Albert Scherr (Hrsg.) Soziologische Basics
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Albert Scherr (Hrsg.) Soziologische Basics
Albert Scherr (Hrsg.)
Soziologische Basics Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage November 2000 (erschienen im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden) 1. Auflage April 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14621-1 ISBN-13 978-3-531-14621-8
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Klassische und einflussreiche Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung: Wozu Soziologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Autorität und Unterwerfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Bildung, Erziehung, Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Biografien und Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Einwanderer, Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Familien und Paarbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Gender und Sex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Gesellschaft und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
Handlung, Interaktion, Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Ideologien und Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
Identität und Identifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Jugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Jugendkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Kindheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Kritik und Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
Kultur, Kulturen und Ethnizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Macht, Herrschaft und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
Medialität und Massenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
Natur und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
Normalität und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
Politik und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Prävention und soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
Soziale Systeme, Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
6
Inhalt
Sozialraum und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Sprache und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
Subjekt, Subjektivität und Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170
Theorien und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
Ungleichheiten und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Werte und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist darauf ausgerichtet, einen problemorientierten und auf pädagogische Fragestellungen bezogenen Zugang zu ausgewählten soziologischen Theorien, Begriffen und Forschungsgebieten zu ermöglichen. Es erhebt also nicht den Anspruch, einen lückenlosen Überblick über „die Soziologie“ zu geben. Beabsichtigt ist vielmehr, ein für PädagogInnen relevantes Grundlagenwissen so darzustellen, dass ein Ausgangspunkt für eine vertiefende Auseinandersetzung bereitgestellt wird. Dieser Zielsetzung entsprechend wurden die folgenden Beiträge sowohl von SoziologInnen verfasst, die sich mit Fragen der pädagogischen Theorie und Praxis auseinander setzen, als auch von ErziehungswissenschaftlerInnen, die sich mit den soziologischen Grundlagen ihrer Disziplin befasst haben. Allen AutorInnen ist an dieser Stelle für ihr Engagement zu danken. Zu danken ist Ulrike Hormel zudem für ihre Mitarbeit bei der Lektorierung der Manuskripte. Freiburg i. Br., im März 2006
Albert Scherr
Klassische und einflussreiche Autoren
In den folgenden Texten wird auf eine Reihe einflussreicher bzw. klassischer sozialwissenschaftlicher, pädagogischer und philosophischer Autoren verwiesen. Um deren theoriegeschichtliche Einordnung zu erleichtern, werden hier Geburts- und Todesdaten genannt. Weiterführende Informationen finden sich u.a. in einschlägigen Darstellungen zur Geschichte der Soziologie (etwa: Kaesler 1999; Korte 2003) sowie im Internet etwa unter www.sociosite.net/ topics/sociologists.php. Adorno, Theodor W. (1903–1969) Arendt, Hannah (1906–1975) Althusser, Louis (1918–1990) Beck, Ulrich (geb. 1944) Berger, Peter L. (geb. 1929) Bernfeld, Siegfried (1992–1953) Bourdieu, Pierre (1930–2002) Butler, Judith (geb. 1956) Comte, Auguste (1798–1857) Durkheim, Émile (1858–1917) Elias, Norbert (1897–1990) Erikson, Erik H. (1902–1994) Fromm, Erich (1900–1980) Freire, Paolo (1921–1997) Foucault, Michel (1926–1984) Freud, Sigmund (1856–1939) Geiger, Theodor (1891–1952) Giddens, Anthony (geb. 1938) Goffman, Erving (1922–1982) Gramsci, Antonio (1891–1937) Habermas, Jürgen (geb. 1929) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831)
Heydorn, Heinz-Joachim (1916–1974) Hobbes, Thomas (1588–1679) Horkheimer, Max (1895–1973) Kant, Immanuel (1724–1804) Kohlberg, Lawrence (1927–1987) Levi-Strauss, Claude (geb. 1908) Locke, John (1632–1704) Luckmann, Thomas (geb. 1927) Luhmann, Niklas (1927–1998) Mannheim, Karl (1893–1947) Marx, Karl (1818–1883) Schütz, Alfred (1899–1959) Weber, Max (1864–1920) Mead, George Herbert (1863–1931) Parsons, Talcott (1902–1979) Piaget, Jean (1896–1980) Popitz, Heinrich (1925–2002) Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) Simmel, Georg (1858–1918) Tönnies, Ferdinand (1887–1979) Wittgenstein, Ludwig (1898–1951) Wyneken, Gustav (1875–1954)
Literatur Kaesler, Dirk (Hg.) (1999): Klassiker der Soziologie. Band 1 und 2. München Korte, Hermann (2003): Einführung in die Geschichte der Soziologie. 7. Aufl. Wiesbaden
Einleitung: Wozu Soziologie? Der Gebrauchswert soziologischen Denkens für die pädagogische Theorie und Praxis
Albert Scherr Soziologie, das ist für Nicht-Soziologen oft eine schwer verständliche Wissenschaft mit einer umständlichen Fachsprache sowie komplexen Theorien und Forschungsmethoden, deren Nutzen zunächst wenig einleuchtend ist. Entsprechend werden soziologische Lehrveranstaltungen von Studierenden gelegentlich als eine mühsame Pflichtübung erlebt, der man sich aussetzen muss, um den Zwängen von Studien- und Prüfungsordnungen gerecht zu werden. Soziologie stellt sich dann als institutionell zugemuteter Lernzwang dar und nicht als ein Denkangebot, das neue und interessante Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen, Konflikten und Entwicklungen sowie mit den Bedingungen und Möglichkeiten der künftigen Berufspraxis eröffnet. Eine solche Rahmung verstellt eine entscheidende Möglichkeit soziologischen Denkens: die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen und Entwicklungen, nicht zuletzt mit der Frage, „was eigentlich diese ganze sonderbare Gesellschaft trotz ihrer Absonderlichkeiten zusammenhält“ (Adorno 1968/1993: 12). Mit dem vorliegenden Buch, das als Einführung in die Soziologie für Studierende pädagogischer Studiengänge angelegt ist, wird deshalb der Versuch unternommen, soziologisches Wissen nicht primär in einer für Lehr- und Prüfungszwecke geeigneten Form – d.h. als einen Kanon abprüfbaren Wissens – darzustellen, sondern soziologische Denkmöglichkeiten aufzuzeigen. In dieser Einleitung sollen dazu zunächst einige Merkmale soziologischen Denkens verdeutlicht sowie die Frage aufgeworfen werden, worin der mögliche Gebrauchswert soziologischen Denkens liegt.
I Was also kennzeichnet Soziologie im Unterschied zum Alltagsdenken und zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen? Im Sinne einer ersten Annäherung sind für die Beantwortung dieser Frage v.a. drei Aspekte zu nennen: (1) Soziologie befasst sich zum einen mit dem Erleben, Denken und Handeln von Individuen in unterschiedlichen sozialen Kontexten – z.B. in zufälligen Begegnungen zwischen zwei oder mehreren Personen, in Zweierbeziehungen und Familien, in kleineren oder größeren Gruppen, in Organisationen wie Schulen oder Industriebetrieben, aber auch in darüber hinausreichenden gesellschaftlichen (etwa: ökonomischen, kulturellen und politischen) Zusammenhän-
Einleitung: Wozu Soziologie?
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gen. Entsprechend lautet eine klassische (aber keineswegs unumstrittene) Definition Max Webers: „Soziologie ... soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirklungen ursächlich erklären will“ (Weber 1922/1972: 1). Die so formulierte Aufgabenstellung der Soziologie – Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln – unterscheidet diese nun nicht klar vom Alltagsdenken. Denn auch im Alltag sind wir damit befasst, die Motive und Absichten anderer zu verstehen und uns damit zu erklären, warum sie etwas tun oder lassen. Im Unterschied zum Alltagsdenken nimmt Soziologie hierfür jedoch wissenschaftliche Verfahren – die gezielte, methodisch angeleitete Erhebung von Daten, die Klärung von Begriffen, die Formulierung in sich möglichst konsistenter Analysen und Theorien – in Anspruch. Soziologie als Wissenschaft betreiben, das heißt insofern auch: genauer hinsehen und gründlicher nachdenken, als dies im Alltag gewöhnlich möglich ist sowie sich dabei mit den Beobachtungen (Forschungsergebnissen) und Überlegungen (Theorien) auseinander zu setzen, die andere zu jeweiligen Themen vorgelegt haben. Zudem nimmt Soziologie eine bestimmte – von der Psychologie und dem gewöhnlichen Alltagsdenken unterschiedene – Strategie des Verstehens und Erklärens in Anspruch: Das Verstehen der Motive und Absichten von Individuen ist für SoziologInnen nicht das Ende, sondern nur ein Ausgangspunkt für Erklärungen. Darüber hinausgehend untersucht Soziologie die sozialen Bedingungen, die zu jeweiligen individuellen Motiven, Absichten und Handlungen geführt, diese ermöglicht und hervorgebracht haben. In einer soziologischen Perspektive wird davon ausgegangen, dass individuelles Erleben, Denken und Handeln nicht außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge angesiedelt ist. SoziologInnen gehen folglich (mit unterschiedlicher Akzentuierung) von der Annahme eines Primats des Sozialen aus. Klassisch formuliert George Herbert Mead dies in Bezug auf soziale Gruppen wie folgt: Wir gehen „von einem gesellschaftlichen Ganzen, einer organisierten Gruppenaktivität aus, innerhalb der wir das Verhalten jedes einzelnen Individuums analysieren. Das heißt also, dass wir das Verhalten des Individuums in Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe erklären, anstatt das organisierte Verhalten der Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklären zu wollen“ (Mead 1934/1968: 45). Am Beispiel von Begrüßungen verdeutlicht Ulrich Oevermann (1999: 78), dass soziale Handlungen und nicht Einzelhandlungen Gegenstand soziologischer Betrachtungen sind: Wenn Person A Person B begrüßt, und B zurückgrüßt oder dies verweigert, dann setzen beide Begrüßungen als eine bestimmte soziale Situation voraus, für die bestimmte Regeln und Normen gelten. Die Einzelhandlung ist nur in diesem situativen Kontext verständlich. Daraus folgert er: „Nicht setzen sich Interaktionen aus Einzelhandlungen zusammen, sondern Einzelhandlungen stellen Abstraktionen von Interaktionen dar“ (ebd.: 79). Wenn also z.B. beobachtet wird, dass ein Schüler wiederkehrend dem Unterricht fernbleibt, dann ist dies soziologisch nicht schon dadurch erklärt, dass mit alltagssprachlichen Deutungen oder psychologischen Fachbegriffen beschrieben wird, warum er Schule als emotionale Belastung empfindet oder warum er die Schule als sinnlosen Zwang erlebt. Soziologie beginnt in diesem Fall dann, wenn über das Verstehen der subjektiven Motive hinaus danach gefragt wird, welche sozialen Bedingungen dazu beitragen, dass das Handeln des Schülers sich für ihn als subjektiv notwendige bzw. sinnvolle Praxis darstellt. Als bedeutsame soziale Bedingungen hierfür sind u.a. die folgenden in Rechung zu stellen: die familiale Situation des Schülers, das Bildungsniveau und die beruflichen Positionen der Eltern, die tendenzielle Entwertung von
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Einleitung: Wozu Soziologie?
Schulabschlüssen durch Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit, aber auch Eigenschaften der Organisation Schule selbst (etwa: die Zumutung eines Lernens, auf dessen Gegenstände und Themen Schüler kaum Einfluss haben) sowie die Strukturmerkmale des dreigliedrigen Schulsystems (etwa: die Abwertung von Hauptschulen zu „Restschulen“) (¡ Bildung, Erziehung, Sozialisation; Ungleichheiten und Diskriminierung). Soziologie betrachtet das soziale Handeln von Einzelnen also vor dem Hintergrund der sozialen Kontexte, in die es eingebettet ist und die bestimmte Handlungsmöglichkeiten hervorbringen und nahe legen, andere ausschließen, erschweren oder unwahrscheinlich machen. Eine Herangehensweise, die soziale Beziehungen – und dies auch jenseits offenkundiger wirtschaftlicher und rechtlicher Zwänge – nicht als eine Folge von Entscheidungen voneinander unabhängiger und freier Individuen betrachtet, bricht mit den Gewohnheiten des Alltagsdenkens und ist folglich nicht einfach aneigenbar. Soziologie kann deshalb nicht in gleicher Weise wie Vokabeln oder mathematische Formeln gelernt werden. Die Aneignung ihrer Theorien und Begriffe erfordert die kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Sichtweisen der sozialen Wirklichkeit. Dabei ist es hilfreich, sich beim Einstieg in soziologisches Denken an der Regel „Nicht individualisieren, nicht psychologisieren!“ zu orientieren, d.h.: zu versuchen, das Handeln von Individuen zu verstehen und zu erklären, ohne Annahmen darüber vorauszusetzen, was ihre individuellen Motive und Absichten sind. (2) Soziologie zielt zum anderen darauf, Begriffe, Theorien und empirische Beschreibungen verfügbar zu machen, die eine Analyse der unterschiedlichen Kontexte des sozialen Handelns, ihrer Struktur und Dynamik ermöglichen. In der Sicht von SoziologInnen sind z.B. Familien soziale Gebilde, die durch bestimmte Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen gekennzeichnet sind, die sie von anderen sozialen Gebilden, z.B. Gleichaltrigengruppen oder Organisationen unterscheiden (¡ Familien und Paarbeziehungen). Typisch für Familien sind etwa bestimmte Kommunikationsregeln, die festlegen, was zulässige und unzulässige Themen in Gesprächen zwischen den Eltern sowie zwischen Eltern und Kindern sind, worüber jeweils geredet werden darf und ggf. muss und welche Themen und Fragen sich verbieten. So ist etwa die elterliche Sexualität gewöhnlich kein Thema der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, und dies hängt wiederum damit zusammen, dass für Familien der Ausschluss sexueller Beziehungen zwischen den Generationen ein grundlegendes Strukturmerkmal ist. Solche Strukturen bzw. Regeln werden nicht von den Beteiligten erfunden, sondern sind den Beteiligten vielfach nicht bewusste Strukturmerkmale des jeweiligen sozialen Gebildes (¡ Soziale Systeme, Systemtheorie). Soziologische Theorien und Untersuchungen sind entsprechend darauf ausgerichtet, Strukturmerkmale und Veränderungsdynamiken unterschiedlicher sozialer Gebilde zu beschreiben. Die kleinste soziale Einheit, die hierbei relevant ist, sind Interaktionen, das aufeinander bezogene Handeln bzw. Kommunizieren von zumindest zwei Individuen. Schon für den scheinbar einfachen Fall der Interaktionen kann gezeigt werden, dass hier Strukturmerkmale folgenreich sind, die von den Beteiligten nicht außer Kraft gesetzt werden können (¡ Handlung, Interaktion, Kommunikation). Interaktionen beruhen auf wechselseitigen Erwartungen und wechselseitigen Typisierungen mit sozial vorgegebenen Kategorien (z.B. Berufsgruppenbezeichnungen, Geschlechts- und Altersgruppenkategorien). Den jeweiligen Erwartungen liegen sozial vorgegebene Situationsdefinitionen (als Gespräch unter Freunden, als Beratung durch eine Fachkraft, als Unterricht usw.) zugrunde, für die je eigene Regeln und Normen gelten.
Einleitung: Wozu Soziologie?
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Zudem erzeugen Interaktionen einen Wahrnehmungsüberschuss: A nimmt immer mehr und anderes wahr als das, was B mitzuteilen beabsichtigte. Dies setzt unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten frei: B reagiert z.B. nicht auf die expliziten inhaltlichen Aspekte einer Aussage von A, sondern darauf, wie, z.B. mit welchem Tonfall, welcher Lautstärke usw., es gesagt wurde. Soziologische Analysen sind nun nicht auf soziale Gebilde (in der Fachsprache der Soziologie: soziale Systeme oder soziale Figurationen) beschränkt, bei denen eine begrenzte Zahl von Beteiligten direkt zueinander in Beziehung tritt. Sie interessieren sich auch für darüber hinausreichende Zusammenhänge und Strukturen. Soziologie als Gesellschaftstheorie geht davon aus, dass das Erleben, Denken und Handeln von Individuen, in Familien und Gruppen in einen übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet ist und nicht unabhängig von diesem verstanden werden kann (¡ Gesellschaft und Gemeinschaft). Angesprochen sind damit die vielfältigen ökonomischen, technischen, politischen, sozialstrukturellen und kulturellen Merkmale, die etwa eine moderne Gesellschaft wie die Bundesrepublik von einer mittelalterlichen Agrar- und Ständegesellschaft unterscheiden: Die überwiegende Zahl der Menschen lebt nicht mehr in Dörfern, sondern in Städten; arbeitet nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern in Industrien und im Dienstleistungssektor; verfügt über den Zugang zu Massenmedien; es existiert keine Kleiderordnung mehr, die verbindlich festlegt, wie man sich standesgemäß zu kleiden hat; die Religionen haben das Monopol verloren, über moralische Fragen zu entscheiden; es haben sich Wissenschaften entwickelt, deren Denkmodelle und Ergebnisse von hoher Bedeutung auch für das Alltagsleben sind usw. Schon ein oberflächlicher Vergleich unterschiedlicher historischer Gesellschaftsformen zeigt auf, dass die jeweiligen gesellschaftstypischen Merkmale in einem engen Zusammenhang miteinander stehen und sich wechselseitig beeinflussen. So ist etwa die für die Gegenwartsgesellschaft im Unterschied zu Agrargesellschaften typische zeitliche und räumliche Trennung von Erwerbsarbeit und Privatleben hoch folgenreich für das Zusammenleben in Familien und Zweierbeziehungen; sie verbindet sich mit einer außerfamilialen Ausbildung in Schulen, Betrieben und Hochschulen. Diese Ausbildung steht unter der Vorgabe, auf abhängige Erwerbsarbeit und die Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes vorzubereiten; die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist von internationalen Wirtschaftsprozessen, aber auch von wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsprozessen abhängig. Diese Aufzählung kann nahezu beliebig verlängert werden. Sie verdeutlicht die für soziologische Gesellschaftstheorien grundlegende Annahme, dass einzelne Aspekte und Teilbereiche des Sozialen in einem nicht-beliebigen gesellschaftlichen Zusammenhang miteinander stehen, der direkte und indirekte, offenkundige und verdeckte Auswirkungen auf jedes Detail, auch auf das alltägliche soziale Handeln jedes Einzelnen, hat. Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln sowie als Wissenschaft von den sozialen Systemen (Interaktionen, Gruppen, Familien, Organisationen, Institutionen, gesellschaftliche Teilsysteme, Gesellschaften) zielt also auf das Aufzeigen von Hintergründen, von sozialen Bedingungen und Zusammenhängen, die für das Alltagswissen nicht transparent sind. Schon deshalb enthält soziologisches Denken ein kritisches Potential: Soziologie ermöglicht die Kritik eines Denkens, das unterstellt, soziale Ereignisse seien das Ergebnis der Entscheidungen und Handlungen von Individuen. Soziologie als Kritik zielt darüber hinaus darauf, zu erklären, wie bestimmte soziale Ordnungen zustande kommen und was ihre Veränderung erschwert; in den Blick genommen werden deshalb auch – und dies wird in den folgenden Beiträgen deutlich werden – Macht- und Herrschaftsverhältnisse, soziale Ungleichheiten, Tradi-
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Einleitung: Wozu Soziologie?
tionen, Konventionen und Ideologien (¡ Macht, Herrschaft und Gewalt; Ideologien und Diskurse; Politik und Staat; Ungleichheiten und Diskriminierung). (3) Soziologie ist von anderen Sozial- und Humanwissenschaften nicht einfach durch einen vorgefundenen Gegenstand zu unterscheiden, mit dem sie sich exklusiv befasst. Denn Soziologie ist keineswegs die einzige „Wissenschaft vom Sozialen“. Auch Historiker, Sozialpsychologen, Ethnologen und Erziehungswissenschaftler befassen sich mit sozialen Zusammenhängen und ihren Auswirkungen auf das Erleben, Denken und Handeln von Individuen. Soziologie ist deshalb besser durch ihre spezifische Perspektive zu charakterisieren: > Soziologie richtet ihren Blick – im Unterschied zur Geschichtswissenschaft – auf die Gegenwartsgesellschaft. > Im Unterschied zur Sozialpsychologie betrachtet Soziologie soziale Beziehungen und Prozesse nicht „nur“ als einflussreiche Bedingungen für individuelles Erleben, Denken und Handeln, sondern zielt darauf, die Eigenschaften sozialer Gebilde – insbesondere von Interaktionen, Familien, Gruppen, Organisationen, Institutionen, gesellschaftlichen Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Recht usw.) und von unterschiedlichen Gesellschaftsformen – systematisch zu beschreiben. > Für soziologisches Denken ist zudem die Bemühung zentral, einzelne Aspekte des Sozialen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu analysieren. Grundlegend für Soziologie ist also die Rückbindung von Untersuchungen zu einzelnen Teilbereichen an gesellschaftstheoretische Grundannahmen.
II Die Frage nach dem (pädagogischen) Gebrauchswert soziologischen Denkens ist vor diesem Hintergrund für SoziologInnen, also für diejenigen, die mit soziologischen Theorien, Begriffen und Forschungsmethoden vertraut sind, leicht zu beantworten. Denn SoziologInnen sind gewöhnlich der Überzeugung, dass ihre Wissenschaft eine unverzichtbare Grundlage ist, um die sozialen Voraussetzungen von Pädagogik, die sozialen Einflüsse auf die pädagogische Theorie und Praxis sowie die sozialen Folgen von Pädagogik zu verstehen. Ohne soziologische Fundierung verkennt Pädagogik grundlegende Bedingungen und Bezüge, die das ermöglichen, was als Pädagogik geschieht und die erhebliche Auswirkungen darauf haben, wie Pädagogik sich vollzieht. Damit ist zunächst darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Soziologie – im Unterschied etwa zu pädagogischen Didaktiken und zu Methodenlehren oder zu diagnostischen Instrumentarien und therapeutischen Verfahren der Psychologie – nicht primär darin gesehen wird, wissenschaftlich begründete Handlungsanleitungen bereit zu stellen. Zwar geht soziologisches Wissen in die erziehungswissenschaftliche Begründung von Erziehungs- und Bildungskonzepten sowie in bildungspolitische Entscheidungen ein. Soziologie ist jedoch insofern eine unpraktische Disziplin, wie sie primär darauf zielt, theoretisch fundierte und empirisch informierte Analysen und Reflexionen zu fördern, statt Richtlinien oder gar Handlungsanweisungen für die berufliche Praxis hervorzubringen. Soziologie beansprucht also zunächst „nur“, zu einem besseren Verstehen von Pädagogik als gesellschaftlich situierter Praxis beizutragen, d.h. nicht zuletzt: als einer Praxis, die in grundlegenden Zusammenhängen mit den übrigen gesell-
Einleitung: Wozu Soziologie?
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schaftlichen Teilbereichen – mit Ökonomie, Politik, Recht usw., mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen, Strukturen sozialer Ungleichheit, Ideologien usw. – steht. Dass es solche Zusammenhänge gibt und dass diese für die Pädagogik folgenreich sind, lässt sich an zahlreichen Bespielen verdeutlichen. Soziologische Studien haben etwa aufgezeigt, dass PädagogInnen sich im Umgang mit ihren jeweiligen Adressaten an Normen, so etwa Vorstellungen über angemessenes und inakzeptables Verhalten von Kindern und Jugendlichen, orientieren, die nicht fachlich begründet, sondern an gesellschaftlich gängigen Denkgewohnheiten ausgerichtet sind. So halten es auch zahlreiche PädagogInnen für selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig, dass Kinder aus Einwandererfamilien in der Schule schlechter abschneiden als Kinder ohne Migrationshintergrund. In der Folge neigen sie dann dazu, solchen Schülern eher einen Haupt- oder Realschulbesuch als den Besuch eines Gymnasiums zu empfehlen – und dies möglicherweise in guter Absicht, aber mit problematischen Folgen: Die gute Absicht besteht ggf. darin, Kindern, von denen angenommen wird, dass sie durch ihre Eltern in schulischen Belangen kaum unterstützt werden können, nicht zu überfordern. Eine problematische Folge kann das Aussprechen von solchen Schullaufbahnempfehlungen trotz eigentlich hinreichender Leistungen sein, die dazu beitragen, dass der Anteil von Einwandererkindern an den Gymnasiasten gering bleibt. Ein anderes Beispiel: In welchem Umfang Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit und Jugendbildung zur Verfügung stehen, ist ebenso von politischen Entscheidungen abhängig wie die Größe der Klassen und die Anzahl der Lehrer in Schulen. Auch hieran wird sichtbar, dass Pädagogik nicht autonom ist, sondern dass ihre Möglichkeiten und Grenzen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, u.a. mit politischen Vorgaben, stehen. Dies gilt nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Zielsetzungen pädagogischen Handelns. Dass Pädagogik inzwischen darauf ausgerichtet ist, zur Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen, Frauen und Männern beizutragen, ist eine Folge davon, dass seit den 1960er Jahren die tradierte Idee einer natürlichen Ungleichheit und einer dieser entsprechenden Aufgabenverteilung (erwerbsarbeitende Männer, sich um ihre Kinder und Ehemänner sorgende Hausfrauen) weitgehend erfolgreich in Frage gestellt wurde. Und dies steht wiederum in einem Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen, u.a. dem Anstieg des allgemeinen Bildungsniveaus und der Öffnung höherer Bildungslaufbahnen für Frauen. Soziologie als Wissenschaft, die sich für solche gesellschaftlichen Zusammenhänge interessiert, diese empirisch untersucht und theoretisch analysiert, stellt PädagogInnen ein Wissen zur Verfügung, das ihnen zu einem besseren (informierteren und genaueren) Verständnis der Bedingungen verhelfen kann, in die ihr berufliches Handeln verwoben ist. Dies gilt nicht nur in Hinblick auf die externen sozialen Bedingungen pädagogischen Handelns, sondern auch für die Binnenstrukturen in pädagogischen Arbeitsfeldern. Denn pädagogisches Handeln ist selbst eine sozial strukturierte Praxis, d.h. es vollzieht sich in pädagogischen Organisationen (Schulen, Jugendzentren, Erwachsenenbildungsstätten usw.), deren Ressourcenausstattung, Hierarchien, Zeitpläne usw. die Erziehungs- und Bildungsprozesse beeinflussen. Auch in der direkten Face-to-Face-Kommunikation (Interaktion) zwischen Pädagogen und Adressaten ist Gesellschaft anwesend. Etwa durch Normen und Werte als Grundlage von Erwartungen und Entscheidungen (¡ Werte und Normen), durch die Übernahme gesellschaftlich einflussreicher Vorstellungen über normales und abweichendes Verhalten (¡ Normalität und Abweichung), durch im Sozialisationsprozess (¡ Bildung, Erziehung, Sozialisation) erworbene Handlungsmuster und Gewissheiten.
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Einleitung: Wozu Soziologie?
Ein solches Verstehensangebot hat für die Pädagogik nun zwar insofern keinen unmittelbaren praktischen Gebrauchwert, wie Pädagogik keinen Einfluss auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen nehmen kann. Es ist jedoch für die Begründung, Analyse und Kritik pädagogischer Theorien, Konzepte und Praktiken durchaus relevant. Zudem können soziologische Analysen eine Grundlage für Bemühungen von PädagogInnen sein, auf gesellschaftspolitische Entscheidungen – etwa durch die Mitarbeit in Gewerkschaften und politischen Initiativen – einzuwirken. Mit der Betonung der sozialen Bedingungen stellt soziologisches Denken PädagogInnen nicht nur ein Verstehensangebot, sondern auch ein Entlastungsangebot zur Verfügung: Soziologisch informierte PädagogInnen haben Argumente zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, nicht alles, was in ihrer beruflichen Praxis geschieht, als Folge ihres eigenen Handelns – und ggf. eigener Fehler – zu interpretieren. Denn Gelingen und Scheitern ist in pädagogischen Arbeitsfeldern auch von den externen und internen sozialen Gegebenheiten abhängig, die durch das jeweilige eigene Handeln kaum verändert werden und deren Auswirkungen nur begrenzt beeinflusst werden können. Gleichwohl wird mit entsprechenden Analysen der sozialen Bedingungen und Grenzen von Pädagogik pädagogische Verantwortlichkeit für den kompetenten Umgang mit jeweiligen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs hinfällig (¡ Theorien und Praxis). Soziologisches Denken etabliert für PädagogInnen jedoch auch eine bestimmte, potentiell durchaus unbequeme Reflexionsaufforderung, die als Zumutung, aber auch als Chance begriffen werden kann: Die Aufforderung, die sozialen Zusammenhänge der eigenen beruflichen Praxis bewusst in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wie die Routinen, die fraglosen Selbstverständlichkeiten, die Probleme und Schwierigkeiten der eigenen Praxis mit sozialen Strukturen und Dynamiken in Beziehung stehen. Soziologie bietet so betrachtet eine Möglichkeit zur Selbstaufklärung. Pierre Bourdieu (Bourdieu/Wacquant 1996: 95f.) hat Soziologie entsprechend als „Sozioanalyse“ bezeichnet, als Analyse der im Alltagsdenken gewöhnlich nicht bewussten sozialen Grundlagen individuellen Erlebens, Denkens und Handelns. Weiter charakterisiert er Soziologie treffend als „nicht narzisstische Selbstanalyse“, d.h. als ein Nachund Überdenken, das seinen Fokus nicht in individuellen Befindlichkeiten, sondern in den gesellschaftsgeschichtlichen Kontexten hat: „Die Soziologie ist ein ... Instrument der Selbstanalyse, die es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, indem sie einem ermöglicht, besser zu verstehen, wer man ist, indem sie einen die sozialen Bedingungen, die einen zu dem gemacht haben, was man ist, sowie die Stellung begreifen lässt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat“ (ebd.: 96). Benötigen PädagogInnen soziologische Verstehens- und Reflexionskompetenzen? Ein Blick in aktuelle erziehungswissenschaftliche Lehrbücher und Studien legt eine eindeutig positive Antwort auf diese Frage nahe. Denn inzwischen – seit der sog. realistischen Wende von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zur modernen Erziehungswissenschaft – sind vielfältige soziologische Theorien, Begriffe und Forschungsmethoden in das erziehungswissenschaftliche Repertoire eingegangen; die disziplinären Grenzen sind, obwohl sie von manchen immer noch heftig verteidigt werden, recht durchlässig geworden. Gegenwärtige pädagogische Texte sind deshalb ohne soziologische Grundkenntnisse kaum zu verstehen. Wer sich also wissenschaftlich mit Erziehung und Bildung auseinander setzen will, kann auf Soziologie nicht verzichten. Ist Soziologie aber auch von Relevanz für diejenigen, die pädagogische Studiengänge als Vorbereitung auf eine berufliche Praxis in Schulen, Jugendhilfereinrichtungen, der offenen Jugendarbeit und Jugendbildungsstätten, in Beratungsstellen, der Erwachsenenbildung und
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anderen pädagogischen Arbeitsfeldern absolvieren? Mögliche Antworten auf diese Frage hängen entscheidend davon ab, ob PädagogInnen sich den Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Klärung der Bedingungen, Ziele und Folgen pädagogischer Praxis zu eigen machen, oder diese eher als ein Handwerk verstehen, bei dem auf genaue Analysen und auch kritische Reflexionen verzichtet werden kann. Diesbezügliche Entscheidungen hat jede/r selbst zu treffen, sie können nicht verordnet werden. Wenn dieses Buch gleichwohl dazu beiträgt, dass Soziologie als ein Denkangebot zugänglich wird, das Reflexionen und Analysen anregen kann, die über das Alltagswissen hinausgehen, dann erfüllt es seinen Zweck.
III Zum Abschluss dieser Einleitung ist auf eine für Studienanfänger häufig irritierende Komplikation hinzuweisen: Soziologie besteht, wie andere Wissenschaften auch, nicht aus einem Kanon unstrittigen und abgesicherten Wissens, sondern aus vielfältigen, heterogenen und z.T. kontroversen Theorien, Thesen und Tatsachenbehauptungen. Soziologie und andere Wissenschaften verkünden also keine fraglos gültigen Wahrheiten, sondern stellen mehr oder weniger gut begründete Theorien und Forschungsergebnisse bereit, die das eigene kritische Denken nicht ersetzen können. Die Vielfalt der soziologischen Theorien und Methoden führt in Verbindung mit der Ausdifferenzierung der Soziologie in ihre Teilbereiche (die sog. speziellen Soziologien wie etwa Jugendsoziologie, Soziologie der Kindheit, Bildungs- und Erziehungssoziologie, Wissens- und Techniksoziologie, Musiksoziologie, Sportsoziologie usw.) zudem dazu, dass „die Soziologie“ nicht nur für Nicht-SoziologInnen, sondern auch für FachsoziologInnen in ihrer Breite kaum mehr zu überschauen ist. Es ist also nicht möglich, sich in wenigen Semestern einen umfassenden Überblick über die Soziologie zu verschaffen. Und eine breit angelegte, aber oberflächlich bleibende Beschäftigung mit möglichst vielen soziologischen Themen ist wenig sinnvoll. Nützlicher ist m.E. demgegenüber für Nicht-FachsoziologInnen das Prinzip des exemplarischen Lernens, der vertiefenden Auseinandersetzung mit ausgewählten Themen, Theorien oder Fragestellungen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1968/1993): Einleitung in die Soziologie. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. Mead, George Herbert (1934/1968): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. Oevermann, Ulrich (1999): Strukturale Soziologie und Rekonstruktionsmethodologie. In: Glatzer, W. (Hg.): Ansichten der Gesellschaft. Opladen, S. 72–84. Weber, Max (1922/1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.
Autorität und Unterwerfung
Roland Roth Autorität ist eine vielschichtige Alltagserfahrung, die auf der Wahrnehmung und Anerkennung von Unterschieden in einem asymmetrischen Sinne beruht. Nicht nur der Wortstamm verweist auf Herrschaft. Allerdings setzt unser Verständnis von Autorität zumeist den Akzent auf die Beziehungsebene. Die überlegene Person verlangt Unterwerfung, sei es unter einen Befehl, ein Vorbild oder ein Expertenurteil. Wer deren Autorität anerkennt, wird versuchen diesen Erwartungen und Anforderungen zu entsprechen. Diese Dramaturgie von Autoritätsbeziehungen ist in der Regel eingebettet in abstraktere Herrschaftsverhältnisse – etwa in Schulen oder Betrieben. Gleichwohl enthalten sie die Möglichkeit des Scheiterns, der Verstellung, einer lediglich gespielten Anerkennung und Unterwerfung, die bei günstiger Gelegenheit in Verweigerung umschlägt. Lehrer können sich lächerlich machen, wenn sie Autorität sein wollen. Chefs bekommen Zustimmung, obwohl ihnen – freilich hinter vorgehaltener Hand – die Sachkompetenz abgestritten wird. Autorität ist ein spezifisches Beziehungsmuster in Herrschaftsverhältnissen, das von der Anerkennung bis zur Unterwerfung reichen kann. Seine beiden Grenzzonen werden durch Herrschaftsfreiheit und Gleichheit einerseits und die Unterordnung unter unmittelbare Gewalt andererseits markiert. In ihrem Interesse an stabilen Ordnungen tun sich die Sozialwissenschaften in der Regel schwer mit diesen beiden Extremen. Herrschaftsfreiheit, wie sie z.B. in der anarchistischen Tradition propagiert wird, erscheint eher flüchtig und unwahrscheinlich, reine Gewaltverhältnisse dagegen zu instabil, um dauerhafte Ordnungen zu ermöglichen. So kommt es zu der Aussage: „Autorität überall. Wo immer sich Menschen dauerhaft miteinander verbinden und soziale Ordnung schaffen, erkennen sie einander nicht nur als verschiedene Gleiche, sondern auch als Ungleiche an“ (Sofsky/Paris 1991: 19). Konservative Beobachter werden seit Jahrhunderten nicht müde, den Verlust von Autorität zu beklagen, während die antiautoritäre Kritik stets aufs neue agiert wie der kleine Junge in „Des Kaisers neue Kleider“: Der Kaiser ist nackt, seine Autorität eine Fiktion. Autorität entsteht (durch Vereinbarung oder Herrschaftsbeziehungen) in gesellschaftlichen Prozessen; sie wird Personen, die eine soziale Position einnehmen, zugeschrieben. D.h.: Autorität ist keine Eigenschaft von Personen, sondern auf ihre Bestätigung in Beziehungen angewiesen, in denen Unterschiede zwischen Autoritäten und denen, die sich nach der jeweiligen Autorität richten, anerkannt werden. Sie wird jedoch auch Institutionen zugeschrieben (z.B. Staat, Wissenschaft, Kirche), deren Repräsentanten diese Autorität z.B. als Amtsbonus geltend machen können. Die Anerkennung von Autorität kann vielfältige Quellen haben, deren Spektrum von der Freiwilligkeit (Bewunderung, Respekt etc.) bis zur gewaltsamen Unterwerfung (z.B. in Gefangenschaft) reichen kann. Dies signalisieren auch die Adjektive autoritativ bzw. autoritär: Während autoritativ auf zwanglose Anerkennung verweist, steht autoritär für die ggf. auch gewaltsame Durchsetzung von Autorität. Aber Autorität kann auch stets infrage gestellt, bestritten und verweigert werden.
Autorität und Unterwerfung
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Die Suche nach dauerhaften Quellen der Anerkennung, die mit dem Anspruch demokratischer Gesellschaften vereinbar sind, steht im Zentrum eines zeitgemäßen Autoritätsverständnisses: „Autorität ist jemand dann, wenn andere ihm aus freien Stücken eine persönliche Überlegenheit attestieren, an die sie selbst heranreichen. Häufig eifern sie der Autorität nach und versuchen es ihr gleich zu tun: Autoritäten sind Vorbilder“ (Paris 2005: 77). Die historischen Ausprägungen von Autoritätsverhältnissen sind ebenso vielfältig, wie die zeitgenössischen Quellen von Überlegenheit. Entsprechend schillernd ist die Verwendung des Autoritätsbegriffs und ebenso umstritten sind seine wissenschaftlichen Differenzierungen. Von rationaler Autorität bzw. Sachautorität wird in der Regel dann gesprochen, wenn es gute „sachliche“ Gründe (Expertenwissen, überlegene Kompetenzen etc.) für eine Anerkennung von Unterschieden (z.B. in der Lehrer/Schüler-Rolle) gibt, die von den Beteiligten akzeptiert und zumindest im Konfliktfall plausibel begründet werden können. Ob diese rationale Autorität wesentlich auf Fiktion gründet, d.h. nur funktioniert, wenn Begründungen nicht abverlangt werden (etwa die Kompetenz des Zuständigen in Organisationen), ist in der wissenschaftlichen Debatte umstritten. Die Demonstration von Autorität kann unterschiedliche Formen und Intensitäten annehmen, die vom demonstrativen Habitus bis zur funktionalen Leistung reichen kann (z.B. das Tragen von Talaren oder eine öffentliche wissenschaftliche Debatte). Mit dieser Konstellation verliert auch die Unterscheidung zwischen epistemischer Autorität, die auf Wissen beruht, und der formalen Autorität des Vorgesetzten zunehmend an Schärfe. Max Weber verdanken wir mit seiner Unterscheidung von drei Formen legitimer Herrschaft einen bahnbrechenden Beitrag in der Auseinandersetzung um die Quellen von Autorität. Im Falle traditionaler Herrschaft ist es die Kraft – zumeist religiös – geprägter Normen und die der Gruppen (z.B. Priester), die dazu berufen sind, sie bindend auszulegen. Legal-rationale Autorität gründet auf institutionellen Hierarchien, die den Amtsinhaber, den Vorgesetzten oder die Chefin mit Autorität ausstattet. Der Einsatz von Experten macht die Befehlskette nahezu unsichtbar. Charismatische Herrschaft beruft sich schließlich auf Führer, wie z.B. die großen Religionsstifter, die eine Anhängerschaft um sich scharen konnten. Gelingt dies dauerhaft, kommt es zu einer Veralltäglichung des Charismas, d.h. die Autorität der Nachfolger speist sich aus der vermeintlichen Größe des Stifters. Moderne Herrschaftsverhältnisse präsentieren sich zwar mit Vorliebe als rational, oft vertrauen sie jedoch gleichzeitig auf traditionale Formen der Anerkennung – z.B. die nationale Herkunft als Grundlage von sozialer Exklusion und Inklusion. Charismatische Inszenierungen haben mit den neuen Bildmedien einen ungewöhnlichen Aufschwung genommen, wie nicht zuletzt Wahlkämpfe signalisieren. Sie machen auch deutlich, welch geringen Stellenwert dabei Sachautorität oftmals einnimmt. Für die Entwicklung und Ausgestaltung von Autoritätsverhältnissen spielt der moderne Anstaltsstaat, so die Botschaft von Max Weber, eine zentrale Rolle, indem er expansiv alltägliche Autoritätsbeziehungen z.B. in öffentlichen Schulen, sozialen Einrichtungen oder Hochschulen begründet und reguliert. Zudem hat das staatlich-bürokratische Vorbild immer wieder die Autoritätsmuster im ökonomischen Bereich massiv beeinflusst (Industriebürokratie, Organisation). Autorität und Unterwerfung bzw. Anerkennung haben in den wissenschaftlichen und politischen Debatten der letzten Jahrzehnte eine zentrale Rolle gespielt. Ein Diskussionsstrang lässt sich bis zu Sigmund Freud zurückführen, der mit seinem Entwicklungs- und Strukturmodell der Psyche die Bedeutung von Autoritäten im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung
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Autorität und Unterwerfung
herausgearbeitet hat. Dies gilt für die frühe Auseinandersetzung mit der elterlichen, besonders der väterlichen Autorität und deren Überformung und Ablösung von gesellschaftlichen Autoritäten, die gemeinsam zur Ausbildung der Instanz des Über-Ichs beitragen. Die Prägung des psychischen Apparates durch Autoritäten kann sich unter Umständen in der wohlfeilen Bereitschaft zur Unterwerfung unter Autoritäten im Erwachsenenalter fortsetzen. Projektive Identifikation mit dem Führer ermöglicht dabei z.B. eine Aufwertung der eigenen Person durch autoritäre Gefolgschaft, so eine der Kernaussagen in Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Schon bei Freud ist angedeutet, dass es gerade nicht die erfolgreiche Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität ist, die autoritäre Dispositionen begünstigt, sondern deren Scheitern – ein Motiv, das in der Nachkriegszeit Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer Zeitdiagnose von der „Vaterlosen Gesellschaft“ aufgenommen haben. In der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus sowie der Verbreitung rechtsextremer Orientierungen und Subkulturen nach der Wende war das Konzept der „autoritären Persönlichkeit“ von zentraler Bedeutung für sozialpsychologische Erklärungsansätze. Es geht zurück auf die Familienstudien des Instituts für Sozialforschung in den 1930er Jahren („Autorität und Familie“) und die bahnbrechende sozialpsychologische Studie „Authoritarian Personality“, die unter der Leitung von Theodor W. Adorno in den USA in den 1940er Jahren durchgeführt wurde. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob und unter welchen familiären und soziokulturellen Bedingungen Sozialcharaktere entstehen können, die einen individuellen Hunger nach Führerschaft ausbilden und bereit sind, sich Ordnung versprechenden Führern unterzuordnen – sogar um den Preis der Selbstaufgabe. Ging es zunächst um die Analyse von Familientypen und Überzeugungssystemen, die zur Ausprägung von Formen autoritätsgebundener Unterwerfung beitragen, so verschoben sich die Interessen schließlich in Richtung Erziehungsstile, die Vermittlung sozialer Kompetenzen in der Vorschulerziehung, die auch außerhalb der Familie, etwa in Kinderkrippen praktiziert werden, und in das weite Feld der „civic culture“ bzw. politischen Kultur. Heftige Kontroversen löste etwa die „Töpfchen“-These aus, mit der die größere Attraktivität von rechtsextremen und gewaltbereiten Orientierungen in den neuen Bundesländern der dort wesentlich weiter verbreiteten öffentlichen Kinderbetreuung und ihrer autoritären Pädagogik angelastet wurde. Welches Gewicht frühen Erfahrungen für die Bereitschaft zur Übernahme rechtsextremer Glaubenssysteme zukommt, ist jedoch strittig. Zweifel werden unter anderem durch die sozialpsychologische Autoritätsforschung genährt, die durch das Milgram-Experiment entscheidende Impulse erhielt. Dort waren es „normale“ – und keineswegs ausschließlich autoritär geprägte – Probanden, die unter experimentellen Bedingungen (u.a. einer wissenschaftlichen Autoritätsbeziehung) eine potentiell todbringende Gehorsamsbereitschaft an den Tag legten und damit Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ bestätigten, die sie in der Beobachtung des Eichmann-Prozesses in Jerusalem gewonnen hatte. „Nie wieder Auschwitz!“ kann auch als ein zentrales Motiv der Nachkriegsdebatte über Autorität und Pädagogik verstanden werden. Die „Zerstörung des Gehorsams“ (Peter Brückner) durch eine Erziehung zu Mündigkeit und Freiheit, zu Autonomie und Selbstbestimmung ist zu einem Leitbild geworden, das sich gegen damals dominierende autoritäre und vordemokratische Erziehungskonstellationen wandte. Seine Zuspitzung erreichte dieses Leitbild in Konzepten und Experimenten der „antiautoritären“ Erziehung, die im Kontext von Protestbewegungen um das mythische Jahr 1968 populär wurden, die oft auch insgesamt als „antiautoritär“ charakterisiert wurden. Die Infragestellung von Autoritäten, vor allem wenn sie keine De-
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batte über ihren Habitus und ihre Rechtfertigungsgründe zuließen („Unter den Talaren steckt der Muff von 1000 Jahren“ als Parole gegen die ständisch geprägte und in den Nationalsozialismus verstrickte „Ordinarien“-Universität), gehörte zur stilbildenden Praxis des „antiautoritären“ Protests, der an vielen gesellschaftlichen Orten die Bereitschaft zum „Gehorsam als erster Bürgerpflicht“ aufkündigte. Die Auseinandersetzung mit den „Autoritäten“ hat in der Folge das Klima und die Programme in bestehenden Erziehungseinrichtungen beeinflusst, aber auch eine neue Welle von alternativpädagogischen Reformeinrichtungen (Kinderläden, freie Schulen etc.) entstehen lassen. Ihr Grundanliegen hat Erich Fromm in seinem Vorwort zum einflussreichen Buch von A. S. Neill „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill“ (in der Originalfassung bereits 1960 erschienen) so formuliert: „Das Hauptprinzip der Selbstbestimmung besteht darin, dass Autorität durch Freiheit ersetzt wird; das Kind lernt, ohne dass Zwang ausgeübt wird, indem an seine Neugier und seine spontanen Bedürfnisse appelliert und auf diese Weise sein Interesse an der Umwelt geweckt wird.“ Unterwerfung ist auch zu einem wichtigen Konzept in der feministischen Debatte geworden, vor allem in der Kritik der Geschlechterhierarchie in Beziehungsverhältnissen. Es geht z.B. um die „Fesseln der Liebe“ (Jessica Benjamin 1990), d.h. die Bereitschaft zur Unterordnung in emotional geprägten Bindungen. Es scheint zu den paradoxen Denkfiguren pädagogischer Berufe zu gehören, dass sie Autorität immer dann als erfolgreich ansehen, wenn sie sich überflüssig macht. Zumindest am Ende eines Bildungsprozesses soll sich das Autoritätsverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden in eine Gemeinschaft der Gleichberechtigten auflösen. Alexander vom Humboldt hatte dieses Ideal sogar als Wesen akademischer Bildung definiert. Die Denkfigur in ein Autoritätsverhältnis einzutreten, um es überflüssig zu machen, wiederholt sich im sozialpädagogischen Modell der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Hilfe gelingt nur, so der Anspruch, indem sie sich überflüssig macht. Dieses Leitbild hat jedoch das Wachstum großer professioneller Fremdhilfe-Bürokratien nicht behindert. In der Sozialarbeit und Sozialpädagogik einflussreiche Konzepte des sog. Empowerment können als ein aktueller Versuch angesehen werden, diesen Gedanken zu radikalisieren. Von Anbeginn ist danach jede Beziehung zu einem Hilfesuchenden so zu gestalten, dass die Stärkung seiner Ressourcen und Potenziale im Zentrum steht. Professionalität, die nicht bereit ist, sich in diesem Sinne zu transformieren, läuft Gefahr, in einen Paternalismus zurückzufallen, der vorgibt, Macht zum Wohle anderer auszuüben. Durch soziale Bewegungen und Selbsthilfegruppen wurden die Autoritätsansprüche von Experten in den Humandienstleistungsberufen (z.B. Ärzte, Sozialarbeiter) in den letzten Jahrzehnten immer erneut in Frage gestellt. Gleichzeitig hat aber die Akademisierung dieser Berufe in vielen Tätigkeitsfeldern den sozialen und lebensweltlichen Abstand zur „Klientel“ größer werden lassen. Insgesamt scheint es also eher zur Leugnung als zur Abschaffung von Autorität gekommen zu sein. Davon künden auch die anhaltenden Debatten über ein angemessenes Professionsverständnis in den Sozial- und Bildungsberufen. Während einige Beobachter den Siegeszug des Expertentums beschreiben, vermelden andere dessen demokratisches Ende. Da moderne Öffentlichkeiten einen allgemeinen Zugang zu Wissen ermöglichen, muss – so eine Beobachtung von Niklas Luhmann – Autorität „zunehmend prätendiert und inszeniert werden. Dies wiederum wird in Rechnung gestellt. Sobald es gute Gründe und handfeste Interessen gibt, Autorität in Frage zu stellen, wird sie in Frage gestellt“ (2000: 238).
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Zur Veränderung der gesellschaftlichen Autoritätsverhältnisse gehört auch ein Formwandel von der Disziplinargesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Selbstkontrolle. Inspiriert von den Arbeiten von Norbert Elias und Michel Foucault wird Autonomie als besonders aktuelles Ideal kenntlich, das – indem es äußere Autorität scheinbar überflüssig macht – besondere Autoritätsverhältnisse begründen kann: nach innen als Selbstüberwachung und nach außen als beschämendes Ideal, als Autonomie-Fiktion. An die Stelle von Kommandosystemen, die auf persönliche Autoritätsbeziehungen bauen, treten zunehmend, so die zentrale These des an Foucault anknüpfenden Gouvernementalitätsansatzes, marktvermittelte und subjektivierte Formen der Unterwerfung, die im neoliberalen Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ und im arbeitsmarktpolitischen Fördermodell der „Ich-AG“ besonders deutlich hervortreten. Solche Formwandlungen beobachtete auch Niklas Luhmann, der Autorität auf ihre funktionale Leistung der „Unsicherheitsabsorption“ zurückführt: „Mit der Inanspruchnahme von Autorität bezieht sich der Kommunikationsprozess auf sich selber. Es wird unterstellt, dass die Entscheidung bei Rückfrage durch Rückgriff auf ihre Informationsquellen und ihre Schlussfolgerungen so gut begründet werden könnte, dass sie einleuchtet, aber eben deshalb kann man sich die Rückfrage auch ersparen und sie durch Kredit, eben durch Autorität ersetzen“ (Luhmann 2000a: 204). Dieses Fiktive, Symbolische und Imaginäre, mit dem sich Autorität umgibt, drängt die Einsicht auf, dass Autorität wesentlich ein Akt der Phantasie sei: „Sie ist die Suche nach Festigkeit und Sicherheit in der Stärke anderer, die uns schließlich wie ein Ding erscheint“ (Sennett 1985: 238). Immerhin verzichtet deshalb auch die modernste Staatlichkeit nicht auf die Bereitstellung von Gewaltmitteln, falls Autoritätsfiktionen zu unsicher geworden sind, Autoritäten ihren Kredit aufgebraucht haben und Unterwerfung protestierend aufgekündigt wird.
Literatur Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M. Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. Luhmann, Niklas (2000a): Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden. Paris, Rainer (2005): Normale Macht. Konstanz. Sennett, Richard (1985): Autorität. Frankfurt/M. Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer (1991): Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Koalition. Opladen.
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Albert Scherr Pädagogik ist darauf ausgerichtet, die individuelle Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in unterschiedlichen Dimensionen (Sprach- und Handlungsfähigkeit, Wissens- und Kompetenzerwerb, Urteils- und Reflexionsvermögen, Aneignung von Normen und Werten, Aufbau emotionaler Grundstrukturen) durch Erziehung und Bildung zu beeinflussen. Dazu bietet Pädagogik einerseits Lernmöglichkeiten an, über deren Annahme oder Ablehnung von den jeweiligen Adressaten entschieden werden kann, andererseits wird Lernen jedoch zu einem überwiegenden Teil durch rechtliche Vorgaben (Schulpflicht) oder berufliche Qualifizierungserfordernisse (Berufsausbildung; berufliche Fort- und Weiterbildung) erzwungen. Schon darin, aber auch in der rechtlichen Verankerung familienergänzender bzw. familienersetzender Erziehung (sozialpädagogische Familienhilfe, Heimerziehung, Jugendwohngruppen) im Kinder- und Jugendhilfegesetz deutet sich an, dass Erziehung und Bildung keineswegs angemessen als ein Geschehen im Zusammenspiel von Pädagogen und ihren jeweiligen Adressaten verstanden werden kann, sondern ein Bestandteil der umfassenderen gesellschaftlichen Einflussnahmen auf die individuelle Entwicklung ist. Die Legitimität und Notwendigkeit pädagogischer Einflussnahme kann damit begründet werden, dass menschliche Individuen ihre Fähigkeiten und Potentiale nur in sozialen Lernprozessen erwerben und entwickeln können sowie damit – so wird dies klassisch bei JeanJacques Rousseau (1762/1971) gefasst – dass Pädagogik als Gegeninstanz zu den potentiell schädlichen Auswirkungen der sonstigen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf Kinder und Jugendliche erforderlich sei. Erziehung und Bildung sind so betrachtet notwendige Mittel der Ermöglichung einer – gemäß den gesellschaftlich jeweils gültigen Maßstäben und Möglichkeiten – anzustrebenden Entwicklung des Individuums. In einer soziologischen Perspektive sind Erziehung und Bildung dagegen seit Karl Marx und Émile Durkheim immer wieder als Versuch der gezielten gesellschaftlichen Einwirkung auf Kinder und Jugendliche untersucht worden, durch die sicher gestellt werden soll, dass Heranwachsende diejenigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Überzeugungen erwerben, von denen angenommen wird, dass sie zur Bestandserhaltung und Weiterentwicklung der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung benötigt werden. Soziologische und sozialhistorische Studien weisen darauf bezogen nach, dass Pädagogik in den Festlegungen ihrer Methoden und Ziele keineswegs autonom ist. Vielmehr gehen in Überlegungen zu den Aufgaben und Zielen von Erziehung und Bildung – implizit oder explizit, bewusst oder unreflektiert – Annahmen über gesellschaftliche Erfordernisse sowie anzustrebende gesellschaftliche Entwicklungen ein. Dies betrifft auch das sog. „Menschenbild“ pädagogischer Theorien, d.h. ihre Annahmen darüber, was im menschlichen Erleben, Denken und Handeln „normal“ oder „natürlich“ und anstrebenswert ist. Zudem stehen Erziehungs- und Bildungskonzepte sowie die Strukturen des Bildungssystems in einem engen Zusammenhang mit Strukturen der gesellschaftlichen Ungleichheit von sozialen Klassen, Schichten und Milieus: Die individuellen Bildungschancen sind, wie zuletzt
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auch die PISA-Studien nachgewiesen haben (s. Pisa Konsortium 2005), nicht gleich und gerecht verteilt, sondern in hohem Maß abhängig von der sozialen Herkunft. Dass etwa Hauptschülern weniger schulische Lernzeit (9 Jahre) als Gymnasiasten (12 bzw. 13 Jahre) zugestanden wird, ist nicht pädagogisch begründet, sondern Element eines Bildungssystems, das SchülerInnen selektiv auf berufliche Positionen verteilt und dabei zugleich die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) vermittelt, d.h.: den Glauben daran, dass ungleiche Bildungslaufbahnen nicht eine Folge ungerechter Bevorzugungen und Benachteiligungen, sondern unterschiedlicher individueller Fähigkeiten und Interessen sind. Sozial hergestellte Ungleichheit wird, bleibt diese Illusion undurchschaut, als Folge unterschiedlicher individueller Begabungen verkannt. Die Gewichtung und das Verhältnis der einleitend unterschiedenen Kerndimensionen der Erziehungs- und Bildungspraxis (Förderung individueller Fähigkeiten einerseits, gesellschaftliche Festlegungen und Zwänge andererseits) zueinander wird in pädagogischen Theorien unterschiedlich gefasst und akzentuiert. Dabei betont der Erziehungsbegriff stärker die Notwendigkeit der sozialen Einflussnahme – etwa der Vermittlung von Werten und Normen. Dagegen wird in Bildungstheorien stärker die umfassende Entfaltung individueller Potentiale – einschließlich der Fähigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen und Vorgaben – akzentuiert. Entsprechend werden in Varianten einer kritischen Bildungstheorie – so etwa bei Heinz-Joachim Heydorn oder Paolo Freire – gerade nicht die Übernahme vorgegebener Werte und Normen und der Erwerb von Qualifikationen, sondern die Förderung individueller Autonomie, Mündigkeit und Kritikfähigkeit als Ziele pädagogischer Praxis verstanden. Dies verbindet sich mit einer Kritik der sozial ungleichen Zuweisung von Bildungschancen, die einfordert, „den Reichtum der geistigen Überlieferung für alle zu öffnen“ (Heydorn 1980: 312). Erziehungs- und Bildungssoziologie untersucht die gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüsse von Erziehung und Bildung sowie ihre sozialen Auswirkungen. Dies betrifft nicht „nur“ die ökonomischen, politischen, kulturellen und rechtlichen Bedingungen der Erziehungspraxis, sondern auch den Zusammenhang pädagogischer Theorien und Konzepte mit der jeweiligen gesellschaftlichen Situation. In den Blick gerückt wird also u.a., dass professionelle Pädagogik rechtlich, ökonomisch und organisatorisch sowie in Hinblick auf die Ausbildung der Fachkräfte von gesellschaftlichen Vorgaben und Bedingungen abhängig ist und was daraus in Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und Bildung folgt. Bildungs- und Erziehungssoziologie analysiert weiter wie Vorstellungen über angemessene Erziehungsmethoden und anzustrebende Erziehungsziele aus der Übernahme gesellschaftlich einflussreicher Konventionen, Normen, Werte und Ideologien – oder aber aus der mehr oder weniger kritischen Auseinandersetzung mit diesen – hervorgehen. Für ein Verständnis von Pädagogik als gesellschaftlich situierter Praxis ist zudem die Einsicht von zentraler Bedeutung, dass ihre AdressatInnen Individuen sind, die im Verlauf ihrer Lebensgeschichte und in Auseinandersetzung mit ihrer aktuellen Lebenssituation spezifische Persönlichkeitsstrukturen, Überzeugungen, Bedürfnisse, Motive, Handlungsmuster usw. entwickelt haben. Pädagogik trifft folglich nicht auf Individuen als „unbeschriebene Blätter“, auf die sie einwirken kann, sondern auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in jeweiligen sozialen Kontexten aufgewachsen sind und deren Erleben, Denken und Handeln dadurch beeinflusst ist.
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Mit dem zuletzt genannten Aspekt ist die zentrale Thematik soziologischer Sozialisationsforschung angesprochen: die Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung durch soziale Kontexte. In älteren Sozialisationstheorien ist (s. Durkheim 1922/1972) diesbezüglich die Vorstellung einer umfassenden Prägung der Individuen durch jeweilige soziale Bedingungen einflussreich, so etwa im Sinne der Idee, dass Sozialisation als Übernahme gesellschaftlicher Gewohnheiten, Regeln, Normen und Werte durch Heranwachsende verstanden werden kann. Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1970: 140) definieren Sozialisation in Übereinstimmung hiermit als „die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft oder eines Teils einer Gesellschaft“. Diese Sichtweise ist insofern plausibel, wie sich etwa zeigen lässt, dass Kinder und Jugendliche in ihrem familialen Lebenszusammenhang geltende Gewohnheiten, Verhaltensmuster und Normen als selbstverständliche Normalität erleben und sich diese in der Regel zu eigen machen sowie diejenigen Sprachen erlernen, die in ihrem sozialen Bezugskontext gesprochen werden. Der Spracherwerb ist für den Sozialisationsprozess insofern von erheblicher Bedeutung, wie mit der Sprache zugleich auch bestimmte Sichtweisen von sozialen Beziehungen, Personen sowie Objekten erworben werden, die in die Sprache eingelassen sind. Darauf, dass Individuen auch ihr Selbstverständnis, ihr Wissen über eigene Bedürfnisse, Interessen, Eigenschaften und Fähigkeiten in Sozialisationsprozessen – insbesondere in Auseinandersetzung mit den Erwartungen und Mitteilungen bedeutsamer Bezugspersonen – erwerben, hat insbesondere George Herbert Mead in seiner grundlegenden Studie „Geist, Identität und Gesellschaft“ (1934/1968) hingewiesen: „Der Einzelne erfährt sich – nicht direkt, sondern nur indirekt – aus der Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe, (...) zu der er gehört“ (ebd.: 180). Die Vorstellung, dass Sozialisation als Prägung der Individuen durch soziale Bezugsgruppen, Sozialisationskontexte bzw. die Gesellschaft verstanden werden kann, ist jedoch aus verschiedenen Gründen unterkomplex: Sie blendet zum einen aus, dass Individuen im Sozialisationsprozess mit unterschiedlichen und z.T. widersprüchlichen Erwartungen und Erfahrungen konfrontiert sind. Folglich muss die Persönlichkeitsentwicklung – und auch dies hat bereits Mead (1934/1968) in den Blick gerückt – als ein Prozess verstanden werden, in dem heterogene Erfahrungen und Erwartungen emotional und kognitiv verarbeitet werden. D.h.: als ein Prozess, der ohne emotionale und kognitive Eigenaktivität des Individuums nicht vorstellbar ist. Sie übersieht zweitens, dass Individuen von Anfang an kein passives Objekt von Einwirkungen sind, sondern auf diese in eigensinniger Weise reagieren. Mit dem Spracherwerb und der Entwicklung des Denkvermögens entwickelt sich zunehmend die Fähigkeit zur bewussten Auseinandersetzung mit sozialen Vorgaben und Erwartungen. Die Verlaufsformen und Stadien dieser Entwicklung werden in Theorien der kognitiven und der moralischen Entwicklung näher untersucht. Hervorgehoben wird die Eigentätigkeit der Individuen im Sozialisationsprozess auch in der sog. konstruktivistischen Sozialisationsforschung. Infolge der Kritik älterer Prägungsmodelle wird Sozialisation inzwischen begrifflich in einflussreichen Definitionen als ein Prozess bestimmt, in dem sich Individuen in Auseinandersetzung mit sozialen Bedingungen zu sprach- und handlungsfähigen, mit sich selbst identischen Subjekten entwickeln, die prinzipiell zur Distanzierung und Kritik im Verhältnis zu sozialen Vorgaben in der Lage sind (s. Hurrelmann 2001). Das heißt nun aber nicht, dass an die Stelle eines Modells, das Sozialisation als soziale Prägung des Individuums konzipiert, ein Modell treten könnte, das die Persönlichkeitsentwicklung als Emanzipation des Individuums von so-
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zialen Einflüssen im Sinne der Entstehung eines autonomen, unabhängig von sozialen Vorgaben handelnden Subjekt fasst, das in der Lage ist, widersprüchliche Erfahrungen in einer in sich konsistenten Identität zu integrieren. Vielmehr sind Sozialisationstheorien und empirische Sozialisationsforschung vor die Aufgabe gestellt im Hinblick auf a) jeweilige gesellschaftliche Lebensbedingungen und soziale Kontexte bzw. Sozialisationsinstanzen (etwa: Familie, Gleichaltrigengruppen, Massenmedien), b) die Stadien der individuellen Entwicklung sowie c) die zu unterscheidenden Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere: emotionale Grundstrukturen und Dispositionen, Wissenserwerb und Entwicklung der Kognition, Aneignung von Normen und Werten) zu untersuchen, wie sich das Verhältnis von sozialer Abhängigkeit und Einflussnahme einerseits, individueller Selbstbestimmungsfähigkeit andererseits darstellt. Anders formuliert: Es ist ebenso wenig hilfreich, generalisierend die Möglichkeit von Eigensinnigkeit, Distanzierung und Kritik gegenüber sozialen Einflussnahmen im Sozialisationsprozess zu bestreiten, wie individuelle Autonomie zu postulieren. Vielmehr gilt es zu untersuchen, welchen Grad an relativer Autonomie Individuen unter jeweiligen sozialen Bedingungen erreichen können und was die sozialen Voraussetzungen hierfür sind. Ein bedeutsamer Gegenstand von Sozialisationsforschung sind entsprechend auch die Bedingungen, die in der Persönlichkeitsentwicklung zu Beschränkungen eigenverantwortlicher Handlungsfähigkeit sowie zu psychischem Leiden führen können. Vor diesem Hintergrund können drei Aspekte des Sozialisationsprozesses analytisch unterschieden werden, die faktisch jedoch ineinander verschränkt sind: die gesellschaftliche Bestimmtheit der Einzelnen, ihre Personalität; die sie als Individuen kennzeichnende Besonderheit, ihre Individualität und ihre ihnen mit allen anderen gemeinsame Sprach-, Handlungsund Selbstbestimmungsfähigkeit, ihre Subjektivität. Sozialisationstheorien stellen die Persönlichkeitsentwicklung im Kindes- und Jugendalter ins Zentrum, wobei die Annahme einflussreich ist, dass in diesen Lebensphasen grundlegende Eigenschaften erworben werden, die im weiteren Lebensverlauf relativ stabil bleiben. Sozialisation ist jedoch grundsätzlich kein zeitlich begrenzter und abschließbarer Vorgang, sondern geschieht immer dann, wenn Individuen an sozialen Kommunikations- und Handlungszusammenhängen teilnehmen, die Veränderungen im Individuum veranlassen, oder aber für die Verfestigung vorgängig entwickelter Persönlichkeitsmerkmale bedeutsam sind. Sozialisationstheorie und -forschung sind vor diesem Hintergrund darauf verwiesen, mit Annahmen über grundlegende Persönlichkeitsstrukturen und ihrer lebensgeschichtlichen Entwicklung zu operieren, also mit Annahmen über die Struktur und Dynamik von Emotionen, Wahrnehmungen und Kognitionen. Folglich sind unterschiedliche psychologische Theorien für die Sozialisationsforschung von Bedeutung, so etwa die Psychoanalyse, entwicklungspsychologische Bindungstheorien, die an Jean Piaget anschließende Theorie des kognitiven Strukturaufbaus oder Lawrence Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung. Für eine genuin soziologische Sozialisationstheorie ist es im Unterschied hierzu entscheidend, die strukturellen sozialen Bedingungen empirisch fundiert zu beschreiben, in denen der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung situiert ist. Von Interesse sind entsprechend insbesondere in jeweiligen sozialen Kontexten bedeutsame Strukturen der Interaktion und der Kommunikation einerseits, die dort möglichen bzw. erzwungenen Erfahrungen und Lernprozesse andererseits. Soziale Strukturen sind entsprechend in Hinblick darauf zu untersuchen, welche Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten sie umfassen bzw. ausschließen.
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Soziologische Sozialisationsforschung ist für die Pädagogik nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil sie einen zentralen Beitrag zur Erklärung des Gelingens und Scheiterns schulischer und beruflicher Bildungskarrieren bereitstellt. So kann etwa in Anschluss an die grundlegenden Untersuchungen Pierre Bourdieus mit den Mitteln einer soziologischen Forschung, die ungleiche Sozialisationsbedingungen in sozialen Klassen und Milieus untersucht, aufgezeigt werden, dass im Sozialisationsprozess nicht nur in folgenreicher Weise ein unterschiedliches Vorwissen und unterschiedliche sprachliche Kompetenzen erworben werden. Darüber hinaus eignen sich Kinder und Jugendliche ein bestimmtes Verständnis der Bedeutung von Bildung an – zugespitzt formuliert: entweder den Glauben, dass Bemühungen um Wissenserwerb generell nützlich und auch für die eigene individuelle Entwicklung wichtig sind, oder aber eine ablehnende Haltung gegenüber als sozialer Zwang wahrgenommenen Lernzumutungen; dies verbindet sich ggf. mit einer Ablehnung der Gepflogenheiten der akademisch Gebildeten – also auch der Angehörigen der pädagogischen Professionen. Angesprochen sind damit Orientierungen, die keineswegs hinreichend als bewusste Einstellungen, sondern angemessener als „Habitus“ (P. Bourdieu) zu beschreiben sind, d.h. als sozial geteilte und subjektiv selbstverständliche, in der Regel nicht bewusste Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata. Es ist jedoch durchaus strittig, in welchem Maße Individuen in Sozialisationsprozessen stabile Persönlichkeitsstrukturen erwerben, die dann als zentrale Ursache ihrer Handlungen verstanden werden können. Die einschlägige Kritik akzentuiert demgegenüber, dass Individuen über ein breites Spektrum heterogener, in sich widersprüchlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen und es zentral von situativen Rahmenbedingungen – etwa den Normen sozialer Bezugsgruppen oder vorgefundenen Gelegenheitsstrukturen – abhängig sei, welche Handlungsweisen, moralischen Überzeugungen usw. aktualisiert werden. In der Perspektive soziologischer Sozialisationstheorien stellen Erziehung und Bildung einen Teilbereich und einen Sonderfall von Sozialisation dar: Erziehung und Bildung werden als absichtsvolle Sozialisation in den Blick genommen – und das heißt als ein bestimmter und in seinen Wirkungen begrenzter Ausschnitt der vielfältigen sozialisatorischen Einflüsse. So betrachtet sind pädagogische Situationen immer auch zugleich absichtsvolle Sozialisation und in den Absichten von PädagogInnen nicht aufgehende Sozialisation. Denn es geschieht immer mehr, als durch das gezielte pädagogische Handeln gesteuert werden kann. Zudem können, worauf Niklas Luhmann (1987) nachdrücklich hingewiesen hat, Versuche der Erziehung gerade daran scheitern, dass die Absicht der Einflussnahme von jeweiligen Adressaten erkannt und als solche zurückgewiesen wird. Eine weitere Begrenzung absichtsvoller Sozialisation durch Pädagogik resultiert aus Prozessen der Selbstsozialisation in Gleichaltrigengruppen, die auch in pädagogischen Kontexten, so etwa als wechselseitige Beeinflussung in Schulklassen, wirksam sind. Aus diesen Überlegungen folgt zum einen, dass eine sozialisationstheoretisch reflektierte Pädagogik die strukturellen Grenzen von Bemühungen der gezielten Einflussnahme anerkennt und sich also eher mit Kategorien wie Anregung und Ermöglichung beschreibt, denn mit Termini, die von einem Ursache-Wirkungs-Modell ausgehen. Zum anderen kann hierin eine Begründung für ein solches Verständnis von Pädagogik gesehen werden, das im Hinblick auf die Ermöglichung von Erziehung und Bildung nicht allein die Interaktion zwischen Pädagogen und ihren Adressaten, sondern darüber hinaus die umfassende – soziale, zeitliche und räumliche Aspekte berücksichtigende – Gestaltung pädagogischer Organisationen und Situationen ins Zentrum stellt. Zudem weist Sozialisationsforschung darauf hin, dass lebensgeschichtlich erworbene Dispositionen der Adressaten nicht sinnvoll ignoriert werden können, sondern je-
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weils zu analysieren ist, welche Anforderungen sich aus den vorgängigen und mitlaufenden Sozialisationsprozessen für die Gestaltung der pädagogischen Praxis ergeben.
Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre/Passeron, Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart. Durkheim, Emile (1925/1972): Erziehung und Soziologie. Düsseldorf. Heydorn, Heinz-Joachim (1980): Zur bürgerlichen Bildung. Anspruch und Wirklichkeit. Bildungstheoretische Schriften Band 1. Frankfurt/M. Hurrelmann, Klaus (2001): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim/Basel. Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hg.) (1991): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel. Luhmann, Niklas (1987): Sozialisation und Erziehung. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. Opladen, S. 173–181. Mead, George Herbert (1934/1968): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. PISA-Konsortium Deutschland (Hg.) (2005): PISA 2003. Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland – Was wissen und können Jugendliche? Münster. Rousseau, Jean-Jacques (1762/1971): Emile oder Über die Erziehung. Paderborn.
Biografien und Lebenslauf
Cornelia Helfferich Lebensgeschichten und Biografien geben Aufschluss darüber, wie Menschen wurden, was sie sind, und sind daher wichtige Themen in der Beratung und Pädagogik. Das Wissen um den bisherigen Lebensweg mit seinen Ressourcen und Belastungen ist hilfreich, wenn Menschen dazu befähigt werden sollen, ihr weiteres Leben und die eigene Zukunft produktiv zu gestalten. Zwei Beispiele: In der Bildungsarbeit wird die Lebensgeschichte als Lerngeschichte und als Aufschichtung von positiven oder negativen Lernerfahrungen betrachtet, an die angeknüpft werden kann. „Biografiearbeit“ als Methode unterstützt Menschen dabei, in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte ihre Identität zu konturieren und zu sichern. Die Begriffe „Lebenslauf“ und „Biografie“ verweisen auf die zeitliche Dimension des Lebens. Diese umfasst mehr als das bloße Älterwerden als primär biologisch bestimmter und selbstläufiger Prozess. Alter hat immer auch eine soziale Bedeutung und in jeder Gesellschaft ist die Altersdimension sozialen Regelungen unterworfen, d.h. es lassen sich Regelungen finden, die den Lebenslauf in Lebensphasen gliedern, die festlegen, welche Bedeutungen diesen Phasen zukommt, welche Altersnormen gelten und wie Übergänge gestaltet sind. Martin Kohli (1985: 1) spricht in diesem Sinn davon, dass der Lebenslauf als „eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension“ aufzufassen ist. Thema der Soziologie des Lebenslaufs sind entsprechend die historischen Veränderungen der „sozialen Tatsache Lebenslauf“ in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen. Diesem Konzept des Lebenslaufs als gesellschaftlicher Institution und objektiver Ordnung wird die subjektive Konstruktion von Biografien gegenüber gestellt. Unter Biografie wird die von einem Subjekt erlebte und produzierte (erzählte, geschriebene oder anders dokumentierte) Lebensgeschichte verstanden. Die Bedeutung und die Formen, wie der eigene, zurückliegende Lebensweg als sinnhafter Ablauf konstruiert wird, sind Thema der Biografieforschung. Bezogen auf Ausschnitte des Lebens werden teilweise Spezialbegriffe gebraucht. So spricht man vom „Familienzyklus“ und im Zusammenhang mit der beruflichen Entwicklung ist der Begriff der „Karriere“ oder der „Laufbahn“ verbreitet. Auch in anderen, außerberuflichen Zusammenhängen ist der Karrierebegriff zu finden. So spricht man von einer „abweichenden Karriere“, einer „Drogenkarriere“ oder einer „Patientenkarriere“. Damit sind Prozesse gemeint, die in einzelne Phasen eingeteilt werden, wobei jeweils die vorangegangene die Ausgangsvoraussetzung für eine spätere Phase bildet.
Beispiel: Institutionalisierte Bildungslaufbahn und Bildungsbiografie Die institutionalisierte Bildungslaufbahn als „objektiv-strukturelle“ Ordnung ist gegliedert durch die Ausbildungseinrichtungen, die eine Abfolge von Bildungsaufenthalten vorgeben und dabei Bildungslaufbahnen mit spezifischen Gabelungen konstituieren: Kindheit als Phase,
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die von formellen Lernverpflichtungen (noch) befreit ist – obligatorische Schulphase mit den Meilensteinen Einschulung (mit rechtlich fixiertem Alter) und Schulabschluss (mit einem je nach Schultypus regelhaftem Alter) – Übergang in berufliche Bildung oder in Weiterbildung z.B. in Form eines Studiums (Regelstudienzeit) – Übergang in das Erwerbsleben mit Phasen der meist berufsbegleitenden Weiterbildung (z.T. mit Altershöchstgrenzen bei der Zulassung). Die Bildungsbiografie als subjektive Selbstdeutung kann als persönlicher Lernprozess, als Geschichte eines steten Zugewinns an Wissen und Reife oder als Geschichte des Zurechtkommens mit oder Scheiterns an institutionellen Bildungsanforderungen rückblickend konstruiert werden.
Soziologie des Lebenslaufs Der Lebenslauf ist definiert als geregelte zeitliche Folge altersbezogen definierter Phasen, die das Individuum durchläuft und die mit je eigenen Erwartungen, Handlungsmustern und teilweise auch sozialen Orten verbunden sind. Die Übergänge zwischen diesen Phasen („Statuspassagen“, „Meilensteine“) sind teilweise institutionell geregelt bzw. gesellschaftlich organisiert. Jede Gesellschaft kennt solche Abfolgen, wobei die einfachste Form die Zweiteilung des Lebens in Kindheit und Erwachsenenalter in archaischen Gesellschaften ist. Durch die Veränderungen in den letzten beiden Jahrhunderten hat das chronologische Alter an Bedeutung gewonnen („Institutionalisierung des Lebenslaufs“). So wurde z.B. die Schulpflicht eingeführt und an ein festgelegtes Alter gebunden und ebenso entstand mit dem Rentensystem die altersgebundene „Ruhestandsphase“. Zur Konturierung der Altersgruppen trug bei, dass eigene Orte für spezifische Altersgruppen geschaffen wurden wie z.B. die Schule als Ort, an dem sich exklusiv junge Menschen aufhalten (müssen). Die empirische Lebenslaufforschung stellte eine zunehmende Standardisierung des Alters bei bestimmten Übergängen fest und formulierte das Konzept eines „Normallebenslaufs“ – mit unterschiedlichen Ausprägungen für Frauen und Männer. Die Modernisierung brachte zudem – etwa durch die Überwindung von Epidemien, den Rückgang der Mord- und Totschlagsrate und die verbesserte Behandlung von Krankheiten – einen „Übergang von einem Muster der Zufälligkeit der Lebensereignisse zu einem des vorhersehbaren Lebenslaufs“ (Kohli). Aufgrund der veränderten Lebensbedingungen konnten Menschen z.B. davon ausgehen, dass schwere Krankheit oder Tod sie nicht mehr in einem zufälligen, auch jungen Alter trifft, sondern dass sie ein höheres Alter erreichen. Die planende Gestaltung der eigenen Zukunft gewann an Bedeutung und war unter verlässlicher gewordenen Rahmenbedingungen auch möglich. Für die letzten Jahrzehnte wird eine zunehmende Ausdifferenzierung der Phasen und eine zunehmende Undeutlichkeit der Übergänge festgestellt und das Konzept der „Normalbiografie“ in Frage gestellt. Es zeichnet sich eine Flexibilisierung ab: Die Reihenfolge der Meilensteine und Phasen und einige Meilensteine selbst haben an Verbindlichkeit verloren. Die Rahmenbedingungen büßen an Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit ein, die „biografische Unsicherheit“ (Wohlrab-Sahr 1993) nimmt mit der Flexibilisierung der Arbeitverhältnisse zu und entsprechend die Planbarkeit und Vorhersehbarkeit des Lebenslaufs ab. Kohli (1985) spricht von einer neuen Entwicklung der „De-Institutionalisierung des Lebenslaufs“.
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Beispiele für die Ausdifferenzierung des Lebenslaufs a) Zwischen Jugend und Erwachsenenalter tritt die Phase der Postadoleszenz. Hintergrund ist die verlängerte Zeit der Ausbildung als Zeit teils einer Selbständigkeit, teils einer Abhängigkeit von Anderen, die für den Lebensunterhalt sorgen. Der Übergang in das Erwachsenenalter, typischer Weise markiert durch den Eintritt in den Beruf und die Familiengründung, wird dadurch aufgeschoben. Statt eines „großen“ Übergangs von der Jugend in das Erwachsenenalter gibt es einzelne, partielle Reifeschritte. b) Eine historisch neue Phase im Familienzyklus ist die Phase des nichtehelichen Zusammenlebens. Hintergrund ist die historisch relativ neue Möglichkeit, als unverheiratetes, junges Paar eine Wohnung anzumieten. Die Meilensteine des Auszugs aus dem Elternhaus, der Gründung des ersten gemeinsamen Haushalts mit einem Partner bzw. einer Partnerin, der Geburt des ersten Kindes und der Heirat sind entkoppelt und verteilen sich über eine längere biografische Zeitspanne.
Beispiele für die Flexibilisierung des Lebenslaufs a) Geheiratet werden kann auch, nachdem bereits ein Kind da ist – es muss aber überhaupt nicht mehr geheiratet und eine Familie gegründet werden. b) Das streng dreigegliederte Muster des (männlichen) Lebenslaufs (Ausbildung als Vorbereitung auf den Beruf, Berufstätigkeit, Ruhestand nach dem Ausscheiden aus dem Beruf) weicht dem Muster eines periodischen Wechsels zwischen Phasen der Ausbildung und der Berufstätigkeit und/oder der Arbeitslosigkeit. Die Veränderungen lassen sich durch den Wandel der allegorischen Darstellungen des Lebenslaufs illustrieren. Veranschaulichungen des Lebenslaufs aus dem 14. Jahrhundert zeigen ein Rad mit „Speichen“, die den Lebensaltern entsprechen (der Tod leitet über zur Geburt). Später finden sich Allegorien nicht mehr mit einem zyklischen, sondern mit einem linearen Ablauf, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert und populär bis ins 20. Jahrhundert die „Lebenstreppe“ (s. Lenzen 1985: 42ff.). Sie zeigt die ersten Lebensphasen als einen Aufstieg hin zu einem „Schaffensgipfel“ in der Lebensmitte, dem, ist der Zenit überschritten, der Abstieg folgt. Die Hierarchie von oben und unten macht sich an der Leistungsfähigkeit des Menschen fest; impliziter Bezugspunkt ist zumindest bei dem Mann die Erwerbstätigkeit. Die Fragen der Institutionalisierung oder De-Institutionalisierung, also der Stärke der gesellschaftlichen Ordnung des Lebensablaufs mit Altersnormen und Phasenvorgaben, beschäftigen heute die Soziologie des Lebenslaufs. Neben der Frage, wie heute Institutionen wie Bildungseinrichtungen, aber auch Sozialversicherung, Krankenkassen oder Mutterschutz und Erziehungszeiten den Lebenslauf strukturieren (Leisering/Müller/Schumann 2001), gilt das Interesse heute auch der Gestaltung und Bewältigung der Übergänge zwischen den Lebensphasen.
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Biografien und Lebenslauf
Biografieforschung Eine Biografie ist die Darstellung der Lebensgeschichte von Menschen. Die Geschichte wird von einem jeweiligen (vorläufigen) Endpunkt aus als vergangene sinnhafte Ereignisfolge rekonstruiert und als solche erzählt. Biografische Erzählungen verändern sich – in der Rückschau stellt sich das Leben jeweils neu und anders dar. So kann eine zum Zeitpunkt X als positiver Abschluss der Ausbildungsbiografie erlebte und erzählte Prüfung sich zum Zeitpunkt Y als Endpunkt einer Lebensphase darstellen, die ins berufliche Abseits geführt hat. Die Erzählung der Lebensgeschichte ist also eine Leistung der Deutung und Strukturierung der Vergangenheit. Mit „Biografie“ kann auch das gelebte Leben selbst gemeint sein. Das „biografische Subjekt“ ist die Person, die das Leben lebt und erzählt. Biografische Erzählungen oder Texte können sehr unterschiedliche Formen haben, vom Tagebuch bis zum Interview, von der Beichte bis zu den Memoiren. Die Erzählung (von Episoden aus) der Lebensgeschichte hat vielfältige soziale Funktionen: Sie kann z.B. der Selbstdarstellung oder der Übermittlung von Lebenserfahrung dienen oder die aktuelle Situation aus der Vergangenheit herleiten und für andere und für sich selbst nachvollziehbar machen. Die Erzählungen der Lebensgeschichte sind immer auf Verständigung angelegt. Erzählt wird auf eine reale oder eine imaginierte, hörende Person hin – auch wenn sie nur allgemein den Blick von Außen repräsentiert und keine konkrete Gestalt hat – und die eigene Geschichte wird so aufbereitet, dass sie verständlich ist und eine gewünschte Wirkung erzielt. Eine der grundlegenden Fragen der Biografieforschung bezieht sich auf das Verhältnis der heutigen Erzählung zur damaligen Wirklichkeit, die erzählt wird. Diskutiert wird darüber, ob es möglich ist, an eine objektive, damalige Wirklichkeit „heranzukommen“, d.h. ob eine biografische Erzählung Auskunft geben kann über das, was sich damals ereignet hat. Ausgehend von der Position, dass eine Erzählung nicht mehr als eine situationsabhängige Erinnerung von heute aus sein kann, wird dies verneint (Max Frisch: „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann unter gewaltigen Opfern für sein Leben hält.“ Oder aus unbekannter Quelle: „Die Zukunft ist ungewiss, aber die Vergangenheit ändert sich ständig.“) Rosenthal formuliert eine vermittelnde Position (1993: 17): Zu beachten sei die Wechselwirkung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Biografie wird von heute aus konstruiert, aber diese Sichtweise von heute aus entsteht nicht zufällig, sondern in Auseinandersetzung mit Erfahrungen in der Vergangenheit. Prinzipiell kann eine Erzählung nicht identisch mit dem damaligen Erleben sein, denn zwischen den damaligen Ereignissen, dem Erleben damals, der Erinnerung an das Erleben und dem Erzählen des Erinnerten „liegen jeweils konstruktive Akte des Individuums, in denen mentale Prozesse gestalterisch Einfluss nehmen“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 29). Erinnern wie Erzählen sind Selektionsleistungen, die der Bewältigung und Adaption des Erlebten dienen. So wird üblicherweise von einer „subjektiven“ und nicht von einer „objektiven Wahrheit“ der Erzählung ausgegangen. Diese „subjektive Wahrheit“ ist veränderbar, aber eben nicht auf beliebige Weise, sondern in der Bearbeitung von Erfahrungen: So kann ein Wendepunkt im Leben als neue Erfahrung dazu führen, dass die eigene Zukunft, aber auch die eigene Vergangenheit neu bewertet wird (vgl. Fuchs-Heinritz 2000: 52). So wie die äußeren Formen der Biografie unterschiedlich sein können, so sind auch die Interessen der Biografieforschung unterschiedlich. Das Material – die erzählte und transkribierte oder die schriftlich verfasste Geschichte – wird ausgewertet, indem aus den Texten die zu
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Grunde liegenden Sinnstrukturen, Deutungsmuster oder „subjektiven Konstruktionen“ heraus gearbeitet werden. Die Interpretation der Texte liefert Aufschlüsse über die Konstruktion des Ich in der Welt, über die versprachlichte und versprachlichende Bewältigung von Erfahrungen und auch über die Gestaltung der sozialen Beziehungen. Andere Untersuchungen fokussieren die Verarbeitung von Übergängen und Brüchen oder die Biografie als Sozialisationsgeschichte. In der Biografieforschung hat die qualitative bzw. rekonstruktive Methode, insbesondere das „narrative Interview“, einen besonderen Stellenwert. Auch in den erzählten Lebensgeschichten finden sich Phaseneinteilungen und subjektive Altersnormen mit („das richtige Alter“, „zu jung“, „noch nicht reif genug“ oder „frühreif“, „zu alt“, „Spätzünder“). Es werden Allegorien des gelebten Lebens z.B. als Weg, als Prüfung, als Aufstieg und Fall verwendet und Übergänge als Entwicklung oder Bruch charakterisiert.
Beispiele: Muster biografischer Selbstdeutungen Zwei Zitate aus Interviewanfängen stehen beispielhaft und in Kurzform für zwei Erzählmuster: Das erste Muster der Selbsterklärung verfolgt eine persönliche Entwicklungslogik („Was hat meine Kindheit mit mir gemacht?“), das andere Muster beschreibt das Leben als eine Abfolge von Stadien unter den Aspekten Kontinuität und Einbindung in den Kontext einer Normalität, die als nicht aufregend und damit nicht erzählwürdig vorgestellt wird: „Also wenn ich Kindheit höre, sind immer zwei Sachen ganz wichtig, für mich zu benennen. Auf der einen Seite halt, (...) das strenge Elternhaus (...) und auf der anderen Seite wieder, dass er [der Vater] mit uns im Urlaub viele Sachen gemacht hat, gute Sachen (...). Und die anderen, was hängen geblieben sind, sind die Geschichten da mit den Prügeln und Strafe und so und weil’s so schlimm war, hat es unheimlich viel zugemacht, also verschüttet. Für mich ist das schwer. Und da bin ich immer noch dran interessiert, weiter zu kommen, zurück, mit der Erfahrung, was da war.“ „Also ich bin Einzelkind und bin in einem sehr engen Familienverband aufgewachsen, habe immer am gleichen Ort gelebt, bis ich dann nach T. gezogen bin zum Studieren. Und, ja, bin – also ein ganz normaler Verlauf, also Lebenslauf eigentlich, nichts Aufregendes. Ich bin dann in den Montessori-Kindergarten gegangen, in einen Privatkindergarten, kindliche Früherziehung, und dann in die Grundschule, Gymnasium, Abitur gemacht. Ja, Studium angefangen, durchgezogen, fertig gemacht.“ Menschen, die Erfahrungen gemacht haben, die sie nicht bewältigen können, können häufig keine erzählerische Ordnung in ihre Lebensgeschichte bringen und sind nicht von anderen verstehbar. In solchen Fällen misslingt die sinnhafte Rekonstruktion des eigenen Lebens als verständlich erzählbare, in sich stimmige Geschichte.
Zum Verhältnis Lebenslauf und Biografie Gerade wenn der Lebenslauf als vorgegebene Ordnung und als verbindliche Vorgabe für die Gestaltung des Lebens der Einzelnen an Kraft verliert und die Mobilität der Gesellschaft zunimmt, wird die individuelle Leistung der „Biografisierung“ wichtiger. Die Individuen müssen immer wieder in neuen Zusammenhängen die Kontinuität der eigenen Geschichte neu herstellen und ihre Vergangenheit und ihren Lebensweg neu deuten.
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Biografien und Lebenslauf
Häufig werden die beiden Begriffe „Lebenslauf“ und „Biografie“ synonym verwendet. In der Theorie und empirischen Forschung entwickelten sich aber die Lebenslauf- und die Biografieforschung in unterschiedliche Richtungen und die Begriffe meinen heute Unterschiedliches. In den neueren Diskussionen werden beide aufeinander bezogen und eher das Wechselspiel als die unüberbrückbare Differenz zwischen der „objektiv-strukturellen“ Seite der gesellschaftlichen Regelungen und der „subjektiv-handlungsbezogenen“ Seite der individuellen Deutung und Gestaltung des Älterwerdens betont. Das Leben als Prozess wird im Spannungsfeld individueller, aktiver Gestaltung einerseits und Determinierung durch gesellschaftliche Bedingungen andererseits betrachtet. In diesem Sinne bereichern die Lebenslauf- und die Biografieforschung Beratung und Pädagogik, weil sie einen umfassenden, verstehenden Zugang zu Menschen bieten, der die Dimension der Zeit und des Gewordenseins einbezieht.
Literatur Fuchs-Heinritz, Werner (2000): Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden. Kohli, Martin (1985): Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37. Jg., 1–29. Leisering, Lutz/Müller, Rainer/Schumann, Karl F. (Hg.) (2001): Institutionen und Lebensläufe im Wandel. Institutionelle Regulierungen von Lebensläufen. Weinheim/München. Lenzen, Dieter (1985): Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten. Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf (2002): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen. Rosenthal, Gabriele (1993): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M. Wohlrab-Sahr, Monika (1993): Biographische Unsicherheit: Formen weiblicher Identität in der „reflexiven Moderne“: das Beispiel der Zeitarbeiterinnen. Opladen.
Einwanderer, Einwanderung
Martina Grimmig In einem sehr allgemeinen Begriffsverständnis wird Einwanderung bzw. Migration (= Wanderung) als Bewegung von Individuen oder Gruppen im geographischen oder sozialen Raum gefasst, die mit einer mehr oder weniger permanenten Verlagerung des Lebensmittelpunktes einhergeht. Als EinwanderInnen bzw. MigrantInnen werden entsprechend Menschen bezeichnet, die ihr Geburtsland verlassen haben und in einem anderen Land leben. Zwar können Menschen ihren Wohnort auch innerhalb eines Landes verlagern (interne bzw. Binnenmigration). In der soziologischen Forschung liegt der Schwerpunkt jedoch auf der internationalen (bzw. transnationalen) Migration, bei der staatliche Grenzen überschritten werden. Pädagogisch relevant sind dabei vor allem diejenigen Theorien und Studien, die sich mit der Situation von MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft befassen.
Die Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft Historisch gesehen ist Migration kein neues Phänomen. Sie hat die Menschheitsgeschichte immer schon begleitet. In Folge der Entstehung von Nationalstaaten und der Verfestigung der nationalstaatlichen Ordnung gewann die Unterscheidung zwischen „fremden“ Zugewanderten und Einheimischen jedoch an gesellschaftspolitischer Bedeutung. Der Nationalstaatsgedanke ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für den öffentlichen Diskurs über Einwanderung geblieben (s. Nauck 1999). Erneut deutlich wurde dies in Deutschland in der jüngst im Zusammenhang mit der Integration von MigrantInnen sehr hitzig geführten Debatte um eine „deutsche Leitkultur“. Ein nach wie vor einflussreiches Verständnis der Nation als ethnischkulturelle Abstammungs- bzw. Schicksalsgemeinschaft trägt zu Praktiken der Abgrenzung, Ausgrenzung und Diskriminierung bei, die die Lage der MigrantInnen in Deutschland in der Vergangenheit erheblich erschwert haben und weiterhin erschweren. Nicht nur in Deutschland und Europa ist das Thema Migration in den letzten Jahren verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Die gesellschaftliche Relevanz des Themas wird dabei häufig an Zahlen festgemacht. So werden für die letzten Jahre weltweit steigende internationale Wanderungsbewegungen konstatiert. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge hat sich die Zahl der internationalen MigrantInnen von 1970 bis 2000 auf ca. 150 Millionen Menschen verdoppelt, etwa die Hälfte davon sind heute Frauen (UN 2002). Hinzu kommen ca. 15 bis 20 Millionen Flüchtlinge und mehrere Millionen Binnenmigranten, die sich v.a. in den neuen Megastädten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine bessere Zukunft erhoffen. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die grenzüberschreitend und in verschiedenen Pendelbewegungen große Teile ihres Lebens unterwegs sind (etwa als SaisonarbeiterInnen oder HändlerInnen).
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Einwanderer, Einwanderung
Migranten werden als undokumentierte, illegalisierte oder als Transit-MigrantInnen in den offiziellen Statistiken und Definitionen von Migration oftmals nicht erfasst. Daran wird deutlich, wie schwierig eine exakte quantitative Erfassung der internationalen Migration ist. Migrationsstatistiken und Zahlen sind daher immer mit Vorsicht zu genießen, um so mehr als sie häufig im politischen Diskurs instrumentalisiert werden, um Bedrohungsszenarien von vermeintlich hereinbrechenden Masseneinwanderungen und sog. Flüchtlingsströmen zu illustrieren (s. Nuscheler 1995). Ein aktuell einflussreicher Diskurs, der internationale Migration als „globales Sicherheitsproblem“ in den Blick nimmt, dürfte der Verbreitung von Bedrohungsvorstellungen und Feindbildern weiter Vorschub leisten. Wie wenig politische Konjunkturen und öffentliche Aufmerksamkeitszyklen mit empirisch nachweisbaren Trends im Migrationsgeschehen in Zusammenhang stehen, zeigt nicht zuletzt die deutsche Flüchtlings- und Asyldebatte. Trotz der bis heute normativ stark aufgeladenen Rahmung der Debatte ist der Anteil von Flüchtlingen unter der „ausländischen Bevölkerung“ in Deutschland stark rückläufig. Europa und insbesondere Deutschland zählen zu den wichtigsten Zielen internationaler Migration (s. UN 2002). Dem jüngsten Migrationsbericht der Bundesregierung zufolge leben in Deutschland heute nahezu 7 Millionen ausländische Staatsbürger, noch mal so viele besitzen zwar einen deutschen Pass, haben aber einen Migrationshintergrund. Dazu zählen v.a. Aussiedler und Aussiedlerinnen, Eingebürgerte oder Kinder ausländischer Eltern sowie aus binationalen Ehen, die bereits bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben. Jeder sechste Mensch in Deutschland hat damit einen Migrationshintergrund, jede fünfte geschlossene Ehe ist binational, jedes vierte Neugeborene hat mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund und etwa jedes dritte Kind bzw. Jugendliche in deutschen Schulen kommt heute aus Migrantenfamilien (s. Beauftragte der Bundesregierung 2005). Diese Fakten verweisen nicht nur darauf, dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland geworden ist. Sie zeigen auch, dass Migration längst kein Thema mehr ist, das (neben den MigrantInnen selbst) allein soziologische Migrationsexperten und Politiker bewegt, sondern heute in hohem Maße das soziale Gefüge in Deutschland prägt und eine enorme alltagsweltliche Bedeutung gewonnen hat. Diese Entwicklung zur sozial und kulturell heterogenen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland stellt – schon aufgrund des wachsenden Anteils von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – auch eine Herausforderung für die Pädagogik dar. Die Schulpädagogik wie auch die außerschulische Jugendarbeit können sich diesen Einwanderungsrealitäten nicht entziehen. Dabei gilt es, sich gerade auch mit den mehr oder weniger subtilen Formen von Benachteiligungen und Diskriminierungen von MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft kritisch auseinander zu setzen. Denn die Ergebnisse der PISA-Studien haben erneut gezeigt, dass der Umgang mit Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem zur Verfestigung von sozialen Ungleichheiten beiträgt. Damit stellt sich für die schulische und außerschulische Pädagogik die Frage, was sie zur Überwindung der Benachteiligung von MigrantInnen beisteuern kann. Zu den einschlägigen Diskussionen über Konzepte der Sprachförderung, der interkulturellen, multikulturellen und antirassistischen Pädagogik und über den Reformbedarf des Bildungssystems in der Einwanderungsgesellschaft (s. Hormel/Scherr 2004) kann die Soziologie einen wichtigen Beitrag leisten. Dieser liegt zunächst darin, differenzierte und empirisch fundierte Kenntnisse zum Thema Migration bereit zu stellen.
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Fragestellungen und Theorien der Migrationssoziologie Im Zentrum der soziologischen Beschäftigung mit Migration stehen Fragen nach den Ursachen, Dynamiken, Formen und Folgen von Wanderungsbewegungen. Die große Bandbreite der theoretischen Perspektiven lässt sich grob in klassische und neuere Ansätze einteilen (s. Pries 2001). Ein Großteil der älteren Migrationstheorien orientiert sich am so genannten „Push and Pull“-Paradigma, das zunächst auf makrosoziologischer Ebene formuliert und später um individuelle Handlungsebenen erweitert wurde. Sie legen ihren Akzent auf ökonomische und strukturelle Faktoren zur Erklärung von Migrationsbewegungen und betonen die Bedeutung des Wohlstandsgefälles zwischen Ziel- und Herkunftsregion als wichtigen Einflussfaktor für Umfang und Dynamik von Wanderungsbewegungen. Danach finden sich einerseits auslösende Faktoren im Herkunftsland, so genannte Push-Faktoren (etwa: niedriges Lohnniveau, hohe Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Armut, politische Krisen oder ökologische Katastrophen). Andererseits finden sich im Ankunftsland Faktoren der Anziehung, so genannte Pull-Faktoren (etwa: Arbeitskräftebedarf, vielversprechende ökonomische Opportunitäten, höherer Lebensstandard oder politische Freiheit). Mit dem in der Migrationssoziologie kontrovers diskutierten „Push and Pull“-Paradigma wird angenommen, dass diese Faktoren Wanderungsbewegungen in Gang setzen und Menschen zur Emigration bewegen können (ausführlicher vgl. Treibel 1999). Dagegen wird eingewandt, dass aktuelle Migrationsbewegungen in Zusammenhang mit historisch vorgängigen politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland stehen, ihr Verlauf also keineswegs allein durch „objektive“ Unterschiede der Lebensbedingungen erklärt werden kann. Die Dynamik von Migrationsprozessen wird hier vielmehr als Ergebnis eines komplexen Systems von Verbindungen und Austauschbeziehungen zwischen Staaten oder Regionen analysiert (s. Kritz et al. 1992). Die „push-pull-Modelle“ sind unter dem Eindruck der historischen transatlantischen Migration aus Europa in die Vereinigten Staaten entstanden. Entsprechend konzentriert sich das Forschungsinteresse der klassischen Ansätze vor allem auf Formen und Muster der dauerhaften Ein- und Auswanderung und damit einhergehende Eingliederungsprozesse und -probleme in die Aufnahmegesellschaft. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Integrationsdynamiken im Aufnahmeland lag dabei vielen dieser Modelle die Annahme zugrunde, dass die verschiedenen Einwanderergruppen sich über kurz oder lang an die neue Gesellschaft anpassen würden. Als klassische Pionierarbeiten in diesem Zusammenhang gelten insbesondere die Studien der sog. Chicago-Schule. Sie gingen zunächst davon aus, dass Assimilation letztlich das unausweichliche Ergebnis eines über mehrere unterscheidbare Stadien und mehrere Generationen verlaufenden Prozesses sei. Auf der Grundlage empirischer Studien kristallisierten sich jedoch nach und nach Sichtweisen heraus, die Aspekte von Eingliederungsprozessen differenziert zu beschreiben versuchen (s. Esser 1980). Sie nahmen dabei strukturelle Behinderungen und gegenläufige Phänomene in ihren verschiedenen Facetten in den Blick, die sie in Begriffen wie Segmentation, ethnische Kolonie, Getto, Unterschichtung und ethnischer Schichtung sowie räumlicher Segregation theoretisch zu fassen suchten (s. Heckmann 1992). In einem klassischen Werk der deutschen Migrationsforschung differenziert Esser (1980) nach den vier Dimensionen soziale, kognitive, strukturelle und identifikatorische Integration. Bei allen Differenzen ist den klassischen Ansätzen der soziologischen Migrationsforschung eine gewisse Fixierung auf spezifische Migrationstypen und Problemfelder von Migration ge-
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meinsam. Das Interesse richtet sich zudem überwiegend auf den Typus des den unteren sozialen Klassen angehörenden männlichen Arbeitsmigranten. Expertenmigration, Binnenmigration der Einheimischen und Heiratsmigration werden in der Literatur demgegenüber vergleichsweise vernachlässigt. Deutlich wird dies auch in der deutschen Migrationsforschung, die sich bislang vorherrschend der Analyse der „klassischen Gastarbeiter“ aus der Türkei, Griechenland, Italien, Ex-Jugoslawien, Portugal und Spanien gewidmet hat, die in der wirtschaftlichen Aufschwungphase der 1950er und 1960er Jahre gezielt als Arbeitskräfte von der deutschen Regierung angeworben wurden. Von zentraler Bedeutung für die deutsche Migrationsforschung zur Situation der „Gastarbeiterbevölkerung“ und ihrer Nachkommen ist die Frage nach den Gründen der sog. Integrationsprobleme. Der Begriff Integration verweist dabei im politischen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs auf heterogene Aspekte der Lebenssituation von MigrantInnen, deren Zusammenhang kontrovers diskutiert wird. Empirische Studien zur Situation von Migranten in der Bundesrepublik weisen ihre wirtschaftliche, politische und rechtliche Benachteiligung sowie ihre Diskriminierung im Bildungssystem nach. Auch wenn sich in einigen Bereichen eine gewisse Angleichung der Lebensbedingungen von Einheimischen und Zugewanderten konstatieren lässt, ist die Situation der 2. sowie 3. Generation noch weit von einer Gleichstellung, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem, entfernt. Festzustellen sind auch Formen der sozialräumlichen Segregation, die ökonomische Ursachen haben, aber auch in Zusammenhang damit stehen, dass ein erheblicher Teil der Einheimischen soziale Kontakte zu MigrantInnen ablehnt. Je nach theoretischer Ausrichtung werden unterschiedliche Ursachen für die „Probleme“ von Migranten und Migrantinnen in Deutschland verantwortlich gemacht. Ein bis heute einflussreich gebliebener Erklärungsansatz geht von der Prämisse eines signifikanten Kulturunterschieds zwischen Einheimischen und Zugewanderten aus, der auch als Ursache vermeintlicher Identitätsprobleme von MigrantInnen behauptet wird. Dieser Vorstellung zufolge sind es also vor allem kulturelle Merkmale der Herkunftsgesellschaft, die als Generatoren der Probleme von und im Umgang mit MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft gelten. Die Wirkungsmächtigkeit dieses Erklärungsansatzes zeigt sich in vielen Argumentationsmustern, etwa wenn in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion immer wieder rückständige Traditionen (z.B. in der Geschlechterfrage), religiöse Einstellungen (islamischer Fundamentalismus) angeführt werden. MigrantInnen werden damit als „defizitäre Wesen“ konzipiert, die es zu integrieren gilt; Migration gilt hier generell – selbst bei ihren Befürwortern – als problembehaftete Krisenerscheinung. Inzwischen ist in der Soziologie und in den Erziehungswissenschaften eine umfassende Kritik dieser Annahmen entwickelt worden. In kritischer Auseinandersetzung mit der sog. Kulturdifferenzhypothese haben sich differenzierte theoretische Perspektiven herausgebildet, die den „gesellschaftlichen Umgang mit dem Wanderer“ (Bukow/Llaryora 1988: 10) in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen. So belegen einschlägige Studien einerseits, dass Integrationsverläufe keinesfalls einheitlich, sondern von situativen Kontextbedingungen im Herkunfts- wie Aufnahmeland abhängig sind, die für die unterschiedlichen Zuwanderergruppen sehr verschieden ausfallen können. Auch muss Integration als ein multidimensionales Konzept (und nicht als eine „Alles-oder-nichts“Frage) gefasst werden. Deshalb wird der Integrationsbegriff in differenzierungstheoretisch angelegten Untersuchungen als überverallgemeinernd kritisiert und durch den Begriff der Inklusion in gesellschaftliche Teilsysteme ersetzt (s. Bommes 1999). Die Situation von MigrantIn-
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nen in die Aufnahmegesellschaft kann demnach für bestimmte Dimensionen bzw. gesellschaftliche Teilbereiche unterschiedlich verlaufen, die nicht zuletzt auf unterschiedliche Erfahrungen im Aufnahmeland der jeweiligen Gruppe sowie individuelle Bewältigungs- und Handlungsstrategien zurückzuführen sind. Gewichtiger vielleicht noch ist andererseits der Verweis darauf, dass kulturelle Differenzen keineswegs von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen unabhängig, sondern vielmehr im Zusammenspiel mit Prozessen der Segregation, Benachteiligung und Diskriminierung zu analysieren sind. „Vermeintliche Defizite“ und die wiederkehrend unterstellte „mangelnde Integrationsbereitschaft“ sowie damit einher gehende Tendenzen zur Selbstethnisierung und Abschottung der zugewanderten Minderheiten sind demnach nicht einfach ein Effekt ihrer Herkunftskultur, sondern müssen auch als Reaktion auf Erfahrungen der Ungleichbehandlung und stigmatisierender Fremdzuschreibungen gesehen werden. Kulturelle Unterschiede sowie ethnisierende Abgrenzungen sind nicht einfach Ursache, sondern auch eine Folge von Benachteiligung und Diskriminierungserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft (s. etwa Bukow/ Llaryora 1988; Groenemeyer/Mansel 2003). Die Situation von MigrantInnen spiegelt in diesem Sinne immer auch die gesellschaftliche Struktur und politische Kultur des Aufnahmelandes wider.
Transnationale Migration Seit Ende der 1980er Jahre hat sich ein neues Paradigma in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung etabliert. Die neueren Ansätze in der Forschung internationaler Migration (s. Pries 2001: 32ff.) reagieren v.a. auf neue Phänomene und Trends im internationalen Migrationsgeschehen. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Globalisierungsdrucks hat sich das Gesicht der Migration verändert. Zwar sind Familiennachzug, Arbeitsmigration, Flucht und Vertreibung immer noch wichtige Formen der heutigen Migration. Die klassischen Formen werden jedoch zunehmend ergänzt, zum Teil ersetzt durch neue Formen zeitlich begrenzter Zuwanderung, Durchwanderung (Transitwanderung), Pendelwanderung oder zirkulärer Migration. Verstärkt beobachten lässt sich hier insbesondere die zeitlich befristete Arbeitsmigration, bei der Migranten und Migrantinnen wiederholt oder regelmäßig zwischen Aufnahme- und Herkunftsland pendeln, wobei diese Pendelmigrationen sich nicht auf zwei Länder beschränken müssen. In Deutschland fallen unter diese Kategorie etwa die so genannten „ErntehelferInnen“ bzw. SaisonarbeiterInnen (ca. 300.000), die WerkvertragsarbeitnehmerInnen (ca. 40.000) sowie die GrenzgängerInnen (ca. 10.000) aus Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Zusammen bilden sie seit dem Niedergang des Ostblocks ein neues „Gastarbeitersystem“ (Rudolph 1996) in Deutschland. Diese neuen Formen zirkulärer Arbeitsmigration sind in Deutschland politisch und rechtlich stark reguliert, insofern ihnen eine Reihe von staatlichen Verordnungen zugrunde liegen, die einerseits darauf ausgelegt sind, den Arbeitskräftebedarf auf dem deutschen Arbeitsmarkt funktional und gezielt zu bedienen, und anderseits einen dauerhaften Einwanderungsprozess zu verhindern. In diesem Sinne ist die Herausbildung und Zugehörigkeit zu einer spezifischen Wanderungskategorie bzw. die Kategorie hier selbst auch als ein Produkt staatlicher Politik in diesem Feld zu begreifen. Begriffe wie „Transmigrant“, „transnationale Migration“, „transnationaler sozialer Raum“ und „Migrationsnetzwerke“ versuchen, das Phänomen dieser zirkulären und grenzüberschrei-
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tenden Wanderungen theoretisch zu fassen. Das Spezifische dieser jüngeren Ansätze besteht nach Pries (2001: 32) darin, Migration nicht mehr „als einmaligen Ortswechsel, sondern auch als einen dauerhaften Zustand und damit als eine neue soziale Lebenswirklichkeit für eine wachsende Anzahl von Menschen“ zu begreifen. Häufigeres Hin- und Herpendeln wird als eine Daseins- und nicht nur als eine Übergangsform verstanden, die zur Entstehung von „transnationalen sozialen Räumen“ beiträgt. Darunter sind neue soziale Verflechtungszusammenhänge zu verstehen, die räumlich diffus sind und über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweisen. Sie stellen plurilokale und grenzüberschreitende, alltägliche Lebenszusammenhänge dar, in denen sich neue soziokulturelle Muster und Vergesellschaftungsformen herausbilden. Menschen in diesen transnationalen sozialen Räumen entwickeln räumlich entgrenzte kollektive Netzwerke und Organisationen, die eine Neubestimmung des Verhältnisses von geographischem und sozialem Raum notwendig machen. Zudem stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob und inwieweit es noch sinnvoll bzw. angemessen ist, die Situation von MigrantInnen in Vorstellungen von Integration bzw. Nicht-Integration zu analysieren und zu bewerten. Auch für das Verständnis der transnationalen Migrationsbewegungen und ihrer sozialen Praktiken bleibt die nationalstaatliche Politik zentral. Wie und auf welche Weise sich Menschen zwischen verschiedenen Orten bewegen können, ist immer noch in hohem Maße von ihrem rechtlichen Status und nationalen Einwanderungspolitiken abhängig, wie nicht zuletzt das zirkuläre Arbeitsmigrationssystem der „neuen Gastarbeiter“ in Deutschland anschaulich unter Beweis stellt. Nichtsdestotrotz haben diese jüngeren Ansätze in der internationalen Migrationsforschung viel dazu beigetragen, neue Sichtweisen und Fragestellungen zu entwickeln, die gerade den vielfältigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Wechselwirkungen von Migration und Globalisierung Rechnung zu tragen versuchen. Dies schlägt sich auch in einer veränderten Beurteilung und Wahrnehmung der Migration in der internationalen Entwicklungspolitik nieder. Die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte wird von Entwicklungsexperten heute nicht mehr ausschließlich negativ gesehen und als „brain-drain“ verurteilt. Vielmehr hat sich in einigen Fällen gezeigt, dass einst abgewanderte Eliten später wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, so dass langfristig auch Gewinne für die Entsendeländer entstehen können (vgl. Thränhardt 2005). Der besondere Gegenstandsbereich der Migrationssoziologie zeichnet sich insgesamt, so lässt sich abschließend bilanzieren, durch eine große Heterogenität der Fragestellungen und Perspektiven aus. Dabei lassen sich in spezifischen Phänomenen und Problemen der Migrationssoziologie grundlegende Themen der Soziologie erkennen. Migrationsrelevante Themen (etwa: sich ethnisch artikulierende Konflikte, Prozesse kultureller Differenzierung, Segregation, Diskriminierung) können in diesem Sinne auch als spezifische Ausprägungen von sozialer Ungleichheit, sozialem Wandel und sozialer Differenzierung gedeutet werden, als Themen also, die zu den Grundproblemen der Soziologie gezählt werden. Die Soziologie hat zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen wichtige empirische und theoretische Vorarbeiten geleistet, die für die politische und pädagogische Theorie und Praxis von grundlegender Bedeutung sind. Gerade in Anbetracht der enormen Heterogenität migrantischer Lebenslagen und der Komplexität gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsdynamiken sind diese Kenntnisse für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Migration wesentlich. Statt „kulturelle Differenzen“ zu dramatisieren, müssen auch andere gesellschaftliche Differenzierungslinien bzw. Strukturkategorien wie Klasse und Gender in den Blick genommen werden. An diese Überlegung knüpfen neuere pädagogische Konzepte wie die antirassistische Pädagogik, die
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Menschenrechts- und Diversity-Pädagogik an. Sie lassen sich als verschiedene Versuche interpretieren, Aufgaben und Ziele der Pädagogik in der Einwanderungsgesellschaft neu zu bestimmen.
Literatur Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.) (2005): Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Berlin. Bommes, Michael (1999): Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat. Wiesbaden. Bukow, Wolf-Dietrich/Llaryora, Robert (1988): Mitbürger aus der Fremde. Opladen. Esser, Hartmut (1980): Aspekte der Wanderungssoziologie. Darmstadt/Neuwied. Groenemeyer, Axel/Mansel, Jürgen (Hg.) (2003): Die Ethnisierung von Alltagskonflikten. Opladen. Heckmann, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation: Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart. Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden. Kritz, Mary M. et al. (Hg.) (1992): International Migration Systems. A Global Approach. Oxford. Nauck, Bernhard (1999): Migration, Globalisierung und der Sozialstaat. In: Berliner Journal für Soziologie 9, S. 479–493. Nuscheler, Franz (1995): Internationale Migration. Flucht und Asyl. Opladen. Pries, Ludger (2001): Internationale Migration. Frankfurt/M. Rudolph, Hedwig (1996): The New Gastarbeitersystem in Germany. In: New Community 22, S. 287–300. Thränhardt, Dietrich (2005): Entwicklung durch Migration: ein neuer Forschungsansatz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 27, S. 3–18. Treibel, Annette (1999): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. München. United Nations (2002): International Migration Report 2002. New York.
Familien und Paarbeziehungen
Albert Scherr In politischen und pädagogischen Diskursen werden Familien wiederkehrend als eine vermeintlich natürliche sowie gesellschaftlich und individuell unverzichtbare Form des Zusammenlebens zum Thema. Familien gelten nicht zuletzt als eine für das Aufwachsen von Kindern unverzichtbare Sozialisationsinstanz und als ein Zusammenhang, in dem nicht an wechselseitigen Leistungserwartungen und Nützlichkeitserwägungen orientierte, sondern von wechselseitiger Wertschätzung und emotionaler Nähe geprägte Beziehungen möglich sind. Die Einschätzung, dass nicht durch instrumentelle Kalküle (was nützt es mir, wenn ...) bestimmte, sondern auf der gegenseitigen Anerkennung als besonderes Individuum mit eigenen Bedürfnissen beruhende Beziehungen von erheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter und die Lebensführung von Erwachsenen sind, ist auch in einer soziologischen Perspektive keineswegs als eine bloße Idealvorstellung zu charakterisieren. Denn Haltungen und Praktiken, in denen Individuen sich auf andere Menschen wie auf „empfindungslose Objekte“ beziehen, die sie für eigene Zwecke gebrauchen können, sind nicht nur aus ethisch-moralischen Gründen problematisch. Sie stehen auch im Gegensatz zu der für Sozialisationsprozesse und die psychische Selbsterhaltung unverzichtbaren „praktischen Voraussetzung“ sozialer Beziehungen, in denen Individuen sich als empfindungsfähige und eigenständige Subjekte anerkennen (Honneth 2005: 62ff.). Damit sind Aspekte angesprochen, die nicht nur für Familien, sondern in vergleichbarer Weise auch für Paar- und Freundschaftsbeziehungen bedeutsam sind. Im Folgenden wird deshalb davon ausgegangen, dass bestimmte Strukturmerkmale privater Beziehungen keineswegs ausschließlich als Eigenschaften von Familien betrachtet werden können. Denn dies würde zu der problematischen impliziten Unterstellung führen, dass nicht-instrumentelle und nicht-rollenförmige Sozialbeziehungen (s.u.) nur in Familien realisiert werden können. Diese Annahme ist selbst Bestandteil eines bestimmten normativen Familienmodells und keine tragfähige Grundlage einer soziologischen Analyse. Dagegen wird hier als Unterschied von Familienund Paarbeziehungen „nur“ angenommen, dass Familien durch das Eltern-Kind-Verhältnis, also durch einen generativen Zusammenhang gekennzeichnet sind. Die sich mit dem Reden über die Eigenschaften von Familien und Paarbeziehungen gelegentlich verbindende Vorstellung einer heilen, jenseits gesellschaftlicher Konflikte und Zwänge angesiedelten privaten Welt hält jedoch einer nüchternen, soziologisch informierten Betrachtung nicht stand. Familien- und Paarbeziehungen sind in gesellschaftliche Strukturen eingebettet – so das familieninterne Geschlechterverhältnis in die gesellschaftliche Geschlechterordnung, die familialen Eltern-Kind-Beziehungen in die gesellschaftliche Ordnung der Altersgruppen. Entsprechend war in der älteren Sozialisationsforschung ein Verständnis von Familie als „Sozialisationsagentur“ der Gesellschaft, d.h. als Instanz der Übermittlung gesellschaftlicher Normen, Werte, Ideologien und Herrschaftsverhältnisse einflussreich. In der Eltern-Kind-Beziehung, so ein einschlägiges Argument, wird die Unterordnungsbereitschaft unter Autoritätsbeziehungen als eine psychische Disposition erworben, an die dann in außer-
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familialen Zusammenhängen, etwa der schulischen Erziehung oder der betrieblichen Erwerbsarbeit, angeknüpft werden kann (s. Dubiel 1988: 40ff.). Obwohl eine solche Sichtweise – wie im Weiteren noch zu verdeutlichen sein wird – allzu vereinfachend ist (s.u.), ist damit bereits darauf hingewiesen, dass familieninterne Beziehungen keineswegs unabhängig von außerfamilialen gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen sind. Dies wird auch daran deutlich, dass gesellschaftliche Veränderungen weitreichende Auswirkungen auf die Strukturen des familialen Zusammenlebens haben. So haben sich etwa der Zeitpunkt der Eheschließung, die Scheidungsziffern und die Geburtenrate in allen westeuropäischen Gesellschaften seit den 1970er Jahren in Zusammenhang mit der ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung erheblich verändert. Veränderungen der Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt, die Verlängerung von Schulbesuchszeiten, der verstärkte Einbezug von Frauen in akademische Ausbildungsgänge und berufliche Erwerbsarbeit stehen in einem engen Zusammenhang mit den genannten Veränderungen sowie mit der Infragestellung einer patriarchalischen Geschlechterordnung innerhalb und außerhalb von Familien. Damit sind zwei für die familiensoziologische Forschung (s. als Übersicht Hill/Kopp 2004) zentrale Aspekte angesprochen: > der Struktur- und Funktionswandel von Familien in seinem Zusammenhang mit Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen bzw. mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungsdynamiken; > die Struktur der familialen Beziehungen und ihre Bedeutung für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen sowie für die alltägliche Lebensführung und die psychosoziale Lebensbewältigung auch von Erwachsenen. Von pädagogischer Bedeutung sind familiensoziologische Studien zum einen deshalb, weil die vorgängige familiale Sozialisation und Erziehung (bzw. die familienersetzende Sozialisation in Heimen) pädagogisch unhintergehbare Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung – auf grundlegende Handlungsmuster, den Spracherwerb usw. hat. Zum anderen ist die aktuelle familiale Lebenssituation mit ihren psychosozialen Folgen für Ansatzpunkte, Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Einwirkungen bedeutsam. Vielfältige Probleme von Kindern und Jugendlichen stehen in einem Zusammenhang mit ihrer familialen Sozialisation bzw. Situation, etwa mit familialen Gewaltverhältnissen. Schulischer Erfolg ist nicht zuletzt von der sozialen Position der Herkunftsfamilie, familialen Unterstützungsleistungen und familialem Spracherwerb abhängig.
Familien – ein universelles soziales Phänomen? Versuche, eine präzise Definition von Familien als eigenständiges und besonderes soziales Gebilde bzw. soziales System zu finden, bereiten erhebliche Schwierigkeiten. Denn sozialhistorische und ethnologische Studien weisen zwar einerseits darauf hin, dass es in allen Gesellschaften Formen des Zusammenlebens in Haushalten gibt, in denen die gemeinsame ökonomische Existenzsicherung mit emotionalen und sexuellen Beziehungen sowie mit der Erziehung von Kindern verknüpft ist. Heidi Rosenbaum (2001: 291) nimmt entsprechend an, dass „in allen Gesellschaften“ Familien in Hinblick auf folgende Aspekte bedeutsam sind: > die Befriedigung emotionaler und sexueller Bedürfnisse sowie die Regulierung der Sexualität;
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> die Zeugung und Sozialisation von Kindern; > Schutz und Fürsorge für Kinder, Kranke und Alte; > die Zuweisung eines sozialen Status und die Platzierung von Individuen in gesellschaft-
lichen Hierarchien. Mit solchen Überlegungen wird die These nahe gelegt, dass die (Kern-)Familie als Lebenszusammenhang von Mann, Frau und Kindern ein universelles Phänomen sei. Andererseits führen gesellschaftsvergleichende und historische Betrachtungen jedoch zu einer erheblichen Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit und analytischen Nützlichkeit dieser Annahme. Denn in Hinblick auf alle Aspekte, die das Konstrukt (Kern-)Familie charakterisieren, lässt sich eine erhebliche Varianz der Ausprägungen nachweisen: Haushalte, in denen allein die verwandtschaftlich verbundenen Familienangehörigen zusammenleben, sind ebenso wenig ein universelles soziales Phänomen wie die heute selbstverständlich erscheinende hohe emotionale Besetzung der Eltern-Kind-Beziehungen. Erst mit der Verringerung der Kindersterblichkeit wurde eine starke emotionale Bindung möglich. Eine zwingende Verbindung von biologischer und sozialer Vaterschaft sowie sexuelle Monogamie und Exklusivität sind keineswegs in allen historischen Gesellschaften gleichermaßen verbreitet. Auch die heute selbstverständlich scheinende Trennung von Familienleben und Erwerbsarbeit setzte sich erst mit der Entstehung der kapitalistisch-industriellen Ökonomie durch. Ethnologen betonen deshalb die Vielfalt von Formen der Organisation des häuslichen Lebens und Sozialhistoriker zeigen auf, dass sich die moderne Kleinfamilie erst im 17. und 18. Jahrhundert als dominante Form durchsetzt (s. Segalen 1990). Als zentrale Elemente dieses historischen Wandlungsprozesses gelten u.a. > „die Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte und die dadurch bedingte Trennung von Berufs- und Privatsphäre (...); > die Vertiefung der Eltern-Kind-Beziehungen (...); > die Lösung der Dienstboten aus der engen Gemeinschaft der Hausangehörigen; (...) > die Entstehung zahlreicher Haushalte, die nurmehr aus Familienangehörigen bestehen“ (Mitterauer 1991: 29). Das sich so herausbildende Familienmodell verbindet sich in Mitteleuropa mit dem sog. „European marriage pattern“, d.h. der religiös gestützten Norm, dass die Heirat ökonomische Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie voraussetzt und sexuelle Beziehungen allein innerhalb der Ehe zulässig sind. In Verbindung mit der sich im Verlauf der Industrialisierung durchsetzenden Trennung von Berufs- und Privatsphäre konturiert sich so eine spezifisch moderne Form der gesellschaftlichen und familialen Arbeitsteilung der Geschlechter: Im klassisch-bürgerlichen Familienmodell wird die ökonomische Existenzsicherung durch außerhäusliche Lohnarbeit an die männliche Versorgerfunktion geknüpft. Dagegen werden Kindererziehung und Sorge um das emotionale Wohlergehen der Familienmitglieder zur weiblichen Aufgabe erklärt. Letzteres gilt auch für Arbeiterfamilien, in denen das bürgerliche Ideal der Freistellung der Frauen von der Erwerbsarbeit nicht realisiert werden konnte. Diese Zuweisung von Geschlechterrollen bleibt bis in die 1970er Jahre vorherrschend – verbunden mit einer auch rechtlich verankerten patriarchalischen Ordnung der Familie, die Männern Vorrechte gegenüber ihren Ehefrauen zuweist, u.a. das Recht darauf Einfluss zu nehmen, ob die Ehefrau eine eigenständige Erwerbstätigkeit aufnehmen darf. Aufgrund der in den bisherigen Ausführungen deutlich gewordenen Tatsache, dass die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung mit heterogenen Ausprägungen und Abgrenzungen der Haushaltsführung, der Eltern-Kind-Beziehungen, der Paarbeziehungen und der Verwandt-
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schaftsbeziehungen hervorbringt, ist es nicht nur analytisch problematisch, „die Familie“ – im Sinne eines klar abgegrenzten Zusammenhanges der privaten Lebensführung, in dem wirtschaftliche, erzieherische, emotionale, und sexuelle Beziehungen eine unauflösliche Einheit bilden – als ein historisch invariantes soziales Phänomen zu betrachten. Darüber hinausgehend verbindet sich eine solche Sichtweise wiederkehrend mit einer Idealisierung der Kernfamilie als quasi-natürlicher und zugleich optimaler Rahmen für das Zusammenleben und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Eine solche Idealisierung kann dazu führen, dass der Blick auf die Familienrealität verstellt wird. Deshalb ist zu berücksichtigen, dass die Familienwirklichkeit keineswegs durchgängig einem normativen Modell entspricht, das wechselseitige Wertschätzung und Fürsorge als Merkmale annimmt. Auch Vernachlässigung von und Gewalt gegenüber Kindern, sexuelle Gewalt gegenüber Frauen sowie Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen, die zu psychischem Leiden führen, sind als Merkmale des Familienlebens in Rechnung zu stellen. Eine Sichtweise, die nicht klar zwischen dem normativen Konstrukt der „intakten Familie“ und der Realität familialen Zusammenlebens unterscheidet, geht zudem wiederkehrend mit einer Negativwertung öffentlicher Formen der Kindererziehung sowie von nicht-familialen Formen der privaten Lebensführung einher. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn das Modell der Kernfamilie normativ überhöht wird und in Verbindung mit traditionellen Geschlechterstereotypen dazu führt, dass kinderlose Frauen und homosexuelle Beziehungen als „unnatürlich“ oder „unmoralisch“ abgelehnt werden. Eine vom historischen Wandel der Formen der Haushaltsführung, der Verwandtschaftsbeziehungen, der Paarbeziehungen und der Eltern-Kind-Beziehungen abstrahierende Definition von Familie ist auch in einer weiteren Hinsicht problematisch: Sie kann dazu führen, dass Veränderungen des familialen Zusammenlebens, wie sie unter dem Stichwort „Strukturwandel der Familie“ in Bezug auf die Entwicklungen ca. seit den 1970er Jahren analysiert werden (s. Peuckert 2002: 107ff.), mit einer prinzipiellen Krise oder einer Auflösung der Familie gleichgesetzt werden. Ob und in welchem Sinn etwa der Anstieg von Scheidungsraten, der Rückgang der Geburtenquote und die steigende Zahl von Alleinerziehenden Anzeichen einer Krise oder eines unproblematischen Wandels sind, ist in einer soziologischen Perspektive theoretisch und empirisch fundiert zu diskutieren.
Intimkommunikation in Familien und Paarbeziehungen Vor dem Hintergrund der historischen und gegenwärtigen Vielfalt unterschiedlicher Formen des familialen Zusammenlebens und von Paarbeziehungen ist es deshalb nicht unproblematisch, bestimmte Merkmale als allgemeingültige Definitionsmerkmale zu behaupten. In einer soziologischen Perspektive sind Familien nicht notwendig an die rechtliche Form der Ehe gebunden. Auch die gemeinsame Haushaltsführung ist gegenwärtig kein unverzichtbares Merkmal von Familien- und Paarbeziehungen mehr. Keineswegs in allen Familien- und Paarbeziehungen werden emotionale Bedürfnisse umfassend befriedigt. Auch kann nicht vorausgesetzt werden, dass Paarbeziehungen der sozial einflussreichen Erwartung auf eine erfüllte Sexualität gerecht werden und dass hierin eine zentrale Grundlage für das Zusammenleben gesehen wird. In einer systemtheoretischen Perspektive (s. Fuchs 2003) liegt es deshalb nahe davon auszugehen, dass Familien und Paarbeziehungen allein dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich
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selbst gegen die soziale Umwelt abgrenzen, also in irgendeiner Weise mit der Unterscheidung „wir“ (als Familie/Paar) – „die Anderen“ bzw. „die Gesellschaft“ operieren. Eine solche Grenzziehung etabliert einen Zusammenhang der privaten Lebensführung, einen Binnenraum der Familien- bzw. Paarbeziehung. In Hinblick darauf, wie eine solche Grenzziehung vorgenommen wird, was also die Grundlage der internen Beziehungen darstellt und was diese von externen Beziehungen unterscheidet, kann prinzipiell ein erheblicher Spielraum von Möglichkeiten angenommen werden. Gleichwohl ist es plausibel anzunehmen, dass hierfür einige nicht-beliebige Aspekte bedeutsam sind, die als Bezugspunkte für die Festlegung des Familien- oder Beziehungsmodells nicht folgenlos ignoriert werden können. Dies ist auch deshalb der Fall, weil die Sozialformen Familien und Paarbeziehungen einen bestimmten, gesellschaftlich verankerten Erwartungshorizont etablieren. So verbindet sich in der modernen Gesellschaft mit Paarbeziehungen innerhalb und außerhalb von Familien die wechselseitige Erwartung der Liebe – und dies auch im Sinne einer sozialen Norm: Von PartnerInnen wird sozial erwartet, dass sie sich lieben und dies bildet einen Bezugspunkt für die jeweilige Verständigung über die Grundlagen, den Zustand und die Probleme einer Beziehung. (1) In neueren familiensoziologischen Analysen (s. dazu Allert 1998; Fuchs 2003) wird argumentiert, dass Familienbeziehungen und Paarbeziehungen (und dies gilt in ähnlicher Weise auch für Freundschaftsbeziehungen), nicht hinreichend als Rollenbeziehungen charakterisierbar sind. Für sie sei vielmehr – im Unterschied zu an Berufspositionen gebundenen Rollen – der Anspruch grundlegend, dass nicht spezifische wechselseitige Leistungserwartungen zu Grunde liegen, sondern dass Individuen als besondere und unverwechselbare Einzelne mit ihren Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen bedeutsam sind. In Familien- und Paarbeziehungen ist es demnach – anders als in beruflichen Zusammenhängen – z.B. erwartbar, dass psychische Probleme und organische Krankheiten nicht nur als ein Störfaktor betrachtet werden, der die Leistungsfähigkeit im Hinblick auf Rollenerwartungen einschränkt. Familien und Paarbeziehungen leisten so betrachtet durch die Orientierung an der Individualität jedes Einzelnen idealiter einen zentralen Beitrag zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von Selbstwertgefühl, Selbstachtung und Individualität. Zwar sind auch Familien- und Paarbeziehungen soziologisch als Rollenbeziehungen beschreibbar; so hat bereits Parsons (1942/1968) Geschlechterrollen als ein strukturierendes Element familialer Beziehungen analysiert. Für Familien und Paarbeziehungen (und auch für Freundschaftsbeziehungen) ist jedoch – und auch deshalb ist eine rollentheoretische Betrachtung unzureichend – gerade die wechselseitige Erwartung konstitutiv, dass man nicht nur seine Rolle spielt, um Sanktionen zu vermeiden, sondern sich aus eigenem Interesse an den gemeinsamen Angelegenheiten beteiligt. (2) Mit diesen Unterschieden zu Rollenbeziehungen hängt ein zweites Merkmal zusammen, das in der soziologischen Systemtheorie als „enthemmte Kommunikation“ bzw. als „Intimkommunikation“ (Luhmann 1990) bezeichnet wird: Im Unterschied zur Kommunikation in beruflichen Kontexten kann in der familialen und Paar-Kommunikation prinzipiell alles zum Thema werden, was nicht einer strikten gesellschaftlichen Tabuisierung unterliegt. Insofern können Individuen in Familien und in Paarbeziehungen mit einem Interesse an allem rechnen, worüber sie kommunizieren möchten. Familien- und Paarbeziehungen sind so betrachtet durch eine spezifische Differenz zur übrigen Gesellschaft charakterisiert: „Gerade der Um-
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stand, dass man nirgendwo sonst in der Gesellschaft für alles, was einem kümmert, soziale Resonanz finden kann, steigert die Erwartungshaltung und die Ansprüche an die Familie“ (Luhmann 1990: 208). Hingewiesen ist damit auch darauf, dass dieses Differenz- und Komplementärverhältnis nicht unproblematisch ist: Wenn nur im Zusammenhang der Familie und Zweierbeziehung Chancen auf Berücksichtung und Anerkennung als Individuum zu finden sind, kann dies zu einer systematischen Überforderung mit uneinlösbaren Erwartungen führen. Der Verzicht auf thematische Einschränkungen verbindet sich mit der Erwartung einer wechselseitigen Offenheit. D.h.: Partner erwarten voneinander und Eltern erwarten von ihren Kindern (im Unterschied zu Jugendlichen), dass das individuelle Erleben nicht aus der Kommunikation ausgeschlossen wird. Luhmann weist darauf hin, dass dieses Merkmal nicht nur auf eine Möglichkeit verweist, sondern auch im Sinne einer Kommunikationsverpflichtung verstanden werden kann: „Alles was eine Person betrifft, ist in der Familie für Kommunikation zugänglich. Geheimhaltung kann natürlich praktiziert werden, sie hat aber keinen legitimen Status“ (ebd.: 201). In einer abgeschwächteren Fassung dieser pointiert formulierten Einschätzung kann argumentiert werden, dass interne Begrenzungen der kommunikativen Offenheit begründungsbedürftig und nicht per se unproblematisch sind. (Daran, dass eine solche Verpflichtung auf prinzipielle wechselseitige Offenheit nicht für Eltern gegenüber ihren Kindern gilt, wird eine strukturelle Asymmetrie der familialen Beziehungen deutlich.) Bestandteil der Intimkommunikation ist auch, dass körperbezogene Bedürfnisse familienintern als relevant und legitim gelten; dies verbindet sich mit der wechselseitigen Erwartung der Berücksichtigung sexueller Bedürfnisse in der Paarbeziehung. (3) Familiale Beziehungen, Paarbeziehungen und Freundschaftsbeziehungen sind drittens an konkrete Personen gebunden, diese sind nicht jederzeit und beliebig gegen andere Personen austauschbar. Sie ermöglichen damit die Erfahrung der sozialen Relevanz der eigenen Individualität. Dagegen ist ein Austausch des Personals in beruflichen Zusammenhängen normal. Damit zusammenhängend sind Familien- und Paarbeziehungen typischerweise auf unbestimmte Zeit angelegt; ihre zeitliche Befristung und Aufkündigung unterliegt – vom Sonderfall experimenteller Phasen im Jugendalter und der Postadoleszenz abgesehen – einem gesteigerten Begründungszwang. (4) Familiale Beziehungen haben viertens eine interne Veränderungsdynamik: die (potentiell konflikthafte) Ablösung der Kinder von den Eltern in der Jugendphase und damit die Auflösung der Kernfamilie als Haushaltsgemeinschaft und Zusammenhang der Intimkommunikation. Soziale Beziehungen, die sich an diesen Strukturmerkmalen orientieren, in denen also eine primär nicht-instrumentelle und nicht nur rollenförmige Sozialität realisiert wird, sind von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung, für den Erwerb von Sprach- und Handlungsfähigkeit und den Aufbau basaler Selbstbeziehungen (Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein). Dies gilt nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Bedeutung stabiler emotionaler Bindungen an Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwicklung (s. Hopf 2005). Hieraus resultiert eine spezifische Problematik von Versuchen, fehlende oder hoch problematische Familienbeziehungen bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere in der frühen Kindheit, durch professionelle pädagogische Beziehungen zu ersetzen. Denn auch in pädago-
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gischen Organisationen ist das Personal prinzipiell austauschbar und der Aufbau tragfähiger emotionaler Beziehungen ist eine Leistung, die nicht hinreichend als Anwendung spezifischer Fähigkeiten verstanden und dienstlich angeordnet werden kann. Gleichwohl sind familienersetzende Arrangements im empirisch keineswegs seltenen Fall solcher Familienkonstellationen unverzichtbar, die, juristisch formuliert, zu erheblichen Gefährdungen des Kindeswohl führen.
Struktur- und Funktionswandel Wie bereits erwähnt, ist der Struktur- und Funktionswandel der Familienformen seit den 1970er Jahren und seine Auswirkungen ein zentrales Thema der Familienforschung und auch der politischen Diskussion. Veranlasst ist dies zentral durch die Beobachtung eines Prozesses der Pluralisierung familialer und partnerschaftlicher Lebensformen, in dessen Folge Alternativen zum bislang vorherrschenden Ehe- und Familienmodell (das verheiratete Paar mit zwei oder mehr leiblichen Kindern) an Bedeutung gewinnen. Unterschieden und in Hinblick auf ihre empirische Verbreitung untersucht werden in der einschlägigen Forschung u.a. SingleHaushalte, Formen des räumlich getrennten Zusammenlebens, gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen und sog. Patchwork-Familien, d.h. Familien mit Kindern aus vorgängigen Sexualoder Paarbeziehungen. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion über die Ursachen dieser Entwicklung wird zum einen unter dem Stichwort „Individualisierung“ geltend gemacht, dass der gesellschaftliche Wandel von der Industrie- zur Risikogesellschaft zum Verlust der normativen und rechtlichen Verbindlichkeit, zur sog. De-Institutionalisierung des alten Ehemodells und damit zu neuen „Wahlmöglichkeiten und Wahlzwängen“ (Beck 1986: 190) im Bereich der privaten Lebensführung geführt habe. Im Unterschied dazu akzentuieren eher sozioökonomisch angelegte Betrachtungen, dass eine materiell abgesicherte Lebensführung als Grundlage der Familiengründung für einen wachsenden Bevölkerungsteil in Folge von Arbeitslosigkeit nicht erreichbar ist, für einen anderen erst nach Abschluss einer langwierigen Bildungsbiografie. Entsprechend wird geltend gemacht, dass neue Formen des familialen und partnerschaftlichen Zusammenlebens auch als Reaktion auf ökonomische Mobilitäts- und Flexibilitätszumutungen zu interpretieren sind. Gelegentliche politische und pädagogische Beschwörungen der zurückliegenden vermeintlich guten Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche noch in ausreichender Zahl geboren wurden, in angeblich intakten Familien aufwuchsen, blenden nicht nur die Schattenseiten der patriarchalisch-autoritären Kleinfamilie aus. Sie verkennen auch, dass die Veränderungen der Formen des Familienlebens und der Paarbeziehungen nicht nur Folge weiblicher Emanzipation von der Hausfrauen- und Mutterrolle sowie eines Werte- und Normenwandels, sondern auch eines sozioökonomischen Wandels sind, dessen Folgen durch familienpolitische Appelle nicht rückgängig zu machen sind.
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Literatur Allert, Tillman (1998): Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin/New York. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt/M. Dubiel, Helmut (1988): Kritische Theorie der Gesellschaft. Weinheim/München. Fuchs, Peter (2003): Liebe, Sex und solche Sachen. Konstanz. Hill, Paul B./Kopp, Johannes (2004): Familiensoziologie. 3. Aufl. Wiesbaden. Luhmann, Niklas (1990): Sozialsystem Familie. In: Luhmann, N. (Hg.): Soziologische Aufklärung 5. Opladen, S. 196–217. Mitterauer, Michael (1991): Die Familie als historische Sozialform. In: Mitterauer, M./Siedler, R. (Hg.): Vom Patriarchat zur Partnerschaft. München, S. 21–45. Parsons, Talcott (1943/1968): Das Verwandtschaftssystem in den Vereinigten Staaten. In: Parsons, Talcott: Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied, S. 84–108. Peuckert, Rüdiger (2002): Familienformen im sozialen Wandel. 4. Aufl. Opladen. Rosenbaum, Heidi (2001): Familie. In: Joas, H. (Hg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt/M./New York, S. 289–310. Segalen, Martine (1990): Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie. Frankfurt/M./New York.
Gender und Sex
Birgit Sauer Das Geschlecht ist eines der zentralen Gliederungsprinzipien einer Gesellschaft. Die Einteilung in Männer und Frauen ist uns vergleichsweise selbstverständlich, ja wir empfinden es als geradezu notwendig, um mit einem Menschen kommunizieren zu können, zu wissen, ob er/ sie Mann oder Frau ist. Auch für pädagogisches Handeln sind Geschlechtsunterschiede bedeutsam – so als unbeabsichtigte Auswirkungen der Tatsache, dass der Pädagoge/die Pädagogin Mann oder Frau ist, als geschlechtstypisch wahrgenommene Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen oder als Orientierung an Theorien und Konzepten einer geschlechterdifferenzierenden Pädagogik. Die Geschlechterdifferenz wird in der Regel an vermeintlich natürlich-biologischen Unterschieden festgemacht: am Körperbau, der Stimme, an den Bewegungen. Wir glauben, problemlos und eindeutig feststellen zu können, wer Mann und wer Frau ist. Die medizinische Wissenschaft hat in den vergangenen beiden Jahrhunderten viel dazu beigetragen, um die Geschlechterdifferenz im Körper der Menschen zu verorten – beispielsweise im Schädelumfang und der Gehirngröße, im Hormonhaushalt und in den Genen. Ohne Zweifel: Männer und Frauen unterscheiden sich in einigen Aspekten körperlich, vor allem in der Zeugungs- und Gebärfähigkeit. Doch dass dieses System der biologischen Zweigeschlechtlichkeit so große gesellschaftliche und politische Bedeutung erhielt, beruht nicht allein oder gar vornehmlich auf natürlichen Gegebenheiten, sondern ist eine gesellschaftliche Konvention, die sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert in westlichen Gesellschaften herausgebildet hat. Spätestens im 19. Jahrhundert wurde dann das moderne – biologisch und mithin vermeintlich wissenschaftlich exakt ausgearbeitete – Verständnis der „naturgegebenen“ Geschlechtscharaktere von Frau und Mann entworfen. Es verbindet sich mit der Vorstellung einer Geschlechterpolarität, d.h. gegensätzlicher Eigenschaften (Vernunft vs. Gefühl, Stärke vs. Schwäche) sowie mit der Vorstellung einer naturbedingten Geschlechterhierarchie, d.h. der Höherwertigkeit männlicher Eigenschaften. Das Modell der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit, das die Höherwertigkeit des Mannes rechtfertigt, gründet in der Vorstellung biologischer und deshalb natürlicher Differenz der Geschlechter, aus der dann eine soziale und kulturelle Differenz und Ungleichheit geschlussfolgert wird. Der „Physiologische Schwachsinn des Weibes“ (Möbius) dominierte das Denken über Frauen im 19. Jahrhundert. Auch gegenwärtig noch werden immer wieder grundlegende Unterschiede zwischen der Wahrnehmung und dem Denken von Männern und Frauen behauptet. Die angenommene biologische Differenz wird seither auch zur Rechtfertigung eines bedeutsamen Prinzips der gesellschaftlichen Ordnung verwendet: der Trennung in eine primär männlich-höherwertige Sphäre, d.h. die Sphäre der Ökonomie, des Marktes und politischer Öffentlichkeit, und in eine primär weiblich-minderwertige Sphäre der familiären Privatheit. Damit ist auch eine spezifische Form der Arbeitsteilung begründet: die produktive, erwerbs-
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orientierte und bezahlte Arbeit auf der einen und die reproduktive, unbezahlte, weil aus Liebe erbrachte Familien- und Hausarbeit auf der anderen Seite. Im modernen Verständnis des Geschlechterverhältnisses wurde Biologie gleichsam zum Schicksal. Um diesen Zirkel der pseudowissenschaftlichen Begründung von weiblicher Minderwertigkeit zu durchbrechen, griff die Frauenforschung auf die in den 1950er Jahren vom Sexualwissenschaftler John Money eingeführte Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ zurück. Im Deutschen wird in der Regel die englische Bezeichnung aufgenommen. „Sex“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die körperlichen Geschlechtsmerkmale, also beispielsweise primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, „gender“ hingegen meint das soziale Geschlecht, die erworbene Geschlechtsrolle. Mit dieser Unterscheidung war intendiert, darauf hinzuwiesen, dass die vermeintlich eindeutigen körperlich-biologischen Differenzen zwischen Menschen nicht automatisch mit ihrem Verhalten oder mit ihrem Können verknüpft sind. Aus der Fähigkeit von Frauen, Kinder zu gebären, folgt nicht automatisch, dass sie deshalb für reproduktive Arbeiten zuständig sind, dass sie empathischer und liebevoller sind, dass sie diese Arbeiten tun und diese Empfindungen haben müssen. Auch die Ausstattung mit männlichen biologischen Merkmalen bedeutet nicht automatisch, stark und aggressiv zu sein und die Familienernährerrolle einzunehmen. Im Gegenteil: Dies sind zugeschriebene, von der Gesellschaft erwartete Rollen und Charaktermerkmale und die weiblichen und männlichen Geschlechtscharaktere sind in gesellschaftliche Strukturen (wie beispielsweise die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) eingeschrieben. Die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ ist also vornehmlich eine heuristische, die deutlich machen soll, dass Geschlechterbilder, Erwartungen und Zumutungen an Männer und Frauen nicht biologisch determiniert, sondern gesellschaftlich konstruiert und mithin veränderbar sind. Die Unterscheidung soll Frauen wie auch Männern die Möglichkeit (zurück-)geben, ihr Schicksal – d.h. ihre Lebensentwürfe – zumindest partiell selbst in die Hand zu nehmen. Die Philosophin Judith Butler kritisiert die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ und behauptet, dass auch biologische Unterscheidungen nicht eindeutig sind. Selbst mit modernsten technologischen Verfahren ist es der Biologie nicht gelungen, Männer und Frauen eindeutig zu bestimmen. Vielmehr sei die Vorstellung vom biologischen Geschlecht, so Butler, selbst sozial konstruiert und „performativ“ – sie wird durch soziale Praktiken dargestellt und hergestellt und ist in gewisser Weise veränderbar. Das heißt freilich nicht, dass die Individuen ihre körperlichen Merkmale frei wählen oder verändern könnten. Butlers Kritik will vielmehr darauf aufmerksam machen, dass die Bedeutsamkeit, die den biologischen Geschlechtsmerkmalen zukommt, gesellschaftlich hergestellt ist, weil körperliche Unterschiede erst durch soziale Prozesse Bedeutung erlangen. Daraus folgert Butler wie andere poststrukturalistische TheoretikerInnen, dass die Kategorien Geschlecht bzw. Frauen und Männer nicht als gegeben angenommen werden können: Männlichkeit und Weiblichkeit müssen stets hergestellt werden. Diese Kritik wurde von der „queer-theory“ weitergeführt: Dort wird insbesondere die automatische Verknüpfung von „sex“ bzw. „gender“ mit dem sexuellen Begehren und der sexuellen Orientierung kritisiert: Das Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit produzierte auch eines der „Zwangsheterosexualität“, das eine polymorphe sexuelle Orientierung der Menschen begrenzt. Geschlecht ist demnach nicht primär eine leibliche Seinsform, sondern das Wissen um körperliche Differenz, vor allem aber ein sozialer Modus, der aus leiblichen Differenzen Macht-
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und Herrschaftsverhältnisse macht. In den Worten des Soziologen Pierre Bourdieu: Soziale Verhältnisse schreiben sich in den Körper ein, die Unterscheidung in weiblich und männlich wird „somatisiert“ – ebenso wie die damit verbundene Hierarchisierung der beiden Geschlechter (Bourdieu 1997: 162). Der (vergeschlechtlichte) Körper ist eine „Gedächtnisstütze“ der sozialen Welt (ebd.: 170). Das Konzept der Geschlechterverhältnisse (s. Becker-Schmidt 1993) macht darauf aufmerksam, dass die Geschlechterzuschreibungen nicht einfach dezisionistisch, d.h. durch einen individuellen Entschluss veränderbar sind, sondern durch ein komplexes Gefüge sozialer Normen, Vorstellungen, Institutionen und Strukturen stabil abgesichert sind. Geschlecht wird in diesem Konzept dementsprechend als Strukturkategorie gefasst. Auch die kritische Männerforschung knüpft an die Vorstellung von Geschlecht als gesellschaftlichen Strukturzusammenhang an, dem Männer wie Frauen unterworfen sind. Das Konzept „Geschlechterverhältnisse“ wurde in Anlehnung an die marxistische Begrifflichkeit der Klassenverhältnisse formuliert. Damit soll dreierlei zum Ausdruck gebracht werden: erstens dass moderne Klassen- und Geschlechterverhältnisse zwar zeitgleich entstanden, nicht aber voneinander ableitbar sind; zweitens dass Geschlechterverhältnisse Herrschaftsverhältnisse sind und drittens dass Geschlechterverhältnisse eine objektive Struktur bilden, in der soziale Kräfte wirken. Die Geschlechterordnung gilt hier als eine historisch gewordene Form der Organisation, des Erlebens und der symbolischen Reproduktion von Gesellschaft und Politik, als ein „Grundmuster“, über das sich Gesellschaften reproduzieren. Um die verfestigte Struktur von Geschlecht zu bezeichnen, verwendet Robert W. Connell den Begriff des „Genderregimes“ (Connell 1990: 523). Gesellschaften seien durch je spezifische Geschlechterregimes gekennzeichnet, die die Reproduktion von sozialer Ungleichheit zwischen Mann und Frau ebenso organisieren wie die Zugänge zu politischer Macht. In der Frauen- und Geschlechterforschung entstanden im Laufe der vergangenen Dekaden unterschiedliche Theorien zur Erklärung der Bedeutung der Geschlechterdifferenz und damit verbunden auch unterschiedliche politische Strategien zur Überwindung der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit. Während der so genannte „Gleichheitsfeminismus“ vornehmlich die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern fordert, hebt der „Differenzfeminismus“ die angenommene Unterschiedlichkeit (und in manchen Varianten: die angenommene Höherwertigkeit von Frauen) hervor. Politisches Ziel ist die Anerkennung und Repräsentation des (auch biologisch verstandenen) Geschlechterunterschieds in sozialen und politischen Institutionen. Im Unterschied zum gleichheits- und differenzfeministischen Strang betont der poststrukturelle oder postmoderne Feminismus als Ziel die Überwindung der Geschlechterdifferenz bzw. ihre gesellschaftliche und politische Relativierung. Nicht nur die Differenz von Frauen und Männern sei politisch wichtig und handlungsbegründend (im Sinne einer Frauenbewegung), sondern auch Unterschiede zwischen Frauen – in kultureller, ethnischer, sexueller oder klassenspezifischer Hinsicht – sollen demnach politisches Gewicht erhalten. In jüngster Zeit entstand daraus das Konzept der „Intersektionalität“ unterschiedlicher sozialer Differenzstrukturen. Das Geschlecht ist nicht nur sozial und kulturell hergestellt, sondern darüber hinaus auch sozial und kulturell produktiv. Geschlecht bildet, so das Argument von symboltheoretisch argumentierenden WissenschaftlerInnen, eine „symbolische Struktur“, eine gesellschaftliche Markierung, mit deren Hilfe Personen als Repräsentanten bestimmter Kategorien verstanden werden. Die zweigeschlechtliche Ordnung gilt als ein zentrales kulturelles Konstitutionsprinzip, als „symbolischer Code und Organisationsprinzip der Kultur der Moderne“ (List 1993: 20)
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und mithin als ein Verfahren zur Herstellung von sozialer und auch politisch bedeutsamer Unterschiedlichkeit. Männlichkeit und Weiblichkeit sind so betrachtet Symbolkomplexe, die die individuelle, interpersonelle und gesellschaftliche Sinnhaftigkeit der Welt regeln, indem sie unterscheidende Bedeutungen, Orte, Zeitsysteme und Ressourcen zuteilen. Die Unterscheidung Mann/Frau ist verknüpft mit den Unterscheidungen oben/unten, wertvoll/wertlos, innen/außen oder Kultur/Natur, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. In gesellschaftstheoretischen Arbeiten wird Geschlecht als ein Prinzip gesellschaftlicher Gliederung und sozialer Schichtung betrachtet, als ein der Herstellung sozialer Ordnung zu Grunde liegendes Muster, das in gesellschaftliche Institutionen wie den Arbeitsmarkt, die Arbeitsteilung oder die Familie eingelassen ist und Hierarchien und Segregationen hervorbringt. Als soziales Gliederungsprinzip setzt das Geschlecht die beiden Genus-Gruppen Männer und Frauen durch „versachlichte(n) gesellschaftliche(n) Ordnungsprinzipien“ (Gesetz, Eigentum, Geburtenkontrolle) ebenso wie durch „persönliche(n) Beziehungen der Abhängigkeit und Anhänglichkeit“ in Unterordnungs- und Herrschaftsverhältnisse (Becker-Schmidt 1993: 44). Geschlecht wirkt damit als sozialer „Platzanweiser“ (Gildemeister/Wetterer 1992: 227). Die Auseinandersetzungen um die Kategorie Geschlecht rücken zudem das „relationale Moment“ der Geschlechter in den Blick: „Konturen“, so Regina Becker-Schmidt (1993: 37), „gewinnt die soziale Situation des weiblichen Geschlechts erst, wenn die Art und Weise untersucht wird, in der die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und dem männlichen Gegenpart in ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext geregelt sind“. Während der Begriff der Geschlechterbeziehung auf die persönliche Interaktion abhebt, soll das Geschlechterverhältnis gesellschaftliche Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen wie beispielsweise den ungleichen Zugang von Frauen und Männern zu ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Ressourcen bezeichnen. Ein weiterer Debattenstrang weist darauf hin, dass Geschlecht auch eine subjektive Handlungsdimension besitzt, deren Produktivität in einer bloß strukturbezogenen Debatte über äußere Herrschaftsstrukturen vernachlässigt wird. Es muss demnach davon ausgegangen werden, dass Frauen ihren untergeordneten Status gleichsam verinnerlicht haben und ihn durch ihr Tun reproduzieren. Christina Thürmer-Rohr prägte hierfür den Begriff der „Mittäterschaft“ (Thürmer-Rohr 1989). Auch Männlichkeit ist zu einer subjektiven, verinnerlichten Dimension geworden, die an maskuline Strukturen anschließbar ist. Der ethnomethodologische Erklärungsansatz, der die Handlungsdimension von Geschlecht stark macht und den Anteil der Individuen bei der Hervorbringung sozialer Wirklichkeit betont, geht davon aus, dass Individuen ihre Geschlechtszugehörigkeit situativ je neu erzeugen. „Doing gender“ wird dieses Verfahren genannt, in dem Geschlecht als eine „interaktive und situative Bewerkstelligung“ zwischen Menschen begriffen wird (Kersten 1999: 83). Dieser handlungstheoretischen Ausrichtung der Erklärung von Dominanz zwischen den Geschlechtern fehlt allerdings, so zahlreiche Einwände, die Dimension institutioneller Verhärtung und Strukturiertheit von Geschlechterverhältnissen. Das Bourdieu’sche Habituskonzept ist ein Versuch, die Handlungs- und Strukturdimension systematisch miteinander zu verbinden. Der Habitus ist ein „System dauerhafter Dispositionen“, ein Orientierungssinn, der der Reflexion weitgehend entzogen ist. „Die soziale Welt“ prägt ein geschlechterhierarchisches „Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprogramm“ in den Körper ein, und dieses so vermittelte Weltverhältnis bringt die Beherrschten dazu, an ihrer eigenen Unterdrückung mitzuwirken (Bourdieu 1997: 168).
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Konstruktivistische Konzeptionen von Geschlecht verweisen auf die Subjekte, die sich das Wissen über Differenz je neu aneignen müssen. Sie heben zudem auf Strukturen von Wissen und Interpretationen ab, die dem unmittelbaren Zugriff der Subjekte zwar entzogen sind, die diese aber dennoch immer wieder reproduzieren. Andrea Maihofer (1995) begreift das Geschlecht als einen „hegemonialen Diskurs“ und als „gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise“. Damit meint sie, dass das Geschlecht in produktiven diskursiven Praxen hervorgebracht wird, dass Geschlecht aber auch eine „historisch entstandene, körperliche und seelische Realität und Materialität‘“ besitzt. Geschlecht, so lässt sich zusammenfassen, ist ein machtvoller Körperdiskurs, der biologistische Sinnzuschreibungen, Unter- und Überordnungsarrangements sowie Versämtlichungsprozeduren („die“ Frauen oder „die“ Männer) zum weitgehend unhinterfragten Common sense macht – also hegemonial werden lässt. Diese möglicherweise recht divergent erscheinenden Debattenstränge lassen sich in den folgenden drei Aspekten von „Geschlecht als Strukturkategorie“ zusammenführen: zum einen im Aspekt der in Strukturen geronnenen Zweigeschlechtlichkeit – die Geschlechterverhältnisse, zum anderen im Aspekt der permanenten Produktion und Reproduktion, der diskursiven Herstellung von Geschlechtlichkeit. In beiden Aspekten realisiert sich ein dritter, der symbolische Aspekt (oder die Bedeutung). Geschlecht ist somit ein imprägniertes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von Individuen, d.h. eine strukturierende Struktur, aber auch ein verfestigtes Muster, d.h. die in Strukturen geronnene Zweigeschlechtlichkeit, die Handeln präformiert, die strukturierte Struktur. Geschlecht bezeichnet mithin ein gesamtgesellschaftliches Netzwerk geregelter, sich wiederholender Interaktionsformen, die spezifische Werte, Normen, Verhaltens- und Handlungsmodi umfassen. Diese konstituieren ein Herrschaftssystem, das das Geschlechterverhältnis als hierarchisches begründet – und zwar sowohl in der sozialen Organisation von Sexualität und Reproduktion, im Bereich der Arbeitsteilung, im Bereich politischer Macht wie auch auf der Ebene der kulturellen Ordnung (Scott 1994). Inzwischen wurde die Gender-Frage zu einem politischen Programm: Gender Mainstreaming, die Idee, die Geschlechterdifferenz zur Grundlage aller Politiken, aller politischen Entscheidungen und Programme zu machen, ist Teil der EU-Politik und mithin verpflichtendes – wenn auch „softes“ – Regelwerk für alle EU-Mitgliedstaaten. Für eine Gruppe von Geschlechterforscherinnen ist dies ein Grund mehr, sich Geschlechterfragen zu widmen und Ausweis der Legitimität und Wichtigkeit von Geschlechterforschung. Für eine andere Gruppe ist dies freilich auch ein Anlass zu überlegen, ob mit dem Mainstreaming-Anspruch nicht das herrschaftskritische Moment der Gender-Studies verloren geht. Egal, wie die politische Strategie nun jeweils eingeschätzt wird, deutlich ist, dass sozialwissenschaftliche Forschung – will sie gesellschaftliche Relevanz haben – um die Integration des Geschlechteraspekts nicht länger herum kommt.
Literatur Becker-Schmidt, Regina (1993): Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: soziale Dimensionen des Begriffs „Geschlecht“. In: Zeitschrift für Frauenforschung, H. 1 + 2, S. 37–46. Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, I./Krais, B. (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis. Frankfurt/M. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. Connell, Robert W. (1990): The State, Gender, and Sexual Politics. Theory and Appraisal. In: Theory and Society, H. 5, S. 507–544.
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Gesellschaft und Gemeinschaft
Albert Scherr Gesellschaft – das ist ein grundlegender und unverzichtbarer, aber schwer zu fassender soziologischer Grundbegriff. Zwar ist es auch in der Alltagssprache üblich, von „der Gesellschaft“ zu sprechen, wenn die politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen, medialen oder religiösen Zusammenhänge benannt werden sollen, in denen die eigene Lebenspraxis situiert ist. Dies geht gewöhnlich mit der Annahme einher, dass Gesellschaften Gebilde sind, deren Ausdehnung der von Nationalstaaten entspricht, dass aber „die Gesellschaft“ nicht mit der staatlich-politischen Ordnung identisch ist, sondern auch Wirtschaft, Recht, Kultur usw. mit umfasst. Damit ist der Gesellschaftsbegriff jedoch keineswegs hinreichend geklärt. Für eine erste Annäherung an soziologische Gesellschaftsbegriffe ist es hilfreich davon auszugehen, dass mit diesen auf einen nicht zufälligen und nicht beliebigen Zusammenhang von Verflechtungen, Abhängigkeiten und wechselseitigen Einflussnahmen hingewiesen wird, in denen unterschiedliche Teilbereiche des Sozialen zueinander stehen: also u.a. Politik, Wirtschaft, Recht, Massenmedien, Sport, Kunst, Religion und Alltagsleben, aber auch die schulische und außerschulische Pädagogik. In soziologischen Gesellschaftstheorien werden darüber hinaus Annahmen darüber formuliert, welche Merkmale für einen bestimmten Gesellschaftstypus (etwa: Stammesgesellschaften im Unterschied zu staatlich organisierten Gesellschaften; Industriegesellschaften im Unterschied zu Agrargesellschaften; kapitalistische Gesellschaften im Unterschied zu staatssozialistischen Gesellschaften) insgesamt bestimmend sind. In soziologische Gesellschaftsbegriffe gehen zudem Überlegungen über die Abhängigkeit der Individuen von gesellschaftlichen Zusammenhängen und die Beeinflussung ihres Erlebens, Denkens und Handelns durch die jeweiligen gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein. Dies betrifft die Unterscheidung Individuum/Gesellschaft selbst. So argumentiert bereits Karl Marx, dass die Vorstellung, Individuen seien voneinander unabhängige Einzelne, die nur zu bestimmten Zwecken zueinander in Beziehung treten, selbst Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung sei, in der sich der gesellschaftliche Zusammenhang über Marktbeziehungen zwischen Individuen als Waren- und Geldbesitzern herstellt. Gesellschaften sind aber keineswegs auf direkte persönliche Beziehungen zwischen Individuen reduzierbar und auch keine auf geteilten Erfahrungen, Praktiken, Überzeugungen, Normen oder Werten beruhende Gruppen oder Gemeinschaften. Entsprechend wird bei Max Weber (1922/1972: 21f.) zwischen „Vergesellschaftung“ und „Vergemeinschaftung“ als heterogenen Formen sozialer Beziehungen unterschieden. Vergemeinschaftung beruht Weber zufolge auf „subjektiv gefühlter ... Zusammengehörigkeit der Beteiligten“, Gesellschaft auf der Verknüpfung von Interessen. Mit dieser Unterscheidung greift Weber auf die klassisch bei Ferdinand Tönnies formulierte und in problematischer Weise als Bestimmung zweier grundlegender und gegensätzlicher Formen sozialer Beziehung gefasste Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft zurück. Unter Gemeinschaften (z.B. Familien, Verwandtschaften) werden solche sozialen Beziehungen verstanden, denen Einzelne sich zugehörig fühlen und in die sie sich quasi selbstverständ-
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lich einordnen. Als Gesellschaft gelten bei Tönnies dagegen Zusammenschlüsse, auf die sich Individuen zur Erreichung bestimmter Zwecke zusammenschließen: „In Gemeinschaft mit den seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde“ (ebd.: 3). Die „Sphäre des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens“ wird von ihm „als den Frauen vorzüglich angemessen“ betrachtet (ebd.: 135), die Sphäre des Gesellschaftlichen – des Individualismus, der Verträge, der Konkurrenz – wird dagegen den Männern zugewiesen. Problematisch hieran sind nicht nur die offenkundigen geschlechtsbezogenen Stereotypen, sondern zum einen die Vorstellung, dass die sog. gemeinschaftlichen Beziehungen eine vor- und außergesellschaftliche Sphäre bilden, die in ihrer Struktur nicht selbst von gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken beeinflusst ist. Zum anderen wird die angenommene quasi-natürliche Zugehörigkeit des Individuums zur Gemeinschaft bei Tönnies nicht – etwa als Einschränkung von Individualität – problematisiert, obwohl Tönnies politisch ein erklärter Gegner der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie war. Gleichwohl ist die analytische Differenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht verzichtbar. Denn soziale Beziehungen, die nicht zureichend als zweckrationale Zusammenschlüsse verstanden werden können, sondern u.a. auf Zusammengehörigkeitsgefühlen von Individuen beruhen, die sich kennen und in direktem Kontakt zueinander stehen (wie Freundschaften, Liebesbeziehungen, Gleichaltrigengruppen), sind von Formen der ökonomischen, rechtlichen und politischen Vergesellschaftung, die einander unbekannte Individuen einbeziehen, zu unterscheiden: Ein gesellschaftlicher, etwa wirtschaftlicher oder politischer Zusammenhang (im Sinne von Verflechtungen, Abhängigkeiten und Einflussnahmen) besteht auch zwischen Individuen, die sich nicht kennen und die nicht direkt zueinander in Beziehung treten und die keine emotionalen Bindungen zueinander haben. Solche Zusammenhänge stellen sich, etwa als wirtschaftliche Austauschbeziehungen, als politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse, als Aneignung wissenschaftlichen Wissens oder als Teilnahme an massenmedialer Kommunikation, über gesellschaftliche Kommunikationsmedien (nicht zuletzt: Geld) sowie Kommunikations-, Austausch- und Kooperationsstrukturen her, die es ermöglichen, zeitliche und räumliche Distanzen zu überbrücken. So werden z.B. politische Entscheidungen in Gesetzestexte übersetzt, an denen sich dann die Entscheidungen von Gerichten im Fall von Familienstreitigkeiten orientieren, und wirtschaftliche Entwicklungen haben Auswirkungen auf staatliche Steuereinnahmen und diese wiederum auf die Personalausstattung pädagogischer Einrichtungen. Wissenschaftliche Kommunikation wird in Büchern niedergeschrieben, deren Lektüre durch Hochschulen veranlasst wird, was Auswirkungen auf das spätere berufliche Handeln von Studierenden haben kann. Gesellschaft ist auch nicht zureichend als Beziehungsgeflecht zwischen Individuen beschreibbar. Denn an gesellschaftlichen Prozessen sind nicht nur Individuen, sondern auch andere Akteure, nicht zuletzt Organisationen, beteiligt. Individuen sind zudem auch nicht einfach Teil der Gesellschaft. Denn das individuelle Erleben und Denken ist kein direkter Effekt gesellschaftlicher Einflüsse, noch geht es umfassend in soziale Prozesse ein. Entsprechende Überlegungen haben in der Soziologie die Entwicklung von Gesellschaftsbegriffen veranlasst, die nicht von Individuen, sondern von Produktivkräften, Produktionsverhältnissen und Klassen (so bei Karl Marx) oder von Sinn, Kommunikation und sozialen Systemen als Grundbegriffen der Gesellschaftsanalyse (so die neuere Systemtheorie) ausgehen. Im Sinne einer formalen Definition kann unter Gesellschaft das komplexe Geflecht der Beziehungen zwischen sozialen Ereignissen und Teilbereichen verstanden werden. Entsprechend
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nahm Georg Simmel an, dass „Gesellschaft ... da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten“ (Simmel 1908/1968: 4) und sieht die Aufgabe der Soziologie darin, „diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung“ zu untersuchen (ebd.: 6). Gegen Varianten einer solchen Definition hat Theodor W. Adorno (1972: 10) eingewandt, dass damit unterstellt wird, „dass die Gesellschaft eine von Menschen, dass sie menschlich sei“. Demgegenüber besteht seines Erachtens „das spezifische Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen“. Diese Formulierung ist Ausdruck eines Gesellschaftsverständnisses, das in Anschluss an die Marx’sche Kapitalismustheorie (s.u.) davon ausgeht, dass gesellschaftliche Verhältnisse historisch entstandene Festlegungen beinhalten, denen alle in einen gesellschaftlichen Zusammenhang einbezogenen Individuen unterliegen und keineswegs als Ergebnis von Entscheidungen verständlich sind, die von Einzelnen oder Gruppen getroffen und durchgesetzt wurden. Auch in einer der aktuell einflussreichsten soziologischen Theorien, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, wird die Vorstellung, „dass eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und den Beziehungen zwischen Menschen besteht“, als eine „Erkenntnisblockierung“ qualifiziert (Luhmann 1997: 24). Dies gilt Luhmann zufolge auch für die Annahme, „dass Gesellschaften territorial begrenzte Einheiten seien“ (ebd.: 25). Unter Gesellschaft wird dort das umfassende soziale System verstanden, das alle aufeinander bezogenen sozialen (nicht natürlichen und nicht psychischen) Ereignisse einschließt. Die Bedeutung der Soziologie für die pädagogische Theorie und Praxis kann vor diesem Hintergrund darin gesehen werden, dass Soziologie über die gesellschaftlichen Bedingungen, Formen und Folgen von Pädagogik informiert. Denn pädagogische Theorie und Praxis ist von den Strukturen und Dynamiken, die einen jeweiligen Gesellschaftstypus charakterisieren, nicht unabhängig, sondern mit diesen in vielfältiger Weise verschränkt und durch diese beeinflusst. Erziehung und Bildung sind immer als Praktiken im Kontext eines bestimmten Gesellschaftstypus zu analysieren. Dies wird schon daran deutlich, dass die Etablierung von Schulen in staatlicher Regie und die Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht für solche Gesellschaften kennzeichnend ist, die seit der industriellen Revolution entstanden sind und in denen sich Nationalstaaten herausgebildet haben. Auch die Entwicklung der außerschulischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist nur als eine Reaktion auf die Lebensbedingungen der Arbeiter und der Armutsbevölkerung in (post-)industriellen Gesellschaften verständlich. Weiter weisen auch aktuelle bildungs- und erziehungssoziologische Studien auf den engen Zusammenhang der Strukturen des Bildungssystems mit sozioökonomischen Ungleichheiten hin – die wirtschaftliche Situation von Familien, die Ausbildung und die berufliche Position der Eltern haben erhebliche Auswirkungen auf den Schulerfolg, die Berufs- und Studienwahl der Kinder. Zielsetzungen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Pädagogik sind aber nicht „nur“ von den ökonomischen, politischen und rechtlichen Verhältnissen beeinflusst, die eine jeweilige Gesellschaft kennzeichnen. Vorstellungen über Methoden und Ziele pädagogischen Handelns, über angemessenes und problematisches Handeln von Kindern und Jugendlichen usw. werden zudem von Pädagogen auf der Grundlage des Wissens, der Normen und Werte formuliert, die gesellschaftlich verfügbar bzw. einflussreich sind. Darüber hinaus sind Pädagogen veranlasst, Vorstellungen über die gesellschaftliche Wirklichkeit zu entwickeln – sowohl im Hinblick auf den Einfluss der aktuellen Lebensbedingungen ihrer Adressaten auf die pädagogische Praxis, als auch in Bezug auf das, was Kinder und Jugendliche lernen sollen, um gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Hieraus folgt nun jedoch nicht zwingend, dass Pädagogen
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sich für soziologische Gesellschaftstheorien interessieren; faktisch können sie ihre Annahmen über „die Gesellschaft“ auch aus ihrem Alltagswissen und dem Informationsangebot der Massenmedien ableiten. Soziologie und andere sozialwissenschaftliche Disziplinen stellen im Unterschied hierzu zum einen ein differenziertes, in vielfältigen empirischen Studien fundiertes Wissen über die gesellschaftliche Wirklichkeit zur Verfügung – so etwa über die Entwicklung des Arbeitsmarktes, der Einkommensverhältnisse und der Arbeitslosigkeit, des Medienangebots und des Medienkonsums, über die Situation von Familien, die Stile und die Verbreitung jugendlicher Subkulturen, politische Einstellungen von Jugendlichen und Erwachsenen usw. Über entsprechende Informationen und die Formulierung von auf diese und andere Aspekte bezogene Theorien der speziellen Soziologie (etwa: Familiensoziologie, Jugendsoziologie, Kriminalsoziologie) hinausgehend werden in der Soziologie zweitens Gesellschaftsdiagnosen formuliert, die bedeutsame Entwicklungstendenzen behaupten. So wird die Gegenwartsgesellschaft in soziologischen Diagnosen u.a. als Risikogesellschaft, als individualisierte Gesellschaft, als Erlebnisgesellschaft, als Multioptionsgesellschaft, als Mediengesellschaft oder als Wissensgesellschaft bezeichnet (s. dazu Schimank/Volkmann 2000 und 2002). Drittens sind in der Soziologie – von solchen Gegenwartsdiagnosen und Tendenzbeschreibungen zu unterscheidende – Gesellschaftstheorien entwickelt worden. D.h.: Theorien, die darauf zielen, die Strukturen und Dynamiken zu beschreiben, die nicht nur für einzelne Teilbereiche, sondern für einen Gesellschaftstypus insgesamt charakteristisch sind. Klassischer und bis heute bedeutsamer Ausgangspunkt der unterschiedlichen Versuche zur Formulierung einer umfassenden soziologischen Gesellschaftstheorie ist die Marx’sche Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung. Dort wird angenommen, dass die Strukturmerkmale der kapitalistischen Ökonomie (u.a. Verwandlung von Lebensmitteln, Boden und Arbeitsvermögen in Waren, die auf Märkten gehandelt werden; Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz der Einzelkapitale, Profitmaximierung als zentrales Motiv wirtschaftlichen Handelns, Herstellung eines Weltmarktes für Waren und Arbeitskräfte, Lohnabhängigkeit der Bevölkerungsmehrheit, ungleiche Lebensbedingungen der sozialen Klassen und Klassenkonflikte) von entscheidender Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Struktur und Dynamik sind. In kapitalistischen Gesellschaften herrscht, folgt man der Marx’schen Theorie, ein Primat der Ökonomie gegenüber Politik, Recht und Kultur. Entsprechend wird die Ursache der enormen Veränderungsdynamik der Gesellschaft darin gesehen, dass die Strukturen der Ökonomie eine permanente Bemühung um die Erschließung neuer Märkte, die Erfindung neuer Produkte, kostengünstigere Produktion durch den Einsatz neuer Technologien und die optimale Ausnutzung der Arbeitskräfte erzwingen. Politik und Recht werden zentral daraufhin untersucht, dass und wie sie zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beitragen; die Lebenssituation von Individuen und sozialen Gruppen wird in der (neo-)marxistischen Soziologie im Hinblick auf ihre Abhängigkeit und Beeinflussung durch jeweilige wirtschaftliche Existenzbedingungen in den Blick genommen. In Anknüpfung an die bzw. in kritischer Auseinandersetzung mit der Marx’schen Kapitalismustheorie sind in der Soziologie unterschiedliche Varianten von Theorien entwickelt worden, die als Theorien der Moderne bezeichnet werden können. Als Autoren klassischer nichtmarxistischer Gesellschaftstheorien sind vor allem Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber sowie daran anschließend Talcott Parsons zu nennen. Bei allen weitreichenden Unterschieden zwischen diesen Theorien, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, kann eine Gemeinsamkeit darin gesehen worden, dass sie sich gegen ein Gesellschaftsverständnis
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abgrenzen, das in der Ökonomie die für die Struktur und gesellschaftliche Entwicklung dominante Instanz sieht. So fasst Max Weber den Prozess der Differenzierung und Rationalisierung als charakteristisches Merkmal moderner Gesellschaften. Zwar bezeichnet auch Weber das kapitalistische Wirtschaftssystem als die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“ (Weber 1920/1972: 12) und sieht in der Etablierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eine Ursache der Durchsetzung „der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung“ bzw. einer „wirtschaftlich rationalen Lebensführung“ (ebd.: 21). Weber lehnt jedoch die Vorstellung einer einseitigen Determination der Kultur durch das Wirtschaftssystem ab und sieht im Auseinandertreten unterschiedlicher kultureller Wertsphären (Religion, Moral, Recht, Kunst, Wissenschaft usw.), die nicht mehr einem einheitlichen religiösen Weltbild untergeordnet sind, ein zentrales Merkmal der modernen Gesellschaft. An die Stelle magischer und religiöser Vorstellungen tritt in diesen Teilbereichen eine je besondere Ausprägung des „Rationalismus der okzidentalen Kultur“, der auf rationale Berechnung und Gestaltung ausgerichtet ist. Moderne Pädagogik im Sinne Max Webers wäre also eine Pädagogik, die um rationale (wissenschaftliche) Begründungen ihrer Mittel und Ziele bemüht ist. Im Unterschied zu Theorien, die Auseinandersetzung, Konflikte, Widersprüche und Veränderungen als Grundmerkmal von Gesellschaft annehmen, postulierte Talcott Parsons in seinem einflussreichen Versuch der Formulierung einer umfassenden nicht-marxistischen Gesellschaftstheorie, seiner Systemtheorie moderner Gesellschaften (Parsons 1972: 125), die Notwendigkeit der „Normenerhaltung“ bzw. eines „Moral- und Wertekonsenses“ als Bedingungen der Möglichkeit der Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung. Ein solches Gesellschaftsverständnis impliziert eine bestimmte Aufgabenzuweisung an Pädagogik: Als Aufgabe von Pädagogik wird, und dies wird in unterschiedlichen älteren soziologischen Theorien explizit so gefasst, zentral die Vermittlung bestandswichtiger Normen und Werte der Gesellschaft an die nachwachsenden Generationen verstanden. Diese – oft auch ohne theoretische Bezüge und Begründungen in Anspruch genommene – Sichtweise wirft jedoch zwei grundlegende Probleme auf: Sie blendet erstens aus, dass gegenwärtige kulturell pluralisierte Gesellschaften jenseits der Festlegungen des Rechts keine einheitliche Werte- und Normenordnung erzwingen, sondern heterogene politische, religiöse, teil- und subkulturelle Vorstellungen darüber zulassen bzw. ermöglichen, was sozial zulässig und anstrebenswert ist. Zweitens blendet sie aus, dass ein Wandel von Werten und Normen keineswegs notwendig als Bedrohung der sozialen Ordnung zu bewerten ist, sondern auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Lernprozesses (etwa: vom Patriarchat zur Idee der Gleichberechtigung) sein kann. In der bereits erwähnten Systemtheorie Niklas Luhmanns wird dagegen auf die Annahme eines übergreifenden und einheitlichen gesellschaftlichen Werte- und Normengefüges verzichtet. Damit wird akzentuiert, dass die moderne Gesellschaft nicht als Gemeinschaft verfasst ist und dass gerade dies erhebliche Freiheitsgrade der individuellen Lebensführung ermöglicht. Gesellschaft wird als ein Funktionszusammenhang von Teilsystemen (Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Gesundheitssystem, Massenmedien usw.) analysiert, die in wechselseitiger Abhängigkeit eigengesetzlich operieren und deren Organisationen (Betriebe, Parteien, Krankenhäuser usw.) nach je eigenen Kriterien über die Mitgliedschaft von Individuen und den Zugang zu ihren Leistungen entscheiden. Professionelle Pädagogik hat ihren gesellschaftlichen Ort in einem eigenständigen Teilsystem, an das Erwartungen aus anderen Teilsystemen gerichtet werden (insbesondere: Selektion für weitere Karrieren). Auf diese reagiert das Erziehungssystem auf der Grundlage eigener Prinzipien (Codes und Programme). Keinem dieser
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Teilsysteme, weder dem politischen System noch dem Wirtschaftssystem, kommt in der Perspektive der Luhmann’schen Systemtheorie eine Leitposition für die gesellschaftliche Entwicklung zu. Sind die Gesellschaftsbegriffe der Soziologie selbst problematisch und kann mit Gewinn auf den Gesellschaftsbegriff verzichtet werden? Diese Frage wird inzwischen im Kontext der sog. poststrukturalistischen Soziologien (s. Stäheli 2000) aufgeworfen. In den Blick gerückt wird damit u.a., dass politische Programme und ökonomische Prozesse, die auf die Herstellung einer umfassenden Ordnung des Sozialen ausgerichtet sind, dazu tendieren, Konflikte und Differenzen zu unterdrücken, die sich in das Bild einer solchen Ordnung nicht einfügen. Soziologische Theorien operieren, was hier nur grob skizziert werden konnte, mit heterogenen Fassungen des Gesellschaftsbegriffs sowie Annahmen über Strukturmerkmale und Entwicklungsdynamiken der Gegenwartsgesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit diesen Theorien hat keinen unmittelbaren Nutzen für berufliches Handeln; sie kann aber zu einer Fundierung und Differenzierung des Nachdenkens über die gesellschaftlichen Kontexte pädagogischer Praxis beitragen – etwa zu einer kritischen Prüfung der gesellschaftlichen Problematik und der pädagogischen Bedeutung vor Werten und Normen oder zu einer Analyse ihrer ökonomischen, politischen und ideologischen Verflechtungen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1972): Gesellschaft. In: Ders.: Soziologische Schriften I. Frankfurt/M., S. 9–19. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. Ritsert, Jürgen (1988): Der Kampf um das Surplusprodukt. Einführung in den klassischen Klassenbegriff. Frankfurt/M./New York. Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.) (2000): Soziologische Gesellschaftsdiagnose I. Opladen. Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (Hg.) (2002): Soziologische Gesellschaftsdiagnose II. Opladen. Simmel, Georg (1908/1968): Soziologie. Berlin. Stäheli, Urs (2000): Poststrukturalistische Soziologie. Bielefeld. Tönnies, Ferdinand (1887/1979): Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt. Weber, Max (1920/1972): Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung. Tübingen. Weber, Max (1922/1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.
Gruppen
Cornelia Mansfeld „Gruppe“ ist ein Grundbegriff der Soziologie. Damit werden die verschiedenen Orte der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft bezeichnet, wie z.B. Schulklassen, Familien, Arbeitsteams. In Gruppen eignen die Einzelnen sich auch für das Leben in sonstigen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutsame Fähigkeiten an und praktizieren diese. Ein theoretisch und empirisch fundiertes Verständnis von Gruppen ist deshalb auch für die pädagogische Praxis von Bedeutung. In der Soziologie werden Gruppen als ein Ort der Vergesellschaftung in den Blick genommen. Vergesellschaftung beinhaltet in Hinblick auf die Analyse von Gruppenprozessen zwei Ebenen. Einerseits geht es um soziale Normierung, was auf die einzelne Person bezogen bedeutet, dass von ihr Anpassung an gesellschaftliche Normen erwartet wird. Andererseits geht es um soziale Differenzierung, was für das Individuum die Herausforderung beinhaltet, seine Besonderheit, seine Ich-Identität zu entwickeln. Versuche, Gruppe zu definieren, begannen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert als eher beschreibendes Herangehen mit Versuchen einer theoretischen Bestimmung, während in den 40er und 50er Jahren empirische Untersuchungen besonders mit Kleingruppen zu differenzierteren Ergebnissen führten. Aus diesen Arbeiten entstand eine Begrifflichkeit, die man im soziologischen Diskurs als verbindlich ansehen kann: Als eine Gruppe wird eine Anzahl von Menschen (3 – 30) angesehen, die miteinander verbunden sind über ein gemeinsames Ziel, über Interaktion und Kommunikation, und die auf diese Weise ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Wir-Gefühl, entwickeln. Sie teilen gemeinsame Normen und Ziele. Beispiele für solche Gruppen sind ein Arbeitsteam, ein Vereinsvorstand, eine Fußballmannschaft, ein Kollegium, eine Schulklasse, die AnhängerInnen einer bestimmten Jugendkultur in einer Klasse, ein sich regelmäßig treffender Freundinnenkreis. Diese Form der Gruppe wurde in der frühen Forschung als Kleingruppe bezeichnet, während Gruppen von 25 bis ca. 1.000 als Großgruppen angesehen wurden. Empirische Forschung bezog sich jedoch in der Regel auf Kleingruppen, so dass der Begriff Gruppe inzwischen im Wesentlichen für Kleingruppen genutzt wird. Innerhalb der Gruppensoziologie wurden verschiedene begriffliche Differenzierungen entwickelt: Besondere Bedeutung wird der Primärgruppe beigemessen. Es handelt sich dabei um Gruppen, in die die Individuen hineinwachsen und in denen sie umfassende und einflussreiche Erfahrungen mit den Gestaltungen sozialen Lebens zu machen. Die Kontakte in diesen Gruppen geschehen direkt von Person zu Person und finden kontinuierlich statt. Die Individuen erleben in Primärgruppen Formungen, die die Übernahme von Werten und Normen der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Milieus sowie die Entwicklung von Ich-Identität betreffen. Beispiele von Primärgruppen sind insbesondere Familien, die Freundschaftsgruppen der Gleichaltrigen sowie die Nachbarschaft, in der ein Mensch lebt.
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Die Familie als Primärgruppe verfügt über mehrere Besonderheiten, die sie von anderen Gruppen unterscheidet: In ihr leben typischerweise zwei Geschlechter und zwei Generationen zusammen. Sie hat eine vorgegebene Struktur, die sich z.B. in der Verteilung von Autorität zeigt und die in der klassischen Gruppensoziologie patriarchal gedacht wird, sowie ein häufig über mehrere Generationen tradiertes Wertesystem. Sie ist der Ort, so wird vermutet, wo gesellschaftliche Normen am explizitesten weitergegeben werden. Die Familie ist durch eine enge unmittelbare Beziehung der Mitglieder gekennzeichnet und ausgewiesen durch die Dauerhaftigkeit ihres Zusammenhaltes, durch die geringe Zahl von beteiligten Personen und deren besondere Intimität. Entsprechend werden die Mitglieder von Familien (und auch anderen Primärgruppen) als Individuen und nicht als FunktionsträgerInnen in ihren Gruppen angesehen. Damit bieten Familien, wie Primärgruppen überhaupt, die Möglichkeit von spontanen, dichten und die ganze Person berücksichtigenden, nicht bloß funktionalen Sozialbeziehungen. Sie entlasten von Ansprüchen, wie sie Personen in Sekundärgruppen erleben, in denen Rollen und Funktionen erfüllt werden müssen. Während die Familie als Primärgruppe generationenübergreifend strukturiert ist, besteht die Gruppe der Peers aus einem Zusammenhang von Gleichgesinnten und Gleichaltrigen. Sie werden der Definition nach wegen der sehr nahen Beziehungen als Primärgruppe angesehen, jedoch in der Gruppensoziologie gesondert betrachtet. Peer-Gruppen haben wie Familien eine sozialisatorische Funktion, die jedoch innerhalb einer Generation realisiert wird. Die Kommunikation in Peer-Gruppen ist insbesondere von Aushandlungsprozessen geprägt, die Kinder und Jugendliche miteinander gestalten. Auf diese Weise werden in Peer-Gruppen Rollen eingeübt, wobei sich die Jugendlichen auch mit diesen und ihrer Übernahme auseinandersetzen. Durch die Entwicklung von Gruppennormen unterstützt die Gruppe der Gleichen und Gleichaltrigen auch die Entwicklung der Identität ihrer Mitglieder. Aus der Industrie- und Organisationssoziologie stammt eine weitere Differenzierung des Begriffs der Gruppe. Hier wird unterschieden zwischen formellen und informellen Gruppen. Ihren Ausgang nahm diese Differenzierung in Untersuchungen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA durchgeführt wurden, um Industriearbeit effektiver zu gestalten. Dabei wurde festgestellt, dass in der Organisation von Arbeit nicht nur die formale Gruppenstruktur von Bedeutung ist, sondern für das Arbeitsergebnis die Möglichkeit zur sozialen Interaktion entscheidender ist, also der informelle Zusammenhang der Arbeitsgruppe. Im Folgenden setzte sich der Begriff der formellen Gruppe durch, um den Vorrang von sachlich-instrumentellen Beziehungen in der Gruppe zu kennzeichnen, während der Begriff informelle Gruppe auf eine Dominanz der persönlich-emotionalen Interaktion hinweist.
Kritische Bewertung gruppensoziologischer Forschung An der soziologischen Gruppenforschung ist auffällig, dass sie Gruppen beschreibt, als seien sie ahistorische und deshalb über jeden sozialen Wandel erhabene Gefüge. Dies gilt insbesondere, wenn die Familie als Primärgruppe betrachtet wird. Gruppen werden zudem immer wieder als harmonische Gebilde dargestellt, in denen Konflikte ebenso wenig eine Rolle zu spielen scheinen wie Herrschaftsformen. In der Gruppensoziologie wird die Gruppe als Ort der Vergesellschaftung zwar behauptet, aber nicht deutlich. Die westlichen Gesellschaften, auf die sich soziologische Gruppenforschung in der Regel bezieht, sind widersprüchlich und durch soziale Ungleichheiten gekenn-
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zeichnet. Sie versprechen zwar die Gleichheit ihrer Mitglieder – Frauen und Männer, Arme und Reiche, Menschen verschiedener Herkunft –, können sie aber nur in Ansätzen verwirklichen. Dies bedeutet, dass ein Vergesellschaftungsprozess, wie er in Gruppen als Anpassungsprozess an die Gesellschaft stattfindet, ein hochkomplexes Unterfangen ist. Es kann nicht – wie es in der Gruppensoziologie häufig geschieht – als einfacher Identifikationsprozess mit der Gesellschaft beschrieben werden, sondern muss in den Blick nehmen, wie Menschen sich über Gruppen in Gesellschaften integrieren, die wegen ihrer Struktur von ihren Mitgliedern den Umgang mit Widersprüchen und Ambivalenzen verlangen. Wenn beispielsweise in Primärgruppen besondere Intimität und das Zulassen von Besonderheit möglich sein sollen, aber ebenso die Identifikation mit gesellschaftlichen Normen stattfinden soll, dann ist zu fragen, wann was in den Vordergrund rückt, wann also Kontrolle und wann eher Freiheit vorherrschen, wann sich dieser Widerspruch als Konflikt zeigt und von welchen Kontexten dies jeweils abhängig ist. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Gruppensoziologie eher mit Klassifizierungen von Gruppenformen beschäftigt, aber vernachlässigt, wie tatsächlich Vermittlungsprozesse zwischen Individuen und Gesellschaft verlaufen. Ein weiteres Problem der Gruppensoziologie ist, dass der Begriff der Gruppe etwas Zufälliges darstellt, weil er aus der Alltagssprache entnommen ist. Eine Analyse gesellschaftlicher Phänomene, in die man selbst involviert ist – wir alle sind Mitglieder von Gruppen –, ist jedoch nur möglich, wenn man Distanz zu diesen Phänomenen gewinnt. Ein Schritt zu einer solchen Distanzierung ist, die sozialen Phänomene nicht mit Alltagsbegriffen zu bezeichnen. Da in der Gruppensoziologie mit einem Alltagsbegriff gearbeitet wird, bleibt sie nicht nur in einer beschreibend-klassifizierenden Sicht stecken, sondern idealisiert noch bestimmte Aspekte, anstatt analysierend die tatsächlich in Gruppen stattfindenden Vergesellschaftungsprozesse mit ihren notwendigen Widersprüchen zu durchdringen. Veränderungsprozesse, die mit sozialem Wandel einhergehen, können so nicht erfasst werden. Mit einem Begriff von Pierre Bourdieu kann man die Gruppensoziologie deshalb als doxosophisch, d.h. als das Bestehende und alltäglich Wahrnehmbare affirmativ beschreibend und wiederholend, bezeichnen. Um Prozesse der Vergesellschaftung untersuchen und verstehen zu können, schlage ich deshalb vor, statt „Gruppe“ in Anlehnung an Norbert Elias den Begriff der Gruppen-Figuration zu verwenden.
Figurationssoziologie und Gruppenanalyse als theoretische Zugänge Mit Figuration bezeichnet Elias all das, was das spezifische Zusammenleben von Menschen auszeichnet: Figurationen sind Formen und Gestaltungen des Aufeinander-bezogen-seins. Dazu gehört die Wissensübertragung von einer Generation zur anderen, die Vermittlung der gültigen Symbolwelten wie z.B. Sprache, also Fähigkeiten zur Orientierung und Kommunikation in der jeweiligen Lebenswelt. Das Hereinwachsen in eine Figuration wie Familie, Schulklasse und größere Zusammenhänge ist verbunden mit Anpassungs- wie auch Besonderungsprozessen, also mit Vergesellschaftung. Figurationen wie auch Menschen und ihr Hineinwachsen in Figurationen wandeln sich und sind historischen Entwicklungen unterworfen. Gleichbleibend ist jedoch, dass Menschen grundsätzlich in Figurationen leben und abhängig von ihnen sind, auch wenn sie in ihnen unterschiedliche Freiheitsgrade entfalten können.
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Der Vorteil des Begriffs Figuration ist, dass er die grundlegende Notwendigkeit des Menschen in verschieden strukturierten Bezügen zu leben verdeutlicht, aber gleichzeitig offen bleibt für die historischen Wandlungsprozesse und für widersprüchliche Machtverhältnisse, die diese kennzeichnen. Sozialer Wandel in den Formen des Zusammenlebens von Menschen wird beschreibbar. Zudem bietet die Definition von Figurationen eine Grundlage für eine pädagogische Praxis, deren Anliegen das Verstehen und Gestalten der Beziehungen von Generationen und die Vermittlung der Symbolwelten ist. Norbert Elias hat als Emigrant aus Nazi-Deutschland mit einem anderen Emigranten, S.F. Foulkes, in gegenseitiger Inspiration zusammengearbeitet. Dieser hat die Theorie der Figuration auf psychotherapeutische Kontexte angewendet und dabei die beiden Ebenen von Vergesellschaftungsprozessen – Anpassung an gesellschaftliche Normen und Entwicklung von Besonderheit des Individuums – in psychotherapeutischen Gruppen berücksichtigt. Seine Methode der Gruppenanalyse ist zum Verständnis von konkreten Vergesellschaftungsprozessen ebenso nützlich wie in Gruppentherapien und soll deshalb abschließend knapp dargestellt werden. Foulkes geht davon aus, dass der Mensch sich zuallererst nicht als Individuum, sondern als Teil einer Gruppe – meistens der Familie – wahrnimmt. Persönliche Entwicklung findet also in Bezogenheit auf andere statt. Jede Gruppe ist nach Foulkes von jeweils spezifischen Kommunikationsformen gekennzeichnet, die sowohl nonverbal als auch verbal sind. Diese bilden Wirkungsnetze (Matrix). Er unterscheidet die Grundlagenmatrix von der Gruppenmatrix: Die Grundlagenmatrix kennzeichnet die gesellschaftlich geprägte Kommunikation innerhalb einer Gruppe, die beispielsweise im Verhalten der Generationen und Geschlechter zueinander und in der Bedeutung religiöser und traditioneller Normen sichtbar wird. Die Gruppenmatrix wird aufgefasst als die gruppenspezifische Kommunikation oder das „Eigentum der Gruppe“, sie ist gekennzeichnet von den Inhalten, die jedes Mitglied auf andere überträgt. Diese Übertragungen haben ihren Ursprung in den frühkindlich gebildeten und erfahrenen, individuell unterschiedlichen Beziehungsstrukturen, die Gruppenmitglieder in ihrer Ursprungsgruppe erlebt haben. Die frühkindlich eingeübte Form, Beziehungen zu gestalten, prägt das aktuelle Handeln und wird auf die Gegenwart übertragen. In Gruppen stoßen diese individuellen Formen, Beziehungen zu strukturieren, aufeinander und entwickeln sich zu einem spezifischen Netzwerk des Umgangs miteinander. Eine Rolle spielt dabei der Aushandlungsprozess jeder Gruppe bezüglich der Frage „Wie besonders und wie angepasst darf bzw. muss ein Mitglied sein?“. Folgt man Foulkes, bedeutet dies, dass sich Grundfragen der Vergesellschaftung in der konkreten Gruppendynamik zeigen. Im Problem jedes Gruppenmitglieds einen Modus zu finden, Eigenes zu sagen und dabei mit den anderen verbunden zu bleiben, also auch gesellschaftliche Normen zu erfüllen, werden die Vergesellschaftungsprozesse offenbar. An einem Beispiel möchte ich dies erläutern: In einem Evaluationsprojekt sollten die Effekte von Sprachförderung im Kindergarten untersucht werden. Eine Pädagogin und eine Psychologin, Absolventinnen der Universität, führten Sprachförderkurse in Kindergruppen durch. Studentinnen eines Studiengangs der Sozialen Arbeit einer Fachhochschule, die eine Erstausbildung als Erzieherinnen hatten und längere Zeit in Kindergärten Berufserfahrung gewinnen konnten, arbeiteten in dem Evaluationsprojekt und sollten in teilnehmender Beobachtung die Entwicklung der Sprachkenntnisse der Kinder protokollieren und auswerten. Dieses Setting war von den Leiterinnen der Kurse nicht erwünscht, sie wollten, dass die Studentinnen sich wie die „Tapete an der Wand“ verhielten und sich möglichst unsichtbar ma-
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chen, um „die Objektivität der Ergebnisse zu sichern“. Da keine Einigung über die unterschiedlichen Vorstellungen erzielt werden konnte, wurde die Methode der teilnehmenden Beobachtung fallengelassen, und die protokollierenden Studentinnen saßen beobachtend außerhalb des Gruppengeschehens. Wie zu erwarten kamen zu Beginn eines Kurses Kinder auf die außerhalb sitzende Studentin zu und begrüßten sie neugierig. Ein Mädchen fragte die beobachtende Studentin mehrmals, warum sie nicht mitmachen wolle. Nachdem der spielerische Unterricht begonnen hatte, war dieses Mädchen unkonzentriert, störte aber nicht den Ablauf des Unterrichts. Die Pädagogin nahm das Kind bei der Hand und zog es aus dem Raum in das Büro, wo es als Strafe den Rest der Stunde allein bleiben musste. Kein Kind in der Gruppe verstand, warum das Mädchen bestraft worden war. Seine Freundin und auch andere Kinder thematisierten symbolisch im Spiel während der Stunde immer wieder das Thema Ausschluss und Zugehörigkeit. Die Studentin wurde von den Kindern noch einmal um Hilfe beim Höhlen bauen gebeten, lehnte aber ab, weil sie fürchtete, damit gegen die Absprache, nur zu beobachten, zu handeln. Auch dies blieb für die Kinder unverständlich. Mit Hilfe der Gruppenanalyse lässt sich der irritierende Vorfall verstehen: Für die Leiterin des Kurses als Universitätsabsolventin war nicht akzeptabel, dass entgegen der üblichen gesellschaftlichen Hierarchien Studentinnen der Fachhochschule protokollierten und damit auch kontrollierten, was sie im Unterricht tat. Während sie sich theoretisch überlegen fühlte, hatte sie Angst, den Studentinnen praktisch unterlegen zu sein, denn diese hatten ja bereits Berufserfahrung im Kindergarten gesammelt, während die Pädagogin keinerlei alltäglichen Umgang mit Kindern hatte. Übliche gesellschaftliche Hierarchien zwischen Akademikerinnen und Studentinnen, zwischen Universität und Fachhochschule waren hier auf den Kopf gestellt. Die Pädagogin versuchte, das, was sie störte und wogegen sie sich gewehrt hatte, nämlich die beobachtende, kompetente Studentin, aus der Gruppe symbolisch auszuschließen, indem sie das Kind, das die Studentin in die Gruppe einbeziehen wollte, strafend ausschloss. Gesellschaftliche Hierarchien stellen einen Teil der Grundlagenmatrix von Gruppen dar. Die Gruppensituation entsprach nicht dieser hierarchischen Struktur, und die Pädagogin, die sich dadurch infrage gestellt sah, wollte unbewusst ihre Dominanz wieder herstellen. Auch die Studentin war unsicher in der Situation, denn sie konnte keine eigenständige Haltung gewinnen, als sie von den Kindern angefragt wurde. Die Kinder aber versuchten, sich durch ihr Spiel und seine Themen über die irritierenden Vorgänge zu verständigen, sie entwickelten ihre Gruppenmatrix, indem sie sich mit dem Thema „Ausschluss“ beschäftigten.
Literatur Elias, Norbert (1970/2000): Was ist Soziologie? Weinheim/München. Foulkes, Siegmund H. (1992): Gruppenanalytische Psychotherapie. München. Schäfers, Bernhard (1999): Einführung in die Gruppensoziologie. Wiesbaden.
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Gesa Lindemann Pädagogik zielt darauf, durch Handeln und Kommunikation z.B. Lernprozesse oder Einstellungsänderungen zu bewirken. Dabei wird gewöhnlich unterstellt, dass das, was jeweils geschieht, durch die pädagogische Absicht gesteuert werden kann. In einer soziologischen Perspektive erscheint dies aber als eine problematische Annahme; denn bei pädagogischem Handeln und Kommunizieren sind immer mindestens zwei Akteure beteiligt, z.B. ein Lehrer und ein oder mehrere Schüler. Es handelt sich also um einen sozialen Sachverhalt. Da es bei einem sozialen Sachverhalt immer auf beide Akteure ankommt, müssen immer auch die Perspektiven beider Akteure in die Analyse einbezogen werden. Es geht also nicht nur um die pädagogische Intention von Lehrerinnen oder Erzieherinnen, sondern immer auch darum, wie Kinder bzw. Schüler diese Absichten verstehen und sich zu ihnen verhalten. Pädagogische Intentionen können nicht einfach umgesetzt werden, sondern sie müssen durch soziales Handeln bzw. Kommunikationen vermittelt werden. Dabei gelten Gesetzmäßigkeiten, die für die Akteure folgenreich, diesen aber nicht notwendigerweise bewusst sind. Soziologische Analysen dienen dazu, diese Bedingungen pädagogischen Handelns aufzuklären. Die Begriffe „Handlung“, „Interaktion“ und „Kommunikation“ stellen verschiedene Möglichkeiten dar, soziale Sachverhalte zu beschreiben. Es soll deshalb zunächst geklärt werden, was im Sinne soziologischer Theorie unter einem sozialen Sachverhalt zu verstehen ist. Auf dieser Grundlage lassen sich in einem zweiten Schritt sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede der Begriffe „Handlung“, „Interaktion“ und „Kommunikation“ herausarbeiten.
Die Ego-Alter-Konstellation Damit ein sozialer Sachverhalt gegeben ist, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: 1. Es gibt mindestens zwei Akteure. Im Folgenden werden diese als Ego (Ich) und Alter (der bzw. die Andere) bezeichnet. 2. Ego und Alter stehen miteinander in einer Beziehung, in der sie ihr Verhalten wechselseitig aufeinander abstimmen und dabei eine neuartige Ordnung schaffen – eine soziale Ordnung. Diese unterscheidet sich dadurch von einer psychischen Ordnung, dass sie nicht auf die Aktivität eines einzelnen Akteurs zurückgeführt werden kann. Eine soziale Ordnung kann nur begriffen werden, wenn man sie auf das Verhältnis von Ego und Alter bezieht. Dieses grundlegende Verständnis sozialer Ordnung bildet eine wichtige Gemeinsamkeit aller soziologischen Theorien. Weiter ist zu berücksichtigen, dass Ego und Alter sich in der Regel nicht nur aufeinander, sondern zudem auf eine Umwelt beziehen. Unter Umwelt ist zunächst alles zu verstehen, was einen Akteur umgibt, dazu gehören physische Dinge, Lebewesen und andere Personen. Bei
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der Beschreibung der Umweltbeziehung der Akteure Ego und Alter lassen sich drei Ebenen voneinander unterscheiden: > Ego und Alter nehmen ihre Umwelt wahr und verhalten sich entsprechend ihrer jeweiligen Wahrnehmungen. D.h. die eigenen Wahrnehmungen führen zu Eigenaktivitäten. Ein solches Wesen kann auch als ein Selbst beschrieben werden. Ein Selbst erlebt den eigenen Zustand (z.B.: durstig zu sein) und es nimmt Gegenstände der äußeren Umwelt wahr (ein Glas Wasser). Entsprechend der Wahrnehmung des Ortes des Wasserglases kann ein Selbst dann nach dem Glas Wasser greifen und trinken. In einem solchen Prozess werden die Erfahrung des eigenen Zustandes sowie die Wahrnehmung der äußeren Umwelt und die Eigenaktivität des Greifens aufeinander abgestimmt. > Ego ist ein Selbst, das Alter als ein anderes Selbst wahrnimmt, das seinerseits zwischen Umwelt und Selbst unterscheidet und Wahrnehmen und Eigenaktivität miteinander vermittelt. Ego nimmt z.B. wahr, dass Alter ebenfalls durstig ist und nach dem Glas Wasser greift. Das gleiche gilt umgekehrt. > Ego beobachtet, dass es von Alter wahrgenommen wird. Das bedeutet zweierlei, a) Ego erfährt sich als ein Selbst, das von Alter wahrgenommen wird, und b) Ego erfährt, dass Alter seinerseits wahrnimmt, dass Ego das alter Ego als ein Selbst wahrnimmt. Beide Selbste nehmen also nicht nur das andere Selbst als ein Selbst mit einer Umwelt wahr, sondern als ein Selbst mit einer Umwelt, in der das wahrnehmende Selbst ebenfalls als ein Selbst vorkommt. Ego nimmt also wahr, dass Alter wahrgenommen hat, dass Ego mit den gleichen Absichten nach dem Glas Wasser greifen möchte. Das gleiche gilt umgekehrt für Alter. Wenn Ego und Alter in einer solchen Beziehung zueinander stehen, ermöglicht dies eine hochkomplexe Form, in der sie ihr Verhalten aufeinander abstimmen und koordinieren können. Ego reagiert nämlich nicht lediglich auf das sichtbare Verhalten des Gegenübers, sondern auf die im Verhalten zum Ausdruck kommenden Intentionen und Wahrnehmungen. Entscheidend ist dabei, dass Ego sein eigenes Verhalten von den Erwartungen Alters abhängig macht. Die Beteiligten erwarten voneinander, dass ihr Gegenüber Erwartungen an sie richtet und reagieren auf diese erwarteten Erwartungen. Bezogen auf das Wasserglasbeispiel lässt sich die Differenz zwischen einer bloß verhaltensbezogenen und einer erwartungsbezogenen Verhaltensabstimmung so beschreiben: Wenn Ego nur das sichtbare Verhalten von Alter, also den bloßen Bewegungsablauf, berücksichtigen würde, würde Ego antizipieren, wie schnell Alter nach dem Wasserglas gegriffen haben wird und Ego könnte versuchen, schneller zu sein. In diesem Fall wäre der Ansatzpunkt für die Abstimmung das direkt wahrnehmbare Verhalten. Bei einer Abstimmung, die eine Abstimmung i.S. der soziologischen Theorie ist, müssen dagegen zusätzlich zwei Momente gegeben sein: > Alter wird von Ego nicht nur als ein physischer Körper mit einem bestimmten Verhalten wahrgenommen, sondern als ein Körper erfahren, der Intentionen und Erwartungen hat, d.h. Ego erfasst die Intention Alters, nach dem Wasserglas greifen zu wollen und welche Erwartungen Alter dabei allgemein entwickelt. > Ego erfährt die Erwartungen von Alter als auf sich gerichtet, d.h. Ego fühlt sich von Alter als jemand wahrgenommen, der ebenfalls nach dem Wasserglas greifen möchte. Jetzt können Ego und Alter Erwartungen darüber entwickeln, was der andere von ihnen erwartet. Z.B. könnte Ego signalisieren, dass er sehr großen Durst hat und entsprechend von Alter erwartet, dass Alter ihm den Vortritt lässt. Jetzt kommt es darauf an, wie Alter auf diese erwartete Erwartung Egos reagiert.
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Wenn eine solche Situation gegeben ist, liegt ein sozialer Sachverhalt vor. Dieser ist folglich durch aufeinander bezogene Erwartungen, d.h. durch Erwartungs-Erwartungen, gekennzeichnet. Jeder der beiden Akteure erwartet die Erwartungen des Gegenübers und verhält sich entsprechend der erwarteten Erwartungen. Er kann sie enttäuschen oder erfüllen. Auf dieser Grundlage können Ego und Alter eine soziale Ordnung etablieren, in der das Trinken vonstatten gehen soll. Dies beinhaltet ein Arrangement, ob z.B. beide trinken bzw. wie sie sich abwechseln oder ob nur einer trinkt usw.
Handlung, Interaktion, Kommunikation Nach der Klärung, was unter einem sozialen Sachverhalt zu verstehen ist, wird es im Weiteren darum gehen, wie verschieden sich die Ego-Alter-Konstellation darstellt, je nachdem ob sie im Sinne von Handlung, Interaktion oder Kommunikation verstanden wird.
Handlung Zu denjenigen, die soziale Sachverhalte als soziales Handeln begreifen, gehört Max Weber. Er unterscheidet zwischen sichtbarem Verhalten und Handeln. Unter Verhalten wäre für Weber eine beobachtbare Geste zu verstehen: Ein Individuum streckt die Hand aus. Damit das Verhalten als Handeln bezeichnet werden kann, muss das Individuum mit seinem Verhalten einen Sinn, d.h. eine Absicht, eine Bedeutung usw., verbinden, z.B. den Sinn „Begrüßung“. Ein solches Handeln ist ein soziales Handeln, wenn es in einer sozialen Beziehung stattfindet. „Soziale ,Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen“ (Weber 1922/1980: 13) In einer sozialen Beziehung antizipieren Akteure, dass ihr Gegenüber ihnen gegenüber in einer bestimmten Weise eingestellt ist und entsprechende „Erwartungen“ (Weber 1922/1980: 14) an sie richtet. Wenn ich also eine mir fremde oder bekannte Person begrüße, indem ich ihr die Hand entgegenstrecke, antizipiere ich bei ihr Erwartungen, die sich ergeben, wenn sie sich in ihrer Einstellung zu mir am Sinn „Begrüßung“ orientiert. Insofern ich erwarte, dass sich die fremde Person am Sinn „Begrüßung “ orientiert und entsprechendes von mir erwartet, begrüße ich sie und wir etablieren eine sehr einfache und rudimentäre soziale Ordnung, nämlich ein Gespräch unter Unbekannten. Aber auch wenn soziales Handeln für Weber stets ein Handeln in sozialen Beziehungen ist, so legt er doch den Schwerpunkt auf einen Akteur und seine Aktivität, das Handeln. Weiterhin legt Weber großen Wert darauf, den Handlungsbegriff so zu gestalten, dass bei einer empirischen Forschung das Problem der Rationalität des sozialen Handelns in den Vordergrund tritt. Was das heißt, lässt sich am Beispiel der Begrüßung nachvollziehen. Wenn es sich bei der zu begrüßenden Person um eine Freundin handelt, könnte Ego die Hand gewohnheitsmäßig zum Gruß ausstrecken. Dies wäre für Weber ein Grenzfall. Es wäre fraglich, ob Ego mit ihrem Handeln einen Sinn verbindet. Eine soziale Handlung würde aber eindeutig vorliegen, wenn Ego mit der Grußgeste den Sinn verbindet, der Anstand würde es gebieten, eine Freundin zu grüßen. In diesem Fall würde sich Ego an einer bestimmten Wertvorstellung orientieren, nämlich derjenigen, wie man sich zu einer Freundin verhält. Wenn bei einer Handlung eine solche Wertorientierung vorliegt, spricht Weber von wertrationalem Handeln. Neben der
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Wertrationalität nennt Weber noch die Zweck-Mittel-Rationalität. Nehmen wir an, Ego möchte an ihre Freundin eine Bitte richten. Diese wird die Freundin nach Meinung von Ego eher erfüllen, wenn sie sie zuvor freundlich grüßt. In diesem Fall wäre die freundliche Begrüßung das Mittel zu einem Zweck. Das Handeln von Ego wäre also zweckrational orientiert. In jedem Fall versteht Weber die Orientierung des Handelns an einem Wert oder einem Zweck als das Motiv des Handelns, das es zu verstehen gilt. Da das Motiv andererseits aber auch als Ursache des Handelns betrachtet wird, wäre das praktisch wirksame Motiv zugleich die Ursache des Handelns. Damit wird es für Weber möglich, Handlungen zu erklären, denn sie können auf Ursachen zurückgeführt werden. Wenn man in dieser Weise die Aufmerksamkeit auf das Handeln der einzelnen Akteure richtet, tritt der Beziehungsaspekt, das wechselseitige Aufeinanderbezogensein von Ego und Alter, tendenziell in den Hintergrund. Es geht um den Einzelnen und darum, wie seine Handlungen motiviert sind und weiterhin darum, wie die Motive von Handlungen als die Ursachen sozialer Handlungen verstanden werden können.
Interaktion Wenn die Ego-Alter-Konstellation als eine Interaktion betrachtet wird, tritt der Beziehungsaspekt stärker in den Vordergrund. Gut ausgearbeitet findet sich dies bei George H. Mead und daran anschließend bei Jürgen Habermas. Die Übernahme der Einstellung des anderen wird als Grundvoraussetzung dafür verstanden, dass Ego und Alter mittels symbolischer Gesten miteinander interagieren. Eine symbolische Geste ist eine solche, bei der die Beteiligten mit der Geste eine identische Bedeutung verbinden. Die Bedeutung einer Geste ist für Mead allgemein darüber definiert, dass auf eine Geste die Geste eines anderen Individuums folgt. Ego macht eine Geste, darauf reagiert Alter ebenfalls mit einer Geste. Hier wäre die Geste von Alter die Bedeutung der Geste von Ego. Das Problem für Mead und Habermas besteht darin, wie es dazu kommt, dass eine Geste für verschiedene Akteure eine identische Bedeutung hat. Die Voraussetzung dafür sehen sie in einer dreifach gestuften Übernahme der Einstellung des Anderen: > Erste Einstellungsübernahme: Ego versetzt sich in die Position des anderen und antizipiert auf dieser Grundlage, wie Alter auf Egos Geste reagieren wird. Vorausgesetzt nur diese erste Stufe der Einstellungsübernahme ist gegeben, stellt sich das Begrüßungsbeispiel so dar: Ego weiß, immer wenn ich die Hand ausstrecke, streckt Alter mir die seine entgegen und unsere Hände greifen ineinander. In diesem Fall hat die Geste (Handausstrecken) für Ego eine Bedeutung. > Zweite Einstellungsübernahme: Ego antizipiert nicht nur Alters Reaktion auf die eigene Geste, sondern auch, dass Alter antizipiert, Ego würde dies antizipieren, d.h. Ego unterstellt, auch Alter weiß, welche Folgegeste Ego erwartet. In diesem Fall würde Alter nicht einfach auf die Geste reagieren. Da die Geste für Alter eine Bedeutung hat, interpretiert er die Geste. Wenn Ego die Hand ausstreckt, handelt es sich jetzt für beide um eine Grußgeste, die Alter interpretiert und auf die er entsprechend reagiert. Die Geste von Ego ist so zu einer symbolischen Geste geworden. > Bei der dritten Einstellungsübernahme geht es um eine Generalisierung der Zweiten. Ego antizipiert nicht nur wie ein konkretes Gegenüber, sondern wie eine Vielzahl von Individuen die Geste interpretieren würde. Ego und Alter antizipieren jetzt, wie die Geste aus einer verallgemeinerten Perspektive interpretiert werden würde. Dies bezeichnet Mead als Bezug
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auf einen generalisierten Anderen. Wenn dies gegeben ist, anerkennen Ego und Alter Regeln der richtigen Symbolverwendung. Generalisierung heißt nicht, dass die Bedeutung universell verstanden wird. Vielmehr kann es in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche generalisierte Andere geben. Aber in jedem Kontext gilt: Hier machen es alle so, d.h. hier bedeutet diese bestimmte Geste „grüßen“. Bei einer solchen Sicht geht es primär nicht um die Rationalität des Handelns einzelner Akteure, sondern darum, wie Ego durch die Übernahme der Einstellung des anderen in die Beziehung mit Alter eingebunden ist. Es steht im Vordergrund, wie Ego und Alter Symbole erzeugen, mit deren Hilfe sie sich verständigen und wie sie die regelkonforme Verwendung von Symbolen sicherstellen. Um die Abgrenzung des Interaktionsbegriffs zum nun folgenden Kommunikationsbegriff zu verstehen, ist es sinnvoll noch auf eine Besonderheit der Interaktionsperspektive hinzuweisen. Der Bezugspunkt der Analyse ist Ego, denn es geht darum, wie sich die Struktur der Einstellungsübernahmen aus der Perspektive derjenigen darstellt, die die symbolische Geste ausführen.
Kommunikation Der Kommunikationsbegriff nimmt in der Theorie autopoietischer sozialer Systeme von Luhmann eine zentrale Stellung ein. Dieser Begriff baut auf einer Beziehung auf, die wie die oben beschriebene durch wechselseitige Erwartungs-Erwartungen gekennzeichnet ist. Auch hier wird – im Unterschied zum Handlungsbegriff – der Beziehungsaspekt von Ego und Alter in den Vordergrund gestellt. Im Unterschied zum Interaktionsbegriff werden im Rahmen des Kommunikationsbegriffs aber die Prozesse, die in der Beziehung stattfinden, grundsätzlich von ihrem Ende her aufgerollt. Bei der Interaktion geht es um die Herstellung von Symbolen und darum, wie Alter darauf reagiert. Wenn man den Kommunikationsbegriff verwendet, wird die Aufmerksamkeit auf das Verstehen der Geste gelenkt. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass die Positionen von Ego und Alter gleichsam vertauscht werden. Die Herstellung der kommunikativen Mitteilung wird auf die Position Alters verlegt, während Ego die Mitteilung rezipiert, d.h. versteht. Insgesamt werden im Kommunikationsbegriff drei Selektionen zusammengefasst: > Erste Selektion: Alter sucht einen Inhalt aus, den er Ego mitteilen möchte, die Information. > Zweite Selektion: Alter sucht eine Mitteilungshandlung aus, die dazu dienen soll, die Information mitzuteilen. Das können Gesten sein, oder gesprochene bzw. geschriebene Worte. > Dritte Selektion: Ego nimmt die Mitteilungshandlung wahr und realisiert, dass sie die Unterscheidung von Information (Inhalt, Ausdrucksgehalt von Worten und Gesten) und Mitteilung (den Gesten oder gesprochenen bzw. geschriebenen Worten) machen soll; damit versteht Ego die Mitteilungshandlung. Für das Verstehen ist es entscheidend, dass die Geste von Alter mit Bezug auf die Unterscheidung von Information und Mitteilung aufgefasst wird. Dadurch wird das Verstehen an das Vorhandensein von Erwartungs-Erwartungen gebunden. Ego reagiert nicht einfach auf die Geste, sondern Ego erwartet von Alter, die Unterscheidung von Information und Mitteilung gemacht zu haben. Damit erwartet Ego, Alter habe etwas mitteilen wollen, d.h. Ego erwartet, von Alter eine an Ego gerichtete Erwartung, die Unterscheidung von Information und Mitteilung machen zu sollen.
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Die Grundidee, die Ereignisse innerhalb der Beziehung von Ego und Alter von ihrem Ende her aufzurollen, hat eine wichtige Konsequenz. Alter kann die Erfahrung machen, von Ego in eine Kommunikation hineingezogen worden zu sein, ohne es beabsichtigt zu haben. Z.B.: Alter zuckt unwillkürlich mit der Hand, Ego nimmt dies nicht einfach als intentionsloses Handzucken wahr, sondern macht die Unterscheidung von Information und Mitteilung. D.h. Ego versteht die Handbewegung als eine Mitteilung, nämlich der Information: „Alter bietet Ego die Hand zum Gruß an.“ Wenn Ego die Geste von Alter in dieser Weise auffasst, so ist die Grundbedingung für das Zustandekommen von Kommunikation erfüllt: Ego hat die Mitteilung von Alter verstanden. Das Verstehen kommt darin zum Ausdruck, wie Ego an die als Mitteilung interpretierte Geste von Alter anschließt: Ego streckt Alter die Hand entgegen. In diesem Anschlussverhalten kommt zum Ausdruck, wie Ego die Mitteilung von Alter verstanden hat. Aufgrund dieses Verstehens befindet sich Alter in der Situation, eine Grußgeste gemacht zu haben – ob er dies wollte oder nicht. Gemäß diesem Kommunikationsbegriff kommt es also nicht auf die Intention an, die Alter anfänglich hatte, sondern nur auf die Intention, die in der kommunikativen Beziehung existiert. Dass die Grußintention kommunikativ existiert, kann Alter nicht mehr ungeschehen machen. Er kann nur versuchen mitzuteilen, es hätte nicht in seiner Absicht gelegen, eine Begrüßung durch Handschlag zu initiieren. Wenn er dies tut, kann er sich aber nicht sicher sein, wie eine solche Korrektur interpretiert wird – etwa als Unhöflichkeit oder gar als Beleidigung. Im Rahmen eines solchen Kommunikationskonzepts besteht die Aufgabe der Soziologie darin, herauszuarbeiten, wie in sozialen Prozessen ein Verstehen erreicht wird, das für die Akteure kalkulierbar ist.
Zusammenfassung Die drei diskutierten Begriffe weisen eine gemeinsame Grundlage auf. Soziale Phänomene werden in jedem Fall von einer Ego-Alter-Konstellation her begriffen, die durch wechselseitige Erwartungs-Erwartungen gekennzeichnet ist. Die Unterschiede ergeben sich daraus, wie die Ego-Alter-Konstellation akzentuiert wird. Im Rahmen des Handlungsbegriffs stehen der handelnde Akteur, seine Motive und die Rationalität seines Handelns im Mittelpunkt. Es geht etwa um die Motive eines Lehrers und wie es ihm gelingt, diese umzusetzen. Beim Interaktionsbegriff wird die Aufmerksamkeit darauf fokussiert, wie der handelnde Akteur in ein Geflecht von wechselseitigen Einstellungsübernahmen eingebunden ist. In einer solchen Perspektive geht es weniger um die Motive, als darum, wie Lehrerinnen und Schülerinnen wechselseitig die Einstellungen der anderen übernehmen, und wie sie dadurch die im Klassenzimmer gültigen Normen erzeugen. Beim Kommunikationsbegriff wird das handelnde Subjekt noch weitergehend entmachtet, denn es wird als vernachlässigenswert betrachtet, was ein Akteur intendiert, da es primär darauf ankommt, wie seine Gesten verstanden werden. Es wäre folglich als unerheblich zu betrachten, mit welchen Vorsätzen eine Lehrerin in die Klasse kommt. Relevant wäre vielmehr, wie ihr Auftreten durch Schüler und Kolleginnen verstanden wird und mit welchen konfirmierenden Mitteilungen diese reagieren und wie diese Mitteilungen ihrerseits verstanden werden. Die drei Perspektiven können auch für die Analyse institutioneller Prozesse verwendet werden. In einer handlungstheoretischen Perspektive würde man danach fragen, welche Vorhaben z.B. ein Ministerium plant, welche Motive dabei wirksam sind und welcher Rationalität
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die beteiligten Akteure folgen. Interaktionistisch könnte man untersuchen, wie die Akteure im Rahmen institutioneller Prozesse die Einstellungen anderer Akteure übernehmen und welche Anderen für sie relevant sind. Etwa: Ein Minister tut etwas, weil er antizipiert, dass „seine Partei“ oder „die Öffentlichkeit“ eine Aktion von ihm erwartet. In einer kommunikationstheoretischen Perspektive würde man bei den gleichen Vorgängen danach fragen, wie die Aktivitäten verstanden werden, welche Mitteilungshandlungen darauf folgen und wie diese wiederum verstanden werden. Ein Lehrer kann seinen Unterricht z.B. als eine Gesamtmitteilung betrachten, die von der Schulaufsicht rezipiert und verstanden wird und er wird versuchen, deren Erwartungen zu antizipieren, wenn er den Unterricht gestaltet.
Literatur Habermas, Jürgen (1995): Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Band. Frankfurt/M. Lindemann, Gesa (2005): Theorievergleich und Theorieinnovation. Plädoyer für eine kritisch-systematische Perspektive. In: Schimank, U./Greshoff, R. (Hg.) Was erklärt die Soziologie? Münster, S. 44– 64. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. Mead, George H. (1922/1987): Eine behavioristische Erklärung des signifikanten Symbols. In: Gesammelte Aufsätze I, Frankfurt/M., S. 290–298. Mead, George H. (1924–25/1987): Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle. In: Ders. Gesammelte Aufsätze Bd. I., Frankfurt/M., S. 299–328. Weber, Max (1922/1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.
Ideologien und Diskurse
Marcus Emmerich Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse und der Ideologiekritik sind gesellschaftlich einflussreiche Vorstellungen, an denen Individuen ihre Sichtweisen der sozialen Wirklichkeit orientieren. In einer ersten Annäherung können Ideologien als „falsches Bewusstsein“ charakterisiert werden. Ideologien sind demnach aus der Sicht der Wissenschaft falsche, gleichwohl aber einflussreiche Theorien bzw. Weltanschauungen. Im Unterschied dazu geht Diskursanalyse nicht von der Unterscheidung von wahren (wissenschaftlichen) und falschen (ideologischen) Überzeugungen aus. Vielmehr wird danach gefragt, von welchen historisch veränderlichen, jeweils als wahr geltenden Grundannahmen und Voraussetzungen das Reden, Schreiben und Denken über einen bestimmten Gegenstand ausgeht. Was einen Diskurs kennzeichnet, wird also nicht im Vergleich zum „wahren“ Wissen der Wissenschaften, sondern im Vergleich mit anderen, z.B. mit historisch älteren Diskursen deutlich. Im Weiteren werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Diskursanalyse und Ideologiekritik ausgehend von einem Fallbeispiel verdeutlicht. Im Jahr 1993 verfasste der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington einen Artikel mit dem Titel The Clash of Civilizations (Der Kampf der Kulturen). Dort stellte er die These auf, dass der globale Konflikt zwischen differenten „Zivilisationen“ die letzte Phase „in the evolution of conflict in the modern world“ (Huntington 1993) sei und die ökonomischen und „ideologischen“ Konflikte des 20. Jahrhunderts ablöse. „Zivilisationen“ sind nach Huntington dynamische kulturelle Entitäten, die sich wesentlich über ihre sprachlichen, historischen, institutionellen und religiösen Gemeinsamkeiten definieren. Die religiösen und kulturellen Trennlinien zwischen den Zivilisationen seien zwar nicht „scharf“, aber dennoch „real“ und vor allem „basal“. Huntington entwarf ein weltpolitisches Szenario, in dem die offensichtlichen Verlierer der Globalisierung – allen voran die „islamisch-fundamentalistische Welt“ – den Kampf gegen die „westliche Zivilisation“ aufnehmen werde. „The west versus the rest“ lautet im Rückschluss sein bekanntes Fazit (ebd.): Die Stärkung von Zusammenarbeit und Einheit vor allem zwischen den USA und Europa sei, so Huntington, notwendig, um die Wahrung der Interessen der „westlichen“ Zivilisation sicherstellen zu können. Die Kritik an diesem Welterklärungsmodell setzte in der Folgezeit wesentlich an zwei Aspekten an: Erstens verfasste Huntington seine Studie im Auftrag der US-Regierung, was den Verdacht nährte, dass das von ihm entworfene Bedrohungsszenario die geopolitischen und ökonomischen Interessen der USA sowie deren militärische Durchsetzung mit wissenschaftlicher Autorität ausstatten und legitimieren sollte. Zweitens wurde aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive eingewandt, dass die Annahme unhaltbar sei, die komplexen politischen und sozioökonomischen Prozesse der so genannten Globalisierung seien mit einem vereinfachenden Modell beschreibbar, das von homogenen, in sich abgeschlossenen und sich antagonistisch gegenüberstehenden „Kulturkreisen“ ausgeht. Aus der Perspektive dieser kritischen Argumentationen lassen sich die Aussagen Huntingtons einerseits als Ideologie, andererseits als Diskurs analysieren, die trotz ihrer wissenschaftli-
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chen Fragwürdigkeit ein handlungsrelevantes vereinfachendes Interpretationsmodell der sozialen Wirklichkeit bieten. Dies bedeutet: Auch wenn wissenschaftlich „bewiesen“ werden kann, dass mit der Formel „Kampf der Kulturen“ die globalen sozioökonomischen und politischen Prozesse nicht angemessen beschreibbar sind, können soziale Akteure dieses Angebot einer „ideologischen“ oder „diskursiven“ Realitätskonstruktion nutzen und handeln, als ob sie wahr wäre. So legitimierte die Idee vom „Kampf der Kulturen“ nach dem 11. September 2001 nicht nur als globales Erklärungsmodell einen politisch motivierten „westlich-zivilisatorischen“ Auftrag zur Durchsetzung von Freiheit und Demokratie in weltpolitischen Konflikten; sie überlagerte ebenso die Wahrnehmung des lokalen Zusammenlebens von „Christen“ und „Muslimen“ auch innerhalb der westeuropäischen Einwanderungsländer. Das Kopftuch muslimischer Frauen avancierte nicht nur in den öffentlichen Debatten um eine „deutsche Leitkultur“, sondern auch im alltäglichen Umgang und im Schulalltag zu einem bedrohlichen Symbol eines vermeintlichen islamischen Fundamentalismus. Eine wissenschaftlich argumentierende Kritik, die darauf zielt, Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ vor diesem Hintergrund als eine politisch motivierte Ideologie zu entlarven, verweist dabei auf die Diskrepanz zwischen einer wissenschaftlich begründbaren Sichtweise einerseits und den als ideologisch verzerrt verstandenen Vorstellungen und Überzeugungen der sozialen Akteure andererseits. Als Diskurs betrachtet, d.h. als ein nach bestimmten Prinzipien verfasstes Denk- und Aussagesystem, organisiert die Kulturkampfthese hingegen ein Feld von Aussagen, das bestimmte „Wahrheiten“ hervorbringt, von dem aber bestimmte Inhalte zugleich notwendig ausgeschlossen sind – wie etwa die ebenfalls wissenschaftlich begründbare Auffassung, dass die Vorstellung geschlossener und homogener Kulturen als Modell für die Beschreibung komplexer sozialer Prozesse untauglich ist. Insofern die Kulturkampfthese in Form eines wissenschaftlichen Diskurses auftritt, d.h. als ein rational begründetes, durch wissenschaftliche Verfahren hervorgebrachtes Wissen, das in den westlichen Gesellschaften mit hoher Autorität ausgestattet ist, kann sie sich in sozial einflussreicher Weise als wahres Wissen darstellen. Aus der Perspektive der soziologischen Theorie ist folglich die Kritik von Ideologien und die Analyse von Diskursen nicht nur als Untersuchung der Inhalte und der Konstruktionsprinzipien gesellschaftlich verbreiteter Aussagesysteme von Interesse, sondern auch deshalb von Bedeutung, weil Ideologien und Diskurse Sichtweisen sind, die Grundlage des individuellen und kollektiven Handelns sein können. Sie beeinflussen, wie Individuen und soziale Gruppen die Wirklichkeit interpretieren, was sie als notwendig oder möglich betrachten und was sie als ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen sehen.
Ideologie Ein zentraler Referenzpunkt für die Entwicklung des gesellschaftskritischen Ideologiebegriffs ist die von Karl Marx (1818–1883) formulierte Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und damit an den sozialen Klassenverhältnissen, die diese historisch hervorgebracht hat. In der Marx’schen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft werden die Produktionsverhältnisse und damit die Klassenstruktur als objektive soziale Realität verstanden. Marx spricht diesbezüglich von der materiellen Basis der gesellschaftlichen Reproduktion. Zugleich existiert nach Marx eine Fülle von Vorstellungen (der so genannte Überbau), die ein falsches, die herrschende gesellschaftliche Ordnung als alternativlos, naturgemäß oder gottgewollt rechtferti-
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gendes Gesellschaftsbild entwerfen. Marx setzt sich ideologiekritisch u.a. mit dem Liberalismus auseinander, der in Verkennung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse postuliert, jedes Subjekt besitze nicht nur die ökonomische und politische Freiheit, um „seines Glückes Schmied“ zu werden, sondern sei auch in der Lage, Gesellschaft als freiwilligen, rationalen und auf Interessenausgleich gründenden Zusammenschluss von individuellen Vertragspartnern mit zu gestalten. Ideologiekritik im Sinne Marx basiert auf der Unterscheidung zwischen dem materiellen – und das bedeutet bei Marx letztlich zwischen dem ökonomischen – sozialen Sein der Menschen (ihrer Klassenlage) und dem ideologischen Schein, der über dieser objektiven Realität liegt. Mit anderen Worten: die Marx’sche Ideologiekritik operiert mit der Differenz zwischen objektiver Realität und ideologischer Fiktion. Sie setzt damit in problematischer Weise voraus, dass der Ideologiekritiker über ein zweifelsfrei gültiges, nicht durch seine eigene Interessen und Vorannahmen verzerrtes Verständnis der Wirklichkeit verfügt. Von der Ideologiekritik des Marx’schen Typs ist eine zweite Linie der Theoretisierung des Ideologiebegriffs zu unterscheiden, die sich erkenntniskritisch mit dem Problem befasst, ob eine objektive Beschreibung der sozialen Wirklichkeit möglich ist. Die insbesondere durch Max Scheler und Karl Mannheim begründete Wissenssoziologie geht davon aus, dass jede Erkenntnis, die ein Subjekt über einen alltäglichen oder wissenschaftlichen Gegenstand erlangen kann, von subjektiven Vorannahmen bzw. immanenten Bewusstseinszusammenhängen abhängig ist. Für die Wissenschaften bedeutet dies, dass die Aussagen, die sie über ihre jeweiligen Objekte treffen, insofern nicht als objektiv gelten können, als ihr Zustandekommen von unhintergehbaren Vorstellungen des forschenden Subjekts beeinflusst ist. Nach Mannheim sind diese Vorannahmen vor allem sozialer Natur (Werte, Normen, Konventionen) und gerade dies begründet ihren ideologischen Charakter. Mit dem wissenssoziologischen Ideologiebegriff ist somit die Beeinflussung und Verzerrung wissenschaftlicher Erkenntnisverfahren durch sozial einflussreiche Vorstellungen, Haltungen oder Vorurteile bezeichnet. Die Möglichkeit eines unideologischen Wissens wird hier generell in Frage gestellt. Eine Weiterentwicklung des Ideologiebegriffs erfolgte durch die Bezugnahme marxistischer Theoretiker auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Dies gilt sowohl für die Ideologiekritik der sog. Frankfurter Schule, die die bundesdeutsche Soziologie nach 1945 beeinflusste und der Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer angehörten, als auch für die Ideologietheorie des französischen marxistischen Philosophen Louis Althusser. Beiden Linien ist gemeinsam, dass sie zum einen Ideologien als relevante Faktoren für das alltägliche Handeln der Individuen betrachten, zum anderen von der Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Fundierung der Analyse ideologischer Denk- und Handlungsweisen ausgehen. Für die Theoretiker der Frankfurter Schule stellten der Nationalsozialismus und vor allem die sozialen Konstellationen, die ihm zum Erfolg verhalfen, den Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Ideologien dar. Dabei gehen sie davon aus, dass die Hinwendung von Arbeitern und Angestellten zum Nationalsozialismus im Gegensatz zu deren objektiven klassenspezifischen Interessen steht. Deshalb sollen diejenigen psychodynamischen Dispositionen erforscht werden, die die Einzelnen für den irrationalen Glauben an den Führer und die Unterwerfung unter das Welterklärungsmodell der Nationalsozialisten empfänglich machen. Im Rückgriff auf die Psychoanalyse wird die Ursache hierfür in gesellschaftlich, nicht zuletzt durch Erziehung hervorgebrachten Charakterstrukturen, v.a. im sog. autoritären Charakter gesehen, das heißt einer psychisch tiefsitzenden Fixierung auf Autoritätspersonen und einer Gehorsamsbereitschaft, deren Grundlage Angst vor strafenden Autoritäten ist.
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Adorno und Horkheimer gehen in Hinblick auf einen weiteren Aspekt über die Marx’sche Bestimmung der Ideologieproblematik hinaus: Sie weisen den massenmedialen Kulturproduktionen (Hollywoodfilme, Schlager, Groschenromane etc.) eine zentrale Bedeutung für die Hervorbringung eines „falschen Bewusstseins“ zu. Angenommen wird, dass die Produkte der „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer 1991: 128ff.) nur noch das bewusstlose Amüsement zulassen und den Zuschauer gerade nicht dazu anregen, kritische Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit einzunehmen, sondern dazu beitragen, einen nicht mehr reflektierbaren, die realen sozialen Verhältnisse verzerrenden „Verblendungszusammenhang“ zu erzeugen. Weiter wird unterstellt, dass die Kulturindustrie das Individuum bis in die Tiefenstrukturen seiner Psyche, bis in seine intimsten Wünsche und Bedürfnisse hinein determiniert. In dem Maße, wie durch die Einflussnahme der Kulturindustrie Bedürfnisse und Wünsche so geformt werden, dass sie sich nur noch auf diejenigen Befriedigungsmöglichkeiten richten, die die „spätkapitalistische Gesellschaft“ den Individuen bietet, verkümmert deren Vermögen, über das Konventionelle und Bestehende hinaus zu denken und zu handeln. Im Unterschied zur Ideologiekritik in der Tradition der Frankfurter Schule, die trotz aller Skepsis an der Idee der anzustrebenden Befreiung des Individuums von ideologischen Vorstellungen festhält, basiert der Ansatz Althussers auf der These, dass die Individuen ihren Selbstund Weltbezug nicht jenseits einer „allgemeinen“ Ideologie begründen und nicht jenseits eines ideologischen Selbst- und Weltbezugs handeln können. Althussers grundlegendes Motiv ist aus der psychoanalytischen Theorie Freuds übernommen: Statt zwischen einer objektiv gegebenen äußeren sozialen Realität und einer nur subjektiv gegebenen inneren psychischen Fiktionalität zu unterscheiden, führt Freud die These von der „psychischen Realität“ des Unbewussten ein. Damit ist gemeint, dass die Psyche als solche eine eigene Wirklichkeitsform darstellt und die Individuen entsprechend dieser Realität handeln. Phantasien und Imaginationen bilden sich aus vergangenen sozialen Erlebnissen, d.h. die Psyche wandelt äußere soziale Realität in Form von Wahrnehmungen und Erinnerungen in psychische Realität um. Diese Transformation geschieht nach der Logik unbewusster psychischer Operationen. D.h.: Die Phantasien stellen kein Abbild der Realität dar, sondern sie nutzen die Wahrnehmungen und Erinnerungen als Material für Eigenschöpfungen. Althusser greift dies auf und spricht in Anlehnung an Freud von einer „Realitätsdifferenz“ (Althusser 1977: 106) zwischen den Erkenntnissen, die die Individuen über ihre Realität entwickeln und ihren realen Existenzbedingungen selbst. Der Terminus Ideologie im Allgemeinen bezeichnet bei Althusser die universelle anthropologische Struktur einer imaginären, durch innerpsychische Operationen vermittelten Bezugnahme der Individuen zu ihrer sozialen Realität: Der Mensch, so Althusser, sei „von Natur aus ein ideologisches Wesen“ (Althusser 1977: 140). Entscheidend für die Ideologietheorie Althussers ist, dass die Imagination des eigenen Verhältnisses zu den „realen Existenzbedingungen“ nicht mehr dem Muster der Marx’schen Unterscheidung von materiell und fiktiv entspricht. Vielmehr behauptet Althusser, die Ideologie sei selbst materiell, da die Individuen gemäß ihrer imaginären Vorstellungen handeln, als ob diese real seien. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Ein Calvinist mag glauben, dass die Existenz von Armen und Reichen gottgewollt und Arbeit ein gottgefälliges Werk sei. Obwohl er als Arbeiter verarmt, der Fabrikbesitzer hingegen immer reicher wird, interpretiert er seine Existenzbedingungen auf der Grundlage des ideologischen Schemas seines religiösen Glaubens und dies wird ihn davon abhalten, die eigene Armut als Problem zu betrachten und aktiv dagegen anzugehen.
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In diesem Sinne kommt der Ideologie die Funktion zu, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Aber nicht nur das Verhältnis der Individuen zu ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen ist ideologisch präformiert, auch ihre Subjektivität wird durch ein ideologisches Selbstverhältnis begründet, das Althusser ideologische Anrufung oder Interpellation nennt. D.h.: Das Selbstverhältnis der Einzelnen entwickelt sich im Rahmen ideologischer Vorgaben. Zentral ist hierbei die Rolle der Sprache. Indem das Individuum in der Ordnung der Sprache seine Beziehung zu sich selbst aufbaut, schafft es sich eine Identität innerhalb der Sinnordnung, die die Sprache vorgibt. Die einleitend skizzierte These vom „Kampf der Kulturen“ lässt sich auf Grundlage der Theorie Althussers folglich als eine Ideologie charakterisieren, deren Wirkmächtigkeit auch darauf beruht, dass sie eine handlungsrelevante Sinnordnung bereitstellt, in der Individuen ihre Identität bestimmen können, z.B. als „den Muslimen“ kulturell überlegener „Christ“. Wenn sich die sozialen Akteure zudem so verhalten, als ob es verschiedene antagonistische Kulturen gibt, stellen sie soziale Verhältnisse alltagspraktisch her, deren Existenz die Ideologie behauptet. Ein solches Verständnis von Ideologie begründet erhebliche Skepsis gegenüber der Annahme, dass Ideologien, Vorurteile und Feindbilder dadurch überwunden werden können, dass Individuen mit besseren Informationen und Argumenten über die Irrtümer ihres bisherigen Denkens aufgeklärt werden.
Diskurs Der Begriff Diskurs, wie er gegenwärtig in verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen Verwendung findet, entstammt der Linguistik und bedeutet im weitesten Sinn Aussageordnung bzw. Wissensordnung. „Der Begriff Diskurs bezeichnet ein Konstrukt der SozialforscherInnen. Damit wird hypothetisch unterstellt, dass spezifischen empirischen Daten, die zunächst als singuläre, in Zeit und Raum verstreute Ereignisse (Äußerungen) existieren und dokumentiert sind, ein Zusammenhang, eine Regel oder eine Struktur unterliegt. (...) Unter der Perspektive ,Diskurs‘ geht es darum, die sozialen Mechanismen und Regeln der Produktion und Strukturierung von Wissensordnungen zu untersuchen“ (Keller 2004: 79). Der soziologische Ansatz der Diskursanalyse geht vor allem auf die Arbeiten des französischen Sozialphilosophen und Sozialhistorikers Michel Foucault zurück. Foucault fasst den Begriff Diskurs als ein Aussagesystem, das festschreibt, was „denkbar“ und „sagbar“ ist und was aus dem Bereich des Sagbaren ausgeschlossen wird, und dadurch einen bestimmten Gegenstandsbereich hervorbringt (vgl. Foucault 1998). Foucaults Diskursbegriff zielt immer auch darauf, dass sich das Handeln sozialer Akteure an der diskursiven Ordnung der sozialen Welt ausrichtet. Die Diskursanalyse beansprucht nicht, entscheiden zu können, ob das Wissen, das durch Verfahren der Ein- und Ausschließung (Foucault 1972/1982: 5ff.) hervorgebracht wird, „wahr“ oder „falsch“ ist. Denn für Foucault kann nicht außerhalb von Diskursen über die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen entschieden werden. Aussagen gelten in der Perspektive der Diskursanalyse nicht deshalb als objektiv oder rational, weil sie Wirklichkeit sprachlich abbilden, sondern weil es diskursive Regeln gibt, nach denen Aussageordnungen produziert werden, die als objektiv und rational gelten. Im Gegensatz zu den Theorien über Ideologie kann die Diskursanalyse auf die Unterscheidung wahr/falsch oder real/fiktiv verzichten, da sie vorrangig beschreiben will, wie historische Diskursformationen Realitäten schaffen.
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Für den pädagogischen Diskurs ist z.B. die historisch entstandene Vorstellung von Kindheit und Jugend als abgrenzbaren Lebensphasen ebenso konstitutiv, wie die Annahme, dass Kinder und Jugendliche erzogen werden können und sollen. Deshalb muss der pädagogische Diskurs die Aussage ausschließen, dass Kinder und Jugendliche durch Erziehung nicht beeinflussbar sind. Foucaults Diskurstheorie verzichtet im Unterschied zu den marxistisch orientierten Ideologietheorien zudem auf die Vorstellung, gesellschaftliche Verhältnisse ließen sich in letzter Instanz aus den ökonomischen Verhältnissen ableiten. Vielmehr geht er davon aus, dass es sich bei den sozialen Verhältnissen primär um ein Gefüge von Machtbeziehungen handelt, deren Herausbildung und historische Entwicklung erforscht und beschrieben werden muss. Foucaults zentrales Forschungsfeld ist dabei der Diskurs der Wissenschaft und insbesondere der Humanwissenschaften – Psychologie, Medizin, Pädagogik, Anthropologie usw. –, die nicht nur gemäß ihrer diskursiven Regeln Wissen über den Menschen produzieren, sondern dieses Wissen auch mit der Macht verbinden, um in die Lebensbedingungen der Individuen eingreifen zu können (vgl. Foucault 1989). Indem etwa die Psychologie festlegt, welches Verhalten als normal und welches als abnorm zu gelten hat, fällt sie unwillkürlich Urteile über das Lebensschicksal der Menschen, die in das Raster der psychischen Abnormität fallen: Diesen droht die Ausschließung aus ihren sozialen Lebensbezügen durch psychiatrische Internierung. Mit der eng zusammenhängenden historischen Entstehung von Schulen und Pädagogik, sowie von Gefängnissen und Polizeiwissenschaft etabliert sich eine Form der Macht, die Foucault als Disziplinarmacht bezeichnet und die physisch wie psychisch auf die Selbstunterwerfung der Individuen unter die Normen und Verbote zielt, die selber Resultat der pädagogischen oder psychiatrischen Wissensgenerierung sind. Die soziale Lebenswirklichkeit hat sich mit anderen Worten durch die Entstehung der humanwissenschaftlichen „Macht-WissensKomplexe“ und Machttechniken historisch verändert und mit ihr die Art und Weise, wie die Individuen ihre Lebenspraxis gestalten.
Resümee Theorien über Ideologie oder über die Operationsweise gesellschaftlicher Diskurse versuchen die Erzeugung sozialer Wirklichkeitsformen und Sinnordnungen zu analysieren. In einer soziologischen Perspektive gewinnen die beiden Begriffe Ideologie und Diskurs damit insofern besondere Relevanz, als mit ihnen das Problem aufgerufen ist, dass Individuen aufgrund ihrer Wirklichkeitsvorstellungen bzw. ihrer Realitätskonstruktionen handeln. Diese Konstruktionen sind keine einfachen Fiktionen oder Phantasien, die außer für das konkrete Individuum keinen „Sinn“ haben; Ideologien und Diskurse sind transindividuelle Sinn- und Wahrheitssysteme, die in den an sie anschließenden Interaktionen und Kommunikationen, materielle soziale Verhältnisse begründen. Denn die Vorstellungen, mit denen soziale Akteure ihre gesellschaftliche Umwelt sinnvoll ordnen, beziehen sich auf die anderen sozialen Akteure oder auf die „Mitmenschen“ und dies kann insofern erhebliche Folgen haben, als in den sozialen Interaktionen so gehandelt wird, als ob die eigenen Vorstellungen über den Anderen „wahr“ oder objektiv seien. Der Andere wird entsprechend des imaginären Bildes, das man von ihm entwirft, behandelt.
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Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1944/1991): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Berlin. Foucault, Michel (1972/1998): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M. Foucault, Michel (1989): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/M. Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations (http://www.alamut.com/subj/economics/misc/clash.html). Keller, Reiner (2004): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Opladen. Lenk, Kurt (Hg.) (1961/1978): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Darmstadt/Neuwied. Marx, Karl (1846/1973): Die deutsche Ideologie. MEW Band III. Berlin. Ritsert, Jürgen (2002): Ideologie: Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie. Münster.
Identität und Identifikationen
Katharina Liebsch Die Rede von und über Identität ist weit verbreitet: Firmen haben neuerdings eine „corporate identity“, die Identität von Personen kann im Internet auf Homepages eingesehen werden und wird per Iris- und Fingerabdruck an internationalen Flughäfen festgestellt. Die Identität einer Nation wird an „Dichtern und Denkern“ oder an Ernährungsgewohnheiten festgemacht und wurde zuletzt in einer Debatte um „Leitkultur“ zu konkretisieren versucht. Die Unterstützung von Jugendlichen bei ihrer Identitätssuche und die Beratung von Erwachsenen im Fall von Identitätskrisen gelten als eine wichtige pädagogische Aufgabe. Diese Beispiele deuten an, dass es so etwas wie ein gesellschaftlich verbreitetes Bemühen gibt, sich seiner selbst zu vergewissern. Sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen sind mit der Identitätssuche – der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem eigenen Selbstverständnis, den eigenen Gewissheiten und Überzeugungen, den eigenen sexuellen, politischen, moralischen oder religiösen Orientierungen, der eigenen Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen usw. – beschäftigt. Dies sei, so lautet zumindest eine sozialwissenschaftliche Erklärung, umso nötiger, je dynamischer und umfassender sich Prozesse der gesellschaftlichen Veränderungen vollziehen.
Identitätssuche und gesellschaftlicher Wandel Im Prozess dessen, was seit geraumer Zeit als „Individualisierung“ bzw. als „Globalisierung“ bezeichnet wird, verändern sich mit den Arbeits-, Wirtschafts- und Kommunikationsabläufen auch die gesellschaftlichen und kulturellen Verortungen und Einbindungen von Menschen. So werden vertraute, bislang verbreitete Zugehörigkeiten zu „Klassen“, „Nachbarschaften“, „Berufen“, „Familie“ verändert, vervielfältigt und teilweise sogar aufgelöst und durch neue, weltumspannende Beziehungsformen ergänzt und erweitert. Angesichts der Verbreitung des Internets, der wachsenden Mobilität und den neuen share-holder-values werden die kulturellen und biografischen Zugehörigkeiten brüchig – für diejenigen, die Zugang zu diesen Veränderungen haben, auf andere Art und Weise als für diejenigen, die von der Teilhabe an diesen Entwicklungen ausgeschlossen bleiben. Unter dem Vorzeichen derartiger gesellschaftlicher Umbrüche verändern sich die Formen, Ziele und Inhalte von Identitäten und Identifikationen genauso wie die Prozesse der Identitätsentwicklung. Auch der Begriff der Identität selbst wird zum Gegenstand von Auseinandersetzungen. Ehemalige Bedeutungen werden in Frage gestellt und durch neue Begriffsverständnisse ersetzt.
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Identität und Identifikationen
Entstehung der Idee und des Konzepts „Identität“ Lange Zeit galten Vorstellungen und Konzepte zum „Selbst“ und zur „Person“ lediglich für eine herrschende, in der Regel männliche Elite. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden diese Konzepte – befördert durch die Gedanken der Aufklärung und der Französischen Revolution – allmählich verallgemeinert. Für der Verbreitung der Idee von Identität bedeutsam war die Etablierung von sozialen Gepflogenheiten und Erwartungen, die eine Rückbesinnung auf das eigene Dasein ermöglichen bzw. nahelegen. Es entwickelten sich diverse gesellschaftlich institutionalisierte Aufforderungen, das eigene Leben, den Gefühls- und Gewissenshaushalt und die körperliche Befindlichkeit zu erkunden, wie zum Beispiel die Beichte, die Erzählung der Krankheitsgeschichte beim Arzt, Ratgeberliteratur oder auch Chatrooms, in denen sich Menschen über ihre Anliegen und Befindlichkeiten austauschen. Erst in Folge dieser Entwicklung, mit der Etablierung einer sozialen Form, einem Modus des Sagens und des Erzählens, können Selbst-Reflexionen und „Selbst-Thematisierungen“ (Hahn 1987) dargeboten und als Identität und Stil präsentiert werden.
Soziologische Identitätstheorien Im soziologischen Denken ist die Idee der Identität maßgeblich mit dem Werk des US-amerikanischen Philosophen George Herbert Mead verbunden. Mead entwickelte in seinem posthum veröffentlichten Buch „Geist, Identität und Gesellschaft“ (Mead 1968) eine Theorie der menschlichen Kommunikation und Sozialität wie auch eine Analyse der kindlichen Entwicklung eines „self“. Der Begriff des „self“ bezeichnet bei Mead eine Struktur der Selbstbeziehung der Person. „Self“ meint hier die Bezüge und Beziehungen zu den anderen Menschen, Gruppen, Institutionen und Gegenständen, die ein Individuum im Laufe seines Lebens kennen lernt und zu einer einheitlichen Gesamtheit von z.B. Erfahrung und Wahrnehmung sowie einem Verständnis der eigenen Person zusammen zu bringen versucht. Der zweite wichtige Strang der frühen Identitätsforschung ist mit dem Namen Erik H. Erikson verbunden. Erikson hat in kritischer Weiterentwicklung der Psychoanalyse von Sigmund Freud eine Theorie der Entwicklung einer Ich-Identität konzipiert. Er hat in vielen Publikationen veranschaulicht, wie Individuen bewusst und unbewusst eine Kontinuität und Konsistenz ihrer Person in Form einer Ich-Synthese herstellen. In seinem Buch „Identität und Lebenszyklus“ (Erikson 1966) stellt er die „Ich-Identität“ als Ergebnis von Fähigkeiten des Individuums dar, welche Schritt für Schritt im Laufe des Lebens hergestellt wird. Die Bedingungen eines Erwerbs von Ich-Identität wie auch mögliche Variationen oder ein „Misslingen“ von Identität stellt Erikson in den Zusammenhang einer Vielfalt der im Individuum angelegten Antriebe wie auch der unterschiedlichen Erwartungen der sozialen Umwelt. Identität ist aus seiner Sicht ein ständiger Prozess des Austarierens und Angleichens unterschiedlicher Einflüsse und Erwartungen. In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren überwogen in der Identitätsforschung sozialpsychologische Studien, die den normierenden Einfluss der Gesellschaft auf die Individuen beschreiben und mit Hilfe von Modellen der Prägung, Normierung und sozialer Konformität erklären. Auch in Deutschland einflussreich war das Buch „Die einsame Masse“ des US-amerikanischen Soziologen David Riesman. Er typisierte die US-amerikanische Gesellschaft für den Zeitraum ab 1850 und stellt die These auf, dass dort zunächst ein traditioneller, dann ein
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innengelenkter und später ein außengelenkter „Sozialcharakter“ vorherrschend gewesen seien. Mit dem Grad der Modernisierung der Gesellschaft nähmen, so Riesmans These, normierende Einflüsse von Massenmedien, die Abhängigkeit der Einzelnen von der Meinung anderer und von den gesellschaftlichen Normen und Konventionen zu (Riesmann 1958). In vergleichbarer Weise nimmt heute der französische Soziologe Alain Ehrenberg die verbreitete Existenz eines „erschöpften Selbst“ an: Aufgrund der gestiegenen gesellschaftlichen Erwartung an Eigenverantwortung, Selbstverwirklichung, Erfolg und Glück fühlten sich immer mehr Menschen überfordert und reagierten mit innerer Leere, Depression, Antriebslosigkeit und Suchtverhalten (Ehrenberg 2004). Im Unterschied dazu behaupten einflussreiche Arbeiten der neueren soziologischen Identitätsforschung, dass es spätestens seit den 1990er Jahren nicht mehr möglich sei, allgemeine, übergreifende Typologien zu erstellen. Vielmehr sei es erforderlich, die Idee der Identität als widerspruchsfreies, vereinheitlichendes und durch die Einzelperson kontrolliertes Selbst-Bild zu verwerfen. Weil Menschen heute in verschiedenen Lebenswelten leben und mit diversen Rollenanforderungen konfrontiert sind, wird stattdessen postuliert, dass sich „Identität“ in Form einer anhaltenden Selbstbefragung vollziehe. Das Ergebnis dieser Bemühungen sei nicht länger eine, eine in sich stimmige und stabile Identität, sondern ein aus mehreren Lebenserfahrungen zusammengesetztes Selbstbild, das als widersprüchlich, inkonsistent, entwurzelt und fragmentiert charakterisiert wird. Inszenierungen des Selbst seien heute sowohl real wie auch virtuell, sowohl vereinheitlicht wie auch verstreut. Es ist die Rede von „Bastelexistenzen“ (Hitzler/Honer 1994), von der „Patchwork-Identität“ (Keupp/Höfer 1997) und von „multiplen Selbsten“ (Bilden 1997).
Theorien zur Herstellung von Identitäten: Identifizierungen und Identitätsarbeit Identitäten werden durch soziale Vorgaben strukturiert und in kommunikativen Handlungen zum Ausdruck gebracht. Soziologische Erklärungen gehen davon aus, dass „Identitäten“ auf einer Art innerer Konversation basieren, in die Verbalität, Gefühle und körpersprachliche Aktivitäten eingebunden sind. Dies ist sowohl ein bewusst gesteuerter als auch unbewusst ablaufender Prozess, der zum einen als „Identifizierung/Identifikation“, zum anderen als „Identitätsarbeit“ beschrieben wird. Die psychoanalytische Theorie menschlicher Entwicklung geht davon aus, dass sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt, den Dingen, Personen, Geräuschen und den damit einhergehenden visuellen, akustischen, haptischen und emotionalen Eindrücken allmählich eine Vorstellung von der eigenen Person entwickelt. Im Verhältnis mit anderen und durch die Wahrnehmung und Anerkennung der eigenen Personen durch andere Menschen werden Bilder vom Selbst entworfen, die jedoch nicht als sicherer Besitz gespeichert sind. Vielmehr ist die Entstehung dieser Bilder in einem fortschreitenden Prozess von Identifizierungen und Trennungen eingebunden. Identifizierungen verlaufen als zweiphasige und doppelgleisige Prozesse: Es gibt eine primäre und eine sekundäre Identifizierung. In der primären Phase der Identifizierung ist das Kind hauptsächlich auf seine erste Bezugsperson ausgerichtet. In der sekundären Phase der Identifizierung wird die primäre Identifizierung durch andere Identifizierungen erweitert oder auch konkurrierend verdrängt. Darüber hinaus verlaufen Identifizierungen doppelgleisig, sie werden über zwei verschiedene Mechanismen vollzogen:
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> die der Gefühlsbindung an die Personen und Objekte der Umwelt, und > die des Dranges zur Nachahmung bewunderter Verhaltensweisen und Einstellungen der
Bezugspersonen. Identifizierungen sind demzufolge Prozesse, in denen bewusste Vorstellungen und unbewusste Phantasien mehrdeutiger, widersprüchlicher Beziehungserfahrungen und Rollen individuell kombiniert werden. Sie münden in Identifikationen, die sich aus biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren zusammensetzen. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich schrittweise in Identifizierungsprozessen, die auf verschiedenen Ebenen ablaufen. So spielen erstens Körperempfindungen und psychosexuelle Erfahrungen eine Rolle. Zweitens gehen Interaktionen und Identifikationen mit Bezugspersonen in die Identitätsbildung ein. Drittens werden Normen, soziale Rollen und Körperschemata erlernt und nicht zuletzt verlaufen Identifizierungen auch in Form von Selbstkategorisierungsprozessen. Als ein sich ständig wandelndes Produkt interaktiver und identifizierender Prozesse sind Identifikationen nie fest und statisch. Sie werden hergestellt, immer wieder verändert und neu geschaffen. So sind auch Identitäten ein vorläufiges Ergebnis täglicher Definitions- und Abklärungsbemühungen. Diese werden in der soziologischen Literatur auch als „Identitätsarbeit“ und „Identitätspolitik“ beschrieben. Mit „Identitätsarbeit“ sind alltägliche Verfahren bezeichnet, mit denen Menschen sich ihrer selbst vergewissern und sich selbst definieren. Dazu gehören Inszenierung und Präsentation, verschiedene Ausdrucksformen und Darstellungsmöglichkeiten von „Identitäten“, wie sie beispielsweise über Kleidung, Auftreten oder auch die Art des Sprechens zum Ausdruck gebracht werden. Diese Mechanismen werden zum einen als selbstverständlich gewordene, routinisierte Abläufe der Selbstpräsentation beschrieben und mit Erving Goffman als Formen des „impression management“ charakterisiert (Goffman 1968). Zum anderen werden die rhetorischen Strategien und diskursiven Mechanismen, die dazu beitragen, dass Identitäten erneuert und erhalten werden, genauer in den Blick genommen. So hat zum Beispiel der britische Soziologe Anthony Giddens die Identitätskonstruktion als ein kreatives, hochgradig reflektiertes, mit Wissen aufgeladenes und moralisch-normatives Projekt bezeichnet. Dieses Projekt vollziehe sich primär als Erzählung, bedürfe der individuellen Verfügungsmöglichkeit über Zeit und realisiere sich als bewusste Steuerung körperlicher Ausdrucksformen. Giddens sieht im Körperbewusstsein den „Ort“ von Identität. Hier realisieren sich die verschiedenen Möglichkeiten und Gelegenheiten der Selbstformierung, die im Nachhinein mit einer Lebens-Erzählung in Einklang gebracht werden (Giddens 1991). Solche kreativen Aspekte kommen auch zum Tragen in Aktivitäten, für die sich im angelsächsischen Raum der Begriff „Identitätspolitik“ durchgesetzt hat. Hier geht es darum, Strategien für die politische Anerkennung oder Gleichstellung diskriminierter oder marginalisierter Gruppen, z.B. Migranten, Homosexuelle, Asylsuchende oder Frauen zu organisieren. Die angenommenen Besonderheiten der jeweiligen Gruppen sollen positiv besetzt und in der gesellschaftlichen Debatte neu bewertet werden. In dieser theoretischen Perspektive stehen interaktive, narrative und rhetorische Strategien der Präsentation von Erfahrungen, Erlebnissen und Vorstellungen im Mittelpunkt. Wie und mit welchen Inhalten Identitäten inszeniert werden, erscheint als Wahlhandlung und als Leistung von Individuen. Identität wird als eine Konstruktion aus Symbolen, Zeichen und Deutungsmustern in den Blick genommen. Sie ist immer an das Prinzip von Einschluss und Ausschluss als Instrument der Selbstbeschreibung gebunden; eine männliche Identität zu haben,
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bedeutet, keine Frau zu sein, zur Gruppe der Schwulen zu gehören, schließt die Heterosexuellen aus usw.
Wandel des Begriffsverständnisses Neuere Erklärungsansätze verstehen Identität nicht länger als Ergebnis individueller Identifikationen mit Normen, Werten und Kontrollinstanzen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass aufgrund rasanter Transformationen in der heutigen Welt, die mit dem Begriff der Globalisierung verbunden sind, auch die Selbst-Entwürfe der Einzelpersonen einen geringer werdenden Anspruch auf Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit haben. Zwar lässt sich empirisch belegen, dass auch heute noch „Identität“ mit Hilfe von Texten und Erzählweisen von den Einzelpersonen präsentiert und auf diese Weise die Etablierung von Kontinuität und von längerfristigen Sinneinheiten versucht wird. Dies gelingt jedoch häufig nur noch als punktuelle, szenische und primär ästhetische Inszenierung von Persönlichkeit. Soziale Gruppen und Gemeinschaften wie auch die Gesellschaft seien nicht länger in der Lage, Strukturen und Einflüsse bereit zu stellen, die Individuen in Form einer vorgegebenen „Identität“ nutzen könnten. Vergemeinschaftung auf der Grundlage einer sozial geteilten „Identität“ könne sich zunehmend seltener realisieren (Eikelpasch/Rademacher 2004). In der aktuellen Diskussion wird deshalb davon ausgegangen, dass Identität nicht länger als Eigenschaft von Individuen gefasst werden kann, sondern als Fähigkeit, als „Identitätskompetenz“ (Negt 2002: 502), verstanden werden soll Identität ist nicht notwendigerweise Ausdruck einer dahinter stehenden Person mit einer entsprechenden „Subjektivität“. Identität ist vielmehr ein kommunikatives Prinzip, eine bestimmte Art, Individualität zu entwerfen, die wiederum selbst Wirkungen entfaltet und Bedeutungen hervorbringt.
Literatur Bilden, Helga (1997): Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. Zur Pluralität in Individuum und Gesellschaft. In: Keupp, H./Höfer, R. (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M., S. 227–250. Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. Eikelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia (2004): Identität. Bielefeld. Erikson, Erik H. (1966): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M. Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self Identity. Self and Society in Late Modern Age. Stanford. Goffman, Erving (1956/1968): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Frankfurt/M. Hahn, Alois (1987): Identität und Selbstthematisierung, in: Hahn, A./Kapp, V. (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/M., S. 9–24. Hitzler, Ronald/Honer, Anne (1995): Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In: Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt/M., S. 307–315. Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hg.) (1997): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M. Mead, George Herbert (1950/1968): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. Negt, Oskar (2002): Arbeit und menschliche Würde. Göttingen Riesman, David (1952/1958): Die einsame Masse. Reinbek
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Albert Scherr Dass es Jugend als eigenständige Lebensphase und Jugendliche als abgrenzbare Altersgruppe gibt, wird im pädagogischen Diskurs gewöhnlich ebenso als selbstverständliche Tatsache vorausgesetzt wie die Notwendigkeit der Erziehung von Jugendlichen. Jugendliche gelten, ebenso wie Kinder, als erziehungsbedürftig. Seit Jean-Jacques Rousseau wird zudem davon ausgegangen, dass die Erziehung und Bildung von Jugendlichen mit besonderen, sie von der Kindererziehung unterscheidenden Schwierigkeiten verbunden ist. Rousseau (1762/1978: 211ff.) betrachtet die Pubertät und die damit einsetzende „Geburt der Leidenschaften“ als einen „kritischen Zustand“, der besondere pädagogische Bemühungen erforderlich macht. Daran schließen zahlreiche entwicklungspsychologische Deutungen an, die Jugend als eine dynamische und potentiell krisenhafte psychosexuelle Entwicklungsphase thematisieren (s. Fend 2000: 33ff.). Entwicklungspsychologische Theorien des Jugendalters gewinnen ihre Plausibilität nicht zuletzt daraus, dass sie eine nachvollziehbare Erklärung für selbst erlebte Dynamiken und Schwierigkeiten anbieten. Sie legen ein Verständnis nahe, das Veränderungen und Krisen in der Adoleszenz als eine vermeintlich selbstverständliche Folge körperlicher und psychischer Prozesse erklärt. Demgegenüber weist eine soziologische Betrachtung von Jugend als gesellschaftlich institutionalisierter Lebensphase darauf hin, dass Jugend keine ahistorische und natürliche Phase der individuellen Entwicklung, sondern ein genuin gesellschaftliches Phänomen ist. Zur Begründung dieser Behauptung kann zunächst geltend gemacht werden, dass es zwar in allen Gesellschaften biologische und psychodynamische Entwicklungsprozesse gibt, in denen der Beginn der Pubertät einen mehr oder weniger bedeutsamen Einschnitt im Lebenslauf markiert. Diese Entwicklungsprozesse führen aber nicht notwendig zu der Vorstellung, dass es sich dabei um eine eigenständige und neue, qualitativ von der Kindheit und dem Erwachsenenalter unterschiedene Phase der Persönlichkeitsentwicklung handelt. Sozialhistorische Studien (s. Mitterauer 1986: 17ff.) weisen zudem nach, dass die vermeintlich jugendtypischen Entwicklungsprobleme, etwa Ablösungskonflikte von der Herkunftsfamilie, in vorindustriellen Agrargesellschaften keineswegs generell und selbstverständlich auftraten. Jugend im modernen Sinn des Begriffs – als von den Zwängen der Arbeit freigesetzte Phase des Lernens und der Entwicklung – war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zudem ein Privileg der Mittelund Oberschichten (s. Gillis 1980: 105ff.). Nachweisbar ist auch, dass einflussreiche Vorstellungen über „die Jugend“ bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf unzulässigen Verallgemeinerungen von Beobachtungen beruhen, deren empirischer Bezugspunkt eine Teilgruppe der männlichen Heranwachsenden ist. Seit den 1970er Jahren entfällt auch ein klassisches Unterscheidungsmerkmal von Jugend und Erwachsenenleben: Sexualität ist kein Privileg (verheirateter) Erwachsener mehr und damit wird eine bis dahin grundlegende Abgrenzung und eine für die Psychodynamik der Jugendphase hoch bedeutsame Normierung hinfällig. Theorien, die im Spannungsverhältnis zwischen sexuellen Bedürfnissen Jugendlicher und darauf
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bezogenen repressiven Sexualnormen den Grundkonflikt der Adoleszenz sehen, verlieren in der Folge weitgehend ihre Grundlage. Zusammenfassend lässt sich vor dem Hintergrund sozialhistorischer und soziologischer Untersuchungen zunächst folgendes feststellen: > Jugend im heute gängigen Sinn des Wortes – als eine eigenständige, von der Kindheit und dem Erwachsenenalter unterschiedene Lebensphase weiblicher und männlicher Heranwachsender aus allen sozialen Klassen und Milieus, der eine zentrale Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung zugesprochen wird – entsteht mit der Industrialisierung und setzt sich erst allmählich im 20. Jahrhundert durch. Von zentraler Bedeutung hierfür sind die mit der Industrialisierung einhergehende soziale und räumliche Trennung von Haushalt, Ausbildung und Erwerbstätigkeit, die Etablierung der allgemeinen Schulpflicht und die Verlängerung der Schulbesuchszeiten. > Gesellschaftliche Entwicklungen wie die Veränderung der gesellschaftlichen Normierung von Sexualität, die Verlängerung der Dauer schulischer und beruflicher Ausbildungsgänge, die Infragestellung der patriarchalischen Geschlechterordnung oder der Wandel von strikt autoritären zu eher liberalen Erziehungskonzepten sind nicht nur Veränderungen der äußerlichen Rahmenbedingungen des Heranwachsens. Sie haben vielmehr auch Auswirkungen darauf, wie Jugend als Phase der individuellen Entwicklung erlebt wird und was jeweils als jugendtypische Verhaltensweisen und Probleme gilt. > Auch pädagogische Vorstellungen über den typischen bzw. idealen Verlauf der Entwicklung und über relevante Problemlagen im Jugendalter verändern sich mit der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung; sie waren und sind zudem klassen- und geschlechtsbezogen differenziert gefasst. So war etwa in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bis zum Ende der 1960er Jahre die bewertende Unterscheidung zwischen der sog. „Kulturpubertät“ Jugendlicher aus dem Bürgertum und der sog. „Primitivpubertät“ von Arbeiterjugendlichen einflussreich. Damit verband sich die Idealvorstellung eines jugendlichen Bildungsprozesses, der in der Auseinandersetzung mit „dem kulturellen Erbe des Abendlandes“ erfolgt. Demgegenüber sind gegenwärtige Bildungskonzepte zentral an den Qualifikationserfordernisseen der sog. Wissens- und Informationsgesellschaft ausgerichtet und dies unter Bedingungen, die ein von beruflichen Verwertungsinteressen freies Bildungsstudium auch für Jugendliche aus bildungsbürgerlichen Familien nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Damit ist bereits angedeutet, dass eine soziologische Betrachtung darauf verwiesen ist, zu untersuchen > wie Jugend als Lebensphase gesellschaftlich (ökonomisch, rechtlich, durch das Bildungssystem usw.) konturiert ist; > welche Erwartungen über den normalen und idealen Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter sowie über vermeintlich jugendtypische Verhaltensweisen und Probleme damit einhergehen; > welche unterschiedlichen Lebensbedingungen und Verlaufsformen sozial ungleicher sowie geschlechtsbezogen unterschiedlicher Jugenden damit verbunden sind. Darüber hinaus interessiert sich soziologische Jugendforschung für > soziale Praktiken, in denen sich Jugendliche mit unterschiedlichen Aspekten ihrer Lebenslage und an sie gerichteten Erwartungen auseinander setzen sowie für
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Jugenden
> die eigenständigen jugendkulturellen Formen und Praktiken, mit denen Jugendliche selbst
zur Entstehung und Entwicklung von Jugend als abgrenzbare Lebensphase beitragen. Dies verbindet sich mit dem Anspruch aufzuzeigen, dass in einer bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung bedeutsame jugendtypische Verhaltensweisen und Probleme nicht angemessen und zureichend entwicklungspsychologisch erklärt werden können, sondern dass es sich um Phänomene handelt, die nur vor dem Hintergrund einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungsdynamiken verstanden werden können. Dies soll im Weiteren an drei Beispielen exemplarisch verdeutlicht werden (s. dazu Abels 1993; Griese 1987; Schäfers/Scherr 2005).
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter Ein einflussreiches entwicklungspsychologisches Konzept für die Beschreibung innerer Entwicklungsprozesse und sog. jugendtypischer Verhaltensweisen ist das der lebensphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben (s. Fend 2000: 210ff.). Für die Adoleszenz werden u.a. die folgenden Entwicklungsaufgaben beschrieben: der Aufbau neuer und reiferer Beziehungen zu männlichen und weiblichen Altersgenossen; die Übernahme der männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle; die emotionale Ablösung von den Eltern; die Vorbereitung auf Ehe und Familienleben sowie auf eine berufliche Karriere; die Entwicklung von Werten, an denen sich das eigene Verhalten orientiert (ebd.: 211). Die Annahme, dass es diese – und keine anderen Entwicklungsaufgaben – sind, deren Bewältigung Jugendlichen zugemutet wird, gewinnt ihre Plausibilität daraus, dass soziale Erwartungen, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation an Jugendliche gerichtet werden, beschrieben werden. Dass es sich hierbei um gesellschaftliche, also nicht um „natürliche“ bzw. allein aus der psychischen Entwicklungsdynamik resultierende Aufgaben handelt, wird auch von Entwicklungspsychologen eingeräumt. So formuliert Helmut Fend (ebd.: 210), dass dieses Konzept eine „Sozialgeschichte der Bedingungen des Aufwachsens“ sowie Annahmen über die jeweiligen „historischen Lebensbedingungen“ voraussetzt. Es ist insofern durchaus anschlussfähig für eine soziologische Perspektive. In einer soziologischen Perspektive ist es jedoch erforderlich, zu untersuchen, a) welche Entwicklungsaufgaben für welche Teilgruppen Jugendlicher bedeutsam sind, b) wie diese Aufgaben und ihre konkrete Fassung sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung verändern, c) über welche sozial ungleich verteilten Ressourcen Jugendliche bei der Bewältigung dieser Aufgaben verfügen sowie d) was gesellschaftlich jeweils als zulässige und erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben gilt. Ein soziologisches Verständnis von Entwicklungsaufgaben als soziale Anforderungen, deren legitime Bewältigungsformen sozial festgelegt werden und die vor dem Hintergrund spezifischer und ungleicher Lebensbedingungen bewältigt werden, stellt Lesarten dieses Konzeptes in Frage, die unterstellen, es handele sich im Kern um außergesellschaftliche, psychisch und/oder organisch bedingte Erfordernisse. Entsprechend wendet Carol Hagemann-White (1996: 838f.) gegen die Vorstellung einheitlicher Entwicklungsaufgaben für alle Jugendlichen ein, dass es eine Reihe von Jugendlichen gibt, denen „Zusatzaufgaben“ gestellt werden. So stellt sich z.B. Jugendlichen, die „aufgrund äußerlicher Merkmale als ,Ausländer‘ oder ,Schwarze‘ eingeordnet werden könnten, die Aufgabe, mit dem alltäglichen Rassismus ... umzugehen“. Weiter argumentiert Hagemann-White, dass auch die Unterstellung einer prinzipiellen Lösbarkeit gesellschaftlich zugemuteter Ent-
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wicklungsaufgaben durch alle Jugendlichen in Frage zu stellen ist. So ist die Anforderung, sich auf eine berufliche Karriere vorzubereiten, für diejenige Teilgruppe Jugendlicher paradox, die die Schule in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ohne qualifizierten Abschluss und damit ohne erkennbare Karriereperspektiven verlassen.
Jugendproteste in französischen Vorstädten Im November 2005 berichteten die Medien über gewalttätige Ausschreitungen in französischen Vorstädten und warfen die Frage auf, wie es dazu kommen konnte, dass Jugendliche Autos anzünden und sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Selbst die Tageszeitungen räumten diesbezüglich ein, dass es nicht genügt, bei der Suche nach Erklärungen allein den konkreten Anlass – den Tod zweier Jugendlicher, die vor der Polizei flüchteten, die Beschimpfung protestierender Vorstadtjugendlicher als „Gesindel“ durch den Innenminister – in den Blick zu nehmen. Was also führt zu einer Situation, in der solche Ereignisse zu scheinbar sinnlosen Gewaltaktionen führen? Jugendsoziologische Studien zur Situation in den französischen Vorstädten hatten schon 10 Jahre zuvor darauf hingewiesen, dass sich dort eine hoch problematische Entwicklung abzeichnet: In den Vorstädten verdichten sich soziale Problemlagen (Arbeitslosigkeit, Armut, schlechte Wohnverhältnisse), die vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund betreffen. Dort lebende Jugendliche, insbesondere Jugendliche, deren Familien aus Nordafrika zugewandert sind, sind zudem mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert: „Nur zu oft wird ihnen an bestimmten gern besuchten Orten wie zum Beispiel Nachtlokalen oder Discotheken mit fadenscheinigen Gründen der Zutritt verwehrt. Vor allem aber erfahren sie Diskriminierung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. ... Bei der Wohnungssuche werden sie von privaten Wohnungsvermittlern erkennbar benachteiligt“ (Dubet/Lapeyronnie 1993: 143). Vor diesem Hintergrund entwickelt sich nicht nur das Gefühl, in einer aussichtslosen Situation gefangen zu sein, in der weder Chancen auf einen qualifizierten Arbeitsplatz, noch auf ein Entkommen aus den benachteiligten Vierteln bestehen. Francois Dubet und Didier Lapeyronnie zeigen darüber hinaus auf, dass die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation bei einem Teil der Jugendlichen zu einer diffusen Wut führt: Ohne politisches Bewusstsein „findet sich der ausgegrenzte, haltlose einzelne einer Gesellschaft gegenüber, die aus seinem Blickwinkel weder Sinn noch Zukunft hat. Es gibt nichts mehr, was die heftigen Gefühle von Ungerechtigkeit und Beherrschtsein in geordnete Bahnen lenken und organisieren könnte. Wut wird zum Handlungsmotiv. Zerschlagen und Zerstören, und zwar nicht nur die anderen, sondern das eigene Umfeld, sich selbst, gilt als normal und richtig“ (ebd.: 113). Damit sind Ansatzpunkte einer jugendsoziologischen Erklärung skizziert, die eine Analyse der objektiven Lebensbedingungen (Wohnbedingungen, Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation) und der gesellschaftlichen Position (Benachteiligung gegenüber den Bewohnern anderer Stadtviertel; Diskriminierung) mit einem sinnverstehenden Zugang zu den Sichtweisen und Motiven verbindet, die in diesem Kontext entstehen.
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Aufwachsen mit Widersprüchen Eine Aufgabenstellung von Jugendsoziologie liegt darin, Praktiken Jugendlicher in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen zu analysieren. Diesbezüglich wurde in den 1980er Jahren ein umfassender Strukturwandel der Jugendphase diagnostiziert (s. dazu Hornstein 1988). Dabei wurde u.a. deutlich, dass ein tradiertes Verständnis von Jugend als pädagogisch behüteter Schonraum nicht mehr tragfähig ist. Denn auf der einen Seite verfügt Pädagogik in Folge der Verbreitung der Massenmedien nicht mehr über die Möglichkeit zu kontrollieren, welches Wissen über die soziale Wirklichkeit Jugendlichen zugänglich ist. Bemühungen, Jugendliche etwa vor einer Konfrontation mit medialen Darstellungen von Gewalt und vor Pornografie zu schützen, misslingen. Andererseits stehen Jugendliche vor der in sich widersprüchlichen Anforderung, sich durch schulische und berufliche Bildung auf eine Erwerbstätigkeit vorzubereiten, ohne dass – unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel – ein Erfolg diesbezüglicher Anstrengungen garantiert ist. Walter Hornstein (ebd.: 77) formulierte deshalb die These, dass die für klassische jugendpädagogische Konzepte grundlegende Erwartung an Jugendliche, dass sie im Interesse künftiger Belohnungen (ein sicheres Einkommen, ein anerkannter sozialer Status usw.) auf die Befriedigung aktueller Bedürfnisse verzichten sollen, für viele Jugendliche nicht mehr plausibel sei. Ein weiterer Aspekt der inneren Widersprüchlichkeit der Jugendphase ist darin zu sehen, dass Jugendliche zwar unter Bedingungen aufwachsen, in denen traditionelle rigide Normierungen – etwa in Hinblick auf den Umgang mit Sexualität, Partnerwahl und Familiengründung – an Einfluss verloren haben. Dies bedeutet aber keineswegs, dass Jugendliche sich in einer Situation vorfinden, in denen gesellschaftliche Normsetzungen generell bedeutungslos geworden sind. Vielmehr werden in Familien, durch die Massenmedien und in pädagogischen Kontexten immer wieder neue Normensetzungen in Hinblick auf anzustrebenden beruflichen Erfolg, die Wichtigkeit des Besitzes von Konsumgütern, körperliche Attraktivität usw. vorgenommen, die als ein erheblicher Erwartungsdruck erlebt werden können. Damit ist angedeutet, dass ein angemessenes Verständnis der Situation Jugendlicher eine umfassend angelegte, d.h. ökonomische, kulturelle, politische, mediale usw. Entwicklungen einbeziehende Gesellschaftsanalyse voraussetzt. Denn nur auf dieser Grundlage und unter Berücksichtung sozial ungleicher und heterogener Jugenden kann angemessen analysiert werden, welche Praktiken der Lebensbewältigung und welche Lebensentwürfe Jugendliche individuell, in Gleichaltrigengruppen und in Jugendkulturen entwickeln und erproben.
Literatur Abels, Heinz (1993): Jugend vor der Moderne. Opladen. Gillis, John R. (1980): Geschichte der Jugend. Weinheim/Basel. Griese, Hartmut M. (1987): Sozialwissenschaftliche Jugendtheorien. Weinheim/Basel. Hornstein, Walter (1988): Strukturwandel der Jugendphase in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ferchhoff, W./Olk, T. (Hg.): Jugend im internationalen Vergleich. Weinheim/München, S. 70–92. Schäfers, Bernhard/Scherr, Albert (2005): Jugendsoziologie. 8. Aufl. Wiesbaden.
Jugendkulturen
Wilfried Ferchhoff In den sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Vorstellungen von Jugend nimmt die These von einer eigenständigen Jugendkultur bzw. Jugendsubkultur der Heranwachsenden seit der Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) und spätestens seit der nicht nur wirtschaftlichen Entdeckung und Erfindung des Teenagers in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert einen wichtigen Stellenwert ein. Ausgangspunkt war die Beobachtung Anfang des 20. Jahrhunderts, dass ein Teil der Jugendlichen sich bewusst von der Erwachsenengesellschaft abgrenzt und sich zu eigenen Jugendgruppen zusammenschließt, die für sich beanspruchen, einen eigenständigen Lebensstil bzw. Lebensentwurf zu realisieren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein Verständnis von Jugendkultur als Gegenkultur oder Subkultur in Frage gestellt. Der Begriff Jugendsubkultur wird durch den Jugendkulturbegriff – ohne emphatisches sub – oder auch durch den – offeneren, begrenzte Dauer anzeigenden – Szenebegriff (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001) ersetzt. Begründet ist dies zum einen darin, dass Jugendkulturen nicht mehr durchgängig durch eine Infragestellung des konsensuellen Standpunktes einer dominanten Kultur charakterisiert sind. Ein einheitlicher Bezugspunkt einer Mainstream-Kultur, Hochkultur oder Stammkultur, auf den sich in der Vergangenheit der Jugendsubkulturbegriff in seinem widerständig-subversiven, oppositionell-rebellisch und konfliktträchtigen Anderssein beziehen konnte, scheint im globalisierten, kommerzialisierten und pluralen kulturellen Schmelztiegel des weitverbreiteten anything goes der Stilmixe abhanden gekommen zu sein. Während Gustav Wyneken (bürgerliche Jugendbewegung, pädagogische Reformideen, Freie Schulgemeinde) und Siegfried Bernfeld (sozialistische Pädagogik) zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine bestimmte, an bürgerlichen Wertvorstellungen und Normen sich abarbeitende Jugendkultur im Auge hatten, haben wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer Pluralisierung, Individualisierung und Vermischung der jugendlichen Eigenwelten, Gesellungsformen und Selbst-Konzepte zu tun: darum der Plural Jugendkulturen oder auch Jugendszenen (Ferchhoff 1990, 2000; Baacke 2004). Die zunehmende Mediatisierung – nicht nur durch MTV und VIVA –, Kommerzialisierung und Globalisierung von Jugendkulturen haben einer Vielfalt modisch stilbezogener Jugendkulturen zum Durchbruch verholfen. Jugendsubkulturen durchliefen in der Vergangenheit und durchlaufen zum Teil bis in die Gegenwart hinein einen „Zirkel“ von Subversion, Widerstand, Umwandlung, Entschärfung, Aufweichung, Vereinnahmung und Anpassung. Unabhängig davon, welche gesellschaftliche Funktion man den verschiedenen Jugendsubkulturen insgesamt zuwies, war die sozialwissenschaftliche und pädagogische Debatte darauf ausgerichtet, das Entstehen von Jugendsubkulturen in Bezug auf Veränderungen des gesamtgesellschaftlichen Gefüges zu erklären. Denn Jugend(sub-)kulturen waren und sind, obwohl es immer auch um Fragen der Identität, Geltung, Anerkennung und Abgrenzung ging und geht, keine zeitübergreifenden Phänomene, sondern innerhalb bestimmter Lebensverhältnisse und gesellschaftlicher Veränderungsdynamiken situiert. Strukturell Gegebenes und Bedingtes wurde und wird allerdings jugendkulturell nicht
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nur irgendwie bewältigt, nicht nur irgendwie subjektiv verarbeitet, sondern auch in selbstkreierten Lebenswelten und auf vielen Bühnen der Selbstinszenierung geradezu mit jeweils nicht vorhersagbarem spezifischem Eigensinn versehen. Die heutigen Jugendkulturen weisen im Gegensatz zu klassischen Jugendkultur-Konzepten weniger Affinitäten zu hochkulturellen, klassenkulturellen und schichtspezifischen Dimensionen auf und sind vor allem noch stärker freizeit-, symbol- und medienbezogen, konsumorientiert sowie entschieden schulferner. Die verschiedenen Varianten und Facetten heutiger Jugendkulturen sind also im Vergleich zu den meisten vergangenen Jugendsubkulturen und Jugendkulturen nicht mehr konsistent klassen-, schicht- und milieuspezifisch zu verorten – obwohl auch heutige Jugendkulturen keineswegs gänzlich „jenseits von Klasse und Stand“ angesiedelt sind. Sie lassen sich auch nicht mehr eindeutig protestbezogenen bzw. subversiven – oder kriminalsoziologisch betrachtet: abweichenden bzw. devianten – Subkulturen (Ferchhoff 2000) und auch nicht nur konsumorientierten Unterhaltungskulturen zuordnen. Auch bedeutsame gesellschaftliche Trägerelemente heutiger Jugendkulturen gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht: die vielfach in sich differenzierten Medien/Massenmedien. Sie tragen nicht nur zur Internationalisierung, Globalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung der Jugendkulturen bei, sondern ermöglichen zumindest teilweise auch ihre globale und zugleich lokale Konstitution. Schon In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich gegenüber den 60er, 70er und 80er Jahren die diversen Jugendkulturen noch einmal beträchtlich vermehrt und vielfältig ausdifferenziert, so dass am Anfang des 21. Jahrhunderts allen kulturindustriellen Vereinnahmungsversuchen zum Trotz eine kaum mehr überschaubare Vielfalt von unterschiedlichen, oftmals partikularen und temporären jugendkulturellen Selbstinszenierungen, Verhaltensweisen und Orientierungen, Ritualen, Mutproben, Einstellungen, Ausfächerungen und Stilisierungen vagabundiert. Eines kann festgehalten werden: Es gibt im Zuge der Entstrukturierungs- und Individualisierungstendenzen der Jugendphase sowie in dem widersprüchlichen und undurchsichtigen Konglomerat der zuweilen diffusen jugendkulturellen Erscheinungen kein Gesamt-Bild der Jugend und -kulturen. Zuordnungen und Antworten fallen schwer. Komplexe, differenzierte und auch widersprüchliche Bilder zu den einzelnen Jugendkulturen und Jugendszenen, die – auf unterschiedlichen methodischen Wegen – empirisch ermittelt werden, können kaum noch auf verallgemeinerungsfähiger Grundlage gebündelt werden. Und manchmal ist in einer Art ethnologischer bzw. ethnographischer Perspektive die alltagsphänomenologische Vorliebe für das jugendkulturelle Detail so groß, dass tiefenstrukturelle Zusammenhänge verloren gehen.
Jugendszenen und Jugendstile* Jugendszenen/ Jugendkulturen Boy-groups/ Girl-groups
Kurzcharakterisierung Durch Jugendzeitschriften und audiovisuelle Jugendmedien werden Boygroups und inzwischen auch Girl-Groups als Idole medial inszeniert. Im Anschluss an die von Musikmanagern 1965 erfundene erste amerikanische Boygroup „The Monkees“ waren die wohl prägendsten Boygroups und Schwarm vieler Mädchenherzen in den 80er Jahren „Take That“ sowie Ende der 90er Jahre die „Back Street Boys“ (auch heute noch aktiv) oder „N’Sync“. Als bekannteste Girl-Groups sind immer noch die „Spice Girls“, in jüngeren Varianten die „No Angles“, zu nennen.
Ausdrucksformen/ Kultgegenstände, Devotionalien Fanposter, Sammelordner mit Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitteund Bildern, Autogrammkarten oder Gegenstände, die von den Stars resp. Idolen berührt wurden, immer wieder Kuscheltiere.
Jugendkulturen
Jugendszenen/ Jugendkulturen
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Kurzcharakterisierung
Ausdrucksformen/ Kultgegenstände, Devotionalien
Computerkids
Kinder und Jugendliche, die – auch zu mehreren – Lust am Tüfteln diverse Computerzeitschrifund an Computerspielen ganz unterschiedlicher Couleur wie ten und spezifische Spiele Jump’n Run, Action, Sport, Adventure, Strategie, Ego-Shooter, Si- und Spielvariationen. mulation usw. haben (Downloads von Spielen, Filmen, Musik etc.) und zuweilen nächtelang den Lichtschein des PCs etwa auf LANPartys oder beim kreativen Erstellen von Websites hochschätzen.
Fußballfans
Ob FCK, Bayern, Schalke, Arminia, Hansa oder BVB – viele Jugendliche, besonders Jungen, zunehmend aber auch Mädchen im Kids-Alter von 10 bis 14 Jahren bringen in die Schule, Jugendgruppe oder manchen informellen Jugendtreffs Trikots, Schals, Mützen oder andere Accessoires ihres Lieblingsvereins mit. Nicht selten zeigt die Verehrung für den Verein, aber auch für einige Spieler kulthafte, zuweilen auch emotional-schwärmerische Züge.
Fantasy-Fans
Jugendliche, die einen großen Teil ihrer Freizeit durch Rollen- Kartenspiel: bspw. „Magic“; und/oder auch Kartenspielen nicht nur auf Burgen in mittelalterli- Fantasy-Spiele: bspw. „Das chen Gewändern und Ausrüstungen verbringen. schwarze Auge“.
Hooligans
Die gewaltbereite Szene ist nicht auf bestimmte Orte und Zeiten bezogen; die ausgeübte, i.d.R. regelgeleitete und nur auf die Szenen bezogene Gewalt wird im Medium außeralltäglicher Erlebnisse und Gefühle als Kick erlebt und besitzt temporären Charakter; die Zoff-Aktivisten und Randaletouristen sind keine vollzeitlichen Angehörige eines Kollektivs.
Häufig Designer-Klamotten, ansonsten in den Kleidungsstilen und Accessoires eher auffällig unauffällig.
Grunge
Obgleich schon ein wenig Patina angesetzt, wird immer noch die Anfang der 90er Jahre wegweisende Gruppe Nirvana geschätzt, auch „Moodhoney“ und „Pearl Jam“; sie lieferten die Musik zu dem Lebensgefühl des „I m a looser, baby. So why don’t you kill me“. Verweigerung gegenüber den yuppiehaften Zügen war nicht nur in Seattle angesagt.
Kleidung durfte zerfetzt, zerschlissen sein und aussehen; die Haare strähnig; Schmuddelkinder-Image; legendäre Kurt Cobain-Poster.
Kellys
Die Kelly-Familie soll immer noch junge – gemeint sind vor allem Poster, Sammelordner. weibliche Kids – und auch Alte, mehrheitlich Frauen anziehen, die auf „heile Familie“ stehen.
Junge Christen
Gemeinsam ist ihnen, dass sie einen spirituellen Lebenssinnmit- Christliche Symbole (zumeist telpunkt anstreben. Zu unterscheiden wären die sozial, manchmal keine Devotionalien), eher auch noch politisch motivierten Christen und frommere, manch- Szenekennzeichen. mal auch quasi fundamentalistische Kreise die – bspw. in geistlichen Gemeinschaften oder auf Pilgerreisen – ein wiederbelebtes Gemeinschaftsleben und im Rahmen christlicher Innerlichkeit die unmittelbare Beziehung zu Christus fasziniert.
White-, Black-, Dark-, Trash-, Death Metal, Satans-Rock
In den Texten und in der Härte der Musik unterscheiden sich diese Richtungen, in der oft inszenierte, dämonische und manchmal todessüchtige oder Endzeitstimmungs-Musik zu hören ist. Gewaltverherrlichung, Sexismus und schwarze Magie klingen an. Extreme Richtungen neigen zu Satan verehrender Musik. In der BlackMetal-Szene sind im Zuge des sogenannten Hatecore auch rechte Töne zu hören. Die Grenzen zwischen den Richtungen werden aber von den kleineren Gruppen von Jugendlichen bewusst gezogen.
Martialische Embleme und Insignien; schwarze (Leder-) Kleidung mit Aufdrucken esoterischer und satanistischer Symbole, Eisenringe und -ketten, Nietenbänder, Beile, Kettensägen, Schwerter; Bilder von Schlangen- und Totenköpfen, Hundegebisse etc.; Metaphoriken des Destruktiven und Andeutungen von Opferszenen, die insbesondere auch Kultbands verwenden.
Mainstream Pop/Rock
Discos, teilweise auch die Video-Clip-Sender wie MTV oder VIVA und (Jugend-)Radios liefern den Musikgeschmack für die, die sicherlich am Wochenende, aber ansonsten keine eingefleischten Szenegänger sind.
Poster, Mainstream-CDs; auch der „Download“ von Musikdateien aus dem Internet, ehemals auch „Napstern“ genannt.
Schals, Trikots, Poster, Bettwäsche, Autogrammkarten, Fan-Zeitschriften wie Schalke unser und Bücher, manchmal auch die gesamte Palette des Merchandising.
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Jugendszenen/ Jugendkulturen
Jugendkulturen
Kurzcharakterisierung
Ausdrucksformen/ Kultgegenstände, Devotionalien
Metaller
Jugendliche (vor allem männliche), die gerne ursprünglichen und handgemachten „Harten Rock“ hören – Übergänge zum HardCore sind vorhanden. Ein auf monotoner Wiederholung angelegter Grundrhythmus, der Verlässlichkeit und Echtheit suggeriert. Besonders beliebt in Deutschland waren in den 90er Jahren Bands wie Rammstein (bis heute brachial, provokativ und zugleich mainstreamgemäß sehr beliebt), Sepultura, Motorhead und immer noch Metallica, manchmal auch Böhse Onkelz.
Meistens lange Haare, schwarze Lederkleidung und Shirts in unterschiedlichen Variationen mit dem Logo der Lieblingsband.
Punks/ Punkrock
Nicht nur ästhetische Negation des Konsumterrors und der (Leistungs-)Gesellschaft; gegen bürgerliche Lebensformen und -normen zerfranstes Aussteigerimage, zerzauste, oft farbige Haare, auch harte Musik mit rauen und derben Texten, „schnorren“ nicht nur in den Fußgängerzonen; es gibt nach wie vor immer wieder Jugendliche nach vielen Totsagungen, die der Punk-Szene – auch als Revival – etwas abgewinnen können. Neben den bunten, eher kommerziellen Lifestyle-Produkten des Punk gibt es Übergänge zur Autonomen- und zur Berberszene.
Punk-Look in Kleidung und Haartracht, Springerstiefel oft mit roten Schnürsenkeln, Kultbands sind immer auch noch die mythenumwobenen ersten Punkbands wie Sex Pistols, The Clash, Damned, Eater, Laughter and the Dogs und gerade nicht nur die kommerziell erfolgreichen deutschen Punkbands wie „Die Ärzte“ oder „die Toten Hosen“.
Rapper/ Hiphopper
Eher „links“ orientiert, tendenziell gesellschaftskritisch; allerdings provoziert ein Teil der heutigen deutschen Hip-Hop-Szenen mit extrem sexistisch-homophoben und nazistischen Metaphern; eingefleischte Rapper treffen sich zu Hip-Hop-Jams; zuweilen Musikveranstaltungen (Sprechgesang), in denen spontan aus dem Stegreif freestyle gemäß gerappt wird. In den schwarzen Ghettos von Los Angeles ist in den letzten Jahren ein neuer Ghetto (Tanz-)Stil Krump entstanden, der mit extrem schnellen, harten, rohen, athletischen und ruckartigen Bewegungen aggressiver wirkt als der bisherige HipHop: eine Choreographie und Kreuzung zwischen HipHop und afrikanischen Stammestänzen. Auch die verschiedenen Graffiti-Szenen sind mindestens musikalisch gesehen im weitesten Sinne sehr häufig dem HipHop-Milieu zuzurechnen. Writer und Maler besetzen beim legalen und illegalen Sprühen zwischen Kunst und Protest, symbolisch mit ihren Zeichen (=Tags) Lebensräume und Territorien; sportive, ästhetische und kreative Seiten und Ansprüche werden beim Lackieren befriedigt.
Szenekleidung mit extra weiten Hosen, Baseball-Shorts und T-Shirts, schiefen Kappen, klobigen Turnschuhen verschiedener Sport-Labels, zuweilen auch dicke Silberketten; Platten von kleineren Ghettolabels wie Aggro nicht nur aus den USA. Größen unter XL kommen nicht in Frage. Magazine wie „Backspin“ und „Stylefile“ behaupten sich seit Jahren.
Rave/ Techno
Die Szene ist in viele Unterrichtungen unterteilt (nicht nur Gabber, Trance, House, Ambient, Detroit, Garage etc.); man unterscheidet die „Stämme“, z.B. den schnellen Gabber (bis 250 Schläge pro Minute) etwa vom weichen, meditativen (Goa-)Trance und dem gut tanzbaren „House“. Gemeinsam ist das – wie in anderen Jugendkulturen auch – wir-bezogene Familiengefühl, das hier allerdings dezidiert ausgesprochen und ausdrücklich zum Motto erhoben wird; der Wunsch im Szene-Alltag im Medium erlebnisintensiver, modischer und körperbezogener (ein gestylter, fitter, schöner Körper als Voraussetzung für) Selbststilisierungen dem Alltag zu entfliehen und sich dem Techno nicht nur am Wochenende hinzugeben. Es besteht wie in anderen Kulturen auch eine szene-eigenes Netzwerk aus Fanzines, Flyern und Mailboxen.
Club- und House Wear, Flyer von Clubs und Raves als Codes, die nicht nur Gebrauchs-, Sammler- und Kunstwert, sondern auch Distinktionswert (graphisches Design und sprachliche Gestaltung) besitzen, besonders Pullover oder enge Hemden, Platten von kleinen Labels; differenzierte Palette von Accessoires.
Serien-Freaks
Kult- und Reality-Serien, Soaps, insbesondere für Mädchen und Poster, Zeitschriften zur Sejunge Frauen im Fernsehen gibt es auf vielen Sendern inzwischen rie, Autogramme und andere massenweise jugendaffine Kultserien im Medium alltäglicher Be- Merchandising-Produkte. ziehungsphänomene.
Jugendkulturen
Jugendszenen/ Jugendkulturen
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Kurzcharakterisierung
Ausdrucksformen/ Kultgegenstände, Devotionalien Kultboards, die quasi monatlich gewechselt werden müssen, einschlägige Szenezeitschriften wie bspw. Limited Skateboard Magazine oder Monster Skateboard Magazine, zu jedem Contest, das sind formelle und auch informelle Events und Wettkämpfe, gibt es unterschiedlich aufwendig gestaltete Flyer und Plakate; Streat-Wear, die insbesondere nach funktionalen und ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt wird, sehr markenbewusst nicht nur beim sehr wichtigen Schuhwerk, Schlabberlook, Woll-Mütze.
Skater/ Surfer/ Snow-boarder
Körperbezogene, sportive und kunstvolle Skateboardfahrer, die möglichst viele und schwierige Tricks und Sprünge qua mehrstündiger Übung am Tag beherrschen wollen, (Free- und Streetstyle, manchmal auch Halfpipe-Fahren; Inliner haben in der Regel keine Szeneeinbindung) oder Snowboarder mit Neigungen zum HipHop. Es gibt aber auch wenige Raver oder einige Normalos, die besonders die Snowboardszene anzieht. Die zentralen Lebensstilaspekte für echte Skater sind neben bestimmten Kleidungsund Musikstilen – historisch zunächst Punk, dann Hardcore und seit einigen Jahren HipHop – vor allem Freiwilligkeit, Selbstverwirklichung, Leistung, Kreativität, Spaß.
Bürgerliche Jugendliche
Junge Deutsche, Kinder von bürgerlichen Eltern, die gerade nicht Konventionelle Kleidungsstigegen ihre Eltern opponieren und sich für traditionelle Werte und le, Markenkleidung Ideale interessieren; feste Regelstrukturen, Ordnung, Traditionen, Heirat, Familie, Leistung, Geld, ewige Treue, Bausparverträge werden geschätzt, Musikschulen werden besucht und klassische Musikinstrumente werden erlernt und gespielt – alles das, was noch vor einigen Jahren als spießig definiert wurde, ist hip.
Splatters
Die Fangemeinde schart sich um blutige Horrorfilme, die den Kick Kultvideos, die im offiziellen über den Bildschirm schätzen (splatter = verspritzen). Handel oft nicht erhältlich sind.
Trekker Trekkies
Verehrer der legendären Star Trek-Serie (schon 1966 gegründeter Fernsehmythos und erfolgreichste Weltraum-Soap aller Zeiten) um das Raumschiff Enterprise, um die Raumstation DS9 und das Raumschiff Voyager.
Poster, Standbilder aus Pappe, Symbole als Button, Communicator, Star Trek Kartenspiel, Sammlung alter gedrehter Serien und Filme.
Skinheads
Verschiedene Varianten, die nicht nur das „Böse“ und „Prollige“ verkörpern und nicht nur als Symbole für Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit gelten: SHARP-Skins, linke Redskins, rechte Nazi-Skins und Oi!-Skins; Ska – die ursprüngliche Musik der Skinheads in den 60er Jahren in England, als schnelle Version des Reggae; Oi-Musik, legendär bspw. Skewdriver, im Zusammenhang mancher ehemaliger Punk/Oi!-Bands Verbindungen zur Heavy Metal Musik und zum Hardcore, seit den späten 80er Jahren eine ausdifferenzierte Palette von weit inzwischen über 100 martialisch lauten und volksverhetzenden „Rechtsrock-Bands“ mit eindeutig nazistischen Namen wie bspw. Doitschtum, Endsieg, Elbsturm, Kahlkopf, Gestapo, Zyklon B, Volksverhetzer, Waffen SS oder mit anderen, nicht immer eindeutig nazistischen Bezeichnungen wie Bierpatrioten, Schlagabtausch, Pöbel und Gesocks, Westsachsengesocks; Machismo, männlich proletarische Variante; Stolz auf die physische Manneskraft und auf die hypermaskuline weiße Arbeiterkultur, teilweise bis heute aus dem Arbeitermilieu kommend, Saufrituale, bestimmte Tanzformationen; ähnlich wie beim Punk-Pogo. Manchmal fließende Übergänge zur Rechtsradikalen-Szene mit einer dumpfem Mischung aus Nationalismus, Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit und Gewalttätigkeit.
Fanzines; Poster, bestimmte, manchmal indizierte MusikLabel; Kleidungsstil: Bomberjacken, Lonsdale- Pullover, Doc-Martens, Springer-Stiefel-Look, zuweilen auch Kleidung der Marke „Thor Steinar“ mit Runen-Logos (TyrRune und Wolfsangel der SS), aber auch in den smarteren Varianten etwa von den „Ska-Allnightern“ bevorzugt: Mini Rock und Netzstrümpfe bei den Madels sowie Anzug und Pork-Pie-Hütchen bei den Männern.
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Jugendszenen/ Jugendkulturen Grufties/ Gothics
Jugendkulturen
Kurzcharakterisierung Man kleidet sich schwarz, schwerer Brokat, Spitzenapplikationen, Damastverzierungen, hat eine Vorliebe für das Morbide, schminkt sich weiß, schmückt sich mit okkulten Symbolen. Man lässt sich ungern – wie in vielen Szenen – in ein System pressen.
Ausdrucksformen/ Kultgegenstände, Devotionalien Alles, was schwarz ist; oft edles Outfit, mit stundenlanger Mühe hergerichtete Frisuren und Make-ups, Kultbands, historisch vor allem The Cure, aber auch die kantigen, melancholisch-kitschigen, düsteren, sakralen SynthiePop-Sounds und Soundtracks von Depeche Mode; ansonsten differenzierte Musikstile, Industrial, Electronic Body Music, Metal bzw. NeoFolk.
* Eine erheblich differenziertere Fasung zu den einzelnen Jugendkulturen und Szenen liegt vor: Ferchhoff (2006, 2006a).
Literatur Baacke, Dieter (2004): Jugend und Jugendkulturen. Weinheim/Basel. Ferchhoff, Wilfried (1990): Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Von den sozialmilieuspezifischen Subkulturen zu den individualitätsbezogenen Jugendkulturen. Frankfurt/M. et al. Ferchhoff, Wilfried (2000): Jugendkulturen. Berlin. Ferchhoff, Wilfried (2006): Jugend und Jugendkulturen im 3. Jahrtausend. Lebensformen und Lebensstile. Wiesbaden. Ferchhoff, Wilfried (2006a): Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. In: Deutsche Jugend, 54. Jg., H. 3. Hitzler, Ronald/Bucher, Thomas/Niederbacher, Arne (2001): Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen.
Kindheiten
Michael-Sebastian Honig Nicht von der Kindheit, sondern von Kindheiten im Plural zu sprechen, wäre noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts irritierend oder unverständlich gewesen. „Kindheit“ war, wie „Jugend“, ein Kollektivsingular, der alle sozialen und kulturellen Differenzen im gemeinsamen Nenner vermeintlich universeller biologischer Reifungsprozesse und psychologischer Entwicklungsgesetze aufhob. Unter diesem Blickwinkel erscheinen Kinder, mit Hartmut von Hentigs schöner Formulierung, „wie das Gras – zu allen Zeiten gleich“ (von Hentig 1975: 32). Seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand eine Diskussion, die diesen Blickwinkel („Entwicklungsparadigma“) problematisierte und nach individuellen Entwicklungsprozessen und ihren sozialen, historischen und kulturellen Kontexten fragte. In den 80er Jahren radikalisierte sich diese Diskussion, als die Frage „Was ist ein Kind?“ ausdrücklich gestellt und die Forderung erhoben wurde, sie mit einer Soziologie der Kindheit zu beantworten (Jenks 1982). Möglich wurde diese Entwicklung indes erst durch die Einsicht, dass die Kindheit, wie wir sie zu kennen meinen, erst im 17. Jahrhundert entstanden ist und mithin auch wieder vergehen kann. Am wirkungsvollsten hat der französische Historiker Philippe Ariès die Aufmerksamkeit für die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der sozialen und kulturellen Bedingungen und Formen des Kindseins geschärft; seither ist es schwierig geworden, von „der“ Kindheit zu sprechen. Ariès meint die bürgerliche Familien- und Schulkindheit, wenn er von der „Entdeckung“ (oder „Erfindung“) der Kindheit spricht. Sie wird nicht als eine naturgegebene Lebensphase des Menschen entdeckt, sondern als ein gesellschaftlich zu realisierendes Projekt entworfen, und zwar in einem dreifachen Sinn: Als ein Projekt der sozialen Emanzipation und Reproduktion des Bürgertums, als ein Projekt der individuellen Vervollkommnung durch Erziehung und nicht zuletzt als ein aufklärerisches Projekt der Versittlichung der Menschheit. In der Einheit dieser drei Dimensionen ist die Kindheit eine pädagogische Kategorie, vielleicht sogar die pädagogische Kategorie schlechthin. Die Soziologie der Kindheit stellt ihre Frage nach dem Kind, als dieses Fortschrittsprojekt seine Glaubwürdigkeit bereits verloren hat; ihre Antworten unterscheiden sich danach, welche Bedeutung sie diesem Projekt für die Kindheit der Gegenwart zumessen. Dabei lassen sich idealtypisch zwei Diskussionslinien unterscheiden: > Eine kinderpolitische Diskussionslinie entlarvt die Familien- und Schulkindheit der Moderne als kulturelle Erfindung (Kessel/Siegel 1983) und setzt dem Paradigma des Kindes als Entwicklungswesen ein anderes Bild des Kindes entgegen. Statt als Werdende, als noch nicht Erwachsene, werden Kinder als Seiende, als Akteure und Personen aus eigenem Recht verstanden; statt als unmündige und schutzbedürftige Lerner werden sie als kompetente Wissende betrachtet. Entsprechend haben die Rechte von Kindern und ihre gesellschaftliche Teilhabe eine große Bedeutung (Verhellen/Spiesschaert 1994). In dieser Diskussionslinie wird das Modell der Entwicklungs- und Erziehungskindheit zwar zurückgewiesen, die Kindheit als ein normatives Konstrukt aber nicht in Frage gestellt. Obwohl sie sich antipädagogisch gebärdet, beerbt sie – offenbar ohne es zu bemerken – den romantischen, spe-
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Kindheiten
zifischer: den reformpädagogischen Mythos des vollkommenen Kindes, das der problematischen Welt der Erwachsenen als Ideal gegenüber gestellt wird. > Eine kindheitstheoretische Diskussionslinie wendet die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Kindheit zu einer Meta-Theorie der Kindheit als Konstrukt (James/Prout 1990). Diese Kritik der Kindheit als Wissensform erlaubt, zwischen der Kindheit als einer symbolischen Ordnung und Kindern als sozialen Akteuren begrifflich-analytisch zu unterscheiden. Die kinderpolitische Diskussionslinie dagegen nimmt ein spezifisches Kindheitsmodell in Anspruch, wenn sie Kinder als kompetente Akteure gleichsam gegen den Zwang eines Kindheitsmodells in Stellung bringt, das Kinder als defizitär und erziehungsbedürftig betrachtet. Die kindheitstheoretische Perspektive hilft zu erkennen, dass die kinderpolitische Position in der Gefahr steht zu übersehen, dass die Erziehungszumutung Moment eines Kindheitsmoratoriums ist und Chancen der Individuierung in sich birgt; zudem kann die advokatorische Normativität ihres Gegen-Bildes vom Kind ironischerweise den Blick auf die wirklichen Veränderungen des Kinderlebens verstellen. Kindheit als Konstrukt zu betrachten erweist sich dagegen als fruchtbar für eine empirische Kinder- und Kindheitsforschung. Ihre Leitfrage lautet: Wie wird „Kindheit“ als Wissensform und als soziokultureller Kontext hervorgebracht? Bei der Suche nach Antworten werden auch die Erfahrungen und das Wissen der Kinder selbst in methodisch reflektierter Weise einbezogen. Diese beiden Zugänge zur Kindheitsfrage sind nacheinander entstanden, werden gegenwärtig aber in zahlreichen Varianten nebeneinander vertreten; Kinderpolitik und Kindheitsforschung führen heute eigenständige, aber untereinander kommunizierende Diskurse. In der internationalen soziologischen Kindheitsforschung sind drei objekttheoretische Ansätze besonders einflussreich:
> Kindheit als Element der Sozialstruktur (Qvortrup 2005). Dieser Ansatz geht davon aus, dass
die Kindheit für jedes Kind eine individuelle Lebensphase, für die Gesellschaft aber ein strukturelles Merkmal, eine permanente Form ist. Die Merkmale dieser Form können im historischen Wandel oder auch im interkulturellen Vergleich differenziell bestimmt werden und lassen den institutionellen Charakter der Kindheit sichtbar werden. Vertreter dieses Ansatzes betonen den Unterschied zwischen dem Wandel von Kindheit und der Entwicklung von Kindern. Forschungsziel ist es, den Status „Kind“ in der Sozialstruktur sichtbar zu machen; dies geschieht vornehmlich in Studien zur Sozialstatistik und zur Sozialpolitik.
> Kindheit als generationale Ordnung (Alanen 2005). Dieser Ansatz betont, dass jede Rede von
Kindern perspektivisch ist, dass sie vom Standpunkt der Kinder oder der Erwachsenen aus formuliert wird (Relationalität). Ausgangspunkt ist also eine Kritik des Wissens über Kinder; These ist, dass die generationale Ordnung eine Strukturkategorie des Sozialen ist, vergleichbar der Geschlechterkategorie (gender). Die Perspektive der Kinder wird durch diese Machtstruktur systematisch verdeckt. Ziel ist, die Praktiken des generationing in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu analysieren und die Perspektive der Kinder zur Geltung zu bringen.
> Kindheit als Kinderkultur (Kelle 2005). Dieser Ansatz ist in der empirischen Kinder- und
Kindheitsforschung wahrscheinlich am fruchtbarsten geworden; er hat dabei konkurrierende theoretische Varianten ausgeprägt. Gemeinsam ist so unterschiedlichen AutorInnen wie Corsaro, Kelle und Krappmann, dass die soziale Kinderwelt als eine Welt eigenständiger kultureller Praktiken aufgefasst wird. Die Generationendifferenz ist keine Gegebenheit, sondern wird „gemacht“. Kinder bringen Kindheit hervor, indem sie ihre sozialen Bezie-
Kindheiten
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hungen regelhaft gestalten und sich die fremde Welt der Erwachsenen in ihren Sinnhorizonten zugleich erschließen und sie reproduzieren (interpretive reproduction). Alle diese Ansätze emanzipieren Kinder begrifflich aus der Einordnung in die vertrauten settings Familie, Schule und Entwicklung. Der Unterschied von Kindern und Erwachsenen wird von einer vorgeblichen Naturgegebenheit zu einem Beispiel für die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft, von Handlung und Struktur. Fragen nach der Spezifität der Kindheit – beispielsweise nach den Unterschieden zwischen Kindheit und Jugend oder nach der biopsychischen Angewiesenheit auf familial organisierte Sorge – fallen dieser Abstraktion indes zum Opfer. Im klassischen Kindheitsbegriff der Moderne, wie er etwa bei Rousseau entfaltet und später als Familien- und Schulkindheit organisiert wurde, wurden diese Fragen im Kontext eines politisch-pädagogischen Projekts beantwortet. Diese Antwort steht nicht mehr zur Verfügung, gleichwohl bleibt eine Kindheit ohne Zukunft undenkbar. Die Abstraktion vom Problem der Spezifität beinhaltet eine Abstraktion vom Kindheitsprojekt der Moderne und löst damit den Kindheitsbegriff selbst auf. Anders gesagt: Auf die Frage nach dem Sinn der Kindheit kann die Kindheitssoziologie keine Antwort geben. Ist die Kindheit aber noch ein Projekt? Hat sich der Zukunftsbezug von Kindheit transformiert? Wie bestimmt eine Transformation des Kindheitsprojekts die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Kindheit und Jugend? So gefragt, werden beispielsweise paradoxe Aspekte der familialen Position von Kindern wichtig. Kinder wachsen hierzulande zwar in aller Regel bis zu ihrem 18. Lebensjahr bei ihren leiblichen Eltern auf – eine Tatsache, die beim Publikum immer wieder Erstaunen hervorruft –, aber ihre Gegenwart ist ebenso wenig durch die Vergangenheit ihrer Eltern determiniert wie ihre Zukunft durch deren Gegenwart; Margaret Mead hat diese Umstrukturierung der Sozialisationsverhältnisse schon in den 70er Jahren mit der Formel vom Wandel einer post- zu einer präfigurativen Kultur charakterisiert. Kinder scheinen eher ein Projekt der Eltern zur eigenen Sinnstiftung als ein Kindheitsprojekt zu verkörpern, das einen Zukunftsentwurf von Gesellschaft beinhaltet – eine These, die sich empirisch gut in der Pubertät, in der Phase der Verselbständigung der Kinder untersuchen ließe. Wie also lässt sich die Eigenart der Kindheit bestimmen, ohne auf das Kindheitsprojekt der Moderne zurückgreifen zu müssen und ohne einen „Wesenskern“ zu definieren? Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung haben diese Frage für sich beantwortet, indem sie von „Entwicklung im Kontext“ sprechen und die aktive Rolle der Subjekte in einem lebenslangen Prozess der Handlungsbefähigung betonen. Pädagogik denkt Kindheit von der Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen und von den Möglichkeiten und Grenzen der Personveränderung (nature vs. nurture) her: als pädagogische Differenz (Nemitz 1996). Sie fasst „Kind“, wie „Jugendlicher“ und „Erwachsener“, als Differenz-, nicht als Substanzbegriff, zugleich aber als ein unabdingbar normatives Konstrukt. In der Normativität der Kindheitskonstrukts werden Wirklichkeit und Möglichkeit, Gegenwart und Zukunft in der Einheit einer Denkform aufeinander bezogen und so für Kindheit gegenstandskonstitutiv. Dies ist das Charakteristikum eines pädagogischen Kindheitsbegriffs: Er denkt das Kind paradox, als Einheit von Differenzen. In der Pädagogik sind Kinder Menschen im Übergang von Natur zu Vernunft in der Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit (s. Rustemeyer 2002). Möglichkeitsbegriff und Perfektionsideal sind dabei miteinander verknüpft; so wird die Kindheit in der Moderne zum Zukunftsversprechen schlechthin, zum Versprechen auf die besseren Möglichkeiten der Wirklichkeit. Dabei verbirgt sich in der Möglichkeitsform eine Ambivalenz von zielgerichteter Einwirkung und Anerkennung von Eigenständigkeit. Diese Ambivalenz
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Kindheiten
wird von der pädagogischen Intervention defizittheoretisch als Wirklichkeit der Möglichkeiten behandelt. Die Spannung zwischen Potential bzw. Defizit und dem Eigenwert der Kindheit wird in das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft transformiert; dies ist der pädagogische Kern des Entwicklungskonzepts, an dem die Kindheitssoziologie so wenig vorbeikommt wie Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie. Von Kindheiten im Plural zu sprechen, beantwortet mithin die Frage nach der Spezifität der Kindheit – nicht im Sinne einer Vielfalt des Kinderlebens, auch nicht im Sinne von Kategorisierungen wie „Arbeiterkindheit“ oder „Waisenkinder“; es geht auch nicht lediglich um den Sachverhalt, dass die Kindheit kaum mehr als eine abgrenzbare, inhaltlich definierbare Lebensphase mit spezifischen Entwicklungsaufgaben verstanden werden kann. Im Kern geht es vielmehr darum, dass pädagogische, politische, rechtliche, familiale u.a. Logiken auf die paradoxe Denkform „Kind“ operativ zugreifen und begrifflich-praktisch differenzielle Kindheiten hervorbringen. Das Kind als pädagogische Denkform zu fassen ermöglicht, die Trennungen zwischen Struktur (Kindheit als soziale Ordnung) und Handeln (Kinder als Akteure des Kinderlebens) sowie von Kind-Sein und Erwachsen-Werden zu überwinden, indem sie als Praktiken der Institutionalisierung von Differenzen begriffen werden. An diesen Praktiken wirken auch die Kinder mit; insofern sind sie „kompetente Akteure“. Die Theorie dieser Praxis ist eine sozialpädagogische Theorie der Kindheit, die Praktiken der Institutionalisierung bilden den Gegenstand empirischer sozialpädagogischer Forschung. Dabei rücken Lebenslagen und Bildungsprozesse in den Blick, die ebenso in generationale (z.B. Familie und Schule) wie in nicht-generationale Strukturen (z.B. die Kultur der Gleichaltrigen, die Kommerzialisierung) eingelassen sind und die sinnlich-leibliche Selbst-Konstituierung der Kinder einbeziehen.
Literatur Alanen, Leena (2005): Kindheit als generationales Konzept. In: Hengst/Zeiher, S. 65–82. Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hg.) (2005): Kindheit soziologisch. Wiesbaden. Hentig, Hartmut von (1975): Einleitung. In: Ariès, P.: Geschichte der Kindheit. München, S. 45–65. Honig, Michael-Sebastian (1999): Entwurf zu einer Theorie der Kindheit. Frankfurt/M. James, Allison/Prout, Alan (1990): A new paradigm for the Sociology of Childhood? In: Dies. (Hg.): Constructing and reconstructing childhood. London, S. 7–34. Jenks, Chris (1982): Constituting the child. In: Ders. (Hg.): The Sociology of Childhood. Aldershot. Kelle, Helga (2005): Kinder und Erwachsene. Die Differenzierung der Generationen als kulturelle Praxis. In: Hengst/Zeiher, S. 83–108. Kessel, Frank S./Siegel, Alexander W. (1983): The child and other cultural inventions. New York. Nemitz, Rolf (1996): Kinder und Erwachsene. Zur Kritik der pädagogischen Differenz. Hamburg. Qvortrup, Jens (2005): Kinder und Kindheit in der Sozialstruktur. In: Hengst/Zeiher, S. 27–47. Rustemeyer, Dirk (2002): Wie ist Pädagogik möglich? Unv. Ms. Trier. Verhellen, Eugen/Spiesschaert, Frans (Hg.) (1994): Children’s rights: Monitoring issues. Gent.
Kritik und Beobachtung
Doris Schweitzer Soziologie zielt nicht nur auf die Beschreibungen der gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken sowie – als Erziehungs- und Bildungssoziologie – der Bedingungen, Formen und Folgen von Erziehung und Bildung. Sie hat auch den Anspruch, dies mit Kritik, etwa der soziale Ungleichheit verfestigenden Strukturen des Erziehungssystems sowie von pädagogischen Theorien und Praktiken, zu verbinden. Dieser kritische Anspruch der Soziologie hängt eng zusammen mit der zentralen Rolle, die die Kategorie der Kritik in der Gegenwartsgesellschaft spielt: Seit der Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert gehört der Begriff der Kritik zu den Fundamenten unseres gesellschaftlichen, insbesondere des wissenschaftlichen und politischen Selbstverständnisses. Hier wurde die Idee des autonomen Individuums formuliert, das in der Lage ist, den eigenen Verstand zu gebrauchen und eigene, vernünftig begründete Entscheidungen in Bezug auf politische und religiöse Fragen zu treffen. Wissenschaft entwickelte sich als Kritik von rational nicht begründbaren Dogmen und Glaubensgewissheiten, politische Kritik hinterfragte die Legitimität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. In der Philosophie der Aufklärung und im Zuge der anschließenden breitenwirksamen Einbürgerung des Kritikbegriffs in die europäischen Nationalsprachen erhielt der Begriff der Kritik eine herrschafts- und machtkritische Akzentuierung: Kritik wurde zunächst zum Schlüsselwort der Emanzipation der Gelehrten von der Autorität der Kirche. Eingefordert wurde das Recht, sich kritisch mit kirchlichen Lehrmeinungen auseinander zu setzen. Der entscheidende Schritt lag in der Verweltlichung der Kritikbasis – statt in einer durch den Ideenhimmel oder den christlichen Gott repräsentierten externen Ordnung wurden die Kriterien für Kritik zunehmend in der Natur des Menschen selbst angesiedelt. Die gesellschaftliche Ordnung des Absolutismus mit ihrer Hierarchie ungleicher Stände (Adel, Klerus, Bürger, Bauern) geriet selbst in die Kritik, da sie nicht mehr als Ausdruck einer gottgewollten unabänderlichen Ordnung, sondern als Widerspruch zur Wesensnatur des Menschen, zur postulierten Vernunftgleichheit aller Menschen (bzw. aller erwachsenen Männer), erschien. Es entwickelte sich eine politisch-emanzipatorische Tradition der Kritik, die das Verständnis des Kritikbegriffs bis heute maßgeblich prägt. Vor allem die Philosophie Immanuel Kants markiert diese Verschiebung der Grundlage der Kritik hin zur Vernunft. Aufklärung wird auch bei Kant als Aufgabe der Vernunft und der Erkenntnis angesehen – denn Freiheit ist eine Idee der Erkenntnis, und Autonomie das Resultat der richtigen Idee der eigenen Erkenntnis. Kant ist jedoch kein naives Verhältnis zur Vernunft als Grundlage der Kritik zu unterstellen. In Abgrenzung zur explizit politischen Aufklärung – einer Aufklärung, die sich die rationale Begründung einer guten politischen Ordnung zutraut – unterzog Kant solche aufklärerische Kritik einer Selbstkritik. Die als „Polizei der Vernunft“ charakterisierte Kritik erhielt die Funktion der immanenten selbstreflexiven Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von Vernunft. Veranlasst war dies nicht zuletzt durch die historische Erfahrung, dass die politische Beanspruchung der Vernunft im Verlauf der französischen
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Kritik und Beobachtung
Revolution auch als Begründung der gewaltsamen Durchsetzung einer neuen, scheinbar vernünftigen Ordnung bedeutsam wurde. Kants drei Kritiken (Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft) versuchten rationale Antworten auf die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis, der Moral und des Geschmacksurteils zu finden. In der bürgerlichen Gesellschaft sah Kant bereits einen gewissen Rechtszustand verwirklicht, vernünftiger Fortschritt bestand für ihn in der allmählichen Anpassung der bestehenden Gesetze an die Idee der Gerechtigkeit (vgl. Röttgers 1990: 892f.). Hatte der Staatsbürger als solcher bei Kant in der bürgerlichen Gesellschaft der legitimen staatlichen Autorität zu gehorchen, so blieb es jedoch dem kritischen Philosophen Pflicht, vor der jeweiligen Obrigkeit als Anwalt der Vernunft aufzutreten. Mit seinen drei Kritiken trug Kant wesentlich zu der Entwicklung des Menschenbildes der Moderne bei. Seine berühmte Formel: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zeigt jene Verschiebung zum Subjektbegriff der Moderne an, in der die Mündigkeit und der Fortschritt an der Vernunft gemessen werden. Schon in der Ideologiekritik des 19. Jahrhunderts geriet die von Kant als Grundlage der Kritik beanspruchte Vernunft unter Verdacht: Die Beanspruchung der Vernunftgleichheit aller Individuen hatte sich angesichts der unübersehbaren materiellen Ungleichheit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich nicht als zureichende Grundlage der Kritik erwiesen und erschien damit als Ideologie, als „falsches Bewusstsein“. Die massive Verelendung des „vierten“ Standes – des Proletariats – machte deutlich, dass die französische Revolution als Sieg des „Dritten Standes“ keineswegs zu einem Sieg der Vernunft und damit zu der von ihr postulierten Freiheit und Gleichheit aller Individuen geführt hatte. Ansatzpunkt der Ideologiekritik ist deshalb, anders als bei Kant, keine selbstverschuldete, sondern eine fremdverschuldete Unmündigkeit – jene vor allem ökonomisch bedingten Ungleichheiten der kapitalistischen Klassengesellschaft, die in der Industrialisierung deutlich zu Tage traten. Weder in der vor allem von Karl Marx ausgearbeiteten Ideologiekritik des 19. Jahrhunderts, noch in der Kritikkonzeption der Kritischen Theorie, die insbesondere mit den Namen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verbunden ist, wurde jedoch Abstand von der Idee der Vernunft genommen. Zwar wurde in der Kritischen Theorie die Verschränkung von wissenschaftlicher Rationalität und Herrschaftsausübung zum Thema. Adorno und Horkheimer untersuchen in ihrer Studie „Dialektik der Aufklärung“ den Prozess, in dem nicht die emanzipatorischen Potentiale der Vernunft realisiert werden, sondern die Vernunft für Zwecke der Natur- und Menschenbeherrschung in den Dienst genommen wird. Gleichwohl wird hier noch an einem Verständnis von Kritik festgehalten, das in der Tradition der Aufklärung auf die Kritik falschen Bewusstseins im Rahmen eines Emanzipationsprozesses gegen den falschen ideologischen Gebrauch der Vernunft zielt, um den Übergang zu einer vernünftigen Gestaltung der Welt zu ermöglichen. Mit der so genannten Postmoderne geriet jedoch seit ca. 1970 diese Vernunftbasis der Kritik selbst ins Visier. So wurden z.B. bei Michel Foucault Vernunft und Wahrheit zentral auf ihre Machteffekte hin analysiert. Aufgrund der engen Verbindung zwischen Wissenschaft bzw. Vernunft einerseits, von Wissenschaft und Machtausübung andererseits – wissenschaftliches Wissen ermöglicht neue Formen der Machtausübung – nahm die Kritik gegenüber der kritisch-rationalisierenden Vernunft nunmehr die Form eines „Misstrauens“ an: Die Vernunft wird selber als ein Machtmittel verstanden, das der Legitimation gesellschaftlicher Ausgrenzungen dient und so zur Absicherung der herrschaftlichen Rationalität beiträgt. Foucault untersuchte dies insbesondere anhand der Ausgrenzung und Kasernierung von psychisch Kran-
Kritik und Beobachtung
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ken und Gefängnisinsassen. Es wird in der Folge grundsätzlich angezweifelt, dass Kritik von einer Position außerhalb des Machtgefüges geleistet werden kann – sei es in Form des kritischen Gebrauchs der Vernunft bei Kant, sei es als Ideologiekritik gegen das falsche Bewusstsein. Vielmehr wird der Standpunkt der Kritik selbst im gesellschaftlichen Machtgefüge verortet. Foucault entwickelte eine Perspektive der Kritik als politische Intervention in Macht-Wissen-Komplexe, die nicht mehr im Namen einer „unschuldigen“ Vernunft oder Utopie sprechen kann, sondern die strategisch interveniert und die sich durch ihre kritische Wirkung auszeichnet. Diese kritische Wirkung, auch als Differenzsetzung verstanden, tritt durch das Aufzeigen des jeweils von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, dem „Unsagbaren“, „Undenkbaren“ und „Unsichtbaren“ ein. Hierdurch wird die Überwindung der gegenwärtigen Macht-Wissen-Komplexe angestrebt, die Auflösung der jeweils spezifischen Verbindung der Herrschaft mit der Vernunft. Trotz dieser von manchen als „Krise der Kritik“ bezeichneten historischen Entwicklung – die Kritik richtet sich gegen ihre eigene Basis, die Vernunft – lassen sich seit der Aufklärung zwei konstante Motive ausmachen, die zugleich als Mindestanforderungen an ein kritisches Selbstverständnis angesehen werden können: die Veränderungsorientierung der Kritik sowie ihre Koppelung an die Frage nach dem „kritischen Blick“. Das Konzept der Kritik ist von Anfang an „begrenzt auf solche Sachverhalte, die als Handlungen oder Handlungsresultate aufgefasst werden können“ (Röttgers 1990: 889). Kritik bezieht sich immer nur auf Veränderbares. Unhintergehbare Sachzwänge oder unabänderbare Entwicklungen bilden keinen sinnvollen Kritikgegenstand. Was jedoch Bezugspunkt der Kritik sein soll, welche Zielrichtung eine Veränderung haben soll, ist vor allem im Hinblick auf die politisch-emanzipatorische Tradition seit der Aufklärung heftig umstritten: Wie der kurze historische Abriss schon zeigte, wird Kritik geübt im Namen einer herrschaftsfreien Gesellschaft oder eines sich entfaltenden Vernunftpotentials, als Ideologiekritik oder als Differenzsetzung, um nur einige Beispiele zu nennen. Gleichwohl bleibt eine grundlegende Veränderungsorientierung der Kritik erhalten, die sich an der Idee „so wie es ist, derart muss es nicht zwangsläufig sein“ orientiert. Eng daran geknüpft ist das Motiv des „kritischen Blicks“: Es geht um das Aufzeigen von Alternativen und Veränderungsmöglichkeiten. Herkömmlicherweise wird hierbei der jeweilige gesellschaftliche Zustand als Ergebnis eines bis dato undurchschauten Entwicklungsprozesses dargestellt. Die spezifische Funktion der Kritik besteht darin, den Blick auf ausgeblendete Tatsachen zu richten. Etwas wird „kritisch unter die Lupe genommen“, um „hinter die Dinge zu blicken“ und nicht „dem Schein“ zu erliegen – um nur einige der geläufigen Wortwendungen aufzugreifen. Hierfür wird eingefordert, einen Standpunkt zu wählen, der eine bestimmte Perspektive gewährleistet und so eine bestimmbare Sicht der Dinge liefert, der die Zusammenhänge aufklärt. Neben der Frage, wie der kritische Standpunkt auszuweisen bzw. wo er zu verorten ist und welche Topographie sich zwischen Beobachtungsstandpunkt und Kritikgegenstand entspannt, gerät hier der Standpunkt selber in die kritische Betrachtung. Denn in den Blick gerät nur dasjenige, was von der jeweiligen Warte aus gesehen werden kann. Die Bedingungen und Voraussetzungen der jeweiligen Perspektive erscheinen hierbei als die „blinden Flecken“, als das Unhinterfragte z.B. der pädagogischen Beobachtungsweise. Eine sich an diesen beiden Motiven orientierende „kritische“ Pädagogik steht vor der Aufgabe, vermeintliche Sachzwänge ebenso in Frage zu stellen wie gängige Sichtweisen und Gewissheiten über die Aufgaben, Möglichkeiten und Ziele von Erziehung und Bildung sowie anthropologische Setzungen („Menschenbild“) zu problematisieren.
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Soziologie kann hierfür im doppelten Sinne in Anschlag gebracht werden. Denn systematisch kann man unterscheiden zwischen einer Soziologie für die Pädagogik und einer Soziologie der Pädagogik (s. Bommes/Scherr 2000: 23ff.). Eine Soziologie für die Pädagogik bemüht sich um die Bereitstellung und die Aufbereitung soziologischen Wissens für die Zwecke der pädagogischen Theorie und Praxis. Soziologisches Wissen wird hierbei den Bestimmungen und Zwecken der Pädagogik untergeordnet. Nichtsdestotrotz ist dieses Wissen notwendig, um zu klären, „worauf“ – auf welche gesellschaftlichen Bedingungen – reagiert werden soll, um nicht von falschen Voraussetzungen auszugehen. Für eine solche soziologische Perspektive sind pädagogische Problemformulierungen, Selbstbeschreibungen und normative Zielsetzungen der Ausgangspunkt. Eine Soziologie der Pädagogik dagegen betrachtet die Pädagogik als Teil der Gesellschaft und versucht diese selbst in einem gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen zu analysieren. Pädagogik ist ein gesellschaftliches Phänomen, integraler Bestandteil unserer Gesellschaft, und als solches – wie andere soziale Phänomene – soziologisch zu untersuchen. In diesem Zusammenhang ist die Pädagogik nicht nur als soziologischer Gegenstand anzusehen, vielmehr spielt die Soziologie durch der ihr eigenen gesellschaftstheoretischen Perspektive für den Anspruch, eine „kritische“ Pädagogik zu betreiben, eine spezifische Rolle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Entwicklung der Pädagogik als Disziplin beeinflusst ist durch Soziologie, auch durch eine solche Soziologie, die sich selbst als „kritisch“ begreift. Bereits von Kants Vernunftkritik mit der Perspektive der potentiell zu erreichenden Mündigkeit des Subjekts ist der pädagogische Blick, der auf Veränderung mittels Erziehung und Bildung gerichtet ist, nicht zu trennen. Aus soziologischer Perspektive ist die Pädagogik selbst – einschließlich ihrer Selbstbeschreibungen, Theorien und damit verbundenen normativen Zielsetzungen – stets Bestandteil von Gesellschaft, sie hat keinen Ort außerhalb. In der gesellschaftstheoretischen Perspektive stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, damit sich Pädagogik als institutionalisierte Form der Erziehung und Bildung überhaupt konstituieren konnte und ihre Zuständigkeit für diese Bereiche sozial akzeptiert wird. Soziologie fragt folglich nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeiten einer institutionalisierten Erziehung und Bildung mit ihrer jeweiligen normativen Zielsetzung, Wirkungserwartung und sozialen Legitimation. Diese sind aus soziologischer Perspektive weder selbstverständlich noch unhinterfragbar, vielmehr selbst erklärungsbedürftig. Deutlich wird hierbei, dass der Pädagogik notwendigerweise, um sich überhaupt als Disziplin begreifen zu können, eine spezifische Beobachtungsperspektive auf Individuen und soziale Ereignisse zugrunde liegt. Sie muss, um überhaupt pädagogische Praxis betreiben zu können, jene bereits beschriebene Sichtweise einnehmen, in der sich die Pädagogik „gegenüber“ der Gesellschaft platziert und diese als Verursacher von Konflikten betrachtet. Dieser Standpunkt der Pädagogik erschwert aber den Blick auf den Zusammenhang ihrer eigenen Theorien, Praktiken und normativen Zielsetzungen mit gesellschaftlichen Strukturmerkmalen. Denn diese werden unhinterfragt vorausgesetzt – und können so als notwendige „blinde Flecken“ einer pädagogischen Beobachtungsperspektive bezeichnet werden. Aus dem Blick gerückt werden hierbei insbesondere die sozialen Bedingungen, Formen und Folgen pädagogischer Praxis. Durch den Perspektivwechsel, der durch eine Soziologie der Pädagogik vollzogen wird, wird die Aufmerksamkeit auf andere Fragen gerichtet: Wie z.B. ist die Pädagogik als Form der Erziehung in der modernen Gesellschaft entstanden, wie hängen historisch sich wandelnde Wirkungserwartungen selbst mit der Struktur einer Gesellschaft zusammen, und
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welche spezifischen Funktionen übernimmt die Pädagogik in der modernen Gesellschaft? Um nur ein Beispiel für diesen Perspektivwechsel zu nennen: Für die Pädagogik ist von Relevanz, welches Wissen wie und unter welchen Bedingungen für wen vermittelt werden kann. Die Soziologie untersucht demgegenüber, was als Wissen angesehen wird, was für eine Rolle Wissen in der Gesellschaft spielt, welche Funktionen hierbei die Bildungsinstitutionen übernehmen und welche gesellschaftliche Entwicklung dadurch begünstigt wird. „Kritische Distanz ist eine Frage von Zentimetern“ (Michael Walzer) – und eine Soziologie der Pädagogik vermag möglicherweise die Pädagogik selbst auf eine solche Distanz zu bringen. Eine nötige Distanz, um zu ermöglichen, dem pädagogischen Ordnungsrahmen, den selbstverständlich gewordenen Hintergrundsüberzeugungen und Blickweisen zu entkommen. Soziologie hat ihrem Selbstverständnis nach kein Wissen zu liefern, das praktischen Anforderungen in Bereichen der Erziehung und Bildung gerecht werden muss. Sie liefert vielmehr ein aus pädagogischer Sicht „externes Klärungsangebot“, um Zusammenhänge zwischen Pädagogik und gesellschaftlichem Strukturwandel aufzuklären. Für eine solche Perspektive ist theoretische Distanz zu Ausgangsannahmen der Pädagogik sowie zu damit verbundenen Handlungsproblemen, Selbstbeschreibungen und Legitimationsbedürfnissen grundlegend. Diese Abgrenzung zu Erwartungen und Anforderungen pädagogischer Praxis ermöglicht es, einen anderen Standpunkt einzunehmen und die Pädagogik selbst „kritisch unter die Lupe zu nehmen“, den Blick auf ausgeblendete Tatsachen zu richten. Jede Pädagogik arbeitet auf der Grundlage – zumindest impliziter – Annahmen über „die Gesellschaft“. Im Interesse der Aufklärung des Zusammenhanges zwischen Pädagogik und gesellschaftlicher Strukturentwicklung rückt die Problematik in den Fokus, was die moderne Gesellschaft kennzeichnet. Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft, zweite Moderne, Postmoderne, postfordistische Gesellschaft, Empire sind Schlagworte, die auf Theorien verweisen, die mit je eigentümlichen Grundannahmen und Implikationen versuchen, das Spezifische der heutigen Gesellschaftsstruktur auf einen Nenner zu bringen. Diese Frage nach der Struktur und Dynamik der Gegenwartsgesellschaft gewinnt für die Pädagogik insofern an Wichtigkeit, wie die pädagogischen Hintergrundsüberzeugungen und Beobachtungsweisen zum einen in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen sind, zum anderen durch pädagogische Intervention auf gesellschaftlich bedingte Veränderungen und Problemlagen reagiert werden soll. So zeigt sich aus soziologischer Perspektive, dass dasjenige, was jeweils als Bildungs- und Erziehungsziel formuliert wird, nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen und Strukturen zu verstehen ist. So lange dieses Wissen über die Strukturmerkmale der Gesellschaft aber nicht explizit gemacht wird, kann es kaum reflektiert und verändert werden. Die Bedeutung einer Soziologie der Pädagogik kann darin bestehen, in Distanz zur Praxis eine Theorie der Pädagogik als Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft zu formulieren; denn sie stellt die Frage nach den Strukturen einer Gesellschaft, in der solche Voraussetzungen erfüllt sind. Die Soziologie vermag hierdurch „blinde Flecken“ einer pädagogischen Theorie und Praxis aufzudecken, die als grundlegende Prämissen und Ansprüche aus pädagogischer Perspektive notwendigerweise nicht in Frage gestellt werden können. Sie vermag der Pädagogik im Sinne eines „kritischen Anspruches“ aus ihrer notwendigen Fachblindheit heraus zu verhelfen – nicht dadurch, dass sie einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat, sondern in spezifischer Weise durch einen Perspektivwechsel, der die Einnahme eines gesellschaftstheoretisch fundierten Beobachterstandpunktes ermöglicht.
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Literatur Bommes, Michael/Scherr, Albert (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München. Bonß, Wolfgang (2003): „Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen“. In: Demirovic, A. (Hg.): Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Stuttgart/Weimar, S. 366–392. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin. Röttgers, Kurt (1990): „Kritik“ in: Sandbühler, H. J. (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaft, Bd. 2. Hamburg, S. 889–898.
Kultur, Kulturen und Ethnizität
Ulrike Hormel, Albert Scherr In der pädagogischen, politischen und medialen Kommunikation wird der Begriff Kultur wiederkehrend in zumindest zwei deutlich zu unterscheidenden Bedeutungen zum Thema: Zum einen als der gesellschaftliche Teilbereich der Hochkultur (die Künste, die Wissenschaften, Philosophie und Religionen), dem in irgendeiner Weise Höherwertigkeit gegenüber den Praktiken und Ausdrucksformen des gewöhnlichen Alltagslebens zugesprochen wird. Mit einem solchen Verständnis von Kultur als Hochkultur verbindet sich traditionell die Idee eines Fortschritts in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung sowie ein Verständnis von Kultur als Vorrat bedeutsamen Wissens, das in Bildungsprozessen angeeignet werden soll. Eine zentrale Aufgabe von Schulen und Hochschulen ist in einer solchen Perspektive die Weitergabe und Weiterentwicklung eines kulturellen Erbes. Zum anderen wird Kultur aber auch als deskriptive Kategorie verwendet. Dies ist der Fall, wenn etwa nationale oder regionale Kulturen, Jugendkulturen oder sog. ethnische Gruppen in der Absicht verglichen werden, typische Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf unterschiedlichen Ebenen – von den Ess- und Trinkgewohnheiten über die Ordnung der Geschlechter- und Generationenbeziehungen bis zu den hochkulturellen Formen – aufzuzeigen. Akzentuiert wird in solchen vergleichenden Betrachtungen die Vielfalt der historischen und gegenwärtigen kulturellen Formen. Entsprechend argumentieren Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrer grundlegenden Studie „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (1966/2000), dass von der Tatsache einer „gesellschaftlichen Relativität“ des Wissens auszugehen sei, auf dessen Grundlage Individuen die soziale und natürliche Wirklichkeit wahrnehmen und ein bestimmtes Bild dieser Wirklichkeit entwerfen, das die Grundlage von Entscheidungen und Handlungen darstellt. „Was für einen tibetanischen Mönch ,wirklich‘ ist“, so eines ihrer einschlägigen Beispiele, „braucht für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht ,wirklich‘ zu sein“ (ebd.: 3). Ein Verständnis von Kultur (im Singular) als Hochkultur und die Überzeugung, im Besitz der wertvollen kulturellen Güter (etwa: der wissenschaftlichen Rationalität; der wirklich humanen Werte und Normen) zu sein, geht wiederkehrend mit einem Überlegenheitsbewusstsein einher – so in den Fällen des Überlegenheitsbewusstseins der europäischen Kolonialmächte gegenüber den Kolonialisierten und des Überlegenheitsbewusstseins des Adels gegenüber den Bauern in ständischen Gesellschaften sowie auch gegenwärtig noch des Überlegenheitsbewusstseins der Gebildeten gegenüber den Ungebildeten. In seinen kultur- und bildungssoziologischen Studien thematisiert Pierre Bourdieu (1983) entsprechend die Beanspruchung von Kultur als „Distinktionsmittel“, d.h. als Mittel der Darstellung eigener sozialer Höherwertigkeit und der sozialen Abgrenzung. Dagegen geht eine vergleichende Betrachtung von Kulturen (im Plural) vielfach mit einer tendenziell kulturrelativistischen Haltung einher, d.h. der Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen. Die Idee einer Vielfalt der gleichwertigen Kulturen wird bereits in der deutschen Romantik ausdrücklich als Einwand gegen die Vorstellung
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Kultur, Kulturen und Ethnizität
einer Überlegenheit der europäischen Kultur im Verhältnis zu sog. primitiven Gesellschaften formuliert. Diese Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der Kulturen wird auch gegenwärtig in Anspruch genommen, wenn von multikulturellen Gesellschaften und interkultureller Verständigung die Rede ist. Trotz der Nähe kulturrelativistischer Positionen zu einer herrschaftskritischen Perspektive ist es jedoch keineswegs unproblematisch davon auszugehen, dass es eine Vielzahl prinzipiell gleichrangiger kulturell verankerter Werte, Normen und Praktiken gibt. So gibt es etwa durchaus gute Gründe für die Einschätzung, dass die Überzeugung, Frauen und Männer seien gleich und sollen über gleiche Rechte verfügen, einen Fortschritt gegenüber dem patriarchalischen Glauben an eine naturgegebene weibliche Unterlegenheit darstellt. Entsprechend formuliert Terry Eagleton (2001: 25) in seiner Kritik einer bloß deskriptiven und relativistischen Verwendung des Kulturbegriffs: „Historisch gesehen, hat es eine reiche Fülle an Kulturen der Folter gegeben, was aber auch eingefleischte Kulturpluralisten schwerlich als ein Beispiel für den bunt gewebten Teppich menschlicher Erfahrungen angeben werden. Wer Pluralität als Wert an sich betrachtet, ist reiner Formalist und hat offenkundig noch nicht die erstaunliche Vielfalt der Formen bemerkt, die zum Beispiel der Rassismus annehmen kann.“ Damit ist darauf hingewiesen, dass mit der Kritik von Überlegenheitsansprüchen und der Einnahme einer Perspektive, die auf eine deskriptive und vergleichende Betrachtung von Kulturen zielt, Fragen der Bewertung keineswegs grundsätzlich hinfällig werden. Zudem stellt sich bei kulturvergleichenden Betrachtungen die Frage, wie Kulturen angemessen gegeneinander abzugrenzen und zu unterscheiden sind. So ist es zwar immer noch üblich, von unterscheidbaren nationalen Kulturen auszugehen. Eine solche Sichtweise blendet jedoch nationale Grenzen überschreitende kulturelle Prozesse ebenso aus wie die kulturelle Heterogenität innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften. Mit einer kulturvergleichenden Perspektive geht außerdem vielfach ein allzu umfassend angelegter Kulturbegriff einher: Wenn nahezu alles, was soziale Gruppen bzw. Gesellschaften voneinander unterscheidet, als Ausdruck oder Bestandteil ihrer Kultur gilt, dann werden begriffliche Unterscheidungen (etwa: Kultur und Gesellschaft, Kultur und Praxis) unklar. Kultur bezeichnet dann tendenziell alle Dimensionen der sozialen Wirklichkeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Mit einer solchen Begriffsfassung verliert der Kulturbegriff ersichtlich jede analytische Genauigkeit – alles Soziale wird als Kultur bezeichnet. Dies veranlasst in der sozialwissenschaftlichen Diskussion unterschiedliche Versuche, den Kulturbegriff in einer Weise zu bestimmen, die ihn weder auf den hochkulturellen Aspekt einschränkt, noch in beliebiger Weise ausweitet. Dazu grenzen gängige sozialwissenschaftliche Begriffsfassungen Kultur auf die symbolische Dimension sozialer Wirklichkeit ein. D.h.: Kultur wird als Ebene der Hervorbringung und Verwendung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolen bzw. als Wahrnehmen, Denken und Handeln auf der Grundlage von Bedeutungen von der materiellen Ebene der sozialen Wirklichkeit, den ökonomischen und politischen Strukturen, unterschieden. Ausgangspunkt der Bestimmung von Kultur als symbolischer Dimension des Sozialen ist die Annahme, dass das individuelle Erleben, Denken und Handeln weder durch genetische Festlegungen und Instinkte, noch durch die schlicht gegebenen Eigenschaften von Objekten, Personen und sozialen Situationen festgelegt ist. Wie etwa Personen sich wechselseitig wahrnehmen und was daraus für die weitere Kommunikation folgt, hängt von den jeweiligen Bedeutungszuweisungen, z.B. den Kategorisierungen bzw. Typisierungen ab, die in einer Situation relevant werden. Wenn A von B z.B. als „meine Lehrerin“ typisiert wird, dann folgen da-
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raus andere Erwartungen und Handlungsdispositionen, als wenn A von C und D als „unsere Kollegin“ betrachtet wird. Vergleichbares gilt auch für den Umgang mit Objekten: Damit eine runde Lederkugel zum Fußball wird, bedarf es einer entsprechenden Bedeutungszuweisung, die voraussetzt, dass die Beteiligten das kulturelle Muster Spiel sowie die spezifischen Regeln, Normen, Rituale usw. kennen, die das Fußballspiel von anderen Spielen unterscheidet. Solche Muster, Kategorien, Typisierungen usw. werden nun in der Regel nicht individuell erfunden und spontan kreiert, sondern dem „gesellschaftlichen Wissensvorrat“ (Alfred Schütz) entnommen. Mit der Annahme, dass individuelles Erleben, Denken und Handeln auf nicht festlegten Motiven, Wahrnehmungen, Interpretationen und Bedeutungszuweisungen beruht, rücken soziologische Bestimmungen des Kulturbegriffs die sozialen Deutungs-, Wahrnehmungs-, und Bewertungsmuster sowie Ausdrucksformen in den Blick, die Grundlage des sinnhaften Handelns von Individuen sind. Als Kultur werden entsprechend die „symbolischen Ordnungen“ bezeichnet, „vor deren Hintergrund die ,Menschen‘ der sozialen Welt – und damit auch sich selbst – Sinn und Bedeutung verleihen“ (Reckwitz 2000: 16). John Clarke u.a. (1981: 41) formulieren: „Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten. (...) Eine Kultur enthält die ,Landkarte der Bedeutungen‘, welche die Dinge für ihre Mitglieder verstehbar macht.“ Kultur kann vor diesem Hintergrund als ein historisch gewordenes und sozial verfügbares Repertoire an sozial und subjektiv selbstverständlichen, in der Regel nicht bewussten Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewertungs- und Ausdruckschemata gefasst werden, auf das sich Individuen und soziale Gruppen beziehen. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass es die Verständigung zwischen Individuen erleichtert, wenn sie übereinstimmende kulturelle Bezüge aufweisen, wenn sie die gleiche Sprache sprechen, Dingen und Personen die gleiche Bedeutung zuweisen oder ein übereinstimmendes Repertoire nicht-sprachlicher Ausdrucksformen (Gestik, Mimik, Musik usw.) verwenden. Es ist aber keineswegs zu unterstellen, dass Unterschiede zwischen Kulturen notwendig zu unüberschreitbaren Grenzen der Verständigung führen. Dies ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil ein erheblicher Teil der kulturellen Formen und Praktiken als jeweilige Formen der Auseinandersetzung mit ähnlichen Anforderungen und Möglichkeiten des sozialen Zusammenlebens analysiert werden können, etwa als unterschiedliche Sichtweisen eines anzustrebenden Zusammenlebens in Verwandtschaftsbeziehungen, als unterschiedliche Bewertung der subjektiven Bedeutung von Arbeit, als unterschiedliche Normierungen des sozialen zulässigen Umgangs mit Körperlichkeit (Gewalt; Sexualität) usw. Kulturen sind so betrachtet Resultat und Grundlage der Auseinandersetzung mit nicht beliebigen Bezugsproblemen der gesellschaftlichen Reproduktion und der individuellen Lebensführung. In aktuellen soziologischen Kulturtheorien wird – und dies in Bezug auf unterschiedliche sozialwissenschaftliche, sozialphilosophische und sprachwissenschaftliche Grundlagen – die Eigenständigkeit der kulturell-symbolischen Dimension sozialer Wirklichkeit betont. Dabei wird in der sozialphänomenologischen Soziologie angenommen, dass Kultur als Objektivierung und Institutionalisierung von Sinnsetzungen und Gewissheiten verstanden werden kann, deren Grundlage das soziale Handeln von Individuen und sozialen Gruppen ist. Weiter wird postuliert, dass kulturell institutionalisierter Sinn in Sozialisationsprozessen von Individuen verinnerlicht wird, die dann auf der Grundlage sozial erworbener Gewissheiten handeln und dabei auch kulturell kreativ sind (s. Berger/Luckmann 1967/1988). Kultur ist so betrachtet sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung sozialen Handelns. Hieran schließen unter anderem
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neuere Versuche an, „Kultur als Praxis“ in den Blick zu nehmen, d.h. nicht „als eine ,objektive Tatsache‘, sondern als eine ,interaktive Sache des Tuns‘“ (Hörning/Reuter 2004: 10). Im Unterschied dazu betonen Kulturtheorien in der Tradition des Strukturalismus, dass „jede Kultur“ als ein den Individuen selbst nicht bewusstes „Ensemble symbolischer Ordnungen betrachtet werden kann“ (Levi-Strauss 1950/1978: 15), die grundlegende Unterscheidungen (wirklich/unwirklich; wahr/falsch; schön/hässlich, essbar/nicht-essbar, wichtig/unwichtig, zulässige und unzulässige Sexualpartner usw.) beinhalten, die das individuelle Erleben, Denken und Handeln regulieren. Die strukturalistische Kulturtheorie geht insofern von einem Primat der symbolischen Ordnungen und der Sprache aus, als angenommen wird, dass diese ein regelgeleitetes System von handlungsrelevanten Unterscheidungen darstellen, das den sozialen Akteuren selbst unbewusst bleibt. Auf die unterschiedlichen Fassungen soziologischer Kulturtheorien und die anhaltenden, auch forschungsmethodologische Fragen betreffenden Diskussionen über die theoretische Fundierung kultursoziologischer Forschung kann hier nicht weiter eingegangen werden (s. dazu Hofmann/Korta/Niekisch 2004; Reckwitz 2000). In den vielfältigen Arbeiten der empirisch ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Kulturforschung – so in ethnologischen Studien über Stammeskulturen, jugendsoziologischen Analysen von Jugendkulturen, Untersuchungen über Rand- und Subkulturen und kulturvergleichenden Betrachtungen von Nationalstaaten und Religionen – werden Kulturen als voneinander abgrenzbare Gebilde in den Blick genommen, denen eine bestimmte Anzahl von Individuen angehört, die durch ihre kulturelle Zugehörigkeit in ihrem Erleben, Denken und Handeln beeinflusst sind. Dabei zielt die Forschung darauf, aus der jeweiligen Beobachterperspektive zunächst unverständliche und ggf. irritierende Phänomene als Folge jeweiliger kultureller Festlegungen, die aus der Geschichte und den aktuellen gesellschaftlichen Kontexten der untersuchten Kultur hervorgehen, verstehbar werden zu lassen. Eine solche Perspektive wird in einer für die aktuelle pädagogische Diskussion hoch einflussreichen Weise auch in Hinblick auf MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft eingenommen, wobei wiederkehrend davon ausgegangen wird, dass MigrantInnen „ethnischen Gruppen“ bzw. einer „fremden Kultur“ angehören. In der Folge werden Probleme von und mit MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft dann auf kulturelle Unterschiede zwischen der nationalen Kultur und der Kultur ethnischer Minderheiten zurückgeführt. Unter ethnischen Minderheiten werden dabei Gruppen verstanden, die durch eine besondere, sie von anderen unterscheidende Geschichte und Kultur charakterisiert sind. Sozialwissenschaftliche Studien zeigen aber, dass nicht reale Gemeinsamkeiten und Unterschiede für ethnisierende Identifikationen und Abgrenzungen bedeutsam sind, sondern der Glaube an eine gemeinsame Herkunft und Kultur. „Ethnien“ sind also das Ergebnis von Prozessen der Selbst- und Fremdethnisierung, in denen eine ethnische Identität konstruiert und dann in der Folge als sozial bedeutsam betrachtet wird. Gerade dieser Konstruktcharakter muss aber ebenso wie im Fall von Nation ausgeblendet werden, damit der Glaube an eine fraglos gegebene Gemeinsamkeit innerhalb einer ethnischen Gruppe aufrechterhalten werden kann. Eine Sichtweise, die davon ausgeht, dass MigrantInnen ethnischen Gruppen und damit einer anderen Kultur als der Mehrheitsbevölkerung angehören, ist in der Soziologie und der Erziehungswissenschaft kritisiert worden (s. Groenemeyer/Mansel 2003). Dabei wird erstens geltend gemacht, dass MigrantInnen ebenso wie Einheimische Individuen sind, die sich von kulturellen Traditionen distanzieren können, also nicht einfach „Gefangene einer Kultur“ sind.
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Zweitens wird argumentiert, dass sowohl die Inanspruchnahme als auch die Distanzierung von einer kulturellen Tradition immer nur vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen Lebenssituation von Individuen, Familien und sozialen Gruppen verständlich sind. Eine Selbstdefinition als ethnische oder kulturelle Minderheit ist so betrachtet insbesondere dann wahrscheinlich, wenn Erfahrungen der sozialen Benachteiligung und der sozialen Ausgrenzung vorliegen, die es nahe legen, sich mit denjenigen zu identifizieren, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Drittens lässt sich empirisch zeigen, dass MigrantInnen nicht einfach an Überzeugungen und Gewohnheiten festhalten, die in ihrer Herkunftsgesellschaft verbreitet sind, sondern diese in Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Aufnahmegesellschaft verändern. Soziologisch ist deshalb zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen Individuen veranlasst sind, spezifische Praktiken der individuellen und kollektiven Lebensführung zu entwickeln, und unter welchen Bedingungen sich diese dabei ggf. auf spezifische kulturelle Traditionen beziehen oder sich von diesen distanzieren. In einer soziologischen Perspektive ist vor diesem Hintergrund weder die Annahme in sich geschlossener, klar abgrenzbarer und statischer nationaler oder ethnischer Kulturen tragfähig, noch die Vorstellung, dass Individuen Angehörige von Kulturen und durch diese determiniert sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Individuen ihr Selbst- und Weltverständnis in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Mustern als in sich widersprüchlichen, vielschichtigen und ineinander verwobenen Sinngebilden, die sich wechselseitig beeinflussen, entwickeln. Die Zugehörigkeit zu einer Kultur bzw. „Ethnie“ kann also nicht als schlicht gegebene Tatsache vorausgesetzt und dann als Grundlage für die Erklärung von Verhaltensweisen beansprucht werden. Die Unterscheidung von Kulturen ist immer die Konstruktion eines Beobachters und es ist nicht zulässig, eine solche Konstruktion dann als Ursache der Verhaltensweisen zu behaupten, die beobachtet werden.
Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1967/2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre (1983): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. Clarke, John u.a. (1979): Subkulturen, Kulturen und Klasse. In: Clarke, J. u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Frankfurt/M., S. 39–132. Eagleton, Terry (2001): Was ist Kultur? München. Groenemeyer, Axel/Mansel, Jürgen (Hg.) (2003): Die Ethnisierung von Alltagskonflikten. Opladen. Hofmann, Martin Ludwig/Korta, Tobias F./Niekisch, Sibylle (2004): Culture Club. Frankfurt/M. Hörning, Karl H./Reuter, Julia (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Dies. (Hg.): Doing Culture. Bielefeld. Levi-Strauss, Claude (1950/1978): Einleitung in das Werk von Marcel Mauss. In: Mauss, M.: Soziologie und Anthropologie. Frankfurt/M./Berlin/Wien, S. 7–42. Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist. Weber, Max (1920/1972): Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Tübingen.
Macht, Herrschaft und Gewalt
Albert Scherr Soziale Beziehungen sind durch vielfältige Auseinandersetzungen – über Regeln und Normen, Rechte und Pflichten, die Gewährung von Privilegien, Verteilung von Ressourcen, den Zugang zu knappen Gütern usw. – charakterisiert. Darin angelegte Konflikte und Interessengegensätze können keineswegs durchgängig durch kommunikative Verständigung und konsensuelle Entscheidungen aufgelöst werden. Und die Chancen, eigene Sichtweisen, Überzeugungen und Interessen durchzusetzen, sind in zahlreichen sozialen Situationen auch keineswegs gleichmäßig unter den Beteiligten verteilt. Vielmehr sind diesbezügliche Asymmetrien ein grundlegendes Merkmal sozialer Strukturen und Prozesse – und deshalb ist die Untersuchung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ein zentraler Gegenstand soziologischer Analysen. Dabei zielen Varianten einer sich als Kritik verstehenden Soziologie auf den Nachweis, dass jeweilige Macht- und Herrschaftsverhältnisse weder alternativlos sind, noch dem gemeinsamen Interesse aller Beteiligten dienen. Unter Macht wird in gängigen soziologischen Definitionen „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1922/1972: 28) bzw. „das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“ (Popitz 1992: 22) verstanden. Herrschaft ist Max Weber zufolge eine spezifische Form von Macht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Einverständnis herbeigeführt werden kann, dass also „ein Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam“ findet (Weber 1922/1972: 28). Eine andere Akzentuierung des Machtbegriffs als Weber und Popitz nimmt Niklas Luhmann (1988: 11) vor: Macht besteht demnach „in der Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens der Machtunterworfenen“. So betrachtet befähigen Machtverhältnisse dazu, die Bedürfnisse, Absichten und Interessen der jeweils Unterlegenen zu ignorieren, da die Möglichkeit besteht, angestrebte Ereignisse durch die Androhung oder Anwendung von Zwangsmitteln herbeizuführen. Mit Heinrich Popitz (ebd.) kann eine Reihe grundlegender Formen der Machtausübung unterschieden werden: die Zufügung körperlicher Verletzungen, die Begrenzung des Zugangs zu wesentlichen Lebensmitteln, die Einschränkung sozialer Teilhabemöglichkeiten, die Zuweisung von Belohnungen und Bestrafungen, die Beeinflussung von Wahrnehmungen, Wissen und Überzeugungen, die selektive Gewährung von Anerkennung, der Einsatz technischer Mittel zur Gestaltung materieller Lebensbedingungen. Ermöglicht wird Machtausübung demnach wesentlich durch das Angewiesensein von Individuen auf soziale Teilhabe und den Zugang zu gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen sowie die physische und psychische Verletzbarkeit von Individuen. Die Anwendung von Gewalt im engeren Sinne des Begriffs – die Androhung oder Zufügung physischer Verletzungen – ist also nur eine Grundlage von Macht- und Herrschaftsausübung durch Zwangsmittel. Deshalb wird gelegentlich auch die Möglichkeit, psychischen Zwang auszuüben, als „psychische Gewalt“ gefasst; weiter ist von „struktureller Gewalt“ in Hinblick auf die Begrenzung des Zugangs zu Ressourcen und Teilhabemöglichkeiten die
Macht, Herrschaft und Gewalt
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Rede. Damit soll akzentuiert werden, dass Individuen durch gesellschaftliche Strukturen ebenso in ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit beeinträchtigt werden können wie durch körperbezogene Gewalt. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind keineswegs nur ein Element der staatlich-politischen Strukturen der Gesellschaft. Vielmehr gehen soziologische Theorien davon aus, dass alle sozialen Beziehungen, also auch pädagogische Beziehungen, immer auch einen Machtaspekt beinhalten. In Bezug auf familiale Erziehung und professionelle Pädagogik formuliert Popitz: „Wo Menschen Kinder pflegen und heranziehen, üben sie intentional und mit hoher Überlegenheit Macht aus ... “ (ebd.: 35). Diese These ist insofern plausibel, wie angenommen werden kann, dass Eltern und Pädagogen gute Gründe dafür beanspruchen, Entscheidungen zu treffen sowie Regeln zu setzen und durchzusetzen, ohne dass ihre jeweiligen Adressaten damit einverstanden sind. Grundlage hierfür ist die Absicht bzw. der gesellschaftliche Auftrag, bei Kindern und Jugendlichen, von denen im Unterschied zu Erwachsenen angenommen wird, dass sie nicht umfassend zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung in der Lage sind, Lern- und Entwicklungsprozesse auch dann zu bewirken, wenn diesen deren Notwendigkeit (noch) nicht einsichtig ist. Die Behauptung, dass Pädagogik Machtausübung sei, steht jedoch durchaus in einem Widerspruch zum Selbstverständnis moderner Pädagogik. Dies wird darin deutlich, dass Pädagogen ihr Handeln gewöhnlich nicht als Machtausübung beschreiben, also nicht mit Begriffen wie Befehlen, Anordnen, Erzwingen oder Bestrafen charakterisieren, sondern mit Begriffen wie Betreuung, Beratung, Erziehung und Bildung, deren Machtdimension nicht offenkundig ist. Ein solches Verständnis von Pädagogik als machtferne Praxis wird auch dadurch begünstigt, dass moderne Pädagogik auf ein zentrales Machtmittel, auf die Anwendung physischer Gewalt durch Körperstrafen, verzichtet hat. Physische Gewalt gilt inzwischen – seit der Abschaffung der Prügelstrafe als legitimes Erziehungsmittel in den 1970er Jahren – vielmehr als eine problematische und durch pädagogische Einwirkungen möglichst zu überwindende Form abweichenden Verhaltens. Gleichwohl ist aber nicht sinnvoll zu bestreiten, dass soziale Beziehungen generell, und damit auch pädagogische Beziehungen, widersprüchliche Erwartungen, Interessensgegensätze, latente und offene Konflikte beinhalten sowie dass bei Gestaltungen sozialer Beziehungen und der Austragung von Konflikten Machtverhältnissen eine erhebliche Bedeutung zukommt. Gegenstand solcher Konflikte sind nicht zuletzt die Verteilung knapper Ressourcen (etwa: Geld, qualifizierte und sichere Arbeitsplätze, gute Noten), die Regeln und Normen, an denen sich soziale Kooperation und Kommunikation orientieren sollen sowie die wechselseitigen Verhaltenserwartungen. So erwarten LehrerInnen von SchülerInnen, dass sie sich motiviert am Unterricht beteiligen und Entscheidungen über Noten ebenso akzeptieren wie formelle und informelle Regeln, durch die festgelegt ist, was als zulässiges und angemessenes Schülerverhalten gilt. Gelingt es nicht, diesbezügliches Einverständnis herzustellen, dann kommen Machtmittel zum Einsatz, die institutionell, durch rechtliche und organisatorische Festlegungen abgesichert sind: PädagogInnen sind formelle Sanktionsbefugnisse (Ausübung des Hausrechts, Notengebung usw.) zugewiesen, mit denen erwartungskonformes Verhalten bewirkt werden soll. Im Fall der Schule kommt hinzu, dass die Teilnahme an schulischem Unterricht bekanntlich keineswegs freiwillig ist und durch rechtliche Sanktionen erzwungen werden kann. Bedeutsam sind neben solchen formellen Sanktionen aber auch informelle. Dabei kommt dem Entzug von Wertschätzung bzw. der Mitteilung negativer Bewertungen von Verhaltensweisen sowie der Zuschreibung negativer Persönlichkeitseigenschaften eine zentrale Bedeutung zu. Diesbezüglich ist relevant, dass PädagogInnen im Verhältnis zu ihren Adressaten eine Definitions-
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macht zugewiesen ist, d.h. die Fähigkeit, Verhaltensregeln und Interpretationen auch gegen den Willen der Adressaten durchzusetzen (Becker 1973: 13ff.). Damit ist darauf hingewiesen, dass Machtbeziehungen nicht zureichend als ein Verhältnis zwischen Personen analysiert werden können, als Durchsetzung des Willens eines Individuums gegen andere Individuen. Organisationen – so Schulen als Erziehungsorganisationen, Betriebe als Wirtschaftsorganisationen, Parteien als politische Organisationen usw. – sind in der Lage, dadurch „organisierte Macht“ (Luhmann 1988: 98ff.) auszuüben, dass sie nach je eigenen Kriterien über Mitgliedschaft und Ausschluss sowie den Zugang zu ihren Leistungen entscheiden. In seiner Analyse sog. „totaler Institutionen“ hat Erving Goffman (1972) am Beispiel der Situation von Psychiatrieinsassen aufgezeigt, dass diese u.a. durch die Aufhebung der Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, durch den Entzug von der Möglichkeit, die individuelle Persönlichkeit zu symbolisieren und eine umfassende soziale Regulierung aller Tätigkeiten der Insassen darauf ausgerichtet sind, ein Machtverhältnis zu etablieren, das dazu befähigt, „den Charakter von Menschen zu verändern“ (ebd.: 22). Macht auf der Ebene der Interaktionen zwischen Individuen steht darüber hinaus in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturen, aus denen Konflikte resultieren und die ungleiche Chancen der Machtausübung an die Inhaber jeweiliger sozialer Positionen zuweisen. Eine Soziologie der Machtbeziehungen ist folglich auf eine gesellschaftstheoretische Grundlegung angewiesen – im Sinne einer theoretischen Beschreibung der sozialen Strukturen, aus denen eine Ungleichverteilung von Ressourcen und Lebenschancen sowie von Möglichkeiten der Setzung und Durchsetzung von Regeln und Normen hervorgeht. An die Marx’sche Kapitalismuskritik anschließende Theorien haben auf die ökonomischen Grundlagen von Machtbeziehungen, insbesondere auf die Bedeutung der Eigentumsverhältnisse, hingewiesen. Zentrale ökonomische Grundlage von Macht ist demnach die Verfügung über Privateigentum an Produktionsmitteln einerseits, der Zwang zum Verkauf des eigenen Arbeitsvermögens als „Ware Arbeitskraft“ andererseits. Marxistische und neomarxistische Analysen der gesellschaftlichen Funktion von Pädagogik haben entsprechend argumentiert, dass die Befähigung zu einer Lebensführung unter Bedingungen der Lohnabhängigkeit sowie die Akzeptanzbeschaffung für die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse eine zentrale Aufgabenzuweisung an die schulische und außerschulische Erziehung darstellt. Die Marx’sche Theorie hat darüber hinaus aufgezeigt, dass Ideologien als Rechtfertigungslehren ein wesentliches Element von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind. Ideologien interpretieren bestehende Machtasymmetrien und soziale Ungleichheiten als Ausdruck vermeintlich naturgegebener bzw. unveränderlicher Unterschiede zwischen sozialen Klassen, Geschlechtern, Kulturen, Nationen oder „Rassen“ und tragen damit zur Begründung und Rechtfertigung von Machtbeziehungen bei. Obwohl Max Weber den Stellenwert der ökonomischen Machtverhältnisse keineswegs bestreitet, akzentuiert er darüber hinausgehend die Relevanz der staatlich-politischen Machtverhältnisse, insbesondere die staatliche Monopolisierung der legitimen physischen Gewalt sowie den Stellenwert der Disziplin als moderne Form der Macht- und Herrschaftsausübung: Disziplin als das „Eingestelltsein ... auf präzisen Gehorsam innerhalb der gewohnten Tätigkeit“ bzw. auf die Einhaltung „der gewohnten Normen und Reglements“ ist seines Erachtens die bedeutsamste Form von Machtausübung in privatkapitalistischen Industriebetrieben, staatlichen Bürokratien und Armeen. An diese Überlegung anschließende Studien zur Geschichte der Sozialdisziplinierung zeigen auf, dass die Einübung in Zeitdisziplin, Normkonformität
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und Gehorsamsbereitschaft zentrale Bezugspunkte pädagogischer Institutionen und Praktiken waren und sind. In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion ist ein erheblich weiter gefasstes Verständnis von Machtverhältnissen einflussreich, wie es grundlagentheoretisch insbesondere in den Untersuchungen Michel Foucaults entwickelt wurde. Foucault wendet sich gegen eine Begrenzung von Machtanalysen auf staatlich-politische und ökonomische Macht, indem er u.a. danach fragt, auf welcher Grundlage Normalität und Wahnsinn gesellschaftlich unterschieden werden und was daraus für den Umgang mit als psychisch krank Definierten folgt oder welche Sichtweisen der Ursachen und des angemessenen Umgangs mit Kriminalität einflussreich sind. Diesbezüglich zeigt er auf, dass für eine jeweilige gesellschaftliche Situation eine Ordnung des Diskurses, des möglichen und erlaubten Denkens, Redens und Handelns beschrieben werden kann, innerhalb der sich die Akteure bewegen. Foucault argumentiert, dass Machtausübung auch nicht allein als Repression, als Erzwingen und Verbieten verstanden werden kann, sondern das Veranlassen, Erleichtern und Nahelegen von bestimmten Möglichkeiten einschließt; Macht ist so betrachtet nicht nur einschränkend, sondern auch produktiv (s. Deleuze 1992: 99ff.). Foucault hat u.a. für die Pädagogik außerordentlich bedeutsame Analysen inspiriert, die Verschränkungen pädagogischer Texte und Praktiken mit den Diskursen thematisieren, durch die Formen der Disziplinierung, Ausgrenzung und Ausschließung hervorgebracht, begründet und gerechtfertigt werden. Machtverhältnisse sind auch in der Gegenwartsgesellschaft durch ihren konstitutiven Bezug zur physischen Gewalt charakterisiert. Denn die staatliche Monopolisierung und die politisch-rechtliche Regulierung der legitimen physischen Gewalt ist nicht mit einem generellen Funktionsverlust von Gewalt gleichzusetzen. Gewalt wird als polizeiliche Gewalt zur Durchsetzung rechtlicher Normen angewandt und ist als abrufbares Potential präsent, durch das legale Machtbeziehungen abgesichert sind. Alle Beteiligten wissen, dass im Notfall auf die staatlichen Gewaltorgane zurückgegriffen werden kann, und auch deshalb ist dies vielfach gerade nicht erforderlich, um etwa das Hausrecht in pädagogischen Einrichtungen durchzusetzen. Es genügt das Wissen um die Möglichkeit, ggf. die Polizei einzuschalten. Auch Armeen als Gewaltorganisationen sind ein Element des staatlichen Gewaltmonopols. Aus der staatlich-politischen Beanspruchung von Gewalt als legitimes Machtmittel und der damit zugleich gegebenen Nachfrage nach Personal, das in der Lage ist, als Polizist oder Soldat Gewalt anzuwenden, resultiert eine Grenze von Versuchen der generellen Delegitimation von Gewalt innerhalb der etablierten gesellschaftlichen Ordnung – und auch von pädagogischen Programmen, die Erziehung zur Gewaltfreiheit als generelles Lernziel proklamieren. Historisch und aktuell ist Gewaltfähigkeit ein Bestandteil sozial einflussreicher Definitionen legitimer Männlichkeit, die an Männer (und inzwischen auch Frauen) die Erwartung adressieren, bei Bedarf gesellschaftlich als notwendig verstandene, mit Gewaltausübung verbundene Funktionen der Ordnungssicherung und Verteidigung zu übernehmen. In Folge der Verankerung von Gewaltfähigkeit in gesellschaftlich einflussreichen Modellen legitimer Männlichkeit ist Gewalt auch in der modernen Gesellschaft als eine „Jedermans-Ressource“ (von Trotha 1997: 25) bedeutsam, deren Verwendung durch Individuen und soziale Gruppen nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann. Dies führt jedoch nicht dazu, dass jeder jederzeit damit rechnet, Opfer von Gewalthandlungen zu werden. Vielmehr wird im Alltagsleben mit hoher Plausibilität davon ausgegangen, dass durchschnittstypisch sozialisierte Individuen erhebliche Hemmungen gegenüber der Anwendung von Gewalt aufgebaut haben bzw. Gewalttätigkeit nicht als Bestandteil ihres alltäglichen Handlungsrepertoires betrachten.
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Zudem ist Gewalt rechtlich sanktionsbedroht und auch deshalb in aller Regel nicht dazu geeignet, informelle Machtbeziehungen auf Dauer abzusichern. Die rechtlich nicht regulierte Anwendung von physischer Gewalt kann folglich innerhalb moderner Gesellschaft als eine Form abweichenden Verhaltens verstanden werden, deren Kontrolle und Eingrenzung Gegenstand polizeilicher und rechtlicher Interventionen, aber auch pädagogischer Präventionskonzepte ist. Moderne Gesellschaften sind also durch ein hoch ambivalentes Verhältnis zur Gewalt charakterisiert: In dem Maße, wie sie von allen bzw. allen männlichen Individuen erwarten, potentiell als Mitglieder für die Organisationen des staatlichen Gewaltmonopols rekrutierbar zu sein, sind sie veranlasst, Gewaltfähigkeit keineswegs generell negativ zu bewerten. In dem Maße jedoch wie auf Kriege als Mittel der Politik verzichtet, die Zahl der Soldaten verringert, physische Gewalt in der familialen und schulischen Erziehung obsolet und bloße körperliche Arbeit in der Ökonomie überflüssig wird, ist es nicht mehr erforderlich, kulturelle Muster der physisch starken und gewaltfähigen Männlichkeit als gesellschaftseinheitlich geltende Definitionen legitimer Männlichkeit aufrechtzuerhalten. Charakteristisch für moderne Gesellschaften ist folglich ein hoch ambivalentes, zwischen organisierter Verwendung und Distanzierung, Darstellung und Verleugnung, moralischer Verurteilung und Faszination changierendes Verhältnis zur Gewalt. Selbstwahrnehmungen und -darstellungen als gewaltbereiter Mann führen nun jedoch keineswegs selbstverständlich und notwendig auch zu tatsächlichem Gewalthandeln. Sozial abgerufen werden Gewaltfähigkeit und Gewaltbereitschaft insbesondere dann, wenn durch etablierte Bedrohungsszenarien, Ideologien, Vorurteile und Feindbilder Aggressionsobjekte angeboten und Rechtfertigungsnormen bereitgestellt werden. Dies war in der Bundesrepublik der 1990er Jahre insbesondere bezogen auf Flüchtlinge der Fall. Aus der Eskalation fremdenfeindlicher Gewalt in den 1990er ist zu lernen, dass Ideologien und Praktiken, die soziale Distanzierung von den Opfern mit ihrer Darstellung als Feinde oder Bedrohung verbinden, als Bahnungen der Gewalt wirksam werden.
Literatur Becker, Howard S. (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt/M. Deleuze, Gilles (1987): Foucault. Frankfurt/M. Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. Heitmeyer, Wilhelm/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.) (2004): Gewalt. Entwicklungen, Analysen, Strukturprobleme. Frankfurt/M. Kersten, Joachim (1997): Gut und (Ge-)schlecht. Berlin/New York Luhmann, Niklas (1988): Macht. Stuttgart. Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. Tübingen. Von Trotha, Trutz (1997): Zur Soziologie der Gewalt. In: KZfSS, Sonderheft 37, S. 9–55. Weber, Max (1922/1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.
Medialität und Massenkommunikation
Sven Kommer Bereits der Blick auf die eigenen Medien-Routinen zeigt, wie stark der Alltag in den westlichen Industriegesellschaften von Medien und Massenmedien durchdrungen ist: Der Tag beginnt nicht selten mit den neusten Meldungen (oder Charts) aus dem Radiowecker, das Frühstück wird (noch) von der Tageszeitung (und/oder dem Frühstücksfernsehen) begleitet, den Weg zum Arbeitsplatz untermalt der iPod etc. Die Verwobenheit mit unseren Alltagsroutinen geht dabei so weit, dass die Nutzung mancher Medien (z.B. Plakate) kaum mehr bewusst wird. Nicht zuletzt weist der inzwischen eingeführte Begriff von der „Mediengesellschaft“ darauf hin, dass die geradezu explosionsartige Expansion der Medien auch gesamtgesellschaftliche Folgen hat (z.B. für die politische Kommunikation).
Massenkommunikation Eine mittlerweile als „klassisch“ anzusehende Definition von „Massenmedien“ als „Trägern der Massenkommunikation“ wurde von Maletzke in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert. Auch wenn sie heute in einigen Punkten fragwürdig geworden ist, bietet sie doch zunächst einen Orientierungspunkt, der eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation ermöglicht. Für Maletzke stellen „Massenmedien Organisationen/Institutionen dar, die sich mit der Herstellung bzw. Produktion von Botschaften/Aussagen und deren Verbreitung mit Hilfe technischer Mittel befassen. Massenmedien werden als Einrichtungen bezeichnet, mit denen Aussagen bzw. Botschaften öffentlich, technisch vermittelt, also indirekt, und einseitig an ein disperses Publikum verbreitet werden“ (Schenk 2002: 343). Gerade im Zeitalter des Internet erscheint es notwendig, diese Definition (an der sich bis heute eine Vielzahl von AutorInnen orientiert) genauer in den Blick zu nehmen: > „Massenmedien stellen Organisationen/Institutionen dar“ – hieraus folgt, dass im Sinne von Maletzke immer eine institutionell verankerte Gruppe von „MacherInnen“ die Produktion von „Botschaften/Aussagen“ übernehmen muss. Damit wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass sich Maletzkes Definition an den zu ihrem Entstehungszeitpunkt relevanten Massenmedien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen orientiert. Sowohl mit Blick auf die Produktionstechnik wie auch auf die Erstellung und Verantwortung von Inhalten bedarf es bei diesen eines komplexen Apparates, der die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Produktionen einzelner Personen – wie z.B. eine private WWW-Site – fallen demnach nicht unter diese Definition. > „Produktion von Botschaften/Aussagen“ – dieser Passus verweist zunächst einmal auf die Traditionslinie der Kommunikationswissenschaft bzw. Publizistik, die aus der Zeitungswissenschaft hervorgegangen ist. Damit stehen Nachrichten und Informationen – vielleicht auch noch die Werbung – im Zentrum der Betrachtung. Mediale Formate also, die dafür ge-
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schaffen sind, zu informieren – oder auch (je nach Intention der Produzenten) zu manipulieren. Ob reine Unterhaltungsprogramme auch eine Botschaft etc. in diesem (engeren) Sinne transportieren, ist zumindest umstritten. „Verbreitung mit Hilfe technischer Medien“ – diese Passage bringt ein zentrales Spezifikum der Massenkommunikation in den Blick: Es handelt sich um eine technisch vermittelte Kommunikation, Produzenten und Rezipienten befinden sich nicht in einer Face-to-FaceSituation. Zwischen diese Beiden tritt immer ein technisches Medium, das wiederum durch seine Eigenschaften und Gegebenheiten einen je spezifischen Rahmen für das zu Übertragende, aber auch für die Rezeptionssituation abgibt. Dies bedeutet zum Beispiel mit Blick auf Radio und Fernsehen, dass eine zeitliche Koordinierung (Gleichzeitigkeit) zwischen Programmangebot und Rezipienten unumgänglich ist, aber eine große räumliche Ausdehnung (bis hin zu „weltweit“) möglich ist. Im Falle von Printmedien (heute aber auch bei aufgezeichneten elektronischen oder digitalen Medien) ist dagegen eine zeitversetzte (und wiederholte) Rezeption möglich. „... Botschaften öffentlich“ – hier macht Maletzke eine weitere Prämisse, die vor allem im Kontext aufgeklärter moderner Gesellschaften fundamental ist: Massenkommunikation ist grundsätzlich für „Alle“ zugänglich, es handelt sich nicht um eine Kommunikation in geschlossenen Zirkeln. Nicht erst in der heutigen Medienwelt stellt sich allerdings die Frage, wie „öffentlich“ zu definieren ist. So sind überregionale Tageszeitungen und Fernsehprogramme wie etwa die „Tagesschau“ fraglos prinzipiell für Jedermann zugänglich. Die begrenzte Reichweite eines Lokalsenders (Radio/TV) könnte bereits als nur lokale Öffentlichkeit verstanden werden, während eine geschlossene Benutzergruppe im WWW oder eine Mailingliste im Internet dem Kriterium der Öffentlichkeit mit Sicherheit nicht entsprechen. Gar nicht bedacht ist hier die Tatsache, dass die Nutzung der Massenmedien Kompetenzen und Interessen voraussetzt, die in Sozialisations- und Bildungsprozessen erworben oder eben nicht erworben werden. Studien zur Mediennutzung zeigen folglich auf, dass der Umgang mit Medien mit den Strukturen sozialer Ungleichheit verschränkt ist, in den sozialen Schichten und Milieus also unterschiedliche Ausprägungen beobachtet werden können. „... einseitig“ – die damit angesprochene Gerichtetheit der Kommunikation stellt ein weiteres, wesentliches Unterscheidungskriterium dar. Kommuniziert wird nur in eine Richtung. Den Rezipienten steht kein auch nur annähernd gleichwertiger „Rückkanal“ zur Verfügung. (Leserbriefe, Telefonanrufe, aber auch das Kündigen eines Abonnements stellen nur eine sehr vermittelte, indirekte Reaktion dar.) Damit handelt es sich weder um eine Kommunikation „unter Gleichen“, noch um eine kommunikative Interaktion. Ein Chat im Internet stellt demnach keine Massenkommunikation dar – auch wenn (theoretisch) beliebig viele UserInnen partizipieren können (hier handelt es sich dann „nur“ um eine massenhafte Nutzung). „... an ein disperses Publikum“ – mit diesem Begriff umgeht Maletzke zunächst einmal die aus seiner Sicht problematischen negativen Konnotationen, die sich aus dem Begriff der „Masse“ ergeben (etwa im Sinne der Unterscheidung von Massen und Eliten oder der Vorstellung, dass in Massen die individuelle Autonomie aufgehoben ist). „Dispers“ meint dabei eine eher unbestimmte Gruppe, die nicht durch die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Milieu, einer speziellen (Alters- bzw. Einkommens-) Gruppe oder Szene etc. definiert ist. Damit ist weiterhin impliziert, dass sich die Zusammensetzung des Publikums zu verschiedenen Zeitpunkten stark unterscheiden kann, eine Kontinuität ist hier nicht gefordert.
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Das Konzept des „dispersen Publikums“ führt im Kontext der aktuellen Mediensituation zu einer fundamentalen Kritik an dem Konzept von Maletzke. Denn im Rahmen eines immer stärker ausdifferenzierten Medienangebotes, dessen einzelne Produkte (Sendungen, Zeitschriften etc.) auf zum Teil immer kleinere, scharf umgrenzte Zielgruppen ausgerichtet sind, stellt sich die Frage, inwieweit heute noch von einem dispersen Publikum gesprochen werden kann. Das Special-Interest-Magazin (für welches Thema auch immer) spricht ein solches mit Sicherheit nicht an. Die von Maletzke vorgelegte Definition von Massenmedien und Massenkommunikation spiegelt letztendlich den Stand der Medienwelt in den 1960er Jahren, in der die traditionellen Massenmedien Print, Film, Radio und Fernsehen dominieren. Daneben existiert via Brief, Fernschreiber und Telefon eine technisch vermittelte Individualkommunikation, die einzelne Personen miteinander in Verbindung bringt und bei der – anders als im Modell der Massenkommunikation – auch ein Sprecherwechsel möglich ist. Diese Form der Kommunikation wird allerdings kaum untersucht oder innerhalb theoretischer Modelle reflektiert. Der Computer für breite Bevölkerungsschichten mit seinen heute alltäglich genutzten Möglichkeiten zur Kommunikation ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal angedacht oder auch nur vorstellbar. Spätestens mit dem Aufkommen des Internet (bzw. seiner grafischen Hypertext-Oberfläche, dem WWW) werden die Grenzen der bisherigen Medien-Kategorien deutlich. So ermöglicht es das Netz (theoretisch) allen NutzerInnen, selber Botschaften nahezu grenzenlos zu verbreiten. Die dabei wegfallenden Kontroll- und Qualitätssicherungsstrukturen ermöglichen auf der einen Seite eine bis dahin nicht gekannte Vielfalt von „Gegenöffentlichkeit“ – und machen das Internet zugleich zum wohl umfangreichsten Hort von Verschwörungstheorien aller Art. Weiterhin finden sich im Netz mit seinen Foren, Mailinglisten und nicht zuletzt Chat-Räumen und Blogs interaktive Dienste, die weder der Kategorie der Massenkommunikation, noch der der medial vermittelten Individualkommunikation zuzuordnen sind. In je unterschiedlicher Ausprägung sind bei diesen Elemente aus beiden Welten vermischt. Für die in den letzten Jahren zunehmend verbreiteten Online-Computerspiele bedarf es vermutlich einer ganz neuen Kategorie; kommt hier doch auch noch die Interaktion mit einer software-generierten virtuellen Welt hinzu.
Geschichte und Struktur der Massenmedien Die neuere Geschichte der Massenmedien beginnt mit der Weiterentwicklung der Drucktechnik, wie sie von Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts eingeleitet wurde. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kommen sowohl der Kino-Film wie auch erste Tonträger hinzu, mit dem Aufstieg des Radios in den 1930er Jahren entsteht das erste Massenmedium (und nach 1933 wirkungsvolles Propagandainstrument), das für den Transport der Inhalte zu den Rezipienten nicht mehr auf physikalische Träger, sondern auf elektromagnetische Wellen setzt. Mit der Einführung des privaten Rundfunks (Radio und TV) in der alten Bundesrepublik ab 1985 und der Einführung neuer Übertragungstechniken (Kabel/Satellit) erhält die Ausbreitung der elektronischen Medien einen erneuten Schub und verändert die Nutzungsgewohnheiten grundlegend – Fernsehen steht jetzt rund um die Uhr zur Verfügung. Mit der Etablierung des PCs und der CD als Träger für Audio-Daten beginnt die allgemeine Digitalisierung der Medienwelt, die mit der Verbreitung von Internet und WWW am
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Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Epoche (und vielleicht das Ende der klassischen Massenmedien) einläutet. Die auf der digitalen Ebene ab Mitte der 1990er Jahre hinzukommenden Komprimierungsverfahren (z.B. MP3) erhöhen die Übertragungskapazitäten der zunehmend auf der digitalen Ebene zusammenwachsenden Netze. Dies ermöglicht eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Programmangeboten. Während die Printmedien (Presse, aber auch Buchverlage) nach 1945 neu lizenziert wurden und dabei in privatwirtschaftlicher Trägerschaft blieben, wurde das Rundfunksystem in den westlichen Besatzungszonen nach dem Vorbild der Britischen BBC als öffentlich-rechtliche Institution in der Hoheit der Länder neu gegründet. Damit sollte ein regierungstreuer Propagandasender (wie es der Reichsrundfunk unter Goebbels im dritten Reich war) für alle Zeit vermieden werden. Mitte der 1985er Jahre beginnt dann auch in der alten Bundesrepublik die Epoche des privaten Rundfunks (duales System). Einen „Bildungsauftrag“ wie die öffentlich-rechtlichen Sender haben diese Programmveranstalter dabei nicht.
Massenmedien und Gesellschaft Wenn mit Blick auf die heutige Gesellschaft immer wieder von einer „Mediengesellschaft“ die Rede ist, so werden dabei meist mehrere, eng miteinander verknüpfte Aspekte beschrieben: Bereits die klassische, vor allem auf Massenmedien als Nachrichtenmedien fokussierende Publizistik hat untersucht, wie sich Gesellschaft verändert, wenn Massenmedien z.B. politische Debatten in einen öffentlichen Diskurs überführen. Der emanzipierte Bürger erhält so die Möglichkeit, an Meinungsbildungsprozessen zu partizipieren. Mit diesem Gedankengang ist dann auch das Bild von den (Massen-)Medien als der „vierten Kraft“ im Staate – mit einer erheblichen Kontroll- und Meinungsbildungsfunktion – formuliert. Dies endet auf der einen Seite mit der Aufdeckung immer neuer Skandale (Watergate stellt hier bis heute einen Höhepunkt des investigativen Journalismus dar), zum anderen bei der Idee einer „Gegenöffentlichkeit“ jenseits der Produkte einer systemstabilisierenden „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer). Die hier implizit angelegte Idee von den Massenmedien als externen Beobachtern erweist sich unter den aktuellen Bedingungen allerdings zunehmend als brüchig (s.u.). Sowohl das „kollektive Gedächtnis“ als auch das aktuelle Weltwissen des Individuums sind heute zu einem sehr großen Teil medial vermittelt. Luhmann geht dabei sogar so weit zu sagen, dass wir nahezu alles, was wir wissen, aus den Medien wissen. Damit tragen die Massenmedien (Unterhaltungs- wie Nachrichtenmedien) dazu bei, die „Wirklichkeit“ zu konstruieren, die sie zu beobachten vorgeben. Besonders deutlich wird dies bei den von einschlägiger Werbung inszenierten Markenwelten oder jugendkulturellen Symbolmilieus, die Standardisierungen und Sicherheiten jenseits der traditionellen gesellschaftlichen Strukturierungen (und sei es nur in Geschmacksfragen) anbieten. Daneben ist heute eine medieninduzierte Auflösung der raum-zeitlichen Distanz zu beobachten. Dies gilt zum einen für einen gewissermaßen „historischen“ Aspekt, wenn heute beispielsweise Musik, aber auch Texte (und mit fortschreitender Zeit auch Filme, Bilder etc.) aus vergangenen Epochen medial vermittelt jederzeit rezipierbar sind. Daneben – und dies kulminiert in dem von Marshall McLuhan geprägten Begriff des „globalen Dorfes“ – gilt dies auch für eine Ent-Regionalisierung (und damit Globalisierung) der Informationen und des Wissens. Meldungen aus weit entfernten Regionen der Welt erreichen die Rezipienten inzwischen
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manchmal schneller als Berichte über das Geschehen „vor Ort“. Damit ist noch ein weiterer Aspekt angesprochen, die mit „Live-Haftigkeit“ oder beinahe auch „Telepräsenz“ beschrieben werden kann: Dank der aktuellen Übertragungstechniken und ihrer Kapazitäten entfällt – wie spätestens der zweite Golfkrieg (Irak) gezeigt hat – der zeitliche Abstand zwischen dem Geschehen und der Rezeption der Berichterstattung. Mit den „eingebetteten Journalisten“ sind die ZuschauerInnen nahezu in „Echtzeit“ live dabei. Bei einigen AutorInnen findet sich die These, dass die „Produktion von Zeichen“ (also von Medieninhalten) inzwischen die Produktion von Gütern als entscheidenden Wirtschaftsfaktor abgelöst habe. Allerdings hat diese These mit dem Zusammenbruch des „Neuen Marktes“ (Internet- und Multimedia-Firmen aller Art) nach dem Jahrtausendwechsel in ihrer radikalen Fassung an Überzeugungskraft verloren. Die technische Machbarkeit einer Vielzahl von Informationskanälen garantiert allerdings noch lange nicht die Fähigkeit, mit den immer größer werdenden Informationsmengen, die immer schneller produziert werden, auch sinnvoll umgehen zu können. Sowohl für die gesellschaftliche wie auch die individuelle Ebene wird daher immer öfter das Symptom des „Information Overflow“ beschrieben. Mit diesen Entwicklungen stellen sich aber auch einige (alte) Fragen neu. Wenn Medien derartig in die Gesellschaft eingebunden sind hat das traditionelle, vor allem auf die Nachrichten-Medien bezogene Bild von den Massenmedien als „externen Beobachtern“ der Gesellschaft ausgedient. Und damit auch die in der Forschung lange verfolgte Frage, inwieweit sich in den Nachrichten (aber auch in Spielfilmen etc.) eine „objektive“ Abbildung der Wirklichkeit findet. Vielmehr wird inzwischen davon ausgegangen, dass die Medien als Bestandteil der Gesellschaft mit ihrem Prozessieren dazu beitragen, gesellschaftliche (aber auch individuelle) Wirklichkeit zu konstruieren. Unter einer solchen Perspektive wird dann auch noch einmal deutlich, wie eng Veränderungen der Medien an Veränderungen der Gesellschaft (und umgekehrt) gekoppelt sind.
Wirkungen der Massenmedien/Medienforschung Die Diskurse um die „Wirkungen“ von Medien sind vermutlich ebenso alt wie die ältesten Medien. Über die gesamte historische Entwicklung hinweg lässt sich dabei eine Spaltung in zwei konträre Positionen beobachten: Während die Fraktion der Apokalyptiker mit jedem neuen Medium aufs neue kulturelle Verflachung, Verrohung der Sitten und das Verlernen des Lernens befürchten, erhoffen sich die Euphoriker stets aufs neue einen Fortschritt für die Menschheit, kulturelle und gesellschaftliche Innovationen und nicht zuletzt neue Lernchancen. Mit dem Aufkommen des Radios und im Kontext der Nutzung aller relevanter Massenmedien (Zeitung, Buch, Radio, Film) zu Propagandazwecken im ersten und zweiten Weltkrieg erhielt die Wirkungsforschung einen neuen Stellenwert. Die zunehmende Kommerzialisierung, für die die Frage nach der Werbewirkung einen wesentlichen Faktor darstellt, stellte eine weitere Antriebsfeder für die Entwicklung und Überprüfung unterschiedlicher Theorien dar. Grob vereinfachend lassen sich zwei große Theorielinien unterscheiden: Während die eine vor allem nach den Wirkungen auf Individuen fragt, fokussiert die andere auf gesellschaftliche und kulturelle Auswirkungen.
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Individuelle Wirkung von Medien In dieser Diskurslinie geht es meist um die Rezeption von Medieninhalten, die gesellschaftliche Normen und Werte in Frage stellen. Prominent ist dabei die Frage nach der Wirkung gewalthaltiger Medien, diskutiert wird aber auch die Darstellung von Sexualität, Suchtverhalten etc. Damit stehen hier vor allem die Unterhaltungsmedien und weniger die Nachrichtenmedien im Mittelpunkt. Neben dieser auf Problematisierung zielenden Debatte steht die Linie der Werbewirkungsforschung, die aber letztlich mit ähnlichen Ansätzen hantiert. Relevante Forschungsergebnisse kommen dabei zumeist aus der Psychologie. Besonders bekannt geworden ist dabei das auf Albert Bandura zurückgehende Modell des „Lernens am Modell“ – das sich bei den vielfältigen medialen Vorbildern ja durchaus auch anbietet. Noch stärker auf die Rezipienten fokussiert der „Nutzenansatz“, der vor allem nach den bewussten und unbewussten Bedürfnissen fragt, die dem jeweiligen Medienumgang zu Grunde liegen. Dabei werden zunehmend auch wieder erwünschte Effekte (z.B. die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben) in den Blick genommen, auch werden hier gelegentlich Fragen nach den Folgen für den Alltag (z.B. Zeitbudgets) mit einbezogen. Intensive Forschung hat bis heute jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis im Sinne von einfachen (oder auch erweiterten) Kausalannahmen geführt. Vielmehr wird zunehmend deutlich, dass es sich hier um hochkomplexe Zusammenhänge handelt, in deren Rahmen die Nutzung einzelner medialer Stimuli nur einen sehr kleinen Teilaspekt darstellen. Besonders deutlich wird dies im Kontext konstruktivistischer Theorien, die auf Prozesse der Wahrnehmung und der Konstruktion von Wirklichkeit fokussieren und damit das psychische System der RezipientInnen in den Mittelpunkt stellen. In der Folge kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass z.B. die Rezeption gewalthaltiger Videos bei weitem nicht als Auslöser für eigene Gewalthandlungen ausreicht. Verfolgt man heute die wissenschaftliche und die öffentliche Debatte, so zeigt sich eine kaum zu übersehende Diskrepanz zwischen beiden: Während im wissenschaftlichen Kontext einfache und monokausale Modelle längst verabschiedet sind, finden sich in der Öffentlichkeit (und damit auch in den Medien selber) noch immer überwiegend einfache Kausalannahmen. Es ist ja zunächst auch einmal scheinbar plausibel, dass diejenigen, die gewaltbetonte Medieninhalte konsumieren selber gewalttätig werden müssen. Dass dabei nicht selten die Medien als Sündenbock für die unterschiedlichsten Fehlentwicklungen herhalten müssen, wird nur äußerst selten reflektiert.
Gesellschaftliche Wirkung von Medien Die hier subsumierten Theorien fragen nach Auswirkungen, die die (Massen)Medien auf die Gesellschaft (oder zumindest größere Gruppen) haben. Die Mehrzahl fragt dabei vor allem nach Folgen für die (politische) Meinungsbildung. Bereits im Rahmen von Forschungen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1940 ist die Theorie des „two-step-flow of communication“ entstanden. Diese geht davon aus, das für die Meinungsbildung weniger die rezipierten Medien, sondern vor allem „Meinungsführer“ im sozialen Umfeld relevant sind. Das in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (und damals nicht ohne politische Brisanz) ausgearbeitete Konzept der „Schweigespirale“ zielt auf die Folge der Differenz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Als „Spirale“ wird dabei der Prozess beschrieben, der beginnt, wenn Nachrichtenmedien stark eine Meinung oder Richtung (bzw. Partei) bevorzugen und
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über diese verstärkt und positiv berichten. Vertreter einer anderen Position halten – wegen des scheinbar ihnen widersprechenden Meinungsklimas – mit ihrer Meinung „hinter dem Berg“. Damit wird wiederum das wahrnehmbare Meinungsklima verschoben etc. Am Ende dominiert in der veröffentlichten Meinung eine Position, obwohl sie nicht unbedingt von der Mehrheit der Bürger geteilt wird. Die „Wissenskluft-Hypothese“ zielt in eine andere Richtung. Sie speist sich aus der Feststellung, dass NutzerInnen mit besseren Voraussetzungen (Bildung, Medienkompetenz etc.) jeweils neue (aber auch alte) Medien erfolgreicher und im Sinne einer gesellschaftlichen Adäquanz nutzen. Dies vergrößert ihren bereits vorhandenen Vorsprung, mit jeder neuen Medienentwicklung droht die Schere damit noch weiter aufzugehen. Diese These, die bereits zu Zeiten der Durchsetzung des Fernsehens entwickelt wurde, gewinnt in den letzten Jahren nicht zuletzt im Kontext der Pisa-Ergebnisse, wie auch der Debatte um ein „digital divide“ neue Relevanz. Auch wenn die genannten Theorien zum festen Kanon der Medien- und Kommunikationswissenschaft gehören, sind sie keineswegs unkritisiert geblieben. In ihrer ursprünglichen Reinform halten sie empirischen Überprüfungen zumeist nicht stand, können aber helfen, wesentliche Aspekte im Spannungsfeld von Medien und Gesellschaft zu beobachten. Weiter oben wurde bereits angedeutet, dass auch danach gefragt werden kann, wie sich Gesellschaft (und Kultur) durch das Vorhandensein bzw. Hinzukommen von Medien verändert. Als „Wirkung“ kann dann auch die Etablierung virtueller (Geschmacks-)Gemeinschaften oder auch von Symbolmilieus verstanden werden. In beiden Fällen liefern die Massenmedien Symbolangebote, die im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung neue Standardisierungen anbieten.
Literatur Hepp, Andreas (1999): Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. Opladen. Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen. Schenk, Michael (2002): Massenmedien. In: Endruweit, Günter/Trommsdorf, Gisela (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart, S. 343–347.
Natur und Gesellschaft
Christoph Görg Wenn Fragen des Umgangs mit der Natur oder spezifische Umweltprobleme zum Thema werden, dann versucht Pädagogik ein Wissen über „die Natur“ oder die „natürlichen Lebensgrundlagen zu vermitteln. Dass Soziologie hierfür relevant sein könnte, ist auf den ersten Blick nicht einleuchtend, scheinen hier doch eher die Naturwissenschaften zuständig und technische Lösungen gefragt zu sein. Mehr und mehr hat sich jedoch in den letzten Jahren die Einsicht durchgesetzt, dass ökologische Probleme nur unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen und kultureller Denk- und Verhaltensweisen angemessen verstanden und bearbeitet werden können. In den Sozialwissenschaften wurde das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft in den letzten Jahren dementsprechend intensiv und kontrovers diskutiert. Ausgangspunkt der Debatte war die Frage nach dem besonderen Charakter ökologischer Probleme im Wechselverhältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Nachdem in den frühen 1970er Jahren Umweltprobleme verstärkt in die öffentliche Diskussion geraten waren, wurde auch das Verhältnis zur Natur sowohl von der Gesellschaft selbst, als auch von der Wissenschaft von der Gesellschaft, der Soziologie, zunehmend als problematisch empfunden. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn bis dahin – und z.T. auch noch danach – herrschte bei vielen wissenschaftlichen Beobachtern wie im Selbstverständnis der Gesellschaften die Auffassung vor, das Verhältnis zur Natur werde im Laufe der geschichtlichen Entwicklung immer besser kontrolliert und in seiner Relevanz in den Hintergrund treten. Probleme im Umgang mit der Natur haben nach dieser, vor allem in den Modernisierungstheorien vertretenen Auffassung, nur vormoderne, vor allem sog. primitive Gesellschaften, während mit dem Einsatz moderner Technologien und der modernen (Natur-)Wissenschaft die Natur immer umfassender beherrscht werden kann. Eine steigende Fähigkeit zur Naturbeherrschung wurde zum Maßstab und zur Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung erklärt (Parsons 1975). Obwohl diese Ansicht nie unumstritten war, blieben alternative Ansätze im Hinblick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur doch eher marginal (s. dazu ausführlicher Görg 1999). Das änderte sich allerdings mit der Erfahrung der ökologischen Krise. Spätestens seit dem „Ölschock“ von 1973 wurde mehr und mehr deutlich, dass wir es nicht nur mit isolierten Umweltproblemen zu tun haben, sondern dass sich diese zu einer umfassenden gesellschaftlichen Krise im Verhältnis zur Natur zusammenfügen. Phänomene wie die Verknappung natürlicher Ressourcen (bspw. beim Erdöl), die Verschmutzung der Gewässer und der Luft und die Gefahren moderner Technologien wie der Kernkraft wurden nicht mehr als isolierte Einzelprobleme wahrgenommen, sondern zunehmend als Teil einer komplexen gesellschaftlichen Problemlage. Zudem wurden rein technische Lösungen (höhere Schornsteine oder bessere Rußfilter) nicht mehr als ausreichend empfunden und mehr und mehr die gesellschaftlichen Ursachen wie auch gesellschaftliche Lösungsoptionen diskutiert. Über einzelne Umweltprobleme hinaus wurde die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen (Primat des Wirtschaftswachstum etc.) sowie die sozialen Verhaltensweisen (z.B. im Konsum) und die leitenden
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Denkmuster (die Lebensweise und ihre Folgen betreffend: Individualverkehr u.a.m.) als problematisch, als nicht mehr angemessen und die Krise weiterverschärfend, angesehen. Da zudem auch das Vertrauen in die Fähigkeiten von Wissenschaft und Technik schwand, diese Probleme zu beheben, entwickelte sich ein Verständnis der ökologischen Problematik als einer Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse: als einer umfassenden Krise in der Wahrnehmung, Bewertung und Gestaltung der Verhältnisse zwischen Gesellschaft und Natur (Becker/Jahn 1987). Hinzu kam noch, dass es vor allem die modernsten und am weitesten entwickelten Länder wie die USA oder die europäischen Industriestaaten waren, die von den Krisenphänomenen am stärksten betroffen waren und die, obwohl sie an ihrer Verursachung am meisten beteiligt waren, zunächst am wenigsten darauf zu reagieren vermochten. Spätestens mit der Erfahrung dieser Krise trat die Soziologie auf den Plan, denn für die Untersuchung gesellschaftlicher Dynamiken sowie sozialer Verhaltens- und Denkmuster ist sie als Wissenschaft spezifisch zuständig. Allerdings dauerte es in einigen Ländern recht lange, bis die Soziologie sich tatsächlich verstärkt dieser Thematik annahm. Während in den USA schon in den späten 1970er Jahren die Frage gestellt wurde, ob die ökologische Krise nicht als Anstoß verstanden werden müsse, ihre zentralen Grundannahmen – und damit auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur – umfassend zu überdenken, blieben entsprechende Diskussionen in der Bundesrepublik bis in die späten 1980er Jahre hinein aus. Erst nachdem 1986 gleich zwei einflussreiche Bücher die gesellschaftliche Relevanz der ökologischen Krise zu thematisieren versuchten – und dabei zu sehr entgegengesetzten Einschätzungen kamen, nämlich die Diagnose der „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck (1986) und die Arbeit über „ökologische Kommunikation“ von Niklas Luhmann (1986) –, kam die Diskussion über das Verhältnis von Natur und Gesellschaft und seine soziologische Behandlung langsam in Gang. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre sind seitdem eine Fülle von Untersuchungen durchgeführt und eine breite Palette von Fragen behandelt worden. Im Überblick lassen sich die folgenden Themen herausheben:
Risiko und Unsicherheit Die Diagnose der Risikogesellschaft stellte eine der einflussreichsten Provokationen für die Soziologie dar. Auf den ersten Blick steht das Anwachsen technischer Großprojekte – vor allem von Kernkraftwerken – und damit verbundener Risiken im Zentrum der Diagnose von Beck. Die zentrale Botschaft lautet, dass wir es mit einer neuen Phase gesellschaftlicher Entwicklung zu tun haben, in denen nicht mehr die Probleme und Dynamiken der Industriegesellschaft im Zentrum stehen – Beck nannte das die „Logik der Reichtumsproduktion“: die Folgen der Lohnarbeit, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und damit verbundene Eigentumsverhältnisse –, sondern der Umgang mit selbst geschaffenen Risiken, die mit den etablierten Methoden – vor allem mit (natur-)wissenschaftlicher Berechnung und technischem Know-how – allein nicht mehr zu bearbeiten sind. In der weiteren Diskussion zeigte sich dann allerdings, dass die Problemlage sehr viel komplizierter ist. Vor allem ist gar nicht so einfach zu sagen, was genau ein Risiko ist. Denn Risiken hängen sehr stark von der Wahrnehmung ab, und die Wahrnehmung ist wiederum eng mit kulturellen Mustern, mit Werten, Normen und Normalitätsvorstellungen, verbunden. So werden z.B. Risiken, denen man sich mehr oder weniger freiwillig aussetzt, wie die mit dem Autofahren oder dem Rauchen verbundenen, als sehr viel weniger dramatisch eingeschätzt als solche, die man nicht kontrollieren
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kann und denen man unfreiwillig ausgesetzt ist – wie eben die Risiken der Atomenergie. Risikoeinschätzungen haben auch viel mit erwünschten Folgen eigenen Handels zu tun: ökonomische Risiken geht man – trotz aller Gefahren – wegen des erwarteten Gewinnes ein, auch gesundheitliche Risiken nimmt man wegen des Genusses (z.B. beim Tabak), aufgrund gesellschaftlicher Normen („freie Fahrt für freie Bürger“) oder kultureller Wertmuster (z.B. religiösen Verpflichtungen) in Kauf. Becks Diagnose geht aber über solche Überlegungen hinaus: Sie zielt zentral darauf, auf das Anwachsen unkontrollierter Gefahren hinzuweisen, die sich – anders als die genannten Risiken – eben nicht mehr mit den üblichen Methoden berechnen und im Rahmen tradierter kultureller Muster bewerten lassen. Sowohl die Risiken der Kernkraft als auch der Klimawandel oder der Verlust der biologischen Vielfalt stellen Gefahrenlagen dar, deren Ursachen wie Folgen wir bislang nur ansatzweise verstehen und noch weniger kontrollieren können. Was letztlich anwächst, das ist die Unsicherheit über Ursachenzusammenhänge und mögliche Folgen im Zusammenspiel Natur-Gesellschaft – mit möglicherweise katastrophalen Folgen. Der Begriff der Unsicherheit trat damit in gewisser Weise das Erbe des Glaubens an die Perfektionierung der Naturbeherrschung an. Wo früher davon ausgegangen worden war, dass der Mensch irgendwann einmal die Natur vollständig kontrollieren könne – und dass moderne Gesellschaften auf dem besten Weg dahin seien – da wurde dieser Glaube im Kontext der ökologischen Krise tiefgreifend erschüttert und die Einsicht konnte sich entfalten, dass die Folgen unserer Eingriffe in die Natur mit zunehmender Unsicherheit und erheblichen Ungewissheiten verbunden sind. Gleichwohl hat diese Einsicht nicht dazu geführt, dass die Strategie der Naturbeherrschung völlig aufgegeben wurde. Heute kehrt dieser Glaube vielmehr in modifizierter Form als Glaube an die wissenschaftlich-technische Kontrollierbarkeit auch noch der ökologischen Risiken zurück.
Abgrenzung Natur/Gesellschaft Eine ganze andere Konsequenz ist ebenfalls mit der Diagnose von Beck verbunden: „das Ende der Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft. Das heißt: Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur begriffen werden“ (Beck 1986: 107). Im Grunde stecken in diesem Zitat gleich drei Thesen, die es in sich haben: (1) „Ende der Gegenüberstellung“ meint im Kern, eine Denkweise aufzugeben, die Gesellschaft und Natur dualistisch, d.h. als zwei völlig getrennte Bereiche, einander entgegensetzt. Dies war und ist eine durchaus zutreffende Kritik an vielen Ansätzen der Soziologie (z.B. an Durkheim 1980). Ein solcher Dualismus ist nicht nur deshalb problematisch, weil eine saubere Trennung zwischen Natur und Gesellschaft kaum möglich ist und in den meisten Bereichen ein kaum entwirrbares Mischungsverhältnis vorliegt: Als „Naturwesen“ muss der Mensch zwar Nahrung zu sich nehmen, aber was er isst, ist rein kulturell definiert. Ein solcher Dualismus ist in der Regel auch mit einem hierarchischen Verständnis beider, d.h. einer Überordnung des Menschen/der Gesellschaft über die Natur und einer Abwertung letzterer, verbunden. Wenn diese Kritik am Dualismus Mensch/Natur also durchaus berechtigt ist, dann darf gleichwohl nicht in Vergessenheit geraten, dass die Soziologie sich selbst als akademisches Fach erst entwickeln konnte, indem sie einen Umweltdeterminismus zurückgewiesen hat, der soziale Prozesse durch Naturfaktoren, wie z.B. das Klima, erklären wollte. Gesellschaftliche
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Prozesse funktionieren gemäß eigener Gesetzlichkeiten, die nicht auf natürliche Faktoren zurückzuführen sind. So funktioniert ein Ökosystem anders als eine soziale Gruppe, die ein wie immer auch rudimentäres Verständnis ihres sozialen Zusammenhalts besitzt und damit auf sich selbst einwirkt, wenn dieses Verständnis untereinander kommuniziert wird. Entsprechende Prozesse lassen sich bei Tieren oder gar bei Pflanzen oder Mikroorganismen nicht beobachten Wie immer man bei Tieren Formen sozialer Organisation beobachten kann – selbst der komplexeste Ameisen„staat“ oder die pfiffigsten Delphine kommunizieren nicht über ihre sozialen Organisationsformen und entwickeln diese aufgrund dieser Kommunikationen nicht fort. Es macht, mit anderen Worten, sehr wohl Sinn, Gesellschaften und Natur aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionsweisen zu unterscheiden, aber es ist falsch, beide einander abstrakt entgegenzustellen. (2) Der zweite Satz von Beck formuliert zwei weitere Thesen, die aber weder bei ihm, noch in der sonstigen Diskussion immer sauber getrennt werden. Wenn „Natur (...) nicht mehr ohne Gesellschaft“ begriffen werden kann, dann wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die natürliche Umwelt, in der wir leben, nahezu vollständig vom Mensch transformiert, also nicht mehr „natürlich“ im Sinne von unberührt ist. Diese These zielt einmal auf die Klärung unseres Naturbegriffs: Was verstehen wir eigentlich unter Natur? Ist Natur nur die unberührte Natur, oder können wir auch das Natur nennen, was von menschlichem Handeln verändert und im Extremfall erst geschaffen wurde, was ohne den Menschen gar nicht existieren würde? Gibt es also auch eine künstliche, gibt es vielleicht unterschiedliche Naturen? Hier spielt auch die Diskussion um die neueren Bio- und Gentechnologien hinein, denn damit entstehen neue Lebensformen, die es so bislang nicht gegeben hat und auch die Artgrenzen und sogar die Grenzen zwischen Tier-, Pflanzenreich und Mensch scheinen nicht mehr unveränderlich zu sein. Zudem wurde im Kontext der ökologischen Krise die (nur auf den ersten Blick absurde) These vertreten, dass gerade sie auf ein Ende der Natur hinzielt: Weil wir das gesamte Leben auf der Erde inzwischen in hohem Maße verändert und dabei selbst geschaffene Risken ungeahnten Ausmaßes produziert haben (etwa beim Klimawandel), gäbe es Natur als eine unsere Kräfte unendlich übersteigende Macht nicht mehr. Auch wenn man die Gegenthese vertreten kann, dass gerade der Klimawandel trotz oder vielmehr wegen seiner gesellschaftlichen Ursachen auf eine letztlich unkontrollierbare Natur verweist, muss in jedem Fall das gesellschaftliche Transformations- bzw. Eingriffspotential in Rechnung gestellt werden. Was heute als „Natur“ existiert, das ist kaum noch natürlich im Sinne von unberührt und unveränderlich. Wohl aber kann es durchaus andere Gründe geben, den Naturbegriff trotzdem weiter verwenden zu wollen, weil gerade die ökologische Problematik an eine unbeherrschbare Natur erinnert. (3) Der letzte Teil des Zitats von Beck stellt eine These auf, die in eine andere Richtung zielt. Wenn „Gesellschaft (...) nicht mehr ohne Natur begriffen werden“ kann, dann wird darauf hingewiesen, dass auch soziale oder kulturelle Prozesse nicht naturfrei gedacht werden dürfen. Da wo es scheinbar „nur“ um rein gesellschaftsimmanente Vorgänge geht, muss immer mitbedacht werden, dass dabei Natur- oder Umweltfragen im Spiel sind. Wo es scheinbar „nur“ um unsere kulturell verankerte Lebensweise (z.B. in Wohnung und Verkehr) oder um die Regelung rein innergesellschaftlicher Konflikte (wie z.B. dem Einkommen und seiner Verteilung oder um das Verhältnis der Geschlechter zueinander) geht, da werden gleichzeitig auch unsere Verhältnisse zur Natur mit gestaltet, oft mit problematischen Folgen: der Zersiedelung der
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Landschaft, steigendem Flächenverbrauch für Bauen und Verkehr und dessen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt, mit Massenkonsum, mit wachsenden Belastungen durch Produktion und Transport von Konsumgütern, mit Abfallbergen und steigender Schadstoffbelastung und so weiter. Selbst die vermeintlich virtuelle Internetbasierte Kommunikation hat solche materiell-stofflichen Aspekte zu ihrer Voraussetzung. Aufgrund der Vielfältigkeit dieser Problembereiche, die Facetten unseres gesamten Alltagslebens betreffen, wie auch der Vielfalt der an diesen Problem in der einen oder anderen Weise beteiligten gesellschaftlichen Gruppen oder Verhaltensweisen – Industrie- und Umweltverbände, Konsumenten und Landwirte, geschlechtsspezifische Denk- und Verhaltensweisen – müssen wir die gesellschaftlichen Naturverhältnisse immer im Plural behandeln. Diese Vielfalt steigert sich noch, wenn wir über die gesellschaftliche Realität von Umweltproblemen im globalen Maßstab sprechen, denn scheinbar globale Probleme (wie z.B. der Klimawandel oder der Verlust der biologischen Vielfalt) haben bei genauerer Betrachtung in Industrie- und Entwicklungsländern völlig unterschiedliche Erscheinungsformen.
Realismus – Konstruktivismus Eine andere Dimension im Verhältnis Gesellschaft – Natur ergibt sich aus der Frage nach der Realität ökologischer Gefahren. Auf der einen Seite wird darauf verwiesen, dass Phänomene wie der globale Klimawandel eine objektive Realität darstellen, die alle modernen Gesellschaften vor mehr oder weniger gravierende Anpassungsprobleme stellt. Auf der anderen Seite ist es nach wie vor schwierig, einzelne Phänomene oder Extremereignisse (Stürme etc.) exakt dem Klimawandel zuzurechnen. Und auch das Phänomen im Ganzen erschließt sich nur durch komplexe wissenschaftliche Berechnungen und Modelle, die letztlich abhängig sind von den zugrunde liegenden Theorien und Forschungsmethoden und in Folge von Kritik an ihnen auch ihre wissenschaftliche Gültigkeit verlieren können. Anders formuliert: der Klimawandel ist auch eine wissenschaftliche und politische Konstruktion. D.h.: er wird mit wissenschaftlichen Methoden konstruiert bzw. modelliert, er wird öffentlich dramatisiert und dabei politisiert (d.h. als abhängig von politischen Entscheidungen und insofern veränderbar dargestellt). Und er stellt deshalb in seiner Existenz einen Streitpunkt zwischen unterschiedlichen Akteuren und Ländern dar (man denke nur an die wiederkehrenden Versuche der US-Regierung, die Existenz des Klimawandels zu leugnen). Gesellschaftliche Naturverhältnisse, so könnte man schlussfolgern, umfassen nicht nur die Pluralität gesellschaftlicher Prozesse, sie sind auch sozial (wissenschaftlich und kulturell) konstruiert, aber gleichwohl nicht weniger real, d.h. mit materialen Folgen behaftet. Um beim Beispiel Klimawandel zu bleiben: von den Kapriolen des Wetters bis hin zu den Konsequenzen für die Landwirtschaft und die Ökosysteme aufgrund von steigender Trockenheit in einigen und Feuchtigkeit in anderen Regionen der Erde. Die entscheidende Frage im Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft ist heute die Frage nach einer Gestaltungsperspektive. Weder die Vorstellung einer Anpassung der Gesellschaften an vermeintlich unveränderliche Gesetze der Natur, noch die Hoffnung auf einen wissenschaftlich-technischen Fortschritt, bei dem sich die Probleme quasi von selbst lösen, kann uns dabei behilflich sein. Stattdessen bedarf es einer problemorientierten und interdisziplinären Zusammenarbeit von Natur- und Sozialwissenschaften, bei der letzteren ein entscheidender Stellenwert zukommt. Mehr noch: Ansätze und Maßnahmen, den globalen wie den eher regionalen Problemen zu begegnen, sind mit gesellschaftlichen Interessengegensätzen auf den
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verschiedenen Ebenen und zwischen ihnen verbunden. Wie beim internationalen Abkommen gegen den Klimawandel auch um die Konsequenzen für nationale Volkswirtschaften gestritten wird, so werden im Versuch, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, die Lebensweisen und kulturellen Vorstellungen vieler eher ländlich lebender und indigener Gruppen hochgradig tangiert. Auf einen „Masterplan zur Rettung des Planeten“ zu hoffen ist dabei hochgradig naiv. Notwendig wäre einmal die Fähigkeit, kollektive Lernprozesse im Umgang mit der Natur zu initiieren und auf diese Weise aus der Tendenz zur Steigerung der Naturbeherrschung auszubrechen. Aber selbst die Möglichkeit dieser Lernprozesse wird begrenzt von den Gesellschaftsstrukturen und den globalen Machtverhältnissen, von der Art, wie sich die Weltgesellschaft konflikthaft entwickelt und welche Strukturen sich dabei herausbilden.
Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. Becker, Egon/Jahn, Thomas (1987): Soziale Ökologie als Krisenwissenschaft. Frankfurt/M. Durkheim, Emile (1980): Der Dualismus der menschlichen Natur und seine sozialen Beziehungen. In: Jonas, F. (Hg.): Geschichte der Soziologie Bd. 2. Opladen, S. 368–380. Görg, Christoph (1999a): Gesellschaftliche Naturverhältnisse. Münster. Luhmann, Niklas (1986). Ökologische Kommunikation. Opladen. Parsons, Talcott (1975): Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. Frankfurt/M.
Normalität und Abweichung
Johannes Stehr Im Alltagsverständnis ist Normalität ein selten hinterfragtes Deutungsmuster. Es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass normale Handlungsweisen oder Personen von solchen unterschieden werden können, die in irgendeiner Weise außergewöhnlich, unpassend, störend, irritierend usw. sind. Normalität kommt dabei meist als Negation, als Feststellung von Abweichung, zur Sprache: „Das ist doch nicht normal“, oder „So einer wie der ist doch nicht normal“. Die vermeintlich eindeutige Unterscheidung zwischen Normalität und Abweichung gehört zum Repertoire des so genannten „gesunden Menschenverstands“. Normalität und Abweichung werden als Gegensätze betrachtet, die zudem als Merkmale und Eigenschaften bestimmter Menschen und ihrer Handlungen behauptet werden. In der Konsequenz dieser Perspektive hat sich die problematische Vorstellung einer Zweiteilung von Menschen entwickelt: Den „normalen“ Menschen, die dem Standard entsprechen und normtreu agieren, werden die „Abweichler“ gegenüberstellt, die wahlweise als „kriminell“, „gewaltbereit“, „verrückt“, „krank“, „pervers“, „unmoralisch“, „behindert“, „hilfsbedürftig“, „asozial“, „verwahrlost“ u.a.m. bezeichnet werden. Doch nicht nur im Alltagsverstand werden Normalität und Abweichung als Merkmale und Eigenschaften bestimmter Menschen und ihrer Handlungen angesehen. Auch in den Sozialwissenschaften ist die Praxis verbreitet, die Unterscheidung von Normalität und Abweichung nicht zu hinterfragen, sondern in der Analyse einfach vorauszusetzen. Das hat in der Soziologie dazu geführt, dass sich spezielle Soziologien wie die Soziologie abweichenden Verhaltens und die Soziologie sozialer Probleme herausgebildet haben, in denen herrschende Normalitätsverständnisse wiederkehrend unreflektierte Bezugspunkte für die jeweiligen „Diagnosen“ von Abweichungen und sozialen Problemen darstellen. Diesen traditionellen Sichtweisen ist zu recht vorgeworfen worden, dass sie die Frage ausblenden, wie unsere Vorstellungen von Normalität und Abweichung überhaupt zustande kommen und vor allem, durch welche sozialen Gruppen und Institutionen sie erzeugt und gesellschaftlich (unterschiedlich) verbindlich gemacht werden. Indem sie die Trennungslinie zwischen Normalität/Konformität und Abweichung als gegeben ansehen und als unproblematisch voraussetzen, arbeiten die traditionellen Sozialwissenschaften vor allem den Institutionen zu, die diese Vorstellungen verwalten und in ihrer Praxis anwenden. Dies lässt sich am Beispiel der Geschichte der (traditionellen) Kriminologie verdeutlichen. Seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert ist die Kriminologie von einem grundlegenden – objektiv identifizierbaren – Unterschied zwischen „Kriminellen“ und gesetzestreuen Bürgern ausgegangen, der für sie zur Rechtfertigung wurde, die Gruppe der „Kriminellen“ in ihrer vermeintlichen Andersartigkeit zu untersuchen. Die Geschichte der Kriminologie kann als ein ständiger Vergleich zwischen diesen beiden Gruppen bezeichnet werden; lediglich die Merkmale, die die Grundlage des Vergleichs bildeten (seien dies biologische, psychische, kulturelle oder soziale Faktoren), sind historisch unterschiedlich als „Ursachen“ für Kriminalität bedeut-
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sam geworden. Das gesammelte kriminologische Wissen über Ursachen und Faktoren von Kriminalität war und ist insofern kein unabhängiges wissenschaftliches Wissen, sondern ein Wissen, das auf der Definitionsvorgabe der staatlichen Institutionen der Strafverfolgung aufbaut(e), die mit dem Begriff des Verbrechens die eigene Ausschließungspraxis rechtfertigt(e). Mit der Verwissenschaftlichung des Wissens der staatlichen Strafinstanzen kam und kommt der staatlichen Ausschließungspolitik und den dazugehörigen Prozeduren eine zusätzliche Autorität zu; zugleich konnten und können die staatlichen Instanzen das vielfältige Wissen darüber, wer auf welche Weise gerechtfertigt ausgeschlossen werden kann, für die eigene Strafverfolgungspraxis nutzen. Die traditionelle Kriminologie geht unbeirrt auch heute noch davon aus, dass es legitim ist, eine grundsätzliche Differenz zwischen „Kriminellen“ und „Gesetzestreuen“ anzunehmen – ungeachtet aller Befunde zur Gleichverteilung („Ubiquität“) gesetzesverletzenden Verhaltens. Damit aber verdeckt sie die Praxis einer sozial selektiven Strafverfolgung zuungunsten der sozial benachteiligten Schichten und Gruppen und wird über die Nichthinterfragung ihres Gegenstandes selbst zur Akteurin in dieser Ausschließungspraxis. Eine kritische Perspektive auf Normalität und Abweichung liefert dagegen die Etikettierungstheorie (vgl. Becker 1973; Sack 1968; Steinert 1985). Inhaltlicher Kern dieser Perspektive ist die Annahme, dass die Trennungen zwischen Normalität und Abweichung soziale Konstruktionen darstellen, in denen gesellschaftlich produzierte und institutionell verwaltete Kategorien (der Normalität wie der Abweichung) als abstraktes Vokabular – im Sinne von Etiketten – auf konkrete Menschen und ihre Handlungen angewendet werden. Die Anwendung geschieht dabei nicht willkürlich, sondern variiert mit deren Position in der sozialen Struktur. Kategorien der Abweichung wie „Krimineller“, „Verrückter“ oder „Verwahrloster“ können dabei als „negative Güter“ (Sack 1968) bezeichnet werden, die als Umkehrung sozialer Privilegien zu verstehen sind; sie sind auch als „soziale Zensuren“ (Sumner 1991) gefasst worden, als soziale Unwerturteile, denen vor allem die Funktion zukommt, moralische Grenzen zwischen dem Normalen (als „dem Guten“) und dem Abweichenden (als dem „Schlechten“ und „dem Gefährlichen“) zu errichten. Mit diesen moralischen Grenzen werden zugleich die gesellschaftlichen Reaktionsweisen festgelegt und die Zuständigkeiten gesellschaftlicher Einrichtungen definiert. Untersuchungen zur Sozialgeschichte „öffentlicher Probleme“ haben herausgearbeitet, dass das Feld der Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung ein stark umkämpftes (Diskurs-)Terrain darstellt, auf dem unterschiedlichste (kollektive) Akteure und Institutionen um Deutungs- und Benennungsmacht konkurrieren. Beteiligte an der Auseinandersetzung sind meist soziale Bewegungen sowie Institutionen und ihr Expertenpersonal. Diese Auseinandersetzungen können darum kreisen, eine Kategorie der Abweichung (über die Strategien der Problematisierung, Skandalisierung und Moralisierung) neu zu etablieren bzw. eine bereits existente Abweichungskategorie (über die Strategien der Entmoralisierung und Normalisierung) abzuschaffen, oder die Zuständigkeit für ein bereits von anderen Akteuren oder Institutionen anerkanntes Problem für sich selbst zu reklamieren (Umdefinition von Abweichungsformen). So hat zum Beispiel Joseph R. Gusfield (1981) an der Sozialgeschichte der Problematisierung und Moralisierung des Alkoholtrinkens in den USA aufgezeigt, dass gesellschaftliche Institutionen um die Vorherrschaft bei der Definition eines „sozialen Problems“ ringen, um über das zu gewinnende „Besitzrecht“ an einem öffentlich (anerkannten) Problem die eigene Machtposition festigen oder ausbauen zu können. Gusfield zufolge ist das Alkoholtrinken im 19. Jahrhundert zuerst von der protestantischen Kirche (und der Abstinenzbewegung) als
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„Sünde“ und „Laster“ problematisiert worden. Als Folge dieser Problemdefinition wurden „Gewohnheitstrinker“ über das Etikett der „Schwäche“ sozial degradiert und über die Etikette des „Lasters“ und der „Sünde“ moralisch verurteilt. Nach der Aufhebung der Prohibition ging das Problem dann „in den Besitz“ der erstarkten medizinischen Profession und von wissenschaftlichen Experten über. Diese erlangten im 20. Jahrhundert die Definitionsmacht über das Alkoholtrinken und definierten es nun als eine Krankheit. Das Etikett des „Alkoholikers“ mobilisierte nun nicht mehr eine moralische Verurteilung, sondern die Behandlung durch medizinische Experten und sozial organisierte Hilfe. Die Medizin hat somit die Kirche hinsichtlich der Etablierung des vorherrschenden Deutungsrahmens des Problems ablösen sowie den Rahmen vorgeben können, innerhalb dessen gesellschaftliche Reaktionen auf das Problem möglich wurden und als angemessen erschienen. Gegenwärtige Normalitätsvorstellungen fußen auf zwei unterschiedlichen Operationen und lassen sich auch unterschiedlichen Institutionen zurechnen. Zum einen wird Normalität im Sinne von Normativität bzw. Konformität gerahmt. Normalität und Abweichung sind dabei als moralische Gegensätze kodiert, z.B.: Norm erfüllt – Norm verletzt, kriminell – anständig, Täter – Opfer, lasterhaft – tugendhaft usw. Am explizitesten wird diese Form der Grenzziehung im Strafrecht, das die geforderte Anpassung an die Norm überwacht und eine Normverletzung sanktioniert. Eine andere Vorstellung von Normalität verschränkt dagegen Funktionalitäts- und moralische Kategorien. Sie beruht sowohl auf explizit nicht-normativen Einteilungen als auch auf normativen Kriterien. Dies sind die Normalitätsvorstellungen vor allem der Disziplinierungsinstitutionen, die nicht mehr mit dem binären Moral-Schema, sondern mit einem differenzierten Bewertungsschema arbeiten, das in der Regel auf einem Kontinuum angesiedelt ist. Normalitätsskalen lassen die Möglichkeit des „Aufsteigens“ und „Abfallens“ zu, doch bleibt auch hier in der Regel „Abweichung“ eine exklusive und von der Normalität unterscheidbare Kategorie. Menschen und ihre Handlungen werden klassifiziert nach dem Maß, wie sie in ihrem Charakter, ihren Eigenschaften, ihrer Kooperationsbereitschaft, ihrer Intelligenz usw. einer Normalitätsvorstellung entsprechen. Offen moralisch degradierende Klassifikationen werden durch „neutralere“ ersetzt, die dann allerdings eine „soziale Degradierung“ implizieren: sei dies die Einteilung von Menschen nach der Art und dem Grad ihrer Krankheiten, nach ihren physischen Anomalien, ihren defizitären und defekten Charakterstrukturen, nach ihren Fähigkeiten und Kompetenzen („geistiger Status“) oder nach ihrem sozialen Status bzw. ihrer Lebensweise (verwahrlost, benachteiligt). Diese Kategorisierungen sind in der Regel nur dann revidierbar, wenn sich die so Bezeichneten einer Intervention unterziehen, die die „Störung“ aufhebt. Bei Charakterdefiziten steht die Behandlung an, bei Krankheiten die Medikalisierung, bei Inkompetenzen die Erziehung, bei abweichender Lebensweise die Erziehung oder Hilfe. Auch diese „flexiblere“ Form der Normalität besitzt eine normative Dimension. Diese liegt vor allem in der in ihr eingebetteten „Präventionsperspektive“ (Matza 1973) begründet: Bei all diesen Diagnosen und Klassifizierungen von gefährlichen, abweichenden, bindungslosen oder undisziplinierten Menschen existiert das Ziel, Unordnung durch gezielte Normalitätskontrolle zu beseitigen oder ihr durch lückenlose primäre Kontrolle präventiv vorzubeugen und das Phänomen der Abweichung auszumerzen. Dem entspricht auch der veränderte Verantwortlichkeitsbegriff, der mit dieser Normalitätskonzeption einhergeht. Menschen werden für das haftbar gemacht, was sie (noch nicht) sind und für das, was sie (noch) nicht können.
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Eine Folge dieser Überlegung ist, dass die gesellschaftliche und herrschaftliche Herstellung von Normalität immer zugleich auch Abweichung produziert, neue Kategorien der Abweichung erzeugt, die auf konkrete Menschen anwendbar sind. In der Reaktion auf Abweichungen von Normalitätsvorstellungen ergeben sich folglich fließende Übergange von der Behandlung, Erziehung und Hilfe zur Sanktionierung und zur sozialen Ausschließung. Dort, wo die Disziplinierungsinstitutionen ihre Grenzen ziehen, werden die Institutionen des Ausschlusses mit ihren Kategorien relevant. Von der Sonderschule über das Behindertenheim bis zur Psychiatrie und dem Gefängnis reicht die Bandbreite von Institutionen, die sich für die Nicht-Behandelbaren, die Nicht-Erziehbaren, die Uneinsichtigen und Unkooperativen als zuständig deklarieren und damit deren Ausschließung legitimieren (vgl. Foucault 1976 und Goffman 1972). Zwischen der „Normalisierung“ von Abweichung, die auf die Aufhebung eines Abweichungsetiketts zielt, und der Problematisierung, bei der ein solches neu konstruiert werden soll, liegt die Neutralisierung als Strategie spezifischer gesellschaftlicher Einrichtungen, durch die Abweichungen in definierten Grenzen gesellschaftlich akzeptabel werden – ohne dass die so definierten Phänomene dadurch zur umfassenden und ohne Einschränkung geltenden Normalität werden. Besonders auf dem Feld der Sexualität, des Sports, Urlaubs und Karnevals (als besondere Form der Unterhaltung) sind von den betreffenden Institutionen Kategorien entwickelt worden, die der Abweichung einen legitimen Platz zugestehen, ohne sie zur „Normalität“ werden zu lassen. Kategorien der Normalität und Abweichung sind vor allem Regulierungs- und Verwaltungskategorien von Institutionen. Diese Kategorien sind allerdings auch in anderen Kontexten bedeutsam. Denn trotz oder gerade wegen ihrer Abstraktheit eignen sie sich zu umfassenderen Konstruktionen einer vermeintlich krisenhaften, bedrohlichen und gefährlichen Wirklichkeit, deren Ursachen dann nicht mehr in sozialen Strukturen, Widersprüchen oder Konflikten ausgemacht werden, sondern ursächlich den sozialen Gruppen zugeschrieben werden, die per se in die Abweichler- und Außenseiterpositionen eingewiesen werden. Auf diese Weise werden abweichende Minderheitengruppen kreiert, die von den herrschenden sozialen Gruppen für ihre Zwecke instrumentalisiert werden können. Diese Außenseiter-Minoritäten dienen auf vielfältige Weise der Ablenkung antiherrschaftlicher Affekte, denn der von den Normalitätsvorstellungen erzeugte Druck, nicht außerhalb der Normalitätszonen zu geraten, erleichtert umgekehrt den Umgang mit den ambivalenten Haltungen gegenüber den Herrschenden. Ambivalente Haltungen gegenüber den Privilegierten können dergestalt aufgespalten werden, dass die stigmatisierte Minorität stellvertretend für die Privilegierten Aggressionen auf sich zieht. Es ist in diesem Sinne wohl kein Wunder, dass gegenwärtig gerade gegen die sozialen Gruppen, die als Opfer neoliberaler Politik bezeichnet werden können (Arbeiterjugendliche, Migranten, die „abgehängten Ostdeutschen“, arbeitslose Menschen), Moralkampagnen inszeniert werden, die diesen Gruppen die Eigenverantwortlichkeit für ihre missliche Lage zuschreiben. Diese Kampagnen können auch, wie es in einer Kampagne des bundesdeutschen Wirtschaftsministeriums (unter Leitung des Ex-Wirtschaftsministers Clement) gegen Arbeitslosengeldempfänger geschehen ist – in einem offiziellen Gutachten wurde der Missbrauch von Sozialleistungen als großes Problem behauptet und die Menschen, die Sozialleistungen missbrauchen, als „Parasiten“ bezeichnet – direkt dehumanisierende Formen annehmen, die eine soziale Ausschließung der besagten „Problemgruppen“ als sozial notwendig und damit gerechtfertigt erscheinen lassen.
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Emile Durkheim hat bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts argumentiert, dass Abweichung und Kriminalität insofern funktional sind, wie sie eine Grundbedingung für den sozialen Zusammenhalt darstellen: Mit den Reaktionen auf Abweichungen von der Norm können die Grenzen des tolerierbaren Verhaltens ins Bewusstsein der Gesellschaft gerufen, die Normen geklärt und die sozialen Bande erneuert werden (1895/1961). In Abwandlung dieser These lässt sich formulieren: Durch Abweichung wird nicht der Zusammenhalt „der Gesellschaft“ ermöglicht oder befestigt, wohl aber bekommen gerade die herrschenden Gruppen und gesellschaftliche Institutionen mit Abweichungskategorien Mittel in die Hand, die geeignet sind, ihre Vorherrschaft darüber abzusichern, dass gerade die unterprivilegierten Gruppen immer wieder in den Status der Abweichler- und Außenseiter-Positionen eingewiesen werden. Eine solche „Einweisungspolitik“ hat in jüngerer Zeit an Brisanz gewonnen, denn gegenwärtig sind Außenseiter-Positionen immer weniger mit Rückkehrchancen (im Sinne der „Resozialisierung“, „Rehabilitation“ oder „Behandlung“) verbunden und ist soziale Ausschließung zu einer „normalen“ politischen Option geworden. Die Benutzung von Kategorien der Abweichung kann allerdings prinzipiell auch von „unten“ nach „oben“ erfolgen. Gerade für soziale Bewegungen, die versuchen, gesellschaftlich an Macht und Einfluss zu gewinnen, kann die Skandalisierung von Abweichung bei den Machteliten eine nützliche, wenn auch mühsame Machtstrategie darstellen, die – bezogen auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse – aber enge Grenzen hat: In der Regel verweist ein Erfolg dieser Strategie nicht auf den Abbau von Herrschaftsverhältnissen, sondern lediglich auf die Auswechslung einzelner sozialer Gruppen, die in die Abweichler-Position eingewiesen werden.
Literatur Becker, Howard S. (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt/M. Durkheim, Emile (1895/1961): Die Regeln der soziologischen Methode. Darmstadt. Link, Jürgen/Loer, Thomas/Neuendorff, Hartmut (Hg.) (2003): ,Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe. Heidelberg. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. Gusfield, Joseph R. (1981): The Culture of Public Problems. Chicago/London. Matza, David (1973): Abweichendes Verhalten. Untersuchungen zur Genese abweichender Identität. Heidelberg. Sack, Fritz (1968): Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: König, R./Sack, F. (Hg.): Kriminalsoziologie. Wiesbaden, S. 431–475. Steinert, Heinz (1985): Zur Aktualität der Etikettierungstheorie. In: Kriminologisches Journal 17, S. 29–43. Sumner, Colin (1991): Das Konzept der Devianz neu überdacht: Zu einer Soziologie der „censures“. In: Kriminologisches Journal 23, S. 242–271.
Organisationen
Stefan Schnurr Ohne Organisationen sind die vielfältigen Leistungen, die moderne Gesellschaften permanent erbringen und austauschen, nicht denkbar. Regierungen und Verwaltungen, Parteien, Verbände und Vereine, Unternehmen, Schulen und Hochschulen, Kliniken, Opern- und Schauspielhäuser, Rundfunk- und Fernsehsender, Verlage, Zeitungsredaktionen, Kirchen und Armeen erbringen ihre Leistungen in organisierter Weise und lassen sich als Organisationen verstehen. Nicht nur die Produktion und Vermarktung von Waren und Dienstleistungen, auch die Ausübung politischer Macht in den Formen von Legislative, Judikative und Exekutive finden in und durch Organisationen statt. Zweifellos werden auch Erziehung, Bildung, Gesundheit, Recht und Wohlfahrt vor allem durch Organisationen „hergestellt“. Schon allein deshalb ist es lohnend, sich mit Organisationen näher zu beschäftigen. Was aber charakterisiert Organisationen? Was unterscheidet sie von anderen sozialen Gebilden? Welchen Erkenntnisgewinn ermöglicht eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff Organisation? Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Organisationen hat im 19. Jahrhundert ihren Anfang genommen und ist seitdem beständig angewachsen. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden fortlaufend neue oder modifizierte Theorien der Organisation produziert. Einführungswerke zur Organisationstheorie versuchen mit der Entwicklung Schritt zu halten und liefern Übersichten und Ordnungsangebote, die die Orientierung und den konstruktiven Umgang mit der Theorienpluralität erleichtern (z.B. die Beiträge in Kieser 2002). Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Fragestellungen mit Organisationen beschäftigt und unterschiedliche Organisationsbegriffe hervorgebracht. Die Verwaltungswissenschaft betrachtet das Phänomen Organisationen anders als die Betriebswirtschaftslehre, die Soziologie anders als die Organisationspsychologie. Unter den wissenschaftlichen Disziplinen hat sich die Soziologie in der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit Organisation(en) eine Vorherrschaft erarbeitet, die sie bis heute erfolgreich verteidigt. Die Soziologie kann somit als Leitdisziplin der wissenschaftlichen Thematisierung von Organisation gelten. Organisation ist ein Schlüsselbegriff der Soziologie. Dies bedeutet allerdings, dass wir auch innerhalb der Soziologie eine Vielfalt an Theorien der Organisation antreffen, die sich nicht ohne weiteres miteinander versöhnen und schon gar nicht zu einer Gesamttheorie integrieren lassen. Dieser Beitrag versucht, solche Aspekte und Stränge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Organisation und Organisationen vorzustellen, die für die soziologische Theorie und Forschung in besonderer Weise relevant geworden sind, auch wenn sie selbst nicht aus der Soziologie stammen. Auf die Frage, was in der Soziologie unter Organisation(en) verstanden wird, lässt sich vereinfachend zunächst Folgendes antworten: Organisationen (im Plural) sind Einheiten, in denen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gehandelt, entschieden und kommuniziert wird. Sie sind mit der Gesellschaft nicht identisch, sondern lassen sich von der übrigen „Gesellschaft“ unterscheiden bzw. unterscheiden sich selbst.
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Organisationen
Organisation (im Singular) lässt sich in einer sehr allgemeinen Lesart verstehen als Modus der Koordination. Organisation heißt, dass Beliebigkeit (und Varianz) begrenzt ist und Rahmenbedingungen für die Hervorbringung bestimmter Prozesse bzw. Wirkungen gesetzt sind: eine Klinik erbringt Leistungen, die auf die Wiederherstellung der Gesundheit bezogen sind; eine Autowerkstatt erbringt Leistungen, die auf die Reparatur von Autos bezogen sind. Dass dies so ist (und wir uns darauf verlassen können), ist das Resultat von Anstrengungen, von Koordinierungsleistungen. Koordinierungsleistungen sind es auch, die dafür sorgen, dass dies so bleibt – selbst wenn in einer bestimmten Klinik oder Autowerkstatt das Personal wechseln sollte. An diesem Beispiel lassen sich einige klassische Basisannahmen im theoretischen Nachdenken über Organisationen aufzeigen. > Auf Organisationen lässt sich erstens die Unterscheidung von „innen“ und „außen“ anwenden; > sie zeichnen sich zweitens dadurch aus, dass sie auf bestimmte Funktionen oder Zwecke bezogen sind und zur Erreichung dieser Zwecke bestimmte Mittel einsetzen, und > drittens bestehen sie immer auch aus Individuen bzw. Personen, was die Frage aufwirft, wie sich gewährleisten lässt, dass sich deren Handeln an den Zwecken der Organisation orientiert.
Organisationen als Bürokratien Mit seiner Bürokratietheorie hat Max Weber eine Lesart dieser Annahmen vorgelegt, die die Organisationstheorie (nicht nur die soziologische) bis heute beeinflusst. Seine Auseinandersetzung mit der Bürokratie war Teil seines Entwurfs einer Herrschaftssoziologie, in der es darum ging, auf der Basis einer historisch vergleichenden Analyse gesellschaftlicher Ordnungs- und Herrschaftsformen übergreifende Formprinzipien von Herrschaft herauszuarbeiten. Weber rekonstruierte drei Idealtypen von Herrschaft: die charismatische, die traditionale und die legale Herrschaft, welche sich danach unterscheiden lassen, worauf die Legitimität von Herrschaft jeweils beruht. Dieser Kontext ist es, in dem Weber die Bürokratie als „reinste(n) Typus der legalen Herrschaft“ (1972:126) identifiziert und ihre spezifische Funktionsweise bestimmt, indem er zentrale Strukturmerkmale aufzeigt. Zu diesen zählen (1) das Prinzip der regelhaften, geordneten und vor allem personenunabhängigen Zuweisung von Kompetenzen bzw. Entscheidungs-, Weisungs- und Leitungsbefugnissen an „Stellen“ („Stellenkompetenz“), die vertraglich geregelte Besetzung solcher Stellen durch entsprechend qualifizierte Personen und deren regelgebundene Entlohnung; (2) das Prinzip der Amtshierarchie, das sich in einem festgelegten und stabilen System von Über- und Unterordnung realisiert, welches die Beaufsichtigung der unteren durch die oberen Stellen einschließt; (3) das Prinzip der Aufgabenerfüllung nach generellen Regeln und Normen (Steuerung durch formale Prinzipien; Subsumption von besonderen Fällen unter allgemeine Regeln; Zweck/ Mittel-Abwägung; Vorab-Festlegung der Kommunikationswege bzw. des „Dienstwegs“); (4) das Prinzip der Schriftlichkeit (Aktenmäßigkeit); sowohl das Regelwerk der Normen und technischen Regeln als auch ihre Anwendung auf konkrete Fälle sind schriftlich fixiert und erlauben so nicht nur eine retrospektive Überprüfbarkeit, sondern auch die Archivierung und damit Anschlusshandlungen anderer Stellen zu anderen Zeitpunkten.
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Weber hat damit die Strukturprinzipien formaler Organisation herausgearbeitet, die keineswegs nur für Verwaltungen, sondern auch für größere Unternehmen und auch für Bildungsorganisationen Geltung beanspruchen können (man stelle sich bspw. eine Schule oder Hochschule vor, in der die allgemeinen Rahmenbedingungen und individuellen Ergebnisse von Prüfungen nicht schriftlich festgehalten werden). Die formale Organisation und ihre Ausdehnung auf immer weitere Bereiche der Gesellschaft ist von Weber folgerichtig als Rationalisierung beschrieben worden. Formale Organisation eröffnet die Möglichkeit, Aufgaben zu zerlegen, die Erledigung der Aufgaben an Regeln zu binden, welche ohne Ansehen der Person gelten; sie erlaubt die Verstetigung der Regelanwendung, die kontrollierte Fortschreibung und Modifikation von Regeln und tendiert dazu, möglichst weitgehend persönliche durch unpersönliche und sachliche Entscheidungsgesichtspunkte zu ersetzen. Auf diese Weise lässt sich durch formale Organisation vor allem Berechenbarkeit erreichen. Bürokratien bzw. Organisationen werden zu einem wirksamen Instrument derer, die die Macht besitzen, sich ihrer zu bedienen. Bürokratie wird somit rekonstruiert als „die formal rationalste Form der Herrschaftsausübung“ (Weber 1972:128). Organisation erscheint hier vor allem als eine Kombination von Struktureigenschaften, Instrumenten und Verfahren, die der Sicherung und Steigerung der Funktions- bzw. Leistungsfähigkeit dienen. Der Organisationsbegriff wird entlang der Unterscheidung von Mittel und Zweck entfaltet. Einerseits ist Organisation als solche ein Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke; andererseits lässt sich mit dieser Unterscheidung auch die Frage bearbeiten, durch welche Kombinationen von Struktureigenschaften, Instrumenten und Verfahren die jeweiligen Zwecke optimal erreicht werden, mit anderen Worten, es ist die Möglichkeit eröffnet, das Thema der Rationalisierung auf die Organisation selbst anzuwenden und die Frage nach der („richtigen“) Gestaltung von Organisationen zu bearbeiten. Diese Perspektive ist vor allem in jenem Strang wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Organisation(en) dominant, die als Managementlehre auftreten bzw. aufgefasst werden und die bis in die Gegenwart eine außerordentliche Fülle und Vielfalt von Ansätzen und ein eigenes Genre der Präsentation von Empfehlungen, Gestaltungsmaximen und Instruktionen hervorgebracht hat.
Organisationen als „Effizienzmaschinen“ An dieser Stelle ist ein Ansatz zu nennen, der mit dem Namen Frederick Taylor („Taylorismus“) verbunden ist und den Anspruch erhebt „Wissenschaftliches Management“ zu sein. Taylor führte zu Anfang des 20. Jahrhunderts experimentelle Verfahren ein, um zu ermitteln, wie bestimmte Abläufe und Arbeitsprozesse zu gestalten sind, damit sie ihren jeweiligen Zwecken optimal dienen. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf die Auswahl von Werkzeugen und Personen sowie auf die Gestaltung von Bewegungs- und Zeitabläufen und auf das Belohnungssystems. Grundlegend war dabei die Vorstellung, es sei (bspw. durch Beobachtung) möglich, besonders effiziente Varianten bzw. optimale Abläufe zu identifizieren und dann auf dem Wege der Formalisierung und Standardisierung zu generalisieren. Vor dem historischen Hintergrund industrieller Massenproduktion zog dieses Konzept eine außerordentlich breite Aufmerksamkeit (und Plausibilität) auf sich, die der Reputation und auch der akademischen Durchsetzung der Managementlehre Vorschub geleistet hat. So wenig man den Beitrag Taylors als Theorie missverstehen darf, so wenig sollte man die Attraktivität und Dynamik der Ideen unterschätzen, die dieser Ansatz transportiert. Dass Organisationen
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steuerbar seien (vorzugsweise durch Standardisierung), dass die Effizienz von Organisationen nicht nur messbar sei, sondern sich durch „richtige Managementpraxis“, beständig steigern ließe – dies sind bis heute zentrale Annahmen der Managementlehre. Im Zuge der breiten Einführung von Verfahren des Qualitätsmanagements seit den 1990er Jahren sind (in unterschiedlichen Gewichtungen) auch Komponenten des „Wissenschaftlichen Managements“ revitalisiert worden und zweifellos besteht eine enge Analogie zwischen der aktuell einflussreichen Managementstrategie der „best practice“ und dem Taylorschen Glauben an die Möglichkeit der Überführung des jeweils Besten in eine Regel bzw. in einen Standard.
Organisation und Individuum Bei allen Differenzen ist den Ansätzen Webers und Taylors gemeinsam, dass sie von der Vorstellung der Organisation als einer rationalen Ordnung ausgehen, in der verschiedene Komponenten in funktionaler Art und Weise aufeinander abgestimmt sind. Von dieser Vorstellung der Organisation als einem Gebilde, das formale und technische Rationalität verbürgt (einige Beobachter der Organisationstheorie haben zurecht kommentiert, hier werde die Organisation als Maschine verstanden), hat sich die organisationstheoretische Diskussion seitdem schrittweise entfernt. Im Folgenden sollen einige Etappen dieser Entfernung skizziert werden. Eine erste Revision der Rationalitätsannahme, ist mit der „Human Relations Bewegung“ und der Organisationspsychologie verbunden, die sich speziell mit dem Verhältnis von Individuum und Organisation beschäftigen und insgesamt die Bedeutung der sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Organisation betont haben. Was in Organisationen geschieht und was in Organisationen geleistet wird, lässt sich demnach durch formalisierte Regeln – etwa der Arbeitsprozessgestaltung und der Entlohnung – gerade nicht abschließend regeln. Koordinierungsleistungen in Organisationen haben neben der formalen notwendigerweise auch eine informale Dimension. Jede Organisation – sei sie auch noch so formalisiert – lässt Spielräume, in denen Individuen je eigene Interessen verfolgen und sich zu Interessengruppen zusammenschließen können. Formale Vorgaben können unterlaufen werden, einzelne Organisationsmitglieder können situationsbedingt eine höhere oder niedrigere Leistungsbereitschaft entwickeln und ihren Einsatz selektiv gewichten. Oft sind es Merkmale der Formalstruktur von Organisationen, also etwa ihre Untergliederung in Abteilungen und die Ausübung hierarchischer Kontrolle, die bspw. zur Gruppenbildung oder zu Konfliktkonstellationen führen, die sich dann in der Aufgabenerledigung niederschlagen und unter Umständen Effektivität und Effizienz der Organisation steigern oder gefährden. Die Interaktionen und Sozialbeziehungen zwischen Organisationsmitgliedern, vor allem zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden, die personelle Zusammensetzung von Arbeitsgruppen ( „Arbeitsklima“) usw. gewinnt vor diesem Hintergrund an Bedeutung. Relevant wird sie nicht nur auf der Ebene der wissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung von Organisation(en), sondern auch auf der Ebene der Gestaltung von Organisationen. Organisationsentwicklung, Personalführung bzw. Human Ressources Management sind Handlungskonzepte, die hier ansetzen. Teilweise versuchen solche Handlungskonzepte, die spezifischen Risiken, welche diese nicht-formale Seite von Organisationen birgt, durch eine Erweiterung der Partizipationschancen von Organisationsmitgliedern zu begrenzen; teilweise stützen sie sich auf Techniken der Kommunikation und Leistungsmotivation, die sich an der Grenze zur Manipulation bewegen (oder diese gezielt überschreiten); teilweise mischen sich
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partizipative und manipulative Komponenten in einer schwer durchschaubaren Weise, die letztlich nur fallweise zu beurteilen ist.
Organisationen und ihre Umwelt Eine weitere Etappe der Abkehr von der Idee der Organisation als rationaler und Rationalität verbürgender Ordnung wird durch die Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie (s. Kieser 2002: Kapitel 5) eingeleitet. Dieser Theoriestrang entwickelt seine Einsichten nicht in der Analyse des Verhältnisses von Organisation und Individuum, sondern – ebenso wie die daran anknüpfende systemtheoretische Organisationssoziologie (Luhmann 2000) – in der Analyse des Verhältnisses von Organisation und Umwelt. Die Basisannahme dieses Theorieansatzes ist, dass sich Organisationen – wollen sie ihren Bestand sichern – beständig an eine sich verändernde Umwelt anpassen müssen; dies tun sie durch Entscheidungen. Dabei wird ein komplexer Umweltbegriff zugrunde gelegt, der grundsätzlich alle Akteure einschließt, die für die Organisation von Relevanz sein können – auch die Organisationsmitglieder selbst, denn diese müssen (durch entsprechende Anreize, die sich nicht in Geldzahlungen erschöpfen, sondern andere Aspekte wie z.B. Status umfassen) beständig und immer wieder neu dazu überredet werden, etwas zur Organisation beizutragen und als Organisationsmitglieder zu kooperieren. Das Kernstück dieses Theorieansatzes ist die Annahme einer strukturell begrenzten Rationalität der Entscheider und damit von Entscheidungen. Organisationen können dem Idealbild der Rationalität aus folgenden Gründen nie genügen: > die kognitiven Fähigkeiten von Menschen sind unvollkommen; das Wissen über die zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen und die Bedingungen, durch die ihre jeweiligen Wirkungen beeinflusst werden, ist unvollständig; > es lässt sich nicht vorhersagen, wie Ereignisse dann bewertet werden, wenn sie eintreten (was man zum Zeitpunkt der Entscheidung als wünschenswert betrachtet hat, kann zum Zeitpunkt des Eintretens einer Wirkung bereits ungünstig sein); > die Auswahl an Handlungsalternativen ist stets begrenzt. Entscheidungen müssen nun aber dennoch getroffen werden. Dazu folgen die EntscheiderRegeln, die sicherstellen, dass „befriedigende“ Entscheidungen getroffen werden. So besteht die Leistung von Organisation vor allem in der „Absorption von Unsicherheit“: die Strukturmerkmale von Organisationen (die jeweiligen Formen der Arbeitsteilung, die mehr oder weniger standardisierten Verfahren, die hierarchische Ordnung, die Filterung von Informationen usw.) lassen sich als Vorkehrungen verstehen, durch die Entscheidungssituationen gestaltet und vor allem vereinfacht werden. Rationalität im vollen Sinne kann dadurch aber nicht hergestellt werden – eher schon so etwas wie „organisierte Anarchie“. In seiner einflussreichen systemtheoretischen Organisationssoziologie spitzt Niklas Luhmann (Luhmann 2000: 9) diese Überlegungen zu: „Offenbar sind Organisationen nichtkalkulierbare, unberechenbare, historische Systeme, die jeweils von einer Gegenwart ausgehen, die sie selbst erzeugt haben.“ Organisationen reagieren so betrachtet nicht einfach auf eine gegebene Umwelt, sondern auf Umweltwahrnehmungen, die in den Organisationen selbst – und dies in Abhängigkeit von organisationsinternen Festlegungen – hervorgebracht werden. Die neueren organisationstheoretischen Ansätze gehen zwar einerseits von einer steuernden Wirkung von Organisationsstrukturen (oder: Merkmalen der formalen Organisation) aus. Sie
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haben sich aber von der Vorstellung verabschiedet, das Handeln der Organisationsmitglieder ließe sich durch die Organisationsstrukturen vollständig determinieren. Organisationen sind vor diesem Hintergrund u.a. auch als Arenen politischer Auseinandersetzungen verstanden worden, in denen Akteure Machtspiele spielen, oder auch als kulturelle Systeme, deren Leistungen zu einem erheblichen Anteil von den Interpretationsleistungen der Organisationsmitglieder abhängen. Die theoretische Wiedereinführung von Spielräumen (des Handelns, der Entscheidung, der Interpretation von Risiken) ist vor allem für solche Organisationen relevant, die aufgrund ihrer Aufgabenstellung in besonderem Maße mit mehrdeutigen Situationen konfrontiert sind und die dadurch geprägt sind, dass Organisationsziele nicht eindeutig festlegbar sind bzw. dass mehrere unterschiedliche Ziele gleichzeitig Geltung besitzen und in Entscheidungssituationen zu berücksichtigen sind. Dies trifft vor allem für jene Organisationen zu, die darauf bezogen sind, Bildungs- und Entwicklungsprozesse zu gestalten, in denen Personen ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten erweitern. Die besondere Erkenntnischance eines soziologischen Begriffs der Organisation liegt darin, dass er einen Gegenstand konstituiert und damit der Beobachtung zugänglich macht, der sich auf verschiedene Funktionskontexte anwenden lässt (Wirtschaft, Politik, Bildung, Gesundheitssystem, Wohlfahrtsproduktion usw.) aber etwas bezeichnet, das sich der Logik dieser Funktionskontexte gerade nicht vollständig unterordnet, sondern eine eigene Logik entfaltet, die ihrerseits folgenreich ist – für diese Funktionskontexte selbst und für die Gesellschaft als Ganzes (s. Tacke 2004: 24). Auch im Hinblick auf die Aufschlüsselung der Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns besitzt der Organisationsbegriff ein unverzichtbares Potenzial. Dass es sinnvoll und nützlich ist, organisationstheoretische Analyseangebote heranzuziehen, um das Verständnis von pädagogischen Handlungsfeldern zu erweitern, haben gerade einige neuere Beiträge gezeigt (s. Böttcher/Terhart 2004; Klatetzki/Tacke 2005). Pädagogisches Handeln findet nahezu ausschließlich in Organisationen statt. Wer sich mit Organisation, Organisationstheorie und Organisationsforschung auseinandersetzt, kann sich nicht nur auf intellektuelle Abenteuerreisen freuen, die dieser Zweig der Sozialwissenschaft seinen Rezipienten in besonderer Weise bietet, sondern auch auf analytische Begriffe und Beobachtungsperspektiven, die die Orientierung (nicht nur) in Organisationen des Bildungs- und Sozialsektors erleichtern.
Literatur Böttcher, Wolfgang/Terhart, Ewald (Hg.) (2004): Organisationstheorie in pädagogischen Feldern. Wiesbaden. Kieser, Alfred (Hg.) (2002): Organisationstheorien. Stuttgart. Klatetzki, Thomas/Tacke Veronika (2005): Organisation und Profession. Wiesbaden. Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden. Tacke, Veronika (2004): Organisation im Kontext der Erziehung. In: Böttcher, W./Terhart, E. (Hg.): Organisationstheorie in pädagogischen Feldern. Wiesbaden. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen.
Politik und Staat
Birgit Sauer Die Frage, was politisches Handeln von anderen Aktivitätsformen in den Bereichen Ökonomie, Kultur oder der so genannten Privatsphäre unterscheidet, das Problem also, ob es eine spezifische und mithin exakte Definition des Politischen gibt, ist eine der höchst umstrittenen Fragen in den Sozialwissenschaften. Das ist nicht gerade ein ermutigender Ausgangspunkt, der aber zur genaueren Spezifizierung des je eigenen Denkens über Politik herausfordert. Einer der zentralen Streitpunkte ist die Weite bzw. Enge der Grenzziehungen um den Politikbereich. Klassische Politologen sprechen sich gegen eine „imperialistische“ Weitung der Sphäre des Politischen aus und wollen unter Politik lediglich das staatlich-politische System, also die Verfassungsinstitutionen eines Landes – das Parlament, die Regierung, die Verwaltung – verstanden wissen. Politik wird in diesen Definitionen oft gleichgesetzt mit staatlichen Institutionen, so dass Politik im Umkehrschluss (nur) dort stattfindet, wo Staaten handeln und Entscheidungen treffen. In jüngster Zeit werden auch die kollektiven Akteure dieses politischen Systems – Parteien, Verbände, Gewerkschaften und soziale Bewegungen der Zivilgesellschaft – zum Bereich des Politischen gezählt. Die Tradition dieses engen Politikbegriffs, der politisches Handeln auf staatliches Handeln bzw. Handeln in Bezug auf staatliche Institutionen begrenzt, hat eine lange Tradition im politischen Denken. Der Begriff „Politik“ wird vom griechischen Wort „polis“ hergeleitet, das das Öffentliche bzw. Gemeinschaftliche aller Bürger bezeichnete. Trotz des historischen Wandels des Begriffs der Öffentlichkeit bildet dieses Verständnis den Kern auch des modernen Politikbegriffs seit der Aufklärung. Per definitionem fällt damit aber der Bereich des Privaten, der Familie und des Freundeskreises aus dem Politikbegriff heraus, und Normen und Werte der Privatheit – wie Zuneigung, Empathie und Liebe – gelten ebenso als unpolitisch wie lange Zeit die der Privatsphäre zugeordneten Personen, nämlich Frauen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, im Kontext der Transformation von Gesellschaften hin zu „Massengesellschaften“ und ihrer sukzessiven Demokratisierung, wurde der Politikbegriff präzisiert. Der Soziologe Max Weber (1919/1993) definierte Politik als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“, als „Kampf“ und „Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“. Bereits die marxistische Theorie hatte einen ähnlich konfliktorientierten Politikbegriff geprägt – die Vorstellung, dass politisches Handeln vornehmlich Klassenkampf sei. Der Staatsrechtler Carl Schmitt (1932/1996) definierte das Kriterium des Politischen (im Unterschied beispielsweise zum Kriterium der Ökonomie „rentabel/ unrentabel“, der Ästhetik „schön/hässlich“ und der Moral „gut/böse“) als die „Unterscheidung von Freund und Feind“. Die Existenz eines „öffentlichen Feindes“, der weder gut noch böse sei, so seine kontrovers diskutierte Annahme, sei das Movens allen politischen Handelns, und Politik sei mithin Kampf gegen diesen Feind. Niklas Luhmann (2000) bestimmt Politik als Kommunikation im Medium der Macht, wobei die Unterscheidung zwischen Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit als zentrale Codierung politischer Kommunikation verstanden wird. Macht wird dabei als die Möglich-
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keit gefasst, durch positive und negative Sanktionen Einfluss auf das Verhalten anderer auszuüben. Ein grundlegendes Element der Herausbildung staatlicher Politik ist, hier schließt Luhmann an Max Weber an, die staatliche Monopolisierung der legitimen physischen Gewalt. In der durch Luhmann prominent repräsentierten systemtheoretischen Soziologie werden die Bereiche Markt/Ökonomie und Politik/Staat als getrennte Systeme konzipiert und von der Sphäre des Privaten abgegrenzt. In der Tradition der Philosophin Hannah Arendt, die sich auf den griechischen Politikbegriff bezieht, wird Politik im Unterschied dazu mit einer normativen Akzentuierung als öffentliches gemeinsames Handeln begriffen. Politisches Handeln mache den Menschen überhaupt erst zum Menschen, denn es habe einen zentralen Zweck: die Freiheit aller Menschen und die Garantie eines gemeinsamen Wohles. Aktuelle Politikvorstellungen, die zivilgesellschaftliches Handeln begründen wollen und die selbstorganisiertes Handeln in möglichst herrschaftsfreier Weise – im Unterschied zu staatlich-bürokratisch organisierter Weise – anstreben, beziehen sich auf diese Vorstellung „deliberativer“, d.h. freier und gleicher, „kommunikativer“ Debatte und Entscheidung. Der moderne Politikbegriff, der auf der vermeintlich exakten Trennung von öffentlich und privat basiert, wurde aus feministischer Perspektive heftig kritisiert: Die Trennung sei willkürlich und diene als Begründung für den Ausschluss von Frauen aus dem Bereich der Politik. Demgegenüber sei auch das Persönliche bzw. Private politisch, d.h. auch die Sphäre der Familie und der intimen Beziehungen sei durch regulierende und ordnende Eingriffe der Politik bzw. des Staates geprägt, vor allem aber auch durch herrschaftliche und unterdrückerische Verhältnisse. Gewalt in der Ehe wurde deshalb nicht länger als Privatangelegenheit der Ehegatten, sondern als politisches Problem und als ein strafrechtlich zu ahndender Straftatbestand begriffen. Neuere soziologisch argumentierende Definitionen wie die von Ulrich Beck (1993) und Michael Greven (1999) lösen Politik zunehmend vom engen politischen System ab und fassen politisches Handeln auch als Handeln gegen etablierte gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen. Die Definition des Politischen ist keine Spielerei der Politikwissenschaft bzw. Soziologie, denn bei der Festlegung des Politikbegriffs geht es stets darum, was als politisch verhandelbar und mithin auch veränderbar gilt und vor allem wer als politisch handlungsfähig gesehen wird und verändernd in soziale Verhältnisse eingreifen kann. In der Politikwissenschaft hat sich inzwischen eine weniger wertgeladene Definition des Politischen durchgesetzt: Politik wird mit den englischen Begriffen polity, politics und policy in drei Dimensionen unterteilt. Während polity die institutionelle Seite der Politik bezeichnet, beispielsweise Gesetze, Normen und staatliche Apparate, bezeichnet politics den politischen Prozess, das Interagieren und Verhandeln von Akteuren und policy die Inhalte des politischen Verhandelns – also beispielsweise Bildungs- und Sozialpolitik sowie andere Politikfelder. Die Definitionsversuche von Politik machen deutlich, dass die Unterscheidung zwischen „Politik“ und „Staat“ ebenfalls kompliziert und keineswegs eindeutig ist. Die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre – bspw. Studenten-, Frauen- und Umweltbewegung – deklarierten ihr Handeln als politisches und machten deutlich, dass politisches Handeln auch jenseits des verfassten politischen Systems und staatlicher Institutionen möglich ist. Politik- und Staatsbegriff, so die sozial- und politikwissenschaftliche Tradition seither, müssen deshalb definitorisch voneinander getrennt werden. Wenn Politik ein Modus des Handelns ist und einen Raum der Debatte bezeichnet, dann kann unter Staat der Raum verstanden werden, in dem kollektiv verbindliche Entscheidung getroffen und die Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung angestrebt wird. Staat bezeichnet, so betrachtet, mehr als die Summe von Regie-
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rungsinstitutionen und gesetzlichen Normen, mehr als ein „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber). Der Staat umfasst jene Organisationen, Akteure, Verfahren und Diskurse, die gesellschaftliche Ordnungen gestalten und legitimieren, also hegemonial werden lassen. Max Webers klassische Staatsdefinition unterscheidet, wie bereits erwähnt, den Staat von anderen gesellschaftlichen Einrichtungen bzw. Organisationen durch das Gewaltmonopol. Nur der Staat und seine Institutionen haben das Recht Gewalt – im Sinne von Verfügungsgewalt (Gesetze, Bürokratie) wie auch physischer Gewalt (Polizei, Militär, Gefängnisse) – auszuüben. Dieses staatliche Gewaltmonopol wird durch einen fiktiven Vertrag begründet und gerechtfertigt, den die BürgerInnen untereinander schließen: Sie akzeptieren bzw. unterwerfen sich dem staatlichen Gewaltmonopol, geben also einen Teil ihrer Freiheit auf, um im Gegenzug dazu Schutz und Sicherheit vom Staat zu erhalten. Diese Begründung des Staates durch einen Gesellschaftsvertrag ist eine typisch moderne, d.h. säkulare Begründung staatlicher Herrschaft über den Menschen: Die Theoretiker des Staatsvertrags – Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau – legitimieren damit staatliche Herrschaft jenseits religiöschristlicher Rechtfertigung, sie begründen damit aber auch „subjektlose Herrschaft“ (Heide Gerstenberger) gegenüber feudaler personaler Herrschaft. Auch wenn diese aus dem ökonomischen Denken übernommene Metapher des Vertrags, dem alle BürgerInnen in gleicher Weise und unter gleichen Voraussetzungen zustimmen können, etwas Verlockendes besitzt, verschleiert sie doch die ungleichen Bedingungen der Vertragschließenden. Die Politologin Carole Pateman hat dies mit dem Begriff des „sexuellen Unterwerfungsvertrags“ aus feministischer Perspektive deutlich gemacht: Nur die „Brüder“ sind in den bürgerlichen Vertragstheorien berechtigt, einen Vertrag untereinander zu schließen, mit dem sie den „Vater“ entmachten. Parallel dazu schließen die Brüder einen freilich ebenso fiktiven sexuellen Unterwerfungsvertrag, der ihnen als Ehemänner die Verfügungsgewalt wie auch die physische Gewalt über die Frauen in ihrem Haushalt überträgt. Frauen sind demnach nicht Teil des Staates und die Ehe ist eine schutzlose Sphäre, in der Frauen der Willkür ihres Ehemannes ausgeliefert sind (Sauer 2001). Angesichts der aktuellen Debatten um eine neo-liberale Restrukturierung von Staat und Gesellschaft, in der Forderungen nach Begrenzung und der Rückzug des Staates eine zentrale Rolle einnehmen, wird die Definition des Staates, sein Verhältnis zur Gesellschaft besonders relevant. Auch hierzu einige wesentliche ideengeschichtliche Stationen: Marx und Engels hatten zwar keine kohärente Staatstheorie entworfen, doch in Abgrenzung zu Hegels Gegenüberstellung von Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft betonten beide die Totalität sozialer Verhältnisse, d.h. den Zusammenhang einer spezifischen Form des Staates und je spezifischer sozialer und ökonomischer Verhältnisse. In der marxistischen Theorie ist der Staat gedanklich nicht von der Gesellschaft zu trennen, vielmehr entsteht der (bürgerlich-kapitalistische) Staat aus den gesellschaftlichen Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft. Der Staat verkörpere also keine universelle sittliche Idee, wie Hegel dies annahm, sondern sei partikular und gebe als „Klassenstaat“ nur vor, ein Allgemeinwohl zu repräsentieren, während er in Wirklichkeit ein Instrument, der „Ausschuss“ der herrschenden Klasse sei, also deren Interessen durchsetze, jene der unterdrückten Klasse aber vernachlässige, so das „Kommunistische Manifest“. Während die Politikwissenschaft seit den 1970er Jahren sich nur wenig mit dem Staat beschäftigte, sondern ihre Schwerpunkte auf die Untersuchung von politischem Verhalten, vornehmlich Wahlverhalten, und die Analyse von Policy-Prozessen legte, wurde die marxistische Staatstheorie verfeinert. Eine schlichte Ableitung des Staates und seiner Institutionen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen wird nun kritisiert, d.h. staatlichen Institutionen als gesonder-
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ten und spezifischen Einrichtungen wird eine gewisse Autonomie gegenüber den Klasseninteressen zugesprochen. Auch wenn der Staat prinzipiell als eine Herrschaftsform betrachtet wird, die der Freiheit der Individuen im Wege steht, selbst wenn der Staat als „Verdichtung“ und Arena sozialer Ungleichheitsverhältnisse gilt (Nikos Poulantzas), können ganz bestimmte Staatsapparate gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse agieren und sie mithin partiell verändern. Das Mitwirken der durch den Staat unterdrückten Menschen an der Aufrechterhaltung staatlicher Strukturen rückte zunehmend ins Zentrum kritischer Staatskonzeptionen: In der Tradition des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und des französischen Strukturalisten Louis Althusser (1969) werden die „ideologischen Staatsapparate“ betont: Der Staat besteht eben nicht nur aus Zwang (Gewaltmonopol), sondern auch aus Überzeugungskraft und Bewusstseinsbildung; um zu bestehen muss er die Freiheit begrenzenden Maßnahmen zum common sense machen. Anders ausgedrückt: Ohne dass die BürgerInnen an den Staat glauben und seine vorgeschlagenen Praxen und Handlungszwänge (mehr oder weniger freiwillig) nachvollziehen, funktioniert der Staat nicht. Ein Beispiel: Viele Menschen sind bereit dazu, den Staat qua Eheschließung in Anspruch zu nehmen und damit die gegenseitige Verbindlichkeit zu unterstreichen oder um – wie am Beispiel der Homo-Ehe sichtbar – gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Diese Vorstellung, die über ein Verständnis des Staates als notfalls mit Gewalt und Sanktionen operierende Ordnungsmacht hinausgeht, hat Michel Foucault vertieft: In seinem Konzept der „Gouvernementalität“ wird der Staat als eine lokalisierbare Institution gleichsam aufgelöst und in die Menschen hinein verlagert: Der Staat ist eine Machtform, und Technologien des Selbst, insbesondere Disziplinierung, sind für ihn die Kennzeichen moderner staatlicher Ordnung (Foucault 1998). In den politischen Debatten sozialer Bewegungen seit den 1970er Jahren wurden diese Staatstheorien reflektiert und als Frage gewendet: Lässt sich mit dem Staat und mit seinen Institutionen gesellschaftliche Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung verändern? Anders gewendet: Ist der „Marsch durch die (staatlichen) Institutionen“ eine sinnvolle emanzipatorische Strategie, oder bedarf es politischen Agierens jenseits staatlicher Strukturen mit dem Ziel der radikalen Transformation oder Abschaffung des Staates? Diese Debatte wurde für die Frauenbewegung spätestens mit der Etablierung erster staatlicher Gleichstellungsstellen und der Verabschiedung von frauenfördernden Gesetzen virulent: Das apodiktische „Autonomie versus Institution“ wurde zugunsten einer staatsfreundlicheren Sicht aufgegeben. Marktradikale neo-liberale Forderungen nach Abschaffung des regulierenden und intervenierenden (Sozial-)Staats haben die Debatten um das Wesen und die Rolle des Staates auf die Tagesordnung des beginnenden 21. Jahrhunderts gesetzt. Diese aktuellen Formen der „Entstaatlichung“ sind nämlich nicht automatisch mit größerer Gestaltungsfreiheit und Mitsprache der BürgerInnen verknüpft. Sie gehen vielmehr mit Entsolidarisierung und Entdemokratisierung einher. Gleichzeitig wird selektiv der „Sicherheitsstaat“ ausgedehnt und erweitert – eine Tendenz, die zulasten der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der BürgerInnen erfolgt.
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Literatur Althusser, Louis (1969): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Skizzen für eine Untersuchung. Berlin/West. Arendt, Hannah (1985): Macht und Gewalt. München/Zürich. Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M. Foucault, Michel (1998): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M. Greven, Michael Th. (1999): Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. Opladen. Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848/1970): Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin. Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract. Stanford. Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie. Hamburg. Sauer, Birgit (2001): Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt/M./New York. Schmitt, Carl (1932/1996): Der Begriff des Politischen. Berlin. Weber, Max (1919/1993): Politik als Beruf. Stuttgart.
Prävention und soziale Kontrolle
Holger Ziegler Der Präventionsbegriff hat für die Pädagogik, die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik einen besonderen Reiz. Er lässt sich als Synonym für eine Praxis verstehen, die mit einem sensiblen Blick gegenüber problematischen Entwicklungen bemüht ist, frühzeitig die „richtigen“ und „notwendigen“ Reaktionen zu veranlassen. Für Prävention zu sein, heißt zunächst einmal gegen problematische, unerfreuliche, ungerechte oder einfach schlechte Entwicklungen zu sein, unabhängig davon, ob es sich dabei um Armut oder Karies, Terrorismus oder Ladendiebstahl handelt. Da sich nun alles zum Schlechten hin entwickeln kann – und auch unabhängig davon Vorsicht immer klüger und verantwortungsvoller erscheint als Nachsicht –, hat derjenige, der „mehr Prävention“ fordert, sachlich wie moralisch zunächst immer Recht.
Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention Prävention richtet sich auf die Vermeidung möglicher Gefahren, Störungen oder Probleme. Übersetzt bedeutet Prävention „Zuvorkommen“. Lässt sich einer Entwicklung zuvorkommen, ist es nicht notwendig gegenüber dem Ergebnis dieser Entwicklung einzugreifen: Es bedarf keines „Dazwischentretens“ („Intervention“). Bei einem genaueren Blick verliert die Unterscheidung von Prävention und Intervention jedoch an Plausibilität. Nehmen wir einmal an, es gehe um die Prävention von Jugendarbeitslosigkeit. Nun legen Studien nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen „Schuleschwänzen“ und Arbeitslosigkeit (nach der Schulzeit) gibt. Typisch für die Präventionslogik ist nun, in das Phänomen des Schuleschwänzens bzw. gegenüber SchulschwänzerInnen (auf welche Weise auch immer) zu intervenieren, um Prävention von Jugendarbeitslosigkeit – bzw. von „Schulversagen“ und darüber vermittelt von Arbeitslosigkeit – zu betreiben. Andere Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und (verurteilter) Delinquenz. Die präventive Konsequenz lautet, dass Interventionen gegenüber SchulschwänzerInnen nicht nur Prävention von Jugendarbeitslosigkeit, sondern auch von Jugendkriminalität darstellen würden und dass Interventionen mit Blick auf Jugendarbeitslosigkeit Prävention von Jugendkriminalität wären. Da sich aber auch Delinquenz nun nicht gerade förderlich auf die Chancen auswirkt einen Job zu bekommen, lassen sich Interventionen gegenüber Delinquenz ebenfalls als präventive Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit verstehen. Auch die Vorstellung, dass sich SozialpädagogInnen z.B. im Kontext von Sozialkompetenztrainings mit abweichenden Jugendlichen Maßnahmen überlegen, die künftigem Schulschwänzen zuvorkommen sollen, ist nicht allzu weit hergeholt: Fast jede Maßnahme lässt sich also auch als Prävention verstehen. Hierzu passt, dass sich in der Sozialpolitik, der Sozialen Arbeit und der Pädagogik eine Begriffsstrategie im Anschluss an den Mediziner Georges Caplan (1964) durchgesetzt hat. Dieser hat in den 1960er Jahren vorgeschlagen, Minimierungen allgemeiner Gesundheitsgefährdun-
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gen (Senkung der Inzidenzrate) als primäre, Früherkennung und -behandlung als sekundäre und Minimierungen von Chronifizierungen, Folgeschäden und Rückfällen als tertiäre Prävention zu verstehen. Hiermit korrespondierend werden in der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit allgemeine Formen sozialpolitischer Einflussnahme der primären, „frühzeitige“ Formen der Behandlung und Betreuung der sekundären und Maßnahmen zur Besserung und Nacherziehung der tertiären Prävention zugeordnet. Diese Unterscheidung ermöglicht es, jede Intervention zu jedem Zeitpunkt als einen Präventionsschritt zu thematisieren und zugleich die je einzelnen Präventionsschritte aufeinander zu beziehen. Dem Dreierschritt „präventiver“ Interventionen liegt ein zeitliches Verlaufsmodell steigender Intensitäts- und Verfestigungsgrade von Problemlagen zu Grunde. Der präventive Appell lautet entsprechend möglichst frühzeitig zu intervenieren: Je länger man warte, desto schwieriger, intensiver und teurer werde die Lösung des Problems. Zugleich wird mit Blick auf mögliche Problemdimensionen ein Dreiebenenmodell der Problemperspektive formuliert, das vom gesellschaftlich Allgemeinen zum fallspezifisch Besonderen verläuft. Primäre Prävention meint allgemeine, von einzelnen AkteurInnen abstrahierende Formen der Gestaltungen sozialer Verhältnisse. Forderungen nach „primärer Prävention“ beinhalten häufig Auforderungen zur infrastrukturellen (Mit-)Gestaltung gesellschaftlicher bzw. lebensweltlicher Verhältnisse. Für eine auf einzelne AkteurInnen bezogene pädagogische, sozialarbeiterische oder therapeutische Praxis entspricht dies vor allem einem Appell zu einer gesellschaftlich- reflexiven Verortung und „politisch engagierten“ Ausrichtung. Als berufspraktisch („technologisch“) zu realisierendes Konzept für die Erbringung einer personenbezogenen Dienstleistung, bei der die AdressatInnen als einzelne Individuen leibhaftig anwesend sind, lässt sich eine solche „primäre Prävention“ allerdings nur schwierig vorstellen. Sobald sich präventive Maßnahmen – ganz gleich ob es sich um „beratende“ oder „bessernde“ Maßnahmen handelt – auf spezifische AkteurInnen richtet, werden diese als „Risikosubjekte“ verstanden. Dies lässt sich z.B. im Kontext der Kriminalprävention verdeutlichen. Hier gilt die Bearbeitung von „Armut und psycho-sozialen Belastungen“ häufig als „primäre Prävention“. Werden solche Belastungen jedoch als „Kriminalitätsrisiken“ unterstellt, werden diesen Belastungen ausgesetzte Personen zugleich als Risikosubjekte in den Blick genommen. Damit sind sie Gegenstand „sekundärer Prävention“, d.h. einer „Frühintervention“ gegenüber AkteurInnen, die einschlägige „Risikofaktoren“ aufweisen. „Tertiäre Prävention“ richtet sich schließlich auf AkteurInnen, die das betreffende Problem bereits aufweisen, genauer, bei denen das Problem durch hierfür legitimierte Instanzen festgestellt worden ist. Der Unterschied zwischen den beiden Präventionslogiken besteht also darin, dass die „sekundäre Prävention“ auf Interventionen verweist, die auf der Diagnose eines „Problemrisikos“ basieren, während Interventionen, die auf einer Problemdiagnose aufbauen, als „tertiäre Prävention“ verstanden werden. Praktisch ist diese Differenz zwischen diesen Präventionsformen jedoch eher graduell als substanziell: Beide sind auf Risikosubjekte bezogen, stellen eine „KlientInnenkarriere“ in den Mittelpunkt und legen für (psycho-)soziale Professionen typische Strategien einer „sekundären Normalisierung“ nahe. Auch wenn die in der Sozialpolitik, der Sozialen Arbeit und der Pädagogik vorherrschende Differenzierung des Präventionsbegriffs demnach nur beschränkt in der Lage ist, verschiedene präventive Interventionen analytisch trennscharf zu unterscheiden und sich personenbezogene soziale Dienste handlungspraktisch vor allem im Bereich der „sekundären“ (und „tertiären“) Prävention bewegen, lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen eine grundlegende Definition von Prävention vornehmen: Prävention bezeichnet Eingriffe in einen Ge-
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schehensablauf (Intervention), die systematisch mit dem Ziel verbunden werden, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines antizipierten, unerwünschten Phänomens zu reduzieren. Prävention ist damit eine Intervention in Phänomene, die als Risiko thematisiert werden: Sie richten sich nicht direkt auf ein Problem als solches, sondern auf die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens. Präventiv sind demnach alle Interventionen, gleich welchen Inhalts, die auf einer „risikokalkulatorischen“ Antizipation einer künftigen Entwicklung basieren, die verhindert werden soll.
Prävention als sozialwissenschaftlich fundierte Gesellschafts- und Lebensführungsgestaltung Prävention lässt sich als Umgang mit Gefahren und Unsicherheiten verstehen, die nicht als Naturnotwendigkeiten oder gottgewolltes Schicksal betrachtet werden. Historisch ist die Präventionsidee mit einem Verfügbarmachen der Zukunft und „Entdeckung“ der Gestaltbarkeit von Gesellschaft verbunden, die die wissenschaftliche und politische Weltsicht seit dem 19. Jahrhundert verändert hat: Schadensereignisse sind kein Produkt von Gefahren, die dem menschlichen Zugriff entzogenen Mächten zuzuschreiben sind, sondern von auf Handlungsentscheidungen zurückführbaren Risiken, die sich prognostizieren lassen und beherrschbar gemacht werden können. Während vom Blitz getroffen zu werden eine Gefahr ist, stellt es ein Risiko dar, keinen Blitzableiter zu besitzen. Ab dem 19. Jahrhundert wird ein vor allem administrativ reguliertes Arrangement von Präventionsstrategien zum Herzstück dessen, was als (sozialer) „Vorsorgestaat“ bezeichnet worden ist und von der Etablierung einer positiven, prognostischen Wissenschaft vom Sozialen vorangetrieben wird. Auguste Comte nennt diese Wissenschaft „Sociologie“. Ihr Grundgedanke ist ganz der Logik der Prävention geschuldet: „Voir pour savoir, savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir“ („Sehen um zu wissen, wissen um vorherzusehen, vorhersehen um zuvorzukommen“). In Form der Sozialstatistik verspricht die Soziologie im Sinne einer „sozialen Physik“ wissenschaftliche, aus den Normalwerten der Gesamtbevölkerung abgeleitete Differenzierungen, Kategorisierungen und Sortierungen bereit zu stellen. Damit wird eine neue Welt des Gesellschaftlichen eröffnet, die gemessen, berechnet und daher auch vorhergesagt werden kann. Als Basis einer „Politik der großen Zahl“ verspricht sie eine systematische Regulation gesellschaftlicher Risiken. Diese wird zu einer wesentlichen Grundlage einer Perspektive, die auf einer „sozialen“ Präventionslogik aufbaut, mit der eine administrativ erzeugte und verwaltete, kollektive Form von Solidarität akzentuiert wird: Wahrscheinlichkeitsprognostisch regelmäßig auftretende Risiken werden nicht mehr nur als Produkt individueller Unvorsicht und mangelnder persönlicher Vorsorge verstanden, sondern als soziale Risiken durch kollektive Versicherungssysteme in einer standardisierten Form abgesichert. Auch Risikoungleichheiten werden durch eine (wohlfahrtsstaatliche) Erzeugung einer – dem Versprechen nach – klassenübergreifenden Quasi-Schicksalsgemeinschaft von „SozialbürgerInnen“ (partiell) ausgeglichen. Im Kontext dieser sozialstaatstypischen Form der Risikoregulation – der Sozialversicherung – entwickelt sich auch der charakteristische Präventionsauftrag der Sozialen Arbeit: Während rechtliche und geldtransferbasierte Sicherungssysteme gegen „standardbiographische“ soziale Risiken absichern, fokussiert die personenbezogene Soziale Arbeit damit verbundene Lebensführungsrisiken im Sinne individualbiographischer Risikokonstellationen. Entsprechend besteht der Präventionsauftrag von Pädagogik und Sozialer Arbeit darin, innerhalb der sozialpo-
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litisch gesetzten und geforderten Normalität auf die Lebensführung von Individuen und Familien einzuwirken, um „handlungsfähige“, „normale“ Subjekte und stabile „Identitäten“ zu generieren.
Die Erzeugung präventiven Wissens Prävention setzt die Möglichkeit systematischer Unterscheidungen „normaler“, „akzeptabler“ bzw. „förderlicher“ von „abweichenden“, „unerwünschten“ bzw. „schädlichen“ Handlungen und Lebensweisen voraus. Solche Unterscheidungen sind nicht auf einen empirischen Durchschnitt bezogen, sondern auf das, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1994) als „symbolische Macht“ bezeichnet: Die Fähigkeit und Befugnis zur Durchsetzung eine bestimmten Sichtweise der sozialen Wirklichkeit, die Macht, bestimmte Benennungen durchzusetzen. Wenn man davon ausgehen kann, dass der Anlass von Prävention darin besteht, dass ein wahrgenommener „Ist-Zustand“ der Praxis sozialer AkteurInnen in einem spezifischen sozialen Gefüge und der für dieses Gefüge als gültig durchgesetzte „Soll-Zustand“ aktuell oder potentiell nicht übereinstimmen, lässt sich diese symbolische Unterscheidungs- und Benennungsmacht als Basis jeder Prävention verstehen. Innerhalb dieses symbolischen Rahmens impliziert jeder präventive Eingriff zwei technische Kernoperationen: Das Ergebnis einer Entwicklung vorherzusagen und mit Blick auf eine Veränderung dieses Ergebnisses in diese Entwicklung einzugreifen. Dabei setzen präventive Eingriffe ein hohes Maß an Wissen voraus. Man weiß oder behauptet zu wissen: > was den „Ist-Zustand“ kennzeichnet, in den zum Zweck der Prävention interveniert wird; > was den angestrebten (und damit problemdefinierenden) „Soll-Zustand“ auszeichnet; > in welche aktuellen Dynamiken und Prozesse der Ist-Zustand eingebettet ist; > dass diese Dynamiken ein künftiges Verfehlen des Soll-Zustands wahrscheinlich machen; > welches die Faktoren sind, aus denen sich diese Dynamiken speisen; > dass eine Veränderung dieser Faktoren, d.h. eine Einbettung des Ist-Zustands in alternative Dynamiken ein künftiges Erreichen des Soll-Zustands wahrscheinlicher machen; > wie der Ist-Zustand in diese alternativen Dynamiken und Prozesse einzuführen ist, um damit die Wahrscheinlichkeit seiner Überführung in den gewünschten Soll-Zustand zu erhöhen. Die Befriedigung dieses besonderen Wissensbedarfs ist vorrangig, wenn nicht ausschließlich auf Basis von Wahrscheinlichkeitsprognosen möglich. Nur im Sinne von Wahrscheinlichkeitsprognosen – also nicht auf der Grundlage des Nachweises von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen – kann die für eine präventive Logik zentrale Behauptung aufrechterhalten werden, die Dynamiken (die Wirkungszusammenhänge, Auslöser oder begünstigende Umstände) eines durch Prävention verhinderten, also nicht eingetretenen Phänomens seien bekannt. Wissenschaftlich lassen sich durch komplexe statistische Methoden „Prädikatorvariablen“ ausfindig machen, die – als „Risiko-“ oder „protektive Faktoren“ – in Form von Korrelationsziffern künftigen Abweichungen von definierten Soll-Werten zugeordnet werden können. Auf diese Weise behaupten z.B. US-amerikanische KriminologInnen bereits bei der Altergruppe der 6-Jährigen jene bearbeitbaren Risikofaktoren identifiziert zu haben, die die Wahrscheinlichkeit von Gewalt oder schwerer Delinquenz im künftigen Alter von 15 bis 25 Jahren bestimmen.
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Präventionswissen wird aber häufig auch aus alltäglichen berufspraktischen Erfahrungen gezogen, wie etwa: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass insbesondere die Jungen aus russischen Familien ...“. Auch solche Feststellungen bleiben der Logik nach „populationsstatistische“, auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen beruhende Aussagen. Ihre Wissensbasis ist eine Identifizierung von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Regelmäßigkeitsmustern aus der Erfahrung mit vielen Fällen.
Prävention im Wohlfahrtsstaat: Normalisierungspraktiken und Disziplinierung Präventive Interventionen auf dieser Wissensbasis lassen sich als eine Form der „sozialen Kontrolle“ verstehen, sofern soziale Kontrolle, mit Sebastian Scheerer (2000: 167) „als Ensemble all dessen definier[t]“ wird, „was unerwünschtes Verhalten verhindern soll und/oder faktisch verhindert [...] – sowie all dessen, was auf unerwünschtes Verhalten reagiert (ob das nun funktioniert oder nicht)“. Wenn der Terminus soziale Kontrolle in diesem umfassenden Sinne verwendet wird, kann er natürlich vieles bedeuten und Maßnahmen beinhalten, die von der Ermahnung – „so etwas gehört sich aber nicht“ – bis hin zu einer Ausschließung oder gar Tötung der AbweichlerInnen reichen. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kann von der Dominanz einer „bürokratisch-professionellen“ Organisation „sozialer Präventionslogiken“ gesprochen werden, die sich durch eine komplexe Verbindung einer relativ umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge mit bürokratisch regulierten und professionell durchgeführten Kontrollformen auszeichnet. Im Mittelpunkt dieser Präventionsstrategien steht das Ziel „gesellschaftlicher (Re-)Integration“. Dabei sind jeweilige Maßnahmen auf einen „Soll-Zustand“ ausgerichtet, in dessen Zentrum das Konstrukt der Normalerwerbsbiographie eines männlichen Lohnarbeiters (im Vollerwerb) und – davon abgeleitet – der Figur der (für unbezahlte Reproduktionsarbeiten verantwortlichen) Hausfrau und Mutter steht. Die Individuen sollen mittels unterschiedlicher Maßnahmen der Einübung, (Um-)Erziehung, (Re-)Sozialisierung oder Therapie in Hinblick auf ihre Motivationen, Orientierungen und Selbstverständnisse an dieses Normalitätsideal adjustiert bzw. zur Selbstadjustierung an dieses Normalitätsideal veranlasst werden. Das Ziel solcher Prävention kann mit einem Begriff des Historikers und Sozialphilosophen Michel Foucault (1977) als Disziplinierung bezeichnet werden. Disziplinierung lässt sich als ein Versuch der möglichst umfassenden und bis in die psychischen Tiefenstrukturen reichenden Persönlichkeitsmodellierung verstehen. Dabei wird zugleich ein Deutungsmuster handlungsleitend, das ganz unterschiedliche problematische (bzw. problematisierbare) Handlungs- und Daseinsformen der Individuen in erster Line als sichtbares Symptom einer dahinter liegenden sozialen Problemkonstellation versteht. Die Ursache hierfür wird weniger im freien Willen und damit im Bereich der Schuld und Verantwortung der „TrägerInnen“ dieser Symptome gesucht. Diese Sichtweise ermöglicht es der Sozial- und Kriminalpolitik, der Sozialen Arbeit und der Pädagogik das Bild einer moralisch verwerflichen Person zugunsten individuell nicht zurechenbaren Gründen zurückzudrängen und zugleich trotzdem den „Gefährdeten“ bzw. die „Abweichlerin“ als identifizierbare, einzelne Person, zum Ausgangspunkt ihrer Interventionen zu machen. Die sozialstaatliche Logik der Disziplinierung begegnet den AbweichlerInnen mit einer grundsätzlichen (Re-)Integrationsbereitschaft, die jedoch von einer rigiden Intoleranz gegenüber Differenz begleitet ist: „Fremde“ sollen assimiliert, „Verrückte“ und Drogenabhängige geheilt, Jugendliche eingepasst, dysfunktionale Familien geleitet, Deviante gebessert, Kriminelle resozialisiert werden usw. Im Sinne disziplinieren-
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der Formen sozialer Kontrolle lässt sich von der Entwicklung eines komplexen, institutionalisierten Kontinuums normierender Normalisierung von Differenz sprechen, zu dem nicht nur die Bildungs-, Fürsorge und Wohlfahrtsinstitutionen zählen, sondern selbst noch die Gefängnisse, die zu einer Art strafenden Pol eines „Straf-Wohlfahrtskomplexes“ werden. Im Sinne von „Besserungsanstalten“ sollen sie ebenso sehr als Stätten der (Um-)Erziehung und Behandlung, wie als Orte der Bestrafung dienen.
Abschied von der Prävention? Eine Reihe von TheoretikerInnen hat die These formuliert, dass die Logik der „Disziplinargesellschaft“ ihren Höhepunkt überschritten habe (dazu ausführlich: Ziegler 2004): Im konservativen politischen Spektrum wird die vermeintliche Leugnung der Verantwortlichkeit von oder gar eine „Sympathie“ mit AbweichlerInnen im Kontext der „sozialen“ Präventionslogiken kritisiert, von politisch Progressiven dagegen die asymmetrischen, expertokratischen Machtverhältnisse und die Stigmatisierungen und Zurichtungen der „KlientInnen“ im Kontext von Disziplinierungsstrategien. Dabei verliert eine Sichtweise der Devianten als erziehungs-, besserungs- oder heilungsbedürftige KlientInnen und „Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse“ zunehmend an Einfluss. Das Problem der „Delinquenz von Kindern und Jugendlichen“, heißt es beispielsweise im 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, könne „nicht damit gelöst [... werden], indem man die Täterin bzw. den Täter zum Opfer der Verhältnisse macht“. Auch empirische Studien weisen darauf hin, dass PädagogInnen inzwischen sehr stark darum bemüht sind, die Ansprüche und Perspektiven der Opfer statt der TäterInnen zu betonen und die Versuche der „Verantwortungsabwälzung“ ihrer AdressatInnen abzuwehren. Zugleich rücken Ansätze in den Vordergrund, in denen es weniger um soziale Einbindungen oder die Integrationspotenziale der Lebensführung geht, sondern vielmehr um jenes unmittelbare „Tatverhalten“, das bislang vor allem als „Indikator“ bzw. „Symptom“ für das tatsächliche Normalitätsproblem gedeutet wurde. Wohlfahrtsstaatliche Strategien einer „normierenden Normalisierung“ werden dabei abgelöst durch Behandlungs- und Trainingsprogramme – das prominenteste Beispiel hierfür ist sicherlich das kognitiv-behaviourale „Anti-Aggressivitätstraining®“ –, die eher auf Verhaltenskontrolle als auf die „Normalisierung“ der Persönlichkeit und sozialen Situation der „TäterInnen“ zielen. Im Mittelpunkt steht hier weniger der Versuch der Hervorbringung einer in ihren Tiefenstrukturen „korrigierten Individualität“ der Devianten, als der Versuch eines eher auf die Symptomoberfläche gerichteten Verhalten-Abtrainierens. Darüber hinaus findet sich eine ganze Reihe von Ansätzen, in denen es weniger darum geht, AbweichlerInnen zu „bessern“, sondern eher darum „gefährliche Gruppen“ effizient zu managen. Dabei geht es z.B. darum, zeitlich-räumliche Gelegenheiten zur Abweichung zu reduzieren bzw. TrägerInnen riskanter Verhaltensweisen in bestimmte Orte zu kanalisieren, in denen sie weniger sichtbar oder leichter zu beherrschen erscheinen. Das Präventionswissen über die Person der individuellen AbweichlerIn verliert hier, gegenüber dem Wissen darüber an Bedeutung, wo, wann und in welchem (statistischen) Ausmaß Abweichungen stattfinden. Paradebeispiele hierfür sind Zugangskontrollen, Platzverweise, Maßnahmen der Videoüberwachung etc. Weniger die Bekämpfung von Abweichung als solche, sondern eher die Regulation ihrer Verteilungen steht hier im Mittelpunkt. So finden sich z.B. in manchen Städten Fixerräume, in denen Konsum geduldet wird, während man außerhalb davon hart gegen „Junkies“ durch-
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greift. Oder es finden sich Strategien, in denen für große städtische Bereiche Platzverbote gegen Punks und andere „Randgruppen“ ausgesprochen, aber ihnen zugleich (woanders) Räume zur Verfügung gestellt werden, in denen sie weitgehend tun und lassen können was sie wollen. Es geht also bei diesen Strategien weniger um Maßnahmen der Einflussnahme auf Individuen, sondern um Maßnahmen der „Zonierung“ und räumlichen Platzierung, die die Wahrscheinlichkeit möglicher Gefahren und Störungen an bestimmten Orten unter Effizienzgesichtpunkten reduzieren sollen. Ebenfalls lokal ausgerichtet sind die gegenwärtigen Tendenzen einer sozial-räumlichen Informalisierung der Präventionsstrategien. Auch wenn solche nah- oder sozialräumlichen Präventionsansätze fachlich in der Regel begrüßt werden, scheinen sie Aspekte aufzuweisen, die alles andere als unproblematisch sind. Eine Orientierung an den Bedürfnissen der lokalräumlichen Gemeinschaft kann – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die BewohnerInnen von Sozialräumen sehr unterschiedlich sein und ganz unterschiedliche Interessen haben können – schnell zu fragwürdigen Homogenitätsannahmen führen. Diese sind mit der Gefahr verbunden, die Bedürfnisse und Forderungen der im Sozialraum je potentesten, beteiligungsdominanten und damit durchsetzungsmächtigen BewohnerInnen mit den Interessen „des Sozialraums“ gleichzusetzen. Dies kann in eine Reproduktion und Verstärkung lokaler Dominanzverhältnisse münden, die nicht selten auf Kosten der je sozialräumlich Schwächsten geht. Ferner ist es eine soziologische Grundeinsicht, dass sich „Gemeinschaften“ über Normen integrieren, entsprechende Normbrüche sanktionieren und dadurch ihre je eigenen Formen von Devianz schaffen. Versucht man nun soziale Kontrolle über eine Orientierung an und die Mobilisierung von kleinräumigen Gemeinschaften zu erhöhen, so mag man damit vielleicht tatsächlich „präventive Erfolge“ verbuchen können. Der Preis für solche Erfolge könnte aber zu hoch sein. Nicht selten werden sie mit einem informell erhöhten Druck zur Konformität, Anpassung, Selbstbeschränkung und -einengung oder mit einer verhältnismäßig scharfen, moralischen Grenzziehung zwischen Mitgliedern der Ingroup- und denen der Outgroup „bezahlt“. Schließlich müssen sich Versuche der Stärkung einer gemeinschaftsbezogenen Kontrolle im Sozialraum die Frage gefallen lassen, ob sie nicht, entgegen ihrer lebensweltorientierten Rhetorik, einer denkbar harten, weil (recht- und sozial-)staatlich ungeregelten Form parteilich-partikularer Interessendurchsetzung den Weg ebnen. Es ist insofern kein Zufall, dass das wesentliche Problem, um das sich z.B. eine „kommunale Kriminalprävention“ dreht, wenn sie auf lokalen Bevölkerungsbefragungen aufbaut, weniger das der Kriminalität, sondern das von „AusländerInnen“, „herumlungernden Jugendlichen“ oder der Anwesenheit von (anderen) als „unangenehm“ empfundenen „Randgruppen“ ist, die nicht unbedingt „unangepasst“, sondern eher „unpassend“ sind. Aus diesen Einwänden gegen die Logik der Prävention folgt jedoch keineswegs, dass es nicht sinnvoll und wünschenswert ist, über einen sensiblen Blick für problematische Entwicklungen zu verfügen und zu versuchen, vermeidbare Probleme zu vermeiden. In Anlehnung an eine Metapher von Stan Cohen (1989) könnte man das Konzept der Prävention als einen „Hammer“ verstehen. Die Frage ob ein Hammer ein per se sinnvolles Werkzeug ist, stellt sich nicht. Ebenso fraglos ist jedoch, dass man mit einem Hammer – insbesondere dann wenn dieser groß ist und viel Schwung in den Schlag gelegt wird – nicht nur konstruktives, sondern auch viel Schaden anrichten kann. Problematisch ist es in jedem Falle, wenn man keine anderen Werkzeuge in der Kiste hat und man plötzlich in allem einen Nagel sieht.
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Literatur Bourdieu, Pierre (1994): Structure, Habitus, Power: Basis for a Theory of Symbolic Power. In: Dirks, N./Eley, G./Ortner, S. (Hg.): Culture/Power/History. Princeton, S. 155–199. Caplan, George (1964): Principles of Preventive Psychiatry. London/New York. Cohen, Stan (1989): The Critical Discourse on Social Control: notes on the Concept as a Hammer. In: International Journal of the Sociology of Law (17: 3), S. 347–357. Deutscher Bundestag (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Drucksache 14/8181. Berlin. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. Scheerer, Sebastian (2000): ,Soziale Kontrolle‘ – schöner Begriff für böse Dinge? In: Peters, H. (Hg.): Soziale Kontrolle. Zum Problem der Nonkonformität in der Gesellschaft. Opladen, S. 153–169. Ziegler, Holger (2004): Jugendhilfe als Prävention: Die Refiguration sozialer Hilfe und Herrschaft in fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformationen. Bielefeld (Online unter http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/volltexte/2004/533/).
Soziale Systeme, Systemtheorie – Was leisten Hochabstraktionen?
Peter Fuchs Die Systemtheorie ist eine Theorie vertretbarer Metaphern. (frei nach Gordon Pask)
Seit einigen Dekaden hat es die Welt der Humanwissenschaften mit einer Theorie sozialer Systeme zu tun, die viele Leute als skandalös empfinden, während andere Leute von ebendieser Theorie fasziniert, ja enthusiasmiert sind. Sie ist mit dem Namen Niklas Luhmann verknüpft und wesentlich in Bielefeld entwickelt worden, weswegen man manchmal auch von der Systemtheorie „Bielefelder Provenienz“ spricht, um sie abzusetzen gegen andere Theorien, die sich ebenfalls des Begriffes System bedienen. Das Skandalöse an ihr ist schnell benannt. Erstens: Sie geht davon aus, dass soziale Systeme keine Menschen, kein Bewusstsein, keine Subjekte, keine Körper enthalten. Zweitens: Sie beansprucht, eine universale Theorie zu sein, die sich anschickt, die Phänomene der Sozialität umfassend und erschöpfend zu erklären, und das in einer Situation, in der angenommen wird, dass omnipotente Theorien oder Letzterzählungen der Welt nicht mehr zulässig sind. Drittens schließlich: Sie produziert Hochabstraktionen, die sich jeglicher Anwendbarkeit (im Sinne einer Technik zur Verbesserung der Welt) verweigern. Das alles betreibt sie, wie man vielleicht sagen könnte, in einer Art „ironischem Realismus“, in einer dezidiert lockeren, kontingenzbewussten Manier, wofür Luhmanns Lebensmotto einstehen mag: „Guter Geist ist trocken.“ Diese Einstellung ist forciert unsentimental, sie hat nichts herzwärmendes, und das mag der Grund dafür sein, dass die weite Welt der Erziehung und der Pädagogik darum bemüht ist, Abstand zu ihr zu wahren, oder sich jedenfalls nur leicht bis schwer angewidert auf sie einlässt.
Die drei großen Ärgernisse Das erste große Ärgernis jener Theorie, das von Anfang an die Gemüter bewegte, ist ihr eigentümlicher Umgang mit der System/Umwelt-Differenz. Nicht nur, dass die Ganzes/Teil-Unterscheidung – so etwa ein Verständnis von Menschen als Teil der Gesellschaft – nachhaltig als eine Erkenntnisblockade hohen Ranges in Frage gestellt wurde. Sie wird sogar ersetzt durch eine Differenz, die nicht mehr „Menschen“ als Partikel sozialer Systeme nimmt, sondern das, was klassisch im Sozialen war wie in einem Container (menschliche Körper, in denen dann so etwas wie Psyche steckt), nun entlang der Unterscheidung von System und Umwelt aufordnet: hüben „Menschen“ (gleichsam als hyperzyklische „Verschmierungen“ von Körper, Leib, Geist, Seele), drüben das Sozialsystem, das nicht „beseelt“, nicht von Bewusstsein besiedelt ist, das weder lebt noch sich aus lebenden Einheiten zusammensetzt und deswegen natürlich auch nicht über Wahrnehmungen verfügt.
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Nimmt man das Wort „Abstraktion“ wörtlich, so heißt es soviel wie Abzug, und das, was in dieser Hochabstraktion abgezogen wird, ist die Konkretheit, die lebens- und alltagsweltliche Anschaulichkeit der Vorstellung, dass es Menschen sind, die in soziale Beziehungen zueinander treten, kommunizieren und Communio im Sinne einer einzigartigen Gemeinschaft pflegen, die nur der homo sapiens sapiens verwirklichen kann. Der Mensch wird – ganz im Gegensatz zu traditionellen Sozialtheorien – als ein Wesen in den Blick genommen, das nicht kommunizieren kann. Er ist nur noch relevante Umwelt (Mitwelt) autonom kommunizierender, gegen Bewusstsein abgeschirmter Einheiten. Menschen sind demnach nichts weiter als mutuelle Lärmquellen für soziale Systeme. Und schlimmer noch: Die Theorie, die dieses Szenario aufzieht, geht davon aus, dass diese Abstraktion nicht etwa nur eine der Theorie sei (ein Modell, eine Methode, eine spezifische Analytik), sondern dass der Gegenstand der Forschung (das Soziale) sich selbst in die Form dieser Abstraktion bringt, mithin: fungierende Abstraktion ist. Es war Luhmann, der die berühmt-berüchtigte rhetorische Volte vollzog: „Es gibt Systeme.“ Die Aussage also, dass Menschen nicht kommunizieren, dass nur Kommunikation kommuniziert, dass soziale Systeme Systeme sui generis sind, die sich autonom (und, wie es heute heißt, autopoietisch reproduzieren) ist ernst, ist wortwörtlich gemeint. Sie erhebt den Anspruch auf Geltung im Gegenstandsbereich, das dann (und dies ist das zweite Ärgernis) auf der Basis einer universalistischen Anmaßung, die im Kern besagt, dass die Abstraktionen der Theorie so „steil“ angelegt sind, dass kein soziales (und heute müsste man sagen: auch kein psychisches) Phänomen sich der Beobachtung durch die Theorie entziehen kann – unter Einschluss der Theorie selbst. Aber auch das ist noch nicht genug: Die Hochabstraktionen, die die Theorie entwickelt, sind so abstrakt, so „abgezogen“, dass man nichts, worauf sie sich beziehen, zeigen könnte. Schon der Schlüsselbegriff der Theorie, das System, bezeichnet nicht ein Ding, eine Ausgedehntheit, ein Etwas, das man als ein Subjekt oder Objekt beobachten könnte. Das System ist eine Differenz, oder genauer: Es ist die Reproduktion einer Differenz. Die Definition lautet: Das System ist die Differenz von System und Umwelt. Es ist weder die eine Seite noch die andere Seite dieser Unterscheidung. Man kann mit Fug von einem transklassischen „Gegenstand“ sprechen, von einem „Unjekt“, das nicht wahrgenommen, ausgemessen, vorgelegt werden kann.
Was leistet begriffliche Akrobatik? Akrobatik, das heißt soviel wie „auf der Spitze gehen“. Es ist ein Zirkuswort, ein Wort für Artisten, auch ein Wort für die ästhetische Faszination an etwas öffentlich Dargebotenem, für „interesseloses Wohlgefallen“. Und es ist genau dies, was dieser Theorie oft nachgesagt wird: Sie sei ein Glasperlenspiel, eine Vergnüglichkeitsarena für Intellektuelle, die sich wechselseitig trippelschrittelnde Kunststücke vorführen. Die Realität sei anders, robuster, dichter und von hoher Opazität. Was soll man im Alltagsgeschäft etwa des Erziehens anfangen mit systemtheoretischen Begriffen wie System und Autopoiesis, Medium und Form, Operation und Beobachtung, mit struktureller Kopplung und Interpenetration? Dazu kommt, dass die Theorie vorschlägt, auf übliche Leitbegriffe wie „Subjekt“ zu verzichten, und sich mit ihr nicht mehr vorstellen lässt, dass die Strategien der Erziehung noch eine Sache von Mensch zu Mensch seien, sondern sie einrangieren lässt in das bewusstseins- und subjektfreie Spiel des Erziehungssystems, in das Spiel von Codes, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, symbio-
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tischen Mechanismen, Kontingenzformeln, Nullmethodologien und einer sonderbaren Operativität, die das Personal des Systems (i.e. seine Um- oder Mitwelt) in gewisser Weise dressiert und in systemisch passende Selbstbeschreibungen treibt. Eine Antwort ist alt. Sie fasst „Theoria“ als Fernsicht, als „visio“, als Schau. Der „Theoros“ ist der Beobachter olympischer Spiele, der antike Sportjournalist, der von hoch oben schaut und deswegen nicht mehr die Details, nicht den Schweiß auf den Körpern, das Schwarz unter den Fingernägeln sieht, wohl aber den Zusammenhang der Ereignisse. Er ist wirklich Akrobat, insofern er auf einer Höhe steht, durch die seiner Beobachtung die Details entgehen. Die Leistung ist dann: Ordnungserzeugung als Übersicht auf der Basis des Absehens von den Einzelheiten. Das Motiv (klassisch) ist das Interesse, das Dabei- und Dazwischensein, nicht im Sinne eines (norddeutschen) „Mittenmang“, sondern im Sinne einer Anteilnahme, die das „Ganze“ überschauen und verstehen will. Es geht um eine extrem distanzierte „Supervisio“. Es ist klar, dass diese Antwort heute nicht mehr so sehr überzeugt. Typisch fassen wir Theorien als Programme mit mittlerer Reichweite für empirische Forschung auf. Alle höher getrimmten Ansprüche an Kognition werden in die Philosophie verlegt, die sich auf’s Grübeln versteht: im (starren) Blick auf unentscheidbare (und dennoch und deshalb immer wieder anstehende) Fragen. Supertheorien beobachtet man mit Argwohn, und sei es nur, weil sie sich der Postmoderne verweigern, die im tumultarischen Spiel frei flottierender Differenzen keinen privilegierten, wahre Erkenntnisse garantierenden Ort der Beobachtung mehr auszeichnen kann als Ort der freien Übersicht. Man könnte aber auch die kanonische Phraseologie der alles überschauenden Theorie herunterfahren auf den alten Ausdruck Gescheitheit und damit vermutlich ziemlich genau treffen, was Luhmann selbst (in seiner Kunst der bescheidentrockenen Ironie) von dieser Theorie gehalten hat. Sie ist gescheit im hergebrachten Wortsinn des „Scheidens“, des „Unterscheidens“. Sie liefert auf ihre spezielle Weise labyrinthisch vernetzte Unterscheidungen, die für Bezeichnungszwecke eingesetzt werden können. Oder anders: Sie ist ein mit hoher Komplexität angereichertes Beobachtungsinstrument, mit dem sich die Felder, die jemand beobachten möchte, „aufmischen“ und verwirbeln lassen im Rahmen einer Üppigkeit an Unterscheidungsfinessen, die es sogar gestatten, den Beobachter noch mit zu beobachten.
Der Nutzen von Hochabstraktionen Jene Gescheitheit arbeitet systematisch und darin der Kunst nicht unähnlich mit Überraschung, mit Irritation, mit „inkongruenten Perspektiven“. Sie nutzt die radikale Abstraktion als Quelle für schräge Sichten auf scheinbar wohlbekannte Phänomene. Sie inszeniert systematisch das alte philosophische Staunen neu: durch die Ermöglichung obliquer Rekonstruktionen und Reformulierungen, zentriert um die Differenz des Systems. Wenn man zu denken geneigt ist, dass die Dinge stehen, wird diese Theorie mit Heinrich von Kleist sagen: Alles, was steht, steht, weil es fällt: „Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antworte ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt.“
Soziale Systeme, Systemtheorie – Was leisten Hochabstraktionen?
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So gesehen rückt die Theorie ein in die Funktionsstelle eines „Störenfrieds“. Dass sie als Plage begriffen werden kann, mag an dieser Querköpfigkeit liegen. Andererseits ist der Begriff der Struktur schon mit dem der Störung verknüpft: Struktur ist Irritabilität. Anhand von Störungen lässt sich entdecken, wie etwas, das ansonsten erwartungssicher funktioniert, diese Erwartungssicherheit herstellt. Die Antwort auf eine Problemlage, als die sich jede funktionierende Struktur beobachten lässt, kann reproblematisiert und damit als „Problemheit“ in die Sicht gebracht werden. Dass Lehrer Fragen stellen, deren Antwort sie schon kennen, ist ein einfacher Befund. Er wird dann spannend, wenn man sich fragt, welche Funktion diese kuriose Technik hat, etwa die der Transformation von nicht-trivialen Maschinen in Trivialmaschinen (Heinz von Foerster), damit dann auch die Funktion, „dämonische“ Lärmquellen (etwa Kinder) in eine für das Erziehungssystem handhabbare Form zu bringen. Wenn man sagt, dass die unmögliche (zumindest geheimnisvolle) Operation der Erziehung im Blick auf ihr Gelingen, auf ihre Akzeptanz, auf die Ratifikation ihrer Sinnzumutungen äußerst unwahrscheinlich sei, dann kann man (theoriegeleitet) nach dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium fahnden, das diese Unwahrscheinlichkeit umformt in Wahrscheinlichkeit. Erst unter dieser Voraussetzung eröffnet sich ein Äquivalenzbereich von „Liebe“ (oder pädagogischem Eros) bis hin zum uralten Medium der Züchtigung. Und man sieht auch, dass der Ausfall von Liebe oder der Ausfall pädagogisch legitimierter Handgreiflichkeiten dazu zwingt, andere Medien zu entwickeln und zu erproben, etwa das Medium des Appells. Man begreift schnell, wie es zur Ausdifferenzierung von Appellkulturen kommen konnte (etwa an Gesamtschulen), und ebenso schnell, warum diese Kulturen zum Scheitern verdammt sind: Jeder Appell erzwingt die Sicht auf andere Möglichkeiten, er weckt den Gegensinn, er steigert Kontingenz. Er fordert Widersetzlichkeit geradezu heraus. Ebenso anregend (störend) ist es, die Rationalität des Erziehungsgeschäftes nicht mehr als Moment einer allgemeinen Weltrationalität aufzufassen, sondern als „bounded rationality“, als Rationalität des Systems, die – beispielsweise – jede Operation des Erziehens ausstattet mit den Merkmalen der „guten Absicht“, so dass am Ende ein sich selbst moralisierendes System herauskommt, dass einerseits am Ideal der wissenschaftlich orientierten Ausbildung festhält, andererseits mit der Unterscheidung von Achtung und Missachtung so hantiert, dass auch immer die Idee der guten, der „gelingenden“ Erziehung im Spiel ist – im Unterschied zu schlechter Erziehung, die zu missachten ist und dem System mit seinen guten Absichten nicht zugerechnet wird. Das System ist aus dieser Perspektive und bis in seine Reflexionsinstanz „Pädagogik“ hinein einseitig kalibriert. Seine Selbstbeschreibung ist (und muss es sein): gutheitslastig. Nicht minder interessant für eine Analyse des Erziehungsgeschäftes ist die berühmte Ebenenunterscheidung: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Sie ist ein heuristisches Instrument, mit dem unterschiedliche Grenzbildungsprozesse sozialer Systeme, bezogen auf ein System im Fokus der Aufmerksamkeit (hier das System der Erziehung), unterschieden werden können. Erziehung, heißt das, findet unter Interaktionsbedingungen statt, sie ist zweifelsfrei an Organisationen gebunden, und: Sie bedient eine gesellschaftliche Funktion, sei es die der Allokation von Karrieren oder sei es die der Vereinheitlichung der Startchancen von Karrieren, die zugleich den take-off für die Ungleichheit der Biographien darstellt. Für einschlägige Analysen, die sich für Strukturen und Prozesse der Interaktion, Organisation und Gesellschaft im Blick auf Erziehung interessieren, stehen mittlerweile komplex ausdifferenzierte Theoriestücke zur Verfügung.
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Soziale Systeme, Systemtheorie – Was leisten Hochabstraktionen?
Das sind, versteht sich, nur wenige Impressionen dessen, was oben als Irritation, als inkongruente Schau bezeichnet wurde. Es liegen hinreichend viele Analysen in systemtheoretischer Diktion vor, insbesondere von Niklas Luhmann selbst, den das Erziehungssystem ein Leben lang zu Untersuchungen angeregt hat. Entscheidend ist, dass diese Analysen zu Ergebnissen geführt haben und führen, die sich nicht damit brüsten, das Erziehen selbst leichter und effektiver zu machen. Das Gegenteil wäre vermutlich wahrer. Die Systemtheorie ist keine theory of applied sciences. Sie macht, und für mich ist das ihr eigentümlicher Charme, respektvoll vor den Toren der Phänomene, die sie zu erklären sucht, halt. Sie teilt Ergebnisse mit und geht (auf der Basis von in ihr selbst gewonnener Theoreme wie Autonomie, Autopoiesis, selbstreferentielle Geschlossenheit etc.) davon aus, dass Systeme wie das Erziehungssystem die Irritationen auf ihre Weise (in ihrer eigenen Operativität) aufnehmen und für eigene Informationsverarbeitung ausnutzen. Was Hochabstraktion leistet und wie nützlich es ist, sich mit ihr konfrontieren zu lassen, wird nicht in der Theorie entschieden, sondern an den Orten ihrer Rezeption. Ich selber denke, dass die Theorie nur eines garantiert: dass sich mit ihr Kontakt halten lässt zu einem beweglichen, schrägen und staunenden Denken, das die Chance bietet, die routinisierten Kognitionen der je eigenen Domäne in Bewegung zu bringen.
Literatur Fuchs, Peter (2004): Niklas Luhmann – beobachtet. 3. Aufl. Wiesbaden. Fuchs, Peter (2001): Die Metapher des Systems. Weilerswist. Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.
Sozialraum und Zivilgesellschaft
Fabian Kessl Sozialraum und Zivilgesellschaft sind keine klassischen soziologischen Begriffe wie soziale Ungleichheit, soziale Klassen oder Gesellschaft. Zwar werden „der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ bereits bei Georg Simmel (1908/1968: 460ff.) ausdrücklich als Gegenstand soziologischer Theorie eingeführt. Die Unterscheidung von Staat und bürgerlicher oder Zivilgesellschaft ist allerdings bereits seit langem Thema klassischer Sozialphilosophie. Zum Bestandteil des gängigen Vokabulars sozialwissenschaftlicher Debatten werden diese beiden Begriffe erst in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Ihre verstärkte Verwendung in erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Diskussionen steht in einem engen Zusammenhang mit veränderten politischen Strategien: Wenn (sozial-)politisch und pädagogisch von der Zivilgesellschaft die Rede ist, dann geht es zumeist um ein neues „Demokratie-Lernen“ und eine neue „gesellschaftliche Rückbindung“ pädagogischer Institutionen. Dies sei angesichts einer „Politikverdrossenheit“ und einer damit verbundenen fehlenden Beteiligung, insbesondere der nachwachsenden Generation, dringend voranzutreiben, so die Zivilgesellschaftsprogrammatiker. Mit dem Begriff des Sozialraums werben die Protagonisten primär für kleinräumige Interventionskonzepte, da nur im Nahraum der Gesellschaftsmitglieder das locker gewordene oder teilweise gerissene „moralische Band“ moderner Gesellschaften wieder geknüpft werden könne.
Zum Begriff der Zivilgesellschaft Die klassische griechische Debatte verstand die Zivilgesellschaft als die politische Gemeinschaft der freien Stadtbürger (polis). Politische Gemeinschaft und Zivilgesellschaft fallen damit in dieser frühesten Zivilgesellschaftskonzeption in eins. Ein grundlegendes Merkmal der attischen Polis war jedoch ihre konstitutive soziale Spaltung in die freien männlichen und erwachsenen Athener als Bürger der politischen Gemeinschaft und die unfreien Stadtbewohner – die Frauen, Kinder und Sklaven, die eine ökonomische Absicherung der Bürgerschaft im privaten oikos erst ermöglichten. Die ökonomische Basis der freien Stadtbürger wurde somit außerhalb der eigentlichen polis angesiedelt und von den unfreien Stadtbewohnerinnen realisiert. Sie waren kein Teil der eigentlichen polis. Auch die Denker der (Früh-)Moderne setzen in ihren Zivilgesellschaftskonzeptionen den prinzipiell gleichberechtigten Staatsbürger zuerst nur in der männlichen Form voraus. In den frühliberalen Versionen werden allerdings die politische und zivile Sphäre nicht mehr als Einheit angesehen. Vielmehr wird im nationalstaatlichen Kontext der politischen Sphäre (staatliche Administration, Regierungsinstanzen) die zivile als Bereich des Privaten gegenüber gestellt. Dieser Vorstellung nach kommen die Bürger im Gesellschaftsvertrag darin überein, ihre
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Sozialraum und Zivilgesellschaft
Privatsphäre staatlich zu schützen und einen möglichst freien ökonomischen Tausch unter ihnen durch eine staatliche Ordnung zu ermöglichen. Das dritte zivilgesellschaftliche Modell entsteht aus der Kritik an der idealtypischen Konstruktion des Gesellschaftsvertrags, in dem die staatlichen Institutionen zum Schutz von Ökonomie und Zivilgesellschaft festgelegt werden sollten. Derartige Modelle seien relativ blind für die realen Herrschaftsverhältnisse, so der zentrale Einwand. Denn manche Gesellschaftsmitglieder profitierten sehr viel mehr von den spezifischen kontraktuellen Schutzregeln als andere. Damit wird akzentuiert, dass die Vereinbarung, wie die sozialen Zusammenhänge gestaltet werden, welche Schutz- und Freiheitsrechte die Gesellschaftsmitglieder in welcher Weise in Anspruch nehmen können, immer Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist. In welcher Form sich zivilgesellschaftliche und staatliche Instanzen arrangieren, ist demnach Ergebnis und zugleich immer Inhalt politischer Kämpfe. Innerhalb der jüngeren Debatte um Zivilgesellschaft wird das seit dem 19. Jahrhundert relativ stabile Arrangement von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Instanzen wieder grundsätzlich hinterfragt. Hintergrund dieser Auseinandersetzungen seit Mitte der 1970er Jahre und verstärkt in den 1980er und 90er Jahren sind zwei historische Zusammenhänge. Zum einen entfällt mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in Osteuropa die Systemkonkurrenz zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Regimen des westlichen Marktkapitalismus und den real-sozialistischen Regimen des sowjetischen Staatskapitalismus. Ein entscheidender Antriebsmotor der gesellschaftlichen Proteste in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei war dabei die Idee der Zivilgesellschaft. Ziel war die Begründung einer vom Parteistaat unabhängigen öffentlichen Sphäre, aber kein Systemwechsel, wie er sich seit dem Ende der 1980er Jahre nach und nach in allen osteuropäischen Staaten vollzieht. Und doch waren es gerade diese demokratischen Revolutionen in Osteuropa, die US-amerikanische wie westeuropäische Denker motivierten, die Idee der Zivilgesellschaft teilweise euphorisch in die eigenen Überlegungen aufzunehmen. Sie formulieren nun neo-republikanische und neo-liberale Modelle einer Einheit von politischer und ziviler Sphäre bzw. einer zivilgesellschaftlichen Sphäre jenseits des Staates. Zum anderen verändern sich parallel zu diesen Entwicklungen in den so genannten westlichen Staaten seit den 1970er Jahren die dominierenden politischen Denkweisen. Das seit dem 19. Jahrhundert installierte und gültige wohlfahrtsstaatliche Arrangement (Sozialstaat) beruht darauf, dass jedem Gesellschaftsmitglied ein nach den jeweiligen Maßstäben „normales“ Leben durch öffentlich garantierte Rechtsansprüche und entsprechende staatliche Leistungen ermöglicht werden soll. Im Gegenzug wird Anpassung an die herrschenden gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen gefordert. Für die Einhaltung dieser Normalitätsstandards, aber auch für die Absicherung der Gesellschaftsmitglieder bei Lebensrisiken, werden wohlfahrtsstaatliche Instanzen (insbesondere: Sozialversicherungen) und die Soziale Arbeit geschaffen. Seit den 1970er Jahren gerät diese kollektive Vereinbarung zunehmend in die Kritik. Die normalisierende Komponente des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements soll zugunsten größerer individueller Freiheit zurückgeschraubt werden, so die einheitliche Forderung von linken wie rechten Wohlfahrtsstaatskritikern. Denn der Einzelne solle selbst sein Leben arrangieren können, und zwar relativ unabhängig von staatlicher Beeinflussung. Damit gewinnt auch aus dieser Perspektive die Vorstellung an Einfluss, zivilgesellschaftliche Vereinigungen könnten deutlich unabhängiger von staatlichen Instanzen installiert und ausgebaut werden. Während liberale Denker dabei auf die Installierung bestimmter Umverteilungsverfahren setzen, um das
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wohlfahrtsstaatliche Arrangement in einer reformierten Weise weiterzuführen und zugleich den zivilgesellschaftlichen Akteuren größere Aktionsräume eröffnen wollen, sehen sog. kommunitaristische Denker die Möglichkeit einer grundlegenden zivilgesellschaftlichen Revolution (vgl. Brumlik/Brunkhorst 1993). Zwar seien auch ihrer Ansicht nach nicht alle öffentlichen Aufgaben gänzlich in die Zivilgesellschaft zu überführen, aber ihre Neustrukturierung und Neuorientierung könne die modernen Gesellschaften insgesamt moralisch wieder absichern und damit den Zusammenhalt zwischen den Gesellschaftsmitgliedern neu herstellen. Denn in einer solchen zivilgesellschaftlich organisierten „guten Gesellschaft“ sei jeder des anderen Hüter.
Zum Begriff des Sozialraums Bereits einige der ersten Soziologen machen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts darauf aufmerksam, dass Raum im Unterschied zur klassischen Vorstellung eines absoluten Raums nur als Gegenstand sozialer Prozesse verstanden werden kann. Räume werden in dieser Perspektive nicht mehr als fixierte Umgebung oder fester Grund menschlicher Handlungsvollzüge betrachtet, sondern als das Ergebnis menschlicher Handlungsvollzüge und zugleich wieder als deren Bedingung. So erweisen sich beispielsweise nationalstaatliche Räume als Ergebnis politischer Strategien: bestimmte Bevölkerungsgruppen werden als Regierungseinheiten bestimmt. Zugleich sind die damit konstruierten Räume der Bezugspunkt bestimmter Normalitätsstandards wie Risikofaktoren. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts werden empirische Untersuchungen durchgeführt, die sozial-räumliche Anordnungen systematisch in den Blick nehmen. Einflussreich waren dabei vor allem die human- oder sozialökologischen Arbeiten der so genannten Chicago-School und die sozialgeographischen Studien an der wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle der Universität Wien. Die in Korrespondenz zu diesen Traditionslinien im 20. Jahrhundert entwickelten Gemeindestudien und Studien zur Stadtforschung fühlen sich seither den sozialökologischen Überzeugungen verpflichtet. Allerdings realisieren fast alle diese Arbeiten die Erfassung sozialer Zusammenhänge innerhalb bestimmter Wohnareale, ohne dieses Vorgehen zu problematisieren. Ausgangs- und Endpunkt ist ein Verständnis des Raum als vorgegebener Rahmen sozialen Handelns (Container-Modell des Raums). Zu welchen Problemen ein derart verkürztes Raumverständnis führen kann, zeigt sich in den jüngsten sozialpolitischen und (sozial-)pädagogischen Sozialraumkonzepten besonders deutlich. Innerhalb großer Stadtentwicklungs- und damit verbundener Bevölkerungsaktivierungsprogramme werden bestimmte Wohnareale (Stadtteile, Nachbarschaften oder Straßenzüge) als benachteiligt identifiziert: Das Soziale wird kartographiert. Sozialraumanalytisch wird dabei beispielsweise ein vergleichsweise hoher Anteil von ALG II-Empfängern, von Bewohnerinnen mit Migrationshintergrund oder von Sozialgeldempfängern festgestellt. Die Wohnareale, in denen die damit als benachteiligt markierten Bevölkerungsgruppen ausgemacht werden, sollen anschließend mit kleinräumigen Aktivierungsstrategien bearbeitet werden. Das heißt kriminalpräventive, gesundheitspräventive und anderweitige (sozial)pädagogische Maßnahmen werden in das einzelne Wohnareal hinein verlegt. Das als „Stätte der Desintegration“ markierte Wohnareal soll von derart sozialraumorientierten sozialen Dienstleistungen nun zur „Stätte der Heilung“ (Duyvendak 2004) gemacht werden.
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Diese (sozial-)politischen und pädagogischen Aktivierungsstrategien werden analog zu den Strategien zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Potenziale mit einer wohlfahrtsstaatskritischen Zeitdiagnose begründet. Denn neben der Kritik an kollektiven Sicherungssystemen, die als zentrales Hindernis wirtschaftlichen Wachstums behauptet wird, werden die Gefahren eines vermeintlich zunehmenden Individualisierungsprozesses problematisiert: die angenommene Erosion sozialer Bindungen und moralischer Verpflichtungen dem Gemeinwesen gegenüber. An dieser Stelle finden aktuelle Zivilgesellschafts- und Sozialraumprogramme zusammen: Die Wiederherstellung der sozialen Bindekräfte unter den Gesellschaftsmitgliedern sei nur möglich, wenn die Bezugsebene sozialpolitischer Interventionen gewechselt werde. Da das wohlfahrtsstaatliche Integrationsprojekt auf nationalstaatlichem Level gescheitert sei, und zudem nationalstaatliche Strukturen unter dem Druck der „Globalisierung“ weiter an Einfluss verlören, gelte es nun regionale und lokale Gemeinschaften zu mobilisieren. Die (sozial-)politische und pädagogische Aufgabenstellung unter den Überschriften von Zivilgesellschaft und Sozialraum lautet entsprechend, kleinräumig das sog. Bindungskapital (bonding social capital ) der Bewohnerinnen zu aktivieren. Dazu seien einerseits die benachteiligten Bevölkerungsgruppen von einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit in ihren Wohnarealen zu mobilisieren, um sich in die Mehrheitsgesellschaft zurückzubewegen und andererseits sei die Mehrheitsbevölkerung durch Fördermaßnahmen in Schule, Volkshochschule oder Seniorenagenturen zu einem verstärkten zivilgesellschaftlichen Engagement zu mobilisieren.
Zur pädagogischen Relevanz von Zivilgesellschaft und Sozialraum – ein abschließender Blick auf das Nicht-Gesagte Im Anschluss an Überlegungen des Philosophen Louis Althusser kann die Aufgabe einer kritischen Sozialwissenschaft als Lektüre dessen beschrieben werden, was im Text nicht ausdrücklich formuliert und also nicht zu lesen ist. Eine solche symptomatische Lektüre zielt auf die Inhalte, die dem Autor – bewusst oder unbewusst – als nicht thematisierungswürdig bzw. als nicht sagbar erscheinen. In diesem Sinne ist auch die Rede von der Zivilgesellschaft oder dem Sozialraum eine Rede, die nicht nur die oben dargestellten Sinnzusammenhänge (re-)produziert, sondern andere auch verschweigt. Unbeachtet bleiben innerhalb dieser affirmativen Zivilgesellschafts- und Sozialraumprogramme – erstens – die sozialen Positionierungen der beteiligten Akteure. Betrachtet man im Unterschied zu solchen kleinräumigen Sozialraumvorstellungen den sozialen Raum als gesellschaftlichen Raum, wie dies der Soziologe Pierre Bourdieu (1995) vorschlägt, zeigt sich dieser als Raum ungleich verteilter Spielanteile. Der soziale Raum ist demnach ein Raum sozialer Kämpfe zwischen den ungleich ausgestatteten gesellschaftlichen Gruppen und Gesellschaftsmitgliedern. Dies zeigt sich in den bestehenden zivilgesellschaftlichen Programmen ebenso wie in den sozialräumlich fokussierten Stadtteilstrukturen. Unter zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie beispielsweise der neo-liberalen „Initiative Soziale Marktwirtschaft“ einerseits und sozialreformerischen Bewegungen wie Attac oder der AG Spak andererseits, geht es ebenso um handfeste politische Gestaltungsfragen, wie etwa zwischen neo-nazistischen Bünden und Antifa-Netzwerken in Sachsen. Die Konzentration von erwerbslosen Gesellschaftsmitgliedern oder jenen mit Migrationshintergrund in einzelnen Wohnarealen ist zum größten Anteil kein Ausdruck freier individueller Wohnortwahl, sondern folgt aus den herrschenden Strukturierungsprinzipien, die sich unter anderem in den preislichen Unterschieden der Wohnungsangebote
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und den Geschmacksunterschieden der Milieus zeigen. In der Zivilgesellschaft werden auf Basis extrem unterschiedlicher Einflussmöglichkeiten die dominierenden Normalitätsvorstellungen (re-)konstruiert. Pädagogische Instanzen sind nicht nur Teil solcher Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen, sie sind eine entscheidende öffentliche Instanz zur Reproduktion der dominierenden Normalitätsmodelle. Zugleich sollten pädagogische Instanzen dem Gebot der Aufklärung, den Einzelnen größere Gestaltungsoptionen zu ermöglichen, verpflichtet bleiben. Vor diesem Hintergrund erweisen sich affirmative Zivilgesellschafts- und Sozialraumprogramme allerdings als deutlich verkürzt. Denn pädagogische Fachkräfte und Organisationen, die sowohl die Normalisierungs- als auch die Aufklärungsdimension berücksichtigen, also eine reflexive Pädagogik betreiben, können sich nicht auf die eindimensionale Vermittlung vorherrschender Überzeugungen beschränken – beispielsweise gegenüber marginalisierten Bevölkerungsgruppen in bestimmten Wohnarealen. Sozialraumorientierte Strategien, die den als Desintegrationsraum identifizierten Stadtteil nun gleichzeitig zum Ort der Heilung dieser Desintegration erklären, erweisen sich als ebenso verkürzt, wie zivilgesellschaftliche Strategien der Remoralisierung, die Freiheits- und Sicherungsrechte für alle Gesellschaftsmitglieder kaum in Rechnung stellen. Eine affirmative sozialraumorientierte Pädagogik verliert aus den Augen, dass das Problem nicht im Stadtteil, sondern in der Gesamtstadt oder der Gesamtgemeinde, im jeweiligen Arrangement des Sozialen also, liegt. Als ebenso verkürzt erweisen sich pädagogische Zivilgesellschaftsprogramme, die das bürgerschaftliche Engagement von Gesellschaftsmitgliedern fördern wollen, ohne die dazu vorliegenden oder nicht vorliegenden Möglichkeiten zu problematisieren. Eine reflexive Pädagogik hat im Wissen um die Ambivalenz von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung zu agieren, das heißt sich selbst als öffentliche Normalisierungs- und Aufklärungsinstanz zu begreifen. Pädagogik ist immer Teil der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und sollte sich doch zugleich deren Veränderung zugunsten ihrer Nutzerinnen und Nutzer verpflichten. Denn pädagogische Aufgabe ist seit der Aufklärung eine möglichst weit reichende Erweiterung der Handlungsoptionen ihrer Adressaten. Dazu müssen pädagogische Instanzen das herrschende Gefüge immer wieder als nur ein mögliches wahrnehmen und vehement in dessen symbolische Einschließungs- und Ausschließungsprozesse eingreifen, anstatt sie unreflektiert zu (re-)produzieren.
Literatur Bourdieu, Pierre (1995): Sozialer Raum und „Klassen“. In: Ders.: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Vorlesungen, Frankfurt/M., S. 9–46. Brumlik, Micha/Brunkhorst, Hauke (Hg.) (1993): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M. Duyvendak, Jan (2004): Spacing Social Work? Möglichkeiten und Grenzen des Quartiersansatzes. In: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeit. Wiesbaden, S. 157–168. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.) (2005): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden. Klein, Ansgar/Kern, Kristine/Geißel, Birgitte/Berger, Maria (Hg.) (2004): Zivilgesellschaft und Sozialkapital: Herausforderungen politischer und sozialer Integration. Wiesbaden. Simmel, Georg (1908/1968): Soziologie. Berlin. Votsos, Theo (2001): Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci. Hamburg.
Sprache und Sprechen
Helga Kotthoff Sprache ist, soziologisch betrachtet, kein neutrales Werkzeug, das Individuen nur benutzen, um sich auszudrücken und zu verständigen. Vielmehr kann Sprache auch als eine soziale Voraussetzung für das individuelle Wahrnehmen, Denken und Kommunizieren charakterisiert werden. Soziales Handeln ist so betrachtet ein Handeln mit den Mitteln, das eine jeweilige Sprache zu Verfügung stellt und die Absicht, ein Individuum oder eine soziale Gruppe zu verstehen, ist darauf verwiesen, sich mit Eigenschaften seiner/ihrer Sprache und seines/ihres Sprachgebrauchs auseinander zu setzen. Sprachsoziologie und Sprachwissenschaft sind für die Pädagogik deshalb nicht zuletzt dann relevant, wenn es darum geht, Verstehens- und Verständigungsschwierigkeiten zu analysieren. Sprache ist aber darüber hinaus für alle sozialwissenschaftlichen Theorien und Forschungen von zentraler Bedeutung, in denen es um das Verstehen des Sinns sozialen Handelns geht. Denn der Sinn von Handlungen erschließt sich nur dann, wenn sprachlich mitgeteilte Absichten, Motive usw. interpretiert werden. Folglich beschäftigt sich die sozialwissenschaftliche Hermeneutik in hohem Maß mit kommunikativen Praktiken. Innerhalb der Soziologie haben vor allem die sozialkonstruktive Wissenssoziologie (Alfred Schütz, Thomas Luckmann) und Sozialpsychologie (George H. Mead), die ethnomethodologische Konversationsanalyse (Harvey Sacks, siehe das entsprechende Kapitel in Auer 1999) und verschiedene VertreterInnen der Phänomenologie (z.B. Ragnar Rommetveit) sich dezidiert zu Sprache und Sprechen geäußert. Ihre Positionen werden in diesem Artikel kurz umrissen (s. dazu ausführlicher Auer 1999 und Linell 1998). Die grundlegende Bedeutung von Sprache für das soziale Handeln wird von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1966/2000: 9) wie folgt beschrieben: „Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft. Ihre Grundlage ist natürlich die dem menschlichen Organismus innewohnende Fähigkeit zu vokalem Ausdruck. Aber Sprache beginnt erst, wo der vokale Ausdruck vom unmittelbaren ,Hier und Jetzt‘ isolierter subjektiver Befindlichkeit ablösbar geworden ist. Knurren, Grunzen, Heulen, Zischen sind noch nicht Sprache, wenngleich sie, in verbindliche Zeichensysteme integriert, versprachlicht werden können. Die allgemeinen und gemeinsamen Objektivationen der Alltagswelt behaupten sich im wesentlichen durch ihre Versprachlichung. Vor allem anderen ist die Alltagswelt Leben mit und mittels Sprache, die ich mit den Mitmenschen gemein habe. Das Verständnis des Phänomens Sprache ist also entscheidend für das Verständnis der Wirklichkeit der Alltagswelt. Sprache gründet in einer Vis-à-vis-Situation, kann aber leicht von ihr abgelöst werden, und zwar nicht nur, weil ich im Dunkel oder aus der Ferne rufen kann, am Telefon und im Radio zu sprechen und Sprache in Schrift zu übertragen vermag (wobei die Schrift ein Zeichensystem zweiter Ordnung ist). Die Ablösbarkeit der Sprache gründet tiefer, nämlich in der Fähigkeit, Sinn, Bedeutung, Meinung zu vermitteln, die nicht direkter Ausdruck des Subjektes ,hier und jetzt‘ sind. Diese Fähigkeit haben aber auch andere Zeichensysteme. Aber die enorme
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Vielfalt und Kompliziertheit der Sprache macht sie von der Vis-à-vis-Situation leichter ablösbar als jedes andere – beispielsweise ein Gesten-System. Ich kann über Unzähliges sprechen, was in der Vis-à-vis-Situation gar nicht zugegen ist, auch von etwas, was ich nie erlebt habe und erleben werde. Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermittel“ (Berger/ Luckmann 1966/2000: 39). Hingewiesen ist hiermit zum einen darauf, dass erst Sprache durch die Verwendung von Zeichen mit situationsübergreifender und in sozialen Gruppen geteilter Bedeutung soziales Handeln ermöglicht. Zweitens wird akzentuiert, dass Individuen, indem sie eine Sprache erwerben, zugleich auch bestimmte Sichtweisen der sozialen und natürlichen Wirklichkeit erwerben, die in die Sprache eingelassen sind. Es ist für die Beschäftigung mit Sprache und Sprechen jedoch nicht selbstverständlich, Dialog und Intersubjektivität als Ausgangspunkte zu nehmen. Noam Chomsky und die von ihm inspirierte formale Linguistik interessieren sich für „autonome“ Modelle von Grammatik (siehe dazu Kap. 2 in Linell 1998); Grammatik mit dem Kernbereich Syntax (Satzlehre) macht das hauptsächliche Interessensgebiet dieser Theorie von Sprache aus. Kognition wird von ihren Vertretern als individuelles Prozessieren von Information gesehen, Kommunikation als Informationstransfer und Sprache als Code. Auch die Vertreter/innen einer sozialwissenschaftlichen Sprachwissenschaft erkennen die Notwendigkeit einer solchen Beschäftigung mit dem Sprachsystem an, binden sie aber in eine dialogorientierte Diskursanalyse ein. Die Festlegung von Bedeutungen und Handlungsmustern für sprachliche Ausdrucksformen (wie z.B. Argumentieren, Erzählen, Erklären etc.) betrachten sie als ein Ergebnis sozialer Praxis. Handlungen werden typisiert (mit einer bestimmten Struktur erwartbar); wenn man von der erwartbaren Struktur abweicht, steckt darin wieder eine besondere Botschaft.
Monologorientierte Ansätze Ansätze, die Sätze, Texte und Äußerungen nicht im Kontext ihrer Verwendung betrachten, dominieren weite Teile der deutschen und US-amerikanischen Sprachwissenschaft. Sie sehen vor allem Grammatik als autonom an und nicht als mit kulturellen und sozialen Dimensionen von Sprache und Handeln verbunden. Heute sind diese Ansätze stark mit Teilen der Kognitionswissenschaften verbunden. Kognition gilt ihnen als individualpsychologisches Phänomen. Ähnlich wie der Computer prozessiert das Individuum demnach Informationen mit seinem Gehirn. Der Geist ist ein komplexes System, eine Maschine, die aus einem „input“ Informationen herausnimmt, um sie dem „output“ zuzuführen. Wenn der Interaktionspartner in diesem kognitivistischen Modell überhaupt Berücksichtigung findet, dann als ein Subsystem innerhalb des Informationen verarbeitenden Systems des individuellen Sprechers. Kognition findet in diesem Paradigma nur im individuellen Bewusstsein statt. Der Gegenstand der linguistischen Theorie ist bei Noam Chomsky (1969) die Kompetenz eines idealen Sprecher-Hörers, die als ein Kenntnissystem bzw. als mentales Repräsentationssystem verstanden wird. Seine nativistische Konzeption des Erstspracherwerbs ist monologistisch, weil sie sich nur für die internen Hypothesenbildungs- und -bewertungsverfahren des Kindes interessiert.
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Sprache und Sprechen
Dialogorientierte Ansätze Sozialwissenschaftlich inspirierte Ansätze interessieren sich nicht für die alleinstehende Handlung, sondern das Zusammenspiel von Handlungen, auch von sprachlichen Handlungen. Sprache ist das Kommunikationsverfahren par excellence. Sie ist historisch veränderlich und kann in ihrem Wandel beobachtet werden. Sprachsoziologie und Soziolinguistik erforschen die Ausformungen der Sprache in verschiedenen sozialen Milieus und Gruppen, Rollen und Situationen. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit der Sprache von Jugendlichen, mit regionalen Sprachausprägungen, mit dem Sprechen in institutionellen Kontexten wie Gericht, Schule oder Arztpraxis oder auch mit der Frage, in welchen Zusammenhängen sich Frauen und Männer unterschiedlicher Sprechstile befleißigen. Sprache kann verwendet werden, um für sich eine bestimmte Identität zu erzeugen und eine Situation zu prägen. Sprechstilistische Verfahren tragen dazu bei, ob eine Situation als formell oder informell erlebt wird. Sie sind aber auch für die Regelung von Macht und Unterordnung bedeutsam. Gesellschaften statten z.B. bestimmte Sprechlagen mit mehr Prestige aus als andere. Herrschaft kann u.a. darüber legitimiert werden, dass man sich der richtigen Sprache zu bedienen weiß. Firmen wie die Post geben sich ein internationales Flair, indem sie beispielsweise ein Stadtgespräch „city call“ nennen. Auch die neuen Eliten aus der Mode- und Computerbranche grenzen sich mit ihren Anglizismen von den alten Eliten ab, die eher mit Latinismen einen Bildungsduktus zu verbreiten suchten. Sprache gehört insofern auch zu dem sozialen und kulturellen Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu, das ein Mensch sich aneignen kann. In der Nähe solcher Betrachtungen steht auch die linguistische Pragmatik, die Sprache unter dem Gesichtspunkt „Sprechen als Handeln“ betrachtet (loben, kritisieren, auffordern, bitten etc.) (siehe die Kapitel zu Wittgenstein, Bourdieu und Austin in Auer 1999 und Bublitz 2001).
Spracherwerb im dialogorientierten Modell Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein hat betont, dass unsere Kommunikation in Sprachspielen abläuft, d.h. in regelgeleiteten Zusammenhängen, in denen wir Rollen übernehmen und Absichten übermitteln. Vom ersten Tag an tritt der Mensch in Interaktion. Aus den Interaktionen und der Sozialität, die Kinder und Erwachsene miteinander praktizieren, werden zunehmend intramentale und sprachliche Fähigkeiten (Wygotski 1988; siehe Bruner 1983). Es gibt zwar eine genetische Ausstattung, die Sprechen ermöglicht, aber wie dieses ausgeübt wird und wie der Erwerb sich konkret vollzieht, hängt von Kontext und Kultur ab, in denen sich der Mensch bewegt und die Welt bewältigt. Die biologische Verankerung tritt immer mit dem gesellschaftlich-kulturellen Kontext in Kontakt. Spracherwerb ist in den aktiven Konstruktionsprozess der Erkenntnisstrukturen des Kindes eingebettet. Der Erwerb von Kommunikation ist von vorn herein mehr als Grammatikerwerb und Worterwerb. Denn kommunikative Kompetenz schließt ein, dass man sich in verschiedenen Situationen adäquat verhalten kann, Sprechaktivitäten in einem stilistischen Repertoire praktizieren kann, das Rederecht zu erobern und zu halten weiß, Menschen unterhalten kann, Beziehungen befriedigend mitgestalten kann. Es schließt Reflektionsvermögen ein und zunehmend auch die Fähigkeit zu expliziter Metakommunikation. Einen Großteil unserer kommunikativen Fähigkeiten erwerben wir integriert in soziale Praxis, ohne dass unser Bewusstsein dies als bewusstes Lernen abspeichern würde (learning by
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doing). Das Kind lernt, etwas zu sagen und zu meinen, weil es innerhalb eines Kontexts etwas erreichen will. Das zentrale Kriterium des Erfolgs ist somit die Effizienz des Erreichens, nicht irgendeine abstrakte Richtigkeit. Es arbeitet sich zu Mittel-Zweck-Strukturen vor. Hanus Papusek (siehe Klann-Delius 1999) hat gezeigt, dass bereits sechs Wochen alte Kinder durch Kopfdrehen gezielt Lichteffekte erzeugen können. Sie hatten sichtlich Freude an der erfolgreichen Vorannahme, dass der Lichteffekt durch das Kopfdrehen tatsächlich passieren würde. Jean Piaget (1923/1972; siehe Klann-Delius 1999) hat herausgearbeitet, dass das vorsprachliche Kind bereits diese Mittel-Zweck-Bereitschaft besitzt. Seine Kognition begleitet zielgerichtetes Handeln. Das Kind testet systematisch alles, was in seine Reichweite kommt: Draufhauen, in die Hand oder in den Mund nehmen; es probiert Bewegungen durch. Erst kommt Berührung, dann Betrachtung. Das Kind hat eine hohe Bereitschaft für Ordnung und für Abstraktion. Ich beziehe mich mit den folgenden Ausführungen weitgehend auf Bruner (1983). Der Spracherwerb beginnt, bevor das Kind lexiko-grammatische Äußerungen von sich gibt. Er beginnt, wenn Mutter und Kind vorhersagbare Situationen schaffen, in denen das Kind agieren kann, in denen also Strukturierung und Typisierung der Fall sind. Das Kind ist permanent dabei, Ordnung herzustellen. Nur Geordnetes ergibt Systematik und somit Orientierung. Kindliche Wahrnehmung ist kein Durcheinander. Nicht erst Sprache macht das Kind mit einem abstrakten Regelsystem bekannt, sondern schon vorher unterscheidet es zwischen Zuständen und Prozessen, zwischen punktuellen und wiederkehrenden Handlungen, zwischen ursächlichen und nichtursächlichen Vorgängen. Die Sprache dient dann dazu, Unterscheidungen, die es schon machen kann, zu unterstützen, auszubauen und auf andere Bereiche zu übertragen. Welterfahrung und Sprache werden verknüpft. Brown (1973; siehe Bruner 1983) hat gezeigt, dass mehr als drei Viertel aller sprachlichen Äußerungen des Kindes im Zwei-Wort-Stadium mit lediglich mit einem halben Dutzend semantischer Relationen auskommen: Aktor-Handlung, Handlung-Objekt, Aktor-Objekt, Besitz, Vorhandensein, Veränderung, Zustoßen. Die um Handlungen herum gruppierten Argumente stellen die Grundstrukturen von Sprache dar, proto-semantische Handlungskonzepte. Das Wissen ist vom Standpunkt des Kindes aus funktional organisiert. Zentrale Größen des Erwerbs sind Skripts für Ereignisstrukturen. Das Kind siedelt Aktoren, Objekte, Ursachen und auch zeitliche Abläufe innerhalb eines Skripts an. Dadurch ergeben sich syntagmatische Formate schon im Ein-Wort-Stadium. Kommunikative Absichten werden innerhalb eines Skripts realisiert. Interaktionisten verlassen sich zur Herleitung von Grammatiken kindlicher Sprachen nicht nur auf die tatsächlichen Sprachäußerungen des Kindes, sondern ziehen den gesamten Handlungskontext hinzu. Denn gerade die Kombination aller Elemente in strukturierten Situationen (sprachliches und nichtsprachliches) führt zur Kommunikationsfähigkeit. Kinder lernen, Sprechakte im Kontext zu verstehen. Roger Browns Studie (s. dazu Bruner 1983) zeigte, dass schon Zweijährige die Warum-Fragen von Müttern (Warum spielst Du mit dem Ball? Warum spielst Du nicht ein wenig mit dem Ball?) kontextadäquat mal als Frage und mal als Aufforderung interpretieren. Kinder entziffern Absichten, auch wenn diese nur subtil angezeigt werden. Sie bringen Äußerungen immer mit Kontexteinschätzung zusammen. Das gilt auch für Erwachsene. Die Sprechakte müssen zwischenmenschlichen Beziehungen im Kontext genügen. In der Alltagskommunikation ist der wechselseitige Umgang mit Sprechakten primär, nicht der Satz. Erwachsene sind normalerweise willige Sprechpartner/innen, die die Absicht des Kindes zu verstehen trachten und so seinen Spracherwerb fördern.
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Sprache und Sprechen
Spracherwerb ist in Kommunikation eingebettet. Leitfragen einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Spracherwerbsforschung sind: > Wie arrangiert die Sprachgemeinschaft die Gesprächssituation mit kleinen Kindern? > Wie lernen Kinder, eigene Absichten deutlich zu machen? > Wie lernen sie, diejenigen von anderen zu verstehen? > Wie wird die eigene Kommunikationsabsicht nach und nach in immer wirkungsvollere sprachliche Verfahren umgewandelt? > Wie entsteht durch Sprache zunehmende Situationsentlastung? Entsprechendes lässt sich auf die Kommunikation unter Erwachsenen übertragen. Sie verfügen über eine situationsentlastete Sprache oder gar mehrere und die meisten verfügen auch über das Distanzmedium der Schrift.
Bedeutung In den soziologischen und interaktionslinguistischen Sprachtheorien wird der Sprecher nicht als einzige Instanz gesehen, die nach eigenen Intentionen einen Sprechakt entfaltet, sondern die Art der Hörerbeteiligung ist von vorn herein auch konstitutiv dafür, welche Aktivität im Kontext entsteht. Dies wurde vor allem von Konversationsanalytikern wie Harvey Sacks immer wieder betont. Im Unterschied dazu funktioniert nach John Lyons (1977) und einigen anderen Semantikern Bedeutung als mentale Repräsentation. Die physikalische Form von Zeichen, z.B. Lautketten, rufen ein Konzept hervor, „ideas, thoughts or mental constructs by means of which the mind apprehends or comes to know things“ (Lyons 1977: 110). Für jeden, der die Zeichen kennt, rufen sie eine Idee hervor, eine mentale Repräsentation. Dieser Position nach gibt es eine außersprachliche Wirklichkeit, die die Quelle unserer Wahrnehmung ist und im Geist mittels Konzepten repräsentiert wird. Hier wird von der Dichotomie einer mentalen, internalisierten Bedeutung ausgegangen und externen Signalen. Aber was stiftet die Verbindung zwischen dem Internen und dem Externen? Wie können wir die öffentliche, konventionelle Bedeutung aus der individuellen, mentalen Erfahrung ableiten? Wie kommt also Bedeutung als eine geteilte, soziale Bedeutung zustande? Sprache und Kontext stehen einander nicht gegenüber, sondern Sprache und Sprechen sind an der Kontextherstellung und der Herstellung von Bedeutung beteiligt (dazu grundlegend John J. Gumperz; siehe das entsprechende Kapitel in Auer 1999). Selbstverständlich kann man lexikalische Bedeutung beschreiben und so meinetwegen die Substantive „Tasse“ und „Sofa“ voneinander unterscheiden. Bedeutung ist aber komplexer; z.B. gibt es Polysemie. Betrachten wir die Präposition „in“ mit folgenden Verwendungen: „Wir treffen uns in der Stadt.“ „Wir treffen uns in zwei Tagen.“ Wir haben hier eine Verbindung zwischen einer konkreten, lokalen Vorstellung und einer abstrakteren, zeitlichen Vorstellung. Linguisten wie George P. Lakoff und Mark Johnson (1987/ 2004) können zeigen, dass solche Metaphorisierungen sich in der Sprache ständig abspielen. Wir merken nicht unbedingt, dass das Verb feststellen zunächst einmal die Lesart hat, eine Sache unbeweglich zu platzieren. Wenn man sich fragt, welche Ausdrücke synonym sind, merkt man schnell, dass es neben der Referenz immer noch um ganz andere Bedeutungsschichten
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geht. „Sterben“, „abkratzen“ und „verscheiden“ beziehen sich zwar auf den gleichen Vorgang, kreieren dafür aber einen anderen Rahmen. Das stilistisch sehr gehobene „verscheiden“ begegnet uns z.B. in formellen Todesanzeigen, „abkratzen“ benutzen wir auch, wenn es nicht ernst war („Ich bin fast abgekratzt“ als Kommentar dazu, wie schwer eine Bergbesteigung war). Schließlich und endlich sprechen wir ja nicht mit isolierten Wörtern, sondern mit Äußerungen; und eine Äußerungsbedeutung will immer erschlossen werden. „Die Äußerungsbedeutung wird vom Verstehenden nicht “vorgefunden", sondern (nach den sprachlichen Instruktionen des Sprechers und anderen Vorgaben) in einem eigenen schöpferischen Akt konstruiert" (Bublitz 2001: 41). In dieser Sicht begegnen sich linguistische Pragmatik und soziologische Sprachtheorie. Ob die Frage „Ist die Zeitung noch unten?“ eine einfache Informationsfrage ist oder ob sie die Aufforderung darstellt, die Zeitung hoch zu holen oder ob sie gar eine Kritik daran darstellt, dass die Zeitung noch immer nicht auf dem Tisch liegt, das kann geklärt werden durch Prosodie (Lautstärke, Rhythmus, Intonation, Tempo), Gestik und Mimik. Wir nennen solche Verfahren mit Gumperz (siehe das Kapitel über Gumperz in Auer 1999) Kontextualisierungshinweise. Aber beim Verstehen spielt immer auch die Beziehungen und die eigene Interaktionsgeschichte eine Rolle. Jemand, die oder der in seiner Kindheit oft indirekt kritisiert wurde, ist eher geneigt, die Frage als Kritik zu interpretieren. Kommen die Worte aus dem Munde eines als autoritär bekannten Chefs, neigen wir wahrscheinlich zur Interpretation „Aufforderung“. Sagt dann der Angestellte: „Ich hole sie,“ kann der Chef mit einem „lassen Sie mal. Ich kann sie ja nachher mit hoch nehmen“ die Lesart der Aufforderung wieder zurückweisen. Nicht umsonst analysiert die Konversationsanalyse (siehe dazu das Kapitel über Harvey Sacks in Auer 1999) Sequenzen und keine Einzelakte. Mit Ragnar Rommetveit sehen wir Vagheit, Ambiguität und Unvollständigkeit als inhärente Charakteristika natürlicher Sprachen. Wenn man von der Multifunktionalität von Äußerungen ausgeht, so leuchtet gleichfalls ein, dass nicht in jedem Kontext alle Funktionen einer Äußerungen gleichermaßen evident sind. Die Interagierenden müssen in ihrer Funktionenzuordnung nicht immer übereinstimmen.
Literatur Auer, Peter (1999): Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. Tübingen. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1966/2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. Bruner, Jerome (1983/1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern. Bublitz, Wolfram (2001): Englische Pragmatik. Eine Einführung. Berlin. Chomsky, Noam (1969): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt/M. Klann-Delius, Gisela (1999): Spracherwerb. Stuttgart. Lakoff, George/Johnson, Mark (1987/2004): Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg. Linell, Per (1998): Approaching Dialogue. Talk, interaction and contexts in dialogical perspectives. Amsterdam.
Subjekt, Subjektivität und Subjektivierung
Marcus Emmerich, Albert Scherr Für pädagogische Bildungstheorien ist die Idee von zentraler Bedeutung, dass Individuen zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebenspraxis auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zwängen, Normen und Werten befähigt werden sollen. Entsprechend wird die „Bildung zum Subjekt“ als Zielsetzung pädagogischer Praxis gefasst. Dabei steht „der Subjektbegriff als Chiffre für freiheitliches Fühlen, Denken, Wollen und Handeln, selbständige Entscheidungen“, „für Widerständigkeit, Selbstbewusstheit und die weitgehend selbstbestimmte Verfügung über Lebensaktivitäten“ (Meueler 1993: 8). Als Subjektbildung wird dabei ein Prozess beschrieben, in dem Individuen sich auch damit auseinandersetzen, dass nur ein „selbstbeherrschtes, funktionstüchtig der Stärke, Härte und Kälte“ fähiges Individuum in der Lage ist, gesellschaftlichen Erfordernissen gerecht zu werden (Vogel 1992: 33). Eine Pädagogik, deren Zielsetzung und Leitmotiv die Ermöglichung einer selbstbestimmungsfähigen, vernunftorientierten und moralisch urteilsfähigen Subjektivität ist, knüpft an die Überzeugung an, dass die politische Ordnung nicht nur ein Zusammenleben freier und mündiger Bürger ermöglichen soll, sondern dass selbstbestimmungsfähige Staatsbürger selbst eine wesentliche Voraussetzung für eine auf dem Postulat der Freiheit und Gleichheit der Bürger und der Achtung grundlegender Menschenrechte basierenden demokratischen Ordnung sind. Nicht zuletzt aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Verstrickung der Pädagogik in das nationalsozialistische Herrschaftssystem wurde deshalb die Abkehr von einer Pädagogik der Ein- und Unterordnung und eine Orientierung an einer „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno 1970) eingefordert, deren Kernelement die Befähigung zur kritischen Selbstreflexion sein soll. In seinem in der kritischen Pädagogik einflussreichen Text „Erziehung nach Auschwitz“ formulierte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantschen Ausdruck verwenden darf, die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (ebd.: 93). Damit wendet er sich zugleich gegen die Annahme, dass der Appell an moralische Werte und Mitgefühl ein Grundmotiv kritischer Pädagogik sein kann. Vielmehr wird eine Auseinandersetzung damit eingefordert, dass die „Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt (...) auf der Verfolgung des eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen“ beruht (ebd.). Die in dieser Tradition der Kritischen Theorie geprägten und einflussreichen Begriffe Subjekt und Subjektivität enthalten somit die Prämisse, dass Individuen ein distanziertes oder kritisches Verhältnis zu sozialen Zwängen, Normen und Werten einnehmen können. In Subjekttheorien wird also angenommen, dass Individuen nicht nur Marionetten an den Fäden der sozialen Verhältnisse sind, sondern ein sozial nicht determiniertes Selbstverständnis, ein in der kritischen Überprüfung von Dogmen und Ideologien fundiertes Verständnis der sozialen Wirklichkeit sowie Selbstbestimmungsfähigkeit gegenüber sozialen Vorgaben (Traditionen, Konventionen, Normen, Werten) und Zwängen entwickeln können.
Subjekt, Subjektivität und Subjektivierung
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Gemeint ist damit jedoch nicht, dass die Subjektivität des Individuums eine naturgegebene Tatsache ist. Soziologische Subjekttheorien gehen vielmehr in unterschiedlicher Weise der Frage nach, welche Art von „Individualität“ bzw. welche „Formen von Subjektivität“ (Foucault 2005: 280) durch jeweilige soziale Bedingungen hervorgebracht oder ermöglicht, ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Dies schließt einerseits die Untersuchung von Formen der Selbstbeziehung – z.B. der geschlechtsbezogenen Identifikation und der sexuellen Orientierung – ein, die als Effekte sozialer Machtverhältnisse beschrieben werden können; andererseits die Untersuchungen von Formen des unangepassten Verhaltens und des Widerstands gegen Machtverhältnisse, die auf die Ermöglichung von „Praktiken der Freiheit“ (Foucault 2005: 877) gegenüber gesellschaftlichen Normierungen und Formierungen der eigenen Subjektivität zielen. Trotz aller Gründe, die unter ethischen Gesichtspunkten dafür sprechen, eine am Ziel der Subjektbildung orientierte Pädagogik einer solchen vorzuziehen, die auf die Erzeugung sozialer Anpassungsfähigkeit und von Unterordnungsbereitschaft ausgerichtet ist, ist eine normative Beanspruchung der Begriffe Subjekt und Subjektivität keineswegs unproblematisch. Denn es sind in einer soziologischen Perspektive, die auf die Beschreibung und Analyse von gesellschaftlichen Prozessen zielt, zumindest drei Problematiken in Rechnung zu stellen: (1) Autonomie, Mündigkeit, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungsfähigkeit können nicht als ahistorisch gültige und prinzipiell unstrittige Werte oder Normen aufgefasst werden. Es handelt sich vielmehr um Ideen, die einen bestimmten historischen Entstehungszusammenhang haben und deren Bedeutung davon nicht unabhängig ist: Sie wurden zunächst – durchaus in Anknüpfung an historisch ältere religiöse und philosophische Traditionen – im geistesgeschichtlichen Kontext der europäischen Aufklärung formuliert. Sie stehen in einem sozialhistorischen Zusammenhang mit den Bestrebungen des Bürgertums, die Idee einer Gesellschaft freier und gleicher Individuen gegen die ständische Ungleichheits- und Herrschaftsordnung durchzusetzen. Dabei nahm die Idee des autonomen Vernunftsubjekts historisch zunächst allein die männlichen Besitzbürger in den Blick: Frauen, Kindern, Kolonisierten und Lohnarbeitern gegenüber wurde die Möglichkeit und Berechtigung zur Selbstbestimmung weitgehend bestritten. Insbesondere die feministische Kritik hat gezeigt, dass die Idee des autonomen, von anderen unabhängigen und rational handelnden Subjekts auf eine patriarchale gesellschaftliche Machtposition bezogen ist, deren Verkörperung der physisch wie psychisch gesunde, wirtschaftlich unabhängige erwachsene weiße Mann ist. Ein solches Subjektverständnis blendet die zu Grunde liegen Herrschaftsverhältnisse und Abhängigkeiten aus und unterstellt, dass die als männlich verstandene Vernunft wertvoller sei als die als weiblich verstandene Fürsorge, geistige Arbeit höherwertig gegenüber der körperlichen Arbeit usw. (2) Subjekttheorien enthalten immer auch einen expliziten oder impliziten Bezug auf eine Theorie von Gesellschaft. So wird das normative Leitbild des selbstbewussten und selbstbestimmungsfähigen Subjekts der Aufklärung explizit in Zusammenhang mit der Annahme formuliert, dass die moderne Gesellschaft als ein liberal-demokratischer, vertraglich verfasster und rechtlich geregelter Zusammenschluss freier Bürger verstanden werden kann. Diesbezüglich stellt sich jedoch die Frage, ob und wie autonome Subjektivität unter den Bedingungen einer sozialen Wirklichkeit möglich ist, die keineswegs als freiwilliger Zusammenschluss voneinander unabhängiger Individuen aufgefasst werden kann: Ist die Idee einer selbstbewussten und selbstbestimmten Lebenspraxis einer sozialen Wirklichkeit angemessen, die durch ökonomische und rechtliche Zwänge sowie politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse gekenn-
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zeichnet ist, oder bringt sie ein illusionäres Verständnis der gesellschaftlichen Realität zum Ausdruck? (3) Subjektivität kann nicht als ein vorsozial gegebenes Attribut des einzelnen Menschen verstanden werden. Vom Subjekt kann sinnvoll nur gesprochen werden unter Berücksichtigung > der sozialen Bedingungen, die Bildungsprozesse zum Subjekt (in einem normativen Sinne des Subjektbegriffs) ermöglichen sowie > der sozialen Machtverhältnisse, die legitime und erwünschte Subjektivitätsformen hervorbringen, indem andere als unerwünscht ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden. Damit sind zwei deutlich zu unterscheidende sozialtheoretische Herangehensweisen an das Problem der Subjektivität angesprochen: Zum einen die Bestimmung derjenigen sozialen Bedingungen und Beziehungen, die idealiter dazu beitragen, dass Individuen sich selbst als Akteure ihrer Lebenspraxis begreifen können, die in der Lage sind, unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und zwischen diesen begründete Entscheidungen zu treffen; zum anderen die soziohistorische Analyse der sozialen Verhältnisse und Strukturen, in denen Subjektivität als ein Selbstverhältnis in Erscheinung tritt, das sich entlang einschränkender und ausgrenzender sozialer Praktiken und Diskurse konstituiert, durch die gesellschaftlich das vernünftige vom wahnsinnigen, das gesunde vom kranken, das normale vom pathologischen Subjekt unterschieden wird. Für eine genuin soziologische Perspektive ist in diesem Zusammenhang zunächst charakteristisch, dass sie im Hinblick auf Subjektbildungsprozesse von einem Primat des Sozialen ausgeht, d.h. von der Annahme einer Vorrangigkeit sozialer Faktoren. Die Entwicklung der unterschiedlichen Aspekte der Selbstbeziehungen des Individuums (des Verhältnisses zum eigenen Körper, des Wissens über eigene Bedürfnisse und Fähigkeiten, des Selbstwertgefühls, des bewussten Selbstverständnis der eigenen Besonderheiten und Eigenschaften) wird also nicht als ein Prozess der Entfaltung natürlicher Anlagen betrachtet, der durch Umweltbedingungen beeinflusst wird. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Subjektivität des Individuums grundlegend in sozialen Beziehungen entsteht. Zur Verdeutlichung: Nur in sozialen Zusammenhängen können Individuen eine Sprache und damit die Möglichkeit erwerben, ein bewusstes, auf Sprache voraussetzendes Denken beruhendes Verhältnis zu sich selbst einzunehmen. Mit dem Spracherwerb werden zudem Kategorien erworben, mit denen eigene Eigenschaften benannt, unterschieden und bewertet werden. Sozialität und Subjektivität sind so betrachtet kein Gegensatz, sondern in sozialen Zusammenhängen werden bestimmte Formen von Individualität und Subjektivität hervorgebracht (s. dazu grundlegend: Habermas 1988). Theorien sozialer Anerkennung argumentieren im Hinblick auf die Entstehung von Selbstachtung, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit, dass hierfür soziale Beziehungen, in denen Individuen sich wechselseitig als bedürftige, eigensinnige und eigenständige Subjekte wahrnehmen und wertschätzen von zentraler Bedeutung sind (s. Honneth 2003). Insbesondere in Hinblick auf die Entstehung von Selbstbewusstsein, Sprach- und Handlungsfähigkeit in Sozialisationsprozessen wird argumentiert, dass Anerkennungsbeziehungen unverzichtbar sind. So ist es bereits eine der Bedingungen des Spracherwerbs, dass Kinder in sprachliche Kommunikationen einbezogen werden, was jedoch voraussetzt, dass sie als potentiell sprachfähige Subjekte bereits zu einem Zeitpunkt anerkannt werden, zu dem sie zu verständlichen sprachlichen Äußerungen noch nicht in der Lage sind. Eine Grundlage von Theorien der Anerkennung sind Theorien sozialer Interaktion, die in Anschluss an George Herbert Mead (1934/1968) davon ausgehen, dass das Wissen über eigene Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten durch Erfahrungen in der Kommunikation
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und Kooperation mit bedeutsamen Bezugspersonen entsteht. Das Selbst (die „Identität“) des Individuums entwickelt sich Mead zufolge durch die Aneignung von sozialen Eigenschaftszuschreibungen und Erwartungen: Was Individuen sind, erfahren sie in der in der Auseinandersetzung mit dem, was andere über sie denken; was sie wollen, in der Auseinandersetzung mit Interpretationen und Bewertungen eigener Bedürfnisse durch bedeutsame Andere.
Gesellschaftliche Formierungen von Subjektivität Im Unterschied zu solchen Theorien, die der Frage nachgehen, wie Subjektivität (im Sinne selbstbestimmter Handlungsfähigkeit) sozial ermöglicht wird, richten stärker gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Untersuchungen ihr Interesse auf die sozialen Einschränkungen und Festlegungen von Subjektivität (im Sinne der erwünschten bzw. als zulässig betrachteten Eigenschaften und Handlungsweisen von Individuen). Im Weiteren werden einige Aspekte der einschlägigen Analysen in der Absicht skizziert aufzuzeigen, dass die Idee des autonomen Subjekts keineswegs als unproblematische Grundlage sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Theorien beansprucht werden kann. Einleitend haben wir bereits darauf hingewiesen, dass die Formulierung des Subjektbegriffs historisch in Zusammenhang mit einem Vertragsmodell der gesellschaftlichen Ordnung steht. Dieses geht davon aus, dass die soziale Ordnung auf einem „Gesellschaftsvertrag“ gründet, den die Individuen eingehen, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Sie verständigen sich demnach auf Regeln, die ihnen ihre individuellen Freiheitsrechte garantieren. Dieses Vertragsmodell und die daraus abgeleitete Prämisse einer vorsozialen subjektiven Autonomie und Willensfreiheit sind grundlegend kritisiert worden. Die einschlägige Kritik bei Karl Marx macht geltend, dass Vergesellschaftung nicht als ein freiwilliger Zusammenschluss voneinander prinzipiell unabhängiger Individuen verstanden werden kann, sondern aus den Notwendigkeiten der ökonomischen und biologischen Reproduktion bzw. generell aus dem Angewiesensein auf soziale Beziehungen resultiert. Vor diesem Hintergrund wird gefordert, nicht von abstrakten Annahmen über das Individuum auszugehen, sondern die „wirklichen lebendigen Individuen“ im Kontext ihrer ökonomischen, politischen und sexuellen Beziehungen empirisch in den Blick zu nehmen. Daran anschließend wurden in der Soziologie Varianten von Subjekttheorien formuliert, die die Bestimmtheit der Einzelnen durch ihre gesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere durch die ungleichen Lebensbedingungen sozialer Klassen, ins Zentrum stellen und damit die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung in einer durch sozioökonomische Ungleichheiten und politische Herrschaftsverhältnisse charakterisierten Gesellschaft hinterfragen (s. Ritsert 2001). Die neuere soziologische Subjekttheorie hat durch die Arbeiten des französischen Sozialphilosophen und Sozialhistorikers Michel Foucault (Foucault 2005) wichtige Impulse erhalten. Auch in Foucaults Arbeiten wird von einem Primat der sozialen Bedingungen von Subjektivität ausgegangen. In materialreichen Studien zeichnet Foucault u.a. nach, dass die gesellschaftliche Durchsetzung der Idee des autonom und rational handelnden Subjekts keineswegs unproblematisch ist und deshalb auch nicht problemlos als normativer Bezugspunkt einer Kritik von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beansprucht werden kann. Foucault zeigt auf, dass die gesellschaftliche Privilegierung des rational handelnden Subjekts auf der gleichzeitigen Ausschließung all derjenigen Individuen und Praktiken basierte, die, wie etwa der „Wahnsinn“, nicht den Kriterien des Vernünftigen und einer vernunftorientierten Moral entspre-
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chen. Mit der psychiatrischen Praxis des Einsperrens von sog. „Geisteskranken“ in geschlossenen Anstalten wurden als amoralisch (und nicht vernunftfähig) betrachtete Individuen pathologisiert; im Nationalsozialismus wurden Zwangssterilisationen mit der Diagnose „moralischer Schwachsinn“ legitimiert. Foucault radikalisiert die Kritik an einer positiven Bezugnahme auf den Subjektbegriff in den Sozial- und Humanwissenschaften insofern, als seine Analysen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ausgehen, denen sich das Subjekt nicht nur in seinem Bewusstsein oder in Bezug auf Werte und Normen, sondern selbst noch in seiner Körperlichkeit unwillkürlich anzupassen hat. Insbesondere in Foucaults Untersuchung der Bedingungen, die die moderne Vorstellung von einer individuellen und emanzipierten Sexualität hervorbrachten, wird die Anlage seiner Kritik deutlich: Die sog. sexuelle Befreiung der Subjekte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat das Individuum Foucault zufolge nicht aus den gesellschaftlichen Zwängen der viktorianischen Ära befreit, sondern neue und effektivere Formen der Selbstunterwerfung noch inmitten der Intimsphäre geschaffen: Nicht die Unterdrückung von vermeintlich natürlichen sexuellen Bedürfnissen ist demnach der Modus gesellschaftlicher Einflussnahme, sondern die Durchsetzung der Vorstellung, dass bestimmte Formen von Sexualität von hoher Bedeutung für die individuelle Selbstverwirklichung und Ausdruck der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen seien. Eine andere Problematik des Subjektbegriffs wird in der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds (Freud 1900/1999) deutlich. Freud stellt die Idee der Aufklärung, dass Subjektivität, Rationalität und Selbstbewusstsein weitgehend identisch seien, grundlegend in Frage. Das Ich – der dem Bewusstsein zugängliche Teil der Psyche – sei, so Freud, nicht „Herr im eigenen Haus“: Das Denken und Handeln des Subjekts werde maßgeblich von seinen unbewussten sexuellen Wünschen beeinflusst, die in der Regel jedoch sozial tabuisiert und individuell verdrängt werden. Die Individuen sind nach Freud unbewussten Antrieben unterworfen, die sie selbst nicht erkennen und steuern können. Die Freud’sche Theorie verwirft die Annahme des sich selbst durchsichtigen, rational handelnden Subjekts zugunsten einer Beschreibung der bewusstseinsfremden Kräfte, die das Individuum psychisch hervorbringen und ohne die es nicht existieren würde. Das aktuelle (Selbst-)Erleben des Subjekts innerhalb seiner sozialen und materiellen Umwelt ist nach Freud vor allem durch lebensgeschichtliche Ereignisse aus der infantilen Phase vorstrukturiert. Die Freudsche Theorie hat die soziologischen Arbeiten der so genannten Kritischen Theorie beeinflusst, der Autoren wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und Herbert Marcuse zuzurechnen sind.
Subjektivität als pädagogische Norm? Soziologische Studien zur Lebensführung unter Bedingungen von Armut und sozialer Deklassierung haben aufgezeigt, dass soziale und ökonomische Verhältnisse, die mit sozialer Randständigkeit und einer grundlegenden Unsicherheit der Zukunftsperspektive einhergehen, dazu führen können, dass Bemühungen um eine rationale Gestaltung des Alltags und einer Entwicklung biografischer Zukunftsperspektiven die Grundlage entzogen wird. So argumentieren Francois Dubet und Didier Lapeyronnie (1994: 122) in Bezug auf die Situation sozial deklassierter Jugendlicher in französischen Vorstadtsiedlungen: „Die Zerstörung von sozialen Formen samt der entsprechenden Handlungslogiken lässt die Handelnden und ihre Subjektivität nicht unberührt. Wenn ein Erfahrungszusammenhang so zersplittert und heterogen ist ... bedroht (er) das mehr oder weniger deutliche Bewusstsein, ein
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eigenes Leben zu führen, sowie die Möglichkeit, jenseits erfahrener Zwänge ,Ich‘ sagen zu können.“ Damit wird in anschaulicher Weise darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, sich selbst als verantwortlicher Akteur der eigenen Praxis zu erleben, der mit guten Gründen und unter Abwägungen der Folgen eigenen Handelns entscheidet, soziale Voraussetzungen hat. Wird demgegenüber das Ideal des rational handelnden Subjekts als unabhängig von jeweiligen sozialen Kontexten selbstverständlich anzunehmende Realität und als erwartbare Normalität gefasst, dann können Handlungen, die sich nicht in dieses Bild integrieren lassen, als Folge eines individuellen Defizits – etwa als mangelnde Sozialkompetenz – erscheinen. Was sich jedoch jeweils – auch in der pädagogischen Interaktion – für Individuen als sinnvolles oder rationales Handeln darstellt, ist nicht unabhängig davon, wie von den beteiligten Akteuren eine soziale Situation vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Erfahrungen und ihrer jeweils aktuellen Lebenssituation interpretiert wird. Es wird immer wieder übersehen, dass das, was für PädagogInnen vernünftig ist, sich aus der lebenspraktischen Sicht ihrer Adressaten keineswegs in gleichem Maße als möglich, sinnvoll oder angemessen darstellen kann. Eine Selbstdisziplinierung im Schulalltag etwa wird nur dann als sinnvoll erscheinen, wenn das Versprechen der Schule, für die eigene Lebensführung und insbesondere die eigene berufliche Zukunft relevantes Wissen zu vermitteln, vor dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation nachvollziehbar bleibt. Und das bedeutet nicht zuletzt: Wenn sich aufgrund der sozialstrukturellen und familialen Lebensrealität die Chance arbeitslos zu werden oder auf unqualifizierte und temporäre Beschäftigungsverhältnisse verwiesen zu werden als sehr groß darstellt, dann kann es subjektiv als inadäquat erscheinen, sich den Zumutungen schulischen Lernens zu unterwerfen. In einer soziologischen Perspektive ist es deshalb erforderlich, zunächst dysfunktional und irrational erscheinende Handlungen nicht einfach als einen Ausdruck fehlender Kompetenzen zu interpretieren, sondern nach dem „sozialen Sinn“ (Bourdieu 1987) solcher Handlungen zu fragen. Damit gemeint sind Praktiken und Strategien zur Bewältigung der eigenen Lebenssituation, so wie sie vor dem Hintergrund sozial typischer Erfahrungen und Sichtweisen erlebt und wahrgenommen wird. Soziologie fordert in diesem Sinne dazu auf, die sozialen Bedingungen zu verstehen, unter denen sich auch solche Handlungen als subjektiv sinnvoll darstellen können, die auf den ersten Blick irrational zu sein scheinen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Frankfurt/M. Dubet, François/Lapeyronnie, Didier (1994): Im Aus der Vorstädte. Stuttgart. Foucault, Michel (2005): Schriften in vier Bänden. Band IV. Frankfurt/M. Freud, Sigmund (1900/1999): Die Traumdeutung. In: Gesammelte Werke II/III. Frankfurt/M. Habermas, Jürgen (1988): Individuierung durch Vergesellschaftung. In: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt/M., S. 187–241. Honneth, Axel (2003): Kampf um Anerkennung. Frankfurt/M. Mead, George Herbert (1934/1968): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. Meueler, Erhard (1993): Die Türen des Käfigs. Stuttgart. Ritsert, Jürgen (2001): Soziologie des Individuums. Frankfurt/M. Vogel, Martin Rudolf (1992): Bildung zum Subjekt – Selbst und gesellschaftliche Form. In: Grubauer, Franz u.a. (Hg.): Subjektivität – Bildung – Reproduktion. Weinheim, S. 10–40.
Theorien und Praxis
Katharina Liebsch „Im Allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Tatsache des ersteren ist auch stets der Klarheit über das Letztere vorausgegangen“ (Georg Simmel 1890/1989: 115). Der zitierte Ausspruch des soziologischen „Klassikers“ Georg Simmel verweist auf den alltäglichen Handlungsdruck und die Erfahrung, dass ein Nachdenken über Handlungsalternativen meist zeitversetzt einsetzt, z.B. bei Störungen, Schwierigkeiten und Unterbrechungen von Handlungsroutinen. Dieses Verhältnis umzukehren bzw. das Nachdenken als das Handeln begleitende Praxis zu etablieren, ist aufgrund der Dominanz von Routinen im alltäglichen Handeln ein schwieriges Unterfangen. Da es aber immer wieder Anlässe gibt, neues Wissen aufzunehmen und über Umwelt und Alltag nachzudenken, ist es unerlässlich, dafür Räume und Situationen zu haben. Institutionell verankert wurden zu diesem Zwecke zum Beispiel Einrichtungen der Aus-/Fort- und Weiterbildung. Sie dienen der Überprüfung von Routinen und organisatorischer Festlegungen, der Aufnahme neuen Wissens sowie der Klärung des beruflichen Selbstverständnisses. Sie sind von den alltäglichen Handlungsanforderungen entlastet und gerade dafür zuständig, einen Raum für Wissen und Nachdenken bereit zu stellen. Denn Prozesse von Wissensaneignung und Reflexion haben eine andere Qualität und Logik als das gewöhnliche Alltagshandeln. Sie sind träger, zäher, langsamer und lassen sich nicht reibungslos in den Trubel des Alltags integrieren. Nicht zuletzt führt dieser grundlegende Unterschied dazu, dass die Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Können und Reflexion ein Dauerbrenner aller Bildungsdebatten und Ausbildungsfragen ist. Auch bei der Begründung und Legitimation jeder Reform von Studiengängen, Lehrplänen, Bildungseinrichtungen sowie in Debatten um professionelle Selbstverständnisse spielt dieses Thema immer eine Rolle.
Welches Wissen? Welche Praxis? Wissen und Praxis bzw. Theorie und Praxis werden häufig als ein Gegensatz verstanden, bis hin zur der Zuspitzung, dass Theoretiker als tendenziell unfähig zu praktisch erfolgreichem Handeln gelten. Diese Entgegensetzung ist jedoch problematisch. Denn praktisches Handeln ist immer auch wissensbasiert: Es beruht auf mehr oder weniger gut begründeten Annahmen über die Eigenschaften der Wirklichkeit, Annahmen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, Vorstellungen darüber, was erreicht werden kann und soll. Ohne ein Verfügungswissen – d.h. ein positives Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel – sowie ohne ein Orientierungswissen – d.h. ein normatives Wissens um (begründete) Ziele und Zwecke – ist gerade pädagogisches und sozialarbeiterisches Handeln nicht denkbar.
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Der Zusammenhang von Wissen und Handeln wird in Abgrenzung gegen die Konstruktion eines unaufhebbaren Gegensatzes von Wissen und Handeln im Begriff der Praxis akzentuiert. Dieser basiert auf der auf Aristoteles zurückgehenden Unterscheidung selbstzweckhafter menschlicher Tätigkeiten (praxis) von zweckgerichteter Arbeit (poiesis). Im aristotelischen Denken ist „Arbeit“ ein Mittel zur Erreichung von äußerlichen Zwecken und dieses Tun wird durch ein Fachwissen (techne) geleitet. Für das Handeln als „praxis“ ist im Denken Aristoteles’ entscheidend, dass die Praxis um ihrer selbst willen ausgeführt wird. Sie ist reine Bewegung und Tätigkeit (energeia), zielt nicht auf die Herstellung eines Produkts und gelingt aufgrund der Klugheit (phronesis) des Handelnden. Obwohl unser heutiges Verständnis von „Praxis“ meistens ein berufliches Handeln meint, bringt die aristotelische Unterscheidung von Arbeit und Handeln doch zweierlei in Erinnerung: Auch Handeln kann zweckfrei sein. Und: Jede Tätigkeit ist mit Wissen verbunden.
Zum Theorie-Praxis-Verhältnis in pädagogischen Ausbildungsgängen In 1970er Jahren setzten Diskussionen über Anforderungen und Qualifikationen für pädagogische Berufe ein. Unter der Maßgabe, die Bildungsberufe zu modernisieren und zu professionalisieren, wurde die Lehramtsausbildung an die Universitäten verlagert und an neu gegründeten Fachhochschulen wurden Studiengänge der Sozialarbeit und Sozialpädagogik eingerichtet. Die Ausbildung im Bereich Soziale Arbeit/Sozialpädagogik verfolgt das Ziel, wissenschaftlich ausgebildete Praktiker hervorzubringen, die berufliche Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlichen Wissens treffen. Dies hat zur Verbreitung eines Theorie-Verständnisses beigetragen, welches die Theorie an ihrer praktischen Nützlichkeit misst. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass dieses Handeln dem Alltagshandeln bzw. einer Orientierung an nicht-wissenschaftlichen pädagogischen Traditionslinien überlegen ist. Diese Annahme ist insofern problematisch, wie damit nicht-wissenschaftliches Wissen, wie z.B. berufskulturell tradiertes Wissen, tendenziell abgewertet wird und zugleich der Nachweis der verbessernden Wirkung der Einführung des wissenschaftlichen Wissens in die Ausbildung nicht erbracht worden ist. Folglich gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Debatten um die Frage nach einer angemessenen Theorie pädagogischen Handels. Seit den 1990er Jahren werden verstärkt Handlungsprobleme der sozialarbeiterischen Praxis vor dem Hintergrund des Theorie-PraxisProblems betrachtet und zum Bezugspunkt des Selbstverständnisses sozialer Arbeit gemacht. Heute dominiert in dieser Debatte die Vorstellung, dass im professionellen sozialarbeiterischen Handeln allgemeines Regelwissen und individuelles Fallverstehen im Prozess der Bearbeitung von konkreten Problemlagen zusammengebracht werden sollen. Mit der Idee einer „stellvertretenden Deutung von Problemlagen“ wird betont, dass neben dem Erwerb wissenschaftlichen Wissens auch die Fähigkeit, dieses Wissen angemessen und in Bezug auf den konkreten Fall zu verwenden, zum Bestandteil der Ausbildung gemacht werden soll. Dass damit nicht ein Verständnis des Studiums als Erlernen von anwendungsrelevanten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung gemeint sein kann, liegt auf der Hand. Es ist vielmehr erforderlich, wissenschaftliches Denken und Forschen als Verfahren zu lernen und ihren Gebrauch einzuüben. Erst im Prozess dieses Einübens können Theorien und Forschungsmethoden als Denkwerkzeuge angewendet und erfahren werden, die es erlauben, besser zu verstehen, genauer zu
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beobachten und stringenter zu planen, als es mit dem Alltagswissen möglich ist (Dewe/Ferchhoff/Scherr/Stüwe 2001). Auch in der Lehramtsausbildung ist die Relevanz eines „Praxisbezugs“ als Norm der Lehrerbildung „auf merkwürdige Weise unstrittig“ (Oelkers 1999: 69). Auch hier fehlen bis heute aussagekräftige Wirksamkeitsstudien. Zudem werden weder der Begriff des „Praxisbezugs“ noch dessen Sinn und Nutzen ausreichend präzisiert und begründet (Bommes/Radtke/Webers 1999). Eine Befragung aller Studierenden, die im Sommersemester 2004 an der PH Weingarten ein wöchentlich stattfindendes „Tagespraktikum“ absolvierten, gibt hier Aufschluss. Die Befragung zeigt die hohe Erwartung der Studierenden in drei zentralen Bereichen. Die Studierenden erhofften sich > eine Selbstvergewisserung (selbst ausprobieren, Überprüfung des Berufswunsch, Kontaktaufnahme zu Schülerinnen und Schülern), > Praxiskontake und Handlungserfahrungen (Umgang mit den Schülerinnen und Schülern, Unterrichtsfertigkeiten erlernen, Bewertungskompetenzen erwerben, Wahrnehmung und Gestaltung von Atmosphäre) sowie > die Reflexion von Unterricht, zu der die Beobachtung von Unterricht wie auch die Theorie-Praxis-Verknüpfung gehört (Kucharz/Liebsch et al. 2004). Dies macht deutlich, dass es im Praxisbezug darum gehen sollte, Arrangements zu organisieren, in denen „Unerfahrene ihren Handlungserfahrungen reflektierend Bedeutung abgewinnen können“ (Kolbe 1997:135). Häufig, das zeigt auch die oben genannte Erhebung, bieten die Tagespraktika jedoch lediglich einen organisatorischen Rahmen, in dem Assoziationen und Eindrücke der Akteure einen breiten Raum einnehmen und in dem sich Lehrpersonen auf Kommentierungen und Empfehlungen konzentrieren. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit die von den Studierenden artikulierten Wünsche und Erwartungen umgesetzt werden können. So ist beispielsweise der erst genannte Wunsch nach Vergewisserung für Studierende sehr wichtig – sie erleben Schule, erfahren die LehrerInnenarbeit und sammeln Eindrücke beim Unterrichten. Da diese Funktion aber auch im Rahmen einer rein organisatorischen Betreuung der Hochschule, also auch ohne die Anwesenheit der Hochschul-Lehrenden realisiert und gewährleistet werden könnte, kann sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Ausbildung lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Der zweite, häufig genannte Wunsch der Handlungserfahrung kann auf unterschiedliche Weise realisiert werden. So lassen sich Verläufe von Praktika beschreiben, in denen eine Entdifferenzierung von Theorie und Praxis und die Schaffung oder zumindest die Simulation einer „Einheit“ von Theorie und Praxis angestrebt wird. Des weiteren gibt es Praxisbezüge, in denen die Schule als Material und Anlass dient, erziehungswissenschaftliche oder (fach-)didaktische Fragen zu formulieren und zur Beschäftigung damit anzuregen. Diese beiden Formen können nicht vereinheitlicht werden. Die Gestaltung des Praktikums wie auch der damit verbundenen Betreuungsfunktion sollte deshalb im Bewusstsein der Existenz der anderen Position erfolgen und muss zudem begründet und nachvollziehbar gemacht werden, so dass Studierende die Chance haben, sich in dieser Debatte zu verorten und selbst Position zu beziehen. Dazu gehört auch, das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie die Bedeutung des einen wie auch des anderen Bereichs gegenüber den Studierenden stärker argumentativ zu vertreten. So kann sozial- und erziehungswissenschaftliche Theorie pädagogisches Erfahrungswissen nicht ersetzen, und umgekehrt ist Theorie für die Entwicklung eines reflektierten beruflichen Selbstverständnisses unerlässlich.
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Das dritte Anliegen, die Beobachtung und Reflexion von Unterricht, kommt in Praktika häufig zu kurz. In Anlehnung an Hedtke (2001) ließe sich diesbezüglich programmatisch festhalten, dass es auf zweierlei Weise umgesetzt werden kann: Einmal könnte das Ziel in der handlungsentlasteten distanzierten Betrachtung und Einübung in theoretische Systematisierungen gesehen werden, also Unterrichtsbeobachtungen zum Zwecke der Theoriebildung verfolgt werden. Zum zweiten werden Beobachtung und Reflexion selbst eine handlungsleitende Funktion zugeschrieben, also die Hoffnung formuliert, dass sich dadurch ein Verstehen und eine Distanz zur Aktualität des Geschehens oder Handelns etablierten lässt, die bewusstes Handeln unterstützen. Zu prüfen wäre hier, inwieweit das Einüben in ein theoretisch geleiteten Fallverstehens die positive Erfahrung eines solchen Fallverstehens beeinflussen und verstärken kann. Oder anders gesprochen: Welche Bedeutung kommt dem Erlebnis von Hilflosigkeit, Überforderung oder auch Erfolg bei der Gewinnung der Einsicht zu, dass gerade solche Situationen einer theoretischen Orientierung bedürfen, da erst die Theorie die Handelnden in die Lage versetzt, ihre Praxis kritisch zu reflektieren, differenziert zu beurteilen und weiter zu entwickeln?
Wissen, Können, Reflexion als Bestandteile pädagogischer Professionalität Die skizzierten Entwicklungen machen deutlich, dass es einen je unterschiedlichen Mangel auf beiden Seiten gibt und dass Theorie und Praxis offenbar aufgrund von verschiedenen Ausgangssituationen präferiert werden und auch eine jeweils andere Funktion haben. Deshalb sollte im Rahmen einer Verständigung über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis nicht unterstellt werden, dass beide eins werden könnten. Vielmehr muss die grundlegende Differenz zwischen Theorie und Praxis anerkannt und der produktive Umgang mit den Unterschieden Ziel von Praxiskontakten sein. Die dabei angestrebte Entwicklung von Professionalität bedeutet in diesem Zusammenhang die Einnahme und Wahrung von Distanz, weil erst aus der Distanz das eigene Verhalten und das der anderen gedeutet und systematisch verstanden werden kann. Das bedeutet auch, Differenz zwischen Theorie und Praxis anzuerkennen, sichtbar zu machen und als produktive Tatsache darzustellen. Dazu gehört es zudem, die Rede vom „Wissens-Transfer“ wie auch die einer „notwendigen Verbindung von Theorie und Praxis“ zu differenzieren. So gesehen wäre es die Aufgabe, der „Theorie“ im Rahmen von Praktika Reflexions- und Beobachtungskompetenz, nicht aber Handlungskompetenz auszuweisen. Ein Ziel der Ausbildung bestünde in der individuellen Verfügung über wissenschaftliches Wissen, das die Möglichkeiten von Erziehung und Unterrichtens sichtbar macht. Das Können bestünde dabei darin, mit den eigenen praktischen Erfahrungen unter zur Hilfenahme von theoretischem Reflexionswissen konstruktiv umzugehen und das eigenständige Denken mit wissenschaftlichen Begriffen deuten zu können (Oevermann 1999). Für einen im Rahmen von Praktika verwendeten und begründeten Begriff von „Praxis“ bedeutet dies, dass der Praxisbezug nicht als „Praxisbedürfnis“ naturalisiert und allgemein unterstellt werden sollte. Auch muss der Praxis-Begriff präzisiert werden: „Praxis“ in Praktika stellt nicht die Praxis des beruflichen Alltags dar, sondern die Praxis des seltenen Besuchs, die darüber hinaus noch eine äußerst künstliche, quasi experimentelle Organisation von Schulstunden oder sozialarbeiterischen Problembewältigungssettings im Rahmen dieses Praxisbezugs vornimmt; man könnte von einer „Laborsituation“ sprechen.
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Es wäre also deutlich zu machen bzw. zu klären, welche Form von „Praxis“ in den jeweiligen Praktikumsformen vorliegt und wie sie für die Theorie – und umgekehrt – fruchtbar gemacht werden kann. Fritz Oser setzt sich in seiner Studie über Standards in der Lehrerbildung und deren Erreichung mit dem Verhältnis von Wissen und Handeln auseinander. Er schreibt: „... und es wird sichtbar, dass die Crux der Lehrerbildung nicht so sehr in der mangelnden Praxis oder der mangelnden Übung oder in der mangelnden Theorie liegt, sondern im Fehlen von deren systematischer Verbindung, in der die Theorie die Praxis steuert und die Praxis die Theorie dauernd befragt“ (Oser 1997: 220).
Literatur Bommes, Michael/Radtke, Frank-Olaf/Webers, Hans-Erich (1995): Gutachten schulpraktische Studien an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Bielefeld. Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.) (1996): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typ pädagogischen Handelns. Frankfurt/M. Dewe, Bernd/Ferchhoff, Wilfried/Scherr, Albert/Stüwe, Gerd (2001): Professionelles soziales Handeln. Weinheim. Hedtke, Reinhold (2001): Das unstillbare Verlangen nach Praxisbezug – Zum Theorie-Praxis-Problem der Lehrerbildung am Exempel Schulpraktischer Studien (http://www.sowi-onlinejournal.de/lehrerbildung/hedtke.htm 2001, S. 11). Kolbe, Fritz-Ulrich (1997): Lehrerausbildung ohne normative Vorgaben für das praktische Handlungswissen? Eine anglo-amerikanische Kontroverse um die Bedeutung von Unterrichtsforschung beim Aufbau professionellen Wissens. In: Bayer, M./Carle, U./Wildt, Jo. (Hg.): Brennpunkt: Lehrerbildung. Strukturwandel und Innovationen im europäischen Kontext. Opladen, S. 121–138. Kucharz, Diemut/Liebsch, Katharina/Lehmann, Sabine/Müller, Katharina/Segmehl, Simone (2004): Abschlussbericht: Funktion und Wirkung schulpraktischer Studien. Weingarten. Oelkers, Jürgen (1999): Studium als Praktikum? Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung, in: Radtke, F.-O. (Hg.): Lehrerbildung an der Universität. Zur Wissensbasis pädagogischer Professionalität (Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft; Kolloquien 2). Frankfurt/M., S. 66–81. Oevermann, Ulrich (1999): Strukturale Soziologie und Rekonstruktionsmethodologie. In: Glatzer, W. (Hg.): Ansichten der Gesellschaft. Opladen, S. 85–96. Oser, Fritz (1997): Standards in der Lehrerbildung. Teil 2. In: Beiträge zur Lehrerbildung (15: 2), S. 220. Simmel, Georg (1990/1989): Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen). In: Rammstedt, O. (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 2. Frankfurt/M. 1989.
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Ulrike Hormel, Albert Scherr Ungleiche Lebensbedingungen und die gesellschaftliche Zuweisung ungleicher Lebenschancen sind zentrale Themen sozialwissenschaftlicher Forschung. Denn eine Betrachtung der Gegenwartsgesellschaft kann nicht davon absehen, dass es eine „offenkundige Vielfalt von gesellschaftlich verankerten Formen der Ausbeutung, Diskriminierung, Hierarchisierung, Privilegierung gibt“ (Kreckel 1992: 14). Auch in Gesellschaften, die ein hohes Wohlstandsniveau erreicht haben, ist es keineswegs gelungen, Armut und Arbeitslosigkeit zu beseitigen und allen Individuen ein ähnlich hohes Einkommensniveau und gleiche Zugangschancen zu anstrebenswerten Lebensbedingungen zu gewährleisten. Das Interesse der soziologischen Ungleichheitsforschung richtet sich deshalb auf die Privilegierung und Benachteiligung sozialer Gruppen bei der Verteilung erstrebenswerter sozialer Güter und Positionen, also etwa von Vermögen und Einkommen, sicheren Arbeitsplätzen, ausreichendem Wohnraum, qualifizierten Bildungsabschlüssen sowie sozialer Wertschätzung (Prestige). Soziologische Ungleichheitsforschung fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen solcher Ungleichheiten sowie nach den Auswirkungen ungleicher Lebensbedingungen auf die Lebensführung von Individuen, Familien und sozialen Gruppen sowie auf die damit typischerweise verbundenen Risiken und Chancen. Einschlägige Untersuchungen weisen nach, dass die sozioökonomischen Lebensbedingungen sozialer Gruppen und die individuellen Lebenschancen in einem engen Zusammenhang stehen, der auch scheinbar ganz private Entscheidungen betrifft. So werden Ehen in der Regel zwischen Partnern geschlossen, die ein ähnliches formales Bildungsniveau haben und das erreichte formale Bildungsniveau hat nicht nur Auswirkungen auf berufliche Karrierechancen, sondern etwa auch auf die Freizeitgestaltung und das politische Interesse. Die in der Struktur sozialer Ungleichheit, in den verfestigten und relativ stabilen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen eingenommenen Positionen, haben also, so eine Kernthese der soziologischen Ungleichheitsforschung, erhebliche Auswirkungen auf alle Teilbereiche der Lebensführung von Individuen – nicht zuletzt auch auf die familiale Erziehung von Kindern und Jugendlichen und auf ihren schulischen Erfolg oder Misserfolg.
Kritik der Ungleichheiten Für die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts war der Anspruch zentral, die ständische Ungleichheitsordnung der Feudalgesellschaften in Richtung auf eine Gesellschaft der freien und gleichen Bürger zu überwinden. Eine hierarchische Ordnung von Adeligen, Klerikern, Bürgern und Bauern wurde nicht länger als gottgewollt und naturgemäß hingenommen, sondern zum Gegenstand politischer Kritik. Angestrebt wurde die Herstellung ei-
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ner gesellschaftlichen Ordnung, die die Gleichheit und Freiheit aller StaatsbürgerInnen gewährleisten soll. Schon in der Entstehungsphase der demokratisch verfassten Gesellschaften mit kapitalistisch-industrieller Ökonomie werden jedoch Diskrepanzen von Gleichheitsanspruch und sozialer Wirklichkeit zum Thema. Dies zunächst vor allem in Hinblick auf die Verelendung des frühindustriellen Proletariats. So formuliert Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Rechtsphilosophie (1821/1976: § 243ff.) die These, dass der „Anhäufung der Reichtümer“ auf der einen Seite „Abhängigkeit und Not“ sowie „das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“ auf der anderen Seite entspreche. Er verbindet dies mit der Annahme, dass die bürgerliche Gesellschaft trotz allen Reichtums nicht in der Lage sei, „dem Übermaße der Armut“ entgegenzuwirken. Hieran anknüpfend hat Karl Marx eine Gesellschaftstheorie entwickelt, für die der Gesichtspunkt zentral ist, dass ungleiche Lebensbedingungen der sozialen Klassen eine notwendige Folge der kapitalistischen Ökonomie sind. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die formelle rechtliche Gleichheit in einem Widerspruch zur Ungleichheit der materiellen Lebensbedingungen steht. Die Marx’sche Kapitalismus- und Klassentheorie (s.u.) ist ein zentraler Ausgangspunkt für unterschiedliche soziologische Theorien, die nach den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen von sozialen Ungleichheiten fragen. Damit werden soziale Ungleichheiten – die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen – nicht als eine Folge von Unterschieden zwischen Individuen (etwa ihrer körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, ihres Leistungswillens usw.) zum Thema. Vielmehr wird die jeweilige gesellschaftliche Ordnung selbst als Ursache von Ungleichheiten, ihrer Entstehung und Verfestigung in den Blick genommen. Dies schließt Untersuchungen der Begründungen und Rechtfertigungen sozialer Ungleichheiten ein. Die Thematik der sozialen Ungleichheiten hat keineswegs an Aktualität eingebüßt. Denn trotz aller seit der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts eingetretenen Veränderungen sind auch in der Gegenwartsgesellschaft gravierende Ungleichheiten in Bezug auf Lebensbedingungen und Lebenschancen unbestreitbar; sie sind in amtlichen Statistiken und soziologischen Studien dokumentiert sowie Gegenstand gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Dies betrifft u.a. die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen sowie die Armutsproblematik innerhalb der sog. entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften Mitteleuropas und Nordamerikas, aber auch die Armut und Ungleichheiten in den sog. unterentwickelten Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Auch geschlechtsbezogene Ungleichheiten sind keineswegs überwunden und veranlassen politische Programme, etwa des Gender-Mainstreamings. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die anhaltende Benachteiligung von Nicht-Staatsbürgern gegenüber Staatsbürgern sowie die Situation von MigrantInnen und Minderheiten. Solche Ungleichheiten sowie ihre empirische Beschreibung und theoretische Analyse sind für die Pädagogik aus zwei Gründen von zentraler Bedeutung: Zum einen haben ungleiche Lebensbedingungen, was zahlreiche Studien nachweisen, eine Auswirkung auf schulisches Lernen und schulische Karrieren; zahlreiche der Problemlagen, mit denen die Sozialpädagogik befasst ist, sind direkte und indirekte Folgeprobleme von Armut und sozialer Benachteiligung. Zum anderen ist Pädagogik selbst an der Hervorbringung und Verfestigung sozialer Ungleichheiten beteiligt: Untersuchungen der Bildungs- und Erziehungssoziologie sowie der Soziologie der Sozialen Arbeit haben aufgezeigt, dass schulische und außerschulische Pädagogik nicht „nur“ daran scheitern, gesellschaftliche Ungleichheiten und ihre Folgeprobleme zu überwin-
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den. Darüber hinaus ist Pädagogik aktiv daran beteiligt, Ungleichheiten hervorzubringen, so etwa dadurch, dass in Schulen sprachliche Kompetenzen bewertet werden, die durch die Organisation Schule nicht vermittelt, sondern vorausgesetzt werden. Politische und pädagogische Versuche, Ungleichheiten entgegenzuwirken und zur Gewährleistung von Chancengleichheit beizutragen, sind auf empirische Studien und theoretische Analysen der Soziologie und Erziehungswissenschaft angewiesen, die Einblicke in die gesellschaftlichen Verursachungszusammenhänge und Bedingungen ermöglichen, an denen auch gutgemeinte Bemühungen scheitern können. Es kann auch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Gewährleistung gleicher Lebensbedingungen und Lebenschancen (einschließlich gleicher Bildungschancen), ein unstrittiges Ziel von Politik und Pädagogik ist. Welche Ungleichheiten zu kritisieren und welche zu überwinden, welche veränderbar und welche hinzunehmen sind, das war und ist vielmehr wiederkehrend Thema kontrovers geführter Debatten. Auch an solchen Auseinandersetzungen sind soziologische Theorien beteiligt: So hat die sozialwissenschaftliche Kritik an der Vorstellung, dass unterschiedliche Schulleistungen Folge einer angeborenen Intelligenz seien, in den 1960er und 1970er Jahren dazu beigetragen, dass eine Debatte über Erfordernisse der Bildungsreform in Gang gekommen ist. Die sozialwissenschaftliche Infragestellung der Vorstellung vermeintlich natürlicher Geschlechterunterschiede und die Analyse der sozialen Herstellungsprozesse von Geschlecht ist ein Bezugspunkt aktueller politischer und pädagogischer Programme, durch die Geschlechtergerechtigkeit bzw. die Überwindung der Fixierung auf tradierte Geschlechterrollen ermöglicht werden soll. Im Unterschied hierzu ist es gesellschaftspolitisch durchaus kontrovers, ob Staatsbürger und Nicht-Staatsbürger in Einwanderungsgesellschaften gleiche Rechte haben sollen. Auch der durch sozialwissenschaftliche Studien erbrachte Nachweis einer massiven Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien hat bislang nicht dazu geführt, dass die Überwindung dieser Benachteiligung als eine zentrale Aufgabe von Bildungspolitik und pädagogischer Praxis anerkannt wurde.
Soziologische Ungleichheitstheorien Soziologische Ungleichheitstheorien zielen darauf, die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheiten zu analysieren. In klassischen soziologischen Ungleichheitstheorien wird die sozioökonomische Dimension sozialer Ungleichheiten, d.h. ihr Zusammenhang mit den Besitzverhältnissen und der Einkommens- und Vermögensverteilung ins Zentrum gestellt. So sind Marx zufolge das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Zerstörung bzw. Überwindung der bäuerlichen Selbstversorgungswirtschaft Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der in sie eingelassenen Klassenverhältnisse. In dieser stehen Besitzende der Produktionsmittel (Boden, technische Produktionsanlagen) denjenigen gegenüber, die zum Zweck ihrer Existenzsicherung darauf verwiesen sind, ihr Arbeitsvermögen als „Ware Arbeitskraft“ zu verkaufen, die also auf abhängige Erwerbsarbeit angewiesen sind. Die Klassenlagen unterscheidende Stellung im Produktionsprozess ist Marx zufolge bestimmend für die Einkommensverteilung und die damit eng verknüpften weiteren Lebensbedingungen (s. Ritsert 1988). Die Bedeutung der Marx’schen Klassentheorie für ein Verständnis sozialer Ungleichheiten wird – trotz vielfältiger Kritik an ihren Vereinfachungen und ihrer Verknüpfung mit einer Theorie des Klassenkampfes – auch von nicht-marxistischen Soziologen betont. So formuliert
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Talcott Parsons (1964: 221) bei aller Distanz zum Marxismus: „Die Marxsche Auffassung von der Bedeutung der Klassenstruktur hat sich im großen und ganzen als gerechtfertigt erwiesen.“ Diese Einschätzung hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass Marx’ Analyse sozialer Ungleichheiten in Annahmen über die Struktur und Dynamik der Gesellschaft fundiert ist. Sie geht damit in Distanz zu älteren Konzepten, die soziale Ungleichheiten als Folge des Handelns mächtiger Individuen oder Gruppen sehen, die in der Lage sind, sich Privilegien, (etwa durch Gewaltanwendung) anzueignen. Demgegenüber stellt die Marx’sche Theorie das Grundmodell einer soziologischen Ungleichheitsforschung dar, die nach in der Gesellschaftsordnung enthaltenen Ursachen und Bedingungen fragt. Marx zufolge ist der Kapitalismus keine Erfindung der „Kapitalisten“. Vielmehr sind die sozialen Klassen des Kapitalismus selbst Folge der historischen Entstehung einer kapitalistischen Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung. Als Alternative zur Klassentheorie sind in der Soziologie unterschiedliche Varianten sog. Schichtungstheorien entwickelt worden, die auf eine multidimensionale Analyse der Ursachen und Ausprägungen sozialer Ungleichheiten zielen (s. Geißler 2002). So berücksichtigen aktuelle Schichtungskonzepte neben den Berufspositionen, dem Einkommen, dem formalen Bildungsniveau und dem sozialen Prestige etwa auch die Staatsangehörigkeit als Determinanten sozialer Schichtung. Soziologische Milieutheorien untersuchen damit zusammenhängende, aber durch berufliche Positionen sowie das Einkommen und Vermögen nicht ursächlich und direkt zu erklärende Unterschiede der Lebensstile – einschließlich milieutypischer politischer Orientierungen und Bildungsstrategien. Soziale Milieus sind also dadurch charakterisiert, dass vor dem Hintergrund ähnlicher Lebensbedingungen Übereinstimmungen in Hinblick auf unterschiedliche Aspekte der Lebensführung (z.B. auf Erziehungsstile, kulturelle Präferenzen und politische Kernüberzeugungen) bestehen. Solche Übereinstimmungen resultieren aus Interpretationen der eigenen Lebenssituation, die vor dem Hintergrund gesellschaftsgeschichtlicher Erfahrungen, politischer Überzeugungen, religiöser Orientierungen usw. entwickelt werden. Eine einflussreiche, theoretisch und empirisch breit fundierte Verknüpfung von klassen-, schichtungs- und milieutheoretischen Konzepten liegt in den Arbeiten von Pierre Bourdieu vor (s. Bourdieu 1983), an die Michael Vester u.a. (2001) in ihren Studien zur Sozialstruktur der Bundesrepublik anknüpfen.
Diskriminierung Im Zentrum der klassischen soziologischen Ungleichheitsforschung stehen Benachteiligungen, die durch die sozioökonomische Position und das formale Bildungsniveau der davon betroffenen Individuen bedingt sind. In unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Kontexten, insbesondere der Migrations- und Rassismusforschung sowie der Geschlechterforschung ist jedoch aufgezeigt worden, dass darüber hinaus solche Formen der Benachteiligung in Rechnung zu stellen sind, die darauf beruhen, dass Individuen als Angehörige sozialer Gruppen gelten, von denen angenommen wird, dass ihre Mitglieder in irgendeiner Weise als defizitär charakterisierbare Eigenschaften aufweisen. Solche Gruppenkonstruktionen können dazu führen, dass ökonomische, politische und rechtliche Benachteiligungen nicht als problematische Außerkraftsetzung des Prinzips der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Individuen, sondern als akzeptable Folge der Andersartigkeit der jeweiligen Gruppe gelten. In Praktiken der Diskrimi-
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nierung verknüpft sich in diesem Fall die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften mit einer Ungleichbehandlung, die auf Grund dieser angenommenen Eigenschaften als sozial erforderlich und erlaubt gilt. Ein paradigmatischer Fall hierfür ist der Rassismus: In rassistischen Ideologien wird nicht von der Gleichheit aller Individuen, sondern von der vermeintlich naturgegebenen Existenz unterschiedlicher und ungleichwertiger Menschengruppen ausgegangen und es erscheint als „naturgemäß“, dass diesen ungleiche soziale Positionen zugewiesen sind. Von Formen der Diskriminierung auf der Grundlage der Zuschreibung gruppenbezogener Eigenschaften zu unterscheiden sind solche Formen der Diskriminierung, bei denen soziale Benachteiligungen dadurch verfestigt bzw. verstärkt werden, dass Problemlagen, die aus der gesellschaftlichen Situation einer benachteiligten Gruppe resultieren, von gesellschaftlichen Institutionen ignoriert werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Bildungspolitik davon ausgeht, dass der Erwerb grundlegender Kompetenzen in der jeweiligen Verkehrsprache Privatsache sei und in der Folge keine Anstrengungen unternommen werden, Kindern mit einer anderen Erstsprache als der deutschen einen solchen Spracherwerb zu ermöglichen, der gleiche Chancen zur Bewältigung schulischer Anforderungen gewährleistet.
Klasse, Geschlecht und Ethnizität als Strukturkategorien? Die Auseinandersetzung mit Formen geschlechtsbezogener Benachteiligungen sowie der Benachteiligung von MigrantInnen und Minderheiten hat in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskussion zu der These geführt, dass soziale Ungleichheiten nicht zureichend als Ungleichheiten zwischen sozialen Klassen bzw. Schichten beschrieben und analysiert werden können. In der Folge wird argumentiert, dass Geschlecht und Ethnizität als gesellschaftsstrukturell verankerte Dimensionen sozialer Ungleichheit in den Blick genommen werden müssen (s. Weiß u.a. 2001). Veranlasst ist dies durch die Beobachtung, dass geschlechtsbezogene Ungleichheiten sowie Ungleichheiten zwischen Mehrheiten und Minderheiten von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung von Individuen sind. Eine solche Sichtweise ist in dem Maß plausibel, wie gezeigt werden kann, dass geschlechtsbezogene und ethnisierende Zuschreibungen für Prozesse der sozialen Positionszuweisung Relevanz erhalten. Es ist aber keineswegs einfach zu entscheiden, ob und in welchem Sinne davon auszugehen ist, dass Geschlecht und Ethnizität gesellschaftsstrukturell verankerte Unterscheidungen sind – oder ob es sich im Fall von Geschlechterkonstruktionen und ethnisierenden Konstruktionen um eine Folge der Tradierung von Ideologien handelt. In Bezug auf die Geschlechterkategorie wird diesbezüglich argumentiert, dass die durch rechtlich und sozialpolitisch gestützte Zuweisung erziehungs- und familienbezogener Aufgaben an Frauen auch dann zur Verfestigung von Ungleichheiten führt, wenn ansonsten von der Idee der Gleichheit und Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausgegangen wird (s. Kreckel 1992: 212ff.). Bei ethnisierenden Unterscheidungen handelt es sich in dem Maße nicht „nur“ um einen Effekt von Vorurteilen und Ideologien, wie diese mit der rechtlichen Ungleichbehandlung von Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern verknüpft sind. Denn unter Bedingungen internationaler Ungleichheit gewinnt Staatsbürgerschaft als eine Determinante sozialer Ungleichheit erhebliche Bedeutung. Auf die einschlägigen Kontroversen zur Frage der Gleichrangigkeit von Klasse, Geschlecht, Ethnizität als gesellschaftlichen Strukturkategorien kann hier nicht näher eingegangen werden. Unabhängig von diesen Kontroversen ist aber davon auszugehen, dass geschlechtsbezoge-
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ne und ethnisierende Annahmen über unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten von Männern und Frauen bzw. von Angehörigen sog. ethnischer Gruppen als Diskriminierungsressource bedeutsam sind. D.h. sie werden gesellschaftlich ggf. als Entscheidungskriterium relevant, etwa in Einstellungsgesprächen oder in schullaufbahnbezogenen Empfehlungen. Bildungs- und erziehungssoziologische Studien, die der Frage nach der Bedeutung des Bildungssystems für die Hervorbringung und Verfestigung sozialer Ungleichheitsstrukturen nachgehen, zeigen auf, dass das Bildungssystem einen wesentlichen Beitrag zur Verschleierung der gesellschaftlichen Ursachen sozialer Ungleichheiten leistet. Erfolge und Misserfolge schulischen Lernens werden der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zugerechnet, wobei ausgeblendet wird, was die sozialen Ursachen jeweiliger Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft sind. Dies betrifft etwa die Frage, unter welchen Bedingungen ein Zutrauen in die eigene Fähigkeit erworben oder nicht erworben wird, die Anforderungen an eine höhere Bildungslaufbahn zu bewältigen. Annahmen von PädagogInnen über typisch männliche und typisch weibliche Eigenschaften tragen dazu bei, dass Jungen und Mädchen auf typische Männer- und typische Frauenberufe festgelegt werden. Wird davon ausgegangen, dass Eltern mit Migrationshintergrund kaum in der Lage sind, ihre Kinder beim schulischen Lernen zu unterstützen und dass dies ein Scheitern an gymnasialen Anforderungen wahrscheinlich macht, kann dies dazu führen, dass Kindern mit Migrationshintergrund von einer Gymnasiallaufbahn abgeraten wird und ihnen damit Bildungschancen verstellt werden. Auf solche Zusammenhänge deuten zahlreiche Studien der empirischen Bildungsforschung hin. Damit ist darauf hingewiesen, dass soziale Ungleichheiten nicht „nur“ durch ökonomische Strukturen bedingt sind, sondern dass dem Bildungssystem eine mitentscheidende Rolle bei ihrer Hervorbringung und Verfestigung zukommt. Dies konterkariert den für das moderne Bildungssystem grundlegenden Anspruch, dass hier herkunftsbedingte Unterschiede außer Kraft gesetzt werden und eine gerechte Zuweisung sozialer Positionen durch die Bewertung von nichts anderem als der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ermöglicht werden soll. Soziologische Ungleichheitsanalysen sind vor diesem Hintergrund für die Pädagogik nicht zuletzt deshalb relevant, weil sie dazu auffordern, die aktive Rolle des Bildungssystems in einem Prozess in den Blick zu nehmen, in dem soziale Positionen „vererbt“ werden und in dem also der Anspruch auf Chancengleichheit nicht realisiert wird.
Literatur Bourdieu, Pierre (1983): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. Geißler, Rainer (2002): Soziale Schichtung und Lebenschancen. Wiesbaden. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1821/1976): Die Philosophie des Rechts. Frankfurt/M. Kreckel, Reinhard (1992): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Frankfurt/M./New York. Parsons, Talcott (1964): Soziale Klassen und Klassenkampf im Lichte der neueren soziologischen Theorie. In: Ders.: Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied. Ritsert, Jürgen (1988): Der Kampf um das Surplusprodukt. Einführung in den klassischen Klassenbegriff. Frankfurt/M./New York. Vester, Michael u.a. (2001). Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/M. Weiß, Anja/Koppetsch, Cornelia/Scharenberg, Albert/Schmidtke, Oliver (Hg.) (2001): Klasse und Klassifikation. Wiesbaden.
Werte und Normen
Albert Scherr Normen und Werte gelten als eine unverzichtbare Grundlage sozialen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Ordnung. Auf Festlegungen des jeweils zulässigen und erwünschten Verhaltens (Normen) sowie übereinstimmende Vorstellungen dazu, was anstrebenswert und achtenswert ist (Werte), kann, so wird in politischen und pädagogischen Debatten immer wieder mit einiger Plausibilität behauptet, im gesellschaftlichen Zusammenleben nicht verzichtet werden. So sind etwa schulischer Unterricht oder die pädagogische Arbeit mit einer Jugendgruppe schwer vorstellbar, ohne dass grundlegende Verhaltensregeln (etwa: Einschränkung der Kommunikation auf das vereinbarte Thema) und eine übereinstimmende Zielsetzung (etwa: es ist anstrebenswert, Mathematik zu lernen, einen Berg zu besteigen, ein Spiel zu gewinnen) von den Beteiligten akzeptiert werden. Wenn in einer sozialen Gruppe dagegen keine Einigung darüber erzielt werden kann, ob eine hierarchische oder eine egalitäre Ordnung anzustreben ist, sind Konflikte wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund wird in Reaktion auf gesellschaftliche Krisen und Konflikte wiederkehrend an grundlegende Werte und Normen appelliert, die den sozialen Zusammenhalt sicher stellen sollen. Solche Appelle müssen jedoch berücksichtigen, dass Auseinandersetzungen über Werte und Normen, ihre Geltung, ihre Bedeutung, ihre Implikationen gesellschaftlich keineswegs die Ausnahme, sondern der Normalfall sind. Dies betrifft auch die im Grundgesetz oder den Menschenrechtserklärungen der UNO kodifizierten Werte und Rechtsnormen. Diese sind auch innerhalb des vielfach beschworenen „demokratischen Grundkonsenses“ Gegenstand von Auseinandersetzungen um die Frage, welche politischen Programme zu ihrer Realisierung geeignet sind. Die Bedeutung von Normen für soziales Handeln wird in der soziologischen Rollentheorie akzentuiert. Dort werden Normen als Verhaltenserwartungen mit unterschiedlicher Verbindlichkeit (Soll-, Kann- und Musserwartungen) analysiert, die Bezugsgruppen an die Inhaber sozialer Positionen (berufliche Positionen, Positionen in einer Familie usw.) richten. Solche Erwartungen sind nun durchaus uneinheitlich – an den Rolleninhaber werden heterogene Vorstellungen darüber gerichtet, was er tun und lassen soll, kann und muss. Die Rollentheorie unterscheidet dabei Intrarollenkonflikte und Interrollenkonflikte. Intrarollenkonflikte sind Konflikte, die aus den unterschiedlichen Erwartungen von Bezugsgruppen, die an den Inhaber einer Rolle gerichtet werden, resultieren – im Fall der Lehrerrolle also etwa die Erwartungen von SchülerInnen, Eltern, KollegInnen und Vorgesetzten. Grundlagen von Interrollenkonflikten sind dagegen Erwartungen, die sich auf unterschiedliche Rollen beziehen, die eine Person (etwa als Lehrerin, Gewerkschaftsmitglied und Ehepartnerin) innehat. Aufgrund von Normenkonflikten sowie der Tatsache, dass Normen vielfach relativ allgemein, uneindeutig und interpretationsoffen sind, kann das an Normen ausgerichtete Handeln nicht als einfache Normbefolgung, als logisch zwingende Ableitung des erforderlichen Handelns aus einer Regel, verstanden werden. Unverzichtbar ist vielmehr die situationsangemessene Interpretation jeweiliger Erwartungen und das Ausbalancieren heterogener und ggf. wider-
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Werte und Normen
sprüchlicher Erwartungen. Deshalb ersetzt Erving Goffman (1969) das allzu einfache Modell, Handeln sei an Normen als eindeutigen Verhaltenserwartungen orientiert, durch ein Modell, das vielfältige Techniken und Strategien des Umgangs mit Rollenerwartungen (Vortäuschen eines Glaubens an die eigene Rolle, Eindrucksmanipulation, Informationskontrolle usw.) berücksichtigt. Die einleitend zunächst in Bezug auf das Problem der Handlungskoordination in Gruppen verdeutlichte Behauptung, dass soziales Handeln durch gemeinsame Werte und Normen ermöglicht wird, lässt sich jedoch keineswegs – darauf wird im Weiteren noch zurückzukommen sein – problemlos auf die Ebene der Handlungskoordination in Organisationen sowie der Gesellschaft übertragen. Zwar sind auch dort Normen bedeutsam, für deren Durchsetzung vielfach Zwangsmechanismen (rechtliche Sanktionen, ökonomische Zwänge, hierarchische Weisungsbefugnisse) vorgesehen sind. Es ist aber nicht sinnvoll davon auszugehen, dass die Bereitschaft von Individuen, sich auf gesellschaftliche Zusammenhänge einzulassen, prinzipiell einen Wertekonsens voraussetzt. So resultiert die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit nicht nur aus der Wertschätzung von Arbeit, etwa als religiöse Pflicht oder als sinnvolle Selbstverwirklichung, sondern auch aus den Zwängen der Existenzsicherung. Die Akzeptanz demokratischer Verfahren der politischen Willensbildung ist nicht notwendig Ausdruck einer bewussten Übernahme demokratischer Grundwerte, sondern ggf. schlicht das Resultat einer Gewöhnung an die etablierte politische Ordnung. Entsprechend betont Max Weber, dass ökonomische Zwänge – also nicht Werte – eine zentrale Grundlage von Vergesellschaftung sind: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn (... ) als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verwoben ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf“ (Weber 1920/1972: 46). Gleichwohl wird in politischen und pädagogischen Diskursen immer wieder auch die gesellschaftliche Bedeutung von Werten postuliert und entsprechend wird eine zentrale Aufgabe von Pädagogik im Sinne ihres Erziehungsauftrags in der Vermittlung grundlegender Werte und Normen gesehen. Einflussreiche traditionelle Sozial-, Erziehungs- und Sozialisationstheorien gehen diesbezüglich davon aus, dass Menschen a-soziale und auf egoistische Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Wesen sind, so dass es der Erziehung sowie sozialer Kontrollen und Sanktionen bedarf, damit ein soziales Zusammenleben möglich ist, das nicht in einen „Krieg aller gegen alle“ mündet bzw. in dem Konflikte nicht nach dem Prinzip „der Stärkere setzt sich durch“ entschieden werden. Auch in manchen älteren und aktuellen soziologischen Theorien finden sich Varianten dieser Annahme. So wird bei Emile Durkheim (1930/1977: 41) klassisch formuliert: „Die menschlichen Leidenschaften halten nur vor einer moralischen Macht ein, die sie respektieren. Wenn aber jede Autorität dieser Art fehlt, dann herrscht das Recht des Stärkeren vor und der latente oder offene Kriegszustand ist notwendigerweise chronisch.“ Und an anderer Stelle: „Die Gesellschaft kann nur überleben, wenn unter ihren Mitgliedern ein ausreichender Grad an Homogenität besteht. Die Erziehung erhält und bestärkt diese Homogenität, indem sie von Anfang an jene wesentlichen Gleichförmigkeiten fixiert, welche das kollektive Leben fordert“ (1922/1972: 29f.). Einen gesellschaftlichen Zustand, in dem keine stabile und klare moralische Ordnung (Normen- und Werteordnung) gegeben ist, bezeichnet Durkheim als Anomie. Er hat damit einen Begriff geprägt, der zur Erklärung abweichenden Verhaltens verwendet wird und der in der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung als eine Grundlage von Analysen zu der Frage ver-
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wendet wird, ob bzw. in welchem Ausmaß der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist. So nimmt etwa Wilhelm Heitmeyer (1997: 10) an, dass gegenwärtig eine Entwicklung zu beobachten sei, in der „bisher dominierende kulturelle, religiöse und familiale Orientierungsmaßstäbe ins Schwanken geraten“, was zu einer „grundlegenden Verunsicherung und Ratlosigkeit geführt“ habe, „die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen und deren individuell wie kollektiv zerstörerischen Folgen bislang kaum angemessen wahrgenommen und diskutiert werden“. Eine solche, keineswegs unumstrittene Einschätzung bringt eine Sichtweise zum Ausdruck, die von der Annahme einer anomischen Krise der Gesellschaft ausgeht und die auch als Begründung für die Notwendigkeit einer Pädagogik der Werte- und Normenvermittlung herangezogen wird. In einer soziologischen Perspektive ist diesbezüglich zunächst, wie generell in Hinblick auf politische und pädagogische Versuche, die auf die Durchsetzung bestimmter Werte und Normen zielen, die Frage zu stellen, was die sozialen Bedingungen der Entwicklung, der sozialen Verbreitung und der individuellen Aneignung von Werten und Normen sind. Schon bei Durkheim (1930/1977) wird argumentiert, dass rascher sozialer Wandel, gesellschaftliche Arbeitsteilung und soziale Ungleichheiten sowie darin begründete Konflikte eine Verständigung auf gemeinsame Regeln und moralische Übereinstimmung erschweren. Vor diesem Hintergrund sieht er die Funktion des Strafrechts darin, soziale Normen durch die Sanktionierung ihrer Verletzung zu verdeutlichen. Soziale Normen werden demnach immer durch die Reaktion auf Normverletzungen geklärt, oder anders formuliert: Normverletzungen sind Durkheim zufolge unverzichtbare Anlässe für die Prozesse, in denen eine Auseinandersetzung über die Gültigkeit und ggf. den Veränderungsbedarf von Normen erfolgt. Damit ist darauf hingewiesen, dass gesellschaftliche Werte und Normen weder schlicht gegeben und stabil sind, noch von allen sozialen Gruppen gleichermaßen und selbstverständlich anerkannt werden. Vielmehr hat eine soziologische Betrachtung von Werten und Normen einerseits zu berücksichtigen, welche Bedingungen für ihre Entwicklung und Durchsetzung durch gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken gegeben sind. Prozesse des Wertewandels, also etwa die Veränderung von Erziehungsnormen, stehen in einem Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen (insbesondere wirtschaftlichen, politischen, sozialstrukturellen) Entwicklungen. Anderseits sind die sozialen Prozesse der Werte- und Normsetzung und Durchsetzung in den Blick zu nehmen. Dabei ist mit Howard S. Becker (1973) die Frage nach der gesellschaftlichen Verteilung der Definitionsmacht, der Macht von Institutionen und sozialen Gruppen, eigenen Werten und Normen gesellschaftlichen Einfluss zu verschaffen, zu stellen. Denn es kann weder davon ausgegangen werden, dass eine gesellschaftliche Verständigung über Werte und Normen als ein herrschaftsfreier Aushandlungsprozess unter freien und gleichen Individuen erfolgt, noch davon, dass eine gesellschaftliche Zentralinstanz existiert, die in der Lage ist, gesamtgesellschaftlich verbindliche Werte und Normen festzulegen. Angemessener ist es, davon auszugehen, > dass unterschiedliche Werte- und Normenkomplexe (u.a. Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion) sowie heterogene politische, religiöse und philosophische Moralkonzepte und Ethiken der privaten Lebensführung koexistieren; > dass diese Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind, an denen sich konkurrierende Akteure und Institutionen (etwa: staatliche Institutionen, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Massenmedien, soziale Bewegungen) beteiligen; > dass diese Akteure und Institutionen über unterschiedlich große Macht zur Durchsetzung ihrer Ideen und Interessen verfügen.
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Die Setzung und Durchsetzung von Werten und Normen geschieht in Referenz auf Diskurse und Ideologien, politische und religiöse Weltbilder, aber auch auf in sozialen Gruppen, Klassen und Milieus verankerte alltagsmoralische Vorstellungen. In einer neueren Studie über alltägliches Moralisieren (Stehr 1988) wird darüber hinaus verdeutlicht, dass für soziale Auseinandersetzungen über Werte und Normen bestimmte Erzählungen bedeutsam sind, die in Alltagsgesprächen, aber auch durch die Massenmedien (so als Kriminalfilme oder Beziehungsdramen) kommuniziert werden. Im Typus der moralischen Erzählungen werden die Gefahren vorgeführt, die drohen, wenn Personen geltende Normen übertreten. Damit sind einige Aspekte erwähnt, aufgrund derer die oben skizzierte Idee einer konfliktfreien Kooperation und Kommunikation auf der Grundlage geteilter Werte und Normen als wenig realitätstauglich gelten muss. Zur Verdeutlichung: Wenn nicht mehr davon ausgegangen werden kann – und darauf hat bereits Max Weber mit seinen Überlegungen zur modernen „Differenzierung der Wertsphären“ hingewiesen –, dass es gesellschaftsweit einheitlich geltende Werte und Normen gibt, sondern eben differenzierte Werte- und Normenkomplexe (in religiösen Kontexten gelten andere Orientierungen als in Hochschulen und dort wiederum andere als bei Popkonzerten oder in Sportstadien usw.), dann lassen sich keine Werte und Normen mehr angeben, die für die gesellschaftliche Ordnung insgesamt grundlegend sind. In einer modernen Gesellschaft leben, das heißt demnach, sich auf eine Pluralität ausdifferenzierter Teilbereiche einstellen, in denen je eigene Werte und Normen gelten, also auch je eigene Erfolgskriterien sowie Maßstäbe für normkonformes und abweichendes Verhalten. Demgegenüber stellt das kodifizierte Recht zwar einen bedeutsamen Sonderfall dar. Denn die vielfältigen Rechtsnormen sind Bestandteil einer staatlichen Rechtsordnung (im Singular), nicht Ausdruck pluraler Rechtsordnungen und sie sollen gesellschaftsweit gelten. Rechtsnormen sind jedoch keine umfassenden Verhaltensregulative, sondern nur eine Grundlage für die Regulierung sozialer Beziehungen; sie setzen spezifische Werte und Normen in gesellschaftlichen Teilbereichen, religiösen und politischen Programmen, sozialen Milieus, Teil- und Subkulturen usw. nicht außer Kraft. Folglich kann Erziehung auch nicht als Vermittlung „der gesellschaftlichen Werte und Normen“ verstanden werden. Vielmehr sind pädagogische Theorien und Konzepte darauf verwiesen zu klären, welche (politischen, religiösen, philosophischen, alltagsmoralischen, oder aber eigenständig pädagogischen) Normen und Werte als legitime Bezugspunkte pädagogischen Handelns beansprucht werden können. Klärungsbedürftig ist auch, ob jeweilige Normen und Werte pädagogischen Handelns mit den in die Strukturen des Bildungssystems und pädagogischer Organisationen eingelassenen Vorgaben übereinstimmen. Zum Beispiel ist es durchaus fraglich, ob bzw. wie in hierarchisch-autoritär verfassten Schulen Normen demokratischer Entscheidungsfindung gelernt werden können. Der individuelle Prozess der Aneignung von Werten und Normen kann auch nicht hinreichend als schlichte Übertragung sozialer Werte und Normen in das Bewusstsein von Individuen verstanden werden. Vielmehr ist es angemessener, von einem komplexen Aneignungsprozess auszugehen, in dem Individuen sich vor dem Hintergrund ihrer Bedürfnisse, Interessen, Erfahrungen und Überzeugungen mit den Normen und Werten auseinandersetzen, deren Übernahme von ihnen erwartet wird. Soziologische Studien zur moralischen Sozialisation, aber auch entwicklungspsychologische Theorien zur Moralentwicklung weisen auf einen weiteren, für die pädagogische Diskussion bedeutsamen Aspekt der Werte- und Normenthematik hin: Kinder entdecken Normen im ge-
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meinsamen Spiel, Jugendliche setzen sich in Freundschaftsbeziehungen und Gleichaltrigengruppen mit Normen und Werten auseinander (s. Nunner-Winkler 1998). Moralisches Lernen ist also keineswegs allein ein Ergebnis gesellschaftlicher bzw. pädagogischer Einwirkungen, sondern auch eines selbstgesteuerten Lernprozesses. Diese Einsicht ermöglicht ein Verständnis von Pädagogik als Ermöglichung und Unterstützung moralischer Lernprozesse anstelle einer Pädagogik der autoritativen Wertevermittlung. Zudem kann Pädagogik nicht davon absehen, dass gesellschaftlich einflussreiche Normen und Werte keine Erwartungen sind, die als fraglos gültige positive Orientierung beansprucht werden können. Schon aufgrund der Tatsache, dass Werte und Normen historisch veränderlich und immer auch gesellschaftlich umstritten sind, bieten sie keine sichere Grundlage für pädagogisches Handeln. Und nicht zuletzt die Tatsache, dass zahlreiche Pädagogen eine affirmative Haltung gegenüber Werten und Normen der nationalsozialistischen Ideologie eingenommen haben, hat Debatten über die Notwendigkeit einer Erziehung und Bildung veranlasst, für die „die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno 1970: 93) eine zentrale Orientierung ist. Damit ist die Legitimität einer kritiklosen Orientierung an gesellschaftlich einflussreichen Werten und Normen prinzipiell in Frage gestellt. In Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung von Werten und Normen hat Niklas Luhmann im Kontext seiner Systemtheorie eine skeptische Position eingenommen. Er weist nicht nur – in Übereinstimmung mit anderen Varianten soziologischer Gesellschafstheorie – darauf hin, dass der Einfluss politischer, religiöser oder menschenrechtlicher Werte und Normen auf die Entwicklung in den Teilsystemen der Gesellschaft faktisch gering ist. Darüber hinaus geht er in Distanz zu der klassischen Vorstellung, dass Individuen durch die Übernahme von Werten und Normen in die Gesellschaft integriert werden. Der Zugang und der Ausschluss von Individuen zu gesellschaftlichen Teilbereichen werden vielmehr über die funktionalen Anforderungen der Teilsysteme und Organisationen, ihre Inklusions- und Exklusionsmechanismen (z.B. Qualifikationsanforderungen an Arbeitssuchende, Selektionskriterien von Schulen) reguliert (s. Luhmann 1996). Insbesondere in der soziologischen und sozialpsychologischen Gewaltforschung wird auch erhebliche Skepsis gegenüber der Annahme einer handlungsleitenden Bedeutung von Werten und Normen formuliert. Auf der Grundlage empirischer Studien wird argumentiert, dass „erhebliche Diskrepanzen zwischen ... moralischen Ansprüchen und Handlungen“ ebenso vielfach zu beobachten sind, wie die Fähigkeit gute Gründe zu finden, „die ein als falsch empfundenes Verhalten nachträglich sinnhaft und damit ... gerechtfertigt erscheinen lassen“ (Welzer 2005: 12). Die verbindliche Geltung von Werten und Normen wird zudem in sozialen Auseinandersetzungen oft auf die Eigengruppe eingeschränkt, während es als zulässig erscheint, grundlegende Normen und Werte im Umgang mit denjenigen, die als Gegner oder Feinde definiert werden, außer Kraft zu setzen. Versuche der pädagogischen Vermittlung von Werten und Normen sind also keineswegs ein Königsweg, der klare Orientierungen bereitstellt und die Erziehungs- und Bildungspraxis zur Lösung sozialer Probleme und Konflikte befähigt.
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Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. Becker, Howard S. (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt/M. Durkheim, Emile (1922/1977): Erziehung und Soziologie. Düsseldorf Durkheim, Emile (1930/1977): Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/M. Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. München Heitmeyer, Wilhelm (1997): Einleitung: Auf dem Weg in eine desintegrierte Gesellschaft. In: Ders. (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt/M., S. 9–28. Nunner-Winkler, Gertrud (1996): Moralisches Wissen – moralische Motivation – moralisches Handeln. In: Honig, M.-S. u.a. (Hg.): Kinder und Kindheit. Weinheim/München, S. 129–156. Stehr, Johannes (1998): Sagenhafter Alltag. Über die private Aneignung der herrschenden Moral. Frankfurt/M./New York. Weber, Max (1920/1972): Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Tübingen. Welzer, Harald (2005): Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/M.
Wissensgesellschaft
Sabine Maasen Schon von den klassischen Autoren der Sozialwissenschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, so bei Max Weber (1920/1972: 9ff.), wurde auf die sich ändernde Rolle und wachsende Bedeutung des Wissens und der Wissenschaft in der Gesellschaft verwiesen: In der bei Weber analysierten Rationalisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche, auch der alltäglichen Lebensführung zeigt sich die zunehmende Bereitschaft der modernen Gesellschaft, eingelebte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster infrage zu stellen und sich durch aktive Produktion von Wissen zu verändern. In den 1960er und 1970er Jahren wurde schließlich der Begriff der Wissensgesellschaft geprägt. Was soll nun anders, gar so sein, dass wir uns mit besonderem Recht als Wissensgesellschaft bezeichnen können? Nico Stehr beantwortet diese Frage so: „Wenn Wissen konstitutiv ist für Gesellschaft und soziales Zusammenleben, dann braucht es besondere Begründung, heute den Begriff ,Wissensgesellschaft‘ aufzubringen. Neu sind in modernen Gesellschaften insbesondere die Systematik und die Intensität der Befassung mit Wissen: Zum einen sind die Institutionen und Strukturen, die Wissen produzieren, – allen voran die Wissenschaft – im Laufe dieses Jahrhunderts systematisch ausgebaut worden. Die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sind so hoch wie nie. (...) Zum anderen wird die Problemlösung durch Wissen zum Prinzip: Immer systematischer werden Strukturen und Prozesse untersucht, gemessen und ausgewertet. Die gewonnenen Ergebnisse werden zu ihrer Verbesserung und Optimierung genutzt. Theoretisches Wissen fließt damit heute in viel stärkerem Maße in Planungen und Maßnahmen ein“ (bmb+f 1996/1998). Die für Helmut Willke, aber auch Michael Gibbons et al. einschneidendste Veränderung ist: Wir leben in einer Wissensgesellschaft, gerade weil der eigenständig organisierten Wissenschaft keine fraglose Vorrangstellung mehr zukommt. Willkes Beobachtung ist: Über die Wissenschaft hinaus sind nun auch das Kultur-, Rechts-, Wirtschafts- oder Gesundheitssystem zunehmend auf eigenständige Wissensproduktion angewiesen (Willke 1998: 162). Gibbons et al. weisen darauf hin, dass sich im industriellen Sektor neben den „knowledge based industries“ sog. „knowledge industries“ entwickeln (Gibbons et al. 1994: 84f.), die gezielt Kommunikation zur Verwertung in anderen Bereichen herstellen. Doch auch für diese scheinbar radikalere Einschätzung gilt: Wir sprechen von Wissensgesellschaften, weil wissensbasiertes und wissenschaftsförmiges, d.h. experimentelles und reflexives Handeln zu einer sehr einflussreichen, wenn nicht zur dominanten Form gesellschaftlicher Reproduktion geworden ist. Aufgrund dieser umfassenden gesellschaftlichen Neuformierung als Wissensgesellschaft befasst sich der folgende Artikel mit den Implikationen auf der Ebene (1) der Gesellschaft, (2) ihren Organisationen („lernende“ oder „intelligente“) sowie (3) ihrer Subjekte bzw. ihrer Subjektivierungsformen (Wissensarbeiter). Abschließend wird das Verhältnis von Information, Wissen und Bildung kurz problematisiert (4). Denn: Mit Heraufkunft der Wissensgesellschaft steht auch das Konzept der Bildung (Kompetenzerwerb und lifelong learning) auf der politischen Agenda.
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Wissensgesellschaft Welche Merkmale verbergen sich hinter diesem Etikett namens Wissensgesellschaft? Mindestes über die folgenden scheint Einmütigkeit zu bestehen: > Neben Geld und Macht gelten Information, Wissen und Expertise nun als gleich berechtigte Ressourcen gesellschaftlicher Reproduktion. > Es kommt zu einer außerordentlichen Expansion staatlicher und industrieller Forschungsaktivitäten und zur Zunahme wissensbasierter Wirtschaftsaktivitäten. > Man beobachtet die Zunahme wissensbasierter Berufe und deren Diffusion in immer neue Bereiche der Gesellschaft. Bildungs- und Karrierewege verlaufen nicht länger linear. > Als Ursachen der Entwicklung in Richtung zu einer Wissensbasierung der Gesellschaft werden z.B. die zunehmende Verwissenschaftlichung, die Globalisierung der Informationsund Wissensnetze sowie die gesteigerte Wahrnehmung von Risiko und Kontingenz benannt. Alle diese Entwicklungen erhöhen beständig sowohl den Bedarf nach Wissen als auch das Angebot an Wissen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass das Thema Wissensgesellschaft weniger neu ist, als es manchmal gehandelt wird: Robert E. Lane sprach 1966 zum ersten Mal von einer „knowledgeable society“. Daniel Bell (1973) verwendete die Begriffe „post-industrielle“, „professionelle“, „Informations-“ und „Wissensgesellschaft“ weitgehend synonym. Ihre Merkmale waren für Bell der Übergang von einer Güter produzierenden zu einer Dienstleistungsgesellschaft, der Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe, die Zentralität theoretischen Wissens als Quelle von Innovationen und Ausgangspunkt der gesellschaftlich-politischen Programmatik, die Steuerung des technischen Fortschritts sowie die Schaffung einer neuen „intellektuellen Technologie“. In seiner Diagnose nennt Nico Stehr (1994) als weitere Aspekte der Wissensgesellschaft die Durchdringung aller Lebens- und Handlungsbereiche mit wissenschaftlichem Wissen, die Verdrängung anderer Wissensformen durch wissenschaftliches Wissen, die Entstehung eines gesonderten Sektors der Wissenschafts- und Bildungspolitik, die Herausbildung der Wissensproduktion als eines neuen Produktionssektors, die Veränderung von Herrschaftsstrukturen, hier v.a. die Verschiebung der Legitimationsgrundlage von Herrschaft hin zu wissenschaftlich fundiertem Spezialwissen, und schließlich die Entwicklung des Wissens zu einem Kriterium sozialer Strukturbildung, also von Ungleichheiten und Konflikten. In der Wissensgesellschaft kommt Wissen mithin eine zentrale, jedoch durchaus ambivalente Rolle zu. So gibt es Konflikte um den Zugang zu Wissen, weil Wissen die Basis von sozialer Ungleichheit sein kann. Und es gibt weitere Ambivalenzen, die sich in Beschreibungsformeln zeigen, die gleichzeitig mit der der Wissensgesellschaft kursieren. 1. Informationsgesellschaft. Die Debatte um die Informationsgesellschaft konzentriert sich zunächst auf die Idee einer Revolutionierung der Informationstechnologie durch die Verschmelzung von Fernsehen und Telekommunikation, durch die Entwicklung von Netzwerken und die ökonomische Deregulierung. Erst dann schieben sich problematische Aspekte in den Vordergrund: die Zugangsbedingungen zu Information (v.a. Internet), der Schutz der Privatsphäre und die intellektuellen Eigentumsrechte. Ab Mitte der 1990er Jahre wird die Reflexion um die sozialen und politischen Dimensionen der Einführung neuer Technologien erweitert. In der politischen Diskussion wird der Begriff der Informationsgesellschaft vor allem dann benutzt, wenn es um eher technologische Aspekte (v.a. In-
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formations- und Kommunikationstechnologien) und deren Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung geht, während der Begriff der Wissensgesellschaft eher bei Diskussionen über das Bildungssystem und Fragen der Qualifikation (z.B. „Schlüsselkompetenzen“) fällt. 2. Risikogesellschaft. Das mit dem Begriff der Wissensgesellschaft nahe gelegte Versprechen einer auf Wissen beruhenden Gesellschaftsordnung, die sozial gerechter, wirtschaftlich effektiver, politisch rationaler, ökologisch angepasster sei, steht in auffälligem Missverhältnis zu einer Reihe anderer Topoi des öffentlichen Diskurses: Risiko, Unsicherheit, Nichtwissen, Autoritätsverfall der Experten; wiederkehrendes Thema ist auch die naturzerstörende Unangemessenheit der Wissenschaft und der Technik sowie ihr Versagen gegenüber der Aufgabe einer Versöhnung der divergierenden Ziele individuelle Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit und nachhaltiger Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Wissensgesellschaften kennzeichnet deshalb zweierlei: Einerseits kommt dem wissenschaftlichen Wissen als Instrument effizienter Kontrolle und Regulierung zentrale Bedeutung zu; andererseits vervielfältigen sich die Widerstandspotentiale gegen die von Wissenschaft und Technik selbst hervorgebrachten Entwicklungen. 3. Kontrollgesellschaft. Die vernetzten Medienverbundsysteme im Bereich der Informationsund Kommunikationstechnologien bieten nicht nur ein Mehr an Wissen und Transparenz, sondern sind auch als Kontrollorgane zu sehen, die beständig den sozialen Raum abtasten, in jedem Moment Position, Tätigkeit, Zustand eines jeden Subjekts, Objekts oder Prozesses bestimmen, abspeichern und Zustandsänderungen verfolgen, Sanktionen nach bestimmten Schwellwerten auslösen können (Türöffner, Kreditkarten, Verkehrs- und Fahrkarten, Stechkarten und Krankenversicherungskarten). Gilles Deleuze prognostiziert: „Wir sind dabei, in ,Kontroll‘gesellschaften einzutreten, die genaugenommen keine Disziplinargesellschaften mehr sind [...], die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation“ (Deleuze 1993: 250). Die Wissensgesellschaft, die zugleich auch Informations-, Risiko- und Kontrollgesellschaft ist, definiert sich mithin zum einen dadurch, dass überall in der Gesellschaft reflexive Mechanismen institutionalisiert werden. In der Wirtschaft wird Wissen über Märkte, Ertragserwartungen, Devisenkursentwicklungen etc. mit den Mitteln und im Stil der Wissenschaft erzeugt. Die Politik stützt sich auf wissenschaftliches Wissen über gesellschaftliche Funktionsbereiche: Bildung, Gesundheit, Bevölkerungsstruktur etc. Die Zukunft wird durch hypothetische Entwürfe, Simulationen und Modelle vorweggenommen, die Ursachen für Abweichungen tatsächlicher Ereignisse von erwarteten werden systematisch erforscht, die produzierten Daten gespeichert und weiterverarbeitet. Zum anderen ist die Wissensgesellschaft dadurch charakterisiert, dass mit der Durchdringung der Gesellschaft durch wissens(v)erarbeitende Strukturen zugleich auch Unsicherheit und Ungleichheit sowie Kontingenz und Kontrolle durch (wissenschaftlich-technologisches) Wissen zunehmen. Es mehren sich deshalb die Stimmen, die fordern, nicht nur mit Wissen zu regieren, sondern das Wissen selbst zu regieren – nicht nur durch eine Politik des Wissens, sondern auch durch Instanzen wie die Pädagogik, die zum kompetenten Umgang mit (Nicht-)Wissen anleiten können (z.B. Stehr 1994; Holland-Cunz 2005).
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Organisation Auch Organisationen wie Unternehmen und Verwaltungen müssen den Herausforderungen der durch Wissensbasierung dynamisierten Gesellschaft durch umfassende Lernprozesse begegnen. Wissen darf nicht nur weitergegeben, sondern muss zugleich weiterentwickelt bzw. neu erzeugt werden. Damit wird Wissensarbeit (Willke 1998) zum entscheidenden Produktionsfaktor. Dieser Begriff Wissensarbeit kennzeichnet Tätigkeiten (Kommunikationen, Transaktionen, Interaktionen), bei denen das erforderliche Wissen nicht einmal im Leben durch Erfahrung, Lehre, oder Professionalisierung erworben und dann angewendet wird. Vielmehr erfordert Wissensarbeit, dass das relevante Wissen kontinuierlich erworben, revidiert, permanent als verbesserungsfähig angesehen und als „Ressource“ betrachtet wird. Außerdem weiß es sich untrennbar mit Nichtwissen (nie sind alle Variablen bekannt) und Risiken verbunden. „Organisierte Wissensarbeit“ nutzt den Prozess des (projektförmigen, digital gestützten) Organisierens, um Wissen zu einer Produktivkraft zu entfalten. Insbesondere die Digitalisierung des Wissens erlaubt den Aufbau von organisationaler Intelligenz, und dies in ganz unterschiedlichen Formen. Zu denken ist beispielsweise an unternehmenseigene Datenbanken, Expertensysteme, Regelsysteme und Aufbereitungsinstrumente für das vorhandene Wissen (z.B. „data mining“, Zukunftslabors). Mithilfe solcher Instrumente und Verfahren kann das Wissen von Organisationsmitgliedern – einschließlich ihres „impliziten Wissens“ (Polanyi 1985) – symbolisch aufbereitet, organisiert und in ein eigenständiges Wissen der Organisation transformiert werden. Wissensmanagement bildet dabei die Verknüpfung von Wissensarbeit und intelligenten Organisationen, die im Kontext der Wissensgesellschaft Produkte und Dienstleistungen mit eingebauter Intelligenz („embedded intelligence“) herstellen. Manuel Castells (1996) stellt das „Netzwerkunternehmen“ in den Mittelpunkt der „informationellen kapitalistischen Ökonomie“, die er von weltweiten Informationsnetzwerken durchdrungen und von Deregulierung geprägt sieht. Flexible Arbeits- und Erwerbsformen, befristete Arbeitsverhältnisse, Selbständigkeit, freie Mitarbeit und eine hohe Mobilitätsbereitschaft sind für ihn charakteristische Merkmale des neuen Arbeitsmarktes. Die neue organisationale Form ist die des Projekts, die auf die Organisation wie auf ihre Mitglieder ambivalente Wirkung ausübt: Den positiven Effekten der Flexibilität und Autonomie stehen neue Zwangswirkungen wie die Entgrenzung von Arbeit und Responsibilisierung der Subjekte (s.u.) gegenüber.
Subjekte Der gegenwärtige Diskurs um die Wissensgesellschaft konzentriert sich auf die Entfaltung und Förderung subjektiver Kapazitäten und Entwicklungsmöglichkeiten. Es geht um die Mobilisierung immaterieller Ressourcen wie Befindlichkeiten, Einstellungen oder Erfahrungen im Rahmen von Erziehungs-, Lern- und Ausbildungsprozessen mit dem Ziele einer produktiven Steigerung dieser Ressourcen. Lernen bzw. die Lernfähigkeit von Individuen werden dabei zum zentralen Modus gesteuerter Entwicklung. Die Selbstentwicklung der Subjekte im individuellen Bildungsgang und die Selbstkonfiguration als „Selbstunternehmer“, „Ich-AG“ oder „Job-Nomade“ (Moldaschl 2002, 32) machen die zunehmende Subjektivierung der Wissensarbeit deutlich.
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Der Wissensarbeiter übernimmt Verantwortung für Arbeitsabläufe, kontrolliert sie mit, macht Verbesserungsvorschläge, diskutiert im Team, d.h. er bringt Wissen und Kompetenz, Lern- und Kommunikationsbereitschaft ein (Höhne 2003, 63). Funktionalität für gesellschaftliche bzw. organisationale Zwecke und Subjektivität sind einander nicht mehr entgegengesetzt, sondern verschmelzen vielmehr zu einem neuen Typ funktionaler Subjektivität. Plakativ formuliert: Durch selbsttätigen, flexiblen und selbstverantwortlichen Wissenserwerb modularisieren sich die Subjekte umgebungs- bzw. marktgerecht. „Kompetenz/Kompetenzerwerb“ und „lebenslanges Lernen“ bilden Schlüsselkonzepte im Diskurs über die Wissensgesellschaft, in denen Subjekte als umfassend, lebenslang und individuell „angemessen“ förderungsund entwicklungsfähig dargestellt werden. Diese Fähigkeiten kann man als Schlüsselqualifikationen oder als Kompetenzen zweiter Ordnung bezeichnen. Bildung in der Informationsgesellschaft verlangt nicht nur eine Addition von Fertigkeiten und Kenntnissen, sondern strategische Qualifikationen, mit denen diese Fertigkeiten und Kenntnisse fruchtbar gemacht werden können. Es geht um ein Zusammenwirken von Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz. Der Wissensarbeiter häuft nicht Wissensstoff an, sondern verfügt über Meta-Wissen. Auch diese Entwicklung ist ambivalent: Die Chancen liegen im Bereich von Autonomiegewinn und Ermächtigung, die Risiken im Zwang zum dauernden Kompetenzerwerb und zur Übernahme überzogener Verantwortlichkeit der Subjekte im Dienste ihrer „employability“ (Moldaschl 2002). Auch in anderer Hinsicht ergibt sich eine Ambivalenz. In der Wissensgesellschaft können wir uns auf Experten für alle nur erdenklichen Probleme und Entscheidungen stützen: Die Kehrseite liegt in der Expertokratisierung, d.h. in einer problematischen Zuschreibung oder Delegation von Entscheidungskompetenz an Experten (Nowotny 2003).
Information, Wissen und Bildung in der Wissensgesellschaft Was sind nun die Kernelemente der sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Wissensgesellschaft? Wissen kann verstanden werden als lernbereite Erwartungen, die nach bestimmten systemspezifischen Relevanzkriterien situations- und zweckgebunden aktiviert werden und den Umweltbezug regeln. In dieser Hinsicht kann Wissen auch als Handlungsressource aufgefasst werden. Eine Wissensgesellschaft zeichnet sich weiter dadurch aus, dass Wissen einem Prozess permanenter Revision unterworfen ist. Dies führt im Vergleich mit anderen Gesellschaftsformen zu einer höheren Lern- und Veränderungsbereitschaft, verweist aber auch auf gestiegene Unsicherheits- und Risikopotentiale. Zentrales Merkmal einer Wissensgesellschaft ist ihre umfassende Wissensbasierung. Indikatoren dafür sind die Zunahme wissensbasierter Tätigkeiten und die Bedeutung lernender Organisationen und intelligenter Güter. Produktions- und Dienstleistungsarbeit wird durch andere Formen von Tätigkeiten ergänzt oder ersetzt, die sich als Wissensarbeit bezeichnen lassen. Die Subjektivierung der Wissensarbeit zeichnet sich durch laufenden Kompetenzerwerb und zunehmende Verantwortlichkeit für selbsttätiges Lernen aus. Die informationstechnische Vernetzung der Wissensgesellschaft verstärkt die schnelle Produktion, Reproduktion und Distribution von Wissen, das damit einen herausragenden Stellenwert für die Gesellschaft, ihre Organisationen und ihre Individuen erhält. Dies stellt die Frage nach dem Verhältnis von Information, Wissen und Bildung. Aus Informationen wird Wissen dann, wenn aufgenommen, kontextualisiert, bewertet und auf zu lö-
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sende Probleme bezogen wird. In diesem Sinne setzt auch Stehr Wissen mit Handlungsfähigkeit und der „Teilnahme an den kulturellen Ressourcen der Gesellschaft“ (Stehr 1994: 205) gleich. Dies setzt die Fähigkeit voraus, sich zu orientieren. Diesen Zusammenhang zwischen Wissen, Orientieren und Handeln betonen auch de Haan und Poltermann: „Bewusst und sinnhaft handeln kann man nur auf der Basis reflektierter Auseinandersetzung mit Werten, Zielen und Visionen, die dem Handeln Orientierung bieten. Insofern ist das Wissenskonzept auch eng mit der Idee von Bildung verbunden. Bildung weist über Wissen insofern hinaus, als sich mit ihr Selbstreflexivität verbindet“ (de Haan/Poltermann 2002, 10). Die Folgen der Wissensgesellschaft sind allerdings, das sei zum Schluss nochmals betont, zutiefst ambivalent: Die Subjekte (individuelle und kollektive) können und müssen Wissen für sich aufbauen, um handeln zu können – hier Ermächtigung durch Kompetenzaufbau, dort Zwangswirkung durch Kontrolle.
Literatur Bell, Daniel (1976/1973): Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M./New York. bmb+f (1996/1998): Delphi-Befragung „Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft Auswirkungen auf Bildungsprozesse und Bildungsstrukturen“, Integrierter Abschlussbericht. München/Basel. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt/M., S. 254–262. de Haan, Gerhard/Poltermann, Andreas (2002): Funktion und Aufgaben von Bildung und Erziehung in der Wissensgesellschaft. Internet: http://www.wissensgesellschaft.org/themen/bildung/bildungwissen.pdf (27.8.2003). Gibbons, Michael et al. (1994): The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London. Holland-Cunz, Barbara (2005): Die Regierung des Wissens. Wissenschaft, Politik und Geschlecht in der „Wissensgesellschaft“. Opladen. Höhne, Thomas (2003): Pädagogik der Wissensgesellschaft. Bielefeld. Lane, Robert E. (1962): The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society. In: American Sociological Review, 5, S. 650ff. Moldaschl, Manfred (2002): Ökonomien des Selbst. Subjektivität in der Unternehmergesellschaft. In: Klages, J./Timpf, S. (Hg.): Facetten einer Cyberwelt. Hamburg, S. 29–62. Nowotny, Helga (2003): Democratizing expertise and socially robust knowledge. In: Science and Public Policy (30: 3), S. 151–56. Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen, Frankfurt/M. Stehr, Nico (1994): Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt/M. Weber, Max (1920/1972): Die protestantische Ethik I. Tübingen. Willke, Helmut (1998): Organisierte Wissensarbeit, Zeitschrift für Soziologie (27: 3), S. 161–177.
Sachregister
Abweichung 130 Anerkennung 172 Anomie 188 Aufklärung 101 Autorität 18 Bildung 23, 27, 170 Bildungsbiografie 30 Bildungslaufbahn 29 Biografie 29 Bürokratie 136 Chancengleichheit 24
Identität 81, 173 Identitätsarbeit 84 Ideologie(n) 114, 144 Ideologiekritik 74, 102 Individualisierung 48, 81 Inklusions- und Exklusionsmechanismen 191 Interaktion 12, 67 Intimkommunikation 46 Jugend 86 Jugenden 90 Jugendkultur 91
Einwanderungsgesellschaft 36 Entwicklungsaufgaben 88 Erziehung 23, 27 Ethnien/Ethnisierung 110 Ethnizität 185 Etikettierungstheorie 131 European marriage pattern 44
Kapitalismus 59 Kindheiten 97 Kindheitsforschung 98 Klassentheorie 183 Kleinfamilie 44 Kommunikation 67, 71 Kontrollgesellschaft 195 Kriminologie 130 Kritik 101 Kultur(en) 107 Kulturen als Konstruktion 111 Kulturindustrie 77
Familie 42 Figuration 64
Lebensgeschichte 29 Lebenslauf 29
Gemeinschaften 56 Gender Mainstreaming 54 Gender/Geschlecht 50 Geschlechterdifferenz 50 Geschlechterrollen 44 Geschlechterverhältnisse 52 Gesellschaftsbegriff 56 Gesellschaftstheorien 56 Gesellschaftsvertrag 173 Gewalt 113 Gouvernementalität 144 Gruppen 62
Macht 112, 141 Machtbeziehungen 114 Massenkommunikation 118 Massenmedien 117 Mediengesellschaft 120 Menschenbild 23 MigrantInnen 35 Migration 15, 35 Milieutheorien 184 Moderne 59 Moralentwicklung 190
Definitionsmacht 189 Diskriminierung 184 Diskursanalyse 74 Disziplinierung 150
Habitus 53 Handlung 67 Herrschaft 19, 112, 136
Normalität 130 Normalitätsvorstellungen 132 Normen 187 ökologische Krise 124 Organisationen 135
200 Paar- und Freundschaftsbeziehungen 42 pädagogisches Handeln 15 Persönlichkeitsentwicklung 26 Piaget, Jean 26 PISA-Studien 24, 36 Politikbegriff 14 Postmoderne 102 Prävention 13^1, 146 Praxis 176 Primats des Sozialen 11 Rationalisierung 60 Raum 161 Risikogesellschaft 125, 195 Rollenbeziehungen 46 Rollentheorie 187 Schichtungstheorien 184 Schlüsselqualifikationen 197 Selbstanalyse 16 Sex und Gender 51 soziale Ordnung 67 soziale Ungleichheit 181 soziales Geschlecht 51 Sozialisationsagentur 42 Sozialisationsforschung 25 Sozialraum 159
Sachregister Sozialstaat 160 Soziologie der Pädagogik 104 Sprache 164 Spracherwerb 25 Staat 143 Statuspassagen 30 Subjekt 170 Subjektivität 197 Systemtheorie 60, 71, 154 Taylorismus 137 Theorie und Praxis 58 Umweltprobleme 124 Ungleichheit 23 Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung 56 Verstehen 71, 72, 164 Werte 187 Wertrationalität 70 Wissensgesellschaft 193 Wissenssoziologie 76 Zivilgesellschaft 159 Zweck-Mittel-Rationalität 70 Zweigeschlechtlichkeit 50
Autorenverzeichnis
Emmerich, Marcus, geb. 1969, Dr. des. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Ferchhoff, Wilfried, geb. 1947, lehrt als Professor an der Ev. Fachhochschule Bochum und an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Neuere Veröffentlichung: Jugend im dritten Jahrtausend, Wiesbaden (3. Auflage) 2006. Fuchs, Peter, geb. 1949, Prof. Dr. rer. soc., lehrt an der Hochschule Neubrandenburg. Neuere Veröffentlichungen: Der Sinn der Beobachtung, Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004; Die Psyche, Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Weilerswist 2005; Das Gehirn ist genauso doof wie die Milz (Koautor: Markus Heidingsfelder), Weilerswist 2005. Görg, Christoph, geb. 1958, Dr. phil. habil., Mitarbeiter am UFZ-Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle. Neuere Veröffentlichungen: Regulation der Naturverhältnisse, Münster 2003; Postfordistische Naturverhältnisse (Koautor Uli Brand), Münster 2003. Grimmig, Martina, geb. 1966, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Arbeitsmigration und Familienbetrieb“ am Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Neuere Veröffentlichungen: Natürliche Ressourcen und soziale Verhältnisse: Ein Beitrag zur Gegenwart und Geschichte der Kariña (Venezuela), 2006 (i.E.). Helfferich, Cornelia, geb. 1951, Prof. Dr. phil., lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, Leitung des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts (SoFFI K) mit Forschungsprojekten u.a. zu Familienentwicklung im Lebenslauf und in der Biografie. Neuere Veröffentlichungen: Qualität qualitativer Daten, Wiesbaden 2005; Familienplanung im Lebenslauf von Männern (Koautoren Heike Klindworth und Jan Kruse), Köln 2006. Honig, Michael-Sebastian, geb. 1950, Prof. Dr. rer. soc. habil., lehrt Pädagogik an der Universität Trier. Neuere Veröffentlichungen: Krise/Krisenintervention. In: Dieter Kreft/Ingrid Mielenz (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit, Weinheim 2005; Was ist ein guter Kindergarten? Theoretische und empirische Analysen zum Qualitätsbegriff in der Pädagogik (Koautoren: Magdalena Joos und Norbert Schreiber), Weinheim/München 2004; Entwurf einer Theorie der Kindheit, Frankfurt/M. 1999. Hormel, Ulrike, geb. 1968, promoviert am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Neuere Veröffentlichungen: Bildung für die Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2004 (Koautor: Albert Scherr). Kessl, Fabian, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld, Fakultät für Pädagogik. Neuere Veröffentlichungen: Soziale Arbeit und Soziales Kapital (Koautor Hans-Uwe Otto), Wiesbaden 2004; Handbuch Sozialraum (Koautoren Christian Reutlinger, Susanne Maurer und Oliver Frey), Wiesbaden 2005; Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume (Koautor Hans-Uwe Otto), Leverkusen 2006 (i.E.).
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Autorenverzeichnis
Kommer, Sven, geb. 1964, Dr. phil., Hochschuldozent für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Leiter der Abteilung Medienpädagogik im Institut für Medien in der Bildung. Neuere Veröffentlichungen: Kinder im Werbenetz. Eine qualitative Studie zum Werbeangebot und zum Werbeverhalten von Kindern, Opladen 1996; Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung, Opladen 1999 (Koautoren J. Fromme, J. Mansel und K. Treumann); Medien in den Biografien von Kindern und Jugendlichen. In: MERZ Heft 1/2005, S. 53–59 (Koautor R. Biermann) Kotthoff, Helga, geb. 1953, Prof. Dr. phil., lehrt an der Pädagogischen Hochschule Freiburg am Institut für deutsche Sprache und Literatur. Neuere Veröffentlichungen: Journal of Pragmatics 1/2006, Themenheft zu „gender and humor“; Ritual and Style across Cultures. In: Kotthoff, H./Spencer-Oatey, H. (Hg.): Intercultural Communication. Handbooks on Applied Linguistics, Berlin/New York (erscheint 2006); Geschlechterforschung in der angewandten. Linguistik/Gender Studies in Applied Linguistics. In: Ammon, U. et al.: Sociolinguistics. An International Handbook of the Science of Language and Society (erscheint 2006). Liebsch, Katherina, geb. 1962, Prof. Dr. phil., lehrt an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, Institut für Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften. Neuere Veröffentlichungen: Umgang mit der Verletzlichkeit. Zur Rolle der leiblichen Erfahrung von Schmerz bei der Bestimmung eines Körperbegriffs. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/ 2004, S. 31–48; Klare Verhältnisse. Konstruktion von Geschlechterdifferenz als politische Strategie. In: Helduser, Urte u.a. (Hg.): under construction? Konstruktivistische Perspektive in feministischer Theorie und Forschungspraxis, Frankfurt/M./New York 2004, S. 150–164; Alles wie früher, nur anders. Geschlechterverhältnisse heute. In: Standpunkt: sozial. Hamburger Forum für Soziale Arbeit 2/2004; XY ungelöst? Geschlechterfragen und Soziale Arbeit, Hamburg 2004, S. 11–19. Lindemann, Gesa, geb. 1956, PD Dr. phil. habil., wissenschaftliche Leitung des Forschungsprojekts „Bewusstsein und anthropologische Differenz“, Technische Universität Berlin, Institut für Soziologie. Neuere Veröffentlichungen: „Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin“, München 2002; „Beobachtung der Hirnforschung“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (53: 5), S. 761–781, 2005; „Die Emergenzfunktion und die konstitutive Funktion des Dritten. Perspektiven einer kritisch-systematischen Theorieentwicklung“, erscheint in: Zeitschrift für Soziologie, 2, 2006. Maasen, Sabine, geb. 1960, Prof. Dr. phil., lehrt an der Universität Basel, Programm für Wissenschaftsforschung. Neuere Veröffentlichungen: Democratization of Expertise? Exploring Novel Forms of Scientific Advice in Political Decision-Making (Koautor Peter Weingart), Berlin 2005; Voluntary Action. Brains, Minds, and Sociality (Koautoren Wolfgang Prinz und Gerhard Roth), Oxford 2003; Wissenssoziologie. Eine Einführung, Bielefeld 1999. Mansfeld, Cornelia, geb. 1953, Prof. Dr. phil., lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt. Neuere Veröffentlichungen: Bildung und Bildungsanlässe (Koautorin Birgit Bender-Junker), Darmstadt 2005; Von einer innovativen Idee zur paradoxen Intervention. Bedingungen, Kontexte und Erfahrungen mit einer Mädchenklasse an einer koedukativen Schule. Eine Fallstudie (Koautorin Katharina Liebsch). In: Breitenbach, Eva u.a. (Hg.): Geschlechterforschung als Kritik, Bielefeld 2002. Roth, Roland, geb. 1949, Prof. Dr. phil. habil, lehrt Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH). Neuere Veröffentli-
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chungen: (unter Mitarbeit von Anke Benack), Bürgernetzwerke gegen Rechts. Evaluierung von Aktionsprogrammen und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Bonn 2003; Maßnahmen und Programme gegen Rechtsextremismus wissenschaftlich begleitet. Aufgaben, Konzepte und Erfahrungen (Koautor: Heinz Lynen von Berg), Opladen 2003; Jugendkulturen, Politik und Protest (Koautor: Dieter Rucht), Opladen 2000. Sauer, Birgit, geb. 1957, Prof. Dr. phil., lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Neuere Veröffentlichungen: Geschlecht und Politik. Institutionelle Verhältnisse, Verhinderungen und Chancen, Berlin 2004; Was bewirkt Gender Mainstreaming? Ansätze der Evaluierung durch Policy-Analysen, Frankfurt/M./New York 2005 (Ko-Herausgeberin Ute Behning); Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven, Wien 2004 (Ko-Herausgeberin Sieglinde Rosenberger). Scherr, Albert, geb. 1958, Prof. Dr. phil. habil., lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Neuere Veröffentlichungen: Inklusion/Exklusion in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2004 (Mitherausgeber: Roland Merten); Bildung für die Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2004 (Koautorin: Ulrike Hormel). Jugendsoziologie. Wiesbaden 2005 (Koautor: Bernhard Schäfers). Stefan Schnurr, geb. 1958, Prof. Dr. phil., Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe (Basel und Olten); Neuere Veröffentlichungen: Privatisierung und Wettbewerb in der Jugendhilfe, Neuwied 2000 (herausgegeben mit Hans-Uwe Otto); Sozialpädagogische Professionalität in marktförmig strukturierten Organisationskontexten. In: Otto/Oelerich/Micheel (Hg.): Empirische Forschung. Sozialarbeit – Sozialpädagogik – Soziale Probleme (2003); Internationale und international vergleichende Forschung. In: Schweppe/Thole (Hg.): Sozialpädagogik als forschende Disziplin, Weinheim/ München 2005. Schweitzer, Doris, geb. 1974, MA Soziologie, promoviert an der Universität Freiburg zu dem Thema „Topologien der Kritik. Kritische Raumkonzepte bei Gilles Deleuze und Michel Serres“. Stehr, Johannes, geb. 1953, Prof. Dr. phil., lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt, Fachbereich Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuere Veröffentlichungen: Soziale Ausschließung durch Kriminalisierung. Anforderungen an eine kritische Soziale Arbeit. In: Anhorn, R./Bettinger, F. (Hg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, Wiesbaden 2005, S. 273–285; Außerstrafrechtliche Reaktionen auf Kriminalität. In: Anhorn, R./Bettinger, F. (Hg.): Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit. Impulse für professionelles Selbstverständnis und kritisch-reflexive Handlungskompetenz, Weinheim/München 2002, S. 189–199. Ziegler, Holger, geb. 1974, Dr. phil., Mitarbeiter im DFG-Projekt „Räumlichkeit und Soziales Kapital in der Sozialen Arbeit“ an der Fakultät für Pädagogik, Universität Bielefeld. Neuere Veröffentlichungen: What works in Social Work – Challenging the political agenda. In: Sommerfeld, Peter (Hg.) 2005: Evidence based social work – Towards a New Professionalism? Bern, S. 31–51; Soziale Arbeit als Garant für ,das Soziale‘ in der Kontrolle? In: Kriminologisches Journal, 2, 2005, S. 162–183, The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheit. In: Widersprüche, 98, Dezember 2005, S. 45–74 (Koautoren: Alex Klein und Sandra Landhäußer).