Siras Toten-Zauber
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 119 von Jason Dark, erschienen am 12.02.1991, Titelbild: Sanjuli...
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Siras Toten-Zauber
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 119 von Jason Dark, erschienen am 12.02.1991, Titelbild: Sanjulian
Bis wir das Ziel erreicht hatten, lag eine Hölle hinter uns. Dann aber stand ich in der ältesten und geheimnisvollsten Bibliothek der Welt, Tausende von Meilen von London entfernt. Und vor mir sah ich Sira, die Erbin des Totengottes Jama, Hüterin der Palmblatt Bibliothek, in der die Schicksale all der Menschen verewigt waren, die diesen Ort irgendwann in ihrem Leben einmal besuchten. Auch ich war da, und Sira hielt das Palmblatt mit meinem Schicksal in der Hand. »Vergangenheit und Zukunft, Sinclair, sind darauf verzeichnet. Aber nur die Vergangenheit kann ich dir vorlesen. Eine Zukunft wird es für dich nicht geben...«
Vorwort
Liebe Grusel-Freunde, in diesem Roman wird von einer Bibliothek die Rede sein, die tatsächlich in der Nähe von Bangalore, im südlichen Teil Indiens, existiert. Es ist die älteste Bibliothek der Welt. Sie enthält keine Bücher, sondern unzählige Palmenblätter, auf denen das Schicksal der Menschen verzeichnet ist, die der Bibliothek einen Besuch abstatten. Wer weiß, vielleicht führt den einen oder anderen Leser der Weg einmal dorthin. Sollte das der Fall sein, wünsche ich ihm nicht das Schicksal wie unserem Helden John Sinclair. Ansonsten viel Spaß und angenehmes Gruseln bei >Siras Totenzauber<. Herzlichst Jason Dark
Daß Craig Munro mir den Rücken zudrehte, geschah bestimmt nicht aus Absicht. Möglicherweise hätte ich das gleiche getan, denn die Aussicht vom neunzehnten Stockwerk war faszinierend. Ein Teil der Riesenstadt London lag ihm zu Füßen. Bei regenklarem Wetter — so wie jetzt — kannte er über das graue Band der Themse hinwegschauen, bis hin nach Wimbledon, das seine große Zeit für dieses Jahr bereits hinter sich hatte. Es war wirklich ein gigantischer Ausblick, einer, der zum Träumen einlud oder das Gefühl der Macht in einem Menschen hochschießen ließ, denn hier stand er über allem. Ich saß, sah nur den Himmel, spürte unter mir das weiche Nappaleder des Besucherstuhls. Das weite Firmament erinnerte mich an eine hellblau lackierte Fläche, in die hin und wieder zerfasernde Wolkenstreifen ein Muster zeichneten. Munro wippte auf den Ballen. »Eine phantastische Sicht, Mr. Sinclair. Ich liebe sie, denn nirgendwo bekomme ich den Wechsel der Jahreszeiten so direkt mit wie hier.« »Das glaube ich Ihnen gern.« Der Mann im rehbraunen Blazer seufzte. »Nur schade, daß ich sienichtmehrlange genießen kann ...« Er ließ die Worte ausklingen und wartete auf meine Antwort, mit der ich auch nicht zurückhielt, wobei ich sie in eine Frage hineinpackte. »Wie kommen Sie darauf, Mr. Munro?« Er drehte sich um. »Heute ist mein Todestag, Mr. Sinclair!« Ich schaute ihn an. Munro war nicht groß, aber drahtig. Das schwarze Haar trug er zum Scheitel gekämmt. Die Haut zeigte noch die Urlaubsbräune, und seine dunklen Augen blickten prüfend. Vom Aussehen her ähnelte er Filmstar Robert de Niro. »Woher wissen Sie das, Mr. Munro?« Er schob seine Hände in die Taschen der schwarzen Hose, schaute auf die Plastik auf der rechten Schreibtischhälfte und lächelte der hochaufgerichteten Frau mit dem Stierkopf zu, als wollte er sie um Verzeihung bitten. »Bitte, Mr. Munro.« »Deshalb habe ich Sie kommen lassen. Das heißt, ich bat Ihren Chef darum.« »Die Antwort reicht mir nicht, wie Sie sich sicherlich denken können.« »Das glaube ich.« »Also?« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Kein Standardmöbel, sondern das Unikat eines Designers, bestehend aus zwei Lederwürfeln als Träger für die schwarze Holzplatte. »Ich habe meinen Tod vorausgesehen. Ich war in Indien, in Bangalore, und mir ist es gelungen, in die geheimnisvolle Palmblattbibliothek zu gelangen. Dort war meine
Vergangenheit ebenso niedergeschrieben worden wie meine Zukunft und die Stunde meines Todes. Und die, Mr. Sinclair, ist heute.« Ich erwiderte nichts. Zwischen uns lastete das Schweigen. Am Himmel zog ein Flugzeug seine Bahn. Es war nichts von ihm zu hören, das Doppelglas der Scheiben schluckte die Geräusche. »Das glauben Sie, Mr. Munro?« »So wahr ich hier sitze.« Ich nickte. »Ja, gehört habe ich von dieser ungewöhnlichen Bibliothek in Bangalore. Aber ich war nie dort. Fragen Sie mich nicht nach den Gründen. Es mochte an der Zeit liegen, aber auch daran, daß es einfach keinen Fall gab, der mich dorthin führte.« »Es gibt sie, Mr. Sinclair.« »Das bestreite ich nicht.« »Und ich möchte, daß Sie erleben, wie sich mein dort vorgezeichnetes Schicksal erfüllt. Heute, am 28. September 1990. Das ist der Tag meines Todes.« Ich schlug die Beine übereinander. »Wissen Sie denn, wie Sie umkommen werden?« »Nein.« »Dann könnten Sie durchaus einen Herzschlag erleiden.« »Natürlich.« Ich legte die Stirn in Falten. »Wie sieht es mit einem Mordanschlag aus?« »Auch das wäre möglich, Mr. Sinclair.« »Dann haben Sie Feinde?« Er lächelte und lehnte sich zurück. »Sehen sie, Mr. Sinclair. Ein Mann in meiner Position hat immer Feinde. Ich bin Industrieller, ich habe Kontakte zu den arabischen Ländern, die jetzt einem Pulverfaß gleichen. Es gibt Neider, Konkurrenten und nicht nur in diesem Lande. Auch im Orient selbst bin ich bei manchen Personen nicht sehr gelitten. Aber das ist allein mein Problem.« »Anscheinend nicht. Sonst säße ich nicht hier.« Er schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich falsch. Es geht mir nicht einmal so sehr um mich persönlich. Ich denke mehr an die Sache, verstehen Sie? An die Erfüllung dieser Prophezeiung. Ich habe Sie hergebeten, damit Sie so etwas wie ein Leibwächter für mich sind. Sie sollen miterleben, daß sich ein vorgezeichnetes Schicksal erfüllen kann. Es ist etwas unwahrscheinlich für Sie, ich weiß. Aber Sie hätten selbst dabeisein müssen, dann würden Sie ebenso reden wie ich.« »Das streite ich nicht ab. Wenn ich es recht sehe, ist es für Sie also interessant zu erleben, ob sich die Prophezeiung tatsächlich erfüllt oder ob alles Schwindel ist.« »Genau.«
»Wie stark glauben Sie daran?« Er schaute auf seine Hände. »Ich bin eigentlich davon überzeugt, daß es mich erwischen wird.« »Im Laufe dieses'Tages?« »Exakt.« Ich rechnete nach. »Das heißt, ich würde bis Mitternacht bei Ihnen bleiben müssen.« »Darum hatte ich Ihren Chef gebeten.« »Stimmt, das sagte er mir. Ich hatte es leider nur vergessen.« Ich räusperte mich. »Darf ich dann fragen, wie Sie sich den Ablauf der restlichen Stunden vorstellen? Ein Mann in Ihrer Position hat 'Termine. Das geht einfach nicht anders.« »Die ich auch nicht absagen konnte.« »Wo müssen wir gemeinsam hin?« »Wir brauchen diese Büroetage überhaupt nicht zu verlassen, Mr. Sinclair. Ich habe meine Besprechungen so weit wie möglich reduziert. Wir können uns fast ausschließlich auf uns konzentrieren.« Er lächelte. »Es ist mir klar, daß dies für Sie langweilig wird, aber so gestaltet sich nun mal mein Tagesablauf.« »Und weiter?« »Nichts weiter. Wenn dieser Tag vorbei und mir nichts passiert ist, werden wir mit dem besten Champagner anstoßen. Das wollte ich Ihnen noch sagen.« »Dann stellen Sie mal die Flasche kalt.« Er schaute mich überrascht an. »Von Ihnen hätte ich eine derartige Antwort nicht erwartet.« »Wieso nicht?« »Nun ja, ich ...«, Er schluckte. »Ich habe gedacht, daß Sie diesen Dingen positiv gegenüberstehen.« »Habe ich etwas Gegenteiliges gesagt?« »Nein, nicht direkt. Sie scheinen mir allerdings nicht so recht zu trauen.« »Sagen wir so. Ich stehe Ihnen und Ihren Bemerkungen neutral gegenüber. Ich weiß, daß es Dinge gibt, die manchmal unfaßbar und unbegreiflich sind. Schließlich habe ich tagtäglich damit zu tun. Dennoch habe ich mir einen gewissen Rest von Skepsis behalten. Das braucht der Mensch einfach. Sonst würde ich durch die Welt schlafwandeln und sie nicht mit den Augen sehen, wie sie es verdient.« »Das haben Sie gut gesagt, Mr. Sinclair. Ich kann nur hoffen, daß Sie recht haben.« Erschaute auf seine flache Platin-Uhr. »Ich muß Sie jetzt für einen Moment verlassen und .. .« »Wohin?« »Nur innerhalb dieser Räume. Ich habe meiner Sekretärin etwas zu diktieren.« »Gut. Eine Erage noch, Mr. Munro.« Er war aufgestanden und knöpfte sein Jackett zu. »Ja, was ist noch unklar?«
»Ich würde gern erfahren, wie Ihre Familie dazu steht.« Craig Munro schaute mich an und lächelte dabei. »Der habe ich nichts gesagt. Außerdem besteht kein guter Kontakt zu meinen erwachsenen Kindern. Ich habe zum zweitenmal geheiratet. Mein Sohn und meine Tochter akzeptieren die zweite Fr au nicht.« »Sie werden ihre Gründe haben.« »Aus ihrer Sicht schon. Nun, das ist mein Problem." Er deutete auf einen Schrank. „Dort befindet sich eine kleine Bar. Wenn Sie einen Drink nehmen wollen, bitte, Sie können sich bedienen.« »Das überlasse ich den amerikanischen Privatdetektiven in den Filmen und TV-Streifen. Bei mir besteht der Drink mehr aus Mineralwasser.« »Auch das ist vorhanden. Bis gleich dann.« Es dauerte einige Sekunden, bis er die Bürotür erreicht hatte, denn der Raum war ziemlich groß. Es gab viele Familien, deren Wohnungen um einiges kleiner waren als dieser Raum. Ich trat an das bis zum Boden reichende Fenster und dachte über Craig Munro nach. Viel wußte ich nicht von ihm. Auch Sir James hatte mir kaum etwas berichtet und nur gemeint, daß Munro für einige Leute sehr wichtig war und Schutz brauchte. Über seine Geschäfte war ich ebenfalls nicht informiert, konnte mirallerdings vorstellen, daß er und seine Firma auch in Waffengeschäfte verstrickt waren. Seit Beginn der Golfkrise erlebte die Öffentlichkeit täglich neue Überraschungen, wobei keine positiv war. Ich dachte auch über den Besuch des Mannes in Indien nach. Daß es diese Palmblattbibliothek geben sollte, davon hatte ich gehört. Mehr auch nicht. Ich kannte keine Zusammenhänge und wußte auch nicht über die Motive Bescheid. Zudem hatte es mich nicht unmittelbar berührt. Es waren dort auch nicht die Schicksale aller Menschen auf der Welt niedergeschrieben worden, nur die derjenigen, die im Laufe ihres Lebens diese Bibliothek einmal besuchen würden. Sollte mich einmal der Weg dorthin führen, konnte es sein, daß ich auch ein Blatt fand, auf dem mein Schicksal niedergeschrieben worden war. Es hatte eigentlich keinen Sinn, darüber näher nachzudenken. Ich mußte es so hinnehmen. Es fiel mir nicht leicht, mich auf ein derart komplexes und geheimnisvolles Gebiet zu konzentrieren, während ich auf die Stadt London schaute. Sie war so real, wie sie vor mir lag. Da waren die Geheimnisse des alten Indien lichtjahreweit entfernt. Hier zählten nur die realen, meßbaren Dinge. Hier lief der Alltag weiter, zu dem auch die Gondel der Gebäudereiniger gehörte, die vor der Glasfront schwebte und sich auf Höhe des neunzehnten Stocks befand. Ich sah die Gondel, wenn ich nach links schaute. Zwei Männer waren damit beschäftigt, die Fenster zu reinigen. Sie konnten von ihrem Platz
aus in Büros und Wohnungen hineinschauen, und mir ging durch den Kopf, daß sie, wenn sie einen Mord planten, in die ideale Nähe ihrer Opfer gelangen konnten. Ich schaute mir die Männer deshalb genauer an. Viel konnte ich von ihnen nicht sehen. Sie trugen eine blaue Kleidung und Mützen auf den Köpfen. In dieser Höhe wehte stets ein stärkerer Wind. Waffen entdeckte ich nicht in der Gondel. Sie ließ sich elektrisch in alle Richtungen bewegen. Da die Gondel von links nach rechts schwebte, mußte das Bürofenster das nächste sein, das sie in Angriff nehmen würden. Auf dem Boden der Gondel standen die Arbeitsgeräte, die breiten Wischer, die großen Tücher und die mit Wasser gefüllten Fimer. Craig Munro war noch nicht zurückgekehrt. Die Tür des Büros hatte er geschlossen. Kein Schall drang vom Nebenraum her in das große Büro. Man konnte sich hier wie auf einer Insel fühlen, weit ab vom Trubel der normalen Welt. Die Luft war gleichmäßig temperiert, die Klimaanlage arbeitete lautlos. Ich war jetzt froh, eine Bar in der Nähe zu haben, weil ich Durst verspürte. Munro hatte nicht gelogen. Das Wasser stand neben dem Gin und dem Whisky. Ich öffnete eine Flasche, schenkte das Glas voll und dachte daran, daß ein Tag wie dieser verflucht lang und auch langweilig werden konnte. Da mußte man eben versuchen, das Beste daraus zu machen. Wieder trat ich an das Fenster. Ich schaute automatisch nach links. Die Gondel mit den beiden Männern war mittlerweile näher herangefahren. Sie reinigten jetzt die Scheibe des Nebenraums, wo das Sekretariat untergebracht war. Ich konnte den Grund nicht sagen, aber irgendwie gefielen mir die beiden Kerle nicht. Diese Putzerei mußte sein, okay, aber daß sie ausgerechnet an dem Tag vor der Hauswand herumturnten, an dem Munro sterben sollte, das wollte mir nicht in den Sinn. Harmlos, redete ich mir ein. Und trotzdem. Vielleicht hatte ich auch zu viele Filme gesehen, wo die Killer als Gebäudereiniger getarnt waren, so etwas gab es ja. Außerdem mußten Menschen, die eine derartige Tat in dieser Höhe verübten, reine Selbstmörder sein, denn einen vernünftigen Fluchtweg hatten sie sich selbst versperrt. Ich blieb dennoch mißtrauisch, was sich darin äußerte, daß ich so weit zurücktrat, um die die beiden soeben noch erkennen zu können, sie mich aber nicht sahen. Und sie putzten. Wenigstens einer von ihnen. Er war der Größere, der ebenfalls wie sein Kollege eine dunkle Pudelmütze auf dem Kopf trug.
Der zweite Mann hatte sich gebückt. Es sah so aus, als wollte er an den Eimern herumfuhrwerken, das jedoch tat er nicht. Er blieb in der Haltung und schraubte irgend etwas zusammen. Was es war, erkannte ich nicht, weil der andere Mann mir die direkte Sicht nahm. Endlich kam der Kleine hoch. Und jetzt sah ich, was er festhielt. Zwei kurzläufige Schnellfeuergewehre, wie sie aus amerikanischen Action-Filmen bekannt sind. Eines überreichte er seinem Kollegen, der den Wischer fallen ließ und sich das Gewehr schnappte. Die folgenden Sekunden erlebte ich wie in einem schrecklichen Zeitlupenfilm und ahnte, daß ich zu spät kommen würde. Craig Munros Schicksal sollte sich erfüllen! *** Ich rannte aus dem Raum, warf mich vor. Ich riß die Tür zum Nebenzimmer auf und hielt die Beretta fest. Dann hechtete ich mit einem gewaltigen Sprung über die Schwelle, wobei ich mich so flach wie möglich machte. Ich geriet in ein Chaos. Fürchterliche Geräusche mischten sich zusammen. Das Schreien der beiden Frauen, das Splittern und Platzen der Scheibe und das harte Hämmern der Schüsse. Die Kugeln fegten durch den Raum. Sie zerhackten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Ich rollte mich über den Boden, hatte aber mitbekommen, daß Craig Munro quer über dem Schreibtisch lag, dessen Platte von einer breiten Blutspur gezeichnet worden war. Die Frauen schrien, sie waren kalt und grausam erwischt worden. F.ine von ihnen machte den Fehler, nach rechts zu laufen. Plötzlich riß die Kugel sie von den Beinen. Die andere fiel ebenfalls um. Nur hatte sie sich freiwillig zu Boden gedrückt. Aus zwei Waffen schössen sie, räumten furchtbar auf. Halbhoch jagten die Geschosse durch den Raum, zertrümmerten, was nicht niet- und nagelfest war, und ich kam nicht dazu, zurückzufeuern, weil ich mir zuerst eine Deckung suchen mußte. Ich fand sie hinter einem hohen Ledersessel. Auch seine Rückenlehne zeigte an der Innenseite Einschußlöcher, aber keine an der Rückseite, die Geschosse steckten noch im Innenfutter. Dann war es still. Die Todesruhe hielt ungefähr drei Sekunden an, bis der Befehl aufklang.
Ich hörte ein Summen, rechnete damit, daß die beiden Killer an der Hauswand entlang nach unten fahren würden, was sie nicht taten. Sie fuhren so hoch, daß sie in den Raum springen konnten. Ich lag hinter dem Sessel und brüllte sie an. »Stehenbleiben!« Sie hörten meine Stimme und reagierten profihaft. Der Kleine hechtete nach rechts weg, sein Kumpan nach links. Und beide schössen. Im Fallen konnten sie nur schwerlich einen Treffer landen, die meisten Kugeln jagten in die Decke. Ich feuerte zurück. Den Kleinen erwischte ich zuerst. Sie hatten nicht sehen können, wo ich lag, das war mein Vorteil, sonst hätte ich keine Chance gehabt. Die Kugel erwischte ihn in der Brust, verletzte die Lunge und füllte seinen Mund mit Blut. Der Größere war für einen winzigen Moment geschockt, schaute auf seinen Kumpan und sprang hoch. »Weg mit der Waffe!« schrie ich. Er tat einen Teufel, schoß, stellte das Gewehr auf Dauerfeuer und verwandelte sich in einen schießenden Teufel, dessen Kugeln noch mehr zerstörten. Ich feuerte hinter meinem Sessel hervor und hatte mich auf ihn konzentrieren können. Die erste Siiberkugel traf seinen Oberschenkel, die zweite machte ihn kampfunfähig. Sie erwischte ihn in der Brust, und er drehte sich im Fallen, bevor er bäuchlings liegenblieb, sich nicht mehr rührte und sich zum zweitenmal innerhalb einer kurzen Zeit die Stille des Todes innerhalb des Raumes ausbreitete. Ich stand auf, zitterte. Das Würgen saß in Magen und Kehle, ich war bleich und hatte das Gefühl, nicht einmal mehr mit den Füßen auf dem Boden zu stehen. Furchtbare Sekunden lagen hinter mir. Eine Minute des Grauens, des Todes, und ich brauchte nicht erst auf Craig Munro zuzugehen, um zu wissen, daß sich sein Schicksal erfüllt hatte. Ein Telefon funktionierte nicht mehr. Die Garben hatten die gesamte Anlage zerhämmert. Wie aus weiter Ferne erreichten mich die Schreie vom Flur her. Jemand riß die Tür auf, die Entsetzensrufe potenzierten sich, und ich stand da starrte durch das zerstörte Fenster und spürte den Wind, der in mein schweißfeuchtes Gesicht wehte. Eines stand fest: An diesem Tage hatte ich erst den Beginn des Falles erlebt... ***
Ich hatte mir einen Stuhl besorgt und stand abseits. Über die blutige Bilanz wußte ich auch Bescheid. Drei Tote! Einmal Craig Munro, dann die eine der beiden Sekretärinnen, und der kleinere Killer lebte nicht mehr. Der andere war schwer verletzt, die zweite Mitarbeiterin nur leicht, aber sie stand unter einem schweren Schock. Natürlich war die Mordkommission eingetroffen. Zum Glück wurde sie von einem guten Bekannten geleitet. Es war Chiefinspector Edmond J. Hillary, ein knochentrockener Typ mit einem bissigen Humor. Auf seinem Kopf wuchsen drei Haare in vier Reihen, und er war bekannt für seine zerknitterten Anzüge, die immer die Frarbe Grau hatten. Selbst im heißesten Sommer griff er auf keinen hellen zurück. Sein Gesicht wirkte flach. Es gehörte zu denen, die man schnell vergißt, vorausgesetzt, man hatte nicht in seine Augen geschaut, die sehr hart blicken konnten und von einem fast eisigen Blau waren. Mit diesen Augen schaute er mich an, als er auf mich zuschlenderte. »Sinclair, jetzt sagen Sie nur nicht, daß Sie keine Ahnung hatten, was diese Schweinerei hier angeht.« »Die hatte ich auch nicht.« »Drei Tote, Sinclair. Das gibt Wirbel. Draußen steht bereits die Presse und dreht durch. Können Sie mir verraten, was ich den Typen erzählen soll?« »Nein.« »Dann schicke ich Sie vor.« »Hören Sie, Hillary, es waren normale Morde. Begangen von Killern, aus welchen Gründen auch immer.« »Und genau die interessieren mich.« Ich lächelte knapp. »Ich kenne die Gründe nicht. Munro hat mich zu sich kommen lassen, um mir zu erklären, daß er an diesem Tage sterben würde. Das ist alles.« Hillary dachte nach. »Und das soll ich Ihnen glauben, Sinclair?« Dann nickte er. »Doch, ich glaube Ihnen sogar, aber ich will mehr wissen. Wer hat Munro bedroht? Woher wußte er, daß er sterben würde? Welche Organisation steckte dahinter?« »Ich kenne die Killer nicht.« »Aber wir wahrscheinlich.« »Und?« Hillary zog die Nase hoch. »Franzosen aus der Mar-seillcr Gegend. Mietkiller.« »Sie sahen mir mehr arabisch aus.« »Stimmt. Aber sie hatten einen französischen Paß. Wir werden noch überprüfen, ob die Papiere gefälscht waren. Drei Tote sind kein Kinderspiel, Sinclair.« »Ich weiß.« »Und Sie hängen mit drin.«
»Nur indirekt.« Chiefinspector Edmond J. Hillary, der mit dem Forscher und Entdecker nicht verwandt war, holte eine Blechschachtel hervor, öffnete sie und entnahm ihr ein scharfes Pfefferminz. »Das müssen Sie mir genauer erzählen, da komme ich nicht mit.« »Ich will es Ihnen sagen. Er hat mich gebeten, zu ihm zu kommen, weil er davon überzeugt war, daß er an diesem Tag, also heute, sterben würde. Das ist alles.« »Komisch.« »Stimmt.« Hillary kaute die Perle hörbar. »Hat er nicht erzählt, wer hinter dem Anschlag stecken könnte? Welche Gruppe? Terroristen aus der Golfregion oder vielleicht aus Libyen . . .« »Nein. Und er wird seine Gründe gehabt haben. Ich weiß nur, daß er sich als Geschäftsmann ansah, der auch mit Partnern aus dem arabischen Lager handelte.« »Waffen?« »Kann sein.« Hillary hob die Schultern. »Wenn das so ist, wird er es wohl schwerlich einem Polizisten gegenüber zugegeben haben.« »Meine ich auch.« »Aber weiter im Text. Er wollte also von Ihnen beschützt werden.« »Was ich nicht geschafft habe.« Hillary räusperte sich und schaute in die Runde. Seine Männer nahmen noch die Spuren auf. Die Leichen waren bereits in die Säcke gepackt worden. Jetzt zog man die Reißverschlüsse zu. Ich mochte die dabei entstehenden Geräusche nicht, weil sie mir so verflucht endgültig klangen, ähnlich wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. »Was soll ich noch fragen, Sinclair, wenn Sie mir nicht antworten wollen.« »Ich kann es nicht.« »Sagen Sie nur.« »Ich weiß nichts. Er hat mir erklärt, daß er heute eventuell sterben wird. Das ist alles.« »Und dann holt er ausgerechnet Sie, einen, Sie entschuldigen, Geisterjäger ins Haus?« »Genau.« »Hören Sie Sinclair, ich kenne Ihren Job. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, daß Sie als Leibwächter eigentlich nichts taugen. Oder sehen Sie das anders?« »Nein.« »Warum also hat er Sie geholt und sich keine Armee von Bodyguards engagiert, was auf der Hand liegen würde?« Er stierte mich an, war scharf auf eine Antwort. Dabei wippte er noch auf den Zehen.
»Sie können ihn ja selbst leider nicht mehr fragen«, murmelte ich. »Jedenfalls gab es eine Bedrohung, die er nicht einkreisen konnte. Wir müssen auf das Motiv kommen.« »Wunderbar, weiter so.« »Das, mein lieber Kollege, fällt geradewegs in mein Gebiet. Deshalb hat er mich geholt.« Hillary bekam einen wissenden und gleichzeitig staunenden Blick. »Jetzt wird es interessant, finde ich.« »Bestimmt nicht.« »Was wollen Sie mir jetzt verschweigen?« »Überhaupt nichts, Hillary. Ich weiß nur, daß Craig Munro von einer Indien-Reise zurückgekehrt ist und an einem bestimmten Ort war, wo er etwas über sein Schicksal gefunden hat, das sowohl seine Vergangenheit als auch die Zukunft betraf.« »Hä?« flüsterte Hillary und schüttelte den Kopf. »Das möchte ich noch genauer wissen.« »Ich auch.« Er steckte sich ein zweites Pfefferminz-Bonbon in den Mund. »Wollen Sie etwa damit sagen, daß er Sie nicht informiert hat und sich in allgemeinen Betrachtungen erging?« »So ähnlich. Er war in Indien, an einem bestimmten Ort. Er hat dort etwas über sein Schicksal erfahren und eine höllische Angst bekommen. Er hat dort gelesen, daß er an diesem Tag sterben soll. Deshalb engagierte er mich als Leibwächter. Und jetzt hören Sie mir genau zu. Hillary. Munros Tod und sein Besuch haben damit nichts zu tun. In Indien erfuhr er nur etwas über sein Schicksal, aber nicht über die Motive. Sie sind derjenige, der die Hintergründe des Mordes untersuchen wird, ich aber kümmere mich um die andere Seite des Falles.« »Sie wollen also nach Indien.« »Ja, es wird wohl darauf hinauslaufen.« Hillary nickte. »Okay, Sinclair, wir kennen uns. Ich weiß, welchem Job Sie erfolgreich nachgehen. Es kann sein, daß es bei diesem Fall tatsächlich zwei Seiten gibt. Ich jedenfalls muß mich um die Backgrounds der beiden Killer kümmern, wobei möglicherweise noch andere Dienststellen eingeschaltet werden müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie was?« »Bitte.« »Glauben Sie das eigentlich, was Sie von Craig Munro gehört haben? Ist Ihnen das nicht suspekt?« »Überhaupt nicht.« Hillary schüttelte den Kopf. »Ich halte mich lieber an Fakten und nicht an irgendwelche Wahrsagereien. Und darüber bin ich froh, Sinclair. Wie
sieht es mit dem Protokoll aus? Wollen Sie jetzt unterschreiben? Ich meine, Sie haben Ihre Zeugenaussage . ..« »Ja, geben Sie her.« »Wann fliegen Sie denn?« »Keine Ahnung.« Hillary zerknackte die Reste seiner Bonbons. »Sagen Sie mal, Sinclair, haben Sie ich eigentlich schon mit der Familie beschäftigt? Ich kenne mich da nicht so aus, glaube aber gelesen zu haben, daß es bei den Munros Vorjahren funkte.« »Er ist zum zweitenmal verheiratet.« »Das ist nichts Ungewöhnliches.« »Eben.« »Und sonstige Weibergeschichten?« »Ich gebe Ihnen einen Tip. Lesen Sie doch die Klatschpresse, oder gehen Sie in deren Archive. Ich kenne mich da nicht aus.« »Das glaube ich Ihnen sogar.« »Na endlich.« »Wieso?« Ich winkte ab. »Lassen wir das. Ich werde meinen Weg gehen, nehmen Sie den Ihren.« »Was bleibt mit anderes übrig. Möglicherweise treffen wir uns noch.« »Bestimmt. Und wo?« »Zumindest bei den Munros. Ich werde mit seiner Frau reden. Auch mit den Kindern und kann mir vorstellen, daß Sie diesen Weg ebenfalls einschlagen.« »Das glaube ich auch.« Einer der Männer kam zu uns. »Sir, die Presse läßt sich nicht abweisen. Es kommen immer mehr hinzu. Die Reporter sind wie Hyänen. Was sollen wir tun?« Hillary verdrehte die Augen. »Es ist zum Heulen mit den Kerlen. Aber ich kümmere mich darum.« Er grinste mir zu. »So etwas nennt man Schadensbegrenzung.« Er wollte gehen, ich hielt ihn fest. »Tun Sie mir einen Gefallen, Kollege, und erzählen Sie nichts von dem, was wir hier miteinander beredet haben.« »Sie meinen Indien?« »Ja, das wäre für die Leute ein gefundenes Fressen. Ich muß sowieso zusehen, daß ich mich rausschleichen kann.« »Warten Sie noch drei Minuten, dann haben ich mich mit den Reportern in einen Nebenraum verzogen.« »Danke.« Hillary hob die Schultern und ging davon. Er ging ziemlich gebückt und lutschte wieder an einem Pfefferminz. Das graue Jackett umwehte ihn wie ein alter Lappen.
Da ich keine Spuren mehr zertrampeln konnte, durchmaß ich das Büro. Mir war klar, daß Kollege Hillary viel Arbeit bekommen würde, mir aber würde es ähnlich ergehen. Die Wartezeit nutzte ich aus, um meinen Freund Suko anzurufen. Er wußte Bescheid, denn das Attentat hatte sich herumgesprochen und auch, daß ich nicht zu Schaden gekommen war. »Sir James ist bereits zum Rapport bestellt worden, und zwar an hoher Stelle.« »Soll uns alles nicht kümmern, Suko.« »Weißt du mehr?« »Ja, aber noch zuwenig. Es gibt da zwei Fälle.« Ich erklärte Suko, was ich mittlerweile wußte. Er hörte gut zu und meinte: »Soll ich die Tickets schon bestellen?« »Noch nicht.« »Was dann?« »Du könntest uns einen anderen Gefallen tun. Ruf Mandra Korab an. Versuche ihn schon vorzuwarnen. Wenn uns einer helfen kann, dann er. Soviel ich weiß, ist diese Palmbibliothek nicht leicht zu finden und auch nicht jedermann zugänglich. Es kann nur derjenige hin, dessen Schicksal auch dort aufgeführt ist. Da haben Mönche vor Tausenden von Jahren schon in die Zukunft sehen können.« »Klingt unwahrscheinlich.« »Ich aber habe so etwas wie den Beweis bekommen.« »Okay, reden wir später darüber. Wie sieht es aus? Wann kann ich mit deinem Eintreffen rechnen?« »Das weiß ich noch nicht. Ich möchte zuvor Mrs. Munro einen Besuch abstatten.« »Tu das.« »Da möchte ich schneller sein als die Kollegen von der Mordkommission. Falls du Mandra erwischst, bestelle ihm einen Gruß mit.« »Mach' ich glatt. Bis später, John.« Ich legte auf und schlich mich wie ein Dieb aus den Büroräumen weg. Der Kollege hatte tatsächlich Wort gehalten. Von den Reportern war niemand mehr zu sehen. Nur die Uniformierten standen noch auf dem Gang. An ihnen ging ich grüßend vorbei... *** Chiefinspector Edmond J. Hillary schaute mich aus seinen Eisaugen an, ohne ein Grinsen verbergen zu können. »Es ist Ihr Pech, Sinclair, und das meinige mit.«
Ich öffnete die Rovertür, und er ging einen Schritt zur Seite. »Wie meinen Sie das?« »Die trauernde Gattin ist nicht anwesend.« »Das wissen Sie genau?« »Sicher.« Er strich sich über seinen wenigen Haare. »Vielleicht mußte sie etwas einkaufen.« Ich nickte. »Schnell haben Sie ja reagiert, Kompliment, Kollege.« »Das habe ich so an mir.« Als ich ausstieg und den Wagen abschloß, bekam sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck. »Glauben Sie mir nicht. Oder wollen Sie auf diesem großen Grundstück einen kleinen Spaziergang unternehmen?« »Ja, ich vertrete mir die Beine. Hat man Ihnen denn gesagt, wann sie zurückkehrt?« »Wieso dieses?« »Ich gehe davon aus, daß ein Mensch wie Munro nicht ohne Personal ausgekommen ist.« »Kann sein, Kollege. Nur haben wir keinen Butler und auch kein Hausmädchen gesehen.« Sein Blick wurde beinahe träumerisch. »Schon ein wenig ungewöhnlich, finde ich. Aber ich werde zurückkehren.« »Tun Sie das.« Er nickte mir zu und stieg in seinen Dienstwagen, den Hillarys Assistent lenkte. Ich blieb zurück und stand vor dem breiten, hohen schmiedeeisernen Tor wie bestellt und nicht abgeholt. Er war tatsächlich ein Grundstück, wie man es oft auf alten Bildern sieht. Groß, typisch englisch eben. Der Adel oder reiche Geschäftsleute hatten sich solche Stadt-Palais zugelegt. Da durfte Munro natürlich keine Ausnahme bilden. Aufgebrochen hatte Kollege Hillary das Tor nicht. Ich drückte einen Flügel zur Seite und schaute hinein in den prächtigen Park mit den hohen Laubbäumen, deren Blätterdächer auch im heißen Sommer Schatten spendeten. Der Kiesweg führte bis direkt zum Haus hin. Die gewundene Auffahrt bildete einen hellen Fluß. Dort wollte ich nicht hin, ich rechnete damit, daß es noch andere Möglichkeiten gab, um sich in- und außerhalb des Gebäudes umzuschauen. An die Rückseite schloß sich nicht nur das gepflegte Parkgelände an, es gab auch einige Buschinseln, deren Bewuchs mehr als menschenhoch war und wo man tatsächlich etwas verstecken konnte. Das einzige Lebewesen war ich nicht. Über mir zwitscherten die Vögel in den Kronen der Bäume. Vielleicht hatte ich sie als fremde Person aufgeschreckt. Die Rückseite des mehrstöckigen Hauses sah ebenso gepflegt aus wie die Vorderfront. Im spitzen Winkel dazu stand ein weiterer Bau, nur
wesentlich kleiner. Ich ging davon aus, daß erden Fuhrpark der Familie Munro beherbergte. Ein kleines Fenster gewährte mir Einblick. Was ich sah, ließ zwar mein Herz auch höher schlagen, aber ein Sammler von Oldtimern hätte bestimmt gejubelt oder ein Tänzchen gemacht, denn diese Sammlerstücke waren wirklich außergewöhnlich. Vom alten Horch über BMW, Jaguar bis hin zum Italiener war so einiges vertreten. Da lagerten Werte. Nur würde der Mann, der die Wagen gesammelt hatte, daran keinen Spaß mehr haben. Im Jenseits hatte er nichts davon. War tatsächlich niemand da? Oder hatte sich Mrs. Munro bewußt zurückgezogen? War sie bereits informiert worden? Wollte sie wegen ihrer Trauer mit keinem Menschen sprechen? Ich wußte nicht einmal, wie sie aussah, wie alt sie war. Nur jünger als Munro, das stand fest, aber ihren Vornamen hatten ich bisher noch nicht gehört. Es war ein schöner Tag. Auch am Nachmittag lag der Himmel noch frei. Es sah so aus, als wären Wolken überhaupt nicht vorhanden und ein Fremdwort für die blaue Fläche. Herrlicher konnte sich der Altweibersommer oder Erühherbst einfach nicht präsentieren. Und doch steckte in mir ein ungutes Gefühl. Woher es kam, wußte ich nicht. Es war mir so, als hätte ich etwas vergessen oder nicht beachtet. Etwa drei Schritte seitlich von der Oldtimer-Garage blieb ich stehen, und mein Blick floß über das große Grundstück hinweg. Zur rückwärtigen Grenze hin verdichtete sich der Bewuchs noch mehr, als wollte er irgendwelchen Nachbarn bewußt den Einblick verwehren, wobei man davor keine Furcht zu haben brauchte, bei dieser gewaltigen Größe. Zwischen dem dunklen Grün der Sträucher und den ersten herbstlich gefärbten Blättern schimmerte in einem rötlichen Braun etwas Hohes, womit ich im ersten Augenblick nicht zurechtkam, weil es einfach nicht dazu paßte. Bis ich auf den Trichter kam, daß es sich nur um ein Haus handeln konnte. Möglicherweise um einen alten Pavillon oder ein Gartenhaus aus Stein. Wenn ich schon einmal hier war, wollte ich es mir auch aus der Nähe anschauen. Ich schritt über den weichen Rasen, der schon einen Golfplatz-Schnitt zeigte. Es tat mir direkt leid, die Halme zu knicken. Der Zweck heiligte die Mittel, und schon bald konnte ich erkennen, daß es sich tatsächlich um einen kleinen Bau handelte, der mich persönlich allerdings mehr an eine Grabstätte erinnerte. Es gibt ja Menschen, die sich ein privates Mausoleum auf das Grundstück setzten. Wenn es sich bei diesem Bau tatsächlich darum handelte, war es sehr schlicht gehalten und erinnerte mich an einen auf die Seite gekippten Schuhkarton, gegen dessen Schmalseite ich schaute
und eine Tür sah, die nicht geschlossen war. Durch einen entsprechenden Spalt konnte Tageslicht in die Düsternis des Baus dringen. Die Tür sah prächtig aus. Sie bestand aus grauem Granitstein mit Eisenbeschlägen, und ein ebenfalls aus Metall gefertigter Ring diente als 'Türöffner. Meine Neugier wuchs. Ich hatte die Tür sehr schnell erreicht und mußte den Ring mit beiden Händen umfassen, damit ich den schweren Eingang überhaupt aufziehen konnte. Kein Knarren oder Quietschen erreichte meine Ohren. Wenn immer es Angeln gab, sie waren jedenfalls gut gepflegt oder gut geölt worden. So erweiterte ich die Öffnung und spürte auch den kühlen Luftstrom, der mir aus der Tiefe entgegenfloß. Kühl - modrig? Nicht, daß mein Herz schneller geklopft hätte, ein wenig seltsam war mir schon zumute, denn vor mir lag eine Treppe, die genau die Breite dieses Gebildes aufwies. Sie führte in die Tiefe, und sie verschwand allmählich in der trüben Finsternis. Ich wollte nicht ohne Licht in das dunkle Maul hineinsteigen und holte eine kleine Leuchte hervor. Daß sich Craig Munro auf seinem Grundstück einen derartigen Bau hingestellt hatte, war für mich ein Rätsel. Waren hier tatsächlich Menschen begraben? Die Stufen sahen zwar blank aus, waren aber nicht ohne Schmutz, der unter dem Druck meiner Sohlen zerknirschte. Ich hörte nichts aus der Tiefe. Sie blieb ein unheimlicher Schlund, in den nur der scharfe Strahl der Halogenleuchte hineinstach. Staub durchzitterte ihn. Höher, schon fast unter der Decke warfen dünne Spinnweben silbrige Reflexe. Die Feuchtigkeit hatte das Gestein von innen her blank gemacht, der Geruch war moosig, aber ich entdeckte keinen Sarg in dem Freiraum, der hinter der Treppe begann. Vor der untersten Stufe blieb ich stehen, kam mir sehr allein vor und ließ die Lampe kreisen. Der Kreis wanderte über die Wände dieses unterirdischen Bauwerks. Erschreckend grell starrten mich fratzenhafte Gesichter oder Masken an, wenn sie aus der Finsternis gerissen wurden. Es waren Gesichter, zu denen ich keine Beziehungen hatte, denn diese Masken gehörten keineswegs zum europäischen Kulturkreis. Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß sie mehr im fernen Asien anzusiedeln waren, wobei mir automatisch der Subkontinent Indien einfiel. Ich sah aber auch Bilder und erkannte den Gott Wischnu, der mit seiner Gemahlin Lakschmi auf dem Rücken des Adlers Garuda saß und von zwei Irdischen begrüßt wurde.
Mein Hals wurde trocken, denn an Garuda erinnerte ich mich sehr deutlich. Ihn hatte ich schon mehrmals erlebt, wußte, daß es ihn gab, und daß er mir nicht feindlich gegenüberstand. Andere Masken sahen aus wie Zerrbilder von Göttern, dann entdeckte ich wieder ein neues Bild, das einen Gott zeigte, der einen riesigen Elefantenkopf besaß, sogar sehr freundlich blickte und seinen Rüssel geschwungen hatte wie einen Gartenschlauch. Auf den Namen kam ich nicht, wußte aber, daß es sich bei ihm um den Gott des Wohlstands handelte. Diese Umgebung berührte mich seltsam. Es lag nicht allein an den Bildern und Masken, es hing auch damit zusammen, daß ich hier mitten in London etwas Fremdartiges vorfand, das eigentlich einige tausend Meilen entfernt hingehört hätten. Und wieder dachte ich an den toten Munro. Er war nach Indien gefahren und hatte dort die alte Palmbibliothek gefunden. Daß ihm dies überhaupt gelungen war, setzt schon ein gewisses Wissen voraus. Er mußte es sich durch Lesen und auch Sammeln gewisser Kunstgegenstände angeeignet haben. Ich ging tiefer hinein in diesen grabkammerähnli-chen Raum, in dem die Luft sehr schlecht war, der aber hin und wieder besucht wurde, denn welchen Sinn hätten sonst die auf einem Tablett stehenden Kerzen haben sollen? Zudem zeigten sie allesamt angeschwärzte Dochte. Hierher zog sich ein Indien-Liebhaber zurück, der voll und ganz in der Mythologie und Mystik dieses Landes aufging. Davon hatte mir Craig Munro nichts gesagt, daß er sich dermaßen intensiv mit dem Kontinent beschäftigte. Bisher hatte ich die Geräusche allein produziert, selbst beim Herumdrehen konnte ich dem Schaben lauschen. Das ändert sich allerdings. Vom Eingang her vernahm ich ein leises Schleifen. Mich durchfuhr der heiße Schreck, weil ich im ersten Augenblick daran dachte, daß jemand die Tür zugeschlagen haben könnte und ich in der Falle saß. Mit der noch leuchtenden Lampe in der Hand fuhr ich herum und strahlte die Stufen hoch. Und da stand sie. Sie erinnerte mich an einen Geist, an ein Gespenst, denn sie trug ein langes, weit geschnittenes und sehr helles Kleid. Mir war die Frau unbekannt, aber ich ahnte schon, daß es sich nur um die Hausherrin handeln konnte. Ich sagte kein Wort, auch sie sprach nicht. Aber sie kam näher und schritt mit anmutigen und mir schwebend vorkommenden Bewegungen die Treppe hinab. Diesmal schaffte sie es, die Distanz fast lautlos zu verkürzen. Allmählich geriet auch der Umriß ihres Gesichtes in den Lichtschein. Obwohl ich sie blendete, zwinkerte sie nicht einmal mit den Augen. Die Frau schien eine
Maske zu tragen, und ich senkte die kleine Leuchte, so daß der Strahl nur die Treppe erwischte. Wortlos kam sie auf mich zu. Ich trat einen Schritt zur Seite, um die Frau vorbeizulassen. In den letzten Sekunden war mir genügend Zeit geblieben, die Person zu beobachten. Ich hatte im Laufe der Jahre schon zahlreiche Frauen kennengelernt — faszinierend auf der einen, aber auch furchtbare Geschöpfe auf der anderen Seite. Diese hier paßte in kein Raster hinein. Sie war einfach anders, und das spürte ich. Ihr Gesicht wirkte wie eine Plastik. Es war sehr hell, beinahe faltenlos. Neben dem Mundwinkel zeichneten sich die Andeutungen zweier Grübchen ab. Das Haar der Frau zeigte eine pechschwarze Farbe. Selbst das Gefieder eines Raben hatte nicht dunkler sein können, und die gleiche Farbe wiederholte sich in ihren Augen. Obwohl sie eine Weiße war, kam sie mir doch irgendwo fremdartig vor. Sie besaß keine asiatischen Gesichtszüge, wie es bei Chinesen oder Japanern der Fall war, für meinen Geschmack wirkte sie trotz ihrer hellen Haut eher wie eine Orientalin. Jedenfalls war sie eine ungewöhnliche Erscheinung und führte sich allein durch ihre sicheren Bewegungen so auf, als wäre sie hier die Herrin der Grabstätte. Beide hatten wir Erklärungen abzugeben, ich eher als sie, aber ich wartete noch. Die Frau schaute sich um, als wolle sie herausfinden, ob ich der einzige war. Das bestätigte ich ihr. »Ich bin allein gekommen.« Die Frau seufzte und drehte den Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Sie holte laut durch die Nase Luft. »Wer sind Sie?« »Ich heiße John Sinclair.« »Und wer hat Sie hier hereingelassen?« »Die Tür war nicht verschlossen.« »Ah so.« Ich wußte noch immer nicht, wer sie war und fragte sie deshalb nach ihrem Namen. Bevor sie mir eine Antwort gab, setzte sie sich in Bewegung und schritt dicht an den Wänden vorbei, die Blicke dabei direkt auf die Bilderund Masken gerichtet. Sie kam mir vor wie eine Frau, die erst jetzt alles genau sah. »Ich gehöre hierher. Ich bin Sira.« Ein ungewöhnlicher Name, wobei ich zugeben mußte, daß er zu ihr paßte. »Kann ich auch Mrs. Munro zu Ihnen sagen?« Sie nickte. »Ja, das können Sic.« Ich überlegte. Wußte sie, daß ihr Mann nicht mehr lebte? Konnte ich ihr das einfach so sagen? Wenn ja, war sie stark genug, um diese Nachricht
zu verkraften? Oder hatte sie bereits meine Kollegen gesehen und bewußt nicht geöffnet? Deshalb gab ich eine sehr vorsichtige Antwort. »Ich kannte Ihren Mann, Mrs. Munro.« »Ach so?« Keine Reaktion ihrerseits, obwohl ich in der Vergangenheit gesprochen hatte. »Leider sind wir nicht mehr dazu gekommen, uns zu unterhalten. Es kam etwas dazwischen . ..« »Sein Tod!« Sie wußte Bescheid, und sie hatte mir die Antwort völlig emotionslos gegeben. »Was wissen Sie?« Ein leises Lachen drang über ihre Lippen. »Es gibt Dinge, über die ich ungern rede, Mr. Sinclair. Aber ich wußte, daß es so kommen würde. Sein Schicksalstag war der heutige. Er wäre ihm sowieso nicht entgangen, aber er hätte wesentlich ruhiger schlafen können, wäre er nicht nach Bangalore gefahren, um der Palmbibliothek einen Besuch abzustatten. Das ist sein Fehler gewesen.« »Gratuliere, Mrs. Munro, Sie kennen sich aus.« »Bitte sagen Sie nicht Mrs. Munro. Sagen Sie einfach Sira.« »Wie Sie wünschen.« »Ich wußte, daß sein Schicksal ihn ereilt hatte, aber die Männer kamen, um das Haus zu durchsuchen. Aber ich habe nicht geöffnet. Ich wollte nicht mit ihnen sprechen.« »Sie reden aber mit mir. ..« »Das ist etwas anderes«, gab sie zu. »Ich kann Sie nicht direkt als einen Polizisten ansehen.« »Was bin ich dann für Sie?« Sie blieb im Halbdunkel, so daß ich ihre äußere Reaktion nicht mitbekommen konnte. »Sie sind eine sehr ungewöhnliche Person, was ich genau spüre. Sie strahlen etwas aus, das ich sehr schlecht in Worte fassen kann, und dies beunruhigt mich. Ich bin es eigentlich gewohnt, die Menschen zu durchschauen. Bei Ihnen gelingt mir das nicht. Wie soll ich Sie einstufen? Wer sind Sie wirklich?« »Auch ein Polizist.« »Das streite ich nicht einmal ab.« Sie wechselte das Thema und ging dabei auf eine der Masken zu, über die sie mit den Fingerspitzen streichelte. »Wissen Sie eigentlich, Mr. Sinclair, daß ich eine Inderin bin?« »Nein, nicht genau. Mir fiel nur ihr Name auf. Er klingt nicht europäisch.« »Ja, ich stamme aus dem südlichen Indien, und mein Mann, der sich in mich verliebte, brachte mich nach Europa. Das Land faszinierte ihn. Bei seinem ersten Besuch lernte er mich kennen und wollte immer mehr erfahren.« Sie streichelte weiter über die Maske. »Zugleich richtete er mir dieses Haus hierein. Er wollte mir ein Stück Mythologie schaffen, auch ein Stück Heimat, denn ich als seine Frau sollte mich wohl fühlen.
Mir sollte es an nichts fehlen. Wir sprachen oft über Bangalore und die geheimnisvolle Bibliothek dort. Und ich muß sagen, daß es fruchtbare Gespräche waren. Sehr fruchtbare sogar, die meinen Mann begeisterten und ihn noch mehr für Indien interessierten. Es war wie ein Drang, der ihn überkommen hatte. Er merkte plötzlich, daß er hin mußte, daß dort etwas war, das auf ihn wartete.« »Die Bibliothek des Schicksals, nehme ich an.« »Stimmt genau, Mr. Sinclair. Es ist die wohl rätselhafteste Bibliothek der Welt, denn schon vor Jahrtausenden ritzten indische Weise dort auf sechs Zentimeter breiten und achtundvierzig Zentimeter langen Palmblättern die Schicksale der Menschen ein, die heute leben. Natürlich nicht die Schicksale der Milliarden von Menschen, sondern nur die derjenigen, die diese Bibliothek irgendwann einmal besuchen würden. Das wußten die Mönche und Weisen sehr genau. So wird die Zahl eben reduziert und ist auf eine gewisse Art und Weise übersichtlich geblieben.« »Das ist sehr interessant», gab ich zu. »Sogar faszinierend, aber ich kann mir schlecht vorstellen, daß sich diese Palmblätter über Jahrtausende gehalten haben, oder hat man sie konserviert, was ich auch kaum glauben kann, denn wenn jemand erscheint, müssen sie ja hervorgeholt werden und sind damit den normalen Umwelteinflüssen ausgesetzt.« Über ihre vollen Lippen legte sich ein feines Lächeln. »Ich höre schon, Mr. Sinclair, daß Sie mich sehr gut verstanden haben. Sie denken mit, das ist gut. Sehen Sie, in der Bibliothek arbeiten die Weisen, die Mönche, diejenigen, die sich auf andere Welten vorbereiten, die den Begriff Zeit nicht kennen, für die es keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft in unserem Sinne gibt. Sie beherrschen die Fähigkeiten der Astralreise ebenso wie die des Hellsehens und der Astrologie. Und sie sind nicht allein damit beschäftigt, zu beten, sondern sorgen auch dafür, daß die Botschaften auf den zu alt und brüchig gewordenen Blättern erneuert werden. Sie schreiben sie auf andere Palmblätter, und dieser Kreislauf hört eigentlich nicht auf, so daß die Mönche stets eine Beschäftigung haben. Sie tun Gutes, Mr. Sinclair.« Ich hatte dagestanden, ihr zugehört und war mir vorgekommen wie jemand, der unheimlich viel lernen muß. Wie ein Schüler, der vor seinem Lehrer steht. »War Ihnen das neu?« »In der Tat, Sira.« Sie nickte. »Nicht viele Leute wissen davon, und so soll es auch bleiben. Das ist ganz im Sinne der Mönche. Es sollen wirklich nur die Personen dort erscheinen, deren Namen und Schicksale auch auf einem der Palmenblätter verewigt ist.« »Sie wissen nicht, ob mein Name dort ebenfalls steht?«
»Nein. Sie müssen es spüren, Sie müssen den Drang erfahren, der sie in diese Bibliothek treibt. Dort werden Sie dann über Ihre Zukunft etwas zu lesen bekommen.« Ich hatte bei ihrer letzten Erklärung einen Schauer bekommen. Es lag an den Worten und wahrscheinlich auch an dieser geheimnisvollen Umgebung, daß mir so anders wurde. Wenn ich darüber nachdachte, daß ich irgendwann das Palmenblatt mit meinem Schicksal in den Händen halten würde und darauf lesen konnte, was mir in Zukunft widerfuhr, konnte mir schon anders werden. Ich dachte auch an das Rad der Zeit, das ebenfalls in der Lage war, die Zukunft zu zeigen, aber das hatte man nicht zugelassen. Man wollte mich nicht in Bedrängnis stürzen. »Spüren Sie den Drang?« fragte Sira. »Wenn ich ehrlich sein soll, bestimmt.« »Ich kann es mir denken. Es ging auch meinem Mann so. Aber Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen, wenn Sie Ihr Palmblatt in den Händen halten und es sich entziffern lassen.« »Wie auch Ihr Mann?« »Ja.« »Aber er versuchte, dagegen anzugehen. Er wollte sein Schicksal nicht mittragen.« Sira nickte. »Das weiß ich, Mr. Sinclair. Wir haben oft genug darüber geredet. Er war einfach dagegen, sich schon jetzt aus dem Leben zu verabschieden, aber es gab keine andere Möglichkeit. Ich habe es ihm gesagt. Er wollte nicht auf mich hören. Zudem hat er einen sehr großen Fehler und Frevel begangen.« »Welchen?« »Mein Mann Craig stahl das Palmblatt. Es nahm es einfach mit, schmuggelte es aus dem Kloster, und das, Mr. Sinclair, ist nicht nur ein Vertrauensbruch, sondern ein Verbrechen. Schlimmeres kann man den Mönchen nicht antun.« »Mönche«, murmelte ich. »Sind es wirklich nur die, die die Blätter lesen können?« »Wenn ich ehrlich sein soll, brauchen es nicht unbedingt Mönche zu sein. Und das sind sie auch nicht. Man kann sie als Weise bezeichnen, die eine uralte Tradition fortführen, die stets von Generation zu Generation weitergegeben wird.« »Dann befindet sich, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Bibliothek im Besitz einer Familie?« Sira nickte. »In gewisser Weise schon. Nur an Mitglieder der Familie und sehr enge Freunde wird das Wissen weitergegeben. Auch unter Folter würden sie es nicht preisgeben, und sie merken genau, wer der Besucher ist und ob er sich nur eingeschlichen hat, getrieben von niedrigen Instinkten.«
Ich hatte mittlerweile einiges erfahren und war froh darüber. Meine Neugierde hatte sich natürlich gesteigert und auch der Wunsch, die geheimnisvolle Bibliothek zu besuchen. Aber ich wollte auch auf Craig Mun-ros Tod zurückkommen, über den seine Frau so gut wie keine Trauer zeigte. Was mich etwas wunderte. »Ihr Mann ist tot.« »Ja.« »Hat er vielleicht auch gewußt, wie er ums Leben kommen würde? Man hat ihn erschossen. Es ...« ». . . hat das eine mit dem anderen nichts zu tun, Mr. Sinclair. Es war heute sein Schicksalstag. Ihn hätte auch ein Herzschlag ereilen können, aber Craig hat sich da auf Geschäfte eingelassen, die nicht gut für ihn waren. Und er hat dann versucht, seine Partner zu hintergehen, als die Golf-Krise anfing. Er hatte Geld im voraus kassiert, ohne die Waffen zu liefern. Sie waren übrigens für den Irak bestimmt.« Ich nickte. »Das hatte ich mir gedacht. Dann hat der irakische Geheimdienst oder Munros Geschäftspartner die Killer angeheuert, um ihn zu töten.« »Ja, es waren Kamikaze-Menschen. Sie werfen für eine Sache ihr eigenes Leben in die Waagschale. Das müssen wir akzeptieren und haben es oft genug in den Medien gehört.« »Haben Sie denn keine Furcht?« fragte ich. »Vor wem sollte ich?« »Nun ja, Sira. Sie waren schließlich mit einem Waffenhändler verheiratet. Gibt es bei diesen Modern nicht den Begriff der Kollektivrache? Ich könnte es mir vorstellen.« In ihrem glatten Gesicht rührte sich nichts. »Es mag sein, aber wenn schon. Diese Männer werden mich nicht bekommen, denn ich bin praktisch dabei, England zu verlassen. Ich kehrte nur noch einmal hierher zurück, um von meinen persönlichen Dingen Abschied zu nehmen, Mr. Sinclair. Ich werde wieder zurück in meine Heimat gehen.« »Nach Indien.« »Das ist richtig.« »Auch nach Bangalore?« Sie kam einen Schritt vor. »Vielleicht, Mr. Sinclair. Oder nach Madras. Wer kann schon genau sagen, wohin ihn die Schwingen des Schicksals tragen werden?« »Da haben Sie recht.« »Ich möchte mich von Ihnen verabschieden.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust und verbeugte sich. »Leben Sie wohl, Mr. Sinclair.« »Einen Augenblick. Meinen Sie nicht, daß wir uns noch einmal wiedersehen werden?« »In dieser Welt?« »Davon gehe ich aus.«
Sie schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln, drehte sich um und ging davon. Allerdings nicht auf die Treppe zu, wie es normal gewesen wäre, sondern direkt auf die Wand vor ihr. Es gab da eine Lücke zwischen zwei Bildern. »He, Sie ...« Die weiteren Worte blieben mir im Hals stecken, denn für Sira stellte die Wand kein Hindernis dar. Sie durchschritt das steinige Hindernis, als wäre es nicht vorhanden... *** Ich stand da wie ein begossener Pudel, starrte auf den schmalen Raum zwischen den beidene Bildern und entdeckte noch innerhalb des dichten Mauerwerks ihre schemenhafte Gestalt, die nicht mehr als ein feinstoffliches Etwas war. Dann war sie weg ... »Verdammt noch mal«, flüsterte ich, »das glaubt mir keiner.« Irgendwo kam ich mir auch vor, als hätte mich diese geheimnisvolle Frau auf die Schippe genommen. Ich war einfach sicher, daß sie mir nur einen Bruchteil ihres Wissens preisgegeben hatte. Begriffe wie Telekinese, Teleportation und das Entstehenlassen des Astralkörpers schössen mir durch den Kopf und vermischten sich. Jedenfalls war diese Sira eine außergewöhnliche Persönlichkeit, wie ich sie noch nie zuvor in meiner Laufbahn kennengelernt hatte. Ich ging auf die Stelle zu, wo sie verschwunden war, um nachzuforschen, ob sich dort möglicherweise eine geheime Tür befand oder etwas anderes in der Richtung. Nein, da war nichts. Nur eben dieser feste Stein, aus dem die Grabkammer oder das Mausoleum hergestellt war. Was Sira geschafft hatte, blieb mir verwehrt. Ich konnte nur den normalen Weg gehen und schritt gedankenschwer die Stufen hoch. Sira wollte nach Indien zurück in ihre Heimat, und ich war davon überzeugt, daß sie es bereits geschafft hatte. Hier befand sich ein magisches Tor, das nur sie öffnen konnte, deshalb versuchte ich es auch nicht mit meinem Kreuz. Das und damit auch die Heilige Silbe der Inder — das AUM — wollte ich mir aufbewahren. Mit der Schulter stemmte ich die Tür auf und kam mir vor wie in einer anderen Welt. Obwohl sie für mich normal war, mußte ich mich erst darin zurechtfinden. Niemand außer mir hielt sich im Park auf. Die Kollegen hatten sich ebenfalls zurückgezogen, der Wind allein spielte mit den Blättern und ließ sie rascheln.
Das Haus stand leer. Vielleicht barg es noch Spuren, aberdie hätten mirauch nicht weiterhelfen können. Für mich war es wichtig, nach Indien zu fliegen, nur dort konnte ich die Spuren weiterverfolgen. Ich setzte mich in den Rover und dachte darüber nach. Lohnte es sich eigentlich, die Pläne zu verwirklichen? War es nicht Unsinn, die lange Reise auf sich zu nehmen? Was wollte ich dort? Der Mord war so gut wie aufgeklärt. Es gab eigentlich keinen Grund für mich, die Palmbibliothek zu besuchen. Dennoch spürte ich in meinem Innern einen Drang, wie ich ihn selten erlebt hatte. Er wollte mich vorantreiben, ich kannte nur ein Ziel, ich mußte hin. Wegen des Palmenblatts. War ich so darauf getrimmt worden, mein Schicksal zu erfahren? Einen Tag zuvor hatte ich davon nichts gewußt. Nun aber fieberte ich danach. Und Sira hatte tatsächlich recht gehabt, wenn sie sagte, daß man es spüren, daß der Drang unwiderstehlich weiden müsse. In einem derartigen Zustand befand ich mich. Ich fuhr zum Yard zurück und kam mir vor, als wäre ich ein anderer Mensch geworden, was auch Suko spürte, denn er schaute mich so seltsam an. »Geht es dir gut?« »Ja — wieso?« »Ich weiß nicht.« Er räusperte sich. »Du machst den Eindruck eines Menschen, der etwas erlebt hat, über das er nachdenken muß und es nicht richtig einordnen kann.« Ich setzte mich an den Schreibtisch. »Das ist durchaus möglich, denn ich habe ein Schlüsselerlebnis hinter mich gebracht.« »Rede.« Ich winkte ab. »Nicht sofort. Eine Frage vorweg. Hast du Mandra Korab erreichen können?« »Ja. Mit Ach und Krach.« Suko streckte seine Beine aus. »Ich habe ihm nur erklären können, daß wir nach Indien fliegen und gab dabei Bombay als Ziel an. Richtig?« »Genau.« »Über den Grund der Reise konnte ich ihn kaum informieren und bekam soeben noch das Wort Palmbibliothek heraus.« »Wie reagierte er?« Suko hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber sehr positiv wohl nicht. Es klang eher wie ein Schrei oder eine Warnung. Ich erklärte ihm noch, daß alles klar war, dann riß die Verbindung ab.« »Egal, Suko. Ich hoffe nur, daß er uns in Bombay erwartet.« »Nun zu dir.« Mein Lächeln wirkte etwas verloren, als ich ihm antwortete, daß ich mein Schicksal kennenlernen wollte, daß einfach in dieser Palmbibliothek aufgezeichnet sein mußte.
»Und da bist du dir sicher, John?« »Ja, sogar zweihundertprozentig. Denn in mir spüre ich den Drang, hinzufahren und nachzuforschen.« Er hob die Schultern und spielte mit einem Bleistift. »Dagegen kann ich nichts haben. Aber was ist mit mir, einer Person, die den Drang nicht in sich spürt?« »Du kommst trotzdem mit.« Er lächelte. »Worauf du dich verlassen kannst, Alter. Denn einer muß ja auf dich achtgeben...« *** Indien — Bombay! Keine Stadt wie Kalkutta, aber auch ein Reservoir an Menschenmassen, Verkehr, Gerüchen und Staub. Bombay liegt an der Westküste dieses gewaltigen Subkontinents und kam in den Genuß der Winde, die hin und wieder das Gemisch durcheinanderquirlten und die Menschen aufatmen ließen. Zu den gewaltigen und unvergeßlichen Eindrücken der Stadt gehört auch der Flughafen, den der Reisende beim Anflug unter sich sieht. Ein riesiges Areal, der größte Indiens, der alles schluckte. Touristen ebenso wie Geschäftsleute, Europäer, Asiaten, Afrikaner — ein Wirrwarr aus Mensch und Technik. Hier fiel man nicht auf. Zuviel Gedränge herrschte in den Hallen, zu viele Sprachen wirbelten durcheinander, und alles war begraben unter einer feuchten Glocke aus Hitze, Staub und Bakterien. Geheimnisvolles, großes Indien. Hier trafen sich die Gegenwart und die Vergangenheit. Genauso sahen auch die Menschen aus. Sehr konservative Inder mischten sich in die Pulks der europäischen Geschäftsleute, die in diesem Billiglohnland ihre Waren bestellten. Hinzu kamen die Bettler vor dem Airport, die Polizisten, die Zöllner, auch die Händler und letztendlich die zahlreichen Taxifahrer mit ihren kaum fahrtüchtigen Wagen, die darauf lauerten, Touristen in den Moloch Bombay hineinzuschaffen. Es gab Menschen, die das wenig störte, die es so einfach hinnahmen und sich nicht darüber aufregten, weil es ohnehin keinen Sinn hatte. Zu diesem Personenkreis gehörte auch ein hochgewachsener Inder, der schon allein wegen seiner Größe auffiel. Doch nicht nur wegen ihr allein. Er war zudem ein Mann, der wie eine Statue wirkte, eine BilderbuchInder, obwohl er europäische Kleidung trug - bis auf einen weißen, kunstvoll geschlungenen Turban. Er deutete darauf hin, daß dieser Mensch nicht zu denen gehörte, die sich durch andere unterkriegen ließen. In ihm steckte das Wissen der alten Rasse. Er stammte, wenn
man es genau nahm, aus edlem Geblüt und konnte allein durch seinen Blick andere zum Schweigen bringen. Natürlich verteilten sich auch Parkplätze um den Flughafen. Der Mann mit dem Turban stellte seinen Wagen aber nicht auf einem dieser Plätze ab, sondern ließ ihn dort zurück, wo die großen Leihwagenfirmen ihre Standplätze hatten. Als er ausstieg, wuchs er immer mehr. Er schloß das Fahrzeug ab und schritt auf das kleine Bürogebäude zu, um dort die Formalitäten zu regeln. Ruhig wartete er im Hintergrund ab, bis er an die Reihe kam. In seinem edel geschnittenen Gesicht rührte sich nichts, aber seine Augen waren in ständiger Bewegung. Sie beobachteten alles, was sich in dem Büro abspielte, und seinen kleinen Koffer hielt er lässig in der rechten Hand, doch es würde sich keiner trauen, ihm dieses Gepäckstück zu entreißen. Geduldig erledigte er die Formalitäten und verließ den klimatisierten Anbau, um sich in den Trubel zu stürzen. Der Mann hieß Mandra Korab! Was er war, konnte er selbst kaum definieren. Er stammte aus einem alten Maharadscha-Geschlecht, aber er lehnte die Feudalherrschaft dieser Potentaten ab. Ein hohes Vermögen war ihm durch das Erbe zugeflossen, und Mandra versuchte damit, die Not in seiner Umgebung ein wenig zu lindern. Er spendete, er baute auf, er hatte Häuser errichten lassen und trug auch dazu bei, daß eine Schule entstehen konnte, die auch außerhalb des Molochs Kalkutta lag. Das war die eine Seite, die andere in ihm gehörte zu den kämpferischen. Mandra Korab konnte man mit gutem Gewissen als einen indischen Geisterjäger bezeichnen, denn er kannte sich in der Mythologie und Mystik seines Landes ausgezeichnet aus und wußte immer, wo er die Hebel ansetzen mußte. Er stand mit den Dämonen auf Kriegsfuß. Seine Erz-feindin war die Göttin Kali und deren Helfer, und er besaß die sieben Dolche, mit denen er ebenso gut umgehen konnte wie mit dem Schwert oder der Peitsche. Sein Blick konnte manchmal von einer nahezu hypnotischen Kraft sein, und wer diesen Menschen ansah, der spürte, daß er seinen Weg allein gehen würde. Wer Mandra Korab zum Freund hatte, konnte sich beglückwünschen. Seine Feinde jedoch mußten sich warm anziehen, denn sie bekamen es mit einem gnadenlosen Abrechner zu tun, der das Böse ausmerzen wollte. Oft genug hatte er dagegen gekämpft, auch zusammen mit seinen Freunden aus Europa, die er nun wieder abholen wollte. Diesmal war er nicht nach London gekommen, diesmal hatte es sie nach Asien verschlagen. Krach und Hitze empfingen ihn, als er das Gebäude verlassen hatte. Hier starteten und landeten die Maschinen pausenlos. Dazwischen klangen grell die Hupen der Taxis und der Sprachenwirrwarr zahlreicher
Menschen, ob sie nun am Airport zu tun hatten oder nicht. Viele zog es auch nur hin, um zu schauen. Besonders die Bettler, die sich auf Touristen stürzten, wobei die Menschen dieser Tatsache zumeist hilflos gegenüberstanden und nicht wußten, ob sie ihnen etwas geben sollten oder nicht. Mandra Korab ließ sich Zeit. Er wußte nicht, ob die Maschine aus London pünktlich war. Es gab zwei Alternativen, er mußte raten, in welche Maschine seine Freunde saßen, denn eine zweite Verbindung hatte nicht mehr geklappt. Der Himmel zeigte sich in einer blassen Bläue. Doch über der Stadt Bombay hing die Staubwolke wie festgeleimt. Ein gelblicher, zitternder Wirrwarr, zum Glück nicht so schlimm wie in Kalkutta, wo noch der Leichengestank der verbrannten Toten am Ufer des Ganges hinzukam. Mandra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und kümmerte sich nicht um schimpfende oder stöhnende Touristen, die schon bei der Ankunft ihren Indien-Urlaub verfluchten. Sein Ziel war der Schalter der Fluggesellschaft British Airways. Auch hier mußte Mandra warten, bevor er eine genervte Angestellte fragen konnte. »Es geht mir um die Maschine aus London. Wird sie pünktlich landen?« »Moment bitte.« Die Frau telefonierte, hörte zu und nickte einige Male, bevor sie auflegte. »Sie wird ein wenig Verspätung haben.« »Können Sie da genauer werden?« Die Angestellte mit den blonden Haaren verdrehte die Augen. »Meine Güte, ich weiß es auch nicht.« »Danke.« Mandra lächelte, was die Dame irritierte. »Sie waren sehr freundlich.« Daß die Frau einen roten Kopf bekam, sah Mandra nicht mehr. Er hatte sich abgewendet, um sich die Wartezeit an einem der Getränkestände zu verkürzen. Es gibt Menschen, den meisten ergeht es so, die der Flughafen-Wirrwarr müde macht. Mandra Korab gehört nicht zu den Leuten. Von Natur aus war er sehr wachsam, schließlich wußte er um seine zahlreichen Feinde, und er hatte bereits Nachforschungen angestellt, was Johns und Sukos Problem anging. Von dieser geheimnisvollen Palmblattbibliothek wußten nicht sehr viele Personen. Diejenigen, die eingeweiht waren, hielten meist den Mund, aber Mandra kannte einen Mann, der zwar nicht direkt in die Geheimnisse eingeweiht war, aber in Bangalore wohnte und Bescheid wissen mußte. Mit ihm hatte er telefoniert. Dieser Mann war ihm eine kleine Gefälligkeit schuldig. Daß er sich verstockt gezeigt hatte, wunderte Mandra nicht nur, es hatte ihn zugleich mißtrauisch gemacht. Sein Informant hatte nicht reden wollen und sich nur auf Drängen zu einer bestimmten Aussage entschlossen. Die allerdings war einer
Warnung gleichgekommen, denn er hatte Mandra geraten, keine schlafenden Hunde zu wecken. Natürlich wollte Mandra die Gründe wissen, doch sein Informant hielt den Mund, bis auf einen Schlußsatz, der den Inder hatte aufhorchen lassen. »Weck den Totenzauber nicht!« An diese Warnung mußte Mandra Korab denken, als er auf einem der Hocker seinen Platz fand und sich einen alkoholfreien Drink bestellte. Aus Früchtesirup und Mineralwasser war er hergestellt worden und wurde in einem hohen Glas serviert. Der hochgewachsene Inder mit dem hellen Turban hatte seinen Platz an einer günstigen Stelle gefunden. Hinter ihm befand sich eine Trennwand, während er selbst die kleine Bar und damit auch deren Gäste überblicken konnte. Mit den Verfolgen, die sich auf seine Fährte gesetzt hatten, rechnete er immer, aber noch hatte er niemanden erkannt. Die Gesichter kamen ihm alle unbekannt vor. So nahm er seinen Drink, trank ihn in kleinen Schlucken und achtete besonders auf die Durchsagen, die die landenden oder startenden Maschinen betrafen. Neben ihm wurde ein Platz frei. Der schwitzende Engländer hatte gezahlt und ging. Sehr lang blieb der Fiok-ker nicht unbesetzt. Ein Landsmann nahm Platz. Mandra schaute ihn aus dem rechten Augenwinkel an. Der Mann trug einen braunen Anzug, darunter ein Hemd ohne Kragen. Er strich durch seinen Kinnbart, während er mit der Zunge über seine Lippen leckte. Er war ziemlich dünn. Sein Gesicht zeigte einige Narben, und er roch nach Gewürzen und Fleisch. Wenig später stellte ihm jemand eine kleine Kanne Tee hin, aus der er sich bediente. Er sprach kein Wort mit Mandra Korab, doch der Inder bemerkte, daß er beobachtet wurde. War es wirklich Zufall, daß dieser Fremde sich neben ihn gesetzt hatte? Mandra sagte nichts. Wenn der andere ihm etwas zu sagen hatte, würde er ihn schon ansprechen. Das geschah, nachdem der Mann in die Tasche gegriffen und eine kleine kleine Dose hervorgeholt hatte, die er auf die Theke stellte. Er klopfte mit dem Nagel des Zeigefingers auf das Blech. »Sehen Sie die Dose, Sahib?« »Meinen Sie mich?« »Ja.« »Sie ist nicht zu übersehen. Was ist damit?« Der Mann trank einen Schluck Tee und hob die Augenbrauen. »Sie ist so etwas wie eine Urne, denn in ihr befinden sich die Reste einer Person, die nicht vorsichtig genug war, dafür aber neugierig.«
Mandra Korab blieb ruhig. »Sie wollen damit sagen, daß diese Person verbrannt wurde?« »Verbrannt und zermörsert, damit auch die kleinsten Knochen noch zu Staub wurden.« »Man hätte die Asche in den Ganges spülen sollen.« Der Pockennarbige lachte leise. »Das hätte man. Aber es wurde nicht getan.« »Sie werden mir den Grund bestimmt nennen, sonst hätten Sie sich nicht zu mir gesetzt.« »Ja, ich will es Ihnen zeigen.« Er faßte die Dose mit beiden Händen und drehte den Deckel ab. Das ging sehr schnell. Mit einer hochgestellten Hand schützte er den Inhalt gegen den Windzug, ließ Mandra jedoch genügend Sicht, um in das Unterteil hineinschauen zu können, das mit grauem Staub gefüllt war. »War es ein Mensch?« »So ist es. Er hat die alten Regeln nicht beachtet.« Mandra nickte. »Darf ich fragen, was ich damit zu tun habe?« »Auch Sie befinden sich auf einem gefährlichen Weg und wollen die alten Regeln nicht beachten.« Beim Trinken spürte Mandra die Kälte des Drinks. »Sind Sie sehr überrascht, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihr Verhalten und Ihre Worte nicht begreife?« »Nein«, gab der Fremde zu. »Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Ich möchte nicht, daß es Ihnen ähnlich ergeht. Noch besteht die Chance zur Umkehr.« »Sie sprechen von der Verbrennung.« »Das meine ich. Auch Ihre Asche würde in eine solche Dose hineinpassen, wenn man die Reste zermörsert.« »Und wessen Asche ist das, bitte?« »Es war jemand zu neugierig. Er hat sich um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen. Er unterschätzte den 'Totenzauber. Das blieb von ihm zurück. Die 'Toten kennen keine Gnade. Sie übergeben ihre Feinde dem Feuer. So ist es hier Sitte.« »Nicht überall.. .« »Ich habe Sie nur warnen wollen.« Mandra Korab nickte. »Darf ich fragen, wer Sie geschickt hat? Sie kamen sicherlich nicht aus eigenem Antrieb.« Der Mann antwortete sehr orakelhaft, als er sagte: »Der'Totenzauber verlangt manche Opfer.« »Welche?« Der Pockennarbige trank seinen Tee. »Ich bin geschickt worden, um mit einer Antwort zurückzukehren. Das große 'Tuch, des Vergessens sollte sich über die Dinge legen, die Sie versuchen zu lüften. Haben wir uns verstanden?« »Sie meinen die Palmbibliothek.«
»So ist es.« »Bisher war ich nicht da.« »So sollte es auch bleiben. Es sei denn, Sie wollen Ihr Schicksal erfahren.« »Es ist auch dort vorhanden?« »Ich weiß es nicht. Sollten Sie meinen Besuch nicht vergessen, werden Sie es nie erfahren.« Der Mann rutschte vom Hocker. Er nickte Mandra zu und ging. Nach einem Schritt schon flog er zurück. Mandra hatte nur seinen Arm ausgestreckt und eine Hand auf seine Schulter gelegt. Dem Griff konnte der andere nichts entgegensetzen. Er taumelte zurück und wurde von Mandra gedieht wie eine Puppe. Plötzlich schimmerte Schweiß auf seiner Stirn. In den Augen leuchtete die Furcht. »Was wollen Sie?« Mandra lächelte eisig. »Sie haben etwas vergessen. Erstens müssen Sie noch zahlen, und zweitens sollten Sie die Blechdose mitnehmen. Ich mag es nicht, wenn sie vor mir steht und dazu noch mit Menschenasche gefüllt ist.« Der Pockennarbige überlegte, bevor er in die Tasche griff und einige Rupien auf das Holz legte. »Gut, und nun die Dose.« Er zögerte noch. »Sie haben nicht begriffen. Deshalb werden Sie auch keine Chance mehr bekommen.« »Nehmen Sie die Asche mit.« Der Fremde nickte. Den Deckel hielt er bereits in der Hand. Mit der Linken nahm er die Dose, von Mandra scharf beobachtet. Dann passierte es. Und es geschah mit einer Geschwindigkeit, die selbst Mandra überraschte. Der andere Kerl schleuderte die Dose hoch, die Asche stäubte in das Gesicht des Inders, drang in die Augen, wo sie anfing zu brennen und Mandra blind machte. Ein Schlag mit der flachen Hand traf noch seine Stirn und schleuderte ihn zurück bis gegen die Trennwand. Die hastigen Schritte des Pockennarbigen sagten ihm genug. Der Mann flüchtete, und Mandra konnte ihn nicht mehr verfolgen, weil das Brennen in seinen Augen blieb. Tränen wuschen sie etwas frei. Er putzte sich dann das Gesicht ab. Das alles nahm Zeit in Anspruch, die der Kerl genutzt hatte. Er war längst im Menschengewühl untergetaucht. Der Keeper erkundigte sich besorgt, was geschehen war, aber Mandra schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich zurückkommen«, sagte er. »Ich muß nur in den Waschraum.« »Ja, natürlich.« Die Waschräume lagen in der Nähe. Sie waren nicht gerade die modernsten, und es stank erbärmlich. Das nahm Mandra Korab in Kauf. Er wollte sich die Augen und das Gesicht auswaschen.
Aus dem Kran drang nur ein Rinnsal. So dauerte es seine Zeit, bis Mandra es geschafft hatte. Einige Männer beobachteten ihn dabei, gaben aber keinen Kommentar ab. Kurze Zeit später hatte Mandra Korab seinen Platz wieder eingenommen. Die leere Dose stand dort noch immer, dafür lag die Asche des Toten vor der Theke auf dem Boden. »Alles wieder in Ordnung?« erkundigte sich der Keeper. »Soweit ja. Haben Sie gesehen, wo der Nachbar von mir hingelaufen ist?« »Nein, nicht bei diesem Betrieb.« »Ist klar.« Mandra schaut auf die Asche. Er wußte genau, daß es die Überreste eines Menschen gewesen waren, aber ihm war unbekannt, welcher Mensch sich dahinter verbarg. Möglicherweise sein Informant, aber den Beweis dafür hatte er nicht. Jedenfalls wußte er genau, daß die andere Seite sich bereits zu Angriffen formierte, und Mandra fragte sich, woher sie wußten, daß er sich um den Totenzauber und die Palmbibliothek kümmern würde. Entweder gab es irgendwo einen Verräter, oder die andere Seite schaffte es, auf geheimnisvollen Wegen ihre Beobachtungen fortzusetzen, jedenfalls mußte Mandra Korab davon ausgehen, daß die Suche nach der geheimnivollen Bibliothek kein Zuckerschlecken würde... *** Genau damit rechneten wir auch. Wir hatten Mandra Korab auf dem Airport getroffen und uns darüber gefreut, daß wir ihn so gesund wiedersahen. Sehr schnell aber war er ernst geworden, hatte uns von der Warnung berichtet und die Frage gestellt, wer dahinterstecken könnte. Für mich gab es nur eine Antwort. »Sira war es!« »Wieso?« Ich hatte ihm von meinen Londoner Erlebnissen berichtet und ihm natürlich auch gesagt, daß es der Frau gelungen war, durch Wände zu gehen. Etwas, das selbst mich geschockt hatte. Mandra hatte nur genickt. »Ich weiß«, sagte er schließlich, »daß es die Personen gibt, die so etwas beherrschen. Doch es existieren nur sehr wenige Menschen, die diese Gabe besitzen. Von einigen hat es geheißen, daß sie ausgestorben wären.« »Dann existieren eben noch gewisse Reste, Mandra.« »Nur kenne ich keine Person mit dem Namen Sira.« Ich hatte gelacht. »Bei eurer Einwohnerzahl ist das auch kein Wunder, mein Freund.«
»Das stimmt.« Wir waren dann sehr schnell weiter nach Bangalore geflogen. Allerdings in einer Maschine, die in Europa längst außer Betrieb genommen worden wäre. Man mußte schon ein großes Gottvertrauen haben, um in sie einsteigen zu können. Kein Düsenclipper, eine Propeller-Maschine, die Mühe hatte, sich über die Berge des indischen Hochlands im Süden des Kontinents zu schwingen. Wir erlebten auf dem Flug alles. Hitze, Regen, Nebel, wieder Hitze, Wolken und natürlich einen gewaltigen Sturm, der nicht nur die Maschine durchschüttelte, auch uns Passagiere. Außer uns saßen noch sechzehn weitere Fluggäste mit in diesem komischen Flattermann, sie allerdings nahmen den Flug stoischer hin als ich, wobei ich auf jedes fremde Geräusch achten wollte. Es blieb beim Vorsatz, denn außer dem Heulen, Krachen und Knarren hörte ich nichts. Suko und ich konnten uns kaum unterhalten, der Lärm war einfach zu groß. Viel zu sehen gab es auch nicht. Wie Geister huschten die Wolkenfetzen an den Kabinenfenstern vorbei. Zwar waren wir angeschnallt, leider aber mit ausgeleierten Gurten, die wohl kaum die Kraft hatten, uns so festzuhalten, wie es Vorschrift war. Suko hatte seinen Humor noch nicht verloren. Möglicherweise war es auch Galgenhumor, als er fragte: »Hast du eigentlich von Abstürzen gelesen, die hier passiert sind?« »Nein.« »Nun ja, ich dachte da an die hohen Berge. Daran kann man leicht zerschellen.« »Dann schreib schon mal deine letzte Karte.« »An wen?« »Sir James.« »Ich warte noch.« Der Sturm schwächte sich ab, auch die Wolken verschwanden. Die Sicht klarte auf. Die Landschaft unter uns bildete eine Mischung aus Grün und Braun. Grün war der tropische Dschungel, braun die kahlen Berghänge, an denen hin und wieder kleine Orte klebten wie Schwalbennester. Mandra saß uns gegenüber. Ob er geschlafen hatte, wußte ich nicht. Zuzutrauen war es ihm. Als er den Kopf drehte und uns anschaute, hob ich den Arm. »Wir leben noch.« »Warum auch nicht?« »Fliegst du öfter mit diesen Mühlen?« »Ja.« »Wie schön.« Mandra lachte. »John, du darfst hier nicht von deinen Verhältnissen ausgehen. Wir hätten auch die Bahn nehmen können.« »Und wären jetzt wo?«
»Wahrscheinlich irgendwo im Dschungel. Es hat stark geregnet. Da werden viele Dämme unterspült.« »Wir vertrauen dir.« »Wie lange müssen wir denn noch durch die Luft gondeln?« wollte Suko wissen. »Also, pünktlich sind wir nicht. Wahrscheinlich wird es schon dunkel sein.« »Hast du schon ein Quartier?« »Das werden wir finden. Außerdem schlaft jetzt. Die Nacht kann lang werden. Zudem müssen wir noch einige Informationen sammeln. Ich weiß nicht genau, wo die Bibliothek liegt, aber ich kenne jemand, der uns Bescheid geben kann.« »Ein Freund?« Mandra verzog die dünnen Lippen. »Ein Informant, mehr nicht.« Suko merkte, daß bei ihm etwas nicht stimmte. »Um den du allerdings Angst hast.« »Das gebe ich zu.« Ich nickte und schaute wieder aus dem kleinen Fenster. Verloren wir an Höhe, oder irrte ich mich? Unter uns lag jetzt ein weites Tal, allerdings umgeben von hohen Bergkämmen und zackigen Graten. Von hier oben wirkte die Gegend braun und trostlos. Über dem Land lag eine nie abreißende Fahne aus braungrauem Staub, der hin und wieder auch rötlich schimmerte. Hinter einem buckligen Hügelrücken erschien eine Stadt. Mandra hatte sie ebenfalls gesehen. »Bangalore.« »Mit oder ohne Flughafen?« Er winkte ab. »Wir werden schon landen können, keine Sorge. Es gibt ihn nicht als offiziellen Anflugpunkt, da ist Madras vorgesehen, das aber hätte uns viel Zeit gekostet.« »Wenn wir schon von so weit gekommen sind, werden wir den Rest auch noch schaffen.« »Bestimmt.« Mittlerweile fühlte ich mich besser, auch wenn der Druck im Magen nicht verschwunden war. Es mochte auch an der Hitze liegen, die unsere Maschine wie eine dumpfe Brühe ausfüllte. Wenn ich Atem holte, dann hatte ich den Eindruck, den Duft von Gewürzen einzuatmen, vermischt mit Schweiß. Die Passagiere schwitzten halt. Der Pilot setzte zur Landung an, kam auf. Daß die Maschine schwankte und hüpfte, lag nicht an ihm, sondern an den Wellen in der Landebahn, die ich aus der Höhe nicht gesehen hatte. Jedenfalls kamen wir zur Ruhe, und das gespannte Schweigen der Passagiere während der Landung löste sich auf und ging über in aufgeregtes und erlösendes Geschnatter.
Ich schnallte mich los, sah Sukos Hand und das Taschentuch zwischen seinen Fingern. »Was soll ich denn damit?« »Dir den Angstschweiß abwischen.« »Hör auf, Mann.« Suko lachte, bevor er hinter Mandra Korab herging. Ich schloß mich den beiden Männern an. Der Ausstieg stand bereits offen, ßangalore liegt relativ hoch, was mir klimamäßig entgegenkam. Trotzdem war es mir zu heiß, und auch hier schmeckte die Luft nach Staub. Ich schloß für einen Moment die Augen, weil ich den leichten Schwindel vorübergehen lassen wollte. Man hatte eine Gangway herangeschoben, deren Trittstufen sich unter dem Gewicht der Passagiere leicht bogen, als wir sie hinabgingen. »Was ist?« fragte Suko, als er mein skeptisches Gesicht sah. »Ich denke schon an den Rückflug.« »Hoffentlich nicht im Sarg.« »Ha, ha. Hast wohl heute deinen schwarzen Humor!« »Manchmal kommt es eben über mich.« Mandra, Suko und ich gehörten zu den letzten Passagieren, die auf die Barackenanlage zuschritten. Unser Gepäck wurde auch ausgeladen und auf einem altersschwachen Wagen weggefahren. Line Paßkontrolle brauchten wir nicht hinter uns zu bringen, aber in der Flughafenhalle oder was immer man sich darunter vorstellen sollte, ging es zu wie in einem Markt. Als Europäer war ich hier der Exote. Die meisten Menschen stammten aus dem Land. Ich entdeckte auch einige Ostasiaten unter ihnen. Unser Gepäck konnten wir abholen und erreichten die Vorderseite diese ungewöhnlichen Flugplatzes, wo zahlreiche staubige Wagen standen und junge Männer immer wieder das Wort >Taxi< riefen. »Nehmen wir eins?« fragte ich. »Sicher«, sagte Mandra. »Und wo werden wir wohnen?« »Im Stampford-Hotel.« »Hört sich nicht einmal schlecht an«, meinte Suko. »Sir Edwin Stampford gehörte damals dieses Hotel. Er mußte es abgeben, als die Engländer sich aus Indien zurückzogen. Den Namen haben wir behalten.« »Auf zur Tea time!« rief ich. Mandra verhandelte bereits mit einem Fahrer, während ich über das Dach des alten Mercedes hinwegschaute. Vor mir lag Bangalore. Die Ausfallstraßen waren mit Fahrzeugen aller Art gefüllt. Die Fassaden der Häuser verschwanden hinter ' dunstigen Wolken, die zusätzlich an den Berghängen zu kleben schienen und nicht daran dachten, zu verschwinden. »Steigt ein!« sagte Mandra.
»Was hast du getan?« »Über den Preis verhandelt.« »Wie schön.« Gepäck verschwand im Kofferraum, dessen Deckel I nicht schloß. Fr mußte durch eine Drahtfeder gehalten werden. Da Mandra bei uns war, würde sich derDriver davor hüten, große Umwege zu fahren. Suko und ich hatten es uns im Fond bequem gemacht 1 und wollten die Fahrt genießen. I Das war uns nicht vergönnt, denn die Federung des l Fahrzeugs konnte als solche nicht mehr bezeichnet I werden. Wir bekamen jede Bodenwelle mit, hüpften I auf dem Sitz, ohne etwas dagegen tun zu können und I erlebten auch den rasanten Verkehr, wo jeder fuhr, wie er es gerade für richtig hielt. Wenn hier jemand einen I Führerschein besaß, dann hatte er ihn bestimmt in I einem Versandhaus gemacht. Die Stadt schluckte uns. Sie war auch gleichzeitig ein Hexenkessel aus Lärm, Staub, Stimmen und einem infernalischen Krach, von dem ich nicht einmal wußte, woher er drang. Wir sahen tatsächlich die heiligen Kühe, die auf den Straßen lagen und umfahren wurden. Wir rollten durch Elendsviertel, schauten in die Augen abgemagerter Kinder, entdeckten aber auch manchmal ein Lachen und eine Fröhlichkeit, die dem Europäer verlorengegangen ist. Wenn sich hier jemand freute, wirkte es nicht aufgesetzt. Jedes Ding hat zwei Seiten. Auch Städte machten da keine Ausnahme. Die Hochhäuser standen plötzlich vor uns wie Türme, um die herum der Verkehr wogte. Ein Verkehrspolizist wirkte wie ein Hampelmann, als er versuchte, den Verkehr zu leiten. Ohne Beulen kam man hier nicht weg. Auch unser Wagen wurde zweimal angetickt. Beim zweitenmal bekam es der Driver mit der Wut zu tun und titschte seinen Nebenmann an, der nur grinste. Daß die Ochsengespanne mit stoischer Ruhe ihren Weg fuhren, war mir ein Rätsel. Irgendwo klappte es doch, alles lief einigermaßen rund, und wir erreichten unser Hotel, das noch zu den alten englischen Kolonialhäusern gehörte. Es war nicht sehr hoch, dafür von einem gepflegten Park umgeben, dessen üppige Vegetation gleichzeitig auch als Lärmschutz diente. Als das Klappertaxi hielt, stürmten zwei Boys heran, die uns das Gepäck abnehmen wollten. Dagegen war nichts einzuwenden. Schon beim Aussteigen ging es mir besser, was wohl an der frischeren Luft lag. Die Dunkelheit kam, lange würde die Nacht nicht mehr auf sich warten lassen. In der Halle sorgte sich Mandra um unsere Zimmer, während Suko und ich unter dem gewaltigen Ventilator standen, der die Luft verquirlte. Man behandelte uns sehr freundlich. Zum Garten hin war die Halle geöffnet.
Ich entdeckte eine Bar und auch die großen Korbsessel, in den Sitzecken. Unsere Zimmer lagen im ersten Stock, besaßen Bal-kone so groß wie Veranden und ließen einen Blick in den Hotelpark zu, wo das Wasser zahlreicher Springbrunnen in breiten Fontänen hochschoß, bevor es blumig auscinanderfiel. Bänke, Sitzgelegenheiten, ein Podium für eine Band, ein Grill, es war eigentlich alles vorhanden. Das Personal bewegte sich in weißer Leinenkleidung und arbeitete beinahe lautlos. Suko und ich teilten uns ein Doppelzimmer. Mit Mandra hatten wir ausgemacht, uns in der Bar zu treffen. Allerdings später, denn er wollte zuvor noch seinen Informanten besuchen. Wir losten aus, wer zuerst ein Bad nahm. Eine Dusche war nicht vorhanden, dafür eine breite Badewanne. Ich hatte Glück und konnte zuerst einsteigen. »Aber nicht zu lange«, sagte Suko, als ich mich auszog. »Keine Sorge, ich bin ja weniger schmutzig als du.« »Wo ist da der Witz?« Das Wasser floß schnell aus dem breiten Kran und war sogar warm. Ich vergaß die Anstrengungen des Fluges, als ich mich in dem schaumigen Wasser ausstreckte. Wenn ich die Augen schloß, hatte ich den Eindruck, in London zu sein und nicht lausende von Meilen entfernt. Die Badetücher waren groß und flauschig. Als ich mich abgetrocknet hatte, fühlte ich mich wie neu geboren, und Suko ließ das neue Wasser ein. Ich zog frische Kleidung über und steckte auch die Waffen ein, die wir dank der Sondergenehmigung durch den Zoll hatten bringen können. Auf dem Balkon machte ich es mir bequem. Der schmale Korbstuhl war bequem, und in der hereinbrechenden Dunkelheit fing der Garten unter mir an zu leben. Er steckte voller Exotik. Da schrien die Vögel, als würden sie ihren letzten Abend im Leben vor sich haben. Gut gekleidete Hotelgäste spazierten über die Wege und suchten sich die Stammplätze aus, wo sie sich niederließen und ihre Drinks nahmen, umsorgt von weiß gekleideten Boys, die stets lächelten. Hier war die Zeit wirklich stehengeblieben. Man kam sich vor wie vor fünfzig Jahren. In den grauen Himmel hinein schob sich der Mond. Es sah so aus, als hätte er sich zuvor hinter den Bergkuppen versteckt, um dann mit all seiner Pracht wieder hervorzusteigen. Es war der gleiche Mond wie auch in Europa, nur machte er auf mich einen anderen Eindruck. Ich konnte es selbst nicht genau erklären, wie das zustande kam. Das Gelb hatte sich verdichtet, wie eine zu dunkel
gewordene Zitrone stand er dort und schaute auf die Erde nieder. Und um ihn herum verteilte sich ein Meer von Sternen. Eine wunderbare, kaum zu beschreibende Pracht, zum Greifen nahe war dieser südliche Himmel und doch meilenwert entfernt. Im Park brannten die Lichter. Manche hingen selbst wie kleine Monde oder Planeten im Astwerk der Bäume. Andere bildeten Lichterketten, die bis zu den Hauswänden hingen. Auch als Laternen waren die Lichter aufgebaut, besonders dort, wo sich das Podium befand und wo ein im weißen Smoking gekleideter Pianist dabei war, sich vor den Flügel zu setzen. Der Mann knetete noch einmal seine Finger, bevor er die Klaviatur damit berührte. Er spielte Broadway-Melodien, und der Lärm dieser südindischen Stadt Bangalore lag meilenweit zurück. Ich hatte die Beine ausgestreckt, spürte eine gewisse schläfrige Müdigkeit und ertappte mich bei dem Gedanken, mich einfach wohl zu fühlen. Das hätte ich auch nicht gedacht. Selbst Suko pfiff im Bad und schien auch vergessen zu haben, weshalb wir überhaupt hergekommen waren. Andere dachten da nicht so. Nur hatte ich sie nicht sehen können, ich merkte nur, wie sich die Stimmung radikal bei mir veränderte. Zuerst spürte ich nur den I ,uftzug, dann heirte ich den dumpfen Aufschlag dicht hinter mir und warf mich in Deckung. Der Pfeil hätte mich auch treffen können, er war dicht vorbeigeflogen und gegen die Wand geprallt. Mein Herz schlug plötzlich schneller. Noch immer auf dem Balkon hockend, nahm ich den Pfeil an mich und betrachtete ihn prüfend. Mir fiel sofort der kleine Beutel auf, der an seinem Schaftende befestigt worden war und bestimmt nicht der Stabilisierung diente. Ich entknotete das Band, konnte den Beutel öffnen und pulte eine Nachricht hervor. Es war ein kleiner Zettel, den ich erst auseinanderfalten mußte. Im Schein der Balkonleuchte entzifferte ich die Nachricht. »Du hast die Warnung nicht geachtet. Deshalb wird dich der Totenzauber treffen . . .« Ich las noch einmal, dann nahm ich den Pfeil, huschte geduckt in das Zimmer und löschte dort das Licht, was Suko selbst im Bad auffiel und er sich lautstark beschwerte. »Nur zur Sicherheit, Alter.« »Wieso?« »Du hättest mich fast tot vom Balkon holen können.« Da sagte er nichts, huschte aber lautlos heran und war schon angezogen. Den Pfeil sah er nur als Schatten. Die Nachricht drückte ich ihm in die Hand, und er nahm sie mit ins Bad, um sie dort zu entziffern.
Ich wartete so lange im normalen Raum, den Blick auf die Balkontür gerichtet, ohne dahinter jedoch eine verdächtige Bewegung entdecken zu können. Es blieb trügerisch still. Suko kehrte sehr leise zurück. »Der hätte dich auch treffen können, nicht?« »Bestimmt.« »Er wollte nicht.. Es war die letzte Warnung. Ausgerechnet jetzt ist Mandra nicht in der Nähe.« Ich hob die Schultern. »Hätte er uns besser zur Seite stehen können? Ich glaube nicht.« Suko huschte zur Balkontür und schloß sie. »War an der Bar eine Zeit abgemacht?« »Nein.« »Ich bin zwar kein Barmensch, doch im Moment fühle ich mich dort unten wohler.« »Komm.« Ich nahm meine Jacke und streifte sie über. Es sollte nicht jeder sofort sehen, daß ich bewaffnet war. Es gab zwar einen alten Lift im Hotel, wir entschlossen uns trotzdem, die Treppe zu nehmen. Aus dem Erdgeschoß wehten uns die typischen Hotel-Geräusche entgegen. Das Murmeln der Stimmen, das leise Klingeln der Eiswürfel in den Gläsern, die Musik, eine Atmosphäre, die mir gefiel, die ich allerdings nicht so empfinden konnte, wie sie mich erreichte, denn ich dachte zudem an meine schwere Aufgabe. Sehr wachsam betraten wir die Bar. Mandra wollte auch einen Leihwagen besorgen. Ich hoffte, daß er einen guten bekam. Die meisten Gäste saßen an den dunklen Tischen. Nur zwei ältere Ladies hielten die Bank in der einen Ecke der Bar besetzt. Wir setzten uns an die andere Seite und schauten gegen das strahlend weiße Gebiß des Keepers, der uns anlächelte. »Was nimmst du?« fragte ich. Suko entschied sich für ein Wasser mit Geschmack. »Und Sie, Sir?« »Ein Bier.« Ich bekam eine Flasche und ein Glas. Beides beschlug sofort. Während ich einschenkte, schaute Suko durch die offene Tür in den Garten. Dabei knabberte er Erdnüsse. »Worüber denkst du nach, Alter?« »Über den Schützen.« »Den konnte ich nicht sehen. Der Park ist zu dicht.« »Klar, ich frage mich auch, ob er mit einigen Leuten hier gemeinsame Sache macht.« »Das ist unmöglich.« Ich trank den ersten Schluck. Das Bier war etwas bitter, aber für mich das Richtige. Die beiden Ladies gegenüber waren in ihr Gespräch vertieft. Sie tranken beide Whisky pur. Auf mich machten sie den Eindruck von zwei alten Kolonialtanten, die noch einmal die Orte ihrer Jugend besucht hatten.
Hoffentlich kam Mandra Korab bald zurück. Hierzu warten, war überhaupt nicht mein Fall. Im Innern verspürte ich ein gewisses Kribbeln. Ich wollte auf keinen Fall hier den Abend über hocken, denn es war überhaupt nicht meine Art. Falls die Gegner lauerten, wollte ich mich ihnen auch stellen. Nur war ohne Mandra Korab da nicht viel zu machen. Das Telefon summte. Der Keeper hob ab und nickte in meine Richtung. Er fragte nach meinem Namen. »Ich bin John Sinclair.« »Ein Gespräch.« Ich bekam den Hörer gereicht. Als ich mich gemeldet hatte, spürte ich den plötzlichen Adrenalinstoß, der durch meinen Körper raste. »Hat die erste Warnung gereicht?« fragte die Frauenstimme. Ich atmete durch die Nase. »Steckten Sie dahinter, Sira?« Ihre Stimme hatte ich nicht vergessen. »Dieses band ist nicht gut für Sie, Sinclair. Sie sollten nicht erst versuchen, die Bibliothek zu finden. Oder wollen Sie, daß es Ihnen noch schlechter ergeht als meinem Mann?« »Tot ist tot«, antwortete ich. »Es kommt allerdings darauf an, wie man stirbt, Mr. Sinclair. Denken Sie an meine Worte.« Ich kam nicht mehr zu einer weiteren Antwort, denn sie hatte aufgelegt. Suko schaute mich von der Seite her an, als ich den Apparat wieder zurückreichte. »Sie war es.« »Wer?« »Sira.« Er zwinkerte mit den Augen. »Die Frau von Craig Munro?« »Ja, sie ist hier. Und wenn mir bisher der Beweis noch gefehlt hat, daß sie mitschuldig am Tod ihres Mannes ist, jötzt habe ich ihn bekommen, Suko.« »Das scheint mir auch so.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, weshalb sie unbedingt verhindern will, daß wir dieser Palmblattbibliothek einen Besuch abstatten?« »Es liegt wohl am Blatt selbst. Keiner von uns soll über sein Schicksal etwas erfahren.« »Das ist möglich. Nenne mir den Grund.« Suko lehnte sich zurück. »Rücksicht kann es nicht sein.« Ich schaute gegen das gedämpfte Lampenlicht über der Theke. »Daran glaube ich auch nicht.« »An was denn?« Mit dem Zeigefinger malte ich unsichtbare Männchen auf die blanke Thekenplatte. »Es ist schwer, Suko. Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß Sira es aus bestimmten Gründen nicht haben will, daß wir die Bibliothek betreten.« »Und welche sind das?«
Ich hob die Schultern. »Könnte es sein, daß sie Furcht davor hat, daß wir etwas Bestimmtes entdecken,« Suko runzelte die Stirn. »Du drückst dich sehr orakelhaft aus. Es gibt zwar das Orakel von Bangalore, diese Bibliothek, aber dich verstehe ich noch weniger.« »Ich begreife mich ja selbst nicht. Wie gesagt, ich habe da ein so komisches Gefühl. Und ob du es glaubst oder nicht, es bedrückt mich irgendwo stark. Das kann nicht nur mit uns zusammenhängen und den Palmblättern, die sich mit unseren Schicksalen beschäftigen. Da muß es einfach noch einen anderen Grund geben.« »Möglicherweise weiß Mandra mehr darüber.« »Klar. Nur ist der nicht da.« »Er tut es ja nicht freiwillig.« Ich leerte mein Glas. Inzwischen betraten immer mehr Gäste die Bar. Die meisten setzten sich an die kleinen Tische, nur ein Ehepaar kletterte auf zwei Hocker. Dann erschien auch Mandra Korab. Ich selbst hatte es nicht gesehen, merkte es nur an dem Verhalten der anderen Gäste. Egal, wo unser indischer Freund erschien, er erregte jedesmal Aufsehen, selbst in seinem eigenen Land, denn er war eine Erscheinung, wie es kaum eine zweite gab. Mit geschmeidigen, lautlosen Schritten hatte er den Raum betreten. Nur einmal brauchte er sich umzuschauen, sah uns und nickte kurz. Ein Zeichen, daß alles in Ordnung war. Neben mir nahm er Platz. »Hast du den Leihwagen bekommen?« »Ja, einen Jeep.« »Warum das?« »Weil uns der Weg ein Stück in die Berge führt. Da kommen wir mit einem Jeep besser durch.« Er bestellte ein Wasser und senkte den Blick. »Da ist noch etwas«, gab er zu. »Und was, bitte?« »Mein Informant lebt nicht mehr. Man hat ihn getötet und verbrannt. Ich habe die Asche auf dem Flughafen in Bombay selbst gesehen, das war seine.« »Verdammt!« flüsterte ich. »Und weiter?« »Ich habe dann mit seinem Sohn reden können, der trauerte. Er wußte um den Tod seines Vaters und ist zum Glück auch in die Hintergründe eingeweiht worden.« »Ein Lichtstreif. Was hat er dir gesagt?« »Nicht viel«, murmelte Mandra, »wir konnten nicht reden. Aber wir haben uns verabredet.« »Und wo bitte?« »An der Totenmühle.« Ich schluckte, und Suko schluckte ebenfalls. Er aber stellte die Frage: »Wo, bitte sehr?« »An der Totenmühle.« »Was ist das denn?«
»Sie liegt neben einer Verbrennungsstätte. Dort werden die Knochen der loten urnengerecht zermahlcn. Ich weiß, es ist für euch unbegreiflich, aber es gibt Menschen, die darauf bestehen, daß von ihren Verstorbenen wirklich nur Staub zurückbleibt.« »Dann viel Vergnügen«, flüsterte ich. »Aber warum gerade dort? Kannst du mir das sagen?« »Er wollte es.« »Eine Falle?« fragte Suko. »Ich weiß es nicht.« »Man hat uns nämlich zweimal gewarnt. Einmal auf eine sehr drastische Art und Weise.« Nun war Mandra überrascht, und ich berichtete ihm, wie man mich fast erwischt hätte. »Dann wissen sie also Bescheid«, erklärte er mit einer nahezu tonlosen Stimme, wobei seine Gesichtszüge wirkten wie eingefroren. Er murmelte den Namen der Frau, und ich sprang darauf an. »Sagt dir Sira etwas?« »Nein.« »Sie muß aber sehr mächtig sein, und sie muß etwas mit dieser Bibliothek zu tun haben.« »Ja, das ist möglich.« Mandra drehte sein Glas. »Ich habe mich auch über Kasma gewundert.« »Wer ist das?« »Der Sohn des Verstorbenen. Ich hatte das Gefühl, als würde er an der eigenen Furcht ersticken. Man hat nie frei über die Bibliothek gesprochen, besonders nicht mit Fremden. Man ging davon aus, daß diejenigen, die es anging, den Weg allein finden würden. Aber bei Kasma habe ich schon Angst herausgehört.« »Vor wem?« »Ich glaube nicht, daß es da um eine spezielle Person ging. Also nicht um Sira. Diese Furcht war eher allgemein, und ich habe das Gefühl, als wäre mit dieser Bibliothek etwas geschehen. Tut mir leid, nur so kann ich es sehen.« »Du hast einen Verdacht, Mandra, aber keinen Beweis.« »Leider.« »Den sollten wir uns dann holen. Hast du eine Zeit ausgemacht, wann du diesen Mann treffen willst?« »Nein.« »Dann sollten wir fahren.« Ich winkte den Keeper herbei. Die Summe ließ ich auf die Zimmerrechnung schreiben. Mandra und Suko waren schon gegangen, als ich unterschrieb. Der Keeper schaute mich forschend an. »Ist was?«
»Kommen Sie gesund zurück, Sir. Indien kann manchmal sehr gefährlich sein.« Ich wollte ihn noch fragen, doch er verschwand durch die hintere Zwischentür an der Bar. Mit einem unguten Gefühl verließ ich den Raum... *** Der Jeep war toll. Das sagte wenigstens Suko und meinte noch: »Nur gut, daß man im Dunkeln nicht alle Fehler erkennt.« »Funktionieren denn die Scheinwerfer?« »Nur der rechte.« »Wieso findest du ihn dann toll?« »Man ist ja schon zufrieden, wenn alle vier Räder vorhanden sind. Oder wie siehst du das?« »Möglicherweise ähnlich.« Mandra war noch einmal weggegangen. Wir hielten uns in der Nähe einer Laterne auf. Zwei davon beleuchteten den Außenparkplatz des Hotels. Als Mandra zurückkehrte, hielt er etwas Längliches in der Hand, eine Straßenkarte, wie er uns sagte. »Liegt die Totenmühle weit außerhalb der Stadt?« erkundigte ich mich. Der Inder hatte die Tür des Jeeps aufgezogen. »Ja, am Rand und direkt bei einem Fluß.« »Werden hier auch Tote verbrannt?« Der Inder nickte. »Es gibt noch manche Sekten, die diesem alten Ritual folgen. Da geht es vor allen Dingen um die Witwenverbrennungen, die immer mehr in der Kritik stehen.« Er hob die Schultern. »Nur kannst du nichts daran ändern, John. Unser Land besitzt eine uralte Tradition, die hat auch keine Besatzungsmacht unterdrücken können. In der letzten Zeit wird es noch schlimmer. Da besinnen sich manche Gruppen auf die alten Rituale und die Forderungen der Götter. Oft ist es auch nur ein Vorwand.« »Das ist wohl weltweit zu erkennen.« Wir losten, wer im Fond sitzen mußte. Diesmal verlor ich. Suko stieg grinsend vorn ein. Ich klemmte mich in den schmalen Raum und kam mir vor wie der Hering in der Büchse. Mandra startete. Stotternd sprang der Motor an. Es brannte tatsächlich nur der rechte Scheinwerfer, aber sein Licht mußte ausreichen, und innerhalb des Strahls zitterten sehr schnell die mit unzähligen Partikeln gefüllten Staubwolken. Durch die Stadt — sie bestand auch jetzt noch aus reinem Lärm — mußten wir nicht. Unser indischer Freund kannte sich aus. Auf pistenähnlichen Straßen und Schlangenlinien fahrend, um anderen Verkehrsteilnehmern auszuweichen, näherten wir uns dem Fluß, der
nicht zu sehen, dafür aber zu riechen war. Von seinen Ufern her wehte uns eine Dunstglocke entgegen, die ich gern mit den Begriffen Gestank und Moder umschreiben wollte. Es war auch nicht dunkel. Am Ufer brannten Feuer. Die Flammen zauberten ein Spiel aus Schatten und Licht nicht nur in die Luft, es wiederholte sich auch auf der Wasserfläche, so daß diese von einem geisterhaften unruhigen Leben erfüllt wurde. An den Ufern dümpelten Boote. Zumeist simple Kähne aus Holz. Nicht weit vom Restschein des Feuers entfernt und an einem flachen Hang gelegen, entdeckte ich die Umrisse zahlreicher Hütten, die kaum einem Sturm standhalten würden. Hier verteilten sich ebenfalls die Slums. Ich konnte die Menschen verstehen, daß sie zornig auf die Reichen und Satten waren, während sie jeden Tag um die Handvoll Reis kämpfen mußten und sie oft genug nicht einmal bekamen. Parallel zu den Hütten fuhren wir. Manchmal erschienen Gestalten im Licht des Scheinwerfers. Die Menschen reagierten unterschiedlich. Fs gab einige, die uns überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen und ignorierten, andere wiederum drohten dem Wagen mit den Fäusten. Der Fluß schlug einen Bogen nach links. Er wühlte sich der Dunkelheit entgegen, die sich im Licht des Mondes allerdings als Schlucht darstellte und bereits zu den Ausläufern der Berge gehörte. Mandra drehte sich zu mir um. »Wir müssen kurz in die Berge hinein. Dort steht sie.« Bangalore blieb als gewaltiger Fleck und brodelnder Kessel hinter uns zurück. Die Einsamkeit umgab uns, bestrahlt vom Licht des Mondes, dessen Glotzauge von zahlreichen Sternen umstanden war. Als Weg konnte ich die Strecke beim besten Willen nicht bezeichnen. Die Unebenheiten des Bodens reihten sich hintereinander wie Luftballons auf der Leine, und der aufwirbelnde Staub fraß sich auch durch jede noch so kleine Ritze. Um einem gewaltigen Felsblock auszuweichen, fuhr Mandra einen Bogen. Genau dahinter lag das Ziel. Die alte Mühle sah nicht so aus, wie ich die Mühlen kannte. Sie besaß keine Flügel, war ein Steinbau dicht am Ufer und stand noch in einer gewissen Höhe über. Das Geräusch des Motors versickerte. Wir hörten das Rauschen des Flusses und dazwischen ein anderes Geräusch, das mir einen Schauer über den Rücken trieb. Es war vergleichbar mit einem Knirschen und Knak-ken, als würden Steine aufeinanderreiben. Mandra Korab hatte meinen fragenden Blick bemerkt und nickte mir einige Male zu. »Ja, sie ist in Betrieb.«
»Dein Informant?« »Ich weiß es nicht.« Als wir näher an die Mühle herangingen, entdeckten wir einen Leiterwagen. Er wurde von einem Ochsen gezogen. Das Tier stand mit gesenktem Kopf da und glotzte stur zu Boden. Zum Eingang der Mühle mußten wir über eine Planke gehen. Der viereckige Steinbau besaß einige offene Fensteröffnungen. Dahinter flackerte Licht. Wahrscheinlich brannten Kerzen. Mandra zog den Kopf ein. Ich tat es ihm nach, dann sah ich eine Szene, die ich nie vergessen würde. Zwei große Mühlsteine bewegten sich in entgegengesetzter Richtung zueinander. Sie lagen tiefer als der steinerne, unebene Boden. In gleicher Höhe allerdings befand sich die Öffnung eines Trichters. Neben ihr stand ein uralter Mann, jedenfalls ließ der lange, weiße Bart auf ein hohes Alter schließen. Aus einem alten Jutesack holte er verbrannte Knochen hervor und schob einen nach dem anderen unter gemurmelten Gebeten in den Trichter hinein. Immer wenn das Mahlwerk zupackte, ertönte das widerliche Knacken und Knirschen, bei dem sich mir fast schon der Magen umdrehte und mich eigentlich stumm machte. Das Licht der Kerzen schuf auch bei uns Schatten, die von dem Alten bemerkt wurden. Er drehte den Kopf, schaute uns an, und sein Gesicht schien nur aus Furchen zu bestehen. Mandra Korab breitete die Arme aus. Ein Zeichen, daß wir uns zurückhalten sollten. Erging auf den Alten zu und sprach ihn an. Wir verstanden ihn nicht, und der Bartträger machte nicht den Anschein, als wollte er ihm unbedingt zuhören, denn er ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Wenn er etwas sagte, dann klangen seine Antworten sehr einsilbig. Die Mühle zerknackte derweil weiterhin die Knochen, mein Schauer blieb dabei auf der Haut. Schließlich drehte sich Mandra um. »Was hat er gesagt?« fragte Suko. »Nicht viel. Er muß es tun. Es sind seine Erau und seine Schwester, die nicht ganz verbrannten. Ihr habt die Feuer gesehen oder?« »Und gerochen«, sagte ich. Mandra nickte. »Sie sind wieder dabei. Diese Nacht ist schlimm. Der Alte erzählte mir, daß es die Nachl der Toten wäre, die plötzlich wieder leben.« »Zombies?« fragte ich. Mir wurde auf einmal sehr unwohl, denn mit diesen (Geschöpfen kannte ich mich leider aus und hatte auch meine negativen Erfahrungen gemacht. »So nennst du sie.« »Was sind sie denn?«
»Es ist der Totenzauber, der über dieser Gegend liegt. Der Alte hat ihn gespürt.« »Kann er ihn auch erklären?« »Nein, darum kümmert er sich nicht. Erläßt nur die Knochen zermahlen, um den Staub dem Fluß zuzuführen. Das ist seine Aufgabe als Oberhaupt der Familie.« »Frag ihn doch, ob noch mehr Menschen kommen, um sich der Mühle zu bedienen«, sagte Suko. »Nein, nicht in dieser Nacht.« »Weshalb nicht?« »Die Geister des Bösen durchkreisen die Euft. Der Totengeist Jama ist unterwegs.« »Welche Bestimmung oder Bedeutung hat er?« »Bei den Hindus ist er der Gott, der die Menschen ins Jenseits führt. Der Alte erklärte mir, daß die Schwelle weit offen ist. Die Feuer sollen die Nacht über brennen, damit die Lebenden sehen, wenn die Toten erscheinen. Einige von Jamas Dienern sind angeblich schon gesehen worden.« »Wie sehen die aus?« fragte ich. »Es sind Bogenschützen.« Er nickte mir zu, und ich begriff sofort. Mit einem Pfeil war auf mich geschossen worden. Bestimmt hatte ihn ein Bogenschütze abgefeuert. Auch Suko hatte begriffen, denn er meinte: »Dann hast du schon die Bekanntschaft gemacht.« »Daran dachte ich auch.« Mandra fuhr in seinen Erklärungen fort. »Sagt euch der Name Yabusame etwas?« Suko sprang darauf an. »Meinst du Name oder Begriff?« »Eher Begriff.« Er nickte. »Yabusame ist ein Sport oder Kampf mit Pfeil und Bogen. Die japanischen Samurai beherrschten ihn vor Hunderten von Jahren bereits perfekt. Sie schafften es, innerhalb von fünf Sekunden drei Pfeile abzuschießen und saßen dabei auf einem galoppierenden Pferd. Zusätzlich brachten sie es, die Pfeile allesamt in ein Ziel zu bringen. Dazu gehört schon etwas. In der heutigen Zeit, so las ich, ist diese Sportart wieder im Kommen. Sie erlebt eine Renaissance. Japanische Manager halten sich mit Pfeil und Bogen fit. Man nennt sie auch die High-Tech-Samurais.« »Das ist gut, Suko.« »Moment, Mandra, ich bin noch nicht fertig. Du meinst, daß diese Samurais auch hier ihre Pfeile verschießen?« »Ich muß es glauben«, erwiderte der Inder mit ernster Stimme. »Denn der Totengott Yama hat sich mit Dienern umgeben, die diese hohe Kunst des Bogenschießens ebenfalls beherrschen. Der Anschlag auf John war
für mich das erste Zeichen, hinzu kamen die Antworten des Alten über den Totenzauber. Da paßt plötzlich einiges zusammen.« »Aber nicht Sira«, warf ich ein. Mandra hob die Schultern. »Wer kann das schon sagen, John. Wir haben nicht einmal die Spitze des Eisbergs tauen können. Unter dem Wasser wird sich einiges verbergen.« »Man sagt«, murmelte Suko, »daß Yabusame die perfekte Schulung für Geist und Körper ist. Sollten wir es mit derartigen Gegnern zu tun haben, müssen wir uns warm anziehen.« Mehr wußte er auch nicht über dieses Thema zu sagen. Auch wir schwiegen und starrten in das flak-kernde Kerzenlicht, in dessen Schein sich auch der alte Mann bewegte und auch die letzten Knochen aus seinem Jutesack hervorholte. Diesmal hielt er die Hälfte eines Schädels auf der offenen Handfläche. Er betrachtete ihn mit einem Blick, als wollte er endgültig von ihm Abschied nehmen. Sehr langsam drehte ersieh um und warf den Schädel in den Trichter. Das heißt, er ließ ihn vorsichtig hineinrutschen, als hätte er Furcht davor, daß die Knochen schon vorher zerstört wurden. Diebeiden Räder konnten durch das Vorziehen eines langen Hebels in Bewegung gesetzt werden, was in diesem Fall nicht zu sein brauchte, denn sie malmten auch so. Ich bekam eine noch trockenere Kehle, als ich das Knacken und Zersplittern der Knochen hörte. Es war ein widerliches Geräusch, das an meinen Nerven zerrte. Der alte Mann jedoch stand voller Demut vor der Mühle und lauschte, wie das Gebein zerknackte. Der Geruch schlug mir auf den Magen. Er war zu identifizieren, eine Mischung aus Schweiß, Moder und Fäulnis. Jedenfalls roch er widerlich und schlug mir auf den Magen. Mandra ging auf den Mann zu. Beide redeten leise miteinander. Der Alte hob die Schultern, wischte über seine Augen, packte den Jutesack zusammen und ging. »Hat er alles erreicht?« fragte ich. »Ja, er hat es geschafft. Er hofft, daß der Fluß die Asche der Toten mit sich führt und sie auf den Weg ins Jenseits bringt, wo sie glückliche Zeiten erleben.« Da der alte Mann den Hebel zurückgezogen hatte, war nichts mehr da, was ein Geräusch abgeben konnte. Nur als der Alte sein Gespann in Bewegung setzte, hörten wir das Rollen der Räder und das hohle Klappern der Ochsenfüße. »Der hat uns nicht viel gebracht«, resümierte ich. »Hoffentlich verhält es sich mit Kasma anders.« »Der Mann hat Angst, John.« »Wovor genau?«
»Ich rechne damit, daß er ebenfalls weiß, daß der Totenzauber und die Yabusame-Krieger ein Bündnis eingegangen sind. In dieser Nacht kann vieles passieren. Sie ist nicht nur sehr lang, sie ist außerdem auch wichtig für gewisse Kräfte. Daran sollten wir denken.« »Dann trifft ja alles zusammen«, sagte ich. Mandra gab sich irritiert. »Wie meinst du das, John?« »Unsere Ankunft. Wir scheinen mitten hinein in den Totenzauber geraten zu sein. Nur unserem Ziel sind wir um keinen Schritt näher gekommen. Ich habe bisher nicht einen Stein von dieser verflixten Palmblattbibliothek gesehen. Würde ich dich nicht kennen, Mandra, hätte ich alles für faulen Zauber gehalten.« Unser indischer Freund nickte. »Ich kann verstehen, daß du so denkst, aber wir müssen achtgeben. Nichts ist so, wie es einmal gewesen ist. Fs hat sich einiges verändert. Mein Informant starb. Ich hoffe, daß es Kasma geschafft hat.« »Wo lebt er denn?« »In den Slums hin und wieder. Er horcht sich dort um. Er stammt von dort, man akzeptiert ihn. Das alles kommt zusammen, das müssen wir auch akzeptieren.« »Ja, aber wo bleibt er?« Es war so, als hätte ich ein bestimmtes Stichwort gegeben, denn in der offenen Tür erschien eine Gestalt. Sie war hochgewachsen, mußte sich bücken, um die alte Mühle betreten zu können, schaute sich aber sicherheitshalber um. Erst als die Luft rein war, huschte die Gestalt in das Innere und entfernte sich augenblicklich aus dem zuckenden Schein der Kerzen. »Kasma!« Mandra sprach seinen Namen halblaut aus, damit auch wir Bescheid mußten. Der Informant hob den Arm. Er lehnte an der Wand, keuchte, als hätte er einen langen Lauf hinter sich. Mandra blieb vor ihm stehen. Viel war von Kasma nicht zu sehen, denn er hatte seinen Körper mit einem kapuzenähnlichen Mantel umwickelt, dessen dreieckige Kapuze nur sein Gesicht freiließ. Um seinen Mund herum wuchs ein dunkler Bart. Wenn der Mann sprach, rollte er mit den Augen, so daß wir das Weiße darin funkeln sahen. Mandra hörte ihm zu. Natürlich verstanden Suko und ich nur Bahnhof, doch an der Hektik und an der Heftigkeit der hervorgestoßenen Worte, die von Gesten begleitet wurden, war festzustellen, daß der Mann etwas hinter sich haben mußte. Suko stieß mich an. »Ich verschwinde mal!« wisperte er, um Kasma nicht zu stören. »Wohin?«
»Ich schaute mich draußen um. Allmählich habe ich das Gefühl, als steckten wir in einer Falle.« »Paß auf, daß du nicht in den Fluß fällst.« »Keine Sorge, das packe ich.« Er war kaum verschwunden, als Mandra sich umdrehte und einen kleinen Schritt vortrat. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, daß er eine Neuigkeit für mich hatte. Positiv konnte sie nicht sein, dann hätte er anders geschaut. »Was ist passiert?« »Etwas Unglaubliches, John.« »Rede doch . . .« »Ja, ich muß es dir sagen. Und möglicherweise haben wir überhaupt keine Chance mehr.« *** Suko hatte den Eindruck, daß die Welt hier draußen dunkler und der Mond am Himmel noch blasser geworden wäre, als er die Mühle verließ und sich eine Dek-kung suchte. Er schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren, blieb für einen Moment in der Nähe des Jeeps stehen und sah dann den großen Felsen, den sie zuvor umfahren hatten. Er war so hoch und breit, daß sich dahinter ein halbes Dutzend Personen verstekken konnten. Der Felsen reizte ihn schon. Sehr wachsam war er, als ersieh durch die Finsternis vorantastete. Die Stadt lag mit ihren Außenbezirken nicht einmal weit entfernt. Trotzdem war dies hier eine andere Welt. Nicht unbedingt still, denn das Rauschen des Flusses drang an seine Ohren. Für seinen Geschmack hörte es sich an, als würde das Wasser ein Totenlied singen. Suko hatte ein Gefühl dafür, wie sich etwas zusammenbraute. Und hier roch es nach Gefahr. Er mußte auch an die Yabusame-Reiter denken. Aus der japanischen Geschichte wußte ervon ihrerGcfährlichkeit. Sie waren nicht zu sehen, auch wenn sie in der Nähe lauerten, aber sie konnten so schnell erscheinen wie ein Windstoß. Überfallartig stürzten sie auf ihre Gegner nieder und ließen ihnen nicht die Spur einer Chance. Sie konnten aber auch von den Rücken der Pferde schießen und dabei im vollen Galopp zielgenau treffen. Suko konnte sich nicht vorstellen, daß sie anritten. Wenn, dann würden sie sich anschleichen. Darin waren sie ebenfalls Meister. Kasma hatte von ihnen berichtet. Er hatte sie gesehen, aber nicht erzählt, wo sie sich aufhielten, ob in der Nähe oder weiter entfernt. Das bereitete Suko Sorgen. In der nahen Umgebung der Hütte war es einfach zu dunkel. Außerdem gab die Geländeform die hohen Schatten ab, die nicht nur ihn verbargen.
Links von ihm schäumte der Fluß durch die Enge. Das Wasser hatte helle Schaumbüschel bekommen. Es riß alles mit sich, was sich ihm in den Weg stellte. Mehr als einmal entdeckte der Inspektor dunkle Gegenstände, die an die Oberfläche gespült wurden. Über ihm wuchs der Felsen hoch. Kein senkrecht ansteigender Stein wie bei den flaming stones, mehr ein rundes Gebilde, eingerissen, mit zahlreichen Spalten versehen und auch relativ guten Trittstellen für einen geschickten Kletterer. Suko dachte daran, daß dieser Stein so etwas wie eine Sprungschanze darstellen könnte. Im Nacken spürte er das berühmte Prickeln. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Schatten, der links von ihm vorbeigehuscht war. Ein Mensch? Das hatte Suko nicht erkennen können. Er lief in die Richtung, ohne etwas zu sichten. Die Umgebung blieb ruhig. Nichts regte sich. Nur der ewige Staub zitterte durch die Finsternis. Über ihm stand der Mond als Glotzauge. An manchen Stellen gab er den Felsen einen fahlen Glanz, die meisten aber ließ er im Dunklen. Der Schatten ging Suko nicht aus dem Sinn. Es hatte sich bei ihm durchaus um einen Menschen handeln können. War es eine Ablenkung gewesen? Auf einmal war er da! Er stürmte aus der Deckung direkt vor Suko und lief auch auf den Inspektor zu. Viel sah er nicht von ihm. Ein flatterndes Bündel Kleidung, mehr nicht. Der Körper darin war kaum zu erkennen, aber der Bogen, den er über seiner Schulter hängen hatte. Nicht schußbereit! Weshalb nicht? Etwa zwei Schritte vor Suko blieb er stehen. Der Inspektor hörte nichts, nicht einmal Atem. Wie eine Statue hatte sich der Unheimliche vor ihm aufgebaut. Das mußte ein Trick oder eine Ablenkung sein, und Suko fuhr plötzlich auf dem Absatz herum. Hinter ihm hatte sich der Felsen befunden, jetzt lag er vor ihm, mit einem Gebilde auf seiner Spitze, das aussah wie ein Mensch und in einer bestimmten Haltung dort stand. Mit aufgelegtem Pfeil! Und der andere schoß! *** Suko hatte ihn wirklich im letzten Augenblick gesehen. Der Pfeil befand sich schon auf dem Weg. Er hätte ihn eventuell schräg an den Boden
genagelt, aber Suko drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung zur Seite, hörte das Fauchen, dann jagte der Pfeil direkt neben seinem linken Fuß in den Boden. Sofort kam der nächste. Und Suko sprang. Es war ein Sprung, mit dem der Pfeilschicßer wohl nicht gerechnet hatte, denn Suko ging direkt den zweiten Mann an. Der hatte sich mittlerweile bewegt und den Pfeil bereits auf den Bogen gelegt, um die Sehne zu spannen. Dazu kam er nicht mehr. Beide Fäuste hämmerte Suko ihm in den Magen, so daß der Kerl zurückflog. Suko hinterher. Fr landete auf ihm, verwandelte seinen Sturz in eine Rolle vorwärts und wurde deshalb nicht von dem dritten Pfeil getroffen. Dafür erwischte es seinen Gegner. Die Spitze jagte mitten in die Brust! Es sah so aus, als wäre die Gestalt am Boden festgenagelt worden. Das konnte Suko erkennen, als er sich mitten in der Bewegung befand und über seine Schulter hinweg abrollte. Er sah noch mehr. Der Pfeilschießer sprang. Der Gegenwind verfing sich unter seiner Kleidung, bauschte sie auf, st) daß er wirkte wie ein Flattermann. Nur hütete sich Suko davor, zu lachen. Dieser Mann war zu gefährlich, und er mußte aus dem Weg geschafft werden. Er kam auf, federte hoch, als Suko seine Beretta gezogen hatte und einige Schritte vorlief, weil er eine bessere Schußposition bekommen wollte. Es war weder ein Pfeil noch eine Kugel, sondern ein knochenharter Griff, als eine Hand zupackte und seinen Knöchel brutal umklammerte. Sukos Sprung wurde mitten in der Bewegung gestoppt. Er sah noch, wie sich der Springer aufrichtete, und durch sein Gehirn schoß der Gedanke, daß der Getroffene eigentlich hätte tot sein müssen, da prallte er bereits mit seinem vollen Gewicht auf den harten Boden. Viele hätten dabei ihr Gesicht zerschmettert, nicht Suko, der sich in der Luft soeben noch drehte und den unwahrscheinlich harten Aufprall abfedern konnte. Er wuchtete sich auf den Rücken, und plötzlich stand die Gestalt mit dem Pfeil in der Brust vor ihm. Ein anderer Pfeil lag auf dem Boden, die Sehne gespannt, während Suko vergeblich nach der Beretta tastete, die ihm beim Aufprall entfallen war. Es blieb der Stab. So schnell war Suko nicht, und so schnell waren auch seine beiden Gegner nicht, denn die dritte Gestalt schleuderte einen Stein auf ihn zu.
Suko sah den Schatten, bekam seinen Kopf nicht mehrzurSeite und wurde direkt an der Stirn erwischt. Bevor für ihn die Lichter erloschen, glaubte er, noch eine Frauenstimme zu hören, die sagte: »Tötet ihn nicht. Ich brauche ihn noch für die anderen...« *** So hatte ich Mandra noch nie erlebt. So wenig kämpferisch, so bedrückt, beladen mit gewaltigen Sorgen. Sein Gesicht zerfiel, er sah plötzlich alt aus und hatte einen Ausdruck bekommen, als hätte Mandra jeglichen Optimismus verloren. Kasma drückte sich derweil in eine Ecke. Er drehte uns den Rücken zu, als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Was ist denn passiert?« Ich wiederholte meine Frage von vorhin. »Weshalb haben wir keine Chance mehr?« Der Inder nickte. Er schaute auf den Boden, als er mir die Antwort gab. »Sie sind nicht mehr da, John. Sie sind einfach weg. Man hat sie vertrieben — oder, was noch schlimmer ist, möglicherweise auch umgebracht. Sie haben die Palmbibliothek bisher bewacht, die Weisen, die Wissenden, die Hüter. Sie alle sind verschwunden, sagte Kasma. Iis gibt nichts, was sie noch hätte halten können. Die Feinde müssen einfach zu mächtig gewesen sein.« »Welche Feinde?« »Kasma sprach von Toten. Die haben das Kommando übernommen. Die Palmbibliothek befindet sich fest in fremder Hand. Das wäre nicht so schlimm, aber es ist eine dämonische Hand, eine fremde, eine grausame. Das habe ich nicht voraussehen können.« Mandra Korab trat zur Seite. Fr wirkte wie ein müder alter Mann. Ich stand da, ohne ein Wort zu sagen. In der Ecke bewegte sich Kasma. Er hatte den Kopf gesenkt. Als er an mir vorbeischritt, sah es so aus, als würde er sich schämen. Mit leisen Schritten verließ er die alte Totenmühle, und niemand hielt ihn auf. Mandra drehte mir jetzt auch den Rücken zu. Eine Hand hielt er gegen die Augen gepreßt, als wollte er die Tränen der Enttäuschung unterdrücken. Ich mußte ihn trösten. So etwas hatte ich auch bei ihm und mir noch nicht erlebt. Deshalb ging ich zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sprach ihn an. »Keiner von uns weiß, ob alles verloren ist, Mandra. Wir und Suko werden versuchen, die Bibliothek zu retten oder zu befreien. Das mußt du jetzt einsehen.«
»Die neuen Herrscher können machen, was sie wollen. Und wenn sie alles in Brand stecken. Wir sind so machtlos! Das ist für mich das Schlimme. Die dämonische Seite hat tatsächlich einen Sieg errungen, obwohl ich nicht weiß, was sie damit bezweckt. Weshalb wollen che Toten die Bibliothek in ihren Besitz bringen?« »Kann ich dir nicht sagen. Ich denke nur darüber nach, daß es gewisse Anführergeben muß.« »Wen meinst du?« »Sira. Die Person aus London. Ich bin mittlerweile so weit, daß ich ihr nicht mehr trauen kann.« Mandra räusperte sich. »Du rechnest damit, daß sie das Kommando übernommen hat?« »So ist es.« »Und was hat sie davon?« Es paßte zwar nicht so recht, aber ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen. »Informationen, Mandra. Ich rechne damit, daß sich Sira Informationen verschaffen will. Man kann sagen, daß diese Palmbibliothek möglicherweise der älteste Speicher der Welt ist. Vor viertausend Jahren sind die ersten Blätter beschrieben worden, und sie werden ständig erneuert, bevor sie verfallen können. Dafür sind die Weisen und Kenner zuständig. Wenn sich jemand die Blätter aneignet und sie vor allen Dingen auch lesen kann, wird er natürlich damit Material in den Händen halten, wodurch er andere erpressen kann.« »Und auch Geschäfte macht.« »Das kommt ebenfalls hinzu.« Mandra nickte, bevor er flüsterte: »Sira, John. Du hast sie gesehen. Wer ist sie?« »Eine Frau, eine Witwe. Ich kann dir nicht viel dazu sagen. Mir persönlich ist sie suspekt. Sie ist geheimnisvoll, und sie beherrscht meiner Ansicht nach die Gabe der Bilokation, kann an zwei Stellen zugleich sein. Schafft es, ihren Astralleib vom Körper zu lösen, auch wenn sie nicht in einen tiefen Schlaf gefallen ist. Das sind Tatsachen, die sie schon über andere hinwegheben.« »Aber befähigen sie diese Dinge auch, die Palmbibliothek zu übernehmen?« »Ich weiß nicht, welche Motive sie leiten. Sie ist Inderin, Mandra, das steht fest. Sie besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten, sie hat in London gewohnt und war Gattin eines Mannes, der von gedungenen Killern erschossen wurde. Sie hat sich mit der abendländischen Kultur oder Unkultur vertraut gemacht, meines Erachtens wollte sie Wissen sammeln und könnte wieder zurück in ihre Heimat gegangen sein.« »Um die Herrschaft zu übernehmen. Warum hat sie erst diesen Engländer geheiratet?«
»Wahrscheinlich war es für sie ein großer Test. Sie wollte feststellen, ob die Schriften in der Bibliothek die Wahrheit sagen. Das ist meine Ansicht. Ich kann mich auch irren. Doch wir werden es herausfinden. Wir müssen hin, Mandra.« Mein indischer Freund nickte. Er holte seufzend Luft und hob die Schultern. »Es ist nicht so, daß ich mir Vorwürfe mache wegen dieses konkreten Falles. Ich ärgere mich nur darüber, daß ich in der Vergangenheit so wenig getan habe.« »Das mußt du mir erklären.« »Sehr einfach. Ich wußte von der Bibliothek. Ihre Existenz ist ja nicht allzu vielen Menschen bekannt. Mir aber doch. Und ich hätte eigentlich hingehen müssen, um sie mir anzusehen und nicht erst auf dich zu warten. Indien, meine Heimat, steckt voller Geheimnisse, auch heute noch. Wenn man einmal anfängt, sich damit zu beschäftigen, kann man sein gesamtes Leben lang dranbleiben. Ich habe mich damit beschäftigt, aber das Thema Palmbibliothek immer wieder zurückgestellt. Eines Tages wäre ich dorthin gefahren; jetzt ist es zu spät.« »Vielleicht auch nicht.« »Ich glaube nicht, daß Kasma gelogen hat.« »Aber er weiß nicht alles. Möglicherweise gelingt es uns, gewisse Dinge wieder rückgängig zu machen. Das wäre auch in deinem Sinne. Ich jedenfalls muß hin.« »Das steht außer Frage.« »Dann laß uns gehen.« »Wir müssen Suko noch mitnehmen«, sagte der Inder, und ich schlug mir gegen die Stirn. »Himmel, von ihm habe ich auch nichts gehört. Was macht er denn so lange?« Ich wartete nicht auf Mandra, ging hiaus in die seltsame Mischung aus Mondlicht und Dunkelheit, schaute mich um, und rechnete auch damit, daß Suko erscheinen würde, aber er ließ sich nicht blicken. Wenn er die Totenmühle beobachtete, mußte er mich einfach sehen. Mandra kam ebenfalls. Sein Gesicht schimmerte wie dunkles Metall. »Du siehst besorgt aus, John.« »Das kannst du wohl sagen. Ich weiß leider nicht, wo sich Suko aufhält.« »Das ist kein Witz.« »Nein.« Er hob die Schultern. Ohne mich zu fragen, ging er dorthin, wo wir den Jeep abgestellt hatten. Auch im Wagen saß er nicht. Mandra schaute noch hinein, als ich meine kleine Leuchte einschaltete und die unmittelbare Umgebung des Fahrzeugs absuchte. Auf dem Boden lag der dicke Schmutz, aber von Suko sahen wir leider nichts. »Das gefällt mir immer weniger, John.«
Mir gefiel es auch nicht. Nur hielt ich mich zurück und leuchtete dorthin, wo der gewaltige Felsen stand. Suko sah ich nicht, dafür einen Pfeil, der mit großer Wucht den Erdboden getroffen haben mußte und so schräg aufgekommen war, daß zwei Hälften am Boden lagen. Ich untersuchte ihn und hob ihn auf. Die Spitze bestand aus Metall, der Schaft war dünn. Mandra sah ihn an. Wir beide schauten uns über den Pfeil hinweg in die Augen. »Muß ich noch etwas sagen?« »Nein, John, sie waren hier.« »Und sie haben Suko.« Er nickte. »Wobei sich die Frage stellt, ob sie ihn tot oder lebendig bekommen haben.« Ich schleuderte den Pfeil weg, leuchtete die unmittelbare Umgebung des hohen Felsklotzes ab. Spuren eines Kampfes waren nicht direkt zu sehen, nur sah es so aus, als hätte jemand die Erde mit seinen Füßen oder seinem Körper aufgewühlt. Ich schaute Mandra an. »Kampflos hat sich Suko nicht ergeben. Ist die Frage, wo sie ihn hingeschafft haben, wenn er noch lebt. Einen Toten hätten sie wohl kaum mitgenommen.« »Es sei denn, sie hätten mit der Leiche etwas vorgehabt.« »Du kannst einem Mut machen, Mandra.« »Sony.« Mir fiel Mandras Informant ein. »Kasma ist vor uns gegangen. Ich habe ihn nicht sehen können. Möglicherweise weiß er Bescheid, hat er etwas gesehen.« »Das hätte er uns gesagt.« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Er kann auch unter seiner Angst gelitten haben. Wenn ich es recht überlege, ist er mir nicht gerade mutig vorgekommen. Oder irre ich mich?« »Nein, das nicht. Er hatte Angst. Er war durch seine eigenen Gefühle gefesselt. Außerdem wußte er, daß sein Vater leider nicht überlebte. Man hat ihn ja verbrannt.« »Du weißt, wo Kasma wohnt?« »Er lebt am Fluß.« »Wir sollten hinfahren. Wenn er etwas weiß, wird er es uns sagen. Anschließend machen wir uns auf den Weg zur Bibliothek. Das sind die einzigen Möglichkeiten.« Mandra überlegte nicht lange. »Gut„ aber ich fahre.« »Gern.« *** Es war die Nacht der Feuer!
Sie brannten überall am Flußufer. Mir kam es vor, als hätte man besonders viele Scheiterhaufen angezündet, um die bösen Dämonen zu vertreiben. Die Slums erstickten in Gestank, Staub und Hitze. Hin und wieder fuhr ein Windstoß durch die Flamme, fachte sie noch stärker an und ließ sie wehen wie Fahnen. Es glich schon einem kleinen Wunder, daß ihre Ausläufer die primitiven Hütten nicht erfaßten und sie in Brand steckten. Und dann gab es die Menschen! Frauen, Kinder, Männer. Sie alle schauten uns entgegen. Große Augen leuchteten in den Gesichtern. Keiner von ihnen bettelte, aber in ihren Gesichtern stand der Hunger nach Leben, nach Existenz, nach Menschenwürde, die in diesem verfluchten Slum nicht gegeben war. Hier konnte man nicht leben, nur vegetieren. Wir fuhren im Schrittempo, wichen Hunden und Katzen aus. Die Ratten sahen wir nicht, aber sie waren allgegenwärtig, wie mir Mandra Korab glaubhaft versicherte. Man heizte mit Kuhdung, dem noch weitere Materialien beigemischt worden waren. Der Gestank, der aus manchen Hütten drang, war für meine Nase und meinen Magen kaum geeignet. Die Luft hing voll mit Staub, in dem sich unzählige Bakterien austobten. »Leider müssen wir mitten hinein«, sagte Mandra, als wollte er sich entschuldigen. »Dabei hätte Kasma es nicht nötig gehabt, hier zu leben. Aber er wollte es. Er ist so etwas wie ein Missionar, er kämpft für die Rechte der Armen und Unterprivilegierten. Schon oft genug hat er sich mit den Behörden der Stadt herumgestritten, ohne einen Erfolg verbuchen zu können. Es änderte sich nichts.« Hände klatschten gegen unseren Wagen. Hinter dem Jeep lief eine Schar barfüßiger und in Lumpen gekleideter her. Dennoch kamen mir viele Menschen vor, als hätten sie zwar alles verloren, aber ihre Würde noch behalten. Von Straßen und Wegen konnte man nicht sprechen. Zwischen den Baracken existierten einige Zufahrten, Querwege, die irgendwann im Nichts endeten, auf einer Halde oder einfach hinausführten zu den anderen Gebieten und Vororten von Bangalore. Dort herrschte auch zu dieser Zeit noch Verkehr. Die Fahrzeuge, die in den Slums standen, ließen sich allesamt nicht bewegen. Es waren rostige, ausgeschlachtete Wracks. Bevor Mandra anhielt, nickte er. »Überlaß mir alles, John. Ich kenne mich aus.« »Okay.« Mein Freund hatte kaum gestoppt, als der Jeep von zahlreichen Kindern und auch Erwachsenen umringt wurde. Die Kinder redeten auf uns ein. Sie wollten fühlen, tasten, bis Mandra Korab ein Machtwort sprach. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, und Worte allein reichten in diesem Fall auch nicht aus. Es mußte schon eine besondere Persönlichkeit erscheinen, eine mit Ausstrahlung, z.B. Mandra Korab.
Er überragte die meisten Menschen. Er redete mit lauter, sonorer Stimme und unterstrich manche Sätze durch entsprechende Bewegungen seiner Arme und Hände. Womit ich beim Anhalten nicht gerechnet hatte, trat ein. Die Menschen gehorchten den Worten des Mannes. Sie schwiegen, sie zogen sich nicht zurück, aber sie blieben ruhig. »Wie hast du das denn geschafft?« fragte ich. Mandra Korab hob die Schultern. »Ich habe nur mit ihnen gesprochen und ihnen erklärt, daß diese Nacht nicht gut für sie ist. Sie steckt voller Geheimnisse und geisterhafter, nicht sichtbarer Wesen. Danach haben sich die Menschen gerichtet.« »Für was halten sie dich?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht für einen Guru. Es soll mir auch recht sein. Und dem Jeep wird ebenfalls nichts geschehen. Man achtet auf ihn.« »Mir soll's recht sein.« Als wir uns in Bewegung setzten, schufen die Umstehenden schweigend Platz. Selbst die Kinder hielten sich zurück. Sie schauten Mandra aus fast gläubigen Augen an. »Wo müssen wir denn hin?« »Es ist nicht weit.« Wir umgingen ein kleines Feuer, vor dem ein halbnackter Mann saß und in tiefer Trance versunken war. Die Umgebung interessierte ihn nicht. Kasma wohnte in der Mitte. So jedenfalls kam es mir vor. Um seine Hütte zu erreichen, mußten sie von dem schmalen Durchgang weg und schoben uns hinein in ein Gebiet, in dem sich der Müll stapelte. Dort lag alles zusammen, was selbst diese Menschen für einen Hüttenbau nicht mehr verwerten konnten. Eine stinkende Halde, aus der ein altes Metallgerüst hervorschaute. Mandra Korab hatte meinen Blick bemerkt und sagte leise. »Dort verbrennen sie ihre Toten.« Ich nickte nur und hielt mir die Nase zu, denn der feuchte Abfall unter dem Gerüst stank erbärmlich. Dieser Geruch verringerte sich kaum, als wir die Hütte des Kasma erreicht hatten. Sie war aus Brettern und Steinen gebaut, wobei die Steine meist als beschwerendes Element dienten, damit die Bretter nicht ineinanderfielen. Vor dem Eingang hing eine Plane oder ein Lappen, so genau war das nicht zu sehen. Jedenfalls klebte der Dreck daran wie dicker Schmier. Mandra trat zuerst ein. Ich schaute mich noch einmal um. Uns waren einige Menschen gefolgt. Sie blieben mit wenigen Schritten Entfernung stehen und schauten schließlich auf meinen krummen Rücken, als ich ebenfalls die Hütte betrat. Von einer Einrichtung konnte man nicht sprechen. Da war die Feuerstelle in der Mitte. Ich sah ein altes, schiefstehendes Regal und Säcke oder Matten auf dem festgestampften Lehmboden.
Sie dienten als Schlafstätten. Eine noch junge Frau hatte sich erhoben und schaute Mandra aus ihren großen Augen an. Ihren Körper verdeckte ein schmuckloses Gewand, kein Sari, einfach nur ein Tuch, das sie sich umgewik-kelt hatte. Mandra stellte sie mir vor. »Das ist Tarita.« »Seine Frau?« »Ja.« »Spricht sie Englisch?« »Ein wenig schon, aber sie will nicht. Sie fürchtet sich vor dir. Du bist als Fremder so etwas wie ein Unheil-bringer, denn sie hat auch Angst um ihren Mann, der eigentlich längst hätte zurücksein müssen. Es kann sein, daß ihm etwas passiert ist.« »O je, das ist weniger gut.« »Meine ich auch.« »Was willst du tun?« »Ich werde mit ihr reden und sie beruhigen. Vielleicht weiß sie auch etwas.« »Gut.« Tarita hatte sich nicht eingemischt und uns während der Unterhaltung nur angeschaut. Ob sie etwas verstanden hatte, wußte ich auch nicht. Jedenfalls hielt sie sich zurück. Wie viele Inderinnen besaß auch Tarita die wunderschönen, großen Augen, die so sanft blicken konnten. Ihre vollen Lippen zitterten. Am linken Ohrläppchen klemmte ein Ring, der bei jeder Bewegung anfing zu blinken. Mandra Korab redete mit leiser Stimme auf sie ein, und die Frau senkte den Kopf, als würde sie sich schämen, mit einem Fremden zu reden. Wenn sie sprach, dann flüsterte sie nur. Ich verstand einige Male den Namen ihres Mannes. Wenn sie von ihm redete, wurden ihre Augen feucht. Mandra Korab war ein Mensch, der auch zuhören konnte. Er tat es sehr intensiv; Antworten gab er kaum. Wenn, dann redete er nur leise auf Tarita ein. Er mußte gebückt stehen, um nicht an die schmutzige Decke zu stoßen. Als er lächelte, schüttelte Tarita den Kopf. »Was hat sie?« fragte ich. Mandra holte durch die Nase Luft und drehte sich zu mir um. »Sie glaubt nicht mehr daran, daß ihr Mann noch lebt.« »Was?« »Ja, man hat ihr gesagt, daß er getötet wird. Er hat sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angehen. Er hat versucht, mit Dämonen in Kontakt zu treten. Das heißt, sie sind in dieser Nacht unterwegs. Es ist die Nacht der Toten, der lebenden loten, wie man hier sagt. Deshalb auch die Feuer. Sie wollen die Toten vertreiben. Die Menschen wissen, daß es heute anders ist als sonst.« »Wer hat es ihr gesagt?«
»Eine der Wahrsagerinnen. Sie hat angeblich gesehen, was mit ihrem Mann geschehen ist. Er geriet in die Gefangenschaft der lebenden Toten, um durch sie ebenfalls den Tod zu erleiden.« »Könnte sie nicht recht haben?« Mandra nickte heftig. »Das habe ich ihr nicht gesagt. Aber es ist möglich, denk an Suko.« »Wieviel weiß er denn über die Palmblattbibliothek? Hast du sie danach mal gefragt?« »Nein, sie würde zu sehr erschreckt werden. Der Wissende war eigentlich sein Vater. Er gab mir die nötigen Informationen. Natürlich wird die andere Seite davon ausgehen, daß der Vater seinem Sohn einiges mitgeteilt hat, aber . ..« »Dann wäre auch Tarita in Gefahr!« »Damit rechnet sie.« »Und wir sitzen in der Klemme. Wir müssen in die Bibliothek, Mandra, und Tarita sowie die anderen hier zwangsläufig allein lassen. Das gefällt mir nicht.« »Ich weiß, John, es ist schwer. Wie wir uns auch drehen und wenden, wir könnten immer das Falsche tun.« Mandra wechselte das Thema. »Wenn ich ehrlich sein soll, bereiten mir die Feuer Sorgen.« »Weshalb?« »Sie sind symbolisch. Einerseits sollen die finsteren Mächte abgeschreckt werden, zum anderen aber hat Tarita berichtet, daß der Scheiterhaufen in dieser Nacht lodern wird. Man spürt hier, daß sich bald etwas verändern wird.« »Dann wird jemand den Flammentod sterben.« »Davon gehen alle hier aus.« »Wer und durch wen?« »Sira«, sagte Mandra. »Siras Totenzauber.« Ich war überrascht. »Das kann nicht sein. Sie ist hier gewesen? Man hat sie hier gesehen?« »Zumindest ihren Geist. Er irrte durch die Slums, er wollte, daß bald das große Feuer lodert.« »War er denn allein?« Mandra Korab verzog-die Lippen. »Ich weiß, daß du an die YabusameKrieger denkst.« »Natürlich.« »Sie sind hier noch nicht gesehen worden . . .« Mein Freund schwieg plötzlich, und zwar so abrupt, daß ich aufmerksam wurde und ihn fragte, was geschehen war. Fr gab mir keine Antwort, schaute auf Tarita, die ihre Hände hart zusammengepreßt hatte und ebenfalls spüren mußte, daß sich etwas verändert hatte. War ich der einzige Esel, dem nichts aufgefallen war?
Es dauerte nur Sekunden, bis auch ich Bescheid wußte und mir klargeworden war, daß sich in der Hütte nichts verändert hatte, wohl aber draußen, denn dort waren die zahlreichen Stimmen und Geräusche verstummt, so daß eine unerträgliche und ungewöhnliche Stille über dem Gebiet der Slums lag. Als ich zur Tür gehen wollte, ließ mich Mandras Bemerkung anhalten. »Weißt du nun Bescheid, John?« »Ich schätze.« Mandra sprach hastig auf Tarita ein, und ich wollte wissen, was er ihr gesagt hatte. »Daß sie die Hütte hier nicht verlassen soll.« »Okay.« »John, wir müssen damit rechnen, daß Sira ihre Warnungen und Versprechen in die Tat umsetzt. Die Menschen hier spüren es bereits. Da muß sich etwas verändert haben. Der Stimmenwirrwarr ist verschwunden. Es kann sein, daß die Slums bereits unter einer fremden Kontrolle stehen.« »Dann schauen wir nach.« Diemal war ich der erste, der die Hütte verließ. Ja, es hatte sich etwas verändert. Zum Guten? Nein, so kam es mir nicht vor. Die Slums waren tot! Es fehlten die Stimmen, das Rufen, das Schreien und auch das Lachen der Kinder. Innerhalb kurzer Zeit war dieser Teil der Stadt zu einem geisterhaften Ort geworden. Über uns stand der Himmel wie ein graues Gemälde. Darunter trieb der Schall aus Bangalore her wie ein ewiges Brausen, das auch in der Nacht nicht verstummte. Die Feuer loderten. Ihr Knistern, ihr leises Fauchen und auch das Rauschen des Flusses drang noch stärker in unsere Ohren. Nur keine Stimme. Nicht daß die Menschen ihren Wohnbereich verlassen hätten, sie waren einfach nur in den Hütten verschwunden. Es gab wenige, die noch im Freien standen. Sie kamen mir vor wie eingefrorene Gestalten, die etwas Künstliches an sich hatten, als wäre das Leben für sie nicht mehr von Bedeutung. Ich richtete den Blick gegen den Himmel. Blaß und fahl leuchtete der Mond. Er stand dort zwischen den Wolkenstreifen wie ein Wächter, als wollte er auf die Welt achtgeben, daß ihr nichts geschah. »Sie sind da«, murmelte Mandra Korab neben mir. »Aber wir können sie nicht sehen.« »Sprichst du von Geistern?« »Nein.« Er stieß mich an. »Komm mit, John. Wir werden dorthin gehen, wo ihr Platz eigentlich sein müßte. Die Feuerstelle, der Ort der Verbrennung. Nur da kann es passieren.«
Unseren Weg verglich ich mit einem Spießrutenlauf. Es war niemand da, der uns ansprach. Wir wurden nur angeschaut, aber Blicke sagen oft mehr als Worte. Angst, Zorn, auch Wut über ihr Schicksal lagen in den Augen. Die Gesichter sahen aus wie graue Masken, in denen kaum die blassen Lippen auffielen. Niemand sprach. Wir gingen durch den Dreck dorthin, wo der Platz der Verbrennung war. Noch loderte kein Feuer. Wenn dem so gewesen wäre, hätten wir es sehen müssen. Mandra hatte es eilig. Er ging so schnell, als käme es ihm auf jede Sekunde an. In den feuchten Dreck hineingewühlt hatte sich eine Ratte. Fast wäre ich noch auf sie getreten. Im letzten Augenblick verschwand sie mit einem schrillen Kreischen. Von einem freien Platz konnten wir in dieser Enge wahrscheinlich nicht sprechen. Dennoch stand dieses verfluchte Gerüst relativ allein, im unteren Teil umgeben von den Resten, die das Feuer zurückgelassen hatte. Wir sagten im ersten Augenblick kein Wort, als wir die dunkle Gestalt sahen, die auf das Gerüst kletterte. Sie erinnerte mich an einen sich bewegenden Schatten, bei dem nur die Ränder einigermaßen scharf nachgezeichnet waren. Die Form der Waffe konnte ich erkennen. Der Bogen klemmte um seine linke Schulter, und hinter dem Rük-ken ragte der mit Pfeilen gefüllte Köcher in die Höhe. Das war nicht alles. Als sie eingetroffen waren, da hatten sie so wenig Geräusche wie möglich verursacht. Sie selbst hatten nicht zu gehen brauchen, sie waren geritten und mußten die Hufe der Pferde umwickelt haben. Zu dritt standen sie an verschiedenen Seiten des Verbrennungsplatzes. Nur unsere lag frei. Und der vierte Mann legte soeben sein Opfer auf den hohen Verbrennungsrost. Der Körper sollte auf dem Rücken liegen, drehte sich aber zur Seite, und wir konnten erkennen, wer den Tod durch Verbrennen erleiden sollte. Es war Kasma! Noch loderte das Feuer nicht, aber es würde nicht mehr lange dauern, denn der vierte Bogenschütze machte sich bereits auf den Rückweg. Fr übersprang das feuchte Brennmaterial unterhalb des Gestänges, kam auf, sah uns und griff zur Waffe. Im gleichen Augenblick loderte die erste Fackel auf, die der Mann schleudern wollte... ***
Die Welt war nicht für immer und alle Zeiten untergegangen. Irgendwann erwachte Suko wieder, aber er befand sich in einer Umgebung, die ihm völlig fremd war. Erhellt wurde sie von geheimnisvoll leuchtenden Glimm- oder Glühlampen, die sich innerhalb eines hohen Raumes verteilten, dessen Boden aus Stein bestand. Er fühlte sich kalt an wie die Haut eines Toten, als Suko mit den Handflächen darüber hinwegstrich. Daß er sie und auch die Arme bewegen konnte, empfand er als positiv, denn seine Feinde hatten ihn wenigstens nicht gefesselt. Aber wer waren sie? Suko suchte in seiner Erinnerung nach. Es fiel ihm ungemein schwer, denn durch seinen Kopf zuckten die Stiche. Sie konzentrierten sich auf dem gesamten Schädel, sogar im Hals waren sie noch zu spüren, aber an der linken Stirnseite war es am schlimmsten. Da Suko auf der rechten lag, tastete er mit der anderen Hand hoch zur Quelle. Sehr bald spürte er unter seinen Fingerspitzen das feuchte, klebrige Blut. Es war noch nicht verkrustet, und das herauslaufende Blut hatte eine Spur auf seiner Wange hinterlassen. Suko war seinen Feinden trotz allem dankbar, daß sie ihn nicht umgebracht hatten. Wer lebte, der hatte noch immer eine Chance. Er tastete sich ab. Die Beretta hatte er verloren. Sie mußte irgendwo bei den Steinen liegen, für ihn nicht mehr auffindbar. Aber die Dämonenpeitsche und den Stab hatte man ihm gelassen. Es waren zwei Waffen, die äußerlich nicht danach aussahen. Niemand kam auf den Gedanken, daß sie zu den gefährlichsten gehörten, was Suko bei sich trug und gegen Schwarzblütler eingesetzt werden konnte. Fs kam ihm deprimierend vor, hier liegen zu bleiben. Er wollte aufstehen und etwas tun. Suko hatte es zwar nicht gelernt, seine Schmerzen zu beherrschen, er ließ sich von ihnen allerdings nicht so stark ablenken wie ein Mensch ohne mentales Training. Auch wenn er oft genug den Eindruck hatte, sein Kopf würde zerspringen, schaffte er es trotzdem, auf die Beine zu kommen. Zuerst bewegte er sich auf allen vieren, dann gelang es ihm, sich hochzustemmen. Er stand breitbeinig da, den Rücken zurückgedrückt, mußte Herr über seinen Schwindel werden und schaute mit weit aufgerissenen Augen gegen die Decke. Da sie sehr hoch über ihm lag, ging er davon aus, in einem sehr großen Gebäude gefangen zu sein. In einer Halle zunächst, deren Ausmaße von den glimmenden Lichtern nicht vollständig nachgezeichnet werden konnten.
Suko ging die ersten Schritte. Betrunken war er nicht, auch wenn es so aussah, denn er schwankte und hatte ziemlich viel Mühe mit dem Gleichgewicht. Sein Ziel war eine der kleinen Lampen. Erst jetzt merkte er, daß sich die Luft verändert hatte. Sie war zwar zu atmen, doch sie war gleichzeitig von einem Geruch geschwängert, der ihm sehr fremd vorkam und ihn an Gewürze erinnerte oder irgendwelche Pulver, die verglommen, um bestimmte Düfte auszusenden. Vor der Lichtquelle blieb Suko stehen. Von oben her schaute er auf sie hinab. Bisher hatte er nicht gesehen, daß kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Tassen auf dem Boden standen. Die Flüssigkeit brannte, und über die Fläche hinweg zuckte das blasse Licht, das manchmal bläulich schimmerte und dann wieder leicht angerötet in einem violetten Farbtupfer. Vier Lichtquellen hatte Suko gezählt. Sie standen in der Halle verteilt. Sie bildeten die Enden eines Vierecks. Was aber genau vor ihm lag, konnte Suko nicht sehen, und er hatte bisher auch keinen Ausgang entdeckt. Dieser hohe Raum kam ihm vor wie eine große Falle oder eine gigantische Zelle für eine Person. Er bewegte seine Schritte nach vorn, weil er unbedingt sehen mußte, wo die Halle endete. Die brennende Flüssigkeit unterstützte ihn kaum. Deshalb holte er seine Lampe hervor. Ihr kaltes Licht wollte nicht in die unheilschwangere Umgebung hineinpassen. Es schien aus einer anderen Welt zu stammen. Suko spürte jeden Schritt. Immer wenn er auftrat, zuckte durch seinen Kopf das Echo als schmerzerfüllter Blitz, und Suko war gezwungen, einige Pausen einzulegen. Er konzentrierte sich, sorgte mit Atemübungen dafür, daß es ihm besser ging und setzte erst dann seinen Weg in die Tiefe der Halle fort. Bisher hatte er noch nichts Auffälliges entdecken können. Außer ihm war auch niemand da. Allein schritt er über den bläulich schimmernden Steinboden, bis er sah, daß sich der Kegel seiner kleinen Leuchte auf eine ungewöhnliche Art und Weise verzog. Er hatte ein Ziel getroffen, bildete dort jedoch keinen Kreis, wie es normal gewesen, sondern zerfaserte und wurde gleichzeitig gebrochen wie bei einem Prisma. Die Erklärung war nicht schwer. Suko sah nach wenigen Schritten, was ihn erwartete. Der Lichtkegel war auf eine riesige Glaswand getroffen und dort gebrochen worden. Was hinter dieser Wand lag, sah Suko nicht, denn dort lastete die tiefe Finsternis, und auch sein Lampenlicht wurde von ihr
aufgesaugt wie das Wasser von einem Schwamm. Es durfte sich einfach nicht verteilen. Vor der Glaswand blieb Suko stehen, klopfte dagegen und nickte. Die durchbrach er nicht. Sie war dick wie eine Mauer und aus Panzerglas. Wer so etwas baute, tat dies nicht grundlos, und Suko fragte sich, was die andere Seite wohl zu verbergen hatte. Eine Ahnung war längst in ihm hochgestiegen. Er konnte sich durchaus vorstellen, daß man ihn genau an den Platz gestellt hatte, den er, John und Mandra, besuchen wollten. Es mußte die geheimnisvolle Palmblattbibliothck sein, in der die Schicksale der Menschen aufgezeichnet worden waren. Aber wo fand er sie? Vielleicht hinter der Scheibe. Sorgte sie etwa dafür, daß die Umgebung dahinter möglichst luftdicht verschlossen blieb? Warum schluckte die Finsternis das Licht? Suko stand dicht vor der Wand. Er benutzte sie auch als Stütze und hoffte darauf, daß es ihm irgendwann einmal bessergehen würde, denn er mußte damit rechnen, nicht mehr allein zu bleiben. Irgendwann würden sie erscheinen und ihm die Rechnung präsentieren. Gehört hatte er nichts. Wenn jemand Geräusche verursachte, dann er selbst, auch jenseits der Glaswand war nichts zu vernehmen, obwohl die Dunkelheit an der linken und rechten Seite zugleich durch mehrere sich bewegende Lichtquellen erhellt wurde. Jemand kam, und Suko löschte sofort das Licht seiner Lampe. Er konzentrierte sich auf das, was sich jenseits der stabilen Glaswand abspielte und verglich es automatisch mit dem Auftritt an einer Schauspielbühne, wenn das Stück begann und Statisten irgend etwas taten, um Bewegung in die Leere hineinzubringen. Sie kamen von zwei Seiten. In ihren Händen hielten sie Kerzenleuchter. Jeder Leuchter besaß drei Arme, so daß sechs brennende Kerzen dem Raum Licht gaben. Suko interessierte sich nicht für die Leuchter. Für ihn war wichtiger, wer sich in deren Schein bewegte, und das wiederum waren Gestalten, die einem Menschen die kalte Angst durch den Körper jagen konnten. Was waren es? Zombies oder normale Menschen, die sich nur langsam bewegten? Gehörten sie zu den Weisen und Wissenden, unter deren Kontrolle die Palmblattbibliothek stand? Daran wollte er nicht glauben. So konnten diese Menschen nicht aussehen. Die beiden hinter der Glasscheibe erinnerten ihn eher an lebende Tote, und Suko hatte auch nicht vergessen, wer den Überfall auf ihn ausgeführt hatte. Das waren die Bogenschützen gewesen, und diese hier sahen den anderen verdammt ähnlich.
Sie trugen weit geschnittene Kleidung. Hemdähnliche Jacken bis zum Hals hoch geschlossen. Dazu Hosen mit wie aufgepumpt wirkenden Beinen und lange Stiefei, die an ihren Enden geschnürt waren. Es fehlten nur die Bogen und die mit den Pfeilen gefüllten Köcher. Dafür stellten sie jetzt ihre Leuchter an, und die Lichtinseln waren so stark, daß Suko auch deren Umgebung ziemlich genau identifizierte. Auf einmal interessierten ihn die Gestalten nicht mehr. Er hatte etwas ganz anderes gesehen. Die Leuchter standen auf kleinen Sockeln und besaßen deshalb die ideale Höhe, um das auszuleuchten, was die normale Steinwand jenseits der gläsernen einnahm. Es waren Regale mit unzähligen schmalen Fächern, die ungefähr die Größe aufgestellter Zigarrenkisten besaßen. In jedes Fach paßten mindestens drei oder vier Palmenblättcr hinein. Wohlgeordnet lagen sie nebeneinander und füllten diese Fächer aus. Geheimnisvolle Schriftzeichen leuchteten in einem hellen Weiß an den Rändern der Regalschachteln. Die Zeichen mußten den Besitzern der Bibliothek zur Orientierung dienen. Die Helfer wandten sich der Scheibe zu und damit Suko. Sie kamen näher. Obwohl Suko durch das dicke Glas von ihnen getrennt war, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß von diesen Gestalten etwas Unheimliches ausging. Sie brachten den Geruch von Tod und Moder mit. Suko sah auch in ihre Gesichter. Unter den meist schwarzgrauen, strähnigen Haaren zeichneten sich grünbraune Flecken ab, in denen die Sinnesorgane mehr zu ahnen als zusehen waren. Sie erinnerten ihn an faltige, zerfurchte Gebilde, in denen die Augen beinahe zugewachsen waren. Die Münder waren ohne Lippen. Je näher sie herkamen, um so mehr schreckten sie den Inspektor ab, und er trat sicherheitshalber einen kleinen Schritt von der Glaswand zurück, als er merkte, wie einer der beiden seinen Arm ausstreckte, die Hand dabei spreizte, so daß sie Suko riesengroß vorkam und beinahe dessen gesamtes Gesichtsfeld abdeckte. Die Pranke mit der auf- und eingerissenen Innenhaut klatschte dagegen, ohne daß Suko den Aufprall gehört hätte. Das dicke Panzerglas schluckte einfach alles. Daß sie nicht grundlos erschienen waren, konnte er sich vorstellen. Aber wer hatte sie geschickt und ihnen womöglich befohlen, sich auf eine derartig ungewöhnliche Art und Weise zu bewegen, denn sie glitten an der Wand entlang, ohne diese loszulassen. Und sie schmierten über das Glas mit ihren hellen, teigigen Pranken hinweg, die manchmal zusammengedrückt wurden wie frischer Pudding. Was lief hier ab?
Die beiden Untoten — Suko ging jetzt davon aus, daß es sich um Zombies handelte — zogen sich plötzlich zurück. Sie stemmten sich dabei noch einmal ab, nutzten den Schwung aus, um sich zu drehen und traten nach rechts und links ab. So wie sie gekommen waren, verließen sie den Lichtschein auch wieder und waren nicht mehr zu sehen. Nur die beiden Leuchter mit den brennenden Kerzen hatten sie zurückgelassen. Deren Flammen gaben genügend Licht, um es an den Regalfächern in die Höhe steigen zu lassen. Suko sah die hochkant gestellten Palmblätter und hätte für sein Leben gern einige in die Hand genommen, um zu versuchen, die geheimnisvollen Schriftzeichen, mit denen die Blätter beschrieben waren, zu entziffern. Wenn er Zeit hätte und sich mit dem System der Ein-gruppierung vertraut gemacht hätte, wäre er bei den Palmblättern auf bekannte Namen gestoßen. Möglicherweise auf seinen eigenen oder auf den seines Freundes John. Vielleicht war auch Bill Conolly vertreten oder Jane Collins. Wer konnte schon sagen, ob das Schicksal noch einmal den Weg für die Personen nach Indien freihielt. Hinter der Glaswand tat sich nichts. Nur die Flammen brannten weiter, und sie stachen in einer nahezu stoischen Ruhe in die Höhe. Sie gaben der Regalwand ein geheimnisvolles Flair und schienen sie gleichzeitig mit einem geisterhaften Leben überschütten zu wollen. Alles war so anders geworden, nur bei Suko hatte sich nichts verändert. Hinter der Glaswand und an die Regale kam er nicht, das hatte er längst eingesehen. Allerdings fragte ersieh, aus welch einem Grund man die Kerzen dorthin gestellt hatte. Wollte man ihm etwas von einer gewissen Macht zeigen und ihm gleichzeitig klarmachen, daß er nie in der Lage sein würde, an die geheimnisvollen Blätter heranzukommen? Es passierte dort etwas. Zuerst sah Suko, wie sich die drei Flammen des rechts von ihm stehenden Leuchters bewegten. Das Zucken sorgte automatisch dafür, daß Suko seinen Kopf in die bestimmte Richtung drehte. Es war kein normaler Wind, der die Flammen in Bewegung gebracht hatte, sondern ein Luftzug, der entstand, als eine hellgekleidete Frau den Raum hinter der Glasscheibe betrat wie eine Bühne. Sie trug ein langes, schneeweißes Gewand, das mit seinem breiten Saum ihre Knöchel umspielte. Von ihrem Gesicht war nichts zu erkenen, denn sie hatte es mit einer Maske bedeckt, die aussah wie gelblichbrauner Kork und in deren Mitte sich die Züge eines Gesichts abzeichneten. Obwohl Suko durch die panzerdicke Glasscheibe von der geheimnisvollen Person getrennt war, konnte er sich der Faszination
dieser ungewöhnlichen Maske nicht entziehen. Von ihr strahlte etwas ab, für das auch die Scheibe kein Hindernis bildete. Suko dachte darüber nach, wie er diese Botschaft verarbeiten sollte, doch es waren einfach zu wirre Strömungen und Gedanken, die ihn überfielen. Wer diese Person war, wußte er. John Sinclair hatte ihm Sira Munro beschrieben und das in diesem weißen, langen Kleid, das sie nicht gewechselt hatte. Sie gab sich ungemein sicher. Nichts Zögerliches merkte Suko ihren Bewegungen an. Sic herrschte! Suko war wieder dichter an die Scheibe herangetreten. Er wußte, daß Sira ihm bald ihr Gesicht zeigen würde - und hatte sich nicht getäuscht, denn ihr rechter Arm sank nach unten. Mit ihm auch die Maske! Leuchtete ihr Gesicht? Drang die Strahlung möglicherweise aus dem Innern? Es kam Suko so vor, denn niemals hatte er eine derart helle Gesichtshaut bei einem Menschen gesehen. So wie Sira hier vor ihm stand, war sie einfach etwas Besonderes, obwohl sie aussah wie ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut. Da waren dunkle Augen, deren Pupillen voller Geheimnisse zu stecken schienen. Da schaute Suko auf den Mund mit seinen breiten geschwungenen Lippen, da sah er die prachtvollen schwarzen Haare, die einen leichten Lackglanz besaßen. Und er hörte ihre Stimme, so als wäre die Glaswand überhaupt nicht vorhanden. »Ich grüße dich und darf dir sagen, daß wir dich noch haben leben lassen. Du hättest auch längst tot sein können, aber wir wollten dir einen bestimmten Gefallen erweisen, wo du schon die lange Reise auf dich genommen hast.« Die Erklärung hörte Suko wie nebenbei. Ihn interessierte etwas ganz anderes. Sehr stark konzentrierte er sich auf den Klang der Stimme, der eigentlich hätte von vorn kommen müssen. Das war auch der Fall. Zugleich hatte er sie auch hinter seinem Rücken vernommen. Das wiederum irritierte ihn so sark, daß er Genaueres wissen wollte. Auf der Stelle drehte sich Suko um. Sira stand abermals vor ihm. Diesmal nicht als Mensch, sondern als ihr Zweitkörper, als Astralleib, der dem ersten bis aufs Haar glich... *** Es war kein schrecklicher, kein schlimmer Anblick, trotzdem ging er Suko unter die Haut. Zweimal die gleiche Person, zum einen als Mensch, zum anderen als Geistwesen, das war hart. Auch Suko spürte, daß sich seine
Nackenhärchen querstellten und ihm zudem bewußt wurde, daß ihm diese Person überlegen war. Er besaß kein Mittel, um einen Geist zu bekämpfen, das gestand er sich ein. Sehr langsam drehte er sich um, als ihn Sira wieder ansprach. »Du bist nun hier, Suko. Ein Traum hat sich möglicherweise erfüllt, aber ich glaube nicht, daß du diese Bibliothek so verlassen wirst, wie du sie betreten hast. Ich habe dich nicht gerufen, du hast auch keine Botschaft verspürt, du wolltest etwas anderes. Es ist einfach zu profan, den Mord an einem Menschen aufzuklären, auch wenn es mein eigener Gatte gewesen ist.« Suko schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben«, sprach er gegen die Scheibe. »Ich kann es einfach nicht glauben.« »Was glaubst du nicht?« »Daß du die Herrscherin dieser Stätte bist.« »Jetzt schon.« »Aber du warst es nicht immer?« »Nein, ich habe sie übernommen. Ich war schon immer von ihr fasziniert, denn in meiner Kindheit habe ich bereits von den Geschichten und Legenden gehört, die sich um dieses Gebäude drehten. Aber ich kam nie hinein, bis ich mich mit gewissen Techniken beschäftigte und nachzuforschen begann, woher ich eigentlich stammte und wie lang meine Ahnenkette gewesen ist.« »Das hat etwas gebracht?« »Ja.« »Darf ich es erfahren?« Sira lächelte, und dabei bewegte sich ihr Gesicht kaum mit, was Suko verwunderte. Die Haut wirkte so, als bestünde sie aus Porzellan. »Gegründet worden ist dies Bibliothek vor sehr langer Zeit. Man spricht von viertausend Jahren, und es war ein sehr weiser Mensch, der dies tat. Andere sehen ihn auch als Gott an, ich sage nur seinen Namen. Er hieß Brighu und gehörte zu den guten Menschen. Er wollte nichts Böses, er wollte beten und forschen, und er verbreitete seine Lehre. Ergab die Erkenntnisse an seine Schüler weiter, so daß der Kreislauf begann, der über Generationen hinweglief, bis zum heutigen Tag. Die Zeit ist dabei uninteressant geworden. Brighu besaß die Gabe der Vorausschau, aber er wußte auch, daß er nicht unsterblich war und reichte seine Gaben aus Sorge an seine Schüler weiter. Das sahen auch die Dämonen und finsteren Götter. Da war vor allen Dingen Jama, der Totengott, der die Menschen in die Welt der Schatten führt. Er wollte auf keinen Fall, daß sie etwas über ihr zukünftiges Schicksal erfuhren und versuchte, den Aufbau der Bibliothek zu stören, was ihm nicht gelang, denn die geballte Macht der Weisen stand gegen ihn. So wuchs sie an, und mehr und mehr Blätter wurden mit den kleinen, geheimnisvollen Schriftzeichen
beschrieben, die sich mit dem Schicksal der Menschen befaßten.« »Woher wußte man es?« »Das ist ebenfalls ein großes Geheimnis. Ich will etwas weiter ausholen. Für jeden Besucher liegen zwei Palmblätter bereit. Auf dem ersten ist sein Name, sein Beruf und sein bisheriges Leben aufgezeichnet worden. Entziffert er den Text und stimmen die Angaben mit seinem bisherigen Leben überein, dann wird der Palmblattleser das zweite Blatt hervorholen. Daraus kann der Besucher seine Zukunft ablesen. Er wird erfahren, was ihm alles bevorsteht, ob positiv oder negativ. Alle zukünftigen Ereignisse sind in bestimmten Jahresabständen zusammengefaßt, bis hin zur Stunde seines Todes.« »Die erfährt er also auch?« »Ja, die Blätter sind gerecht.« »Aber wie konnten sie es wissen?« »Man weiß offiziell nichts Genaues. Aber es gibt einen Weg, wie die Palmblätter erstellt worden sind. Seherische Fähigkeiten indischer Weiser vor sehr, sehr langer Zeit und genaueste astrologische Berechnungen haben zu den Ergebnissen geführt, die tatsächlcih stets eintreffen, wie man mittlerweile weiß.« »Ja«, sagte Suko leise und nickte dazu. »Ich habe begriffen. Ich habe dich voll und ganz verstanden, Sira. Nurkann ich mirnicht vorstellen,daßdu etwas mit den Weisen zu tun hast.« »Das habe ich.« Sie hob den rechten Arm und zeigte Suko die Maske. »Das hier ist der Weg.« »Ich verstehe nicht. ..« »Es ist die Totenmaske des Gründers. Sie habe ich gefunden, und sie verleiht mir die Kraft, hier die Herrschaft auszuüben. All die lange Zeit habe ich, Sira, die Gefährtin des Totengottes Jama, nach ihr geforscht und sie endlich gefunden. Deshalb mußte ich nach England, denn sie war in einem privaten Museum verborgen. Der Besitzer wußte nicht, welch eine Kostbarkeit er da hatte.« »War es zufällig Craig Munro?« »Wer sonst?« »Du hast ihn geheiratet?« »Sicher. Nur so kam ich an die Maske heran. Es war leicht, ihn in mich verliebt zu machen, nur ahnte er nicht, daß er eine Person ehelichte, die eine Göttin ist. Ich habe die Maske gefunden. Sie hing in seinem kleinen indischen Museum, das er sich in seinem Garten eingerichtet hatte und zu dem niemand außer ihm den Schlüssel besaß. Als er starb, wußte ich, was ich tun mußte.« »Du hast alles übernommen?« »Ja.« »Wo sind die eigentlichen, die wahren Hüter?« »Es gibt sie nicht mehr.«
Suko schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Du hast sie doch nicht getötet?« »Sie spürten, daß sie nicht gegen uns ankamen. Sic haben die Flucht ergriffen und sich in den Bergen versteckt, wo wir sie auftreiben werden, denn niemand darf die Nachricht über die Palmblätter verbreiten. Sie soll nicht in andere Hände gelangen. Wir sind die Herrscher, und wir bestimmen, wer sie sehen darf, denn mein Totenzauber wird sich über alle Menschen legen, die mir nicht passen.« »Meinst du die Reiter damit?« »Ja.« »Es sind Zombies?« »Japanische Krieger, die vor Hunderten von Jahren in dieses Land eindrangen. Sie kamen über das Große Wasser, aber sie verloren die Schlachten. Dennoch habe ich sie durch meinen Totenzauber erweckt und ihre Seelen aus dem Jenseits wieder herausholen lassen, denn du darfst nicht vergessen, daß ich einen Gefährten mit dem Namen Jama hatte.« »Er blieb zurück im Reich der Toten?« »Ja, dort gehört er hin. Ich habe es verlassen, ich kann meinen Geist vom Körper lösen. Wenn du dich umdrehst, wirst du mich wieder so erkennen können wie hier.« »Wie mächtig oder ohnmächtig bist du ohne deine Maske?« wollte Suko wissen. »Sie ist da, um mir die Macht über diese Bibliothek zu geben, Suko. Habe ich sie nicht mehr, würde ich mich wieder zurückziehen. Aber ich werde sie nie mehr hergeben.« »Das glaube ich auch.« »Dann habe ich dir alles gesagt und . . .« »Nein, nein, nicht ganz, Sira.» »Was willst du noch?« »Ich hätte eine Frage, die gleichzeitig auch eine Bitte ist. Da ich hier bin, möchte ich wissen, ob auch meine beiden Palmblätter in dieser Bibliothek aufbewahrt sind. Wenn ja, möchte ich dich bitten, sie mirzu /.eigen, damit ich . . .« »Du wirst die kleine Schrift nicht lesen können.« »Kannst du es denn?« »Ich beherrsche es!« erwiderte sie grob, als hätte Sukos Frage sie beleidigt. »Dann lies sie mir vor!« Der Inspektor war gespannt, ob er die Person dazu bringen konnte, nach seinen Palmenblättern zu schauen. Noch gespannter war er darauf, was wohl auf diesen Blättern stehen würde. Ob alles mit dem übereinstimmte, was er in der Vergangenheit erlebt hatte und wie seine Zukunft aussehen würde. Stand auch der Todestag fest?
Als Suko daran dachte, vergaß er die Schmerzen in seinem Kopf. Sie waren plötzlich nicht mehr vorhanden. Die gesamte Konzentration brauchte er für Sira. Die Göttin aus dem Totenreich dachte nach. Dabei bewegte sie ihren rechten Arm, den sie etwas angehoben hatte. Sie hielt noch immer die Totenmaske fest, und diese wiederum pendelte wie ein Fächer vor ihrem Gesicht. »Nun?« Sie nickte Suko zu. »Ich werde nachschauen. Wenn ich die beiden Blätter finde, dann ...« Den Rest des Satzes ließ sie unausgesprochen. Sie ging, und es sah so aus, als wollte sie in den Flammenschein der Kerzen hineintauchen. Plötzlich war sie weg. Suko kam es vor, als hätte sie sich einfach aufgelöst. Fr schaute zurück. Auch ihr Geist stand nicht mehr dort. Nur die Lampen verbreiteten ihr gedämpftes Licht. An der Kunst sich zu beherrschen, fehlte es dem Inspektor beileibe nicht. Das hatte er oft genug bewiesen. In diesen Augenblicken aber, da merkte er schon die Ströme der Spannung, die durch seinen Körper schössen. Wenn die Palmenblätter mit ihrer Voraussage recht hatten und Sira ebenfalls, dann war der heutige Tag auch gleichzeitig sein Sterbetag. Dann würden ihn ihre Helfer umbringen. Diese Spannung und dieser immense Druck waren auch für Suko kaum zu ertragen. Jetzt dehnte sich die Zeit. Obwohl er eine Antwort herbeisehnte, fürchtete er sich gleichzeitig davor und wäre, wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war, nicht einmal traurig gewesen, wenn seine Blätter nicht vorhanden waren. Sira kehrte zurück. Er hörte sie nicht, er sah nur, wie ihre Gestalt durch den Lichtschein glitt. Sie hatte die Maske in die Falten ihres Kleides gesteckt, die dort so wie eine schmale Tasche gearbeitet worden waren. Jetzt kam es darauf an! Suko ließ die Person nicht aus den Augen. Er wollte das Ergebnis schon an ihrem Gesicht ablesen, was ihm nicht gelang. Es blieb nach wie vor glatt, wie aus Porzellan gegossen. Er schaute trotzdem für einen Moment zurück und sah den Geistkörper der Frau nicht. Suko sah ihr Nicken. Eine kurze Andeutung, mehr nicht. Dann zeigte sie ihre Hände. Sie drehte sie so herum, damit Suko auf die Flächen schauen konnte. Sie waren leer! Hatte sie ihn geleimt? »Was ist? Sind meine . . .«
»Nicht so eilig, Suko, nicht so eilig. Ich habe alles, was ich brauche.« Bei dieser Antwort bewegte sie den rechten Arm und knickte die Hand so ab, daß sie in die Faltentasche des Umhangs hineingleiten konnte. Sie bewegte ihre Finger, machte sie geschmeidig, und dann sah Suko das Palmenblatt, das zwischen Zeige-und Mittelfinger klemmte. Suko stockte der Atem. Es war ein schmales Blatt, ähnlich geformt wie eine Feder, die nach oben hin spitz zulief. Er versuchte, die Farbe des Blattes zu erkennen. Sie schwankte zwischen einem Braun und einem dunklen Grün und erinnerte ihn an ein Stück sehr dünn geschälter Rinde. Sira drehte es so, daß Suko auf die Vorderseite schauen konnte. Sie war dunkel. Aus seiner Sehdistanz schimmerte sie wie eingefärbt, doch Suko ging davon aus, daß die einzelnen Zeichen so dicht zusammengeschrieben worden waren, um ineinander übergehen zu können. Wenn er etwas lesen wollte, mußte er das Blatt schon dicht vor seine Augen halten. »Das ist es!« sagte sie, und diesmal drang ihre Stimme nur von vorn durch die Scheibe, an die Suko wie unter einem inneren Zwang herantrat, um etwas lesen zu können. »Sorry, aber ich . . .« »Warte, ich werde es dir zeigen.« Mit einem sphinxhaften Lächeln auf den Uppen kam sie näherund blieb so nahe vor der Scheibe stehen, daß Suko bereits die hellen, winzigen Abschnitte zwischen den Schriftzeichen sehen konnte. Die Scheibe verzerrte. Auch wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, Suko hätte die Schriftzeichen zwar erkennen, aber nicht verstehen können. Sie waren in einer ihm unbekannten Sprache geschrieben. Deshalb hob er auch die Schultern. Sira nickte. »So ergeht es den meisten. Sie sehen ihr Palmblatt und können es nicht lesen. Deshalb waren auch die Weisen und die Mönche da, damit die alten Schriften entziffert werden können.« »Du kannst es?« Sie ging wieder einen Schritt zurück. »Ja, ich kann die Schrift lesen. Vergiß nicht, wer ich bin. Vor dir steht keine normale Inderin oder Frau, sondern eine mächtige Göttin aus alter Zeil, die Begleiterin des Totengottes Jama.« Das wußte Suko schon, er brauchte es nicht noch einmal zu hören, er wollte wissen, was auf dem Blatt stand. »Es ist das erste«, erklärte ihm Sira. »Das hatte ich mir gedacht. Ich werde also Einzelheiten über meine Vergangenheit erfahren.« »Ja, und du wirst mir bestätigen, ob sie stimmen oder einfach nur hingeschrieben worden sind.« »Fang an!«
Der Inspektor hatte die Hände zu Fäusten geballt. Seine innere Erregung steigerte sich. Sie hatte auch die Schweißdrüsen aktiviert, und die Schicht lag überall auf seinem Körper, sogar die Handflächen hielt sie bedeckt. Sira las noch nicht laut. So wie es aussah, schien sie das Blatt mit seinen Zeichen erst zu überfliegen, nickte und gab einen allgemeinen Kommentar ab. »Ein Schicksal steht hier geschrieben, wie es nicht jedem zuteil wird. Das muß ich dir sagen.« »Ich kenne es.« »Darf ich trotzdem Stichproben machen?« »Bitte. Ich warte darauf.« Sie begann nicht mit seiner Geburt, aber sie kam auf Sukos Vater zu sprechen und erklärte dem Inspektor, daß er auf ihn wahrlich nicht stolz sein konnte. »Ich kenne die Wahrheit über meinen Vater. Er ist einen anderen Weg gegangen als ich. Und er führte ihn, den Mandarin, ins Verderben. Es ist noch nicht lange her, als ich ihm gegenüberstand.«* »Das lese ich hier auch.« »Mach weiter.« »Deine Erziehung fand in einem Kloster statt. Du hast viel gelernt, den Kampf, aber auch die Waffen des Geistes sind bei dir geschärft worden, und man hat sich auch deiner Seele angenommen. Du hättest mehr erreichen können, viel mehr.« »Ich bin mit meinem Schicksal zufrieden.« Sira nickte. Sie sprach weiter, las dabei und wiegte zusätzlich den Kopf. »Was sehe ich hier? Eine dunkle Zeit? Das Schicksal trieb dich nach London, wo du in den Diensten eines Mannes gestanden hast, der kein positiver Mensch war.« »Es war der Schwarze Drache, ein Gangster!« »Das lese ich ebenfalls heraus. Aber du hast dich gewandelt, wolltest Gutes tun und bist mit deinem jetzigen Freund und Kollegen John Sinclair zusammengetroffen.« »Auch das stimmt.« Sie las weiter und zählte Suko Tatsachen auf, die sie tatsächlich nicht wissen konnte. Einmal zeigte sie sich irritiert, denn die begriffe Erbe und Buddha standen dort. »Was war mit ihm?« Suko dachte an seinen Stab und nahm sich vor, ihr nicht zu berichten. Es hätte nur böses Blut gegeben. »Eine Episode, mehr nicht.« Sira schien ihm nicht zu glauben. Ihr Blick jedenfalls war skeptisch genug geworden.
* Siehe John Sinclair 73106: »Babylon in Hongkong«
Suko wollte sie ablenken und sagte: »Kannst du noch mehr auf dem Blatt erkennen?« »Ja.« »Dann lies weiter. So verlangt es die Regel doch. Du hast sie mir selbst berichtet.« »Natürlich.« Sie las und lachte. »Was ist mit deiner Partnerin Shao, die du kennengelernt hast?« Suko schluckte. Er hatte mit dieser oder einer ähnlichen Frage gerechnet, war trotzdem überrascht, daß sie gestellt wurde und wischte mit dem Handrücken über die Stirn. »Sie . . . sie war . . .« »Jedenfalls ist sie nicht mehr bei dir. Und sie befindet sich in einer Ferne, an die du nicht herankommen kannst. Das ist richtig, was ich hier lese.« »Es stimmt.« Sira schaute über das Blatt hinweg in Sukos Gesicht. »Ob du sie je wiedersehen wirst und ob ihr zusammenbleiben werdet, kann ich dir möglicherweise gleich sagen.« »Ich hoffe darauf.« Sira berichtete aus seinem Leben und sprach auch von der Gefahr, die wie eine stetige Glocke über Sukos Kopf schwebte. Und davon, daß er ihr wohl nie entrinnen konnte, bis zu seinem Lebensende. Dann steckte sie das erste Palmenblatt weg. »Stimmt alles, was ich gelesen habe?« Suko nickte. »Ja, es stimmt. Über Einzelheiten brauchen wir uns nicht zu streiten, aber die großen Dinge sind auf diesem Blatt tatsächlich alle erfaßt worden.« Sie lächelte wieder. »Und jetzt wartest du auf das zweite, nicht wahr? Auf die Zukunft, auf das Datum deines Todes, das du an sich schon wissen müßtest, denn ich sage dir, daß es der heutige Tag sein wird.« Suko kam sich in diesen langen Minuten vor wie ein Bittsteller, der vom Gönner immer weiter hingehalten wird. Deshalb auch ihre Frage. »Bist du bereit?« Er nickte. Sira vertauschte die Blätter. Suko verfolgte jede ihrer Bewegungen. Nichts sollte ihm entgehen, er war aufgeregt, er tänzelte und schluckte. Dann hielt sie das Blatt hoch. Zuerst ließ sie Suko darauf schauen und drehte ihm auch die beschriftete Seite zu. Es traf den Inspektor wie ein Hammerschlag, und er verlor schlagartig die Farbe. Auch Sira hatte es bemerkt. »Was hast du?« fragte sie. »Das Blatt«, flüsterte Suko. »Es ist nur das Blatt, mehr nicht, wirklich, Sira.«
Etwas anderes hatte er nicht antworten können. Die beschriftete Seite hatte bei ihm die Hoffnung aufflammen lassen, weil sie eben sehr dicht beschrieben worden war. Wenn Suko so gut wie keine Zukunft gehabt hätte, so wären große Lücken zu sehen gewesen. Hatte Sira sich geirrt? Zum erstenmal sah er so etwas wie Nervosität bei ihr. »Stimmt was nicht, Suko?« »Für mich ist es gut, glaube ich.« Sie starrte ihn böse durch die dicke Scheibe an, dann drehte sie das Blatt herum, las — und wankte zurück. Es sah so aus, als würde sie stolpern und zu Boden fallen. Sie riß den Mund auf, brüllte schrecklich, aber Suko schrie dagegen an. »Wie war das mit meiner Todesstunde? Du hast davon gesprochen, daß ich keine Zukunft habe. Dafür, daß dies eintreten soll, ist das Blatt ziemlich dicht beschrieben.« »Ja, das gebe ich zu.« »Dann muß es sich geirrt haben, Sira. Dann werde ich heute meine Todesstunde nicht erleben!« Suko hatte ihr die Worte entgegengeschmettert, er wollte sie aus der Fassung bringen. Das war ihm auch gelungen. Wahrscheinlich hatte sie nie zuvor einen ähnlichen Schock erlitten, denn sie schaffte es kaum, sich zu fangen und schwankte derartig unkontrolliert vordem breiten Fächerregal hin und her, daß sie dabei sogar Gefahr lief, in die Hammen der Kerzen zu fallen. Aber sie fing sich wieder, und Suko wartete auf eine Reaktion. Sie mußte ja etwas unternehmen. Plötzlich unterbrach sie ihren taumeligen Gang und blieb stehen. Durch die Scheibe starrte sie Suko an und zeigte auf ihn. »Ich bin dein Schicksal!« brüllte sie und riß daß Blatt mit einer blitzschnellen Bewegung in zwei Hälften, legte diese wieder zusammen und zerriß die vier Teile noch einmal, bevor sie die Blätter in die Flammen der nahestehenden Kerzen schleuderte. Sie schwebten für einen Moment über den Spitzen, sanken dann langsam nach unten und wurden zu brennenden Blättern, die allmählich davonschwebten, bevor sie verglühten. Damit hatte Suko niemals gerechnet. Er wollte noch etwas sagen, als Sira anfing zu schreien. »Und ob du sterben wirst, Suko! Jetzt und hier!« Nach diesen Worten rannte sie hinaus. Er schaffte es nicht, ihr etwas nachzurufen, denn die Falle öffnete sich im wahrsten Sinne des Wortes.
Unter ihm verschwand plötzlich der Boden, und Suko raste in die unbekannte schwarze Tiefe... *** Ob der auf dem Verbrennungsrost liegende Kasma tot war, wußten wir nicht. Ich traute es den Reitern zu, daß sie ihn bei lebendigem Leibe verbrennen würden. Vier waren es. Perfekt ausgebildete Yabusame-Kämpfer, die aus diesem Slum einen Friedhof machen konnten, wenn sie wollten. Darauf legten es weder Mandra noch ich an. »Die schaffen wir!« brüllte ich ihm zu und wartete sein Nicken gar nicht erst ab. Wichtig war für mich, daß dieses dicht zusammengepreßte Material unter dem Rost kein Feuer fing, denn dann konte ich Kasma auch nicht mehr helfen. Deshalb startete ich wie ein Irrer, wobei mich besonders der Mann interessierte, der noch auf dem Rost herumkletterte. Ich glaubte nicht, daß die Flammen hochschlugen, wenn er noch aktiv war. Aber ich sah den Rauch und roch ihn auch, als ich hindurchlief. Er verbreitete einen widerlichen Gestank, der mir den Magen umdrehte. Die drei Reiter setzten sich ebenfalls in Bewegung. Sie peitschten auf ihre Tiere ein, aber sie kümmerten sich nicht um mich, sondern um Mandra, der sich ihnen entgegengestellt hatte. Obwohl äußerlich nicht sichtbar, trug er Waffen bei sich. Es waren die berühmten sieben Dolche. Mit ihnen würde er sich die Reiter vom Leibe halten, dessen war ich mir sicher. Zur Plattform oder zum Rost führte eine Leiter hoch. Die einzelnen Trittstellen waren sehr weit auseinander, ich mußte große Schritte machen, und der verdammte Rauch hüllte mich mittlerweile ein wie dichter Nebel. Unter mir glühte das Zeug bereits. Wenn es mir in der nächsten halben Minute nicht gelang, Kasma vom Rost zu holen und den Gegner zu überwältigen, war es vorbei mit der Herrlichkeit. Glücklicherweise kam vom Fluß her ein leichter Wind auf, und der riß Lücken in den Rauch. Ich konnte mehr erkennen, was mein Glück war, denn auf dem Verbrennungsrost stand wie eine Statue dieser verfluchte Bogenschütze. Er hatte bereits einen Pfeil aufgelegt und den Bogen bis zum Zerreißen gespannt. Dann senkte er ihn. Der Pfeil zielte auf mich. Er würde mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit schräg von oben her in meinen Körper dringen. Ich war schneller.
Ich mußte einfach von Glück sprechen, als ich mich zur Seite warf, weg von der Leiter, sie aber mit einer Hand hielt, und zwar an der seitlichen Stange. Dabei pendelte ich über dem stinkenden Brennmaterial, hielt mich mit Hand und Arm weiter fest und hatte die Rechte frei, um an die Bcretta heranzukommen. Mein Schußwinkel war schlecht. Ich sah das Ziel nicht genau, aber auch der Yabusame-Samurai hatte Mühe, mich auszumachen. Daß um mich herum eine Hölle tobte, die Mandra und seine Gegner entfacht hatten, interessierte mich nicht. Für mich war allein der vierte Zombie wichtig. Er kam — und rutschte. Ob bewußt oder nicht, war mir egal. Jedenfalls hatte er Mühe, sich zu halten. Hinzu kamen die großen Lük-ken zwischen den einzelnen Trittstufen, und in eine davon rutschte er hinein. Ich hing noch immer in dieser ungewöhnlichen Lage, aber ich hatte die Pistole in der Rechten. Und damit schoß ich. Einmal, zweimal, auch ein drittes Mal. Ich hatte den Arm etwas anwinkeln und die Hand krumm halten müssen. Das machte nichts, der andere Körper war breit genug, die Geschosse aufzufangen. Ich konnte zuschauen, wie sie sich durch die Kleidung bohrten, und ich sah sogar die Staubwolken, die aus den Schußlöchern hervordrangen. Die Gestalt zuckte und erschlaffte dann. Sie rutschte durch die Lücke. Für einen Moment sah ich das Gesicht, wie es an mir vorbeiglitt. Es war zu einer fürchterlichen Fratze geworden, in der die Haut zerlief wie zäher Sirup und die Nase so aussah, als hätte jemand mit der flachen Hand davorge-schlagen. Das Gesicht zerfiel und zerrann, der Körper rutschte durch den Rauch in die Tiefe und fiel in den kokelnden, stinkenden Haufen unter dem Rost. Meine Beine pendelten, als ich mich drehte, sie dann anzog und dabei versuchte, Tritt zu fassen, weil ich mich einfach abstützen mußte, um höher zu kommen. Mehr stolpernd als gehend gelangte ich in die Höhe, umgeben von den verfluchten Rauchschwaden und keuchend, wobei sich mir zusätzlich noch der Magen umdrehte. Doch ich erreichte die Plattform, ohne daß unter mir die ersten Flammenarme hochgezuckt wären. Dann sah ich ihn genau. Er lag in einer starren Haltung, wie ein Toter. Nur sah ich keine Wunde an seinem Körper, bückte mich und duckte mich dabei noch zusammen, weil ich einen Blick in die Runde werfen wollte. Es war ein gigantisches, ein einmaliges, wenn auch irgendwo schreckliches Bild.
Ich hatte wohl die höchste Stelle innerhalb der Slums erreicht und konnte auf sie niederblicken. Auf die Hütten, die lodernden Feuer, den Fluß dahinter, aber das alles wurde von einem Mann in den Schatten gestellt, der sich wie ein Irrwisch bewegte und damit auch bewies, welch ein Excellenter er letztendlich war. Mandra Korab hatte es mit den drei Kriegern aufgenommen und schien auch zu gewinnen. Sieben Dolche besaß er, sie waren mit Pfeilen und Bogen bewaffnet. Wer reagierte schneller? Mandra hatte gleichzeitig seine Waffen gezogen. Wären die Krieger von ihren Pferden gestiegen, hätten sie sich schneller bewegen können. Um sich auf eine neue Situation einstellen zu können, mußten die Tiere erst herumgezogen werden, das kostete Sekunden. Mandra hatte bei seinem ersten Wurf gleich zwei erwischt. Den Pfeilen war er entgangen, stand jetzt breitbeinig da und hob die Arme zugleich an. Ein Dolch flog nach rechts, der zweite nach links. Beide Waffen hieben in die Körper der Reiter und blieben tief darin stecken. Diese Dolche waren etwas Besonderes und besaßen zudem legendären Ursprung. Dem Gott Wischnu sollten sie einmal gehört haben. Mandra hatte diese Waffen in einem alten Grabmal gefunden, in dem zwei Göttinnen beigesetzt worden waren. Er hatte nur die Dolche aus den schon verfallenen Särgen geholt, das noch darin liegende Gold nicht einmal angerührt. In einem einsamen Kloster hatte er dann die Wahrheit über die Dolche erfahren. Wischnu soll sie aus den Armen sterbender Dämone geformt und ihnen seinen Geist eingehaucht haben, um damit den Kampf gegen die Göttin Kali und den Götzen Schiwa aufzunehmen. Nachdem der Kampf gewonnen war, ritt er auf seinem Adler Garuda davon. Soweit die Geschichte der Dolche, die zudem noch ein außergewöhnliches Aussehen besaßen. Schwarze, schmale Klingen und rote Griffe, in denen es geheimnisvoll schimmerte, und die jetzt dafür sorgten, daß zwei dieser untoten Monstren vernichtet wurden. Die Kraft der Aufschläge riß sie von den Pferden. Sie fielen zu Boden, ohne jedoch zu schreien. Für einen Moment leuchteten die roten Griffe auf, dann erwischte die Kraft auch die beiden Getroffenen und zerstörte sie durch ein flackerndes Feuer. Einer blieb übrig. Ich hörte mich selbst brüllen, als ich Mandra Korab warnte, denn der Reiter näherte sich von der Seite mit gewaltigen Sprüngen. Die Kunst
während des Galopps zu schießen und auch zu treffen, das machten einen echten Yabusamekrieger aus. Dieser hier konnte es. Aber Mandra war schneller. Plötzlich war er nicht mehr zu sehen. Der abgeschossene Pfeil zirkelte über ihn hinweg, während Mandra am Boden lag, sich dort weiterdrehte und seinen Dolch auf den Reiter warf, bevor dieser noch den zweiten Pfeil auflegen konnte. Wieder ein Treffer, und wieder flog die Gestalt vom Pferderücken. Das Tier raste aufgeschreckt weiter, in eine der Hütten hinein, wo es auch noch zwei andere umriß. Nicht nur für Mandra Korab wurde es allerhöchste Eisenbahn, auch für mich. Wir beide standen einfach zu nah an diesem verdammten Verbrennungsplatz. Ich riß Kasma an mich, zerrte ihn hoch, fuhr mit ihm herum, als es passierte. Ich hörte noch den puffenden Laut, dann hatte das Material unter mir Hitze genug bekommen und sprühte auseinander. Und mit einem wilden Geräusch fauchten mir die höllenheißen Flammen entgegen... *** »Sprinnnggg!« Es war Mandras langezogener Schrei, der mir entgegenwehte und mir keine Wahl ließ. Ich mußte es tun. Kasma lag noch auf meinen Armen. Wir beide waren vom Feuer umtanzt; ich kam mir vor wie geröstet, und dann stieß ich mich ab. Es war ein verdammter Sprung, ein Alles oder Nichts, wobei ich nicht genau wußte, ob ich brannte. Ich betete nur, daß der Mann und ich unverletzt aufkamen. Da können Sekunden zu kleinen Ewigkeiten werden. Durch die tanzende Flammenwand biß der Rauch in meine Augen. Ich spürte einen Schwindel, dann begleitete mich Mandras harter Schrei, bis ich den Hammerschlag mitbekam, der an den Füßen begann und durch meinen Körper raste, um das Gehirn zu erwischen. Dort schien mein Kopf zerplatzen zu wollen. Ich fiel hin, hielt Kasma fest, rollte mich herum, sah noch immer Flammen, über die ein Schatten fiel, der menschliche Umrisse bekommen hatte. Mandra Korab hatte eingegriffen. Mit seinem Körper erstickte er das Feuer. Er nahm dazu kein Wasser, rollte uns nur über den Boden, dann riß er Kasma weg und ließ mich liegen. Ich blieb auf dem Rücken.
Automatisch schaute ich in die Höhe, gegen den Himmel, den ich allerdings nicht sah, denn der Wind trieb das Feuer des Scheiterhaufens nach rechts, wo die Flammen zwischen Boden und Himmel einen tanzenden Teppich bildeten. Das schaurige Muster faszinierte mich für einen Moment, aber ich mußte auch an mich denken. Ich richtete mich auf. Beim Hinsetzen schon stellte ich fest, daß ich mir nichts gebrochen und verstaucht hatte. Wieder einmal konnte ich mich bedanken, daß ich gewisse Kampfsportarten ausübte. Dazu gehörte ebenfalls das richtige Springen, Aufkommen und Fallen. Wie aus dem Lehrbuch hatte ich es hinbekommen. Nicht weit entfernt kniete Mandra Korab und kümmerte sich um Kasma, der sich nicht rührte. »Lebt er?« Der Inder nickte nur. »Und was ist mit den Yabusame-Reitern?« Mandra hob die Schultern. »Sie waren nach dem Auftreffen der Dolche nicht mehr in der Lage, noch zu kämpfen. Ich habe sie endgültig vernichtet. Denn sie waren bereits untot.« Er stand auf, schaute zu mir und sammelte seine Dolche ein. Ich strich durch mein Haar. Es war angesengt, wie auch die übrige Kleidung. Von den Augenbrauen fehlte sicherlich die Hälfte. Mit unsicheren Schritten näherte ich mich Kasma, der zwar die Augen geöffnet hatte, aber nicht so aussah, als würde er mich zur Kenntnis nehmen. Sein Gesicht war geschwärzt, die Lippen rissig, und er blutete an der Oberlippe. Als Mandra zu mir kam, war er nicht mehr allein. Tarita hatte ihre Hütte verlassen und hielt sich dicht bei ihm. In ihren Augen stand die große Sorge, die ich mit einem Lächeln zu vertreiben versuchte. Mandra redete auf sie ein. »Er hat einen Schock bekommen«, sagte er dann zu mir. »Kasma hätte nicht damit gerechnet, daß es für ihn so knüppeldick kommen würde.« »Ich auch nicht.« Mandra Korab nickte. »Sie haben zum Angriff geblasen, davon müssen wir ausgehen. Unsere Gegner ließen alle Rücksicht fallen. Sie sind stark geworden.« »Was ist der Grund?« Der Inder schaute gegen das Feuer, als würde er aus den Flammen die Antwort ablesen können. »Sie müssen bemerkt haben, daß wir ihnen sehr nahe gekommen sind.« »Das meinst du wohl im übertragenen Sinne.« »Nicht nur. Es ist nicht möglich gewesen, Informationen von den Kriegern zu erhalten. Fs waren ja Zombies, die man darauf abgerichtet
hatte, alles aus dem Weg zu räumen, was sie stören könnte. Und sie wird einiges gestört haben.« »Klar, stimmt, gebe ich dir recht. Nur müssen wir endlich an die Bibliothek heran.« Mandra räusperte sich. »Kein Problem, den Weg kenne ich. Nur werden wir sie nicht so vorfinden, wie sie einmal gewesen ist. Tarita hat vorhin gesprochen. Die Weisen, die Mönche, die Palmenblattleser sind von den Yabusame-Kämpfern vertrieben worden. Sie haben die Herrschaft übernommen und sonst keiner.« »Das heißt, daß man uns erwartet.« »Davon gehe ich aus.« Ich strich durch mein Haar. Allein waren wir nicht mehr. Die Menschen trauten sich wieder aus ihren Hütten, aber die Angst stand auf den Gesichtern wie festgeschrieben. Sie hatten das Unheimliche erlebt, es waren all die Alpträume Wirklichkeit geworden, noch loderten die Flammen, doch sie hatten kein Opfer bekommen. Ich half Tarita dabei, ihren Mann auf die Beine zu stellen. Kasma krümmte sich vor Schmerzen. Er hatte ebenfalls unter den Flammen gelitten, sein Gesicht war dermaßen geschwärzt, daß ich kaum einen hellen Hautflecken entdeckte. Mandra erzählte ihm, daß ich ihn gerettet hatte. Kasma erfaßte meine Hände und drückte sie. Mit einem Brocken Englisch versuchte er, sich zu bedanken. Mir war es peinlich, ich winkte ab und warf auch meinem indischen Freund einen hilfesuchenden Blick zu. Mandra lächelte. »Da wirst du einen Freund fürs Leben gefunden haben, John.« »Es war doch nur meine Pflicht.« »Das sagst du.« Ich winkte ab und kam auf ein anderes Thema zu sprechen. »Wir müssen hin, Mandra.« »An Suko denkst du nicht?« Für einen Moment wurde ich still. »Und ob ich an ihn denke. Ich kann mir auch vorstellen, wo ich ihn finde oder wir ihn finden.« »Dann laß uns fahren!« Der Jeep stand dort, wo wir ihn zurückgelassen hatten. Auf dem Weg zum Fahrzeug schritten wir durch das Spalier der Bewohner. Fs hatte sich in Windeseile herumgesprochen, was an der Opferstätte geschehen war, und die Blicke der Menschen sprachen Bände. Sie waren von Dankbarkeit erfüllt. Auf uns wurde eingesprochen, doch nur Mandra konnte Antworten geben. Im Wagen hockend atmete ich tief durch. »Das wäre geschafft«, flüsterte ich. »Das Schlimmste liegt vor uns«, murmelte der Inder und drehte den Zündschlüssel. »Ich hätte nicht gedacht, daß die Bibliothek in fremde Hände übergehen würde.«
»Dann sind wir richtig gekommen.« Mein Freund nickte. »Ich hoffe, daß du recht hast und es noch nicht zu spät ist...« *** Es war eine harte Strecke, die wir hinter uns brachten. Heraus aus Bangalore. Mochte das Gebiet, in dem wir die alte Bibliothek finden konnten, zwar offiziell noch zum Stadtgebiet zählen, die Gegend allerdings machte einen ganz anderen Eindruck. Sie war rauh, felsig, stauberfüllt. Wolken durchkreisten sie träge. Der Jeep hatte zu kämpfen, denn Pfade hatten wir verlassen. Ich klammerte mich an einem Haltegriff fest. Jeden Stoß merkte ich in den Handgelenken. Über uns schwebte der weite, sehr dunkle Himmel wie ein großes Tuch, das hin und wieder aufgeschnitten war, um die Sterne blinken zu lassen. Der von den Reifen aufgewirbelte Staub drang in den Wagen. Als Kruste legte er sich auf unsere Gesichter und auf die Lippen. Er schmeckte scharf und irgendwo salzig. Die Kulisse der Berge umstand uns wie eine schweigende Welt. Wo sich zwischen den Gipfeln tiefe Sättel eingruben, sah es aus, als wären sie durch zahlreiche Schlüssel verbunden. Die Lichter der Stadt lagen tiefer. Sie blinkten wie ein glitzerndes Maar. Mandra lächelte mir zu, als er den Wagen in eine Kurve riß und wir plötzlich einen Pfad erreichten, der als staubige Piste in die Berge führte, aber kaum mehr anstieg. »Es gibt ihn also doch.« »Klar, John. Nur haben wir abgekürzt. Wir wären sonst noch länger unterwegs gewesen.« »Okay, ich verlasse mich auf dich.« Im Licht des Scheinwerfers tanzte der Staub. Gegen die Karosserie wirbelten die hochgeschleuderten Steine wie die Trommel stocke auf die Instrumente. Natürlich war ich gespannt, und selbstverständlich beschäftigten sich meine Gedanken mit Suko. Ich kam auf die geheimnisvolle Sira, die in London auf eine so ungewöhnliche Art und Weise verschwunden war, und redete mit Mandra über sie. »Es tut mir leid, John, aber ich kenne sie leider nicht. Indien ist ein gewaltiges Land. Es steckt voller Rätsel, Geheimnisse und Legenden. In jedem Ort ist etwas Unheimliches passiert. Die Menschen sind oft den Göttern sehr nahe. Ich kenne viele, die nach Vollkommenheit streben und sich auf die alte Traditionen besinnen. Das alles kommt hier zusammen, und es gibt natürlich Gut und Böse, aber das weißt du selbst. Erinnere dich an unsere Kämpfe gegen die Totengöttin Kali.«
»Das werd ich nie vergessen. Eine andere Frage habe ich. Ist ihr Einfluß noch immer so gewaltig?« Mandra räusperte sich und hob die Augenbrauen. »Natürlich ist er gewaltig, nur spürt man ihn als Nichteingeweih-ter kaum. Die Menschen reden nicht darüber.« »Und auch nicht über die Bibliothek?« »Nein.« »Weshalb nicht?« Mandra ließ für einen Moment das Lenkrad los. »Weißt du, es gibt gewisse Dinge, die tabu sind.« Ich schwieg. Mandra hatte recht. Indien ist derartig groß und geheimnisvoll, da kann nicht alles an die Oberfläche gespült werden. Auch ich weiß nur einen Bruchteil.« Das nahm ich ihm nicht ab, grinste nur, fragte nicht weiter, wechselte dafür das Thema. »Zu sehen ist noch nichts. Ich habe allmählich das Gefühl, als hätten wir uns verfahren.« »Keine Sorge, das ist schon in Ordnung.« Und es war in Ordnung, wie ich bald erkennen konnte. Hin breiter Hinschnitt öffnete uns die Zufahrt zu einem Tal, dessen Grenzen nicht durch zu hohe Berge abgesteckt wurden. In der Mitte lag der kantige Bau! Er paßte hierher wie die berühmte Faust aufs Auge. Ein dunkler Klotz, von der tiefen Finsternis umlagert, und auch Mandra löschte den Scheinwerfer. Im Dunkeln rollten wir auf das Ziel zu. Ich suchte nach irgendwelchen Fensteröffnungen, ohne allerdings welche entdecken zu können. Werdort lebte, schien auf das Tageslicht verzichten zu können. Mandra finge es schlau an. Er ließ den Wagen nicht direkt vor der Bibliothek ausrollen. Im Schatten eines Baumes, der tatsächlich hier zusammen mit zwei anderen wuchs und so etwas wie eine kleine Insel bildete, blieben wir stehen. »Den Rest legen wir auf Schusters Rappen zurück.« »Was meinst du, John?« »War nur sinnbildlich gesprochen.« Ich freute mich darüber, aussteigen zu können. Sehr sacht drückte ich die Tür des Wagens wieder zu. Die Luft war hier so schlecht wie in den Slums. »Trennen wollen wir uns nicht — oder?« Mandra schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen zusammen. Vier Augen sehen mehr als zwei.« »Einverstanden.« Mandra nickte nur und ging. Ich war gespannt auf diese Bibliothek. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, daß ich dort Dinge erfahren würde, die sich auch auf mein weiteres Leben niederschlagen würden ...
Suko hatte es nicht geschafft. Er fand einfach keinen Halt mehr und raste in die Tiefe. Der Schreck dauerte nicht einmal eine Sekunde, dann hatte sich der Inspektor auf die neue Lage eingestellt. Wie und wo immer er aufkommen würde, es gab gewisse Tricks, um den Fall in eine Rolle zu verwandeln. Vorausgesetzt, die Entfernung war nicht zu hoch. Sehen konnte Suko nichts. Der Aufprall war urplötzlich da, nicht so schlimm, wie eres sich vorgestellt hatte. Er kippte zur Seite, rollte sich ab und stellte dabei fest, daß der Boden nicht allein aus Felsen bestand. Auf dem Bauch blieb er liegen. Scharf atmete er aus. Die Schmerzen in der Schulter ignorierte er. Den linken Arm konnte er bewegen. Seine Waffen waren ebenfalls vorhanden — die Beretta ausgenommen — und er schaute nach oben. Dort war die Öffnung dabei, sich zu schließen. Sehr langsam lief der Vorgang ab, und auch das letzte, flak-kernde Licht verschwand allmählich. Suko konnte sich nicht vorstellen, daß man ihn aus reinem Vergnügen hier in die Tiefe hatte fallen lassen. Da steckte ein Sinn dahinter, ein Motiv, und das mußte er herausfinden. Suko schaltete die Lampe an. Ihr Strahl war kalt und zeigte einen bleichen Schein. Die Luft hier unten ließ sich atmen, was er schon als Vorteil ansah. In seiner Lage freute er sich über die kleinsten Dinge. Der Untergrund bestand aus festgestampftem Lehm. Er lag dort wie ein Parkett. Allerdings nicht überall. Sukos Arm kam zur Ruhe, als er dicht an einer Wand die aufgewühlten Stellen sah, als hätte dort jemand gegraben. Suko ging näher heran. Nicht nur zwei oder drei dieser aufgewühlten Orte, gerieten in den blassen Lampenschein, er zählte mindestens ein Dutzend. Wer hatte hier gegraben? Suko räusperte sich. Der Staub lag wie eine dichte Wolke fest in seiner Kehle. Es gab weder Menschen noch Monster, die ihn angriffen, deshalb konnte ersieh auf diese Gräber konzentrieren. Gräber? Wie ein Blitzstrahl war ihm die Idee gekommen. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, daß es sich tatsächlich um Gräber handeln konnte. Da brauchte nicht jemand einen Spaten in den Boden gesteckt zu haben, um den Untergrund aufzuwühlen wie ein Acker, ebensogut hätte auch aus der Erde jemand hervorsteigen können. Gestalten, lebende Tote, Zombies und gleichzeitig diese geheimnisvollen Reiter, die den Inspektor überfallen hatten. Er sah klarer. Plötzlich gab es für ihn keine andere Alternative. Hier mußten schreckliche Gestalten gelegen haben. Vor den >Gräbern< blieb er stehen. Er besaß kein Werkzeug, um sie tiefer aufzuwühlen; seine Fußspitze drehte sich in die weiche Erde,
leuchtete dabei und sah, daß sich zwischen den Krumen kleine Tiere bewegten. Würmer und Käfer, deren Körper schimmerten. Suko dachte nach. Wenn hier lebende Leichen aus der Erde gekrochen waren und sich nicht mehr innerhalb dieses unheimlichen Kellers befanden, mußten sie ihn auch verlassen haben. Und bestimmt waren sie nicht hoch zur Öffnung gesprungen. Suko ging deshalb davon aus, daß es einen weiteren Ausgang gab. Einen Stollen, einen Gang, möglicherweise verdeckt durch eine Tür. Er machte sich auf die Suche. So groß hätte ersieh die unterirdische Umgebung nicht vorgestellt. Selbst der Strahl seiner Lampe verlor sich in der Weite, als hätte die Finsternis ihn kurzerhand aufgesaugt, um ihn nie mehr freizugeben. Ihm fiel auf, daß sich die ungewöhnlichen Gräber nur an einer bestimmten Stelle dieses Gewölbes befanden. Sosehr er auch nachschaute, er fand sie nicht mehr. Der Boden blieb glatt und . . . Sukos Überlegungen stockten. Er hatte etwas gehört, ohne allerdings zu wissen, um was es sich handelte. Es war ein Schleifen gewesen, vielleicht auch ein Geruch, der widerlich seinen Mund ausfüllte und aus einem Grab zu stammen schien. Leichengestank... Suko löschte nicht das Licht. Er wollte zuvor noch sehen, wo der mögliche Gegner stand. Blitzschnell bewegte er seinen rechten Arm in einen Halbkreis. Er ließ ihn über die Wand und den Boden huschen — und sah die Bewegung der Gestalt. Eine typische Bewegung, denn die Person griff nach hinten und holte etwas aus dem Köcher hervor. Suko wußte, wer da vor ihm stand. Dann ging alles gedankenschnell. Spannen, zielen, schießen. Das singende Geräusch, das entstand, als der Pfeil durch die Luft schnitt, aber über Suko hinweghuschte, weil der sich längst über den Boden rollte. Er hörte noch das Klirren, als der Pfeil gegen die Wand prallte, und besaß auch die Nerven, die Lampe eingeschaltet zu lassen. Er löschte das Licht erst, als der zweite Pfeil auf dem Bogen lag und veränderte sofort seine Lage. Suko lief nach vorn. Er duckte sich dabei und hörte das typische leise Pfeifen sowie den Aufprall. Mit einem Sprung nach rechts veränderte er abermals seine Position. Die Frage war, ob sein Gegner auch im Dunkeln sehen konnte. Sicherheitshalber rechnete er damit. Suko selbst wollte so dicht wie möglich an die Gestalt heran und sie ausschalten.
Dazu nahm er eine Waffe, die man ihm gelassen hatte. Sehr behutsam holte er die Dämonenpeitsche hervor, schlug den Kreis, und die drei Riemen rutschten hervor. Suko ließ sie nicht auf den Boden klatschen. Er wollte jedes verräterische Geräusch vermeiden. Der Inspektor lauerte im Dunkeln und konnte hören, daß sein Feind nicht stehengeblieben war. Er bewegte sich weiter. Die Geräusche ließen darauf schließen, daß er genau in die Richtung ging, wo auch Suko am Boden hockte. Ein Nervenspiel begann. Der Inspektor atmete so flach wie möglich. Nur durch den offenen Mund saugte er die Luft ein und ließ sie wieder ausströmen. Wo steckte sein Feind? Es war nicht zu vermeiden, daß die Kleidung raschelte, als Suko sich in die Höhe schob. Sofort ging er einen Schritt zur Seite - und setzte alles auf eine Karte. Der andere kam! Er war nahe. Sein Geruch drängte Suko entgegen, und er riskierte es einfach. In der linken Hand hielt er seine kleine Leuchte, in der rechten die Peitsche. Suko schaltete die Lampe ein. Wie ein Blitzlicht zuckte der Strahl auf, traf das Ziel. Der Kriegerstand vor Suko, allerdings nach links versetzt, so zielte sein Pfeil ins Leere. Bevor er die Richtung korrigieren konnte, war Suko da. Aus dem Handgelenk hämmerte er zu. Schräg rasten die Riemen von unten in die Höhe. Er hatte auf die Arme gezielt, und er erwischte sie beide mit einem Schlag. Der Pfeil löste sich zwar noch, jagte aber ins Leere. Sofort danach bewies die Peitsche, welch eine Kraft in ihr steckte. Sie schaffte es, die dämonischen Kräfte zu vernichten. Nicht ein Laut drang aus dem klaffenden Maul der Gestalt, als sie nach hinten kippte. Man hätte durchaus von einem stummen Schrei sprechen können, der mit der Rauchwolke aus der Mundöffnung hervorschoß. Es war schon der Anfang vom Ende. Der untote Yabusam-Krieger torkelte in die Dunkelheit hinein, als befände sich irgendwo ein Rettungsanker, an dem er sich festhalten konnte. Aber er griff ins Leere. Suko sah, wie er hinfiel. Erschlug hart auf den Boden. Sein Gesicht war nicht mehr zu sehen, doch Suko strahlte den Schädel an und konnte erkennen, daß er auseinanderbrach. Unter dem Gesicht sah er den Schleim wie eine große Pfütze, die sich verteilte. Auch der Körper sackte zusammen. Plötzlich war nichts mehr da, was ihm hätte Halt geben können.
Die alten morschen Knochen knirschten. Die Haut zerplatzte, das tote Fleisch sackte ineinander. Übrig blieb ein Rest! Suko atmete tief durch. Der Köcher und der Bogen vergingen nicht. Er bückte sich und zerrte beides von dem Toten weg. Dabei riß er noch mehr Haut ein, die stückweise aus dem gesamten Körper herausbrach. Vier Pfeile befanden sich im Köcher. Suko spannte den Bogen noch einmal, drehte sich und zielte in die Dunkelheit hinein. Aus ihr wehte ihm eine flüsternde Stimme wie ein Hauch entgegen. »Nicht schießen...« *** Suko erstarrte! Er war im ersten Moment wirklich perplex, denn die Stimme hatte ihn in Englisch angesprochen. Über seinen Rücken rann es wie feuchter, warmer Schlamm bis zum letzten Wirbel. Er entspannte den Bogen, ließ den Pfeil verschwinden und richtete den Lampenschein dorthin, wo ihn die Stimme erreicht hatte. Dort stand ein Mann! Er kam Suko alterslos vor, und der Inspektor wußte sofort, daß er einen normalen Menschen vor sich hatte und keinen der lebenden loten. Dieser Mann trug ein Gewand, das hell schimmerte und bis zum Boden reichte. Der Kopf war rasiert bis auf einen schmalen flaarstreifen, der sich von rechts nach links zog. Zum Zeichen der friedliche Absicht breitete Suko die Arme aus. Der Mann nickte, er kam näher. An den Füßen trug er Sandalen, die durch Riemen an den Waden befestigt waren. Vor Suko blieb er stehen. Er sagte nichts, er schaute dem Inspektor in die Augen und schien sehen zu können, obwohl dessen Gesicht im Schatten lag. Dann begann er zu sprechen. »Du bist wirklich außergewöhnlich. Du kommst aus der Fremde, aber du bist kein Fremder. Du bist auch kein normaler Besucher, der sein Schicksal erfahren will. Wer bist du?« Suko räusperte sich. Er brauchte etwas Zeit, um sich auf die neue Lage einstellen zu können. »Vielleicht jemand, der diese Bibliothek befreien will.« »Von dem Bösen?« »Ja, ich habe erlebt, daß es nicht mehr die Mönche und die Weisen sind, die . . .« Der alte Mann nickte. »Es stimmt. Jemand anderer hat uns vertrieben, und er hatte starke Helfer.« Er deutete an Suko vorbei. »Hast du die Gräber hier gesehen?«
»Sicher.« »Wir befinden uns unterhalb der Bibliothek. Hier ist ein gewaltiger Keller vorhanden, ein Gewölbe, und es ist gleichzeitig eine uralte Grabstätte.« »Für die Yabusame-Krieger, die vor langer Zeit in dieses Land eindrangen.« »Unsere Vorfahren haben sie besiegt und hier unten verscharrt. Sie rechneten nicht damit, daß jemand kommen würde, dereinen Totenzauber beherrscht.« »Sira!« »Ja, sie ist es.« »Dann hat sie euch vertrieben?« Der Mann nickte. »Sie tötete zwei meiner Brüder. Wir anderen mußten in die Berge flüchten, doch wir sind auf geheimen Wegen zurückgekehrt, weil wir spürten, daß jemand kommen würde, der sich ihr entgegenstellt. Das bist du.« Suko winkte ab. »So arg ist es nicht. Ich war auch nur ein Gefangener, aber sie hat sich miroffenbart. Ich weiß jetzt, worum es Sira einzig und allein geht und daß sie sehr mächtig ist, weil sie sich im Besitz der Maske t>efindet.« Der Mann gab Suko recht. »Allein durch die Maske ist es ihr gelungen, den Totenzauber in die Wege zu leiten. Jetzt ist sie die Herrscherin der Palmblattbibliothek, der ältesten auf diesem Erdball und der Sammlung, für die man bereit sein muß, eine große Verantwortung zu übernehmen, was Sira nicht kann. Sie wird nicht mehr so handeln, wie es die Gründer der Bibliothek hatten haben wollen. Sie ist anders, sie denkt nur an diese Welt. Sira hat Böses im Sinn. Sie wird von finsteren Dämonen geleitet, die in ihr eine Dienerin gefunden haben. Sie wird die beschriebenen Blätter benutzen, um Menschen in ihre Gewalt zu bekommen. Den Weg hierher hat sie durch Raffinesse gefunden. Über ein anderes Land hinweg. Wir, die eigentlichen Wächter der Bibliothek, befürchten das Schlimmste. Sturm und Grauen werden über uns kommen und uns hinwegfegen, falls es uns nicht gelingt, den Schrecken zu stoppen. Das alles kann uns passieren, und die Vorzeichen stehen schlecht.« Suko wiegte den Kopf. »Ich sehe es weniger pessimistisch, denn ich bin nicht allein.« Der Mönch zeigte sich irritiert. Er zupfte an seiner Kleidung, räusperte sich und fragte nach. »Es sind Freunde von mir unterwegs.« »Wer sind deine Freunde, bitte?« »John Sinclair und Mandra Korab. Es ist möglich, daß du den einen kennst, er ist Inder und eine Persönlichlei t, die auch in diesem Land nicht ganz unbekannt ist.« Der Weise dachte nach. Er strich dabei über seine breite Stirn.
Nach einer Weile nickte er. »Ja, ich habe den Namen schon gehört. Er ist auch ein Mensch, der sich gegen das Böse stellte, wenn mich nicht alles täuscht. Seinen Namen kennen die Gerechten in diesem Lande. Er schafft es, ihnen Hoffnung zu geben.« »Das möchten wir auch.« »Und dein anderer Freund?« Suko lächelte wissend. »Mein Freund hat nicht ohne Grund den Namen Geisterjäger bekommen. Er jagt, ebenso wie ich, Geister, Dämonen, also schwarzmagische Wesen, die versuchen, die heilige Ordnung zu stören. Das ist es, was mir Hoffnung gibt. Bisher hat es selbst der Teufel nicht geschafft, ihn zu vernichten, obwohl die Kämpfe gegen ihn schon über Jahre hinweg andauern. Doch auch andere Dämonen haben wir erlebt. Zum Beispiel Kali, die Todesgöttin.« Der Weise hatte Suko zugehört. Er atmete sehr laut, und der Inspektor empfand dieses Geräusch als Beruhigung. »Dann könnten wir noch Hoffnung haben.« »Das glaube ich auch.« »Und du hast ebenfalls Glück gehabt, mein Freund. Wer in diesen Keller hineinfällt, ist normalerweise verloren. Er wird zur Beute des untoten Yabusame-Kriegers.« »Den es jetzt nicht mehr gibt.« »Dank dir.« Der Mann legte Suko eine Hand auf die Schulter, bevor er sich abwandte. »Wo willst du hin?« »Du brauchst mir nur zu folgen. Ich habe dir doch davon berichtet, daß meine Freunde und ich es schafften, auf geheimnisvollen Wegen zurückzukehren. Und diesen Weg werde ich dir jetzt weisen. Er wird dich zu meinen Brüdern führen, wo du aufatmen kannst, denn dort befindest du dich unter Freunden.« »Danke.« Suko sah keinen Grund, dem Mann zu mißtrauen. Er würde ihn wieder an den Ort bringen, wo er einmal angefangen hatte. Diesmal würde ihn Sira nicht mehr reinlegen können. »Wo halten sich die anderen Krieger auf?« fragte er gegen den Rücken des Wächters. »In der Nähe. Sie sind die Wächter der Bibliothek. Sie geben acht, aber sie sind hirnlos. Sie können nicht selbst denken, sie befolgen ausschließlich Befehle. Wir aber besitzen die Kraft des Geistes und werden sie auch ausspielen.« »Das hoffe ich sehr.« Der Mönch führte Suko tiefer in den schaurigen Keller, wo das Gestein an den Seiten von einem ungewöhnlichen Glanz umgeben war. Feuchtigkeit und Schmutz hatten sich zu einer Schicht vermischt, die wie eine zweite Haut auflag. Suko konnte den Geruch aufnehmen, der ihn
begleitete. Er wurde von einem gewissen Modergestank umgeben und hatte den Eindruck, als wäre diese Welt dabei, allmählich abzusterben. Sein >Hirte< blieb dort stehen, wo Suko nichts sah und wo man eigentlich nicht stehenbleiben sollte, denn es war kein Ausgang zu entdecken. Fugenlos standen die Wände rechts und links des Inspektors, aber der Mönch legte seine Handfläche auf eine bestimmte Stelle, die ausschließlich ihm und seinen Freunden bekannt war. Zuerst geschah nichts. Sekunden später jedoch erklang ein geheimnisvolles Kratzen, das sich anhörte, als würden zwei Messer gegeneinander schaben. Dann tat sich etwas. Sesam öffne dich, hätte Suko beinahe geflüstert. Und in der Wand vor ihm erschien ein Loch. Suko mußte sich ebenso bücken wie der Mönch, um in den Tunnel heineinzugehen. Ihm kam es vor, als wäre er von einem Magen verschluckt worden, der ihn nun verdauen würde. Fr wollte schon fragen. Die Erklärung aber gab der Mönch von sich aus. »Das hier ist unser Friedhof. Ihn durchschneidet ein Tunnel. Wenn du Licht machst, wirst du die Gräber sehen können, die rechts und links des Ganges verteilt sind.« Suko wollte es sehen, obwohl er davon ausging, daß dieser Anblick keineswegs erhebend war. Sie hatten ihre Toten mit dem Kopf zum Gang hin in die schmalen Schächte oder Gräber hineingelegt. Es waren enge Einschnitte innerhalb der Wände, und die Leichen präsentierten sich in einem unterschiedlichen Stadium der Verwesung. Einige von ihnen bestanden nur mehr aus staubigen Gebeinen, wobei Suko zumeist nur die haarlosen Schädel sah. An anderen wiederum hingen noch Fleischfetzen und Hautreste, über und durch die sich Würmer bewegten, als wollten sie sich von den Überresten und dem toten Fleisch ernähren. Die Luft konnte als solche kaum bezeichnet werden. Wäre Suko allein gewesen, so hätte er sich ein Taschentuch vor den Mund gehalten. So aber setzte er seinen Weg fort. Er wollte sich nicht vor dem anderen Mann blamieren. Der Hüter drehte sich beim Gehen um. Er setzte seinen Schritte stets gemessen, und er nickte Suko zu, als er sagte: »Du brauchst die Lampe nicht mehr leuchten zu lassen. Wir haben Licht.« Das Licht schimmerte vor ihnen. Es war ein Schein, der in diese Umgebung paßte. Sehr ruhig brennend, auch rötlich und mit einem gelben Zentrum versehen. Suko konnte sich nicht vorstellen, daß es von einer Kerze stammte. Auch eine Fackel kam nicht in Frage.
Es war tatsächlich die gleiche Flüssigkeit wie auch oben in der Bibliothek. Mit ihr war eine breite Schale gefüllt worden, die in der Mitte einer kleinen Höhle stand und ebenfalls so etwas wie ein Zentrum bildete, denn um sie herum standen die übrigen Wächter der Bibliothek. Sie schauten den beiden entgegen. Anhand ihrer Kleidung war es Suko nicht möglich, sie zu unterscheiden. Er mußte sich schon auf die Gesichter konzentrieren, die das unterschiedliche Stadium des Alters sehr genau wiedergaben. Es waren junge und auch alte Gesichter. Manche von ihnen zeigten noch keine Falten, sie sahen glatt aus, wie eingeölt. Junge Menschen, denn auch die Hüter der ältesten Bibliothek der Welt waren leider nicht unsterblich. Zahlreiche Augenpaare schauten Suko an, der sich im ersten Augenblick unwohl fühlte. Es hatte auch keinen Sinn, Erklärungen abzugeben, das übernahm sein 'Führer. Er sprach mit leiser, eindringlicher Stimme auf seine Freunde ein. Suko konzentrierte sich auf deren Gesichter, die ihn sehr aufmerksam betrachteten. Danach nickten die Männer. »Sie haben dich akzeptiert«, erklärte der Mann und verbeugte sich leicht. »Ich heiße Frama Zehni.« Auch Suko sagte seinen Namen. Er hatte den Eindruck, erst jetzt akzeptiert zu sein. »Und wie geht es weiter?« »Dieser Friedhof besitzt einen Ausgang. Wir werden dich dort hinbringen und versuchen, die Stätte wieder unter unsere Kontrolle zu bringen. So lautet unser Plan.« »Mit dem ich nicht einverstanden bin.« »Warum nicht?« »Weil die Gefahr zu groß ist und ihr euch gegen Sira und ihre Helfer nicht wehren könnt. Wenn es Krieger gibt, davon gehe ich aus, haben sie auf diese Gelegenheit nur gewartet. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, den Weg allein zu gehen.« Das mußte Frama Zehni erst einmal verdauen. Fr schaute Suko schweigend an, bevor er sich umdrehte und seinen Freunden erklärte, welchen Plan der Fremde entwickelt hatte. Auch jetzt bewiesen die Männer, welch eine Disziplin sie besaßen. Sie waren nicht alle damit einverstanden; besonders die älteren brachten Bedenken vor, aber sie setzten sich nicht durch, denn Frama Zehni drehte sich um, lächelte Suko zu und sagte: »Du kannst gehen. Ich werde dich bis zum Ausgang des Friedhofs begleiten.« »Danke.« Suko schaute noch in die Gesichter der übrigen Männer. Es lag keine Feindschaft darin, nur Hoffnung, daß er es schaffen würde, den schrecklichen Bann zu brechen.
Der Gang verengte sich weiter. Vor einer Leiter blieben sie stehen. Sie war aus Holz gebaut worden, zeigte keine Bruchstellen, so daß Suko ihr vertrauen konnte. Noch einmal schauten sich die beiden Männer in die Augen. Suko gab mit seinem Blick ein Versprechen ab, es zu schaffen. Frama Zehni ging. Und Suko stieg die Leiter hoch, der frischeren Luft entgegen, die ihm durch eine Öffnung entgegenwehte, obgleich diese durch dichtes Buschwerk verdeckt war. Die nächste Begegnung mit Sira und ihrem geheimnisvollen Totenzauber würde anders verlaufen, das schwor er sich... *** Die Gefahr lauerte in der Nähe, nur schafften wir es nicht, sie zu entdecken. Wir hatten das gewaltige Gebäude einmal umrundet, allerdings keinen Eingang gefunden, der offen gewesen wäre. Dafür lagen einige kleine Anbauten vor uns. Sie zweigten von dem eigentlichen Hauptgebäude in verschiedene Richtungen hin ab. »Du weißt nicht, was sie dort verborgen halten?« fragte ich Mandra. Er stand sehr dicht neben mir. Sein Gesicht glänzte in der Dunkelheit. »Nein, ich war nie hier.« »Und wie gelangen wir hinein? Sollen wir eine der Türen auframmen?« Ich hob die Schultern. »Schließlich kommen wir nicht als normale Besucher, und ich weiß auch nicht, wie die Hüter der Bibliothek bei ihnen reagieren.« »Sie sind nicht da, davon müssen wir ausgehen.« »Klar, aber .. .« Mandra war plötzlich verschwunden, ich hatte ins Leere hineingesprochen. Den Grund sah ich zwei Sekunden später. Das dumpfe Klopfen war noch zu hören, dann erschien der mächtige Schatten. Auf dem Pferderücken saß der Krieger, den Bogen bereits gespannt, den Pfeil auf das Ziel gerichtet. Ich tauchte gedankenschnell weg. Das Sirren über mir empfand ich als eine verdammt gefährliche Musik. Dann jagte der Pfeil gegen die Mauer, und gleichzeitig huschte der von Mandra geschleuderte Dolch durch die Luft. Von der Seite her bohrte er sich in den Körper des Kriegers. Die Gestalt ließ sich noch zu einer abgehackt wirkenden Armbewegung hinreißen, bevor sie vom Rücken des Pferdes purzelte, auf dem Boden liegenblieb, um zu vergehen. Ich trat an die Reste heran. Mehr waren sie wirklich nicht. Lumpen und Asche.
Das Pferd galoppierte in die Nacht hinein. Nur die von den Hufen aufgewirbelten Staubwolken blieben noch. Mandra hielt seinen Dolch wieder in der Hand. »Das war einer der Wächter.« »Nur wird er uns kaum die Tür öffnen können.« »Leider.« »Paß.auf, Mandra, ich habe eine Idee. Ich habe bei unserer Ankunft den offiziellen Eingang gesehen. Es muß die große Tür an der Frontseite sein. Ich gehe hin und benehme mich wie jemand, der etwas über sein Schicksal in Erfahrung bringen will. Wahrscheinlich wird mir eine alte Bekannte öffnen.« »Sira.« »Genau.« »Nur frage ich mich, ob sie dir noch so gegenüberstehen wird wie in London.« »Das wird sich alles noch herausstellen.« Der Inder nickte. »Geh und sei geschützt.« »Danke, Mandra.« Der Weg war ziemlich lang, da ich einen großen Bogen schlagen mußte. Die Nacht kam mir hier viel dunkler vor. Es konnte auch an den Schatten der Berge liegen, die das Tal umgaben. Sie schützten und drohten, sie waren Kulisse und Bollwerk zugleich. Eine breite, eine mächtige Tür verwehrte den Eintritt. Sie konnte Respekt und Furcht zugleich auslösen, wenn jemand etwas sensibler war. Wer sie überwinden wollte, mußte tatsächlich tief in seinem Innern den Drang spüren, über sein weiteres Schicksal viel zu erfahren. Auch ich spürte diesen Drang und war mir plötzlich sicher, daß hier in dieser Bibliothek meine Zukunft aufgezeichnet worden war. Über meinen Rücken rann das Rieseln. Es war das Gefühl, daß jemand überkommt, wenn er etwas Neues erlebt, auf das er mit großer Spannung gewartet hat und nicht weiß, ob es gutgeht oder nicht. Bei einem derartigen Gebäude nach einer Klingel oder Schelle zu suchen, war müßig. Von der Fassade her wehte mir der Odem der Jahrhunderte entgegen. Ich fühlte mich so, als hätte sie eine direkte Botschaft für mich. Die breite Holztür zeigte Schnitzereien. Tief hatten sich die Motive aus der asiatischen Mythologie in das Holz hineingefräst. Die Gesichter und Gestalten der Götter waren mir unbekannt, aber sie wirkten auf mich nicht gefährlich, schreckten nicht ab. Ein Hinweis auf die Funktion dieser Bibliothek. Wer sie beherrschte, hatte nichts Böses im Sinn. Das allerdings konnte sich leicht ändern, wenn sie in falsche Hände geriet. Ich hatte meinen rechten Arm bereits angehoben, um mit der Faust gegen das Holz zu klopfen, als sich die Tür bewegte.
Sic öffnete sich nach innen hin. Ihr Knarren hörte sich an wie eine schräge Musik. Ich sah keinen Menschen, glaubte aber auch nicht daran, daß sie von allein aufgezogen worden war und schaute in eine weite leere Halle hinein, mit einem hölzernen Fußboden versehen, der einen leichten Glanz abgab. In ihm spiegelte sich das Licht aus den Schalen. Es glitt über den Belag hinweg wie ein sanfter Schleier, der sich aus den Farben Rot, Blau, und Gelb zusammensetzte. Im rechten Winkel zur Wand blieb die Tür offen. Noch stand ich vor der Schwelle, hatte Herzklopfen wie ein Teenager vor dem ersten Date, gab mir aber einen Ruck und betrat die Bibliothek des Schicksals. Ich ging den ersten, dann den zweiten Schritt und setzte meinen Fuß jedesmal behutsam auf. Der Boden unter mir bewegte sich, als er durch mein Gewicht belastet wurde. Es war altes Holz und bedeckte den Boden, der auch zur hohen Decke paßte, die ebenfalls in einem dunklen Holz schimmerte. Mein Blick ging in die Höhe. Ich sah die Ornamente, sie sagten mir nichts. Dafür jedoch die weiche Frauenstimme, die aus der Deckung zwischen Tür und Wand hervordrang. »Ich habe dich erwartet, John Sinclair. Willkommen im Haus des Schicksals...« *** Eine Antwort bekam sie nicht. Das Geräusch der zufallenden Tür verfolgte mich. Ich stand da und wartete. Relativ sacht fiel die Tür ins Schloß zurück. Jetzt stand ich endgültig in diesem gewaltigen Haus, in dem die Schicksale unzähliger Menschen wie in einer altertümlichen Datenbank aufbewahrt wurden. Meine Gefühle konnte ich schlecht beschreiben. Spannung, Erwartung, da kam alles zusammen, aber auch Furcht vor dem Blick in die Zukunft, der möglicherweise nicht so ausfallen würde, wie ich es mir gern gewünscht hätte. Ich drehte mich mit angemessenen Bewegungen nach links, denn dort mußte Sira warten. Sie kam auch vor. Sanft waren ihre Schritte, kaum zu hören. Das Gesicht blieb ohne Regung. Noch immer trug sie das lange, weiße Kleid, das in Höhe des Bauches etwas aufgebauscht war, denn dort faltete sich der Stoff zusammen wie eine lasche, in der ein Gegenstand steckte, von dem ich nur mehr ein Drittel seiner Größe sah und deshalb auch nicht erkennen konnte, um was es sich dabei handelte.
»Es war ein langer Weg von London bis hierher«, sprach sie mich mit leiser Stimme an. »Ja, das stimmt.« »Aber du hast ihn gefunden.« »Ist das so ungewöhnlich?« Sie verzog die Lippen. »Menschen, die den Weg finden wollen, die finden ihn auch.« »Ja, ich suche etwas.« »Dein Schicksal?« »Auch das. Aber es gibt andere Gründe, die mich in dieses Haus führten. Mein Freund wird sich in deiner Gewalt befinden, nehme ich an. Dann bin ich der Meinung, daß du dieses Haus widerrechtlich besetzt hältst. Es steht dir nicht zu. Die Weisen und die echten Palmblattleser hast du vertrieben und bist hineingestoßen in ein Gebiet, das für dich nicht offen sein soll.« »Es gehört jetzt mir.« »Das glaube ich dir sogar. Nur hasse ich es, wenn sich jemand etwas widerrechtlich aneignet.« Sie winkte mit der rechten Hand ab. »Dieses Thema ist für dich nicht wichtig. Ich kenne den Totenzauber, ich bin diejenige, die jetzt die Palmblätter hütet. Ich bin die Erbin des Totengottes Jama, der die Menschen in die Welt der Schatten begleitete. Nur durch sein Erbe, seine und jetzt meine Maske habe ich es geschafft, mich zur Hüterin der Palmblattbibliothek aufzuschwingen, und ich werde diese Macht nie mehr abgeben. An keinen anderen auf der Welt.« »Was hast du vor?« »Macht«, erwiderte sie flüsternd. »Hier sind die Schicksale der Menschen aufgezeichnet, die es irgendwann einmal im Leben herzieht. Deshalb kann ich als Hüterin über sie bestimmen. Ich kann ihnen erklären, welche Schicksale sie erwartet. Ich kann aber auch aufhören und nichts sagen. Alles liegt in meiner Hand, und damit ist mir eine große Macht gegeben worden.« »Du willst sie ausnutzen.« »Das sagst du, Sinclair.« »So haben deine Vorgänger nicht gedacht.« »Sie sind weg, verschwunden. Es gibt sie so gut wie nicht mehr. Meine Diener und ich haben die Kontrolle übernommen, und so wird es auch bleiben.« »Da wäre noch ein Problem. Ich bin nicht allein hergekommen, das weißt du.« »Ja, es war der Chinese.« »Wo ist er?« Auf ihrem Mund schimmerte ein Lächeln, das mir persönlich nichtgefiel. Es warkaltund gleichzeitig wissend. »Er ist hier, aber nicht da, wenn du verstehst.« »Du hast ihn gefangen?«
»Nicht mehr. Er wird tot sein. Zuvor jedoch hat er die Bibliothek gesehen.« »War er dort auch vertreten?« »Ja, er war es.« Jetzt lag mir die Frage nach Sukos Zukunft auf den Lippen. Ich stellte sie nicht, weil mich die Antwort der Person irritiert hatte. Ihre Stimme hatte nicht den Klang gehabt, den ich mir gewünscht hätte. Sie war blechern und kühl gewesen. »Ich möchte . . .« »Laß uns gehen. Ich werde dir die Bibliothek zeigen. Du bist doch nicht umsonst hergekommen.« »Das stimmt.« Sie drehte sich um und ging vor. Ich atmete tief durch und zwang mich so zur Ruhe. Was ich eben gehört hatte, war zwar nicht viel gewesen, aber es hatte mir gezeigt, daß Sira allein die Kontrolle über dieses gewaltige Haus besaß. Ihr Totenzauber machte es möglich. Im Schein der brennenden Flüssigkeit sah ich eine Sitzbank, die aus hohen Kissen bestand. Möglicherweise hielten sich hier sonst die Wartenden auf, während die Weisen dabei waren, die Palmblätter zu holen. Eine ungewöhnliche Atmosphäre hielt mich umfangen. Hatte Suko sie ebenfalls so empfunden? Wenn er in der Bibliothek gewesen war, dann mußte er dort in die Falle gelaufen sein, und ich beschloß, sehr auf der Hut zu sein. Sira öffnete eine Flügeltür. Beide Hälften schwangen gemächlich nach außen und gaben den Blick in den Raum frei, auf den es mir einzig und allein ankam. Es war tatsächlich das Herz des Hauses, die Bibliothek, und ich bekam mit, wie Sira nach rechts ging, es plötzlich eine kleine Unterbrechung gab, bevor sie weiterschritt. Ich wollte ihr natürlich folgen, war von dieser gewaltigen Regalwand mit den zahlreichen Fächern abgelenkt und wäre beinahe gegen die Glasscheibe gelaufen, die eine Trennung bildete. Dahinter stand Sira. Sie hatte die Wand ohne Schwierigkeiten durchschreiten können. Lächelnd schaute sie mich nach dem Umdrehen an. Wahrscheinlich wunderte sie sich über meinen Gesichtsausdruck, und sie bewegte die Augen, als sie mir zunickte. »Hier ist das Herz des Hauses!« erklärte sie, wobei ich die Stimme ebenso deutlich vernahm, als würde sie direkt neben mir stehen. Der Klang floß durch die Glaswand. »Darf ich dort nicht hin?« »Nein, es ist mein Revier.« »Warum nicht die Ausnahme?« »Es ist die Regel.« »Die du durchbrochen hast«, sagte ich. »Du hast das Haus in deinen Besitz gebracht. Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um dich zu finden. Du hast gewonnen, das gebe ich zu, aber du solltest mir eine Chance geben und mir zeigen, wo sich mein Palmblatt befindet.
Es muß vorhanden sein, sonst hätte mich das Schicksal nicht hergeführt. Spring über deinen eigenen Schatten. Oder bist du dir so unsicher?« »Nein, niemals.« Ich griff unter meine Jacke und holte die Beretta hervor. »Die werde ich hier zurücklassen, falls es dich beruhigt.« Sira schüttelte den Kopf. »Das ist nicht einmal nötig«, erklärte sie. »Ich fürchte mich vor keiner Kugel.« »Um so besser, dann . ..« »Ja, du kannst gehen!« Urplötzlich hörte ich den Befehl. Er war auch völlig normal, bis auf eine Tatsache. Diesmal war die Stimme hinter mir aufgeklungen. Für mich ein Rätsel, denn Sira stand nach wie vor hinter der Scheibe. Ich drehte mich trotzdem um — und sah sie wieder! Körper — Geist? Ich tippte auf letzteres, denn diese Umrisse waren durchscheinend. Es gab nur eine Erklärung. Sie hatte ihren Astralleib vom eigentlichen Körper lösen können und ihn in meinem Rücken als Schemen aufgebaut. Der zweite Leib kam näher. Ich blieb stehen, denn ich wußte, daß er etwas Bestimmtes vorhatte. Einen Augenblick später glitt der kalte Schauer über meine Hand und das Gelenk hinweg. Das war die Sekunde, die ich nutzte, einfach vorging und eigentlich hätte gegen die harte Wand stoßen müssen, aber für mich war sie ebensowenig vorhanden wie für den Astralleib, der mir diesen Durchschlupf ermöglicht hatte. Kaum hatte ich das Ziel erreicht, war er wieder verschwunden. Vor mir stand Sira. »Du bist der erste, dem ich diese Chance eingeräumt habe. Du wirst aber auch der letzte sein.« »Bist du davon überzeugt?« »Ja, John Sinclair«, flüsterte sie mir zu. »Dein Weg ist hier zu Ende. Das kannst du mir glauben.« »Wie kannst du so sicher sein? Hast du mein Palmenblatt bereits gelesen?« »Nein, aber es wird keine Fortsetzung für dich geben, denn ich habe hier zu bestimmen.« »Da widerspreche ich nicht einmal.« Ich stand jetzt dich vor den Regalen, die auf mich mehr den Eindruck von Schubfächern machten, in die Palmblätter hineingeschoben worden waren. Sie waren sehr dünn, zart, schon filigran, und ich spürte eine instinktive Abneigung davor, sie zu berühren. Wenn das geschah, wäre es leicht möglich gewesen, daß sie zwischen meinen Fingern zerrieben worden wären. Mein Gott, es war für mich unmöglich, die Blätter zu zählen. Sie standen dicht an dicht und füllten jedes Regalfach aus. Wer sich hier zurechtfinden wollte, der mußte einfach eine Ausbildung hinter sich
haben, denn auf den Rändern der Fächer entdeckte ich Schriftzeichen, mit denen ich nichts anzufangen wußte. Es war sicherlich eine uralte und in der heutigen Zeit vergessene Schrift, die nur von Experten zu lesen war. Sira ließ mich in Ruhe schauen und staunen. Nach einigen Minuten — nichts war inzwischen geschehen — senkte sie den Kopf und deutete damit ein Nicken an. »Du kommst allein nicht zurecht?« »So ist es. Ich könnte eine Ewigkeit suchen, ohne auf meinen oder den Namen eines Bekannten zu treffen.« »Da gebe ich dir recht.« »Dann bringe mich dorthin, wo ich das Blatt finde, das für mich bestimmt ist.« »Komm mit.« Sie ging vor. Erst jetzt wurde mir klar, daß diese Regalwand unwahrscheinlich lang war. Wir gingen an ihr vorbei und schritten zudem durch eine ebenfalls ungewöhnliche Luft. Daß hier keine Klimaanlage vorhanden war, stand fest. Dennoch blieb die Luft gleich temperiert, und sie tat gut, wenn ich einatmete. Fach für Fach stand voll. Es gab nicht eine Lücke. Aber die Blätter, braungrün in der Farbe, standen auch nicht so dicht, daß sie zusammenklebten. Winzige Zwischenräume waren schon vorhanden. Man konnte ein Blatt mit spitzen Fingern hervorzupfen. Es war klar, daß es mir in den Händen juckte, aber ich hielt mich zurück, so schweres mir auch fiel. Seltsamerweise spürte ich nicht das Gefühl der Angst. Es war eher ein gewisser Respekt vor der Umgebung, und der Hauch einer ehrfurchtsvollen Gänsehaut rieselte über meinen Rücken hinweg. Hier war ein Jahrtausendwerk vorhanden, von den unendlich weisen Menschen gegründet, immer wieder übergeben, und das durfte einfach nicht zerstört werden oder in fremde Hände gelangen. Es mußte mir einfach gelingen, Sira und deren Totenzauber zu stoppen. Wir gingen und gingen. Vorbei an Jahren, Jahrhunderten und an menschlichen Schicksalen. Sicherlich waren auch die Schicksale der Personen hier vorhanden, von denen ich einige kannte. Danach fragte ich Sira nicht. Ich wollte mein eigenes Blatt lesen und mir von ihr entziffern lassen, wenn eben möglich. Wann endlich blieb sie stehen? Sie hatte ihre Schrittfolge nicht gewechselt und auch das Tempo beibehalten. Sehr gemessen ging sie vor mir her, als hätte sie alle Zeit der Welt, was auch letztendlich stimmte, denn diese Umgebung hier kam mir zugleich zeitlos vor. Hier vereinigten sich die drei für mich faßbaren Dimensionen. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Letztere allerdings mehr als eine abstrakte Größe, mit der ich noch nichts anfangen konnte. Als Sira stehenblieb, wußte ich, daß sich dies ändern würde. Auch ich hielt meinen Schritt an. Sie drehte sich um. Aus ihren dunklen Augen schaute sie mich an. Hinter der Glaswand waren noch immer die Lichter zu sehen, die ihren Schein zudem durchdringen ließen. »Wir sind da, John Sinclair.« »Gut. Und wo?« Da lächelte sie, und ich wußte, daß sie sich mit ihrer Antwort Zeit lassen würde. »Wenn du eine derartige Bibliothek einrichten würdest, gäbe es dann eine Methode, wie du vorgehst?« »Aus meiner Sicht würde ich sie dem Alphabet nach ordnen.« »Das habe ich mir gedacht.« »Dem ist also nicht so?« »Richtig. Es ist nichts nach dem Alphabet geordnet, sondern nach Schicksalen oder Schicksalsgemeinschaften. Es kann durchaus sein, daß in dem Regal, wo ich dein Blatt finde, auch das anderer Personen steht, mit denen du während deines Lebens in Kontakt gekommen bist. Und zwar in einen engen Kontakt.« »Interessant, aber mich interessiert mein Schicksal.« »Das weiß ich. Laß mich trotzdem einen Versuch wagen, um dich zu überzeugen.« »Bitte.« Ich schaute zu, wie sie in ein bestimmtes Fach griff, das in Augenhöhe vor ihr lag. Welches Palmenblatt würde sie hervorholen? Ich war mir plötzlich nicht mehr so sicher, daß es sich um mein eigenes handelte. Den Grund konnte ich nicht sagen. Ein unbestimmtes Gefühl stieg in mir hoch, und auch mein Herzschlag hatte sich wieder beschleunigt. Die Spannung stieg. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte sie den Siedepunkt erreicht, und meine Emotionen kochten über. Es würde aus mir herausdrängen, und ich spürte meinen Magen, wie er sich zusammengeklumpt hatte. Sira bewegte ihre Finger. Hätte nur mehr der Speichel von der Zungenspitze gefehlt, mit dem sie die Kuppen angefeuchtet hätte. Ein Blatt hielt sie fest, hob den Arm etwas an und wedelte mit ihrer >Beute<. Dabei schaute sie mir in die Augen. Ich hatte eine Frage stellen wollen, mußte zuvor schlucken. Plötzlich war mir regelrecht heiß geworden. »Was ist es? Was steht darauf?« Sie schaute, hob die Schultern. Trotz dieser Geste entspannte ich mich nicht. »Suko, der nicht mehr lebt, habe ich vorgelesen, was über ihn geschrieben wurde. Aber ich habe dir auch erklärt, daß die Blätter der
Schicksalsgemeinschaften dicht zusammenstehen. Du hast Pech gehabt, Sinclair. Dein Blatt habe ich nicht gezogen.« »Welches denn?« keuchte ich. Sie hob die verhältnismäßig schmalen Schultern. »Mir sagt der Name nichts, dir bestimmt. Die Person heißt — Nadine Berger...« *** Das war der Genickschlag! Nicht daß ich nach vorn gefallen wäre, trotz des Schwindels, aber ich starrte Sira an, als hätte ich sie zum erstenmal in meinem Leben gesehen, und meine Blicke klebten auch an ihren Lippen, als wollte ich die letzte Antwort als Lüge verdrängen. Man hatte mich schon mit zahlreichen Überraschungen konfrontriert, diese gehörte zur Spitze. Ich wischte über meine Augen und ließ die Handflächen danach über die Wange gleiten. »Du kennst den Namen?« erkundigte sich Sira, die mich beobachtet hatte. Ich nickte nur. »Wer ist sie?« »Sie war eine Freundin, aber sie ist es nicht mehr. Eine andere Macht hat sie an sich gerissen. Sie steht nun auf der falschen Seite.« Ich wollte noch mehr sagen, es hatte keinen Sinn, denn Sira hörte nicht zu, weil sie aus dem Palmenblatt las und mir dabei die Funktion erklärte. So waren auf der einen Seite die Fakten der Vergangenheit notiert und auf der anderen, diejenigen, die noch in der Zukunft lagen. Ich hörte nur mit einem halben Ohr hin, als Sira mir die Fakten vorlas, die sich mit Nadines Vergangenheit beschäftigten. Sie stimmten mit ihrem Leben überein. Zwar verklausuliert erzählt, aber dennoch zutreffend. Wie die Weissagung irgendeines Propheten. Es rann mir mehrmals kalt den Rücken hinab. Schweißperlen, die nicht mehr im Nacken blieben. Als Sira schwieg, schaute sie mich gleichzeitig fragend an. »Hat das Blatt recht?« »Ja, ich kenne Nadine so gut, daß ich es bestätigen kann.« »Sie lügen nie!« flüsterte Sira. »Und was ist mit der anderen Seite?« fragte ich. »Die Zukunft.« »Ich will sie wissen.« Das Licht reichte aus, um die Schrift erkennen zu können, die auf dem Blatt stand. Ich konnte nichts lesen, aber die zweite Seite war sehr engbeschrieben. Für mich ein Beweis, daß Nadine Berger trotz ihres verfluchten Schicksals eine Zukunft besaß.
»Soviel ich daraus erfahren habe, wird sie noch eine Weile leben«, sagte Sira. »Das glaube ich, denn gewisse Wesen sind unsterblich. Es sei denn, man bekämpft sie mit magischen Waffen. Es muß Einzelheiten geben, die sollst du mir sagen.« »Nein, John Sinclair!« Knallhart erwischte mich ihre Antwort. »Das Schicksal hat entschieden!« »Inwiefern?« »Ich will es dir sagen. Ich griff in das Fach, ich hätte auch dein Palmblatt hervorholen können, aber es geschah nicht. Das Schicksal hat es anders gewollt. Deshalb wirst du dich mit dem zufriedengeben müssen, was ich dir sagte.« »Dann gib mir Nadines Blatt!« »Wozu?« »Weil ich . . .« Ihr scharfes Lachen unterbrach mich. Gleichzeitig streckte sie mir ihre leere Hand entgegen, als wollte sie mich verhöhnen. »Es ist aus, Sinclair. Du wirst sterben. Es gibt für dich keine Zukunft. Ich habe auf deiner Karte nicht nachgeschaut, ich .. .« Und plötzlich war ich bei ihr. Wie ein Schatten überwandt ich die Distanz. Ich sah das Erschrecken auf dem porzellanartigen Gesicht, auch die Augen noch größer werden, darum aber kümmerte ich mich nicht, denn mein Griff galt ihrer anderen Hand. Und dann hatte ich das Blatt. Das heißt, nicht alles, denn ich hörte auch das Reißen, als es in der Mitte entzweiging. Ich sprang zurück, bevor sie mir folgen konnte, steckte das Blatt blitzschnell ein und hatte erst dann Zeit, mich um sie zu kümmern. Sira befand sich noch in der Bewegung. Sie hatte sich zu den Regalen hin umgedreht, abermals hineingegriffen und hielt triumphierend ein zweites Palmblatt hoch. »Das ist es, Sinclair. Das ist dein Blatt, das ist dein Schicksal. Aber du wirst es nicht bekommen!« Ich sprang wieder auf sie zu. Was mir einmal gelungen war, konnte ich auch ein zweitesmal schaffen. Ein Griff - und ... Die Hand stieß ins Leere. Das häßlich klingende Lachen umhüllte mich wie aus Lautsprechern dringend. Als ich danebengriff, wußte ich gleichzeitig Bescheid. Sira hatte sich nicht als normale Person vor mir aufgebaut, sie stand dort als ihr eigener Astralleib. Nur so hatte sie es schaffen können, mich reinzulegen. Der Schwung ließ mich torkeln. Über meinen Rücken jagten Blitze der Furcht, ausgelöst von schlimmen Gedanken, die im Kopf explodierten.
Ich durfte sie nicht im Rücken haben, sie besaß Kräfte, über die ich noch nicht informiert war. Mit der Beretta zu kämpfen, hatte keinen Sinn, das glaubte ich Sira gern. Aber es gab eine andere Waffe, das Kreuz, und damit dachte ich nicht an die frühchristlichen Symbole, die sich auf meinen Talisman abzeichneten. Um sie zu täuschen, ließ ich mich fallen, rollte mich herum und hatte genügend Routine, um die Kette mit dem Kreuz daran über den Kopf streifen zu können. Noch zeigte ich es nicht offen, hielt es in meiner Faust und schnellte auf die Beine. Kaum Kontakt, drehte ich mich wieder um. Jetzt stand sie vor mir. Aber sie hatte sich verändert. Ihre Maske, das Erbstück des Totengottes Jama, hatte bisher in der Kleiderfalte gesteckt. Nun hielt sie diesen korkoder blattähnlichen dünnen Gegenstand vor ihr Gesicht, und hinter der Maske vernahm ich eine furchtbare Stimme. Das war nicht mehr ihre, sie glich einem dumpfen Grollen, vermischt mit einem Röcheln, das tief aus der Brust oder Kehle drang. »Jama wird dich ins Jenseits zerren!« versprach sie mir. Dann öffnete ich die Faust, schaute auf mein Kreuz und sprach ein Wort, das sich aus drei Buchstaben zusammensetzte. »AUM!« *** Die heilige Silbe, die dreibuchstabige Einheit, ein mystischer Begriff, das feierlichste Wort Indiens, das nur derjenige sprechen darf, der würdig genug ist. Außer mir hatte ich bisher keinen Menschen kennengelernt, der die heilige Silbe aussprechen durfte, aber auf meinem Kreuz hatte sie ihren Platz gefunden. Ich hatte sie schon des öfteren ausgesprochen und traute mir auch diesmal zu, nicht deswegen getötet zu werden. Sie war zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der mächtigen Götter Agni, Varuna und Marut. Sie deutete damit gleichzeitig die Elemente Feuer, Wasser und Luft an, sie konnte heilen und gleichzeitig brutal zerstören. Hier sollte sie zerstören, ich wollte nicht, daß Sira und ihr Totenzauber noch weiter existierten. Das Kreuz lag nach dem Ausspruch auf meiner Hand. Ich zitterte nicht einmal, mir war nur kalt. Mir wurde aber auch heiß, als ich die Kraft spürte, die durch meinen Körper rann und von der einiges abfloß, meiner Feindin entgegen.
Ich hatte sie auch nicht einfach gesprochen, sondern langgezogen in einem Singsang über die Lippen fließen lassen. Das gehörte zum Ritual, anders hätte ich nichts erreicht, und nur so waren auch die Schwingungen zu verstehen, die von mir ausgingen und die Person vor mir erfaßt hatten. Was geschah? Ich erlebte hinter der Maske die Verwandlung leider nicht mit, dennoch überkam mich die Enttäuschung, weil ich trotz allem zu spät gekommen war. Zehn oder fünf Sekunden früher, dann hätte es vielleicht gereicht. So aber war es Sira gelungen, an das Palmblatt mit den aufgezeichneten, meinem persönlichen Schicksal heranzukommen. Und das verging. , Es begann mit einem puffenden Laut, bevor das Blatt Feuer fing und innerhalb einer Sekunde verkohlt war. Nein, ich konnte und durfte nicht fluchen. Nicht, wo ich die heilige Silbe gesprochen hatte, die dafür sorgte, daß Sira die Herrschaft über die Bibliothek verlor. Ihr rechter Arm sank nach unten und damit auch die Maske. Was ich dabei zu sehen bekam, war einfach grauenhaft. Die Maske, sonst ein Schutz, hatte sich ins Gegenteil verwandelt. Auf ihrem Gesicht war die Haut nicht mehr zu sehen. Als wäre die Maske innen mit Leim beklebt worden, so hatte sie tatsächlich die Haut vom Gesicht der Frau brutal abgerissen. Eine blutige Masse ohne Augen wuchs aus dem Hals. Eine Zunge, die aus einem lippenlosen Mund schlug, denn sie hingen ebenfalls fest. Und das Feuer griff zu. Ob es auch den Astralleib der Sira zerstörte, war mir unbekannt. Jedenfalls schlugen die Flammen von der Hand hoch an ihrem Arm entlang, verbrannte ihn unter knisternden Geräuschen und unter der Abgabe von Qualm, der nach Moder stank. Kein Totengott führte sie weg, kein Dämon war noch in der Lage, ihr zu helfen. Aus, vorbei.. . Ich schaute zu, wie auch ihre letzten Reste zerflackerten und die Asche zusammensank. Sie blieb liegen und vereinigte sich mit der, die einmal mein Schicksalsblatt gewesen war. Die Erfahrung hatte ich verpaßt. Aber in meiner Tasche steckte das Palmblatt, auf dem Nadines weiterer Weg vorgezeichnet war. Möglicherweise kamen wir über sie an den Vampir Mallmann heran. Dieser Gedanke ließ den Optimismus in mir hochflammen, so schlecht war dieser Fall für mich nicht ausgegangen. Und für Suko?
Ich mußte hier raus, ich mußte wissen, wo er steckte, sonst war wirklich alles sinnlos. Mandra Korab sollte mir helfen. So schnell wie möglich jagte ich an der Glaswand entlang auf den Ausgang zu... *** Als in einiger Entfernung vom Haus die Feuer aufflammten, entdeckte Mandra die schattenhafte Gestalt, die auf ihn zuwankte. Im Gegenlicht eines Flammenherdes sah sie aus wie ein Scherenschnitt. »Suko!« Der Ruf des Inders erreichte Sukos Ohren. Er blieb für einen Moment stehen, hörte die Schritte und sah Mandra Korab, wie er auf ihn zurannte. »Was war los? Wo?« »Erzähle ich dir später.« Suko zeigte in die Runde. »Was bedeuten die Feuer?« »Ich habe keine Ahnung.« »Doch!« Eines der Feuer bewegte sich. Sie hörten die dumpfen Geräusche, die gegen den Boden klopften. Und einen Moment später ritt ein Flammenreiter an ihnen vorbei. Es war einer der Yabusame-Krieger, und noch auf dem Pferderücken sitzend zerfiel er zu Asche. »Dann werden die anderen Reiter auch vernichtet worden sein«, sagte der Mann aus Indien. »Und wieso?« »John Sinclair, dein und mein Freund.« Suko schlug mit der Faust in die offene Handfläche. »Dieser Hundesohn«, sagte er, »dieser verdammte Hundesohn.« Aus seiner Stimme aber schwang offener Stolz mit. *** Ich hatte den Ausgang gefunden und meine beiden Freunde den Eingang. So trafen wir zusammen. Daß wir uns in die Arme fielen, war klar. Daß wir uns viel zu erzählen und berichten hatten, stand ebenfalls fest. Dann aber wurde es spannend, als ich über Nadine Bergers Palmblatt sprach. »Ist das der Weg zu ihr und Mallmann?« flüsterte Suko gespannt. »Ich hoffe es. Jedenfalls werden wir versuchen, die alte Schrift zu entziffern.« Ich schaute Mandra dabei an. Der aber hob die Schultern. »John, ich muß dich enttäuschen. Wahrscheinlich kann ich sie nicht lesen.« Suko leuchtete bereits. Ich hielt das Blatt in das Licht. Zwei Drittel waren noch vorhanden.
Wir warteten eine Minute, auch zwei, dann hob Mandra die Schultern. »Es tut mir leid, ich schaffe es nicht. Ich müßte jemand finden, der sich damit auskennt.« »Laß mal gut sein«, sagte ich. »Darum werden wir uns gemeinsam kümmern.« Ich steckte es vorsichtig ein. »Vielleicht ist es auch gut so, daß ich mein Schicksal nicht gelesen habe.« »Richtig!« pflichtete mir Suko bei. »Wie ich dich kenne, wärst du freiwillig vor dir weggelaufen oder wärst in Rente gegangen.« Gut, daß Blicke im Normalfall nicht töten können. Sonst wäre Suko in diesem Augenblick tot umgefallen.
ENDE