mit den Worten »Die Ruhestatt der Eisfrau« deutete. Er öffnete eine Tragetasche, die er unter dem weiten Mantel trug, und zog einen flachen schwarzen Kasten hervor - den Kryo-Controller! Er kniete nieder und reichte ihn Aiko mit demütiger Miene. Der Cyborg nahm das Gerät in Empfang. »Ich danke dir«, ließ er von Aruula übersetzten. »Warte hier draußen, während wir der Eisfrau unsere Aufwartung machen.« Und als Uimag erschrocken sein Gesicht verzog, fügte er hinzu: »Keine Sorge, euch wird nichts geschehen.« So ließen sie den Schamanen zurück und drangen in das Gebäude ein. Man konnte deutlich sehen, dass die Eingangstür hin und wieder benutzt wurde. Und auch den Weg derer, die hier der »Eisfrau« huldigten, konnte man als Spur im Jahrhunderte alten Staub verfolgen wie einen Trampelpfad. Matt ging voraus. Sie durchquerten die Eingangshalle, die sich über die Höhe von zwei Stockwerken erstreckte. Gleich links ragte ein Empfangstresen auf, dessen Holzfurnier fast gänzlich abgeblättert war. Dahinter befand sich die Tür zu einem Besucherzimmer, rechts eine Sitzgruppe. Beim Anblick der Geräte, der Möbel und Dekorationen überlief ihn ein Schaudern: auf dem Tresen eine Kaffeetasse mit der Aufschrift »Olympic Winter Games 2010, Canada«, daneben die von Gilb überzogenen Reste eines Quantencomputers, an der Wand ein verblichenes Poster von Robbie Williams in seiner Rolle als James Bond - praktisch alles hier erinnerte ihn an seine eigene, längst vergangene Zeit. Die faustgroßen Spinnentiere, die die Flucht ergriffen, sobald sie ihnen zu nahe kamen, gehörten nicht dazu. Matt hatte solche Exemplare noch nie gesehen: violett schimmernd und mit einer
Art nach vorn gerichtetem Horn auf dem harten Chitinpanzer. Widerliche Viecher, aber offenbar - und glücklicherweise - nicht sehr kontaktfreudig. Sie verschwand en gegenüber des Tresens durch eine offene Flügeltür zu den Quartieren der Belegschaft, wie das verblasste Schild darüber verriet. Am Ende des Eingangsbereichs kamen die drei Gefährten an einer Stahltreppe vorbei, die über die ganze Höhe des Raumes offenbar zum Dach hinaufführte. Sie verließen das Foyer durch eine weitere Flügeltür, durchquerten eine fensterlose Büroflucht und gelangten nach einem Rechtsschwenk und über eine breite Betontreppe hinab in den Umspannraum. Gewaltige frei stehende Transformatoren füllten den gut dreißig mal fünfzig Meter großen Saal, unter dessen Decke verrostete Gitterlaufstege, an Stahlseilen hängend, ein Zwischendeck bildeten, offenbar zur Wartung der Umspanntürme. Auf derselben Höhe zogen sich Fenster über die linke Seite der Halle. Früher mochte das Knistern elektrischer Spannung die Luft erfüllt haben. Heute waren die Kupferspulen und Isolatoren verrottet. Und trotzdem drang ein helles Flackern zu ihnen empor, als sie eine weitere Treppe zu den Kellerräumen erreichten. Aiko blieb stehen. »Da brennen Lampen ! Das ist doch nicht möglich!« »Dafür gibt es nur eine Erklärung«, sagte Matt. »TrilithiumKristalle. Ich kenne keinen anderen Energieträger, der über fünfhundert Jahre durchhält.« Fiebrige Erregung hatte ihn ergriffen. Wenn es hier unten Strom gab, war vielleicht auch die kryogenische Anlage noch in Betrieb. Und das bedeutete... »Das erinnert mich verdammt an Züri«, stieß Aruula hervor und umfasste ihr Schwert mit beiden Händen. »Du weißt, was ich meine?« »Natürlich. De Broglie. Die Kälteschlafkammer.« »Die Verrückten, die uns umbringen wollten!«, präzisierte
Aruula. »Wer weiß, was hier passiert, wenn wir diese Eisfrau finden.« »Ihr meint ernsthaft, sie könnte immer noch leben?«, fragte Aiko Tsuyoshi. »Claude De Broglie hatte es geschafft«, gab Matt zu bedenken. »Nun ja, nicht ganz. Sein Verstand blieb auf der Strecke. Aber wir werden nicht viel herausfinden, wenn wir hier rumstehen und reden. Gehen wir weiter!« Über den Abgang gelangten sie in die Kelleretage. Hier gab es wesentlich weniger Verfall als oben; vermutlich sorgten irgendwelche »Hohepriester der Eisfrau« für Ordnung. Die Lampen entpuppten sich als Argonröhren, die allerdings in keinem guten Zustand waren. Nur ein Zehntel flackerte noch schwach vor sich hin und schaffte es mit knapper Not, die Räume aus der ewigen Finsternis zu holen. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven drangen die Gefährten weiter vor. Und gelangten schließlich durch eine Druckschleuse in einen Raum, der endgültig ihre Zweifel beseitigte, ob die »Eisfrau« tatsächlich mehr als eine Inuit-Legende war. Das Labor maß fünf mal fünf Meter im Quadrat und war vollgestopft mit Computern und Kontrollinstrumenten. In seinem Zentrum stand ein leicht geneigter Zylinder in einer massiven Basis, dessen Front aus einer gewölbten Glasscheibe bestand. Kälteschlieren zeigten sich darauf, und feiner Dunst faserte, von den Bewegungen der drei verwirbelt, zu Boden. Daneben glitzerte in einer Porzellanfassung ein großer Trilithium-Kristall, der die Anlage mit Energie versorgte. Matthew Drax trat an den Zylinder heran und wischte mit dem Ärmel seiner Uniformjacke über das beschlagene Glas. Fast meinte er ein Deja vu zu erleben. Nur dass es diesmal nicht das glatzköpfige Gesicht Claude De Broglies in Zürich war, sondern die sanften, schlafenden Züge einer etwa dreißigjährigen blonden Frau - allerdings auch sie nackt und mit etlichen Kontrolldrähten verbunden.
»Lebt sie?«, fragte Aruula hinter ihm. »Scheint so«, gab Matt gedämpft zurück. Er wagte nicht laut zu reden, aus der unsinnigen Sorge heraus, allein damit etwas zu zerstören, was bisher fünfhundert Jahre überstanden hatte. Die Frau im Eis - wer war sie? Welches Schicksal hatte sie in diese Kältekammer gebracht? Und vor allem: Würden sie sie aufwecken können? »Hier ist ein Kasten mit der Aufschrift ›Wichtig!‹«, meldete sich Aiko. Er nahm eine Metallschatulle auf, die neben dem Zylinder gelegen hatte, und platzierte sie auf dem einzigen Labortisch. Vorsichtig ließ er den Verschluss aufschnappen. In dem Kasten befanden sich ein in Plastik eingeschweißtes Blatt Papier und ein MMP-Player, ebenfalls von Kunststoff umhüllt. Das anthrazitfarbene Gerät war etwa vier Finger hoch und hatte die Abmessungen eines durchschnittliches Buches. Aiko nahm das verschweißte Blatt zur Hand. »Dies ist von größter Wichtigkeit!«, las er vor, was darauf in drei verschiedenen Sprachen geschrieben stand. »Bitte berühren Sie die Geräte nicht, bevor Sie sich die Aufzeichnung des Players angesehen haben. Wenn Sie über kein technisches Wissen verfügen, ziehen Sie einen Fachmann hinzu. Vielen Dank!« »Na denn...« Matt hob den MMP aus der Schatulle und befreite ihn von der Hülle. »Das dürfte kein Problem sein. Ich hatte selbst mal einen.« Er nahm das aufgerollte Stromkabel des Players und steckte es in einen Anschluss der Stromversorgung. Dann klappte er das flache Display aus und drückte auf den Start-Knopf. Der Monitor erhellte sich. Das Gesicht eines Mannes erschien, das unübersehbare Merkmale der Inuit aufwies. »Mein Name ist Jack Nooga«, sagte er in gebrochenem Englisch. »Ich bin der Leiter dieser Zweigstelle der NWTPC. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. In wenigen Tagen, wenn die Gelehrten nicht irren, wird ein Komet diesen Planeten treffen und so gut wie alles Leben auslöschen. Vielleicht gelingt
es mir, wenigstens meine Frau in eine Zeit nach ›ChristopherFloyd‹ zu retten. Der Mechanismus, vor dem Sie stehen, ist ihre Erfindung: ein Kältetank, der den menschlichen Körper fast unbegrenzt am Leben erhalten kann...« *** Ft. McPherson, Kanada 2. Februar 2012, 8:30 PM Fast ein halbes Jahr war es nun schon her, dass Amber nach Fort McPherson gezogen war und ein Schattenleben begann, um den Nachforschungen der De Broglie Enterprises zu entgehen. Wer hätte damals gedacht, dass es für so lange Zeit sein würde? Aber nur wenige Tage, nachdem sie ihre Versuche mit Kryo 3 wieder aufgenommen hatte - es war Anfang September gewesen -, war die Meldung durch die Weltpresse gegangen, dass ein acht Kilometer großer Komet die Erde in geringer Distanz passieren sollte. Im Laufe des Monats war aus »geringer Distanz« eine »eventuelle Bedrohung«, dann eine »akute Gefahr« geworden, bis es schließlich vom US-Präsidenten offiziell bestätigt wurde: Im Februar 2012 würde »ChristopherFloyd«, wie er nach seinen Entdeckern Marc Christopher und Archer Floyd benannt worden war, die Erde treffen. Hatte sich Ambers Forschung bis dato auf die Fertigstellung des Kältetanks konzentriert, um Claude De Broglie einen funktionierenden Prototyp zu präsentieren, rückte der Komet nun eine ganz andere Priorität in den Vordergrund: das nackte Überleben. In fieberhafter Eile hatten sie mit dem Bau einer weiteren Kälteschlafkammer begonnen, obwohl noch nicht alle Testreihen mit Kryo 3 abgeschlossen waren. Die Zeit und die Mittel hatten nicht gereicht. Allein die Hülle aus Titanium kostete ein Vermögen, das ihrer beiden Konten leerte. Hinzu kam, dass nach Bekanntwerden des bevorstehenden Armageddon unzählige Leute ihre Ersparnisse
abhoben, um sich vor dem Ende zu Tode zu amüsieren. Die Folge war ein weltweiter Zusammenbruch; erst der Banken, dann der Wirtschaft. Dringend benötigte Bauteile waren nicht mehr zu bekommen. Zumindest hatten sie Kryo 3 vollenden können. Jack Nooga »zweigte« einen Trilithium-Kristall aus den Beständen der NWTPC ab, der das autarke System für mehrere hundert Jahre mit Strom versorgen würde. Sie hatten im Kellertrakt eine Bunkerzelle eingerichtet, in der Kryo 3 und sämtliche Kontrollgeräte stoßsicher installiert wurden. Heute nun war im Radio vermeldet worden, dass es am achten Februar geschehen würde, morgens gegen halb acht Uhr Ortszeit. Noch sechs Tage. Zeit für Jack Nooga, seinen eigenen Plan zu verwirklichen. »Moogn«, brummte Amber, als sie das Labor betrat. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen; Spuren von drei Tagen ohne Schlaf, in denen sie nach Alternativlösungen gesucht hatte, die beiden Kältekammern zu koppeln, um fehlende Bauteile in Kryo 4 zu überbrücken. Theoretisch war es möglich, aber es machte das ganze System instabil. Amber wusste das, Jack wusste das, aber sie redeten nicht darüber. Bis heute. Jack reichte ihr einen Kaffee. »Du musst dringend Schlaf nachholen«, sagte er. »Es nutzt niemandem, wenn du vor Übermüdung Fehler machst.« Amber Floyd - übrigens weder verwandt noch verschwägert mit einem der Kometenentdecker - nahm einen großen Schluck von der schwarzen Brühe und verzog das Gesicht, bevor sie antwortete. »Hast ja Recht, Jack. Aber ich hab noch so viel zu erledigen. - Uh, schmeckt der bitter! Willst du mich umbringen?« »Das erledigst du schon selbst, wenn du so weitermachst.« »Ha-ha. Wenn ich nicht so weitermache, erledigt das der
Komet. Auch nicht besser, oder?« Jack hob die Schultern. »Meinst du wirklich, diese letzten Tests wären notwendig? Kryo 3 läuft doch einwandfrei.« Amber seufzte. »Aber nicht im Verbund. Wir müssen sicher gehen, dass beide Tanks synchron funktionieren. Hast du eine Vorstellung, wie hoch sich Divergenzen über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren aufschaukeln können?« Sie nahm noch einen Schluck Kaffee, dann wandte sie sich den beiden Kryo-Kammern zu. Und stockte. »Moment mal - hast du daran rumgespielt?« Jack zog ein Büßergesicht. »So könnte man es nennen, ja.« »Du hast die Tanks getrennt?« Amber starrte begriffsstutzig auf die losen Kabel. »Warum, zum Teufel?« Jack holte tief Luft. Nun war es an der Zeit, Farbe zu bekennen. »Weil ich längst eingesehen habe, was du noch immer leugnest, Amber«, sagte er. »Wir haben nicht mehr genug Zeit für die Synchronisierung. Der Komet schlägt in sechs Tagen ein. Bis dahin musst du im Kälteschla f sein, damit ich deine Lebensfunktionen noch eine Weile überwachen kann.« Amber schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. »Moment... was soll das heißen, Jack?« Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich an Kryo 4 abstützen. »Ich lege mich nicht in diese verdammte Kiste, während du hier draußen verreckst! Entweder gehen wir beide in den Kälteschlaf, oder keiner von uns!« Jack lächelte entschuldigend. »Tut mir Leid, Schatz«, sagte er, »aber es ist die einzig akzeptable Lösung. Im Verbund sind die Tanks nicht sicher genug. So überlebt wenigstens einer von uns.« Amber war außer sich - aber irgendwie fehlte ihr plötzlich die Kraft, Jack an die Gurgel zu gehen. Sie fühlte sich schlapp. Er sprang hinzu, als sie in den Knien einknickte, und ließ sie auf einen Stuhl sinken. »Was... ist mit mir?«, fragte Amber mit schwerer Zunge.
»Der Kaffee«, erklärte Jack. »Ich wusste, dass du nicht vernünftig sein würdest. Also hab ich ein bisschen nachgeholfen.« »Du verdammter...« Amber wollte aufspringen, brachte aber nicht einmal mehr das zustande. »Ich... ich hasse dich!« »Ich liebe dich auch.« Jack kniete sich vor sie hin und hielt ihren Kopf mit beiden Händen. Eine einzelne Träne lief an seiner Wange herab. Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Als er den Kopf zurücknahm, war Amber Floyd bereits eingeschlafen... *** »... ist mit dem Controller ganz einfach«, beendete das elektronische Abbild des Mannes, dessen Körper schon seit Jahrhunderten zu Staub zerfallen war, seinen Bericht. »Sie müssen ihn nur an die Stromversorgung anschließen und den Vorgang wie beschrieben starten. Den Rest übernimmt die Automatik.« Er hielt kurz inne. »Grüßen Sie Amber von mir«, fügte er dann hinzu. »Ich hoffe, sie ist mir nicht mehr allzu böse.« Das Bild erlosch. Sekundenlang standen Matt, Aruula und Aiko wie gebannt. Was sie gehört hatten, war beinahe zu fantastisch, um wahr zu sein. In weniger als einer Stunde konnte eine Frau vor ihnen stehen, für die ein halbes Jahrtausend im Schlaf vergangen war. Sofern die Reanimation funktionierte. Matthew schöpfte Hoffnung aus der Tatsache, dass diese Kryo-Kammer nicht baugleich mit dem Deep Freezer 1 war, der damals in Zürich Claude De Broglie den Verstand ausgebrannt hatte. Trotzdem kostete es ihn einige Überwindung, nach dem Controller zu greifen und ihn mit einem dünnen Stromkabel an den Trilithium-Konverter zu koppeln. Eine grüne Leuchtdiode glomm auf, und die Sprachausgabe
meldete: »Voice-Control ein.« Matthew Drax holte tief Luft. »Also dann...« Ein Poltern erklang hinter ihnen im Gang. Kaum eine Sekunde später flog die Tür auf und krachte gegen die Wand. Und Matt, Aiko und Aruula sahen sich dem Häuptling der Inuit gegenüber, der sie mit grimmigen Blicken musterte. Er war nicht allein, hatte ein knappes Dutzend seiner Krieger mitgebracht. Es waren keine Worte nötig, um die Situation zu begreifen. Die Lanzen, die auf sie gerichtet wurden, hatten ihre eigene Sprache. Eine Eisenspitze drückte sich in Höhe des Herzens in Matts Uniform. Er ließ den Controller fallen, als der Druck sich verstärkte. Klappernd landete das Gerät auf dem Boden. Auch Aruula beugte sich der Übermacht. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, ihr Schwert aus der Rückenhalterung zu lösen. Aber obwohl ein Speer genau auf ihr Gesicht zielte, schleuderte sie dem Häuptling wütende Worte in ihrer Muttersprache entgegen. Der antwortete genauso grimmig. »Ich habe ihm mit dem Zorn der Großen Mutter gedroht, aber er sagt, wir wären nicht ihre Boten«, übersetzte sie dann. »Ich hoffe, ich habe es falsch verstanden, aber er scheint uns töten zu wollen.« Matt schluckte. Er deutete auf den eisigen Sarkophag. »Sag ihnen, die Eisfrau würde sie verschonen. Es gibt keinen ›ewigen Winter‹, wenn wir sie wecken.« »Ich fürchte, er wird uns keine Chance geben, das zu beweisen«, sagte Aiko, noch bevor Aruula seine Befürchtung bestätigte. Auf seiner Brust ruhten gleich vier Speerspitzen. Von einer lief ein dünner Blutfaden den Bauch hinab. Weitere Eskimos drängten in den Raum, unter ihnen auch der junge Quill. Aruula wurde schlagartig klar, wie Tanuuq ihnen so rasch hatte folgen können: Der abgewiesene Jüngling musste sie weiter beobachtet und gesehen haben, wie der Schamane in der Hütte verschwand. Sie bedachte Quill mit einem vernichtenden
Blick. Die Krieger packten die drei Gefährten und drängten sie zum Ausgang. Aiko wagte es, sich zu wehren, und handelte sich prompt eine Stichwunde und einen Schlag über den Schädel ein. Er stürzte zu Boden und wälzte sich vor Schmerzen. Die Krieger hatten Mühe, ihn wieder zu fassen zu bekommen und auf die Beine zu reißen. Er presste eine Hand gegen die blutende Wunde an seiner Seite. Glücklicherweise war sie nicht tief. Nun ja - eigentlich war es egal, wie tief sie war. Wenn nicht ein Wunder geschah, würden sie die nächsten Minuten eh nicht überleben... *** 120 Kilometer entfernt »Schon wieder so ein Ding. Wo sind die nur hergekommen?« Phil Hollyday kratzte sich den Wochen alten Bart. ›Blödmann!‹, sagte eine Stimme in seinem Kopf. ›Schau dir die Sessel mal genau an. Sie sind vom Himmel gefallen. Beziehungsweise aus einem Fluggerät.‹ ›Schnauze, McKenzie!‹, dachte Hollyday intensiv und versuchte das Bewusstsein Professor Dr. David McKenzies zu verdrängen, das nun schon seit dem 1. Januar 2517 - dieses Datum würde er wohl zeit seines Lebens nicht mehr vergessen in ihm wohnte. Aufgepfropft auf die Identität des Running Man Philipp Hollyday, damit er eine Geheimmission innerhalb des Pentagon erledigen konnte. Die Mission war längst Geschichte, aber das fremde Gedächtnis war immer noch da und trieb ihn langsam in den Wahnsinn. Wenn er es nicht mit Medikamenten unterdrückte. Aber die kleinen weißen Pillen gingen allmählich zur Neige; er musste sie sich einteilen. Achtundneunzig hatte er bei seiner Flucht aus Amarillo mitgenommen, jetzt waren es noch siebzehn.
Mr. Black, der Anführer der Rebellengruppe aus Waashton, kniete sich neben den Sessel, der mitten in der Tundra lag. Der dritte, den sie bis jetzt auf einer geraden Linie gefunden hatten. Eine Linie, die auf einen Gebirgszug in der Ferne zielte. »So zerschmettert, wie die aussehen, müssen sie aus großer Höhe abgestürzt sein«, sagte Black. »Aus einem Flugzeug?«, fragte Miss Hardy, die von allen nur »Honeybutt« gerufen wurde - weil sie mit einem wirklich süßen Hinterteil gesegnet war, das trotz ihres Overalls prächtig zur Geltung kam. Die hübsche Rebellin hatte zwar noch nie eines jener legendären Flugzeuge gesehen, aber sie las eifrig in Lexika aus der Alten Zeit. »Korrekt«, stimmte Black zu und maß sie mit wohlwollendem Blick. »Und wer Flugzeuge baut, hat wahrscheinlich auch die Mittel, uns aus dieser Bredouille zu helfen.« Unwillkürlich drehten sie alle sich um und sahen an dem Nixon-Transportpanzer aus Weltrat-Beständen, den sie sich in einem Husarenstreich unter den Nagel gerissen hatten, vorbei über die Ebene. Dort wallte Staub im Sonnenglast, ritten stämmige, in Fell gehüllte Krieger auf Yak-ähnlichen Tieren. Wieder waren sie ein Stück näher gekommen. Seit drei Tagen wurde die Running-Men-Expedition verfolgt. Bislang hatten sie immer so viel Abstand halten können, dass man die Krieger mit den breitflächigen, mongolischen Gesichtern nur durch starke Ferngläser erkennen konnte. Seit heute Morgen waren die struppigen Gestalten sogar mit bloßem Auge auszumachen. Sie holten auf. Der Teufel mochte wissen, wie sie das anstellten. Ihre wirkliche Anzahl war wegen der Staubwolke noch immer nicht zu erkennen; es waren mindestens dreißig, konnten aber auch über hundert sein. »Weiter!«, befahl Mr. Black knapp. »Verlieren wir keine Zeit!« Sie enterten den Panzer und gesellten sich zu Mr. Eddie am
Steuer, zu Merlin Roots, der vor kurzem noch für den Weltrat gearbeitet hatte, und zu dessen telepathisch begabter Gefährtin Karyaana vom Volk der Dreizehn Inseln. Neben Black und Hollyday war sie die einzige Weiße an Bord. Der Rebellenführer schloss den Einstieg, und Mr. Eddie gab Gas. Der Motor des kristallbetriebenen Panzers heulte auf; mit einem heftigen Ruck fuhr das stählerne Ungetüm an. Durch eine schmale Sichtluke blickte Mr. Black zurück. Er machte sich Sorgen. Diese... Mongolen würden nicht aufgeben. Was wollten sie? Den Panzer? Unwahrscheinlich angesichts der Tatsache, dass sie selbst auf primitiven Reittieren saßen. Waffen? Vielleicht. Oder verfolgten sie die Expedition zum Kratersee im Auftrag eines Schweinehundes namens Victor Hymes, seines Zeichens Präsident des so genannten Weltrats, und seines Kampfhundes General Arthur Crow? Zuzutrauen war es ihnen. Die World Council Agency hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, andere die Dreckarbeit machen zu lassen, um Konkurrenten und Gegner auszuschalten. Unwillkürlich dachte Black an die Reste seiner angeschlagenen Organisation, die sich unter der Leitung Mr. Hackers in Waashton neu formierte. Hoffentlich hatten sie nicht mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Momentan setzte Mr. Black alle Hoffnung in die Unbekannten, die in der Tundra eine Spur aus Ledersesseln hinterlassen hatten. Wer Luftfahrzeuge baute, verfügte sicher auch über andere Mittel und war zivilisiert genug, Verfolgten beizustehen. Ansonsten würde ihr hoffnungsvoll begonnenes Unternehmen vor dieser Bergkette enden, noch bevor sie den asiatischen Kontinent überhaupt erreicht hatten... *** Tanuuq, der Häuptling, trat vor den Schamanen hin. »Ich
vergebe dir deinen Verrat, wenn du sie tötest«, sagte er. »Dein Geist ist verwirrt«, entgegnete Uimag. »Binde den Boten der Großen Mutter sofort los! Vielleicht zeigt er sich dann gnädig.« Dabei wusste er genau, dass es für den Häuptling kein Zurück mehr gab. Tanuuq hatte sich entschieden. Für das Leben der Alten und gegen den Willen der Götter. Er würde sie alle ins Verderben reißen. Tanuuqs Hand krampfte sich um das Knochenmesser vor Uimags Brust und riss es mit einem Ruck vom dünnen Lederband. »Dann werde ich es selbst tun«, sagte er. »Du hast den Tod gewählt, Schamane!« »Und du den ewigen Winter«, sagte Uimag. Er blickte dorthin, wo die drei Fremden standen, an Metallstämme gefesselt, die aus dem Boden ragten und im oberen Teil gebogen waren. Der Bote der Großen Mutter stand aufrecht und mit hartem Gesicht da, und auch seine Begleiter zeigten keine Furcht. Zweifellos würde die Große Mutter eingreifen, noch bevor dem Ersten von ihnen ein Leid geschah, davon war der Schamane überzeugt. Er sah zur anderen Seite, wo vor dem Eingang zur Ruhestatt der Eisfrau das breite Opferzelt aufgebaut wurde. Er fröstelte bei dem Gedanken, dass Tanuuq schon mit dem Willen aufgebrochen war, die Fremden zu töten; sonst hätte er das Zelt kaum mitgenommen. Die Überlieferung besagte, dass keines Menschen Blut unter den Augen von Schwester Sonne vergossen werden durfte, doch Tanuuq wollte nicht warten, bis ihr Antlitz hinter der Welt verschwunden war. Wenn er Erfolg hatte, würde es bald für immer verschwunden bleiben, und die Dunkelheit und der Frost würden erneut über Nunavut kommen. Der Schamane fror plötzlich. Und dann sah er, wie der Häuptling seinen Knochendolch hob - und auf die schwarzhaarige Frau deutete... ***
Aiko zerrte an seinen Fesseln, aber die Inuit schienen wahre Meister im Knüpfen komplizierter Knoten zu sein. Je mehr er an dem Strick zog, desto fester schnitt er ins künstliche Fleisch seiner Arme. Das Plysterox darunter konnte er natürlich nicht durchdringen. Trotzdem machte Aiko weiter. Seine Hoffnung war, dass er das Material irgendwann genug gedehnt hatte, um damit über den Laternenpfahl zu schaben, an den er gefesselt war. Wenn die ersten Fasern beschädigt waren, würde er sich befreien können. »Ich schaffe es, aber dazu brauche ich Zeit!«, zischte er zu Matt hinüber, der an den Pfahl zu seiner Linken gefesselt war. Auch der Mann aus der Vergangenheit mühte sich vergeblich mit den Fesseln ab - ohne Plysteroxarme eine schmerzhafte Angelegenheit. Mit verzerrtem Gesicht sah Matthew Drax auf. »Ich fürchte, so viel Zeit bleibt uns nicht. Verdammt, wenn wir doch wenigstens Dr. Floyd hätten wecken können. Dann wüsste dieser verdammte Chief, dass der ewige Winter ein Märchen ist.« Aiko grinste schief. »Noch ist nicht aller Tage Abend.« »Wie meinst du das?« »Ich habe das Zauberwort gesagt«, erklärte der Cyborg. »Als ich am Boden lag und mich zu dem Controller hingerollt habe.« »Du hast... du hast die Reanimation gestartet?« Matt blieb der Mund offen stehen. »Denkst du, ich wäre umsonst zu Boden gegangen?«, fragte Aiko entrüstet. »Ich unterbreche euch ungern«, rief Aruula von ihrem Pfahl herüber, »aber da tut sich was. Und ich glaube, es ist nichts Gutes.« Sie blickten nach vorn und sahen, wie der Häuptling auf Aruula deutete und etwas sagte. Eine Übersetzung war diesmal unnötig, sie wussten nur zu gut, was das zu bedeuten hatte: Das Sterben begann!
Zwei besonders kräftige Eskimos traten hinter Aruula und schnitten sie los. Dann packten sie ihre Oberarme und schoben die um sich Tretende auf das Opferzelt zu - und auf Tanuuq, der im Eingang wartete, den Opferdolch in der Hand... *** Ein heller Schein, gleißend im Zentrum ihres Bewusstseins. Ein dumpfes Dröhnen, das ihren Verstand ausfüllte. Ein Geschmack wie von Eisen, der auf ihren Sinnen lag. Dies war der erste bewusste Eindruck. Dann trennten sich die Wahrnehmungen. Die Helligkeit ließ ihre Augen schmerzen. Das Dröhnen marterte ihre Ohren. Und das eiserne Aroma füllte Mundraum und Rachen. Dann erst kamen die Schmerzen. Wie feine Nadelstiche begannen sie bei den Zehen und Fingerspitzen, zogen als glühende Risse Arme und Beine herauf und explodierten im Bauchraum, wo sie alle Organe in einer Feuersbrunst zu verbrennen schienen. Der erste Atemzug war die Krönung der Qual. Als sich ihre eisigen Lungen füllten, schien die hauchfeine Haut aufzuplatzen und das Feuer einzulassen. Für einen endlosen Augenblick glaubte Amber Floyd, sie würde sterben. Dann begriff sie, dass sie im Gegenteil ins Leben zurückkehrte. Gedankenfetzen flirrten durch die erwachenden Ganglien ihres Gehirns. Erstaunlicherweise war die erste Erinnerung die an miserablen Kaffee. Dann tauchte Jack vor ihrem geistigen Auge auf. Für einen Moment sah sie wie von fremder Warte aus liebevoll auf das Bild. Dann fiel ihr ein, was er getan hatte. Der Schleier des Vergessens wurde so ruckartig von ihrem Verstand gerissen, dass ihr übel wurde. Kryo 3 – Brodens Verrat - der Komet - der Wettlauf mit der Zeit... Jacks Opfer!
Eine Träne stieg schmerzhaft in Ambers Auge. Jack hatte sich geopfert, um sie zu retten. Dieser verdammte Egoist! Sie wollte wütend die Faust ballen, doch der Befehl an ihre Hand blieb ohne Wirkung. Und allmählich wurde Amber Floyd sich bewusst, dass alles, was sie seit den ersten Empfindungen erfasst hatte, rein geistiger Natur gewesen war. Nun kam die Panik. Wie eine Woge rollte sie aus dem Zentrum ihres Verstandes heran und brandete gegen die Innenwände ihres Kopfes, um in Myriaden winziger Ängste zu zersprühen. Hatte Kryo 3 fehlerfrei funktioniert? War ihr Körper noch intakt? Oder war sie ein wiederbelebtes Gehirn, das auf den Resten eines verwesten Leibes thronte...? Ambers Schrei konnte nur sie selbst hören, und er hallte schier endlos ihrem Kopf wider. *** Matt und Aiko erstarrten, als ein Schrei aus dem Opferzelt drang, in dem Aruula vor einer halben Minute verschwunden war. Dann wurden sie sich bewusst, dass es nicht der Schrei einer Frau gewesen war. Sie sahen sich an. Was ging da vor? Eine Zeltwand wölbte sich, als ein schwerer Körper von innen dagegen fiel. Ein weiterer Schrei. Eine Sekunde später stürzten die beiden Inuit, die Aruula zum Schafott geschleppt hatten, kreidebleich daraus hervor. Sie riefen etwas, das Matt und Aiko nicht verstanden, und deuteten hektisch auf den Zelteingang. Dort rührte sich nichts. Weder Aruula, noch der Häuptling ließen sich blicken. Der Schamane nutzte die Gunst der Stunde. Er hob die Arme und redete auf die Männer ein, und in wenigen Sekunden bekam er die Situation in den Griff. Den beiden Freunden fiel ein Stein vom Herzen; nun standen auch ihre Chancen wieder besser. Doch was war mit Aruula...?
Uimag schickte einige Männer in das Zelt. Zögerlich gehorchten sie dem Befehl - und als sie wenig später wieder hervorkamen, schleiften sie einen leblosen Körper zwischen sich. Matt und Aiko stockte der Herzschlag. Es war Tanuuq. Er war tot. Die Augen weit aufgerissen, die Zunge schlaff über die Lippen hängend, ließen sie ihn zu Boden gleiten. Um seinen Hals war eine Spur wie ein tiefer Kratzer. Aber sie war nicht rot, sondern grün! Durch den zurückgeschlagenen Zelteingang konnte Matt von seiner Position aus sehen, dass das Ze lt leer war. Aruula war verschwunden. Zumindest dies war kein Rätsel: In der Rückwand klaffte ein halb mannshoher Riss. Sie musste ihn mit dem Opfermesser ins Leder geschnitten haben, um ungesehen zu entkommen. Das hatten natürlich auch die Eingeborenen schnell begriffen. Einige schienen die Verfolgung aufnehmen zu wollen, doch der Schamane gebot ihnen Einhalt. Wieder redete er auf die Gruppe ein, und wieder konnten Matt und Aiko nur raten, wie sich die Fahne des Schicksals für sie drehte. Matthew blickte zu Tanuuqs Leiche hin. Ein Schauder rieselte seinen Rücken hinab. Der Häuptling war stranguliert worden, kein Zweifel. Aber wie? Was hatte Aruula getan, um ihn auf diese Weise zu töten und die beiden Wachen in Angst und Schrecken zu versetzen? Matt hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm die Antwort darauf nicht gefallen würde... *** Die grenzenlose Erleichterung, die Amber überkam, als sie endlich ihren linken Zeigefinger bewegen konnte, war kaum zu beschreiben. Sie besaß also immer noch einen Körper, und mit etwas Glück überstand er auch den Auftau-Prozess schadlos. Aber es ging endlos langsam vonstatten...
Endlos. Das Wort geisterte in ihrem Kopf herum. Wie lange mochte sie wohl geschlafen haben? Und wer hatte sie geweckt? Fragen, die vorerst unbeantwortet blieben. Die Abdeckung des Kältetanks war noch geschlossen. Aber sie bemerkte immerhin, dass jemand den Raureif vom Glas gewischt hatte. Der- oder diejenige würde sich bald zu erkennen geben. Nun konnte Amber Floyd bereits die Hände bewegen, und auch in ihre Zehen kehrte das Gefühl zurück. Langsam bewegte sie den Kopf, ängstlich auf jede Reaktion ihres Körpers achtend. Doch der nächste Schock kam von außen. Plötzlich prallte etwas genau in Sichthöhe gegen die Glasabdeckung. Und als Amber ihren Blick fokussiert hatte, erwachten ihre Stimmbänder schneller zum Leben, als sie gedacht hatte. Sie brüllte wie von Sinnen, obwohl zunächst nicht mehr als ein heiseres Krächzen über ihre blauen Lippen kam. Adrenalin raste heiß durch ihre Blutbahn. Genau vor ihren Augen hockte ein Viech, wie sie noch keines gesehen hatte. Eine violette Spinne, faustgroß, mit langen haarigen Beinen und einem Dorn auf dem Rücken. Unzählige winzige Nadelkopfaugen starrten sie teilnahmslos an. ›So ein Tier gibt es nicht!‹, schrie es in ihr. ›Mein Gott, wo bin ich hier?‹ Und wieder, zwangsläufig: ›Wie lange habe ich geschlafen?‹ Die Panik, die in ihr hochstieg, beflügelte ihre Körperfunktionen. Ein unkontrollierbares Zittern breitete sich in ihren Armen aus. ›Nicht durchdrehen!‹, warnte sie sich. ›Ruhig bleiben! Hier drin kann dir nichts passieren.‹ Ein Summen ertönte, gefolgt von einem Klacken. Dann einem weiteren. Und noch einem. Die Verschlüsse der Kryokammer sprangen nacheinander auf! ›Die Automatik!‹, durchfuhr es Amber. Der ganze Vorgang war automatisiert! Gleich würde die Abdeckung aufschwingen,
und die monströse Spinne... KLATSCH! Ein massiver Schatten prallte gegen das Glas. Und als Amber mit einem Schrei den Blick nach vorn richtete... ... sah sie die Überreste der Spinne als violettroten Brei an der Verglasung nach unten rinnen. Im nächsten Moment klappte die Abdeckung zur Seite weg. Ein Gesicht tauchte in Ambers Blickfeld auf. Das Gesicht einer halbnackten, bronzehäutigen Frau mit wilden struppigen Haaren. In ihrer Hand hielt sie einen blutverschmierten Plastikordner aus dem Labor... *** Die zwölf Inuit schienen sich in zwei Parteien zu spalten: Vier stellten sich offen auf die Seite des Schamanen, die restlichen acht, darunter auch der junge Quill, deuteten mit teils ängstliche n, teils wütenden Gesichtern immer wieder auf Matt und Aiko. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie Rache für den Tod ihres Häuptlings wollten und nicht mehr an den göttlichen Status der Gefesselten glaubten. Nach Aruulas Auftritt vermuteten sie wohl eher das Gegenteil. Seit ihrer Flucht aus dem Opferzelt hatten sie nichts mehr von der Barbarin gehört oder gesehen. Matthew hoffte, dass sie gerade einen genialen Plan austüftelte, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Bis dahin setzte er alle Hoffnung auf den Schamanen. Uimag redete auf die Dorfbewohner ein, stieß aber auf taube Ohren. Zu groß waren die Wut und das Entsetzen über den Tod des Anführers. Ein großer, grobschlächtiger Kerl tat sich besonders hervor, gegen die Gefangenen zu wettern - Matt hätte es nicht gewundert, wenn er sich damit Chancen auf die Häuptlingskrone sichern wollte. Er war es auch, der schließlich zu einem Speer griff und mit energischen Schritten auf die
Laternenpfosten zustapfte. »Shit!«, entfuhr es Matt. Jetzt musste ein Wunder geschehen, um sie noch zu retten. Er sah zu Aiko hinüber. Das Gesicht des Cyborgs hatte sich zu einer Maske der Anstrengung verzerrt. Und als der Grobschlächtige ihn fast erreicht hatte, den Speer bereits zum Stoß erhoben - löste sich die Anspannung in einem wilden Kampfschrei, der die Inuit zusammenzucken ließ. Mit einem letzten Ruck zerfetzte Aiko die Stricke, die ihn hielten, und sprang im selben Augenblick vor. Die Lanze stach nach ihm. Aiko ließ sich vornüber fallen, rollte über die Schulter ab und kam dicht vor dem Angreifer wieder auf die Beine. Er packte den Speer des verblüfften Eskimo beim Schaft und hielt ihn eisern fest. Für alle Beobachter musste es wie ein Kampf David gegen Goliath aussehen: der schlanke, gerade mal 1,76 Meter große Aiko gegen einen Koloss, der ihn um gut zwei Köpfe und eine halbe Breite übertraf. Doch Matt wusste, welche Qualitäten in dem kleinen Asiaten schlummerten. Zu seinen bionischen Armen gesellten sich Schnelligkeit, Gewandtheit und Kenntnisse in diversen Kampfsportarten. Die auf einen Schlag zunichte gemacht wurden, als der Inuit den Speer losließ und seine Pranke, zur Faust geballt, auf Aikos Schädel schmetterte. Der Cyborg wurde von der Aktion völlig überrascht. Er brach zusammen und blieb benommen am Boden liegen. Der Koloss zog ein Messer aus seinem Gürtel und... Ein kollektiver Schrei der restlichen Gruppe ließ Matts Kopf nach oben rucken. Auch der Grobschlächtige hielt inne und fuhr herum. Für eine Sekunde schien die Zeit einzufrieren. Dann brachen die Inuit gemeinsam in die Knie und senkten die Oberkörper zu Boden. Und Matt konnte endlich sehen, was sich hinter ihnen, am Eingang des NWTPC-Gebäudes abspielte.
Zwei Gestalten waren dort erschienen. Die eine war Aruula. Die andere... Dr. Amber Floyd. Nackt und bleich stand sie da, von der Barbarin gestützt, kaum fähig, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Ihr schulterlanges blondes Haar hing ihr wirr in die Stirn, und Speichel tropfte aus ihrem Mund. Sie bot wahrlich keinen erhabenen Anblick - doch die Inuit erstarrten vor Angst und Ehrfurcht. Für sie musste der Auftritt der »Eisfrau« ähnlich erschütternd sein wie damals der Anblick des auf die Erde zurasenden Kometen für Commander Matthew Drax. Matts Verstand arbeitete auf Hochtouren. Die nächsten Sekunden würden über ihrer aller Wohl und Wehe entscheiden. »Sag ihnen, dass die Eisfrau durch Tanuuqs Tod besänftigt ist!«, rief er Aruula zu. »Und dass der ewige Winter nicht kommt!« Aruula nickte und öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, erhob Dr. Floyd ihre Stimme - im Dialekt der Inuit! Ihre Stimme stockte und schwankte stark; vermutlich mussten sich die Stimmbänder erst wieder ans Sprechen gewöhnen. Matt vermutete, dass sie seine Worte wiederholte, denn die Reaktion der Männer war eindeutig: Immer noch kniend, sahen sie sich erleichtert an, um sich dann erneut in den Staub zu werfen. Amber Floyds Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. »War das okay so?«, fragte sie. »Okay? Das war perfekt!« Matt konnte nicht umhin, die Wissenschaftlerin zu bewundern. Dafür, dass sie gerade aus einem fünfhundert Jahre langen Schlaf erwacht war, reagierte sie bemerkenswert schnell. »Sagen Sie mir, was hier überhaupt los ist«, bat Amber Floyd. »Ich muss zugeben, ich bin etwas... verwirrt. Wie lange war ich weg?« »Das sollten wir in Ruhe besprechen.« Matt zerrte kurz an seinen Fesseln. »Aber wie Sie sehen...«
»Darum kümmere ich mich schon«, brummte Aiko, erhob sich vom Boden und schüttelte die Benommenheit ab. Offensichtlich war es ihm peinlich, so überrumpelt worden zu sein. Er trat zu dem Grobschlächtigen, der nur einen Schritt entfernt kniete, deutete grimmig auf dessen Messer und streckte die Hand aus. Der Koloss duckte sich und reichte ihm schnell die Klinge. Das Erscheinen der Eisfrau hatte ihm allen Schneid abgekauft. Aiko würdigte den Inuit keines Blickes mehr, trat zu Matt Drax und befreite ihn von den Fesseln. Matthew rieb sich die schmerzenden Handgelenke, in die sich die Stricke tief eingeschnitten hatten. Doch die wahren Schmerzen kamen erst jetzt, als das Blut wieder zu zirkulieren begann. Matt fühlte ganze Ameisenschwärme durch seine Hände toben. Er deutete in die Kunde. »Am besten schicken Sie die Leute in ihr Dorf zurück«, sagte er zu Amber. »Man hält Sie für eine Art Todesbotin, die den Inuit den ewigen Winter bringt, wenn sie erwacht. Sagen Sie ihnen, sie hätten nichts mehr zu befürchten. Und dass Sie zur ›Großen Mutter‹ zurückkehren.« »Große Mutter?«, echote Dr. Floyd. »Die örtliche Obergottheit«, antwortete Aiko. »Wir sind ihre Boten - sagt zumindest der Dorfschamane.« »Und wer sind Sie tatsächlich?« »Oh.« Jetzt erst fiel Matt auf, dass sie durch die MMPAufzeichnung zwar schon eine Menge über Dr. Amber Floyd wussten, sich selbst aber noch nicht vorgestellt hatten. Er deutete auf Aruula. »Diese junge Lady kennen Sie ja schon: Aruula vom Volk der Dreizehn Inseln. Das liegt im Norden Europas.« Seine Hand schwang herum. »Dies hier ist Aiko Tsuyoshi, ein japanischstämmiger Amerikaner aus Amarillo. Ich selbst bin Commander Matthew Drax, Pilot der US Air Force. Zurzeit außer Dienst - sozusagen.« »Amber Floyd, angenehm.« Die Situation hätte bizarrer kaum sein können. Da standen sie nun vor dem NWTPC-Gebäude und hielten höfliche
Konversation: eine Barbarin, ein Cyborg und zwei Menschen aus dem einundzwanzigsten Jahr hundert, während zwischen ihnen eine Horde Inuit am Boden kauerte. Damit wenigstens letztere das Feld räumten, sprach Dr. Floyd zu ihnen und befahl, sie sollten den Heimweg antreten. Zögerlich erhoben sich die Eingeborenen. Während die meisten von ihnen rückwärts gehend und unter ständigen Verbeugungen den Platz verließen, trat der Schamane demütig auf sie zu, zog seinen Mantel aus und reichte ihn der »Eisfrau«. »Was soll...«, begann Amber, bevor sie die Geste verstand und an sich herabblickte. »Um Himmels willen!« Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als sie den Mantel aus Uimags Fingern riss und sich darin einhüllte. Wäre Aruula ihr nicht zur Hand gegangen, wäre sie gestürzt. »Keine Sorge, Sie sind nicht die erste Frau, die ich...«, begann Matt leichthin, um die peinliche Situation zu entschärfen, bevor er sich durch Aruulas schneidende Blicke bewusst wurde, was er da plapperte, und er endete mit einem formvollendeten: »... äh, nun, Sie wissen schon... Verdammt, ich bin ein Idiot.« Die letzten Worte waren freilich nur gemurmelt. Wenig später hatten sich die vier auf den Eingangsstufen des Gebäudes niedergelassen, und es oblag Matthew, die Frau aus der Vergangenheit einige bittere Pillen zu schlucken zu geben. Es war nun schon zweieinhalb Jahre her, dass er selbst - wenn auch unter anderen Umständen - in diese postapokalyptische Welt gelangt war. Er hatte sich die Erkenntnis, dass die Zivilisation untergegangen, die Menschen größtenteils verdummt und Fauna und Flora in unglaublicher Weise mutiert waren, langsam erarbeiten müssen. Dr. Floyd dies alles in wenigen Minuten beizubringen, erforderte mehr psychologisches Geschick, als ein Soldat wie er aufbringen konnte. Deshalb machte er es nach der »Holzhammer-Methode« . »Sie behaupten, von unserer alten Welt... wäre nichts
geblieben...?«, hauchte Dr. Floyd ungläubig. »Nein, das nun auch wieder nicht«, relativierte Matt. »Einige Bunker-Zivilisationen haben überlebt und das Wissen der Vergangenheit bewahrt, sogar weiterentwickelt. Lasergewehre, fliegende Panzer, Klone, Cyborgs...« Er wechselte einen schnellen Blick mit Aiko. Der nickte leicht. »... wie unser Freund Aiko hier«, vollendete Matt den Satz. Amber Floyd sah den Asiaten entgeistert an. »Sie sind nicht menschlich?!« Aiko winkte mit einem Lächeln ab. »Doch, natürlich«, sagte er. »Ich wurde organisch geboren. Nur einige Körperteile wurden durch bionische Implantate ersetzt und meine Sinne... nun, verbessert.« Dr. Floyd sank in sich zusammen. »Das alles ist schwer zu begreifen«, sagte sie leise und zog den Mantel des Schamanen fröstelnd um sich zusammen. »Ist dir kalt?«, fragte Aruula fürsorglich. »Soll ich ein Feuer machen?« Die Wissenschaftlerin schüttelte den Kopf und betrachtete den Rücken ihrer rechten Hand. »Nein, danke, es ist nur... meine Haut juckt und schmerzt etwas. Kein Wunder nach fünf... fünfhundert Jahren Kälteschlaf.« Die ungeheuerliche Zahl kam ihr nur zögernd über die Lippen. »Ich denke, mein Körper braucht einfach Zeit, um sich zu regenerieren.« »Diese Zeit werden Sie haben«, sagte Matt. »Und wenn es auch schwer fällt zu glauben - Sie werden sich an die Umstände gewöhnen. Nicht alles hat sich zum Schlechten verändert. Zum Beispiel...« Er kam nicht mehr dazu, ihr von den wenigen Vorzügen dieser neuen Welt zu berichten. In der Ferne, aus Richtung der aufsteigenden Nebelschwaden klang Donner auf. Aber eine Art von Donner, die nicht von einem nahenden Gewitter kündete, sondern von... »Kanonen?«, stieß Aiko hervor und sprang auf.
Auch Aruula fuhr hoch. Ihre Hand tastete instinktiv zum Griff ihres Schwertes. »Ich würde sagen, Granatfeuer«, stimmt Matthew Drax zu. »Noch weit entfernt, etwa zehn Kilometer.« Aiko lauschte. »Um die achtzehn bis zwanzig«, stellte er richtig. »Näher kommend.« »Ein Krieg?«, fragte Dr. Floyd. Ihre körperliche Verfassung ließ es noch nicht zu, dass sie auf eigenen Beinen stand. Sie blickte ängstlich zu Matthew auf. »Sagen Sie, Commander Drax - herrscht Krieg?« Matt verneinte. »Natürlich bekämpfen sich einige Völker untereinander, aber das sind Konflikte, die mit Schwertern oder bestenfa lls Vorderladern geführt werden. Außerdem kommen wir aus dieser Richtung; da gibt es niemanden, der mit Explosivmunition umgehen könnte.« »Nun, zumindest gab es niemanden«, stellte Aruula richtig. »Jetzt schon. Ich schlage vor, wir bereiten uns auf einen Kampf vor, ganz egal, wer da kommt.« *** »Hören Sie auf damit, Mr. Hollyday; es hat keinen Sinn!« Mr. Black blickte in den Turm des Panzers, in dessen Luke Philipp Hollyday breitbeinig stand und dabei war, den Granatwerfer ein viertes Mal zu laden. Die ersten drei Schüsse hatten die Front der reitenden Mongolen noch nicht einmal erreicht, geschweige denn aufgehalten. Im Gegenteil schienen die Reiter ihr Tempo noch zu steigern. Diese Yaks wurden Phil unheimlich. Ermüdeten die Viecher denn nie? ›Ich hab's dir doch gesagt!‹, meckerte Dave McKenzie in seinem Verstand, und Phil musste an sich halten, ihn nicht anzubrüllen. Die anderen würden ihn für übergeschnappt halten - mehr noch, für ein Risiko -, wenn sie erfuhren, wie es um seinen Geisteszustand bestellt war. Mit fliegenden Fingern pulte
Hollyday eine der kleinen weißen Pillen hervor und schluckte sie. ›Und ich sage dir: Halts Maul!‹ »Schließen Sie die Luke und kommen Sie runter!«, befahl Mr. Black. »Wir werden die Munition noch dringend brauchen!« »Es war einen Versuch wert«, verteidigte Miss »Honeybutt« Hardy den grimmig dreinblickenden Hollyday, der den Werfer mit einem unhörbaren Fluch auf den Lippen wieder in seiner Halterung verstaute. »Aber es hat nichts gebracht, Miss Hardy. Und nun ist verdammt noch mal Schluss mit der Debatte!« Es kam selten vor, dass Mr. Black so unwirsch reagierte. Daran konnte man erkennen, wie sehr die Treibjagd - bei der sie das Wild waren -, auch an seinen Nerven zerrte. Ansonsten achtete der Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger nämlich peinlich genau auf gute Umgangsformen und einen zivilisierten Ton; ein Grund dafür, warum sich die Running Men prinzipiell siezten. Wie so vieles in Mr. Blacks Verhalten war auch dies ein »genetisches Erbe« seines Urahns, von dessen Lebensgeschichte er so gut wie nichts wusste. »Vor uns ist eine Nebelwand!«, meldete Mr. Eddie vom Steuer her. »Die könnten wir nutzen! Wir müssten allerdings vom Kurs abweichen.« »Nebel?« Black ging durch den rumpelnden NixonTransportpanzer nach vorn und blickte durch die schmalen Sichtfenster. Etwa zwei Kilometer vor ihnen stieg auf breiter Front eine grauweiße Wolkenwand gen Himmel. »Tatsächlich... Das müssen heiße Quellen sein, oder ein Sumpfgebiet. Weicher Boden also - wir könnten stecken bleiben.« Mr. Eddieklopfte vertrauensvoll auf die Steuerkonsole. »Ich kenne unser Baby inzwischen gut genug«, sagte er. »Wenn wir ein bestimmtes Tempo nicht unterschreiten, pflügen wir auf den breiten Ketten durch, bevor wir einsinken können.« »Die Reittiere der Mongolen dagegen...« Merlin Roots rieb sich das Kinn. »Das würde sie aufhalten. Stunden, wenn nicht
Tage!« Mr. Black sah hinüber zu der Bergkette, auf die sie bislang Kurs gehalten hatten. Und die sie nicht mehr erreichen würden, wenn die wilden Reiter hinter ihnen das Tempo weiter anzogen. Die Nebelwand war eine Chance; vielleicht ihre einzige und letzte. »Okay«, entschied Black. »Riskieren wir es. Und möge Gott uns beistehen!« *** Sie waren über die an der Wand verschraubte Treppe aus Stahlstreben auf das Flachdach des NWTPC-Gebäudes gestiegen, um Ausschau zu halten. Das Donnern war nur drei Mal erklungen und dann verstummt. Kein Grund, es leichtfertig zu übergehen. Aruula kümmerte sich um Dr. Amber Floyd, die Aiko auf seinen Armen nach oben getragen und bei einem Lüftungsrohr abgesetzt hatte. Die Wissenschaftlerin hockte mit angezogenen Knien da und hatte den Mantel eng um sich geschlungen. Ihr Blick ging in weite Fernen. Vermutlich versuchte sie das zu verarbeiten, was Commander Matt Drax, der in dieser Welt »Maddrax« genannt wurde, ihr berichtet hatte. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis sie es wirklich begriff. Aruula berührte sie an der Schulter. Amber zuckte zusammen. Fast hätte sie aufgeschrien. »Willst du reden?«, fragte Aruula. »Meistens hilft das.« »Danke.« Dr. Floyd lächelte. »Danke, wirklich, aber ich muss erst mal mit mir selbst ins Reine kommen. Da sind noch ein paar Erinnerungen, die...« Sie stockte, als Tränen in ihre Augen stiegen. »Ach, verdammt, ich...« Aruula ließ sich neben ihr nieder und legte einen Arm um Ambers Schulter. Und zuckte zurück, als Amber nun wirklich aufschrie. »Au!«
Matt und Aiko fuhren herum. Sie standen am Rand des Daches, fünf Schritte entfernt, und hatten über die weite Ebene in Richtung der fünf Kilometer entfernten heißen Quellen geblickt. »Was ist passiert?«, fragte Matt alarmiert. »Nichts!«, beeilte sich Amber zu entgegnen. »Meine Haut ist noch sehr empfindlich, das ist alles.« »Lasst euch nicht ablenken!«, fügte Aruula hinzu. »Wir beide kommen schon klar.« Sie zuckten die Schultern und wandten sich wieder der Ebene zu. Matthew kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, doch er konnte nichts von Bedeutung erkennen. »Ich sehe was!«, meldete sich Aiko. Klar, dass seine bionischen Augen wieder mal den Vogel abschossen sinnbildlich gesehen. »Ein Fahrzeug, kastenförmig. Es kommt direkt aus dem Nebel! Dort, links neben dem Tümpel.« Nun glaubte auch Matt einen kleinen schwarzen Punkt auszumachen, musste sich aber auch weiterhin auf Aikos Beobachtungen verlassen. Minuten vergingen. Der Punkt wurde schnell größer. Wer immer da kam, er legte ein beachtliches Tempo vor. »Es ist eine Art... Panzer«, sagte der Cyborg schließlich. Dann stieß er ein Ächzen aus. »Was ist?«, drängte Matt. »Ein Modell der WCA! Ich erkenne das Symbol auf dem Rumpf!« Matt war wie vor den Kopf geschlagen. »Ein Weltrat-Panzer?! Hier? Verdammt, das kann kein Zufall sein.« Sie hatten schon befürchtet, dass die World Council Agency Wind von ihrer Krater-Expedition bekommen hatte. Nun wurde der Verdacht zur Gewissheit. Und das bedeutete... »Wir müssen uns auf einen Kampf vorbereiten«, sagte Aiko düster. »Die wollen selbst zum Kratersee und haben dabei bestimmt keine Lust auf Konkurrenz. Entweder setzen sie uns hier fest oder machen gleich kurzen Prozess.« Er wusste von der
Skrupellosigkeit der neuen US-Regierung, mit der sie ihre Ziele durchsetzte. Und diese Ziele hießen: an der Spitze stehen und alle anderen kontrollieren, aufstrebende Zivilisationen klein halten und potentielle Feinde so bald wie mö glich ausschalten. Koste es, was es wolle. Matt Drax sah zu ihrer mageren Waffensammlung hinüber. »Mein Driller, dein Tak 02, Aruulas Schwert. Ach ja, und ein Inuit-Messer. Damit sollten wir es schaffen.« Aiko starrte ihn an. »Du machst Scherze!« »Was sonst?« Matt grinste schief. Galgenhumor war Aikos Stärke nicht. »Ich würde sagen, wir brauchen etwas mehr Power, sonst können wir uns gleich ergeben.« Er wandte sich an Dr. Floyd. »Miss Floyd -« »Amber«, unterbrach sie ihn. Er lächelte knapp. »Okay, Amber: Wissen Sie, ob irgendwo im Gebäude Waffen gelagert sind? Da kommen einige... hm, unerfreuliche Zeitgenossen mit einem Panzer, die wir gern gebührend empfangen würden.« Amber Floyd hob die Schultern. »Nicht dass ich wusste. Das Unternehmen meines Ex-Mannes war schließlich kein Militärcamp. Möglich, dass in irgendeinem Schrank in den Quartieren noch eine Pistole liegt, aber ich wüsste nicht, wo. Tut mir Leid.« Matthew drehte sich wieder zum Dachrand um. Das sich nähernde Gefährt war inzwischen auch für ihn als Panzer zu erkennen - ein breiter, flacher Transporter mit aufmontierten Maschinengewehren, in dem etwa zwanzig Mann Platz hatten. Wenn er voll besetzt war, standen sie auf verlorenem Posten. »Zumindest haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite«, sagte Aiko. »Und von hier oben aus auch ein hervorragendes Schussfeld.« »Wie viele Kugeln hast du noch?«, fragte Matt. Aiko zog das Magazin aus der ultramodernen Maschinenpistole aus Miki Takeos Fertigung und überprüfte es.
»Nur noch etwas über siebzig Schuss. Ich stelle besser auf Einzelfeuer um.« »In meinem Driller sind noch dreiundzwanzig Schuss.« Matt polierte den blanken Stahl der Waffe mit dem Ärmel; eine Geste, die seine Nervosität verriet. »Damit ist es zu schaffen. Wir gehen hier oben in Position und warten, bis die WCAAgenten ausgestiegen sind. Dann rufe ich sie an, sich zu ergeben. Eröffnen sie das Feuer, bleibt uns keine Wahl...« Es war der einzig mögliche Plan, aber er gefiel Matt nicht. Er hasste es, Menschen aus der Deckung heraus unter Feuer zu nehmen. »Dann hoffen wir mal, dass sie nicht auf Nummer sicher gehen und mit dem Tank gleich das Gebäude einreißen«, brummte Aiko, aber so gedämpft, dass die beiden Frauen es nicht mitbekamen. Matt ging zu Aruula und Amber zurück. Die Wissenschaftlerin sah nicht besonders gut aus. Dunkle Ringe langen unter ihren Augen, und ihre Haut war fahl, fast durchscheinend. Nur wo sie sich gekratzt hatte, leuchtete sie in hellem Rot. »Immer noch dieses Jucken?«, erkundigte er sich. Sie nickte. »Wir kümmern uns drum, wenn das hier ausgestanden ist«, versprach Matt. »Aiko hat ein Regenerationsgel dabei, vielleicht hilft das.« Er wandte sich an Aruula. »Ich fürchte, gleich wird hier die Hölle los sein. Bitte achte auf Amber und bleibt beide in Deckung.« »Aber ich...«, begehrte Aruula auf. »Mit deinem Schwert kannst du gegen die Waffen der WCA leider wenig ausrichten«, sagte Matt. »Aber bleib in der Nähe des Aufgangs. Wenn sie versuchen, aufs Dach zu kommen, bist du unsere Rückendeckung.« »Okee.« Die Barbarin strahlte. Nichts war ihr mehr zuwider, als einem Kampf tatenlos zuzusehen. »Kommst du?!«, rief Aiko von der Dachkante her. »Sie sind in zwei Minuten hier!«
Matt legte seine Hand kurz auf Ambers Schulter und küsste Aruula auf die Stirn. »Drückt uns die Daumen, dann wird’s schon gut gehen.« Geduckt eilte Matt hinüber zu einer Dachkante, die zwanzig Schritte von Aikos Position entfernt lag. So konnten sie die Gegner ins Kreuzfeuer nehmen. Das letzte Stück legte er auf dem Bauch kriechend zurück. Dann lugte er über den Rand. Der WCA-Panzer dröhnte heran. Erst auf den letzten Metern verlangsamte er sein rasantes Tempo und kam in einer gewaltigen Staubwolke inmitten des Vorplatzes zum Stehen. Eine knappe Minute lang tat sich nichts, während sich Matts und Aikos Finger um die Abzüge ihrer Waffen krampften und der Staub sich langsam legte. Dann ertönte ein lautes Summen, und der seitliche Ausstieg des Transportes schwang nach oben. Matt blinzelte einen Schweißtropfen weg, der ihm just in diesem Moment ins Auge rann. Noch immer war niemand von der Besatzung zu sehen. Die Ausstiegsklappe behinderte die Sicht. Matts Finger begann zu zittern. Er stützte den Driller mit der Linken ab, um ihn ruhig zu halten. Da, ein Schatten! Jemand kam aus dem Panzer! Blieb unter dem hochgeklappten Ausstieg stehen. Und trat ins Sonnenlicht... Matt durchfuhr es wie ein Schlag. Fast hätte er vor Überraschung den Druckpunkt überschritten; im letzten Augenblick entspannte sich sein Schussfinger. Es war Mr. Black, der Rebellenführer aus Washington! Was, zum Teufel... Matt hob den Kopf über den Dachrand. Jetzt nur keine falsche Reaktion! Vor allem nicht Aiko zum Feuern animieren! »Mr. Black!«, rief er hinunter. Der Running Man zuckte zusammen und riss eine großkalibrige Waffe hoch, die an einem Trageriemen unter seiner Schulter hing. »Ich bin es, Commander Matt Drax!« Zwanzig Schritte neben ihm fragte Aikos Gesicht: ›Was ist denn jetzt los?‹ »Drax?!« Mr. Black beschattete seine Augen mit der Linken
und ließ die Waffe sinken. »Wo stecken Sie?« Matt erhob sich ganz. »Hier oben, auf dem Dach! Fast hätten wir auf Sie geschossen. Wo haben Sie den WCA-Panzer aufgegabelt? Und vor allem: Was zum Henker machen Sie hier?« Mr. Black grinste. Trotzdem wirkte er irgendwie gehetzt auf Matt. Etwas stimmte nicht. »Das ist eine lange Geschichte, und wir haben nur wenig Zeit!«, rief er zum Dach hinauf. »Kommen Sie runter, dann erkläre ich es Ihnen!« »Okay!« Matt winkte Aiko, mitzukommen. Nachdenklich stieg er über die Stahltreppe hinab und durchquerte die Eingangshalle, vorbei an der Flügeltür zu den Quartieren und dem Besucherraum. Es gab Zeiten, da hatte er Running Men und Weltrat auf eine Stufe gestellt: Beide verfolgten ohne Rücksicht ihre Ziele und schreckten auch vor Manipulation und Opfern nicht zurück. Doch letztlich ha tte sich die WCA als das weit größere Übel erwiesen, während die Motivation der Rebellen nachzuvollziehen war. Trotzdem hielt sich Matts Begeisterung, sie hier zu treffen, in Grenzen... *** »Mongolen?«, fragte Matt Drax ungläubig. »Hier in Kanada?« »Denk an die Insel an der Westküste und Kanghai Khan«, warf Aiko ein. »Das war ein Stoßtrupp vor über dreihundert Jahren!«, widersprach Matt, korrigierte sich aber sofort selbst: »Nein, du hast Recht. Wenn damals schon Mongolen über das Eis von Russland herüberkamen, warum nicht auch heute? Schließlich liegen jetzt halb Kanada und Alaska jenseits des Nordpols, also quasi auf der anderen Seite der Erde.« Sie standen vor dem Transportpanzer der Rebellen: Matt, Aiko, Mr. Black, Mr. Eddie, ein weiterer Schwarzer namens
Merlin Roqts - und Phil Hollyday. Dave McKenzies Doppelgänger hier wiederzutreffen, war für Matt die zweite große Überraschung gewesen, glaubte er den Running Man doch in der Cyborg-Enklave in Amarillo. Doch Hollyday beteuerte, man hätte ihn gehen lassen, damit er seine Leute unterrichten konnte. Und deshalb wären sie nun hier: um den Kratersee vor der Weltrat-Expedition zu erreichen und zu verhindern, dass dem verhassten Feind hochbrisantes Material in die Hände fiel. Matt war entschlossen, Phil Hollydays Aussage noch gründlich zu hinterfragen. Bei sich bietender Gelegenheit und möglichst unter vier Augen. Vor allem, da ihn bei ihrer letzten Begegnung das Dave-Bewusstsein beherrscht hatte und er sich auf dem Weg der Besserung befand, während nun Phil wieder dominierte. Die beiden Frauen, die die Expedition begleiteten - Miss Hardy und Roots' Gefährtin Karyaana -, waren Aruula in den Besucherbereich des Gebäudes gleich neben dem Foyer gefolgt. Dort kümmerten sie sich gemeinsam um Dr. Amber Floyd, der es immer noch nicht besser ging. Karyaana, eine hoch gewachsene Frau mit bronzefarbener Haut und grauem Haar, war die dritte Überraschung, denn sie stammte, wie Aruula, aus dem Volk der Dreizehn Inseln. Obwohl sich die beiden Frauen nicht persönlich kannten schließlich war Aruula schon als kleines Kind aus ihrer Heimat entführt worden -, hatte doch gleich ein unsichtbares Band zwischen ihnen bestanden. Matt hoffte, dass Karyaana seiner Gefährtin über den Verlust ihres Lauschsinns, der allen Frauen dieses Vo lkes zueigen war, hinweg helfen konnte. Aber auch dies war ein Thema, das Zeit hatte. »Wie viele Mongolen sind es?«, wandte Matt seine Aufmerksamkeit wieder wichtigeren Dingen zu. »Kann ich nicht genau sagen«, sagte Black. »Sie ritten in breiter Front. Mindestens dreißig, vermutlich mehr.« »In dem Sumpfgebiet haben wir sie abgehängt«, ergriff der schnauzbärtige Mr. Eddie das Wort. Er freute sich
augenscheinlich über den gelungenen Coup und gestikulierte, wie er den Nixon über den Morast geknüppelt hatte. »Wroooomm, die Augen zu und durch. Die Kiste war einfach zu schnell, um einzusinken!« »Möglich, dass die Mongolen aufgegeben haben, wenn ihre Reittiere nicht durch den Sumpf kamen«, sagte Merlin Roots, ein hoch gewachsener Schwarzer mit Glatze und unglaublicher tiefer Stimme. »Nachdem sie uns drei Tage lang verfolgt haben wie der Teufel die arme Seele?« Black schüttelte den Kopf. »Nein, diese Burschen stecken nicht so einfach auf. Und ich fürchte, ich weiß auch warum.« Matt und Aiko sahen ihn fragend an. »Der Weltrat!«, sagte Black. »Ich gehe jede Wette ein, dass diese Mongolen ein weiterer Söldnertrupp unter Hymes' und Crows Befehl sind. Die WCA hat sie uns auf den Hals gehetzt, um selbst das Rennen zu machen.« Matt musste den Verdacht zumindest in Betracht ziehen. Schließlich arbeitete der Weltrat auch mit einer Wikinger-Rasse zusammen, den Nordmännern, die in Europa wüteten und jede aufstrebende Zivilisation niedermachten. Er und Aruula waren schon mehrmals auf diese Berserker getroffen, die keine Gnade oder Angst vor dem Tod kannten und von etlichen kleineren Missbildungen hauptsächlich im Gesicht entstellt waren. »Wenn der Weltrat tatsächlich dahinter steckt, sollten wir uns hier verschanzen und auf eine Schlacht vorbereiten«, sagte Aiko. »Flucht hätte keinen Sinn; sie würden bis zum Ende der Welt an uns dran bleiben.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stimmte Mr. Black zu. »Wir haben das nötige Werkzeug dabei, um aus diesem Gebäude eine Festung zu machen. Und vom Dach aus können wir die Horde hervorragend unter Feuer nehmen.« »Wie sieht es mit Waffen aus?«, fragte Matt. Mr. Black überschlug kurz in Gedanken ihre Armierung. »Ein
Laser- und ein Schnellfeuergewehr, zwei Laserpistolen, zwei Driller, ein paar Messer. Und die Bewaffnung des Panzers natürlich.« »Dazu kommen Aikos Maschinenpistole, Aruulas Schwert und mein Driller. Wie sieht es mit Munition aus; unsere ist fast aufgebraucht.« Mr. Black verzog das Gesicht. »Wir hatten unterwegs diverse... unerfreuliche Zusammenstöße, die uns einiges an Munition gekostet haben. Ein Driller-Magazin können wir entbehren, aber für dieses Modell«, er wies auf Aikos Tak 02, »haben wir nichts Passendes.« »Okay.« Matt schlug die geballte Rechte in die linke Hand. »Dann verlieren wir keine Zeit. Wir brauchen drei Teams: eins verbarrikadiert das Gebäude, ein weiteres durchsucht es nach weiteren Waffen, das dritte hält Ausschau auf dem Dach.« Mr. Black wandte sich an seine Leute. »Mr. Eddie, Sie bringen den Panzer in Deckung und bauen die Maschinengewehre aus. Dann stoßen Sie zu Miss Hardy, die ich zum Wachdienst einteile, und montieren die MGs auf dem Dach. - Miss Karyaana, Sie bringen die Vorräte aus dem Nixon ins Haus und schauen zu, dass Sie einen Brunnen oder so was finden; im Falle einer Belagerung werden wir Wasser brauchen. - Mr. Roots, Sie kommen mit mir. Wir durchstöbern das Gebäude nach allem, was uns von Nutzen sein kann.« »Dann übernehmen Aiko, Mr. Hollyday und ich die Barrikaden«, entschied Matt nicht ohne Hintergedanken. Bei dieser Gelegenheit würde er sich den Mann mit McKenzies Gesicht noch einmal zur Brust nehmen. »Wir haben zwei Schweißbrenner samt Schutzbrillen im Panzer. Damit können Sie die Fenster und Türen versiegeln«, sagte Black. »Was ist mit Ihrer Gefährtin... Aruula?« »Jemand sollte bei Dr. Floyd bleiben, sola nge es ihr nicht gut geht.« Matthew hatte den Running Men zwar von der Wissenschaftlerin berichtet, ihren Background aber im Dunkeln
gelassen. Auch dafür war später noch Zeit. »Dann los.« Mr. Black strotzte nur so vor Tatendrang. Wahrscheinlich war er froh, aus der klaustrophobischen Enge des Tanks entkommen zu sein und gleichzeitig Initiative entwickeln zu können. Wenn Matt ihn so agieren sah, fühlte er sich unweigerlich an die Action-Filme Arnold Schwarzeneggers erinnert. Black trug das dreißigjährige Gesicht seines genetischen Vaters, des damaligen US-Präsidenten, und war dessen Filmcharakteren vermutlich ähnlicher als dem wirklichen Menschen. Kein Wunder bei dieser Umgebung. Manchmal glaubte Matthew ja selbst, in einen epochalen Film über eine postapokalyptische Welt geraten zu sein. Die Wirklichkeit konnte doch so verrückt nicht sein. Oder...? *** Die Wirkung der letzten Pille ließ nach, und nicht nur das trieb Philipp Hollyday den Schweiß auf die Stirn. Momentan hielt er eine bestimmt fünfzig Kilo schwere Eisenplatte in Position, während Matthew Drax mit dem Schweißbrenner hantierte. Der schlitzäugige Cyborg war unterwegs, um noch mehr Platten herbeizuschaffen. »Naoki hat dich also als geheilt entlassen?«, erkundigte sich der Commander wie beiläufig. »Nun ja...« Hollyday schielte zur Jackentasche seines Overalls, wo er die restlichen Pillen aufbewahrte. Doch er konnte die Hände nicht vom Metall nehmen, um eine davon einzuwerfen. »Ich kam auf eigenes Risiko raus. Schließlich war ich kein Gefangener, oder?« Da war Matt anderer Meinung. Natürlich waren Naoki Tsuyoshi und er überein gekommen, Hollyday nicht das Gefühl von Gefangenschaft zu geben, aber im Grunde war es zu gefährlich gewesen, den schizophrenen Running Man mit Dave McKenzies Gesicht und Erinnerungen gehen zu lassen.
Hinzu kam, dass nun wieder das Phil- Bewusstsein die Kontrolle über den Körper übernommen hatte. »Und was ist mit Dave?«, fragte Matt weiter, während er eine Schweißnaht aufbrachte, die die Platte mit dem Stahlrahmen des Fensters ve rband. »Dave? Was soll mit ihm sein?« Hollydays Stimme war zu aufgedreht und schrill, um ehrlich zu klingen. »Es gibt ihn nicht mehr. Ich habe ihn vollkommen verdrängt. Nun bin ich wieder Phil Hollyday - und sonst gar nichts.« Matt ließ sich seine Zweifel anmerken. »Schade - ich hätte mich gern mit ihm über diese Mongolen unterhalten. Bestimmt hätte er eine wertvolle Meinung dazu, meinst du nicht auch?« Der Schweiß strömte Hollyday übers Gesicht. Seine Bewegungen wirkten fahrig. »Ich...«, begann er, dann trat er plötzlich vom Fenster zurück - glücklicherweise saß die Eisenplatte bereits fest - und schnappte sich das zweite Schweißgerät. »Ich... wir... kommen viel zu langsam voran!«, stammelte er. »Ich fang schon mal mit den Türen an, dabei brauch ich keine Hilfe.« Sprach’s und machte sich davon, noch bevor Matt seinen Brenner abstellen und die Schutzbrille vom Kopf ziehen konnte. Trotzdem wollte er ihn so nicht davonkommen lassen. Wenn sein Gefühl nicht trog, stand Hollyday kurz davor, mit der Wahrheit heraus zurücken. Er durfte jetzt nicht locker lassen. Doch als er gerade die Verfolgung aufnehmen wollte, hörte er, wie jemand seinen Namen rief, und hielt inne. »Ja? Ich bin hier!« Es war Aruula. Bleich tauchte sie in einem Durchgang auf und atmete erst einmal tief durch, bevor sie sagte: »Du musst kommen. Etwas stimmt nicht mit Amber!« *** ›Das könnte dir so passen!‹ Phil fluchte still in sich hinein,
während er den Brenner mit der Rechten hinter sich her zog und mit der linken das Pillendöschen aus der Tasche kramte. Fast wäre es David McKenzie gelungen, aus seinem Mund mit Drax zu reden. ›Du gibst Ruhe, sonst...‹ ›Sonst was?‹ höhnte McKenzie in seinem Kopf. ›Willst du dir eine Kugel durch den Schädel jagen? Lass mich doch einfach mit ihm reden, und alles ist in Ordnung.‹ ›Nichts wäre in Ordnung, hältst du mich für blöd?! Du würdest ihm von dem Mord an Lieutenant Harris in Amarillo erzählen!‹ ›Und? Es ist an der Zeit, zu deinen Taten zu stehen, Phil. Du kannst nicht ewig davonlaufen. Nicht solange ich in deinem Kopf bin.‹ ›Ich finde schon noch einen Weg, dich loszuwerden!‹ Hollyday warf sich eine der kleinen weißen Pillen in den Rachen und schluckte sie. ›Glaub mir, es gibt einen Weg!‹ Er ahnte nicht, wie bald er Recht bekommen sollte... *** Als Matthew Drax mit Aruula den Besucherraum neben dem Foyer betrat, war bereits Karyaana bei der Wissenschaftlerin. Sie hatte die Hände auf Ambers schweißnasse Stirn und Wange gelegt und schien in Trance versunken. »Ich habe sie gebeten zu tauschen«, flüsterte Aruula. In ihrer Stimme klang ein bitterer Ton mit. Matt wusste, dass sie ihre telepathischen Kräfte längst selbst eingesetzt hätte - wären sie nicht nach einem WCA-Experiment verstummt. Vermutlich machte sie sich wieder einmal Vorwürfe. Matt hätte ihr gern etwas gesagt, das ihre Selbstzweifel linderte, aber als er Amber Floyd sah, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Die Frau aus der Vergangenheit sah schlecht aus; mehr als das: verbraucht. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden, die Augen wirkten eingefallen, und als Karyaana nun
ihre Hände hob, sah Matt kleine Fältchen um Augen und Mund. »Was ist mit ihr?«, entfuhr es ihm. Karyaana atmete schwer. Der Kontakt hatte sie sichtlich Kraft gekostet. Sie blickte auf, und in ihren Augen war noch ein Widerschein der Schmerzen, die Amber empfinden musste. »Irgendwas stimmt nicht mit ihrem Körper«, sagte die grauhaarige Frau. »Aruula sagt, sie hätte lange geschlafen?« »Fünfhundertsechs Jahre«, sagte Matt. »Sie war eingefroren. Wir haben sie vor wenigen Stunden erst wieder ins Leben zurückgeholt.« Karyaana erhob sich und zog ihn beiseite. Matt begriff, dass Amber nicht mithören sollte, was sie zu sagen hatte. Sie beugte sich an sein Ohr und flüsterte: »Krahac lässt sich nicht betrügen, Maddrax. Er holt sich die Jahre zurück, um die er betrogen wurde!« Matt versteinerte. Und obwohl ihm klar war, was die Frau aus dem Volk der Dreizehn Inseln mit dem Totenvogel Krahac meinte, erwiderte er: »Ich... verstehe nicht.« Karyaana wurde deutlicher. »Sie altert. Ich kann hören, wie ihre Zellen verfallen. Und es wird mit jeder Minute schlimmer. Ich weiß nicht, wie lange sie noch zu leben hat; vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger.« Matt wünschte sich, nicht gefragt zu haben. Aber das hätte das Furchtbare nicht ungeschehen gemacht. Einen Kloß in der Kehle, trat er zu der zerschlissenen Ledercouch, auf der Amber lag. Mittlerweile war sie in einen hellen Overall aus den Beständen der Running Men gekleidet. Eine dünne Lichtbahn vom Fenster her fiel quer über ihre Stirn und ließ die wächserne Haut leuchten. Deutlich sah man die Runzeln darin. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Hallo.« »Hi.« Er setzte sich auf den Rand der Couch. Aruula trat hinter ihn und legte die Hände auf seine Schultern. Matt war dankbar für ihre moralische Unterstützung. »Mir gehts nicht besonders«, stellte Amber fest.
»Sieht so aus«, rang Matt um Worte. »Was passiert mit mir?« Er räusperte sich. »Ich fürchte, Kryo 3 hat doch nicht so einwandfrei funktioniert. Sie...« Er stockte kurz, dann straffte er sich. »Amber, ich sage Ihnen, wie es ist. Weil die Zeit drängt. Wir können uns keine Verzögerungen leisten.« Sie sah ihn aus fragenden Augen an, und ihm brach fast das Herz. »Sie altern. Rapide. Ihre Zellen verfallen in einer Geschwindigkeit, dass man ihnen dabei zusehen kann.« Und bevor sie etwas entgegnen konnte, fügte er hinzu: »Ich sehe nur eine Chance. Eine gute! Ich bringe Sie zu Kryo 3 zurück und friere Sie wieder ein. Das wird den Zerfall stoppen. Und dann haben wir alle Zeit der Welt, um eine Lösung zu finden.« Sie sagte nichts. Ihre Hände bebten. Matt umfasste sie mit den seinen und drückte sie. Ihre Haut war kalt und feucht vom Schweiß. Trotzdem waren Kraft und Überlebenswille in ihren Augen, als Amber sich aufrichtete. »Ein guter Plan, Commander Drax... Matt. Beeilen wir uns.« *** Vor einer halben Stunde hatte Mr. Eddie das erste der beiden Maschinengewehre auf das Dach geschleppt, nachdem er es aus dem Nixon-Transportpanzer ausgebaut hatte. Es war eine elendige Plackerei, und beim zweiten Mal schien sie ihm ohne die Gesellschaft Karyaanas noch öder. Aruula hatte sie geholt, weil mit dieser Wissenschaftlerin etwas nicht stimmte. Als er jetzt endlich das obere Ende der stählernen Stiege zum Dach erreichte, dankte Mr. Eddie den Göttern dafür, dass das Gebäude nur zwei Stockwerke hatte. Mit einem Keuchen, die gut einen Meter fünfzig lange Waffe als Rammsporn benutzend, stieß er die klapprige Stahlblechtür zum Dach auf. Im ersten Moment schloss er geblendet die
Augen, als das Tageslicht ihn traf, dann zerrte er das MG ins Freie. »Honeybutt?! Komm her und fass mit an!« Leider hatte ihm Miss Hardy beim Ausbau nicht zur Hand gehen können; sie musste hier oben bleiben und die Umgebung mit dem Feldstecher absuchen. Um rechtzeitig Alarm zu geben, falls die Mongolen doch noch aus der Nebelbank auftauchten. Allmählich glaubte Mr. Eddie nicht mehr daran. Sie warteten schon seit über einer Stunde vergeblich. Vermutlich hatten die Flachgesichter aufgegeben und sich getrollt. »Verdammt, Honeybutt, was ist denn?!«, rief er unleidlich, als sich seine Rebellen-Kollegin nicht blicken ließ. »Kannst du mir nicht mal...« Er verstummte, als er um einen aufragenden Schornstein bog und sah, warum Miss Hardy nicht antwortete. Sie war geknebelt. Und an ein Rohr gefesselt, das sich verrostet aus dem Flachdach wand. »Bei den Dämonen des Pentagon!« entfuhr es Mr. Eddie. Im nächsten Moment ließ er das Maschinengewehr fallen und griff zu der handlicheren Faustfeuerwaffe an seinem Gürtel. »Was ist passiert?« Dann kapierte er, dass Honeybutt schwerlich antworten konnte, und er sprang mit einem Satz neben sie und löste den Knebel. Er zog ein langes Messer aus seinem Stiefelschaft und setzte es an den Lederriemen, mit dem sie an das Rohr gefesselt war. Im gleichen Moment kreischte ihm Miss Hardy ein »Vorsicht!« ins Ohr. Das war seine letzte Wahrnehmung. Ein Schatten flog von der Spitze des Schornsteins herab und riss ihn um. Gleichzeitig landete ein angewinkelter Ellbogen in seinem Nacken und schickte ihn ins Reich der Träume. »Ich hab es doch gesagt«, keuchte der halbwüchsige Eskimo, als er sich wieder aufrappelte. »Es wird euch nicht gelingen, euch zwischen die Frau und mich zu stellen! Ich werde euch alle
besiegen, und dann nehme ich sie mit mir!« Er sprach Gwich'in, darum konnte Miss Hardy nicht verstehen, warum der junge Quill plötzlich unter der Dachkante aufgetaucht war, ihre Füße gepackt und sie umgerissen hatte, während sie mit dem Fernglas den Horizont absuchte. Warum er sie fesselte und knebelte, nachdem sie mit dem Hinterkopf auf das Dach geprallt war, und dann Mr. Eddie aufgelauert hatte. Sie wusste nicht, dass enttäuschte, aber dennoch brennende Liebe zu einer Barbarin namens Aruula das Tatmotiv war. Sie wusste nur, dass sie dem Jüngling gleich die Tracht Prügel seines Lebens verpassen würde. Mr. Eddies Messer hatte das Lederband angeritzt, und sie spürte schon, wie es nachgab. Nur noch ein letzter Ruck... Ein hohes Singen war plötzlich in der Luft, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Honeybutt schaute um sich, aber da war nichts. Erst als ihr Blick zu dem Eskimo-Jungen zurückkehrte, sah sie die Veränderung: Aus seiner Stirn ragte ein gefiederter Pfeil. Ein dünner Blutfaden rann daraus hervor. Mit gebrochenen Augen kniete er da, bevor er nach vorn aufs Gesicht kippte und sich den Pfeil noch tiefer ins Hirn trieb. Ein Schrei löste sich aus Honeybutts Kehle. Von einem Moment auf den nächsten kam die Panik über sie, und sie zerrte mit ganzer Kraft an dem Lederband. Als es riss, stolperte sie zurück. Das rettete ihr das Leben. Ein zweiter Pfeil verfehlte sie nur um Haaresbreite und schlug in den Schornstein, dass Splitter nach allen Seiten spritzten. Und dann sah Miss Hardy... sie. Wilde Krieger mit mongolischen Gesichtszügen und fellbesetzter Kleidung quollen über den Rand des Dachs, über und über mit dem getrockneten Schlamm der Sümpfe bedeckt - eine perfekte Tarnung im offenen Gelände. In ihren Fäusten hielten sie Schwerter, Bögen, Speere und Messer. Und in ihren bärtigen Gesichtern, die
entstellt waren von Auswüchsen und Deformierungen und nur notdürftig bedeckt mit ledernen Masken, stand pure Mordlust geschrieben. Honeybutt Hardy wusste selbst nicht, woher sie die Geistesgegenwart nahm, sich erst hinter den Schornstein in Deckung zu werfen und dann geduckt loszurennen, hin zu dem Abgang, der ins Gebäude führte. Pfeile prasselten gegen die Stahlblechtür, als sie hindurchhechtete. Polternde Schritte folgten ihr – und das hässlich reißende Geräusch einer Schwertklinge, die mit brachialer Gewalt Fleisch im Schlag zerteilt... *** Endlich gab McKenzie Ruhe. Zufrieden drehte Philipp Hollyday den Hahn für das Gasgemisch des Schweißbrenners auf und betätigte den Anzünder. Eine weißgrell flackernde Flamme schlug aus der Mündung des Brennrohrs und erhellte die Dunkelheit des Ganges. Phil regelte sie zu einem scharf fauchenden Strahl herunter. Dann setzte er die Schutzbrille auf und betrachtete die Tür, vor der er stand. ›Ich sollte mir den Scheißkerl aus dem Kopf brennen‹, dachte er grimmig. ›Die Hirnlappen raussuchen, in denen er steckt, und wuuusch!‹ Er grinste. Die Idee eines brennenden McKenzie gefiel ihm. Die Sache hatte nur einen Haken: Sie teilten sich dasselbe Gehirn. ›Ich finde schon eine Lösung‹, dachte Hollyday und hob den Brenner. Die Tür war zwar aus Stahl, aber schon stark angerostet. Die Scharniere hielten sie mehr schlecht als recht aufrecht. Dort würde er zuerst eine Schweißnaht anbringen, und dann rund um das Türblatt herum immer am Rahmen entlang... An diesem Punkt seiner Überlegungen explodierte etwas direkt vor ihm. Grelles Licht brannte sich in seine Netzhäute. Ein Dröhnen
hallte in seinen Ohren. Und eine Druckwelle schleuderte ihn zurück in den Gang. Dass ihn in Wahrheit die Tür getroffen hatte, die von einem Rammbock nach innen geschleudert wurde, bekam er schon nicht mehr mit. Und ob es wirklich Glück war, dass ihm der schwere Stahl nicht sofort den Schädel zertrümmerte, war mehr als fraglich. Denn die Gestalten, die nun brüllend durch die Öffnung stürmten, kamen nicht, um ihm zu helfen. Mit verschwommenem Blick und durch die zersplitterte Brille sah er dreckverkrustete Pelze, brutale bärtige Gesichter und blitzende Waffen. ›Hoch mit dir!‹, schrie eine Stimme in ihm. McKenzie! Während sein eigener Verstand in Agonie lag, war das Bewusstsein des NASA-Wissenschaftlers wieder hellwach und klar. ›Du musst fliehen, sonst ist es aus!‹ Mit letzter Kraft und schwindenden Sinnen formulierte Philipp Hollyday einen letzten Gedanken. ›Leck mich, McKenzie!‹ Dann trennte ihm eine heransausende Schwertklinge den Kopf vom Rumpf. *** Sie kamen aus dem Foyer und wandten sich in der Eingangshalle nach links, in Richtung des Kellerabgangs: Aruula, Karyaana und Matt Drax, der Amber Floyd auf seinen Armen trug. Die schlanke Frau schien leicht wie eine Feder zu sein. Aber wahrscheinlich war es nur seine Gemütsverfassung, eine Mischung aus Furcht, Enttäuschung und Wut, die ihn das Gewicht nicht spüren ließ. Furcht, dass Amber sterben würde, wenn sie Kryo 3 nicht wieder in Gang brachten. Enttäuschung, dass sie - eine Zeitreisende wie er und Bindeglied zu einer Epoche, um die er im tiefsten Herzen noch immer täglich trauerte - wieder aus dem
Leben in den eisigen Schlaf gerissen würde. Und Wut über dieses Schicksal, das nicht ein Mal, nicht ein einziges Mal hatte gnädig sein können. Aruula eilte voraus, um die Schwingtüren zum Bürotrakt zu öffnen. Sie passierte gerade die Eisenstiegen, die zum Dach hinaufführten, als oben die Tür aufgerissen wurde und jemand ins Innere stolperte. Gleichzeitig erklang ein prasselndes Geräusch. Im nächsten Moment erkannten sie Miss Hardy, die, von ihrem Schwung getragen, stolperte, stürzte und haltlos die halbe Treppe herunterrollte. »Bei Wudan - Honeybutt!«, rief Karyaana und bog ab, um zur Treppe zu laufen. Aruula blieb einen Moment unschlüssig stehen und lief dann ebenfalls zurück, um der jungen Schwarzen zu helfen. Nur Matt eilte weiter, Amber auf den Armen, drosselte aber seinen Schritt. Noch glaubte er an einen Unfall. Ein Irrglauben, den Honeybutt im nächsten Moment zerstörte. »Lauft!«, brüllte sie mit überkippender Stimme, kaum dass sie sich gefangen hatte, kämpfte sich hoch und humpelte weiter die Treppe hinab. Blut aus etlichen Schürfwunden benetzte die Stiegen. »Der Feind! Oben!« Was sie damit meinte, zeigte sich im nächsten Augenblick. Die Tür zum Dach wurde von einem Tritt aus den Angeln gerissen und segelte nach unten, um eine handbreite Kerbe in den Betonboden zu rammen. Es klang wie ein Schuss. Am Endpunkt der Treppe erschienen Gestalten wie aus einem Albtraum. Im ersten Moment meinte Matt Nordmänner zu sehen: Wucherungen an Händen und im Gesicht, Blumenkohlohren, fehlende Nasen oder Augen, Hasenscharten und knotige Geschwüre, die unter Ledermasken hervorlugten. Doch diese Kerle hatten mongolische Züge, lange dünne Barte und Zöpfe und führten Krummschwerter. Mit einem kleinen Teil seines Verstandes zog Matt die Verbindung zum Weltrat. Wie kam es, dass diese Mongolen die
gleichen genetischen Defekte aufwiesen wie die nordischen Verbündeten der WCA, die »Götterschlächter«? Der weitaus größere Teil seines Verstandes befahl ihm: Renn! Mit der geschwächten Amber Floyd auf den Armen konnte er nicht einmal den Driller ziehen, geschweige denn kämpfen. »Kommt!«, rief er den drei Frauen zu. Eben erreichte Miss Hardy das Ende der Eisenstiege und wurde von Aruula und Karyaana in Empfang genommen. Pfeile zischten vorbei. Die herabstürmenden Mongolen hatte keine Muße, genau zu zielen. Matt erkannte, dass sie den geradlinigen, etwa zwanzig Meter langen Flur durch die Büroflucht niemals würden durchqueren können. Nicht mit einer Verletzten und einer fast Gelähmten gegen eine mit weittragenden Waffen bewaffnete Horde. Er trat die Schwingtür auf und hielt sie mit dem Stiefel offen, bis die drei Frauen hindurch waren. »Schnell, da hinein!« Er deutete mit dem Kinn auf die nächstbeste Bürotür. Sie hasteten in den Raum und schlugen die Tür hinter sich zu. Glücklicherweise waren die Räume zum Gang hin fensterlos. Und möbliert. Matt setzte Amber auf einem verrotteten Bürostuhl ab. Während Miss Hardy mit einem Erste-Hilfe-Pack aus ihrem Overall notdürftig ihre Schürfwunden versorgte, wuchtete er mit Aruulas und Karyaanas Hilfe einen vollen Aktenschrank und den massiven Schreibtisch vor die Tür. Dann konnten sie endlich für ein paar Sekunden durchatmen, während die Mongolen draußen vorbeipolterten und nach den Flüchtigen suchten. »Verdammt, wie konnte das passieren?«, fuhr Matt Miss Hardy gedämpft an. »Sie sollten doch Wache halten... ach, egal«, winkte er im nächsten Moment ab. »Sehen wir lieber, wie wir hier wieder rauskommen!« Er sah sich im Zimmer um. Auf der gegenüberliegenden Seite blickte eine Fensterfront in den Umspannraum hinab. Matt trat heran - und sah durch die Scheibe das Zwischendeck aus Metallverstrebungen nur etwa anderthalb Meter entfernt. Es wurde von unzähligen Stahlseilen
gehalten, denen nicht anzusehen war, wie morsch und verrostet sie nach fünfhundert Jahren waren. Dass die Laufstege teilweise herabgebrochen war, ließ nichts Gutes ahnen. Aruula war neben ihn getreten. Sie ahnte, was er dachte. »Ich bin für den Kampf«, sagte sie. »Mein Schwert und dein Driller. Wir könnten es schaffen.« Könnten. Da lag der Hund begraben. Ihm blieb nicht viel Zeit für eine Entscheidung. Karyaana, die an der Tür gewartet und gelauscht hatte, fuhr herum. »Sie kommen! Sie ahnen, wo wir sind!« Einen Lidschlag später traf ein kraftvoller Tritt die Tür. *** Als Aiko mit Stahlplatten beladen zurückkehrte, waren Matt und Hollyday verschwunden. Der Schweißbrenner lag am Boden, das Brennrohr war noch warm. Sie konnten also noch nicht lange fort sein. Aber was hatte sie bewogen, die Arbeit einzustellen? Misstrauisch nahm Aiko seine Maschinenpistole auf, die gegen der Wand lehnte. »Matt?!«, rief er in den dunklen Gang hinein. »Mr. Hollyday?!« Keine Antwort. Er schaltete seine Augen in den Wärmebildmodus. Nichts. Aiko fluchte leise und machte sich auf den Weg zur Eingangshalle, die als allgemeiner Treffpunkt abgemacht war. Er war noch gut zwanzig Schritte von der Tür ins Foyer entfernt, als Lärm aufklang, kurz darauf ein Knall wie ein Schuss. Aiko stürmte vorwärts und entsicherte dabei die Tak 02. Er warf sich gegen die Tür, stieß sie auf und rollte sich ab. Mit vorgehaltener Waffe rutschte er auf den Knien noch zwei Meter weiter und kam zum Stillstand. »Scheiße!« Vor ihm fuhren ein gutes Dutzend barbarischer Gestalten auf
den Absätzen herum. Für eine Nanosekunde waren sie verblüfft. Dann stürmten sie los. Mit einem Sprung war Aiko auf den Beinen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug seiner Waffe. PENG! Ein einzelner Schuss löste sich, traf den Mongolen ganz links und warf ihn zurück. Die anderen schienen Schusswaffen zu kennen, denn sie zuckten nicht einmal zusammen. Verflucht, er hatte vergessen, von Einzel- wieder auf Dauerfeuer umzustellen, nachdem er und Matt vom Dach herabgestiegen waren. Jetzt war es zu spät. Die wilden Krieger waren schon zu dicht heran. Aiko glaubte bereits den Luftzug ihrer wirbelnden Krummschwerter zu spüren. Er warf sich zur Seite, tauchte unter einem waagerecht geführten Hieb hinweg, sprang über einen zweiten und wirbelte rückwärts über eine Sitzgruppe. In der nächsten Sekunde verwandelten Schwerter, Pfeile und Stachelkeulen die verrottete Ledercouch vollends in einen Trümmerhaufen. Jahrhunderte alter Staub und Füllmaterial welkten auf und nahmen den Angreifern die Sic ht. Aiko dagegen hatte freien Blick auf die Wand hinter ihm - und die Flügeltür zu den Quartieren der Belegschaft. Wenn er nicht irrte, suchten Mr. Black und Mr. Roots dort nach Waffen. Mit einem Sprung war der Cyborg bei der Tür und rutschte, die Füße voran, auf dem Boden hindurch. Eine weise Entscheidung, denn über ihm prasselten weitere Pfeile in das Holz. Als sich die Türflügel wieder schlossen, sprang Aiko auf und rannte los. Bis zur nächsten Biegung musste er es schaffen. Waren die Running Men taub?! Bei diesem Lärm hätte Mr. Black doch längst heranstürmen müssen! Verdammt, wo blieb... Als er um die Ecke bog, entdeckte Aiko den Rebellenführer. Und das aus nächster Nähe. Die beiden stießen in vollem Lauf zusammen und prellten sich gegenseitig die Waffen aus den Händen. Dabei konnten sie froh sein, dass Mr. Black einen ganzen Kopf großer war als der Cyborg. So grub sich Aikos
Kopf nur in sein Brustbein, anstatt ihm die Nase zu brechen. »Hoppla«, sagte Merlin Roots, als die beiden zu Boden gingen. »Schießen Sie!«, stieß Aiko hervor und deutete auf die Gangbiegung. »Los! Sie sind dicht hinter mir!« »Was? Wer...?« Mr. Black schaltete schneller. Er klaubte sein automatisches Gewehr vom Boden, entsicherte es und richtete es aus. Keine Sekunde zu spät. Sie sahen in verdutzte, missgestalte Mongolengesichter, bevor das grelle Mündungsfeuer alles überstrahlte und der Lärm ihnen die Trommelfelle zu zerfetzen drohte... *** Das Türblatt zitterte. Ein weiterer Tritt ließ die Klinke nach innen brechen. Aktenschrank und Schreibtisch ruckten um Zentimeter vor. Matts Blick flog zwischen der Tür und Amber Floyd hin und her. Die Wissenschaftlerin war in den letzten Minuten um ein Jahrzehnt gealtert. Falten zeigten sich auf Hals und Händen. An den Schläfen begann ihr blondes Haar grau zu werden. Damit war Matts Entscheidung gefallen. Er griff nach einem Computermonitor, holte aus und schleuderte ihn durch das Fenster. Ein Splitterregen ging in die Umspannhalle nieder. »Wir springen rüber auf das Zwischendeck!«, entschied Matt. »Dann auf den nächsten Transformator und runter zum Boden. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Kältekammer.« Er blickte suchend um sich, fand ein langes Stromkabel und riss es aus der Steckdose. Die Plastikummantelung war längst spröde geworden, aber der Kupferkern hielt. »Amber, ich binde Sie jetzt auf meinen Rücken. Es wird weh tun, aber es ist die einzige Möglichkeit.« Dr. Floyd sah ihn aus müden Augen an. »Lassen sie mich zurück«, hauchte sie. »Ohne mich können Sie es schaffen.«
Matt schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, in wie vielen Filmen das schon gesagt wurde«, meinte er, »aber ich kenne keinen Einzigen, bei dem der Held die schöne Lady tatsächlich zurück gelassen hätte. Also vergessen Sie’s.« Er zog sie aus dem Stuhl. Sie legte von hinten ihre Arme um seinen Hals, und Aruula half, das Kabel um sie und Matt zu schnüren. Karyaana und Honeybutt hatten sich bis jetzt gegen die Barrikade gestemmt. Die wütenden Schläge hatten die Bürotür bereits der Länge nach gespalten. Lange würde sie nic ht mehr standhalten. »Aruula, du zuerst!«, befahl Matt. Er wusste, dass seine gelenkige Gefährtin noch die besten Chancen hatte, heil unten anzukommen, falls das Zwischendeck einbrechen sollte. »Dann Karyaana und Miss Hardy.« Und während die drei zum Fester liefen, zog er den Driller hervor. Er presste die Mündung in das Loch, wo sich vorhin noch die Klinke befunden hatte. »Das zum Abschied!«, knurrte er und zog durch. Das Explosivgeschoss jagte durch die Öffnung und detonierte auf der anderen Seite des Gangs. Die Druckwelle ließ das Türblatt erbeben - und fegte die Angreifer von den Beinen. »Los jetzt!«, rief Matt - und Aruula stieß sich ab. Die Metallkonstruktion wankte wie ein Boot im Sturm, als sie aufkam. Zwei Metallseile rissen mit einem peitschenden Knall. Aber die restlichen hielten. Schnell kletterte die Barbarin auf das nächste Segment. Karyaana sprang mit einem Schrei, um sich selbst Mut zu machen. Sie stieß sich die Knie blutig, aber sie schaffte es und schloss zu Aruula auf. Honeybutt Hardy zögerte keine Sekunde. Sie wollte sich nach ihrem verpatzten Wachdienst offenbar keine Blöße mehr geben. Sicher kam sie drüben an. Aruula winkte sie an sich vorbei und bedeutete ihr und Karyaana, am nächstgelegenen Transformator hinabzuklettern. Sie selbst wartete noch auf Matt. Der stieg in den Fensterrahmen. Das Gewicht Amber Floyds
behinderte ihn nicht so sehr wie ihre Bemühungen, sich an ihm festzuklammern. Seine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Anderthalb Meter. Das hatte er beim Air-Force-Training locker gepackt. Also los! Los! Verdammt, verdammt, VERDAMMT! Beim letzten Fluch stieß er sich ab. Für einen schrecklich langen Moment dachte, nein wusste er, dass er es nicht schaffen würde. Dann schlossen sich seine Hände um Streben aus Stahl, und sein Oberkörper schlug hart auf die wild schaukelnde Konstruktion. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Zingg! Ein dünnes Seil peitschte an seinem Gesicht vorbei. Zingg! Das Segment gab unter ihm nach! Die dem Fenster zugewandte Seite kippte, zwei weiterer Halteseile beraubt, nach unten. Ein Schrei kam über Matts Lippen und vereinigte sich mit dem Dr. Floyds. Seine Finger krampften sich fest, während ihm Ambers Arme um den Hals die Luft abschnürten. Ein Ruck. Ein helles Singen der restlichen Seile, die bis an die Grenze belastet wurden - und hielten. Schräg nach unten hängend kam die Plattform zum Stillstand. Und Matt blickte direkt auf einen flirrenden Funkenbogen! Der Transformator direkt unter dem Zwischendeck stand unter Strom! Wäre er nur einen halben Meter weiter abgekippt, er und Amber wären geröstet worden! Im nächsten Moment veranlasste ihn ein Knirschen an den Haltepunkten der Stahlseile, nach oben zu klettern wie ein Freeclimber auf Speed. Er ließ erst die Luft aus seinen Lungen, als er sicher auf dem nächsten Segment lag. »Das war knapp!«, sagte Aruula. »Du ahnst nicht, wie knapp«, entgegnete Matt. Er drehte den Kopf. »Alles klar bei Ihnen, Amber?«
»Es geht schon.« Ihre Stimme erschreckte ihn. Sie klang nicht nur müde, sondern so, als hätte sie bereits resigniert. »Dann weiter!« Miss Hardy und Karyaana waren bereits auf einen der Transformatoren neben der Metallkonstruktion geklettert. Glücklicherweise war er außer Betrieb. Aruula folgte ihnen. Matthew warf noch einen Blick zurück in den Raum jenseits des Fensters. Dort waren längst wieder Rammstöße zu hören. Die Tür stand bereits eine Handbreit offen, und schmutzige Arme schoben sich tastend hindurch. Gleich musste die Barrikade fallen. Und dann...? Wenn sie sahen, dass ihre Beute entkommen war, würden sie ebenfalls auf das Zwischendeck überwechseln. Vermutlich von einem der anderen Büros aus, denn hier war der Abstand nun zu groß geworden. Matt blickte auf den intakten Transformator, dann auf die schräge Plattform. Und hatte eine Idee. Aruula erreichte gerade den Boden, als Matt ihr mit Amber auf dem Rücken folgte. Doch bevor er an dem Metallkoloss hinabkletterte, zog er den Driller und zielte auf die Hallendecke. Das Explosivgeschoss sprengte den Stahlbeton in Myriaden Splitter - und beraubte ein weiteres Stahlseil seines Halts. Das Segment kippte nun ganz und schlug gegen die Kontakte. Funken sprühten, und das leise Summen des Transformators änderte seine Tonlage. Kein Wunder, denn nun setzte er das gesamte Zwischendeck unter Strom! Matt steckte den Driller ein und hangelte sich hinab auf den Grund der Halle. Kaum hatten seine Stiefel den Boden berührt, ertönte von oben her ein Krachen. Die Mongolen brachen durch. Drei Sekunden später tauchten sie am Fenster auf, erblickten die Flüchtigen und spannten ihre Bögen. Doch der Pfeilhagel wurde vom Zwischendeck abgelenkt und aufgehalten, das nun als Barriere zwischen ihnen lag. Wütende Schreie wurden laut. Die Köpfe der Barbaren
verschwanden vom Fenster. Doch sie wechselten nicht etwa in ein anderes Büro, um von dort das Metallkonstrukt zu erreichen - sie legten die dreieinhalb Meter tatsächlich im Sprung zurück! Gleich zwei von ihnen flogen durch das zerbrochene Fenster, erreichten fast mühelos das Zwischendeck - und brüllten auf, als sich der Starkstrom in ihre Glieder fraß. Aber nur ganz kurz. Dann verstummten sie für immer. Matt Drax und die Frauen warteten nicht ab, bis sich die restlichen Angreifer von dem Schock erholten. Sie liefen zum Abgang in den Keller. Das Ziel - Ambers Labor - lag zum Greifen nahe. In diesem Augenblick stürmten fünf mongolische Krieger in den Saal. Sie hatten den Verlust ihrer Kameraden offenbar schnell verwunden und waren der Treppe in den Umspannraum gefolgt. Als sie ihrer »Beute« ansichtig wurden, stimmten sie ein triumphierendes Geheul an und hetzten heran. Ein Explosivgeschoss explodierte direkt neben ihnen an der Wand und schleuderte sie davon wie Stoffpuppen. Matt Drax senkte den Driller. »Weiter!« Nach dreißig Schritten erreichten sie die Druckschleuse zum Labortrakt. Aruula zog sie auf. Von den Mongolen war nicht mehr zu hören als ein Stöhnen und Fluchen. Sie betraten das Labor, und Matt drehte das innere Schwungrad der Schleuse. In Sicherheit. Hier würde niemand eindringen können, der nicht gerade mit einer Panzerfaust umzugehen verstand. Bei diesem Gedanken kamen ihm - zum ersten Mal seit dem Auftritt der Mongolen - Aiko und die restlichen Running Men in den Sinn. Mit Sicherheit waren sie ebenfalls in Kämpfe verstrickt. Er konnte nur hoffen, dass sie den Barbaren Paroli bieten konnten. Er selbst saß erstmal hier fest. »Kannst du mir zur Hand gehen?«, bat er Aruula und löste das Kabel um seinen Bauch. Seine Gefährtin griff zu, als Amber Floyd von seinem Rücken glitt, und ließ sie auf einen Stuhl
sinken. Matt drehte sich nach ihr um. Und erstarrte. *** »Es ist seltsam«, presste Mr. Black zwischen zwei Feuerstößen hervor, »aber irgendwie kommt es mir vor, als hätte ich das hier schon erlebt. Allerdings Schwert gegen Schwert und nicht«, - er wechselte das Magazin -, »Schwert gegen Schnellfeuergewehr.« Aiko an seiner Seite stieß einen trotz zahlreicher Wunden heranstürmenden Mongolenkrieger mit dem gestreckten Bein zurück und feuerte den Driller ab, den ihm Black aus seinen Beständen überlassen hatte. »Und wie ging es aus?«, fragte er, wich einem heransausenden Speer aus und schoss erneut. »Natürlich haben die Guten gesiegt«, entgegnete Mr. Black. »Das Gute siegt immer!« Er hielt verdutzt inne. »Hab ich das jetzt wirklich gesagt? Wie komme ich auf die Idee?« »Feuern Sie weiter!«, rief Merlin Roots verzweifelt. Er selbst erwehrte sich mit einer Laserpistole der anstürmenden Übermacht. Und an Aikos Adresse fügte er hinzu: »Solche Anwandlungen hat er öfters. Zu den unmöglichsten Gelegenheiten!« Sie hatten sich nach der ersten Konfrontation bis zum Foyer durchgekämpft und Deckung hinter dem Empfangstresen gefunden. Der war inzwischen von Pfeilen, Speeren und Wurfmessern gespickt. Immer neue Barbaren enterten das Gebäude - und liefen ihnen geradewegs vor die Mündungen ihrer Waffen. Allein zwanzig lagen schon leblos auf dem Boden der Halle, und noch immer versiegte der Nachschub nicht. Langsam wurde den dreien die Munition knapp. Außerdem hatte ein Messer Merlin Roots an der Schulter verletzt; ein weiteres steckte in Aikos Arm. Bei Gelegenheit würde er es aus dem Plysterox ziehen. »Verdammt, wo bleiben Mr. Eddie und Mr. Hollyday?«,
knirschte Mr. Black. »Und wo sind die Frauen?«, fügte Roots hinzu. Er machte sich große Sorgen um Karyaana, die im Kampf nicht geübt war. Wenigstens wusste er die Barbarin Aruula in ihrer Nähe. »Ich hoffe, bei Matthew Drax«, gab Aiko zurück, riss nun endlich das Messer aus seinem Arm und stieß es in derselben Bewegung einem Angreifer in die Brust. Vom Eingang her flog ein weiterer pelzbekleideter Hüne heran. Mr. Roots schwang seine Pistole herum und schoss. Ein Lichtblitz schlug in den Körper des Mongolen, der gegen den Tresen krachte. »Sind wir die Guten, Mr. Black?«, fragte der glatzköpfige Schwarze mit der tiefen Stimme. Und Aiko erkannte, dass die Frage weitaus hintergründiger war, als sie schien... *** »Sagen Sie nichts.« Amber senkte den Kopf und blickte zu Boden. »Ich spüre es selbst. Das Leben fließt aus mir heraus.« Matthew konnte sich eines Schauderns nicht erwehren. Die junge Frau, die sie vor wenigen Stunden erst aus der Kälteschlafkammer geholt hatten, war zu einer Greisin geworden. Tiefe Falten prägten ihr Gesicht, ihr graues Haar löste sich in Strähnen und fiel herab, als sie es aus der Stirn streichen wollte. Sekundenlang starrte Amber Floyd auf ihre Hände - runzlige graue Hände, an denen die Haut schlaff hing -, bevor sie die Augen schloss und zu zittern begann. Aruula kniete neben ihr nieder und nahm sie in den Arm. Erst wollte Amber sich dagegen sträuben, doch dann ließ sie es zu. Karyaana gesellte sich zu ihr und legte eine Hand auf Ambers Schulter. Matt Drax schluckte schwer. Er wollte nicht wahrhaben, was er sah. »Wenn wir Kryo 3 jetzt sofort starten...«, begann er,
wurde aber von Dr. Floyd unterbrochen. »Zu spät«, hauchte sie. »Der Tank braucht eine Vorlaufzeit von zehn Minuten. Bis dahin bin ich wahrscheinlich um weitere zehn Jahre gealtert. Nein, es hat keinen Sinn mehr.« Ihre Stimme, eben noch gebrechlich und kaum vernehmlich, festigte sich. Als hätte das Akzeptieren des Unvermeidliche n ihren Geist von aller Mühsal befreit. Sie war bereit für den letzten Schritt. Matt kniete sich vor den Stuhl, auf dem sie saß. »Amber, es... es tut mir so Leid.« Er wollte noch viel mehr sagen, aber ihm fehlten die Worte dazu. Er nahm ihr greisenhaftes, wächsernes Gesicht in seine Hände und blickte ihr in die Augen. So lange, bis ihr Blick brach. Ein Schmerz, wie er ihn lange nicht verspürt hatte, ging Matthew Drax durchs Herz. Er erhob sich und wollte Amber auf den Boden betten. Doch als sich seine Hände um ihren Körper schlossen, schien die Haut unter dem Stoff des Overalls nachzugeben. Entsetzt zuckte Matt zurück, und auch Aruula und Karyaana rückten von dem Stuhl ab. Arabers Körper zerfiel. Durchlief in wenigen Sekunden, wozu die Natur sonst Jahrzehnte brauchte. Bis schließlich ein von Staub bedecktes Skelett zusammengesunken vor ihnen saß. Ein Ring rutschte von einem knöchernen Finger, klirrte zu Boden und rollte vor Matts Stiefel. Er bückte sich, hob ihn auf und las die Gravur darin. ›In ewiger Liebe, über den Tod hinaus. Jack‹ Als das Hämmern an der Druckschleuse nach einer Viertelstunde plötzlich abbrach, schreckte Matthew Drax aus düsteren Gedanken hoch. Sie hatten sich um den Tod gedreht und um die Kameraden, Freunde und Kampfgefährten, die er scho n verloren hatte, seit er über diese fremdartige Erde wanderte. »Sie haben aufgehört«, sagte Honeybutt Hardy. »Oder es ist ein Trick«, gab Aruula zu bedenken. »Vielleicht wollen Sie, dass wir genau das glauben und die Tür...«
Der Rest ihres Satzes ging in einem ohrenbetäubenden Prasseln unter, das von außen gegen die Stahltür schlug. Als würde sie unter massives Gewehrfeuer genommen. Sie pressten sich die Hände gegen die Ohren, um den Lärm zu ertragen. Für Matt gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatten die Mongolen Feuerwaffen gefunden und versuchten nun damit durchzubrechen, oder - und das hoffte er inständig - Aiko und die Running Men hatten sich bis in den Keller durchgeschlagen. Als auch die peitschenden Geräusche abbrachen und endlich Ruhe einkehrte, presste er sein Ohr gegen die Stahlwandung, um festzustellen, wer dort draußen war. Aber natürlich hörte er nichts; Stimmen drangen bei der Stärke dieser Schleuse nicht in die Kammer vor. Er fluchte. Unter diesen Umständen war es zu riskant, die Tür zu öffnen. »Vielleicht kann ich helfen.« Karyaana trat neben ihn. Matt verstand und nickte, als die grauhaarige Frau vom Volk der Dreizehn Inseln die Handflächen auf den Stahl legte, sich konzentrierte und lauschte. Ihre Gedankenfühler griffen durch die feste Materie hindurch nach draußen in den Gang - und erreichten eine vertraute Seele. »Ich kann Merlin spüren«, sagte Karyaana und strahlte. »Andere sind bei ihm.« Nun zögerte Matt nicht länger und drehte das Schwungrad. Mit einem Zischen schwang die Schleusentür auf. Das Erste, was sie sahen, waren Gewehrläufe und Pistolenmündungen. Aber schon im nächsten Augenblick gab Mr. Black Entwarnung: »Okay, sie sind es. Waffen runter!« Angesichts des desolaten Zustands, in dem sich die drei Kämpfer befanden, war ihre Vorsicht verständlich. Schweiß und Blut vermischten sich auf ihrer Haut und zerrissenen Kleidung zu einem schmierigen Film. In ihren Augen irrlichterte es. Matt lief es kalt über den Rücken, als er sich auszumalen versuchte, was Aiko, Roots und Black erlebt hatten. »Ist es vorbei?«, flüsterte Merlin Roots, als Karyaana auf ihn
zu eilte und ihn in den Arm nahm - so wie man ein Kind umarmt, dem Schreckliches widerfahren ist. Matt sah sich um. Die fünf Mongolen, die in das Labor hatten eindringen wollen, lagen am Boden. Ihre entstellten Gesichter zeigten noch im Tod Hass und Kampfeswillen. »Ja«, sagte Mr. Black knapp. »Wir haben es hinter uns.« Merlin Roots ließ die Laserpistole fallen, die er - und an der er sich bis jetzt krampfhaft festgehalten hatte. Sie polterte zu Boden. Und der hoch gewachsene, glatzköpfige Schwarze barg den Kopf in Karyaanas Haar und weinte hemmungslos. Sie stiegen über die Treppen nach oben. Überall in dem Gebäude lagen die Leichen der Mongolenkrieger verteilt; es waren um die sechzig Mann. Matt vermied es, sie eingehender zu betrachten. Noch war nicht geklärt, was mit Hollyday und Mr. Eddie passiert war. Dass sie jetzt nicht auftauchten, da die Gefahr vorüber war, ließ nur einen Schluss zu. Miss Hardy behauptete, ein junger Eskimo habe sie und Mr. Eddie auf dem Dach überfallen. Quill? Wer sonst? Vermutlich war er wegen Aruula zurückgekehrt und hatte den Mongolen so ungewollt genug Zeit verschafft, Fort McPherson zu erreichen. Er und Mr. Eddie mussten tot sein. Und Phil Hollyday? An diesem Punkt seiner Überlegungen erklang ein Stöhnen hinter der Tür zur Eingangshalle. Matt sah Mr. Black an, mit dem zusammen er die Spitze der kleinen Gruppe bildete. Sie stürmten durch die Flügeltür in das Foyer - - und sahen sich einem Mongolen gegenüber, der gerade unter den leblosen Körpern hervorkroch. Er war blutüberströmt und kaum bei Besinnung - aber er lebte. Mr. Black erkannte die Gelegenheit, die sich ihnen bot, sofort: Ein Gefangener würde ihnen vieles verraten können, was sie bislang nur vermuten konnten. Eben wollte er zu dem Mongolen hinstapfen, um ihn vollends unter den Leichen hervorzuzerren da knarrte die Eingangspforte am anderen Ende der Halle. Licht
fiel in einer breiten Bahn herein, als die Tür aufgestoßen wurde. Und in diesem Licht stand schemenhaft ein weiterer Mongole. Als er die Leichen sah, entrang sich ein irgendwie animalischer Laut seiner Kehle. Er machte einen Schritt in die Halle hinein und blieb wieder stehen. Erst jetzt bemerkt er, dass er beobachtet wurde. Im nächsten Moment fuhr er herum und verschwand durch die Tür. »Hinterher!«, stieß Mr. Black hervor. Sie liefen durch den weiten Eingangsbereich. Aiko und Aruula schlossen sich ihnen an, wahrend sich Merlin Roots, Miss Hardy und Karyaana des Verletzten annahmen. Draußen klang jetzt Hufgetrappel auf. Und als sie durch die Tür stürzten, sahen sie ein Yak - oder zumindest ein Tier, das Matt entfernt an ein Yak erinnerte - zwanzig Meter vor dem NWTPC-Gebäude auf den Hinterläufen hochsteigen. Der Mongole saß im Sattel. Er trug relativ saubere Fellkleidung und sah auch sonst nicht danach aus, als ob er an den Kämpfen teilgenommen hätte. Vielleicht ein Posten, der bei den heißen Quellen zurück geblieben war, um die Reittiere zu bewachen. Jetzt blickte er ihnen entgegen, und in seinen Auge n glaubte Matt unbändige Wut, aber auch Furcht zu erkennen. Dann zog er sein Yak auf der Hinterhand herum und preschte in vollem Galopp davon. Aiko riss noch seine Maschinenpistole hoch, ließ sie aber gleich wieder sinken. Der Flüchtende war schon zu weit entfernt. »Lassen Sie ihn reiten«, knirschte Mr. Black. »Soll er Hymes und seinem Gesindel ruhig berichten, dass wir uns nicht aufhalten lassen.« Er wandte sich an Matt. »Sie und Ihre Leute kommen doch mit uns, Commander?« Matt wechselte einen Blick mit Aruula und Aiko. Als sie Zustimmung signalisierten, nickte er. Ganz wohl war ihm nicht bei dieser Allianz - die Running Men und ihr Anführer waren ihm nach wie vor suspekt. Aber sie bot die beste Chance, den Kratersee vor der WCA zu erreichen, nun da sich ihr Verdacht
bestätigt hatte, dass auch deren Expedition auf dem Weg war. »Ich glaube, wir haben dasselbe Ziel. Gemeinsam sollten wir es erreichen.« Black streckte ihm die Hand entgegen, und Matt schlug ein. Ein bisschen kam es ihm vor, als würde er seine Seele verkaufen... ENDE
Die Allianz von Jo Zybell Eine Zusammenarbeit mit den Running Men scheint Matt Drax unvermeidlich, um den Kratersee zu erreichen. Doch er nimmt das Angebot nur zögernd an. So viel er auch über den Mann weiß, aus dessen fünfhundert Jahre alten Genen der Anführer der Rebellen geklont wurde - US-Präsident Arnold Schwarzenegger! -, so wenig kennt er Mr. Black selbst. Für Black ist die Begegnung mit Matthew eine Offenbarung im wahrsten Wortsinn. Nun endlich enthüllt sich ihm das Rätsel seiner »genetischen Erinnerungen«. Als Commander Drax von den letzten Tagen der Alten Welt berichtet, begreift er, dass es auch damals eine Allianz gab mit dem Ziel, die Erde zu retten. Und wie heute war es eine Allianz im Schatten des Kometen...