BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
SKYTOWN von Michael Marcus Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blau...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga
SKYTOWN von Michael Marcus Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blauäugig, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. Hat sich mit den »Gespenstern« in seinem Hirn arrangiert: die Wissensimplantate, aus verstorbenen Menschen gewonnen, sind nach wie vor in ihm vorhanden, plagen ihn aber seit Verlassen des Aqua-Kubus nicht mehr mit Visionen Außerdem kreisen in Clouds Körper jedoch Reste von Protomaterie, mit denen sein blindes Verständnis der Hirtentechnik zusammenhängen könnte. Durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok hat es Cloud in die düstere Zukunft des Jahres 2252 a. D. (= 211 n. A.) verschlagen. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kamen. Auf der Erde gab es 2041 noch zwei weitere genetische Ebenbilder: eines davon ging an Scobees Stelle in die Stase, wodurch es ihr selbst überhaupt erst möglich war, an der zweiten Marsmission teilzunehmen; das andere war eine Telepathin, die akut an progressivem Zellverfall erkrankte, bald darauf in Koma fiel und trotz ihrer Versetzung in die Stase schließlich starb. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in die Zukunft des Jahres 2252 n. Chr. entführt worden. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Die Master Residieren in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerke, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben und in sämtlichen Metropolen (Metrops) der Welt stehen. Sie sind die Führer der neuen Menschheit, und seit kurzem ist bekannt, dass sich dahinter Angehörige von Darnoks Volk verbergen, die vernichtet geglaubten Keelon also. Die Keelon Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von ehemals friedlichen Forschern wurde scheinbar von den Erinjij ausgelöscht. Darnok begriff sich lange Zeit als einziger Überlebende seiner Art. Inzwischen aber wurde bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, den Residenzen, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Die Keelon werden Master genannt und sind die Führer Erinjij. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei bislang unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als
einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik« - über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Vorstöße koordinieren. Bislang ist unklar, warum die Menschen eine solche Expansionspolitik betreiben, da die Erde alles andere als aus den Nähten platzt... Die Hirten Die sieben Hirten - ihre Namen lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden letztgenannten sind weiblich - sind die Götter der im Aqua-Kubus beheimateten Vaaren. Sie selbst nennen sich Foronen. Sie sind die waren Herren der Rubikon II (Sesha). GenTec Sie besitzen unter anderem die Fähigkeit, sich im äußersten Fall in eine Art Winterschlaf zurückzuziehen. Daneben extrem robuste Konstitution, frequenzvariable Sehweise bis hin zu Infrarotsicht und bewusste Beeinflussung von normalerweise unbewussten Körperfunktionen wie Pulsfrequenz, Adrenalinausstoß usw. Bei den Mitgliedern der RUBIKON-Crew Jarvis, Resnick und Scobee handelt es sich um GenTecs. Jarvis und Resnick leiden seit geraumer Zeit unter progressivem Zellverfall, der mit keinem bekannten Mittel aufzuhalten zu sein scheint.
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus entdecken sie ein gewaltiges, rachenförmiges Raumschiff. Mit diesem gelingt ihnen die Flucht zurück ins heimatliche Sonnensystem. Resnick und Jarvis verschlägt es auf den Mars, Cloud und Scobee gelangen zur Erde. Dort werden sie von einem amorphen Kunstwesen verfolgt, das sich jedoch mehr als einmal als Retter in der Not erweist. Sie gelangen ins Herz der Erinjij-Macht: zu den geheimnisvollen Mastern - die sich als die zeitreisenden Keelon entpuppen, die einst angeblich von den Erinjij vernichtet wurden. Der Amorphe befreit Cloud und Scobee aus der Hand des höchsten Masters, und gemeinsam mit dem Mädchen Aylea und dem Florenhüter Jelto fliehen sie aus der Metrop Washington. Ihr Ziel ist eine unterseeische Station, von der aus sie sich eine Rückkehrmöglichkeit auf das Rochenschiff aus dem Aqua-Kubus erhoffen. 1. Yu Peng: Skytown, 2041 Yu Peng blickte gedankenverloren durch eines der dicken, kreisrunden Fenster hinab auf die Erde. Skytown, die Stadt im All, drehte sich gerade über die westliche Hemisphäre. Es war Nacht dort unten, und hunderte, ja, tausende kleine Lichtpunkte erhellten den nordamerikanischen Kontinent. Nur wenige Sekunden blieben ihm zur Beobachtung, dann schwenkte der Heimatplanet aus seinem Gesichtsfeld und machte der sternengesprenkelten Schwärze des Weltalls Platz. »Atemberaubend, nicht wahr?«, sagte der füllige Mann neben ihm. Säuerlicher Mundgeruch schwappte dem Neochinesen entgegen. Steven McLair stank nach Zwiebeln, Milch und Minze. Eine ungeheuerliche Beleidigung für Yu Pengs feine Nase, doch er blieb höflich. »In der Tat«, entgegnete er. »Es ist immer wieder ein Erlebnis, an Bord der Raumstadt stehen zu dürfen.« Steven McLair murmelte bestätigend und wandte sich rasch seiner Gesprächspartnerin auf der anderen Seite des Plasttisches zu: Svetlana Mastjarkova. Ihr Gesicht war gerötet vom Wodka, dem sie bereits seit Beginn des zwanglosen Gespräches heftig zusprach. Die Mundfäulnis des dicken Amerikaners schien sie keineswegs zu irritieren. Yu Peng hatte aufmerksam das Dossier über die Frau gelesen. Sie vertrat bei den Verhandlungen Tranzoil, den Verbund der oligarchisch herrschenden russischen Ölproduzenten. 43 Jahre alt, holte er sich die wichtigsten Stichpunkte in Erinnerung, intelligent, aber beeinflussbar. Zweimal geschieden, ehrgeizig. Schreckt nicht
davor zurück, ihren Körper einzusetzen, um ein Ziel zu erreichen. Wahrscheinlich hatte sie ihren ohnedies knapp bemessenen Rock bereits nach oben geschoben und rieb ihre Knie an denen des fetten Texaners, der in derselben Branche wie sie tätig war. Yu Peng hatte Mühe, seine Verachtung zu verbergen, und wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Erde und das verdunkelte Nordamerika gerieten erneut ins Blickfeld. Die Langnasen waren so simpel konstruiert und so leicht zu durchschauen... Die Werte, auf die sie so stolz waren - Demokratie, Freiheit der Meinungsäußerung, ausgewogen soziales Gebaren für die Schwachen, Chancengleichheit für alle -, sie verblassten doch gegen das, was das Neochinesische Reich zu bieten hatte: Menschen. Zwei Milliarden Menschen. Es war die Masse, die zählte. Wenn es um Produktion und Kostenfrage ging, war das neochinesische Leistungsvermögen konkurrenzlos. Yu Peng, offiziell der Generalkonsul der Provinz Tokio von Gnaden Hu Sadakos, erneuerte sein nichts sagendes Lächeln. Er konnte es sich nicht leisten, die Konzentration zu verlieren. Hu Sadako würde es erfahren und als Schwäche interpretieren. Als einer der höchsten Offiziere des Geheimdienstes würde er für einen Schwächeanfall nicht nur Würde und Leben verlieren, sondern darüber hinaus auch noch seine Familie entehren. Und Letzteres würde Yu Peng, der nur dem obersten Chef des Geheimdienstes gegenüber verantwortlich war - seinem Großvater -, härter treffen als alles andere. Auf dem wortwörtlichen Gipfel der Macht, in der Bergfestung Qomolangma, auf siebentausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel, war kein Platz für Schwächlinge, das wusste er nur zu gut. Dies ist ein Fenster zur Welt, dachte er, und blickte hinab auf das Lichtermeer an der amerikanischen Ostküste. Vier Schichten stark, aus ultrahocherhitzten Silikaten. Die äußerste Schicht ist robust genug, um Mikrometeoriten Widerstand zu bieten, und sie reduziert schädliche Strahlung weitestgehend. Die beiden mittleren Glasschichten, die Druckscheiben, sind jeweils knapp vier Zentimeter stark. Die innerste Schicht ist dünner, aber speziell geschliffen, um eine exzellente Sicht zu erlauben. Bedampft mit einer Anti-Reflektions-Schicht, die vorn UV- bis zum IR-Bereich jegliches Licht optimal bricht. Ein Fenster zur Welt - aus chinesischer Fertigung. Yu Peng wandte sich McLair zu, dessen fleischige Hände unter dem Tisch auf Wanderschaft gegangen waren. Unter dem Tisch aus China, auf Stühlen aus China sitzend, auf einem schalldämpfenden Boden aus China ruhend, die Luft aus chinesischen Wiederaufbereitungsanlagen atmend. Die überheblichen Langnasen waren umgeben von Erzeugnissen des Reichs der Mitte - und wussten es nicht einmal...
Die zweitägige internationale Zusammenkunft honoriger Wirtschaftsfachleute neigte sich ihrem Ende zu. Übereinkünfte waren erzielt worden, Drohungen waren ausgesprochen und gleich darauf wieder zurückgenommen worden. Das übliche Repertoire an Verbrüderungen, Schulterschlüssen, taktischen Rückziehern, aufgeblähter und sogleich wieder gebrochener Versprechungen war zur Anwendung gekommen. Währenddessen hatten unter ihren Füßen hunderttausende weltfremde, meist bereits ergraute Globalisierungsgegner in den so genannten freien Ländern ihren Unmut geäußert, worüber besonders die amerikanische Delegation herzlich amüsiert gewirkt hatte. Im Neochinesischen Reich waren Proteste unbedeutenden Ausmaßes vorgekommen. Einige gezielte Verhaftungen und Verurteilungen im verkürzten Schnellverfahren hatten noch vor Beginn der Tagung für Ruhe gesorgt. Yu Peng war zufrieden. Er hatte zwei wichtige amerikanische Senatoren bestochen, einen deutschen Stahlindustriellen mit verfänglichen Bildern erpresst und war schließlich als Akt der Freundlichkeit
mit einer der bestechend hübschen Mitarbeiterinnen des Verhandlungsteams aus Formosa ins Bett gestiegen. Sozusagen als Zeichen des guten Willens seiner Regierung. Er nippte am Champagner, der hier, im für Touristen frei gegebenen Bereich Skytowns, unglaublich teuer war. Doch die Kosten, die die Ausrichtung der Tagung mit sich brachten, waren unerheblich im Vergleich zu den Summen, die als Verhandlungsergebnis fließen würden. Und sie, die wichtigen Männer der Erde, hatten Ruhe vor dem Pöbel der Straße. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte Sean Patton. Yu Peng zuckte zusammen. Der Mann, der in den Unterlagen der neochinesischen Geheimdienstleitung als »Der Schatten Cronenbergs« bezeichnet wurde, war still und unbemerkt an ihn herangetreten. Offiziell fungierte er als oberstes Überwachungsorgan während der Sitzungen, doch er war mehr. Viel mehr. »Sehr freundlich, dass Sie mich fragen«, erwiderte Yu Peng höflich. »Die Peking-Ente war hervorragend. Knusprig und gut gewürzt, vielleicht mit einem kleinen Hauch zu viel Basilikum.« »Ich meinte nicht das Essen...«, entgegnete der Schatten zweideutig. »Ich weiß. Und Sie wissen auch, dass ich weiß, was Sie wissen.« Patton lächelte, doch seine blauen Augen blieben davon unberührt. »Dieser Spruch ist mir nicht geläufig«, sagte er mit rauer Stimme. »Verzeihen Sie meine Unkenntnis des chinesischen Sprachschatzes und Ihrer Kultur.« Der Mann war gefährlich. Er war der Einzige an Bord des Sternenrades, den Yu Peng tatsächlich aufgrund seiner Kompetenz achtete. Der Schatten war der Mann der Amerikaner, wenn es um `die Beziehungen zwischen dem amerikanisch geführten Block und den Neochinesen ging. »Ich hätte eine Frage von... Kollege zu Kollege«, sagte Yu Peng nachdenklich. Beide wussten sie, welch bedeutende Rolle der jeweils andere im Spiel der Mächtigen innehatte. »Nur zu!«, sagte Patton und zog dabei misstrauisch eine tätowierte Augenbraue hoch. Yu Peng nahm noch einen Schluck des faden, sprudelnden Gesöffs. »Läuft eigentlich auf der RUBIKON alles nach Plan?« Täuschte er sich, oder zeigte Patton tatsächlich Nervosität? Ein leichtes Zucken um den Mundwinkel, eine Vergrößerung der Iris... Doch der Amerikaner war geschickt, beherrscht und spielte die Geheimdienst-Spielchen bereits mindestens ebenso lange wie er. Es war durchaus möglich, dass selbst diese unbewusst scheinende Reaktion beabsichtigt war. »Es gab kleine Probleme«, sagte Patton, und putzte sich ein imaginäres Staubkörnchen von der Schulter. »Vernachlässigbare Probleme.« »Verluste?« »Ein Mann hat durchgedreht.« »War es... John Cloud?« »Nein.« »Hm... dann habe ich mich in ihm getäuscht. Ich hielt ihn anhand seines Dossiers für nicht geeignet, diese Expedition anzuführen. Ich vermutete, dass er als Erster die Nerven verlieren würde. Seine Getriebenheit und Besessenheit, sein Wunsch, die Leiche des Vaters auf dem Mars zu bergen - dies alles erschien mir als nicht vorteilhaft für die Mission. Im Neochinesischen Reich hätte er trotz seiner ausgezeichneten Leistungen während der Ausbildung keine Chance bekommen. Im Übrigen halte ich sehr wenig von den Wissensimplantaten, die Sie ihm und den anderen herkömmlichen Besatzungsmitgliedern aufgepfropft haben.« »Sie sind verdammt gut über die Crew informiert, Yu! Wir haben die Besatzung in den letzten Monaten bestmöglich abgeschirmt. Wen haben Sie für dieses Wissen töten müssen?« Die Frage mochte zynisch klingen, doch sie hatte durchaus Realitätsbezug. Was bedeutete schon ein unbedeutendes Menschenleben gegen das wichtigste Gut des 21. Jahrhunderts - gegen Informationen? »Niemanden, das versichere ich Ihnen.« Yu Peng lächelte humorlos. »Manche Menschen, zum Beispiel unterbezahlte Wissenschaftler, sind gerne bereit, ihr Wissen für eine unbeträchtliche
Geldsumme zu teilen.« Patton, der Schatten, seufzte sehnsüchtig. »Oft einmal wünschte ich mir, ich hätte die gleichen Befugnisse wie Sie und könnte Verräter dieser Art ohne demokratischem Firlefanz wie Rechtsbeistand und Gerichtsverhandlung eliminieren.« »Tun Sie das denn nicht?«, fragte Yu Peng und vertiefte sein Lächeln. »Natürlich«, murmelte Patton scheinbar gedankenverloren. »Doch es erfordert viel mehr Aufwand. Erklärungen müssen abgegeben, Todesursachen nachgestellt werden, und schlussendlich muss man für alles ein sechsseitiges Formular ausfüllen.« »Ich verstehe Ihren Frust«, entgegnete Yu Peng. »Ich würde Ihnen ja gerne einen Job im Reich unseres geliebten Kaisers anbieten, doch ich befürchte, dass die guten Plätze bereits alle besetzt sind.« »Ich muss gestehen, dass ich nicht unbedingt darauf aus bin, die Seiten zu wechseln. Hu Sadakos Existenz bereitet mir nicht nur Wohlbefinden.« Was durchaus verständlich war. Das unnahbare Naturell des Kaisers erzeugte in nahezu jedem Menschen Respekt - oder vielmehr Angst. Selbst Yu Peng war nicht vor einem Gefühl der Unsicherheit dem Höchsten gegenüber gefeit - nur sein Großvater, General Yu schien darüber erhaben. »Wenn Sie mich entschuldigen«, sagte der Schatten, Cronenbergs zweiter Stellvertreter, mit einem Mal. »Ich muss mich noch um Mitglieder der europäischen Delegation kümmern.« Yu Peng deutete eine höfliche Kopfneigung an, und der Moment der Vertrautheit verflog. Nun waren sie wieder die anonymen Vertreter zweier geheimdienstlich agierender Organisationen, die einander das Leben so schwer wie möglich machten - und im Zweifelsfalle keine Zehntelsekunde zögern würden, den jeweils anderen zu töten. Doch nicht hier, und auch nicht heute, am Rande der Tagung. Yu Peng konnte warten...
Die Wirtschaftstagung klang wie gewöhnlich mit einer umfangreichen Tour durch den zugänglichen Teil Skytowns aus. Yu Peng hatte den Rundgang bereits dreimal hinter sich gebracht, doch immer wieder wurde er von der Faszination dieser unglaublichen Schau menschlichen Leistungsvermögens in den Bann gezogen. »...wurde im Oktober 2031 endlich fertig gestellt«, hörte er die dozierende Stimme. »Skytown hat die Form eines Rades mit einem Durchmesser von 988 Metern, das sechs in Strahlenform angeordnete Speichen besitzt. Skytown dreht sich nahezu zweimal pro Minute um die Mittelachse. Die dadurch erzeugte Drehkraftbeschleunigung, die an der so genannten Innenfelge des Rades zu spüren ist, beläuft sich auf knapp 0,5 Gravos...« Die Ahs und Ohs wollten kein Ende nehmen, als die Gäste den schmalen Weg betraten, der durch das Pflanzendickicht führte. Süßlicher, schwerer Geruch legte sich über die Delegierten. Das Summen und Brummen honigbeladener Insekten erfüllte die Luft. Da und dort war ein Knacksen zu hören. Kleinere Nager und größere Räuber bewohnten den scheinbar so naturbelassenen Park. »...bitte bleiben Sie auf dem markierten Weg, vielen Dank«, klang die wohl modulierte Stimme ihres Wegbegleiters auf. Es handelte sich um einen kleinen Vogel, äußerlich einem Sperling nicht unähnlich, der sie umflatterte. In Wirklichkeit, so hatte Yu Peng erfahren, folgte das mechanische Wunderding einem fix programmierten Kurs. »Die meisten der knapp zweitausend Module, die in einer technischen Meisterleistung nahezu nahtlos aneinander gefügt wurden, besitzen einen Durchmesser zwischen zwölf und vierzehn Metern. Hier, im Kristallpark, vergrößert sich der Durchmesser auf einer Länge von einem Viertelkilometer auf sechzehn Meter.“
Wieder erklang Raunen und andächtiges Murmeln. Viele der Anwesenden hatten mit ihren Firmen, industriellen Fertigungsstätten oder politischem Einfluss wesentlichen Anteil am Bau der gigantischen Raumstation gehabt - und auch gehörig davon profitiert. Doch nur die wenigsten hatten die Skytown bislang besucht. Es machte einen Unterschied, ob man ein Objekt in dreidimensionaler Darstellung als Modell präsentiert bekam, oder ob man die erste permanent bewohnte Station der Menschheit im All hautnah kennen lernte. Eigentlich ist es bereits die zweite Station, dachte Yu Peng. Einige wenige Elemente der ISSStation, die bis zum Jahr 2029 ihre Aufgabe erfüllt hat, sind in den Bau Skytowns eingeflossen. »... neben dem Wert als Erholungsort, der für die Permanentbesatzung von besonderer Bedeutung ist, erfüllt der Kristallpark selbstverständlich seinen Zweck als Sauerstofflieferant. Die Stadt ist zu mehr als neunzig Prozent selbst versorgend. Das ist übrigens mehr als jede Stadt auf Mutter Erde von sich behaupten kann.« Eine Frage kam von der japanischen Delegation, so leise gemurmelt, dass Yu Peng sie nicht verstehen konnte. Doch der Rechner des Sperlings filterte die Frage mühelos aus dem dumpfen Sprachenwirrwarr und beantwortete sie nach nur wenigen Momenten in Japanisch, Russisch, englisch und chinesisch: »Bei den übrigen zehn Prozent, die nicht in Skytowns Fertigungsanlagen erzeugt werden können, handelt es sich selbstverständlich um Luxusartikel jeglicher Art. Wein, Parfums, mondäne Bekleidung, extravagante Möblierung für unsere Dauergäste...« Ach ja... die Dauergäste. Eine Hand voll von superreichen Privatpersonen, die sich ihren Spleen einen Gutteil ihres Vermögens kosten ließen. Anderthalb Millionen Dollar zahlte man für einen Monat Aufenthalt in Skytown; bei einer Buchung über ein Jahr erhielt man einen Nachlass von zehn Prozent. Yu Peng erinnerte sich vage an einen gealterten Star der Musikbranche, tätowiert vom Scheitel bis zu den Zehen, den er bei seinem letzten Aufenthalt hier getroffen hatte... Ein greiser, über und über behaarter Nobelpreisträger, der von Lizenzen lebte, die ihm ein Patent auf Quantencomputer einbrachte. Eine Aktrice um die Fünfzig. Sie war die erste Darstellerin, die Fühlfernsehen vermittelt und in ihren besten Zeiten mit mehr als dreißig Millionen Männern und Frauen gleichzeitig virtuell geschlafen hatte. Schon seit mehreren Jahren lebte sie völlig zurückgezogen und erlaubte keinem Menschen mehr, sie zu berühren. Ein mexikanischer Fernsehprediger; der Sohn eines ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten; ein Sojaproduzent; zwei Mafiosi, die sich der irdischen Gerichtsbarkeit entzogen hatten, und die er an Stelle der Nordamerikaner längst hätte töten lassen; ein französischer Trenddesigner... Verschrobene, schrullige Leute. Mitbeteiligt und mitschuldig am Verfall der westlichen Welt - und schließlich in ihre eigene Dekadenzfalle getreten. »... wir verlassen nun den Kristallgarten - bitte achten Sie auf die Stufe - und betreten den Labortrakt. Hier werden nanotechnische Forschungen ebenso betrieben wie biochemische Versuche. Auch wichtige Erzeuger von Pharmazeutika lassen in streng abgeschotteten Abteilungen gentechnische Experimente durchführen, die auf der Erde keine Genehmigung erhalten haben. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass zu den wenigsten Abteilungen freier Zutritt gewährt wird. Hinter den meisten der abzweigenden Türen laufen Projekte ab, die Top Secret sind.« Top Secret? Ha!Yu Peng erlaubte sich ein unauffälliges, verächtliches Grinsen. Nichts, was auf der Erde und in der Skytown passierte, entging den allwissenden Ohren und Augen seiner Agenten, die im Auftrag des Neochinesischen Reiches spionierten. Im Auftrag des Kaisers Hu Sadako, der sich anschickte, die Welt - und den Weltraum - zu erobern. Noch zwanzig, fünfundzwanzig Jahre - dann sollte das Übergewicht asiatischer Produktionsleistung derart gewaltig sein, dass die westliche Welt in vollständige wirtschaftliche Abhängigkeit geraten sein würde. Und dann... Es wurde schwarz vor Yu Pengs Augen.
Absolute, undurchdringliche Schwärze herrschte mit einem Mal. Ein totales Blackout der Stromversorgung?, dachte er, während rings um ihn Hektik aufkam. Svetlana Mastjarkova stieß spitze Schreie der Panik aus. Mehrere Männer fluchten ungezügelt. Andere wollten sich offensichtlich zur nächsten Schleuse vortasten, die ins Rechen- und Steuerzentrum der Skytown führte. »Bleiben Sie bitte ruhig, Herrschaften!«, erklang die tiefe, sonore Stimme Pattons. »Es kann uns nichts passieren. Alle Systeme der Skytown sind mindestens dreifach abgesichert. Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Augenblicken ein Notaggregat anspringen wird.« »Reden Sie keinen Unsinn, Mann! Die Notaggregate hätten sofort reagieren müssen«, schnaufte McLair, der fette Texaner. Dieser Idiot! Hätte er seinen Mund gehalten, wäre es Patton wahrscheinlich gelungen, die wachsende Panikstimmung in der nahezu dreißigköpfigen Gruppe einzudämmen. »Ich will hier raus! Lasst mich raus!“, schrie Mastjarkova. Yu hatte sich zwei Schritte zur Seite bewegt und konzentrierte sich auf das Brüllen, Fauchen, Weinen und Geifern der völlig aufgelösten Frau. Dann drehte er sich halbrechts zur Seite, machte drei kurze Schritte und ergriff zielbewusst Mastjarkovas Nacken. Er wusste einfach, dass sie es war. Ein kurzer Druck - und die Frau brach bewusstlos zusammen. Augenblicklich wurde es ruhiger im Raum, die Aufregung legte sich. »Hören Sie bitte auf die Anweisungen von Mister Patton«, sagte Yu Peng ruhig zu den anderen Menschen, die mit ihm im Gang vor den Labors eingeschlossen waren. Jede Tünche der Zivilisation war binnen weniger Momente von ihnen abgefallen. Es roch - nein! - es stank nach Angst. »Danke!“, flüsterte Patton plötzlich neben ihm. Er war problemlos an seinem herben Aftershave zu erkennen. »Dieses hysterische Weib hätte eine Katastrophe auslösen können. Wenn diese hochwohlgeborenen Menschen auf die Idee gekommen wären, mit Gewalt in die Genlabors einzudringen... Nicht auszumalen, was hätte passieren können.« Er richtete sein Wort nun bewusst an die Delegierten: »Sehr verehrte Herrschaften, ich empfehle Ihnen dringend, in Ruhe abzuwarten, bis die Anlagen der Skytown wieder anspringen.« Schlagartig wurde es still. Ganz still. Yu Peng fühlte, wie die Mitglieder der Delegation die Luft anhielten und vor ihnen beiden zurückwichen. Auch wenn sie sich nicht sehen konnten - die Horde der Schafe roch die beiden Wölfe.
Zwölf Minuten später ging das Licht an, die Luftumwälzanlage meldete sich lautstark zurück, und nach wenigen Momenten gab eine heisere Stimme hastige Anweisungen über Lautsprecher. Der mechanische Sperling lag auf dem Boden, in winzige Teile zersplittert, in einer unansehnlichen, grün schimmernden Lache. Chris Patton gab einige ruhige Anweisungen und winkte dann Yu Peng, während sich die verstörten Delegationsmitglieder in Richtung des »Skytown-Hilton« zurückzogen. »Ich kann Sie ohnehin nicht aus der Sache heraushalten«, eröffnete er, während der Neochinese näher trat. »Nein«, antwortete Yu Peng lächelnd. Mehrere verzwickt verklausulierte Verträge zwischen Amerikanern und Neochinesen gaben den exekutiven Vertretern der beiden Länder ausreichend Befugnisse zum Eingreifen bei einem solch schwerwiegenden Zwischenfall. Und Yu Peng konnte sich kein schlimmeres Szenario ausdenken; buchstäblich alles war für nahezu eine Viertelstunde in der Skytown zusammengebrochen. Die Folgen konnten fatal sein...
Nebeneinander eilten sie in die Steuerzentrale. Patton aktivierte den Vorrangcode, und sobald sich die Schotts zur Seite bewegten, schlüpften sie hindurch. »Was war los?«, fragte er knapp einen untersetzten, schweißtriefenden Mann, der aufgeregt zwischen mehreren Arbeitsplätzen hin und her lief und kurze Anweisungen bellte. Sherman, erinnerte sich Yu Peng. Brite. Kompetent sowohl als Ingenieur als auch als Manager der Raumstadt. Der richtige Mann auf dem richtigen Posten. »Weiß nicht«, antwortete der Londoner mit Cockney-Akzent. »Ist mir im Moment auch egal. Wir trudeln!« Yu Peng wusste, dass die Orbitbewegungen Skytowns extrem sensibel gesteuert werden mussten. Es war sozusagen ein Tanz auf Eiern. Geringste Abweichungen bei den immer wieder notwendigen Steuerkorrekturen konnten das Schicksal der Stadt und seiner Bewohner besiegeln. Sie würden abstürzen oder ins All hinausdriften. »Wie sieht es mit Unterstützung durch die Leitstation in Houston aus?«, fragte Patton seelenruhig. »Mann, können Sie Fragen stellen! Die da unten auf der Erde hatten ebenfalls einen Totalausfall.« Mit nervösen Händen zündete sich Sherman eine Zigarette an. »Können Sie sich vorstellen, dass die Lichter auf der Erde von einer Sekunde zur nächsten vollständig erloschen sind? Wie eine Weihnachtsbeleuchtung, die man abdreht...“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Allerdings dauerte die Dunkelheit nur wenige Sekunden. Dann hat es begonnen, da und dort aufzuleuchten. Wie in einem Blitzlichtgewitter. Flugzeugabstürze. Geplatzte, explodierende Ölpipelines. Brennende Städte. Was immer Sie sich vorstellen können - es ist passiert.« »Bekommen Sie Skytown wieder auf Kurs?«, fragte Patton unbeeindruckt. »Ja, verdammt noch mal, wenn Sie mich nicht zu lange aufhalten.« Sherman wandte sich ab, vergaß auf jegliche Grundsätze britischer Höflichkeit. Kein Wunder, angesichts der angespannten Situation. »Darf ich Sie bitten, mir eine Verbindung zum Qomolangma Palast herzustellen?«, fragte Yu Peng. Sherman drehte sich nochmals um und schenkte ihm einen Blick, der nur >Was will das verdammte Schlitzauge hier?< bedeuten konnte. Bislang hatte Yu Peng seine Rolle als Handels-Attache und Generalkonsul mustergültig ausgefüllt, und niemand außer Patton und einigen Geheimdienstleuten der verschiedensten Nationen wussten, wer er in Wirklichkeit war. Es war nun mal ein Spiel, an das sich alle Beteiligten getreu gehalten hatten. Doch die Zeit für Spiele war vorbei. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Patton hastig. »Ich stehe für den Mann gerade.“ »Nun, wenn Sie die Verantwortung übernehmen, soll's mir Recht sein«, murmelte Sherman. Er winkte Yu Peng zu einem der neochinesischen Techniker in einer hinteren Reihe. Dorthin, wo Bildschirm an Bildschirm stand. »Eine Verbindung mit Qomolangma«, sagte der Geheimdienstler zu dem jungen Mann, an den ihn Sherman verwiesen hatte. Sein Gesicht war dunkel und faltig. Wahrscheinlich ein geborener Mongole. »Jawohl«, sagte der und schluckte, »doch ich fürchte, ich werde keine Verbindung bekommen. Die Zustände auf der Erde sind chaotisch...« »Doch, werden Sie. Geben Sie folgenden Überrangbefehl ein«, er kritzelte eine zweizeilige Zeichenkolonne auf ein Blatt Papier, »und vergessen Sie ihn gleich darauf wieder.« Yu Peng schenkte dem Mongolen das Lächeln eines Haifisches. »J-jawohl, Erhabener«, stotterte der Funkspezialist. Nach nicht einmal zehn Sekunden stand die Leitung, und der Chef des Geheimdienstes blickte ihn an. »Oberst Yu?« Da klar war, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsanruf handelte, blieb Yu Pengs Großvater förmlich. Sie lebten beide noch, das war für den Moment ausreichend. Der Geheimdienstler scheuchte den Mongolen von seinem Platz und setzte sich. Er und der General hatten Dringendes zu besprechen. Pläne einer weltumspannenden Machtübernahme durch den neochinesischen Herrscher konnten
durchaus vorgezogen werden, wenn die Prämissen stimmten. Und weltweite Panik war eine dieser Voraussetzungen... Doch es sollte nicht mehr so weit kommen. Denn drei Tage später verwandelte sich der Jupiter in ein Schwarzes Loch. 76 fremdartige Raumschiffe in Form von Äskulapstäben drangen kurze Zeit später daraus hervor, zerstörten die mittlerweile auf dem Mars gelandete RUBIKON, die Erzförderstätten auf dem Mond und sämtliche im Orbit um die Erde kreisenden Satelliten. Mit Ausnahme von Skytown. Jegliche Technik versagte an Bord des Rades. Sherman fluchte unbritisch, Patton wurde deutlich blasser um die Nase, und Yu Peng verbarg sich hinter maskenhaftem Schweigen. Sie und die weiteren achthundert Personen an Bord mussten es hinnehmen, dass ihnen die Kontrolle über Skytown entzogen wurde. Ein grünlich schimmerndes Feld umhüllte das Rad und hielt es für mehrere Wochen in Position. Mittlerweile waren die Äskulapraumer längst auf der Erde gelandet und stachen aufgerichtet wie mahnende Zeigefinger gen Himmel. Sherman hatte sich am zehnten Tag nach der Invasion erschossen, und Patton hatte sich so wie viele andere der Skytown-Bewohner dem Suff hingegeben. Yu Peng jedoch schwieg. Vielleicht konnte er sich mit den neuen, außerirdischen Machthabern arrangieren? 2. John Cloud: Erde, 2252 (211 n.A.) »Bleib endlich ruhig liegen, verdammt noch mal!“, fuhr Cloud das junge Mädchen an. Im selben Moment bedauerte er, dass er so barsch mit der zehnjährigen Aylea umging - doch die Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Sie musste begreifen, dass sie ihm in dieser prekären Lage bedingungslos zu gehorchen hatte. »Antigrav-Schlitten«, murmelte Scobee knapp, »der bereits bekannte Typ.« »Höchstwahrscheinlich ausgerüstet mit Wärmespürern und Bewegungsmeldern«, ergänzte Cloud. »Es dauert nicht lange, dann haben sie uns im Visier.“ »Wir können nur hoffen, dass diese Knaben ähnlich schlechte Schützen sind wie jene bei unserer ersten Begegnung. »Was sollte das schon helfen, Scob? Dann braten sie uns eben eine Viertelstunde später. Wir haben keine Chance mehr. Sobald sie noch ein wenig näher kommen, erfassen sie uns sowohl optisch als auch mit ihren Geräten. Warum hat er uns bloß im Stich gelassen...“ Er... Das amorphe Lebewesen - oder die Maschine, Cloud wusste noch immer nicht, was eigentlich zutraf -, hatte sich abgesetzt und war in den Fluten des Meeres verschwunden. Das war gewesen, kurz nachdem sie mit einem Residenzgleiter aus dem Washingtonerin m der Master entkommen waren -und abgeschossen worden waren, bevor sie auch nur das Meer erreicht hatten. Sie hatten am Strand notlanden müssen. »Uns bleibt immer noch die Hoffnung...«, setzte Jelto, der Florenhüter an. »Still jetzt!«, unterbrach ihn Cloud. »Sie bewegen sich in unsere Richtung.« Die vier Gejagten lagen am Strand, in einer länglichen Bodenmulde, die scheinbar vom Kiel eines kleinen Fischerbootes stammte. Zwanzig Meter vor ihnen breitete sich der Ozean aus, so nah und doch unerreichbar fern. Dreißig Schritte hinter ihnen begann ein grüner Dschungel, bedrohlich und unheimlich. Fremdartige Düfte drangen daraus hervor und erfüllten die salzhaltige Luft. Auch hier hatten die Master - die Keelon!, verbesserte sich Cloud - ein Reservat außerirdischer Flora angelegt. Eine dünne Schicht groben Kieses bedeckte die vier Flüchtlinge und dämpfte ihre Wärmeausstrahlung - hoffentlich! - ein wenig. Jelto murmelte leise etwas, nahezu unverständlich.
Die Antigrav-Gleiter rückten ein Stück näher. Mittlerweile hatten sie eine systematische Suche begonnen und flogen immer wieder über den Strand. Wieder sagte Jelto etwas, ein wenig lauter diesmal. Cloud stieß ihn leicht und dennoch zornig an. Der gentechnisch veränderte Mann sollte endlich seinen Mund halten! »Ich glaube, ich weiß einen Ausweg«, flüsterte ihm der Florenhüter zaghaft ins Ohr. »Ach ja? Willst du sie vielleicht mit Kieseln bewerfen und vertreiben?«, wisperte Cloud zurück. Er hatte es wahrlich satt, mit gut gemeinten Ratschlägen überhäuft zu werden. Seine Ausbilder hatten ihn gelehrt, in derlei aussichtslosen Situationen ruhig zu bleiben, egal, was passierte. Nur nicht die Nerven zu verlieren. Ja nicht aufzuspringen. Sich tot zu stellen. »Ich müsste nur ein klein wenig näher an den Wald heran«, drängte Jelto. »Bist du wahnsinnig? Die messen doch jede Bewegung an! Sobald du die Furche und damit die Sichtdeckung verlässt... »Ich bleibe in Deckung, vertraue mir!« Jelto sprach's und kroch nach hinten weg. Vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter. »Du verfluchter Idiot!«, schimpfte Cloud. Doch es hatte keinen Sinn, ihn festhalten zu wollen. Der Florenhüter war offensichtlich nicht bereit, auf ihn zu hören. Langsam drehte Cloud den Kopf und beobachtete, wohin sich Jelto bewegte. Jelto robbte unter der groben Schotterschicht der Strandes - er bewegt sich wie ein Profi, musste Cloud in Gedanken zugeben - auf die Ausläufer des Dschungels zu. Die Furche, in der sie sich verborgen hielten, wurde nach hinten hin immer flacher und endete vielleicht zehn Meter vor dem Beginn der grünen Zone. Der Urwald wirkte undurchdringlich, und ungewohnte Geräusche drangen daraus hervor. Squerls hatte Jelto die kleinen Vögel mit den spitzen Schnäbeln genannt, die immer wieder ihr Keckern hören ließen und aufgeregt über den Wipfeln ihrer Bäume flatterten. Der Pflanzenmeister hatte das Ende der Furche erreicht, und damit das Ende seiner Deckung. Mit einem hastigen Blick nach draußen überzeugte sich Cloud, dass die Erinjij-Soldaten weiterhin methodisch nach ihnen suchten. Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie sie bereits entdeckt hätten. Jeltos Körper flammte auf, strahlte grün, gelb und rot. Das Leuchten der Aura intensivierte sich rasch und drohte, über den Rand der Furchte hinwegzuleuchten. Da entdeckte Cloud den Grund, warum der Florenhüter bereit war, sich zu offenbaren. Knapp vor Jelto endete ein lianenähnliches Gewächs aus dem Urwald, das er mit seinen langen, von Kieselsteinen unbedeckten Fingern berührte. Es war einunheimlicher, ungewohnter Vorgang, dem Cloud beiwohnte: Der Florenhüter kommunizierte mit einer Pflanze! Was hat er nur vor, verdammt noch mal?, fragte sich John. Verabschiedet er sich etwa von seinen geliebten Pflanzen? Das Zwiegespräch dauerte nur wenige Sekunden - dann erlosch das Leuchten, und Jelto kam langsam und vorsichtig zurück gekrochen. Die Antigrav-Gleiter hatten sich mittlerweile auf eine Entfernung von knapp 150 Meter genähert. Sie schwebten lediglich in niedriger Höhe. Noch hatten die vier Fluchtgefährten etwas Zeit, bis sie entdeckt werden würden. »Er ist bereit, uns aufzunehmen«, flüsterte Jelto, als er endlich heran war. »Wer?«, fragte Cloud kurz zurück, so leise es nur ging. »Der Kuana-Baum.« Scobee neben ihnen stöhnte unterdrückt auf. Kein Wunder - waren sie und John Cloud doch bei ihrer ersten Berührung mit dem fremdartigen Dschungel von Schoten des Kuana-Baums gefangen und nahezu verdaut worden. Ihre Körper hatten von der Berührung mit der ätzenden Säure, die der Baum absonderte, schmerzhafte Verbrennungen davongetragen. »Vertraut mir«, murmelte Jelto. »Bleibt einfach ruhig liegen.« Was hatten sie denn für eine andere Wahl? Das leise Brummen der Antigrav-Geräte war bereits zu
hören, ebenso wie die schroffen Stimmen der Soldaten. Der Sand und die Steine unter ihnen gaben plötzlich ruckartig nach. Aylea stieß einen spitzen, unterdrückten Schrei aus, bevor John reagieren und ihr den Mund zuhalten konnte. »Da war was!“, hörte er die Stimme eines Soldaten rufen. »Da vorne!« »Was sagt der Scan?«, meldete sich eine andere befehlsgewohnt. »Bin mir nicht sicher...«, tönte es nach wenigen Sekunden. Die Soldaten benahmen sich wie Elefanten im Porzellanladen! Und das sollten die berüchtigten Erinjij-Truppen sein, die die ganze Galaxis mit Angst und Schrecken überzogen? Der Boden unter ihnen gab weiter nach. Sand und Gestein rutschten weg - bis fein verästelte, grüne Pflanzenschösslinge wie suchend über sie hinwegtasteten. »Keine Angst, alles unter Kontrolle!«, murmelte Jelto. Er berührte eine der Lianen, leuchtete kurz auf, und wie auf Befehl erhoben sich hunderte Squerls von ihren Nistplätzen. Ein Höllenlärm hob an, ein Geschnatter und Gequietsche ertönte, sodass Cloud förmlich spüren konnte, wie sich die Nervosität der Soldaten weiter steigerte. Einer der Männer verlor vollends die Nerven und löste das Lasergeschütz seines Gleiters aus. Der Schuss ging geradewegs in den Himmel, weit entfernt von den empörten Vögeln ins Leere. »Jetzt, grabt!«, rief Jelto in das Chaos hinein, und wühlte sich tiefer in die breiter werdende Furche. Immer mehr der grünen Lianen reckten sich ins Tageslicht, fuhren über ihre Gesichter und Körper hinweg. Aylea schnaufte schwer und schluchzte. Ihr gesamter Körper zitterte, die Augen waren weit aufgerissen. Sie hyperventiliert!, dachte Cloud, und presste das Mädchen so fest wie möglich an sich. Kein Wunder, dass es der Zehnjährigen so schlecht ging - die Pflanzenstrünke und Lianen sonderten einen gelblichen, stinkenden Schleim ab, der ihn und die anderen mit einer lackähnlichen Schicht überzog. »Vertraut mir!«, sagte Jelto nochmals, als müsste er sich selbst Mut zusprechen. Doch dann, als sich vier überdimensionale Pflanzenschoten aus dem Untergrund befreit hatten und sich daran machten, sie einen nach dem anderen zu verschlucken, sah Cloud die Panik auch auf seinem Gesicht. Sie begaben sich freiwillig in die grünen Arme eines Pflanzenwesens, dem Menschenfleisch hervorragend schmeckte...
Das Maul der Schote klappte über Cloud zu. Fasrige Stränge umfingen ihn, banden ihn zu einem bewegungslosen Paket zusammen. Ströme von grauenhaft ekliger Flüssigkeit traten irgendwo aus, und überschwemmten seinen Leib. Sein Schrei erstickte. Ein Blatt, klebrig und süß schmeckend, legte sich über Mund und Nase. Er konnte flach atmen, sich aber kaum noch bewegen. Aber er konnte hören; scheinbar besser als zuvor! Als ob der Pflanzenkokon seinen Gehörsinn unglaublich sensibilisiert hätte. »Verdammte Vögel!“, fluchte der Besitzer jener Stimme, der offensichtlich den Oberbefehl über die mehr als ein Dutzend Antigrav-Gleiter innehatte. »Holt mir ein paar vom Himmel, damit die anderen flüchten!« Ein Ruck ging durch Clouds Schote, und er fühlte, wie ihn der Pflanzenkörper nach unten wegriss. Hinab ins Erdreich. Cloud spürte die anderen um sich: Scobee vor, die beiden anderen hinter ihm. Mit Sinnen, die er nicht kannte, empfand er die Anwesenheit seiner Begleiter. Die riesenhafte Pflanze, der KuanaBaum, vermittelte eine unglaubliche Verbundenheit mit ihrer Umgebung. Der Körper des außerirdischen Gewächses verzweigte sich weithin unter dem Erdboden. Das, was
an der Oberfläche zu sehen war, stellte nur einen Bruchteil dessen dar, was dieses außerirdische Gewächs eigentlich ausmachte. »Wir befinden uns jetzt im Wurzelwerk des Kuanas«, hörte er plötzlich Jeltos Stimme, »zwanzig Meter unter der Erdoberfläche. Wir sind außer Gefahr.« Das Pflanzenband um Clouds Mund löste sich, und gierig schnappte er nach zusätzlichem Sauerstoff. Aylea weinte unweit von ihm, völlig aufgelöst und hysterisch. Scobee versuchte, sie zu trösten doch ohne dem jungen Mädchen körperlichen Kontakt bieten zu können, würde es ihr schwer fallen, es zu beruhigen. »Wie geht's jetzt weiter?«, fragte Cloud den Florenhüter, und bemühte sich, die ungemütliche Situation zu ignorieren. Nach wie vor lag er im Inneren eines Fleisch verdauenden Kokons und war unfähig, etwas zu sehen oder sich zu bewegen. Zu allem Überfluss juckte es ihn überall. »Wir warten einfach ab, bis sich die Soldaten verziehen. Dann schickt uns der Kuana-Baum hoffentlich zurück an die Oberfläche. Cloud horchte alarmiert auf. »Hoffentlich?« »Es gibt ein kleines Problem«, antwortete Jelto zögernd. »Der Kuana ist, musst du wissen, halbintelligent. Er hat meine... unsere Notlage verstanden und uns angeboten, zu helfen. Allerdings...« »Allerdings?« Jelto zögerte lange. »Der Baum ist klug genug, um zu wissen, was ein Handel ist. Er hat uns nur unter der Voraussetzung vorübergehend aufgenommen, dass er einen von uns behalten und verdauen darf...«
Aylea hörte nicht auf zu weinen. Wahrscheinlich hatte sie die Worte Jeltos nicht einmal gehört, so sehr stand sie unter Schock. »Ihr braucht nicht um euer Leben zu fürchten«, erklang wieder die Stimme des Florenhüters, traurig diesmal. »Dieser Fluchtweg war meine Idee, und ich werde auch dafür bezahlen.« »Kommt gar nicht in Frage«, sagte Cloud, »uns wird schon eine Lösung einfallen.« Er fand sich selbst nicht sonderlich überzeugend, und Jelto lachte auch nur kurz und bitter auf. Minuten vergingen, wurden zu einer Viertelstunde und schließlich zu einer halben. Aylea beruhigte sich langsam dank der sonoren, beruhigend wirkenden Worte Scobees. Immer wieder vermittelte ihnen Jelto, was an der Erdoberfläche vor sich ging. Mit Hilfe seiner Gaben, die ihn nahezu eins mit Pflanzen werden ließen, sah, hörte, roch und schmeckte er das, was der Kuana-Baum empfand. »Ich glaube, dass die Soldaten aufgeben«, berichtete er. »Augenscheinlich resignieren sie und wollen an anderer Stelle weiter nach uns suchen.« Weitere fünf Minuten später sagte er: »Sie fliegen ab!« Es klang nicht erleichtert, im Gegenteil - es klang traurig. »Wir warten noch ein paar Augenblicke, dann wird euch der Kuana an die Oberfläche zurücktransportieren. Von dort aus müsst ihr alleine sehen, wie ihr zurechtkommt.« »Jelto...“, setzte Cloud zu einem Einwand an. »Nein, sag bitte nichts! Mein Entschluss steht fest. Ich habe euch in diese Situation gebracht, und ich werde euch wieder herausholen.« Verdammt, sie konnten doch den Florenhüter nicht einfach seinem Schicksal überlassen! Es musste einen Ausweg geben, es musste... Die Schote, die Cloud umgab, wurde unruhig. Sie bewegte sich leicht schlenkernd hin und her und sonderte einen stechenden Geruch ab. Die Luft war ohnehin bereits stickig geworden in dem engen Gefäß, und nun auch noch das... »Viel Glück«, erklang erneut die bittere Stimme Jeltos. »Nein!“
Der Kokon setzte sich in Bewegung. »Nein!«, schrien sie alle drei. Immer rascher fühlten sie sich steil nach oben transportiert. »NEIN!“ Und tatsächlich... Ihre Schoten stoppten. Von weit weg, von weit unten aus dem Erdreich, hörten sie Jelto aufgeregt rufen: »Der Amorphe ist wieder da! Mit etwas, das wie ein Transportmittel aussieht, wartet er im Wasser. Der Kuana-Baum wird euch möglichst nahe beim Wasser absetzen.« Erneut setzte sich Clouds Schote in Bewegung. Der Amorphe, der Cloud nach eigener Aussage von Sobek als Leibwächter zugeteilt worden war, wirkte bislang immer nahezu unbezwingbar. Konnten sie ihn dazu bewegen, Jelto aus dem Wurzelwerg des Kuanas zu befreien? Wahrscheinlich nicht... Der Amorphe war stets auf Cloud fixiert und sorgte sich ausschließlich um dessen Gesundheit. Jelto war Sobek und den übrigen Hirten - und damit dem Amorphen - sicherlich vollkommen egal. Ja, wenn ich dort unten... Ein irrer, ein wahnwitziger Gedanke kam Cloud. Doch dazu musste er selbst seine Freunde täuschen. »Jelto!«, brüllte er aus Leibeskräften, und wehrte sich mit allem, was er hatte, gegen die klebrige Umarmung der Faserbänder. »Jelto, schlag dem Baum ein Tauschgeschäft vor!“ Die Zugwirkung nach oben stoppte erneut. »Sag ihm, dass wir den Amorphen statt dir übergeben!“, fuhr Cloud fort. »Du kannst damit argumentieren, dass er größer und besser zu verdauen ist.« »Was... was willst du erreichen?«, erklang es leise, wie von einem Echo erzeugt. »Wie willst du dieses Ding dazu überreden, dass er in eine Schote einsteigen und sich opfern soll?« »Überlass das nur mir, Jelto! Tu, was ich dir sage! Und... sei überzeugend. Es geht um dein Leben!« Stille. Dann, nach fast einer Minute: »Der Kuana ist einverstanden. Ich hoffe, du weißt, was du tust...« Ja, das hoffe ich auch, sagte sich Cloud.
Nach der knappen Stunde, die er unter der Erde zugebracht hatte, roch die frische Meeresluft herrlich. Doch Cloud fand keine Zeit, um die wiedergekehrte Ruhe, die am Ufer herrschte, zu genießen. Ohne besonderes Zutun und ohne dass es ihn gesehen haben konnte, setzte sich das amorphe Wesen in Clouds Richtung in Bewegung. In einem Moment hatte es wie ein menschenähnlicher Monolith in der geöffneten Schleuse des fremdartigen Amphibienfahrzeuges gestanden. Im nächsten schien es zu schmelzen und verteilte sich großflächig auf der Oberfläche des Ozeans wie ein Ölfilm und bildete kleine Podien aus, die ihn wie mit einer Tausendschaft von Schiffsschrauben antrieben und in Blitzeseile an den Strand brachten. Cloud stieg aus der hochgeklappten Schote aus. Die Pflanze gab ihn nur äußerst widerwillig frei. Die Botschaft des Kuana-Baums war klar: Es wartete begierig auf die versprochene, größere Beute. Ein weiterer Kokon bohrte sich von unmenschlicher Kraft getrieben an die Oberfläche des Strandes. Die dunkelgrüne Klappe öffnete sich, und Jelto wurde sichtbar. Er war fest verschnürt, kaum bewegungsfähig. Es war wie ein Austausch zweier wichtiger Geiseln in einem Western. Aber würde der Amorphe mitspielen? Sicher nicht. Also gab es nur eines: Cloud musste ihn dazu zwingen. Das Wesen war am Strand angelangt. Langsam, fast bedächtig, verdichtete sich seine verteilte
Masse wieder zu einer humanoiden Form. Noch während es an Gestalt und Größe gewann, begann es, auf sie zuzustapfen. »Jelto, sobald ich >Jetzt!< rufe, befreist du dich unter allen Umständen. Wenn der Kuana fair spielt, wird er dich loslassen. Du achtest keineswegs auf das, was um dich herum passiert und versuchst, gemeinsam mit Aylea und Scobee so rasch wie möglich an Bord des Transporters zu gelangen. Hast du mich verstanden?« »Ja, aber...« »Ich will nichts hören, vor allem kein >Ja, aber<. Ist das klar? Ich weiß, was ich tue.« Natürlich wusste er es nicht. »Ja... ja«, stammelte Jelto. Er war sichtlich überfordert, den Tod so nahe vor Augen. Würde er richtig reagieren? Würde er gehorchen? Der Amorphe war fast heran. Noch sechs Schritte, noch fünf, vier... »Jetzt«, brüllte Cloud, und ließ sich zurück in die Schote fallen. Alles passierte nun rasch, fast gleichzeitig. Der Amorphe, der von Sobek offenbar die Weisung erhalten hatte, Clouds Leib und Leben unter allen Umständen zu schützen, warf sich ihm hinterher. Jelto kam frei. Er hatte rasch und richtig reagiert. Scobee und Aylea schrien entsetzt auf. Außerdem klappte die Schote zu und begann, Cloud erneut mit ihren Faserblättern einzuwickeln. Diesmal allerdings unter dem Einsatz ihrer säurehaltigen Verdauungsflüssigkeit. Da jedoch spürte er, wie sich die kalte Form des Amorphen über ihn legte wie eine Schutzschicht. Sie umfing ihn, bildete eine Art Exoskelett, um ihn vor jeglicher Bedrohung zu bewahren - und übernahm gleichzeitig die Kontrolle über seine Bewegungen! Es funktioniert!, dachte Cloud. Vorerst war er sicher. Dennoch schüttelte er sich innerlich. Er hasste es, wenn er zur Marionette des Amorphen wurde. Die Schote zog sich zurück und riss ihn mit sich hinab ins Erdreich. Doch die Beute, die sie diesmal mit sich führte, würde den Tod bringen...
»Du hast den Baum betrogen«, schrie ihn Jelto an, als Cloud mit Hilfe des Amorphen zur Schleuse des Amphibienfahrzeugs schwamm. »Du hast ihn getötet!« Das Wesen umgab Cloud noch immer wie ein Panzer und verstärkte jede seiner Muskelbewegungen ums Zehn- oder Zwanzigfache. Fast spielerisch hatte sich Cloud aus der Schote befreit, und wie ein Berserker hatte er Wurzeln, Stamm, Lianen, Kokons und Fühler des weit verzweigten Baumes zerrissen und zerfetzt. Ohne willentliches Zutun. Der Amorphe hatte seinen Körper gesteuert wie eine Maschine. Mühelos hatte er sich nach oben gegraben, die immer schwächer werdenden Angriffe des Kuanas abgewehrt und ihn schließlich mit einem mächtigen Ruck entwurzelt. »Wäre es dir lieber gewesen, wenn der Baum mich verdaut hätte?« fragte Cloud knapp, während der Amorphe langsam von ihm abtropfte und ins Innere des Transporters strömte. »Oder hättest du lieber sterben wollen?« »Ja... ,nein! Aber Tatsache ist, dass du falsch gespielt und das Vertrauen des Baumes missbraucht hast.« Cloud legte dem Florenhüter eine Hand auf die Schulter. »Jelto«, sagte er eindringlich, »Schlussendlich ist es doch nur ein Baum. Eine Pflanze, bestenfalls ein halb bewusstes Lebewesen. Und ich hatte eine Entscheidung binnen weniger Momente zu treffen. Dein Leben erschien mir wesentlich wichtiger als das des Kuanas. Es gibt noch so viele dieser Bäume auf der Erde...« »Nur ein Baum...«, entgegnete Jelto kalt. »Diese Bäume kommunizieren miteinander. Der
Todesschrei dieses einen Kuanas wird über die ganze Welt reisen. Alle seine Brüder werden wissen, dass er durch Verrat gestorben ist. Und alle werden wissen, dass ich, Jelto, an diesem Betrug beteiligt gewesen bin.« Er wandte sich ab und sprang ins Innere des fremden Fahrzeugs. »Nie wieder wird mir ein Kuana sein Vertrauen schenken...“ 3. John Cloud: Im Warrikk Cloud atmete tief durch und blickte sich im Inneren des amphibischen Transportmittels um. Es ähnelte wie ein Ei dem anderen jenem Fahrzeug, das sie vor wenigen Tagen an der chinesischen Küste abgesetzt hatte. Es war ein Warrikk. Das Wort - andersartig und dennoch so vertraut - hatte sich unauslöschlich in seine Erinnerung gebrannt. Er blickte Scobee an und erkannte das Flackern in ihren Augen. Sie hat Angst vor mir. Sie versteht nicht, dass das Fahrzeug mich akzeptiert, und sie versteht nicht, dass ich Wissen über die Funktionsweise des Dings besitze. Einiges - nein! Vieles - hatte sich in den letzten Tagen und Stunden zwischen ihnen beiden geändert. Noch an Bord der neuen RUBIKON hatte sich Cloud eingebildet, dass sie endlich eine gemeinsame Basis gefunden hätten. Doch diese Illusion war schnell geplatzt. Clouds unheimliches Wissen über die Technologie der Hirten einerseits und andererseits Scobees gentechnisch gesteuertes Vorgehen, wenn es um Reuben Cronenberg und seine Pläne ging, hatten zu einer deutlichen Abkühlung des Verhältnisses zwischen ihm und der Frau geführt. Sie hat mich verraten!, rann es heiß durch Clouds Gedanken. Doch sofort rief er sich zur Ordnung. Sie kann nichts dafür. Außerdem... Eine scheinbar zufällige, sanfte Berührung, ein gleichzeitig ausgesprochener Gedanke, gemeinsames Gelächter - vieles sprach dafür, dass sie sich mochten. Sehr mochten. Doch wie, wann und wo sollten sie sich über ihre Gefühle im Klaren werden, wenn sie die Macht des Schicksals vor sich hertrieb? Hatte er denn seit dem Betreten des Mars Zeit und Muße gehabt, über ihr einzigartiges Los nachzudenken, das sie quer durchs Universum geschleudert hatte? Cloud seufzte. Scobee sah ihn an und wandte ihren Blick rasch wieder ab. Sie schämte sich. Sie schämte sich für etwas, was in ihren Genen gespeichert gewesen war. Reuben Cronenberg, ehemaliger Chef der NCIA, war über Raum und Zeit hinweg immer ihr Beherrscher gewesen. Ein genetisch verankerter Befehl hatte Scobee gezwungen, stets sein Wohlergehen und seine Sicherheit an die oberste Stelle ihres Handelns zu setzen. Solange sie ihn sah oder in ihrer unmittelbaren Nähe wusste, hatte sie keinen freien Willen. Und als sie ihn schlafend im Stasetank liegen sah, konnte sie nicht anders: Sie musste ihn befreien und war ihm danach ein - unwilliges? - Werkzeug gewesen. Hatte sie gegen die Konditionierung angekämpft? War in ihrem Denken zumindest der Wille zum Widerstand vorhanden gewesen? Cloud wusste es nicht, und Scobee antwortete auf keine seiner Fragen. Doch es war ihr anzusehen, dass gewisse Selbstzweifel zu einem neuen Bestandteil ihres Charakters geworden waren. Und er selbst bediente die Gerätschaften des Warrikks, als hätte er seinen Lebtag lang nichts anderes getan. Es ging zurück zur Tiefseestation der Hirten, die nordwestlich lag, knappe fünfhundert Kilometer voraus. Ein roter Punkt blinkte auf einer radarähnlichen, holografischen Anzeige vor ihm.
Sie war das einzig sichere Versteck, das er sich im Feindesland, auf der ihm fremd gewordenen Erde der Erinjij, vorstellen konnte. Und die Station war möglicherweise der Ausgangspunkt für eine Flucht, die sie weit weg vom Herrschaftsbereich der größenwahnsinnig gewordenen Keelon bringen konnte. Eigentlich war es die Wahl zwischen Teufel und Belzebub, die er gerade für sie alle traf. Waren die Hirten, so sie überhaupt noch körperlich existierten, mit ihrer überheblich und bösartig wirkenden Präsenz denn besser als die Keelon? Würden sie ihn überhaupt akzeptieren und an Bord der Tiefseestation lassen? Eines sprach deutlich dafür: Der Amorphe hatte ihm das Warrikk gebracht und zeigte sich - vorerst - damit einverstanden, die Reise zurück zur Basis der Hirten fortzusetzen. Warum wusste er - John Cloud - nur über diese so unheimliche, unverständliche Technik in dem jeepähnlichen Amphibienfahrzeug derart genau Bescheid? Er hatte keine Ahnung. Mit todsicherem Instinkt fuhr Cloud über einen grünlich leuchtenden Sensor, und das Fahrzeug beschleunigte oder bremste. Ein simpler Befehl von ihm, bestehend aus rollend ausgesprochenen Konsonanten einer fremden Sprache, erzeugte einen leicht flimmernden Tarnschild. Zweimal mit der Zunge geschnalzt und gleichzeitig an einer frei schwebenden, handgroßen Kugel gedreht, und das schummrige Licht im Inneren des Warrikks wurde etwas heller. Aylea, das Mädchen, blickte ihn blass und erschrocken an. Sie war zäh, und sie war tapfer. Doch irgendwann musste all das, was in den letzten Tagen über sie hereingebrochen war, Auswirkungen auf ihre Psyche haben. Schließlich war sie noch ein Kind. Sie war unsanft aus ihrem Traum, aus ihrer Utopie, geweckt worden. Sie hatte erfahren, dass die Erinjij, also die Menschen, auf fremden Planeten unglaubliche Gräueltaten an Fremdrassen begingen. Sie war in ein Getto ausgestoßener Menschen verschleppt worden, hatte erneuten Verrat durch einen Vertrauten erleben müssen. Sie hatte schließlich erfahren müssen, wer wirklich hinter all dem steckte. Wer die Erde und ihre Bewohner seit mehr als zweihundert Jahren in unbarmherzigem Griff hielt. Und schließlich die Flucht, die ständige Angst vor den Verfolgern, das Erlebnis mit dem KuanaBaum... Cloud gab Scobee einen unauffälligen Wink, dass sie sich um das Mädchen kümmern sollte. Aylea war zwar hochintelligent und hatte einen faszinierend scharfen Verstand - und dennoch war sie in diesen Minuten und Stunden nur ein kleines Mädchen, das Trost benötigte. Hindernisse der besonderen Art tauchten vor ihnen auf: Pottwale, eine ganze Schule, die sich im grünblauen Wasser tummelten, vielleicht zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche. Sie sangen, und sie spielten. Zu meiner Zeit waren sie praktisch ausgestorben. Nur in einem riesigen Reservat lebten noch einige mehr schlecht als recht. Jelto, der Florenhüter, sah ihren eleganten Drehungen, Pirouetten und Wendungen fasziniert zu. Er saß in jenem Sitz des Warrikks, der am weitesten von Cloud entfernt war. Er war ein seltsamer Mensch, der große, dürre Mann. So wie Scobee waren seine Gene auf eine spezielle Aufgabe hin gezüchtet worden. Er konnte mit Pflanzen kommunizieren. Doch mit Menschen, mit anderen seiner Art, tat er sich viel schwerer, und manchmal kam er Cloud wie einer vor, der wesentlich unfertiger und unreifer als die junge Aylea war. Er hatte kaum einmal Kontakt zu Artgenossen gehabt, war zeit seines Lebens immer nur von Bäumen und Pflanzen umgeben gewesen, und benahm sich dementsprechend unbedarft im zwischenmenschlichen Bereich. War es ein Wunder, dass er Eigenschaften wie Verrat, Neid, Missgunst nicht oder kaum kannte und deshalb überzogen reagierte, wenn er ihnen begegnete? Nun, das würde sich einrenken, dessen war sich Cloud sicher. Er hatte den »Verrat« am KuanaBaum nur begangen, um dem Florenhüter das Leben zu retten. Jelto würde das irgendwann einmal
einsehen. Einsehen müssen. Mit einer nur leicht angedeuteten Drehung an der zentralen Steuerkugel brachte Cloud das Warrikk dazu, tiefer zu gehen. Hinab ins Schwarz der Tiefsee. Wo war der Amorphe? Cloud blickte sich suchend um und fand ihn sofort. Oben an der semitransparenten Decke des Warrikks klebte er, verteilt über mehrere Quadratmeter. War er denn ein... Lebewesen? Dass er Verstand hatte, hatte er schon mehrmals bewiesen. Doch besaß er auch ein Bewusstsein? Cloud bezweifelte es. Der Amorphe kam ihm wie ein leeres Gefäß vor, das darauf wartete, von einer Seele erfüllt zu werden. Nur in einigen seltenen Augenblicken war sich Cloud da plötzlich nicht mehr so sicher. Doch auch so war ihm das Wesen ein unschätzbarer Partner und Helfer gewesen. Mehr als einmal hatte es ihn und die anderen unterstützt und sie aus prekären Situationen befreit. Der Amorphe behauptete, im Auftrag der Hirten und insbesondere jenes Wesens namens Sobek zu handeln, dass sie aus der neuen RUBIKON vertrieben hatte. Es bezeichnete sich und Cloud als dessen Kundschafter. Cloud steuerte immer tiefer hinab. Der Kontinentalschelf endete hier. War es Nordamerika, vor dessen Küste sie sich nun bewegten? Er nahm es an, und wusste es doch nicht. Zu viel hatte sich in den letzten zweihundert Jahren geändert. Die Landmassen fielen abrupt in eine Tiefe von eintausend und mehr Metern ab. Zur Sicherheit wollte er das Warrikk weit hinabsteuern. Er kannte die technischen Möglichkeiten der Keelon, der unheimlichen, zeitbeherrschenden Besetzer der Erde, zu wenig. Sie waren beachtlich, das wusste er von Darnok. Dieser Keelon, der von seinem eigenen Volk betrogen worden war, war so etwas wie Clouds Freund. Und ich habe ihn in der Gefangenschaft zurückgelassen, überlegte Cloud, wohl wissend, dass er es nicht hätte ändern können. Er wusste nicht, ob die Keelon das Warrikk der Hirten orten konnten? Würden sie ihn und seine Begleiter weiter verfolgen? Cloud musste die Risiken minimieren. Er dachte nochmals zurück an die letzten Tage, Wochen und Monate. Seine Wege und die Scobees waren verschlungen. Sie hatten ihn weit hinaus ins Weltall verschlagen, in eine fremde Zeit, an unglaublich fremde Orte. Und dann hatte sie das Schicksal zurückgetrieben zu ihrem Ursprung, zurück zur Erde. Getrieben war das richtige Wort. Sie beide hatten kaum einmal entscheidenden Einfluss auf ihr Leben nehmen können. Zu oft waren sie Spielbälle mächtiger, überlegener Wesen gewesen. Doch das sollte sich entscheidend ändern. Das musste sich ändern. Von nun an, so schwor er sich, würden er und Scobee die Dinge aktiv in die Hand nehmen...
»Da stimmt was nicht«, murmelte Cloud, und fuhr sich müde über die Augen, »da stimmt was ganz und gar nicht.« »Was meinst du?«, fragte Scobee, die wieder ihren Platz neben ihm eingenommen hatte. Sie hielt Distanz. In allen Belangen. »Die Instrumente des Warrikk zeigen im Umkreis von zwanzig Kilometern Unregelmäßigkeiten.« »>Unregelmäßigkeiten< ist ein äußerst unpräziser Begriff«, sagte die Frau kühl. Die dunklen Tätowierungen, die sie anstatt der Augenbrauen trug, zogen sich langsam nach unten. Eine tiefe Falte bildete sich an ihrer Nasenwurzel und gab ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck. Sie sieht bezaubernd aus, wenn sie so ernst blickt, dachte Cloud irritiert, und versuchte, sich auf die Anzeigen des Amphibienfahrzeugs zu konzentrieren.
»Die Wasserdichte nimmt an eng begrenzten Stellen zu«, sagte er betont nüchtern. »Die Temperatur schwankt zwischen 3 und 28 Grad Celsius, und das in einer Tiefe von achthundert Metern. Ich sehe... hm... riesige Schwärme toter Fische. Und... Wenn's nicht so verdammt ernst wäre, würde ich ja darüber lachen - aber zwanzig Kilometer voraus treibt ein Hochhaus vorbei. Bauweise Ende des letzten... ich meine natürlich des zwanzigsten Jahrhunderts. Nahezu völlig intakt.« Cloud blickte die GenTec an. »Also«, fragte er bissiger als er wollte, »fällt dir ein besserer Begriff als >Unregelmäßigkeiten< ein?« Scobee wirkte völlig entgeistert. Ihr entglitten die Gesichtszüge, und Panik war zu sehen. »Ich weiß ein Wort«, sagte sie, blass geworden. »Zeitfelder. Das sind Zeitfelder der Keelon. Sie schaffen hier unten unterschiedliche Zeitebenen, um uns zu vernichten.« »Mein Gott, du hast Recht«, flüsterte Cloud. »Wir müssen so rasch wie möglich verschwinden.« Hastig drückte, schob und betätigte er irgendwelche Knöpfe und Sensoren, die er instinktiv in ihrer Funktion begriff. Das Schutzfeld, der Energieschirm, verstärkte sich, und die Geschwindigkeit des massigen Fahrzeugs nahm deutlich zu. Er zog das Warrikk nach oben, nur raus aus der unheimlichen Zone. Die Zeitfelder, scheinbar völlig willkürlich geschaltet, tauchten immer näher an ihrem plötzlich so fragil wirkenden Fahrzeug auf. Manche nur wenige Meter groß, andere mit einer Ausdehnung von mehreren Kubikkilometern. Cloud fluchte und schimpfte. Er konnte kein Muster, kein System hinter den Zeitfallen erkennen. Es gab wieder mal keine Möglichkeit, die Dinge zu beeinflussen. Wie sehr er Situationen wie diese hasste! Seit er die RUBIKON I auf dem Mars verlassen hatte, war es ihm kaum anders ergangen als jetzt. Er musste reagieren statt zu agieren. Hatte er sich erst nicht vor wenigen Momenten vorgenommen, daran etwas zu ändern? Cloud straffte sich. Nein! Er war auf seiner Odyssee nicht so weit gekommen, um sich schließlich von einem dreimal verfluchten Zeitfeld in seine atomaren Bestandteile zerwirbeln zu lassen... Kaum war der unheilige Schwur zu Ende gedacht, fielen sie in ein riesiges Loch aus massiv verdichteter Atmosphäre, das hier unten, in sechshundert Metern Seetiefe, nichts zu suchen hatte. Cloud und seine Begleiter verloren schmerzhaft das Bewusstsein... 4. Atma: Keelopolis, vor wenigen Wochen Das Ziel war so nah - und doch so fern. Wie genau definierte man Zeit?, überlegte Atma zum wiederholten Male. War sie eine präzise gemessene Abfolge von Augenblicken, wie manche Völker des Universums dachten? Eine mathematische, unveränderbare Größe? Oder war sie etwas, das den Raum erfüllte und belebte, was andere Rassen behaupteten? War Zeit dadurch existent, dass etwas geschah, und auch nur dort, wo etwas geschah? War sie vielleicht eine Substanz, greifbar und formbar...? Atma und ihre keelonischen Artgenossen hatten mehr Zugang zu dieser Thematik als jedes andere Wesen im Universum. Sie konnten sich an Zeitlinien entlang hangeln und mit Hilfe eines Phantomorganes, dem so genannten Magoo, in die Vergangenheit reisen. Wenn Atma sich vorstellte, an einen bestimmten Zeitpunkt zurückreisen zu wollen - dann geschah es so. Nur mit der Kraft ihrer Vorstellung, solange diese Kraft denn reichte. Doch bislang war es noch keinem Keelon gelungen, die Zeit als greifbare Substanz darzustellen, sie zu formen. Atma griff mit einem ihrer grauen Handlungsstrünke sehnsüchtig verlangend nach einem HoloBild, das ein Stasisfeld simulierte, in der sich Zeitsubstanz hin und her wand. Losgelöst vom Schabernack thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten und physikalischer Bedingungen.
Sie musste unglaublich schön sein, diese Zeit, die nur für sich selbst existierte, ohne Nutzen und Zweck. Die Optimale Zeit. Was waren das nur für Narren, weit weg, die in ihren Türmen - die Menschen hätten sie Elfenbeintürme genannt - ihre Spielchen um Macht und Besitztum spielten? Warum verinnerlichten sie nicht so wie sie und ihr Kreis die Suche nach der Optimalen Zeit als das erstrebenswerteste Ziel, dem ein Keelon nur nacheifern konnte? Atma schaltete enttäuscht das Holo-Bild ab und verließ das spartanisch eingerichtete Zimmer, das sie derzeit mit drei anderen Keelon teilte. Vielleicht würde sich ihre Laune bessern, wenn sie in der Agora, der großen Versammlungshalle, an einer Diskussionsrunde um Zeitphilosophie teilnahm.
Die Agora war der größte Raum der Stadt. Sie hatte sechzehn Meter Durchmesser und war nahezu kreisrund. Sie war in Form eines Amphitheaters gebaut, mit stufenweise aufsteigenden Sitzen, auf denen sich um diese frühe Zeit bereits mehrere Dutzend Keelon tummelten. Viele hielten ihre Strünke in Kristallgläser, die mit Salzwasser gefüllt waren, und ließen sie von kleinen, irdischen Fischen pflegen. Eine der vielen Annehmlichkeiten, die sie auf dem herrlich blauen Planeten zu genießen gelernt hatten. Atma grüßte freundlich in die Runde und konzentrierte sich schließlich auf den Keelon, der soeben die Bühne betrat. Höfliches Strunkklopfen ertönte, dann erhob Perspe die Stimme. Tief und sonor sprach er, aber auch monoton und einschläfernd. Er erzählte von seinen aktuellen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Zeitaufschneiderei. Zeitaufschneiderei war ein neuer, esoterisch anmutender Wissenszweig, der sich mit der Deutung der Zeit anhand der Bewegung von Sternen beschäftigte. Atma hielt dieses Wissensgebiet für reinen Humbug, schließlich bewegten sich die Sterne von der Erde aus gesehen anders, als von ihrem Heimatplaneten Roogal aus. Sie hütete sich aber, öffentlich ihre Stimme zu erheben. Schließlich war sie lediglich Erste unter Gleichen in ihrer kleinen Kommune, und ein falsches Wort zur falschen Gelegenheit konnte die Gesamtstimmung negativ beeinflussen. Die Keelon hatten sich in den vergangenen zweihundert Erdjahren intensiv mit den Menschen beschäftigt, jenen Ureinwohnern der Erde, die nun unter der Leitung ihres Volkes zu neuen Höhenflügen aufbrachen. Kein Wunder also, dass Maße und Begriffe wie Meter, Dutzend, esoterisch oder Kommune in ihrem Wortschatz Einzug gefunden hatten. »...und so ist die Konstellation der Gestirne von eminenter Bedeutung für das Schicksal der Erdbewohner«, sagte Perspe bedeutungsvoll. »Und was ist denn Schicksal? Nichts anderes als das Ergebnis, die Summe verlaufender Zeit unter geringfügigen räumlichen Einflüssen. Und Zeit, wie wir - bis auf ein paar Zweifler unter uns - wissen, ist eine formbare Substanz. Etwas, das wir hoffen, schon bald steuern zu können.« Perspe hüstelte wichtigtuerisch und richtete all seine Augen auf die mittlerweile gelangweilte Zuhörerschaft. »Beachtet bitte die logische Kette, die ich euch zweifelsohne eindrucksvoll darlegen konnte! Haben wir die Zeit endlich vollends im Griff, ist auch das Schicksal nicht nur der Lebewesen, sondern auch der Gestirne steuerbar... So ein Mist!, dachte Atma, und applaudierte höflich mit drei ihrer Strünke. Der Zuspruch für Perspe war gering, und der Zeitaufschneider würde sicherlich den passiven Widerstand spüren, der ihm entgegenschlug. Doch sie waren alle eins, eine große Gemeinschaft, und jede Meinung zählte. Sie durften niemanden ausgrenzen, so sah es die Doktrin von Keelopolis vor. »Kommst du heute Abend zu mir?«, hörte Atma eine bekannte Stimme neben ihr. Sie schreckte hoch.
Hapmen hatte es sich in einer Nachbarkuhle bequem gemacht. Mit fiebrig umherfuchtelnden Strünken versuchte er, an ihr Bauchfell zu gelangen, um es zu streicheln. Im Grunde war er ihr widerlich. Er drückte, quetschte und kratzte über ihr Fell, sodass sich all ihre Strünke vor Abscheu einrollten. Und er stank nach gewürztem Hannkraut. Der intensive Geruch strömte zwischen dem kaum einmal ruhig bleibenden Gewirr seiner Podien hervor. Sein Bauchfell war verfilzt und struppig, die Haut ungepflegt und gelblichgrün. Dies waren die sicheren Anzeichen einer durchzechten Nacht. Manche Narkotika und Rauchstoffe der Menschen hatten in Keelon-Kreisen starken Anklang gefunden. »Nein danke, mein Lieber, ich werde heute noch arbeiten«, sagte sie hastig, und bemühte sich, ihren Abscheu nicht offen zu zeigen. »Arbeiten, arbeiten«, quetschte Hapmen enttäuscht hervor, »immer nur arbeiten. Wir sind doch die Vordenker und Philosophen des Keelontums, und es ist eine Schande, wenn wir uns die Glieder mit primitiven, niederen Tätigkeiten dreckig machen.« Dann müsstest du heute eine ganze Menge gearbeitet haben, denn schmutzig bist du wie eine ganze Horde Springwölfe, dachte sie. Widerwillig freundlich winkte Atma ihm zu und erhob sich. Ihr Rückzug in die Arbeitshalle glich einer Flucht.
Die Aufgabe, die Optimale Zeit zu erfassen und zu formen, war schwierig, anstrengend - und möglicherweise unlösbar. Oberstes Ziel war es, mit Hilfe der Optimalen Zeit Fangfelder auszustrahlen, die Wesen aus allen Epochen der Universumsgeschichte in die Gegenwart holen konnten. Es wäre nicht nur wesentlich weniger anstrengend, es wäre auch weit ungefährlicher, als durch das Magoo selbst in die Vergangenheit zu reisen. Seit nahezu fünfzig Erdjahren arbeiteten sie nun, um dieses Ziel zu erreichen. Immer wieder hatten sie ihre theoretischen Ansätze überdenken müssen, doch allmählich zeichneten sich erste Fortschritte ab. Erfolge, die sie den stolzen Mächtigen in ihren Türmen präsentieren wollten. Sie wollten beweisen, dass sie nun mal keine lebensfremden Keelon waren, die sich hierher zurückgezogen hatten, um sich wirren Tagträumen hinzugeben. Zumindest Atma wollte dies, und ihr Ehrgeiz war groß. »Willst du dem heutigen Versuch beiwohnen?«, fragte sie eine helle Stimme. Atma drehte sich höflich auf ihren Marschierstrünken um. Cardescha, ihre Schwester, die zwei Jahre früher das Licht der Welt erblickt hatte, stand vor ihr. Der weiße Arbeitskittel wirkte lächerlich an ihr. Sie war viel zu zart und fragil für das Kleidungsstück. Doch es war ihr Spleen, wie eine ernsthafte Wissenschaftlerin zu wirken, und Atma musste das respektieren. »Ja, ich möchte mich in den Verbund einfügen«, sagte sie. »Wie viele sind heute zur Arbeit gekommen?« »Sechzehn«, antwortete Cardescha stolz. »Eine Quote von mehr als zwölf Prozent. Ich glaube, dass der Arbeitswillen in unserer Kommune langsam zunimmt. Ach, dieses kleingeistige Schwesterchen! Am liebsten hätte Atma ihre Kollegen und Genossen zur Arbeit gepeitscht. Ein qualitativ hochwertiger Zeitverbund machte doch erst ab zwanzig Keelon wirklich Sinn! Doch eine diesbezügliche Forderung nach höherer freiwilliger Arbeitsleistung war bei einer Versammlung in der Agora mangels Einstimmigkeit abgelehnt worden. Damals waren ihr erstmals leise Zweifel an der Beschlussfähigkeit der Kommune gekommen, die heutzutage immer mehr an ihr nagten. »Nun, das freut mich, Cardescha. Du leistest gute Arbeit. Ich bin stolz auf dich.« Was sollte sie denn sonst zu dem halb debilen Wesen sagen, dass viel zu früh zur Welt gekommen war, und ein
kaum ausgebildetes Magoo besaß? Ihre Schwester sprang beinahe mit ihren unförmigen Strünken auf und ab vor Freude über das Lob, und führte sie dann stolz in den Versuchsraum. Es war dunkel, und die übliche statische Aufladung war spürbar. Einige Terawatt an Energie wurde aufgewandt, um die Rahmenbedingungen für das Experiment zu schaffen. Der Energieträger, ein unförmiger Körper mit einem Durchmesser eines Keelonleibes, schwebte frei in der Mitte des Raumes. Er glühte leicht, strahlte aber keinerlei Hitze ab. »Setz dich, setz dich«, sagte Cardescha, und wies ihr einen Platz zu. Fünfzehn mehr oder minder lustlose Keelon saßen um den Energieträger und hielten sich an den Strünken. »Ich habe gelesen, dass manche Menschen in diesen Situationen ein rituelles Mantra aufsagen, um ihre Konzentration zu steigern und die wahre Buddha-Schaft zu erreichen«, sagte Kermal neben ihr. Beim Dreigestirn - schon wieder ein Schwachsinniger! Kermal war berüchtigt dafür, auf der Suche nach dem eigentlichen Ich zu sein. Doch seit Jahr und Tag wechselte er von einer irdischen Religionslehre zur nächsten, ohne an sein Ziel zu gelangen. Atma erinnerte sich nur zu gut an die Phase, als er sich selbst rituell in einer hastig organisierten Bar-Mizwah-Zeremonie beschneiden wollte, und keine Ahnung hatte, wo er denn den Schnitt ansetzen sollte. Am nächsten Morgen hatte sich die Tragik fortgesetzt, als er zum radikalislamischen Glauben überwechselte und sich für den vergangenen Tag hasste. Beinahe hätte er sich selbst getötet. Wäre vielleicht besser gewesen, dachte Atma, erwiderte jedoch nichts. Sie berührte den gereichten Strunk nur ganz leicht, als ob Kermals religiöser Wahn ansteckend sei. Der Keelon rechts neben ihr war ihr gut bekannt. Sagtar, eine Fanatiker der Lehre von der Optimalen Zeit. Er war ein Mann, wie sie viele gebraucht hätte. Er glaubte an das große Ziel, war extrem darauf fokussiert und würde alles tun, um es zu erreichen. Sein Magoo war zudem stark ausgeprägt. Die roten Augen leuchteten in der Dunkelheit. Ein Gong ertönte, und das unruhige Gemurmel nahm ein Ende. Atma griff fester nach den Strünken ihrer beiden Liegenachbarn. Cardescha, die Schwester, sagte: »Ich erhöhe jetzt den Energiefluss langsam. Beim gestrigen Test waren wir bei 10,2 Terawatt angelangt, und das Ergebnis war bemerkenswert. Einige semimaterielle Manifestationen erschienen rund um den Energieträger. Menschen, Bewohner der Erde, allesamt aus der Vergangenheit, wie wir anhand der Kleidung feststellen konnten! Doch einige Teilnehmer des Verbundes beklagten bald bohrende Schmerzen im Magoo, und wir brachen ab.« Da schau her!, dachte Atma überrascht. Ihr Bauchfell sträubte sich zuerst vor Freude, doch abrupt änderte sich ihre Stimmungslage wieder. Warum bin ich über diese Fortschritte nicht informiert worden? »Nachdem wir aber heute um vier Teilnehmer mehr sind«, wieder schwang unbändiger Stolz in Cardeschas Stimme mit, »werden wir zweifelsohne noch mehr Erfolg erzielen als gestern! Ich bitte euch um höchste Konzentration...« Ihre Stimme wurde leiser und verebbte schließlich ganz. »Om mani padme hum«, tönte es zu ihrer Linken, »om mani padme hum«. Atma presste den Strunk des Schwachsinnigen so fest sie nur konnte. Ein kurzer Schmerzensschrei ertönte, dann herrschte wieder Ruhe. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihr Magoo, auf das Zeitorgan. An den Haken, der scheinbar in ihrem Leib verankert war und nach vergangener Zeit griff. Sie spürte den Druck in sich wachsen. Der Drang, aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu wechseln, wurde stärker und stärker. Atma war mittelmäßig begabt im Zeitspringen, doch in Verbünden wie diesen erreichte sie stets ihre besten Leistungen. Das Geheimnis bestand darin, den richtigen Moment abzuwarten, um dann loszulassen. Alle gemeinsam mussten sie loslassen... In ihrem Fall allerdings nicht, um einige Jahre in die Vergangenheit gerissen zu werden, sondern um das aufgestaute Zeitpotenzial im letztmöglichen Zeitpunkt in Richtung des Energieträgers zu schleudern.
Kermal stöhnte auf. Er war nahezu am Ende seiner Kräfte. Cardescha, auf der anderen Seite des geschlossenen Verbundes, wand sich vor Schmerzen am Boden. Es war bemerkenswert, wie sie die Qual der Vereinigung auf sich nahm, nur um der älteren Schwester zu gefallen. Alle zitterten und schrien sie nun. Alle, bis auf Sagtar. Er hatte die Rolle des Führers übernommen und bündelte die gebildete Zeitenergie in sich. Er zögerte das Loslassen hinaus, immer mehr, immer weiter... Rund um sie wanden und wälzten sich die Keelon in den Ruhekuhlen, manche an der Kippe fast bis zur Ohnmacht, doch mit einem unglaublichen, eisernen Willen hielt Sagtar sie bei der Sache. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, leierte Atma in Gedanken vor sich hin, om mani padme hum, om mani padme hum... »Jetzt!«, schrie Sagtar mit dem heiligen Zorn des Besessenen, und ihrer aller Magoo entleerte sich binnen Sekundenbruchteilen, völlig fokussiert auf den mit unglaublichen Energiemengen angereicherten Trägerkörper. Ein sichtbarer Strahl entstand! Er fuhr in den Körper, entflammte ihn, zerfetzte ihn. Eine Gestalt materialisierte vor ihnen. Eine menschliche Gestalt! Anfänglich war sie noch transparent, doch sie gewann rasch und sichtlich an Masse. Sie schrien, alle sechzehn Keelon brüllten von unglaublichem Schmerz erfüllt. Und voll des Triumphes. Denn vor ihnen lag und bewegte sich ein Mensch. So lebendig wie sie, doch aus einer anderen Zeitepoche stammend. Das Experiment war gelungen... 5. Cloud: Gegenwart Cloud erwachte mit gewaltigem Schädelbrummen. Er fühlte sich, als hätte eine Horde Elefanten mit seinem Kopf Fußball gespielt. Langsam richtete er den Oberkörper auf. »Autsch!“, murmelte Cloud und kniff die Augen wieder zu. Grelles Licht blendete ihn. Schmerzwellen durchfluteten seine Brust. Langsam kam die Erinnerung an die letzten bewusst erlebten Minuten zurück, an die Anomalien, die sie in der Tiefsee gesehen und erlebt hatten. Cloud tastete blindlings nach den Bedienungselementen des Warrikks, die er vor sich wusste. Doch da war nichts! Cloud öffnete die Augen, blinzelte mehrmals, um sich an das helle Licht der Umgebung zu gewöhnen. Es roch anders als zuvor. Sehr intensiv, sehr schwülstig. Zudem herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, und der graue Overall, den ihm Darnok geschenkt hatte, klebte an seinem Körper. Endlich, endlich schaffte er es, die Augen ganz zu öffnen - und fand sich im Dschungel wieder. Mehrere riesige Orchideen, mit Stielen von mehr als einem Meter Länge, beugten sich zu ihm hinab. Feinster Blütenstaub war auf seine Uniform herabgerieselt und hatte ihn über und über bedeckt. Die Farbenvielfalt, in der sein Overall glitzerte, war unglaublich. Die Sicht nach oben blieb getrübt. Riesige Farnblätter und ein Wirrwarr an Lianen erlaubte ihm kaum mehr als einen kleinen Fleck des Himmels zu erblicken. »Verdammt, was soll denn das schon wieder?«, knurrte er und sprang hastig auf. Das hätte er besser nicht tun sollen. Sofort waren die bohrenden Kopfschmerzen wieder da. »Cloud?«, hörte er die fragende Stimme Scobees unweit von sich. Er drehte sich langsam um, vorsichtig darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Frau kniete hinter ihm. Sie war anscheinend zum gleichen Zeitpunkt wie er aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Sie reichte ihm Hilfe suchend die Hand. Ächzend zog er sie hoch und umschlang sic mit den Armen, damit sie nicht wieder stürzte.
Da standen sie nun, aneinander gelehnt, matt und entkräftet, als hätten sie einen langen Ausdauersprint hinter sich. »Du kannst mir wohl auch nicht sagen, wo wir uns gerade befinden?«, fragte er und fokussierte seinen Blick auf das Gesicht seiner Gefährtin. Langsam gelang es ihm, das Gefühl des Schwindels aus seinem Körper zu bannen. »Keine Ahnung.« Scobee schüttelte sich. Sie erholte sich rasch, viel schneller als er. Die regenerativen Kräfte des gentechnisch verbesserten Körpers waren unbegreiflich für ihn. »Du kannst mich im Übrigen jetzt freilassen«, sagte sie kühl. »Oh, ja, natürlich«, erwiderte er erschrocken, und ließ los. Er hatte gar nicht registriert, dass Scobee noch immer an seiner Brust gelehnt war und er sie umarmte. »Hast du die anderen gesehen?«, fragte er rasch, um von diesem zufälligen, irgendwie merkwürdigen Moment der Zärtlichkeit abzulenken. »Aylea liegt dort unter dem Mangrovenbusch, keine drei Schritte hinter uns. Der Amorphe«, sie spähte umher, ihre verbesserte Sicht ausnutzend, »ist nirgends zu sehen. Genauso wenig wie Jelto.« »Doch, ich bin hier.« Überrascht zuckten sie zusammen. Gleichzeitig. Die Stimme war aus unmittelbarer Umgebung gekommen, rechts von ihnen. Ein Schatten löste sich aus den dicht stehenden Gewächsen und wurde zu Jelto. Er sog schnüffelnd die Luft mit weit geblähten Nasenlöchern ein. Ein entzückter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Dies alles sind Pflanzen, die ich noch nie gesehen habe, noch nie riechen und berühren durfte.« »Es sind irdische Pflanzen«, sagte Scobee nüchtern. »Mag sein, und ich kenne sie auch aus Lehrbüchern. Doch sie gelten als ausgestorben. Nach der Ankunft der Master und ihren... Veränderungsmaßnahmen verschwanden viele Dinge vom Antlitz der Erde. Unter anderem wurde die wunderbare Vielfalt der Flora und Fauna bewusst eingeschränkt und durch ein Förderprogramm außerirdischer Vegetation ergänzt.« Leise und widerwillig fügte er hinzu: »Dies geschah auf Wunsch der Master.« »Der Keelon, also«, murmelte Cloud. »Wenn ich dich richtig verstehe, glaubst du, dass wir uns nicht mehr auf der Erde befinden.« »Hundertprozentig. Ich hätte es gefühlt oder gerochen, wenn es all diese Orchideenarten, Farne, Bromelias, Lianen und Baumfeigen auf unserer Welt gäbe. Die anderen Florenhüter hätten es mir zudem vermittelt.« Jelto wusste nicht, wie viele gentechnisch gezüchtete Pflanzenmeister es auf der Erde noch gab. Vielleicht waren es tausend, vielleicht waren es zweitausend. Doch keineswegs mehr. Ein jeder von ihnen hatte für einen bestimmten Landstrich zu sorgen, die Urwälder zu pflegen und darauf zu achten, dass es keine Übergriffe anderer Menschen auf die meist urtümlichen Landschaften gab. Oder, zum Beispiel im Falle der Kuana-Bäume, umgekehrt... Jelto seufzte laut. »Es ist so wunderschön, und dennoch so falsch.« »Falsch?«, hakte Cloud nach, und sah sich misstrauisch um. »Was stimmt denn hier nicht?« »Was seid ihr noch für blinde«, er sah John mit bösem Seitenblick an, »und rohe Menschen! Hört ihr irgendein Tier? Wo sind denn die Brüllaffen, die Reptilien, die Aras, Papageien und Tukane? Wo sind die Schlangen und Kriecher? Könnt ihr irgendwo ein einziges Insekt entdecken?« Das unbestimmte Gefühl von Gefahr, das permanent in Clouds Hinterkopf gesteckt war, drängte wieder nach vorne. Alarmiert sah er sich um und bedeutete Scobee, sich um Aylea zu kümmern. »Es gibt hier aus gutem Grund keine Fauna«, klang eine menschliche Stimme auf. Das Knacken feuchter Aste verriet, dass sich der Besitzer der Stimme ungestüm und rücksichtslos seinen Weg durch das Unterholz bahnte. »Die Besitzer der Stadt haben darauf bestanden«, fügte der Chinese hinzu, als er schließlich vor ihnen stand. Er war klein, untersetzt, mit rundem Gesicht, aus dem stechende Augen hervortraten, und er trug einen traditionell geflochtenen Zopf. John Cloud kannte diesen Mann. Er war gefährlich. Das hieß: Er hatte als gefährlich gegolten. Damals, bevor er seine lange Reise zum Mars angetreten hatte. Vor ihm stand Yu Peng, einer der Stellvertreter des Neochinesischen Kaisers Hu Sadako.
»Willkommen in der Stadt der Wunder«, sagte der Neochinese. Cloud verkrampfte instinktiv. Vor ihm stand ein absoluter Machtmensch, der im Jahre 2039 im Auftrage seines kaiserlichen Herrn beinahe einen atomaren Vernichtungskrieg befohlen hätte. Cloud kannte nur zu gut das geheimdienstliche Dossier über den Tokio-Chinesen. »Es freut mich, Sie nach all dieser Zeit wieder zu sehen«, sagte Yu Peng und verbeugte sich mit knapper Höflichkeit. Was hatte das zu bedeuten? Warum lebte der Mann noch? Und wo, zum Teufel, waren sie eigentlich? »Ich kann mir vorstellen, dass ihnen tausend Fragen im Kopf herumgehen«, sagte der Chinese, »doch ich kann Ihnen versichern, dass es eine Antwort auf alles gibt.« »Und wann sollen wir diese Antworten erhalten?«, fragte Cloud schroff. Er dachte nicht daran, Yu Peng zu grüßen und ihm die gleiche Höflichkeit zu erweisen wie dieser ihm. Die Erinnerung an Fotos von Gräueltaten, die der spätere Generalkonsul der Provinz Tokio an der japanischen Bevölkerung während der Eroberungsfeldzüge von 2036 befohlen hatte, waren Cloud nur allzu gut in Erinnerung. »Wenn die Meister es für notwendig erachten«, antwortete der Neochinese. Damit war die Sache klar: Sie waren erneut in Gewahrsam der Keelon geraten! Und Yu Peng machte offensichtlich gemeinsame Sache mit den zeitbeherrschenden Lebewesen. Hatten Darnoks Artgenossen ihm im Gegenzug für seine Kooperation ein verlängertes Leben garantiert? Yu Peng sah kaum älter aus als zu dem Zeitpunkt, als Cloud den Flug zum Mars angetreten hatte. Hatten es die Keelon überhaupt notwendig, einen irdischen Verbündeten für ihre Zwecke einzuspannen? Es sah so aus... »Ich kann die Frage in Ihren Gedanken lesen«, sagte Yu Peng und lächelte starr. »Ja, bei den Meistern handelt es sich um Keelon. Doch es ist nicht so, wie es vielleicht erscheinen mag...« »Das ist leeres Geschwafel«, murmelte Cloud und blickte den mutmaßlichen Verräter an der Menschheit hasserfüllt an. »Beruhige dich«, flüsterte Scobee und legte ihm besänftigend die Hand auf den Rücken. Und fuhr dann lauter, in Richtung des Chinesen fort: »Hören wir uns erst einmal an, was dieser feine Herr zu sagen hat.« Yu Peng zuckte unter dem Sarkasmus der Frau zusammen. Nur leicht zwar, doch man merkte, dass sich der Neochinese nicht vollends unter Kontrolle hatte. Eine überraschende Erkenntnis, zumal er als kalt wie ein Eisblock galt. Yu Peng ging kommentarlos über die Worte Scobees hinweg und sagte: »Ich habe den Auftrag, Sie vorerst zu den anderen zu bringen.« »Den anderen? Was meinen Sie?« »Sie werden schon sehen...«, sagte Yu Peng, drehte sich um und watschelte davon. »Und wenn wir uns weigern mitzukommen?«, fragte Cloud provokant. »Glauben Sie wirklich, dass die Keelon Widerstand dulden? Seien Sie nicht so vermessen zu glauben, dass Sie den Meistern irgendetwas bedeuten. Ein kurzer Fingerzeig, und Sie alle hier sind Geschichte.« Er lachte. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, fügte er noch hinzu. Cloud suchte den Augenkontakt zu Scobee. Die Frau nickte zögernd. Auch wenn keine Bedrohung sichtbar war - die Mittel der Keelon gingen weit über ihr Begriffsvermögen hinaus. Es war wohl klug, den Anweisungen des Verräters Folge zu leisten. Vorerst. Cloud suchte Jelto und fand ihn im Schatten eines lianenbehangenen Baumes. Er war nahezu mit dicht an dicht wachsenden Gewächsen verschmolzen.
Dann hob der ehemalige Befehlshaber der zweiten Mars-Expedition die kleine, leichte Aylea auf die Arme und trat zu Yu Peng, der ein paar Schritte vor ihnen wartete. Sollte er den Verräter nach dem Verbleib des Amorphen fragen? Nein, besser nicht. Vielleicht hatte sich das Wesen gleich nach Ankunft in dieser mysteriösen, offensichtlich künstlichen Welt absetzen können. Vielleicht war es auch gar nicht, so wie Cloud und die anderen, außer Gefecht gesetzt gewesen? Der Commander gab dem Amorphen gute Chancen, dank seiner überragenden Mimikry-Fähigkeiten nicht entdeckt worden zu sein. Es war immer gut, einen Trumpf im Ärmel zu haben...
Nach nur wenigen Minuten anstrengenden Fußmarsches durch den dichten Dschungel änderte sich die Umgebung abrupt. Ein Kribbeln, wie von leichter Elektrizität verursacht, fuhr durch Clouds Körper. Plötzlich standen sie in einem Saal, den er augenblicklich mit einem puritanischen Londoner Klubraum verglich »Zutritt nur für Gentlemen«. Er sah Bücherwände voll mit alten, schweren Schmökern, denen dieser typische Geruch nach Moder anhaftete. Plüschbesetzte Ohrensessel, in augenbeleidigendem giftgrün gehalten. Altbackene, geschmacklose Tapeten mit vergilbten Blumenmustern, sechzig Jahre alt oder noch mehr. Eine gelblichweiße Decke, die mit pompöser Stuckatur überbordet war. Tischpflanzen, die ihre farblosen Blätter traurig von kleinen, intarsiengespickten Beistelltischen hängen ließen. Cloud drehte sich zu Jelto um. Der Florenhüter bot ein Bild des Jammers. Ein halb verdorrter Gummibaum erregte sein ungeteiltes Mitleid. Menschen standen umher, die meisten seltsam und altertümlich gekleidet. Manche ruhig, apathisch vor sich hin blickend. Andere heftig gestikulierend und diskutierend. Keiner achtete auf sie. Lediglich ein kurzer Blick traf sie da und dort, dann kümmerte sich die hauptsächlich aus Männern bestehende Gesellschaft wieder um sich selbst. Offensichtlich war man Neuankömmlinge gewohnt. »Mein Auftrag lautete, Sie und Ihre Begleiter vorerst hierher zu bringen, damit sie sich akklimatisieren können«, erklärte Yu Peng. »Was geht hier vor?«, fragte Cloud argwöhnisch. Er legte die nach wie vor schlafende Aylea auf ein karmesinrot gepolstertes Sofa. Er fühlte ihren Puls. Er war ruhig und stetig, der Kleinen ging es scheinbar gut. John drehte sich zu Yu Peng um. Was für eine Teufelei war nun wieder im Gange? Er hatte erwartet, unverzüglich einem Verhör unterzogen zu werden. Oder noch Schlimmerem... »Ich werde mich mit Ihrer Erlaubnis nun zurückziehen«, sagte Yu Peng und verbeugte sich steif. »Was, in Teufels Namen, sollen wir hier?«, rief ihm Cloud hinterher. Der kleine Chinese ging rücklings durch eine kleine, holzgerahmte Tür am anderen Ende des Raumes. »Was ist hier los, wann bringen Sie uns zu ihren Herren?« »Wenn diese es für notwendig erachten«, antwortete Yu Peng, und dann fiel die Tür hinter ihm schwer ins Schloss. Der ehemalige Commander blieb einen Augenblick starr stehen, bevor er schnaubend die Luft aus seinen Lungen presste und sich nach Scobee umsah. Die Frau stand unentschlossen in der Mitte des Raumes. Sie blickte fasziniert einen älteren Mann an, der sich eine elendiglich miefende Zigarette anzündete. »Das glaube ich einfach nicht«, sagte sie leise zu John, »der alte Knacker raucht einen dieser gesundheitsschädlichen Stängel, die seit den 2020ern nicht mehr erzeugt werden.« Ein lang verschütteter Gedanke an den Vater, an Nathan Cloud, drängte sich schmerzvoll in Johns Erinnerung. Ab und zu, am Abend, wenn die sommerliche Sonne hinter dem Horizont untergegangen und Kühle
über die ländliche Idylle in Virginia gekommen war, hatte Nathan Cloud im offenen Kamin des Wohnzimmers mächtig große Scheite angehäuft und ein knacksendes, knisterndes Feuer gemacht. John Cloud lächelte unwillkürlich. Was war das ein Spaß für den kleinen Jungen gewesen! Fasziniert war er so nahe wie möglich an die Flammenwand getreten und hatte die brennende Wärme genossen. Und dann, wenn das Feuer ein wenig müde und satt geworden war, wenn es zufrieden vor sich hin loderte, hatte Nathan Cloud ein silbernes Etui aufgeklappt, eine Zigarette herausgenommen und sie genussvoll angezündet. Der Rauch des Feuers und der leicht stechende Rauch der Zigarette, die kleinen, blauen Ringe, die der Vater zufrieden in die Luft geblasen hatte; dazu die heiße Schokolade, die ihm Mutter auf den eichenen Tisch gestellt hatte... »Willst du auch eine Zigarette, mein Junge?«, fragte der alte Mann mit dem silbernen, nach hinten gekämmten Haar und riss John Cloud aus seinen Erinnerungen. Das Gesicht des Alten war von Falten zerfurcht und wirkte ein wenig müde, der Körper leicht in sich versunken. Doch die Augen... Die Augen strahlten einen Glanz aus, in dem unbändige Lebenslust lag - und eine gehörige Portion Schalk. »Nein... ja, vielleicht doch!«, sagte Cloud. Er hatte nie geraucht. Doch mit einem Mal überkam ihn ein unbändiges Verlangen. Es war wohl die Erinnerung an seinen Vater. Der alte Mann reichte ihm einen leicht verbogenen Glimmstängel und gab ihm Feuer. John zog tief an der Zigarette, spürte, wie sich der Rauch stechend in seine Lungen zog - und hustete. »Holla, mein Junge«, sagte der alte Mann und grinste unverschämt, »das ist wohl dein erstes Mal!« »Ja«, antwortete John unsicher. »Macht nix, es ist nie zu spät anzufangen zu sündigen.« Er goss sich einen dunklen, bernsteinfarbenen Whiskey in ein wuchtiges, vierkantiges Glas und nippte entzückt daran. »So wie du aussiehst, hast du auch noch nie was getrunken, hm? Meine Güte, wirst du einmal gesund sterben.« Wollte ihn der Alte auf den Arm nehmen? Wer war er überhaupt? Wer waren all die anderen Menschen im Raum? Scobee war ein, zwei Schritte zurückgewichen. Sie mochte den Rauch der Zigaretten ganz offensichtlich nicht. »Ich bin der Walter«, sagte der Mann jovial. »Walter Ernsting.« »Freut mich«, murmelte Cloud, »sagen Sie John zu mir.« »Wenn du mich noch einmal mit >Sie< anquatschst, machst du mich auf meine späten Tage zum Mörder«, sagte der Alte mit gespielter Empörung. Cloud konnte nicht anders, er musste lachen. Das erste Mal seit langer Zeit. »Na gut... Walter«, sagte er schließlich und wurde übergangslos wieder ernst. »Sag einmal, wo sind wir hier eigentlich?« »In Keelopolis«, antwortete Ernsting locker. »In einer kleinen Stadt, die ein paar hundert Jahre in meiner Zukunft liegt.« »Was soll das heißen?«, fragte Cloud. Er blickte sich nochmals um und sah sich die Gesichter der Männer und Frauen bewusst an. Manche kamen ihm seltsam bekannt vor. Langsam dämmerte ein Verdacht in ihm... »Naja, ich bin 1920 geboren, und damit wahrscheinlich noch ein paar Tage vor dir, stimmt's? Na siehste. Mittlerweile, wenn mich nicht alles täuscht, wird hier das Jahr 2252 gefeiert. Dreihundertdreißig Jahre alt wollte ich eigentlich nie werden. Aber für mein Alter sehe ich doch verdammt gut aus, nicht wahr? Willst du nicht doch 'nen Schluck Whiskey?« Der silberhaarige Mann plapperte unbekümmert vor sich hin, sprang von einem Thema zum anderen. Er fühlte sich sichtlich wohl. »Jetzt verrate mir mal doch, wie du hierher gekommen bist«, fragte John, langsam ungeduldig werdend.
»Wahrscheinlich genauso wie du«, erwiderte Ernsting. »Ich saß friedlich vor meinem Häuschen in Irland, dachte über eine Geschichte nach, die ich schreiben sollte, und hatte bereits den einen oder andern Schluck dieses Göttertrankes in mir. Und auf einmal - Schwupps! Ja, Schwupps!“Walter dachte kurz nach und sagte dann: »Nein, eigentlich war es ein >Plopp<. Ein Plopp, genau so wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Aber das tut jetzt nix zur Sache.« Er nippte erneut an seinem Glas. »Ein paar Momente später stand ich inmitten eines Dschungels, zweihundertsechzig Jahre waren vergangen, und ein merkwürdiger kleiner Chinese mit Watschelgang brachte mich hierher.« »Und dann?« »Dann ärgerte ich mich, dass ich meinen Fotoapparat nicht bei der Hand hatte. »Und weiter?«, drängte Cloud. »Dann merkte ich, dass ich meine Whiskey-Flasche sehr wohl bei mir hatte und hab mir einen kleinen Rausch, also ein Räuschelein, angetrunken.« John Cloud verzweifelte langsam. Walter hielt ihn ganz offensichtlich zum Narren und betrachtete seinen hiesigen Aufenthalt als willkommene Abwechslung in seinem zweifellos langweiligen Leben. Scobee, die aufmerksam zugehört hatte, trat wieder näher heran. Walter drückte soeben seine Zigarette aus, und sie seufzte erleichtert auf. Sie sagte: »Hast du die Bewohner dieser merkwürdigen Stadt auch schon kennen gelernt? Die... Keelon?« »Ja, natürlich. Nette Burschen. Ein wenig weltfremd, aber nett, wie gesagt.« »Hast du dich gar nicht... erschrocken? Du stammst doch so wie wir aus einer Zeit, als man außerirdisches Leben noch gar nicht kannte.« »I wo! Was glaubst denn du, wo ich schon überall im Universum war, und was für Lebewesen ich bereits kennen lernen durfte.« »Und die Zeitreise, die du mitgemacht hast?« »Glaube mir, darüber weiß ich mehr als jeder andere Mensch, der jemals gelebt hat!« Scobee warf einen bedeutungsvollen Blick zu John. Der alte, durchaus sympathische Mann war nicht mehr ganz dicht im Oberstübchen. »Soll ich euch ein paar andere Mitglieder dieser illustren Runde vorstellen?« Langsam stand Walter auf und nahm Scobee an der Hand. Erst danach fragte er: »Darf ich's wagen, schönes Fräulein? Du bist ein Lichtblick für meine Augen inmitten der alten Knacker hier.« John sah, dass Scobee leicht errötete, und ärgerte sich - ohne zu verstehen, warum. Walter murmelte, dass ihn Scobee ein wenig stützen müsse, er fühle sich nicht so gut, dann ging er mit ihr voran. Er drückte sich dabei unverschämt nahe an Scobee. »Das hier«, er zeigte mit ausgestreckter Hand auf eine Dreiergruppe heftig diskutierender Männer mit gänzlich unterschiedlichem Aussehen und Auftreten, »sind Leonardo, Abbas und Oliver. Unsere Flieger.« »Wie soll ich das verstehen? Warum Flieger?«, fragte John unkonzentriert. Er beobachtete von hinten, wie sich Walter, vorgeblich schwach und lahm, mit seiner Hand immer weiter Scobees Hintern näherte und ihn schließlich vertrauensvoll tätschelte. Die Frau zuckte kurz zusammen und ließ es dann lächelnd geschehen. Äußerst dümmlich lächelnd, befand John. John wiederholte verärgert seine Frage: »Warum heißen sie Flieger?« »Nun, der ältliche Mann mit dem langen, dünnen Spitzbart ist Leonardo da Vinci. Sein Selbstporträt, hat er mir gegenüber zugegeben, hat er bewusst ein wenig geschönt. Neben ihm, der maurisch gekleidete Mann, ist Abbas Ibn Firnas, der im neunten Jahrhundert gelebt hat. Er versuchte damals in Andalusien, den >Flug des Vogels nachzumachen<, wie er erklärte. Siehst du seinen verklumpten rechten Fuß? Das ist ein Andenken an diesen Flugversuch. Und der Mönch ist Oliver von Malmesbury. Er unternahm im elften Jahrhundert einen ähnlichen Versuch wie Abbas vor ihm.« Cloud schluckte unwillkürlich. Die Keelon schafften zu Versuchszwecken Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte ins 23.
Jahrhundert. Ihm stand der kalte Angstschweiß auf der Stirn. Was mochten diese Zeitversetzungen bereits jetzt für Auswirkungen haben? Die Leben aller Menschen hingen doch miteinander zusammen. Wenn ein Mann, bedeutend wie zum Beispiel Leonardo da Vinci, plötzlich aus seiner Gegenwart verschwand - was würde das für Auswirkungen auf die Zeitlinien danach haben? Was war mit seinen Zeichnungen, Patenten und Erfindungen, die möglicherweise nie veröffentlicht werden würden? War es den Keelon denn vollkommen egal, was sie mit ihren Experimenten anrichteten? Kannten sie keine Skrupel? War die Welt, die sie vor wenigen Tagen erlebt hatten, möglicherweise auch bereits ein Resultat von Zeitverschiebungen? »...dort hinten in der Ecke, bei dem überdimensionalen Zigarrenkasten, unterhalten sich die ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und John F. Kennedy. Ein sehr bezeichnendes Bild, nicht wahr? Paparazzi hätten damals ein Vermögen dafür bezahlt.« Walter grüßte mit dem frisch gefüllten Whiskey-Glas. Leger winkten beide zurück und diskutierten dann weiter. John Cloud war sonst nicht leicht zu beeindrucken. Doch das, was er mit Walter Ernstings Hilfe in den nächsten Minuten zu sehen bekam, rüttelte doch einigermaßen an seinem Weltbild. Das Stimmgewirr aus altgriechisch, lateinisch und mehreren Sprachen, die er nicht zuordnen konnte, wurde Cloud bald zu viel. »Ruhe!«, brüllte er schließlich, und die Gespräche verstummten abrupt. »Ja, sind wir hier denn auf einer Vergnügungsparty?«, fuhr er ein wenig leiser fort. »Seht ihr denn nicht, dass euch die Keelon, dieses Fremdrassenvolk, aus eurem ursprünglichen Leben gerissen haben, um sich hier auf Kosten der Menschheit zu vergnügen?« Er blickte wild umher. »Ein jeder von euch, der den angestammten Platz in seiner Zeitlinie verlassen hat, verändert damit alle Geschehnisse, die nach ihm kommen. Ist euch klar, dass, damit auch die gesamte Menschheitsgeschichte verändert wird? Dass nichts mehr so sein wird wie früher? Dass Menschen sterben, die leben sollten, und Sterbende möglicherweise überleben?« Vereinzeltes Hüsteln wurde laut. Manche der Männer und Frauen drehten sich einfach peinlich berührt weg von ihm. John probierte es nochmals: »Wir müssen doch etwas dagegen unternehmen! Wir müssen gegen die Besatzer ankämpfen und dafür sorgen, dass ihr wieder in eure Zeit zurückkehren könnt. Vielleicht ist es noch nicht zu spät...« Keiner kümmerte sich mehr um ihn. Die lebendig gewordenen Geister der Vergangenheit ignorierten ihn einfach. Scobee sah ihn seltsam an, während Walter undurchsichtig lächelte. »Lass es bleiben, mein Sohn«, sagte er schließlich milde. »Ja, steht ihr denn alle unter Drogeneinfluss?«, fragte John verärgert. »Diese Frage könnte dir nur Tim Leary beantworten, aber der hält derzeit einen Vortrag bei den Keelon.« Walter grinste verschmitzt, dann sagte er: »Ich verstehe ja deine Ängste, aber du irrst dich in einem ganz gewichtigen Punkt.« »Ja? Worin irre ich mich, alter Mann?«, höhnte John mit dem letzten Rest seiner Beherrschung. »Dass ihr keine Narren seid, sondern Betrüger an der Menschheit?« Das Lächeln auf Walter Ernstings Gesicht wurde schmaler und verschwand schließlich ganz. »Niemand hier verrät irgendwen«, sagte er mit leiser und gefährlich ruhiger Stimme. Er stellte sein halbvolles Glas ab und bedeutete John mit einer unmissverständlichen Geste, ihm zu folgen. Cloud blieb einen Moment trotzig stehen, doch als ihm der alte Mann mit den jungen Augen einen bösen Blick zuwarf, folgte er schließlich. Walter führte ihn zu einem wuchtigen Schreibtisch im hinteren Bereich des Raumes, an dessen Breitseite sich zwei Männer angeregt auf Italienisch unterhielten. »Darf ich vorstellen: Professore Umberto Eco und Professore Paolo Eleuteri Serpieri. Unsere Chronisten, beide aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammend.“ John Cloud erinnerte sich an die beiden Namen. Ein berühmter Linguist und Schriftsteller sowie ein Zeichner und Maler. Dieser stand aber ganz offensichtlich erst am Beginn seiner Karriere, er war
blutjung. »Umberto ist von uns allen am längsten in Keelopolis, mit Ausnahme dieses zweifelhaften Chinesen, der euch hergebracht hat. Seit dem Zeitpunkt seines Erwachens hat er alles Wissen, das er über diese Fremdwesen in Erfahrung bringen konnte, zusammengetragen und niedergeschrieben. Und er kann dir auch beantworten, warum du hier bist.« »Das kann ich zweifellos«, sagte der Italiener in einem etwas altertümlich klingenden, nichtsdestotrotz korrekten Englisch. »Setzen Sie sich, junger Mann.« Er wies ihm mit nonchalanter Armbewegung einen Stuhl zu. John folgte ungeduldig und dennoch gehorsam unter dem strengen Blick des Professores. Er saß stocksteif da. Alles in ihm war angespannt. Er hatte das Gefühl, gleich in die Luft gehen zu müssen. Das war doch Wahnsinn, was hier vor sich ging! Die Menschen lachten und unterhielten sich, ignorierten völlig seine Warnungen, standen im besten Einvernehmen mit den Besatzern der Erde! »Nun, ich bin seit etwas mehr als sechs Wochen in dieser merkwürdigen Stadt«, begann Umberto Eco zu berichten, »und Sie können mir glauben, dass die ersten Tage sehr hart für mich waren. Fremde Lebewesen, eine fremde Zeit, eine fremde Ausstattung - Walter, mein Freund hier, hat das vergleichsweise problemlos weggesteckt.« Er hustete abgehackt und fuhr dann fort: »Die Fremden, diese Keelon, haben sich bemüht, mir den Aufenthalt so komfortabel wie möglich zu machen. Die ganze Ausstattung des Versammlungsraumes, so wie Sie sie hier sehen, stammt zum Beispiel aus meinen Entwürfen und entspricht meinen Bedürfnissen.« Beifall heischend blickte er hoch, und John heuchelte Anerkennung. Umberto Eco richtete sich die Brille und kratzte sich schabend über den Vollbart, bevor er fortfuhr. »Ich darf Sie beruhigen, was mögliche Abweichungen in den Zeitlinien betrifft. Zu diesen wird es nicht kommen - beziehungsweise, zu diesen ist es nicht gekommen.« Er lächelte. »Denn alle Menschen, die Sie hier sehen, sind nicht die tatsächlichen Personen. Es handelt sich jeweils nur um... hm... Lassen Sie es mich anders formulieren. Wir nennen uns selbst Aspekte unseres eigentlichen Ichs. Wir sind Momentaufnahmen, Bewusstseinsabdrucke, von den Keelon an einem willkürlichen Tag in unserem Leben ausgewählt. Das ist nicht unbedingt die angenehmste Vorstellung, doch wir haben uns damit arrangiert. Wir ähneln einer dreidimensionalen Fotografie, die dasselbe Wissen wie der originäre Mensch zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in sich trug. Auch Sie und Ihre Begleiter sind lediglich solche Aspekte, glauben Sie mir. Ihr wahres Ich hingegen ist in Ihrer Zeitebene geblieben.«
John Cloud saß starr und mit offenem Mund da. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich sagte er schwach: »Ich bin so real, wie ein Mensch nur sein kann.« »Ja, diesen Glauben hatten wir alle, als wir ankamen. Doch Sie müssen wissen, dass die Keelon die Zeit als Element teilweise beherrschen und...« »Ich weiß«, unterbrach John unwirsch, »und in die Vergangenheit reisen können.« Umberto Eco sah ihn überrascht an. »Interessant«, murmelte er. »Sie müssen aus einer sehr späten Epoche unserer Geschichte stammen, wenn sie die Keelon und ihre besonderen Talente bereits kennen.« Paolo Eleuteri Serpieri sprach währenddessen kein Wort. Er kritzelte mit Kohlestiften hastig über einen Zeichenblock. »Wir kommen aus dem 21. Jahrhundert«, sagt John. »Wir sind aber mit Unterstützung eines Keelon mehr als zweihundert Jahre in die Zukunft...« »Entschuldigen Sie mich und meinen... Kollegen für einen Moment, Professore«, mischte sich plötzlich Scobee ein und nahm John rasch beiseite. »Was soll das?«, fuhr Cloud sie unfreundlich an. »Ich will endlich dieser Heilanstalt entfliehen und habe keine Lust, mir irgendwelchen Quatsch über >Aspekte< anzuhören. Ich habe das Gerede über
Zeitreisen satt! Wenn die Keelon wüssten, welche Dinge sie mit ihren Experimenten anrichten...« »Sei doch mal still und reg dich nicht künstlich auf! Du siehst vollkommen an den Realitäten vorbei. Die Keelon, denen wir bislang auf der Erde begegnet sind, waren böse, machthungrig und auf Expansion aus. Darnok wiederum fühlte sich an enge, moralische Vorschriften gebunden, die ihm verboten, verändernd in das Schicksal anderer Wesen einzugreifen. Die Keelon, die hier das Sagen haben, dürften einem anderen Ideal nachhängen. Sie sind wahrscheinlich Wissenschaftler oder Forscher...« »Und was hat das nun mit uns zu tun?«, unterbrach sie John, der ihr in seiner Wut über diese sorglosen historischen Persönlichkeiten nicht folgen konnte. Scobee rollte ihre Augen, als hätte sie ein besonders dümmliches Exemplar der Spezies Mann vor sich. »Jetzt streng einmal deinen Grips an, John! Wir gehen davon aus, dass wir uns nach wie vor im Einflussbereich der Erde befinden, richtig? Weiter wissen wir, dass wir von jedermann, der eine Waffe gerade und richtig halten kann, im Auftrag der herrschenden Keelon verfolgt werden. Stimmt's? Durch einen unglücklichen Zufall - oder einen glücklichen, je nachdem, wie man's sieht , sind wir in die Hände einer Gruppe von Zeitforschern geraten, die, aus welchen Gründen auch immer, Menschen aus der Vergangenheit in ihre Gegenwart transportiert. Allerdings haben sie nicht die realen Personen entführt, sondern nur einen dreidimensionalen Abdruck derselben.« »Schlimm genug und mit meinen moralischen Begriffen nicht vereinbar.« Scobee lächelte ihn mit gefletschten Zähnen an, sodass sogar ein gereizter Grizzlybär lammfromm geworden wäre. »Wenn also mit aller Kraft nach uns gesucht wird«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »wir aber nur als Aspekte von Personen aus der Vergangenheit behandelt werden - hätten wir dann nicht hier einen idealen Unterschlupf für einige ruhige Tage? Tage, in denen wir das Wesen und die Technik der Keelon ausgiebig erforschen könnten?« Johns Unterkiefer klappte nach unten. Erst nach einigen Sekunden sagte er: »Scobee, diese Idee ist so genial, dass sie von mir stammen könnte.« Er zwinkerte ihr ironisch zu und trat wieder zu Eco und Serpieri. »Meine Herren«, sagte er fröhlich, »ich habe meine Verwirrung überwunden. Ich und meine Mitarbeiter sind also Aspekte...«
Nachdem sich John und Scobee eine Stunde lang intensiv mit einem halben Dutzend dieser Menschen, die sich selbst Aspekte nannten, unterhalten hatten, erwachte Aylea mit einem erstickten Aufschrei. Scobee und eine Frau, die hier schon länger anwesend war, kümmerten sich sofort um sie. Bereits nach wenigen Minuten war Aylea wieder die kleine, selbstbewusste Dame mit einem Intelligenzquotienten, den John Cloud nur neidisch bewundern konnte. »Jelto, komm doch mal zu uns«, bat er den Florenhüter, der sich rührend um die größtenteils verdorrten Pflanzen im Raum kümmerte. Nur widerwillig riss sich der Angesprochene von seinen Lieblingen los. Die gentechnische Verankerung, die in Jelto diese derart tiefe innere Beziehung zu Pflanzen aller Art geschaffen hatte, war bemerkenswert. Cloud informierte Aylea und Jelto mit knappen Worten vom bisher Erfahrenen. »Die Menschen, beziehungsweise die Aspekte, genießen in dieser von Keelon beherrschten Stadt weitestgehend Narrenfreiheit«, schloss er so leise wie möglich. Walter hatte ihm zwar gesagt, dass es keinerlei Abhörvorrichtungen gab, aber man konnte ja nie wissen. »Sie dürfen die Räumlichkeiten, die ihnen zugeteilt sind, zwar nur selten verlassen, aber dafür steht es ihnen frei, das hier angehäufte Wissen aus zwei Jahrtausenden Menschheitsgeschichte zu studieren.“ »Woher wissen sie eigentlich, dass sie Aspekte sind und nicht reale Personen?«, fragte Aylea. Sie
schien vollständig wiederhergestellt, und ihre klugen Augen musterten die Umgebung mit scharfern Blick. »Ganz einfach: Sie vergehen nach einiger Zeit«, antwortete Cloud. »Sie lösen sich in Luft auf. Die Energie, mit der sie in die Gegenwart geholt wurden, erschöpft sich irgendwann, und sie verwehen im Nichts.« »Warum bleiben sie dann so ruhig?«, hakte Aylea nach. »Wenn ich wüsste, dass meine Existenz nur befristet ist, wäre ich in ständiger Panik.« »Mag sein, Kleines. Aber sieh dir nur den Menschenschlag an, der hier vertreten ist. Dies sind äußerst selbstbewusste, in sich ruhende Menschen. Ich habe Walter Ernsting gefragt, wie er sich denn fühle. Er meinte, dass er es als Gnade betrachte, dies alles erleben zu dürfen. Er sehe das mit den Augen des Kindes, und vielleicht könne er j a ein wenig dessen, was er hier erlebe, mit in sein wirkliches Leben hinüberretten, wenn er sich auflöse.« »Trotzdem: Ich könnte nie so ruhig bleiben«, beharrte Aylea auf ihrem Standpunkt. »Ich auch nicht«, sagte John traurig lächelnd. »Eigentlich ein bedauerliches Zeichen dafür, dass wir nicht hierher gehören.« »Warum sehen die Keelon uns auch als Aspekte?«, mischte sich Jelto in die Diskussion ein und streichelte geistesabwesend über die Blätter eines Gewächses, das Cloud nicht kannte. Die Pflanze lebte unter seinen sanften Fingern förmlich auf. »Das ist etwas, das wir herausfinden müssen. Und natürlich auch, wohin das Warrikk verschwunden ist, beziehungsweise wo denn eigentlich der Amorphe abgeblieben ist.« »Stimmt«, murmelte Jelto. Er schien nicht besonders traurig darüber zu sein, dass das Kunstwesen der Hirten nicht an ihrer Seite war. »Und ich glaube, dass sich bald eine Gelegenheit ergeben wird«, sagte Scobee. Die GenTec-Frau deutete auf Yu Peng, der soeben den Raum betrat und schnurstracks auf sie zukam. »Überlasst mir bitte das Reden«, forderte Cloud. Keiner widersprach ihm. »Haben Sie sich akklimatisiert?«, fragte der Neo-Chinese. »Wir haben zumindest verstanden, was wir sind«, sagte John bedeutungsvoll. »Sie nehmen dies ziemlich gelassen hin«, wunderte sich Yu Peng. Argwohn blitzte in seinen Augen auf. »Es wundert mich, dass es gerade Sie und die GenTec-Frau hierher verschlagen hat. Noch dazu in Begleitung eines Florenhüters und eines zehnjährigen Mädchens, deren wahre Identitäten möglicherweise nicht weiter als ein paar Tage in der Vergangenheit liegen. Seltsam, dass sich die Meister derart junge Aspekte hierher geholt haben.« »Was mag schon in den Köpfen von Fremdwesen vorgehen, nicht wahr?« Cloud lächelte ohne Überzeugung. Yu Peng war gefährlich; möglicherweise noch gefährlicher als die hier ansässigen Keelon, die anscheinend weltfremd genug waren, um nichts von ihrer spektakulären Flucht aus dem Turm von Washington zu wissen. »Ich habe natürlich keine Ahnung, was hier vorgegangen ist, wie ich hierher gekommen bin und warum ausgerechnet in Begleitung der jungen Dame und dieses mysteriösen Pflanzenheilers«, behauptete Cloud. »Natürlich haben Sie keine Ahnung«, wiederholte Yu Peng und verbeugte sich leicht. »Darf ich Sie bitten, mir nun zu folgen, damit ich Sie den hiesigen Herren vorstellen kann?« Cloud blickte Scobee erfreut an. Das lief ja wie am Schnürchen! Sie gingen dem Neo-Chinesen hinterher. Die massivhölzerne Tür, die bislang geschlossen geblieben war, schwang von selbst auf. Ein schmaler, leicht nach innen gekrümmter Gang setzte sich vom Versammlungsraum weg fort. Die Schwerkraft war hier spürbar geringer, und Cloud hatte erstmals seit ihrer Ankunft in Keelopolis das Gefühl, sich nicht in einer natürlichen Umgebung zu bewegen. Mit einem Mal wurde ihm der etwas zu ozonreiche Sauerstoff bewusst und das leise Mahlen großer Belüftungsanlagen. »Wir sind in einer Raumstation«, flüsterte John der GenTec zu.
»Ganz recht«, erwiderte Yu Peng, ohne gefragt worden zu sein, und schwieg dann wieder. Sein Gehör war ausgezeichnet. Es gab bislang nirgendwo Fenster, das hätte mir auffallen müssen, dachte Cloud verärgert. Das elektrische Kribbeln, das wir verspürten, als wir vom Dschungel in den Versammlungsraum überwechselten, war möglicherweise das Anzeichen für eine räumliche Versetzung, wie wir sie schon auf der neuen RUBIKON erlebten. »Wie kommt es, dass ausgerechnet Sie eine Vertrauensstellung bei den Keelon genießen?«, fragte der Commander in das peinliche Schweigen hinein. Sie marschierten bereits mindestens dreihundert Meter den nach innen gekrümmten Gang entlang. »Ich war der richtige Mann am richtigen Ort«, antwortete Yu Peng karg und ohne sich umzudrehen. Nach links hin gab es immer wieder Türen, die maximal dreißig Zentimeter über dem Erdboden eine Art Öffnungsmechanismus hatten. Ein schmales, nahezu kreisrundes Loch. Genau so sahen auch die inneren Türverschlüsse im Aufenthaltsraum der Menschen aus. Cloud und Scobee hatten sich bereits vergeblich bemüht, die beiden einzigen Zugänge mit Fingern und Drähten zu öffnen. Er konnte sich gut vorstellen, dass die vorderste, besonders feinfühlige Spitze eines Keelon-Strunkes in die Öffnung passte, um die Arretierung zu lösen. Abgesehen davon sah er während des Marsches den Gang entlang keinerlei Anzeichen, die auf die Anwesenheit von Fremdwesen hinwiesen. Wiederum wechselte die Schwerkraft, wurde ein wenig höher. Ein kurzes Flackern der indirekten, unsichtbaren Beleuchtung irritierte Cloud zusätzlich. Auch dieser zarte, moschusähnliche Geruch, den er an Darnok bemerkt hatte, wurde deutlicher. »Darf ich Sie bitten?«, fragte Yu Peng vor dem Tor, an dem der Gang endete. Es war wesentlich breiter als alle anderen, die sie bislang passiert hatten. Cloud kam der Anblick der künstlichen Umgebung seltsam bekannt vor. Er konnte seine Eindrücke aber nicht einordnen. »Willkommen in der Agora von Keelopolis«, sagte Yu Peng, nichts sagend lächelnd wie immer, und schwang die Türe auf. »Oder soll ich sagen: Willkommen in der Steuerzentrale von Skytown?«
Cloud und Scobee sahen sich überrascht und bestürzt an. Skytown? Das gewaltige Fanal, zu ihrer Zeit mancherorts als größtes Weltwunder der Moderne bezeichnet, bestehend aus mehr als einhunderttausend Tonnen Stahl, Plaststoff, KohlefaserProdukten und voll gestopft mit hochgezüchteter irdischer Technologie? Jene Skytown, die einmal das Wahrzeichen einer geeinten Menschheit werden sollte? »Natürlich«, murmelte John Cloud und fuhr mit den Fingern über feinste Unregelmäßigkeiten im Metall. Es waren Schleifspuren. Alle Hinweise und Namensschilder, die auf eine irdische Herkunft schließen ließen, waren von den Keelon entfernt worden. Sie hatten sich mit ihren überlegenen technischen Mitteln zu Herren sowohl auf der Erde als auch im Weltall gemacht, gerade, als die Menschen zaghaft ihre ersten Schritte hinaus in die Unendlichkeit getan hatten. Mit vor Zorn lodernden Augen betrat er die völlig umgestaltete Steuerzentrale. Alles habt ihr uns genommen, um uns nach euren Vorstellungen zu formen, wollte er sagen, unser Land, unseren Planeten, den Schein der Sonne und auch unseren Stolz! Seine Nägel fuhren über das Metall des Tores, erzeugten ein hässliches, enervierendes Geräusch. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Die neuen Aspekte, Meister«, sagte Yu Peng auf englisch in den Raum hinein, und betrat die Agora als Erster. Wie selbstverständlich ließ er sich in der untersten Reihe neben mehreren Keelon nieder. Als wäre er einer von ihnen! Dieser miese Opportunist! Ihr Auftritt blieb nahezu unbemerkt, denn ein hagerer, hoch gewachsener Mensch mit wirrem Haar verließ soeben das kleine Rund in der Mitte der Agora.
Die Keelon klopften begeistert auf hölzerne Streben, die ihre Liegekuhlen voneinander trennten. Mit langsamen Schritten kam der Mann zu ihnen empor, grinste verklärt, machte das Peace-Zeichen und schwebte vorbei. Unter dem angewinkelten rechten Arm hielt er eine aufwändig gestaltete Ausgabe des »Tibetanischen Totenbuches«. Timothy Leary hatte eine Vorlesung vor Außerirdischen gehalten, und dies an Bord einer Raumstation, die zu seinen Lebzeiten nicht einmal die kühnsten Visionäre für möglich gehalten hätten. Wie absurd das Ganze doch war! John Cloud konnte nur noch den Kopf schütteln... 6. Atma: Keelopolis, Gegenwart Sie blickte die neuen Aspekte interessiert an. Die vier Wesen wirkten auf sie genauso... so lustig wie all die anderen Vertreter der Spezies Mensch. Atma bedauerte manchmal, dass sie ihr praktisches Wissen um Sozialstrukturen, Etikette und Umgangsformen der Menschen nicht noch weiter vertieft hatte. Die Theorie beherrschte sie natürlich. Dennoch bestanden gehörige Unterschiede zwischen dem, was sie glaubte zu wissen, und dem, wie sich die Menschen in Keelopolis tatsächlich verhielten. Doch eines stand mittlerweile fest: Die verquere Denkweise, Architektur, Kunst oder auch die Philosophie der Menschen war äußerst amüsant. Atma wandte sich an das kleinste Wesen, ein so genanntes Mädchen, wie sie sich erinnerte. »Ich bin Atma«, sagte sie erklärend. »Keelopolis ist ein Utopia. Wir haben uns bereits vor mehreren Jahrzehnten eurer Zeitrechnung von den Zielen der mächtigen Keelon in ihren Türmen abgewandt und suchen in selbst gewählter Isolation nach neuen Wegen und Zielen, um eine Vervollkommnung unseres zeitlosen Daseins zu erreichen. Wir alle wollen mit der Gier nach mehr Macht, wie sie manche andere Keelon predigen, nichts zu tun haben. Die wahren Werte des Lebens liegen in uns selbst, in einer geistigen Verinnerlichung. Dessen sind wir uns sicher.« Atma war keineswegs mehr dieser Meinung, aber das würde sie nicht öffentlich zugeben. »Wir wollen auch und vor allem von euch lernen. Eure einfach zu durchschauenden und dennoch so vielfältigen Kulturen bieten für Vergleichsmöglichkeiten mit unserer Entwicklung enormes Potenzial. Wir suchen daher herausragende Menschen. Solche, die uns weiterhelfen, das Wesen des Lebens besser zu verstehen. Ich frage daher: Habt ihr irgendwelche Besonderheiten an euch? Seid ihr zu eurer Zeit berühmt gewesen? Wart ihr Forscher, Philosophen oder Erfinder?« Sie lehnte sich tief in die Kuhle und fuhr mit einem Feinstrunk über die tränenden Augen. »Du da, antworte mir«, ergänzte sie und deutete mit einem Strunk auf das Mädchen. Rechtzeitig hatte sich Atma daran erinnert, dass es Menschen nicht erkannten, wenn ein Keelon sie ansah. Das Mädchen blickte mit ihren hervorstehenden Augen auf das kleinere der beiden Männchen, und das hob und senkte den Kopf mehrmals. Ein Nicken, erinnerte sich Atma, eine Zustimmung. Hatte sie sich geirrt? War gar der kleinere Mann der Anführer der Gruppe? »Das ist Jelto«, durchbrach das Mädchen ihre Gedanken. »Er ist ein Florenhüter. Ein gentechnisch veränderter Mensch, der in engem Kontakt mit den Pflanzen unserer Erde steht. Er kommuniziert mit ihnen, und er kann sie heilen. Er stammt aus dem Jahr... 2243.« Das war einmal ein brauchbarer Mensch! Er konnte sich um das unselige Grünzeugs kümmern, das in manchen Räumen der Keelopolis unkontrolliert wucherte. »John Cloud und Scobee«, das Mädchen deutete auf die beiden anderen Mitglieder der kleinen Gruppe, »sind beide Mitglieder der zweiten Marsexpedition. Sie wollten mit einem primitiven Raumschiff zum Nachbarplaneten der Erde gelangen.« Das Mädchen kommunizierte leise mit dem Mann, flüstern nannte man das wohl im irdischen Jargon, und ergänzte dann: »Sie waren gerade mal drei Tage unterwegs, im Jahre 2041, als sie hierher versetzt wurden.« Nun, die echten Besatzungsmitglieder hatten wahrscheinlich nichts davon bemerkt, dass Atma und ihr Kreis einen zeitlichen Imprint der Menschen genommen hatten.
Merkwürdig... die Bewohner von Keelopolis hatten sich eigentlich gar nicht darum bemüht, aus jenen Zeitabschnitten Aspekte in die Gegenwart zu transferieren. Sie hatten sich vielmehr auf weiter zurückliegende Epochen konzentriert. Doch es war einiges schief gegangen in letzter Zeit auf der Suche nach einer praktischen Erforschungsmöglichkeit der Optimalen Zeit. Viele Experimente waren nicht besonders gelungen... Mühsam klärte Atma ihre Gedanken und fragte: »Und wer bist du, kleines Mädchen?« »Ich bin Aylea, ich stamme aus dem Jahr... 2248... Ich bin...« »Sie ist lediglich ein zehnjähriges Mädchen, das irrtümlich durch eure Zeitversuche hierher geraten ist«, antwortete der John Cloud genannte Mann an ihrer Stelle. Atma war enttäuscht. Dies war der Aspekt eines gewöhnlichen Kindes, von dem sie wahrscheinlich nichts erfahren konnten, was sie in ihren Studien über die Menschen voranbringen würde. »Dann werden wir dich entsorgen müssen«, sagte sie bedauernd. »Yu Peng, bitte kümmere dich darum!« Der Chinese, dessen Zuverlässigkeit und bedingungslose Unterstützung bei Verständigungsschwierigkeiten sie zu schätzen gelernt hatte, stand auf. »Warte noch!«, schaltete sich John Cloud erneut ein. Erwartungsvoll blickte Atma ihn an. Erst nach wenigen Sekunden erinnerte sie sich daran, dass er ja ihre Physiognomie nicht deuten konnte und sagte in der irdischen Sprache, die ihr manchmal so schwer fiel, richtig auszusprechen: »Ja?« »Sie ist ein Mädchen«, erwiderte der Mann, »ein Kind. Habt ihr bereits Kinder in Skytown... ich meine, in Keelopolis?« »Nein, auf was willst du hinaus?« »Ihr wollt unser Wesen verstehen lernen«, sagte John Cloud. »Alles, was uns ausmacht und alles, was wir sind, verdanken wir unendlich vielen Lernprozessen in unserer Jugend. Ist dies bei euch Keelon nicht ebenso?« Ja, wollte sie antworten, doch der Erdenmensch redete einfach weiter. »Wäre es für euch nicht von besonderem Interesse, mitzuerleben und von einem frühen Entwicklungsstadium an beobachten zu können, wie wir uns entwickeln?« »Hat sie sich denn schon einmal gepaart?«, fragte Atma. Die erstmalige Paarung spielte in der keelonischen Kultur eine bedeutende Rolle und kennzeichnete gewissermaßen das Ende der Kindheit. Das junge Fremdwesen wechselte seine Hautfarbe binnen weniger Sekunden zu rot. Das war doch nicht ein plötzlicher Krankheitsschub? Ach, was waren die Mechanismen, die diese Menschen am Leben erhielten, komplex und kompliziert! »Nein, keineswegs«, antwortete John Cloud an ihrer Stelle. »Sie ist noch zu jung dafür.« Atma überlegte kurz. Der Mann hatte Recht. Es konnte durchaus interessant sein, einmal die Veränderung eines Kindes zur Frau zu beobachten. Zudem stammte der junge Aspekt aus der unmittelbaren Vergangenheit. Die Zeitenergie, die in ihr steckte, konnte durchaus für mehrere Monate irdischer Zeitrechnung ausreichen. Nach ihren bisherigen Erfahrungen war es in der Tat so, dass Wesen, die aus Epochen stammten, die weiter als eintausend Jahre zurücklagen, bereits nach relativ kurzer Zeit wieder verwehten. »Wir stimmen ab«, sagte sie in das Rund der Agora. »Wer ist dagegen, den Mädchen-Aspekt für Studienzwecke zu behalten?« Nahezu hundert Strünke ragten in die Höhe. Die meisten Keelon, der abstimmte, reckte in betrügerischer Absicht mindestens zehn ihrer Glieder in die Höhe. Natürlich! Wieder einmal zeigten sich die Nachteile einer Basisdemokratie, die sie anfänglich so enthusiastisch gefeiert und ausgelebt hatten. Yu Peng, der kleine Menschenmann neben ihr, hatte sie vor kurzem mündlich in die Geheimnisse und Bequemlichkeiten einer Diktatur eingeweiht. Sie hatte gute Lust, die ersten Maßnahmen dazu gleich einmal auszuprobieren. Doch sie hielt sich zurück. Noch war sie auf die Hilfe der anderen bei ihren Zeitexperimenten angewiesen... »Wer ist dafür?« Wieder streckten sich zahlreiche Strünke in die Höhe, inklusive ihrer eigenen
dreizehn. Diesmal waren es eindeutig mehr. »Damit ist es beschlossen«, sagte sie feierlich. »Aylea, du kannst vorerst in Keelopolis bleiben. Wir werden uns später gesondert mit dir unterhalten.« Yu Peng stapfte festen Schrittes nach oben zu den vier Neuankömmlingen. Er schien, wenn sie sein Verhalten annähernd richtig deutete, mit dem Abstimmungsergebnis nicht einverstanden zu sein. Sie seufzte und dachte daran, was nun unweigerlich kommen würde. Und richtig: Komptov, ein energischer und konservativer Vertreter der Basisdemokratie, stützte sich auf seine Vorderstrünke und holte tief Atem. »Die Vorsitzende und ihre Mehrheit setzen sich wieder einmal hochmütig über eine qualifizierte Minderheit hinweg!“, rief er empört. »Aber steht es nicht in den Statuten von Keelopolis, dass erst dann eine Entscheidung getroffen werden darf, wenn alle - ich betone: alle - Keelon mit dem Abstimmungsergebnis einverstanden sind? Ich beantrage daher, das Ergebnis zu annullieren und einen Unterausschuss ins Leben zu rufen, dessen Ergebnisse vom Komitee zur Wahrung der Keelonrechte begutachtet wird, um durch die Bundeskammer ratifiziert werden zu können...« Atma hörte nicht mehr weiter zu. Es gab andere Sachen, um die sie sich kümmern musste. Sie hatte zudem das Gefühl, in der Zeitsubstanz von zwei der neuen Aspekte - John Cloud und Scobee - mit ihrem Magoo instinktiv einige Unregelmäßigkeiten festgestellt zu haben. Nicht greifbare Abweichungen der körpereigenen Tachyonen. Als ob sie wie ein Keelon in der Zeit hin und her gesprungen wären... 7. John Cloud: Keelopolis, Gegenwart »Das ist ja noch einmal gut gegangen«, sagte Scobee leise. Sie folgten Yu Peng, der wenige Meter vor ihnen in Richtung Gemeinschaftsunterkunft watschelte. Cloud schloss zu ihm auf. »Yu, was auch immer Sie von uns denken... Sie und ihre Pläne sind uns herzlich egal. Binnen weniger Tage werden wir alle«, er warf einen bedeutungsvollen Blick nach hinten zu seinen drei Begleitern, »wieder verschwunden sein, so wie auch Sie.« Allerdings werden wir uns nicht so verabschieden, wie man es sich von Aspekten eigentlich erwartet, indem wir uns wieder im Nichts auflösen, dachte er. Er hoffte, zwei oder drei Tage im sicheren Schutz der keelonischen Kommune verbringen zu können, um ein wenig Energie zu tanken und ein bisschen Wissen über das Fremdvolk zu sammeln, deren exponierte Vertreter über das Wohl und Wehe der Menschheit entschieden. Und die nebenbei ihre rabiate, lebensverachtende Expansionspolitik in die Weiten des Weltalls hinaustrugen. Darnok, jener erste Keelon, denen sie begegnet waren und dessen Charakter sie lange Zeit falsch verstanden hatten, war um so vieles anders als der Rest seines Volkes. John musste für viele Flüche und böse Gedanken Abbitte leisten, die er Darnok mangels Hintergrundwissens hinterhergeschickt hatte. »Ich habe nicht vor, so bald wieder zu verschwinden«, durchbrach Yu Peng seine düsteren Gedanken. »Was wollen Sie damit sagen?«, meinte Cloud zerstreut. »Sie sind doch ein Aspekt. Irgendwann wird die Energie vergehen, die in Ihnen gespeichert ist, und Ihr Bewusstsein wird erlöschen.« »Das mag für Sie zutreffen«, entgegnete der Neo-Chinese. Für einmal entglitt ihm die Kontrolle über die Maske seines Gesichtes. Machtgier, Hass und Hoffnung zeigten sich im Antlitz des Mannes. »Ich bin real, müssen Sie wissen, von den Keelon seit ihrer Ankunft im Jahre 2041 konserviert und mehreren Zeitbehandlungen unterzogen. Ich altere kaum mehr.« Er war stehen geblieben, nur wenige Meter vor dem Zugang zum Versammlungsraum der Menschen, und plusterte sich im Glauben an seine Macht stolz auf. »Ich habe Ziele. Sehr reale Ziele. Sie, Ihr billiges Flittchen und die beiden anderen«, mit einer beleidigenden Geste deutete er in Richtung von Jelto und Aylea, »sind ein erheblicher Störfaktor auf meinem Weg zur Macht, den ich so bald wie möglich zu eliminieren gedenke. Nehmen Sie sich in Acht, John Cloud! Auch wenn Sie nur ein Aspekt eines Mannes sind, so sind Sie doch der Ver-
treter eines Systems, das ich schon vor Ewigkeiten gelernt habe zu hassen. Ich kann Sie vernichten, und ich werde Sie vernichten. Seien Sie sich dessen sicher. Niemand wird Ihnen Glauben schenken, dass der liebe, alte Yu Peng solch böse Pläne wälzt. Weder diese unseligen Geister alter Menschen im Nebenraum, noch diese unglaublich naiven und dummen Keelon.« Yu Peng kniff die Augen zusammen und sagte hasserfüllt: »Sie sind bereits tot, John Cloud, nur weiß das Ihr Körper noch nicht.« Er ging die letzten Schritte zum Eingang voran, öffnete die Tür mit einer angedeuteten Verbeugung und lächelte John wiederum maskenhaft an. Er wiederholte: »Sie sind bereits tot, John Cloud!«
»Was ist von dieser Drohung zu halten?«, fragte Jelto, und streichelte liebevoll über einen Rosenstrauch, der unter seinen Händen neuerlich erblühte. 53 »Yu Peng war dafür berüchtigt, stur einen Kurs beizubehalten und Versprechungen dieser Art immer wahr werden zu lassen«, erwiderte Cloud. »Er war als einer der gefährlichsten und skrupellosesten Machthaber des Neochinesischen Kaiserreiches verschrien. Wenn er tatsächlich die Person ist, für die er sich hält und nicht nur ein weiterer Aspekt wie alle anderen hier im Raum dann ist er ein nicht zu unterschätzender Gegner.« »Was glaubst du, hat er vor?« Scobee ging nervös auf und ab, fuhr mit den Füßen durch den zentimeterdicken, grünen Teppich. Sie waren von den Aspekten, allen voran von Walter Ernsting, noch freundlicher als zuvor empfangen worden. Jegliche Distanz war abgefallen. Ein jeder, der vor der Versammlung der Keelon in der Agora bestanden hatte und in der Skytown bleiben durfte, war herzlich willkommen. »Ich weiß es nicht«, antwortete John ungehalten. »Ich befürchte, wir müssen unsere Pläne ein wenig abändern. Wir sollten so rasch wie möglich abhauen. Ich frage mich nur, warum sich Yu Peng seiner Sache so sicher ist...« »Wie stellst du dir vor, dass wir von hier verschwinden?«, hakte Scobee nach und beendete ihren Rundgang. »Zuallererst benötigen wir dringend Informationen«, sagte Cloud geistesabwesend. »Wo unser Warrikk untergebracht ist, wenn es denn überhaupt in den Orbit transferiert wurde. Ein Warrikk ist notfalls durchaus für Flüge innerhalb eines Sonnensystems geeignet.« Woher weiß ich das schon wieder. Leider befürchte ich, dass es, als wir von der Zeitanomalie im Ozean erfasst wurden, auch dort geblieben ist - genau so wie der Amorphe.« Er dachte kurz nach. »Wenn ich mich recht erinnere, waren zu unserer Zeit an Skytown ein gutes Dutzend Rettungsschiffe angedockt. Aber nur im äußersten Notfall, so der offizielle Jargon, sollte ein erfahrener Pilot damit in die Erdatmosphäre eintauchen.« »Das kriegen wir hin«, sagte Scobee selbstsicher. »Ja«, stimmte Cloud zu. »Doch was wäre uns damit geholfen? Zurück in die Höhle des Löwen zu fliegen, die zweifelsohne von den regierenden Keelon bestens bewacht und abgeschirmt ist?« Er schlug mit der Faust auf den hochglanzpolierten Tisch, sodass sich alle Anwesenden kurz verwundert zu ihm umdrehten. »Das ganze Grübeln und Überlegen nützt nichts - wir müssen sehen, dass wir so rasch wie möglich an Informationen rankommen.“ Er blickte Aylea an, die desinteressiert in einem Fachbuch der Quantenphysik blätterte. Sie kannte das alles bereits. »Ich glaube«, sagte er, »dass diese Aufgabe hauptsächlich dir zukommen wird.« 8. Aylea: Keelopolis, Gegenwart
Sie hatten zwei altviktorianisch ausgestattete Räume bezogen. Scobee hatte lange meditiert und war dann in einen unruhigen Schlaf gefallen, der von Seufzern unterbrochen worden war. Aylea lag in einem Dämmerzustand in ihrem Bett. Sie wälzte vielerlei Gedanken an ihre Eltern, das grausame Erwachen in der gar nicht so heilen Gegenwart und ihre abenteuerliche, lebensbedrohliche Flucht. Ruhe hatte sie keine gefunden. Und sie benötigte... Ja, was brauchte sie eigentlich? Wärme? Zuneigung? Liebe? Sie wusste es nicht. Am nächsten Morgen wurde sie von John Cloud instruiert. Er erzählte ihr alles, was er über Skytown noch wusste, damit sie gezielter nachforschen konnte. Der Druck, der nun auf ihr lastete, wog schwer. Sie war gezwungen gewesen, ihr noch so junges Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Doch die Verantwortung für ihre drei Begleiter lag nun ebenfalls bei ihr. »Sieh dich bei den Keelon um«, sagte Cloud zu ihr, »frag nach jedem Detail, das dir interessant erscheint, nimm heimlich mit, was du findest und für wichtig hältst. Und im Übrigen handle so, wie du es für richtig hältst. Wir vertrauen dir!« Sie lächelte. Es tat ihr gut, als vollwertiges Mitglied der kleinen Truppe anerkannt zu werden. Yu Peng betrat den Versammlungsraum und winkte ihr beiläufig, ihm zu folgen. »Bleib immer hinter ihm und behalt ihn im Auge«, flüsterte John ihr zu. »Er wird nicht wagen, seine Hand in der Gegenwart der Keelon gegen dich zu erheben. Doch in einem unbeobachteten Moment könnte er durchaus in Versuchung kommen, dir etwas anzutun.« Aylea schluckte schwer, und John Cloud warf Yu Peng einen warnenden Blick zu. Der Neo-Chinese beachtete die unausgesprochene Drohung nicht. Er ging hinaus auf den Gang, ohne darauf zu achten, ob Aylea ihm folgte oder nicht. Scobee und John winkten ihr zu, um ihr Mut zu machen. Sie lächelte unsicher zurück, dann betrat sie den nach links gekrümmten Gang, gemeinsam mit einem der gefährlichsten Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts...
»Da hinein!«, sagte Yu Peng unwirsch. Sie betrat das kleine, laborähnliche Zimmer. Der Neo-Chinese schloss die Tür hinter ihr. Mehr als zwanzig Keelon saßen dicht an dicht in dem abgedunkelten Raum und hielten sich an ihren Podien. Zwischen ihnen, in der Mitte, pulsierte ein unförmiges Etwas, so groß wie ein menschlicher Torso. Elektrostatische Spannung war körperlich spürbar. Aylea fühlte, wie sie ihre Haare nach vorne zog. Irritiert zog sie sich so weit wie möglich vom Zentrum des Zimmers zurück. »Humm, humm«, sangen die Keelon mit tiefen, brummigen Stimmen, »humm, humm.« Ihre Körper wogten leicht hin und her. Der Torso im Zentrum glühte leicht und veränderte seine Form, zog sich in die Länge. Die statische Aufladung wurde kräftiger und versetzte ihren mageren Körper in unangenehme Schwingungen. Aylea verspürte Angst. Was, zum Teufel, ging hier vor? »Humm, humm«, tönte es, »humm, humm!“ Der Torso begann zu rotieren, schneller, immer schneller, bis seine Umrisse verschwammen. Folien, Blätter, kleine metallische Gegenstände wurden von Tischen und Ablagen gewirbelt, flogen umher. »Humm, humm!« Die Keelon zuckten unkontrolliert hin und her, auf und ab. »HUMM!« Eine geräuschvolle Implosion. Und dann - Ruhe. Der Torso war verschwunden. Erst einige Minuten später begannen sich die Keelon wieder zu rühren. »Wo ist der Trägerkörper?«, fragte eine abgehackte Stimme. Möglicherweise war es die Atmas. »Verschwunden«, antwortete Aylea nach einer Weile. Keiner der anderen Keelon sprach ein Wort. Offensichtlich hatte sich die Gruppe überanstrengt. Sie
alle lagen flach wie Flundern in ihren Liegeschüsseln. »Schon wieder«, meinte Atma, und fügte etwas auf keelonisch hinzu, das wie ein derber Fluch klang. »Licht!«, befahl die Keelon. Übergangslos wurde das Halbdunkel von grellem Licht ersetzt. Aylea kniff die Augen zusammen. Das ganze Ausmaß der Verwüstungen wurde sichtbar. Im ganzen Raum lagen zerfetzte Kunststoffteile, verbogene Metallbolzen und Papier umher. Die Keelon, die Aylea für Atma hielt, schlug zwei Podien klatschend gegeneinander. Kleine Maschinchen erschienen wie von Zauberhand erschaffen aus dem Boden, formierten sich zu einer einheitlichen Front und reinigten binnen weniger Momente den Raum. Frische, aber stark ozonhaltige Luft strömte gleichzeitig aus mehreren unsichtbaren Düsen. Nanomaschinen. Nano-Technik in höchster Perfektion, dachte Aylea. Ein erneuter Befehl erklang, diesmal in jenem knarzenden, aus merkwürdigen Zisch- und Pfeiflauten bestehenden Idiom der Keelon. Aylea bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Sie hatte kein auch wie immer geartetes Interesse, in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken. Ein dreidimensionales Hologramm entstand im Zentrum des Raumes. Es zeigte die Erde, so groß wie ein Fußball. »Waren Zeitanomalien in unserer Umgebung zu bemerken?«, fragte Atma in den leeren Raum. Sie benutzte die englische Sprache, musste sich also der Gegenwart des jungen irdischen Gastes durchaus bewusst sein. »Ja«, sagte eine nüchterne Stimme, offenbar die einer Künstlichen Intelligenz, »in unmittelbarer Nähe.« Immer näher zoomte das Bild an die Erde heran. Und zeigte etwas, das Aylea nie, niemals in ihrem Leben vermutet hätte.
Drei Stunden später hatte Atma sie entlassen. Endlose Fragen waren an sie ergangen. Fragen, die sie im Rund der Agora hatte beantworten müssen. Seltsame, peinliche, dümmliche und auch unbeantwortbare Fragen. Aylea hatte, so gut es ging, Auskunft gegeben. Einerlei. Aylea konnte es kaum erwarten, bis sie der schweigsame Yu Peng zurück in den Versammlungsraum brachte. Sie befolgte Clouds Ratschläge und hielt sich stets einige Meter hinter dem Neochinesen. »Wie geht es dir?«, empfing sie Scobee, die GenTec-Frau. Konnte sie nachfühlen, wie es ihr ergangen war? Was für Ängste sie ausgestanden hatte zwischen all diesen fremdartigen Wesen, deren Spezies die Erde in Besitz genommen hatten? »Ich habe wichtige Neuigkeiten«, platzte es aus ihr heraus, nachdem sich Yu Peng zurückgezogen hatte. »Setz dich erst einmal«, bat John sie. Jelto stellte eine heiße Tasse Tee vor Aylea auf den Tisch, die sie begierig umklammerte. Ihr war nicht kalt, und dennoch empfand sie angenehme Beruhigung, als sie langsam den Tee schlürfte. Dankbar blickte sie den Florenhüter an. Die anderen Menschen im Raum, die Aspekte, kümmerten sich nicht weiter um sie. »Also, was hast du uns Wichtiges zu sagen?«, wollte Cloud neugierig wissen. Er fuchtelte mit den Händen wild durch die Luft, um eine besonders aufdringliche Fliege zu verscheuchen. »Es geht um den Standort von Skytown«, begann sie zögernd. »Ich habe anhand eines Holos sehen können, wo wir uns befinden.« Die Erwachsenen blickten sie erwartungsvoll an. »Kennt ihr zufällig das Labradorbecken? Östlich von Neufundland, im atlantischen Ozean und mehr als viertausend Meter tief... Dort ist Skytown am Meeresboden verankert!«
9. John Cloud: Skytown, Gegenwart Damit hatte Cloud nun wirklich nicht gerechnet. Damit hatte er nicht rechnen können! »Bist du dir ganz sicher?«, fragte er Aylea, und kam sich im nächsten Moment dumm vor. Natürlich war sie sich sicher! Das junge Mädchen bestach durch bemerkenswerte Auffassungsgabe und unglaublich flexiblen Verstand. Sie war weit davon entfernt, einen neuerlichen Zusammenbruch zu erleiden. »Verzeih mir, ich glaube dir selbstverständlich«, sagte er deswegen rasch, bevor ihn Aylea mit einem ihrer strengen, viel zu erwachsen wirkenden Blicke strafen konnte. Cloud setzte sich so wie die anderen nieder und forderte das Mädchen leise auf: »Erzähl uns, was du gesehen hast!« Und sie berichtete: von dem missglückten Experiment, in dem ein Torso aus angeblich substanziell gewordener Zeit aus dem Raum geschleudert und in unmittelbarer Umgebung rematerialisiert war. Und zwar in einem menschlichen Körper, beziehungsweise einem Aspekt desselben. Die Keelon katapultierten also körperlich gewordene Zeit mit Hilfe nahezu unendlich starker Energiequellen in die Vergangenheit, verankerten sie mehr oder minder willkürlich an einem Menschen, und zogen diesen in die Gegenwart. Doch der Transport verlangte den Fremdwesen offenbar alles ab und führte nicht selten dazu, dass der oder die Menschenaspekte im näheren Umfeld der Skytown strandeten, weil die Keelon nicht mehr genug Konzentration aufbringen konnten. Manches Mal erschien er knapp an der Wasseroberfläche, manches Mal in viertausend Metern Tiefe. Als die Keelon das Objekt ihrer Begierde diesmal in einer Wassertiefe von dreihundert Metern lokalisiert hatten, war nur noch ein toter Körper zu sehen gewesen. Der Aspekt war lange vor ihrer Ankunft am zu hohen Wasserdruck und durch Versagen der Lungenfunktionen gestorben. Cloud versuchte, sich einzureden, dass kein Mensch umgekommen war, sondern nur ein Etwas, das wie einer aussah. Er hatte nur wenig Erfolg. »Du hast also mit Hilfe dieses Hologramms gesehen, wo genau sich Skytown befindet?«, fragte er nochmals ungläubig. »Ja«, antwortete Aylea. Sie verscheuchte eine schwarzmetallisch glänzende Fliege von ihrem Glas heißen Tees. »Meine Güte, sind diese Keelon naiv! Atma hat mir bereitwillig Auskünfte gegeben. Sie hat mir Pläne der Skytown gezeigt. Hat mir gesagt, dass sich die Bewohner von Keelopolis völlig von den Übrigen ihres Volkes losgelöst haben und nur noch einen äußerst lockeren Kontakt über ein telepathisches Zuchthirn mit ihnen pflegen. Dass sie unser Warrikk an der Außenwand der Skytown angedockt haben. Dass sie...« »Moment!«, unterbrach Scobee das Mädchen. »Warrikk ist hier?!« »Ja, stell dir vor! Wenn ich den Lageplan der Skytown richtig im Kopf habe, ist es lediglich fünfzig Meter von hier entfernt angedockt. Gleich hinter der Dschungelwelt, in der wir erwacht sind. o »Die Dschungelwelt... das ist möglicherweise der ehemalige Kristallpark der Skytown«, sagte John nachdenklich. »Über und über bewachsen mit pflanzlichem Leben, das sich über Jahrhunderte ungehemmt ausbreitete.« »Pflanzen, von denen man dachte, dass es sie auf der Erde nicht mehr gäbe!«, ergänzte Jelto. »Ein Schatz, ein unbezahlbarer Gen-Pool.« »Es tut mir Leid, aber da passen einige Dinge nicht zusammen«, sagte Scobee nüchtern. »Die Keelon hätten anhand der Technik des Warrikks bemerken müssen, dass wir aus der Jetztzeit stammen. Dass dieses Wunderfahrzeug der Hirten Möglichkeiten bietet, möglicherweise selbst den Keelon Paroli zu bieten. Und dass wir vor ihren Artgenossen auf der Flucht sind, weil wir ihre Pläne schon mehrmals durchkreuzt haben. Derart zurückgezogen können sie doch gar nicht leben, dass sie nicht wissen, was in der Welt an der Oberfläche vor sich geht!“ »Das stimmt wohl«, sagte Aylea nachdenklich. »Aber sie haben zumindest keine Ahnung, was das
Warrikk angeht. Schließlich haben sie es nicht selbst geborgen, sondern...“ »...ich war es«, erklang plötzlich eine metallisch klirrende Stimme zwischen ihnen. Eine Fliege, nein, jene einzige Fliege, die sie seit Beginn der Unterhaltung störte, landete in der Mitte des Tisches. Sie breitete ihre filigranen Flügel aus, und ein etwa zehn Zentimeter durchmessendes Hologramm entstand oberhalb des kleinen Körpers. Das Bild zeigte das lächelnde Gesicht von Yu Peng!
»Ich wusste selbstverständlich von Beginn an, dass mit Ihnen und Ihren Begleitern etwas nicht in Ordnung war«, behauptete der Chinese an Cloud gewandt. »Dieses wunderbare Fahrzeug, aus dem ich Sie barg, konnte unmöglich aus dem 21. Jahrhundert stammen. Es schien auch widersinnig, dass Sie vier gemeinsam darin durch die Zeit herbeigeholt worden waren.« Die Augen des Neo-Chinesen glühten auf. »Ich danke Ihnen, dass sie vor den Mikrophonen meines kleinen Nano-Spions so bereitwillig über Ihre Flucht Auskunft gegeben haben. Das ermöglicht es mir endlich, mit den machthabenden Keelon in ihren Türmen Kontakt aufzunehmen.« Cloud schwieg, doch seine Hände krampften sich um die Tischkante, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Wie werde ich dieses sicherlich amüsante Gespräch mit den aktuellen Machthabern am besten anlegen, hm? Was würden Sie mir raten, Mister Cloud? Soll ich die ganze Wahrheit sagen und darauf hoffen, dass man mir als Entlohnung für die Auslieferung gefährlicher Flüchtlinge die Skytown anbietet? Oder soll ich die Technik des Warrikks in Eigenregie erforschen? Die von Ihnen angesprochene, möglicherweise überlegene Technik ausnutzen?« »Yu, hören Sie mal zu«, sagte Cloud hastig. »Sie wissen gar nicht, auf was Sie sich da einlassen. Egal, ob Sie sich nun den Keelon in den Türmen der Macht anbiedern oder versuchen, sich mit dem Warrikk und seinen Möglichkeiten auseinander zu setzen - Sie haben keine Chance. Warum, glauben Sie wohl, sind wir auf der Flucht? Sie haben es mit unbarmherzigen, machtbesessenen Wesen zu tun, die keinen unbedeutenden Menschen an ihrem Erfolg Anteil nehmen lassen. Sie und ich sind winzige Fliegen, die sie verscheuchen oder zermalmen, je nachdem, wie gut oder schlecht die Keelon gelaunt sind. Lassen Sie sich doch nicht von harmlosen, weltfremden Wesen wie Atma täuschen. Ich hege den Verdacht, dass Skytown für die Machtinhaber eine Art Irrenanstalt darstellt, in die sie alle unangepassten Artgenossen abgeschoben haben...« »Halten Sie den Mund!«, fuhr ihm Yu Peng dazwischen. »Ihre Psychospielchen langweilen mich. Egal, ob Aspekt oder reales Lebewesen - finden Sie sich mit Ihrem Ende ab. Und ich werde mir von den Mächtigen bei meinen Verhandlungen ausbedingen, dass Ihr Tod schmerzhaft sein muss. Leben Sie wohl! Das Bild zerfloss, und die kleine Fliege verpuffte in einer winzigen Explosion.
»Aylea, wo genau ist dieses Zuchtgehirn, mit dem sich Yu Peng unterhalten will?« Das Mädchen wirkte verwirrt. »Rasch, wir haben nicht viel Zeit«, fuhr Cloud sie an. »Wo also?« Ungefähr hundert Meter in diese Richtung.« Sie deutete nach rechts, dorthin, wo der Dschungelraum liegen musste. »Wie gelangt er dorthin?« »Wenn sein momentaner Standort in der Nähe der Agora ist, führt der Weg über mehrere Transmitterstationen. Kannst du dich an diesen energetischen Schauer erinnern, als wir vom Dschungel hierher wechselten?« »Jaja«, sagte Cloud ungeduldig. »Glaubst du, dass wir mit deiner Hilfe hinterher können?«
»Ja.« Aylea zögerte. »Aber wir kommen doch nicht mal durch diese Tür. Der Öffnungsmechanismus...« »Schon gut. Jelto, jetzt bist du dran!« Sie durften Yu Peng unter keinen Umständen an das Zuchthirn heranlassen! Dieser Größenwahnsinnige würde sie ausliefern, und ohne den Amorphen hatten sie keine Chance, sich erfolgreich zu verteidigen. Davon abgesehen würde er wahrscheinlich auch diese keelonische Kommune und auch sich selbst mit in den Untergang reißen. Cloud blickte kurz umher. Die anderen Menschen - die Aspekte - standen vollkommen verwirrt umher. Auch wenn manche von ihnen die Vorgänge sowohl verstanden als auch erfasst hatten, waren sie mit der Situation überfordert. Sie mochten Helden und große Geister ihrer Zeit sein doch dies war nicht ihre Zeit! »Hier bin ich«, sagte Jelto bedächtig. »Ich möchte, dass du dieses Tor für mich öffnest.« »Ich? Aber wie...« »Natürlich nicht du, sondern eine dieser Pflanzen.« Cloud deutete auf ein Schlingpflanzengewächs, das im Zentrum des Versammlungsraumes stand. Verstehen zeichnete sich in Jeltos Gesicht ab. Er nickte langsam, drehte sich um und nahm den Topf mit dem Gewächs hoch. Er eilte zur Außentür, die sie zum Gang und zur Agora führen würde. »Nein«, fuhr Aylea dazwischen, die offenbar soeben begriff, was der Florenhüter vorhatte. »Probier es gleich an diesem Ausgang.« Sie deutete auf die Tür, durch die sie in den Dschungelraum gelangten. »Yu Peng muss auf jeden Fall da durch, wenn er zum Zuchthirn will.« »Na schön, umso besser«, sagte Cloud. »Also, Jelto! Zeig uns, was du kannst!« Der Florenhüter streichelte die Pflanze, die seine Liebkosungen sichtlich genoss. Er stellte sie ab und bog einen besonders kräftigen Schössling vorsichtig, sodass er in den Öffnungsmechanismus hineinragte. Immer tiefer schob Jelto ihn hinein, drehte den Topf mehrmals hin und her. Cloud biss die Zähne zusammen. Es konnte funktionieren, es musste funktionieren! So schwer der Öffnungsmechanismus für Menschen auch zugänglich war - er war sich sicher, dass ein Keelon ihn problemlos bedienen konnte. Und eine dünne, biegsame Pflanze, geleitet von einem erfahrenen Florenhüter, musste doch Gleiches vollbringen können! Plötzlich schwang die Tür auf. Jelto hatte es tatsächlich geschafft! Enttäuscht blickte Cloud in den Raum dahinter. Da verbarg sich keineswegs der ehemalige Kristallgarten, sondern ein weiterer, nüchterner Gang, nahezu unbeleuchtet! Aylea hatte sich geirrt! »Geh hinein, John«, sagte das Mädchen hastig. »Lass dich nur nicht täuschen, du wirst räumlich versetzt.« Ohne lang nachzudenken, überschritt er die Schwelle - und landete im Grün des Dschungels. Rasch sah er sich um. War Yu Peng bereits hier durchgekommen? War er zu spät? Er bückte sich und entdeckte die Spuren eines kleinen Mannes mit breit gestellten Füßen. Sie waren frisch, ganz frisch, und jetzt hörte er auch noch verhaltenes Husten, wenige Meter vor ihm. Cloud stürzte sich in den Dschungel, hatte dabei aber das Gefühl, als ob sich die Pflanzen bereitwillig vor ihm zurückzogen. Er blickte sich kurz um und sah, dass Jelto und Scobee hinter ihm über die Transmitterschwelle getreten waren. Der Florenhüter berührte ein breites Farnblatt und wirkte seltsam entrückt. Scobee schloss mit ihren weit ausgreifenden Schritten rasch zu ihm auf. Sie war schneller als er, geschickter und auch stärker. Er war froh, sie an seiner Seite zu wissen. Der Neochinese war mit Sicherheit ein gefährlicher Gegner im Nahkampf. Unterdrücktes, wütendes Fluchen erklang vor ihnen. Dann das Zerreißen mehrerer Lianen und Blätter unter den Hieben eines Messers. Hinter ihnen schrie Jelto erzürnt auf. Er fühlte offenbar, was Yu Peng mit seinen geliebten Pflanzen anstellte. Scobee schoss förmlich an Cloud vorbei, die Pflanzen öffneten vor ihr einen schmalen Korridor. Ein dumpfer Schlag war zu hören, ein unterdrücktes Stöhnen.
Dann war auch Cloud durch den Dschungel, nahezu am anderen Ende des ehemaligen Kristallparks. Scobee stand breitbeinig über dem zusammen gekrümmten Yu Peng. Er war bewusstlos.
Atma und drei weitere Artgenossen erschienen wenige Minuten später im Dschungel. Die Keelon wirkten äußerst aufgeregt, ihre nahezu glatte Oberhaut nässte stark. Die Flucht der vermeintlichen Aspekte aus ihrem Versammlungsraum war also nicht unbemerkt geblieben. »Das ist ja Yu Peng!«, sagte Atma atemlos und ärgerlich. »Was habt ihr ihm angetan? Ist Gewalt denn bei euch Menschen die einzige Lösung für ein Problem?« »Offen gestanden ist mir keine andere Möglichkeit eingefallen«, entgegnete Cloud kühl. »Oder hätte ich ihn an das Zuchthirn heranlassen sollen, damit er euch an die Mächtigen in den Türmen verrät?« Er dachte fieberhaft nach. »Damit er erzählt, dass ihr unerlaubte Zeitexperimente in Keelopolis durchführt?« Es war nur ein aus der Verzweiflung geborener Schuss ins Blaue - doch er saß punktgenau. Die Keelon zischten erschrocken und wedelten nervös mit ihren Strünken. »Lächerlich, John Cloud«, sagte Atma. »Jeder weiß, dass wir in der Abgeschiedenheit des Ozeans unseren eigenen Weg der Forschung beschreiten...« »Das ist eine ziemlich kühne Umschreibung für gefährliche Hochenergie-Experimente, die ihr durchführt, und die im Umkreis mehrerer hundert Kilometer für chaotische Zustände sorgen. Könnten sich denn die keelonischen Master in den Türmen nicht bedroht fühlen...« Cloud sprach mit mehr Selbstbewusstsein in der Stimme, als er tatsächlich empfand. »...und welcher Keelon würde schon der Aussage eines Menschen, beziehungsweise nur eines Aspekts, Glauben schenken?«, fuhr Atma unsicher fort. »Einer, der dem Menschen glauben will, um Störenfriede loswerden zu können«, erwiderte Cloud. Die Keelon wirkten verstört, konnten sich kaum artikulieren. Cloud, der sie dank eines von Darnok in seinem Stirnknochen eingesetzten Neurochips ausgezeichnet verstehen konnte, merkte, dass sie nachzugeben begannen. Trotz ihrer überlegenen Technik und ihres zweifellos scharfen Verstandes wirkten diese Keelon logischen Argumenten gegenüber mehr oder minder hilflos. »Ich hätte gute Lust, euch alle... verschwinden zu lassen und so das Problem zu beseitigen!“, zischte Atma. »Um damit eine gleiche Schandtat zu begehen wie eure Machthaber? Oder wie wir Menschen? Dazu seid ihr nicht imstande«, behauptete Cloud. Ein Stöhnen erklang. Yu Peng stemmte sich auf die Knie und rieb sich schmerzerfüllt das Kinn, dessen Haut gerötet und abgeschabt war. Scobees Fuß hatte hervorragend getroffen. »Dieser Mensch hier ist euer wahres Problem«, sagte John Cloud und deutete auf den NeoChinesen. »Er wollte euer Volk und zugleich sein eigenes verraten, nur um einen persönlichen Vorteil zu erringen.« Yu Peng stand langsam auf. Er passte sich äußerst rasch an die neue Situation an, das musste man ihm lassen. »Wer ist denn hier der Betrüger?«, rief er. »Wollen Sie den Keelon nicht die Wahrheit sagen, Cloud, dass Sie und Ihre Begleiter gar keine Aspekte sind? Dass Sie mit außerirdischer, ja, mit feindlicher Technik nach Skytown gelangt sind? Dass sie...« »Yu Peng hat Recht«, unterbrach ihn Cloud mit größtmöglicher Gelassenheit. Die Keelon verharrten atemlos. »Wir sind keine Aspekte, keine Wesen der Vergangenheit.“ »Das ist alles Unfug«, erklärte Atma und wandte sich mit den nächsten Worten an ihre Begleiter. »Ich denke, diese Aspekte sind tatsächlich ein Problem, das beseitigt gehört.« »Das ist ja lächerlich«, entgegnete Yu Peng und schnaubte, »ich bin kein Aspekt! Ihr wisst genau, dass ich euch seit eurer Ankunft hier auf der Erde vor mehr als zweihundert Jahren unterstütze. Ihr selbst habt mich einer Zeitbehandlung unterworfen.«
»Ein interessanter Fall von Wahnvorstellung«, sagte Atma, »und das bei einem nichtexistenten Lebewesen. Yu Peng, du bist zwar schon länger als die anderen herbeigerufenen Menschenaspekte bei uns - aber dennoch nicht real.« In Sekundenschnelle hatten sich die vier anwesenden Keelon zu einem kleinen Kreis zusammengefunden. Sie intonierten eine tiefe, brummige Melodie. »Nein!«, schrie Yu Peng mit weit aufgerissenen Augen. »Das ist eine Lüge! Ich bin real, ich bin kein...« Er warf sich herum und hetzte dorthin, wo sich das telepathische Zuchthirn befinden musste. Doch bereits nach nur einem Schritt löste er sich in Myriaden von Bestandteilen auf, im wahrsten Sinne des Wortes. Kleine, schwarze Fasern, Zeitfasern, schwebten langsam nieder und waren verschwunden, noch bevor sie den Boden berührten. »Das... nun, das kam wirklich etwas überraschend«, sagte Cloud leise. »In der Tat«, hörte er Atmas Stimme. »Ihr vier seid tatsächlich keine Aspekte.« Ihr Tonfall wurde nachdenklich. »Sehr verwunderlich. Wir werden beraten müssen, was zu geschehen hat...“ 10. John Cloud: Skytown, Gegenwart »Wir haben lange überlegt, wie wir mit euch verfahren sollen«, sagte Atma. Scobee, Aylea, Jelto und Cloud standen im Rund der Agora und hörten gespannt den Urteilsspruch, den die Keelon nun verkünden würde. »Offen gestanden wissen wir es nicht«, fügte sie nach einer unheilschwangeren Pause hinzu. »Eine übergeordnete Ethik und Moral sprechen dafür, euch ziehen zu lassen. Denn als Alternative würden wir euch dem Tod überantworten.« Atma zögerte kurz. »Doch dieselben Werte sagen uns auch, dass wir unser Volk nicht verraten dürfen.« Sie stieß ein fast menschlich klingendes Seufzen aus. »Wir entziehen uns also einer Antwort.« Was sollte das bedeuten? John und die anderen sahen sich ratlos an. Scobees Augen leuchteten mit einem Mal auf. Sie sagte so laut, dass sie alle im Raum verstehen konnten: »Wenn ich das richtig deute und die Mentalität der Keelon verstanden habe, heißt das, dass wir unseres Weges ziehen sollen. Die Bewohner von Keelopolis werden uns nichts in den Weg legen, sie werden uns aber auch nicht helfen. Sie werden uns schlicht und einfach ignorieren, als ob wir nicht existieren. Als ob wir ebenfalls nur Aspekte wären, die sich irgendwann wieder in Luft auflösen.« Atma legte zwei Strünke kreuzweise übereinander. Eine Geste, die John von Darnok her kannte, und die Zustimmung ausdrückte. Auch Erleichterung war den Körpern der Zeitwesen abzulesen. Erleichterung darüber, ein Problem auf möglichst elegante Weise loszuwerden. Die Keelon drehten sich wie auf Kommando um und verließen stumm die Agora. »Das war's dann wohl«, sagte Cloud kopfschüttelnd. Und wenn er tausend Jahre alt werden sollte dieses merkwürdige Volk und seine Beweggründe würde er nie verstehen. »Wir verschwinden so rasch wie möglich, bevor sie sich's anders überlegen.« Schweigend gingen sie im Gänsemarsch zurück in den Versammlungsraum, in dem die Männer und Frauen verschiedenster Zeitepochen bereits auf sie warteten. Diese hatten sehr wohl begriffen, dass das Schicksal der vier wirklichen Menschen auch eng mit dem ihren verwoben war. Auch wenn sie lediglich Aspekte waren, so fühlten sie sich doch als echte Menschen. »Walter, es war mir ein Vergnügen, dich kennen zu lernen«, sagte Cloud zu dem alten Schriftsteller. »Wir dürfen Skytown verlassen. Wenn es dir ein Trost ist - sobald ich die Gelegenheit habe, eine irdische Bücherei zu besuchen, werde ich nachlesen, was du alles geschrieben hast.« »Du wirst dich wundern«, sagte Ernsting mit spitzbübischem Lächeln. »Vieles, was du gerade erlebst, habe ich schon längst in meiner Fantasie und meinen Romanen vorweggenommen.« »Kannst du mir dann einen guten Rat geben?«, fragte John. Er hatte keine Ahnung, warum ihm gerade der Abschied von dem alten Mann so schwer fiel.
»Ach, da gäbe es so viele Dinge«, antwortete Walter. »Ich würde sagen: Halt die Ohren steif, nimm das Leben, wie es kommt - und verlier ja nie deinen Humor.“ Cloud musste unwillkürlich grinsen und nickte. Dann betraten er und seine Begleiter erneut das Energie-Tor, das sie in den Dschungel des ehemaligen Kristallparks führte.
»Jetzt interessiert mich nur noch, wo der Amorphe geblieben ist«, murmelte Cloud, als sie das Warrikk erreichten. Der Amphibienpanzer, der aus Hirten-Technik gefertigt war, klebte an der Innenseite einer Schleuse der ehemaligen Skytown. »Um ehrlich zu sein, würde ich ihn nicht besonders vermissen«, sagte Jelto, als er hinter dem ehemaligen Commander und Scobee das jeepähnliche Fahrzeug betrat. »Ich muss dich leider enttäuschen«, entgegnete Cloud und deutete auf eine gallertartige Masse, die im hinteren Bereich des Aufenthaltsraumes lag. Die Gestalt schimmerte und verschwand für einen Moment. Gleich darauf tauchte sie jedoch wieder auf. »Was macht er?«, überlegte Cloud laut. Er trat einen Schritt auf den Amorphen zu. »Heh! Wir verschwinden von hier!« Die Kreatur reagierte nicht. »Wir sollten hier so schnell es geht verschwinden, John«, drängte Scobee. »Um den können wir uns auch später noch kümmern. Wer weiß, was er ausheckt.« Cloud nickte, wirkte aber skeptisch. Doch er wandte sich dem Pilotensitz zu. »Er vibriert möglicherweise in der Zeit«, murmelte Aylea nachdenklich. Cloud hielt inne und blickte sie verblüfft an. »Der Amorphe verträgt diese Zeitmanipulationen möglicherweise wesentlich schlechter als wir«, sagte sie erklärend. »Vielleicht hat er versucht, sich zu wehren, und ist deshalb jetzt in diesem Zustand. Mal ist er in einer anderen Zeit, dann wieder hier. Es könnte doch sein, dass er«, sie fuchtelte mit der Rechten in der Luft, als ihr das richtige Wort nicht einfiel, »in einer Art Zeitschleife gefangen ist.« Cloud blickte sie verblüfft an. Er vergaß immer wieder, dass dieses zehnjährige Mädchen von vielen wissenschaftlichen Dingen mehr wusste als er. »Wir können nur hoffen, dass sich sein Zustand bessert, sobald wir Skytown verlassen haben«, sagte er schließlich. »Ohne seine Unterstützung sehe ich schwarz in der Station der Hirten.« »Armes Wesen«, sagte Aylea mitfühlend. Sie berührte den durchsichtigen Körper vorsichtig, bevor er erneut verschwand. Cloud fragte sich, ob Mitleid wirklich angebracht war. Während Scobee die Schotten schloss, sandte er den vereinbarten Code an die Zentrale der Skytown, und wie mit Pressluft vorangetrieben, schoss das Warrikk hinaus in die Dunkelheit des Meeres. Cloud wusste, dass sich die Unterseestation der Hirten nur wenige hundert Kilometer voraus befand. Er fragte sich, was sie dort erwartete. Hatten sie überhaupt eine Chance? In diesem Moment ließ sich Scobee auf dem Sitz neben ihm nieder. Sie lächelte ihn kurz an, bevor sie aus dem Fenster starrte. Cloud straffte sich und nahm sich wieder einmal vor, ab jetzt nicht mehr nur der Spielball irgendwelcher Mächte zu sein. Unwillkürlich musste er auch lächeln. Er und seine Begleiter hatten noch Vieles vor sich... ENDE
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