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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
DIE REIHE
Delikte Indizien Ermittlungen
Karl Heinz Berger
Sireneng...
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
DIE REIHE
Delikte Indizien Ermittlungen
Karl Heinz Berger
Sirenengesang
Verlag Das Neue Berlin
1971. Auflage© Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 Lizenz-Nr.: 409-160/122/84 LSV7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622618700200
„Lügen haben kurze Beine“ ist eine auch Otto Wermke geläufige Volksweisheit, die ihn jedoch nicht davor bewahrt, sich in Schwindeleien zu verstricken. Und so muß er denn auch seine betagten Beine strecken, wenn er nicht wie Wilhelm Klausner, ein Schwadroneur und grau gewordener Don Juan, mit dem er ein Zimmer in einem Berliner Feierabendheim teilt, in den Ruf eines unwürdigen Greises geraten will. Sein Freund hat nämlich über die Pfingstfeiertage das Seniorendomizil verlassen, um, wie er nur ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, auf Freiersfüßen zu wandeln. Als er zur vereinbarten Zeit nicht zurückkehrt und aus Sorge um ihn die Polizei eingeschaltet werden soll, forscht Otto Wermke nach seinem Verbleib – macht dabei die Bekanntschaft von Hauptmann Mönch sowie die Erfahrung, daß Alter nicht vor Torheit schützt.
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Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.
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1 Wilhelm Klausner erzählte wieder einmal die Geschichte seiner Gallenoperation, der er sich vor fünfundzwanzig Jahren unterziehen mußte und bei der er sich so tapfer gehalten hatte, daß der seinerzeit bekannte Professor SchultzeHintershausen ihm bescheinigte: „Solche Patienten wie Sie, Herr Klausner, wünsche ich mir immer. Keine Klagen, ein unbändiger Lebenswille – hervorragend!“ Und er erzählte sie mit glänzenden Augen, gestenreich und mit einer Frische, als hätte das alles erst vor einem Monat stattgefunden und als trüge er es zum ersten Mal vor. Ja, Wilhelm Klausner war stets bei der Sache, wenn er aus seinem Leben berichtete, aus einem Leben, das er für einmalig, weil vollgestopft mit erinnernswerten Ereignissen, hielt. Dann ging er, der lange, hagere Mann mit dem Schafsgesicht, ganz aus sich heraus, sparte nicht mit Abschweifungen und Ausschmückungen und versuchte jeder Person, die in seinen Erinnerungen eine Rolle spielte, auch dadurch ein unverwechselbares Gepräge zu geben, daß er ihr eigene Stimme und Ausdrucksweise verlieh, was ihm oft genug ins Groteske geriet, besonders wenn er, von der Natur mit einem heiseren Bariton ausgestattet, das Timbre von Frauen imitierte. Und er sprach oft von Frauen und seinem intimeren Umgang mit ihnen. Jedenfalls noch öfter als von seinen Krankheiten oder von seinen Erlebnissen aus Krieg und Gefangenschaft oder von seinen Zügen durch die Kneipen oder von seinen Berufen, von denen er ein gutes Dutzend ausgeübt zu haben 7
schien. Wollte man ihm glauben, so hatte er innerhalb von fünfzig Jahren („Mit zwanzig hat das mit den Damen bei mir angefangen“, pflegte er zu sagen und dabei so kühn aus grauen Augen zu blicken, daß jedermann vermuten mußte, diese Sache sei noch immer aktuell) Legionen von Frauen glücklich gemacht, mit seinen exzellenten Unterhaltungen, seiner männlichen Art, sich zu geben, und natürlich mit seiner schier unerschöpflichen Sexualpotenz. Und Otto Wermke wollte ihm glauben. Was auch hätte es ihm genützt, Wilhelm Klausners Berichte aus seinem Heldenleben zu bezweifeln? Was hätte es ihm eingetragen, wenn er all den Ereignissen, an denen Wilhelm Klausner teilgehabt, all den Beschäftigungen vom Matrosen auf der Transatlantik-Route und Rausschmeißer in einer Bar auf Sankt Pauli bis zum Schrittmacher bei Steherrennen und Matador im Traber-Sulky, die er ausgeübt, all den Kriegstaten, die er vollbracht, und all den Amouren, bei denen er gezeigt haben wollte, was . ein gestandener Mann ist, mit der Skepsis begegnet wäre, die ‘ sie wahrscheinlich verdienten? Schließlich wohnte er mit Wilhelm Klausner zusammen, sogar sehr eng zusammen. Sie teilten ein Zimmer im Feierabendheim „Christoph Wilhelm Hufeland“, ein sonniges, großes zwar, aber eben nur einst das durch die beiden Betten, zwei Schränke, einen Tisch und zwei Sessel den Eindruck von drangvoller Enge vermittelte. Da gab es kaum ein Ausweichen voreinander, auch vor Gesprächen nicht, und Otto Wermke hatte selten eine Chance, sich den Monologen seines Zimmerpartners, zu denen dieser jede Gelegenheit ausnützte, zu entziehen. Selbst die halbe Stunde vorm Einschlafen, die Otto Wermke sonst damit zugebracht hatte, den Tag Revue passieren zu lassen, nahm Wilhelm Klausner noch wahr, sich mitzuteilen. Er schien so gar kein Bedürfnis nach Kontemplation zu verspüren, kein Verlangen, vor sich hin zu dösen, nichts 8
anderem hingegeben als dem stummen Zug ungeordneter Gedanken und unscharf gewordener Bilder aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit, dachte Otto Wermke, ist dem Wilhelm in die Gegenwart gerutscht, und andauernd muß er sie aufs neue beleben, wobei seine Rolle darin jedes Mal ein bißchen anders wird; bunter, abenteuerlicher, verwegener. Das hatte er bald erkannt. Waren ihm auch anfangs, als er noch schwer am Tod seiner Frau trug und an der zwar nicht ausgesprochenen, jedoch deutlich spürbaren Weigerung der Söhne, ihn bei sich aufzunehmen, die wortreichen, zwischen Dichtung und Wahrheit webenden Erinnerungen des drei Jahre jüngeren Zimmergenossen lästig gewesen, so hatte er sich nach dem knappen Jahr, das sie nun schon miteinander verbrachten, an sie gewöhnt. Inzwischen ließ er sie nicht mehr nur über sich ergehen, sondern betrachtete sie als eine Art verqueren, aber nicht unangenehmen Zeitvertreib, der ihm für Stunden die müßigen und oftmals trüben Gedanken darüber verscheuchen konnte, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte. Auf seinen Spaziergängen, die meist durch die ziemlich genau einen Kilometer lange Straße mit den grauen, verwitterten und zu einem Teil noch von Kriegsschäden gezeichneten Häusern zu dem großen Park führten oder über die breite, einstmals als prachtvoll und vorbildlich für sozialistisches Bauen angesehene Magistrale mit ihren massigen, Säulen- und ornamentbewehrten Wohnblocks, sah man ihn kaum ohne Wilhelm Klausners Begleitung. Und auch in der Stunde zwischen fünf und sechs Uhr am Nachmittag, in der er Tag für Tag exakt zwei kleine Pilsner und einen doppelten Korn im „Schusterjungen“ trank, war Klausner stets an seiner Seite, so daß Herr Friedrich, der Leiter des Feierabendheims „Christoph Wilhelm Hufeland“, die beiden Männer „die Zwillinge“ nannte, wenn auch der ein gutes Stück kleinere und beleibte Otto mit seinem Kugelkopf 9
und dem Watschelgang zu der schlanken, noch immer aufrechten Gestalt Wilhelms aufs äußerste kontrastierte. Es war am Freitag, dem 20. Mai, als Wilhelm Klausner, nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche, die Geschichte von seiner Gallenoperation zum besten gab, während sie im „Schusterjungen“ saßen, wie immer an dem Vierertisch gleich hinter dem Windfang. Sie hatten ihr erstes Bier und die Hälfte vom doppelten Korn bereits getrunken und warteten darauf, daß der Kellner, ein breitschultriger junger Mann mit einer Kunstlederschürze vorm Bauch, das zweite Glas unaufgefordert vor sie hinstellen würde. Otto Wermke hielt ein erloschenes Zigarillo zwischen den Zähnen, Wilhelm Klausner zündete sich eine „Karo“ an, die er zur kopfschüttelnden Verwunderung aller als aromatischste und leichteste Zigarette aus einheimischer Produktion pries. Mit großer Geste wedelte er das Streichholz aus, so die Bedeutung des Lobs aus dem Mund von Professor Schultze-Hintershausen unterstreichend, und sagte: „Ich hab eben immer meinen Mann gestanden, in jeder Lebenslage.“ Otto Wermke nickte, sah dem Kellner entgegen, der beiden das zweite Glas Bier an den Tisch brachte, und dachte: So überzeugt möchte ich das von mir auch mal behaupten können. „Aber denk nur nicht“, fuhr Wilhelm Klausner fort, „das hat immer Anerkennung gefunden.“ Jetzt kommt er dir wieder, vermutete Otto Wermke, mit der „größten Enttäuschung meines Lebens“ und der schon oft gehörten Litanei: „Also, stell dir mal vor, du hängst fast das ganze Jahr über als Bestarbeiter in der Aktivistenecke, großes Foto, rotes Tuch dahinter, und dann wird ein Brigadier gesucht, weil der alte urplötzlich den Löffel abgegeben hat…“ So nämlich begann eines von Wilhelm Klausners Lieblingsärgernissen, das noch vor der Episode fangierte, in der ein Schiedsrich10
ter ihn vor fünfundvierzig Jahren auf der Radrennbahn in Dortmund disqualifiziert hatte, weil er angeblich ein zum Überholen ansetzendes Steher-Gespann unfair gegen die obere Bande gedrückt hatte. In einer anderen Variante war es die untere Begrenzung gewesen, und dann wieder hatte ihm der Schrittmacher seines Konkurrenten beim Überholen einen Tritt gegen das Schienbein verpaßt, so daß er, Wilhelm, mit einem Schlenker aus der Richtung geraten war und fast gestürzt wäre. Aber die angenehme Aussicht, wieder etwas vorgesetzt zu bekommen, bei dem es höchstens darum ging, auf die Abweichungen von der zuvor dargebotenen Version zu achten und daraus eine kleine Entdeckerfreude zu ziehen, erfüllte sich nicht. Wilhelm Klausner wartete mit einer Geschichte auf, die Otto Wermke noch nicht kannte. Er schien auch ernster gestimmt, und der Bericht von der Gallenoperation war wohl nur der heitere Auftakt zu Wichtigerem gewesen; denn er begann, Groll und Wehmut zugleich in der Stimme: „Du weißt doch, ich habe eine Tochter.“ Das wußte Otto Wermke zwar nicht; ihm war nur aus gelegentlichen Erwähnungen bekannt, daß Wilhelm ziemlich spät geheiratet hatte, erst mit vierzig etwa, und daß seine Frau nach einer langwierigen Krankheit, über die er sich nicht näher ausließ, vor drei Jahren gestorben war. Überhaupt hatte Wilhelm Klausner nie Genaueres über diese Ehe berichtet, so eifrig er auch sonst darin war, Histörchen aus seinem Leben an den Mann zu bringen, und Otto Wermke nahm deshalb an, es könnte nicht zum besten um die beiden bestellt gewesen sein. Vielleicht war die Frau eine Xantippe, oder sie hat ihm zu deutlich seine Grenzen gezeigt. Wer weiß? Von der Tochter jedenfalls hatte er noch nie gesprochen. Dennoch nickte Otto Wermke, schon um nicht den Fluß der zu erwartenden Erzählung von vornherein zu stören. 11
„Diese Tochter ist das Undankbarste, was mir in meinem Leben begegnet ist“, fuhr Wilhelm Klausner fort, und er hatte plötzlich ein Zittern in der Stimme, das man meist nur von Schauspielern in tragischen Rollen oder von Menschen hört, die Selbstmitleid in reichem Maß produzieren. „Ich habe das Mädel geliebt wie nichts sonst auf der Welt, hab ihr jeden Wunsch erfüllt, jeden. Jeden schwerverdienten Groschen hab ich für sie geopfert.“ Und als müsse er sich den Kummer von der Seele spülen, goß er den Rest aus dem Schnapsglas in sich hinein und signalisierte dem verwunderten Kellner, er wolle einen Korn über das selbstgesetzte Quantum hinaus trinken. „Und was hab ich geerntet? Nichts als Undank. Mit achtzehn war sie aus dem Haus.“ „Was soll das jetzt noch?“ sagte Otto Wermke, um das Lamento abzukürzen. Zudem konnte er vom schieren Undank der Kinder selber ein Lied singen. Oft genug fragte er sich, was er falsch gemacht hatte bei der Erziehung der beiden Söhne, daß sie ihm nach dem Tod seiner Frau mit allerlei Ausreden den Einzug in ihre Familien verweigerten, obwohl sie doch wußten; daß er nicht allein hausen mochte und sich vor nichts so sehr fürchtete als vor einem Leben im Altersheim. „Das ist doch alles versungen und vertan.“ „Nichts ist versungen und vertan!“ Wilhelm Klausner stellte den leeren Stamper heftig auf den Tisch und reckte den Kopf vor. „Malerin ist sie geworden! Und dabei hab ich sie das Abitur machen lassen. Alles mögliche hätte sie studieren können. Auf Arzt oder Apotheker, Ingenieur, meinetwegen auch auf Lehrer. Aber nein, sie mußte in diesen Pennerberuf. Und geheiratet hat sie mit zwanzig. Nach vier Jahren war sie geschieden.“ „Laß gut sein, Wilhelm“, sagte Otto Wermke, dem die offensichtlich echte Erregung unheimlich zu werden begann. Er 12
kannte Wilhelm als selbstsicheren Mann, der lieber mit einem Lachen oder einer Flunkerei über die Ecken und Kanten seiner Biographie hinweghuschte, wenn er sie überhaupt einmal zur Sprache brachte. „Die Kinder müssen eben ihren eigenen Weg gehen.“ „Ich habe keine Mühe gescheut, bin keiner Gefahr ausgewichen, habe mich im Krieg wie im Frieden bewährt. Krumm geschuftet habe ich mich für meine Familie.“ Mit wachsendem Unbehagen registrierte Otto Wermke, wie Wilhelm Klausner aus der Weinerlichkeit ins Pathos überwechselte, und fürchtete, sein Freund könne im nächsten Augenblick das Selbstlob über die Grenze des noch Vergnüglichen hinaustreiben. „Aber dieses Mädel…“ Die Worte schienen ihm auszugehen, das Verhalten der undankbaren Tochter zu charakterisieren. Da der Kellner den Korn brachte, wurde das unerfreulich gewordene Gespräch unterbrochen, und als er sich wieder vom Tisch entfernt hatte, schien Wilhelm Klausners Erregung ein wenig abgeklungen zu sein. Dennoch ließ er nicht ab vom Gegenstand seines Lamentierens. „Jahrelang bin ich Luft für sie gewesen, manchmal hat sie, heimlich natürlich, ihre Mutter besucht, wenn ich nicht zu Hause war. Ich hab’s gemerkt, weil die Alte dann wieder ganz verdreht gewesen ist.“ Seine Hände fuhren auf der karierten Tischdecke hin und her, als wollten sie Krümel wegwischen. „Und plötzlich, nach all der Zeit, erhalte ich einen Brief von ihr.“ Er fingerte hastig ein aufgerissenes Kuvert aus der Innentasche seines Sakkos. „Es geht ihr gut, schreibt sie, und so weiter, und ob wir nicht endlich das Kriegsbeil für immer begraben wollten. Und außerdem, schreibt sie, hat sie vor drei Monaten ein Kind bekommen, selbstverständlich ohne einen anständigen Vater für den Kleinen zu haben. Der Junge heißt Marius, schreibt sie, ist ganz süß, und er würde mir bestimmt viel Freude bereiten. Wie fin13
dest du das?“ „Ist doch schön, wenn sich ein Kind an seinen Vater erinnert, nach so langer Zeit, und wenn man Großvater geworden ist, ist das noch viel schöner.“ „Schön nennst du das? Großvater von einem Bankert!“ Wilhelm Klausner sah sein Gegenüber mit einem Blick voller Unsicherheit an. „Du kennst sie eben nicht. All die Jahre hab ich darauf gewartet, daß sie mir einen Schritt entgegenkommt. Aber nichts, nichts ist geschehen.“ Plötzlich schien Wilhelm Klausner den Tränen nahe zu sein. Der weit vorspringende Adamsapfel tanzte bei den heftigen Schluckbewegungen an seinem dürren Hals auf und ab. Dann atmete er tief durch, schüttelte sich und sagte mit gepreßter Stimme: „Nein, nein, die will was von mir. Und ich weiß auch, was die will. Aber da wird nichts draus, das versichere ich dir. Ich werd auf keinen Fall Zahlemann und Söhne machen, ich nicht. Soll sie doch sehen, wo sie bleibt.“ „Übertreibst du da nicht?“ wandte Otto Wermke vorsichtig ein. Denn was ist schon, dachte er, aus Wilhelm groß herauszuholen, bei seiner miesen Rente, die gerade für die beiden täglichen Biere, das Glas Schnaps und die Packung „Karo“ reicht?“ „Ich weiß, was ich weiß“, beharrte Wilhelm Klausner. Er gab sich wieder ganz als der harte alte Mann, der nicht gewillt oder nicht fähig ist, auch nur einen Fingerbreit von seiner vorgefaßten Meinung abzuweichen. „Und wenn sie auf mein Abkratzen spekuliert, dann hat sie sich verdammt schlimm geschnitten!“ Und er zog die Brauen so hoch, daß sich auf seiner schmalen Stirn unter dem noch dichten schlohweißen Haar und an den Schläfen eine Unmenge von Fältchen bildeten. Damit schien die Angelegenheit für ihn abgetan. Er nahm das volle Glas, prostete und sagte: „Schließlich ist jeder seines Glückes Schmied.“ 14
Otto Wermke war es gar nicht recht, daß sein Zimmergenosse sich so sehr gegen die Tochter verhärtete. Auch wenn er selber nicht die besten Erfahrungen im Umgang mit seinen Söhnen gemacht hatte, die sich ihm auf andere Weise, aber wohl nicht weniger gründlich entzogen hatten, So war ihm nie in den Sinn gekommen, so schroff von ihnen zu sprechen. Und auch Wilhelm durfte auf diesem Standpunkt nicht beharren. Also setzte er noch einmal an, ihn zu einer freundlicheren Haltung zu bewegen. Ansehen müsse er sich doch wenigstens das Baby, schon um seines eigenen Friedens willen, sagte er. Schließlich sei es sozusagen sein eigen Fleisch und Blut, und wenn man selber schon nicht mehr allzulange zu leben hat, dann sei so ein Blick auf die Zukunft immerhin recht tröstlich. „Ach, hör doch auf“, sagte Wilhelm Klausner; aber das klang schon nicht mehr ganz so abweisend, und auch die hinzugefügte Bemerkung „Du bist und bleibst eben ein alter sentimentaler Dussel“ war eher freundschaftlich gemeint und zeugte von einiger Nachdenklichkeit. Und Otto Wermke ließ nicht locker, hakte sogleich nach, indem er verlangte, daß Wilhelm, da er doch schon davon gesprochen habe, wie sehr ihm seine Tochter damals ans Herz gewachsen gewesen sei, unbedingt noch einmal mit sich zu Rate gehen müsse. „Schließlich hat sie dir geschrieben, du bist ihr nicht nachgelaufen. Also vergibst du dir dabei nichts.“ „Du kannst einem schon auf die Nerven gehen.“ Wilhelm Klausner lachte, trank dann den Rest seines Biers und stand entschlossen auf. Es schien Otto Wermke, als habe Wilhelm die Sache nur aufs Tapet gebracht, um sich in seiner Absicht, auf die Tochter zuzugehen, bestärken zu lassen. Eine halbe Stunde später saßen die beiden alten Männer in dem großen, mit einem drei Meter hohen und sieben Meter langen Wandgemälde gezierten Speisesaal des Feierabendheims 15
„Christoph Wilhelm Hufeland“ inmitten jener der sechzig Bewohner, die nicht durch Krankheit oder durch Schwäche gehindert waren, am gemeinsamen Abendbrot teilzunehmen. Um sie war das Klappern von Tellern und Besteck und das gedämpfte Gewirr von Stimmen, aus dem nur ab und zu ein lauterer Ton oder ein Husten hervorstach. Durch die Gänge der in Reihen angeordneten Vierertische ging, die Hände auf den Rücken gelegt, Herr Friedrich, der Heimleiter, ein etwa vierzigjähriger und in einen mausgrauen Anzug gekleideter unauffälliger kleiner Mann mit dickglasiger Hornbrille, die seinem Gesicht einen Anflug von Hilflosigkeit und Verletzlichkeit verlieh. Er war ein diplomierter Psychologe, der sich trotz seiner verhältnismäßig jungen Jahre im allgemeinen gut in die Sorgen und Hoffnungen alter Menschen einzufühlen vermochte oder sich zumindest darum bemühte. Dann und wann blieb er an einem Tisch stehen, erkundigte sich nach dem Befinden, fragte, ob das Essen schmecke oder was man am Nachmittag unternommen habe, und ,warb dabei auch für den bunten Abend, der am nächsten Tag stattfinden sollte und für den sich unter anderem ein Pionierchor angesagt hatte. Als Herr Friedrich sich Wilhelm Klausner zuwandte und wissen wollte, ob er denn wirklich entschlossen sei, den Sonnabend und den Pfingstsonntag bei seiner Schwester zu verbringen, da ihm doch dadurch der bunte Abend entginge, entgegnete dieser mürrisch: „Ich fühle mich nicht alt genug, um mich von Schnöseln vollsingen zu lassen, die so tun, als erweisen sie uns damit Gott weiß nicht was für eine Wohltat.“ Daraufhin entfernte sich Herr Friedrich wortlos und noch hilfloser aussehend, doch mit dem unerschütterten Bewußtsein, man müsse alte Leute nehmen, wie sie sind. Überhaupt schien Wilhelm Klausner an diesem Freitag vor Pfingsten nicht aufgelegt, die Rolle des heiteren, zufriedenen, 16
rüstigen Rentners und Feierabendheimbewohners zu spielen, der sogar noch ohne Brille lesen kann und der sich zum Amüsement anderer immer wieder in alten Geschichten ergeht. Das erfuhr Otto Wermke nach den harten Worten seines Freundes über die Tochter und der schroffen Antwort an Herrn Friedrich zum dritten Mal, als sie sich durch einen Abendspaziergang in dem weitläufigen Park am Ende der längen grauen Straße die nötige Bettschwere zu holen suchten. Unvermittelt nämlich und unter Husten, nach einem zu tiefen Zug von der Zigarette, begann Wilhelm Klausner sein Los zu beklagen: Seit zwei Jahren sei er in diesem Heim eingesperrt, lebe unter zum größten Teil senilen Leuten, die alle ihre Macken hätten. Gewiß, er sei freiwillig eingezogen, damals, als er nach der langwierigen Prostatageschichte nicht ganz auf dem Damm war und sich keiner um ihn kümmerte, aber man solle nur ja nicht glauben, er bleibe „in dieser Mumienversammlung“, bis man ihn einsarge. Nein, so stupid sei er denn doch noch nicht. „Wilhelm Klausner“, sagte er, „hat noch immer einen Ausweg gefunden, auch aus der miesesten Situation. Dem fällt auch diesmal was ein.“ Und ungehemmt ließ er seiner Verachtung für das Dasein, das er jetzt fristete, ihren Lauf, fuchtelte mit dem Spazierstock, ohne den er nie einen Schritt vor die Tür setzte, und ereiferte sich dermaßen, daß Vorübergehende sich verwundert nach den beiden alten Männern umsahen. So verbittert hatte Otto Wermke ihn noch nie erlebt. Sicher, es gab immer wieder Stunden, in denen man sich voll Wehmut der Zeit erinnerte, da man einen eigenen Haushalt geführt hatte und in allem Herr seiner Entscheidungen gewesen war. Wer von den Bewohnern des Heims sprach nicht gern da-’ von, und wem hatte nicht schon der Gedanke das Herz schwer gemacht, daß dies nun die letzte, die endgültig letzte Station seines Lebenswegs war? Doch folgte fast immer bald darauf die Ein17
sicht, daß man gut aufgehoben war unter der Obhut von Leuten, die gelernt hatten, wie man mit alten Menschen umgeht. Auch Otto Wermke war die Umstellung nicht leichtgefallen, und er hatte es dann als trostreich empfunden, wenn Wilhelm ihn mit seinem überzogenen Selbstbewußtsein und den Histörchen aus seinem bunten Dasein traktierte. Und nun erlebte er ihn zum ersten Mal als jemanden, der an Ketten zerrte, die doch eigentlich nur in seiner Einbildung existierten. Vielleicht hatte der unerwartete Brief seiner Tochter das alles ausgelöst. „Und was willst du unternehmen?“ fragte Otto Wermke vorsichtig. „Du kannst doch nicht einfach weglaufen.“ „Kann ich nicht?“ In Wilhelm Klausners graue Augen, die soeben noch dunkel vor Zorn gewesen waren, schlich sich ein listiger Ausdruck. „Man kann so vieles, Otto. Wenn ich dran denke, wie ich vierunddreißig in Rio einfach von Bord dieses holländischen Seelenverkäufers ohne einen Cruzero in der Tasche abgehauen bin und mich vier Monate in der Stadt durchgeschlagen hab… Du weißt ja.“ „Aber da bist du noch jung gewesen.“ Wilhelm Klausner ließ sich von diesem Einwurf nicht irremachen. Er war stehengeblieben, hielt den Spazierstock wie ein Gewehr im Präsentiergriff vor dem Leib. „Oder damals in Rußland, auf dem Rückzug, als ringsum fast alle wie die Fliegen krepiert sind, an Erschöpfung und an Verwundungen, und als die Partisanen uns hinter jedem Baum auflauerten und die T 34 uns das Laufen beibrachten – da ist der Wilhelm Klausner durchgekommen, mit Bravour, und er hatte zum Schluß noch zwei Paar pelzgefütterte Stiefel und eine warme lederne Fliegerjacke extra, wo die anderen in Opanken latschten und sich in den dünnen Kommißmäntelchen zu Tode froren.“ „Aber du kannst doch nicht mehr allein leben“, warf Otto Wermke ein, um ihn von seinen martialischen Renommiererei18
en abzulenken. „Und wenn du ehrlich bist: Du willst es doch auch gar nicht.“ „Wer sagt denn, daß ich allein leben will?“ Jetzt lachte Wilhelm Klausner wie einer, der seinen Partner an der Nase herumgeführt hat. Seine Heiterkeit weckte Staunen bei Otto Wermke. „Du meinst…“ „Warum nicht?“ Wilhelm Klausner reckte sich, daß die Wirbel knackten, und stieß den Stock hart auf die Erde. „Ich bin ein Mann, bin immer einer gewesen. Da werd ich mich auch auf meine alten Tage nicht zum Mummelgreis qualifizieren.“ „Aber bedenk doch: Eine Frau in unsrem Alter…“ „Davon war nicht die Rede.“ „Oder meinetwegen ein paar Jahre jünger…“ Otto Wermke verstummte unter dem Blick Wilhelms. So sah einer drein, dem etwas ungeheuer Dummes zugemutet worden war. Erhobenen Hauptes und mit forschem Schritt nahm er den Spaziergang wieder auf, so daß Otto Wermke Mühe hatte, nicht zurückzubleiben. Als sie dann auf einer Bank saßen, sagte Wilhelm Klausner, das Kinn auf die Stockzwinge gestützt und den Blick auf eine Gruppe von jungen Männern gerichtet, die sich auf einer betonierten Freiluft-Kegelbahn vergnügten: „Dir kann ich’s ja anvertrauen: Ich hab da was im Auge. Aber wehe, du quatschst! Eines nicht allzu fernen Tages sieht der Herr Friedrich dämlich aus der Wäsche, wenn er nämlich einen Brief bekommt, und in dem steht, der Wilhelm Klausner meldet sich ab, mit Dank und schönem Gruß.“ Danach schwieg er eine ziemliche Weile, doch Otto Wermke konnte ihm vom Gesicht ablesen, daß es in seinem Kopf rumorte. Jetzt, da sein Geheimnis halb heraus war, drängte es ihn offensichtlich, den Rest hinterherzuschicken. Otto kannte den Zimmergenossen gut genug, um in diesem Augenblick nicht 19
nachzuhaken. Er wußte – Wilhelm würde keine Gelegenheit, sich als Prachtkerl in Pose zu setzen, verschenken. Also wartete er geduldig, schaute zu den Keglern hinüber und lauschte auf das Gezeter eines Schwarms von Spatzen, der sich in der Linde über ihnen zum Schlafen versammelt hatte. Und seine Geduld wurde belohnt. Nach zwei Minuten nahm Wilhelm Klausner das Kinn von der Zwinge, klemmte den Stock zwischen die Knie und holte etwas aus seiner Jackentasche. „Das ist sie“, sagte er so beiläufig wie möglich und reichte Otto Wermke eine kolorierte Fotografie von Postkartenformat, bei deren Anblick dieser denn doch erschrak. Was er sah, war das großflächige Gesicht einer Frau von sicherlich nicht einmal vierzig Jahren, von dem ein ziemlich handfester erotischer Reiz ausging, trotz des gezierten Lächelns, das ihr der Fotograf vermutlich abverlangt hatte. Er betrachtete das Bild einige Sekunden lang, ohne etwas zu sagen, und dachte das Übliche: Die könnte seine Tochter sein! Doch dann, als er zu Wilhelm Klausner hinübersah, auf dessen Miene sich die Erwartung, wie das Urteil ausfallen würde, mit dem Ausdruck einfältigen Besitzerstolzes mischte, brachte er nicht den Rat über die Zunge, die Finger von einer so jungen Frau zu lassen, sondern nickte nur und fragte, um überhaupt etwas zu sagen: „Und die wohnt hier in der Stadt?“ „Nein, nein, in Friedrichslust.“Otto Wermke kannte Friedrichslust, das früher verträumte Nest an einem der Seen im Südosten der Stadt, kannte es von Paddeltouren her, die er bis vor fünfzehn Jahren noch mit seiner Frau unternommen hatte. Und über der Erinnerung vergaß er für einen Moment den Mann neben sich und die Frau, deren Konterfei er in der Hand hielt, und erst als Wilhelm drängend wissen wollte, wie er sie finde, sagte er: „Sehr nett.“ „Sehr nett, sehr nett! Was heißt das?“ Wilhelm Klausner war 20
enttäuscht über die laue Reaktion. „Du solltest sie mal in natura sehen. Wenn du willst, nehme ich dich demnächst mit zu ihr. Wir setzen uns einfach in die Kneipe, wo sie bedient, direkt am Wasser. Tüchtiges Frauchen.“ Und als sei ihm alles daran gelegen, Otto von der Qualität der Dame zu überzeugen, sang er wohl eine Viertelstunde lang ihr Lob; pries ihre Figur, ihre Intelligenz, ihre erotische Ausstrahlung, ihre Kochkunst und was man sonst noch an einer Frau rühmen kann. „Du denkst doch sicher, die ist zu jung für mich“, sagte er schließlich und lachte kurz, um anzudeuten, wie sehr Otto sich da täuschte. „Es gibt eben Frauen, die sind mehr auf Erfahrung aus, auf Verständnis, verstehst du? Die haben nichts von den grünen Dachsen, die brauchen was Solides, so eine Art Vater.“ Otto Wermke merkte es am Tonfall, daß Wilhelm sich trotz der großen Worte nicht ganz sicher fühlte und daß er all das eher vorbrachte, um vor sich selber bestehen zu können. „Jedenfalls fliegt meine Heidemarie auf mich“, schloß er forsch, „und morgen fahr ich zu ihr hin.“ „Aber du hast doch dem Friedrich gesagt, du fährst für zwei Tage zu deiner Schwester.“ „Wehe, du quatschst!“ sagte Wilhelm Klausner noch einmal und hob seinen Spazierstock zu halber Höhe. Otto Wermke kam es für einen Moment so vor, als läge eine wirkliche Drohung in der Geste, und das verstimmte ihn denn doch. „Was geht es mich schließlich an“, murmelte er, erhob sich von der Bank und trat, ohne sich um seinen Gefährten zu kümmern, den Heimweg an. Soweit kommt es noch, dachte er, daß ich mir von ihm drohen lasse, nur weil er über der Bekanntschaft mit einer Frau den Kopf verloren hat. Nein, das ist wirklich nicht meine Sache, ich hab selbst genug um die Ohren. Und wie zur Bestätigung dieses Gedankens fing sein linkes Knie 21
wieder an zu schmerzen, das Knie, auf das er sich bei seiner lebenslangen Arbeit als Gärtner ungezählte Male hatte niederlassen müssen und an dem die Ärzte schon seit zwanzig Jahren vergebens herumdokterten. Da fühlte er eine Hand auf der Schulter und hörte Wilhelm Klausner sagen: „Du solltest nicht so verdammt eitel sein und deinen Stock mitnehmen, wenn wir ausgehn. Du hinkst wieder schrecklich. Hier, nimm meinen.“ Und er drückte ihm den eigenen Stock – echt Panamarohr mit einer Zwinge aus Elfenbein – in die Hand, den er angeblich als junger Mann einem leibhaftigen englischen Lord in Valparaiso beim Pokern abgenommen hatte, als dem das bare Geld ausgegangen war, und der wie durch ein Wunder alle Wechselfalle des Kriegs und der Nachkriegszeit heil überstanden hatte. Otto war gerührt von der täppischen Art Wilhelms, sich zu entschuldigen, nahm die Gehhilfe und blinzelte versöhnt in die tiefstehende Sonne, die ihr rötliches Licht auf die lange, schnurgerade Straße warf und das stumpfe Grau zu freundlicheren Farbschattierungen milderte. Später, als sie im Bett lagen und er, schon halb im Schlaf, sich noch einmal mit all dem beschäftigte, was der Tag gebracht hatte, sagte Wilhelm Klausner: „Weißt du, wenn alles geklappt hat, mit Heidemarie, meine ich, dann wär’s doch nicht übel, wenn du zu uns ziehst. Was hältst du davon?“ Otto Wermke dachte nur lächelnd: Du bist ein Spinner, Wilhelm! Aber er war schon zu nahe an den Schlaf herangedriftet, um etwas zu erwidern.
2 Der Bunte Abend am Samstag brachte das Übliche: einen Conferencier, der die Bewohner des Heims für das reizendste Publikum erklärte, vor dem er je gestanden habe, 22
und der sich im übrigen, auf die Umgebung eingestellt, zweideutiger Witze enthielt und statt dessen mit Scherzen aufwartete, über die das betagte Publikum schon in jungen Jahren gelacht haben mußte; einen Zauberkünstler, der verschwenderisch Tauben und Papierblumen aus allen möglichen Behältnissen produzierte; eine Kraftsportgruppe aus einer Betriebssportgemeinschaft, die Pyramiden aus menschlichen Leibern baute, und einen Schulchor, der im Wechsel Pionier- und Volkslieder vortrug. Anschließend gab es pro Person eine halbe Flasche Wein, und eine Blaskapelle spielte mit Walzer, Rheinländer, Polka und Foxtrott zu einer „Senioren-DiskoVeranstaltung“ auf. Otto Wermke, der nacheinander von drei vergnügungssüchtigen Damen betanzt worden war, schützte, als ihn auch noch die als etwas einfältig geltende und deshalb auch weitgehend gemiedene Frau Pachulke, die die feinsten Filetdeckchen häkeln konnte, aufs Parkett lotsen wollte, heftige Schmerzen im linken Knie vor und schlich sich, obwohl er erst die Hälfte der halben Flasche Wein getrunken hatte, auf sein Zimmer, müde, als hätte er den ganzen Tag über schwere Säcke geschleppt. Mit einem bißchen Neid im Herzen dachte er an Wilhelm Klausner, der jetzt irgendwo in traulicher Umgebung saß und plauderte oder womöglich nicht allein auf einer Couch lag, in noch traulicherer Atmosphäre. Er schüttelte heftig den Kopf, als könne er so die dummen Bilder, die sich mit peinlicher Deutlichkeit einstellten, verscheuchen; dann wusch er sich, putzte umständlich sein Gebiß und legte es in eine Lösung, die über Nacht zusätzlich reinigend wirken sollte. Im Bett kamen die Bilder wieder, und sie zeigten Wilhelm in allerlei Situationen, so daß er sich schließlich einen alten Esel schalt, den noch immer Flausen plagten, und zur Abwehr der ins Groteske ausufernden Vorstellungen rief er sich die Szene ins Gedächtnis, wie Wilhelm sich am Vormittag von ihm ver23
abschiedet hatte; gekleidet in seinen guten braunen Anzug und das Schafsgesicht mit einem unternehmungslustigen Grinsen überzogen. Er hörte ihn sagen: Na, dann woll’n wir mal. Und daß du mir die Klappe hältst, Otto, sonst massakrier ich dich! Und er selber hatte ihm noch mit auf den Weg gegeben: Viel Vergnügen, Wilhelm. Und vergiß darüber nicht, ein bißchen mehr über deine Tochter nachzudenken. Am Pfingstsonntag nahmen ihn seine Söhne in Beschlag, wie vor Wochen schon verabredet. Gleich nach dem Frühstück kam sein Ältester, ein zu Korpulenz neigender, trotzdem alerter Mann von mittlerer Statur und mit gepflegter Halbglatze, in seinem Citroen vorgefahren, jeder Zoll der gute Sohn, der sich um den alten Vater kümmert. Er plauderte fünf Minuten mit Herrn Friedrich, der wußte, daß Dr. Walter Wermke ein hochgeschätzter Spezialist für Computertechnik bei der Reichsbahn war, und ihn also entsprechend achtungsvoll behandelte, und dann ging die Fahrt Richtung Norden, wo sich am Stadtrand das Grundstück befand, auf dem Walter ein Haus hatte bauen lassen. Unterwegs machte man halt an dem Friedhof, wo Anna Wermke begraben lag. Walter überzeugte sich davon, daß die Stelle vom Gärtner mit gebührender Aufmerksamkeit bedacht wurde, und drängte den bei mancherlei Erinnerung stumm vor dem Grab verharrenden Vater dezent zum Aufbruch, da es zu regnen anfing und er keinen Schirm bei sich hatte. Die Begrüßung durch Margret, die noch immer sehr blonde und ebenso gepflegt aussehende wie sich reserviert verhaltende Schwiegertochter mit der durch nichts zu hemmenden Ambition, einmal Ministersgattin zu werden, fiel, wie stets, reichlich kühl aus. Man placierte ihn, da es inzwischen in Strömen goß und ein Aufenthalt auf der großen Terrasse mit dem schönen Blick auf den englisch getrimmten Rasen und die Blumenrabatten nicht möglich war, in den Ohrensessel am Fenster des Kaminzim24
mers. Walter stellte eine Kiste mit Zigarren vor ihn hin, dazu eine Flasche „Asbach Uralt“ und berichtete von seiner letzten Reise nach Schweden, die er zwecks Erfahrungsaustausch mit den Kollegen von der dortigen Eisenbahn unternommen hatte. Die drei Enkel – achtzehn und dreizehn die Jungen, siebzehn und zu erster Schönheit gekommen die Tochter – defilierten in Halbstundenabständen vorüber, und außer Matthias, dem Jüngsten, wußten die mit dem alten Mann wenig mehr anzufangen, als ihm von ihren Erfolgen und Schwierigkeiten in der Schule zu berichten. Matthias, der seinen Großvater manchmal aus eigenem Antrieb im Heim besuchte, kam als letzter. Er blieb bei ihm sitzen und hörte sich mit Staunen im Blick an, was Otto Wermke über seine Arbeit in der Gärtnerei zu erzählen wußte und wie hart die ersten Jahre nach dem Krieg gewesen waren, als die Leute scharenweise um einen Kohlkopf und eine Gurke gebettelt hatten. Zum Mittagessen erschien dann auch Peter, Ottos jüngerer Sohn, der ihn mit seinem schmalen, länglichen Gesicht und den feingliedrigen Händen an seine verstorbene Frau erinnerte. Er war Lehrer von Beruf und seit einem halben Jahr geschieden, was sein ohnehin melancholisches Naturell noch mehr verdüsterte. Später, bei Kaffee und Kuchen, als die Kinder sich zu ihren Vergnügungen verlaufen hatten, gab es den schon obligaten Krach zwischen den Brüdern, der sich diesmal an der Frage entzündete, ob Peter auch alles getan hatte, um seine gewesene Frau, die lebenslustige Christiane, fester an sich zu binden, und der damit beendet wurde, daß Walter eine versöhnliche Geste machte, indem er in dem erhebenden Bewußtsein, Vorstand einer intakten Familie zu sein, vorschlug, Peter solle, bis er etwas Eigenes gefunden habe, in seinem Haus logieren, weil ihm das Zusammenleben mit Christiane in der ehemaligen ehelichen Wohnung nicht länger zuzumuten sei. Zwar lehnte Peter 25
dankend ab, war aber durch dieses Zeichen des guten Willens so weit versöhnt, daß er seinerseits den Vorwurf zurücknahm, Walter sei schon immer ein Dünnbrettbohrer gewesen und habe nie etwas anderes im Kopf gehabt als seine Karriere. Margret, in ihrer unnachahmlich zurückhaltenden Art, von der Leute, die sie nicht genau kannten, nie wußten, ob sie allzu großer Schüchternheit oder Hochmut entsprang, hatte sich an der Auseinandersetzung nicht beteiligt und lächelte nun, da der Streit für diesmal geschlichtet war, ungewöhnlich herzlich von einem zum anderen, offensichtlich auch erleichtert darüber, daß der Schwager das Angebot ihres Mannes ausgeschlagen hatte. Bei alledem saß Otto Wermke wie ein Fremder. Er rauchte Zigarren von der Marke Upman, die ihm zu schwer waren, trank mehr Kognak, als ihm guttat, gab Antworten auf Fragen, die seinem Befinden galten, steuerte diese oder jene Anekdote aus seinem jetzigen Leben bei, erzählte auch von den unglaublichen Geschichten, die Wilhelm Klausner ihm tagtäglich auftischte, und fragte sich doch: Was habe ich eigentlich noch mit diesen beiden Männern zu tun, von denen der eine zu erfolgreich und der andere zu wehleidig ist? Es bereitete ihm Mühe, sich vorzustellen, wie sie als Kinder gewesen waren, und nur zögernd kam die Erinnerung an Episoden, in deren Mittelpunkt sie standen, Geschehnisse, die sich in dem kleinen, jetzt verkauften Haus hinter der Gärtnerei zugetragen hatten: Krankheiten zum Beispiel; Peters schlimmer Sturz von dem alten Apfelbaum, der ihn fast das Leben gekostet hätte; die Schwierigkeiten, die beiden auf die Oberschule zu bringen, weil er damals noch die Gärtnerei privat betrieb und als Kleinkapitalist galt; die Sorge, Walter könnte homosexuell veranlagt sein, weil er das ganze Studium über keine Frau ansah, und die Erleichterung darüber, daß er nach bestandener Diplomprüfung Margret als seine Verlobte vorstellte. Lang ist das her, dachte Otto 26
Wermke, wie aus einem anderen Leben erscheint das alles. Und plötzlich, nachdem der von ihm halb als komisch, halb als geschmacklos empfundene Streit abgeklungen war und man mit einigen Sätzen der guten Mutter gedachte und davon sprach, mit welcher Tapferkeit und Geduld sie ihr tödliches Leiden ertragen hatte, befiel ihn das unabweisbare Gefühl, er müsse auf der Stelle aus diesem Haus. Denn er erinnerte sich, wie sehr er sich gegen Walter und Peter hatte zur Wehr setzen müssen, als sie die Mutter nach der erfolglosen Operation im Krankenhaus lassen wollten, weil ihr dort angeblich bessere Pflege zuteil würde, obwohl sie doch wußten, wie sehr sie sich danach sehnte, zu Hause zu sterben.“ „Ich glaube, ich muß gehn“, sagte er und rieb sich intensiv das linke Knie. „Es ist wohl der Regen, der mir wieder mal zu schaffen macht. Seid mir nicht bös.“ Man war ihm natürlich nicht böse, zeigte Verständnis, telefonierte nach einem Funktaxi, da man sich mit dem Quantum Alkohol im Blut selber nicht hinter das Steuer setzen konnte, und die Viertelstunde bis zur Vorfahrt des Wagens kümmerten sich die Söhne intensiv um den Vater, fragten auch, ob er Geld nötig habe. „Du weißt ja, du brauchst nur ein Wort zu äußern“, sagte Walter und drückte ihm die noch halbvolle Zigarrenkiste in die Hand. Peter versprach, ihn wieder einmal zu besuchen, sobald die Prüfungen in der Schule beendet wären. Und als er abfuhr, standen alle drei trotz des Regens auf der Terrasse und winkten. Im Innern des Wagens, hinter dem schon im voraus reichlich entlohnten Fahrer, der über das Mistwetter schimpfte, fühlte Otto Wermke sich geborgen, und er hatte – eigentlich zum ersten Mal seit seiner Übersiedlung in das Heim – ein tiefgreifendes Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Es war noch vor fünf Uhr, und er würde sich auf die zwei Bier und den doppelten 27
Korn in den „Schusterjungen“ setzen; nicht, daß er nicht genügend getrunken hätte, sondern um die lieb gewordene Gewohnheit nicht ohne Not zu unterbrechen und um sich den Kognakgeschmack von der Zunge zu spülen. Und gegen acht Uhr würde Wilhelm Klausner wieder da sein, das hatte er ja dem Herrn Friedrich versprochen. Otto sehnte sich geradezu nach Wilhelm. Doch seine Sehnsucht wurde nicht erfüllt. Um neun war Wilhelm noch nicht zurückgekehrt, und Herr Friedrich, der den Kopf zur Tür hereinsteckte, um sich zu vergewissern, daß alles seine Ordnung hatte, machte ein leicht verärgertes Gesicht. „Mit der Pünktlichkeit ist das so eine Sache“, sagte er, mehr nicht, und verschwand wieder. Als er um halb elf noch einmal klopfte und Otto Wermke beim Lesen eines Kriminalromans störte, war seine Miene besorgt. „Ihm wird doch nichts zugestoßen sein?“ fragte er und wiegte ziemlich ratlos den Kopf. „Das glaube ich nicht“, sagte Otto Wermke und nahm, um Zeit zu gewinnen, umständlich die Brille ab. „Was soll ihm denn zustoßen? Er ist kerngesund. Und wenn er auf der Straße einen Unfall gehabt hätte, würden Sie schon Bescheid bekommen haben. Nein, nein – ich glaube, dem gefällt’s bei seiner Schwester zu gut. Und weil ja morgen noch Feiertag ist…“ Die kleine Lüge fiel ihm schwer. Aber hätte er denn sagen sollen: Dem Wilhelm wird es wohl zu gut bei seiner Braut gefallen? Nein, lieber wollte er die Rolle des Lügners auf sich nehmen, als Wilhelm bloßzustellen. Und also fuhr er fort, den beunruhigten Heimleiter zu beschwichtigen, indem er ihm zu bedenken gab, wie sehr ein noch so vitaler Mann wie Wilhelm Klausner es als beengend, vielleicht sogar als entwürdigend empfinden mußte, nicht mehr alles tun zu können, was er wollte, und wie leicht es unter solchen Voraussetzungen dahin 28
kommen könnte, daß man sich, nur um sich als vollwertiger Mensch zu erweisen, Ordnungen widersetzte, denen man unterworfen war. Er sprach vom natürlichen Freiheitsbedürfnis auch alter Leute, von der Empfindlichkeit gegenüber aller Fürsorge, die mit den Jahren zunehme, und schließlich sei man ja auch nicht unter Kuratel gestellt. Er wunderte sich, woher ihm plötzlich solche Beredsamkeit zufloß, stand gleichsam neben diesem anderen Ich, das Argumente über Argumente hervorbrachte, nur um eine kleine Lüge zu kaschieren. Herr Friedrich war eingeweiht genug in die geriatrische Psychologie, um sich solchen Vorstellungen nicht zu verschließen. Mehr noch: Er verstand sich, wenn schon nicht als Vorkämpfer, so doch als eifriger Verfechter der These, daß man alte Menschen nicht bloß verwahren dürfe, auch wenn ihre geistigen und körperlichen Kräfte stark reduziert waren, daß man sie vielmehr in die Gemeinschaft integrieren müsse, mit allen geeigneten Mitteln, ohne dabei ihre Persönlichkeitsstruktur anzutasten. Er hatte in seiner Diplomarbeit, die sich auf die Befragung von Dutzenden Feierabendheimbewohnern gründete, nachgewiesen, daß die Gefahr des Hospitalismus bei diesen genauso wie bei Kleinkindern wachse, wenn man, und sei es aus den lautersten Motiven, Unselbständigkeit erzeugte. Und entsprechend war er darauf aus, seine Schutzbefohlenen zu Eigenaktivität zu ermuntern, wann und wo immer es anging, auch zu gegenseitiger Hilfe, die dem Helfer wie dem, dem geholfen wurde, das Bewußtsein vermitteln konnte, der Mensch sei auch im Alter noch zu etwas nütze. In kaum einem weiteren Feierabendheim der Stadt, ja vielleicht des ganzen Landes, gab es so viel Freizügigkeit wie in dem, dem er vorstand – davon war er überzeugt. Doch all das änderte nichts an der Tatsache, daß er in seinem Bereich für Ordnung und Sicherheit zu sorgen hatte. Schließ29
lich wohnten hier sechzig Menschen miteinander, eine Riesenfamilie, wenn man so wollte, Menschen, die aus den unterschiedlichsten Milieus kamen, die nach oft entgegengesetzten Maximen gelebt, die vielerlei und einander häufig widersprechende Erfahrungen gemacht hatten und deren Befindensskala von äußerster Rüstigkeit und Offenheit für die Anforderungen des Tages bis zu weit fortgeschrittener Gebrechlichkeit und kontemplativer Weltabgewandtheit reichte. Da mußte es schon eine gewisse Disziplin, da mußte es Regeln geben, nach denen sich alle zu richten hatten. „Und warum hat er nicht wenigstens angerufen?“ Herr Friedrich kam trotz allen theoretischen und praktischen Verständnisses nicht darüber hinweg, daß jemand sein Vertrauen missbraucht hatte. „Ich wäre doch der letzte gewesen, der ihm einen weiteren Tag bei seinen Verwandten nicht zugestanden hätte. Das müßte er eigentlich wissen. Ich habe ihm nie einen Steinin den Weg gelegt, wenn er seiner Schwester einen Besuch abstatten wollte.“ „Dann versuchen Sie es doch mit einem Anruf bei der Schwester“, schlug Otto Wermke vor, und er wäre, kaum daß der Satz heraus war, am liebsten in den Boden versunken. Wie kann ein Mensch nur so dußlig sein, schalt er sich wütend. Was, wenn der Heimleiter den Vorschlag aufnahm? Er war eben doch nicht erfahren genug im Lügen. Aber Herr Friedrich winkte ab. „Sie hat kein Telefon“, sagte er. „Ich weiß das, seit ich Herrn Klausner einmal bei ihr erreichen wollte, weil er wegen eines kurzfristig geänderten Arzttermins in die Stadt zurückkommen sollte. Sie erinnern sich doch noch?“ Otto Wermke erinnerte sich nicht, nickte aber trotzdem, froh, daß seine Eselei keine Folgen nach sich zog. Noch ein paar Minuten stand Herr Friedrich, eine Hand auf der Klinke, unent30
schlossen herum, sich in Klagen über Wilhelm Klausners Unzuverlässigkeit und Vermutungen über die Gründe seines Ausbleibens ergehend, ehe er sich schließlich anschickte, das Zimmer zu verlassen. „Warten wir bis morgen früh, dann werden wir entscheiden, was weiter zu geschehen hat“, sagte er, und es war ihm anzumerken, daß er sich gar nicht wohl fühlte. Auch Otto Wermke war nicht wohl, nicht nur, weil er Wilhelms krummes Spiel mitmachte. Es kamen ihm nun auch all die Gefahren in den Sinn, die eine Stadt für einen Mann bereithielt, der nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Kraft stand. Las man denn nicht in den Zeitungen oft genug von Rowdys, die aus heiterem Himmel friedliche Leute, anfallen? Und hatte nicht vor einigen Wochen Frau Bärwald aus dem Heim einen Stoß vor die Brust bekommen, als sie ein Rudel Halbwüchsiger daran hindern wollte, in einer Telefonzelle den Hörer abzureißen? Vielleicht sollte er doch dem Herrn Friedrich mitteilen, was er wußte, noch war es nicht zu spät dazu. Gewiß, es wäre peinlich, jetzt die Schwindelei zu offenbaren. Aber, zum Teufel mit aller Peinlichkeit, wenn er dadurch einem vielleicht hilflos irgendwo herumliegenden Wilhelm Leben und Gesundheit erhalten konnte! Doch dann stellte er sich dessen Miene vor, wenn er am nächsten Tag zurückkam und erfuhr, daß er, Otto Wermke, sein Geheimnis verraten hatte… Nein, er durfte nicht in Panik verfallen, nur weil Wilhelm einmal über die Stränge schlug. Schließlich mußte er weiterhin mit ihm zusammenleben, und er mochte nicht daran denken, daß Spannungen zwischen ihnen entstehen könnten, die womöglich den gemeinsamen Spaziergängen und den Besuchen im „Schusterjungen“ ein Ende setzten, ganz zu schweigen von der Unerträglichkeit, mit jemandem das Zimmer teilen zu müssen, der einem nur noch Mißtrauen entgegenbrachte. Die Lektüre des Kriminalromans war ihm verleidet, und doch 31
verspürte er keine Müdigkeit wie sonst um diese Zeit. Vergebens versuchte er, als er dann im Bett lag, mit Schäfchenzählen in den Schlaf zu kommen: Die Tiere, die da durchs Tor des Pferchs trotteten, hatten alle Gesichter, und in jedem glaubte er Wilhelm Klausners Züge zu erkennen. Und plötzlich hatte er Durst, Er schlurfte auf den Gang hinaus zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Selters. Lange saß er auf der Bettkante und trank das fade, sprudelnde Wasser in ganz kleinen Schlucken. Heidemarie hieß sie, wohnte in Friedrichslust und arbeitete als Kellnerin in einem Lokal, „direkt am Wasser“. Das war alles, was er wußte. Heidemarie… ein lächerlicher Name. Hatte nicht eine Schauspielerin so geheißen, damals, bei den Nazis, so eine streng blickende, erdhafte Maid? Daß die Leute aber auch ihre Kinder immer wieder mit solchen Hypotheken belasten mußten. Ihr Bild hatte er zwar gesehen, aber würde er sie auch wiedererkennen, wenn sie vor ihm stand? Ihm war nicht mehr geblieben als ein allgemeiner Eindruck von einer noch jungen, jedenfalls einer für Wilhelm viel zu jungen Frau. Immerhin Friedrichslust und ein Restaurant am Wasser. Soweit er sich erinnerte, gab es da nur eins, die „Seeperle“, damals ein ziemlich verkommenes Gemäuer, direkt an dem Steg, an dem sommers die Vergnügungsdampfer anlegten. Das war doch schon viel, was er wußte. Wenn er morgen hinausfuhr und diese Heidemarie Dienst hatte, vielleicht traf er dann auch Wilhelm gleich in dem Lokal… Aber möglicherweise hatte Wilhelm nur angeben wollen, und er hielt sich doch bei seiner Schwester auf. In der Beziehung war ihm viel zuzutrauen, bei seiner blühenden Phantasie und seinem reichlich legeren Umgang mit den Tatsachen seines Lebens. Wer weiß, vielleicht war das Foto ein Bild von seiner Tochter, das sie ihm in dem Brief mitgeschickt hatte, obwohl Familienähnlichkeit nicht zu erkennen 32
war. Jung genug hatte die Frau jedenfalls ausgesehen. Heidemarie… Wenige Minuten später ertappte er sich beim Kramen in Wilhelm Klausners Schrank. Er schämte sich seiner Handlung und hielt für einen Augenblick inne. Sie hatten einander am ersten Tag ihres Beisammenseins Vertrauen zugesprochen und es für überflüssig erklärt, ihre Schränke voreinander zu verschließen. Bisher war keinem eingefallen, in des anderen Privatsachen herumzuschnüffeln. Und nun hatte ihn der Wunsch – nein, der Drang, den Namen der Frau zu erfahren, zu den Schubfächern getrieben. Falls es diese Frau wirklich gab, fand sich eventuell ein Anhaltspunkt dafür, wie sie hieß und wo sie wohnte, vielleicht ein Briefumschlag mit Absender. Und dann konnte er dorthin fahren und Wilhelm raten, sich im Heim sehen zu lassen, weil doch Herr Friedrich so beunruhigt war. Er stieß auf allerlei Kram: auf Bilder, Zeitungsausschnitte, ausgediente Zigarettenspitzen, Kinoprogramme – alles wie Kraut und Rüben durcheinandergeworfen. Da lagen auch eine offenbar nicht mehr funktionierende Taschenuhr, ein Bündel maschinengeschriebener Briefe, anscheinend von einem Rechtsanwaltbüro, wie er nach einer flüchtigen Durchsicht feststellte, ein Schulheft, in das Wilhelm Witze eingetragen hatte, ein anderes, das zum Notieren von Ausgaben verwandt worden war, mindestens ein halbes Dutzend alter Taschenkalender. Otto Wermke blätterte in dem vom vergangenen Jahr, las kurze Notizen, die als Gedächtnisstützen gedient hatten, meist Erinnerungen an. Termine beim Zahnarzt, beim Fußpfleger und ähnliches. Er kam zu dem Adressenverzeichnis und stellte fest, daß Wilhelm Klausner nur wenige Anschriften und Telefonnummern zu notieren gehabt hatte. Wie das so ist bei alten Leuten, dachte er, wir haben nicht mehr viele Bekannte und Freunde. Doch die wenigen seines Zimmergenossen hatte dieser alle33
samt ohne Vornamen eingetragen, und nirgends stand da der Ort Friedrichslust verzeichnet. Also hatte es diese Heidemarie im vorigen Jahr noch nicht gegeben? War sie eine Eroberung der letzten Monate? Und neuerlich kam ihm der Gedanke, Wilhelm Klausner halte sich bei seiner Schwester auf und alles andere sei Schwindelei, um sich wieder einmal interessant zu machen. Entschlossen stieß er die Lade zu. Es hatte keinen Sinn, sich die Nacht mit Grübeleien um die Ohren zu schlagen. Sollte Wilhelm sich bis zum Morgen wirklich nicht eingefunden haben, würde er Herrn Friedrich bitten, ihn zu der Schwester fahren zu lassen, um den Zimmergenossen zurückzuholen. Womöglich kam der Heimleiter sonst noch auf den Einfall, die Polizei zu alarmieren. Besorgt genug hatte er sich ja geäußert und ausgesehen. Nein, er, Otto Wermke, würde die Sache in die Hand nehmen. Ein bißchen beruhigter legte er sich wieder zu Bett, las noch ein paar Seiten in dem Krimi und schlief darüber ein, obwohl der Detektiv gerade auf eine heiße Spur gestoßen war. Am Morgen, Wilhelm Klausner war weder ins Heim zurückgekehrt, noch hatte er sich telefonisch gemeldet, saß nicht Herr Friedrich, sondern Frau Weskamp unter dem Bild des mild lächelnden Staatsratsvorsitzenden am Schreibtisch des Verwaltungsbüros. Herr Friedrich war dienstfrei am Pfingstmontag, und das entmutigte Otto Wermke, denn er hatte die hochgewachsene Stellvertreterin des Heimleiters mit dem unnahbaren Ausdruck im Gesicht und den immer abgezirkelten Bewegungen bisher als bürokratisch streng empfunden und selten ein privates Wort mit ihr gewechselt. Und dieses Empfinden hatte er auch jetzt wieder, da sie ihm ziemlich kühl begegnete. Ja, sagte sie, Herr Friedrich habe ihr schriftlich hinterlassen, was mit Herrn Klausner los sei, und dann fügte sie etwas hinzu was 34
Otto Wermkes Befürchtung bestätigte, seinem Freund könnten beachtliche Unannehmlichkeiten bevorstehen. „Unter diesen Umständen werden wir wohl die Vaupe benachrichtigen müssen. Weshalb soll ich Ihnen da noch die Adresse von Herrn Klausners Schwester geben?“ Fast schon resignierend, trug Otto Wermke ihr vor, was er auch Herrn Friedrich gesagt hatte, und er stellte erstaunt fest, daß die sonst so unnahbare Stellvertreterin einiges Verständnis zeigte. „Natürlich“, sagte sie, „ist das ein Problem, in einem älteren Menschen den Eindruck zu wecken, er werde überwacht. Aber andererseits…“ Sie hielt die Stimme bedeutungsvoll in der Schwebe. „Sie versprechen sich also etwas davon, wenn Sie ihn aufsuchen beziehungsweise herausfinden, ob er überhaupt bei seiner Schwester gewesen ist?“ Otto Wermke erschrak. Wußte Frau Weskamp, daß Wilhelm vielleicht eine falsche Angabe gemacht hatte? „Wie meinen Sie das?“ fragte er und tat so naiv, wie es ihm möglich war. Frau Weskamp lächelte wissend, und ihr Gesicht hatte jetzt alle Unnahbarkeit verloren. „Sie sind noch nicht lange genug bei uns, um davon Kenntnis zu haben, was sich vor zwei Jahren mit Herrn Klausner ereignet hat. Herr Friedrich weiß, glaube ich, auch nichts davon. Er hat erst später seinen Dienst im ,Hufeland’ angetreten, und ich habe ihn nicht davon unterrichtet, hatte auch keine Veranlassung dazu, weil Herr Klausner seitdem in keiner Beziehung mehr auffällig geworden ist.“ Otto Wermke sperrte sich gegen die gewundene Ausdrucksweise der Frau, und als sie die Floskel aus dem psychiatrischen Fachjargon einflocht, zuckte er zusammen, als hätte er einen leichten Stromschlag erhalten. Aber er war durch die Ankündigung zu neugierig geworden, um sich von kleinen Verdrießlichkeiten ablenken zu lassen. „Damals hat Herr Klausner – er war erst wenige Wochen bei 35
uns – für viel Aufregung gesorgt. Er blieb einfach das ganze Wochenende über weg, ohne um Urlaub eingekommen zu sein. Vielleicht hat er die Hausordnung nicht ganz ernst genommen.“ Der letzte Satz war mit dem gehörigen Gewicht vorgetragen worden. Doch dann fuhr Frau Weskamp gelöster fort: „Jedenfalls hat er uns beträchtliche Unannehmlichkeiten bereitet, wir mußten die Genossen von der Volkspolizei einschalten, und die haben ihn dann aufgespürt.“ „Und wo war er?“ Frau Weskamp lächelte wieder, diesmal eher amüsiert, aber auch, ein bißchen angewidert, wie sich an den leicht heruntergezogenen Mundwinkeln erkennen ließ. „Nun, was meinen Sie?“ fragte sie in fast neckischem Ton. Bei einer Frau – diese Antwort lag ihm auf der Zunge; doch er blieb vorsichtig und sagte, sich arglos gebend: „Woher soll ich das wissen?“ „Bei einer Frau, bei einer reichlich jungen Frau!“ Der stellvertretenden Heimleiterin war anzusehen, wie sehr geschmacklos sie die Eskapade eines alten Mannes fand. „Bei der Tochter von Frau Pachulke, die er kennengelernt hatte, als sie ihre Mutter besuchte. Bei der Tochter von unserer Frau Pachulke!“ Wieder wollte Otto Wermke aktiv werden und fragen: Hieß die junge Frau etwa Heidemarie? Und wieder hielt er sich zurück und fragte nur: „Was ist denn daran so verwunderlich?“ „Na, hören Sie mal!“ Für einen Moment schien es, als wollte sich Frau Weskamp in Empörung ergehen, doch es gelang ihr, diese Regung zu unterdrücken. „Wie gesagt: Seitdem ist Herr Klausner unauffällig. Er hat nur noch seine Schwester besucht – wenigstens hat er das angegeben –, und er hat sich stets pünktlich wieder eingefunden. Der Schock der polizeilichen Fahndung saß wohl zu tief. Aber vielleicht doch nicht tief genug, um nicht neuerlich in Versuchung zu geraten, sobald er 36
wieder einmal eine Frau kennenlernt.“ Sie machte eine Pause, die wohl die Bedeutung der nachfolgenden Worte unterstreichen sollte. „Herr Wermke“, sagte sie dann, „ich möchte nicht, daß die Genossen von der Volkspolizei noch einmal wegen nichts und wieder nichts alarmiert werden. Und da Sie sowieso nach Ihrem Freund sehen wollen: Ich gebe Ihnen die Adresse seiner Schwester. Fahren Sie hin, heute vormittag noch. Aber Sie benachrichtigen mich sofort, wenn Sie ihn dort nicht antreffen. Einverstanden?“ Otto Wermke zögerte. Sollte er nun nicht doch sagen, was er wußte? Hatte das Versteckspiel überhaupt noch einen Sinn, nach alledem, was ihm die Frau über Wilhelm erzählt hatte? Nein, entschied er; Wilhelm hat nicht gewollt, daß die Heimleitung oder sonst irgendeiner weiß, wo er sich aufhält. Also muß ich ihn suchen, damit er nicht wieder Scherereien bekommt. Ich muß diese Heidemarie aus Friedrichslust finden. Und so sagte er: „Einverstanden.“ Frau Weskamp machte sich am Aktenschrank zu schaffen, kehrte zum Schreibtisch zurück, schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn Otto Wermke. „Hier ist die Adresse. Wir haben, wie Sie ja wissen, die Anschriften der nächsten Angehörigen unserer Heimbewohner, weil wir schließlich für den Fall… Da kommen Sie bequem mit der S-Bahn hin. Das wär’s also.“ Die Erwähnung der nächsten Angehörigen veranlaßte Otto Wermke, doch noch eine Frage zu stellen: „Wilhelm Klausner hat mir einmal erzählt, er hätte eine Tochter. Wohnt die auch in der Stadt?“ „Eine Tochter?“ Frau Weskamp dachte kurz nach. „Ja, er hat wohl einmal von ihr gesprochen, aber er hat auch gesagt, er wisse nicht, wo sie wohnt, und für einen Eventualfall sei seine Schwester zu benachrichtigen. So haben wir die Dame nicht erfaßt.“ 37
„Dann: Auf Wiedersehen“, sagte er und steckte den Zettel, ohne einen Blick auf ihn zu werfen, in die Jackentasche. Denn in Gedanken war er bereits bei dem nächsten Schritt, den er unternehmen wollte. Er stieg in den zweiten Stock hinauf, klopfte an eine Tür und hatte das Glück, Frau Pachulke allein anzutreffen. Sie saß, wie immer, wenn sie sich in ihrem Zimmer aufhielt, in einem Sessel beim Fenster und häkelte Filetdeckchen mit komplizierten Mustern, die sie an ihre Freunde und an Bewohner des Feierabendheims verschenkte oder die sie einfach in ihrem Schrank stapelte, da sie auf die Dauer nicht genügend Abnehmer für die Produkte ihrer Kunstfertigkeit fand. Sie zu verkaufen, weigerte sie sich mit einer Begründung, die allgemein ihrer stetig wachsenden Einfalt zugute gehalten wurde: Sie habe ihr Leben lang für Geld arbeiten müssen und denke nicht daran, bis an ihr Ende damit fortzufahren. Otto Wermke bedauerte, daß er am Samstagabend beim Tanz sich ihr so wenig freundlich entzogen hatte, und war darauf gefaßt, sie erst einmal versöhnlich stimmen zu müssen. Doch Frau Pachulke schien seine Ausrede für bare Münze genommen zu haben. Sie erkundigte sich, nachdem er sich ihr gegenüber gesetzt hatte, ob sein Knie noch schmerze, und zeigte sich im übrigen erfreut über seinen Besuch. Da saß er denn nun, hörte sich an, was Frau Pachulke von dem Bunten Abend hielt und überhaupt von Tanzvergnügungen und daß sie als junge Frau auf Bälle geradezu verrückt gewesen und mit ihrem Mann selig kein Wochenende im Haus geblieben sei. Dabei war ihm daran gelegen, so schnell wie möglich zu erfahren, was er wissen wollte. Er brachte es aber nicht übers Herz, die unaufhörlich vor sich hin redende Frau aus ihren Erinnerungen zu reißen, weil er ja nur zu gut wußte, wie wichtig solche Reminiszenzen in ihrer aller Situation waren. Erst nach 38
einer ganzen Weile griff er behutsam ein, nahm das Stichwort von der tanzlustigen jungen Frau, die sie gewesen war, auf, lenkte das Gespräch – geschickt, wie er dachte -auf junge Frauen überhaupt und von dort aus auf die Frage, ob sie eine Tochter oder gar Töchter habe. Zu seiner maßlosen Verblüffung sah Frau Pachulke mit einem Ausdruck des Belustigtseins auf ihrem noch erstaunlich glatten runden Gesicht von der Häkelei hoch und sagte: „Hat der Wilhelm Klausner mal wieder angegeben?“ Und als er nicht gleich Worte fand, setzte sie hinzu: „Das dumme Ding hat damals für viel Aufregung gesorgt. Die Polizei wurde sogar eingeschaltet – wegen nichts, wie sich dann herausstellte. Der Wilhelm Klausner hatte sich nur in der Nachbarschaft einquartiert und sie lediglich an zwei Abenden besucht. Mehr war allerdings auch nicht möglich; der Böhm, ihr Mann, ist ja schließlich noch dagewesen.“ Sie kicherte vor sich hin. „Dabei geht es eigentlich keinen etwas an, was einer tut, auf dem Gebiet, meine ich. Bei uns alten Leuten aber denkt jeder, er kann sich einmischen. Das habe ich auch zu Frau Weskamp gesagt, die sich damals mächtig entrüstet hat. Ich könnte das nicht mehr so richtig beurteilen, hat sie geantwortet, die Pute. Die hält mich wohl für beschränkt!“ Kurz flammte so etwas wie Empörung in ihrer Stimme auf, doch dann klang sie wieder gelassen. „Aber das ist ja nun längst vorbei. Meine Tochter hat mit mir über alles gesprochen. ,Ne, Mama, hat sie zu mir gesagt, ,ich leide doch nicht an Geschmacksverirrung.’ Und er ist ihr auch seitdem immer aus dem Weg gegangen. Vielleicht wär es wirklich nicht gut gewesen, wenn die beiden… bei dem großen Altersunterschied. Aber ich misch mich da nicht ein. Fest steht, daß es mit den jungen Männern auch nicht immer gut geht: Vor einem halben Jahr hat meine Heidemarie die Scheidung beantragt, und der Böhm ist genauso alt wie sie.“ Und dann konzent39
rierte sie sich wieder auf ihre Filetarbeit, als sei ihr Besuch nicht mehr anwesend.
3 In der S-Bahn ließ Otto Wermke Revue passieren, was er in Erfahrung gebracht hatte, und ihm wurde unbehaglicher, je länger er nachdachte, obwohl er doch jetzt wußte, daß Wilhelm Klausner nicht geschwindelt hatte, als er von der Heidemarie sprach. Aber die Affäre lag zwei Jahre zurück. Sie war damals verheiratet gewesen, diese Heidemarie, und wenn er Frau Weskamp und Frau Pachulke glauben wollte (und er sah keinen Grund, ihnen nicht zu glauben), so war es nur ein kurz aufgeflammtes Interesse gewesen. Womöglich hatte Wilhelm ihm doch einen Bären aufgebunden, als er so tat, als dauere das Verhältnis noch immer an. Jedenfalls war anzunehmen, daß sich ein Mann vom Schlage Wilhelms schwerlich eingestehen würde, eine Niederlage erlitten zu haben. Bei seinem recht freihändigen Umgang mit der Wirklichkeit mußte man durchaus damit rechnen, daß er sich sein Scheitern in eine Art fortbestehenden Erfolgs umfabuliert hatte. Otto Wermke griff in die Jackentasche, fühlte den Zettel mit der Adresse von Wilhelms Schwester, und sein Unbehagen steigerte sich, weil er sich nicht, wie Frau Weskamp annahm, auf dem Weg dorthin befand, sondern in Richtung Friedrichslust fuhr. Für einen Moment überlegte er, ob er seine Absicht nicht ändern und besser gleich die Schwester Wilhelms aufsuchen sollte; dann aber gab er dem Gefühl nach, das richtige Ziel gewählt zu haben. Um sich von dem Hin und Her seiner Gedanken und Empfindungen abzulenken, betrachtete er die Mitreisenden; die meisten schaukelten mit eingeklappten, triefenden Schirmen in 40
Händen stumpf im Rhythmus der Schienenstöße. Ein kleines Mädchen lief fröhlich plappernd und singend zwischen den Bänken umher und wurde von seiner Mutter mit keifender34Stimme zur Ordnung gerufen. Der Ärger über soviel Lieblosigkeit und Engherzigkeit verdrängte für eine Weile seine Sorge um den Verbleib seines Zimmergenossen. An der Endstation wartete er vor dem S-Bahnhof fast eine halbe Stunde auf den Bus, und darüber wurde er so unruhig, daß er schon erwog, das einzige Taxi zu heuern, das nebenan am Stand auf einen Fahrgast harrte. Aber dann obsiegte doch seine Sparsamkeit, die ihm ein Leben lang geboten hatte, Taxifahren als einen Luxus anzusehen, es sei denn, man unternähme sie in Fällen von äußerster Dringlichkeit. Und für so dringlich erachtete er seinen Ausflug nun doch nicht. Also blieb er in dem Wartehäuschen sitzen, in das schräg der Regen einfiel und den Aufenthalt höchst ungemütlich machte. Es war bereits nach elf Uhr, als der Bus nach zwanzigminütiger Schaukelfahrt über miserable Chausseen vor der Kirche von Friedrichslust hielt. Otto Wermke stieg aus, orientierte sich kurz und stellte mit Befriedigung fest, daß er das Dorf nach all den Jahren wiedererkannte und sich sofort zurechtfand, wenn ihn auch ein zweistöckiger Neubau, wohl ein Kulturhaus oder eine Poliklinik, erst einmal irritierte. Links lag der See, daran konnte sich nichts geändert haben, und er war schon auf dem Weg zum Wasser, als ihm der Gedanke kam, sich nach der Wohnung von Heidemarie Böhm durchzufragen. Schließlich aber entschied er sich doch dafür, zuerst die „Seeperle“ aufzusuchen, nicht nur, weil er sich scheute, unangemeldet in eine Wohnung einzudringen, sondern weil er sich überzeugen wollte, ob die Frau, wie Wilhelm erzählt hatte, in dem Ausflugslokal als Serviererin beschäftigt war. Denn wenn sie dort nicht oder nicht mehr arbeitete, wäre das ein Beweis für Wilhelms 41
blühende Phantasie. Und so trottete er denn unterm Schirm auf den See zu. Die „Seeperle“ spottete nach wie vor ihres Namens, mit einer seit damals noch schäbiger gewordenen Fassade und mit einem nicht nur wegen des Regens wenig einladend wirkenden Biergarten. Der große, wartesaalähnliche Gastraum, an dessen hinterem Ende sich der Tresen klein und verloren ausnahm, war noch leer, weil das erste Schiff mit den wahrscheinlich wenigen passionierten und dem Wetter trotzenden Ausflüglern noch nicht angelegt hatte. Otto Wermke setzte sich an einen Tisch am Fenster und bestellte, nachdem er reichlich fünf Minuten hatte warten müssen, bei einem unausgeschlafen wirkenden Kellner in einer angeschmutzten weißen Jacke ein Kännchen Kaffee. Als der Kaffee mit einem „Bitte, der Herr!“ vor ihn hingestellt wurde, fragte er: „Ist Frau Böhm schon hier?“ „Frau Böhm?“ Der Kellner hob die schweren Lider und musterte ihn mißtrauisch und wohl auch ein bißchen amüsiert. „Was wollen Sie denn von der?“ Otto Wermke hatte gehofft, eine Antwort zu bekommen, nach der er das Kapitel Heidemarie Böhm als Phantasieprodukt Wilhelm Klausners und damit als erledigt hätte abhaken können. Nun, da die Frau anscheinend doch hier arbeitete, kostete es ihn einige Mühe, sich umzustellen. Doch schließlich sagte er: „Ich möchte Frau Böhm privat sprechen.“ Der Kellner brummte etwas Unverständliches, wandte ihm langsam seinen breiten Rücken zu und rief laut und mit frisch klingender Stimme: „Heidi, Kundschaft!“ Dann schlenderte er träge davon. Jetzt bedauerte Otto Wermke, sich nicht ein wenig auf das Gespräch vorbereitet zu haben. Er hatte sich darauf verlassen, daß ihm schon das Richtige einfallen würde. Wenigstens den ersten 42
Satz, dachte er, sollte ich im Kopf haben, Aber er kam nicht weit in seinen Bemühungen, diesen Satz vorzuformulieren, denn schon Sekunden, nachdem sie gerufen worden war, erschien Heidemarie Böhm in der Tür neben dem Tresen, die zur Küche führte. Vorerst war sie nur ein Schemen für ihn. Er hatte sie sich nach dem Porträt größer, auch derber, jedenfalls nicht so schlank, beinahe grazil vorgestellt Als sie dann vor ihm stand, registrierte er, daß das volle Gesicht und der starke Hals nicht recht zu dem feingliedrigen Körper paßten. Im übrigen wirkte sie noch jünger als auf der Fotografie, und ein fast aggressiver körperlicher Reiz ging von ihr aus. Sie blickte ihn fragend an, stand wartend, als wollte sie eine Bestellung entgegennehmen. „Sie möchten mich sprechen?“ sagte sie drängend mit einer erstaunlich hohen Stimme, als er, da er noch damit zu tun hatte, den ersten Eindruck zu verarbeiten, nicht sogleich das Wort an sie richtete. „Ich bin Otto Wermke“, stellte er sich vor und goß sich Kaffee in die Tasse, um die Befangenheit zu überspielen. „Haben Sie ein paar Minuten für mich übrig?“ Sie sah sich mechanisch in dem noch leeren Lokal um, zuckte die Achseln. „Meinetwegen.“ Sie setzte sich ihm gegenüber, betont gleichmütig und so, daß er merken sollte, es sei ihr nicht viel daran gelegen, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Jetzt, da ihre Gesichter sich auf gleicher Höhe befanden, nahm er Einzelheiten wahr: den ungeschminkten vollen Mund, die zu kleinen und zu weit auseinanderstehendeh braunen Augen, die fleischige Nase, den kräftigen Unterkiefer, die großporige Haut – das alles wirkte disharmonischer als auf dem durch Kunstlicht geschönten Bild des Fotografen. Eine Schönheit ist sie jedenfalls nicht, dachte er, und: daß Kerle wie Wilhelm auch immer auf solche Typen fliegen, wenn sie nur jung genug sind. „Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?“ 43
So selbstverständlich und voraussehbar die Frage war, sie verwirrte Otto Wermke. Er konnte ihr unmöglich den komplizierten Weg beschreiben, den er zurückgelegt hatte, um herauszubekommen, wie die Frau hieß, von der Wilhelm Klausner gesprochen hatte, und er wollte schon der Einfachheit halber sagen: von meinem Freund Wilhelm. Doch dann besann er sich eines anderen. „Von Ihrer Mutter“, sagte er. Vielleicht würde das helfen, die Distanz zwischen ihnen zu verringern. „Wir wohnen nämlich im selben Heim.“ „Was will denn die von mir?“ Der abweisende Satz war ihr offensichtlich unkontrolliert entfahren, und sie war sofort bemüht, den widrigen Eindruck zu verwischen. „Sie ist doch nicht etwa krank?“ „Nein, nein, es geht ihr gut, soviel ich weiß.“ „Soviel Sie wissen?“ „Na ja, wir haben nur wenig miteinander zu tun.“ Unter ihrem fragenden Blick wurde ihm bewußt, daß der Dialog auf die falsche Bahn zu geraten drohte, er sah jedoch jetzt keine Möglichkeit mehr, sofort und direkt sein Anliegen vorzutragen. Er trank einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen, sagte aber dann doch nur: „Wie es scheint, ist sie gesund.“ „Das freut mich.“ Heidemarie Böhm ließ nicht davon ab, ihn fragend anzusehen. „Ich komme selten dazu, sie zu besuchen. Die Arbeit hier frißt mich auf.“ Otto Wermke nickte. Derlei Entschuldigung war ihm durchaus geläufig, von seinen Söhnen. Dennoch sagte er ohne Groll: „Ich verstehe, die viele Arbeit…“ „Also, was gibt es denn, Herr…“ „Wermke.“ „Beeilen Sie sich. In einer Viertelstunde legt der Dampfer an, und dann ist hier der Teufel los.“ Bei ihrem entschiedenen Tonfall getraute er sich nicht einzu44
wenden: Bei diesem Sauwetter? Statt dessen sagte er: „Es handelt sich nicht um Ihre Mutter, sondern um Wilhelm Klausner.“ Er war zu sehr erleichtert, endlich und so problemlos zur Sache gekommen zu sein, um sogleich zu bemerken, wie ihre Miene in Ablehnung erstarrte. „Ich suche ihn. Wir bewohnen zusammen ein Zimmer, und er hat mir am Freitag gesagt, er würde zu Ihnen fahren….“ „So, hat er das gesagt?“ Ihre Stimme war so hart geworden, daß er sie erschrocken ansah und für Sekunden aus dem Konzept geriet. „Er hat mir auch… Ich habe nämlich Ihr Bild gesehen…“ „Mein Bild? Hat es Ihnen gefallen?“ Er wußte nicht, was er antworten sollte, fühlte sich mit einem Mal als der alte Mann, der er war, und wünschte, er wäre nicht hierhergefahren. „Aber es ist doch nur, weil Wilhelm…“ Er geriet ins Stottern, „…weil er nämlich gestern abend nicht zurückgekommen ist. Und die Heimleitung will… Die Polizei muß nämlich sonst benachrichtigt werden.“ „Die Polizei?“ Es schien, als rührte seine Hilflosigkeit sie an. Ihre Züge entspannten sich, und ihre Stimme verlor an Härte, als sie sagte: „Und Sie glauben, er ist bei mir?“ „Er hat es mir doch gesagt. Und Ihre Mutter…“ „…. hat wahrscheinlich mal wieder die alte Geschichte aufgewärmt. Mein Gott!“ Sie hob mit einem Ruck die Schultern an, als fröstele sie, und sah für Sekunden wie verwachsen aus. „Was kann ich denn dafür, wenn sich so ein Daddy in mich verknallt und mir hinterhersteigt? Der ist doch nicht mehr richtig im Kopf, der wird doch plempern, wenn der nur eine stramme Brust sieht.“ Otto Wermke ärgerte sich über die rüde Ausdrucksweise, und der Ärger begann seine Hilflosigkeit abzubauen. Über Wilhelm konnte einer sagen, was er wollte; aber nicht das, nicht in die45
sem Ton! Sachlich fragte er: „Dann haben Sie ihn also seit damals nicht mehr gesehen? Er ist nie wieder hier aufgetaucht?“ „Warum wollen Sie das wissen?“ Sie machte nun gar kein Hehl mehr daraus, daß sie den alten Mann, der da – mir nichts, dir nichts – in das Lokal kam und sie ausfragen wollte, als äußerst lästig empfand. „Haben Sie auch eine Freundin?“ „Ich?“ Ihm war unklar, wohin sie mit dieser Frage zielte. „Ob ich… Was soll das?“ „Sehn Sie, jetzt sind Sie von den Socken.“ Sie verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen, das aber durchaus nicht fröhlich wirkte. „Ich hab immer gedacht, die alten Leute hätten noch genug Benimm im Leib, um ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer zu stecken, besonders nicht, wenn es sich um das Privatleben einer Dame handelt.“ Die Dreistigkeit, mit der sie ihn aufs Glatteis geführt hatte, amüsierte ihn und ließ gleichzeitig seine letzten Hemmungen schwinden, so daß er sogar einen Anflug von Ironie in seine Stimme legen konnte, als er entgegnete: „Verzeihen Sie, meine Dame, ich wollte mich nicht in Ihr Privates drängen. Mir geht es nur darum…“ „Ich weiß: Sie suchen Ihren Busenfreund, und Sie suchen ihn bei mir. Aber hier ist er nicht. Was sagen Sie jetzt? Und wenn er behauptet hat, er fährt zu mir, dann ist das seine Sache, nicht meine.“ Sie stand auf. „Das wär’s denn also gewesen.“ Wer Otto Wermke von früher her kannte, der hätte ein Lied davon singen können, wie zäh er sein konnte, wenn es darum ging, ein gestecktes Ziel zu erreichen. Seine Frau hatte ihn oft genug einen „sturen Bock“ genannt, und die Söhne waren in einem gewissen Alter, in dem Autorität gar zu gern als Beeinträchtigung der eigenen Persönlichkeit empfunden wird, der Meinung, ihr Vater sei ein Rechthaber. Nun hatten zwar die 46
Jahre diese Seite seines Naturells gemildert und ihn zu einem Mann gemacht, der seinen Willen nicht mehr um jeden Preis durchsetzen wollte, doch war er nicht zu einem Ja-und-AmenSager geworden, der um der lieben Ruhe willen allem seinen Lauf ließ, auch wenn er manchmal den Eindruck erweckte, als kümmere ihn wenig, was rings um ihn vor sich ging. Vor allem stellte er sich noch immer bockbeinig, wenn man ihn mit plumpen Mitteln davon abzubringen versuchte, zu erfahren, was er erfahren wollte, und darauf aus war, ihn mit billigem Hinhalten abzuspeisen. Immerhin: Wilhelm hatte ihn eingeladen, bei ihm zu wohnen, sobald er mit dieser Heidemarie zusammengezogen sein würde, und wenn man auch seine Großmäuligkeit in Rechnung stellen mußte, so blieb doch die Frage, ob er ein solches Angebot auf ein bloßes Hirngespinst, auf eine erfolglose, lange zurückliegende Liebesaffäre hin gemacht hätte. Und auf die Frage mußte er eine Antwort haben, unbedingt. Zum ersten Mal fühlte er sich der Frau überlegen, die da vor ihm stand und mit jeder Regung ihres Gesichts zu erkennen gab, daß sie zufrieden war mit der Art und Weise, in der sie ihn abgewimmelt zu haben glaubte. „Ich danke Ihnen für die Auskunft“, sagte er. „Ich werde wohl woanders suchen müssen.“ „Tun Sie das, Opa. Und viel Glück dabei.“ Mit einer beschwingten, fast tänzerischen Bewegung wandte sie sich zum Gehen. „Übrigens fällt mir gerade ein, wovon Ihre Mutter noch gesprochen hat“, sagte er in ihren Rücken, und jäh blieb sie stehen und blickte ihn über die Schulter fragend und schon wieder leicht verärgert an. „Sie ist der Meinung, Wilhelm Klausner habe mit seinem Verhalten zu Ihrer Scheidung beigetragen.“ Er wußte nicht, woher er plötzlich die Dreistigkeit nahm, eine solche Erfindung über die Lippen zu bringen, legte sich indes auch keine Rechenschaft darüber ab, sondern dachte nur flüch47
tig und verwundert, daß er allmählich Routine im Lügen gewinne, und gleichzeitig sah er mit Befriedigung, daß jetzt in Heidemarie Böhms Miene Beklommenheit vorherrschte. „Diese alte Klatschtante!“ Sie suchte nach Worten, während sie sich ihm wieder ganz zuwandte. „Das hatte sie schon immer drauf, Leute schlechtzumachen.“ Sie trat noch einmal an den Tisch heran, diesmal drohend, wie ihm schien. „Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Lassen Sie sich keine Märchen erzählen, und halten Sie sich aus meinen Angelegenheiten raus. Im übrigen stimmt das natürlich nicht, was meine Mutter behauptet.“ Otto Wermke aber entnahm ihrer heftigen Reaktion, daß er womöglich ins Schwarze getroffen hatte oder daß er doch wenigstens der Wahrheit nahe gekommen war, und über diesen kleinen Erfolg wurde er heiter und vergaß vorübergehend sogar, daß er nicht hier war, sich in die Scheidungsaffäre dieser Frau zu mischen, sondern um seinen Freund zu finden und nach Hause zu holen. Wie einer der superschlauen Detektive, die er aus seiner jahrzehntelangen Lektüre von Kriminalromanen kannte, kam er sich vor. Er stellte Überlegenheit und Ruhe aus, indem er sich zurücklehnte und die Finger seiner rechten Hand auf dem Tisch einen kurzen Tanz vollführen ließ. „Es stimmt also nicht? Na gut, es geht mich ja schließlich auch nichts an.“ Und nach einer kleinen Pause, während derer sich ihre Beklommenheit vertiefte und Befremden über die Hartnäckigkeit des alten Mannes deutlich aus ihren Augen sprach, schloß er: „Dann wird sich wohl doch die Polizei mit dem Verbleib Wilhelm Klausners befassen müssen.“ Dabei versuchte er, recht viel Gleichmut in seine Stimme zu legen. „Sie drohen mir?“ Das blanke Erstaunen schwang in ihren Worten. „Ich möchte jetzt bezahlen. Könnten Sie Ihrem Kollegen Be48
scheid geben?“ Es fiel ihm nicht leicht den sachlichen, nicht mehr interessierten Mann zu mimen, aber er spielte die Rolle doch erstaunlich gut. Heidemarie Böhm wußte offensichtlich nicht, ob er das Gespräch und seinen Aufenthalt in dem Lokal wirklich beenden oder ob er sie nur dazu provozieren wollte, ihn zum Bleiben aufzufordern und sich weiter zu erklären. Für Sekunden stand sie unschlüssig da; dann siegte doch ihre Selbstbeherrschung, die sie. in jahrelangem Umgang mit unbequemen und renitenten Gästen erworben hatte. Man durfte ihnen nicht nachgeben, sonst geriet man in Teufels Küche. „Ich wüßte nicht, was ich lieber täte“, sagte sie, machte entschlossen auf dem Absatz kehrt und entfernte sich mit wiegenden Hüften in Richtung des Tresens. Und sie hatte richtig spekuliert. Denn noch während Otto Wermke ihren Abgang beobachtete, schwanden sowohl sein Überlegenheitsgefühl wie seine Verwunderung darüber, daß es ihm gelungen war, dem Gespräch eine solche Wende gegeben zu haben. Statt dessen wuchs die Besorgnis, er könnte zu weit gegangen sein, und verdrängte völlig das Gefühl des Triumphs, die Frau für einen Augenblick in die Enge getrieben zu haben. Was wäre, wenn sie sich ans Telefon hängte und ihre Mutter anrief? Wie stünde er dann vor Frau Pachulke da? Immerhin: Wenn sie nicht anrief, konnte das unter Umständen bedeuten, daß er mit seiner improvisierten Schwindelei auf den richtigen Weg gekommen war, sich ihre Beziehung zu Wilhelm jedenfalls nicht auf eine lange zurückliegende Episode beschränkte. Aber das blieb abzuwarten, und der Gedanke, es könnte sich am Ende herausstellen, seine Einmischung sei voreilig und unnötig gewesen, ließ seine Hochstimmung vollends schwinden. Doch kam er nicht dazu, seinen trüber werdenden Überlegun49
gen nachzuhängen. Der Kellner trat nach erstaunlich kurzer Zeit an seinen Tisch und sagte, als er die zwei Mark für den Kaffee kassierte: „Der Heidi haben Sie aber ganz schön zugesetzt.“. Er war nun gar nicht mehr schläfrig, sondern alert vor Staunen und Schadenfreude. „Wie meinen Sie das?“ Es gelang Otto Wermke nicht sogleich, sich auf den Mann zu konzentrieren. „Die hab ich lange nicht so außer sich gesehen.“ Der Kellner gab ein tief im Hals glucksendes Lachen von sich. „Sonst kann die so schnell nichts aus der Ruhe bringen.“ Otto Wermke begriff, daß eine Unterhaltung mit dem Kellner vielleicht eine Chance bot, auf seinem Weg ein Stück weiterzukommen. Er witterte in dem Mann mit der einstmals weißen Jacke die Klatschsucht. „Ich habe sie nur nach ihrer Scheidung gefragt“, sagte er leichthin. Das glucksende Lachen des Kellners wurde lauter, ließ seinen Bauch erzittern. „Jetzt wird mir einiges klar. Mannomann!“ Er beugte sich zu Otto Wermke hinunter, zählte das Wechselgeld auf den Tisch und raunte ihm zu: „Das ist nämlich die Stelle, wo sie sterblich ist.“ „Wirklich?“ Otto Wermke versuchte, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben. „Und ich dachte immer, die Sache ist längst ausgestanden. Ist ja wohl auch schon ein halbes Jahr her.“ „Von wegen: ausgestanden!“ Nun vermochte der Kellner seinen Mitteilungsdrang nicht mehr zu zügeln. „Das ist nämlich. so“, erklärte er in noch immer gedämpfter Lautstärke, „der Herbert Böhm, der Mann von unserer Heidi, war mit der Scheidung nicht einverstanden. Aber sie war nicht zu halten, wollte unbedingt zu dem anderen, hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um an ihr Ziel zu kommen. Ein Säufer soll der Herbert Böhm sein, hat sie vor Gericht gesagt, ein brutaler 50
Kerl, ein Faulenzer und was weiß ich noch. Doch das stimmt nicht. Alle hier im Ort können bezeugen, daß der Herbert ein fleißiger Mann ist als Maurer bei der Landgenossenschaft. Der trinkt zwar mal einen über den Durst, aber er schindert auch, sogar an den Wochenenden, wenn er den Leuten aus der Stadt die Datschen hinbaut. Natürlich hat er manchmal eine lockere Hand gehabt. Aber die Heidi hat es auch oft zu bunt getrieben. Mit der konnte doch jeder, wenn Sie mich fragen. Bis dann dieser Kerl auftauchte. Der hat sie gezähmt, nach dem war sie reinweg verrückt.“ Otto Wermke spürte ein Prickeln unter der Kopfhaut, wie immer, wenn er mit einer Überraschung konfrontiert wurde. Er saß reglos und atmete flach, als fürchte er, der Kellner könnte durch eine Bewegung oder durch einen zu lauten Atemzug abgelenkt werden. Gleich kommt’s, dachte er, gleich werde ich erfahren, daß Wilhelm der Mann ist, auf den diese Heidemarie so scharf ist. Es wollte ihm zwar nicht in den Kopf, daß ausgerechnet Wilhelm noch immer fähig sein sollte, solche Leidenschaften zu wecken. Aber er erklärte es sich mit der landläufigen Feststellung, daß die Geschmäcker eben verschieden sind, und wartete darauf, daß der Kellner auf den entscheidenden Punkt kam. Doch der ließ sich Zeit, obwohl inzwischen der Vergnügungsdampfer angelegt hatte und die ersten Ausflügler das Lokal betraten, breitete sich umständlich darüber aus, daß Herbert Böhm es nicht aufgegeben habe, seine Frau zurückzugewinnen. Es sei hier, vor allen Leuten, schon zu einem Eklat gekommen, als der Böhm, nicht mehr ganz nüchtern, sie laut angefleht habe, wieder mit ihm zusammenzuleben. „Kein Wunder“, sagte er, „wenn man bedenkt, daß in das schöne Haus jetzt der andere einziehen soll oder daß es verkauft werden muß, sobald es ans Teilen geht. Wenn Sie mich fragen“, orakelte er, „ist die 51
Sache noch lange nicht ausgestanden. Dazu ist der Herbert Böhm zu zäh. Was der sich in den Kopf gesetzt hat, davon läßt er nicht ab, und wenn er über Leichen gehen muß, ich kenne den.“ Otto Wermke wurde ganz heiß bei der Vorstellung, in welche Gefahr sich sein Freund begeben hatte, kam aber nicht dazu, seiner Phantasie die Zügel schießen zu lassen, denn der Kellner widmete sich ohne Pause dem angeschlagenen Thema. „Sie werden sehen“, sagte er schließlich, „der Herbert heiratet eines Tages die Heidi wieder.“ Otto Wermke sah, wie Heidemarie Böhm aus der Tür neben dem Tresen trat und sich anschickte, in ihrem nur mäßig besetzten Revier Bestellungen entgegenzunehmen. Dabei blickte sie mehrmals auffällig zu ihm hinüber. „Kennen Sie den neuen Mann von der Frau Böhm?“ fragte er, ehe der Kellner eine weitere Mutmaßung über die Lippen brachte, und er beobachtete dabei besorgt, wie Heidemarie Böhm, indem sie von Tisch zu Tisch ging und die Wünsche der Gäste notierte, immer näher kam. „Nein, der hat sich hier nie gezeigt. Der scheint nicht aus Friedrichslust zu sein, sonst wüßten wir Bescheid. Den kennt wahrscheinlich keiner. Vielleicht ist kein Staat mit ihm zu machen, und sie traut sich nicht, ihn vorzustellen. Oder es ist irgendein alter Knacker, einer mit einem Haufen Geld, den sie in ein paar Jahren zu Tode kitzeln kann.“ Wieder lachte er tief im Hals, wurde dann jedoch ohne Übergang ganz ernst, musterte Otto Wermke, als fiele ihm jetzt erst auf, daß er die ganze Zeit zu einem Wildfremden gesprochen hatte. „Warum interessieren Sie sich eigentlich dafür? Sind Sie ein Verwandter von Heidi?“ Otto Wermke wollte nicht schon wieder Zuflucht zu einer Lüge nehmen und erwiderte unbestimmt, er stünde einem Mann sehr nahe, dem daran gelegen sei, einiges über Heidemarie Böhm in Erfahrung zu bringen. Dabei registrierte er, wie sich die Hal52
tung des Kellners verhärtete. Der Mann richtete sich auf, strahlte plötzlich Unnahbarkeit nach Kellnerart aus. Otto Wermke versuchte es nun mit einer Flucht nach vorn und fragte: „Kennen Sie einen Wilhelm Klausner?“ und er beschrieb mit ein paar Worten das Aussehen des Freundes. „Und woher soll ich den kennen?“ fragte der Kellner steif und mißtrauisch. „Vielleicht war er mal hier im Restaurant. Mir hat er nämlich gesagt, er…“ „Hier verkehren so viele Leute.“ „Wahrscheinlich am letzten Sonnabend, vorgestern?“ „Da hatte ich dienstfrei.“ Geduld und Auskunftsbereitschaft des Mannes waren sichtlich erschöpft. „Sie tun ja so, als wären Sie von der Polizei.“ „Nein, nein“, versicherte Otto Wermke, „ich suche nur meinen Freund.“ „Dabei kann ich Ihnen aber nun beim besten Willen nicht helfen. Außerdem muß ich an meine Arbeit.“ Er deutete mit einer halbkreisförmigen Armbewegung zu den Tischen hin, an denen einige Leute Platz genommen hatten. „Jedenfalls danke ich Ihnen.“ Otto Wermke saß noch eine Weile, unschlüssig, ob er sein Glück vielleicht bei dem Zapfer versuchen sollte, verwarf dann aber das Vorhaben. Ich darf mich hier nicht zu auffällig machen, sagte er sich, sah auf die Uhr und erschrak leicht, weil es bereits Viertel nach zwölf war. Schließlich hatte er noch den Weg zu Wilhelm Klausners Schwester vor sich, und Frau Weskamp wartete auf Nachricht. Während er auf die Tür zusteuerte, bekam er mit, wie Heidemarie Böhm ihren Kollegen etwas fragte und wie der die Schultern hob und sich von ihr abwandte. Als er in den Garten der „Seeperle“ trat, regnete es noch immer, und der bleigraue Himmel verhieß keine Wetterbesserung. 53
Er spannte den Schirm auf und ging zur Haltestelle. Dem ausgehängten Fahrplan entnahm er, daß der nächste Bus erst in vierzig Minuten fahren sollte, und er setzte sich ärgerlich auf eine schmutzige Bank unter einem Wellblechdach. Und während er wartete, kreisten ihm die Gespräche, die er geführt hatte, im Kopf herum. Daß Heidemarie Böhm ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie habe mit Wilhelm Klausner nichts mehr zu tun, stand für ihn fest. Aber warum hatte sie gelogen? Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie so dumm sein sollte, etwas abzuleugnen, was doch alle Welt zu wissen schien: Sie hatte einen Freund. Und dieser Freund mußte wohl Wilhelm Klausner sein, davon war er jetzt überzeugt. Er glaubte nicht mehr, daß sein Zimmergenosse die Fortdauer dieser Liebschaft aus Renommiersucht erfunden hatte. Denn einiges paßte immerhin zusammen: Wilhelms Ankündigung, er werde demnächst heiraten; der Umstand, daß diese Heidemarie sich hatte scheiden lassen und einen festen Freund besaß; ihr freches und zugleich unsicheres Auftreten; Frau Weskamps Auskunft, daß Wilhelm Frau Pachulkes Tochter vor zwei Jahren kennengelernt hatte, was ihm von der alten Dame bestätigt worden war. Daß Frau Pachulke annahm, die Affäre sei längst vorüber, tat nichts zur Sache. Von Wilhelm wußte er es anders, und das genügte ihm. Aber warum log ihn diese Frau Böhm an? Die Erklärung, sie geniere sich vielleicht, sich für einen so alten Mann entschieden zu haben, verwarf er sofort wieder, weil es unsinnig und kindisch wäre, sich einzubilden, seinen Partner für immer oder wenigstens für längere Zeit vor der Öffentlichkeit verbergen zu können. Und kindisch war die Frau weiß Gott nicht, das hätte er selber erlebt. Oder hatte dieser Herbert Böhm sich inzwischen durchgesetzt und sie überredet, ihn wieder zu heiraten? Dann wäre erklärlich, warum sie nicht wollte, daß jemand die Geschichte mit Wilhelm aufrührte. 54
Die Überlegung, sich doch noch auf die Suche nach dem Haus der Böhms zu machen, hakte sich in seinem Kopf fest. Womöglich traf er dort Wilhelm, vergnügt in einem Sessel sitzend, eine von seinen stinkenden Zigaretten im Mund, und alles wäre ausgestanden. Er hatte Glück, in doppelter Hinsicht: Der erste Mann, den er ansprach, konnte ihm die Adresse nennen, und das Haus lag keine zweihundert Meter von der Haltestelle entfernt. Es war ein zweistöckiges Gebäude, dem Anschein nach aus den dreißiger Jahren, äußerlich in gutem Zustand. Man sah es dem Haus an, vom tadellos gedeckten Dach bis zu der farblos lakkierten Tür, das ihm dauernde fachmännische Pflege zuteil wurde. Um den Vorgarten allerdings hatte sich offensichtlich in diesem Frühjahr noch niemand gekümmert. Er klingelte an dem mannshohen hölzernen Gartentor und wartete mit Herzklopfen, ob sich im Haus etwas regte. Aber es blieb alles still, auch nachdem er ein zweites und ein drittes Mal geklingelt hatte. Er wollte schon fortgehen, als plötzlich doch die Tür aufgerissen wurde. Vor ihm stand ein athletisch gebauter Mann, der ihn beträchtlich überragte, und sah ihn auf eine herausfordernde Art fragend an, ohne zunächst das Wort an ihn zu richten. „Entschuldigen Sie…“ Otto Wermke war zu überrascht, um den Satz zu Ende bringen zu können. „Sind Sie Herr Böhm?“ „Was wollen Sie?“ fragte der Mann. Er näselte stark, als ob er verschnupft sei oder unter wuchernden Nasenpolypen leide. Seine Erscheinung wirkte auf Otto Wermke nicht gerade vertrauenerweckend. Er hätte dergleichen Männer noch nie gemocht, diese kraftstrotzenden Kerle mit den wie maßgeschneiderten Muskeln, der schon im Mai gebräunten Haut, den kunstvoll gelegten Haaren, dem sehr wachen Blick und der halbpfundschweren Armkette. Sie kamen ihm immer so vor, 55
als hätten sie selten in ihrem Leben ehrliche Arbeit verrichtet. Wer weiß, dachte er, was mir der Kellner vorgeflunkert hat, als er davon sprach, daß dieser Böhm im Grund ein umgänglicher und fleißiger Mensch ist. Er jedenfalls konnte nichts Angenehmes an dem Mann entdecken, der da fast die ganze Türöffnung ausfüllte, und um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, stellte er sich erst einmal vor: „Mein Name ist Wermke. Ich habe vorhin schon mit Ihrer Frau gesprochen.“ „So, mit meiner Frau…“ Es schien Otto Wermke, als würde der Blick, der auf ihn gerichtet war, noch wacher. „Und was wollen Sie jetzt von mir?“Es nützte nichts: Er hatte den Einfall gehabt, das Haus der Böhms aufzusuchen, und nun mußte er Farbe bekennen. „Es geht nämlich um meinen Freund – Wilhelm Klausner“, sagte er. „Und da dachte ich…Ich wollte einfach mit ihm sprechen.“ „Hier?“ Das Wort peitschte wie ein Schuß, und Otto Wermke zuckte zusammen. „Wieso kommen Sie denn darauf, daß Ihr Freund hier sein könnte?“ fragte der Mann, und lauernde Neugier war in seiner Stimme. Otto Wermke wäre am liebsten gegangen, ohne auch nur noch ein weiteres Wort gewechselt zu haben. Einem solchen Mann fühlte er sich ganz und gar nicht gewachsen. „Treten Sie doch näher“, forderte der ihn plötzlich auf und, gab einladend die Tür frei. „Drinnen redet sich’s besser.“ „Vielen Dank, Herr Böhm“, sagte Otto Wermke unsicher. „Aber in ein paar Minuten geht mein Bus. Ich muß nämlich wieder in die Stadt.“ Doch der andere hatte ihm schon eine Hand auf die Schulter gelegt und schob ihn vor sich her durch eine enge Diele und in einen Raum, der mit den landesüblichen Attributen von Wohlstand – einer Schrankwand voller Nippes, einem Farbfernseher, 56
einer Zimmerbar und einer kunstlederbezogenen Couchgarnitur – ausgestattet war. Der Mann deutete auf einen der Sessel und ließ sich schwer in den zweiten fallen, ohne den Blick von dem Besucher zu wenden. „Sie wollen also Ihren Freund sprechen.“ „Das ist nämlich so, Herr Böhm…“ Otto Wermke hockte ganz vorn auf dem Sessel und wußte nicht, wohin mit seinem Regenschirm. „Von der Mutter Ihrer Frau – also von Ihrer Schwiegermutter… ich meine: von Ihrer ehemaligen Schwiegermutter…“ „Sagen Sie ruhig: von meiner Schwiegermutter“, sagte der Mann und setzte ein Lächeln auf, das um Vertrauen werben sollte. „Kommt ja nicht drauf an. Oder?“ „Von Frau Pachulke also weiß ich, daß der Wilhelm Klausner früher mal mit Ihrer Frau… Naja, daß er sie verehrt hat.“ „Ach, so ist das.“ Der Mann schien schnell zu begreifen. „Da dachten Sie, Ihr Freund ist hier und macht Visite?“ Das Lächeln intensivierte sich und ging in ein lautes Lachen über. Otto Wermke hatte jedoch den Eindruck, daß dem Mann eigentlich nicht nach Lachen zumute war. So jäh der Ausbruch von Heiterkeit gekommen war, so unvermittelt brach er ab und machte wieder dem wachen Blick Platz. „Und Frau… meine Schwiegermutter hat Ihnen das gesagt?“ „Ja, Frau Pachulke.“ „Oder vielleicht doch Ihr Freund?“ „Nein, nein, Frau Pachulke.“ Otto Wermke ließ vor lauter Aufregung den Schirm fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er in eine ganz ernst gewordene, fast finstere Miene. „Wollen Sie mir weismachen“, fragte der Mann, während er an seiner schweren Goldkette herumspielte, „daß Sie extra hier herausgefahren sind, um sich mit diesem Wilhelm Krautner…“ 57
„Klausner, bitte.“ „… mit diesem Herrn Klausner also zu unterhalten?“ „Ich habe viel Zeit, und so eine kleine Tour bringt immer ein bißchen Abwechslung.“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, und er merkte, wie wenig diese Antwort dazu angetan war, das Mißtrauen des anderen zu zerstreuen. „Oder ist es vielleicht so, daß Ihr Freund Sie geschickt hat, hier rumzuschnüffeln, sich mal umzusehen, was hier so läuft?“ „Nein, nein, ich…“ „Das würde ich auch gar nicht mögen.“ Der Mann rekelte sich tief in den Sessel. „In dem Punkt bin ich nämlich eigen. Verstehn Sie? Sehr eigen. Und abgeblitzte Liebhaber, die sich nicht damit abfinden können, daß sie ausgespielt haben, sind mir ein Greuel. Denen gegenüber kann ich äußerst ungemütlich werden.“ Langsam senkte er das Kinn auf die Brust und musterte Otto Wermke ungeniert. Das Resultat seiner Musterung schien ihn heiterer zu stimmen, denn er lächelte nun wieder. „Richten Sie Ihrem Freund aus“, sagte er gelassen, „er soll sich hier nie wieder sehen lassen, wenn ihm seine. Gesundheit lieb ist. Und jetzt gehen Sie. Sie wollen doch sicherlich Ihren Bus noch erreichen.“ Otto Wermke rappelte sich hoch, bewegte sich zwei, drei Schritte rückwärts und sagte an der Zimmertür: „Entschuldigen Sie nochmals, daß ich Sie gestört habe.“ „Schon gut.“ Der Mann machte keine Anstalten, aufzustehen und seinen Besucher hinauszubegleiten. „Sie finden doch wohl allein die Haustür.“ Auf der Straße war Otto Wermke in Schweiß gebadet. Ohne den Schirm aufzuspannen, hastete er durch den Regen zu der Haltestelle zurück, und die Minuten, bevor der Bus hielt, hatte er vollauf damit zu tun, wieder zu sich selbst zu finden. 58
4 Das Häuschen, vor dem Otto Wermke anderthalb Stunden später stand, nach einer als beschwerlich empfundenen Fahrt durch die halbe Stadt, glich dem der Böhms ganz und gar nicht. Es lag in einer Schrebergartensiedlung mit50iem poetisch klingenden Namen „Vogelsang“, die hufeisenförmig eine aufgelassene Kiesgrube umgab. Die Kiesgrube hatte sich mit Grundwasser gefüllt und diente jetzt als Badesee. Er hatte lange suchen müssen auf den aufgeweichten Wegen zwischen den kleinen Parzellen mit ihren uniform auf gleiche Höhe geschnittenen Hecken, den winzigen Blumen- und Gemüsebeeten, den Obstbäumen und Beerensträuchern, die mit allen möglichen großen und kleinen, primitiven und komfortablen Wohnvorrichtungen bebaut waren. Dann war er am Ziel, trotz des Regenschirms mit einem feuchten linken Jackenärmel und nassen Hosenbeinen bis zu den Knien: Adlerweg zehn. Kein Schild an der verwitterten und schief in den Angeln hängenden Gartenpforte wies darauf hin, daß hier Frau Hanke, Wilhelm Klausners Schwester, wohnte. Vergebens suchte er auch nach einer Klingel, und so drückte er die Klinke nieder, nachdem er sich ohne Erfolg durch Rufen bemerkbar zu machen bemüht hatte. Zögernd schritt er dann über einen grasdurchschossenen Plattenweg auf das Häuschen zu, dessen beide zum Weg hinausgehenden Fenster verhängt waren. Es war eines der oft in Schrebergärten anzutreffenden Gebäude, die nicht nach einem feststehenden Plan errichtet, sondern über die Jahre hinweg gleichsam gewachsen sind - um einen Wohnraum, einen Schuppen, einen weiteren Wohnraum, vielleicht auch eine Garage - , bis sie schließlich, weniger ansehnlich als den Bedürfnissen entsprechend, auch im Winter als Wohnsitz dienen können. Otto Wermke schauderte es bei dem Gedanken, er müßte unter solchen Umständen wohnen. Zwar war ihm durch seinen Beruf das Leben mit der Natur und in ihr unent59
behrlich geworden, und er trug schwer daran, daß er seine alten Tage zwischen hohen Häusern zubringen mußte; doch er hatte sich stets davor gehütet, eine „Laubenpieperideologie“ zu entwickeln, wie er die Rechtfertigung einer nur mit Tomaten, Kaninchen und Abdichten des Teerpappendachs ausgefüllte Existenz am Rand der Gesellschaft nannte. Mehrere Male klopfte er vergebens an die grüngestrichene Tür, die aus einem Abrißhaus zu stammen schien, gab aber nicht auf, da er aus dem Innern ein Gewirr von Stimmen und Musik hörte, und als endlich eine in dem Lärm kaum zu vernehmende Aufforderung zum Eintritt an sein Ohr drang, schritt er über die Schwelle in einen Vorraum. Der war vollgestellt mit Gartengeräten, Kisten und Körben, und unter der Decke hing ein Fahrrad. Schon hier herrschte ein penetranter stockiger Geruch, in den sich Katzengeruch mischte, der ihm dann, als er durch einen Vorhang in den abgedunkelten Wohnraum ging, fast den Atem nahm. Es dauerte einige Sekunden, ehe sich seine Augen an das dort herrschende Dämmer gewöhnt hatten und er, wenn auch nicht in den Einzelheiten, das bunt zusammengewürfelte und die kleine Stube beklemmend eng machende Mobiliar erkennen konnte. In der Ecke eines großen Sofas mit einem wuchtigen Umbau thronte eine massige, offensichtlich zum Schutz gegen die Regenkühle in einen Mantel gehüllte Gestalt, deren Gesicht ins bläuliche Licht des Bildschirms getaucht war, über den ein Zeichentrickfilm für Kinder lief. Sie wandte ihm den Kopf zu und wartete. „Kann ich Sie für einen Augenblick sprechen?“ fragte er laut. „Ich verstehe Sie nicht.“ Die Stimme der Frau, die da in der Sofaecke saß, klang dünn und heiser und paßte nicht zu ihrer voluminösen Gestalt. „Moment, ich stell erst mal den Kasten ab.“ Schnaufend beugte sie sich vor, jäh erstarben die Geräu60
sche, eine beinahe gespenstische Stille herrschte in dem Raum. „Also, was wollen Sie?“ „Mein Name ist Otto Wermke.“ Es gelang ihm nicht sofort, wieder in normaler Lautstärke zu sprechen. „Sicherlich hat Ihr Bruder schon von mir erzählt.“ „Mein Bruder?“ Das hörte sich an, als wäre die Frau mit etwas Unzumutbarem konfrontiert worden. Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Ich habe keinen Bruder.“ Otto Wermke glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Sollte Wilhelm, überlegte er, die Schwester erfunden und irgendeine Adresse, vielleicht die einer Bekannten, angegeben haben, um zu einem Alibi für seine Wochenendausflüge zu kommen? „Ich spreche von Wilhelm Klausner“, sagte er verwirrt. „Ist das nicht Ihr Bruder?“ „Ach, der!“ Verachtung sprach aus diesen zwei Worten. „Und was will Wilhelm Klausner von mir?“ Seine Irritation nahm zu. Da stand er in einem halbdunklen Raum, umweht von widrigen Gerüchen, und sprach mit einer Frau, die er kaum erkennen konnte. Und diese Frau behauptete nun, keinen Bruder zu haben, obwohl sie Wilhelm Klausner offenbar doch kannte… In seiner Bedrängnis fragte er: „Darf ich mich setzen?“ „Nur zu. Aber ziehen Sie erst mal die Vorhänge auf. Ich kann Sie kaum sehen. Wer weiß, wer Sie wirklich sind und was Sie wollen.“ Das klang eher nörgelnd als ängstlich. Erleichtert trat er an eines der Fenster, zog den Vorhang zur Seite, und als er sich umwandte, sah er den Blick einer übermäßig fetten Frau prüfend auf sich gerichtet. Sie atmete schwer und mit offenem Mund. Die Musterung schien zu ihrer Zufriedenheit verlaufen zu sein, denn sie sagte: „Setzen Sie sich.“ Und sie wies auf einen der beiden Stühle am Tisch. „Sie müssen schon entschuldigen, daß ich nicht selber für Licht gesorgt 61
habe. Ich bin schlecht auf den Beinen. Und wenn man tagsüber fernsieht, ist es für das Bild besser, das Zimmer abzudunkeln.“ Dann betrachtete sie ihn wieder ungeniert und stellte fest: „Der Jüngste sind Sie aber auch nicht mehr. Ich werde demnächst fünfundsiebzig. Und Sie?“ „Dreiundsiebzig“, antwortete er mechanisch. „Sehen Sie!“ sagte sie, als ob ihr eine fundamentale Prognose gelungen wäre. Otto Wermke war daran gelegen, so schnell wie möglich zur Sache zu kommen und diese Behausung verlassen zu können. Also sagte er entschlossen: „Ich suche Wilhelm Klausner.“ Doch wenn er geglaubt hatte, damit sein Thema durchgesetzt zu haben, so hatte er sich geirrt. Die Frau schnaufte laut, was wohl ein verstehendes und zugleich abschätziges Lachen ersetzen sollte. „Den haben wir auch oft gesucht, noch als er ein ganz kleiner Steppke war. Ein Ausreißer war der, immer unterwegs. Mit zwölf ist er mit einem Wanderzirkus weg, als Stalljunge. Ach, was sag ich! Bereits mit acht ist er mit dem Zug nach Leipzig abgehauen. Die ganze Familie war immer hinter ihm her. Ist ja denn auch beizeiten aus dem Haus gegangen.“ „Dann ist er also doch Ihr Bruder.“ Er war richtig erleichtert, daß sich in diesem Punkt keine Komplikation ergab. „Aber Sie haben gesagt…“ „Gut, das war nicht richtig. Ich hätte sagen sollen: Ich habe keinen Bruder mehr.“ Etwas wie theatralische Würde lag in diesen Worten. Doch dann wurde sie von einer Sekunde auf die andere wehleidig. „Dabei sind wir so nett zu ihm gewesen. Immer haben mein Mann und ich ihn aufgenommen, wenn er wieder einmal nicht wußte, wohin. Geld haben wir ihm gepumpt, Klamotten haben wir ihm gegeben. Mein Mann hat nämlich gut verdient, müssen Sie wissen. Er war Dreher bei 62
Borsig und im Krieg reklamiert deswegen. Und dann ist er in den letzten Wochen doch noch eingezogen worden und gefallen, und ich stand allein da mit meinem Horst.“ Sosehr auch Otto Wermke sonst immer geneigt war, den Klagen alter Menschen sein Ohr zu leihen, so wenig benagte ihm in dieser Situation das Jammern der dicken Frau. Wie sollten ihm die Erinnerungen an alte Familienquerelen weiterhelfen? Alles, was er ihren Worten entnehmen konnte, war die Erkenntnis, daß Wilhelm am Sonnabend wohl nicht zu seiner Schwester gefahren war. Und das stimmte ihn nicht gerade ruhig. Um Gewißheit zu erlangen, versuchte er, die Frau auf das ihn jetzt einzig interessierende Thema zurückzuführen, indem er geradezu fragte: „Hat Ihr Bruder Sie am Sonnabend besucht?“ Die Frau, gestört in ihrem weitläufigen Bericht und entsprechend ungehalten, dachte nicht daran, die eindeutige Frage mit einer ebenso eindeutigen Antwort zu bedenken. Wie der Kellner in der „Seeperle“ sperrte sie sich. „Was geht Sie das an?“ Mein Gott, dachte er gereizt, warum nur stoße ich überall auf Mißtrauen, wenn ich etwas Genaueres über Wilhelm erfahren will? Doch er zügelte die in ihm aufsteigende Ungeduld und erklärte: „Frau Hanke, Ihr Bruder ist seit vorgestern nicht aufzufinden. Ich lebe mit ihm zusammen in einem Zimmer im Altersheim. Und ich mache mir Sorgen um ihn.“ Die nüchternen Sätze schienen einen Teil ihres Argwohns abzubauen. Sie schloß die Augen, als ob sie nachdächte, schürzte die vollen Lippen. „Und er hat Sie nicht hierhergeschickt?“ fragte sie und klappte die Lider wieder hoch. Auf diese Frage war er ganz und gar nicht vorbereitet; „Mich hierhergeschickt? Wozu?“ „Damit Sie um gut Wetter bitten, zum Beispiel.“ Ächzend veränderte die Frau ihre Position in der Sofaecke, und durch die Bewegung aufgeschreckt, sprang ein großer graugestromter 63
Kater, den Otto Wermke bisher noch nicht bemerkt hatte, zwischen zwei Kissen hervor auf den Fußboden und von dort auf seinen Schoß, wo er sich zusammenrollte und sofort zu schnurren begann. „Das macht er nicht oft“, sagte Frau Hanke und sah ihren Besucher freundlicher an. Und ernst fügte sie hinzu: „Sie müssen ein guter Mensch sein. Dafür hat mein Peter nämlich einen Riecher.“ Er war zu sehr überrascht von dem plötzlichen Erscheinen des Tieres und zu sehr beschäftigt, sich mit ihm, so gut es angehen wollte, zu arrangieren, als daß er auf ihre Bemerkung sofort hätte reagieren können. Sie aber nahm den Faden des Gesprächs wieder auf. „Er hat Sie also nicht geschickt? Und Sie wohnen wirklich mit ihm auf einem Zimmer, sind so etwas wie sein Freund?“ Otto Wermke nickte. „Na, dann werde ich Ihnen mal eine Geschichte zum besten geben, damit Sie Ihren Freund richtig kennenlernen.“ Und nachdem sie sich endgültig in eine bequemere Sitzposition zurechtgerekelt hatte, begann sie mit der angekündigten Geschichte, die ihn – je länger, desto mehr – beunruhigte und befremdete. Vor zwei Jahren sei ihr Onkel gestorben, der jüngste Bruder der Mutter, mit Namen Gottfried. Ein Junggeselle, der als Besitzer einer Kohlenhandlung immer sehr viel verdient, sich aber nur das Allernötigste zum Leben geleistet und sein ganzes Geld ins Sammeln von Briefmarken und Münzen gesteckt habe. Der Tonfall, in dem sie diese Umstände weitschweifig vortrug, ließ keinen Zweifel daran, daß sie den Mann für geistesgestört hielt. „Und dann starb er, in seiner miesen Bude auf dem Kohlehof, und besaß mal gerade das Zeug, das er auf dem Leib trug, und ein paar Möbelstücke, die nur noch als Brennholz taugten. Meine sind noch Gold dagegen. Aber die Sammlungen… Die 64
müssen eine Million wert gewesen sein.“ Sie blickte Otto Wermke aus ihren leicht basedowchen Augen eindringlich an, um zu erforschen, ob die Summe auch ja den nötigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, und schränkte dann ein, als sie auf Skepsis in seiner Miene stieß: „Es kann auch nur eine halbe Million gewesen sein. Jedenfalls war’s viel Geld, und es war Geld, das mein Horst und ich bitter nötig gehabt hätten. Und mein Horst sollte ja auch alles kriegen, das stand schon im Testament, und da war nicht dran zu rütteln. Weil nämlich der Onkel meinen Horst besonders mochte und weil der ja auch jahrelang auf dem Kohlehof als Hucker geschindert hatte. Aber dann passierte meinem Horst die zweite dumme Sache.“ Sie legte eine Pause ein, wohl auch aus Atemnot, hustete dumpf, und in der eingetretenen Stille hörte Otto Wermke wieder laut das Schnurren des Katers auf seinem Schoß. Um die Geschichte voranzutreiben, fragte er: „Was für eine dumme Sache?“ „Sekunde!“ Frau Hanke hustete noch einmal, und nachdem sie sich auch die Kehle frei geräuspert hatte, fuhr sie fort: „Der Junge ist da in etwas reingeraten, wofür er eigentlich nichts konnte. Er ist ein guter Junge, mein Horst, das können Sie mir glauben. Tut keiner Fliege was zuleid. Aber an dem Abend hatte er wohl was getrunken. Jedenfalls gab’s Krach in der Kneipe, und dann ging die Hauerei los. Und einer von den Gästen hatte danach Kieferbruch und eine Gehirnerschütterung. Ausgerechnet meinem Horst haben sie die Schuld an allem gegeben, die ganze andere Bande hat sich reingewaschen. Er ist zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden.“ Sie sah so fassungslos drein, als hätte sie soeben erst von dem Urteil erfahren. „Stellen Sie sich das mal vor: zweieinhalb Jahre!“ Otto Wermke stellte sich zunächst nur vor, wie der Mann zurichtet war und wie lange die Heilung gedauert hatte, und das 65
dämpfte sein Mitgefühl mit der jammernden Frau erheblich. Er kannte diese Art Mütter nur zu gut, die für alles eine Entschuldigung parat hatten, was ihre Söhne anstellten. Und die da vor ihm saß, brachte sogar Verständnis dafür auf, wenn ihr Sohn eine schwere Körperverletzung beging. Ärgerlich fragte er: „Und der Verletzte? Wie lange hat der im Krankenhaus gelegen?“ „Das weiß ich nicht.“ Frau Hanke blieb unbeeindruckt von der Frage. „Der war, glaub ich, gar nicht von hier. Irgend so ein Sachse auf Dienstreise.“ Sein Ärger wuchs. „Und die andere dumme Sache? Sie haben doch von zwei dummen Sachen gesprochen.“ „So, hab ich das?“ Sie stierte angestrengt in die Luft, als müsse sie sich an etwas längst Vergessenes erinnern. „Das war wohl was Ähnliches, liegt aber ganz weit zurück und war auch damals schon verjährt. Aber das tut ja alles nichts zur Sache.“ Sie wechselte den Ton und sprach wieder zügig. „Ich wollte Ihnen nur mal vorführen, was das für einer ist, Ihr Freund Wilhelm Klausner. Geht der doch, kaum daß mein Horst im Knast sitzt, zu dem ollen Zausel, dem Onkel Gottlieb, dem man damals schon allemal erzählen konnte, im Himmel ist Jahrmarkt, geht also hin zu dem und macht den Jungen schlecht. Behauptet, er ist ein Schläger, ein Verbrecher, einer, der immer wieder hinter Gitter kommt. Und sagt das so oft, bis der Alte sein Testament ändert und ihn zum Alleinerben einsetzt.“ Wieder gab sie sich so fassungslos, als hätte sich das alles am Tag zuvor zugetragen. Otto Wermke mochte nichts sagen. Vom Magen stieg etwas Saures die Speiseröhre hoch und erinnerte ihn unangenehm daran, daß er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, fetzt machte ihm auch wieder die üble Luft zu schaffen. Er schluckte heftig und faßte sich an den Hals, wobei er den Kater 66
aus seiner Behaglichkeit aufstörte, so daß dieser mit einem beleidigten Knurren von seinem Schoß hinuntersprang. Ist das alles scheußlich, dachte er, und er versuchte sich vorzustellen, wie der alte Wilhelm um den noch älteren Onkel herumscharwenzelt und den Neffen schlechtmacht, nur um an die Sammlungen heranzukommen. Und als hätte ihm Frau Hanke seinen Ekel und seine Zweifel vom Gesicht abgelesen, versicherte sie: „Das ist wirklich und wahrhaftig so passiert. Onkel Gottlieb starb bald darauf, und mein Horst saß. Vor vier Wochen ist er erst rausgekommen und kriegt nichts, keine Puseratze. Aber wir haben Klage eingereicht, wegen Erbschleicherei. Wir fechten das Testament an.“ Er hatte sich wieder so weit unter Kontrolle, daß er einigermaßen sachlich fragen konnte: „Und wo befindet sich jetzt der ganze Kram?“ „Was weiß ich? Vielleicht hat er ihn zu Geld gemacht, vielleicht liegt er irgendwo in einem Tresor. Sie müssen das doch eher wissen als ich, Sie wohnen doch mit ihm zusammen.“ Erst jetzt fielen ihm wieder Wilhelms böse Bemerkungen über die Geldgier seiner Tochter ein, und dann erinnerte er sich auch an das, was der Kellner aus der „Seeperle“ über einen womöglich alten und reichen Freier gesagt hatte, den diese Heidemarie binnen kurzem zu Tode kitzeln könne. Sein Übelbefinden nahm wieder zu. „Ich möchte für einen Augenblick an die Luft“, sagte er, und seine Stimme klang seltsam matt. „Ist Ihnen was?“ fragte Frau Hanke besorgt. „In unserem Alter muß man sich vorsehen. Oder ist Ihnen die Geschichte an die Nieren gegangen?“ Er antwortete nicht, erhob sich und ging durch den Vorraum in den Garten. Da stand er, gegen einen alten Kirschbaum gelehnt, und empfand den Regen, den ihm der Wind vom Kiessee 67
her ins Gesicht trieb, als wohltuend. Ich gebe es auf, dachte er, was habe ich mit alledem zu tun? Und ich werde mir von Herrn Friedrich ein anderes Zimmer zuweisen lassen; mit einem wie Wilhelm kann man doch nicht zusammenwohnen. Ganz allmählich verflog unter dem Einfluß der frischen Luft und dem Nachlassen des Drucks im übersäuerten Magen sein Katzenjammer, und er begann klarer zu denken. Wußte er denn, ob sich alles so zugetragen hatte, in allen Einzelheiten, wie die dicke Frau es berichtete? Und war eine Frau, die ihrem Sohn so kritiklos gegenüberstand, überhaupt in der Lage, der Wahrheit auf den Grund zu kommen? Unentschlossen ging er einige Schritte auf die Gartenpforte zu. Zweifel an der Lauterkeit Wilhelm Klausners jedenfalls blieben. Um die zu zerstreuen oder zu bestätigen, mußte er mit Wilhelm sprechen. Die Frau hatte ihm noch nicht die Frage beantwortet, ob ihr Bruder am Wochenende bei ihr gewesen war. Sehr wahrscheinlich war das, nach allem, was er erfahren hatte, nicht. Aber eine Antwort brauchte er, auch um Frau Weskamp Nachricht geben zu können. Zwei, drei Minuten blieb er noch am Zaun stehen, atmete tief, als müsse er einen gehörigen Vorrat an guter Luft in sich hineinpumpen, und kehrte dann wieder in die Stube zurück, wo die dicke Frau noch immer so saß, als hätte sie in der Zwischenzeit kein Glied gerührt, und der Kater sich auf seinem Stuhl breitgemacht hatte. „Nun, geht’s besser?“ fragte Frau Hanke. „Ich würde Ihnen ja gern eine Tasse Kaffee kochen. Aber die Beine… Das Wasser und das Rheuma…“ Er wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen, und so ließ er sich nicht ablenken und fragte geradewegs: „War Ihr Bruder am Sonnabend hier?“ „Sonnabend?“ Sie dachte nach. „Wissen Sie, mein Gedächtnis 68
ist ziemlich kaputt. Ist das bei Ihnen auch so? Was vor Jahren war, das weiß ich noch ganz genau. An gestern kann ich mich kaum erinnern… Sonnabend, haben Sie gesagt?“ „Am Tag vor Pfingsten“, half er ihr, erstaunt und dennoch froh, möglicherweise doch noch einen Hinweis auf Wilhelms Verbleib zu bekommen. Daß er hier genächtigt haben könnte, schloß er bei dieser wenig freundlichen Umgebung allerdings aus. ,,Er war neulich hier, es ist noch gar nicht so lange her, das weiß ich.“ Und die Erinnerung trieb ihr anscheinend die Galle ins Blut. „Abfinden wollte er uns, der Lump. Fünftausend hat er angeboten, der Gauner, aus Gnade und Barmherzigkeit, hat er gesagt. Wir haben ihn jedoch ganz schön abfahren lassen! Wir nehmen keine Almosen, wir wollen alles! Verstehn Sie: alles! Vors Gericht gehn wir… Aber ob das am Sonnabend war?“ Otto Wermke bemühte sich, die Geduld nicht zu verlieren. Schließlich litt er selber oft genug an fataler Gedächtnisschwäche, wußte manchmal nicht, was für ein Wochentag war, und konnte sich oft morgens partout nicht mehr an das Fernsehprogramm vom Abend zuvor erinnern. Aber würde er auch einen Tag vergessen, an dem sich überraschend ein ungebetener und ungeliebter Gast eingestellt hatte? Behutsam versuchte er, die Erinnerung der Frau Hanke mit allen möglichen Anhaltspunkten aufzufrischen; sie blieb dabei, sich nicht entsinnen zu können. Aufgeben wollte er um keinen Preis, jetzt, da er kurz vorm Ziel stand. Die Gartenpforte quietschte, und bald darauf war das Poltern von Schritten im Vorraum zu hören. „Das wird mein Horst sein“, sagte Frau Hanke, offensichtlich erleichtert, nicht mehr mit dem aufdringlich fragenden Fremden allein sein zu müssen. Der Mann, der den Vorhang zur 69
Stube beiseite schob und anscheinend grußlos durch die gegenüberliegende Tür in ein anderes Zimmer gehen wollte, machte in seiner adretten Kordsamthose und dem schwarzledernen Blouson nicht den Eindruck, als ob er einen Menschen krankenhausreif schlagen würde. Er war um die vierzig, mittelgroß und eher schmächtig. Als er Otto Wermke erblickte, stockte sein Schritt, und er blieb leicht schwankend und starren Gesichts stehen. „Du hast Besuch?“ Er sprach vorsichtig wie ein Stotterer, der darauf konzentriert ist, sich nicht zu verhaspeln. „Ein Freund von deinem Onkel Wilhelm“, sagte Frau Hanke, und sie konnte es sich nicht verkneifen, die Charakterisierung: „Von diesem Schuft!“ hinterherzuschicken. Der Mann stierte Otto Wermke an, als begreife er nicht, was seine Mutter gesagt hatte. „Onkel Wilhelm?“ murmelte er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Otto Wermke hatte sofort erkannt, daß der Mann recht maßlos getrunken haben mußte, und er hegte Zweifel, daß eine Unterhaltung mit ihm möglich war. Dennoch sagte er, gegen seine Scheu vor Betrunkenen ankämpfend: „Ich möchte nur wissen, ob Ihr Onkel am Wochenende hier gewesen ist.“ „Ja, natürlich war er am Sonnabend hier.“ Horst Hanke wandte sich seiner Mutter zu. „Du mußt doch… Hast du dem Mann denn nicht sagen können, daß der Kerl hier war?“ „Ich wußte nicht mehr, ob es am Sonnabend gewesen ist.“ Ihre Stimme klang ängstlich und doch auch wieder froh, daß ihr Sohn ihr die Verantwortung abgenommen hatte. „Aber wenn du es sagst…“ „Dumm wie alle Weiber!“ Nach diesem Kommentar richtete er das Wort wieder an Otto Wermke. „Am frühen Nachmittag, wenn Sie’s genau wissen wollen.“ Unvermittelt fuhr Leben in den Mann, und das so heftig, daß Otto Wermke befürchtete, 70
der möchte die weiträumigen Bewegungen mit beiden Armen nicht ausbalancieren können. „Und ich hab ihm Saures gegeben, dem Heuchler, jawoll! Und Sie sind sein Freund?“ Das war drohend gesagt, und Otto Wermke sprang vom Stuhl auf, weil er argwöhnte, der betrunkene Mann könnte auf ihn fallen oder sich auf ihn stürzen. Doch der sagte hur: „Keine Angst, Ihnen tu ich nichts“, und er machte eine vage Geste, die beschwichtigend wirken sollte. „Hab nur noch ein bißchen Pfingsten gefeiert. Tut gut nach so langer Zeit und all der Scheiße.“ Dann schien er sich wieder daran zu erinnern, um was es ging. „Kommt hier ‘rein, als wär nie was gewesen, stellt sich hin und sagt, ob wir nicht endlich Schluß machen wollten mit all dem Mist wegen der Erbschaft und so. Er wär ein alter Mann und wollte keinen Streit und wär sogar Opa geworden und hätt’ einen reizenden kleinen Bengel von Enkel und manches hätte sich… Wie hat er gesagt? Ja: Manches hätte sich entscheidend geändert. Und jetzt möchte er unter alles einen Strich ziehen. Einen Strich ziehen! Haben Sie verstanden? Und das, nach allem, was er uns eingebrockt hat.“ Je weiter der Betrunkene in seinem mit vielen Pausen durchsetzten Monolog fortfuhr, desto mehr fiel von Otto Wermke die Befürchtung ab, der Mann könne gewalttätig werden, und die Erleichterung darüber, endlich auf eine Spur von Wilhelm Klausner gestoßen zu sein, breitete sich in ihm aus. „Aber mit dem bin ich Schlitten gefahren! Stimmt’s, Mutter? Mit Karacho! Der kommt nicht wieder, das garantier ich Ihnen.“ Zufrieden mit sich, rieb er die Handflächen gegeneinander. „Erzählt mir lauter dummes Zeug. Und was bietet er uns an? Fünftausend. Lumpige Fünftausend! Der hat doch nur Angst vorm Prozeß. Mir gehört nämlich alles. Alles, verstehn Sie?“ „Recht hast du, Horst!“ rief Frau Hanke, angesteckt von dem 71
Temperamentsausbruch ihres Sohnes, mit erstaunlich kräftiger Stimme. „Alles gehört dir, dir allein!“ „Und wenn er denkt, er kann den ganzen Krempel seinem Enkel vererben und ist damit aus dem Schneider…“ „Hat er denn davon gesprochen?“ Otto Wermke versuchte vergebens, sich aus dem Gerede ein klares Bild von der Auseinandersetzung zu machen. „Ich meine: Hat er denn den Enkel in diesem Zusammenhang erwähnt?“ „Erwähnt?“ Wieder schien es, als habe Horst Hanke Mühe, den Sinn dessen, wonach gefragt wurde, zu verstehen. „Er wär jetzt in anderen Verhältnissen, hat er behauptet, hätte nicht mehr nur noch für sich selbst zu sorgen. Manches eben hätte sich entscheidend verändert für ihn. – Wenn der denkt…“ „Deutete er vielleicht an, daß er demnächst heiraten oder mit einer Frau zusammenleben will?“ Horst Hanke stierte ihn einige Sekunden leicht schwankend und mit offenem Mund an, ehe er schrie: „Das hatte der sich fein ausgedacht, der alte Bock! Mir erst die Erbschaft abgaunern und dann die Million mit einer Pißnelke verjuxen. Und ich geh weiter schuften.“ Die Wut brach in gurgelnden Lauten aus ihm heraus. „So was muß man einfach totschlagen, jawoll, totschlagen!“ „Horst! Du bist sofort still!“ Erschrocken hielt Horst Hanke inne und stand dann wie erstarrt. Ratlosigkeit legte sich über sein Gesicht, als sei er gerade erst aus einem unbegreiflich wüsten Traum erwacht. Vergebens versuchte er, einen Satz zu artikulieren. Schließlich sagte er, mehr an sich selbst gerichtet: „Quatsch, was soll das alles?“ An Otto Wermke wandte er sich sodann mit der beschwörenden Floskel: „Das werden Sie doch wohl nicht für bare Münze nehmen! Ich bin doch besoffen, Mann.“ Otto Wermke stand genauso erschrocken und ratlos da wie sein 72
Gegenüber. In seinem Hirn wirbelten Gedankenfetzen, Befürchtungen. „Haben Sie ihn geschlagen?“ fragte er zaghaft. „Ich? Meinen Onkel geschlagen?“ Horst Hanke schüttelte heftig den Kopf, während sein Körper steif blieb wie der einer Puppe. „Das können Sie mir nicht anhängen!“ „Sag nichts mehr, Horst!“ rief Frau Hanke. „Der will dich doch bloß aushorchen.“Der Einwurf seiner Mutter bewirkte, daß Bewegung in Horst Hankes Glieder zurückkehrte, und sofort hatte er wieder Mühe, das Gleichgewicht zu halten. „Ach, lecken Sie mich doch am Arsch“, sagte er. „Das geht Sie nichts an.“ Und er torkelte, einen großen Bogen beschreibend, ins Nebenzimmer. Frau Hanke schickte sich an, dem Sohn zu folgen, doch es gelang ihr nicht, sich aus ihrer Sofaecke hochzustemmen. Otto Wermke trat hinzu und half der für ihn fast zu schweren Frau auf die Beine. „Horst, ich komme!“ rief sie. „Mach keine Dummheiten, leg dich aufs Bett.“ Sie schleppte sich von Möbelstück zu Möbelstück und an der Wand entlang auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Beklommen beobachtete Otto Wermke die Szene. Vor der Tür drehte sich Frau Hanke noch einmal um. „Gehen Sie endlich!“ keuchte sie. Angesichts der Hilflosigkeit und Verzweiflung dieser trotz ihrer Körperfülle äußerst hinfällig wirkenden Frau fiel es Otto Wermke schwer, noch einmal das Wort an sie zu richten. Doch er überwand seine Skrupel und fragte: „Wo wohnt die Tochter Ihres Bruders?“ Frau Hanke schien zuerst nicht zu begreifen, was er von ihr wollte. „Wilhelms Tochter?“ Dann dämmerte es bei ihr, und sie sagte: „Irgendwo hier in der Nähe.“ „Und wo genau?“ „Weiß ich nicht. Sie wohnt dort noch nicht lange, und ich bin 73
noch nicht dagewesen.“ Sie rief durch die offenstehende Tür: „Horst, wo wohnt die Dagmar?“ „Laß mich in Frieden!“ kam es zurück. „Der Mann hier will es aber wissen. So sag doch schon, damit der endlich verschwindet.“ Und als nur ein unartikulierter Laut des Unmuts aus dem Nebenzimmer herüberklang, drängte sie: „Sag schon, wo sie wohnt. Du bist doch neulich bei ihr gewesen.“ „Alte Kirchstraße achtzehn.“ „Das ist drei, vier Straßen von hier, drüben, wo die festen Häuser anfangen“, erklärte Frau Hanke und fügte noch hinzu: „Der Name ist Günther.“ Der Regen war schwächer geworden, war in Nieseln übergegangen. Otto Wermke beherrschte nur der eine Gedanke: Du mußt Frau Weskamp anrufen. Ihn trieb nicht mehr allein die Verpflichtung, so bald wie möglich Bericht zu erstatten. Ein ungutes Gefühl hatte ihn ergriffen, Befürchtungen um seinen Zimmergenossen, jetzt, da er wußte, daß Geld im Spiel war, viel Geld anscheinend. In was hast du dich da eingelassen, Wilhelm? fragte er immerfort, hoffentlich ist alles gut gegangen. Ohne Blick für die triefenden Bäume, die nassen Rasenstücke, die vom Regen glänzenden Häuschen hastete er über die schlammigen Wege. Am Rande der Laubenkolonie „Vogelsang“, in unmittelbarer Nähe des Kiessees, stieß er auf eine geräumige, weiß getünchte Baracke, über deren Eingang ein Schild mit der Inschrift „Kulturhaus“ hing. Hier war das einzige Telefon der Siedlung installiert. Frau Weskamp gab sich reichlich besorgt und ungehalten darüber, daß er erst so spät anrief. Er erfuhr, daß Wilhelm sich noch immer nicht im Heim eingefunden hatte, und erstattete einen kurzen Bericht über sein Erlebnis mit der Familie Hanke. 74
Als er erwähnte, daß Wilhelm Klausner seiner Schwester am Sonnabend nur einen kurzen Besuch abgestattet hatte und von seinem Neffen vielleicht handgreiflich, jedenfalls aber im Streit verabschiedet worden war, zeigte sich die stellvertretende Heimleiterin aufs äußerste alarmiert. Sie werde sofort die Volkspolizei benachrichtigen, erklärte sie, und legte auf, ehe er dazu kam, auch noch von seiner Fahrt nach Friedrichslust zu berichten. Und das war ihm ganz recht. Schließlich, sagte er sich, steht fest, daß Wilhelm, wenn auch nur kurz, bei seiner Schwester gewesen ist, und so werden sich wohl von da aus Nachforschungen anstellen lassen. Er scheute noch immer davor zurück, seine Schwindelei und sein Abweichen vom vorgeschriebenen Weg einzugestehen, denn das hieße, seinen Ruf als korrekter und besonnener alter Herr aufs Spiel zu setzen. Auch über die Ursache des Streits zwischen Wilhelm und seinem Neffen hatte er nichts mehr sagen können. Doch das würde sich nachholen lassen, sobald er wieder im Heim war. Einigermaßen erleichtert, aber auch erschöpft und hungrig setzte er sich an einen der Tische in der Restauration des „Kulturhauses“, bestellte zwei Bockwürste, das einzig Eßbare, das um diese Zeit verabreicht wurde, und schlang die faden Fleischröllchen ohne Darm, die er sonst verabscheute, hinunter. Danach fühlte er sich ein wenig wohler, wenn auch nicht wieder völlig bei Kräften. Mit einer übersüßen Limonade versuchte er sich den unangenehmen Bockwurstgeschmack aus dem Mund zu spülen und sah eine Weile vier Männern zu, die am Nebentisch Skat spielten und ihr Bier gleich aus der Flasche tranken. Ich muß erst einmal abschalten, dachte er. Daraus wurde nichts. Nach wenigen Minuten war er mit seinen Gedanken wieder bei Wilhelm Klausner, bei dessen Erbschaft vor allem und der Art und Weise, wie er an sie gelangt war. Seine Empörung darüber war abgeflaut, schon seit seiner Be75
gegnung mit Horst Hanke. Mit äußerstem Unbehagen dachte er an den Mann, sogar mit Furcht, auch wenn er sich die nicht so recht eingestehen mochte. Und das baute seine Sympathie für Wilhelm wieder auf. Intensiver beschäftigte ihn die Frage, wo Wilhelm das Erbe aufbewahrte. Doch es gelang ihm nicht einmal, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie umfangreich solche Sammlungen waren, die einen Wert von einer halben oder gar einer Million hatten. Aber ziemlich viel Platz mußten sie doch wohl einnehmen, besonders die Münzen. Er erinnerte sich eines Kollegen, der Numismatiker gewesen war und der sich eigens ein Schränkchen für seine Sammlung hatte anfertigen lassen. Möglicherweise hatte Frau Hanke recht, wenn sie den Schatz in einem Tresor vermutete. Aber vermieteten Banken heutzutage noch Schließfächer an Privatleute? Er wußte es nicht, weil er nie in die Verlegenheit gekommen war, Wertsachen sichern zu müssen. Die paar goldenen Ringe und Broschen seiner Frau waren in einem Kästchen in ihrem Nachttischchen aufbewahrt worden, und nach ihrem Tod hatte er sie an seine Schwiegertöchter verschenkt. Oder gab es einen Bekannten, dem Wilhelm das Zeug anvertraut haben könnte? Er wußte von keinem. Und wenn nun Wilhelm alles verkauft und das Geld auf ein Sparbuch gebracht hatte? Aber wer besitzt schon so viel Geld und gibt es nicht aus? Von dem braunen Anzug und einem Winterpaletot abgesehen, hatte Wilhelm sich nichts von einigem Wert gekauft, seit er ihn kannte. Es geht mich ja auch nichts an, sagte er sich, als er zu keinem Schluß fand, die Hauptsache ist, Wilhelm kommt wieder. Er zahlte, ließ die Hälfte der Limonade stehen und machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Er schlief während der Fahrt ein und hätte um ein Haar das Umsteigen verpaßt, fühlte sich aber nach dem Nickerchen eini76
germaßen erholt und beschloß, da bis zum Abendessen noch eine Stunde Zeit blieb, auf sein tägliches Quantum im „Schusterjungen“ einzukehren. „Kein Grund“, sagte er halblaut zu sich, auch um sich ein bißchen Mut zu machen, „gute Gewohnheiten aufzugeben. Und morgen werden wir wieder gemeinsam hier sitzen.“
5 In den Verwaltungsräumen des Feierabendheims „Christoph Wilhelm Hufeland“ herrschte eine gespannte Atmosphäre. Herr Friedrich, der seinen freien Tag zu einem Museumsbummel hatte ausnützen wollen, war herbeitelefoniert worden und saß bleich und fortwährend seine Brille putzend hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm wiederholte Otto Wermke, was er schon Frau Weskamp berichtet hatte, nur ausführlicher, und erwähnte auch, was er über die Erbschaftsangelegenheit erfahren hatte. Herr Friedrich blickte ihn ungläubig an, als er von der Million oder der halben Million sprach, um die es da gehen sollte. „Davon ist mir nicht das mindeste bekannt“, sagte er in indigniertem Ton und so, als hinge die Wirklichkeit oder die Unwirklichkeit eines Umstands davon ab, daß er über ihn Bescheid wußte. „Aber trotzdem müssen wir das sofort der Vaupee melden. Möglicherweise ist das ein Tatmotiv.“ Und als er Otto Wermkes Augen sich im Schreck weiten sah, fügte er in einem ungeschickten Versuch, ihn zu beruhigen, hinzu: „Ich sage ja nur: möglicherweise. Man muß nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen.“ Mit dem Schlimmsten mochte Otto Wermke natürlich nicht rechnen, obwohl es sich inzwischen in seine Überlegungen schmuggelte, wenn er an Wilhelm dachte. Und er dachte an 77
diesem Abend ständig an ihn. Vergebens suchte er sich durch Rauchen abzulenken: Die Zigarillos schmeckten ihm wie Stroh, und er drückte sie nach einigen Zügen aus. Es hielt ihn auch nicht im Tagesraum vorm Bildschirm, auf dem ein beliebter älterer Schauspieler sich bemühte, einen heiteren Großvater darzustellen, der die Nachbarschaft mit allerlei seltsamen und auch nützlichen Aktionen in Staunen setzte und beunruhigte. Das erinnerte ihn nur daran, daß Wilhelm vor ein paar Tagen erst von der Geburt seines Enkels erfahren hatte, und das wiederum brachte ihn darauf, was Horst Hanke in seiner Wut und Betrunkenheit von sich gegeben hatte: Der Onkel habe von dem Baby als von einem „reizenden kleinen Bengel“ gesprochen. Auf dem kurzen Abendspaziergang, der ihn nur bis zur zweiten Seitenstraße brachte, weil ihm der Begleiter und Gesprächspartner fehlte, beschloß er, am nächsten, Morgen die Tochter Wilhelms aufzusuchen, falls von ihm dann noch immer jede Spur fehlen sollte. Anscheinend hatte Wilhelm seinen Ratschlag doch befolgt, seinen ohnehin wohl mehr gespielten Groll auf die junge Frau überwunden und war zu ihr gegangen. Wie anders hätte er vor seinem Enkel sprechen können? Er mußte also, bevor er den Hankes seine Aufwartung gemacht hatte, bei seiner Tochter gewesen sein. Trotz dieser offensichtlichen Versöhnung konnte Otto Wermke keine Freude empfinden. Nachdem er ungewöhnlich früh zu Bett gegangen war, denn doch erschöpft von; den körperlichen und seelischen Strapazen des Tages, versuchte er, sich zur Beruhigung wenigstens auszumalen, wie es wäre, wenn er mit Wilhelm eine Visite bei dem Enkelchen machte. Aber es gelang ihm nicht, Wilhelms strahlendes Gesicht heraufzuführen. Er hörte nur dessen «Stimme, und die sagte: Du mußt doch zugeben, Otto, daß alles, was von Wilhelm Klausner kommt, von prima Qualität ist. 78
Die Alte Kirchstraße fand er am nächsten Morgen auf Anhieb nach Frau Hankes Beschreibung. Unterwegs in der S-Bahn beschäftigte ihn, verunsichert von den Unfreundlichkeiten, die ihm bisher bei der Suche nach Wilhelm begegnet waren, wie er wohl empfangen werden würde. Jedenfalls hoffte er, daß ihm diesmal Aufregung erspart bliebe. Dagmar Günther und ihr Lebensgefährte bewohnten in einem bemerkenswert gut erhaltenen Mietshaus aus der Gründerzeit die zu einem Atelier mit breiten, weit in die Dachschräge hineinreichenden Fenstern ausgebaute Mansarde. Otto Wermke war angenehm überrascht, als ihm hier eine vielleicht dreißigjährige Frau in Jeans und T-Shirt sachlich entgegentrat, überrascht auch davon, wie wenig Dagmar Günther ihrem Vater ähnelte. Sie war in allem der entgegengesetzte Typ: klein und mollig, dennoch mit ruhigen, fließenden Bewegungen, und ihr von langen dunklen Haaren gerahmtes Gesicht ließ eher an südländische Herkunft denken. Nachdem er sich ihr vorgestellt und sich für die Störung entschuldigt hatte, bat sie ihn, den Säugling auf dem Arm, sich zehn Minuten zu gedulden, da sie sich ihrem Kind widmen müsse. So saß er denn auf einer alten, mit fadenscheinig gewordenem grünem Samt bezogenen Chaiselongue neben einem ungeheizten Dauerbrandofen und hatte Muße, sich in dem spärlich möblierten großen Raum umzusehen, der von Dutzenden von Bildern sein Gepräge erhielt während die Frau in einem kleinen Nebengelaß mit Füttern und Windeln beschäftigt war. Überall hingen Zeichnungen, Lithographien, Ölbilder, Aquarelle, auch Drucke, viele ungerahmt, oder sie standen einfach gegen die Wände gelehnt auf dem Fußboden. An den beiden Schmalseiten eines langen, mit ungezählten Tuben, Fläschchen und Schachteln, Kreidestücken und Pinseln bedeckten Arbeitstisches stand je eine Staffelei, mit einer in Arbeit befindlichen 79
Leinwand besetzt – anscheinend die Arbeitsstätten von zwei Malern. Otto Wermke war schon seit jungen Jahren ein Liebhaber der bildenden Künste, was er auf seinen Beruf und den ständigen Umgang mit den Gewächsen des Gartens zurückführte, die er, wie alles, was die Natur hervorbrachte, für unübertrefflich an Schönheit hielt. Dementsprechend war sein Geschmack, was die Malerei anging, konservativ und zollte den Darstellungen die größte Anerkennung, die der Natur am nächsten kamen. Und folglich mußte er sich in dieser Umgebung recht unwohl fühlen: Schier alles, was an den Wänden hing und stand, konnte er nicht billigen. Da gab es Menschen und Gesichter, die er für mißraten hielt, weil sie einem in der Welt so nicht begegneten; Häuser, die er als windschief und instabil ansehen mußte; Stilleben, die ihm wie Gewirre von Farbklecksen erschienen; ja, auf einige Zeichnungen konnte er sich überhaupt keinen Reim machen, da sie nichts boten als Linien oder Flächen, die sich zu keinem ihm bekannten Gegenstand fügten. Nur zwei exakter gemalte Porträts fanden seine Zustimmung, und er wünschte, sie möchten unter dem Pinsel der jungen Frau entstanden sein, die ihn so selbstverständlich empfangen hatte. Aber die halbfertigen Arbeiten auf den Staffeleien ließen ihn dann doch befürchten, daß dem nicht so sei; denn sie gingen, jede auf ihre Weise, recht frei und willkürlich mit ein und derselben weiblichen Gestalt um, die offenbar beiden Künstlern zur selben Zeit Modell gestanden hatte. Er beschloß, nicht länger die Bilder anzuschauen. Er machte die Augen zu und lauschte auf das kindliche Lallen, das sanfte Zureden der Mutter. Vielleicht, dachte er flüchtig, hatte Wilhelm doch recht, als er sich so sehr aufgebracht gegen den Beruf seiner Tochter gezeigt hatte – bei solchen Bildern. Aber dann sagte er sich: Das ist kein Grund, sein Kind jahrelang zu 80
ignorieren, und womöglich verstehen wir einfach nicht genug von der Sache, um mitreden zu können. Doch so ganz mochte er das auch nicht akzeptieren. Dagmar Günthers Stimme riß ihn aus seinen Überlegungen. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange hab warten lassen“, sagte sie. „Aber der Kleine trinkt sehr langsam. Jetzt wird er hoffentlich bald einschlafen.“ Er beteuerte, das Warten habe ihm nichts ausgemacht, und fragte, um einen Einstieg in das Gespräch zu finden, ob all diese Bilder von ihr stammten. Sie verneinte lächelnd und sagte: „Aber manche möchte ich gern gemalt haben.“ „Welche denn?“ Otto Wermke hoffte, sie würde auf eines der beiden Porträts deuten, die ihm gefielen. Statt dessen deutete sie auf einen kleinformatigen Druck, der eine Art Strichmännchen vor einem Streichholzwald zeigte. Und er war enttäuscht.“ „Das ist von Klee“, erklärte sie mit schwärmendem Unterton. „Leider kein Original.“ Der Name sagte ihm nichts, und so trug er ohne Übergang sein Anliegen vor, um nicht noch einmal in die Verlegenheit zu geraten, mit ihrem Geschmack nicht übereinzustimmen. Dagmar Günther hörte aufmerksam zu, als er ihr von Wilhelm Klausner und sich erzählte und davon, daß ihr Vater seid dem vergangenen Sonnabend nicht mehr im Heim gewesen sei. Doch konnte er nicht übersehen, daß sie sich, je weiter er mit seinem Bericht kam, eine Zurückhaltung auferlegte, die sich zu kühler Ablehnung steigerte, als er sie fragte, ob ihr Vater sie am Sonnabend besucht habe. „Glauben Sie, er hat sich bei uns eingemietet?“ fragte sie. Er aber, an Abweisungen seit dem Vortag gewöhnt, ließ sich nicht entmutigen, nahm vielmehr erneut Anlauf, ihr Vertrauen zu wecken, indem er ihr zu verstehen gab, er wisse, daß sie ihrem 81
Vater einen Brief geschrieben und daß er, Otto Wermke, ihm zugeredet habe, mit seiner Tochter in Verbindung zu treten, obgleich er den Eindruck gehabt habe, es hätte eigentlich keines ernsthaften Zuredens bedurft, eher nur eines letzten Anstoßes. Vielleicht, dachte er, hilft ihr das einzusehen, wie wenig mir daran gelegen ist, mich in familiäre Angelegenheiten zu mischen. „Das war sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie, noch immer reserviert. „Und ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß Sie mit Ihren Bemühungen Erfolg hatten, jedenfalls was seinen Besuch bei uns angeht. Er war nämlich am Sonnabendvormittag hier, ungefähr für zwei Stunden.“ Sie hatte sich im Schneidersitz auf einem der sehr tiefen Polsterelemente niedergelassen, die zu einer Sitzecke zusammengestellt waren und die offensichtlich auch als Schlafstatt dienten, und sich eine Zigarette angezündet, deren Asche sie in eine Keramikschale auf dem Fußboden abstreifte. „Sonst ist nicht viel zu berichten.“ Das klang nach Verabschiedung, doch mochte Otto Wermke sich nicht darein schicken, daß er die junge Frau, die er als angenehm empfand, so bald wieder verlassen sollte. Und er fragte, um Zeit zu gewinnen: „Hat er denn seinen Enkel auch nett gefunden?“ Da lachte sie, und das Lachen ließ ihre Reserve bröckeln. „Er war so angetan von dem kleinen Kerl, als hätte er den Jungen selber gemacht. Sie werden es erleben: Wenn er von seiner Tour zurückkommt, wird er Ihnen mit seiner Begeisterung ganz schön zusetzen.“ „Sie denken, er treibt sich irgendwo herum?“ „Mein Vater ist schon immer auf Tour gewesen, seit ich mich erinnern kann“, entgegnete sie, einer direkten Antwort ausweichend. „Es hat ihn früher nie im Haus gehalten. Fast jeden 82
Abend ging er irgendwohin, blieb sogar die Nacht über weg, manchmal auch mehrere Nächte. Es mangelte ihm sozusagen an Familiensinn oder an Seßhaftigkeit, wenn Sie so wollen. Meine Mutter hat darunter gelitten. Und wenn er mal bei uns war, übers Wochenende oder an Feiertagen, dann tat er, als sei er der King, und kommandierte herum, wußte alles besser.“ „Jetzt aber ist er nicht mehr der Jüngste, und ich habe ihn anders erlebt. Gewiß, er spielt sich gern in den Mittelpunkt, erzählt immerzu von seinen Taten und Abenteuern. Aber er ist im Grund doch ein umgänglicher Mensch.“ „Ich hätte ihm ja auch nicht geschrieben, wäre ich nicht voller Hoffnung gewesen, daß er ein anderer geworden ist.“ „Und hat er sich geändert?“ fragte Otto Wermke gespannt. „Eigentlich nicht.“ Das sagte sie sachlich, nur registrierend, als äußere sie sich zu einem fremden Menschen und nicht zu einem nahen Verwandten. „Er war noch keine Viertelstunde hier, da hatte er schon von der ganzen Behausung Besitz ergriffen. Er erklärte, wir seien nicht anständig eingerichtet, er fand, das Kind könne unmöglich in einer solchen Umgebung aufwachsen, in einer Luft, die von Farbgestank verpestet würde. Er hat sogar von mir gefordert… Ach, lassen wir das.“ „Mir hat er aber gesagt, er hätte Sie sehr lieb gehabt.“ Hartnäckig blieb Otto Wermke dabei, das Bild seines Freundes aufzuhellen, selbst auf die Gefahr hin, von ihr als seniler Schwätzer angesehen zu werden, der um jeden Preis Harmonie herstellen wollte, weil er nicht mehr die Kraft aufbrachte, Widerspruch oder gar Streit zu ertragen. „Alles, sagte er, hätte er für Sie gegeben.“ „Auch daran erkenne ich ihn wieder.“ Sie hatte sich offensichtlich stärker in diesem Gespräch engagiert, als ihr lieb war, und ihr Gesicht zeigte Spuren von Ärger darüber, daß es ihr nicht gelingen wollte, den zähen alten Mann, der so verloren wirkte 83
auf der alten Chaiselongue, mit ein paar Floskeln abzuspeisen. Heftig stieß sie die erst halb aufgerauchte Zigarette in der Schale aus. „Ich will Ihnen mal etwas erzählen: Ja, ich war sein liebes Mädchen, solange ich klein war und tat, was er wollte. Er konnte sehr reizend sein, das heißt, er brachte mir Schokolade mit von seinen Touren oder eine Puppe, oder er schenkte mir einen Fünfziger für Eis. Und wenn ich gute Noten in der Schule erhielt, strahlte er vor Stolz. Dann war ich ganz seine Tochter. Ich glaube, er hat meine Erfolge als die seinen verbucht. Er konnte es nämlich nicht ertragen, erfolglos zu sein, und da mußte das kleine Mädchen als Lückenbüßer herhalten, wenn es bei ihm nicht so recht klappte. Erfolge bei der Arbeit waren rar, da er nie lange bei einer Stelle blieb. Und Erfolg bei Frauen…Na ja, darüber kann ich nicht urteilen, aber allzu groß konnten die auch nicht gewesen sein. Seine Bekanntschaften waren wohl mehr Eintagsfliegen. Jedenfalls hat sich anscheinend keine für längere Zeit an ihn binden wollen. Und dann ertrug er es nicht, mal nicht recht zu haben. Folglich war es ihm ein Greuel, daß ich meine eigenen Vorstellungen vom Leben entwickelte, als ich erwachsen zu werden begann. Generationskonflikt heißt das, glaube ich. Heute kratzt mich seine Rechthaberei nicht mehr im mindesten. Aber damals…“ „Ihr Vater hat behauptet, Sie hätten mit achtzehn die Familie verlassen.“ „Verlassen!“ Sie stieß laut die Luft durch die Nase. „Faktisch rausgeschmissen hat er mich. Ein Ultimatum hat er mir gestellt: Entweder ich gebe die Malerei auf und lerne was Solides oder ich kann meiner Wege gehen. Dabei hat er es während meiner Schulzeit sehr schön und lobenswert gefunden, wenn ich mit Bleistift und Pinsel ein bißchen Lorbeer erntete. Da war ich dann seine begabte Tochter, die ganz dem Vater nachgeriet. 84
Als ich aber Ernst machen wollte… Ach, das ist ja alles Regen von vorgestern, der uns nicht mehr naß macht.“ Sie erhob sich geschickt und ohne sich abzustützen aus ihrer komplizierten Sitzhaltung, weil das Baby zu weinen begonnen hatte, verschwand in dem Nebenraum und kam nach ein paar Augenblicken zurück, das Kind gegen die linke Schulter gelehnt und ihm beruhigende Worte zuredend. Otto Wermke war auch aufgestanden. Nach allem, was er gehört hatte, schien es ihm denn doch müßig, länger zu verweilen. Ihm war bestätigt worden was er bereits angenommen hatte: Wilhelm Klausner war am Sonnabend hier gewesen. Leider brachte ihn das keinen Schritt weiter, und es blieb ihm wohl nichts, als auf die Rückkehr des Zimmergenossen zu warten. „Ich werde gehen“, sagte er. Habe ich Ihnen Ihre Illusionen über meinen Vater ramponiert?“ „Ich hatte keine Illusionen. Aber ich mag es auch nicht, wenn uralte Geschichten wieder aufgewärmt werden, nur um zu beweisen, daß man das Recht besitzt, einen Menschen abzulehnen.“ „Aber wer sagt denn, daß ich meinen Vater ablehne?“ Er merkte, daß ihr sehr daran gelegen war, bei ihm Verständnis für ihre Haltung zu finden. „Nein, Sie dürfen jetzt nicht gehen. Sie müssen mich zu Ende anhören.“ In diesem Augenblick betrat ein langer, dünner Mann das Atelier. Sein Kopf war dort mit kurzen Stoppeln bedeckt, wo der natürliche Haarausfall noch nicht für Kahlheit gesorgt hatte, während um Kinn und Mund krauses dunkles Haar üppig sproß und ihm den Hals verdeckte. Wie Dagmar Günther war er mit Jeans und einem T-Shirt bekleidet und trug trotz des schlechten Wetters Sandalen an den Füßen. In den Händen hielt er zwei prall gefüllte Einkaufsnetze, unter einen Arm hatte er ein Stangenbrot geklemmt. 85
„Ist was mit dem Kleinen?“ fragte er besorgt und mit tiefer Stimme, ehe er Otto Wermke überhaupt bemerkte. Dagmar Günther beruhigte ihn. Dann stellte sie vor: „Das ist Gregor Fröhlich, mein Mann. Herr Wermke ist ein Freund meines Vaters.“ Der, lange, hagere Mann brummte etwas in seinen Bart, das sowohl „Sehr angenehm!“ wie „Was will denn der hier?“ bedeuten konnte, und Otto Wermke, der schon vom ersten Anblick des Mannes nicht sonderlich angetan gewesen war, fühlte sich zusätzlich befremdet. Müssen sich diese Leute denn immer so kostümieren, als gingen sie zu einem Maskenball? fragte er sich, obwohl er sonst nicht Anstoß an dergleichen Aufzug nahm. Und dann dachte er sogar noch: Sie heißt Günther, er heißt Fröhlich, und trotzdem sagt sie: mein Mann! Und er schämte sich ein bißchen, weil er das dachte, und wies sich dafür zurecht: Sollen sie doch auf Biegen und Brechen, wenn sie so wollen, ihre Unabhängigkeit vom herrschenden Geschmack und althergebrachten Gewohnheiten wie ein Plakat vor sich her tragen. Während der Mann die Lebensmittel in einem schlecht und recht zusammengezimmerten Regal zu verstauen begann, bat Dagmar Günther den Gast, noch mal Platz zu nehmen. „Sie müssen alles wissen“, sagte sie und ließ sich wieder auf den Polstern nieder, das Kind auf dem Arm, „damit Sie nicht mit dem Eindruck von hier fortgehen, ich sei eine ungerechte Tochter. Schließlich bin ich es ja gewesen, die die Verbindung gesucht hat. Er hätte den ersten Schritt wohl nicht getan, genau wie damals bei Mutters Beerdigung, als er mich allein am Grab stehen ließ. Nachdem aber unser Marius da war, schien es mir nur fair, ihn einzuladen, wenn ich auch nicht allzuviel Hoffnung hatte, daß er die Einladung annehmen würde.“ Sie schilderte, wie erstaunt sie war, als er dann doch vor der 86
Tür stand und ohne weitere Einleitung das Kind zu sehen wünschte, wie er, nachdem er einige Minuten allein vor dem Körbchen zugebracht hatte, freundlich zwar, doch bestimmt auf ihre und des Jungen Zukunft zu sprechen gekommen wär. Den Vater des Kindes hatte er kaum eines Blickes und keines Wortes gewürdigt und ihn später, als dieser sich in das Gespräch mischen wollte, sogar mit einigen verletzenden Bemerkungen abblitzen lassen. All das erzählte sie so anschaulich, daß sich Otto Wermke ohne Mühe die Szene vorstellen und die Atmosphäre nachempfinden konnte: Wilhelm, in seinem großväterlichen Stolz und in der üblichen Pose des Alleswissers, setzt sich auf das Monstrum von Chaiselongue, schlägt die langen Beine übereinander und doziert, wie so ein Kind zu leben habe, als hätte er selber ein halbes Dutzend großgezogen. „Er wußte schon genau, was mit Marius geschehen sollte, hatte sich bereits über alles Gedanken gemacht, bis hin zur Schulzeit und zum Beruf, berichtete Dagmar Günther weiter. Das Baby, von dem die Rede war, schlief inzwischen, das Köpfchen an den Hals der Mutter geschmiegt. „Er würde für alles aufkommen“, sagte er, „das nötige Geld habe er jetzt.“ „War Ihnen bekannt, daß Ihr Vater eine Erbschaft gemacht hatte?“ fragte Otto Wermke, und Dagmar Günther sah ihn mit großen Augen an, wohl weil sie sich wunderte, wie gut er in den Angelegenheiten ihres Vaters Bescheid wußte und wie ungeniert er seine Kenntnis zur Sprache brachte. Unter diesem Blick sagte er: „Ich weiß, das geht mich nichts an. Aber ich war gestern bei Ihrer Tante, Frau Hanke, und sie und ihr Sohn haben mir die Sache haarklein auseinandergesetzt.“ „Was soll denn dieses Palaver?“ Gregor Fröhlich hatte seine Hantierungen an dem Regal beendet und warf sich neben Dagmar Günther auf die Polster, zog die Beine an den Leib und 87
schlang die Arme um die Knie. Sein Gesicht zeigte deutlich Verstimmung, die anscheinend durch das Gespräch hervorgerufen worden war. „Genügt es denn nicht, daß der alte Kerl hier rumkommandiert und rumgemeckert hat? Muß das alles noch mal durch die Zähne gezogen werden? Meine Sache ist das alles nicht. Soll doch sein Neffe die Erbschaft bekommen. Dem steht sie doch wohl zu. Oder irre ich mich?“ „Das kann ich nicht beurteilen“, entgegnete Dagmar Günther. „Horst hat mir jedenfalls, als er hier war, nicht schlüssig machen können, daß mein Vater sich das Erbe unrechtmäßig angeeignet hat.“ „Mir schon, ich habe da keine Zweifel.“ Gregor Fröhlich steigerte sich in der Lautstärke. Otto Wermkes Anwesenheit schien er vergessen zu haben. „Ich habe Briefe von diesem Erbonkel gelesen, Briefe an deinen Cousin Horst, aus denen klipp und klar hervorgeht…“ „Wann hast du Briefe gelesen, wo?“ Dagmar Günthers sanftes, rundes Gesicht hatte einen törichten Ausdruck vor Staunen. „Warst du bei den Hankes? Als er hier war, hat Horst nur von Briefen gesprochen, sonst nichts.“ Gregor Fröhlich wechselte den Ton, lenkte ein, als sei ihm nichts an der Erörterung ihrer Frage gelegen. „Gut, dann hat er eben von den Briefen gesprochen. Aber ich bin überzeugt.“ Und dann ging das Temperament doch wieder mit ihm durch. „Gott, wenn ich an den alten Knacker denke, an sein Gelaber!“ rief er. „Der glaubte doch, er wär wer weiß wer, weil er auf die krumme Tour zu Geld gekommen ist. Sich an mir die Stiefel abzuputzen, nur weil ihm mein Anzug nicht paßt. Nee, mit mir nicht!“ Otto Wermke sah, peinlich berührt, vor sich hin und dachte nur: Ich sollte mich verabschieden, das geht mich nichts an und wenn ich schon hier sitze, dann sollte ich dafür sorgen, daß 88
der Mann da nicht so über Wilhelm spricht. Dennoch wagte er nicht, etwas einzuwenden, und bemühte sich statt dessen, die weiter hin und her gehende Meinungsverschiedenheit des Paars zu überhören. Erst als Dagmar Günther bestimmt sagte: „Jetzt ist es genug!“ blickte er wieder hoch und in das mürrische Gesicht Gregor Fröhlichs und in das blaß gewordene der Frau. „Jedenfalls ist das eine Angelegenheit, die die beiden unter sich ausmachen müssen, nicht unsere.“ Sie schien entschlossen, dem Mißton ein Ende zu setzen. „Außerdem finde ich es nicht schlecht, wenn sich ein Großvater um sein Enkelkind kümmert, ganz gleich, wie er zuvor zu dessen Mutter gestanden hat. Und wenn sich ein Freund um seinen Freund kümmert, halte ich das auch für gut. Herr Wermke sucht nämlich meinen Vater. Er ist seit Sonntagabend überfällig.“ „Und was soll ich damit zu tun haben?“ Gregor Fröhlichs Unmut schien durch die Erklärung nicht gedämpft worden zu sein. „Vielleicht ist er bei der Mieze, von der er uns die Ohren vollgeschwärmt hat.“ Und Otto Wermke zugewandt, sagte er: „Sehen Sie doch bei der mal nach. Vielleicht finden Sie ihn zwischen zwei Laken, wo er die alten erschöpften Glieder ausruht.“ Da war ich bereits, wollte Otto Wermke schon erwidern, trotz des Zorns, der über der Steigerung der Rüpelhaftigkeit in ihm mächtig aufstieg. Aber er ließ sich dann doch die Gelegenheit nicht entgehen, ihm die Frage zu stellen: „Wissen Sie denn Näheres über diese Frau?“ Gregor Fröhlich starrte ihn an, als habe er nicht recht verstanden, was der Besucher von ihm wollte. „Sie meinen, ob ich…?“ Er lachte aus vollem Hals wie über einen guten Witz. „Sie machen mir aber Spaß, lieber Mann.“ Doch Otto Wermke ließ sich nicht beirren. „Hat er einen Namen genannt?“ fragte er. 89
Jetzt mischte sich Dagmar Günther ein, vielleicht, um dem Gespräch die Aggressivität zu nehmen, vielleicht aber auch, um das Thema überhaupt vom Tisch zu bringen. „Er hat nur allgemein gesprochen“, sagte sie. „Er wolle sich wieder binden, hat er uns wissen lassen. Aber wir sollten uns deswegen keine Sorgen machen, für unseren Marius bleibe genug übrig.“ „Jede Mark, die von dem kommt, werf ich zum Fenster ‘raus!“ Aus dem bärtigen Mann brach nun offen der Groll. Er ballte die Fäuste, und sein Gesicht – jedenfalls der Teil, der sichtbar war – wurde bleich. „Wir nehmen von dem kein Geld, erst recht kein ergaunertes.“ „Ach, Gregor…“ Aus Dagmar Günther sprach Ratlosigkeit, und um sie zu überspielen, machte sie sich daran, den kleinen Marius wieder in sein Körbchen zu bringen. „Wir kennen doch nur die Version, die Horst uns neulich aufgetischt hat.“ „Die genügt mir!“ rief er ihr hinterher. Allein gelassen mit dem seltsamen bärtigen Mann, befürchtete Otto Wermke, nun das Ziel seiner Ausfälle zu werden. Doch Gregor Fröhlich tat zu seiner Überraschung so, als sei er nicht vorhanden, zunächst jedenfalls; er kramte einen Tabakbeutel aus der Hosentasche und konzentrierte sich ganz darauf, eine Zigarette zu drehen. Und dann begann er, während er mit geübter Bewegung den Tabak in dem Blättchen hin- und herrollte, unvermittelt zu sprechen, und aus seiner tiefen Stimme war die Erregung dem Bemühen gewichen, seinen Standpunkt verständlich zu machen. „Hat Ihnen schon mal einer angeboten, Ihnen ein Paar Schuhe zu kaufen und einen anständigen Anzug und einen elektrischen Rasierapparat dazu?“ Und als Otto Wermke, verblüfft von der Frage und davon, daß das Wort überhaupt an ihn gerichtet wurde, nicht sogleich antwortete, fuhr Gregor Fröhlich fort: „Damit ich nicht weiter wie ein Penner rumlaufe, hat er gesagt. Schließlich wär ich ja der Vater 90
von seinem Enkel. Wie ein Penner!“ Er leckte das Zigarettenpapier an. „Ich bin dran gewöhnt, daß man unsereins so nennt, und ich weiß eigentlich auch nicht, warum ich mich über diesen Mann so aufgeregt habe. Vielleicht, weil er sich hier wie der Herr im Haus aufgespielt hat. Jedenfalls war ich mächtig in Brast, und es hätte nicht viel gefehlt… Na, lassen wir das.“ Er zündete die Zigarette an, nahm einen ersten, sehr tiefen Zug und spuckte, während er den Rauch langsam ausströmen ließ, ein paar Tabakfasern vor sich hin. „Früher hab ich mal gedacht, so eine Haltung wär typisch bürgerlich und würde sich abschleifen, die Menschen würden toleranter werden, weil doch keiner nach seinem Aussehen beurteilt werden soll, sondern jeder nach seinen Leistungen und nach seinem Charakter. Okay, ich hab mich geirrt, das alte Spiel geht weiter: Siehste nach was aus, dann biste was. Und ein Anzug aus dem Ex und ein Paar Schuhe von Salamander machen allemal einen anständigen Bürger. Mich kümmert der ganze Firlefanz nicht mehr.“ Otto Wermke entspannte sich auch jetzt nicht völlig, da der bärtige Mann sich gelassen gab und fortfuhr, über die Defekte der anderen zu philosophieren, die nicht auf das goldene Herz und die goldenen Hände und die richtigen Gedanken sahen, sondern auf den modischen Schlips und das noble Auto. Er fragte sich, was Wilhelm Klausner, den es doch, weiß Gott, kreuz und quer in der Welt umgetrieben hatte und das kaum je in piekfeiner Kluft, bewogen haben mochte, den Lebensgefährten seiner Tochter auf so beleidigende Weise anzugehen. War ihm die Erbschaft zu Kopf, gestiegen? Oder mochte er einfach den ganzen Mann nicht und nahm sein Äußeres nur zum Anlaß, seine Abneigung zu demonstrieren? Oder war er eifersüchtig, weil er die gerade erst wiedergefundene Tochter an einen solchen Mann verloren sah und seinen Enkel dazu? Da er keine Antwort fand, schweiften seine Gedanken ab, zumal er der Be91
harrlichkeit, mit der der Mann das Lob der Unkonventionellen sang und alle Leute mit Bügelfalte in der Hose mit bissiger, aber doch hilfloser Ironie bedachte, überdrüssig wurde. Er verweilte bei der Betrachtung darüber, daß es eigentlich trotz allem ein- sehr sympathischer Zug an Wilhelm Klausner sei, sich so intensiv, wenn auch vielleicht nicht auf die diplomatischste Weise, um die Zukunft seines Enkels zu sorgen. Und das, meinte er, könne über manche seiner Großmäuligkeiten hinwegsehen lassen. Über dieser Abschweifung von dem, was Gregor Fröhlich für verkündigenswert hielt, war ihm entgangen, daß die junge Frau ins Atelier zurückgekehrt war, und er registrierte ihre Anwesenheit erst, als er sie sagen hörte: „Es ist genug, Gregor. Sicherlich langweilst du Herrn Wermke nur mit deinen Reden.“ „Wieso langweilen?“ protestierte der bärtige Mann. „Die Alten sollen sich auch einmal anhören, was wir Jungen zu sagen haben, wie wir denken und fühlen. Immer heißt es nur…“ „So jung sind wir nun auch nicht mehr“, unterbrach sie ihn, und er setzte wieder eine finstere Miene auf, weil sie ihm ins Wort gefallen war. Doch sie ließ sich nicht beirren. „Und außerdem solltest du nicht andauernd aus Kleiderfragen Gesinnungsfragen machen. Damit stellst du dich doch nur auf eine Stufe mit diesen sozialistischen Spießern, die dich anstinken, weil sie aus Haarwuchs und Anzug Weltanschauung erschnüffeln. Vielleicht könntest du dir sogar mal ein Paar Schuhe kaufen. Die Jesuslatschen sind bei dieser Witterung nicht gerade gesundheitsfördernd.“ „Und wovon?“ fragte er unwillig. „Zum Beispiel von dem Geld, das mein Vater hiergelassen hat.“ Otto Wermke spürte, wie schwer es ihr geworden war, den Satz zu formulieren, und daß sie anscheinend schon seit Tagen darauf gewartet hatte, ihn anzubringen, und wie erleich92
tert sie nun war, daß sie ihn endlich ausgesprochen hatte. „Wie bitte?“ Entgeistert sah Gregor Fröhlich zu Otto Wermke hinüber, als könnte der Antwort geben. „Sag das noch mal!“ „Von dem Geld, das mein Vater mir gegeben hat.“ Diesmal kam die Antwort schon sicherer. „Er hat dir…“ Wieder blickte er Otto Wermke an, der in seiner Verlegenheit, Auslöser und zugleich Zeuge eines sich zusammenbrauenden Krachs zu sein, die Augen niederschlug. „Du hast dich kaufen lassen?“ fragte er dann beängstigend ruhig und erhob sich zeitlupenhaft langsam von den Polstern. „Wenn du es so nennen willst.“ Das war trotzig gesagt, aber es lag doch auch eine Bitte um Verständnis in den Worten. Otto Wermke hätte dem sich hysterisch aufspielenden jungen Mann am liebsten eine Ohrfeige gegeben, um ihn wieder zu sich zu bringen. „Und warum?“ „Weil wir Geld brauchen.“ „Ich habe erst vor drei Wochen ein Bild verkauft.“ „Und wie lange, glaubst du, kann man von zweihundertfünfzig Mark leben?“ „Ich habe heute noch eingekauft.“ „Von seinem Geld.“ Gregor Fröhlich machte an diesem Punkt des sich zwar nicht in der Lautstärke, wohl aber in der Intensität hastig steigernden Wortwechsels ein Gesicht, als habe er unversehens eine Schlange angefaßt. Er schüttelte sich, ließ sich wieder auf die Polster fallen und saß eine Weile stumm da, die Beine von sich gestreckt und den Kopf gesenkt, indes Otto Wermke, starr vor Verlegenheit, auf der Chaiselongue hockte, aber doch auch so fasziniert von der Auseinandersetzung war, daß er sich kein Wort entgehen lassen mochte. Schließlich fragte Gregor Fröhlich mit gefährlich leiser Stimme 93
und ohne seine Frau anzusehen: „Wann hat er dir das Geld zugesteckt? Doch nicht am Sonnabendvormittag. Das müßte ich gemerkt haben.“ „Er ist am Abend wiedergekommen. Da mußtest du ja unbedingt bei deinen Freunden über Gott und die Welt diskutieren.“ „Wohin ich gehe, ist meine Sache.“ Der gereizte Ton deutete darauf hin, daß dieses Wegbleiben schon des öfteren Gegenstand einer Auseinandersetzung war. „Ich brauche Gedankenaustausch.“ „Und Rotwein. Und beides die ganze Nacht durch, und wenn es gar zu interessant ist, bis in den Morgen hinein, wie vorgestern.“ Otto Wermke sah in ihren Augen einen Funken Bosheit aufblitzen, der aber sogleich wieder erlosch, als sie merkte, daß ihr Mann gekränkt auffahren wollte. „Ich hab ja nichts dagegen. Nur solltest du mir keinen Vorwurf daraus machen, wenn mein Vater einmal hier übernachtet.“ „Warum ist er überhaupt geblieben?“ unterbrach er sie. „Es war spät geworden, und ich wollte ihn nicht in die Nacht rausschicken. Er ist nach dem Frühstück gegangen. Wenn du am Morgen eine halbe Stunde früher gekommen wärst…“ „Und hat auf der Chaiselongue geschlafen?“ Unwillkürlich regte sich Otto Wermke auf seinem Sitz, als die Chaiselongue erwähnt wurde. „Ja.“ „Ist ja prima! Friede, Freude, Eierkuchen…“ Die forcierte Lustigkeit verdeckte nicht die Betroffenheit des bärtigen Mannes. „Vater und Tochter wieder in Liebe vereint.“ Dann lag etwas Lauerndes in seiner Stimme, als er fragte: „Hat er dir geraten, mich zum Teufel zu jagen?“ „Gregor!“ „Man wird doch wohl fragen dürfen. Hat er denn wenigstens gut bezahlt für die Übernachtung?“ 94
„Ich sage kein Wort mehr, wenn du weiter so mit mir sprichst.“ „Wieviel?“ „Fünfhundert“, antwortete sie kaum hörbar. Otto Wermke spürte, daß sie den Tränen nahe war. „So wenig? Und ich dachte, sein wiedergefundenes Täubchen wär ihm mehr wert.“ „Er sagte, er hätte in der kurzen Zeit nur fünfhundert Mark auftreiben können. Es war ja auch Sonnabendnachmittag…“ Ihre Stimme zitterte jetzt deutlich. „Dann steht also noch eine größere Summe ins Haus?“ Gregor zeigte sich unbeeindruckt von ihrem seelischen Zustand. „Er will einen Teil der Erbschaft zu Geld machen, hat er gesagt. Und er wird diese Woche noch einmal vorbeikommen.“ Sie wartete ängstlich auf eine weitere Frage, und als die ausblieb, beschwor sie ihren Mann: „Wir haben ein Kind, Gregor. Wir können es uns nicht mehr leisten, von einem Tag auf den anderen zu leben.“ Wieder wartete sie, daß er antwortete, daß er sie wenigstens ansähe. Er aber hob den Kopf nur, um durch das breite Atelierfenster in den Himmel hinaufzustarren. „Sag doch was, Gregor“, bat sie. Wieder rekelte er sich sehr langsam von den Polstern hoch, ging stumm und blicklos quer durch den großen Raum zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um. „Jetzt begreife ich, warum du den Brief geschrieben hast“, sagte er, „nachdem dir dein Vetter Horst von der Erbschaft erzählt hat. Die unglückliche Tochter, die sich mit ihrem alten Vater versöhnen will… Der arme alte Trottel. Hätte ich das alles nur vorher durchschaut… Ach, scheiß drauf!“ Und er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich, leise, fast vorsichtig. Otto Wermke wagte nicht, sich zu rühren. Seine Hände lagen zu beiden Seiten neben ihm auf dem abgeschabten grünen Vel95
vet der Chaiselongue, als ob sie nicht zu ihm gehörten, die Beine schienen seinem Willen nicht mehr unterworfen. Doch während er auf Dagmar Günther blickte, die, mit hängenden Schultern mitten im Raum stehend, ein Bild der Verlassenheit bot, jagten sich in seinem Kopf die Überlegungen. Endlich hatte er eine handgreifliche Spur von Wilhelm Klausner, endlich konnte er im Heim mitteilen, daß sich sein Freund „auf Tour“ befand, wie die Tochter es genannt hatte, wahrscheinlich um einen Teil der Erbschaft zu Geld zu machen. Und das erregte ihn, je länger er darüber nachdachte, so sehr, daß er sein Herz in den Schläfen klopfen hörte, und erleichterte ihn doch auch. Am Morgen des Pfingstsonntags war Wilhelm noch hier gewesen, hatte Geld gebracht. Jetzt konnte wohl die schreckliche Sucherei durch die Polizei abgepfiffen werden, und er brauchte nicht mehr zu lügen. Alter Wilhelm, dachte er, du bist doch nicht so ein unebener Kerl, wie ich neuerdings manchmal angenommen habe. Und über diesen Gedanken gewann er. die Kontrolle über seine Gliedmaßen zurück. Er stand auf, trat an Dagmar Günther heran und berührte sie leicht an der Schulter. Sie fuhr herum, und ihr Gesicht war im Schreck verzerrt. „Ach Sie…“, sagte sie, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen, und ihre Züge entspannten sich. „Ich wollte mich verabschieden.“ Doch er mochte nicht gehen, ohne ihr etwas Tröstliches gesagt zu haben, und da er in Zuspruch nicht sonderlich geübt war, fiel ihm nichts anderes ein als die Floskel: „Er wird schon wiederkommen, Ihr Mann.“ „Sicherlich.“ Das klang nicht sehr hoffnungsvoll, eher so, als wollte sie allein gelassen werden. „Es ist wohl besser, wenn ich Ihrem Vater nichts davon erzähle, was ich hier… Ich meine, er soll sich doch nicht aufregen.“ „Tun Sie, was Sie für richtig halten.“ 96
„Hat er Ihnen übrigens gesagt, wann er zurück sein wollte?“ Sie schüttelte, noch immer apathisch, den Kopf. „Er hatte die Absicht, nach Thüringen zu fahren. Er kennt dort einen Sammler, hat er gesagt. Oder vielmehr: Ein Bekannter kennt da einen Sammler… Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.“ „Auf Wiedersehen.“ Er behielt ihre Hand für ein paar Sekunden in der seinen. „Sie müssen uns mal besuchen. Ich würde mich sehr freuen.“ Auf der Straße zündete sich Otto Wermke ein Zigarillo an, und da es endlich zu regnen aufgehört hatte, genoß er den Rückweg zum Bahnhof doppelt.
6 Vor dem Mittagessen, unmittelbar nachdem er im Heim angekommen war, saß Otto Wermke, noch im Mantel und den Hut auf den Knien, im Büro von Herrn Friedrich. Er hatte es nicht über sich gebracht, das, was er erfahren hatte, auch nur zehn weitere Minuten für sich zu behalten, für die Zeit eben, die es gedauert hätte, auf sein Zimmer zu gehen84und sich erst einmal frisch zu machen. Und so sehr drängte es ihn, sich mitzuteilen, daß er nicht darauf achtete, wie ernst, ja wie bedrückt der Heimleiter hinter seinem Schreibtisch wirkte und wie zerstreut er zuhörte, als störe ihn das Mitgeteilte geradezu. Ohne Pause und ohne Herrn Friedrich die Chance zu geben, zu Wort zu kommen, trug er vor, was er seit dem Morgen des Pfingstmontags erlebt hatte, in Friedrichslust, in der Siedlung „Vogelsang“, bei Wilhelm Klausners Tochter in der Alten Kirchstraße. Selbst die eingeflochtene Bitte um Entschuldigung dafür, daß er auf eigene Faust gehandelt hatte, brachte er beiläufig vor, weil sie ja eigentlich nur dazu angetan war, den Schwung des Berichts zu 97
bremsen. Aber die Bitte fand ohnehin kaum Resonanz bei Herrn Friedrich, wie alles andere, das da über Otto Wermkes Lippen kam. Herr Friedrich saß graugesichtig da und blickte durch dicke Brillengläser auf sein Gegenüber wie auf einen Mann von einem anderen Stern. Schließlich, als Otto Wermke, beinahe gewiß, Wilhelm Klausner sei bereits zurückgekehrt, darum bat, seinem Zimmergenossen nicht gram zu sein wegen seines eigenmächtigen Fortbleibens, da dies doch, wie man ja nun jetzt wisse, im Grund nur dem freundlichen Wunsch entsprungen sei, dem Enkelkind etwas Gutes zu tun, lachte Herr Friedrich sogar kurz. Allerdings war das nur nervöse Reaktion. Doch auch von diesem seltsamen Lachen ließ sich Otto Wermke nicht beirren, und als Frau Weskamp ins Zimmer trat, eine Akte unterm Arm und auch sie mit verstörter Miene, wandte er sich ihr nur flüchtig zu, grüßte und brachte seinen Bericht zu Ende, indem er, wie ein professioneller Reporter, in zwei, drei Sätzen zusammenfaßte, was er in den letzten beiden Tagen erlebt hatte. „So, das war’s“, schloß er. „Und noch einmal: Ich hoffe wirklich, Sie sind mir nicht böse, daß ich nicht von vornherein gesagt habe, was ich wußte und daß ich ein paar Umwege gemacht habe. Schließlich ist ja alles gut ausgegangen.“ „Das glauben Sie.“ Es war Frau Weskamp, die da sprach, streng wie ein Staatsanwalt. Sie ging langsam um den Stuhl herum, auf dem Otto Wermke saß, legte den Aktenhefter vor Herrn Friedrich auf den Schreibtisch. Vergebens versuchte der Heimleiter, sie durch eine diskrete Geste zu beschwichtigen. Sie fuhr in derselben Tonlage fort: „Ich muß schon sagen, das ist sehr seltsam.“ Großgewachsen, stand sie über ihm, und er fühlte sich noch kleiner, als er ohnehin war, und sah, verständnislos und ver98
schreckt von dem barschen Ton, zu ihr empor. „Ich verstehe nicht…“, sagte er. „Ihr Freund Klausner…“, begann sie, kam jedoch nicht dazu, den Satz zu Ende zu bringen. Herr Friedrich war aufgesprungen. „Lassen Sie das, Kollegin Weskamp“, rief er. Er schob sich an ihr vorbei und stellte sich, als müsse er ihn schützen, neben Otto Wermke, mit der betont optimistischen Haltung und Miene des psychologisch geschulten Mannes, der sich anschickt, ein schwieriges Problem in den Griff zu bekommen. Er faßte ihn am Arm und sah ihm begütigend in die Augen. „Regen Sie sich nicht auf,“ sagte er. „Wir gehen ein Weilchen nach draußen.“ Das verwirrte Otto Wermke vollends. Warum soll ich mich nicht aufregen? fragte er sich. Ich bin doch gar nicht aufgeregt. Und was soll das ganze Gehabe? Zögernd erhob er sich unter dem sanften Druck von Herrn Friedrichs Hand auf seinen Oberarm und ließ sich, ebenso sanft, zur Tür dirigieren, immer noch die Frage im Kopf: Was soll das alles? Vor dem Feierabendheim „Christoph Wilhelm Hufeland“ standen, umrahmt von Büschen, einige Bänke unter schattenspendenden Platanen, auf denen an warmen Abenden vor allem die Bewohner des Heims saßen, die zu einem Spaziergang keine Lust oder nicht mehr die Kraft aufbrachten. Dorthin führte ihn Herr Friedrich, vorsichtig wie einen Gebrechlichen, wartete, bis er Platz genommen hatte, und setzte sich dann neben ihn. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte er, nachdem er sich die Kehle freigeräuspert hatte. „Was ist denn los?“ Otto Wermke hatte über all dem Getue seine Verwirrung abgelegt und begann ärgerlich zu werden. „Nur ruhig.“ Da Herr Friedrich fast alles über den Umgang86mit alten Menschen in komplizierten Lagen wußte, ihre Neigung zur Kopflosigkeit bei unerwarteten Ereignissen kannte 99
und auch ein schwaches Herz und einen labilen Kreislauf in Rechnung stellte, ging er entsprechend behutsam vor und fragte: „Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, daß Herrn Klausner etwas zugestoßen sein könnte?“ Mißtrauisch blickte Otto Wermke nach links, wo Herr Friedrich saß, sah um dessen Mund ein unzureichend unterdrücktes Zucken und trotz der verhältnismäßig kühlen Witterung kleine Schweißperlen auf dessen Nasenrücken. „In unserem Älter muß man immer damit rechnen, daß einem etwas zustößt. Ist Wilhelm krank?“ „Nein, nein,“ Herr Friedrich blickte auf seine Hände, die mit einem Kiesel spielten, den er vom Boden aufgenommen hatte. „Es ist nur… Bleiben Sie bitte ganz ruhig.“ Otto Wermke verlor über dem Hin und Her die Geduld. Lauter als nötig und schroffer, als es seine Art war, sagte er: „Nun1 lassen Sie doch das Rumeiern. Ich bin kein Kind, das man löffelweise füttern muß.“ Eine Bildfolge drängte sich ihm ins Gedächtnis: Er sah sich wieder, wie er nach der Operation seiner Frau im Zimmer des Stationsarztes sitzt. Eine Schwester hat Kaffee gebrüht, der Arzt lächelt ihn an, spricht davon, wie gut der Eingriff gelungen sei, rein technisch gesehen, und ein wie starkes Herz die Patientin habe, ein erstaunlich gesundes Herz für ihr Alter, fragt nach den häuslichen Umständen und ob es wohl möglich sei, die Kranke im Haus zu pflegen. Und, er, Otto Wermke, schöpft Hoffnung aus den Worten des Mannes im weißen Kittel, der noch immer lächelt und ihm erlaubt, ein Zigarillo anzuzünden. Er fühlt sich erleichtert nach den Wochen voller Sorgen um Anna, will wissen, wie es mit der Diät zu halten sei, erfährt, daß man sich in dieser Hinsicht keine Vorsicht aufzuerlegen habe und daß die Patientin essen und trinken könne, wonach ihr der Sinn stehe, und ahnt noch immer nichts, wenn er 100
sich auch darüber wundert, daß nach der schweren Magen- und Darmoperation Vorsichtsmaßnahmen nicht nötig sein sollten. Bis dann der Mediziner ernst wird und davon spricht, daß auch die ärztliche Kunst Grenzen habe und das Leben, das einmal verwirkt sei, auch mit den besten Arzneien und den perfektesten Methoden nicht erhalten werden könne. Das Wort verwirkt bleibt ihm im Ohr. Als ob sich da ein Fehler ins Strickmuster geschlichen hätte, denkt er und begreift plötzlich: Anna muß sterben, auch wenn die Operation, rein technisch gesehen, gelungen ist, auch wenn sie ein für ihr Alter erstaunlich starkes Herz hat, und er fragt den noch recht jungen Stationsarzt: „Wissen Sie eigentlich, wie das ist, wenn einer sterben muß?“ Und diese Erinnerung weckte in ihm die Befürchtung, die im Hintergrund schon lange gelauert, die er jedoch ins Unterbewußtsein verdrängt und mit allerlei bunten Vorstellungen, wie es wäre, wenn Wilhelm und er sich wieder auf den gemeinsamen Spazierwegen und beim Bier im „Schusterjungen“ vergnügten, zugedeckt hatte. Jetzt aber wurde sie übermächtig, zerstörte in Sekundenschnelle alle Freude und Zuversicht. „Ist Wilhelm tot?“ fragte er. Der Mund war ihm mit einem Mal trocken geworden, und das machte es mühsam, die Frage deutlich zu artikulieren. „Sozusagen.“ Herr Friedrich fühlte sich überrumpelt und war nahe daran, sich von dem alten Mann in seiner direkten Art unfair behandelt vorzukommen. Hatte er doch all seine Erkenntnis und all sein Geschick darangesetzt, ihm die Nachricht mit so viel Schonung wie möglich beizubringen. „Was heißt ,sozusagen’?“ Otto Wermke spürte, wie sich in ihm Zorn auf den Heimleiter einstellte. „Reden Sie gefälligst mit mir wie mit einem erwachsenen Menschen. Ja oder nein?“ „Ja. Wilhelm Klausner ist tot.“ Jetzt, da das entscheidende Wort gefallen war, sah Herr Friedrich dem alten Mann voll ins 101
Gesicht, auf dem sich nicht, wie er befürchtet hatte, Schrecken, Bestürzung oder doch wenigstens Bedauern malte. Dieses Gesicht war leer, grauer noch als sonst, steinern; nur die flatternden Lider verrieten, daß noch Leben in Otto Wermke war. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte er ihn leise, als der stumm blieb. „Gehen wir ins Haus zurück.“ „Aber er war doch gar nicht krank.“ Otto Wermke schien nicht zugehört zu haben. „Kerngesund. Bei Anna war das etwas anderes. Die war krank, schwerkrank sogar.“ „Wer ist Anna, Herr Wermke?“ Erschrocken stellte Herr Friedrich fest, daß eingetreten zu sein schien, was er durch allmähliche und schonungsvolle Annäherung an die Wahrheit hatte vermeiden wollen: partielle Verwirrung und Verkennung der Wirklichkeit infolge eines Schocks. Damit war nicht zu spaßen, das konnte üble, auch physisch schlimme Folgen nach sich ziehen. „Gehen wir ins Haus“, sagte er noch einmal und sehr besorgt. „Der Wilhelm war kerngesund. Wieso ist er tot? Erklären Sie mir das bitte.“ Er hatte das Gesicht Herrn Friedrich zugewandt, schien aber durch ihn hindurchzublicken, wie ein Blinder. „Ist er verunglückt? Sagen Sie es mir.“ „Sozusagen.“ Herr Friedrich war dem Verzweifeln nahe. Man sah es ihm an, wie ihm die Situation geradezu körperliches Unbehagen bereitete. „Nicht schon wieder ,sozusagen’!“ Der Zorn machte seine Stimme jetzt brüchig. „Ist er verunglückt oder nicht?“ „Man hat ihn in einem See gefunden.“ Nun, da auch das gesagt war, atmete Herr Friedrich tief ein, und es klang wie ein Seufzen, als er die Luft wieder entließ. „Ertrunken also.“ Das sollte sachlich klingen, offenbarte jedoch nur, wie mühsam es Otto Wermke wurde, sich mit der Wirklichkeit abzufinden. „Er konnte nicht schwimmen, hat er 102
mir einmal erzählt. Wie viele Matrosen früher. Die haben nämlich absichtlich nicht schwimmen gelernt, hat er gesagt, damit sie sich nicht unnötig quälten, falls das Schiff unterging.“ Herr Friedrich hätte am liebsten laut losgelacht angesichts von soviel Naivität oder den Alten einfach angeschnauzt, um ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Doch er unterdrückte dies Gelüst, wiederholte statt dessen noch einmal: „Kommen Sie, Herr Wermke, wir gehen ins Haus.“ Zu seinem Erstaunen folgte Otto Wermke jetzt der Aufforderung ohne Zögern, erhob auch keinen Einwand, als der Heimleiter ihn wieder an dem Arm nahm und ihn auf das Gebäude zulenkte. Auf der Freitreppe, kurz vor dem Portal, blieb er allerdings stehen und sagte: „Mir will nicht in den Kopf, wie Wilhelm in den See geraten ist. Wenn er doch nicht schwimmen konnte…“ Dann ließ er sich weiterführen. Auf dem Flur im Parterre, von dem aus es links zu dem großen Speisesaal und rechts zu den Verwaltungsräumen ging, hastete ihnen Frau Weskamp entgegen. „Beeilen Sie sich, Kollege Friedrich!“ rief sie. „Der Genosse von der Morduntersuchungskommission ist am Apparat!“ Jäh verharrte Otto Wermke, mitten im Schritt, und der Heimleiter sah seine Stellvertreterin wütend und hilflos zugleich an. „Morduntersuchungskommission“, wiederholte Otto Wermke, jede Silbe deutlich von der anderen absetzend, als lese er das komplizierte lange Wort aus einem Buch vor. Herr Friedrich stand für einen Moment unentschieden. „Ich erkläre Ihnen das später“, sagte er dann und eilte zu seinem Büro. Otto Wermke blickte Frau Weskamp fragend an, und das hinderte sie, ihrem Chef zu folgen. „Ich dachte, Herr Friedrich hätte Sie bereits über alles aufgeklärt.“ „Wilhelm Klausner soll ertrunken sein.“ 103
„Das stimmt. Die Polizei untersucht jetzt, wie es dazu gekommen ist.“ Frau Weskamp hatte das Versteckspiel offensichtlich gründlich satt. „Herr Klausner ist nämlich nicht freiwillig ins Wasser gegangen.“ „Das will ich meinen. Er konnte ja nicht schwimmen“, sagte er noch einmal sinnloserweise, ehe ihn wie ein Blitz die Bedeutung der Nachricht durchfuhr. „Dann ist Wilhelm also…“, flüsterte er. „Dann hat man ihn einfach… Ist denn so was möglich? Bis Sonntagmorgen war er doch noch bei seiner Tochter und hat…“ Ein Gong schickte seinen Dreiklang durchs Haus, der die Bewohner zur Mahlzeit rief. Otto Wermke registrierte dieses vertraute Signal nicht. „Es ist Essenszeit, Herr Wermke. Nachher werden wir über alles reden. Erregen Sie in der Zwischenzeit bitte kein Aufsehen.“ Frau Weskamp wollte sich von ihm abwenden, erkannte aber, daß er nicht gehört hatte, was sie sagte. Er lehnte sich gegen die Wand und bewegte die Lippen wie in lautloser Rede. „Herr Wermke!“ rief sie. Er nickte, blieb aber stehen, die Handflächen fest gegen die Wand gelegt, als befürchte er, das Gleichgewicht zu verlieren, wenn er den Halt an diesem stabilen Element aufgab. Frau Weskamp wußte nicht, was sie tun sollte, und da sie in die Männer und Frauen, die das Treppenhaus und den Flur zu beleben begannen, keine Unruhe tragen wollte, lief sie kurzentschlossen los, um Herrn Friedrich zu holen. Otto Wermke aber, als habe er nur darauf gewartet, daß die Frau von ihm abließ, löste sich von der Wand und ging langsam und steifbeinig, aber stetig den zum Speisesaal strömenden Menschen entgegen auf die Treppe zu, ohne darauf zu achten, daß ihn dieser oder jener ansprach oder grüßte. Stufe um Stufe stieg er hinan, nun mit schmerzendem linken Knie und dump104
fem Kopf und einem Gefühl in der Brust, als habe man sie ihm mit Watte ausgestopft. Das Atmen fiel ihm schwer, und die Beine wurden kraftloser, je näher er seinem Zimmer kam. Dann hatte er das Problem, mit zitternden Fingern das Schlüsselloch zu finden. Nachdem es ihm gelungen war aufzuschließen, stemmte er sich mit aller Kraft gegen die Tür, die ihm eine Zentnerlast entgegenzusetzen Schien. In der vertrauten Umgebung seines Zimmers versuchte er sich zu sammeln, tastete mit Blicken das Mobiliar ab, bewegte sich auf sein Bett zu, saß lange auf dessen Kante, ohne einen anderen Gedanken fassen zu können als den, den Frau Weskamp ihn in den Kopf gepflanzt hatte: „Herr Klausner ist nämlich nicht freiwillig ins Wasser gegangen.“ Er sah das Wasser, den See, sah das verkommene Restaurant, die „Seeperle“, sah das Gesicht von Heidemarie Böhm, hörte den schmuddeligen Kellner lachen, er spürte das Unbehagen, das im Haus der Böhme von ihm Besitz ergriffen hatte. Und er blickte zu Wilhelms Bett hinüber, das nun leer bleiben würde, für immer… Als er wieder zu sich kam, war es bereits Abend. Durch die Gardinen drang das in festem Rhythmus aufflammende und verlöschende Licht der Leuchtreklame von der gegenüberliegenden Straßenseite, die für eine Fahrt mit den Dampfern der Weißen Flotte warb. Er betastete die Ärmel seines Pyjamas, versuchte vergebens, sich darauf zu besinnen, wann und wie er ihn angezogen hatte, und kam zu dem Schluß, daß ihn jemand entkleidet und zu Bett gebracht haben müßte. Auf dem Nachttischchen brannte die Lampe mit der Fünfundzwanzigwattbirne, die nur einen matten Schimmer verbreitete und den größten Teil des Zimmers im Dämmer beließ. So gewahrte er nicht sogleich die beiden Männer, die neben seinem Bett saßen. Erst als sich einer von ihnen räusperte, wandte er ihnen den Kopf 105
zu. „Ah, die Herren Söhne“, sagte er. Ein seltsames Gemisch von Leichtigkeit im Kopf und Schwere in den Gliedern hatte von ihm Besitz ergriffen. Das Hirn war klar, doch die Gedanken ließen sich nicht ohne weiteres dirigieren; einen Arm zu heben kostete einige Anstrengung. „Ihr müßt entschuldigen…“ „Die Hauptsache ist, es geht dir wieder besser.“ Es war sein jüngerer Sohn Peter, der das sagte, und in seiner Stimme schwang echte Besorgnis. „Ich weiß nicht, wie ich ins Bett gekommen bin.“ „Ist auch nicht wichtig.“ Wieder hatte Peter gesprochen. Sein Bruder Walter schwieg noch, sah seinen Vater nur unentwegt an, wie schon seit über zwei Stunden, als er das Zimmer betreten und sich in dem Sessel niedergelassen hatte. ,;Herr Friedrich hat uns benachrichtigt. Der Schreck muß dir mächtig in die Glieder gefahren sein.“ „Der Schreck…“ In diesem Moment trat auch Herr Friedrich, der bei der Tür gestanden hatte, in den trüben Lichtkreis der Lampe. „Herr Doktor Wichtel hat sich um Sie gekümmert“, erklärte er. „Sie brauchten unbedingt Ruhe.“ Als Otto Wermke den Heimleiter erblickte, stellte sich die Erinnerung wieder ein: Wilhelm war tot, aus dem See gefischt worden. „Habe ich lange geschlafen?“ fragte er. „Ein paar Stunden. Doktor Wichtel hat Ihnen eine Spritze gegeben, ein Beruhigungs- und Stärkungsmittel.“ „Du hast uns Sorgen gemacht.“ Walter ließ sich zum ersten Mal vernehmen, und das klang weniger besorgt als grämlich. Otto Wermke schaute ihn an, sah den verkniffenen Ausdruck um den Mund seines älteren Sohns, die steile Falte zwischen den Brauen. Mit dieser Miene hatte er ihn zuletzt vor einigen 106
Jahren gesehen, als er seine Tochter – damals gerade zwölf geworden – ins Gebet genommen hatte, weil sie nach Auskunft der Schulleitung Rädelsführerin der Klasse gewesen sein sollte, die eine Musikstunde in ein Memorial für den tags zuvor gestorbenen Elvis Presley umfunktionieren wollte. Ach, mein Walter, dachte er, so streng immer mit der Welt und, wenn es denn nötig ist, zuweilen auch mit dir selber. Und er sagte: „Das tut mir leid.“ „Treibst dich in der Weltgeschichte herum, und niemand hat dir den Auftrag dazu gegeben.“ „Brauch ich einen Auftrag, wenn ich nach einem Freund suche?“ Fast wäre Otto Wermke so etwas wie ein ironischer Unterton gelungen, aber was herauskam, war dann doch mehr ein leichtes Pathos, das sich im Mund des alten geschwächten Mannes eher rührend ausnahm. „Damit hast du uns und dir nur Sorgen gemacht“, beharrte Walter Wermke, „nichts als Scherereien.“ „Aber, Herr Doktor Wermke…!“ Herrn Friedrichs Stimme klang gereizt. „Ist doch wahr!“ Walter Wermke stand auf, ging zum Fenster, schob die Gardine ein Stück zur Seite und starrte auf die Leuchtreklame. Er wußte, daß er seinen Vater jetzt nicht aufregen durfte; aber er konnte nicht an sich halten. Seit dem Tod der Mutter war er immer wunderlicher geworden, der Alte. Schon daß er sich diesem Klausner angeschlossen hatte… Der Mann wär doch eine zweifelhafte, eine gescheiterte Existenz, ein dummer und alter Geschichtenerzähler. Das hatte er gleich gespürt, als er ihm zum ersten Mal begegnet war. Und was er in groben Umrissen von Herrn Friedrich erfahren hatte, diese Sache mit der dubiosen Erbschaft und was alles daranhing, konnte ihn in seinem Urteil nur bestätigen. Wegen so einem setzte man sich nicht in die Nesseln. Ja, in den Nesseln saß sein 107
Vater nämlich jetzt, mittendrin. Das konnte einen kräftigen Kladderadatsch geben, wenn die von der Kripo dahinterkamen, was er alles eigenmächtig unternommen hatte. Und sie würden dahinterkommen. Informationen hatte er zu lange zurückgehalten, wichtige Informationen, wie sich jetzt herausstellte, hatte sich mit Kreti und Pleti eingelassen, mit einer Kellnerin, einem vorbestraften Schläger, einer Schlampe von Malerin… Dr. Walter Wermke fragte sich, ob es nicht ratsam sei, sich mit Herrn Friedrich darüber zu verständigen, wie man die ganze Angelegenheit vor der Polizei herunterspielen konnte. Das fehlte noch, daß sein Vater in eine Mordgeschichte verwickelt wurde, als ein wichtiger Zeuge. Das würde sich nicht geheimhalten lassen, da würden auch Querverbindungen gezogen werden, die Söhne würden ins Bild rücken. Und wer weiß, in welchem Computer das dann alles landete. Nein, da mußte man auf verminderte Zurechnungsfähigkeit plädieren. Denn alles, was der Vater unternommen hatte, zeugte doch ganz klar von Senilität. Otto Wermke war seinem älteren Sohn nicht gram wegen seiner merkwürdigen Reaktion, dazu kannte er ihn zu genau. Wer, wenn nicht er, sollte ihn denn kennen? Korrekt und stramm, so war er schon immer gewesen, und unsicher und zu Panik neigend, wenn etwas nicht so lief, wie es laufen sollte. Weiß der Teufel, von wem der Junge das hatte, dachte er, von mir nicht, auch nicht von seiner Mutter. Das muß er sich unterwegs auf seinem Karrieretrip aufgelesen haben. „Wieso kommst du überhaupt dazu, dich mit so einem Menschen einzulassen?“ Walter Wermke brachte es nicht über sich, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben oder sie wenigstens für sich zu behalten. Er hatte sich vom Fenster weggewandt und sprach nun per Distanz zu seinem Vater. Der war von der Frage zunächst verblüfft. 108
„Warum?“ wollte er wissen. „Ist denn das jetzt noch wichtig?“ „Jedenfalls ständest du ohne diese Freundschaft jetzt ganz anders da.“ „Das ist wohl wahr.“ „Ich meine: Dann brauchtest du dich nicht wegen der Eskapaden zu verantworten.“ „Eskapaden? Was heißt das?“ Die Frage nahm Walter Wermke den Wind aus den arg geblähten Segeln. Abrupt kehrte er seinem Vater den Rücken zu, schnaufte verächtlich und blickte wieder auf die gegenüberliegende Häuserfront mit der Lichtreklame. Peter Wermke, dem das Hin und Her des wenig freundlichen Dialogs zwischen Vater und Bruder gar nicht behagte, wollte abwiegeln und sagte: „Walter meint es nicht böse. Er wollte doch nur wissen, warum du dich ausgerechnet mit Herrn Klausner angefreundet hast.“ Hinter den Worten stand unausgesprochen: „Du hast doch schließlich uns, wenn du Kontakte brauchst.“ „Er hat mich Otto genannt, nicht Herr Wermke oder so, einfach Otto, vom ersten Tag an hat er das getan“, sagte Otto Wermke. Man sah es seinem Sohn Walter an, daß er glaubte, der Alte sei wirklich kindisch geworden, und sein Bruder verzog das Gesicht, als habe ihm ein Schüler eine völlig abwegige Antwort gegeben. Herr Friedrich hingegen lächelte wissend. Er kannte das Phänomen der Vereinsamung aus der Theorie und noch nachhaltiger aus der Praxis, wußte, wie wichtig es war, daß Beziehungen aufgebaut wurden zwischen alten Menschen, enge Beziehungen, und er wußte auch, wie schwer das den Alten fiel, und er wurde fröhlich, wenn sich eine Partnerschaft herstellte, deren Entstehung und Entwicklung er beobachten oder gar befördern konnte. „So ist das also“, sagte Peter Wermke einigermaßen verlegen. 109
„Ja, so ist das. Seit Mutter tot ist, hat mich keiner mehr Otto genannt. Ich bin Vater, Opa, Herr Wermke, Kollege und was weiß ich noch. Aber Otto hat seitdem keiner mehr zu mir gesagt, außer Wilhelm. Ohne ihn hätte ich vergessen können, daß ich einen Vornamen habe und daß ich auch Otto bin. Otto – das klingt doch gut.“ „Ach, hör doch auf!“ Dr. Walter Wermke war mit seiner Geduld am Ende. Entschlossen, die Angelegenheit jetzt in die Hand zu nehmen, marschierte er zu dem Sessel zurück und ließ sich mit der Attitüde des von der Dummheit der anderen schwergeplagten Mannes in die Polster fallen. „Wir müssen uns überlegen, wie wir der Kriminalpolizei erklären, was du in den letzten beiden Tagen unternommen hast. Vielleicht ist es irgendwie möglich, dich aus der Geschichte ganz rauszuhalten. Am besten, du sagst gar nichts von Einzelheiten deiner Suche, wenn sie dich fragen. Und fragen werden sie dich bestimmt, schon weil du in einem Zimmer mit ihm gelebt hast.“ Herrn Friedrich paßte diese Wendung des Gesprächs nicht. Zwar hatte auch Frau Weskamp einen ähnlichen Gedanken bewegt, da sie wohl befürchtete, man könne sie dafür zur Verantwortung ziehen, daß sie nicht sofort am Montagmorgen eine Vermißtenanzeige aufgegeben und statt dessen einen Heimbewohner beauftragt hatte, sich nach dem Verbleib des Mannes umzusehen. Doch bei aller Verärgerung darüber, daß Otto Wermke ihm nicht gleich am Sonntagabend, als Wilhelm Klausner nicht ins Heim zurückgekehrt war, gesagt hatte, was er wußte, zögerte er, den alten Mann der Belastung auszusetzen, noch einmal eine Lüge auf sich nehmen zu müssen. Daß ein solches Vorgehen die Aufklärungsarbeit der Kriminalpolizei erschweren würde, daran dachte er erst in zweiter Linie, wohl auch deswegen, weil er noch nicht überblicken konnte, wie weit die Ermittlungen bereits fortgeschritten und ob Otto 110
Wermkes Aussagen überhaupt von Belang waren. Er selber hatte nur am frühen Vormittag einen Mann ohne Personalpapiere identifizieren müssen, auf den die Beschreibung des als vermißt Gemeldeten zutraf und den er dann auch als Wilhelm Klausner erkannte, und man hatte ihn in großen Zügen davon unterrichtet, wo und unter welchen Umständen der Töte aufgefunden worden war. Und dann war er gebeten worden, sich zu weiteren Befragungen bereitzuhalten. Jedenfalls würden sich die Kriminalisten von der Morduntersuchungskommission wieder melden. Möglicherweise wußten sie dann schon mehr als Otto Wermke oder gar alles, was mit dem vermuteten Tötungsdelikt, wie sie sich ausgedrückt hatten, zusammenhing. „Ich glaube“, sagte er, „das ist kein guter Vorschlag.“ „Haben Sie einen besseren?“ fragte Walter Wermke gereizt. „Ich will jedenfalls nicht, daß mein Vater in die Mühlen der Polizeiuntersuchungen gerät.“ „Unser Vater ist schließlich nicht mehr der Jüngste“, ließ sich nun auch sein Bruder Peter vernehmen, und er trug die Feststellung mit einem Ernst vor, als verkünde er eine fundamentale Wahrheit. Herr Friedrich sah ihn mit einer Spur Verachtung im Blick an. „Ich kenne, glaube ich, Ihren Herrn Vater besser als Sie, und ich halte ihn nicht für so alt und mental reduziert, als daß er nicht selber über sich entscheiden könnte.“ „Wir haben ja gesehen, was dabei herauskommt, wenn er selber über sich entscheidet.“ Walter Wermke gab den beiden anderen deutlich zu verstehen, daß er das Sagen für sich beanspruchte. „Erst einmal muß ein Attest darüber her, daß er vernehmungsunfähig ist, als Folge des Schocks, den er erlitten hat. Ihr Doktor Wichtel, oder wie der Mann heißt, kann so etwas doch guten Gewissens bescheinigen. Und dann, schlage ich vor, zieht mein Vater für ein, zwei Wochen zu mir, bis der 111
ganze Rummel ausgestanden – ich meine: bis der Fall aufgeklärt ist. Meine Frau wird ihn pflegen, und ich kann ein Auge auf ihn haben. Denn wer weiß, in was er sonst noch hineingerät.“ „Warum fragen Sie Ihren Vater nicht, was er für richtig hält?“ sagte Herr Friedrich. Sein Unbehagen an der Situation war mit jedem Wort gewachsen. Es mißfiel ihm, wie die beiden Herren über den alten Mann verfügten. Und dann erschien ihm auch ihre Absicht, ihn der Kriminalpolizei vorzuenthalten, geradezu verwegen. Andererseits sah er ein, daß es natürlich vom Vorteil wäre, wenn Otto Wermke nicht gar zu eng mit dem Mord in Berührung käme. Man hatte ja erlebt, wie stark er von der bloßen Todesnachricht mitgenommen worden war. Wenn nun auch noch die Einzelheiten zur Sprache kommen würden, diese gräßlichen Details… Herr Friedrichfühlte sich in einem Dilemma. Jedenfalls, beschloß er, würde er dafür sorgen, daß die Leute von der Polizei entsprechend schonend mit dem alten Mann umgingen. Er trug Verantwortung für ihn, und die konnte ihm niemand abnehmen, nicht die Söhne und nicht die Männer von der Morduntersuchungskommission. Und eigentlich wollte er auch gar nicht von ihr entbunden werden. Um Otto Wermke hatte sich währenddessen niemand gekümmert, niemand hatte beobachtet, wie er die drei Männer, einen nach dem anderen, so anblickte, als würde er nicht begreifen, was sie da äußerten. Und während sein Sohn Walter darauf bestand, man könne seinen Vater nicht, ohne Schaden befürchten zu müssen, „der Tortur eines Verhörs“ aussetzen, und auch anklingen ließ, der Name der Familie sei ihm zu schade dafür, in einer so düsteren Affäre verschlissen zu werden – versuchte er nur, sich darüber klarzuwerden, wer ein Interesse daran gehabt haben konnte, Wilhelm Klausner aus der Welt zu schaffen. Doch das Überdenken dessen, was er in den vergangenen 112
beiden Tagen erlebt hatte, fiel ihm schwer und immer schwerer, je intensiver er grübelte. Am Ende erinnerte er sich schon nicht mehr so genau daran, an welchem Tag er bei Wilhelms Tochter gewesen und ob es Wilhelms Neffe war, der als erster zu ihm von der umstrittenen Erbschaft gesprochen hatte. Er dachte: Das ist die verdammte Spritze, die wirkt noch immer und macht dich so müde. Und dann sah er plötzlich Wilhelm in dem Sessel, in dem jetzt sein Sohn Walter saß, und die spitzen Knie zeichneten sich deutlich unter der Hose ab, und er hielt seinen schönen Spazierstock in der Hand. Und er hörte, während Herr Friedrich sich heftig dagegen wehrte, daß man Herrn Wermke wie eine unmündige Person behandeln wollte, da er doch sehr gut über sich selber entscheiden könne, wie Wilhelm wieder einmal die oft erzählte Geschichte von dem bis auf den letzten Penny abgebrannten Lord in Valparaiso zum besten gab. Heute rührte ihn dieses eigentlich lustige Begebnis so sehr, daß er die Tränen nicht zurückzudrängen vermochte, und er unternahm nicht einmal den Versuch, das nasse Gesicht mit dem Pyjamaärmel zu trocknen, sondern lag reglos da, lauschte auf Wilhelms Stimme, die immer leiser und undeutlicher wurde und dann ganz erstarb, als er die Augen schloß. „Ihr Vater scheint wieder eingeschlafen zu sein“, sagte Herr Friedrich nach einem Blick auf das Bett. „Und er scheint auch geweint zu haben“, stellte Peter Wermke erschrocken fest. „Da sehen Sie, wie schwach und hilflos er ist.“ Das klang, als sei Walter Wermke sehr zufrieden damit, daß er recht behalten hatte. „Ich komme gleich morgen und hole ihn ab.“ „Wir werden abwarten, wie sich alles entwickelt“, entgegnete Herr Friedrich, als er die Söhne aus dem Zimmer führte. „Man soll nichts überstürzen. Ich werde morgen früh erst einmal mit ihm sprechen. Schließlich habe ich Erfahrung im Umgang mit 113
älteren Menschen.“
7 Es war sieben Uhr, als Otto Wermke wachwurde; der stadteinwärts flutende Berufsverkehr erfüllte wie jeden Morgen die Luft mit dumpfem Brummen. Vorsichtig « bewegte er die Arme, zog die Beine an, richtete den Kopf auf. Er spürte keine Schwere mehr, keine irgendwie geartete Behinderung, und auch im Hirn schien alles wieder im Lot zu sein, denn der Gang der Gedanken folgte seinem Willen. Das Medikament hatte wohl seine Wirkung verloren. Sofort nämlich, nachdem die erste Beklommenheit nach dem Wachwerden sich verflüchtigt hatte, war ihm das Geschehen der letzten beiden Tage wieder gegenwärtig, und das Bewußtsein, daß Wilhelm Klausner tot war, ergriff neuerlich Besitz von ihm. Doch es lähmte ihn diesmal nicht; zu seiner Verwunderung registrierte er, daß er fast sachlich an den Zimmergenossen denken konnte. Die beunruhigende Lähmung durch den Schock war überwunden; geblieben war eine kaum weniger irritierende Leere, die sich noch nicht mit der Trauer aufgefüllt hatte, die dem Toten zukam. Er wußte, er durfte nicht länger im Bett bleiben, auch wenn Dr. Wichtel darauf bestehen sollte. Er mußte in seinen üblichen Tageslauf finden, wollte er sich nicht der Gefahr aussetzen, vielleicht von Selbstbemitleidung überwältigt zu werden. Entschlossen schlug er die Decke zurück, setzte die Füße, allerdings vorsichtig, auf den Teppich, schwankte noch ein wenig, ehe er dann die ersten Schritte riskierte. Er fühlte sich wie nach einem überstandenen kurzen, aber heftigen Fieberanfall, der ihn zwar geschwächt, doch auch die Keime einer Krankheit in ihm abgetötet hatte. Er wusch sich, paßte sich das Gebiß ein, 114
das ihm vorsorglich jemand aus dem Mund genommen und auf den Nachttisch gelegt haben mußte, als er entkleidet und ins Bett gebracht worden war, und seifte sich gründlich ein, ehe er die Rasierklinge ansetzte. Er stand lange unentschlossen vor dem Schrank, nachdem er bereits ein frisches weißes Hemd herausgeholt hatte, und entschied sich dann doch für den schwarzen Anzug. Ihn hatte er vor zehn Jahren gekauft, als sein bester Freund, Kuno, gestorben war und ihm der Stresemann, den er noch von der Hochzeit her besaß, nicht mehr paßte und auch zu schäbig geworden war. Bei der Beerdigung seiner Frau hatte er ihn zum letzten Mal getragen, den neuen schwarzen Anzug, und seitdem gehofft, er würde ihn nicht mehr anzuziehen brauchen, bis er selber im Sarg lag. Der Gedanke, daß dieses so selten getragene und nicht gerade billige Kleidungsstück auf solche Weise noch einen Zweck erfüllen würde, brachte ihm eine gewisse Befriedigung. Er war nicht religiös, hatte den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod schon bald nach der Konfirmation aufgegeben; doch war in ihm eine Vorstellung von der Würde des Sterbens geblieben, die unter anderem auch den Gedanken in sich faßte, daß man möglichst adrett von der Welt Abschied nehmen oder, wie es sich nun unvermutet gefügt hatte, einem Freund das letzte Geleit geben müsse. Er bürstete den Anzug sorgfältig aus, bürstete auch noch, als er kein Stäubchen mehr auf ihm entdeckte. Er war es Wilhelm schuldig, daß er sich feierlich und reinlich kleidete. Dann verharrte er in seinem solennen Habitus längere Zeit vor dem Spiegel, band sich eine schwarze Krawatte um und verließ sicheren Schritts sein Zimmer. Die Nachricht vom Tod Wilhelm Klausners unter zumindest äußerst merkwürdigen Umständen hatte sich im Feierabendheim „Wilhelm Christoph Hufeland“ schnell verbreitet, obwohl 115
Herr Friedrich und Frau Weskamp wie auch die übrigen Angestellten nach Kräften bemüht gewesen waren, möglicher Unruhe dadurch vorzubeugen, daß man von einem Unglücksfall sprach. Denn Herr Friedrich wußte: Menschen von einem bestimmten Alter an waren zwar aufs Sterben, auch aufs baldige Sterben eingestellt und lebten mit dieser Einstellung für gewöhnlich ruhig, hingegeben und friedlich; sie registrierten aber auch aufmerksam die Todesfälle in ihrer näheren Umgebung und identifizierten sich unwillkürlich mit dem Tod eines anderen, indem sie sich vorstellten, auch sie hätten unter den Umständen, unter denen dieser andere gestorben war, ihr Ende finden können. Bei einer solchen Bewußtseinslage mußte es sich verheerend auswirken, wenn ein gewaltsam herbeigeführter Tod, möglicherweise gar ein Mord an einem Bekannten, ruchbar wurde. Dann nämlich trat, anders als im Fall natürlichen Ablebens durch Krankheit oder Altersschwäche, worauf sie alle eingestellt waren, zur Identifikation die Angst, ein gleiches grauenvolles Schicksal zu erleiden. So hatte denn Herr Friedrich alles getan, den alltäglichen Betrieb im Heim aufrechtzuerhalten, und also erschrak er um so mehr, als er Otto Wermke die Treppe herunterkommen sah. Nicht nur die irrige Annahme, der alte Mann sei noch zu sehr geschwächt, um das Bett verlassen zu können, löste seine Bestürzung aus; mehr noch beunruhigte ihn die durch das feierliche Schwarz offen zur Schau gestellte Trauer. Dieser Anblick konnte alle vorsorglichen Bemühungen um Beibehaltung des Gleichmaßes zunichte machen. Und in der Tat schauten bereits einige Frauen und Männer, die sich auf dem Weg zum Frühstück im Speisesaal befanden, interessiert und betreten zugleich auf Otto Wermke, und einer von ihnen, der fast neunzigjährige Herr Bastian, trat sogar auf ihn zu und drückte ihm stumm die Hand, als sei er der Hauptleidtragende an Wilhelm Klausners Tod. 116
Unauffällig, wie er glaubte, machte sich Herr Friedrich an Otto Wermke heran und führte ihn in sein Büro, ehe sich noch eine allgemeine Kondolationscour bilden konnte. Er erreichte damit aber nur, daß sich vor dem Eingang zum Speisesaal sofort eine kleine Gruppe von Heimbewohnern zusammenfand, die argwöhnisch den beiden Männern hinterhersah. Hinter der hastig geschlossenen Tür machte er Otto Wermke vorsichtig Vorwürfe, weil er nicht im Bett geblieben war, bekam jedoch zur Antwort, er fühle sich wieder wohl und sehe nicht ein, wieso man ihn wie einen Kranken behandeln würde. „Und dann diese schwarze Kleidung!“ sagte Herr Friedrich tadelnd. „Finden Sie nicht, sie ist unangebracht?“ „Das bin ich Wilhelm Klausner schuldig“, entgegnete Otto Wermke mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Heimleiter alle Gegenargumente nahm. So versuchte er es denn auf anderem Weg, den alten Mann zu bewegen, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen und sich ruhig zu verhalten. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ob Sie das gestern abend ganz mitbekommen haben. Ihre Söhne sind der Ansicht, der Arzt sollte Ihnen ein Attest ausstellen, um Sie vor einer Vernehmung durch die Kriminalpolizei zu bewahren. Wenn Sie es wollen, spreche ich mit Doktor Wichtel.“ Otto Wermke erinnerte sich undeutlich an den Besuch von Walter und Peter und daran, daß vor allem Walter voller Befürchtung gewesen war, seine Verwicklung in den Todesfall könne unangenehme Folgen haben, und mit der Erinnerung stellte sich die Empörung darüber ein, daß man über seinen Kopf hinweg über ihn verhandelt hatte, als er durch den Schock und das Medikament geschwächt gewesen war. Heftig sagte er: „Ich bin nicht krank. Ich brauche also kein Attest. Und schließlich kann ich den Leuten von der Polizei einiges erzählen.“ 117
„Aber das alles haben Sie doch schon mir vorgetragen“, wandte Herr Friedrich ein, „und ich habe alles weitergegeben.“ Doch Otto Wermke bestand darauf, er müsse selber mit der Kriminalpolizei sprechen; die Details seien vielleicht entscheidend, und die könne allein er so zur Sprache bringen, daß sie voll zur Geltung kämen, und natürlich sei die Atmosphäre wichtig, der Eindruck, den er bei seinen verschiedenen Besuchen empfangen habe. Vergebens stellte ihm der Heimleiter vor Augen, wie anstrengend eine solche Prozedur für ihn wäre und wie sehr er sich vorsehen müsse, nicht von schockierenden Tatsachen, die noch ans Licht kommen könnten, überwältigt und wieder aufs Krankenlager geworfen zu werden. Otto Wermke beharrte auf seiner Meinung, es sei wichtig, daß er sage, was er wisse, und daß eine Aussage aus zweiter Hand viel weniger wert sei. So blieb denn schließlich Herrn Friedrich nichts übrig, als ihn ziehen zu lassen, ohne sein Ziel erreicht zu haben, insgeheim aber auch ein wenig erleichtert darüber, daß der Starrsinn des alten Mannes ihn davor bewahrt hatte, Helfer bei einer nicht ganz legalen Aktion zu werden. Er nahm sich jedoch vor, die Genossen von der Morduntersuchungskommission auf den bedenklich labilen Zustand Otto Wermkes nachdrücklich hinzuweisen und ihnen ans Herz zu legen, bei ihren Befragungen, wenn sie sich nicht vermeiden ließen, so schonend wie möglich vorzugehen. So geschah es denn, daß der Hauptmann Paul Mönch, der in Begleitung des Leutnants Stein zwei Stunden später an Otto Wermkes Zimmertür klopfte, von Herrn Friedrich auf eine sehr delikate Unterhaltung vorbereitet worden war. Er betrat auch wirklich Neuland; denn nie während seiner fast zwanzigjährigen Dienstzeit hatte er Recherchen in einem Altersheim vornehmen müssen. Zwar waren unter den Fällen, die man ihm zur 118
Aufklärung übertragen hatte, einige gewesen, in die ältere Bürger als Opfer oder als Zeugen verwickelt waren, in einem Fall sogar als Täter, doch hatte es sich stets um Leute gehandelt, die inmitten der Welt lebten, in Familien oder auch allein, aber jedenfalls nicht in einem Bereich, den er sich nicht anders als ein Refugium zum Schutz vor den Wechselfällen des Lebens vorstellen konnte. Und die viertelstündige Belehrung durch den Heimleiter, mit den besorgten Anweisungen, die vor geriatrischen Fachausdrücken und Beispielen aus der Praxis strotzten, waren nicht angetan, ihn sicherer zu machen. Um so angenehmer überrascht war er dann, als er sich nicht einem hinfälligen, von den Auswirkungen des Geschehens arg gezeichneten Greis gegenübersah, sondern einem Mann in einem schwarzen Anzug, der, gelassen, wie es schien, in seinem Sessel saß, ein brennendes Zigarillo in der einen, ein Glas Milch in der anderen Hand, und der ihn und seinen Kollegen ohne Umschweife zum Sitzen aufforderte und erklärte, er habe sie schon früher erwartet und freue sich nun, daß sie endlich gekommen seien. Hauptmann Mönch brauchte einige Minuten, ehe er sich auf die unerwartete Situation eingestellt und begriffen hatte, daß er die gutgemeinten Ratschläge des Herrn Friedrich weitgehend vergessen konnte. Das waren Minuten des Abtastens, auch für Otto Wermke, der dem etwa fünfundvierzigjährigen mittelgroßen, hageren Mann mit dem stark gelichteten Haar und einer dunklen Hornbrille, die für sein schmales Gesicht entschieden zu mächtig wirkte, und seinem mindestens fünfzehn Jahre jüngeren Begleiter mit der Figur eines durchtrainierten Mittelgewichtsboxers und der offensichtlich schwer zu zügelnden Stimme eines Losbudenbesitzers anfänglich mit der Unsicherheit derer begegnet war, für die der Umgang mit Verbrecherjägern alles andere als alltägliche Erfahrung bedeutet. Er hörte sich nach Vorstellung und Legitimation und ein paar Einlei119
tungsfloskeln über den hervorragenden Eindruck, den das moderne Feierabendheim auf die Besucher gemacht hatte, schweigend an, was Hauptmann Mönch noch reichlich vage, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, über die Umstände berichtete, unter denen Wilhelm Klausner aufgefunden worden war. Demnach hatte eine Polizeistreife in den frühen Morgenstunden des Dienstag – genau um fünf Uhr siebenunddreißig – eine ans Ufer getriebene Leiche entdeckt, die wahrscheinlich seit Sonntag mittag im Wasser gelegen hatte und die nach der Beschreibung in der Vermißtenanzeige und später durch den Heimleiter Friedrich als der Rentner Wilhelm Klausner identifiziert worden war. Otto Wermke dachte daran, daß er um die Zeit, da sein Zimmergenosse den Tod fand, mit Walter, Peter und den anderen beim Mittagessen gesessen hatte. Die Erinnerung löste bei ihm die erste Frage aus. „Wie ist Wilhelm überhaupt in den See hineingekommen?“ wollte er wissen. Hauptmann Mönch blickte einen Moment zweifelnd seinen Begleiter an und zog die Brauen hoch; der aber, wohl eingedenk der Belehrungen durch Herrn Friedrich, zuckte nur die Achseln und senkte den Blick angelegentlich auf sein Notizbuch. Da Otto Wermke den Eindruck gewann, daß die beiden Kriminalpolizisten genauso wie tags zuvor Herr Friedrich und Frau Weskamp drauf und dran waren, ihn mit einer nichtssagenden Floskel abzuspeisen, und da er sich nicht noch einmal damit zufriedenzugeben gedachte, drängte er auf eine präzise Antwort. „Er wird doch nicht baden gegangen sein bei dem regnerischen Wetter“, bemerkte er trocken, um die Männer aus ihrer Reserve zu locken. „Und außerdem konnte er nicht schwimmen, das weiß ich.“ „Herr Klausner war schon tot, als man ihn ins Wasser warf,“ 120
erklärte Hauptmann Mönch nach neuerlichem Zögern und einem abermaligen Blickwechsel mit seinem Kollegen. „Das hat der Lungentest durch unsere Gerichtsmediziner ergeben.“ Der Lungentest also, dachte Otto Wermke. Er hatte durch seine Kriminalromanlektüre einen ungefähren Begriff davon, was das bedeutete: Man konnte durch irgendwelche gerichtsmedizinischen Untersuchungen der Lunge eines Toten nachweisen, ob er noch gelebt hatte, als er ins Wasser geriet. Aber das kann doch wohl nicht alles sein, was man wußte, überlegte er und so fragte er weiter: „Und woran ist er gestorben? Darf ich das auch wissen?“ Auch wenn er fürchtete, die Sache womöglich zu forsch angegangen zu sein, und mit banger Erwartung der Antwort entgegensah, zog er es dennoch vor, auf der Stelle die Wahrheit zu erfahren, als weiterhin schonend behandelt zu werden. „Nun ja…“ Hauptmann Mönch besah sich seine Fingernägel. „Er ist erwürgt worden“, trompetete Leutnant Stein heraus, dem das Versteckspiel anscheinend zu dumm geworden war. „Man hat deutlich Male an seinem Hals festgestellt.“ Für diese rücksichtslose Offenheit erntete er einen tadelnden Blick des Hauptmanns, dem aber gleichzeitig wohler zu sein schien, daß die erste und, wie er dachte, gefährlichste Klippe in der Unterhaltung umschifft war. Dennoch wagte er vorerst nicht, den alten Mann anzusehen. „Erwürgt…“, flüsterte Otto Wermke, „deutliche Würgemale am Hals…“ Doch dann war seine Stimme plötzlich laut und klar, als er sagte: „Einen alten Menschen umbringen, das ist dasselbe, wie einen Armen berauben.“ Das klang nicht pathetisch oder sentimental, war vielmehr leidenschaftslos vorgebracht worden, und Hauptmann Mönch horchte auf. „So ist es“, erwiderte er unwillkürlich und nickte. Es war ihm, als sei dies das erste Wort von Belang, seit er die Untersuchung 121
des Todes von Wilhelm Klausner übernommen hatte. Da sprach einer aus, was er schon immer gefühlt, was er aber nie so präzis hatte in Worte bringen können: den Ekel, die Abscheu vor einem Täter, der das Leben eines Menschen ausgelöscht hat, dem nicht mehr viel Zeit zu leben geblieben war. Gewiß, jeder Mord erregte in ihm Entsetzen und Verachtung, und er hatte sich in all den Jahren nicht an den abstumpfenden Effekt der Routine verloren. Aber ein Leben willentlich zu beenden, das nur noch mit der Hoffnung auf eine kurze Frist befrachtet war und sich womöglich nur noch durch Pflege und Beistand, jedenfalls aber durch freundliche und verständnisvolle Zuwendung aufrechterhielt, erschien ihm so Verächtlich wie sonst nur der Mord an einem Kind, das ja auch ganz auf die Sorge Seiner Umwelt angewiesen war. In den Jahren seines Dienstes bei der Kriminalpolizei, auch schon, als er noch in dem Ressort gearbeitet hatte, das sich mit Eigentumsdelikten befaßte, hatte er die Vergehen an alten Leuten immer wieder als besonders verwerflich empfunden. Und nun saß da ein Mann, selber alt und sicherlich selber zuwendungsbedürftig, rauchte und nippte an seinem Glas Milch und brachte sein eigenes Empfinden auf die griffige Formulierung: Einen alten Menschen umbringen, das ist dasselbe, wie einen Armen berauben. Hauptmann Mönch lächelte Otto Wermke ermutigend zu. „Wir werden den Täter schon finden“, sagte er. „Oder die Täter?“ Otto Wermke sorgte dafür, daß der Kriminalist Gelegenheit zum Verwundern erhielt. „Haben Sie vielleicht Anhaltspunkte, daß es mehrere gewesen sein könnten?“ fragte er. „Aus der Aussage von Herrn Friedrich geht hervor, daß Sie sich bereits gestern und vorgestern nach Herrn Klausner umgesehen haben. Vielleicht sind Sie dadurch unseren Erkenntnissen ein Stück voraus. Jedenfalls 122
können Ihre Auskünfte für uns wichtig sein.“ „Das dachte ich mir schon“, sagte Otto Wermke nicht ohne Stolz, verschwieg aber, daß man ihn dazu hatte bewegen wollen, auf eine Aussage zu verzichten. „Ich habe mich gründlich umgesehen. Allerdings wußte ich nicht, daß einmal von Bedeutung sein könnte, was ich beobachtet und gehört habe“, fügte er bescheiden hinzu. „Ich bin ja nur auf die Tour gegangen, weil ich die Wahrheit über Wilhelms Aufenthalt nicht. preisgeben wollte und weil ich gern verhindert hätte, daß er von der Polizei gesucht wird.“ Das war neu für Hauptmann Mönch und erregte sogleich seine äußerste Aufmerksamkeit, wodurch sein langes, hageres Gesicht noch länger und hagerer, ja geradezu asketisch wirkte und verständlich wurde, warum ihn seine Kollegen in Anspielung auf seinen Familiennamen oft „Bruder Paulus“ nannten. „Dann erzählen Sie uns mal alles von Anfang an und so ausführlich wie möglich.“ Der geschäftsmäßige Ton, in dem er das sagte, ließ nichts mehr von der Sympathie erahnen, die er dem alten Mann wegen seiner intelligenten und mitfühlenden Bemerkung entgegengebracht hatte. Jetzt war er ganz der von Erwartung auf verwertbare Auskünfte beherrschte Kriminalist. Und Otto Wermke erzählte von Anfang an, nämlich von dem Freitag an, da ihm Wilhelm Klausner den Brief seiner Tochter, und das Bild von Heidemarie Böhm gezeigt und davon gesprochen hatte, daß er eventuell das Heim verlassen und sich mit der Frau zusammentun werde. Er erzählte so fließend und flott, daß der Leutnant Stein mit seinen Notizen kaum nachkam und mehrere Male mit seiner Stentorstimme dazwischen fragte: „Wie war das?“ oder „Wiederholen Sie das bitte noch einmal!“ Hauptmann Mönch beschränkte sich zunächst aufs Zuhören, wobei er registrierte, daß Otto Wermke nicht nur der genaue Beobachter war, als der er sich zuvor gerühmt hatte, sondern 123
auch viel, vielleicht zu viel Anteilnahme und Parteilichkeit in seinen Bericht legte. Er ließ nämlich keinen Zweifel daran, daß er Dagmar Günther für eine in allem integere Persönlichkeit hielt, auch wenn sie ein recht seltsames Leben mit ihrem Gefährten führte und kein Hehl daraus gemacht hatte, daß ihr das Geld des Vaters sehr zupaß kam. Und was den möglicherweise handgreiflichen Streit zwischen Wilhelm und seinem Neffen anging, so zeigte sich deutlich, daß er Horst Hankes Erregung durchaus Verständnis entgegenbrachte, nach all dem Unerfreulichen, das vorausgegangen war, daß er ihn dennoch oder gerade deswegen gleichwohl für den möglichen Täter hielt, zumal wenn man sein unberechenbares Temperament in Betracht zog. Sein größtes Mißtrauen hingegen entlud sich auf Heidemarie Böhm, die wahrscheinlich seit zwei Jahren seinen Freund hingehalten und in ihm die Hoffnung auf ein Zusammenleben genährt hatte und die dann ihm, Otto Wermke, gegenüber bestritt, daß überhaupt je so etwas wie ein intimes Verhältnis zwischen ihr und Wilhelm bestanden habe. Auf sie und ihren Mann, diesen geschniegelten Burschen mit der Goldkette am Arm und dem viel zu wachen Blick, wies er die Kriminalisten mit Nachdruck hin. Trotz dieser von vornherein wertenden Darstellung war Hauptmann Mönch dankbar für den Bericht, vor allem der frappierenden Fülle der Details wegen, die er und seine Leute nur nach komplizierten und wahrscheinlich auch langwierigen Untersuchungen herausgefunden hätten. Nahm man nur die Querelen um die Erbschaft: Wie lange wohl hätte er herumfragen müssen, ehe er auf diesen Sachverhalt gestoßen wäre, da wohl keiner der Leute, die mit Wilhelm Klausners Tod in Zusammenhang zu bringen waren, ein Interesse daran haben konnte, sich völlig zu offenbaren. Man hätte vorerst nur mit einer Leiche dagestanden, von der man nicht viel mehr als die 124
Personalien und den ziemlich genauen Zeitpunkt des Todes wußte. Oder wenn man auch nur den simplen Umstand bedachte, daß der Ermordete eine Tochter hatte: Wie lange würde es wohl gedauert haben, bis man das in Erfahrung gebracht hätte? War doch hier, im Feierabendheim, so gut wie nichts über sie bekannt. Und wie schwierig wäre es schließlich zu ermitteln gewesen, daß sie der Vater nicht nur einmal, sondern am Abend wiederum aufgesucht und bei ihr übernachtet hatte und daß sie Geld von ihm bekommen hatte. Nein, es war schon ein glücklicher Zufall, daß sich ein alter Mann auf den Weg gemacht hatte, seinen Freund zu suchen, und nicht müde geworden war, nach ihm zu forschen, als er ihn nicht auf Anhieb fand. Da konnte man schon in Kauf nehmen, daß dieser Mann seine eigene Meinung über Täter und Motiv entwickelte. Froh, sich endlich alles von der Seele geredet zu haben, ließ Otto Wermke sich in den Sessel zurückfallen, nachdem er den Polizisten noch einmal ans Herz gelegt hatte, ihr Augenmerk vor allem auf die Böhms zu richten. Das Zigarillo war erloschen, und das halbgeleerte Milchglas zitterte leicht in seiner Hand. Er wartete darauf, zu erfahren, welches Echo sein Bericht bei den Kriminalisten hervorrufen würde. Der Leutnant zeigte lediglich Erleichterung, daß der Monolog sein Ende gefunden hatte, blätterte in den Notizen und zündete sich dann eine Zigarette an, um sich von der Strapaze des Mitschreibens zu erholen. Hauptmann Mönch schwieg zunächst, hielt die Augen gesenkt und hatte die Fingerspitzen gegeneinandergelegt, vermittelte zu Otto Wermkes Enttäuschung überhaupt den Eindruck, als sei die Flut von Wörtern spurlos an ihm vorübergerauscht. Schließlich aber kam Leben in den Mann. Er setzte sich aufrecht, räusperte sich wie ein Referent, der eine längere Erklärung abgeben will, und sagte dann doch nur: „Ich danke Ihnen 125
sehr, Herr Wermke. Sie haben uns wirklich geholfen.“ Damit schien für ihn die Begegnung zu einem Ende gekommen zu sein, jedenfalls was den Teil anging, zu dem Otto Wermke mit Auskünften beitragen konnte. Er stand auf, fragte, welcher der beiden Schränke der von Wilhelm Klausner sei, und machte sich daran, ihn zu durchsuchen, nachdem er seinen Begleiter mit einer halblaut erteilten Anweisung, die Otto Wermke nicht verstehen konnte, aus dem Raum geschickt hatte, vielleicht zum Telefon in den Verwaltungsräumen. Um den alten Mann kümmerte er sich nicht mehr. Dem behagte das nicht. Er hatte darauf gehofft, die Kriminalisten würden sich zu einer Unterhaltung bereitfinden, in deren Verlauf er einiges von dem erfahren konnte, was die Polizei schon an Arbeit geleistet und an Erkenntnissen gewonnen hatte. Nicht, daß er neugierig gewesen wäre oder etwa sensationslüstern; dazu war er noch immer zu benommen von dem schrecklichen Ereignis. Aber er erachtete es als sein Recht, soweit wie möglich eingeweiht zu werden oder doch wenigstens zu erfahren, ob seine Vermutung bezüglich des Täters oder vielmehr der Täter sich mit der Meinung des Hauptmanns deckte. Mißmutig beobachtete er eine Weile, wie Hauptmann Mönch sich wortlos und systematisch an dem Schrank zu schaffen machte, den er selber in der Sonntagnacht mit schlechtem Gewissen und ohne Erfolg durchstöbert hatte, wie er Kleidungsstücke durchsuchte, sich Papiere ansah, in den alten Taschenkalendern herumblätterte und einiges von dem Gesichteten aussortierte, wohl um es später mitzunehmen. Dann aber konnte er seine Enttäuschung und seine Ungeduld nicht mehr zügeln. Es hielt ihn nicht mehr in seinem Sessel. Mitten im Raum stehend, fragte er: „Was halten Sie eigentlich von meinen Vermutungen? Vielleicht sind Sie anderer Ansicht, und ich möchte doch…“ 126
„Mit Vermutungen kommt man gewöhnlich nicht weit“, entgegnete der Hauptmann, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. „Am Anfang einer Untersuchung muß man sich sogar vor ihnen hüten. Man kann sich allzu leicht in ein Vorurteil verheddern, das einen in die falsche Richtung führt.“ Keine Antwort ist auch eine Antwort, dachte Otto Wermke verdrossen, blieb aber hartnäckig. „Ich glaube nicht, daß ich voreingenommen bin“, sagte er. „Sie müßten mal mit der Heidemarie Böhm sprechen oder mit ihrem Mann, dann würden Sie…“ „Das werden wir tun.“ Es war offensichtlich, daß Hauptmann Mönch sich in seiner Arbeit gestört fühlte. „Ich meine: Die hat mich doch angelogen. Das fühlt doch ein Blinder mit seinem Stock.“ „Können Sie das beweisen?“ „Ich kenne Menschen.“ „Ich auch, und gerade darum weiß ich, daß ein erster Eindruck trügen kann.“ „Aber hier paßt doch alles zusammen: Was Wilhelm und was Frau Pachulke mir gesagt haben, die plumpe Art, wie mich Frau Böhm hinters Licht zu führen versucht hat und wie dieser Mann mit mir umgegangen ist, und dann der See, in den sie Wilhelm geworfen haben.“ Der Hauptmann sah von dem Kalender auf, in dem er gerade gelesen hatte. „Mit dem See“, sagte er, „ist das eine seltsame Sache. Wir haben die Leiche nämlich nicht aus dem Friedrichsluster Gewässer gefischt, sondern aus dem Baggerloch bei der Siedlung ,Vogelsang’.“ Weniger belustigt als besorgt über den Effekt, den er hervorgerufen hatte, beobachtete er, wie sich das Gesicht des alten Mannes jäh entfärbte. „Aus dem Baggerloch…“ Otto Wermke ließ sich schwer wieder in den Sessel fallen. 127
„Sie sehen, man muß vorsichtig sein mit Vermutungen.“ Es dauerte Minuten, ehe sich in Otto Wermkes Kopf wieder halbwegs Ordnung hergestellt hatte. Also war doch Horst Hanke der Mörder? Die Stupidität und die Brutalität, eine solche Tat zu begehen, besaß er sicherlich, und er hatte ja auch durch seine Vorstrafen bewiesen, daß es ihm nichts ausmachte, einen Menschen übel zuzurichten… Aber Wilhelm war doch bereits am Sonnabend bei seiner Schwester gewesen, die Todeszeit wurde hingegen mit Sonntag nachmittag angegeben… „Ist denn Wilhelm am Sonntag noch einmal zu den Hankes gegangen, nachdem er seine Tochter verlassen hat?“ fragte er, als er sich von der Nachricht einigermaßen erholt hatte. „Das eben ist das Problem“, antwortete Hauptmann Mönch, der sich wieder der Sichtung der Habseligkeiten des Toten zugewandt hatte. „Wir haben gestern schon, nachdem Herr Friedrich berichtete, was er von Ihnen erfahren hatte, Horst Hanke befragt. Der sagt, sein Onkel sei nur am Sonnabend bei ihm gewesen.“ „Hat er zugegeben, daß es zu einem Streit gekommen ist?“ „Das schon. Aber er hat die Sache sehr heruntergespielt. Es habe sich lediglich um einen Wortwechsel gehandelt, sagte er. Jetzt wissen wir aber von Ihnen, daß es möglicherweise mehr war als nur ein Streit mit Worten.“ „Er war betrunken, als er mir von dem Vorfall erzählte. Vielleicht hat er nur renommiert.“ Otto Wermke sträubte sich noch immer dagegen, seinen Verdacht gegen Heidemarie Böhm und ihren Mann einfach fahrenzulassen und seine Überlegungen ganz auf diesen Horst Hanke zu konzentrieren, obwohl er ihn als primitiven Schlägertyp in äußerst unangenehmer Erinnerung hatte. Welchen Vorteil konnte ihm Wilhelms Tod schon bringen? Schließlich hatte er einen Prozeß anstrengen wollen, um an das Erbe zu kommen, wie wenig aussichtsreich ein sol128
ches Unterfangen auch immer sein mochte. Durch Wilhelms Tod aber fiel das Vermögen an Dagmar Günther, wenn testamentarisch nicht anders entschieden war, und für ihn würde es noch schwerer werden, sein vermeintliches Recht zu erlangen. „Ich halte nicht viel davon“, sagte er, „daß Horst Hanke seinen Onkel umgebracht haben soll.“ Und er teilte Hauptmann Mönch seine Überlegungen mit, in denen nach wie vor Heidemarie Böhm und ihr Mann eine entscheidende und keineswegs harmlose Rolle spielten, die Rolle nämlich von skrupellosen Menschen, die sich kein Gewissen daraus machten, einen alten Mann zu töten, um sich in den Besitz seines Vermögens zu bringen. Der Kriminalist hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, wenn auch jetzt schon mit leichten Anzeichen von Ungeduld. Immer wieder begegnete er bei der Aufklärungsarbeit Leuten, die ihm aus meist ehrbaren Motiven Ratschläge geben zu müssen glaubten, und sosehr er sich auch bewußt war, daß eine Recherche ohne die Unterstützung von Bürgern oft nicht erfolgreich sein oder sich doch jedenfalls über Gebühr in die Länge ziehen konnte, so wenig war er geneigt, seine Handlungen durch solche Ratschläge bestimmen zu lassen. Gewöhnlich reagierte er auf solchen nach Mitarbeit drängenden Eifer mit Gelassenheit und sortierte aus, was von Nutzen sein konnte. Und meist hatte er Erfolg, wenn er diesen Amateurdetektiven freundlich dankend für ihr Interesse, aber bestimmt erklärte, er und seine Kollegen müßten ihre Arbeit selber tun, eine Arbeit, die gelernt sein wollte wie jede andere auch und die der Erfahrung wie der Unterstützung durch Spezialwissen-schaften dringend bedurfte. Der alte Mann aber, der ihm jetzt seine Vermutungen wortreich und mit vor Eifer glühenden Wangen vortrug, schien ihm einer von den Hartnäckigen zu sein, die ihre Meinung unbedingt 129
durchsetzen wollten. Dabei büßte er beileibe nichts von seiner Liebenswürdigkeit ein, und sein Engagement wirkte echt und war vom Schreck über den Tod seines Freundes und einer so gar nicht lauten, aber doch intensiven Entrüstung getragen. Dennoch: Bei allem Verständnis für diese Reaktionen war Hauptmann Mönch klar, daß er Otto Wermke in seine Schranken verweisen mußte, wollte er nicht riskieren, für den Rest der Aufklärungsarbeit einen ungebetenen Ratgeber zu haben. „Warum versteifen Sie sich auf die Erbschaft von Herrn Klausner?“ fragte er, ganz auf Distanz bedacht, nachdem Otto Wermke zu Ende gekommen war. „Erwürgen deutet, nach meiner Erfahrung, oft auf eine Tat im Affekt hin. Und die wäre doch eher Horst Hanke zuzutrauen. Warten wir also ab, was die weiteren Ermittlungen ergeben.“ Dann entnahm er seiner Brieftasche eine Visitenkarte und reichte sie Otto Wermke. „Darauf steht mein dienstlicher Telefonanschluß. Rufen Sie an, falls Ihnen noch etwas einfällt, das Sie vielleicht vergessen haben. Oder wenn Sie noch die eine oder die andere Begegnung haben sollten.“ Otto Wermke fühlte sich durch diese karge Antwort abgewiesen, und das verstimmte ihn um so mehr, als er am Anfang das Gefühl gehabt hatte, der Kriminalist sei ihm freundlich gesonnen. Die bittere Vorstellung, der andere habe ihn nur als einen Zuträger von Informationen, ansonsten aber als alten, zu nichts anderem nützlichen Menschen angesehen, drohte sich in ihm festzusetzen. Er beschloß, die Unterhaltung, derer Hauptmann Mönch anscheinend ohnehin überdrüssig geworden war, nicht wieder aufzunehmen. Er steckte die Karte in die Jackentasche und ging wortlos aus dem Zimmer.
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8 Otto Wermke begab sich, entgegen seiner Regel, sich erst am späten Nachmittag vor die beiden Biere und das Glas Korn zu setzen, geradewegs in den „Schusterjungen“, wurde vom Kellner mit einem erstaunten „Nanu, schon so früh?“ begrüßt und nahm an dem angestammten Tisch neben dem Windfang Platz. Als der junge Mann das Bier und den Korn vor ihn hinstellte, schien er zum ersten Mal den feierlichen Anzug zu bemerken. Er verkniff sich aber eine diesbezügliche Frage und erkundigte sich auch nicht danach, wo denn der andere alte Herr heute bleibe. Der Ausdruck von Geistesabwesenheit, der auf dem Gesicht Otto Wermkes lag, ließ ihn wohl befürchten, da sei ein Trauerfall in der Familie und er würde eine schreckliche Jammerlitanei auslösen, wenn er ihn anspreche. So saß denn Otto Wermke allein und unbelästigt am Tisch, beobachtete das schon am Vormittag lebhafte Kommen und Gehen, ärgerte sich über einen Trupp Bauarbeiter, die sich bereits vor der Mittagspause vollaufen ließen und lärmten, und stellte plötzlich verwundert fest, daß er während der ganzen Zeit, die er hier saß, keinen Gedanken an Wilhelm Klausner verschwendet hatte. Vielleicht, dachte er, hat mich die dauernde Rederei über sein gräßliches Ende ganz stumpf gemacht. Aber er verbot sich alle weitere Spekulation über den Tod seines Freundes. Schließlich hatte ihm dieser Hauptmann Mönch zu verstehen gegeben, wie gering sein Talent war, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, und wie leicht er sich durch den ersten Eindruck von einem Menschen in seinem Urteilen und Schlußfolgern bestimmen ließ. Sollten doch die kriminalistischen Profis nach ihren bewährten Methoden vorgehen. Für ihn, beschloß er, sollte die Mordgeschichte abgetan sein. Was ihm blieb, war, um seinen Freund zu trauern und dafür zu sorgen, daß sich die Trauer endlich von dem Schrecken über den Mord frei machte. 131
Das dachte er auch noch, als er, ohne das Bier ausgetrunken und den Korn auch nur angerührt zu haben, den „Schusterjungen“ verließ. Er war müde geworden über dem stupiden Herumsitzen in der Kneipe und ging, nun wirklich wie ein alter, kraftloser Mann, auf das Heim zu. Ohne sich zu entkleiden, legte er sich auf sein Bett und schlief sofort ein, verschlief das Mittagessen und merkte auch nicht, daß Herr Friedrich die Tür zu seinem Zimmer öffnete und sacht wieder schloß, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß keine Ursache zur Beunruhigung gegeben war. Als er wach wurde, war es bereits vier Uhr, Er verspürte einen Hunger wie schon lange nicht mehr, und das brachte ihm die alte Weisheit in den Sinn, nach der Leidtragende zuweilen einen beachtlichen Appetit entwickeln und dadurch den sprichwörtlichen Kummerspeck ansetzen sollen. Da vor sechs die Abendmahlzeit nicht serviert werden würde, er aber nicht so lange warten wollte, entschied er sich dafür, in der kleinen Konditorei um die Ecke, wo viele Frauen aus dem Heim die Nachmittage bei nicht enden wollenden Gesprächen zubrachten, sich mit einem Kännchen Kaffee und einem Stück Torte zu versorgen, so wenig verlockend er auch die Vorstellung fand, er könnte in eine Unterhaltung verwickelt werden. Bei Verlassen des Hauses wurde er von Frau Weskamp angesprochen, die ihm mitteilte, eine junge Frau habe ihn besuchen wollen, sei aber von ihr – übrigens im Einverständnis mit Herrn Friedrich – abgewiesen worden. Obwohl sie, entgegen ihrer sonst eher autoritativen Art, ruhig und freundlich zu ihm sprach und ihm zu verstehen gab, daß man es für besser gehalten habe, ihn bei seiner Gemütsverfassung vor einer womöglich aufregenden Begegnung zu bewahren, ärgerte er sich, weil man über ihn verfüget hatte. Indes drängte er die Bitterkeit, die darüber in ihm aufkeimen wollte, mit der Überlegung zurück, 132
daß man es gut mit ihm meinte. Einen Namen, erfuhr er noch, habe die junge Frau nicht genannt. „Sie will noch einmal wiederkommen“, sagte Frau Weskamp. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf…“ „Ich gehe in das kleine Cafe um die Ecke.“ Er hatte keine Lust, schon wieder bevormundet zu werden. „Schicken Sie sie bitte dorthin, wenn ich bis dahin noch nicht zurück bin.“ Unterwegs überlegte er, wer die junge Frau gewesen sein könnte. Als erste fiel ihm seltsamerweise seine Schwiegertochter Margret ein, die im Heim nicht bekannt war, weil sie ihn noch nie besucht hatte. Womöglich sollte sie ihn überreden, für die nächsten Tage in das von aller Aufregung abgeschirmte schöne Haus am Stadtrand umzuziehen. Doch dann sagte er sich: Die hätte sich nie abwimmeln lassen, die setzt ihren Willen immer durch. Aber wer denn sonst? Er kannte keine jungen Frauen, die ihn besuchen würden. Vielleicht Dagmar Günther? Aber was konnte die von ihm wollen? Er erinnerte sich, sie beim Abschied in der Alten Kirchstraße eingeladen zu haben. Das hatte er jedoch in der Annahme getan, daß ihr Vater wieder ins Heim zurückkehren würde. Warum also sollte sie ihn jetzt aufsuchen? Wußte sie am Ende noch nichts von Wilhelms Tod und dachte, sie könne ihn im Heim antreffen? Wenig wahrscheinlich, daß sich die Polizei noch nicht bei ihr gemeldet haben sollte, nach allem, was er dem Hauptmann Mönch berichtet hatte. Der Gedanke, sie könnte - wenn sie es gewesen sein sollte, die nach ihm gefragt hatte -Trost bei ihm suchen wollen, machte ihn unsicher. Wie sollte er trösten, wenn er selber untröstlich war? Fast alle Tische waren besetzt, als er das Cafe betrat und mindestens ein Dutzend Augenpaare von Frauen auf sich gerichtet sah, die ihm neugierig, auch verwundert oder mißtrauisch entgegenblickten, und er bereute für einen Moment, hierher gegangen zu sein. Doch ein Zurück gab 133
es für ihn nicht, wollte er nicht riskieren, für einen zaghaften Trottel oder für einen hochnäsigen frauenfeindlichen Kerl gehalten zu werden. Schon reckten sich Hälse erwartungsvoll, neigten Köpfe sich einander zu, wurde sein Erscheinen und sein Aufzug flüsternd kommentiert. Nickend nach rechts und links, steuerte er ein noch leeres Tischchen neben dem Kuchenbüfett an und hoffte, man werde ihn allein lassen. Kaum jedoch hatte er seine Bestellung aufgegeben und das Stück Schwarzwälder Kirschtorte vor sich stehen, erhob sich Frau Pachulke von ihrem Stuhl an einem Tisch in der anderen Ecke, ging, unbekümmert um die gerunzelten Stirnen und gespitzten Münder rings, durch das Lokal und setzte sich zu ihm. Sie begann sofort, in ihrer naiven und direkten Art auf ihn einzureden. „Der arme Wilhelm Klausner“, fing sie munter an, als gelte es ein fröhliches Ereignis zu bereden. Und dann plauderte sie drauflos, erklärte mit weiser Miene, daß niemand gegen so ein Unglück gefeit sei, weshalb man sich natürlich vorsehen müsse, zu nahe am Wasser zu spazieren, wenn der Grund am Ufer schlüpfrig sei. Andererseits aber solle man sich durch Wilhelm Klausners Mißgeschick auch nicht abschrecken lassen, die zumal für das höhere Alter äußerst wichtige regelmäßige Bewegung in frischer Luft zu absolvieren. Sie erinnerte sich an einen Jugendfreund, der vor vierzig Jahren beim Baden ertrunken war, schilderte dann umständlich, wie sie selbst im vorletzten Winter bei Glatteis ausgerutscht war und sich das Schlüsselbein gebrochen hatte, flocht ein, es hätte genausogut das Genick gewesen sein können, kam dann darauf zu sprechen, ein wie armes und hilfloses Wesen doch ein älter Mensch sei, und widersprach im nächsten Augenblick dieser Klage mit der Feststellung, Wilhelm Klausner wäre doch immerhin ein noch sehr rüstiger Mann gewesen, dem man sein Alter nicht angese134
hen habe. Sie hätte seinerzeit die Tochter gut verstehen können, daß sie sich seiner Werbung gegenüber gar nicht so ablehnend verhalten habe. Dabei glänzten ihre Augen, und ihre Gesichtshaut färbte sich noch um einige Grad kräftiger rosa. Otto Wermke fühlte sich durch dieses Gerede belästigt, das ihm an Interessantem nicht mehr offenbarte, als daß es Herrn Friedrich gelungen war, die wahre Todesursache zu verschleiern, und er war versucht, Frau Pachulke aufzuklären: Wilhelm Klausner ist ermordet worden, liebe Frau! Aber er hielt sich dann doch zurück, weil er einsah, daß er mit einer solchen Einmischung nichts weiter bewirken würde, als sie und alle anderen Heimbewohner aus der Fassung zu bringen. Also wappnete er sich mit Geduld, und nur, als Frau Pachulke noch einmal auf Wilhelms Werbung um Heidemarie Böhm zu sprechen kam, War er nahe daran, aus der Rolle des ergebenen Zuhörers zu fallen. Immerhin hatte sie mit der Erwähnung ihrer Tochter an eine schmerzhafte Wunde gerührt, die auch nicht dadurch betäubt worden war, daß Hauptmann Mönch ihm eröffnet hatte, die Leiche sei in dem Baggersee gefunden worden und nicht in dem Gewässer bei Friedrichslust. Was soll’s? dachte er, laß die Frau doch reden, und er stach Stück um Stück von seiner Torte ab und spülte die Bissen mit Kaffee hinunter. Erst als Frau Pachulke einflocht, ihre Tochter habe ihr nach dem Mittagessen einen kurzen Besuch abgestattet, legte er die Kuchengabel neben den Teller und hörte auf zu kauen. „Das war wirklich eine nette Überraschung für mich“, sagte sie, „denn sie kommt ja so selten, meine Kleine, höchstens einmal in einem halben Jahr. Natürlich wußte sie noch nichts von dem traurigen Ereignis, und sie war richtig erschüttert, als sie von mir hörte, daß der arme Wilhelm Klausner verunglückt ist.“ 135
„Sie wußte noch nichts?“ Es war ihm schwer begreiflich, daß bis zum Mittag noch niemand von der Polizei in Friedrichslust gewesen sein sollte, um Heidemarie Böhm und ihren Mann zu befragen. Oder war dieser Mönch wirklich so verbohrt, die Böhms gar nicht erst in Betracht zu ziehen? „Ich sag Ihnen doch, sie war richtiggehend erschüttert, als sie es erfuhr.“ Sie sah ihn tadelnd an, als begreife sie nicht, daß er an ihren Worten zweifeln konnte. „Aber ich hab sie beruhigen können. Mein Gott, wir leben doch schließlich alle auf Abruf, und da sind ein paar Tage oder Monate mehr oder weniger nicht von Belang. Wenn einer verunglückt, dann war’s ihm eben vorherbestimmt. Das hab ich ihr gesagt, und das scheint sie denn auch beruhigt zu haben. Sie hat richtig wieder Farbe bekommen, nachdem sie ganz blaß, geworden war, das arme Kind. Aber so geht das eben mit den jungen Leuten. Die trösten sich schnell.“ „Ganz blaß ist sie geworden, hat sich dann aber wieder beruhigt?“ Otto Wermke fand das gar nicht beruhigend. „Na ja, ganz beruhigt auch wieder nicht.“ Frau Pachulke lächelte nachsichtig. „Aber, mein Gott, sie hat ja auch genug Scherereien mit dem Böhm. Der ist doch wie der Teufel hinter ihr her. ,Mutti’, hat sie mir heute gesagt – sie nennt mich nämlich noch immer Mutti – ist das nicht nett? Also: ,Mutti, du glaubst nicht, wie mir der Böhm zusetzt, ich soll ihn wieder heiraten. Und dabei weiß er doch, daß es jetzt keinen Zweck mehr hat, sich um mich zu bemühen.’ Ich kann mir ja das Ganze nur aus gelegentlichen Äußerungen zusammenreimen: Der Böhm scheint wirklich keine Chance mehr bei meiner Heidemarie zu haben. Ich meine: Es geht mich nichts an, aber als Mutter kümmert man sich doch immer noch um sein Kind, und wenn es auch…“ Hört das denn nie auf? dachte Otto Wermke. Dieses Gequat136
sche! Für einen flüchtigen Augenblick, während Frau Pachulke weiterplauderte, stellte er sich vor, er wäre mit ihr verheiratet und schutzlos diesem Wasserfall von Wörtern ausgesetzt, Tag für Tag, und er bekam eine Gänsehaut. „… Jedenfalls scheint der Neue ein anderes Kaliber zu sein als der Böhm, und ganz so neu ist er ja wohl auch nicht mehr. Ein so primitiver Kerl wie der Böhm… Also mein Fall ist er nie gewesen. Und wie verwahrlost der immer aussah… Hoffentlich hat meine Heidemarie diesmal mehr Glück, ich wünsch es ihr so sehr. Eine Mutter…“ „Soll ich Ihnen ein Stück Torte bestellen?“ fragte Otto Wermke gereizt. „Heißt das, ich soll mit dem Erzählen aufhören?“ Frau Pachulke zog die Brauen hoch und sah sehr abweisend aus. „Nein, nein.“ Daß sie ganz aufhörte, wollte er nun wirklich nicht. Nur das Drumherumreden ging ihm auf die Nerven, und er nahm sich vor, das Gespräch wieder aufs Wichtige zu lenken, und fragte: „Sie haben ihr also erzählt, daß Wilhelm Klausner verunglückt ist?“ „Das habe ich doch schon gesagt.“ Frau Pachulke schüttelte mißbilligend den Kopf. „Und sie hat das auch geglaubt?“ Otto Wermke merkte sofort, daß er zu weit gegangen war, und er korrigierte sich. „Ich meine: Hat sie danach gefragt, wann und wo er ertrunken ist?“ „Nein. Warum sollte sie auch?“ Die Fragen verwirrten Frau Pachulke. „Es genügt doch wohl, wenn sie weiß, daß er tot ist. Oder nicht? Und außerdem weiß ich schließlich auch nicht das Genaueste.“ Otto Wermke nickte ergeben. „Ja, natürlich.“ Er wünschte, die Unterhaltung läge hinter ihm. Etwas Vernünftiges war ja doch nicht von der alten Schwätzerin zu erfahren. Dennoch konnte er sich die Frage nicht verkneifen: „Hat Ihre Tochter auch nach 137
mir gefragt?“ „Nach Ihnen?“ Sie sah ihn an, als zweifle sie an seinem Verstand. „Kennen Sie denn überhaupt meine Tochter? Und warum interessieren Sie sich so sehr für sie?“ Ja, warum interessierte er sich so sehr für sie? Noch vor ein paar Stunden hatte er beschlossen, sich aus der Untersuchung herauszuhalten, und jetzt war er schon wieder dabei, seine Fühler auszustrecken und unruhig zu werden, und das nur, weil Frau Pachulkes Tochter angeblich noch nichts von Wilhelms Tod gewußt hatte. Aber warum war sie denn heute, ausgerechnet heute bei ihrer Mutter gewesen, da sie doch sonst so selten zu ihr kam? Er versuchte, diese Frage und alles, was sich aus ihr ergab, von sich abzuwehren, es gelang ihm nicht. Schon drängte sich die nächste Frage auf: Warum eigentlich war sie erschüttert? Er hatte noch den Satz aus ihrem Gespräch im Ohr: „… der ist doch nicht mehr richtig im Kopf, der wird doch plempem, wenn der nur eine stramme Brust sieht.“ Das klang gar nicht danach, als könne auf einer solchen Einstellung Erschütterung gedeihen… Der Gedanke, daß der Hauptmann den Böhms vielleicht nicht die nötige Aufmerksamkeit widmete, beschwerte ihn. Aber er mußte sich ja zügeln. „Sie haben recht“, sagte er gegen seine Überzeugung, „es geht mich eigentlich nichts an, was Sie mit Ihrer Tochter bereden. Ich bin eben nur ein neugieriger alter Mann. Das ist alles.“ „Nett von Ihnen, daß Sie es einsehen“, stellte Frau Pachulke befriedigt fest. Ihre kleine Empörung verflüchtigte sich augenblicklich, und sie fuhr fort, Betrachtungen über Wilhelm Klausners Tod und den Tod im allgemeinen anzustellen, verlor sich aber bald in Erörterungen über das Altwerden und die damit verbundene Gefahr, zu vereinsamen. Otto Wermke aber, der sonst solch schweifenden Gesprächen gegenüber nicht ablehnend war, hegte bald nur noch den einen Wunsch: Sie 138
möchte an ihren Tisch zurückgehen. Sie aber merkte nichts von seiner Ungeduld, plapperte munter weiter, und erst als sie die junge Frau in einem offenstehenden Parka auf den Tisch zukommen sah, riß ihr der Gesprächsfaden. „Frau Günther?“ Otto Wermke blickte überrascht und zugleich erleichtert in das blasse Gesicht der Frau. „Ich habe schon einmal versucht, Sie zu treffen.“ „Dann kann ich wohl gehen“, stellte Frau Pachulke fest. Und ohne Eile und ohne sich im mindesten zurückgesetzt zu fühlen, nahm sie ihre Handtasche und begab sich wieder auf ihren ursprünglichen Platz, während ringsum die neue Konstellation aufmerksam beobachtet und beredet wurde. Dagmar Günther stand noch einige Sekunden verlegen da, bis Otto Wermke, der auch wegen der allgemeinen Aufmerksamkeit, die ihr Erscheinen ausgelöst hatte, nicht sogleich wußte, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, sie zum Sitzen einlud. Beiden fiel es schwer, den ersten Satz zu sagen, und schließlich war es Otto Wermke, der sich seiner Pflicht erinnerte und den Anfang machte, indem er ihr sein Beileid aussprach. „Sie haben wahrscheinlich mehr mit ihm verloren als ich“, erwiderte sie mit spröder Stimme. „Er war ja ein Fremder für mich geworden. Daran hat sich auch durch seinen Besuch nicht viel geändert. Mir wird nur übel, wenn ich daran denke, wie er gestorben ist.“ „Sie wissen es?“ „Die Kriminalpolizei war am Vormittag bei mir.“ Dann schwiegen sie beide wieder. Das Kännchen Kaffee, das er für sie bestellte und das serviert wurde, erwies sich als das einzige belebende Element in einer ansonsten verkrampften Situation. Schließlich faßte er sich doch ein Herz. „Sie wollten mit mir sprechen?“ fragte er. „Geht es um Ihren Vater?“ Und als sie 139
nickte, fuhr er fort: „Lassen Sie sich Zeit.“ Verlegen betrachtete er seine Hände, als sie nicht zu reden begann, und warf hin und wieder einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, das ihm wie das einer Kranken vorkam. Um ihren Mund zuckte es, ein Zeichen dafür, wie schwer es ihr fiel, auszusprechen, was sie bewegte. Gern hätte er ihr geholfen, aber er fühlte sich außerstande, ihr eine Brücke zu bauen. Es war, als hätte sie ihn mit ihrer Befangenheit angesteckt. „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.“ Der Satz brach so unvermittelt das Schweigen, daß Otto Wermke nicht gleich den Sinn des Gesagten erfaßte. „Was haben Sie?“ fragte er. „Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Aber plötzlich hatte ich Angst, nachdem der Mann von der Polizei alles so genau wissen wollte. Ob ich einen Zeugen dafür hätte, daß mein Vater am Sonntag gegen zehn meine Wohnung verlassen hat, und ob ich wirklich allein mit ihm gewesen bin und wo mein Mann sich aufgehalten hat und worüber gesprochen worden ist zwischen meinem Vater und mir… Verstehen Sie? Ich hatte Angst. Und Gregor ist noch immer nicht zurückgekommen… Ich war allein. Und der Mann ließ nicht locker. Ob ich etwas von der Erbschaft gewußt hätte und davon, wieviel die Sammlungen wert sind. Und dann wollte er auch noch wissen, ob ich mich mit meinem Cousin Horst getroffen habe und worüber damals gesprochen worden ist. Auf dem Horst Hanke ist er andauernd rumgeritten. Ach, es war schrecklich!“ Das alles sprudelte plötzlich so heftig hervor, daß Otto Wermke Mühe hatte, zu folgen. Er begriff nur, daß einer von der Kriminalpolizei bei ihr gewesen war, der alles genau hatte wissen wollen. Er sagte: „Das ist doch kein Grund zur Aufregung. Die müssen doch nachforschen.“ Aber damit erreichte er durchaus nicht, daß sie sich beruhigte. 140
Sie wurde im Gegenteil immer hektischer, erzählte das Erlebte noch einmal, diesmal wortreicher, Und schloß mit der Klage: „Ach, daß mein Vater uns doch nie besucht hätte!“ „Das dürfen Sie nicht sagen“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Aber es ist doch wahr!“ Ihre Stimme schrillte jetzt, und die Hand, die die Kaffeetasse hielt, zitterte. „Gregor ist weg, und ich habe die Polizei auf dem Hals – alles nur seinetwegen. Nie im Leben wollte ich etwas mit denen zu tun haben. Warum hat er sich es nur nach all den Jahren einfallen lassen, mich zu besuchen!“ „Aber Sie haben ihn doch selber eingeladen.“ Otto Wermke hätte es nie für möglich gehalten, daß diese so sanft und ausgeglichen wirkende Frau derartig in die Hysterie abgleiten konnte. Ein bißchen mehr Fassung hätte er doch von ihr erwartet, selbst nach der Ermordung ihres Vaters. Aber um dessen Tod ging es ihr ja anscheinend gar nicht; sie sprach doch nur von der Unbill, die sie zu erleiden hatte. „Hätte ich den Brief nie geschrieben!“ klagte sie jetzt sogar. „Und warum haben Sie ihn denn überhaupt geschrieben?“ Ihm begann die Gelassenheit auszugehen. Vielleicht, dachte er, hatte dieser seltsame Gregor Fröhlich doch recht, als er den Verdacht äußerte, ihr und ihrem Cousin sei es nur um Wilhelms Geld gegangen. „Jetzt fangen Sie auch noch an!“ rief sie weinerlich und so laut, daß die Frauen im Cafe die Köpfe hoben und die Unterhaltung einstellten. „Genau das hat mich dieser Leutnant Stein – oder wie der heißt – gefragt. Genau dasselbe. Richtig frech ist der geworden. Und gebrüllt hat er, wie ein richtiger Bulle. Hat behauptet, das wär doch seltsam, daß ich ausgerechnet den Brief geschrieben habe, nachdem mir zugetragen worden ist, daß bei meinem Vater was zu holen wäre. Und außerdem, hat er ge141
sagt, bin ich die letzte, die ihn lebend gesehen hat. Ich! Verstehen Sie: Ich soll meinen Vater zuletzt gesehen haben. Was heißt das anderes als: Ich war es, die ihn umgebracht hat.“ Klirrend stellte sie die Tasse auf den Tisch zurück und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung eine Haarsträhne aus der Stirn. Otto Wermke hätte ihr gern gesagt, daß die Polizei eben dergleichen Fragen stellen und solche Vermutungen hegen müsse, wenn sie vorankommen wolle, und das dieser junge Mann offenbar von Natur mit einer so lauten Stimme geschlagen sei – das habe er selber erfahren. Aber etwas ließ ihn zögern. Zwar wehrte er sich dagegen, den Gedanken des Kriminalisten bedenkenlos zu folgen, doch schienen sie ihm, da sie nun einmal ausgesprochen worden waren, nicht mehr allzu abwegig, und er hatte seine liebe Not damit, sich zurückzuhalten, selber Fragen zu stellen. Etwa die: War denn Ihr Mann in der Nacht zum Sonntag tatsächlich nicht zu Hause? Oder: War der Streit, den Sie da vor meinen Augen und Ohren ausgetragen haben, nicht nur Theater und darauf berechnet, mich davon zu überzeugen, daß Ihr Mann in der fraglichen Nacht bei Freunden gequatscht und Rotwein getrunken hat? Und während Dagmar Günther wieder schwieg, offensichtlich erschöpft von ihrem Ausbruch, ließ er es geschehen, daß sich in seinem Kopf ein Drama zusammenschob, das, was seine Folgerichtigkeit anging, viel für sich hatte und das überdies ganz simpel und so oder so ähnlich gewiß schon Tausende Male über die Bühne gegangen war: Ein junges Paar, das unter Geldknappheit leidet, ermordet den Vater, um an ein reiches Erbe zu kommen. Er wehrte sich sofort gegen diese Vermutung und sah Dagmar Günther, die jetzt weinte, verstohlen und geniert an. Konnte ein Mensch so perfekt Verzweiflung und Angst mimen? Unwillkürlich holte er andere Gesichter aus der Erinnerung herauf: 142
das dreiste der Heidemarie Böhm, das bedrohlich wache ihres Mannes, das gefährliche und zugleich stumpfsinnige Horst Hankes. Nein, wenn er auch nur ein Gran Menschenkenntnis besaß, dann hatte sie mit dem Mord an Wilhelm nichts zu tun. Aber traf das auch auf Gregor Fröhlich zu, auf den Mann, der mit so viel Nachdruck als Verächter von Besitz und Konvention aufgetreten war? Wenn der sie nun als sein Werkzeug benutzt hatte? Man las ja so viel von sexueller Hörigkeit und dergleichen… Um sich von dem dummen Gedanken abzulenken und um ein bißchen Beruhigung in das Gespräch zu tragen, fragte er: „Wo haben Sie denn den kleinen Marius gelassen? Ihr Mann ist doch noch nicht zu Hause?“ „Den habe ich zu einer Freundin gegeben.“ Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken. „Entschuldigen Sie – aber ich habe das alles nicht mehr ausgehalten. Ich mußte mit Ihnen sprechen, sofort. Ich wußte mir einfach keinen Rat mehr, und ich habe doch sonst niemand.“ „Warum mußten Sie denn so eilig mit mir sprechen? Hätte das nicht Zeit gehabt bis morgen oder bis ihr Mann wieder da ist?“ „Nein, nein!“ Das hörte sich entschieden und verzweifelt zugleich an, und Otto Wermke spürte, wie sich wieder eine Sperre in ihm aufbaute, wie Mißtrauen wieder wach wurde. „Morgen ist es vielleicht zu spät.“ Sie zerknautschte das Taschentuch zwischen den Fingern. „Vielleicht sind sie morgen schon dahintergekommen.“ „Wohinter sollen sie gekommen sein?“ Er wußte wirklich nicht mehr, woran er mit ihr war. Mit der Kuchengabel zerdrückte er die letzten Krümel auf dem Teller. „Seien Sie doch nicht so aufgeregt und erzählen Sie mir endlich, was Sie zu erzählen haben.“ „Ich habe gestern nicht alles gesagt. Mein Vater hat mir nicht 143
nur die fünfhundert Mark gegeben.“ Sie hatte die Augen niedergeschlagen und hielt den Kopf gesenkt, und ihre Stimme war so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. „Da ist noch etwas anderes…“Wieder stockte sie, und erst als er ungeduldig hüstelte, entschloß sie sich fortzufahren. „Er hat mich gebeten, einen Koffer für ihn aufzubewahren.“ „Einen Koffer?“ „Mit Briefmarkenalben…“, sagte sie lauter, ohne den Kopf zu heben. Also doch! Das war Otto Wermkes erster Gedanke. Also doch die uralte Geschichte von den jungen Leuten, die nicht aufs Erbe warten können. So ging es denn auch in dieser Geschichte um nichts anderes als um die Suche nach einem zureichenden Motiv, wie in jedem billigen Krimi. Und er meinte zu spüren, wie sich sein Herz vor Enttäuschung zusammenzog. Er sah sie vor sich sitzen, noch immer auf ihren Schoß blikkend, wo die Hände anscheinend das Taschentuch zerknüllten. Mitleid kam in ihm auf; und mit dem Mitleid fand sich seltsamerweise die kühlere Überlegung ein, die sich der ersten Empörung entgegenstellte: Würde sie sich mir anvertrauen, wenn sie in den Mord verwickelt wäre? „Unsinn!“ sagte er laut, und Dagmar Günther sah erschrocken hoch, mit leeren Augen. „Es ist wirklich so gewesen, glauben Sie mir.“ „Das ist mir nur so herausgerutscht.“ „Am Sonntagmorgen, kurz bevor er gegangen ist, hat er mir einen kleinen Koffer gegeben. Wenn er zurück wäre, wollte er ihn wieder abholen.“ Sie sprach jetzt lauter und freier, wenn auch nicht ungehemmt. „Er sagte, ein Teil der Briefmarkensammlung sei in dem Koffer, drei Alben.“ „Nur ein Teil?“ Das Geschehen um Wilhelm Klausner wurde ihm immer unverständlicher. Was hatte ihn bewogen, den Kof144
fer bei seiner Tochter zu deponieren? Und warum befand sich in ihm nur ein Teil der Sammlung? Wo war der Rest? Und wo war die ganze Erbschaft zuvor gewesen? Offensichtlich wohl doch in einer Privatwohnung; denn am Sonnabendnachmittag hatten Banken und Sparkassen – wenn er einen Safe gemietet haben sollte – doch geschlossen. Oder sollte Wilhelm das Zeug schon am Donnerstag oder Freitag geholt haben? Das hätte ihm, Otto Wermke, auffallen müssen. Am Sonnabend früh jedenfalls hatte er nichts bei sich gehabt als die große schwarze Aktentasche, mit der er sich stets auf seine Wochenendausflüge begab… Er versuchte zunächst einmal, die bedrängenden Überlegungen, die ihn ohnehin ins Leere führten, beiseite zu schieben, indem er fragte: „Und diese ganze Geschichte haben Sie dem Mann von der Kriminalpolizei verschwiegen?“ „Ich war doch so verwirrt…“ Er sah ein, daß er die Frage nicht so direkt hätte stellen dürfen, denn sie fiel sofort zurück in den Zustand des Gehemmtseins und der Weinerlichkeit. „… weil der alles so genau wissen wollte und weil der so laut war.“ „Beruhigen Sie sich.“ „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie war plötzlich aufgesprungen und strebte schnell der Toilette zu, als flüchte sie vor ihm und vor den Problemen, für die er im Augenblick stand. Sein Mißtrauen wurde wieder stärker. Er überlegte, ob sie ihm überhaupt die Wahrheit gesagt hatte, als sie behauptete, Wilhelm habe nur einen Teil der Briefmarken bei ihr gelassen und nicht die ganze Sammlung. Oder was wäre, wenn sie doch mit diesem finsteren Horst Hanke unter einer Decke steckte Und der seinen Onkel umgebracht und die Sammlung an sich gebracht hatte? Dann wären diese drei Alben womöglich ihr Anteil an der Beute, die sie jetzt aus Angst vor Entdeckung loswerden wollte. Oder Gregor Fröhlich hatte darauf bestanden, daß das Zeug aus dem Haus kam. Aber der konnte von der Existenz der 145
Alben nichts wissen, der war doch, sagte sie, noch nicht wieder zu ihr zurückgekehrt. Das Karussell der Vermutungen drehte sich quälend langsam in seinem Kopf. Er wäre am liebsten ein paar Schritte gegangen; das Sitzen auf den leichten, dünnbeinigen Stühlen mit dem Plastebezug wurde ihm immer beschwerlicher. Wenn er doch wenigstens ein Zigarillo hätte rauchen können – aber das aufdringlich in grellem Rot leuchtende Piktogramm an der Wand verbot es ihm. „Wollen wir uns nicht draußen ein wenig die Füße vertreten?“ fragte er Dagmar Günther, als sie wieder an den Tisch kam. Sie hatte wohl die Gelegenheit benutzt und sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen. „Ach ja, das wäre mir sehr lieb.“ Das klang geradezu dankbar, so, als würde sie aus einer unerträglichen Situation erlöst. So bezahlte er denn und ging, durch das Spalier der Blicke vor ihr her auf den Ausgang zu, und noch während er ihr mit der einen Hand die Tür aufhielt, kramte er bereits mit der anderen in der Manteltasche nach der Schachtel mit den Zigarillos. Dann schlenderten sie schweigend nebeneinander auf die von Einkäufern wimmelnde und vom Abgas der vielen Autos im Berufsverkehr verpestete Magistrale zu. Erleichtert ließ er den Tabakrauch durch Mund und Nase wirbeln und verabschiedete für ein paar Minuten alle die Überlegungen, die ihn bisher keinen Schritt weitergebracht hatten. „Sie glauben mir doch?“ „Natürlich.“ Sie blieb vor dem Rundbau eines großen Kinos stehen, inmitten des Menschenstroms, der sich in die Nachmittagsvorstellung eines Italo-Westerns wälzte. Es war, als gebe ihr die anonyme Menge rings unter freiem Himmel den Mut, gelöster zu sprechen. Denn jetzt begann sie zu berichten, ohne innezuhal146
ten und ohne sich von dem Gedränge stören zu lassen. Er erfuhr, daß Wilhelm Klausner, als er sie ziemlich spät am Abend noch einmal aufgesucht hatte, um ihr das Geld zu geben, einen unsicheren und erschöpften Eindruck auf sie gemacht habe, als läge ein wenig angenehmes, ihn verunsicherndes Erlebnis hinter ihm, und er sei auch nicht in der besten körperlichen Verfassung gewesen, habe minutenlang dagesessen, ohne ein Wort zu sagen. „Als ich ihn fragte, ob er eine Tasse Kaffee wolle, verlangte er Korn. In etwas mehr als einer Stunde hat er die Flasche halbleer getrunken. Dann schlief er auf dem Sofa ein.“ „Deshalb also ist er die Nacht über bei Ihnen geblieben.“ „Ich wollte ihn nicht wecken, hatte nur Angst, Gregor könnte nach Hause kommen und das Theater vom Vormittag würde wieder anfangen. Das hätte ich nicht ausgehalten.“ „Hat Ihr Vater gesagt, wo er den Tag über gewesen ist?“ „Nein. Er hat nicht einmal erzählt, daß er bei seiner Schwester war. Davon habe ich dann erst gestern von Ihnen erfahren. Er war richtiggehend erschöpft, stumpf.“ „Aber Sie müssen sich doch über irgend etwas unterhalten haben.“ „Er hat von meiner Mutter gesprochen. Seltsam, nicht wahr?“ Nachdenklich nahm sie den Gang wieder auf. „Er meinte sogar, er habe vieles falsch gemacht.“ „Und seine Heiratspläne hat er nicht noch einmal erwähnt?“ „Nein. Als ich das Thema anschnitt, hat er mich nur angesehen, als verstehe er nicht, wovon ich spreche. Dann hat er nur gelacht, gar nicht froh. ,Seit wann kümmern sich Töchter um die Hochzeit ihrer Väter? hat er gefragt. Aber da war er schon fast betrunken.“ Sie warf Otto Wermke einen schnellen Blick zu, um dessen Reaktion zu ergründen, konnte jedoch von seinem Gesicht nichts ablesen als gelassenes Interesse. „Und kurz vorm Einschlafen, als er sich schon auf dem Sofa ausgestreckt 147
hatte, murmelte er noch etwas. Genaues konnte ich nicht verstehen, aber es klang so, als beschimpfe er einen Mann. ,Galgenvogel hat er gesagt und dann noch etwas, das hörte sich an wie ,Von dir laß ich mich nicht ausplündern’. Da ist ihm wohl noch einmal sein Streit mit Horst in den Sinn gekommen. Das kann ich mir aber erst erklären, seit ich durch Sie von der Auseinandersetzung mit meinem Cousin weiß. Eigentlich sind mir diese Worte erst danach wieder eingefallen.“ „Haben Sie das alles auch dem Mann von der Kriminalpolizei erzählt?“ Die bloße Erwähnung des Leutnants Stein raubte ihr augenblicklich die mühsam erlangte Ruhe. Wieder hielt sie im Gehen inne; diesmal allerdings blickte sie sich um, als befürchte sie, ein Lauscher könne ihre Worte mitbekommen. „Natürlich. Ich habe alles erzählt, alles. Bis auf…“ Sie trat ganz nahe an Otto Wermke heran, so daß ihr Atem sein Gesicht streifte und er deutlich das angstvolle Flackern in ihren Augen sah. „Helfen Sie mir!“ „Wie soll ich Ihnen helfen?“ Es genierte ihn, daß sie ihm so dicht auf den Leib rückte, und als zwei vorüberflanierende Teenager ihm fröhlich zuriefen: „Na, Opa, übernimmst du dich auch nicht?“ und „Je öller, je döller!“, hätte er die Mädchen am liebsten geohrfeigt. „Sprechen Sie mit den Leuten von der Polizei“, bettelte sie. „Sie sind ein alter Mann. Ihnen glaubt man.“ „Was soll man mir glauben?“ „Der Koffer mit den Alben…“ Ihr Atem ging heftig, die Worte kamen stoßweise aus ihrem Mund. „Sagen Sie ihnen, mein Vater… er hätte Ihnen den Koffer zur Aufbewahrung gegeben. Verstehen Sie? Sie haben ihn unter Ihr Bett geschoben… und dann vergessen. Bitte!“ „Ich soll…?“ Er glaubte, was er da hörte, nicht richtig begriffen zu haben. 148
„Sie sind ein alter Mann… Sie dürfen so etwas vergessen. Wenn Gregor von dem Koffer erfährt, dann…“ „Was ist dann?“ Sie antwortete nicht sofort, sah wie ein ratloses Kind aus. „Es war nur eine Bitte“, sagte sie matt, wandte sich von Otto Wermke ab und ging mit schnellen Schritten davon. Er hatte Mühe, ihr zu folgen, und war einigermaßen erschöpft, als er sie erreicht und dadurch zum Stehenbleiben gebracht hatte, daß er sie am Arm hielt. „Laufen Sie doch nicht weg!“ sagte er. Und dabei wußte er nicht recht, warum er ihr gefolgt war. Soll sie doch, dachte er flüchtig, die Karre, die sie in den Dreck gefahren hat, selber rausziehen; ich werde mich nicht dazu hergeben, ihre Dummheit oder vielleicht noch Schlimmeres zu decken. Dann aber rührte ihn der Ausdruck von Verwirrung und Trotz, der auf ihrem Gesicht lag, und er schämte sich ein bißchen seiner herzlosen Gedanken. „Lassen Sie mich gehen. Es war dumm von mir, so etwas von Ihnen zu erwarten.“ „Dumm war, daß Sie sich in so eine Lage gebracht haben.“ Sie gingen wieder nebeneinander her. „Glauben Sie mir, ich möchte Ihnen helfen. Aber was Sie von mir verlangen…“ „Was soll ich denn tun?“ „Gehen Sie zur Polizei. Nehmen Sie den Koffer mit.“ „Dazu habe ich nicht den Mut.“ Das klang trostlos und so, als ob sie keine Möglichkeit mehr sähe, ihre Lage aus eigener Kraft zu ändern. „Aber Sie müssen doch die Wahrheit sagen. Oder wollen Sie nicht, daß der Tod Ihres Vaters aufgeklärt wird?“ „Ich will nur noch meine Ruhe haben, sonst nichts. Ich mag nicht noch einmal vor einem Mann mit steinerner Visage sitzen, nicht noch einmal mit Mißtrauen traktiert werden, ich mag 149
nicht noch einmal spüren müssen, daß ich ausgeliefert bin.“ Sie sprach jetzt ganz ruhig, und nur ihre Hände, die unausgesetzt am Reißverschluß des Parka spielten, verrieten noch ihre innere Erregung. „Gut, ich habe gelogen – aber dieser Mann hat mich dazu gebracht. Und wenn Sie mir nicht helfen wollen oder nicht helfen können, dann soll’s eben gehen, wie es will.“ Sie hatten den Eingang zur Untergrundbahn erreicht. „Auf Wiedersehen und vielen Dank, daß Sie mich angehört haben.“ Sie gab ihm nicht die Hand, und er war viel zu sehr überrascht von dem plötzlichen Abschied, als daß er ein Wort herausgebracht hätte. Er sah ihr nur nach, wie sie eilends die Stufen hinunterstieg, ohne sich noch einmal umzublicken. Dann ging er nachdenklich in Richtung des Feierabendheims. Habe ich etwas falsch gemacht? fragte er sich. Vielleicht hätte ich ihr anbieten sollen, sie zur Polizei zu begleiten. Dieser Hauptmann Mönch ist ja schließlich ein Mann, mit dem sich’s reden läßt. Er hatte die Freitreppe zum Heim fast erreicht, als er ihre Stimme hörte. „Ich hab es mir überlegt.“ Sie war außer Atem vom Laufen. „Hier, nehmen Sie das.“ Sie drückte ihm einen kleinen Schlüssel in die Hand, an dem eine Blechmarke hing. „Der gehört zu einem Schließfach im Bahnhof. Da finden Sie den Koffer. Machen Sie mit ihm, was Sie wollen.“ Und noch ehe er sich von der Überrumpelung erholt hatte und etwas erwidern konnte, hatte sie kehrtgemacht und lief zur Untergrundbahn zurück.
9 Wie vor den Kopf geschlagen stand er fast eine Minute lang am Fuß der Treppe, und als ihm allmählich aufging, was ihm von Dagmar Günther zugemutet wurde, wollte er, einem ersten Impuls von Hilflosigkeit folgend, den kleinen 150
Schlüssel Wegwerfen, wollte ihn einfach in den nächsten Gully hineinfallen lassen. Er wehrte sich mit allen Fasern seines Verstandes dagegen, mit einem Problem belastet zu werden, dessen Ausmaße er nicht abzuschätzen vermochte, und das verwirrte ihn. Nur sehr langsam gewann er die Fähigkeit zu klarerem Denken zurück, so daß es ihm wenigstens gelang, Wut in sich auszulösen. „Unverschämtheit!“ sagte er laut, und dann noch: „Manieren sind das heutzutage!“ Er steckte den Schlüssel in die Manteltasche und stieg die Freitreppe hinauf. In der vertrauten Umgebung seines Zimmers fühlte er sich schon weniger bedrängt. Er beschloß, vor dem nächsten Morgen nichts zu unternehmen. Er würde eine Nacht vergehen lassen, wie er es immer gehalten hatte, wenn er unentschieden oder ratlos gewesen war. Er mußte erst einmal abschalten, mußte wieder zu Kräften kommen nach den Strapazen der letzten Tage. Für einen Augenblick erwog er, noch vorm Abendessen auf einen Sprung in den „Schusterjungen“ zu gehen, um beim gewohnten Nachmittagstrunk endgültig wieder in seine Balance zu finden, fühlte sich aber dann doch zu matt, sich noch einmal auf den Weg zu machen. Er setzte sich in seinen Sessel und versuchte, nicht an Dagmar Günther und das Dilemma, in dem sie und in dem nun auch er steckte, zu denken. Sosehr er sich jedoch auch mühte, seine Gedanken auf Unverfängliches und Angenehmeres zu versammeln, binnen kurzem kehrten sie zu dem zurück, was ihm in der letzten Stunde widerfahren war. Da nützte es nichts, daß er wieder und wieder seinen Vorsatz beschwor, erst alles zu überschlafen, ehe er einen Entschluß faßte: Das Bild der verzweifelten jungen Frau stand ihm unauslöschlich vor Augen. Seufzend gab er es endlich auf, sich gegen die immer wiederkehrenden Gedanken an Dagmar Günther zu wehren, und er ging hinunter in den Speisesaal, nachdem er sich im Spiegel betrachtet hatte und zu der Feststellung gekommen 151
war, er sehe ganz schön alt aus. Der Appetit war ihm vergangen, und als er vom Tisch ging, stand seine Abendbrotplatte noch unangerührt. Er hatte nur ein paar Radieschen gegessen und sich mit einigen zerstreuten Bemerkungen an der Unterhaltung der beiden Tischgenossen beteiligt, die sich natürlich noch immer um Wilhelm Klausners plötzlichen Tod drehte. Unausgesetzt dachte er auch hier an Dagmar Günther. Sie brauchte seine Hilfe, zu diesem Standpunkt hatte er sich inzwischen durchgerungen, und wenn es ihm auch nicht gelang, zu den Hintergründen ihrer Angst und den Antrieben ihres seltsamen Benehmens vorzustoßen, so fühlte er sich doch verpflichtet, ihr irgendwie beizustehen. Er könnte bis zum Morgen warten, dann zur Polizei gehen, die ganze Sache zu Protokoll geben und den Schlüssel abliefern. Dann wäre für ihn alles ausgestanden. Aber doch wohl nicht für sie. Womöglich geriet sie wieder an diesen Leutnant Stein, vor dem sie anscheinend einen heiligen Horror empfand, und der würde sie sicherlich ihre Lügerei entgelten lassen, schon weil er es war, den sie angelogen hatte. Nein, da war es schon besser, wenn Hauptmann Mönch sich mit ihr befaßte, der würde das Ganze sicherlich vernünftiger und ruhiger angehen, auch wenn er, Otto Wermke, belehrt durch die eigene Erfahrung vom Morgen, ihm nicht gerade übertriebene Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft bescheinigen mochte. In diese Richtung liefen seine Gedanken auch noch, als er wieder in seinem Zimmer saß, und ehe er sich recht bewußt werden konnte, wie wenig doch von seiner anfänglichen Hilflosigkeit, von seinem Zorn oder auch nur von der Verwunderung über das Verhalten der jungen Frau übriggeblieben war, hatte er sich bereits so arg in Überlegungen verstrickt, wie er hilfreich eingreifen könne, daß es für ihn keinen Rückzug auf eine 152
neutrale Position, ja nicht einmal mehr aufs Abwarten bis zum nächsten Morgen gab. Er lächelte nur noch bei der Erinnerung daran, wie oft er sich in den letzten Tagen geschworen hatte, die Hände und die Gedanken von allem zu lassen, was mit Wilhelm zusammenhing, und daß er vor wenigen Stunden noch fest entschlossen gewesen war, sich nicht länger in eine Angelegenheit einzumischen, für die er nicht kompetent und in der er nicht erwünscht war oder in der er vielleicht sogar als lästig empfunden wurde. Er blies Rauchringe in die Luft und dachte gleichmütig: Was soll’s, dann bin und bleibe ich eben lästig. Und das bestärkte ihn in dem Entschluß, Mönch sofort zu benachrichtigen. Jedenfalls würde er versuchen, ihn jetzt noch telefonisch zu erreichen. Man las ja so oft davon und bekam es auch immer wieder in Fernsehspielen vorgeführt, daß Kriminalisten, wenn sie einmal vom Jagdfieber gepackt sind, Tag und Nacht auf der Lauer liegen, munter gehalten von ungezählten Tassen Kaffee. Jetzt war es schließlich erst sieben Uhr, und um diese Zeit erwachte so ein gestandener Detektiv erst zu der rechten Aktivität. Er war schon im Aufbruch, hatte den Mantel bereits angezogen, als Frau Weskamp anklopfte und, nachdem sie eingetreten war, mit einem tadelnden Blick auf das qualmende Zigarillo mitteilte, im Besucherzimmer warte ein Herr auf ihn. Das Wort Herr sprach sie aus, als müsse sie es aus einer ihr gänzlich fremden Sprache mühsam übersetzen. Jedenfalls wartet da einer, den ich nicht kenne und den ich nicht zu Ihnen herauflassen wollte“, schickte sie der Mitteilung hinterher. „Und das Rauchen, lieber Herr Wermke, sollten wir auch besser abstellen. Gestern noch auf dem Krankenlager, heute schon wieder unter Dampf – das kann nicht gut gehen.“ Und nachdrücklich schloß sie die Tür. Otto Wermke konnte sich nicht vorstellen, wer dieser Besucher 153
sein sollte, und machte sich, ärgerlich darüber, gerade in diesem Augenblick gestört zu werden, auf den Weg nach unten. Auf der Treppe überlegte er, ob womöglich einer von der Kriminalpolizei ihn noch mal zu sprechen wünschte, verwarf aber den Gedanken sofort, als er sich an die seltsame Ankündigung von Frau Weskamp erinnerte. So mischte sich denn doch ein bißchen Spannung, wer ihn unangemeldet im Heim aufsuchen mochte, in seinen Ärger. Daß es Gregor Fröhlich sein könnte, hätte er sich nicht träumen lassen. Doch er war es, der da im Besucherzimmer an dem großen runden Tisch saß, die langen Beine in den ausgeblichenen Jeans brav, wie es die ordentliche Umgebung erheischte, nebeneinandergestellt und das haarumwucherte Gesicht in Sorgenfalten gelegt. Dennoch erschrak Otto Wermke, nicht sonderlich bei dem unerwarteten Anblick; eher empfand er das Groteske der Situation, diesem Mann, der ihm noch salopper in seiner Kleidung erschien, als er ihn in Erinnerung hatte, in diesem Renommierstück des Heims, inmitten von Gummibäumen und grünglänzenden Monstera und unter einer goldgerahmten, in allen Lilatönen prangenden Heidelandschaft, die bei ihm das helle Entsetzen hervorrufen mußte, zu begegnen. Ich bin wohl, dachte er mit einem Anflug von Belustigtsein, neuerdings ein gefragter Mann, konnte aber doch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend nicht unterdrücken, da aus dem Unterbewußtsein zugleich die Befürchtung aufstieg, Gregor Fröhlich könnte der Bote einer schlimmen Nachricht sein. Anscheinend bestimmte diese Furcht seinen Gesichtsausdruck so nachhaltig, daß der Besucher sofort versicherte: „Erschrecken Sie bitte nicht. Ich suche nur meine Frau. Und ich gehe auch gleich wieder, wenn ich weiß, wo sie ist.“ Otto Wermke setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und sagte nichts. Zu sehr war er von der Überlegung in Anspruch ge154
nommen, ob der Besuch des Mannes, eine Stunde nach dem Dagmar Günthers, dem Zufall entsprungen sein sollte, als daß er sofort hätte etwas erwidern können. Fragen bedrängten ihn, auf die er keine Antwort fand, Vermutungen stellten sich ein, Mißtrauen schlich sich in seine Gedanken, so daß er beschloß, vorerst aus seiner Not eine Tugend zu machen, indem er schwieg und sein Gegenüber mit einem Blick fixierte, in dem Staunen und Unverständnis sich mischten. Einem alten Mann, dachte er, kann man es nicht verübeln, wenn er nicht gleich begreift, wo die Glocken hängen. Und das Schweigen verunsicherte Gregor Fröhlich. Er ließ einige Sekunden verstreichen, während derer er mit flatternden Lidern dasaß und es vermied, dem alten Mann voll ins Gesicht zu sehen. „Ich mache mir nämlich Sorgen um Dagmar“, sagte er schließlich. Seine ohnehin tiefe Stimme klang dumpf, wie aus einem Gewölbe kommend. „Sie haben sie seit gestern vormittag nicht mehr gesehen?“ Otto Wermke hatte sich inzwischen soweit gesammelt, daß er sich zutraute, ein Gespräch zu führen, dessen Verlauf er bestimmen würde. „Hat sie Ihnen das gesagt?“ „Wenn Sie einem alten Mann ein Urteil zugestehen wollen: Ich finde, Sie haben sich ihr gegenüber nicht gut verhalten.“ „Was soll das heißen?“ Jetzt war wieder ein Anflug des rechthaberischen, aggressiven Tons da, den Otto Wermke von der Auseinandersetzung am Vortag kannte. „Ich will doch nur wissen, ob Sie mir sagen können, wo meine Frau sich aufhält.“ „Also haben Sie sich seitdem nicht um sie gekümmert.“ Beharrlich verfolgte Otto Wermke seine Linie, und er wunderte sich, wie gut es ihm bisher gelungen war, den Fragen des Mannes auszuweichen. „Dann können Sie ja auch nicht wissen, was sich inzwischen ereignet hat und wie sehr Ihre Frau davon mit155
genommen worden ist.“ „Was hat sich ereignet?“ Wieder flatterten Gregor Fröhlichs Lider. Otto Wermke ließ sich zwei, drei Atemzüge Zeit, ehe er antwortete: „Dagmars Vater ist ermordet worden.“ „Um Himmels willen!“ Otto Wermke stellte mit großem Unbehagen fest, daß der Mann ein miserabler Schauspieler war, und dieses Gefühl löste sich nicht auf, vertiefte sich vielmehr, als der Besucher mit mühsam gepreßter Stimme hinzusetzte: „Das ist ja schrecklich! Wann denn?“ „Am Pfingstsonntag, gegen Mittag.“ Otto Wermke gab diese Auskunft bewußt sachlich, obgleich es ihm schwerfiel, einen solchen Ton anzuschlagen. Er war sich sicher: Der Mann wußte von dem Geschehen um Wilhelm. „Sie sollten schleunigst nach Haus gehen. Ihre Frau braucht Sie nämlich jetzt.“ „Sie war also bei Ihnen!“ Jetzt nicht nervös werden, sprach sich Otto Wermke Mut zu, nicht die Linie aufgeben; er muß dir sagen, weshalb er seine Frau sucht. Und er fragte: „War es nicht wirklich besser, Sie würden jetzt gehen und sich um Ihre Frau und Ihr Kind kümmern.“ „Hören Sie mal…“ Es war nicht mehr zu übersehen, wie sehr Gregor Fröhlich hin- ,und hergerissen war zwischen dem Drang, der inneren Spannung durch eine gepfefferte Antwort Luft zu verschaffen, und der Einsicht, daß er sich höflich und besonnen verhalten müsse, wenn er erreichen wollte, was er sich vorgenommen hatte. Die Einsicht behielt die Oberhand, als er erwiderte: „Natürlich gehe ich gleich zu meiner Frau, nachdem ich jetzt das Schreckliche erfahren habe.“ „Das freut mich.“ Otto Wermke stand auf, knöpfte sich umständlich den Mantel zu. „Ich muß nämlich noch einmal aus dem Haus“, erklärte er, während er in seiner Tasche nach dem 156
Schlüssel zu dem Schließfach tastete. Auch Gregor Fröhlich hatte sich erhoben, doch lag es offensichtlich nicht in seiner Absicht, das Besuchszimmer des Heims auf der Stelle zu verlassen. Er vermittelte einen kläglichen Eindruck, wie er dastand, linkisch und mit hängendem Kopf, krampfhaft überlegend, wie er den nächsten Satz formulieren sollte. „Auf Wiedersehen dann.“ „Warten Sie, nur noch eine Sekunde.“ Gregor Fröhlich stellte sich Otto Wermke in den Weg. „Es geht nämlich darum… Wenn sie bei ihnen war, die Dagmar, hat sie Ihnen vielleicht etwas übergeben?“ „Mir?“ Otto Wermke fiel es nicht leicht, Verwunderung zu heucheln. Gleich kommt’s, dachte er ohne ein Gefühl des Triumphs, eher von banger Erwartung erfüllt, gleich wird er mich nach dem Schlüssel fragen oder auch nach dem Koffer, und er spürte einen stetig sich steigernden Druck in der Magengegend bei dem Gedanken, er könnte in der nächsten Sekunde erfahren, daß er mit der Übergabe des kleinen Schlüssels an ihn in Aktivitäten um die Sicherung einer Beute gezogen worden war. Diese Beute aber war Wilhelms Eigentum, und dessen Tochter hatte gewollt, daß sein Eigentum der Polizei übergeben werden sollte. Wenn die Worte Freundschaft und Verpflichtung noch einen Sinn hatten, dann war er verpflichtet, dieses Eigentum vor dem Zugriff dieses Mannes zu schützen, auch wenn er mit Dagmar Günther zusammenlebte und der Vater ihres Kindes war. „Warum sollte sie mir etwas übergeben haben?“ „Ach, kommen Sie schon ‘rüber, Mann. Sagen Sie, was war.“ Gregor Fröhlich witterte die aufkeimende Unsicherheit Otto Wermkes, und er war wieder nahe daran, seinem unberechenbaren Temperament die Zügel schießen zu lassen. „Zieren Sie 157
sich nicht wie die Zicke am Strick. Hat sie Ihnen etwas übergeben oder nicht?“ Die dreiste Art verdrängte in Otto Wermke auch den letzten Rest von Zaghaftigkeit, und obwohl er insgeheim fürchtete, der andere könnte tätlich werden, wenn er sich seinem Begehren widersetzte, so klang doch seine Antwort fest. „Nein“, sagte er, „ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Gregor Fröhlich fuhr langsam mit einer Hand über den Bart und sah ihn prüfend an, diesmal ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich hoffe nur, Sie machen keinen Fehler.“ Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Weg frei. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und im Rahmen erschien Frau Weskamps hohe Gestalt wie der Erzengel an der Paradiespforte. Sie orientierte sich mit ein paar Blicken und wandte sich dann an Otto Wermke. „Alles in Ordnung?“ fragte sie. „Natürlich. Der Herr wollte gerade aufbrechen.“ Nie zuvor war ihm die stellvertretende Heimleiterin so sympathisch erschienen. „Und Sie auch, wie ich sehe.“ Sie musterte ihn von oben bis unten, als wollte sie sich vergewissern, daß er auch proper gekleidet sei und der Institution keine Schande bereite. „Nur noch ein bißchen frische Luft schnappen.“ „Aber lassen Sie es nicht zu spät werden.“ Sie trat in den Korridor zurück und machte eine einladende Handbewegung. ,,Bitte, die Herren“, sagte sie, und Gregor Fröhlich blieb nichts, als der im Befehlston geäußerten Aufforderung nachzukommen. Er ging als erster durch die Tür, und als Otto Wermke ihm folgen wollte, wurde er von Frau Weskamp am Ärmel gehalten. „Sie sollten in der Auswahl Ihres Umgangs sorgfältiger sein“, raunte sie ihm zu. Otto Wermke wartete noch zwei Minuten, indem er so tat, als 158
studiere er die Aushänge am schwarzen Brett, und als er annahm, Gregor Fröhlich müsse sich genügend weit entfernt haben, trat er vors Haus und überblickte von der obersten Stufe der Freitreppe die Straße, die nur noch von wenigen Passanten bevölkert wurde. Gregor Fröhlich war nirgends zu sehen. In der Telefonzelle hinter dem Heim entnahm er seiner Brieftasche die Visitenkarte Mönchs und wählte dessen Dienstnummer. Zu seiner Enttäuschung hörte er Sekunden später die trompetende Stimme Steins und erfuhr, nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte, daß der Hauptmann nicht mehr auf der Dienststelle sei. „Wo kann ich ihn denn erreichen?“ „Um was geht’s?“ „Ich rufe wegen Wilhelm Klausner an.“ „Für den Fall Klausner bin ich genauso zuständig.“ „Ich möchte aber gern Hauptmann Mönch sprechen.“ Das fehlt noch, dachte er, daß ich dir die Sache auf die Nase binde. „Ist er nach Hause gegangen?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Könnten Sie mir seine Nummer geben?“ Er hörte ein unwilliges Schnaufen, und gleich darauf wurde er angeherrscht: „Ich habe Ihnen doch bereits gesagt: Ich bin auch zuständig!“ Dann kostete es Otto Wermke noch einige Zähigkeit und viel Überredungskunst, ehe Stein bereit war, den privaten Anschluß seines Vorgesetzten preiszugeben, allerdings mit der barschen Nachbemerkung: „Es gibt aber auch immer wieder Leute, die eine Extrawurst gebraten haben wollen. Ende.“ Das Gespräch mit dem Hauptmann gestaltete sich dann einfacher, als er befürchtet hatte. Zwar schien auch Mönch zu Anfang ein wenig ungehalten, weil er offenbar beim Abendessen gestört worden war, doch verstand Otto Wermke es, sein Interesse zu reizen, indem er andeutete, er sei im Besitz einer wich159
tigen Neuigkeit, die er nicht bis zum Morgen für sich behalten wolle, weil sie möglicherweise sofortige Aktivität nötig machte. Als er die Zelle verließ, sah er den Citroen seines älteren Sohnes vor der Pforte des Heims, und er trat in den Schutz eines Hauseingangs, von wo aus er beobachtete, wie Walter und nach ihm seine Frau ausstiegen und entschlossenen Schritts die Freitreppe hinaufgingen. Der erste Schock angesichts der gerade noch vermiedenen Begegnung wandelte sich, noch bevor die beiden im Heim verschwunden waren, in Erleichterung darüber, daß er jetzt nicht auf seinem Zimmer war, und schließlich in eine fast lausbübische Fröhlichkeit. Er stellte sich vor, wie Walter, entschlossen, einen alten Mann vor weiteren Dummheiten zu bewahren, mit ernster, vor Besorgnis bewölkter Miene Frau Weskamp erklärte, er sei gekommen, den Vater für ein paar Tage in eine ruhigere Umgebung zu bringen, und wie Sohn und Schwiegertochter befremdet und Frau Weskamp ratlos dastanden. Er fühlte sich wie ein Junge, der hinter die Schule gelaufen ist und nun das bißchen erschlichene Freiheit von ganzem Herzen genießt. Am Taxistand mußte er nicht allzu lange warten, nannte dem Chauffeur die Adresse, die Mönch ihm gegeben hatte, und wies ihn an, am Bahnhof vorbeizufahren, wo er einen Koffer abholen müsse. Der Gang zu den Schließfächern, das Einführen des Schlüssels und das Herausholen des Gepäckstücks Handlungen, die ihm Dutzende Male in Filmen geboten worden waren, in denen es um kriminelle Machenschaften ging weckten in ihm einen Hauch von Lust am Abenteuer, und er hielt, als er wieder im Wagen saß, den kleinen braunen Koffer an sich gepreßt, und er warf sogar einen Blick aus dem Heckfenster. Immerhin war es ja möglich, daß Gregor Fröhlich ihm gefolgt war. Der Hauptmann Mönch würde erstaunte Augen 160
machen, wenn er ihm den Koffer präsentierte. Er spürte schon geradezu seinen dankbaren festen Händedruck.
10 Hauptmann Mönch bewohnte in einem der verwirrend eintönigen Neubaugebiete eine mit genormtem Komfort ausgestattete Zweizimmerwohnung, deren einer Raum, wie Otto Wermke gleich beim Eintritt feststellte, dazu noch mit Möbeln von der Stange eingerichtet war: Schrankwand mit eingebautem Sekretär, großgeblümte Polstergarnitur, Stehlampe mit plissiertem Papierschirm, Kunstfaserteppich mit Täbrismuster und an einer Wand die Reproduktion des äußerst beliebten Gemäldes mit einem Liebespaar am Strand, das nichts als andauernd Lebensfreude und Zuversicht ausstrahlte. Anhaltspunkte dafür, daß der Kriminalist die Wohnung mit einem anderen Menschen teilte, entdeckte er nirgends. Überdies roch es nur nach Mann. Mönch sah aus, als habe er einen anstrengenden Tag hinter sich gebracht und sei nun froh, in Strickjacke, Manchesterhose und Pantoffeln ein paar Stunden wohlverdienter Ruhe genießen zu können, so daß es Otto Wermke für einen Augenblick leid tat, ihm den Feierabend mit Dienstlichem zu verderben. Doch er rechtfertigte sich mit dem Gedanken, er habe immerhin Wichtiges mitzuteilen und zu übergeben. Er setzte sich, nachdem er aufgefordert worden war, akzeptierte eine Flasche Pilsner und beantwortete den fragenden Blick des Kriminalisten mit der Ankündigung: „Was ich hier habe, wird Sie sicherlich sehr interessieren.“ Unterwegs im Taxi hatte er noch einmal erwogen, ob er Dagmar Günthers dringendem Wunsch entsprechen und behaupten solle, er habe den Koffer in Verwahrung gehabt und in der Verwirrung vergessen, ihn der Polizei auszuhändi161
gen, war aber dann doch endgültig von der Erwägung zurückgetreten. „Frau Günther hat mir das hier übergeben.“ Mönch nahm den über den Tisch gereichten Koffer entgegen und vermittelte dabei den Eindruck, als empfange er eine höchst zweifelhafte Gabe. „Frau Günther?“ fragte er. „Ihnen?“ „Das war so“, begann Otto Wermke und schilderte mit der ihm geboten erscheinenden Ausführlichkeit die Begegnung vom Nachmittag, wobei er stets darauf bedacht blieb, das Motiv der jungen Frau zu erläutern und ihre Handlung in ein günstiges Licht zu rücken. Dabei ging er, ohne es eigentlich zu wollen, so weit, zu fordern, die Leute von der Polizei sollten sich im Umgang mit Bürgern eines weniger barschen Tons befleißigen, um die Barriere niederzureißen, die sich natürlicherweise zwischen Vernehmern und Vernommenen aufbaue, zumal in Fällen, in denen es sich um den unnatürlichen Tod eines Menschen handelte. Zwischendurch bestaunte er seine eigene Beredsamkeit und fand eine gewisse Lust daran, sich in Eifer zu reden. Und so bemerkte er nicht, daß Mönch an dem ausgedehnten Sermon nicht dasselbe Vergnügen fand wie er. Sei es, daß der über den Besuch zu abendlicher Stunde verstimmt war, sei es, daß ihm die Art und Weise mißfiel, mit der einer seiner Mitarbeiter attackiert wurde: Er saß, den kleinen Koffer auf dem Schoß, steif da und reagierte mit keinem Wort, bis der andere zu einem Ende gekommen war. Und auch dann sagte er nur: „Es war gut, daß Sie uns sofort in Kenntnis gesetzt haben.“ Und er trank einen Schluck Bier. Das soll nun alles gewesen sein? dachte Otto Wermke, enttäuscht wie am Vormittag, und er fragte: „Wird denn wenigstens Wilhelm Klausners Tochter keinen Ärger haben?“ Damit konnte er den Kriminalisten nicht aus der Reserve locken. Der blieb vorerst unzugänglich, dozierte, daß es die Pflicht eines jeden Bürgers sei, die Staatsorgane nach besten 162
Kräften zu unterstützen, eine Pflicht, die Dagmar Günther unterlassen habe, aus welchem Grund auch immer. „Und Sie hätten im übrigen korrekt gehandelt, wenn Sie mit dem Schlüssel zu mir gekommen wären. Sie waren nicht befugt, den Koffer selber aus dem Fach zu holen.“ „Heißt das….?“ „Das heißt, daß Sie sich eine Handlung angemaßt haben, die einzig und allein den staatlichen Organen zusteht.“ „Ich begreife nicht.“ Otto Wermke war wirklich ratlos. „Ich wollte Sie doch nur überraschen.“ „Was Ihnen ja auch gelungen ist.“ Hauptmann Mönch war offenbar des trockenen amtlichen Tons überdrüssig, mit dem er die nötige Distanz hergestellt zu haben glaubte. Immerhin hatte er am Morgen bereits erfahren, wie stark der alte Mann dazu neigte, sich mit Meinungen in die polizeiliche Aufklärung einzumischen. Jetzt aber, da er seine Betroffenheit registrierte, die jeden Moment in Beleidigtsein umzuschlagen drohte, ließ er davon ab, den strengen Polizisten herauszukehren, und sagte: „Dann wollen wir mal nachsehen, was die Dame uns beschert hat.“ „Und dann hätte ich noch Meldung zu machen betreffs eines Besuchs, den mir ein gewisser Gregor Fröhlich abgestattet hat“, sagte Otto Wermke, in seiner Unsicherheit unwillkürlich in der Diktion der Bürokraten. „Das ist der Lebensgefährte…“ „Ich weiß.“ Mönch blickte nur kurz von dem bereits geöffneten Koffer auf. „Eins nach dem anderen. Das hier hat Vorrang.“ Und er förderte drei dickleibige Briefmarkenalben zutage. Otto Wermke bemerkte sofort, daß der Hauptmann, seit er die Konvolute behutsam, fast liebevoll auf den Tisch gelegt hatte, nicht mehr der nur auf Korrektheit bedachte Kriminalist war; auch Abgespanntheit und Verdrossenheit waren von ihm abgefallen. Er schien in eine andere Haut geschlüpft zu sein. In die Augen 163
hinter den Brillengläsern trat so etwas wie ein Leuchten, die Hände zitterten leicht, und die Gesichtshaut färbte sich rosig bis hinauf zu dem weit zurückgewichenen Haaransatz. Nachdem er den Deckel des ersten Albums umgeschlagen und einige der steifen Blätter gewendet hatte, langsam, als könne er den Blick nicht losreißen von dem, was er da sah, hielt er erst einmal inne, nachdenklich, vielleicht auch überwältigt, und schweigend. Dann machte er sich hastig daran, die drei Bände durchzublättern, wie um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. „So etwas ist mir noch nicht unter die Augen gekommen“, sagte er schließlich, die Stimme belegt vor Bewunderung. Danach nahm er die Sammlung gründlicher in Augenschein, und im Nu schien er für seine Umgebung verloren. In der nächsten Viertelstunde bekam Otto Wermke nur noch einen aus Ausrufen zusammengesetzten Monolog zu hören, auf den er sich keinen rechten Reim machen konnte. „Diese Ganzsachen! Herrliche Stücke. Thurn und Taxis… Da, eine klassische Federstrichentwertung, noch eine! Eine schöner als die andere… Mehrkreisstempel, ganz klare! Ovalstempel, Ochsenauge, Würfelstempel… Die schwarze Eins! Drei Silbergroschen Braunschweig… Die Halbschilling Lübeck von achtzehneinundsechzig… Die Schweriner Viertelschilling im Viererblock, gestempelt. Kabinettstück! Die blaue Bergedorf…“ So ging das weiter und weiter, und dabei hampelte er vor Aufregung und Vergnügen. Dann saß er plötzlich stocksteif da, schluckte zwei-, dreimal und sagte leise und ehrfürchtig: „Eine Sachsen-Dreier, eine richtige rote Sachsen-Dreier von achtzehnfünfzig! Wenn die echt ist…“ Und er sah Otto Wermke aus weit aufgerissenen Augen an, als sei ihm ein Gespenst erschienen. „Wissen Sie, was das heißt?“ Und als Otto Wermke, ein bißchen eingeschüchtert von all den unverstandenen 164
Ausrufen und auch von der Erregung, die über den Mann gekommen war, nicht gleich Worte fand und nur verneinend den Kopf schüttelte, dozierte er hastig, warum es nur noch relativ wenige Exemplare, höchstens viertausend auf der ganzen Welt von einer Auflage in Höhe einer halben Million, gebe. „Weil die Marken nämlich benutzt worden sind, die Streifbänder und Kuverts der Sendungen zu verschließen, und beim Öffnen in den allermeisten Fällen zerrissen wurden.“ Noch während er die letzten Worte über die Lippen brachte, hatte er den Blick bereits wieder auf die Marken gesenkt, wie ein Süchtiger, der von seiner Droge auch nicht eine Minute lassen kann. Und er fuhr fort, Album um Album, Blatt um Blatt mit entzückten, ehrfürchtigen und erstaunten Bemerkungen zu kommentieren. „Sie verstehen wohl viel von der Sache?“ fragte Otto Wermke nach einer Weile, um nicht nur wie überflüssig dazusitzen. Da sah Mönch ihn verärgert an. „Ich sammle seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.“ Und nüchterner fügte er hinzu: „Zu solchen Schätzen habe ich es allerdings nie gebracht. Dazu braucht man Geld, viel Geld.“ „Ja, Kohlenhändler müßte man sein“, versuchte Otto Wermke zu scherzen, fiel aber gleich wieder in einen ernsten Ton zurück, als er nur Unverständnis auf dem Gesicht des anderen sah. „Ich meine: Frau Hanke könnte wohl recht gehabt haben, als sie von einer Millionenerbschaft sprach.“ „Allein diese Altdeutschland-Sammlung…“ Mönch klopfte mit dem Zeigefingerknöchel auf eines der Alben. „Den Wert wage ich gar nicht zu schätzen. Und dann dies hier!“ Er schlug ein anderes auf. „Soweit ich das übersehen kann: eine anscheinend komplette Sammlung von Nachkriegsmarken aus dem Gebiet der sowjetischen Zone mit lokalen Sondermarken, Überdrucken, Fehldrucken. Auch die Vier-Pfennig-Thüringei. Verste165
hen Sie? ,Thüringei’ statt ,Thüringen’.“ Das sagte er mit so viel Nachdruck, daß man hätte meinen können, Druckfehler seien für ihn die herrlichste Sache der Welt. Dann wies er auf das dritte Album. „Auch das ist ganz exquisit. Luftpostmarken der zwanziger und dreißiger Jahre. Ballon und Zeppelin eingeschlossen. Weltumflug von achtundzwanzig als Ganzsache… Gelber Hund… Alles da.“ Er holte tief Luft, wie ein Taucher, der zu lange unter Wasser gewesen ist. „Davon kann man nur träumen.“ „Und dabei wissen wir noch nicht, wieviel die Münzsammlung wert ist“, warf Otto Wermke ein. Die Abschweifung von den Briefmarken schien Hauptmann Mönch aus seinem Philatelistenhimmel auf die Erde zurückzubringen. „Wir sind dabei, uns von den zuständigen Justizbehörden eine Aufstellung der seinerzeitigen Erbschaft zu besorgen. Erbschaftssteuer muß gezahlt worden sein. Also muß eine Inventarliste existieren. Möglicherweise hat Klausner einen Teil der Sammlung damals verkauft, um die Steuer entrichten zu können.“ Und als erinnere ihn die Erwähnung einer Behörde an seine dienstliche Pflicht, stand er entschlossen auf und ging, nach einem letzten bedauernden Blick auf die Alben, in die Diele, und Otto Wermke hörte durch die nur angelehnte Tür, wie er telefonisch jemanden, wahrscheinlich Stein, anwies, sofort zwei Genossen in seine Wohnung zu schicken, „zwecks Sicherstellung von Wertobjekten und Beweisstücken“, wie er sich ausdrückte. Ob er sich wohl für zu schwach hält, eine Nacht allein mit den verführerischen Briefmarken unter einem Dach zuzubringen? fragte er sich, tadelte sich aber sofort als boshaft und ungehörig. Und während Mönch noch Dienstliches beredete, schlug Otto Wermke, weniger aus Neugier als um der Verlegenheit zu entgehen, Zeuge des Gesprächs zu werden, eines der Alben auf. 166
Die Marken erschienen ihm wie bunte, im Detail nicht zu deutende Papierschnitzel, bis er seine Brille aufsetzte und Wappen und Zahlen, Köpfe von Herrschern und Stempel erkannte. Bei dem Gedanken daran, daß diese kleinen Dinger und eine Münzsammlung seinen Freund wahrscheinlich das Leben gekostet hatten, spürte er Zorn in sich aufsteigen, und er klappte das Album so heftig zu, daß es ins Schleudern geriet, über die Tischkante kippte und zu Boden fiel. Erschrocken beeilte er sich, das dicke Buch wieder aufzuheben. Da sah er am Boden ein kleines Stück weißen Karton, das er aufhob und wieder in das Album hineinschieben wollte, weil er annahm, es gehöre zu der Sammlung. Doch dann erkannte er, daß es eine Visitenkarte war, und er las: Franz Kornbeißer. Darunter stand: Philatelistenverband im Kulturbund der DDR und Sachverständiger und zugelassener Auktionator sowie die Adresse. Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: Mittwoch, 25.5., 19.00 Uhr. Mittwoch, der fünfundzwanzigste Mai – das ist heute, dachte er. Und dann noch: Ist das Wilhelms Schrift? Vielleicht hat er sich mit diesem Sachverständigen verabredet, um die Marken zur Versteigerung zu geben… Aber das ist nicht Wilhelms Schrift, der hat größere Buchstaben geschrieben, nicht so krakelige wie die hier. Weiter kam er nicht in seinen Überlegungen, denn der Hauptmann trat wieder ins Zimmer. „Ich habe mir nur die Marken mal aus der Nähe ansehen wollen“, sagte Otto Wermke, „und dabei das gefunden.“ Er hielt Mönch die Visitenkarte hin. Der nahm sie, las, vermittelte für einen Augenblick den Eindruck, als denke er intensiv nach, und legte sie dann doch gleichgültig, wie es schien, auf den Tisch neben die Alben. Von der Schwärmerei, in die er über den Anblick der raren Sammlerstücke geraten war, war offensichtlich nicht mehr 167
auch nur der kleinste Rest geblieben. Er verstaute die Alben, wieder in dem Koffer, ohne sie noch einmal zu öffnen. Und dann begann er, zielgerichtet Fragen an Otto Wermke zu stellen, um Einzelheiten seiner Begegnung mit Dagmar Günther zu erfahren. Er machte sich nur wenige Notizen. Besonders interessiert, war er an Dagmar Günthers Versuch, Otto Wermke zu bewegen, den Koffer der Kriminalpolizei mit der Bemerkung zu übergeben, er habe ihn erst jetzt in dem gemeinsamen Zimmer im Heim entdeckt. „Das ist übel“, sagte er, „sehr übel.“ „Die junge Frau war verzweifelt“, wandte Otto Wermke leise ein. Er bereute, diesen Teil seiner Aussage nicht ausgespart zu haben, und er sagte auch: „Was wär, wenn ich Ihnen das verschwiegen hätte?“ Mönch sah ihn über den oberen Rand der wieder einmal heruntergerutschten Brille an, entgegnete nichts, sondern überflog das Notierte. „Nun, kommen wir zu Gregor Fröhlich“, sagte er aufblickend. „Der hat Sie also im Heim aufgesucht.“ „Gegen neunzehn Uhr.“Mönch nickte, als sei ihm die Tatsache bekannt oder als sei er nicht überrascht. „Weiter.“ Otto Wermke bemühte sich, die kurze Begegnung detailliert zu schildern, wobei er besonderen Wert darauf legte, seinen Verdacht herauszustellen, daß sein Besucher von Wilhelm Klausners Tod wußte, obwohl er so getan hatte, als sei er ahnungslos. Wieder nickte der Hauptmann. „Wir wissen“, sagte er, „daß sich Frau Günther und Herr Fröhlich heute gegen Mittag getroffen haben, wenn auch nicht in der gemeinsamen Wohnung in der Alten Kirchstraße. Frau Günther hat gleich nach ihrer Befragung durch den Genossen Stein einen Freund Fröhlichs aufgesucht, bei dem er sich momentan aufhält. Vielleicht ist es derselbe, bei dem er in der Nacht zum Sonntag, als Frau Günther ihren Vater zu Gast hatte, gewesen ist.“ 168
„Sie hat mich also auch angelogen, als sie mir sagte, ihr Mann ist noch nicht zurückgekommen“, merkte Otto Wermke kleinlaut an. „So halb und halb wenigstens. Dabei habe ich geglaubt…“ Er stockte, schüttelte den Kopf, als wolle er sich von einem unsinnigen Gedanken befreien. „Was haben Sie geglaubt?“ „Vielleicht bin ich auf dem Holzweg. Aber ich dachte, Fröhlich hätte durch jemand anderen von Wilhelms Tod erfahren haben können.“ „Und von wem?“ „Ich weiß nicht recht. Vielleicht von Horst Hanke.“ Und als er den Namen in diesem Zusammenhang nannte, erinnerte er sich plötzlich an die Bemerkung Gregor Fröhlichs bei ihrer ersten Begegnung in der Alten Kirchstraße, er habe die Briefe des Erbonkels an Horst Hanke gelesen. Also nicht nur von ihnen gehört, wie er vor Dagmar Günther behauptete. Reichlich aufgeregt berichtete er dem Kriminalisten von dieser fast verlorengegangenen Erinnerung. „Sehr gut beobachtet“, sagte Hauptmann Mönch, und Otto Wermke nahm dieses Lob mit Behagen auf. „Wir wissen auch von Horst Hanke, daß dem so ist. Gregor Fröhlich hat ihn ein paarmal aufgesucht. Wie oft genau, daran will sich Herr Hanke nicht mehr erinnern. Warum also sollte Gregor Fröhlich nicht dort von Wilhelm Klausners Tod erfahren haben?“ „Sehen Sie!“ Otto Wermke war erleichtert, so als habe er Dagmar Günther von jedem Verdacht reingewaschen. „Zumal wir“, fuhr der Kriminalist fort, „Horst Hanke schon am Dienstagmittag, sofort nachdem der Tote identifiziert worden war, zum ersten Mal befragt haben. Theoretisch hätte Fröhlich also schon am Dienstagnachmittag von dem Mord wissen können, für den Fall, daß er sich nach dem Streit mit Frau Günther zuerst in die Siedlung ,Vogelsang’ begeben hat und dann erst 169
zu seinem Freund gegangen ist.“ „Warum haben Sie den Burschen denn noch nicht beim Kanthaken genommen?“ Otto Wermke hatte rote Ohren vor Aufregung. Hauptmann Mönch lächelte amüsiert über so viel Eifer. „Alles zu seiner Zeit“, sagte er. „Aber vergessen Sie nicht: Das ändert nichts an dem Umstand, daß Frau Günther sich heute nachmittag mit Fröhlich getroffen hat.“ Und leiser, als spräche er mehr zu sich selbst, setzte er hinzu: „Mag sein, sie hat versucht, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Sicherlich hat sie aber auch…“ „So wird es gewesen sein“, unterbrach ihn Otto Wermke, froh, daß der andere ihm eine plausible Erklärung für das Verhalten der jungen Frau angeboten hatte. „Sie hält das alles allein eben nicht aus. Sie braucht den Mann.“ „… sicherlich hat sie aber auch von ihrer Vernehmung durch uns berichtet“, nahm Mönch seinen Gedankengang wieder auf, verstummte dann und trat an den Tisch. „Sie werden darüber gesprochen haben. Es ist doch das Natürlichste von der Welt, daß Eheleute sich gegenseitig ihre Erlebnisse und Sorgen mitteilen.“ Der Kriminalist erwiderte nichts. Er nahm die Visitenkarte in die Hand, betrachtete sie, drehte sie herum, las die Notiz. Dann steckte er sie in die Brusttasche. „Haben Sie noch Appetit auf ein Bier?“ fragte er ohne Übergang. „Nein, danke“, sagte Otto Wermke, ein wenig verwirrt von der abrupten Wendung des Gesprächs. „Ich muß zurück ins Heim. Die werden sowieso kopfstehen, weil ich weggegangen bin, ohne mich abzumelden.“ „Sie machen es der Leitung Ihres Heims auch nicht gerade leicht.“ Mönch betrachtete den kleinen alten Mann, der da verlegen vor ihm stand, mit einem Ausdruck kumpelhafter Sympathie. 170
„Ich bin sonst ein ganz ruhiger Mensch“, verteidigte sich Otto Wermke. „Sonst… Ich kenne das. Es gibt Zeiten, da geschieht rein gar nichts, auch in meinem Beruf. Und dann kommt es knüppeldick über einen – so wie jetzt.“ Er goß sich und seinem Gast die Biergläser noch einmal voll. „Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich an und sage, Sie sind bei mir. Dann könnten wir in aller Ruhe noch ein bißchen in dem Fall rumstochern.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Eigentlich dürfte ich mich mit Ihnen gar nicht einlassen. Laut Dienstvorschrift ist es mir untersagt, unbeteiligte dritte Personen mit Untersuchungsergebnissen bekannt zu machen. Aber was soll’s? Sie stecken mindestens genauso tief in der Geschichte wie ich. Ich rufe jetzt also an.“ „Das wäre freundlich.“ Und während Hauptmann Mönch zum Telefon ging, nahm Otto Wermke wieder im Sessel Platz und begann sich heimischer zu fühlen inmitten der genormten Einrichtung. „So, das wäre erledigt“, sagte Mönch, als er wieder das Zimmer betrat. „Frau Weskamp ist nun beruhigt und läßt grüßen. Ihr Sohn nebst Frau, soll ich ausrichten, sind sehr besorgt und verstimmt wieder abgefahren.“ Nachdenklich strich er sich übers Kinn. „Seltsam, für wie unselbständig und aufsichtsbedürftig man ältere Leute hält.“ „Das hat Wilhelm auch immer geärgert.“ „Der scheint nun nicht gerade ein Ausbund an Besonnenheit gewesen zu sein.“ Damit waren sie wieder bei dem Thema, das sie – jeden auf seine Weise – beschäftigte und bedrückte. „Glauben Sie“, fragte Mönch, „daß Frau Günther es war, die den Koffer in dem Schließfach abgestellt hat? Und wenn sie es war: Warum hat sie das getan?“ „Wahrscheinlich wollte sie das Zeug nicht im Haus haben.“ 171
„Sie hätte die Alben doch dem Genossen Stein übergeben können.“ „Ich sagte doch schon: Sie hat sich vor lauter Aufregung und Furcht nicht getraut.“ Hauptmann Mönch winkte ab. „Das sind altbekannte Ausreden. Dergleichen bekommen wir zu oft zu hören, als daß wir noch viel darauf geben. Denn fast immer steckt hinter so etwas ein ganz handfestes Interesse.“ Otto Wermke hörte es nicht gern, daß der Hauptmann Kurs darauf zu nehmen schien, Dagmar Günther ins Zwielicht zu rücken, und seine Stimme klang fast beschwörend, als, er zu bedenken gab: „Aber sie wollte den Koffer doch nicht behalten. Was Sie vermuten, da reimt sich doch einiges nicht zusammen. Sie hat mir den Schlüssel richtiggehend aufgedrängt.“ „Eben. Genauso sehe ich das auch: Da reimt sich einiges nicht zusammen.“ Wie zufällig zog er die Visitenkarte aus der Brusttasche und wedelte mit ihr. „Und dann noch die Karte! Irgend jemand ist bei einem Auktionator gewesen, ganz gewiß, um sich nach den Möglichkeiten für einen Verkauf oder eine Versteigerung der Briefmarken zu erkundigen, vielleicht auch nur, um in Erfahrung zu bringen, wo er sie schätzen lassen kann. Wer war das? Wilhelm Klausner?“ „Die Notiz auf der Rückseite stammt nicht von ihm. Ich kenne Wilhelms Schrift.“ „Wer war es dann?“ Hauptmann Mönch trank einen Schluck Bier, legte den Kopf in den Nacken und starrte die Decke an. „Und außerdem ist zu fragen: Wann ist er dort gewesen?“ „Das kann frühestens gestern gewesen sein, Montag war noch Pfingstfeiertag.“ „Sehr gut.“ In Mönchs Stimme schwang Anerkennung. „Frühestens gestern also. Und heute wollte der Betreffende oder die Betreffende mit diesem Herrn…“, er hielt die Karte vor das 172
emporgewandte Gesicht und las ab: „… Kornbeißer zusammenkommen.“ Entschlossen nun wagte sich Otto Wermke noch einen Schritt weiter vor. „Warum sollte sich Frau Günther überhaupt die Mühe gemacht haben, die Marken schätzen zu lassen oder sie zum Verkauf anzubieten? Nach Wilhelms Tod erbt sie sowieso alles. Da mußte sie sich doch nicht dermaßen beeilen.“ Hauptmann Mönch senkte den Kopf, rückte seine Brille zurecht und betrachtete sein Gegenüber mit einer Mischung aus Respekt und Belustigtsein. „Unser Beruf,“ sagte er, „scheint immer mehr eine Sache für jedermann zu werden. Wenn das so weitergeht, sind wir eines Tages überflüssig. – Aber im Ernst: Sie könnte natürlich die Verabredung mit diesem Kornbeißer getroffen haben, weil sie vom Tod ihres Vaters noch nichts wußte.“ Otto Wermke spürte ein Kribbeln in Händen und Füßen, wie immer, wenn er Unverhofft in die Nähe einer wichtigen Einsicht geriet. „Sehen Sie!“ rief er. „Nun sagen Sie es: Frau Günther wußte am Dienstag noch nichts vom Tod ihres Vaters. Und er ist am Sonntag schon ermordet worden.“ „Und wie steht es in diesem Punkt mit Gregor Fröhlich? Hätte der nicht den Auktionator aufsuchen können?“ „Der hat am Dienstagmittag die Wohnung verlassen, im Streit. Und bei dem Streit ging es gar nicht um die Briefmarken, sondern nur um fünfhundert Mark. Ich war dabei.“ „Sie waren dabei?“ Hauptmann Mönch nickte. „Und was, wenn der Streit nur gespielt war, extra für Sie?“ „Unmöglich! So etwas kann man mir nicht vorspielen“, widersprach Otto Wermke energisch und erinnerte sich im selben Moment, schon mal einen ähnlichen Verdacht gehegt zu haben. „Und was, wenn Fröhlich nach kurzer Zeit wieder nach Hause gekommen ist, von dem Koffer erfahren hat und gleich aktiv 173
wurde? Bei solchen Beträgen habe ich schon den heiligsten Zorn im Nu verfliegen und die nackte Gier einziehen sehen.“ „Dafür haben Sie keinen Beweis.“ „Nein, aber wir wissen, daß Frau Günther Sie angelogen hat, als sie Ihnen sagte, sie hätte ihren Lebensgefährten seit gestern mittag nicht mehr getroffen.“ „Das beweist noch nicht, daß Fröhlich schon am Dienstag wieder in die Wohnung zurückgekehrt ist, von den Marken erfahren und Kontakt mit einem Händler aufgenommen hat.“ Hauptmann Mönch zeigte deutliche Anzeichen von Staunen ob der Vehemenz, mit der Otto Wermke die Frau verteidigte. Und es schien ihm jetzt, im Gegensatz zu dem morgendlichen Gespräch, als er bei aller Sympathie zunehmend in ihm den sich besserwisserisch aufdrängenden und die Arbeit behindernden Amateurdetektiv gesehen hatte, Spaß zu machen, mit dem alten Mann das althergebrachte Kombinier-Spielchen zu treiben, das mit der kriminalistischen Praxis nur am Rand und insofern zu tun hatte, daß es den Geist locker hielt. Vielleicht trug der Umstand, daß die Unterhaltung jetzt vor einem Glas Bier und in der eigenen Wohnung stattfand, zu dem Stimmungs- und Sinneswandel bei. „Es ist richtig“, sagte er, „wir haben keinen Beweis für diese Annahme. Aber wir haben immerhin einen Schriftexperten, der mit einiger Sicherheit herausfinden wird, wer die Anmerkung auf der Visitenkarte geschrieben hat. Und dann gibt es ja auch noch den Herrn Kornbeißer. Lassen wir also unsere Vermutungen vorerst ruhen und warten wir ab.“ Doch Otto Wermke war durchaus nicht gesonnen, das Hin und Her von Meinungen und Annahmen ohne weiteres abzubrechen. Er gedachte, kühn geworden durch den Eindruck, den er auf den Kriminalisten gemacht hatte, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Er begann unverzüglich, dieselbe These, nun aber mit mehr Nachdruck, wieder zu vertreten, die er am 174
Morgen schon einmal vorgetragen hatte, daß nämlich nach seiner Überzeugung niemand sonst verdächtiger sei, den Mord an seinem Freund begangen zu haben, als die Böhms. Allenfalls noch müsse man, da ja die Leiche im Baggerloch bei der Siedlung „Vogelsang“ gefunden worden war, Horst Hanke unter die Lupe nehmen. „Möglicherweise“, sagte er, hingerissen vom eigenen Redefluß, „gibt es da eine Verbindung zwischen den Böhms und diesem Hanke. Warum sollten die nicht unter einer Decke stecken?“ „Was Horst Hanke betrifft“, entgegnete Hauptmann Mönch, amüsiert angesichts der geradezu verwegenen Mutmaßungen seines Besuchers, „so kann ich Sie beruhigen. Den haben wir natürlich nicht vergessen, und wir werden ihn auch nicht aus den Augen lassen.“ „Sehr präzise ist die Auskunft ja nicht“, sagte Otto Wermke verdrossen. Jetzt lachte der Hauptmann. „Da haben Sie recht. Es ist in diesem Fall überhaupt noch nicht alles so präzis, wie wir es gern hätten. Aber, wenn es Sie beruhigt: der Hanke hat ein ziemlich windiges Alibi für die vermutliche Tatzeit.“ „Ist ja fein, daß Sie wenigstens hier etwas unternommen haben. Um die Böhmes hingegen scheinen Sie sich überhaupt nicht zu kümmern.“ Beharrlich kam Otto Wermke auf das Paar in Friedrichslust zurück. „Woher wollen Sie denn das wissen?“ fragte Hauptmann Mönch erstaunt. „Von Frau Pachulke, der Mutter Heidemarie Böhms. Die hat mir erzählt, ihre Tochter hätte von Wilhelms Tod erst durch sie erfahren, heute mittag bei einem Besuch.“ „Das hat sie Ihnen also erzählt.“ „Jawohl. Und daraus schließe ich, daß Sie es bis jetzt nicht für nötig gehalten haben, die Böhms auszuquetschen.“ Das Tem175
perament drohte jetzt vollends mit Otto Wermke durchzugehen, und er war nahe daran, schon wieder und diesmal mit deftigeren Worten seine Überzeugung von der Täterschaft der Böhms vorzutragen. Doch er zügelte sich und beschränkte sich auf die Warnung: „Wenn Sie da nur keinen Fehler machen. Seit ich dieser Heidemarie und diesem Böhm begegnet bin, bringen mich keine zehn Pferde mehr davon ab…“ „Übrigens…“ Hauptmann Mönch versuchte den Redefluß durch ein begütigendes Handzeichen zu dämmen. „Übrigens war Böhm zu der Tatzeit nicht in Friedrichslust. Er hat sich seit Freitag abend bei seinen Eltern aufgehalten, in irgendeinem mecklenburgischen Nest.“ „Der Mann lügt!“ Otto Wermke konnte kaum noch an sich halten. Er rappelte sich aus dem Sessel hoch, und fast hätte er mit dem Fuß aufgetrumpft. „Ich habe doch mit ihm gesprochen, am Montagvormittag, in seinem eigenen Haus!“ „Das zu erfahren war uns ja auch wichtig und nützlich.“ Ehe Otto Wermke neuerlich das Wort nehmen konnte, klingelte es, und Hauptmann Mönch ging zur Wohnungstür. Er kam mit zwei Männern ins Zimmer zurück, die man an Gang und Haltung trotz der Zivilanzüge als Polizisten erkannte. Ihnen übergab er mit einigen Anweisungen den Koffer, und zu Otto Wermke sagte er: „Die Genossen bringen Sie gern nach Hause.“ Und fügte noch hinzu: „Dann also bis zum nächsten Mal. Auf Wiedersehen.“ Und Otto Wermke blieb nichts, als den freundlichen Hinauswurf hinzunehmen, wenn sich auch alles in ihm sträubte, jetzt, da es anfing, besonders interessant zu werden, in seine langweilig gewordene Behausung zurückzukehren.
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11 Die Nachricht, daß dieser Herbert Böhm angeblich über Pfingsten nicht in Friedrichslust gewesen sei, bescherte Otto Wermke eine turbulente Nacht. Er schlief sehr spät erst ein und wachte in Stundenabständen wieder auf, immer geweckt aus ein und demselben quälenden Traum, den er nicht aus dem Kopf vertreiben konnte und der, sobald er wieder in Schlaf fiel, genau an der Stelle, an ,der er abgerissen war, wieder anknüpfte: Er irrte,-schwere Schuhe an den Füßen, durch ein dämmriges Labyrinth, verfolgt von einem Geschöpf, das er nicht zu sehen bekam, weil er sich nicht umwenden konnte, von dem er aber irgendwie wußte, daß es von riesigen Ausmaßen war und eine gräßliche Fratze hatte. Als er gegen fünf Uhr neuerlich aus dem Schlaf aufschreckte, mit klopfendem Herzen und bleischweren Gliedern, entschloß er sich, nicht noch einmal in den bedrängenden Traum zurückzukehren, und stand auf. Noch einigermaßen benommen, setzte er sich im Bademantel in seinen Sessel und zündete sich ein Zigarillo an, mit schlechtem Gewissen, wie immer, wenn er auf nüchternen Magen rauchte. Und während er so dasaß, wurde ihm zum ersten Mal seit Wilhelm Klausners Tod bewußt, was infolge der Erschütterungen und Aufregungen der letzten Tage nicht in seine Überlegungen vorgedrungen war: daß nämlich binnen kurzem schon Wilhelms Platz von einem anderen Mann eingenommen werden würde. Das Feierabendheim „Christoph Wilhelm Hufeland“ stand in dem Ruf, nach den modernsten Erkenntnissen der Geriatrie geführt zu werden, und war darum sehr begehrt. Es gab eine lange Warteliste. Er sah Schlimmes auf sich zukommen, und je heftiger er sich dagegen wehrte, sich einen möglichen neuen Zimmergenossen vorzustellen, desto hartnäckiger verweilten seine Gedanken bei der Mühsal, die es zweifellos kosten würde, sich mit einem neuen Mann zu arrangieren, und entwarfen ihm allerlei düstere Bilder von 177
unausstehlichen Zeitgenossen, von Streitsüchtigen, von Nörglern, von Pedanten, von Senilen… Als er schließlich bei der Vision angelangt war, er streite sich mit einem ekelhaft dicken Kerl, der ihm das Rauchen im gemeinsamen Zimmer verbieten wollte, riß er sich aus dem Sessel, stellte sich unter die Dusche und vertrieb die unerfreulichen Gedanken mit abwechselnd warmen und kalten Wassergüssen. Das schuf Klarheit im Kopf, und die Aussicht, demnächst mit einem wildfremden Menschen zusammenleben zu müssen, ließ in ihm nicht länger das Gefühl des Unbehagens und des Schreckens, dem er demnächst ausgeliefert sein würde, wuchern, sondern intensivierte jetzt auch von dieser Seite her seinen Zorn auf den Mörder, dem er diese zusätzliche Misere verdankte. Etwas wie Haß begann sich sogar in ihm auszubreiten, eine Empfindung, die ihm bisher unbekannt geblieben war und vor der er hilflos stand, weil er merkte, daß sie durchaus nicht dazu angetan war, ihm Erleichterung zu verschaffen. Als erster bekam Herr Friedrich seine üble Laune zu spüren, nachdem er, nichtsahnend und besorgt wie immer, gesagt hatte, daß er von Frau Weskamp erfahren habe, er sei am Abend zuvor über Gebühr lange außer Haus gewesen, was doch bei seiner geschwächten Konstitution unmöglich gut sein könne. Ihm antwortete er in schroffem Ton, seine Gesundheit gehe allein ihn an, und im übrigen sei er kein Strafgefangener, der abends eingeschlossen werde. Daraufhin ließ Herr Friedrich bekümmert von ihm und hatte für die nächsten Stunden Stoff und Grund, über Aggressionsneigungen alter Menschen als Ausfluß unübersichtlicher Situationen und nichtbewältigter Konflikte nachzusinnen. Noch schlechter erging es Walter Wermke, der von seiner Dienststelle aus anrief und sich beleidigt nicht nur darüber beschwerte, daß er ihn nicht angetroffen habe, sondern auch, daß er nicht einmal hätte erfahren können, wo er, sein 178
Vater, sich aufhielt; dabei habe er doch seine knappe freie Zeit darangesetzt, ihn für ein paar Tage „aus der ungesunden Atmosphäre von Mord und Totschlag“ in „den Frieden eines harmonischen Heims“ überzuführen. Ihm erklärte Otto Wermke, mühsam beherrscht: „Deine Fürsorge kannst du dir an den Hut oder sonstwohin stecken. Ich kann mir Besseres vorstellen, als mich mit dir und deiner Frau in eurem harmonischen Heim zu langweilen.“ Und die ärgerlich klingende Frage des Sohns, ob er etwa noch immer seine Nase in diese unappetitliche Angelegenheit stecke, schmetterte er mit der simplen, aber lautstarken Erklärung ab: „Jawohl, und ich habe auch nicht vor, sie da rauszuziehen, nur damit du dir nicht einen schweren Kopf zu machen brauchst.“ Otto Wermke war also von innerer Unruhe ergriffen. Es hielt ihn nicht in seinem Zimmer, nicht in diesem Haus; er hatte das Gefühl, etwas Wichtiges zu versäumen, wenn er den Tag ungenutzt verstreichen ließe. Alles Zaudern, alle Müdigkeit, alle Befürchtung, er könne sich bei den Kriminalisten mißliebig machen oder womöglich auf eine Spur stoßen, die ihm nicht angenehm wäre, waren überwunden. Er fragte nicht mehr danach, wer am Ende der Tragödie als der Schurke dastehen würde, die Böhms oder Horst Hanke, Dagmar Günther oder ihr Mann oder vielleicht jemand, von dem bisher noch niemand etwas wußte. Es drängte ihn nur, sich noch einmal auf den Weg zu machen, den er am Montag und am Dienstag, zwischen Hoffnung und Bangen, zurückgelegt hatte, diesmal aber mit offeneren Augen und mit viel Einblick, der ihm vor zwei, drei Tagen noch gefehlt hatte. Mir muß doch irgend etwas auffallen, sagte er sich, was uns weiterbringt, und er meinte mit uns den Hauptmann Mönch, als dessen Partner er sich seit dem vergangenen Abend empfand. Jedenfalls strotzte er vor Tatendrang. 179
Der Tag war denn auch dazu angetan, Aktivitäten zu wecken. Nach dem so gar nicht pfingstlichen Wetter und einer kurzen Übergangszeit, die Schauer und Aufklaren im Wechsel gebracht hatte, war der Himmel über Nacht wolkenrein geworden und strahlte nun in einem frühsommerlichen blassen Blau, so daß Otto Wermke für einen Augenblick erwog, den Übergangsmantel zu Hause zu lassen, ehe er ihn dann doch über den Arm hängte und sich zum Bahnhof begab. Er war noch unentschlossen, ob er zuerst in Richtung Friedrichslust oder zur Alten Kirchstraße fahren sollte, und entschied sich dann, mit dem Besuch bei Dagmar Günther zu beginnen. Schließlich hatte er dort ja zu berichten, daß der Koffer nun bei der Polizei war, und außerdem wollte er wissen, was es mit dem für ihn unerklärlichen Auftauchen Gregor Fröhlichs im Heim auf sich hatte. Daß er diese Wahl auch traf, weil er sich vor der Fahrt zu den Böhms doch ein wenig scheute, wollte er sich nicht eingestehen. Dagmar Günther grüßte ihn nicht gerade herzlich, als sie ihn vor der Tür stehen sah, und er gewann den Eindruck, als komme sein Besuch nicht gelegen. „Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns?“ fragte sie lustlos. „Wir haben gerade erst begonnen zu frühstücken.“ „Sie sind also nicht mehr allein in der Wohnung?“ Er gab sich ganz erstaunt, um die junge Frau nicht merken zu lassen, daß er über ihre Verbindung mit ihrem Lebensgefährten bereits Bescheid wußte. „Gregor ist vor einer Stunde zurückgekommen“, sagte sie mit abgewandtem Gesicht und ging ihm durch den Korridor voraus. In der Helle des Ateliers erkannte er, wie übernächtig sie wirkte. Und dann entdeckte er auch Gregor Fröhlich, der an einem kleinen Tisch in einer Ecke des Raums auf einem Schemel saß, 180
und auch der schien wenig geschlafen zu haben. Auf seinem Gesicht lagen allerlei Schattierungen von Grau, den Kopf bewegte er langsam und vorsichtig, als bereite es ihm Mühe, die Halsmuskeln zu strapazieren, und seine Hände zitterten leicht. „Ah, der Herr Wermke!“ sagte er. „Und dazu noch so früh. Ja, Rentner müßte man sein…“ Otto Wermke konnte sich auch diesmal nicht dazu durchringen, den Mann halbwegs akzeptabel zu finden. Die billige Ironie, dachte er, paßte zu ihm. Dennoch versuchte er, sachlich zu bleiben. „Ich muß doch berichten.“ „Berichten?“ fragte Dagmar Günther hastig. „Gibt es denn etwas Neues?“ Dabei warf sie ihm einen Blick zu, aus dem er die dringende Bitte herauszulesen meinte, seinen Bericht jetzt nicht vorzutragen. Und das brachte ihn aus dem Konzept. Auch Gregor Fröhlich schien nicht an Neuigkeiten interessiert, und als Dagmar Günther in den Korridor hinausging, um Otto Wermkes Mantel aufzuhängen, flüsterte er: „Um Gottes willen, kein Wort darüber, daß ich gestern bei Ihnen gewesen bin. Sie weiß nichts davon und braucht auch nichts zu wissen.“ Die beiden spielen also miteinander Verstecken, stellte er mißvergnügt fest, und jäh stieg wieder der Unmut in ihm auf, der ihn am frühen Morgen gepackt hatte, Und es gelang ihm nur mit Mühe, eine barsche Antwort zu unterdrücken. Er hatte nicht mehr das geringste Verständnis für Winkelzüge irgendwelcher Art, und er schwor sich, künftig bei keiner Lüge mehr Hilfestellung zu leisten. Entsprechend distanziert und mit grollendem Unterton sagte er denn auch: „Warum sollte ich Ihr Spiel mitmachen? Wir haben, glaube ich, nicht dasselbe Ziel.“ Eine unbeherrschte Handbewegung des anderen, mit der dieser fast eine Tasse vom Tisch gefegt hätte, zeigte ihm an, wie sehr die Antwort den jungen Mann getroffen und aus der Fassung 181
gebracht hatte. Doch dann sagte sich Otto Wermke, daß es ihm eigentlich schlecht anstehe, den Rechtschaffenen herauszukehren, da er doch nicht wußte, was die beiden bewog, voreinander Geheimnisse zu haben. Gleichwohl, er konnte sich nicht dazu durchringen, das Gesagte durch eine versöhnliche Bemerkung abzuschwächen, und so ärgerte er sich über sich selber, weil es ihm nicht gelingen wollte, seine Absichten gegen seine Skrupel durchzusetzen. Dann saßen sie, nachdem Dagmar Günther noch ein Gedeck geholt und Kaffee eingeschenkt hatte, um den kleinen Tisch, ohne daß ein Wort fiel. Die junge Frau blickte angelegentlich auf ihr Marmeladenbrötchen, aß aber nicht, und Gregor Fröh lich rührte hartnäckig in seinem Kaffee. Otto Wermke war noch so sehr mit der Frage beschäftigt, wie er sich verhalten sollte, daß ihm das Schweigen nicht als Peinlichkeit bewußt wurde. Er tauchte erst aus seinen Gedanken auf, als Dagmar Günther sagte: „Glauben Sie, daß Horst Hanke die Tat begangen haben könnte?“ „Warum fragen Sie das?“ „Ich habe gestern abend seine Mutter besucht. Die arme Frau ist ganz aus dem Häuschen, seit die Polizei bei ihnen war. Und Horst säuft seitdem und redet das wüsteste Zeug. Es scheint, sie ist jetzt so weit, daß sie ihm den Mord zutraut.“ „Und Sie?“ fragte Otto Wermke. „Trauen Sie ihm auch die Tat zu?“ „Wenn schon seine eigene Mutter so was annimmt…“, sagte Gregor Fröhlich. „Ich kann es nicht recht glauben.“ Die junge Frau schüttelte ratlos den Kopf. „Ein Verbrechen ist nun mal keine Glaubenssache“, kommentierte Gregor Fröhlich ungerührt und führte 182
endlich die Tasse zum Mund. „Was meinen Sie?“ wandte er sich an Otto Wermke. „Sie sagen es: Das ist keine Glaubenssache“, entgegnete der. Ihm mißfiel die Eilfertigkeit, mit der dieser Mann den Cousin seiner Frau abschrieb. „Horst Hanke neigt ja wohl zu Gewalttätigkeiten, und von Schlägereien zum Erwürgen eines Menschen ist es unter Umständen nur ein kleiner Schritt.“ „Hören Sie auf!“ rief Dagmar Günther und preßte die Hände gegen die Ohren. Gregor Fröhlich klirrte mit dem Löffel in seiner Tasse und enthielt sich jeden Kommentars. Und wieder breitete sich Schweigen aus um den kleinen Tisch. Otto Wermke haderte noch immer mit sich. Sollte er nicht endlich sagen, daß er Mönch aufgesucht hatte? Jeder von den beiden war ohne Wissen des anderen bei ihm gewesen, und die Erwähnung des Koffers und dessen, was mit ihm geschehen war, würde wahrscheinlich die junge Frau in die größte Verlegenheit bringen. Dennoch reizte es ihn, je länger, desto mehr, die Wirkung der Nachricht auf Gregor Fröhlich zu beobachten, nachdem der sich am gestrigen Abend so seltsam aufgeführt hatte. Würde er den Besuch im Heim leugnen? Würde er eine Ausrede erfinden, sich auf die Behauptung versteifen, er habe nur nach seiner Frau gesucht, von der Sorge um sie getrieben? Und wie würde er schließlich reagieren, wenn er erfuhr, daß der Koffer, nach dem er ihn doch offensichtlich so dringlich gefragt hatte, jetzt bei der Polizei in Verwahrung war? Und plötzlich konnte und wollte er nicht länger seinen Bericht zurückhalten, wollte Klarheit, selbst auf die Gefahr hin, daß Wunden geschlagen wurden. Daran, wie Hauptmann Mönch den Umstand aufnehmen würde, daß er die beiden informiert hatte, setzte er nur einen flüchtigen Gedanken. Was sollte der schon dagegen haben? 183
Also sagte er schließlich, an Dagmar Günther gewandt: „Ich habe übrigens den Koffer gestern abend noch bei der Polizei abgegeben. Ich wollte ihn nicht die Nacht über behalten.“ Ihr Kopf zuckte hoch, als habe ein elektrischer Schlag sie getroffen. Sie blickte jedoch nicht ihn an, sondern Gregor Fröhlich, der sich gelassen zu geben suchte, aber nicht verhindern konnte, daß sich seine Züge verzerrten. „Laß dir erklären“, bat sie. „Also doch, ich habe es eigentlich immer gewußt.“ Schwerfällig kamen die Worte über seine Lippen. „Was ich nicht verstehe: Warum lügst du mich an, warum sagst du…“ „Gregor!“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Warum behauptest du, der Koffer ist in Sicherheit?“ Er ließ die Faust hart auf den Tisch fallen, und das Geschirr klirrte. „Verdammte Lügerei!“ Otto Wermke wollte nicht noch einmal Zeuge einer Szene werden, wie er sie zwei Tage zuvor an gleicher Stelle erlebt hatte. Zudem fühlte er sich diesmal verantwortlich für den aufkommenden Streit, und so nahm er seinen ganzen Mut zusammen, schlug gleichfalls mit der Faust auf den Tisch, daß es schmerzte, und schrie: „Jetzt ist Schluß!“ Seine Stimme klang ihm wie die eines Fremden. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf Gregor Fröhlich, und befriedigt und zugleich verwundert stellte er fest, daß aus dessen Miene nicht Empörung, schon gar nicht Drohung sprach, sondern nichts als Erstaunen. Und das ließ seinen Mut so weit ins Kraut schießen, daß er den Ton wechselte und mit überlegener Sachlichkeit fortfuhr: „Der Koffer ist in Sicherheit.“ „Aha!“ Gregor Fröhlichs Mund blieb offen. „Wo sollte der Koffer sicherer sein als bei der Polizei?“ „Dumme Frage.“ Gregor Fröhlich versuchte noch einmal, sich gegen den alten Mann aufzulehnen. „Hier natürlich. Dagmar ist 184
die Erbin ihres Vaters – wenn nicht andere testamentarische Bestimmungen existieren.“ „Die Erbin eines Mannes, von dem Sie keine Mark annehmen wollten. Und die Erbin eines Mannes, von dessen Tod Sie gestern abend, als Sie bei mir waren, nicht einmal etwas wußten. Jedenfalls haben Sie das behauptet.“ Otto Wermke hatte sich in die Rolle des Überlegenen gefunden, sie gab ihm Kraft und Sicherheit. „Und doch haben Sie mich bedrängt, ich solle ihnen verraten, ob Ihre Frau etwas bei mir hinterlassen hat.“ „Du bist bei Herrn Wermke gewesen? Du hast hinter mir her spioniert?“ Aus Dagmar Günther sprach eine grenzenlose Enttäuschung. Sie stand auf und begann mechanisch das Geschirr zusammenzustellen, ohne darauf zu achten, daß noch Kaffee in den Tassen war. „Ich hätte mich eben nicht auf das Spiel einlassen dürfen, es hat uns nur Unfrieden und Mißtrauen gebracht.“ „Auf welches Spiel?“ wollte Otto Wermke wissen. Doch sie antwortete nicht auf die Frage, fuhr vielmehr fort: „Jetzt weiß ich, daß es falsch war, was ich unternommen habe. Ich wollte Schlimmes verhindern und habe Schlimmeres angerichtet.“ Sie ging mit dem Geschirr aus dem Atelier, und die Männer hörten, wie sie in dem kleinen Verschlag herumwirtschaftete. „Wissen Sie, was sie gemeint hat?“ fragte Gregor Fröhlich und sah Otto Wermke betroffen an. „Das wollte ich gerade Sie fragen.“ Sosehr Otto Wermke auch geneigt war, die Ehrlichkeit in den Worten des anderen nicht anzuzweifeln, er blieb doch skeptisch genug, um sich nicht mit der ausgestellten Ahnungslosigkeit zufriedenzugeben. Um Wilhelm Klausners Tod rankten sich so viele Lügen, zu denen anscheinend auch die beiden jungen Leute kräftig beigetragen hatten, daß er niemandem mehr; ohne weiteres Glauben schenken mochte. „Sie sollten doch wissen, warum Ihre Frau den 185
Koffer zu mir brachte. Schließlich sind Sie mir kurz danach auf die Bude gerückt, um herauszubekommen, ob sie mir etwas ausgehändigt hat.“ Die neuerliche Erwähnung des Zusammentreffens vom Abend zuvor mißfiel Gregor Fröhlich. Statt zu antworten, nahm er zunächst Zuflucht zu seinem Tabakbeutel und den Blättchen und war scheinbar ganz auf das Drehen einer Zigarette konzentriert. Als er sie dann anzündete, sagte er wie nebenher: „Ich verstehe nicht, wieso Sie sich so intensiv um diese Angelegenheit kümmern, als ob Sie dafür bezahlt würden.“ „Ich verstehe es schon.“ Otto Wermke war nicht gesonnen, sich auf diese billige Weise abfertigen zu lassen, zumal jetzt nicht, da er erfahren hatte, daß auch dieser ungebärdige Bursche zu packen und zu schultern war. „Ich bin von Ihnen beiden in die Sache hineingezogen worden, und da dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich mir meine Gedanken mache und die eine oder die andere Frage stelle, auch wenn Sie Ihnen unangenehm ist.“ „Welche, zum Beispiel?“ Das sollte amüsiert klingen, offenbarte aber nur Spannung. „Zum Beispiel; Warum Sie sich einige Male mit Horst Hanke getroffen haben, auch schon vor Wilhelms Tod.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ fragte Gregor Fröhlich hastig, und der amüsierte Tonfall war gänzlich geschwunden. „Ich weiß es eben. Und dann könnte ich fragen, ob Sie wirklich keine Ahnung davon hatten, daß Wilhelm Klausner über Nacht bei seiner Tochter geblieben ist. Sie sind doch, kurz nachdem er weggegangen ist, nach Hause gekommen. Sie hätten ihm auf der Treppe oder auf der Straße begegnen können, und Ihre Wut auf den alten Mann war ja schon am Vormittag tüchtig angeheizt worden…“ „Soll das heißen…“ 186
„Und Sie wußten doch auch, daß Wilhelm Ihrer Frau die Briefmarkenalben anvertraut hat, sie hat es Ihnen gesagt.“ Otto Wermke ließ nicht locker. Er spürte, daß er Gregor Fröhlich in die Ecke gedrängt hatte, und war nicht willens, ihn wieder entkommen zu lassen. Eine große Lust, auszukundschaften, wie weit er den anderen treiben konnte, hatte sich seiner bemächtigt. „Wertvolle Briefmarken sind das, sehr wertvolle Briefmarken. Verstehen Sie etwas von Briefmarken, von Thurn und Taxis, von der roten Sachsen-Dreier?“ „Hören Sie auf! Sie sind ja total übergeschnappt und gemeingefährlich dazu.“ „Aber es gibt Leute, die sind auf dem Gebiet bewandert Sachverständige, an die man sich wenden kann, und die können einem genau sagen, was die Dinger wert sind.“ Gregor Fröhlich sprang auf die Füße, und einen Augenblick lang stand er schwankend da, und es sah so aus, als wollte er sich auf den alten Mann stürzen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Doch dann machte er nur eine wegwerfende Geste und setzte sich wieder. „Mit Ihnen ist nicht zu reden“, sagte er, nun um Festigkeit in der Stimme bemüht. „Sie haben sich in etwas verrannt, wollen anscheinend, daß ich ein Dieb, vielleicht sogar ein Mörder bin.“ Und als hätte sich ihm ein Rettungsanker geboten, der ihm Halt geben könnte in diesem Tumult von Verdächtigungen und Anschuldigungen, stieß er plötzlich ein verächtliches Lachen aus. „Ich weiß“, sagte er, „Sie mögen mich nicht. Ihr mögt uns alle nicht, ihr verkalkten Spießer.“ Und er ließ Otto Wermke dieselbe Suade angedeihen, die der zwei Tage zuvor schon einmal über sich hatte ergehen lassen müssen – die aggressive Elegie von einer unverstandenen Gruppe von Leuten, die Ehrlichkeit und Sehnsucht nach Freiheit und Selbstverwirklichung für sich gepachtet hatte und darum von den Angepaß187
ten und Ewiggestrigen gehaßt wurde. Hier fühlte er endlich wieder festen Boden unter den Füßen, hier kannte er sich aus, und er schien gesonnen, dieses Thema eine Weile zu strapazieren. Da Otto Wermke kein Verlangen danach verspürte, sich die läppischen Anklagen noch einmal anzuhören, blieb ihm reichlich Zeit, zu überlegen, ob er nicht besser daran täte, dem ungastlich gewordenen Ort den Rücken zu kehren und nach Friedrichslust zu fahren. Von einer Stippvisite bei Frau Hanke und ihrem betrunkenen Sohn wollte er zunächst Abstand nehmen, weil er sich nichts von einer Unterhaltung mit ihnen versprach. Eine Fahrt nach Friedrichslust hingegen konnte sehr aufschlußreich sein. Er malte sich aus, welches Gesicht diese Heidemarie Böhm machen würde, wenn er ihr auf den Kopf zusagte, daß Wilhelm am Sonnabend doch bei ihr gewesen sei und sich fünfhundert Mark von ihr hatte geben lassen. Denn woher sonst hätte er das Geld bekommen haben sollen? Solchermaßen in Gedanken verstrickt, fiel ihm nicht sogleich auf, daß Gregor Fröhlich seinen Sermon beendet hatte, weil Dagmar Günther wieder am Tisch stand. Er fand erst in die triste Wirklichkeit des Ateliers zurück, als er sie sagen hörte, sie wolle nun Marius von der Freundin abholen. Das war denn auch für ihn das Signal zum Aufbruch. Er warf noch einen Blick auf den Mann, der erschöpft von seinem ausgedehnten Vortrag und sichtlich unzufrieden mit dem Verlauf des späten Frühstücks auf seinem Schemel hockte und neuerlich dabei war, sich eine Zigarette zu drehen. Irgendwann sehen wir uns wieder, dachte Otto Wermke. Zaghaft stellte er sich vor, wie er diesem Verfechter eines Individualismus, der sich in einem Bart von beliebiger Länge und in T-Shirts und Bluejeans zu dokumentieren schien, beim nächsten Mal als Schuldigen an Wilhelms Tod begegnen würde. 188
Indessen kam er nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Denn als er sich anschickte, seinen Mantel von dem Kleiderständer im Korridor zu heben, klingelte es, und nachdem Dagmar Günther die Tür geöffnet hatte, sah er sich im Blickfeld von Hauptmann Mönch, hinter dessen Rücken die Gestalt des Leutnants Stein sich türmte. Mönch blinzelte in das Halbdunkel des Korridors, legitimierte sich vor der Frau, indem er seinen Ausweis vorwies, und verzog dann das Gesicht, als habe ihn jemand vors Schienbein getreten. „Mir scheint“, sagte er grämlich, indem er sich zu seinem Begleiter umwandte, „es ist unser Los, mit einem gewissen Herrn immer und überall rechnen zu müssen.“ Und dann fragte er Otto Wermke mit distanzierter Miene: „Haben Sie schon die neuesten Nachrichten an den Mann gebracht?“ „Sozusagen.“ Otto Wermke mochte den maliziösen Ton nicht. „Läuft das vielleicht Ihrer Absicht entgegen?“ „Meine Absichten wollen wir mal aus dem Spiel lassen.“ Ein kräftiger Schuß Verärgerung schwang nun schon in der Stimme des Kriminalisten. „Beschränken wir uns lieber darauf, daß ich der Leiter einer Morduntersuchungskommission bin. Begreifen Sie das?“ „Natürlich. Ich wollte mich ja auch überhaupt nicht in Ihre Befugnisse drängen.“ „Haben Sie das gehört, Genosse Stein?“ Der Leutnant war inzwischen neben seinen Chef getreten und musterte die beiden Gestalten im Korridor mit düsteren Blicken. „Herr Wermke will sich nicht in meine Befugnisse drängen! Was, glauben Sie, wird hier gespielt? Etwa der Wettlauf zwischen Hase und Igel? Hier geht es um einen Mord, den wir aufklären müssen. Wir! Verstehen Sie?“ „Ich hab nie was anderes angenommen.“ 189
„Und was suchen Sie dann hier?“ „Ich hab nicht gewußt, daß es mir verboten ist, Besuche zu machen, wo ich will.“ Otto Wermkes Enttäuschung ging tief, und er gab sich auch keine Mühe, sie aus seinen Worten herauszuhalten. Er begriff nicht, warum dieser Hauptmann so tat, als habe es den gestrigen Abend nie gegeben, als habe man nie gemeinsam Bier getrunken und nicht miteinander Mutmaßungen angestellt. „Herr Wermke, jetzt hören Sie mir mal zu.“ Mönchs Stimme nahm jetzt eine Färbung an, die zu einem geduldigen, menschenfreundlichen Pädagogen, der aber gleichwohl leicht genervt ist, weil sein Zögling mehrfach vorgetragene primitivste Regeln nicht kapieren will, gut gepaßt hätte. „Wir haben natürlich nichts dagegen, daß Sie Besuche machen, wann und wo Sie wollen. Aber Sie wissen doch genau, daß es hier nicht um irgendwelche Privatvisiten geht. Sie mischen sich massiv in unsere Arbeit ein.“ Und er trug wieder den Kanon von Regeln und Pflichten und Grundsätzen vor, an den der Bürger im Umgang mit der Polizei, „besonders im Fall gravierender Verbrechen“, sich zu halten habe. Otto Wermke aber hörte aus allem nur den nach erprobten Regeln agierenden, einzig auf Erfolg ausgerichteten und nicht von dem nötigen Schuß Leidenschaft beseelten Handwerker. Gewiß, er verstand nichts von Kriminologie, von der gesellschaftlichen und individuellen Verwurzelung des Verbrechens, kannte keine Statistiken, die besagen, welche Motivationen zu einer Tat häufiger sind als andere, wußte über die Psyche von Tätern nicht viel mehr als das, was er sich aus Romanen angelesen hatte, und er war ungeschult in den Strategien und Taktiken polizeilichen Vorgehens. Aber er sah Menschen, ringsum Menschen, in ihren Verstrickungen und Nöten, er nahm Anteil an ihnen, reagierte mit Sympathie und Ablehnung auf sie, neuer190
dings, so fürchtete er, womöglich selbst mit Haß, brachte aber auch Verständnis und Mitleid auf. Und deshalb war denn auch dieser Vortrag, den der Hauptmann hielt, an ihn verloren. Vor seinen Augen und Ohren verwandelte sich der Kriminalist, der ihm menschlich nähergekommen war, als er mit angehaltenem Atem und beglückt wie ein Kind unterm Christbaum vor den Briefmarken gesessen hatte, in einen Apparat, der nur aufs Funktionieren eingestellt war und bei dem jede mögliche Störung den Alarm des ihm eingepflanzten Schutzrelais auslöste. Hauptmann Mönch schloß freundlicher, nachdem er seine Belehrung an den Mann gebracht zu haben glaubte: „Und jetzt, Herr Wermke, gehen Sie brav nach Hause. Wenn alles hinter uns liegt, bin ich gern bereit, mich eine Stunde mit Ihnen zu unterhalten. Im Augenblick jedenfalls haben wir ein Gespräch mit Frau Günther und Herrn Fröhlich zu führen.“ Er sagte das unter bestätigendem Kopfnicken des Leutnants Stein, dessen Züge von der Strenge geprägt wurden, die Unsicherheit im Umgang mit Menschen eingibt. Otto Wermke erwiderte nichts, unterdrückte die Bemerkung: Ich weiß, ich bin hier überflüssig, zog den Mantel an und wollte die Atelierwohnung verlassen. Da hielt Mönch ihn zurück, vielleicht, weil er einsah, daß man den alten Mann, der so viel Anteil genommen hatte und noch immer nahm, nicht wegschicken konnte, ohne ein persönliches Wort zu verlieren. „Wir waren heute früh übrigens schon bei Herrn Kornbeißer“, sagte er. „Sie erinnern sich doch: Das ist der Briefmarkenexperte.“ „Warum sollte ich mich nicht an ihn erinnern? Schließlich bin ich noch nicht ganz verkalkt.“ „Entschuldigen Sie.“ Hauptmann Mönch versuchte die Peinlichkeit mit einem Lächeln zu überspielen, „jedenfalls kann er die Person, mit der er die Verabredung getroffen hat, recht ge191
nau beschreiben.“ „Wer war es?“ fragte Otto Wermke, ziemlich lustlos nach der ellenlangen Epistel, die man ihm gelesen hatte. „Sie trug keinen Vollbart“, sagte Mönch heiterer und blickte Dagmar Günther, die die ganze Szene mit wachsendem Unverständnis verfolgt hatte und im übrigen einen reichlich verschüchterten Eindruck machte, ermunternd an. „Und er ist auch nicht erst nach Wilhelm Klausners Tod dort gewesen, sondern schon vor einer reichlichen Woche. Und es war, wie Sie schon vermuteten, auch nicht Herr Klausner selbst.“ Die Böhms! dachte Otto Wermke, es war der geschiedene Mann dieser Heidemarie. „Trug der Mann etwa eine schwere goldene Armkette?“ fragte er. „Woher wollen Sie wissen, daß es überhaupt ein Mann war?“ Hauptmann Mönch argwöhnte, daß er in der Information zu weit gegangen sein könnte. Er wandte sich an Leutnant Stein. „Ist von einer goldeilen Armkette die Rede gewesen?“ Der zuckte die Achseln, sagte: „Als ob es darauf ankäme…“, und es war ihm anzumerken: Er mißbilligte, daß sein Vorgesetzter wieder in vertraulicherem Ton mit dem lästigen alten Mann umging, nachdem er ihn so eindrucksvoll in die Schranken gewiesen hatte.
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12 Nicht einen Augenblick dachte Otto Wermke daran, den Rat Mönchs, nach Hause zu gehen, zu befolgen. Er hatte es über alle Maßen satt, belehrt und gegängelt zu werden wie ein Unmündiger. Nicht, daß er dem Kriminalisten nachtrug, was der da von sich gegeben hatte und wie er von ihm behandelt worden war. Nur war er sich jetzt endgültig darüber klar: Dieser Mann unterschied sich in nichts von den anderen, die, nur weil sie noch jünger waren, leistungskräftiger und vielleicht schneller im Denken und Handeln und mit allerlei Vorbildung ausgestattet, die ihm abging, sich zu Patronen über Mitmenschen machten, denen sie keine Entschlüsse und Taten mehr oder noch nicht zutrauten. Er gehörte in eine Reihe mit Frau Weskamp, mit Herrn Friedrich und seinem eigenen Sohn Walter. Bei denen wüßte man auch nie genau, wo die Fürsorge aufhörte und der Versuch, ihn zu entmündigen, anfing. Und weil er darüber mit sich ins reine gekommen war, fragte er sich auch nicht mehr danach, ob er richtig handelte, wenn er sich jetzt stante pede nach Friedrichslust begab, und ob er sich damit unter Umständen Scherereien von behördlicher Seite aussetzte. Er war in seinem langen Leben schon zu oft angeeckt und hatte genügend Tadel und Nachteile von Institutionen, zivilen wie auch, im Krieg, militärischen, einstecken müssen, um noch Angst vor der eigenen Courage in sich zuzulassen. Er setzte sich auf die Bahn, nur von dem Gedanken beunruhigt, er könnte in Friedrichslust erst eintreffen, wenn bereits alles vorbei war. Immerhin hatten die Leute von der Polizei Autos, und vielleicht waren andere Kriminalisten schon am Ort, während Mönch und sein junger Mann sich noch in der Alten Kirchstraße zu schaffen machten. Er wußte ja schließlich nicht, wie viele Leute mit der Aufklärung dieses Mordes befaßt waren. Mit dieser Ungewißheit im Kopf, kam ihm die Fahrzeit unerträglich lang vor, und er versuchte, sie sich dadurch zu 193
verkürzen, daß er sich ausmalte, wie er Heidemarie Böhm und ihrem Mann gegenübertreten würde – ganz ruhig, das nahm er sich vor, nicht wie der Rächer aus einer Krimi-Klamotte im Fernsehen. Er wär nur begierig, in Gesichter zu sehen, die von der Schuld gezeichnet waren. Denn Spuren mußte ein solches Verbrechen doch in Gesichtern hinterlassen, dessen war er sicher. Und dann würde er Fragen stellen oder doch nur eine Frage: Warum habt ihr Wilhelm Klausner umgebracht? Auf keinen Fall Fragen nach dem Hergang der Tat. Darüber Näheres zu erfahren erfüllte ihn eher mit Furcht. Und er würde ihnen seine Verachtung zeigen, ja, auch seinen Haß. Danach, das nahm er sich vor, wollte er nach Hause fahren, um endlich in der echten, ruhigen Weise an Wilhelm denken zu können. Denn das entsprach nicht der Regel und war nicht gut, daß der Tod eines Mannes nicht Stille nach sich zog, sondern solch einen entsetzlichen Wirbel. Schon die bloße Vorstellung, daß Wilhelm jetzt nicht, wie es sich gehörte, in einer Friedhofskapelle aufgebahrt lag oder vielleicht schon unter der Erde seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, sondern wahrscheinlich noch immer in einer Kühlkammer des Gerichtsmedizinischen Instituts aufbewahrt wurde, zerschnitten und nur notdürftig wieder zusammengenäht, jagte ihm Schauer über den Rücken und verleidete es ihm, seine Tagträumereien fortzusetzen. An der Endstation der Bahn gestattete er es sich nicht, auf den Omnibus zu warten, sondern er ließ sich, um ja keine Zeit zu verlieren, von einem Taxi nach Friedrichslust hinausfahren, und je näher er seinem Ziel kam, desto rapider wuchs seine Befürchtung, er möchte zu spät zur Stelle sein. Hastig entlohnte er den Chauffeur und stürzte ohne der schäbigen Fassade des Lokals auch nur einen Blick zu schenken, in die „Seeperle“. Irritiert, da er nach der Erfahrung vom Pfingstmontag mit einem 194
nur mäßig besetzten Saal gerechnet hatte, stand er dann inmitten eines Gewimmels von Menschen, überwiegend Frauen unterschiedlichen Alters, die auch den letzten Stuhl besetzt hatten und die einander zu kennen schienen. Denn von Tisch zu Tisch gingen Reden hin und her, und da und dort wurden auch die Plätze gewechselt. Die Frauen lachten und lärmten, riefen einander Scherze zu und juchzten wie eine ausgelassene Kindergartenbesatzung, und jedermann legte es offenbar darauf an, sich in dem allgemeinen Krach durch größtmögliche Steigerung der eigenen Lautstärke verständlich tu machen. Otto Wermke stand verloren am Eingang und versuchte vorerst vergebens, sich in dem allgemeinen Getümmel zurechtzufinden. Er sah zwei Serviererinnen mit dampfenden Speisen yollbeladene Tabletts durch die Menge balancieren; doch nirgends erblickte er Heidemarie Böhm, so daß er schon mit dem Gedanken spielte, sich gleich zu ihrem Haus zu begeben. In diesem Moment kam der Ober, der ihn vor drei Tagen bedient hatte, mit lässig wiegendem Kellnerschritt und in noch derselben, nur noch schmuddeliger wirkenden Jacke auf ihn zu. Er grinste und deutete eine Verbeugung an. „Na, wieder einmal auf der Suche nach Heidi? Oder immer noch?“ fragte er, und das tief im Hals kollernde Lachen, das er folgen ließ, löste bei Otto Wermke so etwas wie ein Gefühl der Vertrautheit angesichts der fremden Menge aus. „Ist Frau Böhm heute nicht da?“ „Sie ist nicht gekommen. Ausgerechnet heute, wo eine ganze Kleiderfabrik ihren Betriebsausflug unternimmt.“ Das war nicht gerade freundlich gesagt. „Wußte sie denn, daß hier so viel Trubel sein wird?“ „Natürlich, die waren doch angemeldet. Um acht heut früh hat sie telefoniert. Sie fühlt sich nicht wohl und würde gegen Mittag kommen, hofft sie. Als ob uns damit geholfen ist. In einer 195
halben Stunde oder so, wenn die Leute mit dem Essen fertig sind, trudeln sie weiter. Die wollen nämlich noch in den Spreewald. Dann können wir auf Heidi verzichten.“ Otto Wermkes erster Gedanke war: Die Polizei mit ihren Autos ist schneller gewesen, die war schon heute früh hier, ich bin zu spät dran. Und die Vorstellung, daß er womöglich den weiten Weg vergebens hinter sich gebracht haben könnte, ließ seine Unternehmungslust mit einem Schlag erlahmen. Er spürte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen. „Gibt es keinen Platz mehr?“ fragte er. „Kommen Sie mit.“ Der Kellner führte ihn an einen Tisch neben dem Tresen, der für Stammgäste reserviert war und der vom Gaststättenleiter; selbst zu Zeiten stärksten Andrangs gegen jeden Versuch von Ausflüglern, ihn zu besetzen, verteidigt wurde. So traf den, Kellner auch jetzt ein fragender Blick des Wirtes, den er mit der Bemerkung quittierte: „Geht schon in Ordnung, Chef.“ Und Otto Wermke durfte Platz nehmen. An dem runden Tisch, um den acht Stühle standen, saßen nur zwei Männer. Der eine von ihnen redete auf den anderen ein,; der angetrunken war und mit leicht pendelndem Oberkörper; vor einem halb geleerten Bierglas und einem Schnapsstamper saß. Über dem Trubel im Saal ging Otto Wermke viel von dem verloren, was da gesagt wurde, doch so viel bekam er mit, daß die beiden Arbeitskollegen waren und daß der eine versuchte, den anderen vom Trinken abzuhalten. „Nimm dich doch zusammen“, hörte er. „Wenn das so weitergeht, kriegst du mächtigen Ärger. Der Brigadier hat gestern noch zu Manfred gesagt, er schmeißt dich ‘raus, wenn du das Saufen nicht; aufgibst.“ Was der Betrunkene, ein muskulöser, großer Mann mit schweren, von der Arbeit gezeichneten Händen, dem man auch noch in diesem Stadium alkoholbedingter Schlaffheit die Kraft an196
sah, die in ihm steckte, auf die Mahnung seines Kumpels in heiseren Lalltönen entgegnete, verstand Otto Wermke nicht. Es interessierte ihn auch nicht; er empfand nur, wie immer, wenn er auf Menschen traf, die schon am hellen Mittag mehr in sich hineinkippten, als sie vertrugen, einen leichten Ekel. Er hatte den Kopf voll von Wichtigerem, und das Herz war ihm schwer vor Enttäuschung. Eine der Serviererinnen stellte ein Glas Bier vor ihn hin, ohne daß er es bestellt hätte. Er trank einen Schluck, fand den Geschmack abscheulich und schob das Glas ein Stück von sich weg. Der Betrunkene schrie plötzlich: „Das kann man mit mir nicht machen!“ Dabei hatte er sich an der Tischplatte halb hochgestützt, sackte aber sofort wieder auf seinen Stuhl zurück. Der Mann neben ihm wurde daraufhin energisch, packte ihn am Arm, zerrte ihn auf die Beine und dirigierte ihn vor sich her auf den Ausgang zu, wobei er, als sie am Tresen vorübergingen, dem Wirt zurief: „Herbert bezahlt morgen.“ Allein an dem großen Tisch sitzend, inmitten des nun gedämpften Trubels, da die Betriebsausflügler inzwischen alle mit einer Mahlzeit versorgt waren und aßen, fühlte Otto Wermke sich verlassen und unnütz. Obwohl er sich damit abgefunden hatte, daß die große entlarvende Konfrontation, die sein Ziel gewesen war, wahrscheinlich nicht stattfinden würde, konnte er doch das Gefühl nicht unterdrücken, er sei um den Lohn seiner Bemühungen gebracht worden. Und daß es so gekommen war, schrieb er vor allem dem Verhalten von Hauptmann Mönch zu, der in seiner Vorstellung allmählich monströse Züge annahm. Ein arroganter Ehrgeizling wurde er für ihn, der keinen an seiner Seite duldete, aus Furcht, sein Ruhm könnte verdunkelt werden. Er erschien ihm nun genauso unausstehlich und beschränkt wie jener Inspektor Lestrade aus den von ihm sehr geschätzten Geschichten um Sherlock Holmes, dem der große 197
Detektiv immer um eine Nasenlänge voraus war und der sich am Ende doch stets wie der Sieger gebärdete. Und seine Abneigung gegen Mönch übertrug sich schließlich auf den ganzen Polizeiapparat, der ihm nun als aufgeblähte Institution erschien, die sich anheischig machte, allein und über die Köpfe der Bürger hinweg für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, und die es doch wieder einmal nicht hatte verhindern können, daß ein Mann sein Leben einbüßte, einfach so und am hellen Tag, weil ein habgieriges Pärchen sich sein Geld aneignen wollte. Hinterher allerdings, wenn das Kind im Brunnen lag, veranstalteten sie immer ein großes Trara. An diesem Punkt seines fruchtlosen Haderns hielt er erschrokken inne. Was soll das alles, fragte er sich, wie aus einem Rausch erwachend. In seiner Verwirrung zog er das Bierglas wieder zu sich heran und trank noch einen Schluck. Der schmeckte zwar scheußlich wie der erste, brachte ihn aber vielleicht gerade deswegen auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Natürlich: Die beiden konnten längst über alle Berge sein! Daß er nicht daran gedacht hatte. Immer nur Mönch, immer173nur die Polizei und was sie tat, war ihm im Kopf herumgegangen, und keinen, Gedanken hatte er an eine mögliche Flucht der Täter verschwendet. Dabei lag es doch zum Greifen nahe: Diese Heidemarie hatte sich abgesetzt. Womöglich hatte sie heute früh schon gar nicht mehr aus ihrer Wohnung angerufen und war mit ihrem Mann bereits Gott weiß nicht wo. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, wußte nicht, was er unternehmen sollte und ob er überhaupt noch etwas unternehmen konnte. Er bemerkte kaum, daß sich das Lokal schnell leerte und der fröhliche Radau sich nach draußen wälzte, auf die wartenden Omnibusse zu. Er hielt Ausschau nach dem Kellner, dem einzigen Menschen, der ihm in diesem fremden Restaurant einigermaßen vertraut war, sah aber nur die zwei 198
ziemlich erschöpft wirkenden Serviererinnen, die sich daranmachten, das Geschirr und die Gläser von den Tischen zu räumen. Als er ihn dann doch entdeckte, wie er von der Straße her wieder den Saal betrat, winkte er ihn zu sich heran. Der Kellner kam auch sofort, ließ sich auf einen der Stühle am Tisch fallen und zündete sich eine Zigarette an. „Puh!“ stöhnte er. „Das war wieder mal eine Schlacht. Immer, wenn Weiber bei so was in der Überzahl sind, ist der Teufel los. Männer sind da ganz anders, - nicht so furchtbar aufgedreht.“ Otto Wermke hatte keine Lust, sich der Philosophie des Mannes über den Unterschied der Geschlechter auf Betriebsausflügen hinzugeben. Er brauchte noch ein paar Auskünfte, und um die Prozedur abzukürzen, fragte er: „Trinken Sie einen Schnaps?“ „Mit Vergnügen. Nach dem Affentheater.“ Er rief zum Wirt hinüber: „Ernst, einen Braunen.“ Als er, ohne aufzustehen, das Glas vom Tresen genommen hatte, sagte er: „Prost!“, kippte den Doppelten und zwinkerte vor Behagen. „Das tut gut.“ „Es geht mir noch einmal um Frau Böhm“, begann Otto Wermke. „Hab ich mir gedacht.“ Der Kellner stellte das leere Glas ab und leckte sich die Lippen. „Die Heidi scheint ja ein Dauerbrenner bei Ihnen zu sein.“ Diesmal lag keine Spur von Mißtrauen in seinen Worten. „Aber Sie wissen ja: Die ist in festen: Händen.“ War in festen Händen, bis sie sich, gemeinsam mit ihrem früheren Mann, ihres Freiers entledigt hat, hätte Otto Wermke fast erwidert. Doch statt dessen fragte er: „Hat Frau Böhm gestern gearbeitet?“ „Gestern nicht. Mittwoch ist bei uns Ruhetag.“ Jetzt glaubte er völlige Klarheit zu haben. Heidemarie Böhm und ihr geschiedener Mann hielten sich bereits seit gestern 199
nicht mehr in Friedrichslust auf. Am Mittag hatte sie ihre Mutter besucht, um zu erfahren, ob man schon über WilhelmsTod Bescheid wußte, hatte gehört, daß die Leiche aufgefunden worden war, und war sofort nach Hause zurückgekehrt, um ihre Sachen zu packen und sich aus dem Staub zu machen. Vielleicht aber hatte sie ihr Gepäck schon bei sich, und ihr Mann begleitete sie, und so konnten die beiden auf der Stelle die Reise antreten. Er merkte, wie er vor Aufregung zu schwitzen anfing und wie sein Mund trocken wurde. Er trank noch einen Schluck von dem Bier und fragte: „Wie ist es, mögen Sie noch einen Braunen?“ „Dann ist aber genug. Ich bin schließlich im Dienst.“ Das letztere klang sehr pflichtbewußt und wurde mit entsprechend ernster Miene vorgetragen. Und während er das Glas zum Tresen hinüberreichte, um es wieder füllen zu lassen, fragte er pfiffig, die Brauen hochgezogen: „Sagen Sie mal, Sie sind doch nicht etwa selber der geheimnisvolle Freund von unserer Heidi?“ Otto Wermke spürte, daß er über dieser Vermutung rot wurde. „Nein, nein“, beeilte er sich zu versichern. „Ich war… sagen wir mal: der Freund ihres Freundes.“ „War? Haben Sie sich zerstritten?“ Der Kellner lachte. „Doch hoffentlich nicht wegen der Heidi.“ Otto Wermke stand in dieser Situation wahrlich nicht der Sinn nach Albernheiten. „Das tut hier nichts zur Sache“, antwortete er barsch. „Entschuldigen Sie. War nicht bös gemeint.“ Der Kellner leerte das Glas und schickte sich an aufzustehen. „Warten Sie noch einen Moment“, bat Otto Wermke. „Ich möchte gern wissen, wann sie Herrn Böhm zum letzten Mal gesehen haben.“ „Wann ich den Herbert Böhm zum letzten Mal…“ Der Kellner 200
sah sein Gegenüber forschend an, als zweifle er an dessen Ernsthaftigkeit. „Sie machen mir aber Laune.“ „Wieso? Ich meine: Ist er noch mal hier gewesen? Sie haben mir doch neulich erzählt…“ „Das fragen Sie am besten die Heidi selbst. Da kommt sie gerade.“ Und er rief: „Der Herr hier hat Sehnsucht nach dir.“ Otto Wermke begriff nicht sofort, und als er hoch sah, stand Heidemarie Böhm schon am Tisch. „Grüß dich, Lothar“, sagte sie zu dem Kellner. Sie schien Otto Wermke nicht auf Anhieb zu erkennen, aber nach ein paar Sekunden fragte sie doch: „Was treibt Sie denn um Gottes willen hierher?“ Es lag keine Angriffslust in ihrer Stimme, kein Spott, nicht einmal Verwunderung darüber, den alten Mann vor sich zu haben, der sie anstarrte, als könne er seinen Augen nicht trauen. Und auch ihr „Gibt’s was Neues?“ klang eher gleichgültig. Sie nahm an dem Tisch Platz, ohne sich weiter um Otto Wermke zu kümmern, und kramte in ihrer Handtasche nach Zigaretten und dem Feuerzeug. „Na, dann werd ich mal wieder.“ Der Kellner erhob sich, und dann sagte er noch: „Du hast uns ja heute ganz schön im Stich gelassen. Wo du doch gewußt hast, was hier los ist.“ „Mann, ich hab mich beschissen gefühlt wie nie im Leben. Der verrückte Kerl setzt mir vielleicht zu.“ Sie legte einen Zettel auf den Tisch. „Stundenlang hab ich beim Arzt warten müssen. Hier ist meine Krankschreibung. Ich bin nur gekommen, um die abzugeben.“ Otto Wermke erlebte das alles noch immer wie im Traum und wußte doch, daß es die Wirklichkeit war. Sie saß leibhaftig vor ihm, die Heidemarie Böhm, sie war nicht verhaftet, befand sich nicht auf der Flucht, und er erkannte auf den ersten Blick, daß sie die Wahrheit sagte. Sie sah abgespannt aus, als habe sie seit Tagen nicht geschlafen. Der Charme, den er als aufdringlich 201
und ordinär empfunden hatte, war aus ihrem Gesicht gewischt. Und aus ihren Augen sprang ihn kein Argwohn mehr an, keine herausfordernde Dreistigkeit mehr. Sie waren leer. Nichts als Gleichgültigkeit ging von ihr aus, und sie ließ es auch geschehen, daß er sie lange musterte, ohne ein Wort zusagen. „Haben Sie sich endlich satt gesehen an mir?“ fragte sie nach einer Weile. Und dann sagte sie müde: „Machen Sie doch nicht so ein Gesicht. Gott ja, ich weiß, Ihr Freund Wilhelm ist tot. Das tut mir auch leid.“ „Es tut Ihnen leid?“ Der Satz hätte ihm fast den Atem verschlagen, und es gelang ihm nur mit Mühe, einen Ausbruch seiner jäh aufsteigenden Entrüstung zu unterdrücken. Er empfand ihre Nähe als beklemmend und erkannte mit einem Mal, daß er völlig falsch kalkuliert hatte, als er davon träumte, ihr und ihrem früheren Mann als der Freund des Toten entgegenzutreten, der sie an das Schreckliche der Tat erinnerte, ohne Aplomb, einfach durch sein Dasein. Mit solcher Stumpfheit, mit dieser Teilnahmslosigkeit, an der alles abprallen mußte – Trauer wie Empörung oder Schmerz und Zorn –, hatte er nicht gerechnet, weil er sie sich nicht vorstellen konnte. Es tat ihr leid! Mehr als diese Allerweltsfloskel hatte sie nicht zu bieten. Jeder Zugang zu ihr war wohl längst verschüttet. Sie kam ihm wie ein Kind vor, wie ein störrisches, verdorbenes Kind, mit dem sich nicht reden ließ, weil es einfach nicht begriff, was man von ihm wollte. Aber dann versuchte er doch, mit ihr in ein Gespräch zu finden, denn er wollte wenigstens genau wissen, was am Pfingstsonntag geschehen und wie es zu dem Mord gekommen war das glaubte er sich und dem Andenken Wilhelms schuldig zu sein. Er wollte aus ihrem Mund hören, daß sie ihn, den Rentner Otto Wermke, angelogen hatte, als er hier gewesen war, ihn, den senilen Burschen, an den eigentlich jedes Wort ver202
schwendet war und den man am besten auslachte, um ihn los zu werden. Also fragte er: „Nicht wahr, Wilhelm war kein alter geiler Trottel, der sich die Geschichte Ihrer Freundschaft aus den Fingern gesogen hat?“ „Das geht Sie nichts an.“ Noch einmal flammte kurz Widerstand in ihr auf, belebte die Augen und Färbte ihre Stimme herausfordernd. „Sie haben sich einfach eingemischt. Wie sollte ich mich da anders verhalten?“ „Aber als wir miteinander gesprochen haben, war Wilhelm schon tot, schon fast einen ganzen Tag.“ „Na und? Ich hab Ihnen doch bereits gesagt, daß es mir leid tut. Was wollen Sie noch hören?“ So viel Kaltschnäuzigkeit verwirrte ihn mehr, als daß sie seine Empörung geschürt hätte. „Er war doch Ihr Freund“, sagte er reichlich hilflos. „Mein Freund, ja…“ Heidemarie Böhm stieß die Zigarette im Aschenbecher aus, zündete sich gleich eine neue an und ließ das Feuerzeug ein paar Sekunden länger brennen. Sie starrte in die Flamme, als könne sie aus ihr etwas Außergewöhnliches lesen. „Das ist so eine Sache, wenn einem ein alter Mann seine Freundschaft anbietet, sogar seine Liebe.“ „Und die Ehe.“ „Das war seine Idee.“ „Und Geld.“ Er spürte, daß das Gespräch in die richtige Bahn zu münden begann, und drang weiter in sie; er wollte die Frau nicht mehr in allgemeine Redereien entkommen lassen. „Was wissen Sie denn von Wilhelm Klausners Geld?“ Ihre Frage drückte echtes Erstaunen aus. „Er hat Ihnen wohl gesagt, niemand weiß von der Erbschaft. Ist es so gewesen?“ „Von was für einer Erbschaft reden Sie?“ Diesmal war es nicht Erstaunen, sondern ein nicht zu kaschierendes Erschrecken, das 203
in ihren Worten lag. Hastig sog sie mehrere Male hintereinander an ihrer Zigarette. „Ich weiß von keiner Erbschaft.“ Er glaubte am Zucken, das über ihr Gesicht lief, zu erkennen, daß sie log, hütete sich jedoch, ihr zu hart zuzusetzen und sie damit zu verprellen. Also sagte er, so sachlich, wie es ihm möglich war: „Aber durch die Kriminalpolizei haben Sie doch sicher von Wilhelms Erbschaft erfahren.“ „Von keinem hab ich was erfahren. Und es hat auch niemand von der Polente mit mir gesprochen. Warum auch?“ Otto Wermke war sich nicht im klaren darüber, ob sie wieder log. Er dachte mit Mißbehagen an die Möglichkeit, daß Mönch und seine Leute sich noch immer nicht um die Böhms gekümmert haben könnten, obwohl er doch nachdrücklich genug darauf hingewiesen hatte, was von ihnen zu halten war, und darüber geriet, zum dritten Mal in einer einzigen Stunde, sein Denken in Unordnung. Verhaftet hatte man die Böhms nicht, und sie waren auch nicht geflohen. Sollte sich nun auch noch herausstellen, daß sie nicht einmal verhört worden waren? Es fiel ihm wieder ein, daß der Hauptmann Mönch ihm mitgeteilt hatte, Heidemarie Böhms ehemaliger Mann sei über die Pfingsttage gar nicht in Friedrichslust gewesen. War es ihm da überflüssig vorgekommen, sich mit diesem Böhm und der Frau weiter zu beschäftigen? Sollte er wirklich nicht in Betracht gezogen haben, daß Alibis zurechtgeschoben werden, können? Schließlich hatte er, Otto Wermke, den Mann gesehen, hatte sich mit Ihm unterhalten, in seinem eigenen Haus… „Ist Ihnen was?“ Heidemarie Böhm beugte sich vor und musterte ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier. „Sie sagen ja gar nichts mehr.“ „Nein, nein, ich habe mich nur ein bißchen ins Grübeln verloren!“ „Ins Grübeln? Worüber?“ 204
„Ach, das tut nichts zur Sache.“ Er konnte der Frau doch nicht einfach erklären, er finde es höchst seltsam, daß sie noch immer frei herumlief und nicht einmal von der Polizei behelligt worden war. Er mußte einen anderen Weg finden, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Denn ein Geheimnis steckte hinter dieser Stirn, hinter den Augen, die über ihrem Gespräch wieder wach geworden waren und aufmerksam beobachteten. „Sie wußten also nichts von der Erbschaft.“ Das sagte er in einem Ton, dem sie entnehmen mußte, er hege keinen Zweifel an ihren Worten und gebe es auf, dieses Thema weiterhin zu verfolgen. „So ist es.“ „Aber heiraten wollten Sie ihn trotzdem?“ Augenblicklich merkte er, daß er einen Fehler begangen hatte, indem er ihre Heiratsabsicht mit der Erbschaft in einem Atemzug nannte, und er erhielt auch sofort die Quittung für die Unvorsichtigkeit. „Wenn ich einen heirate, dann tu ich das nicht wegen Geld,’ sondern nur aus Liebe.“ Diesen biederen, leicht gekränkten’ und mit einem Schuß Empörung gewürzten Tonfall hätte er: aus ihrem Mund nicht erwartet. Ihm war, als spreche da eine andere Frau, und das verunsicherte ihn. Er war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, als sie in ihrer üblichen Redeweise fortfuhr: „Opa, Opa, Sie sind mir zu neugierig.“ „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein“, entgegnete er und tat beschämt. „Sie sind es aber. Und damit Sie ein für allemal wissen, woran Sie mit mir sind, und nicht andauernd zu fragen brauchen, sag ich Ihnen noch: Ihr Wilhelm war ja ein ganz putziger Kerl, und man konnte sich bong amüsieren, wenn er seine Geschichten wieder mal draufhatte. Aber heiraten – nee. Und wenn er mit Gold beladen gewesen wäre. Was meine Mutter Ihnen da er205
zählt hat, ich hätte mich wegen ihm von Böhm scheiden lassen, das ist der reine Mumpitz. So, und jetzt wissen Sie Bescheid.“ Und mit einer Geste, die Endgültigkeit ausdrücken sollte, steckte sie die Zigarettenpackung und das Feuerzeug in ihre Handtasche. Sie stand auf und ging zum Tresen, um dem Wirt den Krankenschein zu geben. Otto Wermke fürchtete, vollends um den Erfolg seiner Bemühungen gebracht zu werden, und der Mut, den die Aussichtslosigkeit eingibt, brachte ihn schneller auf die Beine, als er gedacht hatte. Er stellte sich ihr in den Weg. „War Wilhelm am Sonnabend hier?“ „Lassen Sie mich in Ruh! Ich muß nach Haus.“ „Und hat er fünfhundert Mark von Ihnen oder von Ihrem Mann bekommen?“ „Ernst, schaff mir den Kerl vom Hals!“ rief sie dem Wirt, einem beleibten Mann mittleren Alters, zu, der mit weit aufgerissenen Augen das Schauspiel verfolgte. Auf ihrem Gesicht waren plötzlich rote Flecke zu sehen. „Mein Herr, das geht zu weit!“ sagte der Wirt und schickte sich an, seinen Platz hinter der Zapfsäule zu verlassen. „Und haben Sie ihm die Briefmarkenalben freiwillig rausgerückt, oder hat er Ihnen gedroht?“ Otto Wermke war nicht mehr zu halten. Er stand, der kleinwüchsige alte Mann, mit geballten Fäusten da. „Ich weiß nicht, was der will!“ gellte Heidemarie Böhm und sah sich hilfesuchend um. „Wo waren Sie am Pfingstsonntag?“ „Hier natürlich, den ganzen Tag.“ Ihre Blicke irrten hilflos umher, blieben an dem Wirt hängen. „Ernst kann das bestätigen.“ „Ja, das kann ich.“ Der Wirt stellte sich neben Heidemarie Böhm. „Von elf bis sieben war sie hier, jede Minute. Aber was 206
geht das Sie überhaupt an?“ „Das werde ich Ihnen sagen.“ Otto Wermke zweifelte keine Sekunde daran, daß der Wirt log, daß er im Komplott mit den Böhms war. „Am Sonntagmittag ist nämlich Wilhelm Klausner ermordet worden.“ Der Satz löste beträchtliche Wirkung aus. Heidemarie Böhm wich taumelnd zwei, drei Schritt zurück, als sei sie über ein Hindernis in ihrem Rücken ins Straucheln geraten, hielt sich mit einer Hand am Tresen fest und murmelte etwas, aus dem Otto Wermke „Also doch!“ herauszuhören glaubte. Er wollte nachsetzen, wollte sie anklagen: Und Sie haben ihn umgebracht, Sie und Böhm, um die Ihnen anvertraute Erbschaft behalten zu können. Doch er kam nicht dazu, weil der Wirt sich zwischen ihn und die Frau gedrängt hatte. „Verlassen Sie sofort die Gaststätte!“ befahl er mit amtlicher Miene, und Otto Wermke spürte seinen warmen, biergeschwängerten Atem. In diesem Augenblick fiel seine Erregung in sich zusammen, und er hatte das Empfinden, als drücke eine gewaltige Last auf seine Schultern und als wollten die Beine ihn nicht länger tragen. Er tastete nach dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und ließ sich ganz langsam nieder. Er befürchtete, eine schnellere Bewegung könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Der Wirt stand vor ihm, unentschlossen, ob er seinem Hausrecht mit Nachdruck Geltung verschaffen sollte oder ob es eher angebracht sei, nach einem Arzt zu telefonieren. „Sie sehen ja aus wie der Tod“, sagte er erschrocken. Heidemarie Böhm lehnte gegen die Zapfsäule und hatte die: Hände vors Gesicht geschlagen. Eine der Serviererinnen war zu ihr geeilt und redete leise und beruhigend auf sie ein, „Geben Sie mir einen Korn“, sagte Otto Wermke mit schwacher Stimme. Der Wirt zögerte, der Bitte nachzukommen, und erst als der 207
vom Lärm angelockte Kellner ihm einen Blick der Zustimmung zugeworfen hatte, ging er hinter seinen Tresen zurück, schenkte ein Glas voll und gab es dem Kellner, der sich auf den Stuhl neben Otto Wermkes Platz setzte. „Geht es Ihnen nicht gut? Sollen wir einen Arzt rufen?“ fragte er… „Ich bin gleich wieder auf den Beinen.“ Otto Wermke nahm das Glas entgegen und trank den Korn auf einen Schluck. DasBrennen auf der Zunge und am Gaumen und die sich schnell ausbreitende Wärme im Magen bewirkten, daß er sich wohler fühlte. Er schloß die Augen, die Last auf den Schultern wich allmählich. Er hatte nur noch den einen Gedanken im Kopf: Du mußt ‘raus an die Luft, du mußt sehen, daß du ins Heim zurückkommst, und während er noch in seinem Portemonnaie nach einem Zehnmarkschein stöberte, wurde die Tür aufgerissen, und im Rahmen stand der kräftige Mann mit den verarbeiteten Händen, der vor einer Weile an seinem Tisch gesessen hatte und von seinem Kollegen aus dem Lokal geführt worden war. Anscheinend hatte er anderswo weitergezecht. Er schwankte nicht mehr, er stand steif wie eine Statue da und ging dann wie ein Golem mit bleiernen Schritten auf den Tresen zu. „Das fehlt uns gerade noch!“ rief der Wirt, und der Kellner sprang auf und trat dem Mann entgegen. Der aber ließ sich nicht beirren, stieß den Kellner, der ihn am Arm packen wollte, beiseite und setzte seinen schwerfälligen Gang fort. „Hure!“ schrie er plötzlich. „Sau! Ich habe den Kerl wieder gesehen! Im Haus ist der Hund!“ Und er versuchte, mit einem Sprung Heidemarie Böhm zu erreichen, die sich seit seinem Erscheinen vom Tresen gelöst hatte und ihm Schritt um Schritt rückwärts ausgewichen war. Doch es gelang ihr, sich ihm mit einem Sidestep zu entziehen und sich zwischen die Tische des Saales zu retten. 208
„Sei vernünftig, Herbert!“ Der Wirt war von hinten an den Mann herangetreten und hatte ihm die Arme um die Brust geschlungen. Verbissen kämpfte der darum, sich aus der Umklammerung zu befreien, konnte aber den anderen nicht abschütteln. Nun war auch der Kellner wieder zur Stelle, und zu zweit zerrten und schoben sie den Betrunkenen an den Stammtisch, wo er sich auf einen Stuhl drücken ließ und zu Otto Wermkes Erleichterung ohne ein weiteres Wort und mit stumpfem Blick sitzen blieb, als habe er endlich in dem ihm vertrauten Hafen Anker geworfen. Der Kellner stellte sich hinter ihn und tätschelte ihm den Rücken. „Dieses Flittchen bring ich um!“ sagte der Mann und versuchte noch einmal eine drohende Gebärde, war aber doch schon so tief in Kraftlosigkeit versunken, daß der Kellner ihn mit ein paar freundlichen Worten beruhigen konnte. „Mit dem Herbert hat man schon seinen Trouble“, sagte er zu Otto Wermke, der über all dem Aufruhr im Lokal zu sich gefunden hatte. „Besonders in den letzten Tagen. Da ist er nicht zu halten.“ „Was hat er denn?“ Argwöhnisch sah Otto Wermke zu dem mit offenen Augen schlafenden Mann hinüber. „Das fragen ausgerechnet Sie?“ Der Kellner schüttelte den Kopf in Verwunderung. „Ich denke, Sie kennen die Böhms.“ „Natürlich.“ „Das hier ist doch Herbert Böhm. Der gewesene Mann von der Heidi.“
13 Am Sonntagmorgen fühlte sich Otto Wermke soweit wiederhergestellt, daß er das Bett zum ersten Mal verließ. Im Bademantel, den sein Sohn Walter ihm tags zuvor ge209
bracht hatte, stand er am offenen Fenster des kleinen Krankenzimmers, dessen zweites Bett leer war, weil der junge Mann, der sonst in ihm lag, Wochenendurlaub bekommen hatte, und blickte in den Hof hinunter, in den gerade ein Wagen der Schnellen Medizinischen Hilfe mit rotierendem Blaulicht einfuhr. Er tastete den Kopfverband ab und konstatierte befriedigt, daß die Wunden kaum noch schmerzten. Auch die leichte Gehirnerschütterung, die ihm seit dem Donnerstag ständige Kopfschmerzen und Übelkeit beschert hatte, schien im Abklingen begriffen zu sein. Desgleichen spürte er in der geprellten Schulter und in der Hüfte, die zu Anfang höllisch weh getan hatte, nur noch ein schwaches Rumoren. Unten im Hof beeilten sich zwei Männer in weißen Kitteln, eine Trage zum Lastenaufzug zu bringen, während ein dritter Mann nebenherlief und eine Infusionsflasche hochhielt. Der bis zum Kinn zugedeckte Kranke war aus diesem Fenster im dritten Stockwerk nur als Schemen zu erkennen. Er trat vom Fenster zurück und wagte einen ersten Blick in den Spiegel überm Waschbecken. Aus dem sah ihn ein fremdes Gesicht an, ein Mann, dem Kinn und Wangen mit einem Filz von weißen Stoppeln bedeckt waren, unter dessen Augen tiefbläue Wülste lagerten, dessen Nase geschwollen, dessen Schläfe dick verpflastert war und dessen Oberlippe noch immer einen allerdings inzwischen verschorften Riß aufwies. Den Kopf bedeckte ein weißer Bindenturban. Man habe an einigen Stellen die Kopfhaut nähen müssen, hatte der Stationsarzt ihm gestern gesagt und hinzugefügt, daß er viel Glück gehabt habe und daß man überdies von einer für sein Alter erstaunlich stabilen körperlichen Konstitution sprechen könne. Ja, dachte er, Glück hab ich wirklich gehabt; wenn mir nicht der eine Schritt zur Seite gelungen wär, hätte er mich mit dem Auto voll getroffen. Und er sah wieder den Mann, der ihn, 210
nachdem er sich ihm im Garten in den Weg zu stellen versuchte, beim Revers gepackt hielt und dann zur Seite in die Büsche stieß, sah wieder, wie er sich mühsam hochrappelte und hinter dem Mann herlief, als der in das Auto steigen wollte, wie der ihm einen so heftigen Stoß vor die Brust versetzte, daß ihm für ein paar Sekunden der Atem ausging, und wie er sich trotzdem auf den Wagen stürzte, in dem der Mann nun saß und den Motor anließ, und vergebens an der Klinke des versperrten Schlags rüttelte. Er blickte verwundert sein Spiegelbild an, verwundert darüber, daß er sich zu solch gewaltsamen Aktivitäten hatte hinreißen lassen. Das war seine Art nicht; eher neigte er dazu, sich anbahnende Auseinandersetzungen zu meiden, zumal wenn sie in Tätlichkeiten umzuschlagen drohten. Er konnte nicht mehr die blinde Wut ermessen geschweige denn nachfühlen, die ihn ergriffen hatte, als ihm klargeworden war, wer Wilhelm Klausner auf dem Gewissen hatte. Er schlurfte, von dem kleinen Ausflug bereits ermüdet, zu seinem Bett zurück, legte sich hin und schloß die Augen. Er wollte an Freundliches denken, an sein jüngstes Enkelkind, das den Vater bei seinem Besuch am Tag zuvor begleitet und das ihm sein Lieblingsbuch mitgebracht hatte, ein arg zerlesenes Exemplar von „Onkel Toms Hütte“, damit er sich die Zeit auf angenehme Weise vertreiben könnte. Doch gelang es ihm nur, sich für eine kurze Weile abzulenken. Immer wieder schoben sich die Bilder von den Ereignissen des Donnerstagmittags vor die angenehmeren Erinnerungen und beunruhigten ihn, denn so folgerichtig und entschlossen er in Friedrichslust gehandelt hatte, so bedrohend empfand er jetzt aus zeitlichem Abstand, was dort geschehen war. Es ging ihm zwar nicht wie dem Reiter überm Bodensee aus der Ballade, die er noch von Schultagen her auswendig wußte, aber er war doch jedesmal tief erschrocken, wenn er an 211
die Gefahr dachte, in die er sich begeben hatte. Mit der überdeutlichen Schärfe, mit der die Erinnerung wichtige Vorkommnisse bisweilen ausstattet, bedrängte ihn das Geschehen. Es war nicht von der Bewußtlosigkeit, die ihn überfiel, als das Auto ihn streifte und gegen den Gartenzaun warf, ausgelöscht worden. Es kam ihm eher so vor, als sei der ganze Hergang durch die Ohnmacht nur um so nachhaltiger eingeprägt worden, und er glaubte, sich sogar daran erinnern zu können, daß sich der Hauptmann Mönch über ihn gebeugt und gesagt hätte: Sie machen ja dolle Geschichten, Herr Wermke. Aber in dem Punkt ging wohl doch die Phantasie mit ihm durch, denn vom Arzt hatte er erfahren, daß der Verlust der Besinnung, der dann bis zum Abend andauerte, unmittelbar nach dem Anprall eingetreten sein mußte. „Das ist doch Herbert Böhm. Der gewesene Mann von der Heidi“, hörte er wieder den Kellner sagen, und er spürte jetzt noch den Schlag, der ihn bei diesen Worten durchzuckt hatte und der ihm das Empfinden vermittelte, als sei sein Blutkreislauf ins Stocken geraten. Ob er im selben Moment schon zu der Erkenntnis gelangt war, daß unter diesen Umständen der Mann, mit dem er am Pfingstsonntag gesprochen hatte, Heidemarie Böhms unbekannter Geliebter und Wilhelms Mörder sein mußte, oder ob ihm der Gedanke erst später kam, als er sich bereits auf dem Weg zu dem Haus der Böhms befand, wußte er nicht mehr zu sagen. Aber die nachfolgende Kette seiner Handlungen erlebte er so intensiv, als geschehe alles erst jetzt: Er zahlt die Zeche, nimmt den Mantel vom Haken und geht, noch benommen von der plötzlichen Enthüllung, ein wenig schwankend an dem ihn argwöhnisch betrachtenden Wirt vorüber und auf die Tür zu; zwei, drei Sekunden steht er unentschlossen auf dem kieselbestreuten Pfad im Vorgarten, als er Heidemarie Böhm neben sich auftauchen sieht und sie fragen hört: „Wo 212
wollen Sie hin, was wollen Sie tun?“ Er antwortet nicht, setzt sich in Bewegung und läßt sich von der Frau, die an seiner Seite bleibt und auf ihn einredet und ihn am Ärmel packt, nicht beirren. Da rennt sie plötzlich los, und er kann nicht mit ihr Schritt halten, so daß er sie bei der Kirche aus dem Blick verliert; dennoch geht er unverdrossen weiter, und in seinem Hirn gibt es nur den einen Gedanken: Mit diesem Kerl werde ich abrechnen… Otto Wermke schlug die Augen wieder auf, sah den feinen Riß in der Zimmerdecke, dann das Tischchen mit den Blumen in der Vase und den Apfelsinen, die Walter mitgebracht hatte, sowie dem Buch des Enkels. Sein Blick schweift über die beiden Stühle aus Stahlrohr und Plaste und bleibt einen Augenblick hängen an der Ansicht des Dresdner Elbufers von Canaletto, die in die allzu nüchterne Umgebung etwas Anheimelndes trug. Er mochte nicht länger so daliegen und diesen Erinnerungen ausgeliefert sein, dachte: Wenn ich doch nur hier ‘raus könnte! Im „Schusterjungen“ und auch beim Gespräch mit diesem oder jenem Heiminsassen würde er schon auf andere Gedanken kommen. Wenn er nur nicht dieser hygienischen Langeweile ausgeliefert wäre… Er richtete sich auf, brachte mit einiger Mühe die Beine über den Bettrand, ließ sie baumeln, hatte plötzlich ein Ohr dafür, daß irgendwo Kirchenglocken läuteten, über die er normalerweise wahrscheinlich hinweggehört hätte. Es mußte ungefähr zehn Uhr sein, und es würde noch zwei Stunden dauern, bis das Mittagessen gebracht wurde, und weitere zwei Stunden, bis die Besucher eingelassen würden. Die Zeit dehnte sich unerträglich im Hospital, wenn man allein war. Er starrte auf das Bett des jungen Mannes, eines Elektrofacharbeiters, der soeben erst die Lehre beendet hatte und der in dem Krankenhaus seine Verletzungen von einem Motorrad213
unfall auskurierte. Wenn der jetzt hier wäre, der könnte wenigstens mit seinen seltsamen schnoddrigen Redensarten für ein bißchen Abwechslung sorgen. „Bei mir klappt nüscht, aber ick kann eben nich überall sein“, hatte er gestern zum Abschied gesagt, erinnerte sich Otto Wermke mit einem Lächeln. Er tappte neuerlich ans offene Fenster, empfand den warmen Wind auf der Gesichtshaut als angenehm und verharrte dort eine Weile. Wenn ich erst wieder im Heim bin, dachte er, werde ich bald alles endgültig vergessen haben. Oder doch nicht? Werden mir die Bilder bleiben, so frisch, wie sie jetzt noch sind? Am schwersten würde es ihm wohl fallen, die Miene des Mannes in sich auszulöschen, mit der dieser ihm an der Haustür entgegengetreten war; diese brutale Entschlossenheit, die den Mund verzerrte und die Augen zu Schlitzen zusammenzog, und das Gesicht der Frau hinter ihm, auf dem sich nichts als Angst spiegelte. „Laß ihn in Ruh, Dieter!“ schrie sie. „Es hat doch jetzt keinen Zweck mehr.“ Und dann noch: „Warum hast du das auch getan?“ Der Mann sagte nur: „Warum wohl? Hör auf zu zetern, wir müssen weg.“ Aber Heidemarie Böhm weigerte sich: „Ich fahre nicht mit, die kriegen dich ja doch.“ Und der Mann drängte sich an ihm vorüber in den Garten, und er, Otto Wermke, war ihm gefolgt. Er wollte ihn stellen, wollte von ihm erfahren, warum er Wilhelm erwürgt hatte, und ihm seine Verachtung, seinen verzweifelten Haß ins Gesicht schreien… So sehr war er in sein Erlebnis verstrickt, daß er das Klopfen an der Tür überhörte, und er fuhr zusammen, als er in seinem Rücken jemanden „Guten Morgen!“ sagen hörte. Er wandte sich um und sah, wie Hauptmann Mönch sich reichlich ungeschickt damit abmühte, die Papierhülle von einem Nelkenstrauß zu entfernen. „Ich dachte, ich seh mal nach, wie es unserem Helden von 214
Friedrichslust geht.“ Und als er Otto Wermkes blessierten Kopf begutachtet hatte, sagte er genau dasselbe wie vor Tagen der Stationsarzt: „Da haben Sie aber eine Menge Glück gehabt.“ Und er steckte die Blumen zu den anderen in die Vase. Otto Wermke wußte nicht, ob er sich über den Besuch des Kriminalisten freuen sollte, denn noch immer rumorte in ihm der Unmut darüber, wie abweisend der ihn in der Atelierwohnung behandelt hatte. So begrüßte er ihn denn auch reichlich förmlich mit einem „Vielen Dank, daß Sie sich an mich erinnert haben“. Und nach einer kleinen Pause fügte er ein wenig freundlicher hinzu: „Wie ist es Ihnen denn gelungen, vor der Besuchszeit hier reinzukommen?“ „Uns Kriminalisten gelingt eben alles, das weiß doch jeder“, versuchte Mönch zu scherzen. „Ja, das weiß jeder.“ Hauptmann Mönch spürte den Vorbehalt aus den Worten des alten Mannes und gab sich Mühe, das Eis zu brechen, indem er den Unbefangenen mimte und vom Wetter sprach und von der vielen Arbeit, die ihn bisher daran gehindert habe, einen Krankenbesuch zu machen. Doch Otto Wermke blieb unzugänglich, berichtete seinerseits nur auf eine entsprechende Frage hin, doch so, als betreffe es einen Dritten, über den Grad der Verletzungen und über sein gegenwärtiges Befinden. Sie hatten sich an den kleinen Tisch gesetzt, zwischen sich die Blumen, und kein Wort fiel, an dem man das brennende Interesse der beiden Männer an den Ereignissen der letzten Tage erkennen konnte. Als das Gespräch vollends zu erlöschen drohte wie eine Flamme, der nicht genügend Sauerstoff zugeführt wird, sagte Mönch: „Nicht wahr, Sie mögen mich nicht.“ Solchermaßen direkt angesprochen und überdies erleichtert von der Aussicht, daß diese Larifari-Unterhaltung ein Ende finden 215
würde, konnte Otto Wermke sich einer klaren Antwort nicht entziehen, und er entgegnete: „Sie sind nicht gerade freundlich mit mir umgegangen. Aber das war wohl Ihre Pflicht.“ „Meine Pflicht war es, ein Tötungsdelikt aufzuklären.“ Trotz des Vorsatzes, die unfruchtbare und jetzt ganz und gär unsinnig gewordene Animosität nicht zu schüren, schlich sich eine Schärfe in den Satz, die angetan sein konnte, allen guten Willen von beiden Seiten zunichte zu machen. Otto Wermke antwortete denn auch sofort und im gleichen Ton: „Was Sie denn wohl auch geschafft haben.“ „So ist es.“ Wieder drohte das Gespräch ein vorzeitiges Ende zu nehmen. Hauptmann Mönch verwünschte die Empfindlichkeit des alten Mannes, die er für Anzeichen mangelnder geistiger Beweglichkeit hielt, und der wiederum fand, der Kriminalpolizist sei so sehr eingefahren auf den Gleisen, auf denen sich sein Beruf bewegte, daß er normaler menschlicher Regungen nur schwer zugänglich war. Die gemeinsam verbrachte Abendstunde in dessen Wohnung mußte man wohl eher als Entgleisung ansehen. Um aber wenigstens ihr Zusammentreffen nicht noch einmal mit einem offenen Mißklang enden zu lassen, lenkte er mit den Worten ein: „Übrigens muß ich Ihnen dankbar dafür sein, daß Sie und Ihre Leute mich draußen in Friedrichslust aufgelesen haben. War ja eine ziemlich kitzlige Situation.“ „In die Sie sich mit Vorbedacht begeben hatten, gegen meine ausdrückliche Anweisung. Zum Glück sind wir noch rechtzeitig eingetroffen. Fast wäre es Ihnen gelungen, unseren Plan durcheinanderzubringen.“ Auch in diesen Worten lag Schroffheit, die jedoch Otto Wermke nicht dazu führte, den Versuch, einen gedeihlichen Dialog zustande zu bringen, als nun endgültig gescheitert zu betrachten, sondern diesmal seine Streitlust weckte, zugleich aber auch 216
den Wunsch, sich verständlich zu machen. „Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, nicht nur Sie“, begann er, steif aufgerichtet und ohne Mönch anzusehen. Und dann zählte er alles auf, was ihn in den letzten Tagen umgetrieben hatte: seine Angst, seine Trauer, seine Zweifel, seine Empörung, seinen Haß. Und einmal am Zug, sprach er auch davon, wie sehr ihm noch immer sein Erlebnis im Haus der Böhms nachgehe und daß er befürchtete, er werde sich so bald nicht von den beklemmenden Bildern befreien können. Mönch hörte ihm mit unbewegtem Gesicht zu, die Augen hinter den Gläsern geschlossen und die Arme über der Brust gekreuzt. Nur als Otto Wermke dazu überging, den Kriminalisten vorzuwerfen, sie betrieben ihr Geschäft ohne menschliche Anteilnahme, zog der Hauptmann die Mundwinkel nach unten. Nach reichlich fünf Minuten hatte Otto Wermke gesagt, was er zu sagen gehabt hatte, und er fühlte sich von einer Last befreit. Als ob die bloße Benennung seiner Emotionen und Erlebnisse ausgereicht hätte, ihnen das Bedrohliche zu nehmen, wurde es lichter in seinem Hirn, und zur Verwunderung des Hauptmanns stellte er die Frage: „Wie heißt der Mann eigentlich, der Wilhelm umgebracht und mich so übel zugerichtet hat?“ „Spengler, Dieter Spengler.“ Mönch erfaßte sogleich die Gelegenheit, nun doch hoch die Barrieren abzubauen, und er nutzte sie, indem er an diese Auskunft eine kurze Charakteristik des Mannes knüpfte: der Polizei bekannt durch Strafsachen wegen fortgesetzten Betrugs, die ihm insgesamt drei Jahre Gefängnis eingebracht hatten; seit einem Jahr wieder auf freiem Fuß; lernte Heidemarie Böhm bei einem Barbesuch in der Stadt kennen, begann ein Verhältnis mit ihr, das vor einem halben Jahr zur Scheidung der Böhms führte; bekam durch die Frau Wind von der Erbschaft, die Wilhelm Klausner ihr zur Aufbewahrung übergeben hatte. 217
Nun, da einmal eine Bresche geschlagen war, erwachte auch Otto Wermkes Wissensdurst und drängte seinen Groll in den Hintergrund. „Ich verstehe nicht, daß Wilhelm die wertvollen Sammlungen dieser Heidemarie Böhm anvertrauen konnte“, sagte er. „Verstehen und nicht verstehen!“ Hauptmann Mönch wiegte den Kopf. „In unserem Beruf wird man mit vielem konfrontiert, was sich auf den ersten Blick als unverständlich ausnimmt. Oder verstehen Sie, warum es überhaupt Verbrechen gibt, Verbrechen in unserer Gesellschaft? Die Kriminologen, ja, die haben Erklärungen, psychologisch untermauerte, aus dem Sozialen abgeleitete, aus der Geschichte geschöpfte. Also: fehlgeleitete Leidenschaften, Versagen der Gemeinschaft, in der einer lebt und von der er geprägt wird, widrige Einflüsse von jenseits der Grenze und immer wieder das, was man die „Muttermale der alten Gesellschaft“ nennt und womit man nicht allzu viel erklärt. In der Praxis trägt jedes Verbrechen seine eigenen, unverwechselbaren Züge, und uns Praktikern ist es aufgegeben, die vielerlei Komponenten zu ergründen, unter denen sich auch, oft sogar vor allem, Unverständliches findet. So wie in diesem Fall. Der einzige, der als Täter vordergründig verständlich gehandelt hätte, wäre Horst Hanke gewesen. Der hatte nämlich einen Anlaß, der hatte ein Motiv, Wilhelm Klausner zum Teufel zu wünschen. Denn Ihr Freund, das haben wir herausbekommen, ist nicht gerade ehrenhaft und zimperlich vorgegangen, als er seinem Neffen die Erbschaft abgejagt hat.“ „Das kann ich nicht glauben.“ Alles in Otto Wermke wehrte sich dagegen, daß Wilhelm unredlich gehandelt haben könnte. Der schreckliche Tod, den er erlitten hatte, machte ihn für ihn unangreifbar. Dagegen würde auch die Meinung der Kriminalisten nichts ausrichten: Er wollte den Freund nicht ein zweites 218
Mal und diesmal endgültig verlieren. „Dann glauben Sie es eben nicht“, entgegnete Mönch überraschend duldsam. „Ich verstehe Sie. Aber kehren wir zurück zum Verständlichen und Unverständlichen. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß ein Mann in sehr vorgerücktem Alter, der sich in eine viel jüngere Frau verliebt hat, die ihn glauben läßt, sie erwidere seine Leidenschaft, daß ein solcher Mann durchaus dazu kommen kann, dieser Frau sein Vermögen anzuvertrauen. Es ist ja bekannt, wie gefährlich Sirenengesänge werden können und nicht nur den Seeleuten, wie unsere Praxis beweist.“ „Und damit hat für ihn die Katastrophe angefangen.“ „Sie begann erst, als Frau Böhm den Spengler kennenlernte. Wir wissen nicht, ob seine Zuneigung sich erst entzündet hat, als er von dem Vermögen erfuhr, das sie aufbewahrte – er behauptet, er habe lange Zeit, bis nach der Scheidung, nichts davon geahnt. Und auch danach habe er nur daran gedacht, Klausner als Makler zu helfen, für den Fall, daß er Marken und Münzen verkaufen wolle.“ „Kann er das beweisen?“ „Er braucht nichts zu beweisen. Wir müssen ihm das Gegenteil beweisen.“ Mönch zuckte mit den Achseln. „Bisher haben unsere Recherchen nur ergeben, daß der größte Teil der Münzen von Spengler bereits verkauft war, als Klausner am Sonnabend vor Pfingsten ins Haus der Böhms kam und diesem Spengler zum ersten Mal begegnete. Frau Böhm hat ihn übrigens als ihren Cousin vorgestellt, der im staatlichen Kunsthandel tätig sei und ihm dazu verhelfen könne, Marken und Münzen zu Extrapreisen an Interessenten zu bringen. Klausner scheint mißtrauisch geworden zu sein und hat die Herausgabe seines Besitzes verlangt. Man hat ihn mit den drei Markenalben beruhigt, hat gesagt, die Münzen befanden sich an einem sicheren 219
Ort und müßten noch geholt werden. Und dann haben sie ihn abgewimmelt, den alten Mann, mit der Behauptung, Böhm könne jeden Augenblick eintreffen und würde ihn192todsicher zusammenschlagen, wenn er ihn im Haus vorfinde. Sie haben sich darauf geeinigt, er solle am nächsten Tag wiederkommen, dann wolle Spengler mit ihm nach Thüringen fahren, um die Münzen dort an einen Sammler zu verkaufen.“ „Und am nächsten Tag haben sie ihn umgebracht.“ Otto Wermke hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Er ging wieder ans Fenster und blickte in den Hof hinunter, der jetzt menschenleer war. Der Appetit auf ein Zigarillo wurde übermächtig in ihm nach all den Tagen der Abstinenz. Er wandte sich an den Hauptmann Mönch. „Sie haben wohl nicht zufällig etwas zu rauchen bei sich?“ „Fast hätte ich es vergessen!“ Der Hauptmann fuhr mit der Hand in die Jackentasche und brachte eine kleine Blechschachtel zum Vorschein. „Habe ich gestern für Sie besorgt.“ „Da danke ich aber sehr.“ Otto Wermkes Verlegenheit war groß, als er eines der kurzen braunen Stäbchen zwischen den Fingern drehte. „Und so eine gute Marke.“ „Bleiben Sie beim Fenster“, riet ihm Mönch. „Wie ich den Verein hier kenne, halten die das Rauchen in den Krankenzimmern für ein Kapitalverbrechen.“ Otto Wermke zündete das Zigarillo an und blies den Rauch behutsam ins Freie. Ein leichter Schwindel ergriff ihn nach dem ersten Zug, der jedoch schon beim zweiten einem tiefen Behagen Platz machte. Die Welt schien ihm mit einem Mal wieder freundlicher eingerichtet, und ihre Probleme empfand er nicht mehr als so lastend. „Übrigens glaube ich es Frau Böhm, wenn sie behauptet, von dem Mord nichts gewußt zu haben“, nahm der Hauptmann den Gesprächsfaden wieder auf, „und nicht nur, weil der Gaststät220
tenleiter bezeugt, sie habe den ganzen Sonntag über gearbeitet, von elf bis neunzehn Uhr, und sich nicht einmal aus dem Lokal entfernt.“ „Der Mahn kann schwindeln.“ „Eben. Aber ich kann nach all den Jahren im Dienst unterscheiden,, ob ein Mensch wirklich verzweifelt ist. oder ob er Verzweiflung nur spielt. Heidemarie Böhm ist wirklich verzweifelt. Mag sein, sie hat geahnt, wie Wilhelm Klausner gestorben war, als sie durch ihre Mutter von seinem angeblichen Unfalltod erfuhr. Aber sie wollte nichts Genaues wissen, weil sie sich sonst mitschuldig gefühlt hätte. Diese Zwitterstellung hat natürlich an ihren Nerven gezerrt – Sie kennen ja den Zustand, in dem sie sich am Donnerstag befand. Zudem war Spengler, den sie hätte fragen können, am Montagabend wieder weggefahren, nach Magdeburg, in seine Wohnung. Er mußte Herbert Böhm aus dem Weg gehen, der in der Nacht wieder zu Hause sein wollte. Und er ist erst am Donnerstag zurückgekehrt, um sie abzuholen. Deshalb auch die vorsorgliche Krankschreibung, die Frau Böhm dem Wirt vorgelegt hat.“ „Aber das alles ist doch widersinnig.“ Otto Wermke war nicht bereit, diese Erklärung zu akzeptieren. „Wie hat sie sich denn vorgestellt, daß die Sache ausgeht? Die Münzen waren zum größten Teil verkauft, Wilhelm war mißtrauisch geworden, am nächsten Tag wollte er wiederkommen und dann, das hätte ihr klar sein müssen, wäre das ganze Lügengebäude zusammengekracht… Für sie gab es doch keinen Ausweg.“ „Da sind wir genau beim Thema Verständliches und Unverständliches“, sagte Hauptmann Mönch. ,Jeder kleine Gauner, der ein Scheckheft geklaut hat und die Schecks Stück für Stück bei der Post einlöst, müßte eigentlich wissen, daß das nicht gut gehen kann. Und trotzdem versucht er es, weil er unsinnigerweise eine Chance sieht, ungeschoren davonzukommen. Und 221
genau so eine Chance hat Heidemarie Böhm auch für sich gesehen. Sie wollte einfach ihrem Dieter Spengler glauben, als der am Sonntagabend vor ihr behauptete, Klausner habe es sich überlegt, er wolle die Münzen im Moment nicht verkaufen und sei wieder in die Stadt zurückgefahren.“ „Und in Wirklichkeit…“ „In Wirklichkeit steckte Klausner tot im Kofferraum von Spenglers Auto vor dem Haus, in dem Auto übrigens, das von Klausners Geld angeschafft worden war. Und später, am Abend, als er angeblich noch einmal zu einem Geschäftsfreund fuhr, hat Spengler ihn dann an den See bei der Siedlung ,Vogelsang’ gebracht und dort versenkt.“ Otto Wermke tötete die Glut ab und warf den Rest des Zigarillos in den Hof hinunter. Sein Wissensdurst war gründlich gestillt er mochte nichts mehr hören von den Einzelheiten des Tathergangs. Die Vorstellung, wie der tote Wilhelm mit seinen langen Beinen in einen Kofferraum gezwängt worden war, ließ seinen Magen revoltieren. Aber Hauptmann Mönch fuhr mit seinem Bericht fort, und es kam Otto Wermke so vor, als habe er es darauf abgesehen, ihn noch mit den letzten Einzelheiten zu quälen. Er erklärte, daß Spengler durch Frau Böhm über das Zerwürfnis zwischen Onkel und Neffen informiert war und gehofft hatte, daß der Verdacht auf Horst Hanke fallen würde, wenn man die Leiche entdeckte. Allerdings habe Spengler nicht mit einem so baldigen Auffinden des Opfers gerechnet. Da er nicht über die Strömungen in der Tiefe dieses Grundwassersees Bescheid wußte und auch die Auftriebskräfte der Leichengase nicht kannte, hatte er es folglich versäumt, den Toten entsprechend zu beschweren, um ihn in der Tiefe zu halten. Otto Wermke konzentrierte seine Aufmerksamkeit während dieser Erklärungen mehr und mehr auf ein Fenster der Kinder222
station im Erdgeschoß des gegenüberliegenden Trakts, in dem zwei kleine Mädchen sich kichernd damit vergnügten, mit Hilfe eines Taschenspiegels das Sonnenlicht einzufangen und es als huschenden Reflex durch den Hof zu jagen. Und so hörte er kaum noch darauf, was der Mann in seinem Rücken sprach. Erst als Mönch von den unappetitlichen Einzelheiten abließ und allgemeiner über den Dilettantismus referierte, „mit dem fast alle Verbrechen in diesem Land ausgeführt werden“, öffnete er wieder seine Ohren, und es gelang ihm sogar, ein wenig amüsiert zu sein über den Optimismus des Kriminalisten, der sich anheischig machte, diese Laienverbrecher Mann um Mann zur Strecke zu bringen. Und herausfordernd stellte er die Frage, ob es nicht vernünftiger sei, wenn die Polizei sich mehr darum kümmerte, Verbrechen zu verhindern, anstatt sie, nachdem sie begangen waren, aufzuklären. Da blickte Mönch den alten Mann zweifelnd an, als müsse er ergründen, ob der ihn auch nicht auf den Arm nehmen wollte, ehe er antwortete: „Wir sind in derselben Lage wie die Feuerwehr. Die kann zwar vor leichtfertigem Umgang mit dem Feuer warnen; aber ihre Hauptaufgabe bleibt doch, Brände zu bekämpfen. Die prophylaktische Arbeit der Verbrechensverhinderung muß an anderen Stellen geleistet werden. Und ich weiß nicht“, fügte er nachdenklich hinzu, „ob es gut wäre, wenn man die Polizei zum Erzieher der Nation bestellte. Ich jedenfalls bin lieber Feuerwehrmann.“ Das klang wie eine abschließende Bemerkung, und Hauptmann Mönch reckte sich denn auch in den Schultern, stand auf und stellte sich neben Otto Wermke ans Fenster. „Was werden Sie tun, wenn Sie wieder zu Hause sind?“ fragte er. „Ich hab schon gesagt: Ich will so schnell wie möglich all das Scheußliche vergessen.“ 223
„Vergessen ist kein Programm.“ „Für einen alten Mann schon.“ Darauf erwiderte der Hauptmann nicht sofort etwas. Dann sagte er nachdenklich: „Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf: Kümmern Sie sich um Dagmar Günther. Sie wird wohl in Zukunft mit dem Kind allein dastehen.“ „Allein?“ Otto Wermke wußte nicht, ob er Befriedigung darüber empfinden sollte, daß die junge Frau den unangenehmen Kerl losgeworden war, oder ob er sie bedauern sollte. „Ich habe mich gestern noch einmal eingehend mit ihr unterhalten. Sie ist sehr enttäuscht, daß sich Herr Fröhlich denn doch als ein Mann herausgestellt hat, der dem Mammon nicht abgeneigt ist.“ „Der asketische Herr Fröhlich, der sich seine Freiheit nicht für alles Geld der Spießer abkaufen lassen wollte.“ Otto Wermke schnaufte verächtlich. „Setzen wir uns nicht aufs hohe Roß“, gab Mönch zu bedenken. „Wenn es um solche Beträge geht, habe ich schon ganz andere Leute weich werden sehen.“ „Aber den hätten Sie mal erleben sollen.“ „Ich habe ihn erlebt, sogar als er zugab, mit Horst Hanke gemeinsam Überlegungen angestellt zu haben, wie man Klausner wieder um die Erbschaft bringen könnte. Er hat Dagmar Günther auch dazu geraten, den Brief an ihren Vater zu schreiben. Irgendwie mußte man mit dem Mann ja in Kontakt kommen.“ „Also doch.“ Otto Wermke konnte seine Enttäuschung nicht unterdrücken. „Sie hat das Theater mitgespielt.“ „Sie nicht. Ihr war es ernst mit allem. Sie hätte sich wirklich gern mit ihrem Vater ausgesöhnt. Ihr war es auch ernst damit, ihren Mann vor dem Verdacht des Mordes zu bewahren. Denn sie hielt es nicht für ausgeschlossen, daß er ihren Vater bei seiner Heimkehr am Sonntagmorgen begegnet ist und daß er ihn 224
umgebracht hat, aus Wut über die Anmaßung, sich in ihr Familienleben einmischen zu wollen.“ „So eine Dummheit!“ rief Otto Wermke und bedachte nicht, daß er noch vor wenigen Tagen ähnliches geargwöhnt hatte. „Sagen wir lieber: soviel Blindheit aus Liebe“, beschwichtigte ihn Hauptmann Mönch. „Jetzt verstehe ich auch, warum sie behauptet hat, seit dem Streit keine Verbindung mehr mit Fröhlich unterhalten zu haben, und warum sie das Spiel mit den Alben getrieben hat. Sie wollte verhindern, daß durch die Briefmarken der Verdacht aufkommen könnte, ihr Mann habe ihren Vater ermordet und beraubt. Denn es gab ja keine Zeugen dafür, daß Wilhelm ihr den Koffer übergeben hat. Aber dann? Was hat sie dazu gebracht, ihn mir aufzudrängen?“ „Sie hat die Nerven verloren.“ Mönch machte eine Geste, die ausdrücken sollte: So einfach ist das. „Und dem Herrn Fröhlich war das gar nicht recht. Der wollte das Zeug von Ihnen zurückholen. So nahe liegt das Verständliche beim Unverständlichen und umgekehrt.“ Er streckte dem alten Mann die Hand entgegen. „Auf Wiedersehen. Und tragen Sie es mir bitte nicht nach, daß ich nicht in allem Ihrem Geschmack entsprochen habe. Wir Kriminalisten sind auch nur Menschen. Geplagte Menschen.“ Er ging zur Tür, und ehe er die Klinke niederdrückte, sagte er noch: „Und besuchen Sie mal Frau Günther, sie würde sich freuen – hat sie mir gesagt.“
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