SOS CERES Ein Zukunftsabenteuerroman von ALF TJÖRNSEN
Raumstation „Terra VII“ glich in diesen Tagen einem Narrenhaus. ...
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SOS CERES Ein Zukunftsabenteuerroman von ALF TJÖRNSEN
Raumstation „Terra VII“ glich in diesen Tagen einem Narrenhaus. Die sonst so nüchternen Räume und Gänge hallten wider vom hektisch aufgeregten Lärmen ganzer Scharen von Reportern und Kameraleuten. Sie bevölkerten die Werkstätten und Unterkunftsräume, ließen sich in Raumtaxis draußen herumkutschieren und hefteten sich in Trauben an jeden Raumfahrer und Stationsangehörigen, von dem sie sich irgendeine Auskunft erhofften, um den Sensationshunger der fünf Milliarden Menschen zu stillen, die im Herbst des Jahres 2053 den Planeten Erde bewohnten. Jeder sollte es miterleben, wenn die neue, aus drei Superraumschiffen bestehende, Expedition zur Venus aufbrach. „Wirklich schauderhaft“, beschwerte sich Teddy Plum, der dicke Raumschiffingenieur, „auf Schritt und Tritt stößt man auf dieses zudringliche Volk, muß tausend alberne Fragen beantworten, stolpert über die Kabel ihrer Mikrophone – und hat doch in Wirklichkeit gar nichts mit der Sache zu tun.“ Captain John Palmer klopfte dem Dicken beruhigend auf den breiten Rücken: „Geduld, Teddy, du hast es gleich überstanden. Schau nur hinaus: Der Start der Venusschiffe steht unmittelbar bevor.“ 3
Teddy Plum trat neben den jungen Raumschiffoffizier an das große Gangfenster, das den Blick auf das mächtige Rund der Erde in der Tiefe und auf drei Raumschiffkolosse freigab, die in der Nähe der Station schwebten. Langsam – durch die Achsendrehung der radförmigen Station verursacht – bewegte sich alles am Fenster vorbei. Aus dem Lautsprecher klangen verworrene Befehle. Ein Dreierschuß grünleuchtender Raketen, vom Turm der Station aus verfeuert, fuhr am Fenster vorbei und verpuffte in der Schwärze des Himmels. Die Raumtaxi, welche die Flotte bisher dicht umlagert hatten, setzten sich in Bewegung und beeilten sich, aus der Nähe der Düsen der Raumschiffe zu kommen. Jetzt schlug das Feuer aus den Startraketen. Die Kolosse fuhren. Sie gingen mit großem Abstand in Kiellinie, wurden schneller und schneller. Längst zeigten die bläulich glühende Flammenstrahlen aus den Heckdüsen an, daß die Haupttriebwerke, die hochleistungsfähigen Neutronenaggregate, eingeschaltet worden waren. John Palmer seufzte unwillkürlich, als er der entschwindenden Flotte nachsah. Seine guten Wünsche und seine Grüße begleiteten sie. Er hatte dem Ersten Offizier des Flaggschiffes einen langen Brief – in der fremdartigen Schrift der Venusianer abgefaßt – mitgegeben. Er war für Stella bestimmt. „Wärst wohl am liebsten mitgefahren – zu deiner sagenhaften Venusprinzessin?“ fragte Teddy Plum mit gutmütigem Spott. „Na ja, tröste dich, mein Junge. Das nächstemal bist du gewiß wieder dabei.“ John wollte etwas erwidern, doch in der nächsten Sekunde wurde er brutal zur Seite gestoßen. Die Meute der Reporter kam den Gang entlang gerast, rücksichtslos jeden niederrennend, der ihr in den Weg geriet. Schreiend drängte sie den Schleusenkammern zu. Gleich danach hörte man, wie sich Reporter und Kameraleute um die ersten Plätze in den Zubringerraketen prü4
gelten, die in langer Reihe draußen vor den Luftschleusen warteten, um sie zur Erde zurückzubringen. „Wehe, wenn sie losgelassen“, meinte John kopfschüttelnd. Der Dicke wies auf den nunmehr verlassenen Gang. Leere Notizblöcke, zerbrochene Stative, Kameras, aus denen man nur hastig die Filme herausgerissen hatte, lagen in wüstem Durcheinander auf dem Boden herum. „Sieh dir dieses Schlachtfeld an, John. Kollege Wilkinson, der bedauernswerte Stationschef, wird seine helle Freude haben.“ John Palmer zeigte aus dem Fenster. Die ersten der geflügelten Landungsraketen huschten vorüber und stürzten der Erde entgegen. „Da fahren sie hin – und um uns kümmert sich keiner. Unsere Expedition ist ihnen viel zu uninteressant.“ „Na ja“, sagte Teddy Plum, „sie dient ja auch nur der Wissenschaft.“ „So long, Teddy. Vergiß nicht, deine Maschinisten rechtzeitig an Bord zu bringen. Der ‚Hidalgo’ startet in einer Stunde und vierzig Minuten.“ Eilig strebte John der Kabine des Stationsleiters zu, in der er Kommodore Schillinger zu finden hoffte. Als er nach kurzem Klopfen eintrat, sah er seine Erwartung erfüllt. Der berühmte Raumfahrtpionier saß auf der Bettstelle seines Gastgebers, in einen Berg von Tabellen und Raumflugdiagrammen vertieft. John Palmer nahm Haltung an. „Melde gehorsamst: Raumschiff ‚Hidalgo’ klar zur Ausreise.“ Der Kommodore schaute John mit seinen scharfen, blauen Augen an. „Ist die Mannschaft jetzt vollzählig, Palmer?“ „Das Bordpersonal – zwei Offiziere und zwanzig Mann – befindet sich bereits drüben. Chefingenieur Plum und seine zehn Maschinisten werden gegenwärtig übergesetzt.“ „Die Besatzung des ‚Hidalgo’ besteht demnach – wenn man Sie beide mitzählt – aus fünf Offizieren und dreißig Mann“, sagte der Stationschef. „Hinzu kämen noch Professor Wedekind 5
und Dr. Bärwald sowie Dr. Andrew Smith, der Schiffsarzt. Das wären also 38 Mann. Finden Sie nicht, Kommodore, daß das für eine so große Unternehmung reichlich wenig ist.“ „Warum, mein Lieber? Der ‚Hidalgo’ ist weitgehend automatisiert und beansprucht während der Fahrt nur wenig Wartung. Ich halte 38 Mann für mehr als genug. Bedenken Sie doch, was wir für jeden einzelnen an Proviant, Trinkwasser und Sauerstoff mitschleppen müssen – bei einer jahrelangen Reise …“ „Da haben Sie freilich recht. Ich bewundere überhaupt Ihren Mut, diese Reise zu unternehmen. Die Planetoiden dürften ein verdammt gefährliches Fahrwasser sein. Und zu holen gibt es dort bestimmt nichts.“ „Sagen Sie das nicht, Mister Wilkinson“, mischte sich Professor Wedekind, der weltberühmte Astrophysiker und Planetenspezialist, in das Gespräch. „Die Wissenschaft verspricht sich von dieser Fahrt sehr wertvolle Erkenntnisse. Mittels Radarmessungen werden wir die Zahl dieser Kleinplaneten und ihre Bahnen genau erforschen. Man schätzt sie auf insgesamt mindestens dreißigtausend, doch sind die meisten so winzig, daß man sie von der Erde aus nicht wahrnehmen kann. Wir werden Gesteinsproben sammeln und vielleicht die Frage klären können, ob die Planetoiden Bruchstücke eines großen Planeten sind, der einstmals im Raum zwischen Mars und Jupiter um die Sonne kreiste und – wie in Fachkreisen zuweilen angenommen wird – einer kosmischen Katastrophe zum Opfer gefallen ist.“ „Gewiß, sehr interessant – von Ihrem Standpunkt aus“, erklärte Wilkinson. „Nun bedenken Sie aber mal, was das kostet.“ Der Kommodore lachte. „Von dieser Reise wird natürlich nicht nur die exakte Wissenschaft einen Gewinn haben. Sie wissen, Gentlemen, daß die Pläne unserer Raumfahrtorganisation weit über Mars hinausgreifen. Zwischen Mars und dem nächsten Großplaneten, Jupiter, gähnt eine Strecke leeren Raumes, die zu 6
gewaltig ist. um mit unseren heutigen Mitteln bewältigt werden zu können. Vielleicht gelingt es, den einen oder anderen Planetoiden zu einer Zwischenlandestation auszubauen. Die größten von ihnen – Ceres, Pallas, Vesta und andere – müßten ohne Zweifel für diesen Zweck geeignet sein.“ „Vielleicht sollte man einen Kleinplaneten mit stark exzentrischer Bahn vorziehen“, schlug der Professor vor. „Vielleicht wäre es möglich, mit Hilfe solcher Planetoiden einen großen Teil der Entfernung Mars–Jupiter ‚auf natürlichem Wege’ zu überbrücken.“ „Hoffentlich geht die Phantasie nicht mit Ihnen durch, Professor. Zunächst müssen wir erst einmal dort sein.“ Oberingenieur Wilkinson war noch immer nicht überzeugt. „Diese Entfernung, Gentlemen – und dann ausgerechnet mit dem ‚Hidalgo’, der schon beim Kampf um den Mars mitgefochten hat * ). Der alte Kahn schafft das doch gar nicht.“ „Sagen Sie das nicht, Mr. Wilkinson“, erwiderte der Kommodore. „Sie wissen am besten, was aus diesen Schiffen herauszuholen ist. Gewiß, der ‚Hidalgo’ ist eine alte Gurke, aber Sie haben ihn auf ‚Terra VII’ ja prächtig renovieren lassen. Außerdem machen wir auf Mars Zwischenlandung und füllen in den dortigen Depots unsere Vorräte auf. Doch jetzt kommen Sie, Gentlemen, die Startzeit rückt heran. X minus neunzig – höchste Zeit, an Bord zu gehen. Leben Sie wohl, Wilkinson.“ „Gute Fahrt – und auf ein gesundes Wiedersehen!“ * „Und ich sage dir immer wieder das eine, John: Diese endlos langen Raumreisen gehen mir auf die Nerven. Das ewige Einerlei an Bord, Tag für Tag die gleichen dummen Gesichter, die*
siehe UTOPIA-Kleinband Nr. 95: „In den Wüsten des Mars“
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selben langweiligen Bemerkungen. Schier zum Verrücktwerden ist das.“ John Palmer sah seinen Freund nachdenklich an. Der blonde Frank saß am Tisch der kleinen Offiziersmesse des „Hidalgo“ und zerwühlte mit fahrigen Bewegungen seine Haare. John kannte diese Zustände. Der gute Frank war ein prächtiger Kamerad, aber er war – seinem ganzen Temperament nach – entsetzlich ungeduldig und ein ewig unruhiger Geist. Jede Raumreise von längerer Dauer zerrte unerträglich an seinen Nerven. „Warum hast du dich auch zur Raumfahrerei gemeldet, Frank? Du wußtest doch, daß Fahrten zu den Planten keine Weekend-Touren sind. Wärst du nur lieber zur interkontinentalen Raketenfliegerei gegangen.“ Frank Wilson wehrte entsetzt ab. „Dann lieber Autobuschauffeur in New York. Nein, John, unsereins kommt ja doch von der Raumfahrt nicht mehr los, wenn er erst einmal die Luft fremder Planeten geatmet hat.“ „Meinst du die Stickluft der Venus oder das dünne Gasgemisch, das sie einem auf Mars zum Atmen anzubieten wagen?“ lachte John. „Ach, ganz einerlei. Es ist das Erregende des großen Abenteuers, das schon in alten Zeiten die Pioniere der Erde zu neuen Ufern getrieben hat. Ärgerlich ist nur, daß man jedesmal so einen verdammt langen Anmarsch hat.“ „Tröste dich, Frank: Auch dem alten Kolumbus ist es nicht besser ergangen, nur hatten die Menschen damals noch mehr Zeit und Geduld. Im übrigen ist der erste Teil unserer Reise bald zu Ende. Schau, da kommt Reddy, unser wackerer Navigationsoffizier. Hallo, Rotkopf, wann treffen wir auf Mars ein? Hoffentlich hat unser Zug keine Verspätung. Dem guten Frank beginnt der Geduldsfaden schon zu reißen.“ Leutnant Hieronymus Brosamer, wegen seiner roten Haartolle 8
von den Freunden „Reddy“ genannt, öffnete einen Wandschrank und kramte heftig in einem Haufen von Papieren. „Wir haben die Fahrtzeit bisher hundertprozentig genau eingehalten. Übermorgen um diese Zeit sind wir am Mars!“ „Na also“, freute sich John. „Sag mal Reddy, was suchst du da eigentlich? Ich nehme an, deine Horoskope sind dir abhanden gekommen. Du hast übrigens noch gar nicht erzählt, was die Sterne zu unserer Reise sagen.“ Hieronymus warf ihm einen gekränkten Blick zu. Immer wieder mußten die Freunde sich mit ihren Schandmäulern über seine stille Liebe zur Astrologie lustig machen. Doch als die Gesichter der beiden scheinbar ganz ernsthaft blieben, bequemte er sich zu einer Antwort. „Meine Prognose lautet ungünstig – um nicht zu sagen beängstigend. Die Konjunktion von Mars und Saturn – Jupiter in Opposition zu Venus – ich anstelle Kommodore Schillinger hätte unter solchen Aspekten die Reise nicht angetreten. Aber was versteht ihr denn davon?“ „Nichts“, entgegnete John, „oder doch wenigstens soviel, daß man eine Raumreise nicht auf einen beliebigen Zeitpunkt festsetzen oder nach Lust und Laune verschieben kann, nur weil der Starttermin den Herren Astrologen nicht in den Kram paßt. Das solltest du als Navigationsoffizier eigentlich am besten wissen, Reddy,“ Hieronymus wurde verlegen. Er fing an zu stottern. „Gewiß – natürlich – selbstverständlich, nur … – Im übrigen handelt es sich bei meiner bisherigen Prognose auch nur um eine provisorische Überschlagsrechnung. Vom Mars aus, wenn der interessantere Teil der Fahrt beginnt, will ich alles noch mal genauer durchrechnen. Und nun müßt ihr mich entschuldigen. Der Kommodore erwartet mich im Führerstand.“ „Komm, Frank, sehen wir uns den Mars vom Beobachtungs9
raum aus an. Ich hoffe, der Professor wird uns nicht gleich hinauswerfen.“ Professor Wedekind war so in seine Beobachtungen vertieft, daß er seinen Besuchern gar keine Beachtung schenkte. „Donnerwetter, Bärwald, da hat sich seit unserem letzten Besuch manches geändert. Die dunkelgrünen Gebiete haben sich erheblich ausgedehnt. Sie leuchten auch viel intensiver als früher.“ „Offenbar ein Beweis dafür, daß es gelungen ist, die Oberfläche dieses toten Planeten wieder mit Pflanzenwuchs zu überziehen. Meinen Sie nicht auch, Herr Professor?“ Durch einen Blick auf den Projektionsschirm des Elektronenteleskopes überzeugten sich die Freunde davon, daß tatsächlich vieles anders geworden war. Mars verbarg sich nicht wie damals unter einem fluoreszierenden Dunstschleier. Klar und offen lag seine Oberfläche vor ihren Augen. Die groben Umrisse der Landschaften ließen sich schon ohne Fernrohr erkennen. „Tüchtige Arbeit haben die Martianer in den zwei Jahren geleistet“, sagte Frank Wilson anerkennend. „Wenn wir das nächstemal kommen, wird hier alles über und über grün sein. Dann hat der ‚Rote Planet’ kein Recht mehr auf seinen Namen.“ Das Summen der Signalanlage am automatischen Radargerät ließ die vier Männer im Beobachtungsraum aufhorchen. Neugierig trat John an den Projektionsschirm des Spezialfernrohres, das mit dem Peilgerät gekoppelt war. Rasch gelang es ihm, das Bild scharf einzustellen. Ein erstaunter Ausruf kam von seinen Lippen. „Ein Raumschiff – von längst veraltetem Typ. Solche Kähne waren es, die uns damals zusammenschossen, als wir mit der ‚Corona borealis’ zum erstenmal zum Mars fuhren. Hätte nicht gedacht, daß es solche Museumsstücke hier noch gibt.“ „Das Schiff zeigt keinerlei Kennzeichen“, stellte Frank fest. „Schade, daß wir unbewaffnet sind. Wir sollten ihm sonst einen Schuß vor den Bug geben und …“ 10
„Rede keinen Unsinn, Frank. Wir leben nicht mehr im Krieg. Hallo – was ist denn das? Der Bursche dreht ab und nebelt sich ein. Ich muß sofort dem Kommodore Meldung machen.“ „Sehen Sie nur, Gentlemen“, rief Dr. Bärwald aufgeregt. „Eine Explosionswolke am Südrand von Hellas!“ John stob davon und eilte in den Führerraum. Kommodore Schillinger beugte sich gerade mit dem Chefingenieur und Hieronymus Brosamer über einen Berg von Berechnungen und Kurven. Reddy schaute ziemlich betreten drein. Er schien gerade einen Anpfiff bekommen zu haben. „Aber die Berechnungen – müssen doch stimmen, Sir. Ich kann mir nur erklären, daß vielleicht das neue Triebwerk …“ „Nichts gegen meine Maschine!“ grollte Teddy Plum drohend. „Die ist in Ordnung, mein Junge.“ John Palmer räusperte sich diskret und erstattete seine Meldung. Schillinger hörte nur zerstreut zu. „Verdächtige Geschichte – na ja, lassen Sie den Kahn laufen. Das ist Sache der Martianer. Wir haben im Augenblick andere Sorgen. Die Berechnung der Fahrtzeit ist nicht ganz aufgegangen, und wir wissen noch nicht, wo der Fehler steckt.“ „Jawohl, Kommodore. Mir kam es eben, bei der Beobachtung, auch so vor, als ob wir wesentlich weniger als zwei Tagereisen vom Ziel entfernt wären.“ „Bereiten Sie das Kreisbahnmanöver vor, Palmer“, befahl der Kommodore. „Und Sie, Plum, machen die Bremsaggregate klar.“ * Den irdischen Raumfahrern wurde ein begeisterter Empfang zuteil, als sie auf dem großen Flugfeld von Hellas den Landungsraketen entstiegen. Urgo, das neue Regierungsoberhaupt des Planeten, war an der Spitze seiner Mitarbeiter erschienen 11
und hieß die Gäste auf das herzlichste willkommen. In seinem Gefolge fanden John und seine Freunde so manchen Bekannten und Leidensgefährten aus der Zeit ihrer Verbannung auf Mars wieder. Auch Martio, Urgos Sohn, war da und machte aus seiner Wiedersehensfreude kein Hehl. In modernen Schnellwagen wurden die Besucher von der Erde durch die Straßen und Anlagen der neuen Hauptstadt gefahren. Sie waren immer wieder überrascht von der Größe der geleisteten Wiederaufbauarbeit. Bescheiden wehrte Urgo alles Lob ab. „Ohne euren Rat und eure tatkräftige Hilfe, meine Freunde, wären wir damals alle kläglich zugrunde gegangen. Eure Technik, und vor allem eure Lebensart, haben uns den Weg aus dem Chaos gewiesen. Darf ich euch jetzt zur Hubschrauberstation geleiten? Die Maschinen stehen für einen ausgedehnten Rundflug bereit.“ Erst aus der Höhe konnten sich die Besucher ein richtiges Bild von den Veränderungen machen, die in zwei Jahren friedlichen Aufbaus auf Mars eingetreten waren. Wo früher nichts gewesen war als tote, rotgelbe Wüstenflächen, als verdorrte Pflanzungen, verlassene Siedlungen und trostlose Barackenlager, grünte es jetzt auf frischen Feldern, so weit der Blick reichte. Ein weitverzweigtes Netz von Bewässerungsgräben versorgte die Plantagen mit dem kostbaren Naß, das noch vor Jahren auf diesem Planeten wertvoller als Gold gewesen war. Überall erhoben sich moderne, aus rötlichem Naturstein errichtete Siedlungen. „Wir pumpen das Wasser aus dem Innern des Planeten herauf“, erklärte Urgo. „Jetzt ist die Oberfläche des Mars wieder bewohnbar geworden, und seine Bewohner brauchen ihr Dasein nicht mehr unter dem Boden zu fristen. Der Wechsel war wie eine Offenbarung für sie.“ „Das hätten sie alles früher haben können“, meinte Schillinger. 12
„Gewiß, Kommodore, aber es fehlte damals an Zeit, an Mitteln und – an gutem Willen. Der Diktator des Mars stellte alles in den Dienst der Rüstung. Ihr habt seine Macht gebrochen und uns gerettet. Das werden wir euch nie vergessen.“ Als das Helikoptergeschwader sanft auf dem Flugplatz landete, heulten vom Signalturm und den großen Hangars die Sirenen. „Merkwürdiger Empfang“, wunderte sich der dicke Teddy Plum. Ein Offizier der Sicherheitstruppen des Mars stürzte auf Urgo zu. „Sie sind wieder im Anflug, Herr Präsident. Unsere Stationen in Electris und Eridania melden Angriffe auf zwei Industrieanlagen. Sie können jeden Augenblick hier sein. Suchen Sie bitte sofort die Schutzräume auf, meine Herren.“ Die Raumfahrer und ihre Begleiter waren noch ganz außer Atem, als sie sich in den Tiefen des Bunkers wiederfanden. „Eure Landsleute können es offenbar nicht lassen“, stellte Schillinger fest. „Mars trägt – auch heute noch – mit Recht den Namen des Kriegsgottes.“ Urgo war sichtlich verlegen. „Ich hatte gehofft, euch diese Eindrücke ersparen zu können, meine Freunde. Ihr tut meinem Volk jedoch unrecht. Die Angreifer haben ihre Schlupfwinkel nicht auf diesem Planeten. Als sie vor Jahresfrist zuerst auftauchten, habe ich sofort eine umfangreiche Säuberungsaktion eingeleitet, die sich von Pol zu Pol erstreckte. Jede Siedlung, jede Höhle unter der Planetenoberfläche wurde sorgsam durchgekämmt. Wir entdeckten allerlei lichtscheues Gesindel – Parteigänger des Diktators, die sich nach seinem Sturz versteckt hielten. Aber diese unbekannten Angreifer sind nicht mit ihnen identisch. Sie verfügen über Raumschiffe und starke Bewaffnung. Ihre Aktionen kommen unmittelbar aus dem Weltraum und richten sich wahllos gegen unseren gesamten Planeten.“ Auf einem der Fernsehschirme, die den Raum in Kopfhöhe rings an den Wänden umgaben, blitzte es zwei-, dreimal auf. 13
Als sich der Rauch der Explosionen verzogen hatte, war das große, flache Gebäude, das vorher auf der Bildfläche zu sehen gewesen war, in eine brennende Ruine verwandelt. Aus einem Lautsprecher kam ruhig Martios Stimme: „Hier Hauptgefechtsstand. Gegner hat Sperre der Bodenabwehr durchbrochen. Greift Außenbezirke im Süden an. Mehrere Volltreffer im Abschnitt 12. Raketenjägerstaffeln 15 und 32 starten zur Bekämpfung der Angreifer.“ „Abschnitt 12“, murmelte Urgo, „dort liegen die Proviantmagazine. Das letztemal hatten sie’s auf ein Ersatzteillager abgesehen, beim vorletzten Angriff raubten sie das Munitionsdepot in Thule II aus. Ihre Aktionen sind wie Blitze aus heiterem Himmel. Ehe unsere Abwehr voll zur Wirkung kommt, sind sie mit ihrer Beute auf und davon.“ „Wenn Sie überzeugt sind, Urgo, daß die Angreifer aus dem Weltraum kommen“, meinte Schillinger, „warum – in drei Teufels Namen – schicken Sie nicht ein Raumschiff hinterher und lassen feststellen, aus welcher Ecke der Wind pfeift?“ „Wir haben keine Raumschiffe zur Verfügung“, gestand das Marsoberhaupt düster. „Die Regierung der U.N.T. * ) hat es uns nach dem verlorenen Krieg zur Auflage gemacht, die Reste unserer Raumfahrzeuge zu verschrotten. Eure Regierung hat uns wertvolle Hilfe bei unserem Wiederaufbau geleistet, meine Freunde, aber in diesem Punkt war sie unerbittlich.“ „Was man ihr auch kaum verdenken kann“, brummte der Kommodore. „Schließlich wäre die ganze Erde verloren gewesen, wenn wir nicht die Schnelleren gewesen wären und die Marsflotte zerschlagen hätten.“ Urgo wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick verkündeten die Sirenen die Entwarnung. Erleichtert schwebten die Männer im Lift zur Planetenoberfläche empor. Oben angekommen, nahm Urgo die Meldung seines Sohnes entgegen. Wie *
U.N.T. = United Nations of Terra
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kaum anders erwartet, waren die Gegner auch diesmal – unter Mitnahme größerer Proviantmengen – unerkannt entkommen. Allzu rasch gingen die Tage auf Mars, dem wiederaufblühenden „Greis“ unter den Planeten, zu Ende. Während Frank und Hieronymus darin wetteiferten, Iruna, der schönen Tochter Urgos, den Hof zu machen, ließ John Palmer sich von Martio im Helikopter oder im Schnellwagen herumführen. Er kam aus dem Staunen über die Fortschritte des zu neuem Leben erwachten Planeten nicht heraus. Es war in der Abenddämmerung des letzten Tages, als John bei der Besichtigung eines Wasserhebewerkes am Südrand der Landschaft Thaumasia vor einer schweren Bleitür stehenblieb, auf die man mit roter Leuchtfarbe einen grimmig blickenden Totenkopf gemalt hatte. Schon öfter war er diesen geheimnisvollen Türen begegnet, doch hatte er ihnen bisher keine weitere Beachtung geschenkt. „Was verbirgt sich denn eigentlich hinter diesen Panzertüren, Martio? Liegen die Gebeine verstorbener Marskönige darin, oder lagert ihr hier eure Munition?“ John warf sich gegen die schwere Füllung, als hoffte er, sie eindrücken zu können. Mit einem Aufschrei riß Martio ihn zurück. „Bei den Geistern der Tiefe! Laß das Höllenfeuer ruhen, John!“ John Palmer blickte den Freund verständnislos an. „Das Höllenfeuer? Willst du mir nicht erklären …“ Martio gewann seine Fassung nur allmählich wieder. „Erinnerst du dich noch an den furchtbaren Atombrand in Lacus Solis – damals, als die Raumflotten unserer Planeten miteinander kämpften?“ „Gewiß, Martio, wie könnte ich so etwas Entsetzliches je vergessen? Es dauerte lange, bis der Brand erloschen, und die Gefahr für den Planeten beseitigt war.“ „Er ist nicht erloschen“, flüsterte Martio, noch immer leichenblaß. „Er ist nur zurückgedrängt, gefangengesetzt in einem 15
Panzer von Blei. Möge er niemals seine Fesseln sprengen können.“ John blickte auf die Uhr. „Es wird Zeit zum Rückflug, Martio. Schillinger wird schon auf mich warten. Du weißt, er hat den Start auf 24 Uhr Planetarischer Zentralzeit festgesetzt, und er muß den Termin unbedingt einhalten.“ – „Ihr wollt die Fahrt durch die gefährlichen Klippen des Planetoidenrings also wirklich wagen?“ fragte der alte Urgo gerade, als John sich auf dem Flugfeld der Hauptstadt bei Kommodore Schillinger zurückmelden wollte. „Ihr kennt die Gefahren, die euch dort drohen?“ „Wir sind im Bilde“, erwiderte Schillinger. „Der Bereich der Planetoiden ist für den Raumfahrer dasselbe, wie für den Seefahrer auf Erden ein Küstengebiet, das von Untiefen und Schären wimmelt.“ „Das sind nicht die einzigen Gefahren“, sagte Urgo mit seltsamem Nachdruck. Der Kommodore horchte dem eigenartigen Klang in der Stimme des Alten nach. „Wollt Ihr damit etwa andeuten, Urgo, daß die geheimnisvollen Angreifer aus dem Weltraum, die euch Martianern neuerdings das Leben schwer machen, von einem der kleinen Planeten stammen könnten?“ „Ich bin überzeugt, daß es so ist. Ein anderer Ursprung ist gar nicht denkbar. Von eurer Erde stammen sie nicht, und unser anderer Nachbar, Jupiter, ist viel zu weit …“ Schillinger mußte dem Alten recht geben. Wenn diese Piraten nicht am Ende doch in einem verborgenen Winkel des Mars nisteten, kamen nur die Planetoiden für sie in Frage. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Urgo fuhr fort: „Ihr würdet uns einen großen, wertvollen Freundesdienst erweisen, wenn ihr versuchen würdet, den Schlupfwinkel unserer Feinde aufzuspüren und ihn auszuräuchern.“ „Ihr überschätzt unsere Möglichkeiten, Urgo. Der ‚Hidalgo’ 16
ist ein reines Forschungsschiff. Wir sind so gut wie unbewaffnet und können uns auf kein Gefecht im Weltraum einlassen.“ „Dann nehmt von hier aus Waffen mit. Auf unserer Raumstation ‚M 81’ lagern noch die Geschütze, die bei der Auflösung unserer Raumflotte demontiert worden sind.“ „Was nützen uns Geschütze, wenn wir nicht genügend Männer zu ihrer Bedienung haben? Wir sind im Ganzen 38 Mann, und jeder einzelne wird für den Borddienst und die Maschine benötigt.“ Urgo lächelte. „Ich weiß, und daher habe ich auch alles vorbereitet. Ich werde euch ein Detachement von fünfzig Mann unserer Sicherheitstruppen mitgeben, die von meinem Sohn Martio befehligt werden. Es sind tüchtige Leute, und ihr werdet euch nicht über sie zu beklagen brauchen!“ „Das mag ja sein, Urgo, aber wo sollen wir die Leute denn unterbringen? Der Raum an Bord des ‚Hidalgo’ ist beschränkt.“ Wieder lächelte der Alte. „Auch daran habe ich gedacht. Zu ihrer Beförderung könnte ein Raumschiffkörper dienen, wie sie unter den abmontierten Teilen in Massen bei ‚M 81’ zu finden sind. Er würde genügend Platz zur Mitnahme des zusätzlichen Proviants und von Treibstoffreserven bieten und könnte von eurem Schiff in Schlepp genommen werden.“ „Hm, hm – theoretisch ginge das wohl. Aber leider ist es dafür zu spät. Der ‚Hidalgo’ startet bereits in drei Stunden von der Kreisbahn aus. Eure Leute müßten Zauberer sein, wenn sie das noch schaffen wollten …“ „Vielleicht habe ich inzwischen ein wenig gezaubert, Kommodore. Ihr braucht nur meinen Sohn Martio mitnehmen und euer Schiff nach ‚M 81’ zu dirigieren. Dort findet ihr alles vorbereitet, wovon ich sprach.“ *
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Das Forschungsschiff „Hidalgo“ verließ den Bereich des Planeten Mars auf die Sekunde pünktlich. Es hatte keine Schwierigkeiten bereitet, den alten, triebwerklosen Raumschiffrumpf auf „M 81“ ins Schlepptau zu nehmen. Urgo hatte wirklich an jede Kleinigkeit gedacht, so daß das Startmanöver reibungslos verlief. „Er ist doch ein alter Gauner“, lachte Kommodore Schillinger immer wieder, aber es klang eher wie eine Anerkennung. „Regelrecht in die Enge hat er mich getrieben, bis ich nicht mehr anders konnte und seinen bewaffneten Haufen mitnehmen mußte. Hoffentlich bereiten uns die Kerle unterwegs keine Ungelegenheiten.“ Diese Sorge erwies sich bald als unbegründet. Die Marssoldaten benahmen sich ausgesprochen höflich und zurückhaltend, wenn sie mit den irdischen Raumfahrern in Berührung kamen. Häufig kam es überhaupt nicht vor, da man stets eine kleine Raumreise auf eigene Faust riskieren mußte, wenn man – wohlausgerüstet mit Raumanzug, Sauerstoffflaschen und Rückstoßgerät – Besuche zwischen dem Hauptschiff und seinem „Anhänger“ arrangieren wollte. „Es sind ausgesuchte Elitetruppen“, hatte Martio, der an Bord der „Hidalgo“ mitfuhr, schon bei Beginn der Reise versichert. Und er schien recht zu haben. – Die ersten Wochen der Fahrt brachten keine erwähnenswerten Vorkommnisse. Mars versank in den Tiefen des Raumes, ähnlich der Erde bei Beginn der Reise vor fast drei Monaten. Schwarz und leer gähnte der Weltraum. Nur das Meer der fernen Fixsterne schimmerte in unveränderter Gestalt zu den großen Beobachtungsfenstern herein. Unverändert? Es kam der Tag, an dem die Beobachter einzelne Sterne entdeckten, die ihren Ort am Himmel langsam änderten. Sie schienen noch weit entfernt zu sein, ihre Form war nicht zu erkennen. Aufgeregt gaben die Beobachter Alarm. 18
„Unbekannte Objekte voraus!“ Die Alarmglocken schrillten und riefen die Besatzung auf die Stationen. „Endlich mal ne Abwechslung“, freute sich Frank Wilson, dem die Langeweile schon wieder schwer zusetzte. „Ich hatte es schon bedauert, daß ich nicht auf Mars abgemustert hatte. Da wäre bestimmt mehr los gewesen.“ „Hast wohl Sehnsucht nach Iruna?“ neckte ihn John Palmer. „Iruna interessiert sich gar nicht für Frank“, warf Hieronymus entrüstet ein. „Ein so ungeschlachter Kerl kann unmöglich ihr Typ sein.“ „Andere Sorgen habt ihr wohl nicht, he?“ Kommodore Schillinger warf den drei Freunden bitterböse Blicke zu, als sie den Führerstand betraten. „Es ist Alarm gegeben worden, falls ihr es noch nicht kapiert habt …“ „Zu Befehl, Kommodore!“ Hastig strebte John seinem Platz vor den Kontrolltafeln zu, während sich die Freunde auf Beobachtungsraum und Steuerstand verteilten. „Aber, Gentlemen, ich weiß gar nicht, was Sie wollen.“ Erstaunt tauchte Professor Wedekind in der Tür zum Führerstand auf. „Das sind doch gar keine unbekannten Objekte. Wir kennen sie sogar sehr genau.“ „Da bin ich aber neugierig, Professor. Wollen Sie uns nicht sagen …“ „Aber gern. Schauen Sie nur hier auf die Karte, Kommodore. Unser Schiff nähert sich den Bahnen der Planetoiden Nr. 2033, 2112 und 3708, die sich gerade alle nahe ihrer Oppositionsstellung befinden. Leider sind es nur sehr kleine Himmelskörper, so daß sich ihre Untersuchung gar nicht lohnt.“ „Vielen Dank für Ihre freundliche Belehrung, Professor. Natürlich – es sind Planetoiden. Der alte Urgo hat mich mit seinen angeblichen Raumschiffen im Planetoidenring ganz konfus gemacht. Alarm beendet. Palmer, sorgen Sie dafür, daß die Radarposten von jetzt ab doppelt besetzt werden. Wenn ich auch 19
nicht mit feindlichen Begegnungen rechne, so könnte ein Zusammenstoß mit einem kleinen Planeten doch die peinlichsten Folgen haben. Also – Augen auf, Jungens!“ Die folgenden Wochen stellten höchste Ansprüche an die Wachsamkeit der Besatzung. Immer wieder kam es vor, daß kleine Planeten, die unbekannt und in keiner Karte verzeichnet waren, die Bahn des „Hidalgo“ kreuzten. Jedesmal riefen die Alarmglocken die Männer auf ihre Posten, doch war es bisher niemals nötig gewesen, Brems- oder Richtungsschüsse auszulösen, um einem drohenden Zusammenstoß zu entrinnen. „Was für ein ekliger Brocken“, sagte John Palmer schaudernd, als wieder einmal ein Planetoid in so großer Nähe vorüberzog, daß man mit bloßem Auge alle Einzelheiten im Sonnenlicht erkennen konnte. „Diese schroffen Kanten und Wände – wie ein Felsstück, das aus einem größeren herausgesprengt wurde.“ Professor Wedekind, der neben ihm am Beobachtungsfenster stand, nickte lebhaft. „Für mich steht es außer Zweifel, daß die Theorie recht hat, wonach alle Planetoiden dereinst aus der Katastrophe hervorgegangen sind, der ein großer Planet in diesen Regionen zum Opfer fiel. Die Bruchstücke verteilten sich im Laufe der Zeit auf einen weiten Ring um die Sonne.“ „Bislang haben wir nur die Bekanntschaft recht großer und unbehaglicher Bruchstücke gemacht“, meinte John Palmer. „Wenn ich daran denke, was aus dem ‚Hidalgo’ würde, wenn einer dieser Brocken unsere Schiffswand ritzte …“ „Die großen Brocken sind bei weitem die ungefährlichsten. Man kann sie beizeiten mit den Instrumenten erkennen und ihnen ausweichen, wenn es sein muß. Aber warten Sie ab, wenn erst das kleine ‚Himmelsungeziefer’ kommt …“ Das, was der Gelehrte mit „Himmelsungeziefer“ bezeichnet hatte, ließ nicht lange auf sich warten. Langsam – Strich für Strich – krochen die Zeiger der Außenbord-Thermometer über 20
die Skalen aufwärts. Die Schiffshaut erwärmte sich unter der Reibung der kosmischen Staubteilchen, durch die der „Hidalgo“ jetzt fortgesetzt fuhr. Ein feines Singen strahlte von den Wänden aus. Die Besatzung kam nicht mehr aus den Schutzanzügen heraus. Alle paar Minuten schrillten die Klingeln. Sie kündeten an, daß irgendwo ein Leck entstanden war, durch das die Atemluft entströmte. Kommodore Schillinger hatte sämtliche Fenster mit schweren Lukendeckeln verschließen lassen. Das gewaltige Raumschiff legte seine Bahn ausschließlich im Blindflug zurück. Nur die Radarantennen stellten noch eine Verbindung mit der Außenwelt her. „Hätte ich doch nur beizeiten daran gedacht, die Meteordämpfer anbringen zu lassen“, rief Kommodore Schillinger ärgerlich aus, als wieder kurz hintereinander zwei Treffer gemeldet worden waren. „Das Schiff wird uns kurz und klein geschlagen, wenn das noch lange so weitergeht. Und außerdem geht mehr Sauerstoff verloren, als sich verantworten läßt.“ John langte nach dem stets griffbereiten Schutzhelm. „Ich werde aussteigen, Kommodore, und die Bleche mit ein paar Freiwilligen draußen anbringen. Lassen Sie bitte für kurze Zeit das Triebwerk abschalten, damit wir nicht abgetrieben werden.“ Schillinger kaute auf der Unterlippe. „Gern lasse ich Sie nicht gehen, Palmer. Die Sache kann für Sie verdammt gefährlich werden. Sie werden schutzlos einem wahren Hagel von Meteoriten ausgesetzt sein.“ „Dafür können wir die Fahrt nachher ruhiger und gefahrloser fortsetzen, und das wäre das Wagnis schon wert.“ „Also gut. Lassen Sie die Bleche durch die große Backbordschleuse hinausschaffen und für alle Fälle ein Raketenboot fahrbereit machen – falls einer von euch doch abgetrieben werden sollte.“ Er schaltete das Mikrophon zum Maschinenraum ein. „Mister Plum – Achtung: Sämtliche Maschinen stop!“ 21
Es verging kaum eine Stunde, als John bereits mit den Außenbordarbeiten beginnen konnte. Außer ihm hatten sich Frank, Martio und neun andere Besatzungsmitglieder gemeldet. Vorsichtig, durch Leinen mit dem Schiffskörper verbunden, bewegten sie sich in den äußeren Verstrebungen des Kolosses und brachten die Bleche, welche die anfliegenden Meteorsteine abfangen sollten, in die richtige Lage. Mit vorgefertigten Bolzen wurden die Dämpfer an den Verstrebungen befestigt. Die Männer waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie den merkwürdig geformten Körper gar nicht bemerkten, der in geringem Abstand vor dem Bug des „Hidalgo“ vorüberschwebte. Den Posten in der Radarzentrale war er jedoch nicht entgangen. Sie verständigten sofort den Kommodore. „Achtung – hier spricht Schillinger“, vernahm John plötzlich die Stimme des Kommandanten in der Hörmuschel seines Taucherhelms. „Wie weit sind Sie, Palmer?“ „Noch eine halbe Stunde, Kommodore, dann haben wir’s geschafft.“ „Schauen Sie doch mal nach, was für ein ulkiger Planetoid da eben unsere Bahn gekreuzt hat.“ John starrte in den Raum hinaus. „Thunderstorm – das ist doch …“ „Was sehen Sie, Palmer?“ kam ungeduldig Schillingers Stimme. „Ich sehe einen regelmäßig geformten Körper. Sieht fast wie ein Raumschiff älterer Bauart aus. Er entfernt sich nur langsam.“ „Palmer, ich muß wissen, was das für ein Objekt ist. Glauben Sie, daß Sie es mit dem Raketenbeiboot einholen können?“ „Ohne Zweifel, Kommodore. Soll ich …?“ „Fahren Sie hinterher und versuchen Sie, ein paar Aufnahmen zu machen. Entfernen Sie sich aber nicht zu weit. Sie wissen, daß die Rak nur einen begrenzten Aktionsradius hat.“ 22
„O.K., Kommodore!“ Im nächsten Moment schnellte sich John auf das wartende Raketenboot zu. „Frank, Martio – kommt ihr mit?“ Zu dritt hockten sie wenig später in der engen Kabine der wendigen Rakete. Der starke Heckmotor trieb das Fahrzeug mit ungeheurer Kraft voran. Schwer atmend kämpften die Insassen gegen den Andruck. In den ersten Minuten verringerte sich der Abstand gegenüber dem merkwürdigen Objekt zusehends. Doch nun kamen sie schon seit einiger Zeit nicht mehr voran, obwohl der Raketenmotor das Äußerste hergab. „Drück auf die Tube, John“, rief Frank, dessen Jagdeifer erwacht war. „Kehren Sie um, Palmer“, erklang der Befehl Schillingers in den Kopfhörern. „Sind Sie des Teufels, Mann? Ihr Sprit muß jeden Augenblick erschöpft sein.“ John Palmer schaute durch das rückwärtige Kabinenfenster nach dem „Hidalgo“ zurück. Er erschrak zutiefst. In weiter Ferne schwebte das riesige Raumschiff, von hier aus nur noch wie ein winziges Spielzeug anzusehen. Er mußte sofort auf Gegenkurs gehen. Wenn alles klappte, hatte er auch bei ruhendem Triebwerk noch eine Chance, den „Hidalgo“ wieder zu erreichen. „Haltet euch schön fest, Jungens. Wir gehen in die Kurve.“ Doch im selben Moment, als John das Seitenruder betätigen wollte, ging ein heftiger Ruck durch das Fahrzeug. Instinktiv schaltete John das Triebwerk ab. Wieder blickte er über die Schulter zurück – und erstarrte vor Schreck … * Das Heck des Raketenbootes, das das Triebwerk barg, war verbeult und aufgerissen. Ein großer Meteorstein mußte es zerschmettert haben. 23
„Kommodore – Captain Palmer funkt SOS.“ Schreckensbleich stand der Funker des „Hidalgo“ im Eingang zum Führerraum. Der Notruf des allgemein beliebten, jungen Ersten Offiziers hatte ihn derart aus der Fassung gebracht, daß er völlig vergaß, sich des Bordtelefons zu bedienen. Ein barscher Befehl Schillingers scheuchte ihn auf seinen Platz zurück. „Auch das noch“, stöhnte der Kommodore, während er sich eiligst in den Beobachtungsraum begab. „Professor, lassen Sie die Luken öffnen und versuchen Sie, das Raketenboot in Ihre Optik zu bekommen.“ Es vergingen nur wenige Sekunden, bis der Gelehrte das kleine Raketenfahrzeug im Okular seines Beobachtungsinstruments hatte. Mit einer einladenden Handbewegung trat er zurück. Schillinger blinzelte und stellte das Bild scharf. „Teufel noch mal! Die Rakete ist beschädigt und treibt mit hoher Geschwindigkeit ab. Warum mußte Palmer sich auch so weit entfernen? Ein unglaublicher Leichtsinn ist das.“ „Hat er wenigstens das unbekannte Objekt eingeholt?“ erkundigte sich Dr. Bärwald gespannt. „Keine Spur, Doktor. Der geheimnisvolle Körper ist verschwunden, als hätte er sich in Nichts aufgelöst.“ Sekunden ratlosen Schweigens schlichen dahin. Plötzlich schrillten die Alarmglocken. Verworrene Rufe kamen aus dem Lautsprecher. Kommodore Schillinger verließ den Platz am Fernrohr und ging zum Mikrophon. „Was ist denn das für ein Volksgemurmel? Seid ihr allesamt verrückt geworden? Was soll der Alarm? Ich erwarte Meldung.“ Die durcheinander rufenden Stimmen verstummten augenblicklich. Plötzlich die sonore Stimme Teddy Plums: „Unser Kahn ist in einen Meteoritenhagel geraten, der sich gewaschen hat. Zwei Wasserstoff-Tanks haben Treffer erhalten. Die Meteordämpfer sind glatt durchschlagen worden. Wir müssen sehen, 24
daß wir schleunigst weiterkommen, Kommodore, sonst ist’s aus mit der Herrlichkeit.“ „Hier Unfallstation.“ Das war die ruhige Stimme Dr. Andrew Smiths, des Schiffsarztes. „Zwei Mann vom Außenbordkommando sind von Meteorsteinen verletzt worden. Ich rate dringend, die übrigen sofort einschleusen zu lassen, Kommodore.“ „Radarstation an Kommodore“, schrie es im nächsten Augenblick aufgeregt aus dem Lautsprecher. „Die Dichte des Meteorstroms steigt von Sekunde zu Sekunde.“ „Achtung, hier Funkstation. Captain Palmer sendet fortwährend Notrufe. Sein Raketentriebwerk ist hinüber. Er erbittet dringend Hilfe.“ In den sonst so ruhigen Zügen des Kommodores zuckte es. „Was – raten Sie mir, Professor?“ „Setzen Sie die Fahrt augenblicklich fort“, rief Wedekind beschwörend. „Jede Sekunde kann über das Schicksal des Schiffes entscheiden. In einem Meteorstrom solcher Dichte muß der ‚Hidalgo’ wie in einem Sandstrahlgebläse zerstört werden.“ Wieder schrillten die Klingeln. „Meteoriteneinschläge in Abteilung III und VII“, verkündete der Lautsprecher. „Der Luftdruck sinkt rapid.“ „Schotte dicht! Außenbordkommando sofort einschleusen! Leckdichtungstrupp nach Abteilung III und VII!“ Wie ein Automat rief Schillinger seine Befehle. Dann wandte er sich wieder an den Professor: „Drei von unseren Kameraden sind draußen. Sie sind rettungslos verloren, wenn wir nicht den Kurs ändern und sie hereinholen.“ „Ich weiß, wie es Ihnen ums Herz ist, Kommodore, aber Sie haben keine andere Wahl. Wir müssen sofort aus diesem Meteorschwarm heraus, auch wenn wir drei von unseren Gefährten nicht mehr retten können. Wir können ihnen nicht dadurch helfen, daß wir noch weitere 85 Leben opfern. Retten Sie wenigstens diese, ehe es zu spät ist.“ 25
Wie zur Bekräftigung seiner Worte, zersprang das Glas des Beobachtungsfensters unter dem Einschlag eines schweren Meteoriten. Die ausströmende Luft riß einen Wirbel von Splittern in den Weltraum mit. Der Kommodore, Professor Wedekind und Dr. Bärwald schlossen hastig ihre Schutzhelme. „Der Meteorit hat die Elektronenoptik zerschlagen“, vernahm man die Stimme des Assistenten in den Kopfhörern. Das Elektronenteleskop zerstört – eins der wichtigsten Instrumente des Schiffes – Kommodore Schillinger straffte sich. Er ging in den Führerraum, wo Hieronymus erwartungsvoll vor der Steuerung saß. Tonlos, aber doch jedem verständlich, klangen seine Befehle: „Achtung – Befehl an alle: Klar zum Startmanöver. Hilfsaggregate I bis IV – halbe Kraft! Vorsichtig anfahren, Plum, damit die Verbindung zum ‚Anhänger’ nicht reißt.“ „Welchen Kurs, Kommodore?“ fragte Hieronymus. „Ich habe keine Kursänderung befohlen, Leutnant Brosamer.“ „Ja, aber – John und die anderen sind doch noch draußen. Wir können doch nicht einfach …“ „Was wir können oder nicht können, bestimme allein ich. Haben Sie mich verstanden, Leutnant?“ Schwer gegen den plötzlichen Andruck ankämpfend, begab sich der Kommodore in die Funkstation des Schiffes. * „Ich konnte nicht anders handeln, Palmer. Die Meteorsteine würden den ‚Hidalgo’ in ein Sieb verwandeln, wenn wir nur fünf Minuten länger in dieser verdammten Gegend blieben. Wie sieht es bei euch aus?“ „Frank und Martio sind draußen, um den Heckmotor zu reparieren. Wir haben einen bösen Treffer abbekommen, aber die Lage ist noch nicht hoffnungslos. Ich habe die Rakete inzwi26
schen durch Richtungsschüsse parallel zur Richtung des Stromes gebracht. Seitdem haben wir weniger unter Einschlägen zu leiden.“ „Gut, Palmer. Hals- und Beinbruch für euch Drei! Wir setzen die Reise mit so geringer Beschleunigung fort, wie sich gerade noch verantworten läßt. Vielleicht werdet ihr rechtzeitig fertig und könnt uns einholen. Bleiben Sie mit dem ‚Hidalgo’ in Funkverbindung und …“ „Aus“, sagte John und starrte auf sein Funkgerät, das ihm buchstäblich um die Ohren geflogen war. Ein Meteorstein, der durch die Backbordseite eingedrungen war, hatte ganze Arbeit geleistet. „John, John – der ‚Hidalgo’ – er fährt ab – ohne uns mitzunehmen …“ Voller Entsetzen schrie Frank Wilson die Worte durch das Bordtelefon, das die drei Kameraden miteinander verband. „Ich weiß, Frank, ich weiß. Aber ich kann es nicht ändern.“ „So ruf ihn doch zurück! Funk doch SOS …“ „Erst mal können, mein Lieber. Unsere Funkanlage ist im Eimer. Meteortreffer. Wie weit seid ihr draußen?“ „Es geht voran. Die Leitungen sind wieder klar. Nur die Außenhaut sieht noch bös aus.“ „Das sind Schönheitsfehler, die hier, im luftlosen Weltraum, belanglos sind. Kommt jetzt herein und überprüft die Elektrik. Eure Sauerstoffpatronen werden ohnehin bald leer sein.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stiegen Frank und Martio durch die Luke wieder ein und begannen, die Kabel zwischen Führerstand und Triebwerk zu reparieren. John bewunderte im Stillen die Kameraden, die auf verlorenem Posten eine Arbeit verrichteten, die mit großer Wahrscheinlichkeit völlig umsonst sein würde. Johns Aufmerksamkeit wurde wieder ganz durch die Beobachtung des Radargeräts in Anspruch genommen. Die Dichte 27
des Meteorstroms hatte bisher nicht nachgelassen. Immer wieder mußte er das Fahrzeug durch wohldosierte Richtungsschüsse vor einem vernichtenden Zusammenstoß bewahren, wenn besonders große Brocken herangerast kamen. Endlich war es so weit. In der Tür, die den Führerstand mit dem Laderaum des Raketenbootes verband, erschien das Gesicht Frank Wilsons. Es war kupferrot vor Überanstrengung und sah aus, als würde es den Kunstglashelm zur Explosion bringen. „Wir haben es geschafft, John. Die Maschine ist wieder O.K.“ „Wo ist der ‚Hidalgo’?“ vernahm man Martios Stimme. John hatte während der vergangenen anderthalb Stunden nicht einen Augenblick Zeit gefunden, nach dem Raumschiff Ausschau zu halten. Angestrengt blickte er nun durch das starke Prismenglas in die Richtung, in die der „Hidalgo“ entschwunden war. Von dem Schiff war nicht das Geringste mehr zu erkennen. „Und was nun?“ fragte Frank Wilson. Zum erstenmal schwang ein Ton von Mutlosigkeit in seiner Stimme mit. „Es hätte keinen Zweck, ihm nachzujagen“, erklärte John. „Eine so gewaltige Entfernung würden wir mit unserem geringen Treibstoffrest nicht mehr überbrücken können. Martio, was haben wir eigentlich noch an Sauerstoff?“ „Wenn wir uns sehr einschränken, reichen wir noch vier bis fünf Stunden.“ „Eine äußerst kurze Galgenfrist“, lachte Frank rauh, „gerade ausreichend, um unseren Lieben daheim ein paar Abschiedsgrüße zu schreiben. Wir können sie ja portofrei als Weltraumflaschenpost versenden. Das heißt – eigentlich ist es gar nicht nötig. Wir können sie ebensogut bei uns behalten; denn wenn der ‚Hidalgo’ unser Boot auf der Rückfahrt entdeckt und uns aus unserem schwebenden Sarg holt..“ „Hör auf, Frank“, wies John den Freund zurecht. „Durch solche unnützen Reden hilfst du weder dir noch uns. Geh lieber sparsam mit deinem Sauerstoff um.“ 28
„Und wozu – in drei Teufels Namen? Es ist ja doch alles aus …“ „Wenn wir noch vier bis fünf Stunden genug Sauerstoff haben, um atmen zu können, dann ist uns womöglich schon viel geholfen. Als echte Raumfahrer sollten wir nicht aufgeben, solange auch nur noch ein Fünkchen Leben in uns ist. Wer weiß, was in fünf Stunden alles geschehen kann …“ Qualvoll langsam strichen die Stunden dahin. Unermüdlich durchmusterten drei Augenpaare den erbarmungslosen, schwarzen und toten Himmel. Nur die Sterne strahlten kalt und fern. Es schien keine Hilfe mehr zu geben für die drei verlassenen Männer in dem jämmerlichen, schwer angeschlagenen Raketenboot. Allmählich befiel die Männer eine seltsame Müdigkeit. Ihre Aufmerksamkeit erlahmte. Sie hatten nur noch einen Wunsch: Schlafen … „Auf, Jungens!“ Wie ein Trompetenstoß fegte Johns Ruf das Gewölk aus den trüben Hirnen der Freunde fort. „Seht, was dort backbord an uns vorüberzieht.“ Der unerwartete Anblick, der sich ihnen bot, riß Frank und Martio vollends aus der Lethargie, die schon in den ewigen Schlaf des Todes hinüberzuführen begann. Ein riesiger Körper, einigermaßen kugelförmig gestaltet, zog in scheinbar geringem Abstand vorbei und glänzte matt im Sonnenlicht. „Der Mond“, stotterte Frank, noch immer leicht verwirrt. „Unser guter, alter Mond ist es ganz bestimmt nicht“, lachte John. „Auf jeden Fall aber ein größerer Planetoid. Anschnallen, Jungens! Klar zum Start! Wenn wir schon unser Grab im Weltraum finden sollen, dann wenigstens auf einem Himmelskörper – mag er auch noch so bescheiden sein.“ *
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Obwohl nicht die geringste Aussicht bestand, daß ihnen das Raketenboot noch einmal nützen würde, hatte John das kleine Fahrzeug beim Anflug auf die Rückseite des Planetoiden gesteuert, wo es vor Meteortreffern geschützt war. Mit dem Raketenanker hatten sie das Boot festgemacht und waren dann zu dem so unverhofft aufgetauchten Planetoiden hinübergesprungen. Vorsichtig, um nicht abgetrieben zu werden, arbeiteten sie sich auf seine Tagseite hin. „Ob er wohl einen Namen hat?“ fragte Frank Wilson. „Das glaube ich nicht. Er dürfte viel zu klein und uninteressant für die irdischen Astronomen sein, als daß sie ihn durch die Verleihung eines Namens geehrt hätten. Aber eine Nummer hat man ihm sicher gegeben.“ „Das ist wenigstens ein Trost. Warte mal, John! Martio hat schlappgemacht. Ich glaube, er ist am Ersticken.“ Erschrocken blickte sich John nach dem Kameraden um, der wie leblos in seinem Raumpanzer hing. Wären sie nicht durch die Telefonkabel untereinander verbunden gewesen, so wäre der ohnmächtige Martio in den Raum davongeschwebt, ohne daß es die anderen gemerkt hätten. Mit Entsetzen wurde er sich darüber klar, daß es nur noch Minuten dauern konnte, bis er selbst und Frank in der gleichen hilflosen Verfassung sein würde. Eine würgende Angst stieg in seiner Kehle hoch. Kalter Schweiß brach in Strömen aus … „Was ist mit dir, John? Machst du auch schon schlapp?“ Wie aus weiter Ferne hörte er Franks Stimme. Er riß sich zusammen. „Quatsch keinen Unsinn, Frank! Es ist nur – diese verdammte Dunkelheit. Nimm Martio beim Kragen und beeile dich. Wenige Schritte vor uns liegt die Lichtgrenze.“ Beim Passieren der Lichtgrenze ging die Finsternis, die bisher nur stellenweise von den Brustscheinwerfern der Männer erhellt worden war, jäh in gleißende Helligkeit über. Geblendet schloß John die Augen. Er taumelte gegen eine Wand, die sich 30
seltsam glatt anfühlte. Die Wand gab nach. John stürzte in einen Hohlraum, prallte abermals gegen eine Wand und krallte sich an irgendwelchen Griffen fest. Aus der Dunkelheit der Höhle leuchteten ihm farbige Schriftzeichen entgegen. Er glaubte zu träumen. War das nicht lateinische Schrift, wie man sie auf der fernen Erde verwendete? Aber das war doch unmöglich – hier, auf einem fremden, namenlosen Planetoiden im Weltraum … Ein Schatten fiel durch die Türöffnung herein. Frank Wilson zwängte sich mit Martio hindurch. Stumm deutete John auf die leuchtenden Buchstaben, die vor seinen Augen tanzten und sich nach und nach zu zusammenhängenden Worten formten … „Das ist ja ein regelrechtes Schaltbrett.“ Franks Stimme klang matt und stockend. Plötzlich stieß John einen Schrei aus. Was war das? Narrte ihn ein Spuk? War er am Ende schon gestorben und in einer anderen Welt? Deutlich hatte er die leuchtende Schrift erkannt, die vor dem verschwommenen Hintergrund des Schaltbretts schwebte: Frischluft-Ventil … Noch einmal riß er sich gewaltsam zusammen. Schon schwanden ihm die Sinne. Es ging um Bruchteile von Sekunden. „Die Tür zu, Frank!“ Er taumelte auf das Schaltbrett zu, drückte einen Hebel aufwärts und riß sich mit letzter Kraft den Taucherhelm vom Kopf. Das Zischen der einströmenden Frischluft war das letzte, das John vernahm, ehe er in der Nacht einer tiefen Ohnmacht versank … * „Wir sind gerettet – ein Wunder ist geschehen.“ John, Frank und Martio konnten es noch immer nicht fassen. Statt eines furchtbaren Erstickungstodes, dem sie sich rettungs31
los ausgeliefert gesehen hatten, war ihnen auf wunderbare Art das Leben wiedergeschenkt worden. Dankbar freuten sie sich an jedem noch so primitiven Gegenstand in ihrem merkwürdigen Aufenthaltsraum, der im Sonnenlicht sichtbar wurde, das durch die Fenster fiel. Eine eingehende Untersuchung ergab, daß man sich in einer natürlichen Höhle des Planetoiden befand, die jedoch künstlich ausgebaut und durch ein primitives, bunkerartiges Bauwerk vergrößert worden war. Vor dem Fenster ragte ein schmaler Antennenmast aus dem Boden. Die Höhle entpuppte sich als ein komplett ausgerüstetes Depot, das jede Kleinigkeit enthielt, die für den Raumfahrer von Bedeutung war. Die Freunde fanden umfangreiche Reserven an Sauerstoff, an Trinkwasser und Treibstoffen – ausreichend, um ein ausgewachsenes Superraumschiff für eine interplanetarische Fernfahrt auszurüsten. Proviant und Kleidungsstücke, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aller Art lagen säuberlich gekennzeichnet und numeriert auf einfachen Regalen im mehrräumigen Kellergeschoß. Es dauerte nicht lange, und die Freunde hatten auch die Stromversorgung in Gang gebracht, die von einem kleinen Sonnenkraftwerk gespeist wurde. „Das nenne ich Hilfe in höchster Not“, sagte John, nachdem er das Bauwerk mit den Kameraden bis in den entferntesten Winkel durchsucht hatte. „Hier halten wir es bestimmt eine Weile aus, und mit der Außenwelt können wir auch in Verbindung treten.“ „Mich wundert nur“, sagte Frank Wilson nachdenklich, „wie dieses prächtige Depot hierher kommt. Soviel ich auf der Raumfahrt-Akademie gelernt habe, ist vor uns noch nie ein irdisches Raumschiff in den Bereich der Planetoiden vorgedrungen. Halt – ich hab’s: Sicher gehört unser Planetoid zu jenen Außenseitern, die im Perihel * ) bis in die Nähe der Erde gelangen, und..“ *
Perihel = sonnennächster Punkt einer Planetenbahn
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„… und du meinst jetzt allen Ernstes, man hätte ihn bei solch einer Gelegenheit von der Erde aus angeflogen und im Auftrag des Raumfahrt-Departements der U.N.T. dieses prächtige Magazin auf ihm angelegt –‚ in weiser Voraussicht kommender Ereignisse? Nein, mein lieber Alter, da dürfte die Phantasie mit dir durchgegangen sein. Denn wenn das der Fall wäre, hätte man zumindest den Kommodore davon unterrichtet, als der ‚Hidalgo’ auf die große Reise ging.“ Martio stimmte John zu. „Frank befindet sich im Irrtum. Das Wichtigste habt ihr in der Eile gar nicht bemerkt: Alle Inschriften auf den Schalttafeln und im Magazin sind ‚zweisprachig’ gehalten – in der Schrift eures Planeten, die ihr die lateinische nennt, und in der Schrift des Mars.“ „Thunderstorm“ – Frank war an die Schalttafel für die Bedienung des Sonnenkraftwerkes getreten – „Martio hat recht. An jedem Schalter ist die Bezeichnung in beiden Schriften angebracht. Das nenne ich ‚Dienst am Kunden’.“ „Es scheint so, als ob wir das Geheimnis dieses Planetoiden nicht ergründen werden“, meinte John Palmer sinnend. „Wenn wir doch wenigstens das Nest nicht leer vorgefunden hätten …“ „Wir wollen lieber dankbar sein, John, daß es leer war. Wer weiß, wie der Empfang gewesen wäre, den man uns bereitet hätte.“ John zuckte die Achseln. „Wir dürfen unsere Zeit nicht vertun, Jungens. Steigt in eure Schutzanzüge und seht zu, daß ihr unser Raketenboot wieder startklar bekommt. Vor allen Dingen müssen die Tanks nachgefüllt werden. Ich versuche inzwischen, Verbindung mit dem ‚Hidalgo’ zu bekommen. Na, der Alte wird ja staunen.“ Leider sollte John nicht das Vergnügen haben, sich an der Überraschung seines Chefs zu weiden. Immer von neuem sandte er sein Rufzeichen auf der internationalen Weltraum-Welle hinaus. Der „Hidalgo“ antwortete nicht. 33
„Ich kann mir das einfach nicht erklären“, sagte John zu den Gefährten, als er nach stundenlangem, vergeblichem Bemühen wieder mit ihnen zusammentraf. „Die Funker müssen schlafen wie die Murmeltiere …“ Martio machte ein besorgtes Gesicht. „Ich glaube nicht, daß sie schlafen. Der Kommodore hat jeden Posten an Bord doppelt besetzen lassen und jedem Mann äußerste Wachsamkeit eingeschärft. Es ist ganz undenkbar, daß sie deine Zeichen nicht gehört haben, John.“ „Vielleicht ist ihre Funkanlage unklar geworden“, meinte Frank Wilson. John Palmer seufzte ahnungsschwer. „Wir wollen es hoffen, Frank. Es wäre entsetzlich, wenn dem ‚Hidalgo’ etwas Schlimmeres zugestoßen wäre.“ * In bangem Warten verstrich die Zeit. Längst hatten Frank und Martio die letzten Schäden an ihrem Raketenboot repariert. Vollgetankt und startbereit lag das Fahrzeug an seinem Landeplatz vertäut. Die Freunde hätten jederzeit abfahren können, wenn es die Umstände erfordert hätten. Unermüdlich sandte John seine Funksprüche in den Äther. „Hidalgo – Hidalgo – bitte melden!“ Doch das Raumschiff schwieg beharrlich. Stattdessen nahm John auf der internationalen Weltraumwelle eine Unzahl von Morsezeichen auf, deren Herkunft und Bedeutung rätselhaft blieb. „Englisch ist das nicht“, erklärte Frank, der die von John Palmer gewissenhaft notierten Zeichen fachmännisch prüfte. „Deutsch und Französisch ebenfalls nicht. Ich möchte wetten, daß es diese ulkige Sprache auf der ganzen Erde nicht gibt – höchstens vielleicht bei den Tibetanern oder den Botokuden, und die beschäftigen sich meines Wissens nicht mit Raumfahrt.“ 34
„Die Sprache meines Heimatplaneten ist es auch nicht“, stellte Martio kopfschüttelnd fest. „Vielleicht ist es doch der ‚Hidalgo’“, meinte Frank. „Wer weiß, was die Jungens an Bord in der Zwischenzeit erlebt haben? Vielleicht sind sie allesamt verrückt geworden …“ „Frank, male nicht den Teufel an die Wand! Es bliebe schließlich noch eine andere Möglichkeit offen: Irgendwelche Raumschiffe verständigen sich aus Gründen, die wir nicht kennen, in einer Art Geheimschrift.“ Martio trat ans Fenster und schaute nachdenklich in den weiten, leeren Raum hinaus. Eine Vermutung gewann in seinen Gedanken Gestalt, aber er sprach sie nicht aus. Plötzlich wandte er sich wieder den Gefährten zu. „Holt schnell ein Fernglas. Wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir Besuch.“ John und Frank stürzten ans Fenster. Der Feldstecher wanderte von Hand zu Hand. Jeder spähte angestrengt dem seltsamen Gebilde entgegen, das langsam näher kam. Endlich traten seine Formen deutlicher hervor. „Martio hat recht“, rief John aufgeregt, „das ist kein Planetoid. Es kann nur ein Raumschiff sein.“ „Dann ist es der ‚Hidalgo’“, freute sich Frank. „Los, Jungens, wir müssen ihm Zeichen geben. Hurra, wir werden abgeholt.“ „Er ist doch eine treue Seele, unser Kommodore.“ John war ehrlich gerührt. „Da setzt er das Gelingen der ganzen Expedition aufs Spiel, nur um uns drei Ausreißer zu suchen. Martio, lauf hinaus und feuere drei grüne Raketen als Signal ab. Ich versuche es inzwischen noch mal auf dem Funkwege.“ Wieder hämmerte Johns Rechte auf die Morsetaste. Draußen stieg eine grüne Rakete in die Schwärze des Himmels. Doch das Schiff, das jetzt schon mit bloßem Auge deutlich zu erkennen war, nahm keine Notiz davon. „Das soll einer verstehen“, ereiferte sich Frank, der mit dem 35
Feldstecher am Fenster stehengeblieben war. „Die Burschen haben wirklich einen beneidenswerten Schlaf. Damned – das Schiff treibt vorüber.“ „Hinterher, Frank!“ Die Freunde rissen die Schutzanzüge aus dem Regal, kleideten sich hastig an und stürzten hinaus. Martio, der die Bewegung des Schiffes ebenfalls verfolgt hatte, schloß sich ihnen draußen an. Eine knappe Viertelstunde später jagte das Raketenboot dem entschwindenden Raumschiff mit Höchstgeschwindigkeit nach. „Hoffentlich geht es uns nicht genauso wie beim letzten Mal“, meinte Frank Wilson besorgt. „Keine Angst, Frank. Wenn ich merke, daß uns der Kahn davonbrausen will, lasse ich ihn laufen und gehe schleunigst auf Gegenkurs. Lieber bleiben wir auf unserem ulkigen Planetoiden, als daß wir uns noch einmal auf einen Wettlauf einlassen, bei dem wir nachher doch den Kürzeren ziehen.“ „Wir holen auf, John. Noch fünfhundert Meter. Donnerwetter – wie sieht der Kahn aus!“ Endlich waren sie heran. Von achtern her schob sich das Raketenboot an den mächtigen Kugelkabinen des Raumers vorbei. John drosselte den Heckmotor und zündete die Bremsdüsen. Nach einigen weiteren Minuten schwebten Raumschiff und Raketenboot mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinander durch den Raum. „Die Schleusentore stehen weit offen“ stellte Martio fest. John musterte den Raumgiganten mit zusammengebissenen Zähnen. Ein unheimliches Gefühl beschlich sein Herz. „Das ist kein Raumschiff mehr“, sagte er schließlich bedrückt. „Es war mal eins …“ Die Wände des Raumers waren von zahlreichen Einschlägen wie zersiebt. An manchen Stellen waren die Bleche geborsten und wie unter gewaltiger Hitzeentwicklung aufgewölbt. Aus den leeren Höhlen der Luken gähnte die Schwärze. 36
„Ein Wrack im Weltraum“, stammelte Frank. „Der ‚Hidalgo’?“ „Der ‚Hidalgo’ ist es auf keinen Fall“, erwiderte John, und es war wie ein Aufatmen in seiner Stimme. „Es ist zwar alles verbogen und ineinander geschoben, aber man erkennt doch deutlich, daß die Anordnung der Kugeln eine andere gewesen ist als bei unserem Schiff. Wir wollen näher herangehen und unser Fahrzeug festmachen. Mal sehen, ob es da drinnen noch irgendwas zu holen gibt. Ich glaube allerdings nicht daran.“ Die Freunde brachten ein Drahtseil an den Verstrebungen des Wracks an und kletterten durch die gähnende Backbordschleuse hinüber. Tiefe Finsternis umgab sie. Geisterhaft fingerten die Lichtkegel ihrer Handscheinwerfer über zerfetzte Wände, geborstene Bodenplatten, aus den Angeln gerissene Metalltüren … Es dauerte lange, bis die drei sich in den Führerstand durchgekämpft hatten. Überall das gleiche Bild der Zerstörung. Zerbeulte, rußgeschwärzte Wände. Verschmorte Kabel, die undefinierbaren Überreste irgendwelcher Anzeigegeräte. Alles, was brennbar gewesen war, hatte die rasende Feuersbrunst in Asche verwandelt. Und nirgends der geringste Hinweis auf Namen und Herkunft des Schiffes. „Na, wenigstens scheint die Mannschaft noch Zeit genug zum Aussteigen gehabt zu haben“, meinte Frank. „Das ist noch gar nicht so sicher, mein Lieber. Daß wir keine Toten gefunden haben, ist kein Beweis. Bei den phantastischen Temperaturen dürfte nicht viel von ihnen übriggeblieben sein.“ Martio schüttelte sich. „Wie mag sich die Katastrophe wohl abgespielt haben?“ John Palmer sah sich nachdenklich um. „Meiner Ansicht nach sind zuerst die Behälter leck geworden. Die ausgelaufenen Treibstoffe müssen sich entzündet und nach und nach das ganze Schiff in eine glühende Hölle verwandelt haben. Schließlich ist dann noch im Heck eine Explosion eingetreten. Die ineinander geschobenen Kugelbehälter deuten darauf hin.“ 37
„Bleibt nur noch die eine Frage“, bemerkte Frank beiläufig: „Wie kommt das Wrack hierher?“ Die Freunde wechselten ratlose Blicke. Martio hatte eine Idee: „Wäre es nicht denkbar, daß dieses Wrack aus einer längst versunkenen Entwicklungsepoche stammt? Vielleicht hat es vor Jahrmillionen schon einmal vernunftbegabte Wesen auf der Erde oder auf Mars gegeben, deren Technik hinter der unsrigen nicht zurückstand. Eine kosmische Katastrophe mag sie eines Tages hinweggefegt haben – so gründlich, daß alle ihre Spuren verschwunden sind. Nur hier draußen im Raum stoßen wir jetzt auf die übriggebliebenen Reste ihrer einstigen Existenz.“ „Du bist ein Träumer, Martio“, lächelte Frank. „Das Depot auf unserem Planetoiden macht mir jedenfalls nicht den Eindruck, als sei es Jahrmillionen alt.“ John blickte gedankenverloren auf die Uhr und erschrak heftig. „Wir sind wohl von allen guten Geistern verlassen. Raus, Jungens, beeilt euch! Wenn wir nicht schleunigst machen, daß wir zu unserem Planeten zurückkehren, haben wir alle Aussicht, für die nächsten paar Jahrmillionen in diesem ungastlichen Gefängnis durch die Wunder des Weltalls zu kutschieren.“ * In der folgenden Zeit wurden die Bewohner des unbekannten kleinen Planeten immer wieder durch merkwürdige Beobachtungen aufgescheucht. Während John sich vergeblich abmühte, einen Sinn in das zwitschernde Konzert unverständlicher Morsezeichen zu bringen, während er in kurzen Abständen seinen Ruf an den „Hidalgo“ in den Äther hinausjagte, tasteten Frank und Martio mit dem Radargerät des Raketenbootes den Himmelsraum in der Umgebung des Planetoiden ab. Sie hatten bei ihren Beobachtungen mehr Erfolg als John. In 38
unregelmäßigen Intervallen registrierten sie den Vorübergang kleinerer, unbekannter Objekte. Jedesmal wurde das Boot klargemacht, und die Verfolgung aufgenommen. Oft handelte es sich nur um kosmische Trümmerteile von mehreren Tonnen Masse, doch in einigen Fällen brachten sie auch seltsame Beutestücke im Schlepptau mit: Halbverschmorte Kabelrollen und verbogene Rohre, eine Kiste mit Signalraketen, die Reste eines Raumtaucheranzuges und leere Sauerstoffflaschen. Gemeinsam begaben sich die Freunde jedesmal an eine gewissenhafte Untersuchung des „kosmischen Treibholzes“. Das Resultat war stets das gleiche: „Dies Stück stammt unzweifelhaft von der Erde“, verkündete Frank. „Solche Legierungen gibt es nur bei uns.“ „Es stammt vom Mars“, beharrte Martio. „Es ist eine Silberstahllegierung, wie sie nur von unseren Elysium-Werken hergestellt wird.“ „Seht doch am besten nach dem Firmenzeichen“, schlug John – des nutzlosen Streitens müde – vor. Doch das war eben der wunde Punkt. Nirgends fand sich auch nur die geringste Bezeichnung, die einen Hinweis auf die Herkunft der Stücke hätte geben können. „Allmählich können wir ein regelrechtes interplanetarisches Fundbüro eröffnen“, meinte Frank. „Vielleicht melden sich die Besitzer dieser Kostbarkeiten, wenn wir eines Tages zur Versteigerung schreiten.“ „Die Trümmer kommen stets aus derselben Richtung“, stellte Martio sinnend fest. „Ob sie wohl vom Untergang jenes Schiffes stammen, dessen Wrack wir kürzlich entdeckten?“ John wurde aufmerksam. „Das halte ich für ausgeschlossen. In diesem Fall müßten sie in unmittelbarer Nachbarschaft des Wracks treiben. Die Abstände sind aber viel zu groß.“ „Thunderstorm!“ Erregt hieb Frank mit der Faust auf den Tisch. „Begreift ihr auch, was das bedeuten würde? Dann müßte 39
ja irgendwo in dieser Richtung – eine ganze Flotte von Raumschiffen zugrunde gegangen sein.“ Die beiden anderen wechselten betroffene Blicke. Frank hatte recht. Es war die einzig mögliche Erklärung. Was für eine Tragödie mochte sich in jener Gegend abgespielt haben, aus der fortwährend weitere Trümmer – stumme Zeugen der unbekannten Katastrophe – durch den Raum herangetrieben kamen? Frank trat ans Fenster und blickte lange in das weite Sternenmeer hinaus. „Vielleicht hat sich das Ganze in der Nähe unseres Planetoiden abgespielt? Sollten wir nicht eine kleine Erkundungsfahrt in diese Richtung unternehmen? Zeit genug haben wir ja.“ „Und Sprit auch“, vollendete John. „Du hast recht, Frank, wir sollten es riskieren. Nehmt genügend Sauerstoffreserven für eine sechsstündige Fahrt mit, Jungens, und füllt sämtliche Zusatztanks mit Treibstoff.“ John betätigte die Steuerung, während Martio das Radargerät bediente. Alle paar Minuten kamen seine Meldungen: „Objekt 3,5 Meilen backbord voraus. – Zwei weitere Objekte in 4,3 Meilen Distanz, steuerbord und backbord voraus …“ Mit dem lichtstarken Stereo-Teleskop nahm Frank die avisierten Objekte sofort aufs Korn. Soweit er es bei der hohen Geschwindigkeit feststellen konnte, handelte es sich meist um Wrackteile verschiedener Größe. Hin und wieder zog auch ein riesiger Meteorstein oder ein winziger Planetoid vorüber. „Ich glaube, ich weiß, wie die Sache passiert ist“, sagte er plötzlich. „Das Raumschiffgeschwader ist in eine Ansammlung von kosmischen Steinen geraten und im Handumdrehen in tausend Stücke geschlagen worden.“ „Mag sein“, erwiderte John, „aber damit ist noch immer nicht jene Frage gelöst, die uns am meisten interessiert: Was sind das für Schiffe gewesen, woher kommen sie – hallo, Martio, was hast du denn? Ist dein Gerät unklar geworden?“ 40
Der junge Martianer hantierte nervös an der Einstellung des Bildschirms herum. „Ich verstehe das nicht – irgendein undefinierbares Objekt muß da in unserer Bahn sein …“ „Welche Distanz, Martio?“ „Das ist es ja eben – ich kann die Distanz nicht feststellen. Die Werte schwanken zwischen …“ Frank Wilson schrie auf. Seine Stimme überschlug sich. „Objekt unmittelbar voraus. Die Bremsaggregate, John!“ In Gedankenschnelle schaltete John das Triebwerk ab und zündete die Bremsraketen. Unsichtbare Hände griffen nach den Raumfahrern und schüttelten sie, als wollten sie ihnen sämtliche Knochen zerbrechen. John starrte auf das Bugfenster. Der Herzschlag setzte ihm aus. Eine riesenhafte Kugel, nur matt im Sonnenlicht erkennbar, raste dem Raumschiff entgegen … Ruder hart steuerbord – schoß es John durch den Sinn. Instinktiv riß er am Steuerknüppel, doch im gleichen Moment fiel ihm mit Entsetzen ein, daß die Strahlruder bei abgeschaltetem Triebwerk ja nicht arbeiteten. Mit zitternden Fingern löste er zwei, drei Richtungsschüsse. Die Kugel schwebte heran, langsamer zwar als zuvor, aber doch unausweichlich. Die drei Männer in der engen Kabine des Raketenbootes schlossen die Augen. Jetzt … Ein kreischendes Splittern und Schrammen – ein Wirbel von Stößen, der durch die Kombinationen drang und die Körper der Männer schier zermalmte. Und dann ein Taumeln und Schweben, das ein plötzliches, ekelhaftes Schwindelgefühl auslöste … „Frank – Martio“, stammelte John, „lebt ihr noch? So meldet euch doch.“ „Soweit es mich betrifft – ich scheine noch zu leben“, ließ sich Frank Wilson, ein wenig matt, vernehmen. „Aber frag mich nicht, wie …“ „Unsere Rakete ist hinüber“, meldete sich nun auch Martio, der den Zusammenstoß leidlich gut überstanden zu haben schien. 41
John hatte die Situation erfaßt. „Das Raumschiff! Haltet euch fest. Wir müssen versuchen, an Bord zu kommen.“ Langsam schwebte der wuchtige Rumpf des Schiffes vorüber. John drückte auf den Auslöser des Rückstoßgerätes und ließ sich auf den Mittelteil zutreiben, wo – wie er wußte – die Luftschleusen liegen mußten. „Hierher, Jungens! Nur gut, daß unsere Raumtaucheranzüge dicht gehalten haben.“ „Die Schleuse ist offen“, rief Frank. „Sehr aufmerksam von den Leuten, uns arme Schiffbrüchige gleich aufzunehmen.“ „Sie hätten besser daran getan, auf den Weg zu achten und uns nicht über den Haufen zu fahren“, entgegnete John und packte die Haltegriffe am Schleuseneingang. „Drück auf die Tube, Martio, sonst fährt dir der Kahn doch noch davon.“ Aufatmend fanden sich die Freunde in der großen Schleusenkammer wieder zusammen. John drückte einen Klingelknopf. Eine Signallampe leuchtete auf, aber es rührte sich nichts. „Komische Leute. Wann werden sie sich wohl endlich dazu entschließen, die Luke dicht zu machen?.“ Weit geöffnet gähnte das Außentor in den Weltraum. Frank wurde ungeduldig. „Wie lange sollen wir denn hier noch warten? Anscheinend haben die Burschen ’ne Ladehemmung. Los, Jungens, faßt mal mit an. Dann müssen wir uns eben selbst helfen.“ * „Hallo – hallo! Was ist denn das für ein lahmer Betrieb? Ihr schlaft wohl alle miteinander, wie?“ Ungeduldig zerrte Frank Wilson an der Verschraubung seines Taucherhelms. Er konnte nicht begreifen, warum niemand von der Besatzung des fremden Raumers erschien, um sich um die Schiffbrüchigen zu kümmern. 42
John deutete auf die roten Signallampen, die überall im langen Mittelgang des Schiffes glühten. „Behalte den Helm auf, Frank. Das ganze Schiff scheint luftleer zu sein.“ „Damned – du hast recht. Wahrscheinlich ist es bei der Karambolage vorhin leck geworden. Hoffentlich sind keine Menschenleben zu beklagen. Ich möchte nur wissen, was für ein Kahn das überhaupt ist.“ „Es hat die Nummer 444 und stammt vom Mars“, rief Martio aufgeregt. Auch John und Frank sahen jetzt die Angaben in Marsschrift auf dem Messingschild, das nahe der Steuerbordschleuse in die Wand eingelassen war. „Tatsächlich, ein Marsschiff“, staunte Frank. „Wie kommt es nur hierher? Ich dachte, ihr hättet eure ganze Raumflotte – oder was davon übriggeblieben war – ohne Ausnahme verschrottet?“ Martio zuckte ratlos die Achseln. John Palmer wandte sich nach dem Bug des Raumschiffes. „Ich glaube, diese Frage läßt sich theoretisch nicht lösen. Erkundigen wir uns lieber beim Kommandanten selbst. Kommt, wir wollen in den Führerstand gehen.“ Das Erstaunen der drei Freunde wuchs, je mehr sie sich dem Vorderteil des Schiffes näherten. Die meisten Türen standen offen. In den Arbeits- und Unterkunftsräumen herrschte eine Unordnung, die nicht nur auf einen überstürzten Aufbruch der Besatzung schließen ließ. Ohne Zweifel hatten hier vorher schon Zustände geherrscht, wie sie für ein irdisches Raumfahrzeug undenkbar gewesen wären. „Da wäre was für unseren Käpten gewesen“, knurrte John grimmig. „Er hätte die ganze Bande kielholen lassen.“ „He, Martio“, grinste Frank. „Ist es in eurer Raumfahrerei eigentlich üblich, auch die holde Weiblichkeit mit auf die Reise zu nehmen?“ Interessiert betrachtete er die Schminkutensilien, die in einer der Kammern in der Schwerelosigkeit umherschwebten. Martio kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. „Sie müs43
sen das Schiff in voller Panik verlassen haben. Aber warum nur? Und schließlich hätten sie doch beim Aussteigen bemerken müssen …“ „Und wenn sie das Schiff nun schon früher aufgegeben hätten?“ John wies auf ein handtellergroßes Leck in der Außenwand, das aussah, als wäre es von einem Geschoß mittleren Kalibers geschlagen worden. „Das Raumschiff wird in einen Meteoritenhagel geraten sein, und die Mannschaft verlor die Nerven und türmte.“ „Die armen Kerle“, meinte Frank, der noch einmal zurückgekehrt war und eine Schiebetür im Mittelteil des Schiffes aufriß. „Sie haben sich nicht einmal die Zeit genommen, in die Raketenboote zu steigen. Teufel noch mal, muß hier eine Disziplin geherrscht haben!“ „Vielleicht sind noch ein paar Besatzungsmitglieder an Bord geblieben und haben sich in den Führerstand zurückgezogen“, meinte John ohne rechte Überzeugung. „Wir wollen weiter suchen.“ Aber es war vergeblich. Auch sämtliche Räume im Bug des Raumschiffes Nr. 444 lagen öde und in furchtbarer Unordnung da. Weggeworfene Ausrüstungsgegenstände, persönliche Utensilien der Mannschaft, Instrumente, Karten und Bücher, Lebensmittel und Eßgeschirre schwebten überall in malerischem Durcheinander herum. „Muß das hier lieblich zugegangen sein“, schüttelte Frank immer wieder den Kopf. „Schade, daß wir keine Kamera dabei haben, um das ‚Stilleben’ zu filmen.“ Vor einer schmalen Kammer mit der Bezeichnung „Apotheke“ blieb Martio nachdenklich stehen. Die Schiebetür war gewaltsam aufgesprengt worden, sämtliche Schränke und Behälter waren erbrochen und ausgeplündert. „Merkwürdig – ausgerechnet dafür haben sie noch Zeit gehabt, aber ihre Rettungsraketen haben sie nicht mehr klar bekommen.“ 44
Frank lachte. „Daran erkennt man, in welcher Panik sie gehandelt haben. Als ob sie mit Abführpillen irgend etwas im Raum anfangen könnten …“ Die Besichtigung der übrigen Räume ergab keine neuen Anhaltspunkte. John ging noch einmal in den Schaltraum zurück und ließ sich von Martio die Bezeichnungen an den Hebeln und Schaltern erklären. Dann begab er sich erneut auf einen Rundgang und begann, die Lukendeckel vor den zersplitterten Fenstern sorgfältig zu schließen. Frank sah ihm verwundert zu. „Was soll das, John? Hast du nichts besseres zu tun, als den alten Kahn zu renovieren?“ „Ich wüßte tatsächlich nichts besseres, Frank. Daß wir an diese alte Gurke geraten sind, ist ein Geschenk des Schicksals. Wenn es uns gelingt, das Schiff wieder klar zu bekommen …“ „Thunderstorm! Daß ich nicht gleich daran gedacht habe. Was kann ich tun, John? Ich brenne darauf, mich nützlich zu machen.“ „Dann wandere zusammen mit Martio noch einmal durch alle Räume und suche die Wände ab, Zentimeter um Zentimeter. Holt euch Dichtungsmaterial aus dem Magazin und bessert sämtliche Lecks aus – wenigstens in den Räumen, die für den Betrieb des Schiffes wichtig sind. Alle übrigen riegeln wir einfach von außen ab, und nachher füllen wir das Schiff einfach aus dem Reserveluftbehälter auf,“ Zu dritt machten sich die Freunde an die Arbeit. Die Aussicht, bald die lästige Weltraumkombination ablegen zu dürfen und über ein einsatzfähiges Raumschiff zu verfügen, trieb sie zu äußerster Eile an. Als Frank dem Freund die Beendigung der Reparaturarbeiten melden konnte, waren alle am Ende ihrer Kräfte. Aber es wurde ihnen nichts geschenkt. John hatte kaum vom Schaltraum aus die Luftbehälter geöffnet, als die FernanzeigeBarometer in verschiedenen Räumen – anstelle eines langsamen 45
Druckanstiegs – ein starkes Schwanken registrierten. Wieder mußten Frank und Martio sich auf die Suche nach winzigen Lecks begeben. Es vergingen noch drei weitere Stunden, ehe das Raumschiff 444 vollkommen abgedichtet war. Im Führerraum fanden sich die drei Freunde nach getaner Arbeit zusammen. „Wir wollen jetzt ein paar Stunden schlafen“, schlug John vor. „Danach müssen wir uns schnellstens um das Triebwerk kümmern. Ich hatte noch keine Zeit, einen Blick in die Maschinenräume zu werfen. Hoffentlich erleben wir dort keine böse Überraschung.“ Trotz seiner Müdigkeit schnallte sich Frank von seinem Lager los. „Ich sehe lieber gleich mal nach. – Wie bitte? Sagtest du etwas, John?“ „Ich habe nichts gesagt, aber mir war auch so, als hätte ich irgendein Geräusch.. – Da war es wieder …“ Frank spürte, wie ihm die Haare zu Berge stiegen. „Es klang beinahe wie ein Stöhnen.“ Rasch befreiten sich auch die beiden anderen aus den Haltegurten. Ein emsiges Suchen begann. Die Freunde krochen auch in den Nebenräumen herum und durchstöberten die Wandschränke, aber die Quelle der unheimlichen Geräusche entdeckten sie nicht. John gab es auf. „Wir sind allesamt übermüdet und ein bißchen nervös geworden. Nach den Erlebnissen dieses Tages ist es ja schließlich auch kein Wunder. Wir sollten uns jetzt wirklich niederlegen und ein paar Augen voll Schlaf nehmen.“ Widerspruchslos befolgten Frank und Martio Johns Rat. Sekunden später lagen sie schon wieder festgeschnallt in den Spezialsitzen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. „John, was soll nun werden, wenn es uns gelingt Funkstation und Maschine wieder klar zu bekommen?“ fragte Frank in das Halbdunkel des Führerraums hinein. „Wohin gedenkst du zu fahren – hinter dem ‚Hidalgo’ her, oder zum Mars?“ 46
John Palmer antwortete nicht sofort. Das war eine Frage, mit der er sich selbst schon abgequält hatte. Im Grunde war es selbstverständlich, sich auf schnellstem Wege an Bord seines Schiffes zurückzubegeben. Andererseits war es unbestimmt, ob man den „Hidalgo“ überhaupt noch einholen konnte. Und schließlich waren sie Schiffbrüchige. Niemand würde es ihnen verdenken können, wenn sie dem gefahrvollen Bereich der Planetoiden den Rücken kehrten und eiligst zum Mars zurückführen. „Ich kann es dir noch nicht sagen“, wich er der Frage aus. „Wir sollten die Entscheidung davon abhängig machen, ob wir Verbindung mit dem ‚Hidalgo’ bekommen. Gelingt es, dann mag der Kommodore entscheiden, was wir tun sollen. Bekommen wir keine Verbindung mit dem Expeditionsschiff, dann wäre es wahrscheinlich das beste, umzukehren …“ „… und das Bergungsgeld für den Raumer 444 einzustreichen“, grinste Frank. „Kein schlechter Gedanke. – He, Martio, laß doch den Unfug! Was mußt du ständig auf den Heizungsrohren herumklopfen?“ „Ich tue doch gar nichts, Frank. Die Heizungsrohre liegen auf deiner Seite. Es muß wohl irgend etwas anderes sein.“ „Dieser alte Kahn ist voller Geräusche, wie ein schottisches Schloß um die Geisterstunde“, sagte John ärgerlich. „Ich hätte fast wetten mögen, daß da eben jemand rief.“ „Entweder geht hier wirklich ein Weltraumgespenst um“, murmelte Frank, „oder wir fangen schon an zu spinnen.“ Ein Jammerlaut, so herzzerreißend, daß es den Raumfahrern eisige Schauer über den Rücken jagte, kam gedämpft aus dem Halbdunkel. John löste mit klammen Fingern die Gurte. „Jungens, das ist ja nicht zum Aushalten. Steht auf – wir müssen noch einmal alles absuchen. Vielleicht haben wir vorhin irgend etwas übersehen. Einen Wandschrank vielleicht, oder eine verborgene Luke im Boden.“ 47
Wieder gingen die drei auf die Suche. Führerstand und Nebenräume wurden gründlich abgeklopft. Man fand tatsächlich noch einen Wandtresor, aber er enthielt nichts als ganze Bündel höherer Banknoten in einer Mars-Währung, die längst verfallen war. „Damit könnten wir unseren Ofen heizen, wenn es hier an Bord solch ein Ding gäbe“, meinte Frank mißmutig und schleuderte die Geldscheinbündel achtlos in den Panzerschrank zurück. „Im übrigen sind wir genauso klug wie vorher.“ Wieder zog ein furchtbares Stöhnen durch den Raum. Ein namenloses Entsetzen schlich sich in die Herzen der sonst so unerschrockenen Raumfahrer. Plötzlich stieß Martio einen Schrei aus. „Ich hab’s! Es kommt aus dem Lautsprecher …“ John blickte sich um. „Aus welchem Lautsprecher denn?“ Doch schon begriff er: Mikrophone und Lautsprecheranlagen waren auf den Marsschiffen so geschickt eingebaut, daß man sie von außen kaum erkennen konnte. Rasch trat er an ein kleines Schaltbrett neben dem Pilotensitz, auf dem ein einsames, grünes Lämpchen glühte. „Maschinenraum 13“ las er ab. Frank und Martio stürzten schon durch den Mittelgang nach dem Heck. John eilte ihnen nach. Nun war ihm alles klar: Die Bordfunkanlage war zwischen Führerstand und Maschinenraum 13 eingeschaltet gewesen, und dort mußte der Poltergeist sein Unwesen treiben. Leider hatten sie ja bislang keine Zeit gehabt, das Heck des Schiffes eingehend zu inspizieren. „Vorsicht, Jungens, benehmt euch doch nicht so läppisch!“ Gerade noch konnte John die beiden Freunde zurückreißen, die sich bereits anschickten, die schwere Schiebetür des Maschinenraums aufzustemmen. „Wenn da drinnen etwas undicht ist, sind wir allesamt geliefert.“ Frank schüttelte Johns Hand ab. „Da drinnen ist die beste Atemluft der Welt, mein Lieber. Wäre es nicht so, dann dürfte 48
unser prächtiges Bordgespenst nämlich schon längst erstickt sein. He, Martio, pack an. Hau – ruck!“ Kreischend wich die Tür in den verrosteten Gleitschienen zurück. Die „Atemluft“, von der Frank eben noch so überzeugt geschwärmt hatte, ließ die Freunde zurücktaumeln. Sie mochte ein Gemisch aus allem Möglichem sein, dem nur eins fehlte: der Sauerstoff! „Das – ist – ja grauenhaft!“ Frank machte kehrt und taumelte würgend davon. John hielt die Luft an und drang in den dunklen Raum ein. Seine Rechte tastete nach dem kleinen Schaltbrett auf der rechten Seite der Tür. Ein Druck auf die Knöpfe. Mattes Licht durchflutete den Raum. Gleichzeitig begannen die Ventilatoren der Lufterneuerungsanlage zu summen. „Kommt rein, Jungens, wenn ihr euch akklimatisiert habt. Abgesehen von dem Gestank, bin ich angenehm überrascht. Die Maschine scheint das einzige in diesem verrottetem Kahn zu sein, das noch intakt ist.“ Vorsichtig, immer gewärtig, einen Ohnmachtsanfall in der verbrauchten Luft zu erleiden, tasteten sich die Freunde an den Rohrleitungen und Kabelsträngen vorwärts. Die Maschinenanlage war zwar offensichtlich ungepflegt, doch schien sie keinerlei Beschädigungen davongetragen zu haben. Allerdings wollte dieser Anblick noch nicht allzuviel besagen; denn Raum 13 beherbergte nur einen winzigen Teil der Gesamtanlage, und zwar die Kühlaggregate für das Haupttriebwerk. „Da haben wir unser Bordgespenst.“ John nickte leicht nach der gegenüberliegenden Wand hin, durch die ein Teil der Rohre in den angrenzenden Raum weiterlief. Die dürre Gestalt, die dort bewegungslos in der Luft schwebte, hätte einen das Gruseln lehren können. Frank und Martio näherten sich zögernd und betrachteten die Gestalt mit allen Anzeichen des Entsetzens. „Tot?“ fragte Frank schließlich. 49
John hatte bereits mit der Untersuchung des schwebenden Körpers begonnen, der nur noch einem Knochengerüst, mühsam von der vertrockneten Haut zusammengehalten, glich. Das verrunzelte Gesicht war ein Totenkopf, mit pergamentartiger Haut überzogen. Der lange, ungepflegte Bart ließ es älter erscheinen, als sein Besitzer den Jahren nach sein mochte. John schätzte den Mann auf höchstens fünfzig Jahre. Die Augen waren fest geschlossen. Doch vernahm John deutlich ein leises Röcheln. „Er lebt noch, wenn ich auch kaum glaube, daß er noch einmal zum Bewußtsein zurückfindet. Der Mann ist völlig ausgemergelt und verbraucht.“ „Hier können wir ihn nicht lassen, John.“ „Das habe ich auch gar nicht vor. Wir nehmen ihn in den Führerstand mit. Das ist zur Zeit der einzige Raum an Bord, in dem es einigermaßen behaglich ist.“ Behutsam faßte Frank mit an. Der Körper des Ohnmächtigen war bei der herrschenden Schwerelosigkeit natürlich völlig gewichtslos. Doch selbst unter irdischen Schwerebedingungen wäre es leicht gewesen, ihn zu tragen. Durch lange Entbehrungen war er tatsächlich völlig zusammengeschrumpft. Frank deutete auf die schäbige Uniform des Mannes. „Er muß wohl irgendein großes Tier sein, dem Lametta nach zu urteilen. Meinst du, daß wir ihn durchbringen werden, John?“ „Wir wollen es versuchen. Der arme Kerl dürfte seit einer kleinen Ewigkeit nichts mehr zu essen und zu trinken bekommen haben. Wir müssen ihn ganz langsam wieder daran gewöhnen.“ Als sie den kümmerlichen Körper auf dem Lager festschnallten, schlug der Fremde die Augen auf. Lange blickte er verständnislos umher, dann schien er den Führerstand wiederzuerkennen. Endlich blieb sein Blick an den Gesichtern der Freunde haften. „Ich heiße Tonga“, flüsterte er kaum vernehmbar in der Marssprache. „Ich bin der Kommandant dieses Schiffes.“ 50
* „Ich glaube, John, es geht mit ihm zu Ende.“ Ernst trat Martio auf den Freund zu, der schon seit Stunden im Schaltraum arbeitete, um die Leitungen nach den verschiedenen Triebwerksteilen zu überprüfen. John war unermüdlich beschäftigt, um den Raumer 444 so bald wie möglich wieder fahrbereit zu bekommen. Frank Wilson kroch unterdessen im Schutzanzug draußen in den gähnenden Mäulern der Heckdüsen herum. Die Pflege Kapitän Tongas hatten sie Martio übertragen. Der Schwerkranke war bald wieder in einen todesähnlichen Schlaf gefallen. Als er nach zwölf Stunden erwachte, gelang es Martio, ihm einige Löffel eines belebenden Getränkes einzuflößen, das sie unter den Vorräten des Schiffes, gefunden hatten. In kurzen Abständen nahm Tonga etwas Flüssigkeit zu sich, aber es war offenkundig, daß sein Körper zu sehr geschwächt war, um sich noch einmal zu erholen. „Hätten wir doch wenigstens Medikamente an Bord“, klagte Martio. „Aber die Schiffsapotheke ist, wie du weißt, restlos ausgeplündert worden.“ „Ich weiß, Martio. Wahrscheinlich hätten uns die Arzneien auch nicht viel genützt. Hier hätte nur Dr. Smith, unser tüchtiger Schiffsarzt vom ‚Hidalgo’, helfen können. Er weiß mit allen Krankheiten Bescheid, die einem bei der Raumfahrerei zustoßen können. Ist Tonga bei Bewußtsein.“ „Er ist so klar, wie nie zuvor, seit wir ihn gefunden haben. Tonga wünscht dich und Frank zu sprechen. Ich glaube, er will uns allen wichtige Mitteilungen machen.“ „Gut, Martio, ich komme sofort. Ruf auch Frank herein. Wir treffen uns dann im Führerstand.“ Eine Viertelstunde später hockten die drei Freunde, in ihren Spezialsitzen festgeschnallt, um das Lager Kapitän Tongas im 51
Führerraum herum. Da sie ohnehin seit zehn Stunden unablässig gearbeitet hatten, hatte John für diesmal Arbeitsruhe angeordnet. Gespannt warteten sie darauf, was Tonga ihnen zu sagen hätte. Auf den ersten Blick wirkte der Kommandant des Marsschiffes wesentlich erholter als zu jenem Zeitpunkt, da sie ihn – verhungert, verwahrlost und halb erstickt – aus dem Maschinenraum befreit hatten. Kapitän Tonga trug beide Arme geschient. Sie waren gebrochen gewesen, als man ihn fand, und auch sonst hatten die Freunde einige Verletzungen an ihm entdeckt, deren Ursprung sie sich nicht erklären konnten. Bei aufmerksamerer Betrachtung war jedoch leicht zu erkennen, daß das bessere Aussehen des Kranken nur Schein war. Der verbrauchte Körper konnte sich nicht erholen, zumindest nicht unter den primitiven Bedingungen an Bord des ramponierten Weltraumschiffes. Zuweilen leuchteten Tongas Augen in einem Glanz, als blickte er bereits in eine andere Welt. „Ich habe aus euren Gesprächen erfahren“, begann Kapitän Tonga stockend, „daß ihr euch den Kopf darüber zerbrecht, wie das Raumschiff 444 hierher, in das Reich der Planetoiden, gelangt sein könnte. Wenn ihr meine Geschichte kennt, werdet ihr alles verstehen. Meine Irrfahrt begann an jenem Unglückstage, als die Raumflotte der Erde bei uns erschien, um Mars zu vernichten.“ „Sie irren sich, Käpten“, unterbrach ihn John Palmer. „Es war der Diktator des Mars, der unserer Erde Kampf und Vernichtung angesagt hatte. Der Angriff der irdischen Schiffe war nichts anderes als eine vorbeugende Abwehrmaßnahme * ).“ Tonga wehrte mit einer matten Handbewegung ab. „Es mag sein, daß ihr recht habt. Jedenfalls betrachteten wir uns als die Angegriffenen. Unser Befehlshaber, Marschall Ludo …“ „Der Teufel hole ihn“, knurrte Frank Wilson böse. *
Siehe UTOPIA-Kleinband Nr. 95 – „In den Wüsten des Mars“
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„Sein Schicksal hat sich bereits erfüllt“, erwiderte Tonga. „Doch hört nun weiter: Marschall Ludo gab Alarm für den ganzen Planeten. Die Raumflotten, die am Marsmond Phobos und an den künstlichen Außenstationen lagen, wurden in Marsch gesetzt. Die riesigen Ejektoren an den Polen und entlang des Äquators spieen Reserveschiffe in Massen in den Raum hinaus. Unsere Streitmacht formierte sich zu hundertfacher Übermacht …“ „Und dennoch zogen sie den Kürzeren“, stellte Frank fest. „Neun irdische Schilfe trugen den Sieg davon, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hatte.“ Kapitän Tonga nickte trübe. „Ihr hattet die stärkeren Waffen. Und noch etwas anderes kam hinzu: Im Bewußtsein unserer zahlenmäßigen Überlegenheit hatten wir die Landungsboote nicht beachtet, die von euren Schiffen aus gestartet waren. Plötzlich griffen sie die Rüstungszentren auf der Planetenoberfläche mit Bomben an. Ein Geheimwaffenmagazin in jenem Gelände, das ihr ‚Lacus Solis’ nennt, wurde getroffen und flog in die Luft. Mit furchtbarer Geschwindigkeit dehnte sich der alles vernichtende Atombrand aus …“ Der Erzähler schwieg, überwältigt von seinen Erinnerungen. In seinen Zügen spiegelte sich das Grauen. Martio reichte ihm ein Trinkgefäß hinüber. Tonga tat einen langen, durstigen Zug und fuhr fort: „Die 444 war das Flaggschiff des Oberbefehlshabers. Wir setzten gerade zum entscheidenden Angriff auf das irdische Geschwader an, als die Katastrophe in Lacus Solis eintrat. Die Wirkung auf unsere Besatzungen war vernichtend. In wenigen Augenblicken löste sich die gesamte Flotte auf. Zahlreiche Schiffe ergaben sich. Der Rest ergriff die Flucht. Marschall Ludo versuchte, Verbindung mit dem Oberkommando auf Mars zu bekommen, aber die Funkstationen antworteten nicht. Schließlich erteilte Ludo mir den Befehl, mit einem Landungsboot nach der Hauptstadt zu fahren, um neue Weisungen einzuholen.“ 53
„Ich nehme an, Käpten, daß Sie nicht weit gekommen sind“, meinte John. „Eure damalige Hauptstadt lag doch genau unter dem Gebiet, in dem das Atomfeuer wütete.“ Tonga nickte düster. „Der Zentralflughafen war bereits im Flammenmeer versunken. Wir landeten auf dem Gelände einer kleineren Raketenstation im Norden, und ich setzte meinen Weg mit einem Kettenwagen fort. Im Vorfeld der Metropole stieß ich auf die flüchtende Bevölkerung der Stadt. Es herrschte die entsetzlichste Panik, die ich jemals erlebt hatte.“ „Kann ich mir lebhaft vorstellen“, nickte Frank Wilson grimmig. „Es muß auch ein verdammt ekliges Gefühl sein, unter solch einer Höllenglut schmoren zu müssen.“ Der Kapitän holte tief Atem und fuhr fort; „Wie es mir gelang, gegen den Flüchtlingsstrom in die Hauptstadt einzudringen, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Die Eindrücke, die ich in der Unterwelt gewann, verfolgen mich noch heute in meinen Träumen. Tobende Massen, die sich um einen Platz in den überfüllten Beförderungsmitteln schlugen. Formationen der Geheimpolizei des Diktators, die rücksichtslos in die Menge feuerten, um das eigene Leben zu retten. Brennende Gebäude und ein Regen glühenden, geschmolzenen Sandes, der aus dem künstlichen Himmel niederstürzte. Dazu eine wahre Höllenglut. Alle bösen Geister der Tiefe waren entfesselt … Die schlanken Säulen, die den künstlichen Himmel der MarsUnterwelt trugen, begannen sich bereits unter der Einwirkung der Hitze zu biegen, als es mir endlich gelang, bis zum Diktator vorzudringen. Er stand auf einem gepanzerten Kettenwagen und forderte die Menge schreiend auf, den Weg freizugeben. In seinen Augen loderte der Irrsinn. Ich stürzte auf den Wagen und erstattete meine Meldung. Ich weiß nicht, ob er mich in all dem Lärm überhaupt verstanden hat; auf jeden Fall erkannte er mich aber. ‚Befehl an Ludo’, hörte ich ihn brüllen. ‚Sammelt alle Raumfahrzeuge, die uns geblieben sind, am Phobos und nehmt soviel 54
Proviant und Treibstoff an Bord, wie ihr nur finden könnt. Holt unsere Leute in den Sammelstellen mit Raketenbooten ab und verladet sie in die Schiffe!’“ „Wobei mit ‚unseren Leuten’ natürlich die Helfershelfer des Diktators gemeint waren“, grunzte Frank. „Gewiß. Ich fragte: ‚Und wohin sollen wir sie bringen?’“ „In den äußeren Raumbereich“, schrie der Diktator. „Dort werden wir uns so lange aufhalten, bis die Stunde unserer Wiederkehr gekommen ist.“ Es war der letzte Befehl seines Lebens. Im nächsten Moment brach die Decke des künstlichen Himmels zusammen und begrub den Wagen des Diktators. Schreiend stob die Menge davon. Ich ließ meinen Wagen stehen und flüchtete zu Fuß. Wie durch ein Wunder gelang es mir, aus der todgeweihten Hauptstadt zu entkommen.“ „Und – was geschah dann?“ fragte John nach längerer Pause. „Ich fuhr zum Flaggschiff zurück und überbrachte Ludo den Befehl. Wir beluden die zwölf Raumschiffe, die uns geblieben waren, mit Proviant und Trinkwasser, mit Sauerstoff und Treibstoffen, die wir reichlich im Depot auf Phobos vorfanden. Inzwischen holten unsere Raketenboote im laufenden Pendelverkehr die Parteifreunde der gestürzten Regierung in den Sammelstellen ab und brachten sie zum Phobos. Durch die allgemeine Verwirrung, die überall auf Mars herrschte, wurde unsere Aktion begünstigt. Wir konnten fast sämtliche Freunde des Diktators – soweit sie die eigentlichen Kampfhandlungen lebend überstanden hatten – an Bord der Schiffe nehmen.“ „Aha“, rief Martio grimmig, „das erklärt auch den merkwürdigen Umstand, daß unsere Säuberungsaktionen so gut wie ergebnislos verlaufen sind.“ Tongas Stimme war zuletzt zu einem Flüstern geworden. Die lange Erzählung hatte ihn übermäßig angestrengt. „Wir starteten also mit zwölf Schiffen unter Marschall Ludos Kommando“, 55
schloß er seinen Bericht. „Meine 444 war wie bisher das Flaggschiff. Ziel war der ‚äußere Raumbereich’, wie die Zone der Planetoiden in unserem militärischen Sprachgebrauch genannt wurde. Dort hofften wir für einige Zeit unterzutauchen. Aber das Schlimmste stand uns noch bevor. Hätte ich damals geahnt, wie das Abenteuer enden würde –, ich wäre noch aus dem fahrenden Raumschiff ausgestiegen und wäre kaltblütig desertiert …“ * Ein plötzlicher Meteoritenalarm – von der automatischen Luftdruckkontrolle ausgelöst – jagte die Freunde in die Maschinenräume. Ein großer Meteorstein hatte eine Brennkammer des Haupttriebwerks getroffen und so schwer beschädigt, daß sie ausgewechselt werden mußte. Unermüdlich arbeiteten sie zu dritt an der Beseitigung des Schadens. Als das Schiff nach sechsstündiger Reparaturarbeit wieder fahrbereit war, sanken die drei tödlich erschöpft auf ihre Lager. Erst nach zwölf Stunden traumlosen Schlafs wachte John wieder auf. Sofort weckte er die Freunde, die noch um die Wette schnarchten. Kapitän Tonga lag hellwach auf seinem Lager. Ein Ausdruck der Erleichterung erschien in seinen vergrämten Zügen. Er mußte schon lange darauf gewartet haben, daß die Schläfer endlich erwachen würden, aber er hatte sie nicht stören wollen. „Wie geht es unserem Patienten denn jetzt?“ erkundigte sich John Palmer freundlich. Doch er erschrak, als er Tonga flüchtig untersuchte. Der Puls des Kranken war matt und unregelmäßig, die Atmung mühsamer denn je. Der jenseitige Glanz seiner Augen leuchtete stark und durchdringend. „Es ist gut, daß ihr wieder da seid“, murmelte Tonga schwach. „Es drängt mich, mit meinem Bericht zu Ende zu kommen. Ich habe nicht mehr viel Zeit …“ 56
John machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Sie sollen uns später alles genau erzählen, Käpten. Jetzt brauchen Sie nichts als Ruhe. Martio wird Ihnen etwas zu trinken bringen, und dann versuchen Sie, zu schlafen.“ Der Sterbende lächelte matt. „Sie meinen es gut mit mir – aber ich muß meinen Bericht beenden. Was ich noch zu erzählen habe, ist auch für euch wichtig.“ Nachdem Martio dem Kapitän einige Schlucke des belebenden Getränkes eingeflößt hatte und die Freunde nahe an Tongas Lager herangerückt waren, fuhr der Kommandant des Raumschiffs 444 mit seiner Erzählung fort. Die Worte kamen anfangs leise und stockend von seinen Lippen, wurden aber allmählich zusammenhängend und verständlicher. „Ich berichtete davon, wie wir mit zwölf Schiffen voller Flüchtlinge unter dem Befehl des Marschalls Ludo den Marsmond Phobos verließen und Kurs auf den Planetoidenring nahmen, um hier einstweilen unterzutauchen. Wir hatten ein buntgewürfeltes Gemisch von Passagieren an Bord, Zivilisten ebenso wie hohe Militärs, die sich mehr vor den Vergeltungsmaßnahmen ihres eigenen Volkes fürchteten, als vor der Gefangennahme durch die siegreichen Erdbewohner. Viele hatten ihre Familien mitgebracht. In der Engigkeit der überfüllten Schiffe gab es bald die ersten Streitigkeiten. Die Disziplin sank zusehends. Unser Heimatplanet, auf dem noch immer der Atombrand wütete, blieb hinter uns zurück. Vor uns war nichts, als der leere Raum und die gefährlichen Klippen des Planetoidenringes, in die noch nie ein Raumschiff vorgestoßen war. Unter den Passagieren breitete sich eine Raumpsychose aus. Einige wurden irrsinnig und sprangen über Bord. Meteoreinschläge lösten eine Panik nach der anderen aus und töteten zahlreiche Besatzungsmitglieder und Fahrgäste. Mein einstmals so stolzes Schiff verwandelte sich in ein widerliches Mittelding von Lazarett, Flüchtlingslager und Tollhaus. 57
Allmählich gewöhnte man sich auch daran. Im Grunde waren wir trotz allem leidlich gut davongekommen. Ein Jahr war seit unserer Abreise vergangen. Die Vorräte langten noch für weitere zwei Jahre. Unser Treibstoffverbrauch war gleich Null, da wir ohne Antrieb in freier Trägheitsbahn fuhren. Noch rund anderthalb Jahre, dann wollte der Marschall zum Mars zurückkehren und in kühnem Überraschungsangriff die Macht auf dem Planeten an sich reißen. Aber es sollte ganz anders kommen. Unser Konvoi hatte gerade einen besonders dichten Meteorschwarm passiert, und ein Teil der Mannschaft war mit Außenbordreparaturarbeiten beschäftigt, als das Gespensterschiff zum erstenmal erschien.“ Die Freunde wechselten zweifelnde Blicke. Sprach Tonga womöglich schon im Delirium? Der Kapitän erriet ihre Gedanken und lächelte. „Ich bin völlig normal – soweit man das von einem lebenden Wesen nach zweijährigem Aufenthalt im leeren Raum noch behaupten kann. Das Gespensterschiff, wie ich es einmal nennen will, weil dieser Name sich bei uns schnell eingebürgert hatte, war plötzlich da. Marschall Ludo, der vom Beobachtungsraum aus die in Kiellinie fahrende Flotte betrachtete, sah es zuerst. Aufgeregt ließ er mich kommen. ‚Käpten – seit wann besteht unser Geschwader aus dreizehn Schiffen? Wir sind doch mit zwölf Raumern aufgebrochen …’ Ich hielt ihn für leicht übergeschnappt, mußte mich aber – nach einem Blick durch das rückwärtige Beobachtungsinstrument – davon überzeugen, daß Ludo recht hatte. Wie ein düsterer Schatten hatte sich ein dreizehntes Fahrzeug an unsere Fährte geheftet. Plötzlich spien die Buggeschütze des Fremden Feuer. Das Raumschiff Nr. 201, das unsere Nachhut bildete, war in wenigen Sekunden nur noch ein brennender, explodierender Trümmerhaufen. Wir konnten ihm keine Hilfe bringen, da unsere Haupttriebwerke außer Betrieb gesetzt und nicht so schnell wieder in Gang zu bringen waren. 58
Männer in Raumtaucheranzügen lösten sich von dem Gespensterschiff und drangen in die Nr. 201 ein. Mit zahlreichen Lasten beladen, kamen sie bald darauf wieder zum Vorschein und ließen sich an Bord ihres Schiffes einschleusen, das sofort Fahrt aufnahm und nach wenigen Sekunden spurlos im Weltraum untergetaucht war. Eine Weile hatten wir Ruhe. Doch plötzlich war das Gespensterschiff wieder da; diesmal kam der Angriff von der linken Flanke her, und zwei unserer Schiffe mußten daran glauben. Die Überlebenden wurden auf die übrigen Fahrzeuge verteilt, die jetzt zum Brechen voll waren. Die folgenden Monate waren für uns alle ein entsetzlicher Alptraum. Es gab keinen Schlaf mehr. Aus nichtigsten Anlässen brachen die ärgsten Schlägereien aus. Hundertmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde blinder Alarm gegeben. Wir alle waren nur noch schlotternde Nervenbündel … Und immer dann, wenn wir am wenigsten damit rechneten, tauchte das unheimliche Schiff wieder auf und schoß eins der unsrigen in Sekunden zusammen. Ehe wir überhaupt reagieren konnten, hatten die Fremden das Wrack ausgeplündert. Wir fanden keine Zeit zur Gegenwehr und mußten uns darauf beschränken, mittels der Hilfsaggregate schleunigst aus der Nähe des explodierenden Fahrzeugs zu kommen und nachher den Raum nach Überlebenden abzusuchen. Schließlich waren von unsren zwölf Raumschiffen nur noch zwei übriggeblieben. Zusammen mit dem Schiff Nr. 303 setzten wir unsere Fahrt fort, stets auf neue Überfälle gefaßt. Wir trieben in einem schauerlichen Strom von Trümmern und ausgebrannten Wracks, der sich nur ganz allmählich weiter im Raum verteilte.“ „Dann stammt also das ‚kosmische Treibholz’, das an unserem Planetoiden vorüberzog, vom Untergang eurer Flotte“, sagte John. „Doch wie ist es euch weiter ergangen? Was wurde aus 59
dem Raumer 303 – wo blieben die Passagiere und Mannschaften der 444?“ Kapitän Tonga starrte lange durch die Luke auf den sternenbesäten Nachthimmel, als wollte er die Erinnerungen zurückholen, die sich in nebelhafte Fernen verloren hatten. „Und dann war er wieder da“, sagte er unvermittelt. „Ganz plötzlich – als wir schon im Stillen hofften, er hätte uns vergessen, oder er wäre endlich gesättigt, dieser grausame Freibeuter des Weltalls. Als die Kunde von seinem Herannahen durch das Schiff eilte, verloren die Leute endgültig die Nerven. Vergeblich versuchte ich, mich gegen die Panik zu stemmen. Ich wurde überrannt und schwer verletzt. Ehe mir die Sinne schwanden, sah ich gerade noch, wie Marschall Ludo die Tobenden aufzuhalten suchte. Mit einer Pistole in jeder Hand stand er vor der Luftschleuse …“ „Offenbar konnte auch er sich nicht durchsetzen?“ „Er hatte keine Gelegenheit mehr, es auszuprobieren. Der Wachoffizier im Führerstand muß völlig die Nerven verloren haben. Er schaltete falsch und öffnete sämtliche Innen- und Außentüren der Luftschleusen zur gleichen Zeit. Ludo wurde vom Luftdruck in den Raum hinausgeschleudert. Er trug keinen Schutzanzug und muß augenblicklich tot gewesen sein.“ „Und die anderen?“ Tonga seufzte. „Die meisten erlitten dasselbe Schicksal. Der Strom der entweichenden Luft riß sie mit fort. Die meisten hatten noch gar keine Zeit gehabt, ihre Raumtaucheranzüge anzulegen. Sie sind elend erstickt. Die wenigen, die ihre Kombination vorschriftsmäßig trugen, sind vielleicht von der 303 gerettet worden. Ich weiß es nicht …“ „Und was wurde aus dem Raumschiff 303? Ist es dem Angreifer entkommen?“ „Ich kann es nicht sagen. Als die Luft aus dem Schiff entwich, riß ich mich mit letzter Kraft zusammen und schleppte mich nach den Maschinenräumen. Ich verlor das Bewußtsein. 60
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in dem Raum wieder, in dem ihr mich später entdecktet. Auf dem Bildschirm der automatischen Fernsehkontrolle, die wohl im allgemeinen Durcheinander vom Führerstand aus eingeschaltet worden war, sah ich die Räume meines Schiffes nacheinander vorüberziehen. Sie waren leer. Ich war als einziger an Bord geblieben. Plötzlich betraten fremde Raumfahrer das Schiff durch die offene Schleuse. Es mußte der Anführer der Piraten sein, mit einem halben Dutzend seiner Männer. Sie machten sich an eine flüchtige Durchsuchung der Räume. Schon fürchtete ich, entdeckt zu werden, als sie kurz vor den Maschinenräumen wieder umkehrten. Gleich darauf sah ich sie wieder, als auf dem Bildschirm unsere Schiffsapotheke erschien.“ „Konnten sie den Anführer der Piraten erkennen?“ fragte John Palmer gespannt. Kapitän Tonga schüttelte den Kopf. „Sein Gesicht war unter dem Kunstglashelm nur undeutlich wahrzunehmen. Soviel ich sehen konnte, war es lederartig und von dunkler Färbung. Die Haare waren ebenfalls dunkel, sie fielen ihm in einer langen Strähne ins Gesicht und verdeckten das rechte Auge. Das linke war unstet und flackernd. Ich hatte den Mann nie zuvor gesehen, aber man trifft diesen Typ wohl häufig auf Mars.“ „Und dann räuberten die Schufte die Schiffsapotheke aus?“ erkundigte sich Frank. „Na, die müssen’s wohl nötig gehabt haben. Haben sie noch weitere Wertsachen mitgehen heißen?“ Tonga schüttelte den Kopf. „Ich erkannte, wie sie den Inhalt der Apotheke in mitgebrachte Säcke schütteten. Dann wechselte das automatische Bild. Als die Apotheke wieder erschien, war sie leer. Die Piraten müssen in der Zwischenzeit das Schiff verlassen haben.“ Der Kapitän war zurückgesunken und hatte die Augen geschlossen. Sein eingefallenes Gesicht wirkte noch bleicher und hagerer als sonst. Er schien zu schlafen. Doch als die Freunde 61
sich leise hinausschleichen wollten, schlug er plötzlich die Augen weit auf. „Hütet euch vor dem Piratenschiff. Flieht, wenn ihr ihm begegnet. Laßt euch auf keinen Kampf mit ihm ein.“ „Dank für die Warnung, Käpten“, erwiderte John Palmer. „Ich glaube allerdings nicht, daß Ihr Raumschiff ihm ein zweites Mal begegnen wird.“ Tongas Stimme war nur noch ein leises Flüstern, als er jetzt fortfuhr: „Ich habe – die Bahn des Gespensterschiffes – berechnet – aus vielen einzelnen Beobachtungen. Ich kenne – den Hafen – des Schiffes …“ „Sagen Sie ihn uns, Käpten.“ Die Stimme wurde jetzt unverständlich und tonlos. Tongas Rechte deutete mit müder Gebärde auf den Behälter neben dem Pilotensitz, der die Raumfahrpläne enthielt. Als John das obenauf liegende Blatt hervorzog, nickte Tonga zufrieden. Dann schloß er die Augen … * „Eine aufregende Geschichte“, meinte Frank Wilson, als die drei Freunde ein wenig später in Johns Kabine zusammensaßen. Sie hatten ihren Aufenthalt vom Führerstand hierher verlegt, um den schlafenden Tonga nicht zu stören. Zwar hätte man ebensogut den Kapitän in einem anderen Raum unterbringen können, aber es war den Freunden nicht entgangen, daß es Tonga Genugtuung bereitete, sich auf der „Kommandobrücke“ seines Schiffes zu befinden. „Eine gespenstische Angelegenheit – aber eben auch nicht mehr, als das Produkt der Angstträume und Fieberphantasien eines Sterbenden. Mag der Teufel wissen, was dieser Marsflotte in Wirklichkeit zugestoßen ist. An den geheimnisvollen Piraten glaube ich nicht.“ 62
Martio war anderer Ansicht. „Aber warum denn nicht? Tongas Bericht deckt sich in vielen Punkten mit unseren eigenen Beobachtungen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß außer diesen zwölf Schiffen des Flüchtlingstransports noch ein anderer Raumer vom Mars entkommen konnte. Sein Kommandant wird ein Schurke und Abenteurer gewesen sein. Als ihm die Vorräte knapp wurden, hat er sich kurzerhand an die gutversorgte Flotte des Marschalls Ludo gehalten.“ „Glaube ich nicht. Eher hätte er Ludo gebeten, ihm mit Proviant auszuhelfen. Es bestand doch für ihn kein Grund, wie ein Rachegott über die eigenen Landsleute herzufallen.“ John Palmer beendete die Diskussion, indem er den interplanetarischen Fahrplan erregt auf den Tisch warf. Die Karte stellte den Sektor C des Planetoidenringes dar – jenes Gebiet, in dem man sich gegenwärtig befand. Auf dem Hintergrund der Bahnellipsen einer Anzahl von Planeten fanden sich kurze, mit Bleistift eingetragene Kurvenstücke, die mit flüchtigen Notizen in Marsschrift versehen waren. „Seht euch das an, Jungens. Ist es nicht toll?“ Frank warf dem Freund einen mitleidigen Blick zu. „Jetzt fängst du wohl auch schon an zu phantasieren, John? Wüßte nicht, was an dieser Kritzelei so Bemerkenswertes sein könnte.“ John reichte ihm einen Bleistift. „Verlängere einmal die Bahnspuren, mein Lieber.“ Frank Wilson folgte der Aufforderung. Plötzlich stieß er einen erstaunten Ruf aus. „Thunderstorm – sie treffen sich alle im gleichen Punkt. Und dieser Punkt …“ „… liegt genau in der Ceres-Bahn“, vollendete Martio. „Ceres – hm.“ Frank kratzte sich den Kopf. „Ceres ist doch auch eines der Ziele unserer Expedition gewesen. Nun behauptet nur noch, der ‚Hidalgo’ sei das geheimnisvolle Gespensterschiff.“ „Der ‚Hidalgo’ ist natürlich über jeden Verdacht erhaben. 63
Wie aus der Erzählung des Kapitäns und seiner Notizen hervorgeht, spielten sich die Begegnungen mit dem Piraten schon zu einer Zeit ab, als wir noch gar nicht in Sichtweite waren. Offenbar spielt tatsächlich noch ein anderer mit.“ „Dann wollen wir nur hoffen“, sagte Frank mit Nachdruck, „daß der ‚Hidalgo’ ihm nicht ins Garn gegangen ist. Sein beharrliches Schweigen ist ein böses Zeichen.“ „Male nicht den Teufel an die Wand, Frank. Eine solche Begegnung könnte für unser unbewaffnetes Expeditionsschiff die verheerendsten Folgen haben.“ „Kapitän Tonga will uns sehen“, sagte Martio und wies auf die flackernde Signallampe auf dem Schaltbrett neben der Tür. Eilig kehrten die Freunde in den Führerraum zurück. Sie erkannten sofort, daß Tonga im Sterben lag. Sein Atem ging stoßweise, die Lippen formten unverständliche Wortfetzen. Wie mit äußerster Kraftanstrengung streckte der Kapitän noch einmal die Arme aus und griff nach den Händen der Freunde. Johns Stimme klang rauh und unsicher. „Können wir noch etwas für Sie tun, Käpten?“ „Bringt mich zurück – zum Mars – in die Heimat. Setzt mich nicht aus – im Weltraum – mit seiner Leere und – seinem Grauen.“ „Wir versprechen es Ihnen, Käpten.“ „Habt Dank …“ Kapitän Tongas Kopf sank auf die Seite. Der Kommandant des Marsschiffes 444 war tot. Ergriffen standen die Freunde an seinem Lager. John Palmer faßte sich zuerst. „Wir wollen ihn in einer der Kabinen unterbringen und dann beratschlagen, was weiter zu tun ist. Kommt, faßt mit an, Jungens.“ „Nur gut, daß unser Freund Hieronymus nicht an Bord ist“, sagte Frank. „Der abergläubische Bursche hätte sich wahrscheinlich furchtbar über den Toten aufgeregt und sich gewei64
gert, weiter mitzufahren, solange die Leiche des Kapitäns nicht von Bord wäre …“ Langsam gingen sie durch den Hauptgang nach dem Führerstand zurück. Plötzlich schrillte ein Klingelsignal durch die Stille. Frank Wilson stürzte davon. „Meteoritenalarm. Schnell – die Schutzanzüge!“ „Diesmal nicht“, rief John und hielt ihn zurück. „Ich hatte die Klingel mit der Funkanlage gekoppelt. Da muß jemand an der Strippe sein.“ Aufgeregt drängten die Freunde in die Funkstation. Mit ein paar Handgriffen setzte John den Empfänger in Betrieb und stülpte sich die Hörer auf den Kopf. Seine Rechte notierte die Zeichen: SOS – Ceres – SOS … Und dann Stille. Betroffen schauten sich die Freunde an. „Ist das alles?“ fragte Frank. „Auf welcher Welle kam die Meldung eigentlich?“ „Auf unserer internationalen Weltraum-Welle. Seid mal still – ich will versuchen, mit dem geheimnisvollen Sender Verbindung zu bekommen.“ Doch soviel sich John auch abmühte, es gelang ihm nicht, weitere Zeichen aufzufangen. „SOS Ceres“, meinte Frank kopfschüttelnd. „Was sollen wir nun damit anfangen? Wer kann solchen Unsinn wohl verzapft haben?“ „Natürlich irgend jemand, der sich auf dem Planetoiden gleichen Namens in Not befindet“, erwiderte John geduldig. „Na, und wer könnte das wohl sein, du Schlaumeier?“ „Thunderstorm – du denkst doch nicht gar an unsere Leute vom ‚Hidalgo’?“ „An wen denn sonst? Sie sind die einzigen, die in Frage kommen.“ Frank nickte heftig. „Recht hast du, John. Aber warum mag die Meldung so plötzlich abgerissen sein?“ 65
„Wahrscheinlich sind sie gestört worden. Doch das werden wir bald genauer wissen. Klar zum Start, Jungens! Wir nehmen Kurs auf Ceres.“ * „Donnerwetter, John, was haben wir für ein Tempo drauf!“ Keuchend lag Frank in den Polstern des Spezialsitzes und beobachtete die Fernanzeigegeräte des Triebwerkes. Er kämpfte – genau wie seine Kameraden – mühsam gegen den übermäßigen Andruck, aber er fühlte sich zufrieden. Endlich war die Zeit des Stilliegens vorbei. Es ging wieder vorwärts – einem festen Ziel und neuen Abenteuern entgegen. Auch John freute, sich. „Ich hätte nicht gedacht, daß wir aus diesem verwahrlosten Kahn noch solche Leistungen herausholen würden. Wenn Kommodore Schillinger wirklich unsere Hilfe braucht, wird er mit uns zufrieden sein. Wenn das keine prompte Bedienung ist …“ „Objekt backbord voraus“, meldete Martio vom Radargerät her. „Es scheint sich um einen ansehnlichen Körper zu handeln, der mit großer Geschwindigkeit näher kommt.“ John langte nach der Raumflugkarte und verglich die Position des Schiffes. Rasch blätterte er ein paar Seiten im Astronautischen Jahrbuch nach, warf eine Zahlenreihe auf den griffbereiten Block, rechnete und verglich das Ergebnis abermals mit der Karte. Sein Gesicht wurde ernst. „Es ist der Planetoid Nr. 7225. Daß wir aber auch ausgerechnet in dem Augenblick seine Bahn kreuzen müssen, in dem er hier in voller Lebensgröße auftaucht …“ „Distanz 9000 Meilen“, meldete Martio. Frank Wilson schaute den Freund unsicher an. „Willst du es wagen, John?“ „Ob ich will oder nicht – ich muß es wagen. Wenn wir jetzt ein Brems- oder Ausweichmanöver versuchen, bricht uns der 66
alte Kahn am Ende doch noch auseinander. Also los: Zähne zusammengebissen und vorwärts! Auch als Raumfahrer kann man nur einen Tod sterben.“ „Muß das gleich sein?“ murmelte Frank ein wenig kläglich. Doch dann verstummte er. Der näherrollende Himmelskörper zog seine Aufmerksamkeit voll und ganz in seinen Bann. Ein merkwürdiges Gebilde war dieser Planetoid – keine Kugel und auch kein bizarrer Felsklotz. Er hatte eher längliche Form, wie eine riesenhafte Zigarre. Und dieses spindelförmige Gebilde rotierte unaufhörlich um seine Querachse, daß die Enden wie die Schaufeln eines Paddels durch den Raum griffen. „Distanz 1000 Meilen – 800 Meilen – 400 …“ Frank hätte am liebsten die Augen zugepreßt, aber er kam von dem unheimlichen Anblick einfach nicht los. Ein widerliches Gefühl machte sich in der Magengegend breit. „Angst, Frank? Du siehst ja ganz grünlich um die Nase aus.“ „Unsinn, John, das macht die Beleuchtung“, versuchte Frank so unbeteiligt wie möglich zu sagen, aber er konnte das Vibrieren seiner Stimme nicht unterdrücken. „Distanz 50 Meilen – 30 – 10 – 5 …“ Frank sah die gewaltige, graue Masse auf sich zustürzen. Er schloß nun doch die Augen. Jetzt – jetzt mußte es passieren … „Distanz 6 Meilen – 10 – 20 Meilen.“ Martios Stimme klang genauso gefaßt und leidenschaftslos wie je zuvor. „Objekt entfernt sich steuerbord achteraus.“ „Schwein gehabt“, war das einzige, was John Palmer erwiderte. Frank atmete tief auf. Er hätte am liebsten laut gejubelt, aber es war nur ein zerquetschtes Schluchzen, das über seine Lippen kam. John hörte es und lächelte. Er wußte, wie dem Kameraden zumute war, dem unverhofft das Leben wiedergeschenkt worden war … Nach fünfmal 24 Stunden Fahrt schaltete John Palmer das 67
Triebwerk ab und drehte das Raumschiff mit dem Düsenende in die Fahrtrichtung. Sofort sprang der Motor wieder an. Von nun an verlor das Schiff ständig an Geschwindigkeit. „Halbzeit“, verkündete Frank. „Noch einmal die gleiche Zeit, und der Kommodore kann seine verlorenen Söhne gerührt in die väterlichen Arme schließen. Hoffentlich gibt es auf Ceres wenigstens was Anständiges zu trinken. Diese ewigen Mixgetränke à la Mars hängen mir schon zum Halse raus.“ „Vielleicht wäre Schillinger froh, wenn er uns mit Marsgetränken bewirten könnte“, sagte John ahnungsschwer. „Sein Notruf läßt leider alle nur erdenklichen Möglichkeiten offen.“ Die nächsten Tage vergingen für die drei Raumfahrer an Bord der 444 ohne besondere Ereignisse. Das Triebwerk hielt durch und arbeitete völlig programmgemäß. Nur die Spannung wuchs ins Unerträgliche. Immer wieder versuchten die Freunde, sich die Dinge, die sie auf Ceres vorfinden würden, in den düstersten Farben auszumalen. „Nun hört schon auf“, sagte John schließlich nervös. „In knapp dreißig Stunden wißt ihr ganz genau, was los ist.“ Frank blickte enttäuscht auf. „Ich dachte, wir hätten nur noch vierundzwanzig Stunden zu fahren?“ John Palmer war ans Schaltpult getreten und legte einige Hebel um. Abermals setzte der Heckmotor aus. Von surrenden Kreiseln getrieben, drehte sich der Schiffskörper wieder um 180 Grad um seine eigene Achse. Sekunden später setzte das Fahrzeug die Reise mit erneuter Beschleunigung fort. „Bist du verrückt geworden, John? Du willst wohl am Ziel vorbeifahren? Oder waren die Berechnungen falsch?“ „Sie hauen genau hin, mein Lieber. Aber wir wissen nicht, wie die Verhältnisse auf Ceres liegen. Nehmen wir einmal an, der Planetoid sei von Leuten bevölkert, denen wir besser aus dem Wege gingen. In diesem Fall dürfte es das Gegebene sein, unseren Anflug nicht zu früh zu verraten.“ 68
„Meinst du, daß man uns bereits erwartet?“ „Auf jeden Fall würde man unsere Funkerei bemerkt haben, als wir versuchten, mit dem ‚Hidalgo’ in Verbindung zu kommen. Die Richtung, aus der wir kommen, ist also ziemlich bekannt. Es kann demnach nicht schaden, wenn wir Ceres in gebührendem Abstand umfahren, um schließlich aus der entgegengesetzten Richtung heranzukommen.“ Die Entfernung zu dem kleinen Planeten, der zunächst nur wie ein Stein unter anderen in der Ferne leuchtete, änderte sich in den nächsten Stunden nicht. Schließlich setzte John erneut zum Bremsmanöver an. Langsam wuchs das Sternchen zu einer kleinen Scheibe an, von der allerdings nur eine schmale Sichel zu erkennen war, da sich das Raumschiff der Nachtseite des Planetoiden näherte. Die Sichel wuchs, und bald erkannten die Raumfahrer die Umrisse eines recht stattlichen Himmelskörpers. „Ein richtiger, großer Planet“, staunte Martio, „hundertmal größer als ein Mond.“ „Was für ein Blödsinn“, rief Frank ärgerlich. „Der Mond ist mindestens zehnmal größer als dieser kümmerlicher Wandelstern.“ John Palmer mußte lachen. „Ihr habt beide recht, aber ihr redet von ganz verschiedenen Dingen. Martio denkt an seine beiden winzigen Marsmonde, und du, Frank, vergleichst Ceres mit unserem Erdmond. Diesen Vergleich hält sie allerdings nicht aus. Doch schnallt euch nun wieder an, Jungens. Ich muß noch ein paar Bahnkorrekturen anbringen, und das wird eine schöne Schüttelei geben.“ „Was hast du eigentlich vor, John? Warum landest du nicht einfach?“ „Ich werde mich hüten, Frank. Wie gesagt – wir wissen nicht, was uns auf diesem schönen Stern erwartet. Ich bringe das Schiff jetzt auf die gleiche Geschwindigkeit mit Ceres und lasse es auf der Nachtseite ‚vor Anker gehen’.“ 69
Das schwierige Manöver ging unter den kundigen Händen der jungen Raumfahrer reibungslos vonstatten. Als das Raumschiff 444 in geringem Abstand im Schatten des Planetoiden schwebte, und das Triebwerk abgestellt war, schaltete John Maschinenanlage und Steuerung auf Fernbedienung um. Dann bedeutete er den Kameraden, ihre Schutzanzüge anzulegen. „Wir nehmen die transportablen Einmann-Aggregate. Sie sind handlicher als die Landungsboote und erfüllen in diesem Fall ihren Zweck ebenso gut. Kommt, wir steigen durch die Backbordschleuse aus.“ * Frank Wilson fand offensichtlich Spaß an der Sache. „Das geht ja wie geschmiert. Ist euch auch klar, Jungens, daß wir hier sämtliche Weltrekorde im Hoch- und Weitsprung geschlagen haben?“ „Du sollst den Schnabel halten, Frank. Willst du uns unbedingt …“ Jäh brach John ab und schloß geblendet die Augen. Sie waren unvermittelt aus der Nacht auf den sonnenbeschienenen Teil der Planetenoberfläche geraten. Von jetzt ab konnten sie sich noch rascher fortbewegen. Der Planetoid Ceres, mit seinen rund 800 km Durchmesser der größte in der zahlreichen Familie der Kleinwandelsterne, bot genau das Bild, das sich die Raumfahrer von ihm gemacht hatten. Öde Ebenen aus grauem Stein, von tiefen Rissen durchzogen, wechselten mit niedrigen, aber ungemein wilden und zerklüfteten Bergketten. Schwarz wölbte sich der Nachthimmel über der Trostlosigkeit. Wie ein glühendes Loch gleißte die Sonne darin, umgeben von den ruhig strahlenden Fixsternen. Soweit der Blick reichte – von Horizont zu Horizont – keine Spur von Leben. Kein bißchen Feuchtigkeit, keine Luft, kein Eis. Nur Licht und Schatten und eine Wüste aus Stein … 70
„Da ist es ja sogar auf dem Mond noch gemütlicher“, fing Frank von neuem an. „Ich verstehe nicht, was die Wissenschaftler auf solch einem traurigen Himmelskörper überhaupt suchen.“ „Das laß nur ihre Sorge sein, Frank. Und nun sei jetzt endlich still, wenn ich bitten darf.“ Wortlos setzten sie ihren Weg fort, immer der Sonne entgegen, die über dem Horizont allmählich höher stieg. Sie mochten ungefähr eine Stunde gewandert sein, als John plötzlich innehielt und angestrengt durch den Feldstecher nach vorn spähte. „Was gibt es, John? Hast du endlich eine Oase entdeckt in dieser Wüstenei?“ „Das nicht gerade, aber … – schneller, Jungens! Da vorn, zwischen den Felsen, liegt ein Wrack.“ „Ein – Wrack? Teufel noch mal!“ Frank rannte so unvermittelt los, daß er den Halt verlor und sich mehrmals überschlug. Als die drei Freunde an der bezeichneten Stelle ankamen, schlug ihnen allen das Herz bis in die Schläfen. John hatte richtig gesehen. Was vor ihnen lag, war, das Wrack eines Raumschiffs. Das riesige Fahrzeug war furchtbar zugerichtet, das ganze Achterteil ausgebrannt. Trümmerstücke aller Art lagen in weitem Umkreis verstreut. „Das Schiff muß beim Versuch, zu landen, gegen die Felsen geraten und dann explodiert sein“, meinte Frank kopfschüttelnd. Martio war anderer Ansicht. „Das glaube ich nicht. Seht euch doch die Außenwände am Bug an. Sehen sie nicht aus, als seien sie von Geschossen durchlöchert worden?“ „Das können auch Meteorsteine gewesen sein. Thunderstorm – da drüben – zweihundert Meter weiter, liegt ja noch ein Wrack.“ Atemlos rannten die Freunde auf den unförmigen Schiffsrumpf zu, der halb verdeckt hinter den Felsen lag. Auch er war 71
furchtbar zugerichtet, offenbar jedoch nicht durch Feuer zerstört worden. Martio war sofort im Bilde. „Das ist der Raumschiffkörper, in dem mein Detachement von Mars-Sicherheitstruppen befördert worden ist.“ „Dann kann das andere nur der ‚Hidalgo’ gewesen sein“, verkündete Frank Wilson düster. „Ich hätte unser prächtiges Schiff allerdings nicht wiedererkannt.“ „An die Arbeit!“ drängte John. „Vielleicht entdecken wir irgendwelche Hinweise.“ Sie durchstöberten den „Anhänger“ des „Hidalgo“ von oben bis unten, suchten dann auch noch einmal die Umgebung der Unfallstelle ab, ohne jedoch das geringste zu finden, das ihnen einen Fingerzeig auf den Ablauf der Katastrophe gegeben hätte. Schließlich gaben sie es auf. „Halten wir lieber Ausschau nach der Besatzung“, schlug John Palmer vor. „Zumindest einige werden wohl mit dem Leben davongekommen sein. Sie können nicht weit von hier sein.“ „In welcher Richtung sollen wir suchen?“ fragte Frank. „Sollen wir uns trennen und über Funk verständigen?“ „Die Funkerei wollen wir lieber lassen – ganz abgesehen davon, daß unsere Geräte nicht weit genug reichen. Schreitet einen Kreis um die Unfallstelle ab und achtet darauf, ob ihr irgendwelche Spuren findet.“ Johns Rat sollte sich bald als richtig erweisen. Es dauerte gar nicht lange, bis Martio die Freunde nach einer Stelle zwischen den Felsen rief, die links von der bisherigen Marschrichtung lag. Ein schmaler Durchbruch war hier – zweifellos von Menschenhand – in die Felsen gesprengt worden. John warf noch einen letzten Blick auf das Trümmerfeld zurück. Dann setzte er sich wieder an die Spitze der kleinen Schar, die rasch, aber doch vorsichtig, der deutlichen Spur folgte. 72
* Es dauerte immerhin Stunden, bis die drei Freunde ans Ziel ihrer Wanderung gelangen sollten. Und dann geschah es auf eine Art, wie sie es sich bestimmt nicht hatten träumen lassen. Frank Wilson, der in der Mitte ging, fühlte sich plötzlich in die Höhe gehoben und landete nach einem unfreiwilligen Katapultstart in zwanzig Schritt Entfernung auf seiner Sitzfläche. Entrüstet schaute er nach der Stelle zurück, an der er eben noch nichtsahnend gestanden hatte. Auch die beiden anderen betrachteten überrascht das Phänomen. Der Boden hatte sich unversehens aufgetan. Ein Gas kam unter hohem Druck aus der Öffnung herausgeschossen und riß Staub, Steine und alle möglichen Abfälle mit in die Höhe. „Ein vulkanischer Gasausbruch“, rief Martio, der als erster die Sprache wiederfand. Ärgerlich grunzend trabte Frank heran. „Ein schöner Vulkan, der uns mit leeren Flaschen und Konservendosen beschmeißt! Hat man sowas wohl schon erlebt?“ Ebenso unvermittelt, wie er eingesetzt hatte, endete der Gasausbruch auch wieder. Und nun erkannten die Freunde den Mechanismus des seltsamen Vulkans. Ein schwerer Lukendeckel klappte, von unsichtbarer Hand betätigt, zu. Sofort wurde er von nachstürzendem Staub und Gestein bedeckt. „Wir haben sie gefunden“, triumphierte John. „Dort in der Tiefe stecken unsere Leute. Das, was wir für einen Gasausbruch gehalten haben, war nichts anderes als eine Art Entlüftung und Müllbeseitigung.“ Frank schaute sich mißtrauisch um. „Das scheint wahrhaftig ein hochvornehmes Appartement mit allem technischen Komfort zu sein. Nur eins fehlt offenbar – die Tür.“ 73
„Vielleicht dient diese Luke gleichzeitig als Eingang. Mal sehen, was sich machen läßt.“ Die Freunde räumten die Steine zur Seite und stemmten den Luckendeckel hoch. Er hatte wohl einmal bessere Tage – als Fensterverschluß in einem Raumschiff – gesehen, erfüllte seinen Zweck jedoch auch hier befriedigend. Wieder entwich eine Gasmasse nach draußen. Unter dem Loch wurde ein mäßig großer, kubischer Raum sichtbar, der vollkommen leer war. Auf seinem Boden fand sich ein zweiter, gleichartiger Deckel. „Das ist die Luftschleuse“, erklärte Frank sachverständig. „Hinein, Jungens!“ Nacheinander zwängten sie sich durch die enge Luke und schlossen sie dann von innen. Es bereitete keine Schwierigkeit, auch den anderen Deckel zu heben. Schnell füllte sich der Raum mit Luft. John wagte es, den Schutzhelm abzunehmen. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. „Pfui Teufel, ist das ein Mief!“ Frank Wilson räusperte sich und hustete anhaltend, hielt aber plötzlich erschrocken inne. Eine geisterhaft hohl klingende Stimme meldete sich aus der Unterwelt: „Hallo! Ist dort jemand?“ John hatte die Stimme – trotz ihres entstellten Klanges – sofort erkannt. „Der Kommodore – er lebt! Ist das nicht prächtig, Jungens?“ „Seid ihr es wirklich?“ grollte die Stimme aus der Unterwelt. „Wartet, ich komme.“ Deutlich vernahmen die drei in ihrer engen Kammer jetzt die Geräusche vieler durcheinander rufender Stimmen. Dann ein Poltern von Steinen – und plötzlich Schillingers Stimme, diesmal ganz in der Nähe: „Willkommen, Jungens, willkommen auf Ceres! Wie habt ihr das nur fertiggebracht? Wir glaubten euch längst verloren.“ „Das gleiche dachten wir von Ihnen, Kommodore. Haben Sie 74
denn unsere Funksprüche nicht bekommen? Wir warteten vergeblich auf Antwort.“ „Das glaube ich euch gern. Ein großer Meteorit schlug unsere ganze Anlage in Trümmer, bevor wir noch aus dem verdammten Meteorstrom heraus waren. Sie war so restlos im Eimer, daß wir sie nicht wieder instandsetzen konnten.“ „Sagen Sie, Kommodore, wo ist eigentlich der richtige Eingang zu Ihrem Unterwelt-Hotel?“ „Der liegt auf der anderen Seite, hinter dem Hügelzug. Laßt euch da drüben aber lieber nicht blicken. Der Eingang ist nämlich stark bewacht. Wir sind als Gefangene auf Ceres. Übrigens – hat man euren Anflug auch nicht beobachtet?“ „Ich hoffe es nicht, Komodore. Wir haben so vorsichtig wie möglich manövriert. Doch was können wir jetzt für Sie tun? Wir fingen Ihren Notruf auf …“ „ Den hat Dr. Smith abgeschickt. Ihm gelang es als einzigem, herauszukommen, weil man seine ärztliche Hilfe brauchte. Er nutzte die Gelegenheit aus, sich in die Funkstation einzuschleichen. Leider wurde er geschnappt, bevor er sich richtig verständlich machen konnte.“ „Das macht nichts, Kommodore. Wir haben seinen Ruf richtig verstanden und daraufhin unverzüglich Kurs auf Ceres genommen. Nun sind wir hier, um Ihnen zu helfen. Sagen Sie uns doch um Himmels willen, wer diese Schufte sind, die Sie gefangengenommen haben. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?“ „Das ist eine lange Geschichte, Palmer, die ich Ihnen später einmal in Ruhe erzählen werde, sofern es das Schicksal will. Jetzt nur rasch das Wichtigste: Wir erreichten unser Ziel plangemäß – zwar etwas ramponiert durch Meteoreinschläge, aber sonst ganz munter und ohne Verluste, wenn man von euch dreien absieht. Unmittelbar nach der Landung wurden wir von fremden Raumfahrern angegriffen, die unsere Ankunft wohl schon 75
erwartet hatten. Wir glaubten zuerst, wir hätten es mit der Besatzung eines versprengten Marsschiffes von Anno dazumal zu tun. und versuchten, mit den Kerlen ins Gespräch zu kommen. Die Schurken schossen uns jedoch elend zusammen. Als die Behälter des ‚Hidalgo’ hochgingen, blieb uns nichts anderes übrig, als zu kapitulieren.“ „Hatten Sie Verluste, Kommodore? Wir fanden keine Toten an der Unfallstelle …“ „Leider hatten wir Verluste. Fünf unserer eigenen Leute und gut die Hälfte des Mars-Kommandos ist tot. Die Kerle warfen die Toten kurzerhand in eine Bodenspalte und trieben uns Überlebende in diese Höhle, in der wir seither ohne Licht und in scheußlicher Stickluft vegetieren müssen.“ „Was für Kerle waren das überhaupt, Kommodore?“ „Piraten! Ganz erbärmliches Gesindel. Der Abschaum von Erde und Mars. Übrigens kam mir ihr Kapitän irgendwie bekannt vor, doch habe ich ihn nicht deutlich genug betrachten können.“ „Haben Sie eine Ahnung, Kommodore, wo das Lager der Banditen zu suchen ist?“ „Ihr müßt den Hügelzug überqueren und euch dann links halten. Unser Doktor konnte die Gegend leider auch nicht genauer beschreiben, weil man ihm die Augen verbunden hatte. Seid aber vorsichtig, Jungens.“ „Keine Sorge, Kommodore“, lachte John, „wir gehen schon nicht zu nahe ran. Können wir sonst etwas für Sie tun?“ „Holt uns hier heraus – sobald wie möglich …“ „Das soll geschehen. Lassen Sie sich bis dahin die Zeit nicht lang werden. Grüßen Sie die Kameraden und nehmen Sie einstweilen das hier zu ihrem persönlichen Schutz …“ John reichte seine Strahlenpistole durch den engen Spalt, der unterhalb der Luke im Gestein sichtbar wurde, hinab und schloß dann sorgfältig den Deckel. 76
„Das hättest du nicht tun sollen“, verwies ihn Frank. „Jetzt bist du völlig waffenlos.“ „Ich fürchte, Frank, unsere Waffen werden uns ohnehin nichts nützen. Oder glaubst du im Ernst, du könntest die Übermacht der Piraten in offener Schlacht besiegen? Wir müssen nur hoffen, daß uns irgendein glücklicher Zufall zu Hilfe kommt …“ * Zunächst erschien es allerdings, als würde der erhoffte glückliche Zufall auf sich warten lassen … Die Freunde hatten den Weg eingeschlagen, den Schillinger ihnen beschrieben hatte. Obwohl sie nirgends auf Piraten stießen, wurde John doch das Gefühl nicht los, von vielen, unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Auf Schritt und Tritt fanden sie Spuren, die darauf hindeuteten, daß die Gegend oft von Menschen begangen wurde. „Thunderstorm!“ Trotz aller Warnungen konnte Frank Wilson einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken, als sie durch ein Felsentor in eine nahezu kreisförmige Ebene hinaustraten und sich unvermittelt einem gigantischen Raumschiff gegenübersahen, das scheinbar verlassen in der Mitte des Platzes vertäut lag. „Das Gespensterschiff“, sagte John. „In voller Lebensgröße …“ „Man sollte es unverzüglich vernichten“, rief der sonst so ruhige Martio erregt. „Kommt mit an Bord – wir werden die Treibstoffe in Brand setzen und …“ „Das werdet ihr hübsch bleiben lassen“, ließ sich eine spöttische Stimme in den Kopfhörern vernehmen. „Und nun nehmt die Hände hoch und rührt euch nicht, wenn euch euer Leben lieb ist.“ 77
John spürte den Pistolenlauf, der sich durch den Stoff seiner Kombination drückte. Er hob die Hände. Auch Frank und Martio sahen ein, daß jeder Widerstand im Augenblick Selbstmord wäre. Sekunden später waren sie entwaffnet. „Wir Idioten“, knirschte Frank wütend. „Denen sind wir ja schön in die Falle gegangen. Wir Anfänger …“ „Halt’s Maul!“ tönte es in den Kopfhörern. „Kommt jetzt mit und macht keine Dummheiten. Beim geringsten Fluchtversuch schießen wir.“ Die Piraten – es waren im ganzen vier – unterschieden sich in ihren Raumschutzanzügen auf den ersten Blick kaum von gewöhnlichen Raumfahrern. Sie stießen ihre Gefangenen vorwärts und trieben sie nach dem gegenüberliegenden Rand des Platzes hinüber. Durch eine primitive Luftschleuse, die in eine Höhle eingebaut war, ging es hinab in die Unterwelt. Der Anführer der Piraten bedeutete den Fremden, die Schutzhelme abzunehmen. Eine leidlich gute, wenn auch äußerst dünne Luft gab es hier unten. Der Weg führte durch einen breiten, vielfach gewundenen Gang, der von trüben Lampen dürftig erhellt wurde. Seitlich zweigten in gewissen Abständen Nebenhöhlen ab, aus denen Sprechen und vielfache Geräusche klangen. Schließlich blieb der Anführer vor einer Tür stehen, klopfte kurz an und schob seine Gefangenen in den Raum. John Palmer rieb sich die Augen. So ähnlich hatte er sich als Junge die Schatzkammern vorgestellt, die von den Freibeutern der Meere auf einsamen Inseln angelegt worden waren. Auf primitiven Regalen, die bis zur roh behauenen Decke empor reichten, türmten sich erlesene Kostbarkeiten aller Art – Schmuckstücke, deren Ausführung die Goldschmiedekunst des Mars verrieten, Kästen voller Edelsteine, Marsgeld in großen Scheinen, ganze Pakete voll Rauschgift, aus seltenen Pflanzen des Mars gewonnen, von denen jedes Gramm ein Vermögen 78
wert war. Waffen und Ausrüstungsgegenstände aller Art hingen an den wenigen freien Stellen der Wände. Von der Decke herab hing eine große Kugellampe, die ein kaltes, opalisierendes Licht aussandte. „Hier haben wir noch drei Kerle geschnappt. Käpten“, meldete der Anführer des kleinen Trupps, der John und die Freunde hergebracht hatte. „Ich glaube, sie hatten’s auf unser Schiff abgesehen.“ „Es ist gut, Jim. Geht zu Arturo und laßt euch eine Extraportion Rum geben.“ Beim Klang der kalten Stimme blickten John und Frank überrascht auf. Erst jetzt bemerkten sie die beiden Männer, die am Klapptisch unter der Lampe saßen und irgendein Glücksspiel spielten, bei dem es um märchenhafte Einsätze zu gehen schien. Der mit „Käpten“ angeredete Spieler trug die goldbetreßte Uniform eines Kapitäns der einstigen Marsflotte, die allerdings abgerissen und schmutzig wirkte. Sein zerknittertes Gesicht mit dem lederartigen Teint hätte gut einem Martianer gehören können, aber es war nicht der Fall. John und Frank hatten den Mann sofort erkannt. „Mister Kelly – Sie hier?“ Der Kapitän weidete sich an der Überraschung seiner Gefangenen. „Nicht wahr, da staunt ihr? Wahrscheinlich hattet ihr mich längst abgeschrieben – gestorben und vermodert in der grünen Hölle der Venus. Aber den Gefallen habe ich euch nicht getan. Harry Kelly ist verteufelt zähe. Er denkt noch gar nicht daran, abzukratzen, und wird euch allesamt noch überleben. Hahahahaha!“ „Wir hatten Sie damals auf Venus retten wollen, als wir Ihre Notrufe auffingen, aber es kam leider einiges dazwischen * ).“ „Ich weiß, ich weiß. Wirklich rührend von euch. Ich werde es euch niemals vergessen – obwohl ihr mir nachher beim *
Siehe UTOPIA-Kleinband Nr. 94 – „Unternehmen Abendstern“
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Kampf um die Venusstadt einen tollen Strich durch die Rechnung gemacht habt.“ „Und wie sind Sie nun hierher gekommen, Mister Kelly?“ „Das möchte ich zunächst einmal euch fragen, meine Lieben.“ Fast hätte John sich verplappert, doch im letzten Augenblick fiel ihm noch die richtige Antwort ein. „Wir – wir waren natürlich mit an Bord des ‚Hidalgo’, als das Schiff auf Ceres landete. Es gelang uns aber, beim Überfall auf unser Schiff zu entkommen und uns in den Felsen zu verbergen. Als dann die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen, mußten wir unser Versteck verlassen und …“ „… und dann wolltet ihr bei uns ein wenig nachtanken, wie? Na ja, das habt, ihr nun nicht mehr nötig. Ihr könnt jetzt hierbleiben, natürlich als meine Gäste.“ John Palmer war froh, das heikle Thema ihrer Anwesenheit auf Ceres so schnell wechseln zu können. „Und wie haben Sie hierher gefunden, Mister Kelly?“ „Ja, das war eine lange Irrfahrt. Um es kurz zu machen: Es gelang uns – das heißt: meinen Offizieren Bill Redman und Arturo Martini und mir – als blinde Passagiere mit einem Transportschiff von Venus zu entkommen. Bei unserem Eintreffen auf Station ‚Terra VII’ wurde gerade die Raumflotte zum Kampf gegen Mars startklar gemacht. Generalmajor Shakleton suchte noch Freiwillige – es war für uns das gefundene Fressen. Unerkannt konnten wir an Bord der ‚Antarktis’ einsickern und die Reise mitmachen.“ „Die ‚Antarktis’?“ wunderte sich Frank. „Wurde das Schiff nicht beim Anflug auf Mars abgeschossen?“ „Wir wurden arg zusammengestaucht und hatten schwere Verluste. Der Kommandant und sämtliche Offiziere fielen, dazu ein Teil der Mannschaft. Steuerlos trieb das Schiff durch den Raum. Da gab ich mich zu erkennen und übernahm das Kom80
mando. Die Überlebenden waren dankbar, daß sich überhaupt jemand fand, der die Sache in die Hand nahm. In zäher, aufreibender Arbeit gelang es uns schließlich, das Schiff wieder einigermaßen zusammenzuflicken. Natürlich hätten wir nun Mars anfliegen können, um uns beim Befehlshaber der irdischen Raumflotte zurückzumelden. Ich hatte aber wenig Lust, mich wegen des damaligen Venus-Abenteuers vor Gericht verantworten zu müssen. Und außerdem verfügte ich jetzt über ein eigenes Raumschiff, mit einer Besatzung, die für mich durchs Feuer ging. Wir hielten Kriegsrat und beschlossen, auf Kaperfahrt zu gehen. Die nähere Umgebung des Mars war damals ein recht ungemütliches Fahrwasser. Kontrollschiffe der Erde hätten uns mehr als einmal um ein Haar zur Strecke gebracht. So verlegten wir unser Tätigkeitsfeld in den Bereich der Planetoiden. Ceres wurde unser Hauptquartier. Auf einigen anderen, kleineren Planetoiden legten wir weitere Depots an. Dadurch wuchs unser Aktionsradius ins Unwahrscheinliche.“ „Und hatten Sie Erfolg bei Ihren Kaperfahrten?“ Harry Kelly rieb sich vergnügt die Hände. Er deutete auf die Reichtümer, die in den Regalen aufgestapelt lagen. „Man kann zufrieden sein. Die Flüchtlingstransporte vom Mars gingen uns wie fette, unbewegliche Fische ins Netz.“ „Und was wurde aus den Besatzungen, aus den Passagieren der Schiffe?“ „Eine ganze Anzahl von Martianern war vernünftig und ließ mit sich reden. Die Leute traten bei uns ein und sind nicht schlecht dabei gefahren. Die übrigen …“ Kelly machte eine vielsagende Gebärde und schwieg. „Wo sind eigentlich meine Kameraden vom ‚Hidalgo’ geblieben?“ erkundigte sich John scheinbar ahnungslos. „Was für Pläne verfolgen Sie mit ihnen?“ Kelly zuckte die Achseln. „Darüber brauchen wir uns jetzt 81
noch keine Gedanken zu machen. Einstweilen sind sie gut aufgehoben. Doch wie steht es mit euch, meine Freunde? Ich hätte schon einen Job für euch. Wollt ihr nicht auch bei uns eintreten? Palmer kann den Posten des Ersten Offiziers bekommen, den Arturo Martini bisher innehatte. Der arme Kerl ist den Strapazen seit seiner Verwundung nicht mehr gewachsen und siecht allmählich dahin.“ „Habe ich Sie richtig verstanden, Kelly: Erster Offizier auf einem Piratenschiff? No, Sir, ich fürchte, dafür eigne ich mich nicht.“ Harry Kelly schien nicht im geringsten beleidigt. „Ganz wie Sie wollen, Palmer, aber vielleicht überlegen Sie sich’s inzwischen doch noch? Bis dahin bleiben Sie und Ihre Freunde, wie gesagt, meine Gäste.“ * „Wie lange gedenkst du, die ‚Gastfreundschaft’ des Piratenkapitäns in Anspruch zu nehmen, John?“ John Palmer blickte Frank nachdenklich an, der sich auf dem bequemen Lager in ihrer gemeinsamen, mit einer gewissen Behaglichkeit ausgestatteten Unterkunft rekelte. „So lange, bis sich die erste Möglichkeit zur Flucht ergibt, wie du dir wohl denken kannst. Dieser Kelly ist ein Gemütsmensch – uns allen Ernstes aufzufordern, in seine Räuberbande einzutreten …“ „Die Landsleute unseres Freundes Martio haben es ihm anscheinend nicht so schwer gemacht“, bemerkte Frank ein wenig anzüglich. Martio wurde rot. „Ihr dürft nicht vergessen, daß es samt und sonders Gefolgsleute des Diktators waren, die sich den Piraten angeschlossen haben. Für Leute dieses Schlages bedeutete es schließlich keinen Unterschied, ob sie unter dem Diktator oder unter einem anderen Räuberhauptmann dienten.“ 82
Er wechselte schnell das Thema: „Ihr kennt den Piraten also von früher her?“ „Kelly war unser Ausbilder auf ‚Terra XIII’“, erklärte John. „Er machte die erste Venusexpedition mit und kam uns auf dem Abendstern abhanden. Ein fähiger und unerschrockener Mann, aber charakterlich nichts wert. Er soll schon früh auf die schiefe Bahn gekommen sein.“ Das klägliche Miauen einer handgetriebenen Sirene ließ die Freunde aufhorchen. Frank eilte an die Tür. „Nanu – geben die Burschen etwa Alarm?“ Im Gang draußen wurden Rufe laut. Ein Trupp Piraten stürmte vorüber, im Laufen die Schutzanzüge schließend. Irgendwo hört man Harry Kelly Befehle brüllen. Ein Mann in abgerissener Offiziersuniform trat hastig ein. John und Frank erkannten in ihm Bill Redman wieder, den einstigen Sergeanten und Vertrauten Kellys. Redman winkte ungeduldig mit beiden Händen. „Fertigmachen, Gentlemen. Schnell, schnell!“ „Was ist denn los, zum Donnerwetter?“ „Alarm! Die Radarstation hat ein fremdes Raumschiff in unmittelbarer Nähe gemeldet. Unser Schiff startet in 15 Minuten zum Angriff.“ „Ein fremdes Raumschiff?“ Ein jäher Schreck durchfuhr John. Das konnte doch nur die 444 sein, mit der er und die Kameraden gekommen waren. Irgendwie mußte das Schiff von seinem Kurs abgewichen und in den Bereich der Radarpeiler geraten sein. Die bestürzten Gesichter der Freunde zeigten ihm, daß auch sie die gleichen Befürchtungen hatten. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. „Was wird nun aus uns, Redman?“ „Ich habe Befehl, euch zu Kommodore Schillinger und den anderen in die große Höhle zu schaffen. Dort seid ihr während unserer Abwesenheit sicherer aufgehoben“, fügte er höhnisch grinsend hinzu. 83
Wohl oder übel mußten die „Gäste“ sich fügen. Sie stiegen in ihre Weltraumschutzanzüge und ließen sich durch das Labyrinth der Gänge an die Oberwelt geleiten. Dann wurden sie denselben Weg zurückgebracht, den sie vor kurzem schon einmal in umgekehrter Richtung zurückgelegt hatten. Beim Überschreiten des Landeplatzes konnten sie beobachten, wie die Besatzung in höchster Eile an Bord des Piratenschiffes ging. Von der weit offenen Luftschleuse aus winkte Kelly herüber. „Beeilt euch!“ klang seine Stimme schrill aus den Kopfhörern. John blieb unwillkürlich stehen. Er hatte größte Lust, Hals über Kopf davonzulaufen. Das würde Verwirrung bringen und die Startvorbereitungen beträchtlich verzögern. Doch dann riß er sich zusammen und ging weiter. Es lohnte sich nicht, wegen eines kleinen Zeitgewinns sein Leben und das der Gefährten aufs Spiel zu setzen. Rasch ging es weiter. Als sich die Innentür der Luftschleuse im Eingang der „großen Höhle“ vor den Freunden auftat, und sie die Schutzhelme abnehmen konnten, sahen sie sich von den Kameraden des ‚Hidalgo’ umringt. Jeder drängte sich heran, um ihnen die Hände zu schütteln. „Wir hatten gehofft“, sagte Kommodore Schillinger endlich, „ihr würdet einen Weg finden, um uns zu befreien. Stattdessen steckt ihr jetzt selbst mit drin.“ „Gibt es in diesem Stall nicht so etwas wie ein Fenster, Kommodore?“ Kopfschüttelnd führte Schillinger die Freunde an eine schmale Scharte, die mit einem starken Glas verschlossen war. „Hier können wir nicht raus, Jungens. Außerdem führt das Fenster direkt auf den Landeplatz.“ „Eben deshalb, Komodore. Schauen Sie nur mal hinaus.“ Draußen war der mächtige Rumpf des Piratenschiffes zu sehen. Gerade in diesem Moment schossen Flammenstrahlen aus 84
den Düsen der Schubraketen. Ein Zittern lief durch den Koloß. Langsam setzte er sich in Bewegung, löste sich vom Boden des Planetoiden und schwang sich in den schwarzen Himmel hinein. John Palmer drehte sich um. „Jetzt oder nie, Kommodore!. Geben Sie mir die Strahlenwaffe, die ich Ihnen anvertraute. Ich habe einen Plan …“ * Die bläuliche Flamme der Strahlenpistole fraß sich gierig in die graue Felswand der großen Höhle hinein. John Palmer hatte sich von Schillinger an jene Stelle im oberen Teil ihres Gefängnisses führen lassen, über welcher der enge, mit dem Lukendeckel verschlossene Spalt für die Entlüftung der Höhle lag. In schwindelnder Höhe standen sie zu zweit auf einem schmalen Felsvorsprung. Der Gedanke an einen Absturz schreckte sie allerdings nicht; denn angesichts der geringen Schwerkraft der Ceres wäre ein solcher Sturz nur ein Schweben gewesen. „Wir haben Glück gehabt“, sagte John. „Der Fels schmilzt unter den Atomstrahlen dahin wie Butter in der Sonne. Es hätte auch anders sein können. Zuweilen zeigen sich die Strahlenwaffen gegenüber solchem Gestein völlig wirkungslos.“ „Seid ihr nicht bald fertig?“ mahnte Frank Wilson ungeduldig aus der Tiefe herauf. „Laßt euch nicht erwischen, bevor der Ausstieg groß genug ist.“ Kommodore Schillinger war zuversichtlich. „Keine Sorge, Wilson. Unsere Wächter haben uns erst vor einer Stunde abgefüttert. Wir haben jetzt mindestens fünf Stunden Ruhe.“ „Achtung – der Fels gibt nach …“ John schaltete die Strahlenwaffe ab und richtete den Lichtkegel seines Handscheinwerfers auf den mächtigen Felsbrocken, der sich aus dem umgebenden Gestein gelöst hatte und unwahrscheinlich langsam auf 85
den Grund der Höhle hinabschwebte. Jetzt trennte nur noch der äußere Deckel die Eingeschlossenen von der Außenwelt, und dieser ließ sich, wie John wußte, von innen leicht öffnen. „Fertigmachen!“ kommandierte Schillinger. „Macht eure Schutzanzüge dicht und kommt herauf.“ Als der letzte der Gefangenen den Taucherhelm geschlossen hatte, stieß John den Deckel auf. Der Strom der entweichenden Luft riß ihn mit und schleuderte ihn himmelwärts, bis er in weiter Entfernung den Boden wieder erreichte. Dem Kommodore und denen, die ihm am nächsten gestanden hatten, erging es nicht besser. In den Kopfhörern der Funkgeräte klangen die wütenden Schreie der Männer, die so unversehens in die Höhe geschleudert wurden. Kommodore Schilling er machte dem Wirrwarr ein Ende. „Ruhe – zum Donnerwetter! Antreten und abzählen! Captain Palmer …“ „Jawohl, Kommodore!“ „Sie kennen sich hier draußen besser aus als ich. Übernehmen Sie mal das Kommando.“ John straffte sich. „Alles hört auf mein Kommando! Los, Jungens – zunächst wollen wir uns mal um die Wächter kümmern.“ Das halbe Dutzend Piraten, dem die Bewachung der Gefangenen anvertraut war, glaubte nichts anderes, als das Kelly mit dem Schiff vorzeitig zurückgekehrt wäre. Arglos erwarteten die Wächter die lange Schlange der Männer in Raumtaucheranzügen, die plötzlich zwischen den Felsen auftauchte. Ihr Anführer redete John in gebrochenem Englisch an: „Na, Käpten – diesmal keinen Erfolg gehabt?“ „O doch, old chap, ich bin soweit zufrieden. Und nun nimm mal schön die Pfoten in die Höhe. Ihr anderen auch – etwas plötzlich, wenn ich bitten darf!“ Zu spät erkannten die Wächter – ausnahmslos Martianer von 86
ziemlich verwahrlostem Aussehen – ihren Irrtum. Sie waren im Augenblick entwaffnet und wurden in die gleiche Höhle gesperrt, in der noch vor einer Stunde die Raumfahrer auf ihre Befreiung gewartet hatten. Durch Fernschaltung schloß John den Entlüftungsdeckel und ließ neue Atemluft in die Höhle einströmen, bevor er die Gefangenen sich selbst überließ. „Nimm ihnen die Schutzhelme ab, Frank, sonst befreien Sie sich auf dieselbe Art wie wir.“ Rasch kam Frank Wilson dem Befehl nach. Dann setzte sich der Zug im Gänsemarsch wieder in Bewegung. „Wohin jetzt, Palmer?“ wollte der Kommodore wissen. „Über den Start- und Landeplatz und dann hinab in die Unterwelt. Wir müssen vor allem die Funkstation in die Hand bekommen.“ Ungehindert passierten sie den runden Platz zwischen den Felsen, der jetzt völlig leer und unbewacht dalag. Auf demselben Weg, auf dem John mit Frank und Martio schon einmal die Unterwelt des Planetoiden betreten hatte, schleusten sich die Raumfahrer nacheinander ein. Nur eine Wache von zehn Mann blieb draußen zurück. Das ausgedehnte Höhlensystem unter der Ceres-Oberfläche schien ausgestorben zu sein. Doch als John die Tür zur Funkstation aufriß, taumelten zwei Piraten von ihren Sitzen hoch. „Hands up! Mach, daß du von der Taste wegkommst, Freundchen, sonst knallt’s. Kommodore, nehmen Sie sich bitte dieser beiden Galgenvögel an. Lassen Sie sich von ihnen die verschiedenen Schatzkammern zeigen, die die Burschen im Laufe der Zeit mit Beute angefüllt haben. Vielleicht ist einiges dabei, das wir zum Mars mitnehmen könnten, um es den rechtmäßigen Besitzern oder Ihren Erben wieder zugängig zu machen.“ „In Ordnung, Palmer. Und was machen Sie inzwischen?“ John hatte schon das Kommandogerät entdeckt, das in der 87
Ecke neben dem Eingang stand. „Ich hole jetzt durch Funksteuerung unser Raumschiff heran – sofern Kelly und seine Spießgesellen nicht inzwischen Kleinholz daraus gemacht haben.“ Während die Raumfahrer weiter durch die Gänge streiften und sich vor allem im Depot der Piraten mit Waffen versahen, nahm John mit Hilfe Hieronymus Brosamers das Fernsteuergerät in Betrieb. Plötzlich stieß Hieronymus einen triumphierenden Schrei aus. Freudestrahlend deutete er auf die Kontrollinstrumente. „Es klappt, John. Dein Raumschiff pariert wie ein folgsamer Hund. Es kommt …“ „Tatsächlich, Reddy. Schalte den Fernsehempfänger ein. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet, aber Kelly muß doch wohl einer anderen Beute nachgejagt sein. Möchte nur wissen, wer sich sonst noch in dieser Gegend herumtreiben könnte, nachdem die Marsschiffe vernichtet wurden und der ‚Hidalgo’ ebenfalls hinüber ist.“ Das ferngelenkte Landungsmanöver des Raumers 444 klappte über Erwarten gut. Als das Schiff dicht über dem Landeplatz schwebte und die Raketenanker sich in den Boden gebohrt hatten, schaltete John aufatmend das Gerät ab. „So, Reddy, und jetzt nichts als raus.“ Im gleichen Moment, als die beiden Freunde den Hauptgang betraten, zuckte der Blitz einer Explosion über die grauen Wände. Das Licht erlosch. Dröhnend tobte der Donner durch Höhlen und Gänge. Ein Hagel von Steinen stürzte von der Decke herab und begrub die Männer fast unter einer erstickenden Decke. „Hilfe! – Licht! – Wo ist der Ausgang?“ Dumpf klangen die Rufe der Männer in der Finsternis. John stemmte sich hoch und half Hieronymus auf die Beine. „Nehmt eure Handscheinwerfer und folgt mir nach! Laßt niemand zurück. Wir treffen uns am Landeplatz.“ 88
Ohne viele Umstände riß John Innen- und Außentür der Schleuse auf. Die Männer taumelten hinaus. Voller Sorge zählte er sie ab. Endlich konnte er sich erleichtert den letzten anschließen. Sie waren noch alle am Leben, die mit ihm in die Unterwelt des Ceres eingedrungen waren. Sogar die beiden Gefangenen waren dabei. „Was ist denn eigentlich passiert?“ erkundigte sich John bei Kommodore Schillinger. „Ich glaube, das hätte bös ausgehen können.“ „Hätte es auch, Palmer. Wir bestaunten gerade die sagenhaften Reichtümer in Kellys Unterkunft, als plötzlich ein alter Bekannter unseligen Angedenkens hinter uns im Gang erschien. Sie werden es nicht glauben: Es war Arturo Martini, Kellys einstiger Sergeant.“ „Ich weiß, daß Redman und Martini hier sind. Und weiter, Kommodore?“ „Der Kerl schleuderte blitzschnell etwas gegen uns – es muß wohl so eine von diesen teuflischen, hochbrisanten Handgranaten gewesen sein, wie man sie früher auf Mars herstellte. Doch zu unserem Glück prallte das Ding oberhalb der Türöffnung ab und rollte in den Gang. Martini ging selbst bei der Explosion zum Teufel.“ „Er hat das Ende gefunden, das er verdiente. Und wie kamen Sie heraus, Kommodore?“ „Es ging alles viel zu schnell, um es richtig erzählen zu können. Der halbe Gang stürzte ein. Vor uns, in der Mauer, tat sich ein breiter Riß auf, durch den wir in eine Reihe weiterer Höhlen und schließlich in den unbeschädigten Teil des Ganges gelangten. – Hallo, Palmer, was ist denn in unsere Leute gefahren? Sind sie verrückt geworden?“ In wilder Panik kamen die vorausgegangenen Männer zurückgerannt. Lebhaft gestikulierten sie und schrien durcheinander. Der dicke Teddy Plum verschaffte sich endlich Gehör. 89
„Nun gebt doch nicht so fürchterlich an, Leute. Macht die Sache nicht noch schlimmer, als sie ist.“ „Was, zum Teufel, ist denn passiert, Teddy?“ „Eine ganze Menge, Kommodore. Kelly ist zurückgekehrt. Sein Raumschiff ankert bereits auf dem Landeplatz. Thunderstorm – was gibt es denn da zu feixen, John?“ „Beruhige dich, Teddy. Und ihr anderen – kehrt schleunigst um und steigt an Bord. Der Raumer, der euch solch einen Schrecken eingejagt hat, ist nicht Kellys Schiff.“ „Wissen Sie das so genau, Captain?“ fragte einer der Männer mißtrauisch. „Zufälligerweise ganz genau. Und nun – marsch, an Bord!“ * Durch die gefahrvollen Bereiche der Planetoiden tobte die tolle kosmische Verfolgungsjagd. Das Raumschiff 444 war sofort gestartet, nachdem die „Hidalgo“-Mannschaft an Bord gegangen, und auch die gefangenen Piraten aus der Höhle geholt worden waren. Mit Höchstgeschwindigkeit raste der Raumgigant hinter dem Piratenschiff her, dessen Besatzung offenbar nicht ahnte, daß man ihr auf den Fersen war. Die Radargeräte waren abgeschaltet. Sie hätten ohnehin nicht viel genützt; denn bei dieser Geschwindigkeit wäre jedes Ausweichmanöver unmöglich gewesen, wenn die Peilungen ein Hindernis in der Fahrtrichtung ergeben hätten. Das Piratenschiff befand sich im Fadenkreuz der UltraOptik. Die Beobachter gaben seine Position von Viertelstunde zu Viertelstunde nach dem Führerstand durch. In der Funkstation lauschten zwei Techniker unausgesetzt nach Signalen, aber sie mühten sich vergeblich ab. Die beiden Fahrzeuge vor ihnen, der Verfolger ebenso wie der Verfolgte, schwiegen hartnäckig. „Was mag das für ein Kahn sein, hinter dem Kelly her ist“, 90
erkundigte sich Schillinger bei John. „Haben Sie irgendeine Vermutung, Palmer?“ „Es kann sich eigentlich nur um das Marsschiff Nr. 303 handeln, das – nach Kapitän Tongas Bericht – als einziges eine Chance hatte, dem Piraten bisher zu entgehen. Glauben Sie, daß wir ihm helfen können, Kommodore?“ Schillinger hob die Schultern. „Das wissen die Götter, Palmer. Sie wissen, daß wir mit geradezu unverantwortlicher Geschwindigkeit fahren. Aber der Vorsprung der anderen ist nun mal zu groß. Wir wollen das Beste hoffen und auf das Schlimmste vorbereitet sein.“ Die rasende Jagd sollte auf dramatische Art in ihr entscheidendes Stadium eintreten. Der Weltraum selbst, die gefährlichen Klippen des Planetoidenringes, leiteten die Entscheidung ein. „Kommodore – das verfolgte Schiff sendet Notrufe!“ Aufgeregt und unter dem stärken Andruck keuchend, erschien einer der beiden Funker, ein junger Martianer aus Martios Mannschaft, im Führerstand. „Das Schiff meldet einen Maschinenschaden. Es kann die Fahrt nicht fortsetzen.“ „Dann ist es verloren. Wir können ihm nicht helfen. Die Entfernung ist noch zu groß.“ John Palmers Blick überflog die Skalen der Instrumente. Er trat an den optischen Entfernungsmesser und las die Werte ab. Rasch gab er eine Reihe Zahlen in die elektronische Rechenmaschine. Seine Züge entspannten sich. „Wir schaffen es, Kommodore. Kelly muß die Fahrt gewaltig herabsetzen, wenn er nicht an seiner Beute vorbeischießen will. Inzwischen sind wir auch heran und nehmen ihn unter Feuer.“ Schillinger wiegte den Kopf. „Ein Angriff bei dieser Affenfahrt? Stellen Sie sich das nur nicht zu leicht vor, Palmer. Wenn nicht schon die erste Salve haargenau im Ziel liegt, haben wir verspielt.“ 91
John lächelte zuversichtlich. „Seien Sie unbesorgt, Kommodore. Ganz gleich, wie es kommt: Wir bringen die Piraten zur Strecke. Ich habe da in der Rumpelkammer der 444 ein paar nette Überraschungen gefunden, auf die Harry Kelly kaum gefaßt sein dürfte.“ Er hob das Mikrophon an die Lippen und drückte einen Knopf. „Hallo, Frank – warte auf mich vor dem Hellegatt und laß die Abteilung II vor der Backbordschleuse antreten. Wir müssen ein paar kleine Außenbordarbeiten ausführen.“ Wenig später konnte man die zehn Männer draußen im Gestänge der vordersten Kugelkabine herumkriechen sehen, ängstlich darauf bedacht, bei der hohen Beschleunigung des Schiffes nicht den Halt zu verlieren. Sie montierten kurze, bewegliche Rohre, aus denen die abgerundeten Köpfe gedrungener Raketen hervorschauten. Kaum hatte sich die Abteilung wieder eingeschleust, als Schillingers dringender Befehl John in den Führerstand zurückrief. „Was versprechen Sie sich von den Dingern, Palmer?“ Es klang nicht gerade liebenswürdig. „Eine ganze Menge, Kommodore. Ich erinnere mich an meine Ausbildung als Raumkadett auf White Sands. Damals gab es bei uns Versuchsgruppen, die mit Raketen dieses Typs experimentierten und unglaubliche Erfolge erzielten. Auch die Martianer verfügen über diese Waffe, wie Sie sehen …“ Kommodore Schillinger wollte gerade etwas erwidern, als ein zweimaliges Klingelzeichen ihn aufhorchen ließ. Kurz – lang – kurz … Kurz – lang – kurz … Schillinger war sofort im Bilde. „Das Signal des Postens im Beobachtungsraum. Wir sind auf Schußweite heran. Geben Sie Alarm, Palmer!“ Beim Aufheulen der Sirenen eilten die Mannschaften auf ihre Gefechtsstationen. Aus dem Lautsprecher im Führerstand kamen in rasender Folge die Meldungen der einzelnen Abteilungen. 92
Schillinger achtete nicht darauf. Er hatte ein starkes Fernglas an die Augen gepreßt und starrte aus dem Beobachtungsfenster auf die gespenstische Szene, die sich weit draußen im Raum abspielte. Antriebslos schwebte dort das schwerbeschädigte Marsschiff, aus seiner weit offenen Schleuse hing eine weiße Fahne. Wie ein Raubtier seine Beute, umkreiste das dunkelgefärbte Piratenschiff den Raumer in immer enger werdender Bahn. Jetzt löste sich der schlanke Leib einer Rettungsrakete vom Rumpf des Marsschiffes. Am Bug des Piraten blitzte es auf – einmal, zweimal … Die Rettungsrakete begann zu glühen und zerstob in furchtbarer Explosion. „Diese Schufte! Das sieht Kelly ähnlich, wehrlose Raumfahrer unbarmherzig zusammenzuschießen.“ Schillinger trat ans Mikrophon: „Achtung, Funkstation: Befehl an Kelly: ‚Ergeben Sie sich, oder wir eröffnen das Feuer’!“ Die Antwort kam fast augenblicklich: „Schert euch zum Teufel!“ „Kommodore, es ist Zeit“, drängte John Palmer. „Ich erbitte Feuererlaubnis.“ Das Piratenschiff begann plötzlich, aus allen Rohren zu schießen. Riesige Lecks klafften im Rumpf des Marsraumers. Aus den Treibstofftanks quollen mächtige Dampfwolken und nebelten den Kampfplatz ein. Auch die 444 bekam ihren Teil ab. Verschiedene Abteilungen meldeten Einschläge. Der Kommodore gab John ein Zeichen. John hob das Mikrophon. „Raketenbatterie – Feuer!“ Fünf silbrig glänzende Projektile rasten mit feurigen Schweifen aus den Rohren. Im nächsten Augenblick hatte das Raumschiff 444 die Kampfszene bereits hinter sich gelassen. John hörte nicht die Kommandos, mit denen Schillinger die rasende Fahrt des Schiffes zu vermindern trachtete, um es allmählich auf Gegenkurs gehen zu lassen. Von den furchtbaren Stößen 93
der Brems- und Beschleunigungsmanöver fast zermalmt, kämpfte er sich an eine Luke durch, die den Blick nach achtern freigab. „Vorbeigeschossen“, stöhnte er, als er die beiden Raumschiffe erkannte, das todgeweihte Marsschiff und das noch immer feuernde Fahrzeug der Piraten. Doch plötzlich schloß er geblendet die Augen … Ein greller Blitz kündete an, daß die hochbrisanten, automatisch ihr Ziel suchenden Geschoßraketen getroffen hatten. Als John die Augen wieder öffnete, sah er dort, wo eben noch das Piratenschiff geschwebt hatte, nur noch einen verwaschenen Nebelfleck, in dem zerfetzte Wrackteile wirbelten … In weit ausholender Kurve kehrte die 444 an die Stätte des kosmischen Kampfes zurück. Wegen der Menge der umherfliegenden Trümmer war es nicht möglich, allzu nahe mit dem Schiff heranzufahren. John Palmer erbot sich, den Sprung zum Wrack des Marsschiffes mit dem Einmann-Aggregat zu wagen, und Frank und Hieronymus schlossen sich ihm an. Das Marsschiff Nr. 303 war nur noch ein glühender Metallhaufen, in dem fortgesetzt Explosionen tobten. Lediglich die vordere Kugelkabine schien noch leidlich intakt zu sein. Ungeachtet der großen Gefahr, verschafften sich die Freunde mit Hilfe ihrer Schneidgeräte Eingang. Ihr mutiger Einsatz sollte nicht umsonst gewesen sein. Mit zwölf Überlebenden im Schlepp kehrten sie an Bord des eigenen Schiffes zurück. Kommodore Schillinger betrachtete die Geretteten eingehend. Schließlich wandte er sich an John: „Und – die anderen, Palmer? Die Piraten?“ John zuckte die Achseln. „Wir haben keine Überlebenden gefunden, Kommodore. Bei der Gewalt der Explosion hatte ich auch kaum damit gerechnet.“ Einer der Geretteten erhob sich mühsam und verbeugte sich höflich vor Schillinger. „Ich heiße Undo“, begann er in der 94
Marssprache, „und bin der Kommandant des Raumschiffes Nr. 303 gewesen. Im Namen meiner Kameraden danke ich Ihnen, Herr Kapitän, und Ihren tapferen Männern für alle Hilfe. Wenn auch die meisten von uns im Kampf gefallen sind, so haben Sie doch mir und diesen meinen Freunden das Leben gerettet.“ „Das ist noch gar nicht mal sicher“, meinte Schillinger und wies auf Martio, der mit überaus amtlicher Miene nähertrat. „Die hohe Obrigkeit Ihres schönen Planeten ist schon hier, um Sie als Parteigänger des Diktators zu verhaften.“ Kapitän Undo wechselte mit Martio einen langen Blick. „Wir stehen zu deiner Verfügung, Martio. Wir hoffen auf ein gerechtes Urteil. Es ist immer noch besser, als Verbannte in den Wüsten des Mars zu leben, als Jahr um Jahr erbarmungslos durch den Weltraum gehetzt zu werden.“ * So bescheiden und unauffällig die Ceres-Expedition dereinst aufgebrochen war, so triumphal gestaltete sich ihre Rückkehr. Zwar war die wissenschaftliche Ausbeute der Expedition gering geblieben, doch war es ihr gelungen, die „Klippen des Weltraums“, das Gebiet der kleinen Planeten zwischen Mars und Jupiter, von der modernsten und gefährlichsten Art der Seeräuberei zu befreien. Die Geduld der Raumfahrer wurde noch auf eine harte Probe gestellt. Sie mußten eine mehrmonatige Wartezeit auf Mars verbringen, ehe die Konstellation der Planeten für eine Rückfahrt zur Erde günstig war. Doch die starken Funkstationen des Mars hatten die Kunde von den Abenteuern der „Hidalgo“Besatzung längst bis in alle Einzelheiten zur Erde weitergeleitet. Welt-Präsident Juan Ferreira hatte es sich nicht nehmen lassen, in Begleitung des Raumfahrtdirektors Dannenberg persön95
lich zum Raketenflughafen zu fahren, als die Zubringerraketen mit Kommodore Schillingers Männer in Terratown landeten. Die Fahrt der „Hidalgo“-Leute durch die festlich geschmückten Straßen der Weltmetropole glich einem Triumphzug. Für John Palmer brachte der Tag der Heimkehr noch eine besondere, unerwartete Freude. Während des Festbanketts am Abend nahm der Präsident den jungen Captain beiseite. „Ich weiß, daß es in erster Linie Ihr Verdienst war, was dort draußen im fernen Weltraum geleistet wurde. Ohne Ihr mutiges und umsichtiges Verhalten wäre wohl niemand von den Expeditionsmitgliedern jemals zur Erde zurückgekehrt, und die Piraten des Weltraums hätten ihr blutiges Handwerk ungestraft fortsetzen können. Ihre Leistungen verdienen höchste Anerkennung, Commander Palmer.“ John riß Mund und Augen auf. „Commander …?“ „Jawohl – Sie haben mich recht verstanden. Ich befördere Sie auf Grund Ihrer besonderen Verdienste zu diesem Rang, und wenn in Kürze die erste Expedition zu den Monden des Jupiters starten wird, sollen Sie, Palmer, das Kommando bekommen.“ – Ende –
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Der Herzog-Filmverleih zeigt im Beiprogramm zu dem Naturfarbfilm von Walt Disney „Eine Welt voller Rätsel“
Der Mensch IM WELTRAUM TEIL II Das schwierigste Problem: Der Mensch Eines der schwierigsten Probleme der zukünftigen Raumschifffahrt wird aber der Mensch selbst sein. Es ist die Aufgabe eines neuen Gebietes der Wissenschaft, festzustellen, wie der Mensch geistig und körperlich auf diese unirdischen Einwirkungen reagieren wird. Man nennt dieses neue Gebiet die Raummedizin. Ein Wissenschaftler, der sich auf dem Gebiet der Astrophysik und Raummedizin einen Namen gemacht hat, Dr. Heinz Haber, wird uns helfen, diese interessanten Fragen zu illustrieren.
An einer lustigen Zeichenfigur demonstriert Walt Disney in seinem Farbfilm „Der Mensch im Weltraum“, welchen neuen Problemen Weltraumfahrer ausgesetzt sein werden, wenn sie den Bereich der Erdanziehung verlassen haben.
Dr. Haber: „Wenn der Tag kommt, an dem der erste Mensch in sein Raketenschiff einsteigt und die Erde verfaßt, muß er gut vorbereitet sein, um die Gefahren des Weltraums zu überstehen. 97
Um die gesamten Fragen der Raummedizin zu behandeln, haben wir uns eine Art von Durchschnittsmenschen entworfen. Einen Menschen, der in dieser fremden neuen Umwelt vielen Problemen gegenüberstehen wird. Wir wollen feststellen, wie es ihm auf der Reise in den Weltenraum ergehen wird. Wir machen ihn also zu unserem Versuchskaninchen und er wird dadurch sozusagen zu einer völlig neuen biologischen Spezies. Wir schulden ihm daher auch einen wissenschaftlichen Namen und so nennen wir ihn: ‚Homo sapiens extraterrestrialis“. Da wir ihn auf gut Glück ausgesucht haben, wissen wir nicht, ob er die ungeheuren Belastungen ertragen kann, denen er beim Start der Raumrakete ausgesetzt sein wird. Einen leisen Vorgeschmack dieser Belastungen bekommt er bereits in seinem Automobil. Triff er auf das Gaspedal, so bewegt sich der Wagen vorwärts, und er wird sanft gegen die Lehne seines Sitzes gepreßt. Sein Körper setzt jeder Bewegungsänderung einen Widerstand entgegen. Wenn er plötzlich anhält, strebt sein Körper ungeachtet des Bremsens nach vorn. 98
Wir alle kennen die Wirkung der Zentrifugalkraft. Im Laboratorium kann diese Kraft mit Hilfe einer Menschenzentrifuge leicht vervielfacht werden. Diese Maschinen erzeugen künstlich den gewaltigen Andruck, den der Mensch bei einem Raketenstart von der Erde aushalten muß. Sein Körpergewicht wächst, bis ihm schließlich die Sinne schwinden und er das Bewußtsein verliert. Aus derartigen Versuchen haben wir gelernt, daß der Mensch den Aufstieg einer Weltraumrakete am besten in liegender Stellung verbringt. In dieser Stellung wird die Gesamtbelastung gleichmäßig auf den ganzen Körper verteilt. Er wird dann einen Druck bis zum Neunfachen seines Körpergewichtes oder sogar mehr ertragen können, wie er in einer aufsteigenden Rakete auftreten wird. Wenn die Beschleunigung schließlich aufhört, erhebt sich für den Menschen das nächste Problem: Völlige Gewichtslosigkeit! Ohne Halt wird er frei umherfliegen, taumeln, treiben und sich hilflos drehen. Im Raume haben ein Mensch, eine Feder, eine Seifenblase oder ein Stück Eisen das gleiche Gewicht. – Oder besser gesagt: überhaupt kein Gewicht. Indessen ist Gewichtslosigkeit keineswegs eine so unirdische Erfahrung. Für kurze Zeit wird man gewichtslos bei einem Kopfsprung oder in einem Fahrstuhl. Wenn wir gar das Kabel des Fahrstuhls abschneiden, so 99
erzeugen wir dasselbe Gefühl der Gewichtslosigkeit wie im Weltenraum. Es wird eiserne Nerven erfordern, auf den Aufprall zu warten, der niemals kommt. Wir können nur hoffen, daß der Mensch im Weltraum sich allmählich an dieses Gefühl des Dauersturzes gewöhnt. Ohne Gewicht gehen die Begriffe von „oben“ und „unten“ verloren. Man wird es vermutlich schwer finden, sich zu orientieren, und diese Art von Verwirrung kann zu Schwindel führen. Es ist zu erwarten, daß manche Leute der Raumkrankheit zum Opfer fallen werden. Anfänger können das Schwindelgefühl bekämpfen, wenn sie ein Objekt im Gesichtsfeld fixieren.
Alle Gegenstände im Weltraumschiff müssen befestigt werden, sonst wirbeln sie so, wie es diese lustige Zeichnung zeigt, in der Kabine herum.
Ein Raummensch muß lernen, sich mit äußerster Vorsicht zu bewegen. Seine Muskeln sind für normale Schwerkraft eingerichtet. Im schwerlosen Raum hat daher jede Bewegung erstaunliche Folgen. Vor allem der Anfänger wird es nur schwer vermeiden können, daß er sich dauernd wie ein Kreisel dreht. Wenn er sich zusammenkauert, wird die Drehung schneller, und wenn er die Arme und Beine ausstreckt, wird sich die Drehung verlangsamen. Nach einiger Übung wird es ihm gelingen, die Kunst des Schwimmens in der Kabinenluft zu meistern.
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Strahlen bedrohen die Weltraumfahrer Und dann, nach den ersten erfolgreichen Versuchen mit der Gewichtslosigkeit, wird er darangehen, sein Leben zu normalisieren. Selbst die Luft, die er atmet, wird gewichtslos sein. Da es keine natürliche Luftzirkulation gibt, besteht die Gefahr, daß er in seiner eigenen Atemluft erstickt. In einem Raumschiff darf die Luft niemals ruhen. Die Zirkulation muß durch dauernde Ventilation aufrechterhalten werden. Da auch alle Gegenstände in einem frei fliegenden Raumschiff ohne Gewicht sind, müssen sie irgendwie befestigt werden. Um große und mächtige Gegenstände zu bewegen, muß sich der Mensch zuerst verankern. Aber man muß nicht nur Kraft aufwenden, um die Trägheit großer Massen zu überwinden – wenn sie sich erst einmal bewegen, braucht man ebensoviel Kraft, um sie wieder anzuhalten. Dank der Schutzwirkung unserer Atmosphäre sind wir auf der Erde vor den Gefahren des Weltraumes abgeschirmt. In der Leere des Alls jedoch wird selbst die Schiffswand den Raumfahrer nicht von den möglichen Gefahren der Höhenstrahlung schützen können. Diese Atomgeschosse aus den Tiefen des Raums werden von der Schiffswand nicht abgewehrt und könnten sich als gefährlich 101
erweisen. Die energiereichsten Höhenstrahlen wird man vermutlich als feine Stiche empfinden, wenn sie den Körper durchdringen. Dann gibt es noch eine andere Art von kosmischen Geschossen, die bestimmt unangenehm werden können. Die Meteore. Diese Vagabunden des Weltalls bewegen sich mit Geschwindigkeiten bis zu 40 km pro Sekunde, und wenn ein solches Geschoß die Schiffswand durchschlägt, entweicht die Kabinenluft sofort in die Leere des Raumes. Ohne Schutz würde ein Mensch dort schon nach 15 Sekunden das Bewußtsein verlieren. Außerdem würde er von der intensiven Sonnenstrahlung auf der einen Seite angeschmort werden, während seine andere Seite in Kürze erfröre. In der Leere des Alls braucht man einen Raumanzug. Ein solcher Anzug muß eine bewegliche, luftdichte Hülle sein, die genügend Atemluft enthält. Mit Werkzeugen aller Art ausgerüstet, wird er für Schutz und Manövrierfähigkeit außerhalb des Raumschiffes sorgen. Der Antrieb erfolgt mit Hilfe eines tragbaren Raketengerätes, mit dem alle gewünschten Ortsveränderungen ausgeführt werden können. Ein Glas Bier klebt an der Wand Unter den Bedingungen der Gewichtslosigkeit wird auch das Essen neue und überraschende Probleme aufwerfen. Mit Flüssigkeiten wird es besonders schwierig werden, da sie sich nicht gießen lassen. Sie müssen mit chemischen Titrationsröhren durch Saugen und Blasen umgefüllt werden. Falls Flüssigkeiten in offenen Behältern aufbewahrt werden, entweichen sie und beginnen in Tropfenform durch die Kabine zu schweben. Schließlich bleiben sie an der Wand kleben und überziehen alles mit einer feuchten Schicht. Man wird Kunststoffflaschen verwenden, aus denen sich die Flüssigkeit heraus102
pressen läßt. Auch das Schlafen wird ganz neue und ungeahnte Erfahrungen mit sich bringen. Ein Weltraumfahrer braucht keine Kissen und keine Matratzen. Sein Bett wird aus einem geschlossenen Netz bestehen, das ihn daran hindert, im Schlafe davonzuschweben. Und wie wird das Unterbewußtsein des Menschen auf die Aufregungen der ersten Weltraumfahrt reagieren? Wird ihn nicht plötzlich ein ängstliches Gefühl beschleichen, wenn ihm klar wird, daß er in einer kleinen Metallkapsel durch das Nichts des Weltraumes schwebt? Wir wissen es nicht. Wir müssen sehr weitschauend planen, wenn die ersten Pioniere des Raumes am Leben bleiben und sicher wieder zur Erde zurückkehren sollen. Der Erfolg des zukünftigen Raumfluges ist weitestgehend bestimmt durch die Forschungsergebnisse dieses wichtigen neuen Gebietes der Wissenschaft, – der Raummedizin.“ Lesen Sie auch Teil III: „Der Konstrukteur hat das Wort“
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