KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Simon Bolivar DER
B...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Simon Bolivar DER
BEFREIER
SÜDAMERIKAS
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU
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MÜNCHEN
•
INNSBRUCK
. ÖLTEN
„Wir Südamerikaner sind wie die Blinden durch die Taten, aber unsere Augen und hörten nichts — doch seln werden folgen!"
durch die Jahrhunderte geschritten Farben. Wir waren auf der Bühne der waren verbunden, wir sahen nichts nun sind die Binden gefallen, die Fes"Simon Bolivar
Als Kolumbus auf seinen vier wagemutigen „Indienreisen" von 1492 bis 1504 einen Doppelerdteil von fast fünf zehntausend Kilometer Längenausdehnung entdeckt hatte, begann mit der Inbesitznahme dieses Kontinents das größte Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Spanier, Portugiesen, Franzosen, Engländer, Holländer, Schweden, Dänen und von Sibirien her die Russen machten im Laufe von drei Jahrhunderten Amerika zum Kolonialbesitz Europas. Wo Indianerhäuptlinge oder Priesterkönige geherrscht hatten, führten jetzt Generalkapitäne, Vizekönige, Gouverneure, Statthalter oder Militärbefehlshaber im Namen europäischer Könige und Fürsten das Regiment. Nord- und Südamerika gehorchten den Anweisungen, die von den Regierungen der Länder jenseits des Ozeans ausgegeben wurden. Jßdoch nur selten erwiesen sich die Kolonialmächte Europas ihren amerikanischen Besitzungen gegenüber als wirkliche Mutterländer. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt — im Norden des Doppelkontinents einsetzend — die Lösung aus den jahrhundertelangen Fesseln. Mit der Vnabhängigkeitserklärung von 1783 erkämpft sich Nordamerika seine Freiheit von europäischer Bevormundung. Ein viertel Jahrhundert später erwacht der Freiheitsgedanke auch in Südamerika, das Portugal und Spanien bisher in gewaltigen Kolonialreichen beherrscht haben. Beide Male sind es nicht die Alteinwohner, die Indianer und ihre Nachkommen, die sich gegen Europa erheben, sondern die Nachfahren der aus Europa eingewanderten Weißen. Führer der Freiheitsbewegung und des Freiheitskrieges in den spanischen Kolonien Südamerikas ist Simon Bolivar, Angehöriger einer der vornehmsten Familien der spanischen Kronkolonie Venezuela. Unter den Fahnen, die Bolivar anführt, erzwingt die Freiheitsarmee im Jahre 1813, dem Jahre der Völkerschlacht bei Leipzig, erste große Erfolge. Den Dreißigjährigen feiert das Heer als „Libertador", als Befreier von Spaniens Kolonialherrschaft. Aber den ersten Triumphen folgen schwere Rückschläge. Bolivar sieht sein Unternehmen gescheitert und verläßt das südamerikanische Festland.
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Der Flüchtling auf den Inseln Seit Mai 1815 weilt Simon Bolivar als Flüchtling in der britischen Inselkolonie Jamaika. Ein englisches Kriegsschiff hat ihn nach Kingstone, dem Hauptort der Insel, gebracht. Für den gescheiterten Revolutionär, der am Ende zu sein scheint, bleibt England die letzte Hoffnung. Auf welche Hilfe soll Bolivar auch sonst vertrauen? Nachdem Napoleon, der Gegner Spaniens, niedergeworfen ist, hat der spa~ nische König Ferdinand VII. genügend Truppen frei, um in Südamerika seine alten Rechte wiederherzustellen . . . Simon Bolivar hat in Kingstone ein kleines Zimmer gemietet, seine Hauswirtin ist eine alte Mulattin, die ihm das Leben nicht leicht macht. Zum erstenmal in seinem Dasein geschieht es dem ehemals großen Herrn, daß er Not leidet; denn nach alter Gewohnheit hat er seine Börse bis auf den letzten Duro für seine Freunde geleert. In seinem Äußeren aber bewahrt er Haltung. „Ohne besonderen Luxus zu entfalten, ist er mit Sorgfalt und äußerst sauber gekleidet. Er bleibt Patrizier — im Auftreten wie im Umgang ein Mann der vollendeten Formen und von gewinnendem Wesen . . ." Aber er hat kein Geld mehr, und es treibt ihn zur Verzweiflung, daß er sich von der alten Wirtin ständig mahnen lassen muß. Endlich findet sich ein englischer Kaufmann namens Maxwell Hylop, der ihm — wie ein Gentleman dem anderen — eine Summe anbietet. Bolivar nimmt sie mit Grandezza entgegen. Er beginnt zugleich, für britische Zeitungen zu schreiben, um seine Geldbörse aufzufüllen. Heute — an einem schönen Sommertag — ist er mit seinem Fluchtgefährten Brinceno Mendez durch die staubbedeckten, riesigen Plantagen der Küstenebene geritten, den blauen Bergen und ihren tropischen Zauberwäldern entgegen. Auf einer Hazienda droben auf den palmenbedeckten Hügeln ist Tanz gewesen, und Simon Bolivar hat keine Gelegenheit vorübergehen lassen, sich mit den schönen Damen zu den Rhythmen der Musik zu wiegen. Er nennt den Tanz „die Poesie der Bewegung". Auf dem Rückweg nach Kingstone hat er am Waldrand mit Brinceno Mendez ein paar Gänge mit dem Degen gefochten und ist dann in die armselige Kammer der Mulattin heimgekehrt. Ein Bad
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hat den Abend beschlossen. Nun ist er allein. Er trägt schwarze Seidenhosen mit Kniebuind und weiße Leinenstrümpfe. Eine Weile steht er auf dem winzigen Balkon hoch über der engen Gassenschlucht und dem schmalen Gärtchen, das sich an das Haus anschließt. Er sieht die ersten Sterne glitzern. Die Mondsichel hängt, scharf geschliffen, vor dem tiefblauen Himmel und spiegelt sich fern in dem schimmernden Streif, der vom Karibischen Meer sichtbar ist. Simon Bolivar geht seufzend in sein Zimmer zurück und entzündet ein kümmerliches Talglicht. Als sein Blick zufällig im Spiegel dem eigenen Bild begegnet, tritt er vor die Scheibe, hält das Licht empor und schaut sich selber ins Auge. „Nun, Simon de Bolivar", sagt er zu sich, „Abkömmling uralten Kolonialadels, Sohn von Hidalgos und Hazienderos, Mann, den sein Volk ,Libertador' — Befreier — nennt: Gib dir Rechenschaft! Wo stehst du und wie laufen die Dinge?" Bolivar hat eine hohe, nicht sehr breite Stirn, die schon tief von Falten gefurcht ist. Die Brauen schwingen dicht und schön über den Augen, die lebhaft und durchdringend sind — wahre Spiegel seiner Seele. Die Nase ist lang und gebogen, die Backenknochen vorspringend, die Wangen eingefallen von Strapazen und Entbehrungen. Das Haar ist schwarz und kraus und beginnt schon zu ergrauen . . . Und doch ist Simon Bolivar kaum zweiunddreißigjährig. Aber welch ein Leben liegt hinter ihm, welche Aufgaben stehen ihm noch bevor I In dieser Stunde sucht er Klarheit zu gewinnen, bevor er darangeht, neue Pläne zu schmieden . . .
* Wenn er den Schlußstrich unter das bisher Erreichte zieht, so ergibt sich, daß einzig Argentinien und Paraguay den Freiheitskampf siegreich zu Ende geführt und sich behauptet haben. In Mexiko, Chile, Hochperu (dem späteren Bolivien) und Venezuela ist der Aufstand niedergeschlagen worden, in diesen Ländern haben die Truppen König Ferdinands reinen Tisch gemacht. Simon Bolivar schließt die Augen und sinnt nach. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich sein will, muß er zugeben, daß die Revolution in Südamerika — anders als in den Vereinigten Staaten — 4
nur die Angelegenheit einer dünnen, gebildeten Oberschicht ist, die sich an Europas Ideen geschult und entzündet hat. Es sind die Aufklärer, die Schwärmer und selbstbewußten Großgrundbesitzer, die sich von Europa und von Spanien losreißen wollen. Die Masse des Volkes aber hat kaum etwas gegen die Herrschaft des Königs vorzubringen, der oft genug ihr einziger Beschützer ist. Indios und Negersklaven sind die Lastträger in dieser südamerikanischen Welt, die „Acker- und Minenmaulwürfe", deren Schweiß und Blut sich in die Reichtümer der Großen verwandeln. Diese Ausgebeuteten aber sind primitiv, ohne politische Willensbildung, ohne Programm und ohne Führung. Für sie sind die Spanier die Beamten, Statthalter und Richter, die über die Gesetze wachen, deren einziger Sinn es ist, Übergriffe der Plantagen- und Minenbesitzer, abzuwehren. Warum also sollen sich die Indios oder Neger ausgerechnet gegen ihre einzigen Gönner erheben? Auch mit der Schicht der „Pardos", der Viehhirten in den Savannen, der Handwerker, kleinen Krämer und weißen Kleinbürger der Städte können Simon Bolivar und die Freiheitsbewegung nicht rechnen. Ihnen hat Spanien den Zugang zu den Gemeinderäten und den unteren Offiziersstellen geöffnet, die ihnen die herrschende Kreolenschicht bis dahin hartnäckig verweigert hatte. Reich gewordene Pardos können neuerdings noch weiter aufsteigen und sich vom spanischen Kolonialamt den Titel „ D o n " erkaufen oder gegen Geld Adelsbriefe und höhere Beamtcnstellen erwerben. So ist es also in Südamerika ganz ähnlich, wie es im vorrevolu-' tionären Frankreich gewesen war: Nicht die hungernden Landarbeiter, nicht die ausgebeuteten Bauern, nicht das Proletariat der Großstädte hat die Revolution heraufgeführt, sondern das Großbürgertum, das nach Mitbestimmungsrecht in der Gesetzgebung und bei der Bewilligung der Steuern drängte. In den spanischen Besitzungen Südamerikas sind es fast ausschließlich die reichen Kreolen — die in den Kolonien geborenen Weißen —, die sich von der spanischen Krone lossagen wollen. Diese großen Herren der Landgüter und Bergwerke ertragen es nicht länger, daß sie hinter den in Spanien geborenen höheren Beamten zurückstehen müssen und daß sie kein« Möglichkeit sehen, in die höchsten Kreise aufzusteigen. Dabei kennen sie Europa; denn viele von ihnen haben an 6
europäischen Universitäten studiert, und viele lesen europäische Bücher, Zeitungen und Flugschriften. Allein auf diese Kreolen kann Simon Bolivar bauen, die übrigen Schichten des Volkes müssen erst zur Freiheit erzogen werden. Bolivar streicht sich mit den schmalen Händen, die so ausgezeichnet den Degen zu führen verstehen, über die fahlgelbe Stirn, als verscheuche er die Schatten eines ungewissen Schicksals. Doch dann überkommt ihn wieder Sicherheit und Zuversicht. Er läßt sich an dem kleinen Tisch nieder und breitet ein paar Bogen vor sich aus. Die Rohrfeder raschelt in Eile über das Papier. Er schreibt für seine Londoner Freunde einen „Brief aus Jamaika'' . . . „Das Schicksal Südamerikas hat sich für immer entschieden. Das Band, das uns mit Spanien einigte, ist zerschnitten. Was uns einst verband, trennt uns heute für immer. Der Haß, den uns die Iberische Halbinsel einflößt, ist größer als das Meer, das uns von ihr scheidet. . . Ein Volk, das seine Unabhängigkeit liebt, wird sie am Ende auch erringen . . . Die Freiheit Südamerikas wird die internationale Politik von Grund auf ändern . . . die freien Völker, die sich hier bilden, werden den Anstoß zu einer Gleichgewichtspolitik geben, die den ganzen Erdball u m s p a n n t . . . " Und nun reißen ihn seine Visionen fort. Begeistert beginnt Simon Bolivar in seiner Schrift von einer erst ferne heraufdämmernden Zeit zu sprechen . .. „Es werden Kanäle gebaut werden und so die Entfernungen der Welt verringern. Die Handelsbande Amerikas, Europas und Asiens werden enger geknüpft sein . . . Wie schön wäre es, gewänne einst die Landenge von Panama für uns die Bedeutung, welche die Landenge von Korinth für die Griechen gehabt h a t ! " Kühner und steiler wird Bolivars Gedankenflug .. . „Ach, vielleicht wird eines Tages eine erlauchte Versammlung von Vertretern aller Republiken, Königreiche und Kaiserreiche dieser Welt ihren Sitz in Amerika nehmen, um über die Fragen des Krieges und Friedens Rat zu pflegen. Vielleicht wird einst in Amerika die Hauptstadt der Vereinigten Staaten der W e l t gegründet werden!"
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Schwarze Freunde auf Haiti Aus Cartagena, der stärksten Festung Neu-Granadas, dem Lande, das später in die Staaten Venezuela, Ekuador und Kolumbien aufgegliedert wurde, kommen furchtbare Nachrichten in das Asyl Bolivars. Dort kämpfen noch immer die Aufständischen. Ihre Leiden sind unsäglich, und Bolivar kann nicht helfen, er lebt als Geduldeter, ja fast als Bettler im britischen Bereich von Jamaika. Seine Lage wird untragbar — aber es fehlt an Geld, sie zu ändern. Die Engländer bleiben zwar freundlich, aber sie machen keinerlei Anstalten, die Sache Bolivars zu der ihren zu erklären. In dieser Zeit der Hoffnungslosigkeit trifft im Hafen von Kingstone das aus London zurückkehrende Dreimastenschiff eines Kaufmanns aus Curacao ein. Dieser Mann, Louis Brion, ist begeisterter Patriot und ein Verehrer Bolivars. Das Unerwartete geschieht: Brion stellt dem fast mittellosen Flüchtling sein Vermögen zur Verfügung. Auch die Ladung des Schiffes, englische Gewehre mit Munition, soll für die Sache der Befreiung eingesetzt werden. Bolivar wird wieder zum Krieger. Er schmiedet nicht lange Pläne, sondern drängt zum Handeln. Das Brionsche Schiff geht schon bald wieder unter Segel. An Bord befindet sich auch Simon Bolivar. Der Dreimaster nimmt Kurs auf die bedrängte Stadt Cartagena in Neu-Granada. Aber schon bald nach der Ausfahrt aus Kingstone kreuzt eine Barke mit Flüchtlingen den Meerpfad des großen Seglers. Die Entkommenen berichten, daß Cartagena, diese letzte Festung der Freiheit, gefallen sei. Die Akazienallee zu Cartagena hänge voller Gerichteter, in den Gräben der Forts donnerten die Salven der Erschießungskommandos. Da erkennen Bolivar und Brion, daß sie zu spät kommen werden und kehren um. Auch aus anderen Teilen Neu-Granadas treffen in dieser Zeit Flüchtlingsschiffe vor Kingstone ein. Zuletzt sind etwa 300 flüchtige Freiheitskämpfer in der Stadt versammelt. Bolivar bricht von neuem auf und führt eine kleine Flotte von Jamaika nach der Insel Haiti, zum Hafen Porte au Prince, im Süden des Inselbereichs. Dort blüht seit dem Jahre 1805 eine kleine Mulattenrepublik, die sich unter der Präsidentschaft des Revolutionärs Alexandre
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Befrehingaarmee der Süilamerlkancr besetzt eine Stadt
Petion gebildet hat. Ein vorauslaufendes, schnelleres Boot meldet die Ankunft der Flüchtlinge. Als der Segler Brions in den Hafen einläuft, sind die Häuser beflaggt, eine scharlachrot uniformierte Musikkapelle von Eingeborenen begrüßt Bolivar und die Seinen mit schmetternden Märschen. Am Kai steht Präsident Petion im Staatsfrack. General Petion ist 46 Jahre alt. Man sieht seiner dunklen Hautfarbe, den wulstigen Lippen und dem wolligen Schädel unschwer an, daß er von einer Negerin abstammt. Pe'tion ist in den Freiheitskämpfen gegen die französischen Herren der Insel groß geworden. Zwar untersteht nicht die ganze Insel seiner Regierung. Aber soweit er über sie gebietet, erlebt die Insel freundliche Zeiten, der Präsident ist ein Mensch von Einsicht und gutem Willen. Volksbildung und die Förderung der Wirtschaft sind seine Hauptanliegen. Er sagt: „Zu wahrer Freiheit fortzuschreiten, bedeutet nicht zügellos werden, es setzt Bildung und Erziehung voraus. Freiheit bedeutet nicht, die Dinge treiben zu lassen, wie sie treiben, Freiheit bedeutet immer Erziehung und Formung . . ." Das also ist der Mann, der Simon Bolivar, den Vorkämpfer für die Unabhängigkeit und Freiheit als Freund empfängt.
* Am 2. Januar 1816 gibt Präsident Petion ein Galaessen für seinen Gast. Die Tafel, geschmückt mit dem alten Silber der ehemaligen Plantagenherren, strahlt von Kerzen, und ringsum glitzern die Ordenssterne und Goldepauletten der dunkelhäutigen Offiziere. Simon Bolivar sitzt neben Alexandre Petion, zur Seite haben Brinceno Mendez und Piar, Marino, Bermudez und Brion, alles Mitkämpfer und Freunde des „Libertadors", Platz gefunden. Als das Mahl unter lebhaftem Gespräch zu Ende ist, bittet Präsident Petion seinen Gast Simon Bolivar, aus seiner Vergangenheit zu berichten. Bolivar schließt einige Atemzüge lang die Augen, wie bunte, grelle Blitze fallen die Erinnerungen über ihn her.
* Da ist das Vaterhaus an der Plaza de San Jacinto zu Caracas, der größten Stadt in der Landschaft Venezuela, am Westhang der Ebene von Chacao gelegen. Das breite, vornehme Gebäude, das 10
seine Eltern bewohnt haben, breitet sich mit seinen Baikonen und vergitterten Fenstern an der Frontseite der Plaza de San Jacinto aus. Im Innern ist aller Reichtum und Prunk des Kolonialadels gesammelt. Hier wird Simon Bolivar am 24. Juli 1783, im Freiheitsjahr Nordamerikas, geboren, hier wächst er auf, künftiger Erbe eines Millionenvermögens. In der Erinnerung sieht Bolivar Donna Conception, die elegante, schlanke Mutter, mit ihrer Begleitung über die Kaffee- und Kakaopflanzungen von San Matteo reiten und den arbeitenden Kolonnen der Negersklaven freundliche Worte zurufen; er sieht die abendliche Ansammlung der schwarzen Landarbeiter vor der Freitreppe des Hauses, wie sie von Donna Conception nach ihren Beschwerden und Wünschen gefragt werden. Viele Bilder laufen aus jenen Kindheitstagen durcheinander: Die Patrizierfamilien der Stadt wandeln würdevoll zur hohen Kathedrale, wo der Erzbischof die Messe zelebriert. Mit den Kindern der Nachbarschaft streunt Bolivar durch den alten, prunkvollen Waffensaal und zu den halbdunklen Alkoven, in denen zuweilen die Damen bei Kaffee und Kuchen plaudern, oder durch den von Granatäpfelbäumen beschatteten Pation — den Innenhof mit dem plätschernden Brunnen, zu dessen Füß?n er, Simon, so oft mit dem Hauslehrer Rodriguez gesessen hat. Den würdigen, gelehrten Herrn haben die Hausgenossen nur Rodriguez-Robinson genannt, er hat dem jungen Bolivar so gern von Rousseau erzählt, von der natürlichen Lebensfiorm, die man anstreben müsse, von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, Ideen, die sich in Simon Bolivars Herz verankert und ihn reif gemacht haben für den Gedanken an ein höheres, gerechteres Menschentum. Vorüber ist alles, für immer zerronnen sind die unbeschwerten Jahre von Caracas. Viele der Verwandten und Freunde aus jener Zeit sind tot. Andere Bilder tauchen auf! Von Caracas ist Bolivar nach Madrid gegangen, um die Rechtswissenschaf ten zu studieren. Von dort treibt es ihn auf das Polytechnikum nach Paris, da ihn die Naturwissenschaften bezaubert haben. Dort begegnet er dem großen Gelehrten und Weltreisenden Alexander von Humboldt, der soeben von seiner Amerikareise zurückgekehrt ist und den man wegen 11
seiner ausgedehnten Berichte und Forschungsergebnisse als den „zweiten Entdecker Amerikas" bezeichnet. Zu Humboldt hat der Student Bolivar begeistert davon gesprochen, einst komme der Tag, an dem Südamerika von Europas Herrschaft frei werde. Und Humboldt hat vorsichtig geantwortet: „Es ist möglich, daß die Frucht reif i s t . . . " Es ist das Paris der Kaiserkrönung Napoleons, in dem Bolivar den naturwissenschaftlichen Studien obliegt. Der spanische Gesandte hat auch ihm eine der begehrten Einladungskarten für die Domkirche Notre Dame geschickt, wo die Krönung stattfinden wird — aber er, der junge, revolutionäre Schwärmer hat die Stunden, während Kanonensalven donnerten und Glocken läuteten, zu Hause bei der Lektüre von Rousseaus aufwühlender Gesellschafts- und Menschheitslehre zugebracht. Auf einer Reise, die ihn nach Rom geführt hat, geschieht es, daß Bolivar zusammen mit seinem Lehrer Rodriguez auf einem der heiligen Hügel der Ewigen Stadt mit Tränen der Rührung den feierlichen Schwur ablegt, nicht zu ruhen, bis er sein Vaterland befreit habe. So hat er seine Laufbahn als „Libertador" begonnen . . . in Rom und mit einem Schwur.
* Bis hierher hat Simon Bolivar wie aus einem Traumerlebnis heraus erzählt; er scheint seine Umgebung ganz vergessen zu haben. Jetzt aber, als er auf die Ereignisse der letzten Jahre zu sprechen kommt, strafft sich sein Gesicht. Hellwach sind seine Augen, als er sich seinem Nachbarn, Präsident Petion, zuwendet: „Es war vor zehn Jahren, Euer Exzelenza, Anno 1806 — ich war gerade 23 Jahre alt geworden —, als ich mein gottgegebenes Versprechen einzulösen begann und in meine Heimat Venezuela zurückkehrte. Wieder lag Krieg in der Luft Europas. In Frankreich fand ich kein Schiff mehr, das übers Meer fuhr, und so eilte ich über Holland nach Hamburg. Auch hier waren schon die Truppen Napoleons im Anmarsch, um die Eibmündung zu sperren. Mit der „Sukey" — einem US-Amerikaner — kam ich eben noch aus dem Hafen, ehe der Korse die Stadt besetzte. Das Schiff lief nach Boston. Ich habe New York und Philadelphia besucht. Was für ein großes Volk traf ich dort inmitten von Friede und Freiheit! Ich eilte nach Venezuela weiter und traf glücklich in meiner Heimat12
Stadt ein. Im nächsten Jahre griff England, wie Euer Exzellenza wissen, das mit Napoleon verbündete Spanien auch in seinen Kolonien an. Im Zuge dieser Maßnahmen brachte ein englisches Geschwader eine Freischärlergruppe unter General Miranda nach Venezuela, damit sie hier die Revolution gegen die spanische Kolonialherrschafft entfessele . . . " Bolivar macht eine Pause, während der Präsident ihm zutrinkt. Dann fährt er fort: „Francisco de Miranda — welch ein Mann! Mit siebzehn Jahren war er von Caracas nach Spanien gegangen und Offizier geworden. Er diente als Freiwilliger unter George Washington im Unabhängigkeitskrieg der USA, dann bereiste er die Welt, lebte am Hofe der Zarin Katharina der Großen, wurde Revolutionsgeneral in Frankreich und flüchtete vor dem Zorn Robespierres nach England. Jetzt, in seinem 57. Lebensjahr, kehrte er im Schutze von britischen Schiffen nach Venezuela zurück. Aber das Volk verweigerte ihm die Hilfe, die er begehrte. Es spürte die Han^l Englands hinter Miranda, und so scheiterte dieser Versuch zur Erhebung wider die Spanier. Miranda begab sich wieder nach England, um auf günstigere Zeiten zu warten." Gedankenverloren nimmt Simon Bolivar einen Schluck vom bernsteinfarbigen Wein, bevor er weiterspricht: „Das Jahr 1808, als sich Napoleon mit Spanien .überwarf, den spanischen König absetzte und die Landstände aus Sevilla vertrieb; änderte alles. Am 20. Juli jenes Jahres wurde in London jener Brief geschrieben, den der alte Rebell Miranda an die Stadtväter von Buenos Aires, Quito, Bogota und Caracas richtete und in dem er ihnen das Programm der südamerikanischen Freiheitsbewegung unterbreitete. Der langjährige Kampf zwischen den spanischen Behörden und den freiheitlich denkenden Kreolen begann. Meine Freunde und ich wagten es, in Caracas ganz offen für die Unabhängigkeit des Lamdes zu werben. Die „ J u n t a " , eine neugebildete Regierungsbehörde zu Caracas, schwankte lange zwischen Spanier tum und Unabhängigkeit. Aber wir hatten die kreolische Miliz auf unserer Seite, und als der Gründonnerstag des Jahres 1810 herankam — es war der 19. April —. rotteten wir unsere Leute zusammen, zogen vor das Gebäude der „ J u n t a " und setzten dsn spanischen Statthalter ab. Die Revolution war im Gange. Sie wissen, 13
Exzellenza, daß am 25. Mai des gleichen Jahres auch in Buenos Aires an Stelle der spanischen Behörden eine regierende Versammlung der Einheimischen eingesetzt wurde, und am 20. Juli geschah dasselbe zu Bogota in Neu-Granada. Chile und Mexiko folgten, und bis zum September hatte sich ganz Südamerika, soweit ,es spanisch war, vom Mutterland losgerissen. Das war das Ergebnis .sowohl der Wirren in Europa, wie auch der durch die Engländer betriebenen Propaganda für die südamerikanische Unabhängigkeit. Wir wissen natürlich, warum England tatkräftig auf Seite der revolutionären Südamerikaner stand — nicht etwa aus reiner Menschenfreundlichkeit oder aus Idealismus. Nein! Spanien war nicht nur kurze Zeit Bundesgenosse Napoleons gewesen und mußte darum geschwächt werden, Spanien beanspruchte vor allem auch die alleinigen Rechte für den Handelsverkehr mit seinen Kolonien und versperrte den britischen Geschäftsleuten dsn riesigen Markt Südamerikas. Aber, Exzellenza, ich will Sie nicht mit Einzelheiten jener bewegten Jahre langweilen! Kurz, ich wurde ausgewählt, als Unterhändler der Freiheitsbewegung nach London zu gehen und die Verbindung mit der britischen Regierung herzustellen. Dort, in London, lernte ich auch Miranda persönlich kennen. Miranda verschaffte mir viele wertvolle Verbindungen und führte mich auch in eine Gesellschaft ein, die sich gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel wandte; ich habe ihre Versammlungen oft besucht." Als Bolivar dies sagt, klatschen die Negeroffiziere aus der Umgebung Petions begeistert Beifall, sind sie doch alle noch als Sklaven geboren worden. Dann berichtet Bolivar, wie sich plötzlich die politischen Verhältnisse in Europa und zugleich auch die Verhältnisse in seiner Heimat erneut völlig verändert haben. Seit 1810 sind die Spanier aus Gegnern zu Freunden der Engländer geworden und haben auf britischer Seite den Kampf gegen Napoleon aufgenommen. Es ist für England unmöglich geworden, den Bundesgenossen in seinen Kolonien zu schwächen. Bolivar kehrt unverrichteter Dinge nach Venezuela zurück. Er findet alles in Unruhe und Gärung. Aber der Ruf nach Unabhängigkeit ist nicht mehr zum Verstummen zu bringen. Am Jahrestag der Revolution von 1810 schreibt die Zeitung „Patriot von Venezuela":
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„Ein Jahr geht zu Ende! Daß doch jetzt das erste Jahr wahrer Unabhängigkeit und Freiheit beginnen möge!" Am 1. Juli 1811 verkündet die neue, revolutionäre Jlegierung von Caracas für ganz Südamerika die „Menschenrechte", am 3. Juli wird die „Unabhängigkeit" debattiert, und Simon Bolivar sägt in seiner berühmten Rede: „Legen wir ohne Furcht den Grundstein zur amerikanischen Freiheit. Zögern heißt untergehen!" In der stürmischen Sitzung des 4. Juli — auf den Tag genau 35 Jahre nach d*r Erklärung der Unabhängigkeit der USA — wird die Souveränitätserklärung angenommen. Der neugeborene Staat Venezuela feiert den 14. Juli — den Tag der Erstürmung der Bastille — bereits unter dem neuen gelb-blau-roten Banner, dem „Regenbogen" Venezuelas; jede Farbe stellt ein Grundrecht des Bürgers dar . . . Mit innerster Anteilnahme hört die Tischrunde um Präsident Petion den Bericht Simon Bolivars. Wissen doch die Männer, die um den Präsidenten Haitis versammelt sind, daß Bolivar poch nicht zu Ende ist, daß die Zeit des tragischen Fortgangs der Ereignisse noch aussteht, in deren Verlauf Simon Bolivar aus Venezuela nach Jamaika und von dort nach Haiti geflüchtet ist. Aber schon hat Bolivar wieder das Wort ergriffen und berichtet von den anfangs siegreichen Feldzügen der Aufständischen gegen die spanischen Besatzungen. Doch dann kam das Ende des Krieges in Europa und Napoleons Sturz. Die Truppen Spaniens waren frei für die Kolonien, spanische Generäle landeten. Unter entsetzlichen Schrecken wurde dem Freiheitsbegehren fast in ganz Südamerika ein Ende gesetzt. Der Fall von Cartagena, der Hauptstadt Venezuelas, schien der letzte Akt im Freiheitsdrama der Südamerikaner gewesen zu sein. Die Flagge des spanischen Königs wehte wieder in Caracas, Bogota, Lima, Quito und Mexiko-City!
* '„Alles ist zu Ende!" sagt Simon Bolivar und läßt sich schwer atmend in den Prunksessel nieder, den man ihm zurechtgerückt hat. Präsident Petion legt ihm begütigend die Hand auf die Schulter und meint: „ W i r dürfen nicht verzweifeln, Don Simon! überall liegen die aus den napoleonischen Kriegen übriggebliebenen Waf15
fen- und Munitionsbestände unverkäuflich herum, man wird sie Ihnen mit Kußhand überlassen. Und wir selber, die Republik Haiti, werden Sie unterstützen. Inoffiziell natürlich, denn wir sind klein und müssen uns brav verhalten." „ 0 , ich danke Ihnen, Exzellenza!" ruft Simon Bolivar und drückt Petions Hand. „Sie geben mir wieder Mut, an die edle Gesinnung der Menschen zu glauben. Wir wollen jenes große, vereinigte Amerika schaffen, das, frei und unabhängig, dem Erdkreis einst den Frieden zu bringen in der Lage ist; „denn Europa wird sich selbst zerstören, dann werden nur wir in der Lage sein, die Leere zu füllen. Dann werden die Wissenschaften und Künste, die im Osten entstanden sind und Europa erleuchtet haben, nach dem freien Amerika fliegen, das ihnen «ine Zuflucht anbieten wird!" Die Tafelrunde spendet Beifall. Simon Bolivar hat viele gute Freunde gewonnen. Es sind Schwarze — aber sie wissen, welch hohes Gut sie in der Freiheit begehren und verteidigen. Kampf um Venezuela Haiti wird der Sammelpunkt aller patriotischen Flüchtlinge aus den südamerikanischen Aufstandsgebieten. Zu Hunderten, später zu Tausenden, gibt ihnen Präsident Petion freie Unterkunft und Verpflegung. Er öffnet die Magazine und stiftet Gewehre und Munition. Louis Brion erwirbt auf Kredit einige Schiffe. Immer mehr Vorkämpfer der Freiheit treffen in Porte au Prince auf Haiti ein. In einer Versammlung der führenden Emigranten wird Bolivar abermals als Oberbefehlshaber bestätigt, man beschließt, eine Expedition nach Venezuela auszurüsten und den Befreiungskampf von neuem aufzunehmen. Am 21. März 1816 liegen die Schiffe abfahrtbereit im Hafen. Wieder prunkt Porte au Prince im Flaggenschmuck. Auf den Hauptmasten der Flotte weht in Gelb-Blau-Rot das Regenbogenbanner. Präsident P6tion fährt in einer Kutsche von seinem Palais herunter, kommt auf den Kai und umarmt Bolivar. „Der gute Gott segne Sie!" sagt er zum Abschied. „Er möge mir", erwidert Bolivar, „die Gnade erweisen, Ihrer 16
Ehemnllges Seeräuberfort, später
spanischer
Stützpunkt
Menschlichkeit ein Denkmal setzen zu dürfen. Was in meiner Macht steht, werde ich tun, Ihre Brüder auf dem Kontinent vom Sklavenjoche zu befreien!" P6tion umarmt ihn abermals: „Ich wußte es, daß ich Sie nicht zu bitten brauchte . . ." (nach Fl. Kienzl) Simon Bolivar und seine Getreuen gehen über die Laufplanken, die Musikkapellen der Neger spielen. Die Schiffe werfen los und gleiten langsam der Ausfahrt entgegen. { Auf den schwankenden Schiffsplanken, die Südamerikas künftige Schicksale tragen, fahren schon alle Probleme der erst zu gründenden Staaten mit. Immer sind es die Menschen, die Katastrophen wie Ansteckungskeime in sich bergen. Bei der Versammlung in Haiti ist Bolivar nicht ohne Widerspruch gewählt worden. Der leidenschaftliche und ehrgeizige Bermudez war für die Teilung der Gewalt, der schlaue Marino wühlte versteckt gegen den obersten Führer. Die Wahl des Befehlshabers und der Aufbruch waren erst nach heftigen Streitigkeiten möglich geworden, die nur durch das Eingreifen Petions beigelegt werden konnten. Die Spannungen schwelen fort und kommen sofort zum Ausbruch, als die Expedition eine sehr unglückliche Wendung nimmt. Bolivar versucht an der Nordküste Venezuelas zu landen, um Caracas anzugreifen. Aber die spanischen Stellungen sind zu stark. Zwar stehen im Innern der Gebirge und Wälder noch immer die Freikorps der überlebenden Rebellen bereit. Aber alles mißlingt. Bolivar muß nach der Landung überstürzt aus dem kleinen Hafen Ocumare fliehen. Über den Vorfall, den viele Offiziere ihrem Oberbefehlshaber tödlich verübeln, kommt es zu Meuterei und Rebellion. Vor allem sind es Bermudez und Marino, die sich gegen Bolivars Oberbefehl wenden. Schließlich muß er, gefolgt von wenigen Getreuen und unter Abenteuern nach Haiti zurück. Anden Präsidenten schreibt er: „Wenn man unglücklich ist, hat man immer unrecht. . . Man hat mich tief gedemütigt, aber es ist unmöglich, mich zu brechen .. ." Pe"tion bleibt der selbstlose Freund und leiht Bolivar abermals die Unterstützung beim Aufbau eines neuen Expeditionskorps. Wäh18
rend Louis Brion zum Waffenkauf nach den USA fährt, trifft in Port au Prince eine Abordnung der Revolutionäre aus Venezuela ein und ruft Bolivar in seine Rolle als „Libertador" zurück. Die Meuterer haben ihr Unrecht eingesehen. Am 21. Dezember 1816 geht die Flotte, wieder von Petions Segenswünschen begleitet, in See. Diesmal sstzt Bolivar den Angriff nicht auf die Kernbastion der spanischen Macht, auf Caracas, an, sondern landet weiter östlich, um die weniger stark verteidigte Orinocolinie zu erreichen, wo sich während des Haitiaufenthaltes Bolivars die Freischarführer festgesetzt haben. Der gefürchtetste General auf der spanischen Seite ist gefallen. Inzwischen hat sich auch die weite Savanne des Südens, zwischen Kordillere und Orinoco, die Heimat der wilden, berittenen Viehhirten, gegen Spanien erhoben. Weite Gebiete sind von den Generälen Bermudez und Marino besetzt worden. Der Befreiungskampf nimmt einen guten Fortgang.
* Es sind unvergeßliche Jahre des zähen Ringens, Jahre der Prüfungen, der Rückschläge, Abenteuer und Triumphe! Simon Bolivar und seinen Generälen ist es gelungen, noch vor dem Einsetzen der Regenzeit den Orinoco zu erreichen und die Festuugsstädte Guayana und Angostura zu nehmen. Nun weht der „Regenbogen" über den alten Spanierkastellen am großen Strom. Als ein schmaler Streif begleitet das mühsam gerodete und bestellte Land der Kapuzinerplantagen von Caroni die Ufer. Im Süden ragen die dumpf-feuchten, ewig dampfenden Urwälder jn stockwerkartigen Galerien auf — ein sicherer, undurchdringlicher Wall für die „Indios bravos", die ihre Giftpfeile gegen Spanier wie Rebellen schwirren lassen. Nach Norden zu, wo Morillo, der Spaniergeneral, sich festgesetzt hat, wird das Orinocoland durch einen breiten Gürtel überschwemmter Savanne geschützt. Wie ein silbrig-grünes Meer glänzt das in Sümpfe verwandelte Wiesenland, und wie Inseln erscheinen die Waldstücke mit Mauritiuspalmen, blühenden Bougainvilleas und bizarren Aurakarien über den blinkenden Wassern. Dies Land am Orinoco lebt aus der riesigen Schlagader des flutenden Grabens, den der Strom zwischen Urwald und Sumpf geschaffen hat. Hier allein ist die Straße, die eine sichere Verbindung mit dem Meere und mit der Men19
schenwelt gewährleistet. Wer den Orinoco beherrscht, wird automatisch zum Herrn über die Länder an seinen Gestaden. In die Mündung des Stromes — des einzig noch brauchbaren Kampffeldes, seitdem die Regenzeit die Savanne versumpft hat — läuft Brions Flotte ein. Bolivar läßt Flußboote bauen und kann nun der spanischen Flußflottille die Waage halten. Welch abenteuerlicher Kampf! Bei Nacht ist Bolivar mit einem kleinen Boot, in dem nur einige Freunde sitzen, unter den Kanonen des Felsenforts Guayana vorbeigeschlüpft, um sich mit den Schiffen Brions zu vereinen. Doch die Spanier haben trotz des Dunkels das huschende Schifflein entdeckt und verfolgen es mit wohlbemannten Barken ins Gewirr der Mündungsarme des Orinoco. Unter Mangrovenwurzeln und überhängendem Gebüsch liegen die Männer verborgen, während vor dem Vorhang von Moosbärten und blühenden Zweigen die Spanier mit gespannten Büchsen und aufmerksamen Blicken vorübergleiten. Als die Gefahr nach Stunden der Spannung endlich vorüber ist, ist Bolivar voller Zuversicht über die Zukun|ft: „Ich werde nicht nur Venezuela, sondern auch Kolumbien befreien, danach Ekuador, ich werde nach Peru gehen und den ,Regenbogen' auf den Gipfeln des Chimborazzo aufpflanzen!" Einige Monate nach diesem Vorfall sind die Orinocoforts gefallen — freilich, der Chimborazzo liegt noch in weiter Ferne . . .
* Hier am Strom liegen die Kapuzinermissionen mit ihren von treuen Indios bestellten Plantagen. Friedlich haben die braunen Leutchen bisher gelebt — als Pflüger und Holzfäller, Gerber, Weber, Teppichflechter, Wollspinner und Gärtner. Das Leben in den Laubhütten und im Schatten der alten Holzkirchlein der Missionen stand im Zeichen völliger Gleichheit. Grund und Boden und Ernteerträgnisse waren Gemeindegut. Für die höheren Bedürfnisse der Seele sorgten die Patres. Da nun der Krieg ins Land gekommen ist, läßt Simon Bolivar die Indios als Soldaten einexerzieren, denn es fehlt ihm an Mannschaft. Die Missionsgebiete verfallen; die wohlgefüllten Lagerhäuser in Caroni haben plötzlich die Bedeutung der Hauptnachschubbasis, ja sie werden zur wirtschaftlichen Grundlage des Orinoco-Freistaates.
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Auf Trinidad und Jamaika lagern, von tüchtigen Händlern aufgekauft, Restbestände der militärischen Ausrüstungen aus den napoleonischen Kriegen. Da Europa augenblicklich keinen Markt für Kriegsmaterial besitzt, sind die Geschäftsleute froh, ihre Ware in Südamerika loszuwerden. Die Schiffe Louis Brions nehmen Rinderhäute, Baumwolle, Kaffee und Kakao aus den Lagerhäusern auf und segeln nach Trinidad, wo sie Uniformen, Waffen, Munition, Arzneimittel und Pferde dagegen tauschen.
* Der Regen strömt in gleißenden Schleiern über den großen Fluß. In seinen (blauen Mantel (gehüllt, schaut Simon Bolivar von der Bastion des iahen Forts über die Stadt hin. Angostura wird diese Stadt genannt — das bedeutet Enge; denn hier drängt sich der Orinoco, nur mehr tausend Meter breit, wirbelnd und schäumend durch die Rinne im grauschwarzen Schiefergestein. Auf Schiefer sind auch die Befestigungsanlagen gebaut, aus schwarzem Gestein die Landhäuser und die öffentlichen Gebäude der kleinen Stadt. In ihren besten Zeiten zählte sie fast 10 000 Einwohner. Jetzt aber wäre sie halb verödet, läge nicht Bolivars Heer in ihr. Der Kai ist überschwemmt. Dort, wo sonst der Hafenbetrieb lärmte, plantschen Rudel von Krokodilen im Wasser. Unter den kleinen Baikonen und vergitterten Alkoven der Häuser entlang treibt grünes Brakwasser. Selbst die pappelgesäumte Alameda i— der Korso schönerer Tage — ist überflutet und von Regenschauern verhüllt. Aber es gibt höher gelegene Landhäuser unter gefiederten Palmen und ausladenden Platanen. Dort auf dem abgeernteten Feld, das, von rotbrauner Erde bedeckt, ein einziges Schlammfeld darstellt, versucht der deutsche Oberst Schmidt mit den wenigen Unentwegten zu exerzieren, die zu seinem Appell erschienen sind. Erst kürzlich hat sich der Deutsche bei Bolivar über die mangelnde „Dienstauffassung" beschweren müssen, die der aus Kreolen, Mestizen, Mulatten, Pardos, Indios und Zambos zusammengewürfelten Truppe eigen ist. Oberst Schmidt hat versucht, die Säumigen einzusperren, doch Bolivar hat ihm entsetzt erwidert: „Aber, Oberst! Sie werfen mir ja meine halbe Armee ins Prisonl" „Möge der und jener diese Ausländer holen!" hört man Bolivar 21
klagen. Es ist schwierig, mit Leuten zu arbeiten, die kaum der Landessprache mächtig sind, die keine Ahnung von den Eigenheiten der Bevölkerung haben und dennoch glauben, alles mit europäischer „Überlegenheit" erledigen zu können. Im Dezember sind die ersten sechs Schiffe der Fremdenlegion angekommen. Es sind englische Dragoner und Artilleristen, dann die Hannoveraner Streowitz und Uslar mit ihren Husaren und Schützenbrigaden. Alles Überbleibsel und Arbeitslose aus den Freiheitskriegen gegen Napoleon. Gott sei es geklagt! Sie bringen wahre Operettenuniformen in Scharlach, Resedagrün und Himmelblau mit, alles reich mit Gold und Silber bestickt, nur eben — die Waffen sind dürftig. Täglich gibt es Duelle zwischen den Offizieren, stets sind ein paar dieser Briten, Hannoveraner und Iren bei Simon Bolivar zum Rapport gemeldet; es dreht sich immer um Rangstreitigkeiten, um nicht erfüllte Versprechungen, um fällige Wechsel. Fast jeder dieser Herren ist nach Südamerika gekommen, um Schätze zu heben, oder doch wenigstens, um General zu werden. Und Bolivars Londoner Agent — Lopez Mendez — sehreibt frisch und fröhlich weiterhin Wechsel auf Wechsel aus, zahlbar durch den erst zu gründenden Staat Venezuela. Wie weit aber ist dieser „ S t a a t " bisher gediehen? Simon Bolivar hat, um ihm einen inneren Halt zu geben, einen Staatsrat aus Louis Brion, General Cedeno und dem Haudegen Zea berufen; ein Hoher Gerichtshof steht als zweite Behörde an seiner Seite. Die ausübende Gewalt aber hat sich der Oberbefehlshaber Simon Bolivar selber vorbehalten. Die Staatsbank, die Staatseinnahmen, die Deckung der Wechsel — alles stützt sich auf den Besitz der Kapuzinerplantagen und den Erlös ihrer Produkte. So sehen also die Sorgen des „Jefe supremo", des obersten Staatschefs Simon Bolivar, aus! Sorgen über Sorgen bedrängen ihn in diesem Winter der Vorbereitung und der Rüstung. Er ist nicht einmal seiner Unterführer sicher: die alten Meuterer mit Marino und Bermudez an der Spitze haben einen „Kongreß" gegen Bolivar einberufen, und es ist nur der Torheit des spanischen Generals Morillo zu danken, der diese Versammlung auseinanderjagt, daß die Sache sich nochmals zum Guten lenkt. Doch sieht sich Bolivar gezwungen, den halbblütigen I'iar — einen verdienstvollen Mitstreiter — wegen Verschwörung 22
zu verhaften und erschießen zu lassen. In der Savanne aber steht der schreckliche Paez, der Capitan der Lianeros — ein Mensch voll primitiver Eitelkeit und trotziger Macht —, bei dem man nie gewiß ist, ob er den Befehlen d:s Staatschefs gehorchen oder sich ihnen widersetzen wird. Als das Frühjahr herankommt, läßt Bolivar seine Armee nach Norden marschieren, Jetzt gilt es, Caracas, die Hauptstadt, zu nehmen. Er folgen mühevolle Märsche und Stromfahrten, Gewaltritte. Wilde Gefechte mit Messer, Lanze und Degen rasen über Savanne und Wildnis. Bolivar legt, um die Spanier zu täuschen, auf verschlungenen Pfaden 1600 Kilometer in 32 Tagen zurück und überquert dabei zweimal den gewaltigen Orinoco und seine verästelten Nebenflüsse. Er reitet auf einem Rappen. „Er trägt einen leichten, englischen Dragonerhelm, den ihm einmal ein Kaufmann aus Trinidad als Muster geschickt hat, eine offene blaue Jacke mit roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen, lange blaue Hosen, Sandalen aus Aloefasern. In der Hand hält er eine lange Lanze mit einem schwarzen Wimpel, auf den mit weißer Seide ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen und darunter die Inschrift ! Muerte o Libertad! eingestickt ist. Das einzige, was den Lebensstil des einstigen Pariser Elegants festhält: eine große, korrekt gebundene scbwarzseidene Krawatte .. ." (nach Kienzl) Seine Truppen, zerlumpt und phantastisch bewaffnet, bestehen aus Indios, Weißen und Negern, Mulatten, Zambos und berittenen Lianeros. Unter Führung von Paez, der riesig, mit athletischen Armen und zernarbtem Bulldoggengesicht neben dem zierlichen, kleinen Bolivar trabt, singen diese Soldaten der Freiheit die BolivarHymne: „Gloria! Gloria! Bolivar! Gloria Libertador! Don Ceballos Schrecken Sieger von Araure!" Sie werfen die spanischen Truppen aus den kleinen Städten und Forts der Savanne. Sie jagen die disziplinierten Kernscharen der spanischen Generäle durch den donnernden Anprall ihrer Attacken auseinander und stürmen den Ausläufern der Kordillere entgegen, 23
die waldbedeckt und zerklüftet wie ein natürlicher Wall vor dem Herzland Venezuelas und vor den Pässen liegt, die nach Caracas zur Nordküste führen. Doch am Ausgang der Savanne läßt Paez Halt machen. Hier endet am Rande des Dschungels und der Felsen das Land, in dem der wilde Llanero-Häuptling zu Hause ist. Etwas Fremdes, Unheimliches weht den Reitern der Grasebenen aus den Gebirgen entgegen. Keine Bitte, kein Befehl kann Paez bewegen, den Bannern Bolivars weiter zu folgen. Da marschiert der Befreier mit seiner Armee allein weiter — und allein gerät er in einen Hinterhalt der Spanier. Furchtbar tobt die Schlacht in der Kordillere, dann stiebt die Revolutionsarmee zerschlagen zurück in die Ebenen. Wenn Paez nicht zu Hilfe kommt, ist alles umsonst gewesen.
* Und wirklich: Paez und seine wilden Lianeros wenden das Schicksal der Revolution in der Savannenlandschaft. In den beiden folgenden Jahren gelingt es den vereinigten Bemühungen der Heerführer Bolivar und Paez und des Freiheitsgenerals Santander, so viele Vorteile über die Spanier unter Morillo zu erringen, daß im Februar 1819 der Kongreß von Angostura einberufen werden kann, auf dem Simon Bolivar zum Präsidenten der aus Venezuela, Kolumbien und Ekuador bestehenden Republik Groß-Kolumbien berufen wird. Jedoch wird an diesem Tage bereits über weite Länder verfügt, die noch unter der Kolonialherrschaft der Spanier stehen. Deshalb bricht Bolivar im Mai 1819 auf, überquert in einem phantastischen Marsch mit seinem Heer die Hoch-Kordillere und dringt in den Provinzen Neu-Granada und Ekuador ein. Zwei Jahre später sind die Spanier auch von dort verjagt. Bolivars Feldzug setzt sich nach Nieder- und Hochperu fort, die später unter dem Namen „Bolivien" zu einem eigenen Staatswesen zusammengefaßt werden. Und jetzt erfüllt er auch den Schwur, den er in der Stunde tiefster Verzweiflung getan hat: Er besteigt den höchsten Berg der Äquatorzone, den ewig schneebedeckten Chimborazzo, und pflanzt auf seinem Gipfel das Regenbogen-Banner auf. Auch auf dem übrigen südamerikanischen Kontinent gehen die Kämpfe zu Ende. Im Januar 1826 kapitulieren die auf der Insel Chilo6 eingeschlossenen Spanier, in Peru ergibt sich die Festung 21
Callao, der letzte Stützpunkt Spaniens, den Patrioten. Der Unabhängigkeitskrieg ist vorüber, Südamerika hat seine Freiheit, nachdem auch die portugiesische Kolonie Brasilien sich im Jahre 1822 vom Mutterland Portugal und von Europa getrennt hat. Pläne und Wirklichkeiten Vor den Augen Bolivars erhebt sich ein Zukunftsbild: eine großkolumbianische Republik als Herzstück Südamerikas, als Kernbastion eines südamerikanischen Völkerbundes! Bolivar denkt weit voraus in die Zukunft. Sein Ziel ist die Einheit aller spanischsprechenden Staaten des Kontinents, die als einheitliches Staatsganze zusammenbleiben sollen; denn er ahnt, daß zwischen dem britischen Weltreich, dem russischen Koloß und dem aufstrebenden Bund der Vereinigten Staaten die Zukunft nur noch Raum für Großstaaten haben wird. Weshalb also den Zerfall wählen, wenn die Einheit geschaffen werden kann? Ist nicht jetzt, in der Stunde der Befreiung, der entscheidende, historische Zeitpunkt gekommen, das große Südamerikanische Imperium zu gründen? Aber das sind zunächst nur Gedanken, entstanden im Kopf eines Staatsmannes — die Wirklichkeit dieser Erde sieht anders aus. Unzugängliche Gebirge, unendliche und unerschlossene Urwälder, reißende, wilde Ströme, tropische Sümpfe, unabsehbare Entfernungen, die Weglosigkeit des Landes und der Mangel an gemeinsamen wirtschaftUchen Grundlagen: das sind die Tatsachen, und sie sprechen gegen den Plan Bolivars. Doch der Schwierigkeiten sind noch mehr. Diese primitiven Völker, die ohne vorbereitende Schulung, ohne Erziehung und Erfahrung über Nacht frei geworden sind, müssen erst in das Neue hineinwachsen. Aus dem Umkreis ihrer Menschen eine Beamtenschaft oder eine traditionsgebundene Schicht von Offizieren zu bilden, ist vorerst unmöglich. Die Freiheit, wie sie sie verstehen, ist die Ungebundenheit der Savanne, die Gesetzlosigkeit der Kordillere, des Urwalds und seiner Ströme. Diese Menschen haben Europas Herrschaft nicht abgeworfen, um sich einer anderen, übergeordneten Staatsgewalt zu beugen, deren Träger vielleicht weit entfernt residieren. Schon beginnt die Entzweiung. Die Kämpfe haben einen glühenden Nationalismus in Venezuela, Kolumbien, Ekuador, Bolivien, Peru, Chile und Argen25
tinien auflodern lassen; die Grenzen laufen schon mitten durch den Kontinent, der Wille zur Trennung erwacht bereits in den ehrgeizigen Herzen der Generäle, der Politiker und Vizepräsidenten. Simon Bolivar, der die Unzulänglichkeit der eben befreiten Völker erkennt, sucht der Zerklüftung durch einschränkende Maßnahmen zum Wohle der Verwirrten, Uneinsichtigen und Ungebildeten zu begegnen. Aber eben dieses Streben nach der überragenden Stellung schafft ihm überall Feinde. Studenten, Intellektuelle, Großgrundbesitzer, Generäle stellen sich gegen ihn. Schon in den letzten Tagen des Freiheitskampfes, am 7. Dezember 1824, hat Bolivar ein Rundschreiben an die Regierungen von Mexiko, Guatemala, Argentinien, Chile und Brasilien gerichtet, in dem es heißt: „Nach fünfzehn Jahren der Opfer, die dazu bestimmt waren, die Freiheit Amerikas in einem System der Sicherheit zu gewährleisten, welches in Krieg und Frieden der Schild unseres Schicksals sein möge, ist es an der Zeit, daß die Interessen und Beziehungen, welche die amerikanischen Republiken unter sich verbinden, eine gemeinsame Grundlage erhalten . . ." In seinen Gedanken taucht die Erinnerung an die Konferenz auf der korinthischen Landenge auf, in dar sich im 4. Jahrhundert v. Chr. unter Führung Alexanders des Großen die griechischen Stämme zum Bund vereinigt haben. So lädt er zu einer Konferenz auf einer anderen Landenge ein — der Landenge von Panama. Hier soll die Einheit Amerikas entstehen. Der Augenblick für diese weitgespannten Pläne scheint günsti_ ger zu sein als je. Da auf Spaniens Betreiben die „Heilige Allianz" — jener Bund der alten Mächte Europas unter Metternichs Führung — eben Anstalten macht, durch gemeinsame europäische Anstrengungen die Unabhängigkeit der südamerikanischen Republiken nochmals zu bedrohen, rühren sich nun auch die Engländer, die ein Interesse an dem frei gewordenen Markt in Südamerika haben. Und zugleich meldet sich auch die Stimme der Vereinigten Staaten, die keine Einmischung in inneramerikanische Angelegenheiten mehr dulden wollen. Am 24. Oktober 1823 sehreibt der ehemalige USA-Präsident Thomas Jefferson an den amtierenden Präsidenten James Monroe: 26
„Unser erster und wichtigster Grundsatz sollte es sein, uns nie in den Wirren Europas zu verfangen, unsere zweite: niemals eine Einmischung Europas in die Fragen jenseits des Atlantik zu dulden . . . " Am 2. Dezember 1823 erläßt Präsident James Monroe von Washington aus eine von Staatssekretär John Quincy Adams ausgearbeitete Botschaft — die sogenannte „Monroe-Doktrin": „Es ist ein Grundsatz, den die USA unter allen Umständen hüten werden, daß Nord- und Südamerika . . . hinfort nicht als Gegenstände für künftige Kolonisation durch irgendwelche europäische Macht anzusehen sind - - ." „ W i r sind deshalb den freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den USA und jenen Mächten bestehen, die aufrichtige Erklärung schuldig, daß wir irgendwelchen Versuch von ihrer Seite, ihr Kolonialsystem auf irgendwelche Teile der amerikanischen Halbkugel auszudehnen, als gefährlich für den Frieden und die Sicherheit der USA betrachten würden . . ." Das ist die Warnung einer Großmacht an Europa, künftig die Hände von der Neuen Welt zu lassen. Amerika gehört den Amerikanern. Amerika wird im Norden wie im Süden künftig keine Kolonialherren mehr dulden. Noch einen Schritt weiter will Bolivar gshen, wenn er seinen Traum von der Einheit des Erdteils verkündet: „Die Staaten der Neuen Welt werden sich nach einem gemeinsamen Gesetz zusammenfinden. Keiner soll dem anderen gegenüber stark oder schwach sein . . . Der Bund soll als Schiedsrichter und Vermittler auftreten . . . Wenn eine außeramerikanische Macht oder wenn ein Umsturz ein Mitglied des Bundes bedroht, so werden alle übrigen amerikanischen Staaten dem Angegriffenen zu Hilfe eilen . . . das ist die Ächtung des Krieges 1 Die Unterschiede der Rassengeltung, der Sklavenhandel und die Kolonialherrschaft müssen abgeschafft werden .. . Die Engländer sollen alle Rechte südamerikanischer Bürger erhalten, die Südamerikaner werden sich den britischen Charakter und den englischen Handel zum Vorbild nehmen . . . " 27
In diesen Verheißungen Simon Bolivars sind einige Sätze, die den herrschenden Kreisen in den USA nicht wohl in den Ohren klingen. Ihnen erscheint es nicht an dsr Zeit, das Problem der Sklavenbefreiung in Angriff zu nehmen; sie befürchten Aufstände im Süden der USA. Was würde mit den Plantagenherren von Florida, von Louisiana und Virginien geschehen, würde die Rassentrennung aufgehoben? Auch die Händler, Reeder und Finanzleute der Neu-Englandstaaten im Nordosten der USA haben Bedenken; sie können sich nicht dafür erwärmen, daß Bolivar den Handel Südamerikas in die Hände der Briten zu legsn gedenkt. Die USA wollen die „Monroe-Doktrin" auch auf England ausgedehnt wissen. Als am 22. Juni 1826 die erste all-amerikanische Konferenz im Kapitelsaal eines alten Klosters in Panama zusammentritt, ist sie nur von vier amerikanischen Staaten beschickt — es fehlen vor allem die USA, Brasilien und Chile. Das Ergebnis der Verhandlungen ist lediglich ein Bündnis zwischen Mexiko, Kolumbien, Peru und Guatemala.
* „Groß-Kolumbien wird sich so lange geeint erhalten, wie die Befreier sich um mich scharen!" schreibt Simon Bolivar im Jahre 1824. Dieser aus den Provinzen Venezuela, Kolumbien und Ekuador zusammengezimmerte groß-kolumbianische Staat war durch den gemeinsamen Feind — die Spanier — und unter dem Druck des Bürgerkrieges zusammengehalten worden. Jetzt aber zeigen sich die inneren Schwächen. Die Wirtschaft ist zerrüttet, die Städte und Plantagen sind niedergebrannt, viele Einwohner haben all ihre Habe verloren, Freischarführer, die den Krieg als eine willkommene Gelegenheit für Gewalttat, Plünderung und Raub betrachtet haben, heißen nun „Generäle*, deren Beruf der Bürgerkrieg ist. Andere wieder — wie die großen Generäle Santander und Paez — ertragen es nur schwer, sich dem straffen Zügel des „Libertadors" zu fügen, sie haben höheren Ehrgeiz. Die Jugend, die» die Anfänge des Kampfes nicht mitgemacht hat und die den unendlichen Willen, die Ausdauer, den Mut und die Zähigkeit Bolivars nur vom Hörensagen kennt, sieht in ihm, der von Erziehung und patriarchalischer Leitung träumt, einen zukünftigen Monarchen, einen Diktator und Tyrannen. 28
Schon geht das böse Schlagwort u m : „Freiheit wird es erst geben, wenn der Befreier fälltI" Hochperu, das inzwischen in „Bolivien" umbenannt ist, hat sich gegen den getreuen General Sucre erhoben. Der Krieg steht vor der Türe, in Venezuela gärt es, die Treue des Lianeros Paez wird immer zweifelhafter, und in Bogota — der Hauptstadt Bolivars — wächst die Opposition. Eine Anzahl hoher Militärs um General Santander bereitet den Sturz, ja die Ermordung des „Lihertadors" vor. Bolivar bleibt unbesorgt und schlägt alle Warnungen in den Wind. Bei Festveranstaltungen erscheint er unbewaffnet, sein Regierungspalast wird nur von einer Handvoll Garden bewacht. Für den Abend des 25. September 1828 hat Simon Bolivar seine Bekannte, Manuela, zu sich eingeladen. Es ist der Tag, den die Verschwörer für ihren Anschlag vorgesehen haben. Um Mitternacht überrumpeln Offiziere die kleine Wache am Portal, Hunde schlagen im Innenhof an, in der Halle klirren Waffen. Auch die zweite Wache, die schlaftrunken mit Laternen die Freitreppe herabkommt, wird niedergestoßen. Die Mörder dringen ins Innere des Palastes vor, auf der Estrade tritt ihnen Adjutant Ibarra mit dem Degen entgegen, aber auch er sinkt blutend zu Boden. Es ist die schöne Manuela, die den Lärm gehört hat und zu Bolivar eilt und ihn aufweckt. Er — der allezeit ritterlich denkende Tatmensch — greift nach dem Degen und will auf den Gang hinausstürzen, aber die Freundin zwingt ihn, sich durch das Fenster zu retten. So ist das Nest leer, als die Bande die Türen einschlägt und im Schein der Laternen mit blutigen Degen ins Zimmer fällt. Simon Bolivar flüchtet in die Kasernen, die inzwischen alarmiert worden sind. An der Spitze der Soldaten kehrt er zurück. Zuerst denkt er daran, wie ein wahrer Edelmann zu handeln und schlägt dem Ministerrat vor, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Er bietet seinen Rücktritt an und will nicht einmal die Namen der Aufrührer wissen. Doch seine Partei, die Leute, die mit ihm stehen oder fallen, zwingen ihn, Rache zu nehmen. Es kommt zu schnellen Gerichtssprüchen, zu Erschießungen. General Santander wird zum Tode verurteilt und nach seiner Begnadigung verbannt. Er wird nach dem Tode Bolivars zurückkehren und der Präsident von Kolumbien werden. 20
„Langsam beginnt sich das Land zu beruhigen. Aber Bolivars Herz ist für immer verletzt. Er ist innerlich in jener Nacht des 25. September gestorben . . . " (Larrazabal)
* Auf General Sucre, Bolivars besten Freund und erklärten Nachfolger, verübt ein Soldat einen Mordanschlag. Die Luft, der Hauch der Menschen scheint vergiftet zu sein. Bolivar ist müde und krank, sein chronischer Husten wird gefährlicher. Bleich und ausgemergelt sind seine Züge, die Zeichen baldiger Auflösung stehen in sein Antlitz geschrieben. Als echter Grandseigneur hat er nicht daran gedacht, seine Vermögensverhältnisse sicherzustellen. Nicht einmal für seine in Venezuela durch die Spanier zerstörten Güter, für sein der Freiheit geopfertes Vermögen hat er Ersatz genommen. Stets ist er der selbstlose Diener des Vaterlandes geblieben, der Fackelträger hoher Ideen. Als ein Bittsteller ihn brieflich um Hilfe anfleht, muß er antworten: „Mein lieber Freund, ich wünschte, ich hätte ein großes Vermögen, damit ich jedem Kolumbianer etwas geben könnte. Aber ich besitze nichts mehr. Ich habe nur mehr mein Herz, um sie zu. lieben, und ein Schwert, sie zu verteidigen . . . " Im Herbst 1829 erreicht Simon Bolivar aus Venezuela die Nachricht, daß auch dort der Verrat gesiegt hat. Der Zerfall des Traumstaates „Groß-Kolumbien" setzt sich fort. Der wilde Llanero Paez hat sich mit den Generälen Pena und Soublette zusammengetan und die Trennung des Staates von Groß-Kolumbien sowie die Absetzung des Präsidenten Simon Bolivar verkündet. Wird es zum Bürgerkrieg kommen? Wird dem Kampf gegen Spanien nun die Zerstörung der Heimat durch ihre eigenen Söhne folgen ? „Der Kampf geht um die Befreiung von dem Befreier!" erklärt General Paez. „Wenn Bolivar Krieg haben will, so wird er ihn bekommen, wie ihn die Spanier bekommen haben 1" „Niemals habe ich so gelitten wie jetzt*, schreibt Simon Bolivar. „Ich ersehne den Augenblick herbei, an dem dieses Leben endet. das mir zur Schmach geworden ist." Er entschließt sich, das Opfer seiner Person zu bringen und die 30
Einheit zu retten, indem er seinen Rücktritt erklärt. Am 15. Januar 1830 tritt der Kongreß, dessen Aufgabe es sein soll, Bolivars Erbe zu übernehmen, zu Bogota zusammen. „Noch einmal ist die Hauptstadt festlich geschmückt, aber die Menge wahrt ein trauriges Schweigen; sie hat das Gefühl, dem Begräbnis der Republik beizuwohnen. Als Bolivar erscheint, sind selbst seine Freunde von dem Anblick des Verfalls, den er bietet, bewegt. Er ist bleich, erschöpft, die Augen scheinen erloschen, die Stimme ist kaum zu verstehen, das Profil verkündet mit unabweisbarer Deutlichkeit die nahe Auflösung des Körpers .. ." (Posada Gutierrez) Wie erwartet, legt Simon Bolivar all seine Ämter und Würden in die Hände des Volkes zurück. General Sucre wird zum neuen Präsidenten gewählt. Und Bolivar spricht: „Mitbürger, ich erröte, es auszusprechen: Die Unabhängigkeit ist das einzige Gut, das wir erreicht haben — jedoch auf Kosten aller übrigen . . ." Bevor er die Tribüne der Macht verläßt, erhebt er noch einmal seine Stimme zu früherer Stärke: „Heute habe ich aufgehört, zu regieren! Hört meine letzten Worte! In dem Augenblick, da meine politische Laufbahn endet, bitte ich eueh im Namen Kolumbiens: Bleibt einig — einig, auf daß ihr nicht die Mörder und Henker eures Vaterlandes werdet!"
* Am 8. Mai 1830 verläßt die kleine Reisegesellschaft des gestürzten Staatsführers die Hauptstadt Bogota. Sie muß Seitenwege benützen und die früheste Morgenstunde wählen, weil schreiende Studentenscharen, rebellierendes Militär und Pöbel seit Tagen den Kopf des „Tyrannen" verlangen. Bolivar führt nichts mit sich als ein paar Pferde und Maultiere und sein privates Silbergeschirr, das ihm einen Erlös von 17 000 Pesos einbringt. Mühsam erreicht der traurige Zug die Ufer des Magdalenenstromes, kein Boot wird gefunden, und man fährt stromabwärts, wo man am 25. Mai in Turbaco und bald darauf in der Hafenstadt Cartagena anlangt. Bolivar wartet im Hause von Freunden auf eine Schiffsgelegenheit nach dem englischen Jamaika. Inzwischen lassen die eintreffenden Nachrichten erkennen, daß der Zerfall Groß-Kolumbiens nicht mehr aufzuhalten ist. Die 31
Ebenen von Casanare haben sich schon längst losgesagt. Im Süden hat General Flores die Unabhängigkeit des Staates Ekuador verkündet, Paez herrscht über Venezuela, in Bogota wird am 4. Juni der Nachfolger Bolivars — General Sucre — ermordet. Die Landkarte Südamerikas bedeckt sich mit den bunten Farben von Ehrgeiz, Eigennutz und Machtwahn. Simon Bolivars Zustand verschlimmert sich, die eintreffenden Meldungen nehmen ihm allen Lebensmut. Da sich seine Freunde von einem höher gelegenen Ort Besserung versprechen und in nächster Zeit kein englisches Schiff zu erwarten ist, bringt man den Fiebernden in einer Pferdesänfte nach der Plantage Mier, nahe Santa Marta. Es geht rasch mit ihm zu Ende. Am 11. Dezember diktiert er seinem Neffen Fernando eine letzte Botschaft an das Volk: „Ich begehre keinen weiteren Ruhm als die Festigung der Nation. Ihr müßt alle für das unschätzbare Gut der Einheit arbeiten. Meine letzten Wünsche gelten dem Heil unseres Vaterlandes. Wenn mein Tod dazu beitragen könnte, daß die Parteiungen schwänden und die Einheit wiederhergestellt würde, ginge ich ruhig ins Grab . . ." „Ins G r a b . . . " wiederholt der müde Held und bricht in Tränen aus . . . „das ist es, was mir meine Mitbürger angetan haben!" Sieben Tage liegt er in Fieberschauern. Der französische Arzt an seinem Sterbebett bereitet die Freundo vor, daß menschliche Hilfe vergeblieh sei. Am 17. Dezember 1830 gegen 1 Uhr mittags, als eine weiße, flimmernde Sonne hinter Nebelschleiern steht und Wälder, Berge und Savannen mit einem unwirklichen, fernen Licht übergießt, richtet sich Simon Bolivar noch einmal vom Lager auf: „Bringt mein Gepäck an Bord, ich gehe in S e e . . . I" Dann fällt er zurück. Das Fährschiff zu den Ufern der Ewigkeit legt ab und entschwindet hinter den irdischen Horizonten. . . Uinschlaggestaltwlg: Karlheinz Dobsky Kartenzeichnung: Anton Eckert; Bilder: Ullstein
L u x - L e s e b o g e n 2 2 7 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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