Chad Taylor
Shirker
Roman
»Ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen un...
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Chad Taylor
Shirker
Roman
»Ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen und in den Container gesteckt wurde. Von einem, der ihn aufschlitzen und für immer zum Schweigen bringen wollte.« Wer ist das Opfer? Wie kam es zu diesem Mord? Ellerslie Penrose ist von der Vorstellung besessen, mehr über den Toten zu erfahren. Bei seiner Suche findet er ein Tagebuch, in dem von Ungeheuerlichem die Rede ist. Die ersten Eintragungen liegen weit über 100 Jahre zurück. Allmählich beginnt er das Ausmaß des Bösen zu erahnen, mit dem er es hier zu tun hat ...
Chad Taylor
Shirker Roman Deutsch von Chris Hirte
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Januar 2002
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 2000 Chad Taylor Titel der englischen Originalausgabe: >Shirker< (Canongate Books Ltd., Edinburgh) © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: © Katja Nitsche Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Caslon Adobe 10,5/13,25' (QuarkXPress) Druck und Bindung: Kösel, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-24289-2
Für Debra
To shirk (engl.) : sich entziehen; ausweichen: sich vor etwas drücken
Als ich zur Welt kam, war der Himmel noch groß — im Jahr des Herrn 1865. Damals gehörten die Jahre dem Herrn, und Er gehörte uns. Noch waren nicht alle Planeten entdeckt. Der Neptun war achtundzwanzig Jahre alt, der Mars war neuerdings von Kanälen durchzogen. Die funkelnde Schwärze zwischen den Gaslaternen: euer Himmel ist klein geworden, seiner Weite und seines Geheimnisses beraubt. Blickt ihr zu ihm auf, seht ihr weniger Rätsel. Ich gebe zu, auch ich habe mich verändert. Auch ich bin geschrumpft — vom Helden zur Witzfigur. Für euch bin ich tollkühn und lächerlich; meine Geschichte wird, wenn sie sich vollendet, Kindern und Narren zur Belustigung dienen. Das ficht mich nicht an. Wo die Kinder und die Narren in der neuen Ordnung stehen, ist kaum auszumachen. Mich dünkt, sie säßen euch alle im Nacken. Ihre Wünsche sind ohne Maß. Sie tyrannisieren euch, überschwemmen alles mit ihrem glitzerbunten Spielkram, ihre Musik hämmert in den Wänden. Ich habe eure Gier nach Farben satt: Haut, Haar, Kleider, Häuser, Tapeten, Hüllen — alles ist neuerdings zinnoberrot und von hysterischer Vielfalt. Der ans Bett gefesselte Matisse benutzte ein Zeichenpapier, das so leuchtete, daß die Ärzte um sein Augenlicht fürchteten. Er starb, bevor er erblinden konnte. — Ihr seid es, die eure Sehkraft verloren habt. Ihr seid geblendet von eurer Gier nach glitzernden Dingen. Verzeiht, meine Gedanken schweifen ab. Die Luft der Großstadt hat meinen Geruchssinn zerstört, doch ich rieche noch den Lack und die Möbelpolitur. Meine trüben Augen unterscheiden die feinsten Einzelheiten. Ich habe viel Zeit damit verbracht, alt zu werden, und auf all das verzichtet, was der Jugend unentbehrlich scheint. Daher sind meine Erinnerungen lebendig und klar, wenn sie mich heimsuchen. Ein Nachklang, der wie ein da capo scheint. Ich kam mit einem Pappkoffer und einem Sack voll Banknoten, Münzen, Schmuck an. Alltagsdinge haben sich angesammelt zu einem Besitz, der weit wertvoller ist, als sie einst vermuten ließen. Ich kann kein System darin entdecken. Das eine Jahrzehnt sammelt Porzellan, das andere technische Geräte, dann wieder sind es Plaketten. Wie auch immer: Die Umstände zwingen mich, diese Sammlung fortzusetzen. Ein einsamer Mann umgibt sich mit vielen Dingen, um nicht zu frieren.
Ich glaube, ich habe Hunger. Das Essen ist überfeinert und prätentiös. Niemand kommt. Ich spreche in einen Kasten. In den Wochen, seit ich hier liege, habe ich mich mit dem Ding befreundet. Es bleibt geduldig bei mir am Bett, es ist eine eurer besseren Erfindungen. Wenn er zuhört — und das tut er, sobald ich den Mund aufmache —, schnurrt er leise und läßt ein rotes Lämpchen leuchten. Ich wache im Dunklen auf und stelle ihn auf die Probe: Ich huste oder räuspere mich. Und schon glimmt das Lämpchen. Er ist immer dienstbereit. Die Tage sind sich alle gleich. Eine endlose Wiederkehr von Kissen, Plastikbechern, steifen Bewegungen, Schmerzen. Einer wie der andere.
1
Der jüngere der zwei Polizisten bückte sich und zog mir die Uhr vom leblosen Handgelenk. Er hielt sie in die Höhe und las ab, wann sie stehengeblieben war. »Fünf Uhr fünfzehn«, sagte er. »Schätze, da hat es ihn erwischt.« Die weit verstreuten Glassplitter zeugten davon, mit welcher Wucht meine achtzig Kilo durchs oberste Fenster gekracht und auf der Straße aufgeschlagen waren. »Wie soll man das nennen?« fragte er seinen Kollegen, steckte meine Uhr in einen Plastikbeutel und versenkte ihn in seiner Tasche. »Zeit des Aufpralls oder so ähnlich?« Er blickte auf meine Füße. »Schöne Schuhe«, sagte er. Darauf reduziert sich nun ein Leben, nach etwas über dreißig Jahren. Mit schönen Schuhen fängt es an, mit schönen Schuhen hört es auf. Die Schritte, die ich in ihnen gemacht habe, die Orte, die ich mit ihnen betreten habe. Ich könnte alles auf ein Paar brauner Halbschuhe mit Lochmuster schieben, ziemlich schlicht und dank dem Hotel mit neuen Schnürsenkeln versehen. Zweimal neu besohlt, die Spitzen mit Halbmonden aus Stahl versehen. Ein Mann namens Bob Cleft hat sie für mich gemacht. Ich hatte mir immer geschworen, irgendwann nur noch handgemachte Schuhe zu kaufen — nach den gräßlichen Dingern, die ich als Kind tragen mußte. Die Abgelatschten von den großen Brüdern. Sie passen nie. Sie verderben dir den Gang. Bobs Werkstatt habe ich in einer der Nebengassen gefunden, die sich durch die Altstadt zogen. Aber das ist lange her, lange bevor sie anfingen, das ganze Zentrum von Auckland abzureißen und leere Glastürme hinzupflanzen. Die feuchte Straße mit den bemoosten Steinmauern erinnerte an das Gefängnis und die Richtstätte, die sich dort lange vor meiner Zeit befunden hatten. Bobs Ladentür war massiv und mit Blech beschlagen, drinnen roch es nach Sägemehl und Maschinenöl. Auf der Werkbank aus schmutzigweißem Kiefernholz stapelten sich Lederflicken und Schnittformen aus Pappe. In der hinteren Werkstatt stand eine schwarze Nähmaschine, die Trennwand aus nikotingefärbten Regalen steckte voller Holzfüße, der
Hinterlassenschaft der Kunden aus vielen Jahren. Manche Paare waren in alte Lappen gewickelt, andere mit morschem Isolierband zusammengeklebt, Kinderfüße steckten in vergilbtem Zeitungspapier. Andere lagen lose da, bedeckt von Sägemehl und Lederresten. Bob trug eine Halbrahmenbrille mit dicken Bifokalgläsern. Wenn er sich konzentrierte, spitzte er den Mund mit der feuchten Selbstgedrehten darin. Ich solle die Socken anbehalten und mich auf den Hocker setzen, sagte er. Dann kniete er sich hin, stellte meinen Fuß auf seine Lederschürze und nahm mit dem Maßband fünf oder sechs verschiedene Maße ab. Er schrieb die Zahlen mit einem Zimmermannsstift auf eine blau linierte Karteikarte. Nach einer Woche sollte ich wiederkommen. Bis dahin hatte er meine Füße aus Holz gemacht. Sie standen auf der Werkbank. Mein Name war mit Wachsstift auf das frische Holz geschrieben. Als die Schuhe fertig waren, landeten die Füße im Regal und streckten die Sohlen dem trüben Lampenlicht entgegen. Bei der ersten Anprobe goß er sich und mir Tee aus einer geblümten Aluminiumkanne ein, während ich die halbfertigen Schuhe anzog. Ich nahm Aufstellung, er setzte die Tasse auf dem Fenstersims ab, bückte sich und malte Kreidemarkierungen aufs Leder. Dann mußte ich sie wieder ausziehen, damit er die Maße überprüfen konnte, wozu er jeden Schuh mit spitzen Fingern in die Höhe hielt. Schließlich sagte er abrupt: »Ich rufe an, wenn sie fertig sind.« Ich mußte ein weiteres Mal kommen, zu einer weiteren Tasse Tee. Jedes Paar Schuhe brachte zwei Anproben mit sich, zwei Tassen Tee, zwei Makronen vom dargebotenen Teller. Seine Stimme habe ich noch im Ohr – im Hintergrund der vom Nieselregen gedämpfte Verkehrslärm; der untere Teil der Scheibe war vom Dampf der Teetasse beschlagen. Heutzutage kümmern sich die Leute nicht mehr um ihre Schuhe, sagte er gern. Oder: Früher haben wir von den Fußballschuhen die Stollen abgeschraubt und sind mit den Schuhen zur Arbeit gegangen; ich hatte mal eine Box mit einem perfekten Objektiv; Autofahren habe ich mit vierzehn gelernt. Das erste Paar, das ich bei ihm machen ließ, waren schwarze Schuhe mit Schnallen. Er hatte sie mit einer speziellen Zwischensohle verstärkt und mit feinem Leder gefüttert. Die Schuhe, die ich im Moment trage, sind aus braunem Boxkalf mit verstärkten Ösen. Für ein zweites Paar hat er grünes Wildleder genommen, und in beide Paare sowie in die schwarzen
Boxkalf-Halbstiefel hat er Stahlkappen eingesetzt, aber nicht aus militanten Gründen. Die Kappen dienen dazu, daß die Spitzen ihre Form bewahren. Bei der letzten Anprobe schnürte ich dann die Schuhe richtig zu und drehte den Fuß bewundernd hin und her, während Bob daneben stand. Ich erhob mich und spürte, wie sich die Sohle gegen mein Fußgewölbe preßte, wie sich meine Ferse ins Lederfutter schmiegte. Meine korrigierte Haltung brachte alte Schäden an den Tag, ich konnte einen leichten Schmerz in den Schultern lokalisieren, ein Knirschen im Kreuz. Ich ging auf und ab und genoß die Festigkeit meiner Schritte. Ich fühlte mich wieder sicher. Bob trank seinen Tee aus und schüttelte die Teeblätter, die im Tassengrund zurückgeblieben waren. »Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte er. Das war das Signal, daß ich bezahlen und verschwinden sollte. Ich zahlte bar, fünfhundert Dollar pro Paar. Er verdiente nicht schlecht. Einmal fragte ich ihn nach der Miete. Bob hatte drei Täcks zwischen den Lippen und zuckte nur die Schultern. Mit kreisender Bewegung hämmerte er auf die Sohle ein. Er wußte, daß die Werkstatt wie vieles in der Gegend zum Abriß oder zumindest für eine grundlegende Sanierung vorgesehen war. Vielleicht hatte ich, wenn ich ihm das Bündel Scheine reichte, jeden Auftrag unbewußt als den letzten betrachtet. Jedenfalls hätte ich nicht so überrascht sein dürfen, als ich eines Tages zur Werkstatt kam und das Schild GESCHLOSSEN vorfand. Ich drückte das Gesicht an die Scheibe. Die Räume waren leer. Die Werkbank lag auf dem Rücken und streckte die Beine in die Luft, die abgeräumten Fußformen hatten Lücken im Staub der leeren Regale hinterlassen. Ich stand auf der Eingangsstufe und tat überrumpelt, aber natürlich hatte ich es kommen sehen. Bei jedem Besuch waren die Straßen verstopfter gewesen, die Läden der Umgebung verschwanden allmählich, hier ein schlechtgehendes Restaurant, dort ein ungenutzter Parkplatz. Ich wußte, daß irgendwann auch ihn der Strudel erfassen würde. Seitdem habe ich mir Hunderte von Straßen in seinen Schuhen erwandert. Ich bin Yards und Meter, Meilen und Kilometer gelaufen, habe damit im Regen gestanden, das Gaspedal heruntergedrückt und trotz bester Vorsätze gegen Rippen und Schienbeine getreten. Die Schuhe haben ihre Form behalten. Ich habe keine Plattfüße bekommen, mein Rücken tut nicht weh. Ich habe schlechte Zeiten durchgestanden. Und in den
guten Zeiten habe ich sie angezogen und bin mit ihnen losmarschiert. Gute Schuhe machen jeden Schritt zu einem sicheren Schritt. Kinder fallen oft hin, doch der Boden wird immer härter, je älter man wird. Man kommt nicht mehr so leicht auf die Füße. Wie oft ich das erfahren mußte, kann ich nicht zählen. Aber die anderen Dinge behalte ich im Auge. Bob Cleft zum Beispiel. An den denke ich ständig. Ich dachte an ihn, als meine Füße in der Luft strampelten und durch die Turbulenzen meines Sturzes nach oben gerieten. Ich starrte auf meine Schuhe über mir, während ich kopfunter in den Abgrund sauste, mit den Armen ruderte und überlegte, welche Art zu fallen die besten Überlebenschancen bot. Während ich fiel, streckte sich die Stadt nach mir aus, um mich aufzufangen, um mich als ihr Eigentum zu reklamieren. Die Tatsachen meines Lebens zogen an mir vorbei — mit der Gewißheit und Härte des bevorstehenden Aufpralls. Im Fallen sah ich es mit nüchternem Blick. Statt dranzubleiben am Wesentlichen und mich als vielbeschäftigter Mann auf die wirklich wichtigen Aufgaben zu konzentrieren, hatte ich alles schleifen lassen, bis es zu spät war. Erst in meinem letzten Augenblick wurde mir diese Erkenntnis zuteil. Der Fenstersturz dauerte nur Sekunden. Die Kette meiner Fehlentscheidungen — mein eigentlicher Absturz — begann viel früher. An jenem Morgen erwachte ich in dem dunklen Loch neben meinem Büro, das ich als Schlafzimmer bezeichnen möchte. Ich hustete und tastete nach der Uhr. Drei Uhr: Es wurde immer schlimmer. Ich lag noch eine Weile wach, dann stand ich auf und machte mir Tee. Die Tasse in der Hand, schaute ich hinaus in die Nacht. Ich zählte die Autos, die vorbeikamen, die Leute, die am Imbiß stehenblieben. Ich beobachtete die Putzleute im Büroblock gegenüber. Sie fingen im Obergeschoß an und arbeiteten sich allmählich tiefer. Es waren drei: Einer hatte den Wagen mit Besen und Wischmops, zwei gingen mit Säcken voraus. Sie leerten die Papierkörbe und machten das nächste Büro zum Wischen bereit. Der Wischmann war langsamer. Sie trafen sich in einem unteren Stockwerk und aßen ihre Brote an einem Konferenztisch. Sie schwatzten, erzählten sich Witze, tauschten Zeitungsseiten. Jede Nacht zwanzig Stockwerke, mit Schrubbern, Eimern und Stullenpaketen. Die Reinigung schien der eigentliche Arbeitsvorgang zu sein, der sich dort drüben
abspielte. Tagsüber kamen dann die Leute, die alles eindreckten. Normalerweise ist diese Nachtzeit zum Nachdenken ideal. Die Stille fördert den Gedankenfluß, das Telefon schweigt, man kann alles in Ruhe sortieren. Man kann einen ganzen Katalog von Menschen durchblättern, die man nie wiedersehen wird, von Orten, die man nie besuchen wird, man kann von einem Beifall träumen, den man nie erhalten wird. Das zweite Viertel des Zifferblatts kann sehr aufbauend sein. Ich machte noch eine Kanne Tee und schnitt mir ein wenig Blaukäse ab, der krümelnd am Messer klebenblieb. Der Morgen war so still, daß ich ihn nicht kommen hörte. Ich wischte mir gerade die Hände ab, als ich merkte, daß die Dämmerung mich eingeholt hatte. Das Zimmer war in Sepiatöne getaucht. Die Schatten waren lang und dunkel und ohne Kontur, die hellen Kanten wie bronziert. Die Einrichtung hätte von einem anderen stammen können. Die Papiere, die abgeschabten Büromöbel, alles war anders geworden, seit ich das Büro das letzte Mal in Augenschein genommen hatte. Plötzlich erinnerte es an ein Bühnenbild. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, im Kino aufzuwachen, mitten im Film. So habe ich es empfunden. Begünstigt und zugleich behindert durch die Rückschau eines Toten glaube ich auch, daß es wirklich so war. Mit diesem Sonnenaufgang war die Welt eine andere geworden. Ich duschte und zog meinen guten Anzug an. Ich hatte einen frühen Termin bei einem Nadelstreifentyp der Firma Brands. Sie residierte in einem lavendelgetönten Glasturm, und der Nadelstreifentyp wollte von mir wissen, was sie mit ihrem vielen Geld anstellen sollten. Ich handle mit Futures – ein Witz, wenn man es bedenkt. Ich entwerfe Investmentpläne und Ertragskalkulationen, ich bin Anlageberater für die experimentelle Achterbahn des Freihandels, zu der Neuseeland geworden ist. Mit anderen Worten, ich verkaufe Tips und hoffe, daß es die richtigen sind. Intuition ist meine Spezialität, womit sich auch erklärt, warum ich Gespenster in den Ecken lauern sehe, wenn ich diese vergangenen Szenen betrachte. Alles in allem ein öder Job, der mich nicht wirklich beschäftigt, aber meine Zeit in Anspruch nimmt — und das Vertrauen anderer Leute. Kurz vor acht ging ich los. Die City bereitete sich auf die Arbeitswoche vor, tauschte Wochenendgeschichten aus und faßte wieder Tritt. In den Bürofenstern blitzten weiße Hemden zwischen Raumteilern, Gummibäumen und überfüllten Schreibtischen auf. Jede Straßenecke, jede freie Fläche war mit
Werbung für den Mardi Gras zugepflastert. Die große Parade, die in ein paar Tagen stattfinden sollte. Mardi Gras, es lebe der Frühling. Sponsorenfinanzierte TV-Spots baten um Verständnis für Verkehrsstörungen. Blaßblaue Transparente hingen an den Straßenlampen und leuchteten in der Morgensonne. Mardi Gras, Mardi Gras, die große Parade. Alle wollten zur großen Parade. Die Parkplätze waren schon voll, die Fahrer, die vor den Einfahrten auf einen freiwerdenden Platz warteten, hatten die Motoren abgestellt, sich in ihre Zeitungen vergraben, die Fenster geöffnet, den Sitz zurückgeklappt. Sie hörten Radio, starrten in den Plastikhimmel oder glotzten mir nach und fragten sich, ob ich was mit den Polizeiautos von vorhin zu tun hatte. Hatte ich aber nicht. Mir blieb eine Stunde Zeit zum Frühstücken, die wollte ich im Apollo vertrödeln. Das Apollo ist ein winziges Café in Chrom und Edelfurnier, zwei Straßen von Brands entfernt in der Vulcan Lane. Im Sommer stülpte es sein Inneres nach außen, blockierte den Fußgängerverkehr mit Tischen und Stühlen, die Tür wurde von einer Tafel mit der Aufschrift FRÜHSTÜCK — LUNCH — SÄFTE offengehalten. In der Ecke stand ein Spielautomat. Einmal habe ich ihn ausprobiert, zwanzig Cent eingeworfen und mit der kleinen Kanone am unteren Bildrand auf Pucks, Zahlen und Serviettenringe geschossen, die in immer neuen Rudeln auf mich zuflogen — traurig und albern. Vier Leben hatte ich. Keine Minute, und sie waren vorbei. Heute morgen bin ich vielleicht besser, dachte ich. Der Chef des Apollo hieß Lee, er trug eine Hornbrille und ein Tattoo auf der Schulter. Lee war Surfer, und ich fragte mich, was im Sommer aus dem Frühstücksmenü werden sollte. Ich dachte auch an meine Hose und ihren leichten Faltenwurf bei jedem Schritt, ich dachte an den schlechten Geschmack in meinem Mund. Irgend etwas staute sich in mir. Ich hätte es auf den Wechsel der Jahreszeit geschoben, aber die Jahreszeiten wechselten ständig. Man könnte überlegen, ob mich mitten in der Nacht vielleicht eine telepathische Botschaft des Mannes geweckt hatte, auf dessen Leiche ich bald stoßen würde, aber wahrscheinlich handelte es sich wie mit dem Frühling nur um ein zufälliges Zusammentreffen. Dort auf der Straße wußte ich nicht, daß der Mann schon fünf Stunden tot war, ich kannte nicht seinen Namen. Ich wußte nicht einmal, daß es ihn gab, bis ich um die Ecke bog und die Menschenmenge sah.
Das einzige Geräusch waren Schritte, das Jaulen eines vorbeifahrenden Busses und meine wirren Gedanken, die völlig irrelevant waren, wie sich bald herausstellte. Es gab kein Fenster hoch oben, keine vergiftete Schirmspitze oder einen Schuß von irgendwoher. Alles, was ich sah, war die Straße und ein Menschenauflauf. Und das war mein Fehler. Dort, im Angesicht der fremden Leute, die, wie ich erst jetzt begreife, Bescheid wußten, begann mein Sturz.
2 Sie drängten sich am Zugang zur Insurance Alley, einem zwei Meter breiten Durchgang zwischen zwei Bürokomplexen der Shortland Street. Die Mauern zu beiden Seiten waren fensterlos und fünf Stockwerke hoch, Feuerleitern senkten sich im Zickzack bis auf den mit Gerümpel verstellten Asphalt hinab. Nachts war die Einmündung durch die Neonreklame einer Versicherung beleuchtet. Das andere Ende führte auf die Shortland Street, war aber blockiert durch einen großen Bruchglascontainer. Wer den Durchgang nach Dunkelwerden betrat, wurde unsichtbar – ideal für einen Joint vor der Kneipentour oder einen Fünfundzwanzig-Dollar-Quickie. Die Leute, die da jetzt standen, wären weder für das eine noch für das andere zu haben gewesen. Die meisten waren Pendler, sie drängten sich um einen Polizisten, der ihnen mit ausgestreckter Hand etwas erklärte. Der Durchgang selbst war mit einem Plastikband abgesperrt, auf dem in geschwätziger Wiederholung POLIZEISPERRE BETRETEN VERBOTEN stand. Ich blieb stehen und hörte dem Polizisten zu, der monoton wiederholte, daß die Leute an ihre Arbeit gehen sollten oder sonstwohin, wenn sie keine hätten, weil es nichts zu sehen gäbe oder ganz bestimmt nichts, was man gerne sähe. Er hatte denselben starren Ausdruck wie die Autofahrer, die auf einen Parkplatz warteten. Um einen Blick zu erhaschen, schob ich mich zwischen die Leute. Als ich nach unten schaute, sah ich etwas zwischen ihren Füßen: ein schwarzes Viereck. Eine Brieftasche. Ich hob sie auf und schüttelte sie. Sie war feucht. Ich hielt sie in die Höhe und machte mich bemerkbar. »Entschuldigung«, sagte ich, drängte mich zu dem Polizisten durch und streckte ihm die Brieftasche entgegen. »Morgen.« Er lächelte verkniffen und hob das Absperrband mit dem Daumen hoch. Seine Geste kam so automatisch, daß ich schon durch die Sperre war, bevor ich seinen Irrtum bemerkte. »Danke«, sagte ich, und stand in der Insurance Alley. Drüben auf der Shortland Street blinkten die Blaulichter mehrerer Polizeiautos. Sie mußten schon eine Weile dort stehen. Auf dem
Weg durch die Stadt hatte ich sie nicht gehört. Der Polizist zurrte das Absperrband fest und wandte sich wieder der Menge zu. Wenn ich den Irrtum aufklären wollte, mußte ich ihm auf die Schulter tippen und mich vor allen Leuten lächerlich machen. Ich suchte noch nach Worten, da fing er an zu reden. »Spricht sich langsam rum«, sagte er, als wäre es jeden Tag das gleiche. »Wird Zeit, daß ihr ihn wegschafft.« »Wie lange liegt er schon da?« Jetzt blickte er sich um, die Sonne beleuchtete sein Profil. »Seit drei Uhr früh«, sagte er, als würde ihn meine Vergeßlichkeit wundern. »War ein schöner Morgen um drei Uhr früh.« »Da war ich noch nicht auf«, erwiderte er, ohne sich seine Zweifel anmerken zu lassen. »Sie sind doch von der Zentrale, oder?« Jetzt war es am einfachsten, weiterzugehen und vielleicht noch einmal die Brieftasche zu schwenken. Außerdem konnte ich dann sehen, was sich dort tat. Das interessierte mich. »Stimmt«, sagte ich, steckte die Brieftasche ein und ging los. »Danke für die Unterstützung.« Im Durchgang war es kühl, es roch nach Urin und Moder. Der Kontrast zu dem hellen Streifen Morgenhimmel über mir war so stark, daß ich die Hände über die Augen legen mußte, um überhaupt etwas zu sehen, und ich zog automatisch die Ellbogen ein, um die Gestalten nicht zu streifen, die ich nun wie Wachposten in der Dunkelheit stehen sah. Es waren sechs oder sieben Polizisten, vier weitere befanden sich draußen bei den Wagen. Niemand sprach, der Polizeifunk krächzte unbeachtet vor sich hin. Vor und hinter dem Stahlcontainer standen sich zwei Polizisten gegenüber. Als ich näher kam, hörte ich sie reden, blieb stehen und musterte die Wand, als gäbe es dort etwas zu sehen. Sie stritten sich, ob sie den Container öffnen sollten oder nicht. Der Mann im Durchgang schwenkte eine schwarze Stablampe und sagte, nein, so geht das nicht, wir müssen erst auf den Fotografen warten, außerdem ist das städtisches Eigentum. Der Mann auf der Seite der Shortland Street hatte die Hände in die Hüften gestemmt und brüllte etwas von Routine und Polizeibefugnissen. Jedesmal, wenn er einen Befehl gab, widersprach ihm sein Gegenüber stur. Der Polizist auf der Straße schien ranghöher zu sein, aber seine Kollegen im Durchgang hatten offenbar, weil sie die »Drecksarbeit« machten, eine besondere Autorität, die er nicht aushebeln konnte. Der Dialog war
feindselig und lustvoll zugleich, die Männer zogen ihr Ritual genüßlich durch. Sie wollten Zeit schinden, und ich verstand nicht warum, bis ich begriff, daß jeder versuchte, dem anderen die Verantwortung zuzuschieben. Ich ging näher heran. Der Mann vor dem Container sagte, nein, kommt nicht in Frage, nicht ohne schriftliche Weisung. Der Mann hinter dem Container hob genervt die Arme und drehte sich hilfesuchend zu seinen Kollegen auf der Straße um. Der Mann vor dem Container schlug die Stablampe gegen seinen Oberschenkel. Der Container brütete schmierig vor sich hin. Ich nahm das rostige und glitschige Ding in Augenschein. An einer Ecke, auf die das Sonnenlicht fiel, zog sich ein feuchter roter Streifen hinab. Mir wurde etwas mulmig. Das Patt wurde durch ein dumpfes Rumpeln beendet, das näher kam und mit hydraulischem Zischen erstarb. Ich blickte auf und sah, ein wenig schwindlig, einen gelben RecyclingTruck, dessen Fahrer irritiert aus der Kabine schaute. »Endlich«, meinte der Polizist, der mit dem Rücken zu mir stand. Er klatschte sich die Stablampe in die offene Hand wie einen Baseballschläger. »Hoffentlich hat er sein Werkzeug dabei.« »Oder den richtigen Schlüssel«, sagte ich, um den schlechten Geschmack im Hals loszuwerden. »Für das gibt es keinen.« Er richtete die Lampe auf den Deckel. Der Deckel war mit einem mehrfach verknoteten Stromkabel verschlossen. Als ich die Hand ausstreckte, hielt er meinen Arm mit der Taschenlampe zurück. »He, Fingerabdrücke.« Der Polizist auf der Straße rief den Fahrer heraus und erklärte ihm etwas. Der hörte zu und ruckte nervös mit dem Kopf. »Mann, wie lange dauert das denn noch?« fragte der Polizist vor mir. Er ließ die beiden Männer nicht aus den Augen, bis der Fahrer in seine Kabine stieg und mit einem großen blauen Bolzenschneider zurückkam. »Na endlich«, sagte der Polizist, seine Erleichterung pflanzte sich nach hinten fort. Dort tat sich etwas, es näherten sich Schritte. Ich gab mich geschäftig und verschanzte mich hinter dem Irrtum, der mich bis hierher gebracht hatte. Der Fahrer hielt den Bolzenschneider über den Kopf; als er sich durch die schmale Lücke zwischen Hauswand und Container zwängte, zog den Bauch ein und reckte sich auf die Zehenspitzen. Der Polizist drehte sich um. »Okay, zurück jetzt, Jungs.« Aber alles kam näher, um etwas zu sehen. Auch auf der anderen Seite tauchten immer mehr Uniformen auf. Der
Fahrer sah sich das Kabel an, sagte »Kein Problem«, spreizte ächzend die Griffe des Bolzenschneiders und setzte den Papageienschnabel an. »Zurück, sagte ich«, rief der Polizist schon wieder, und ich war der einzige, der gehorchte. Ich stieß gegen einen Mann im dunkelgrauen Anzug, der mir die Hand auf die Schulter legte und mich ein wenig nach unten zog. »Tangiers mein Name«, flüsterte er. »Und ich bin von der Zentrale.« Er drehte mich in seine Blickrichtung und fuhr mit der Zunge an den Zähnen entlang. »Der Kollege hinten sagte, Sie wären von der Zentrale.« »Da hat er sich geirrt«, sagte ich gelassen. Der Papageienschnabel schnappte zu, das Kabel löste sich und fiel zu Boden. Tangiers behielt mich im Griff, schaute aber an mir vorbei. Der Polizist vorm Container versuchte immer noch, die anderen Polizisten zu verscheuchen. Ein Mann im Parka drückte sich vorbei, hockte sich vor das heruntergefallene Kabel und zog Gummihandschuhe über. Ein anderer machte Blitzlichtfotos. Von der Straße her hoben mehrere Polizisten den Deckel. Sie stemmten sich dagegen und schoben, bis der Deckel auf- und dann mit einem Knall nach unten schwenkte. Eine Wolke von Staub und Fliegen wirbelte hoch ins Sonnenlicht, ein süßlicher Gestank machte sich breit. Nach kurzem Zögern blitzte der Fotograf weiter, und alles starrte auf die Zeichen, die mit groben roten Strichen auf die Unterseite des Deckels geschmiert waren — Blut. Der Truckfahrer neigte den Kopf, um sie zu entziffern, aber er wurde weggeschickt. Der Polizist vor mir im Durchgang nahm die Mütze ab und beugte sich über den Rand des Containers. Ruckartig preßte er die Hand vor den Mund und blickte himmelwärts. Als er sich wieder zum Hinsehen zwang, drehte er den Kopf mit gerümpfter Nase nach links, dann nach rechts. Er rieb sich die Augen, trat einen Schritt vom Container zurück, krümmte sich zur Seite und erbrach sich, daß es auf den Asphalt klatschte. Plötzlich löste sich die Spannung, als hätte er stellvertretend für alle anderen die Nerven verloren. Gelassen zerstreute sich die Ansammlung von Polizisten. Es gab keinen Grund zur Eile mehr. Um den Container entwickelte sich Geschäftigkeit. Fotos, Vermessungen, Notizen. Alle, die sich da betätigten, sprachen sich mit Tangiers ab, kamen mit ihren Fragen und Formularen zu ihm, blieben neben mir stehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich wartete; ich wußte, ich konnte ohne seine Erlaubnis nicht weg. Je länger ich wartete, um so mehr würden
sich die Dinge normalisieren, um so weniger würde meine Übertretung ins Gewicht fallen – hoffte ich. Tangiers war entweder sehr vernünftig oder zu beschäftigt. Er hatte meine Schulter losgelassen. Er griff sich beim Zuhören ans Kinn und zielte beim Antworten mit dem Finger wie mit einer Pistole. Ich stand so unauffällig daneben, wie es nur ging. Sir, wir hatten einen anonymen Notruf. Der Mann sagte, wir sollen in den Container schauen. —War das ein Spinner? — Nein, der Mann klang sehr konkret. — Noch was? — Eine Anzeige. Raubüberfall im Park um die Ecke. Täter floh über den angrenzenden Parkplatz. – Wo ist der Polizeibericht? – Wird besorgt, Sir. – Täterbeschreibung? – Nein, Sir. – Verwertbare Hinweise? – Nichts. Wann können wir den rausholen? – Wo steckt der Gerichtsmediziner? – Ist benachrichtigt. Müßte bald hier sein. »Was heißt bald?« Tangiers wurde laut. »Wie lange ist bald?« Keiner antwortete. Ich starrte auf das verschmierte Blut am Containerdeckel. Tangiers folgte meinem Blick. »Wie heißen Sie doch gleich?« fragte er mich. Es war ihm wieder eingefallen. »Ellerslie Penrose«, sagte ich kleinlaut. »Penrose also.« Er zeigte auf den Container. »Haben Sie eine Ahnung, was die Zeichen bedeuten?« Ich zuckte die Schultern. »Nein.« »Kommen mir wie Buchstaben vor. Immer derselbe Buchstabe.« Er zeichnete ihn mit einem schwarzgeränderten Fingernagel in der Luft nach. »Das könnte ein P sein. Was meinen Sie?« Er starrte angestrengt auf die blutigen Lettern. »P wie Penrose.« Dann schob er die Hand in die Hosentasche und musterte mich. »Wäre ein bißchen zu schön, um wahr zu sein, oder?« »Allerdings.« »Also, P — Penrose, wie erklären Sie sich das?« »Vermutlich ...« Ich blickte auf die Blutspur an der Containerkante. »Wenn man's bedenkt, passiert sowieso immer alles mögliche gleichzeitig.« Er wartete. »Das heißt, es ist normal, daß manche Sachen zur gleichen Zeit passieren. Manchmal haben sie miteinander zu tun, manchmal nicht. Da könnte ein Zusammenhang sein, aber nicht unbedingt ein kausaler.« »Sie meinen also, Zufall.«
»Ja.« Ein Polizist mit dicken Gummihandschuhen ließ sein Funkgerät sinken und hob den Daumen. »Wir haben seine Sachen«, sagte er. »Irgendwelche Papiere?« fragte Tangiers. »Die Brieftasche fehlt.« Ich erstarrte. Amtsanmaßung, Unterschlagung von Beweismitteln. Und mein Name fing mit einem verdammten P an. Tangiers' Lippen machten ein schmatzendes Geräusch, als er mich angrinste. »Also«, sagte er. »Wollen wir mal reinschauen?« Ich sagte nichts. »Das gehört zu meinem Job. Wenn Sie mir den abnehmen wollen, müssen Sie ein bißchen besser Bescheid wissen.« »Ich will Ihren Job nicht«, sagte ich und versuchte die Nerven zu behalten. »Geben Sie sich öfter als Polizist aus?« »Ich hab das nicht gesagt. Der Polizist an der Absperrung hat mich aus Versehen durchgelassen. Ich gebe mich nicht als Polizist aus.« Tangiers schob die Unterlippe vor und legte die Stirn in Falten wie ein großer Hund. »Er hat mich durchgelassen, ohne zu fragen, wer ich bin. Ich dachte, der Durchgang ist frei. Ich wollte die Abkürzung nehmen. Eigentlich war ich auf dem Weg zum Frühstück. Ich frühstücke fast jeden Morgen im Apollo. Ich hab keine Ahnung, was hier los ist. Wenn jemand was falsch gemacht hat, dann nicht ich. Einer von Ihren Polizisten war das. Ich kann nichts dafür, wenn er Mist baut.« Wieder das schmatzende Grinsen. »Gucken Sie trotzdem rein.« »Was?« Er wies mit dem Kopf auf den Container. Mit verschlagenem Blick. »Sie müssen ja nicht.« »Ich würde aber gern.« »Und warum?« »Aus Neugier.« Sieh da, sieh da, sagte sein Gesicht. »Sie sind also neugierig.« »Sie wollen mich nur provozieren.« »Wie kommen Sie darauf?« »Das läuft bei mir nicht.« »Verstehe. Sie sind viel schlauer als ich. Und ich glaube ...« Als ich ihn mitten im Satz stehen ließ, wirkte er doch überrascht. Ich ging an den Container, blickte stur geradeaus und
ignorierte den Gestank. Als ich dicht davorstand, wurde es so schlimm, daß mir die Augen tränten. Ich atmete tief durch und inhalierte den Gestank in seiner ganzen Fülle. Scheiße, Pisse, ranziges Öl, faules Fleisch. Schmorgeruch von den Blitzlampen. Schweiß, Nylonjacken, Aftershave. Und dann blickte ich hinein. Es war nicht so schlimm, weil ich nicht auf Anhieb erkannte, was ich da sah. Tausend Einzelheiten ohne eine Ordnung, ein dünner Sonnenstrahl tauchte alles in Licht und Schatten. Aber allmählich, während ich umherblickte — und dabei, wie mir auffiel, die Mimik meines Vorgängers kopierte —, fügten sich die Teile zu einem Ganzen, zu der Botschaft nämlich, daß ich sehen sollte, was da vor mir lag. Wie die Ereignisse des Morgens hatte dieses Etwas nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um für mich erkennbar zu werden. Es war ein nackter Mann, der sich noch immer, obwohl er seit Stunden tot war, Mühe gab, aufrecht zu sitzen. Die Flaschenscherben hatten ihn aufgeschlitzt und ausbluten lassen. Sein Todeskampf hatte die Zahl der Schnittwunden nur vermehrt, bis zum Eintritt des Todes hatte er sich bei lebendigem Leibe gehäutet, Muskeln waren bis auf den blanken Knochen zertrennt, aus seinem rosigen Bauch quollen tiefrote Eingeweide, die Brust-und Schultermuskulatur war übersät mit tiefen, schärfer definierten Einschnitten. Er mußte den Moment erlebt haben, als ihn Erschöpfung und unvorstellbare Schmerzen zum Stillhalten nötigten, aber er hatte um sich geschlagen, bis der Tod eintrat und er in das Bett aus tausend gläsernen Skalpellen sank. Seine Schädeldecke war abgepellt wie eine Orange. Langes graues Haar wucherte aus verbliebenen Hautinseln und gelblichem Fett. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht mit offenem Mund nach oben gerichtet. Die Totenstarre hatte die letzten Zuckungen seiner Muskeln konserviert. Ein Opossum in der Falle beißt sich das gefangene Bein ab. Ein Mensch wird versuchen, aus einem Glascontainer herauszuklettern, selbst wenn er sich dabei immer mehr verletzt. Seine Hände griffen mit nach oben gekehrten Handflächen nach dem Deckel. Um dagegenzudrücken. Um ihn zu beschmieren. Mit dem eigenen Blut. Der Gestank überwältigte mich. Ich taumelte rückwärts wie vorher der Polizist, krümmte mich gegen die Hauswand und sah unter mir sein Erbrochenes. Ich würgte Schleim, spuckte aus und richtete mich wieder auf, entschlossen, die Übelkeit abzuwehren. Mir war schwindlig, ich holte zitternd Luft.
»Mein Gott«, sagte Tangiers, der nun am Container stand. »So ein Schlamassel.« Er bewegte den Kopf hin und her, um den Anblick abzuschütteln. »War es das, was Sie sehen wollten?« Meine Augen tränten. Ich sagte nichts. »Das Schlimmste kommt noch. Der Abtransport. Die Leiche da rausziehen. An Händen und Füßen ...« »Oh, Scheiße!« sagte ich. Alles drehte sich. »Hören Sie auf.« »Ich meine ja nur. So wie Ihnen jetzt geht es mir immer. Jedesmal.« Irgendwer hinter uns überlegte laut, wie man die Leiche am besten bergen konnte. »Aber man muß hinsehen. Jeder muß hinsehen. Es ist immer das gleiche. Keiner will hinsehen, und jeder tut es. Genauso wie Sie. Und wissen Sie, warum? Sie wollen alle Gewißheit. Sie wollen sichergehen, daß der Tote wirklich tot ist und keiner aus Versehen begraben wird. Und sie müssen sichergehen, daß sie es nicht selbst sind.« Ich drehte mich um und atmete wieder durch den Mund. Tangiers wartete geduldig. »Meine Theorie, jedenfalls.« Wieder das Grinsen. »Alles in Ordnung?« »Ja.« »Was wollten Sie hier? Warum sind Sie hierhergekommen?« »Jemand sagte, er ist um drei Uhr gestorben.« »Das ist korrekt. Der Tod ist vermutlich um drei Uhr morgens eingetreten. Aber die Beamten sollen solche Informationen nicht weitergeben.« »Ich bin heute morgen um drei aufgewacht. So als hätte ich irgendwas gehört.« Ich hustete. »Ich war zu weit weg, um was zu hören. Aber Sie wissen, was ich meine.« Er ging nicht darauf ein. »Wohnen Sie hier in der Gegend?« »In der Nähe.« »Sie wohnen also hier irgendwo.« »Im Dilworth Building.« »Das sind ja nur ein paar Minuten.« Ich nickte. »Ecke Fort and Customs Street.« »Und Sie wohnen im Dilworth?« »Dort ist mein Büro. Das Dilworth ist kein Wohnhaus.« »Stimmt. Es ist illegal, in Büros zu wohnen.« Er freute sich. Wieder hatte er mich bei etwas Verbotenem ertappt. Er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Wissen Sie irgend etwas über diesen Vorfall?« Ich spürte die Brieftasche. »Nein.« »Irgendwas gesehen? Irgendwas gehört?« Das Leder klopfte an meine Brust. »Nichts.« Er nickte. »Sie sind nur aus Neugier gekommen.«
»Ja. Weil ich um diese Zeit wach wurde.« Ich nickte auch, aber er sah zur Seite und winkte einen Uniformierten heran. »Nehmen Sie die Personalien auf«, befahl er, ohne den Blick von mir abzuwenden. »So ein Zufall, das mit dem Buchstaben«, sagte er tonlos. »Davon weiß ich nichts«, erwiderte ich. Er schien nicht überzeugt, weder so noch so. Er starrte mich an, bis er abgelenkt wurde. Der Polizist hatte alles notiert und wartete auf weitere Anweisungen. Tangiers nahm die Hände aus den Taschen und knöpfte sein Jackett zu. »Bringen Sie Mr. Penrose auf die Straße«, sagte er und wandte sich ab. »Danke«, rief ich über die Schulter, folgte dem Polizisten zur Absperrung und setzte meinen Weg fort. Mein Frühstück wartete ungegessen im Apollo, mein Termin bei Brands rückte näher. Er war Teil eines Beratervertrags – leichtverdientes Geld, das ich dringend brauchte. Aber ich ließ mein Frühstück sausen und auch den Zehnuhrtermin. Ich ging zwar durch die Lavendelglastüren ins Brands-Gebäude hinein, für den Fall, daß man mir folgte, hing aber nur ein paar Minuten in der Lobby herum und ging nach einem prüfenden Blick wieder auf die Straße hinaus. Der kalte Schweiß brach mir aus, als ich in die Sonne trat.
3
Ich machte mich auf den Rückweg zum Büro und konnte es nicht glauben. So ein wichtiges Beweisstück vom Schauplatz eines Mordes zu entfernen war ein übler Fehler. Daß ich die Brieftasche einfach mitgenommen hatte, war schon Vorsatz, und mit jeder Sekunde, die ich sie behielt, wurde meine Lage ernster. Nach zehn Minuten Fußweg konnte ich mich als Schwerverbrecher betrachten. Was hatte mich dazu getrieben? Ständig lauerte ich auf Schritte, auf Tangiers' Brüllen, auf Megaphone, die meine Schuld hinausschrien. Als ich den Polizeihubschrauber hörte, der langsam über den Häusern kreiste, drehte sich mein Magen mit. Ich blieb unter einer Markise stehen und lief erst weiter, als das Geräusch verebbte – so hastig, daß ich beinahe in einen Lastwagen gerannt wäre. Er lieferte Grünzeug an ein China-Restaurant, Kohl- und Salatblätter fielen von der Ladefläche. Im letzten Moment blieb ich stehen, der Fahrer lächelte und winkte. Ich starrte ihn an und dachte an die steifen, blutigen Hände des Toten. Als der Lastwagen mit dem Heck vorm Eingang stoppte, umrundete ich ihn vorn, ohne auf den Verkehr zu achten. Jetzt war es nur noch eine Ecke bis zum Büro. Das Dilworth hatte sechs Stockwerke und wurde schon seit Ewigkeiten renoviert. Der Wind peitschte die Planen, die das Gerüst bedeckten, zwischen den Lücken blitzte die Flutlinie der Graffiti auf. Das Erdgeschoß war eine düstere, grüngeflieste Arkade, in der sich lediglich zwei Geschäfte befanden – ein Reisebüro, wo sich zwei Kettenraucher einen vergilbten PC teilten, und ein Antiquariat. Die Türen waren frei, niemand lauerte mir auf. War ich erst drinnen, hatte ich nichts mehr zu befürchten. Der Fahrstuhl wartete mit offener Tür. Ich stieg ein, schob das Gitter zu und drückte auf die Nummer sechs. Die Winde kam in Schwung und ersetzte mein Atemgeräusch durch die beruhigende Stille der leeren Flure, die unter mir zurückblieben. Die Zahlen der Stockwerke wanderten auf einem Perlmuttzifferblatt vorbei. Das Dilworth war voller Art-deco-Ornamente. Früher einmal hatte es als Bürohaus einer Wochenschau gedient, in den folgenden Jahrzehnten hatte sich das Geschäftsleben allmählich in die neue City verlagert. Seit Jahren stand der erste Stock leer, der zweite und der dritte waren als Aktenarchiv
vermietet. Hinter den Türen mit den Milchglasscheiben und den geprägten Namenschildern standen nur lange Reihen von feuersicheren Aktenschränken und sammelten Staub. Nach zwei Jahren wußte ich über die Mieter der beiden Stockwerke mehr als sie über mich. Zweiter Stock: Feckle and Minister; Bounce, Doppel, Roman and Lang; Phillips Heat Brangwyn. Dritter Stock: Feckle and Minister (Kommerzielle Transaktionen); Phillips Heat Brangwyn; Brite & Self. Gelegentlich lief man Zeitkräften oder Studentenaushilfen in die Arme, die staunend durch die Korridore liefen und so taten, als hätten sie sich verirrt. Die leeren Räume des vierten und fünften Stocks wurden für Partyzwecke vermietet, wenn an der Universität die Abschlußfeiern stiegen, dann tummelte sich hier das einschlägige Publikum. Aber im sechsten Stock, wo ich meinen Bürositz hatte, traf ich höchstens das verschlafene Teenagerpärchen, das ich Franny und Zooey nannte und das auf der Westseite des Gebäudes wohnte. Der Fahrstuhl blieb ächzend stehen. Ich lauschte einen Moment, dann zog ich das Gitter auf und betrat das Vestibül. Der abgetretene Läufer zog sich den ganzen Korridor entlang und verschwand um eine Ecke. Ich befand mich im Mittelteil des Gebäudes, hoch über der Stadt mit ihrer Vormittagshitze. Der trüb beleuchtete Korridor roch nach Bohnerwachs und Staub. Als ich sicher war, daß mich nichts erwartete, schloß ich den Aufzug und schickte ihn zurück nach unten. Keine Menschenseele. Das Dilworth hatte immer geschlossen, aber heute war es noch stiller als sonst. Meine Bürotür war unversperrt. Bald nach meinem Einzug hatte ich festgestellt, daß sowieso jeder, der wollte, ohne Mühe hineinkam. Ich machte die Tür hinter mir zu, nahm die Brieftasche heraus und ließ sie auf den Schreibtisch plumpsen. Dann zog ich langsam das Jackett aus. Unter den Achseln war es dunkel durchgeschwitzt. Ich hielt die Jacke hoch und atmete durch die Nase. Alles war noch viel zu frisch. Ich drehte den Stuhl um, legte die Arme auf die Rückenlehne und stützte das Kinn auf. Das schwarze, einst körnige Leder war glatt und abgewetzt. An der leichten Verformung sah man, daß der Eigentümer die Brieftasche in der Gesäßtasche getragen hatte. Mit dem Nagel meines kleinen Fingers klappte ich sie auf Sie hatte kein Plastikfenster, der Inhalt war in den Lederfächern verstaut. Ich wischte mir die Hände ab und hob die Brieftasche mit den Fingerspitzen an wie ein sehr empfindliches Fernglas. Dann
drehte ich sie um und schüttelte alles, was sie enthielt, auf den Schreibtisch. Geld war nicht dabei, nur eine drei Tage alte Quittung vom Geldautomaten über hundert Dollar. Fünf Visitenkarten eines Antiquitätenhändlers – Ash Antiquitäten –, die alle frisch und vorzeigbar aussahen, also vermutlich die eigenen des Brieftaschenbesitzers waren. Die Karten einer Polsterwerkstatt, eines Antiquariats, einer Speditionsfirma und eines »Verlagsberaters« waren deutlich abgenutzt. Die Karte des Spediteurs trug zwei Telefonnummern auf der Rückseite. Dann ein zusammengefalteter Zeitungsausschnitt aus dem Annoncenteil, Rubrik Haushaltsauflösungen. »Ein Trödler«, sagte ich laut. »Du bist ein Trödler.« Ich fand eine kleine runde Blechscheibe mit zwei silberfarbenen Strichen und einem Querstrich – ein Schildchen von einem Choke im Auto. Dann das auf Brieftaschengröße zurechtgeschnittene Foto einer schwarzen Katze, die sich unter einen Couchtisch duckte. Ein paar Briefmarken, die linke obere Ecke einer ausländischen Postkarte, einen Sicherheitsschlüssel, ein Lotterielos mit angegrauten Ecken und ein Sammelbild: Star Trek, The Next Generation (Karte 106: Lieutenant Commander Data). Ich nahm mir die Visitenkarten von Ash Antiquitäten vor. Nur Name und Telefonnummer, keine Adresse. Das Choke-Schildchen konnte bedeuten, daß sein Auto auseinanderfiel. Drei Quittungen aus demselben Café im Shopping Center 246 – dort hatte er wohl gefrühstückt, als er noch am Leben war. Ich nahm den Hörer ab und wählte die Nummern auf den anderen Karten. Im Antiquariat kam ein Faxton. Beim Polsterer nahm niemand ab – wahrscheinlich jagte er den Annoncen in der Zweiten Hand nach. Der Verlagsberater reagierte ebenfalls mit einem quiekenden Faxgeräusch, dann meldete sich eine unwirsche Stimme. Ich nahm den Hörer in die andere Hand und wußte nicht, wie ich beginnen sollte. »Hallo«, rief der Mann ein zweites Mal. »Hier Veale.« »Ich rufe im Auftrag von Mr. Ash an«, sagte ich. »Ja?« Jetzt klang er geschäftsmäßiger. Ich leerte meine Sapporo-Bierbüchse mit Stiften auf den Schreibtisch und suchte nach einem Kugelschreiber. »Es ist wegen ... wegen der Sache, die wir besprochen hatten«, log ich drauflos.
»Ja«, sagte er und wartete. Ich nahm ein frisches Schulheft aus der Schublade, klappte es auf und schrieb Veale? auf die erste Seite. »Ash Antiquitäten. Sie wissen doch, oder?« »Ja. Sie sind ein Partner von Tad, nehme ich an.« »Von Tad Ash?« fragte ich auf gut Glück. »Ja.« Veale überlegte jetzt. Ich schrieb Tad Ash. »Und Ihr Name war?« Ich überging die Frage und suchte etwas Unverfängliches. »Ich wollte fragen, ob es irgendwelche ... Fortschritte gibt.« »Das müßte ja eigentlich klar sein. Solange Mr. Ash seinen Teil der Abmachung nicht erfüllt, läßt sich kaum was machen.« »Stimmt.« »Sie werden entschuldigen. Ich muß Ihren Namen wissen.« »Natürlich. Tad wollte nur eine Bestätigung.« Ich unterstrich den Namen TAD ASH dreimal. Es gab also irgendeine Geschäftsbeziehung zwischen Veale und dem Ermordeten. Schon hatte ich etwas in der Hand. »Kann ich mir nicht vorstellen.« Veale klang jetzt mißtrauisch und ein wenig alarmiert. »Wer ist dort, bitte? Wie heißen Sie?« Ich atmete tief durch. Ich mußte mir etwas ausdenken. Einen Grund für alle, die Tad Ash kannten, mich anzurufen. Ich bin ein alter Freund. Ich arbeite für ihn, ich bin auf der Suche nach ihm, ich habe nie von ihm gehört, ich weiß nicht, wie er aussieht, ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen und in den Container gesteckt wurde. Von einem, der ihn mit Glas aufschlitzen und für immer zum Schweigen bringen wollte. Leise rauschend wartete das Telefon. Ich hielt die Sprechmuschel zu und sammelte Mut. Die Fensterseite meines Büros bestand aus einer Glaswand, die das ganze sechste Stockwerk umgab. Im benachbarten Schlafzimmer hatte ich die Scheiben übermalt, aber hier und im Badezimmer waren sie blank. Vom Hotel gegenüber konnte man mich sehen, oder von der Bushaltestelle und sogar von der Kirche aus, wenn man den Hals lang machte. Hier am Schreibtisch war ich weit vom Fenster entfernt. Trotzdem konnte mich jemand beobachten. Beim Einzug hatte es mich kurz gestört, dann nie wieder. Alles kam mir jetzt neu und zugleich sehr alt und vertraut vor. Vielleicht war es einfach nur das Sonnenlicht, das meine Aufmerksamkeit fesselte. Wie gewöhnlich kippelte ich beim Telefonieren mit dem Stuhl. Behutsam setzte ich die Stuhlbeine auf dem Fußboden ab.
»Wer ist dort, bitte?« fragte er wieder. Nervös, während ich ganz ruhig dasaß. Ich habe schon in vielen Büros gearbeitet; in kleinen, die nach Raumspray rochen, in großen, luftigen, die im Winter eiskalt wurden, in sanierten Villen mit gemauerten Kaminen im Foyer und donnernden Wasserleitungen. Ich habe Hinterzimmer gemietet und mir den Küchendienst mit einem Setzer, einem Wettbüro, einem Schnittmusterzeichner und einem Fotografiestudenten geteilt. Vor vier Jahren habe ich in den sauren Apfel gebissen, mir die drei Büroräume zum üblichen Preis gemietet und Regale gebaut. Ich hängte meinen Stadtplan an die Wand und stellte meine Aktenschränke zu beiden Seiten der Tür auf. Die kompletten Ausgaben der Encyclopaedia Britannica der Jahre 1978 bis 1983, angeschafft mit Hilfe von Louise, stapelten sich vor dem Badezimmer. Im Regal meine Notizbücher, meine Skizzen, meine Plattensammlung. Die Stereoanlage hatte einen Ehrenplatz, die Lautsprecher waren auf optimalen Hörgenuß ausgerichtet. Nur der Plattenteller mußte repariert werden, der war beim Einzug kaputtgegangen. Bis jetzt war ich nicht dazu gekommen. Seit Jahren mußte ich die Ablage machen. Sogar einen Computer hatte ich gekauft, um die beinahe exponentiell wachsenden Papiermengen einzudämmen, aber nach einem Monat hatte ich das Interesse verloren. Jetzt stand er neben dem Telefon auf dem Schreibtisch und gammelte vor sich hin. Seine digitale Sprache wurde immer seltener gesprochen. Ich überredete Zooey, sich um ihn zu kümmern. Manchmal machte sie sich mit dem Lötkolben über ihn her. Angefangen hatte es damit, daß ich nachts ab und zu hinüberging und die beiden bat, die Musik leiser zu drehen. Das eine Mal, als sie weggetreten waren und ich einbrechen mußte, um zu ihnen hineinzukommen, hatte ich einen Computer gesehen. Zooey hatte dann meinen Computer mit einem geklauten Modem und einer Software aufgerüstet, die für etwas bestimmt war, was sich Internet nannte und eines Tages angeblich wichtig sein würde. Ich habe Zeit, sagte ich darauf Maschinen kamen selten mit mir zurecht. Ich mußte Papier vor mir haben, um denken zu können. Beim Lesen wollte ich die Wörter am liebsten anfassen. Der Monitor war verschmiert von Fingerabdrücken – Spuren meiner Überlegungen, meiner Selbstzweifel, meines Zögerns. So war es nicht immer. Meine Sorgen hatten sich früher nicht so sehr auf mich konzentriert. Ich lebte gern allein. Aber manch-
mal war mir, als wäre ich nicht allein im Zimmer, als würde ich beobachtet, beim Denken belauscht. Ich schüttelte diese Gedanken ab, nahm die Hand vom Hörer und wollte nach einem Fremden fragen, einem Phantom, einer Horrorgestalt, die mir den Magen umgedreht hatte, so daß ich am Ende stolz war, nicht gekotzt zu haben. Ich mußte ja nicht erzählen, daß ich seine Brieftasche ausgeleert hatte. Ich würde mir eine Rolle ausdenken, die mir erlaubte, anonym zu bleiben. Dann würde ich ein wenig nachforschen, was es mit der Leiche auf sich hatte. »Wer ist dort?« kam es wütend aus dem Hörer. »Wer sind Sie?« »Niemand«, hörte ich mich sagen und konnte es nicht fassen. »Wirklich niemand.« Ich legte auf. Ich klappte das Schreibheft zu und warf es in die Schublade. Dann sammelte ich die Visitenkarten und das andere Zeug ein und steckte es in die Brieftasche zurück. Wenn die Luft rein war, wollte ich sie in der Nähe der Insurance Alley fallen lassen, auf dem Parkplatz oder an sonst einer Stelle, die es glaubhaft machte, daß sie übersehen worden war. Ich hätte sie niemals aufheben dürfen. Mit meiner Stöberei und meinen Anrufen hatte ich wahrscheinlich schon Unheil angerichtet. Jetzt war die Sonne richtig heiß. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und ging ans Fenster, dann zum Aktenschrank neben der Tür, wo sich der Griff befand, und hebelte die Klappfenster auf. Das Quietschen der Scharniere verschreckte die Möwen, die draußen auf dem Sims hockten. Ich öffnete den Kühlschrank, machte mir einen Krug Eiswasser zurecht und trank die Hälfte aus, noch bevor es richtig kalt war. Ich zog das Hemd aus und warf es in den Wäschekorb, dann streifte ich Schuhe und Strümpfe ab und ging barfuß ins Badezimmer. Meine Pisse sah bräunlich aus. Der Rücken tat mir weh. Ich goß mir noch ein Glas Wasser ein, setzte mich an die Küchentheke und schaute aus dem Fenster. Die Möwen kehrten zu ihrem Platz an der Sonne zurück. Die Kirche war über die Jahre geschrumpft. Ein weißer Klinkerbau, einer der letzten in der Innenstadt, über dem Portal eine Neoninschrift: EKALE OTOPO AIEU. Die Übersetzung kannte ich nicht. Meine nackten Zehen ruhten auf dem dick mit weißer Farbe gestrichenen Fensterrahmen. Der Luftzug von den Klappfenstern strich mir durchs Haar. Die Küchentheke fühlte sich noch kühl an.
Ich duschte und schrubbte mir den eingebildeten oder realen Gestank herunter. Danach öffnete ich das Badezimmerfenster und sah dem Dampf nach, der sich gen Himmel kräuselte. Mein Schlafzimmer lag auf der anderen Seite des Büros, abgeteilt durch ein deckenhohes Bücherregal voller Kunstbücher, Biologielexika, Skizzenbücher, medizinischer Ratgeber und Schnellhefter mit Papieren, die ich erst noch ablegen mußte. Das Schlafzimmer unterschied sich nur durch die schwarzgestrichenen Scheiben von den anderen Räumen. Ich hängte das Handtuch über das Bettende und nahm eine Flasche Eau de Cologne vom Nachttisch, dem einzigen Möbelstück außer dem Bett. Ich spritzte mir etwas auf die Schultern, unter die Arme und auf die Fußsohlen, legte mich hin und zählte die Risse in der schwarzen Farbe, durch die das Sonnenlicht hereindrang. Ich rieb mir noch mehr Eau de Cologne auf die Schultern. Dann legte ich mich wieder zurück, ließ den Alkohol auf der Haut verdunsten und die Stunden seit drei Uhr morgens vorüberziehen. Mein Körper war heiß vor Anspannung und Erschöpfung. Als ich aufwachte, waren die anderen Räume vom weichen Nachmittagslicht durchflutet. Ich stand auf, zog mich vorm Spiegel an, suchte die Manschettenknöpfe und die Uhr und nahm meine Brieftasche heraus, um nachzusehen, wieviel Geld drin war. An der Schlafzimmerwand hing ein Foto, ein einfaches Polaroidfoto. Wer es aufgenommen hatte, wußte ich nicht mehr, aber ich erinnerte mich noch gut an den Anlaß, an die Klaviermusik und das Stimmengewirr der Bar. Ich ging nahe heran, um es anzusehen. Im Vordergrund ich selbst, vom grellen Blitzlicht herausgehoben, aber dahinter, im körnigen Dunkel fast nicht zu erkennen, hatte der Blitz ihr Gesicht eingefangen. Es war einfach nur schön, und ich fragte mich, was andere bei dem Anblick empfinden würden. Ihr sanftes Strahlen, der breite, liebeshungrige Mund. Den wollte ich wiedersehen, genauso wie er auf dem Foto festgehalten war. Ich nahm die Brieftasche, steckte sie ein und zog das Jackett über, dann öffnete ich die Tür. Auf dem Flur stand Tangiers. »Hab ich Sie«, sagte er.
4 Mein erster Impuls war, die Tür zuzuschlagen. Aber er hielt sie fest und war schon drinnen, ehe ich mich versah. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er an meinem Schreibtisch vorbei. Ein anderer Ziviler wartete draußen. »Sie wollen sich ins Nachtleben stürzen?« fragte Tangiers. »Nach diesem anstrengenden Tag? Mit wem sind Sie verabredet?« Er drehte sich auf dem Absatz um und zeigte sein Grinsen. »Mit der Geschichte kaufen Sie sich ein schickes Abendessen, was? Schließlich haben Sie was zu erzählen.« »Hab ich schon erledigt«, sagte ich möglichst cool, um ihm Paroli zu bieten. »Wirklich?« Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, beäugte die Papiere, die Briefumschläge, den klapprigen Computer. »Sie haben wohl viele Bekannte?« »Ja.« »Kommen die hierher?« »Ja.« »Wie viele?« »Was?« »Letzte Woche. Wie viele?« »Äh, keiner. Aber...« »Die letzten zwei Wochen?« Ich blickte umher. »Na, etwa ...« »Oder letzten Monat? Wie viele Leute?« »Ich weiß nicht mehr.« »Hat Ihre Freundin hier übernachtet?« Was für eine Frage. »Im Moment bin ich Single.« »Aha.« Er stand am Schreibtisch und starrte auf den Stadtplan an der Wand. Ich starrte auf die Brieftasche. Die Brieftasche lag auf dem Schreibtisch direkt unter ihm. Er beugte sich vor, um die Reißzwecken zu untersuchen. »Was haben die zu bedeuten?« Er tippte auf die roten Plastikköpfe. »Grundstücke.« »Ich dachte, Sie wären Finanzexperte.« »Firmen investieren in Grundstücke.« Ich sprach schnell, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, um zu verhindern, daß er nach unten blickte. »Die mit den Nadeln gekennzeichneten Areale sind Spekulationsobjekte oder könnten es werden.«
»Die mit den Nadeln gekennzeichneten Areale ...« Er nickte. »Sie drücken sich präzise aus. Wie ein Polizist. Oder ein Jurist.« »Ich bin Jurist. Von der Ausbildung her.« »Sie sind Jurist?« »Meinen Abschluß hab ich in Wirtschaft.« »Warum nicht Jura?« »Ich bin zu nett.« Das brachte ihn zum Lachen. »Ha, ha. Sehr gut. Witzig und liebenswert.« Er musterte die Aktenschränke. »Sie wissen, warum ich hier bin. Oder?« »Um Fragen zu stellen?« Er wandte sich vom Schreibtisch ab. Ich atmete auf. »Unter anderem auch das.« Er nickte an mir vorbei, darauf machte der Zivile die Tür von außen zu und ließ uns allein. »Das ist ein vertrauliches Gespräch – wenn Sie nichts dagegen haben. Heute morgen waren Sie sehr kooperativ. Und wie sich zeigt, stimmt sogar Ihre Adresse. Die meisten Verdächtigen lügen.« Ich tat so interessiert, wie ich konnte. »Wirklich?« »Sie geben die Adresse ihrer Eltern an. Oder ihre Nummer bei der Arbeit.« »Meine Eltern sind tot.« »Und das hier ist Ihr Arbeitsplatz? Sieht eher wie eine Wohnung aus.« Ruhe bewahren, sagte ich mir. »Ab und zu übernachte ich hier. Und esse auch hier – deshalb die Küche. In meinem Job kann ich mir keine festen Arbeitszeiten leisten. Ich muß die Überseemärkte verfolgen. Deshalb sieht es hier ein bißchen bewohnt aus.« Er nickte. »Ich kenne Ihren Mietvertrag nicht, Mr. Ellerslie Penrose. Sie haben Jura studiert und verstehen davon wahrscheinlich ohnehin mehr als ich.« »Ich habe nicht Jura studiert. Nur ein paar Arbeiten geschrieben.« »Thema?« Mir blieb der Mund offen stehen. »Handelsrecht, Rechtsgeschichte.« »Wer die Natur interpretieren will, muß so vielseitig sein wie die Natur selbst«, erklärte er. »Studie in Scharlachrot.« »Aha.« »Ich weiß, was Sie denken. Sherlock Holmes. Filme mit Basil Rathbone. Shagpfeife und karierte Mütze.« »Vermutlich.«
»Aber es steckt mehr dahinter.« »Ja.« »Holmes ist eine Quelle der Inspiration.« »Für Sie?« »Für alle, die das Gesetz vertreten.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante, sein breiter Hintern stieß fast gegen die Brieftasche. »Haben Sie gewußt, daß Sherlock Holmes der erste war, der Gipsabdrücke von Fußspuren genommen hat? Der erste! Er war der erste, der den Staub auf Kleidern untersuchte, um Täter zu überführen. Er hat die Asche verschiedener Tabaksorten analysiert – vor ihm hat sich niemand darum geschert. Er hat die Kriminalistik zur Wissenschaft erhoben. In Ägypten und China wurden Holmes' Fälle an den Polizeischulen als Lehrbücher verwendet. Laut Edgar Hoover gehören seine Methoden zum Grundrepertoire des FBI. Das Kriminallabor der Surete in Lyon ist nach Conan Doyle benannt. Holmes' Ausschlußverfahren, die Widerlegung aller hypothetischen Tathergänge, bis der einzig mögliche Tatverlauf übrigbleibt, und mag er noch so unwahrscheinlich sein – dieses Ausschlußverfahren ist die Grundlage der modernen Kriminalistik. Deshalb bin ich hier. Sie gestatten?« Er machte drei flinke Schritte auf mich zu, bis sein Grinsen nur noch ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war, packte mein linkes Handgelenk, drehte sich ruckartig nach rechts und preßte mir den linken Ellbogen gegen die Kehle. Ich fluchte und zappelte, aber er behielt mich im Griff, jede Gegenwehr hätte mir den Arm ausgerenkt. »He!« rief ich sinnloserweise, und schon lag ich mit dem Rücken auf dem Schreibtisch. Tangiers fummelte an meinem linken Manschettenknopf herum. Er schob die Ärmel von Hemd und Jacke hoch bis über die Ellenbeuge und drehte meinen Arm zum Licht, ohne Rücksicht darauf, daß er mir fast die Schulter ausrenkte. Dann, genauso abrupt, ließ er mich los. »Fleckenlos rein«, sagte er. Ich ergriff wieder Besitz von meinem Arm und richtete mich benommen auf. Aber statt beiseite zu treten, packte er meinen Kopf mit beiden Händen und drückte meine Lider mit den Daumen nach oben. Wieder griff er so fest zu, daß Gegenwehr zwecklos war. Ich stand nach hinten gebeugt, während er meine Augen untersuchte. »Clean!« rief er und ließ mich zum zweiten Mal los. »Sie hängen nicht an der Nadel.«
»Ach, wirklich?« Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte meine Ärmel herunter. Ich kochte vor Wut. »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können!« »Insurance Alley ist ein Umschlagplatz für Drogen. Der Mann, den wir heute gefunden haben, war abhängig. Voller Einstichnarben.« Ich atmete schwer. »Wie interessant.« Mein Arm tat weh. »Ja. Der Alte war durchlöchert bis zum Stehkragen. Ich vermute, er wollte dort was kaufen. Von Ihnen, hatte ich mir so gedacht. Aber Sie haben ein legales Einkommen, wie unsere Nachforschungen ergaben. Dann dachte ich, Sie sind vielleicht auch ein Junkie. Aber Fehlanzeige. Also, Watson.« Wieder das Grinsen. »>Ich streiche diese Hypothesen aus der Reihe der möglichen Tathergänge.<« »Ach, wirklich? Ist ja großartig!« Mein Ton wurde scharf. Als er in mein Büro stürmte, hatte mich die Angst gepackt, doch jetzt war ich nur noch wütend. »Sind Sie deshalb gekommen? Um mich hier zu überfallen?« »Zu überfallen?« Er hob eine Augenbraue, aber das Grinsen blieb. »Sie haben mich körperlich in die Zange genommen und ...« »Als Überfall würde ich das nicht bezeichnen. Ich gehe nur meinen Ermittlungen nach. Ich habe mir Ihren Arm angesehen. Stimmt, ich habe Sie berührt, aber... das ist eine Grauzone. Bestenfalls.« »Eine Grauzone also.« »Wie ich schon sagte.« »Sie Arschloch.« »Sehen Sie, vor Gericht gilt das als Beamtenbeleidigung, eine Straftat. Aber verhafte ich Sie? Keineswegs. Mich als Arschloch zu bezeichnen ist unter den gegebenen Umständen eine verständliche Reaktion. Man muß die Umstände in Betracht ziehen, man muß realistisch sein.« Er hob belehrend den Finger. »Auch in diesem Fall.« Er richtete den Finger auf die Brieftasche, die noch immer auf dem Schreibtisch lag. Ich erstarrte. »Eine Brieftasche. Die Brieftasche eines Toten. Ein Beweismittel direkt vom Tatort. Das provoziert Fragen. Wo haben Sie die her? Wie kommt sie dorthin?« Er nahm die Brieftasche in die Hand. »Wir haben seine Sachen zusammengerollt am anderen Ende der Insurance Alley gefunden. Schuhe, Unterwäsche, Kruzifix, Füller — aber keine Brieftasche. Diebstahl, haben wir vermutet. Was war also zu tun? Nach
Fingerabdrücken suchen, nach Fußspuren, Gewebefasern, Staub. Wir sind auf den Knien gerutscht. Wir haben ihm den Dreck von den Fingernägeln gekratzt. Lauter kleinen Scheiß zusammengescharrt und in Plastiktüten verstaut. Ein öder Job. Und die ganze Zeit habe ich gedacht, hätten wir bloß die Brieftasche, dann wären wir weiter. Ein so zentrales Beweisstück. Und siehe da, hier ist es. Ich behaupte ja nicht, daß Sie in böser Absicht gehandelt haben. Vielleicht haben Sie die Brieftasche in der Nähe gefunden. Vielleicht wollten Sie sie bei uns abliefern. Vielleicht war es nur ein Versehen. Ich werde realistisch sein, Ellerslie Penrose. Ich ziehe die Umstände in Betracht. Wie kommen Sie zu der Brieftasche?« Ich schwieg. »Wie Sie wollen«, meinte er und klappte die Brieftasche auf. »Dann muß ich's eben amtlich machen. Verhör im Präsidium und so weiter.« Mit gefurchter Stirn lugte er in die Brieftasche. Er bohrte seine dicken Finger in die Fächer und wühlte den Inhalt durch, zunehmend verstört. Er zog eine Visitenkarte heraus, warf sie auf den Schreibtisch und grub weiter. Er ließ Kärtchen und Quittungen auf den Boden fallen. Sie breiteten sich um seine Füße aus wie Haare beim Friseur. Ich neigte den Kopf und las die Visitenkarte auf dem Schreibtisch. Ellerslie Penrose stand auf der Karte. Als ich mir reichlich Zeit genommen hatte, um meinen Ärmel glattzustreichen, räusperte ich mich. »Herr Detektiv, Inspektor oder wie auch immer. Kann ich bitte meine Brieftasche wiederhaben?« Er sah mich an. Sein Grinsen war verflogen. Er hob das Kinn und deutete damit auf mich. »Das ist Ihre Brieftasche?« fragte er, als würde er mir nicht glauben. Ich konnte es selbst nicht glauben. Ich hatte im Gehen die falsche Brieftasche eingesteckt. Ich krallte die Finger in meine verschwitzte Handfläche. »Verdammt. Verdammte Scheiße.« Mit geblähten Nasenflügeln saugte er die Luft ein. Ich nahm ihm die Brieftasche aus der Hand, er ließ sie los. Ich bückte mich und sammelte meine Zettel ein. Und dann bewegte er sich wieder überraschend schnell, stellte den Fuß auf meine Hand und trat fest drauf. »Wissen Sie, was hier falsch ist?« fragte er. »Finden Sie den Fehler?« Ich biß die Zähne zusammen.
»Es ist ein kapitaler Fehler, Hypothesen aufzustellen, bevor man ausreichende Indizien hat«, sagte er und trat ein bißchen kräftiger nach. »Skandal in Böhmen.« Ich quiekte fast, als er von meiner Hand stieg. An der Tür drehte er sich um. »Ich behalte Sie im Auge«, sagte er. »Denken Sie dran.« Er ging rückwärts hinaus, und die Tür fiel ins Schloß.
5
Je mehr ich darüber nachdachte, um so wütender wurde ich, aber jetzt war es zu spät. Jetzt blieb mir nichts mehr, als mit zwei Brieftaschen loszulaufen und irgendwo Dampf abzulassen. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, lehnte mich an die Rückwand, fluchte vor mich hin und trat gegen das Gitter, während die Büroetagen vorbeiglitten, dann die Aktenspeicher, dann das von schrägen Sonnenbalken erhellte Foyer. Ruckend kam der Aufzug im Keller zum Stehen. Ich stieg aus und hob das Rollgatter. Die Laderampe war in rosiges Licht getaucht. Ich zog die Plane von meinem Wagen, knüllte sie zusammen und deponierte sie an einem Stützpfeiler. Mein Jackett legte ich ordentlich auf den Beifahrersitz, dann quälte ich mich mit der abgebrochenen Kurbel, um das Fenster auf der Fahrerseite zu öffnen. Auf der Straße hielt ich an, weil ich das Tor schließen mußte, und wieder einmal verreckte der Motor. Ich pumpte den Choke, brachte die Karre zum Laufen und dröhnte durch eine Seitenstraße; der Rost in den Hohlräumen rasselte wie wütender Applaus. Ich bog rechts ab, in die Ausfallstraße, die zu den Buchten der Ostküste führt. Genug Strecke für den Motor, sich warmzulaufen. Ich machte das Radio an und drehte am Senderknopf. Peg. Mr. Tambourine Man. Der 71er De Tomaso Pantera ist ein tiefgelegter Schlitten, der viel von sich hermacht, doch bei Sammlern und Mechanikern schlecht angeschrieben ist. Ich hatte ihn für viertausend Dollar aus der feuchten Garage eines Farmers mitgenommen. Er braucht etliche Meilen, um in Schwung zu kommen, aber er ist groß und kräftig, in den braunen Ledersitzen ruht man wie in Abrahams Schoß. Bei geöffneten Fenstern bleibt er schön kühl, und es gibt ein paar Straßen in Auckland, auf denen man endlos fahren kann, auch wenn man ab und zu wenden muß. Ganz langsam schob ich den Choke wieder ein, ich spürte, wie der Achtzylindermotor hochtourte, bis mich die Beschleunigung in den Sitz drückte. Dann zog ich durch und ließ den Verkehr hinter mir. Je schneller man fährt, um so langsamer kommt einem die Umgebung vor und um so ruhiger wird man. Ich glaube, das liegt daran, daß man bei der Beschleunigung einen winzigen
Bruchteil der Wirkung erlebt, die in der Relativitätstheorie beschrieben wird: Wenn sich ein Körper der Lichtgeschwindigkeit nähert, scheint alles, was man von ihm aus sieht, zum Stillstand zu kommen. Jetzt zählten nur noch das Gaspedal, die Fahrbahn und die Kurven. Tangiers gab es nicht, die Sache heute morgen war nie passiert. Die Sonne ging unter und brachte das Wasser im Hafen zum Glühen. Ich fuhr weiter, bis es dunkelrot aussah, dann fuhr ich die Spirale zum Achilles Point hinauf und wieder hinunter und auf demselben Weg zur Stadt zurück. Ich überholte alles, gab Gas, wenn die Ampeln auf Gelb sprangen, und dachte an gar nichts. Der Motor sang, die Fassaden huschten nur so vorbei. Im Regent Hotel herrschte Hochbetrieb. Die Autos stauten sich in der Auffahrt, das Lachsrosa der Fenster, hinter denen Licht brannte, zog sich bis ins achte Stockwerk hinauf. Die Brasserie war voll, ein Getümmel von Gästen und Serviererinnen. Ich hielt vor dem Eingang und stellte den Motor ab, bevor er wieder verreckte. Der Hotelboy kam die Stufen heruntergetrabt. »Lassen Sie ihn laufen, Sir. Wir bringen ihn gleich nach hinten.« »Okay.« Ich versuchte die Seitenscheibe mit den Händen nach oben zu ziehen. »Wir schließen ihn ab, Sir.« Er zog mir die Tür weg und hielt sie auf. »Bitte sehr. Haben Sie Gepäck dabei?« »Ich hab nur eine Verabredung.« Ich zeigte auf die Fensterkurbel. »Stört Sie das? Die Kurbel ist abgebrochen.« »Wir haben einen Tag-und-Nacht-Pannendienst, Sir. Wenn Sie möchten, werden wir uns darum kümmern.« »Danke, ist kein Problem.« Ich packte die Scheibe von beiden Seiten mit den flachen Händen und schob sie zu. »Die Kupplung kommt auch sehr schnell«, warnte ich ihn. »Wir passen schon auf, Sir.« Ich stand am Fuß der Treppe und zog das Jackett über. »Sie müssen aber vorsichtig sein. Viel Gas, dann langsam kommen lassen, nur ein ganz kleines bißchen.« »Hören Sie, Sir.« Er zupfte sich am genieteten Ohr. »Sie können ganz beruhigt sein.« Er lächelte nachsichtig und startete den Motor. Der Wagen heulte auf, machte einen Satz und blieb stehen. »Sehen Sie?« sagte ich. Der andere Boy, der oben auf der Treppe stand, lachte.
»Schon kapiert«, sagte der Boy am Steuer. Er spitzte die Lippen und machte den nächsten Satz. Gäste blieben stehen und gafften. Der Wagen ruckte wieder ein Stück weiter, der gewaltige Motor machte schlucksende Geräusche. Die Klappscheinwerfer fuhren jedesmal aus, wenn der Motor startete, und klappten wieder zu, wenn er abgewürgt wurde. Ich ließ den Jungen mit rotem Gesicht weitermachen und ging durch die große Schwingtür ins Hotel. Drinnen führte die Treppe wieder hinab in die Lobby, meine Schritte wurden von einem Samtteppich verschluckt. Der Empfangschef telefonierte mit gedämpfter Stimme und nickte mir zu. Die Rezeption ertrank in einem Blumenmeer. Ein Hochzeitspaar war gerade eingetroffen – die Braut mit langem weißem Schleier. In den Sesseln hingen Fettsäcke in Jogginganzügen und Ehepaare, die sich an ihre Reisetaschen klammerten. Hinten stand ein Stutzflügel mit klaffendem Deckel wie eine schwarze Auster. Der Pianist beugte sich hinein und holte einen sauber gespielten Bacharach-Song heraus. Eine Jazzektomie. Die freigelegte Melodie zerfiel in ihre Ornamente und Schlenker, tote Fetzen, die sich, mit Stimmgewirr und Telefongeklingel vermischt, im weißen Deckengewölbe verloren. Ich öffnete die Rauchglastür zur Bar. Einheimische und Touristen lümmelten sich in den weichen Sofas, das gedämpfte Licht der Wandlampen machte die Gesichter gelb. Goldene Brillen glitzerten im Dunkel, Hände hingen über Armlehnen, Rauch quoll aus flüsternden Mündern. Der einzige Lärm kam aus einer Ecke, wo ein paar Teenager lachten. Ich sog den Geruch von Zigaretten und Leder tief ein und atmete langsam aus. Meine Zunge drückte gegen die Zähne. Ich dachte kurz daran, daß ich später essen oder etwas an der Bar bestellen konnte. Hier in diesem Raum entspannten sich die Dinge. Man veränderte ihn ein wenig, wenn man kam, aber nicht zu sehr. Tony, der Barmann, schaufelte Eis, mit der anderen Hand rollte er den Edelstahlshaker. Er war klein, hatte einen flachen Bürstenschnitt, sein gezwirbeltes Bärtchen deutete schon ein smartes Lächeln an, bevor er auch nur die Miene verzog. Ich schob mich auf einen Barhocker. Er rümpfte die Nase, als er eine obskure Likörflasche öffnete. »Alles verklebt«, sagte er und spülte den Verschluß unter dem Warmwasserhahn ab. »Wie läuft's?« fragte er. »Nicht schlecht.«
Er goß blauen Likör in den Shaker und tat Sahne dazu. »Sieht gut aus«, sagte ich. »Ach ja?« Er wies mit dem Kopf zu den Teenagern hinüber, aus Kleiderärmeln ragten weiße Mädchenarme, die Jungen saßen steif im geliehenen Smoking da. »Schuljahresende. Irgendeine High-School in der City. Die sollten lieber in die Milchbar gehen.« »Sie waren doch auch mal jung.« »Aber nie so reich.« Er setzte den Deckel auf den Shaker, zuckte die Schultern und klickte mit der freien Hand sein Zippo auf. Ein Geschäftstyp hatte eine Zigarette gezückt. Tony zündete sie verbindlich lächelnd an und ließ das Feuerzeug in die Westentasche gleiten. »Manche haben's gut«, sagte er. »Oben wohnt so ein alter Knabe, der bestellt seine Drinks über den Zimmerservice. Jeden einzeln. Um halb sechs: bitte einen Martini. Um Viertel nach sechs: bitte einen Martini. Eine Dreiviertelstunde später noch einen. Ich sage, ich schicke Ihnen einen Krug hoch, aber nein. Jede Dreiviertelstunde einen Martini. Und jedesmal Trinkgeld.« »Ein Leben wie im Paradies.« »Er ist Dauergast. Wir haben Gäste im obersten Stock, die wohnen schon seit Jahren hier. Und gehen nie raus. Was Schlimmeres kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Wie lange sind Sie schon hier, Tony?« »Bald drei Jahre.« »Das müssen Sie feiern.« »Lieber nicht. Man soll seine Gäste nicht mit der Nase drauf stoßen, daß sie schon so lange in dieselbe Bar gehen.« Er füllte den Cocktail ein, steckte zwei Papierschirme in den Schaum und schob der Serviererin das Glas hin. »Gin and Bitter?« fragte er. »Ja bitte.« Ich kannte Tony seit meinem ersten Besuch. Das war in der Woche gewesen, als sie meine alte Stammbar, den Meridian Room, ausräumten — der ganze Sechziger-Jahre-Krempel flog raus, wurde durch Barhocker aus Stahlrohr ersetzt, und ich suchte mir was Neues. Er sah damals genauso aus wie heute — als gehörte er eigentlich an den Tisch der Teenager. Aber er hatte schon mit fünfzehn als Barmann angefangen, und gemessen an dem, was er erlebt hatte, war er uralt. Meine erste Begegnung mit Tony im Regent werde ich nie vergessen. Aber natürlich nicht wegen Tony.
Der Gin war reichlich bemessen, behutsam tröpfelte Tony den Bitter obendrauf. »Schon von dem Toten gehört, den sie gefunden haben?« Spontan wollte ich nein sagen, aber offenbar war die Sache schon herum. »Ja, irgendwie«, sagte ich. »Ein alter Mann, völlig zerschnitten in einem Abfallkübel.« »Ich hörte, es war ein Glascontainer.« »Mit den ganzen Scherben drin? Mein Gott, wie furchtbar.« Er stellte mein Glas auf einen Bierdeckel. »So also.« Er rollte eine Zitrone über das Schneidebrett und wählte ein Messer aus. »Er ist noch nicht identifiziert. Die Stadt wimmelt von Bullen.« Ich wollte mich umdrehen, um zu sehen, wer in der Nähe saß, aber es ging nicht. Ich widmete mich meinem Drink. »Ein Cop ist heute nachmittag hier reingekommen«, erzählte Tony. »Total durchgeknallt.« Wem sagst du das. »Sie haben die Gästeliste geprüft, ob da jemand verschwunden ist. Mich haben sie gefragt, wer die Bar besucht hat. Ich sagte, alle. Die kamen mir nicht vor wie normale Bullen. Irgendwie komisch waren die. Nicht mal Fotos von der Leiche haben sie rumgezeigt. Was soll das? Wer befragt potentielle Zeugen ohne Foto? Niemand. Das erste, was du zu sehen kriegst, sind A5-Fotos. Das ist eine Industrienorm. Umschlag raus, A5-Foto, erkennen Sie den, Madam? So macht es McCloud, so macht es Magnum, so macht es McGarrett. A5. Das ist fundamental.« Er schüttelte den Kopf. Ich verschränkte die Arme über dem Klumpen in meiner Brusttasche. »Klingt nicht so, als wüßten sie schon viel.« Tony schob die Zitronenscheiben in eine Schüssel. »Ein Toter, der völlig zerschnitten ist. Da müßte es doch jede Menge Spuren geben.« »Leuchter«, sagte ich. »Bleirohr, Billardzimmer.« »Den hab ich nicht gesehen.« »Das ist ein Spiel. Ein Brettspiel. Cluedo, von den Parker Brothers. Die haben auch Monopoly rausgebracht.« »Monopoly.« Tony neigte den Kopf und ließ das Wort durch sein Dachkämmerchen kullern, aber es machte nicht klick. Weil er sein Leben fast ausschließlich hinter der Bar verbrachte, blieb ihm kein anderes Freizeitvergnügen als das Fernsehen. Zu Hause hatte er einen Sony Trinitron über dem Fußende seines Betts, ein Watchman mit Vier-Zentimeter-LCDBildschirm klemmte hinter der Kasse, so daß er beim
Abwischen der Theke, wenn am Nachmittag Flaute herrschte, immer mal einen Blick riskieren konnte. Die Videotheken hatten seinen Horizont nur geringfügig erweitert. Sein Job schnitt ihn schon von der Hauptsendezeit ab, und zum Besuch von Videotheken kam er erst recht nicht. Er zehrte von Wiederholungen und Billigserien, seine Welt war aus zweiter Hand, durchsetzt von Werbeblöcken, nachkoloriert mit Farben, die nie ganz echt waren. »Bei McCloud kam neulich ein Bleirohr«, warf er ein. »Heutzutage sind die Wasserrohre aus Plastik«, sagte ich. »Wüßte nicht, wo man noch ein Bleirohr findet. Haben Sie mal eins in der Hand gehabt? Ich ja. Es lag in einem Abrißhaus, ich konnte es kaum heben. Schwer und weich. Massiv. Der perfekte Totschläger. Du brauchst es nur in die Hand zu nehmen, schon malst du dir aus, wie du damit zuschlägst.« »So kommt man erst auf dumme Ideen, was? Das hab ich mal als Argument im Gericht gehört.« »Im Gericht?« »Ironside«, bestätigte er. »Also der Typ im Glascontainer. Begreifen Sie das?« »Eher nicht.« »Ich auch nicht. So in aller Öffentlichkeit, verstehen Sie? Gruslig.« »Die Bullen schieben es auf den Mardi Gras.« Tony biß sich auf die Unterlippe. »Wirklich wahr?« »Jedenfalls würden sie gern. Ich hätte nichts dagegen.« »Das müssen Sie ein bißchen locker sehen mit dem Mardi Gras, Mr. Penrose. Da darf man mal die Sau rauslassen.« »Und wenn ich die Sau nicht rauslassen will?« »Klar. Sie sind dafür nicht geschaffen.« Er hebelte zwei Flaschen Heineken auf und stülpte sie in die Gläser, daß sie in ihrem eigenen Bier schwammen. Die Gläser füllten sich, ohne daß ein Tropfen überlief. »Wenn's drauf ankommt, kann ich ganz schön ...« »Klar.« Er wischte meinen Einwurf beiseite. »Ich mag ganz gern 'ne heiße Party. Andere eben weniger.« »Ich bin eher ein Einzelgänger.« »Das versteh ich.« Er warf die Flaschen hinter die Theke und unterdrückte ein Lächeln. »Sie sind ein Arbeitstier, stimmt's? Meine Hochachtung.« »Daß ich nicht lache.« »Doch, im Ernst.« Er brachte die Biere ans andere Ende der Theke.
Ich beugte mich über die Barriere. Die leeren Flaschen landeten in zwei schwarzen Müllsäcken – einer für die Bierflaschen, einer für die anderen. Der Glascontainer in der Insurance Alley bot umweltbewußten Bürgern drei verschiedene Einwurflöcher. Eins für biederes Weißglas: Weißwein, Gin, Wodka, Saucen, Essig, Konserven. Eins für proletarisches Braunglas: Bier, Bier und Bier. Und eins für edles Grünglas, in dem das Opfer gelandet war: Beaujolais, Bordeaux, Burgunder, Portwein. Eine unsanfte Landung, ein fürstlicher Abgang. Roter Wein zu rotem Fleisch. Ich hob meine Hand ins Schummerlicht und fragte mich, welche Farbe das Fleisch des Mannes hatte, als es von den Scherben zerschnitten wurde. War es rot? Oder war es blaß wie Kalbfleisch, bevor es im Blut ersoff? Tony kam zurück. »Dieser Tote«, fragte ich ihn. »Wie lange dauert das, bis man auf so eine Art krepiert?« Er zuckte die Schulter. »Tod durch tausend Scherben.« »Genau. Und warum gerade diese Mordmethode? Es gibt zwei mögliche Gründe, vermute ich mal. Entweder man will, daß es alle sehen, oder es ist einem egal, daß es alle sehen. Man macht sein eigenes Ding. Zu seinem Privatvergnügen.« »Wer so was macht, muß glauben, daß er niemals erwischt wird. Der Unverwundbare.« »Den hab ich nicht gesehen«, bemerkte ich. »Ist auch keine Serie. Ich meine nur, man denkt, daß man unverwundbar ist. Wie Steve Austin oder so ähnlich.« »Im Fernsehen müssen die Guten immer unverwundbar sein, damit sie die nächste Folge erleben.« »Ganz und gar nicht.« Tony schob mir ein neues Glas hin und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Sie haben ihre Schwächen. So einer wie Rockford kommt schwer ins Schwitzen. Auch TJ Hooker oder Columbo. Es gibt immer einen Moment, da wird es eng, richtig heiß, und in solchen Momenten kommen wir ihnen als Menschen näher. Wenn sie wirklich vorm Abgrund stehen, wissen Sie? Wenn der Mensch in den Abgrund schaut. Das ist die Wahrheit von einem wie Columbo. Die Kamera bringt uns diese Momente, wo wir ihre Schwächen sehen, ihr Versagen, ganz nah. Wir sehen uns selbst, wenn sie in der Klemme stecken, nur für einen Moment. Sie sind ein Spiegelbild von uns. Die Gesellschaft kann kein Verbrechen aufklären. Da braucht man ein Individuum. Der Einzelgängerdetektiv ist wendig. Deshalb schafft er es. Er ist wie du und ich – ein Querdenker. Er sieht die Dinge anders. Columbo ist nicht
wie die anderen Detektive, das wäre überflüssig, weil ja schon die anderen so sind. Columbo weiß, daß er was riskieren muß, aus der Reihe tanzen muß. Und dann noch was: Der Einzelgängerdetektiv kennt die Straße.« Das Eis klimperte in meinem Glas, der Bitter zerfloß malerisch im Gin. »Ich kenne die Straße auch«, sagte ich. »Wir beide kennen die Straße. Das sind Männer, die kennen die Welt, wie sie ist. Die sehen hinter die Kulissen, verstehen Sie? Das ist ihre Stärke.« Ich nippte an meinem Gin. »Ist schon Jahre her, daß ich Columbo gesehen habe.« »Ist immer noch großartig.« »Ehrlich?« »Ich schwör's.« Die Serviererin kam mit dem Tablett, und Tony entschuldigte sich. Ich saß da, erledigte meinen Drink und bestellte den nächsten. So ging es weiter. Die Nacht verlor ihre jugendlichen Reize, aber die Bar blieb ein Gentleman und fragte nicht nach ihrem Alter. Die Schatten blieben, die schummrigen Lampen glommen. Wenn Gäste gingen, kamen neue und nahmen die leeren Plätze ein. Tony füllte frisches Eis nach und wischte die Theke trocken. Ich kippelte mit dem Barhocker, auf einen Ellbogen gestützt, und redete ein bißchen mit den Leuten um mich herum. Als mir der Gin nicht mehr schmeckte, verlangte ich die Rechnung. »Wollen Sie nicht zum Nachtisch bleiben?« fragte Tony. »Heute nicht. Heute bin ich müde.« »Wilhelmina hat schon nach Ihnen gefragt«, sagte er. »Wirklich?« Ich zog die Brieftasche. Es war die Brieftasche von Tad Ash. »Bin mal gespannt, wie der Fall ausgeht.« »Ohne den Einzelgängerdetektiv wird die Sache im Sande verlaufen.« Ich kramte in den Visitenkarten und Quittungen. »Was Sie da über die Bullen sagen, das stimmt. Die kriegen nichts auf die Reihe. Die brauchen einen mit Durchblick. Mit Insiderwissen.« »Sie brauchen Spuren«, erklärte mir Tony. »Eine gute Fährte. Information ist alles.« Er zeigte mit dem Kopf auf die Brieftasche und zwinkerte. »Gibt's Probleme, Mr. Penrose?« »Ich habe gerade einen neuen Fall übernommen«, sagte ich. »Macht nichts.« Er nahm mir die Rechnung weg. »Ich schreib's an.«
Ich stand auf, ein wenig schwankend, und verabschiedete mich von Tony und ein paar Leuten, die ich nicht kannte. Der Klavierspieler erging sich in Schlußakkorden. Dann hob er die Hände und strich sich das graue Haar zurück. Sein Blick schweifte in die Runde, für den Fall, daß jemand in Beifall ausbrach. Ich erlöste ihn und klatschte im Vorbeigehen. Er lächelte säuerlich. Dem Hotelboy war die Höflichkeit vergangen. Er zuckte zusammen, als ich ihn ansprach, und weigerte sich, mein Auto zu holen. »Sorry, Sir, Sie sind nicht mehr nüchtern.« »Fick dich ins Knie«, sagte ich mit sorgfältiger Betonung. Er zupfte wieder an seinem Ohrschmuck, sein Unbewußtes bat mich, die Klappe zu halten. »Wenn Sie fahren wollen, müssen Sie weniger trinken«, sagte er. »Du dummer kleiner Scheißer.« Er hielt mir die Tür auf. »Gute Nacht und fick dich selbst.« Ich winkte ab und lief los. Die Nacht verwandelte die Glasfassaden in ein Spiegelmosaik. Das Hafenviertel wurde zehnfach reflektiert – mit seinen Neonreklamen, Ampeln und Lichtern, den Taxis, die losspurteten, um einen guten Platz in der Schlange zu ergattern. Silhouetten geisterten durch die Straßen. Ein Windstoß blies mir Staub in die Augen. Eine aufgeblähte Plastiktüte rutschte auf der Straße entlang und wurde von einer Bö übers Trottoir getrieben. An der nächsten Ecke wartete sie auf mich, hüpfte im Dunkeln auf und ab. Abfälle kullerten wie Würfel über den weiß linierten Asphalt. Die Tüte hielt Schritt mit mir, wartete, wenn ich langsamer wurde, und wehte mir davon, wenn ich sie einholen wollte. An der Ampel schließlich erwischte ich sie und knüllte sie zusammen. Ich blieb stehen und schaute mich um. Gegenüber waren die Kirche und der Imbiß, an der Kreuzung warteten Autos. Zum Dilworth mußte ich nur noch über die Straße. Ein zerbeulter Holden hatte das Warten satt und fuhr bei Rot über die Kreuzung, der Auspuff knatterte ohrenbetäubend. Die Männer am Imbiß johlten. Ein Streifenwagen machte sich an die Verfolgung. Ich drückte mich in den Schatten. Sie würden auch die Insurance Alley bewachen, besonders in der Nacht. Vielleicht tauchten Zeugen auf, vielleicht kehrte der Mörder an den Tatort zurück. Die Polizei brauchte dringend die Brieftasche, aber Vernunft war ich jetzt nicht mehr zugänglich. Warum sollte ich denen was
schenken? Das brachte Streß und Verhöre, und ich hatte auch so schon genug Streß. Ich wollte nicht, daß man mir mein Geheimnis klaute, so wie ich nicht wollte, daß mir jemand erklärte, die Schönheit der glitzernden Fassaden sei nur auf die Gesetze der Optik und eine ökologisch fragwürdige Stadtentwicklung zurückzuführen. Heute nacht sollte die Stadt einfach nur schön sein, und die Brieftasche des Toten sollte mir gehören, nur ich würde sie erforschen. Ein wenig abseits vom Imbiß stand eine blonde Frau im langen Ledermantel und rauchte. Während ich sie anstarrte, hielt ein Taxi, und sie stieg ein. Ich sah sie noch einmal im Vorbeifahren, sie saß hinten, mit abgewandtem Gesicht. Ich fragte mich, wohin sie um diese Zeit wollte. Zwei Uhr nachts. Obwohl mir der Anblick vertraut war, stand ich verzaubert vor dem vielfältig verzerrten Panorama aus nächtlichen Lichtern, das sich in der Bürofassade spiegelte – wie ein Fotostreifen aus dem Automaten. Ich zählte die Monde, die so zart aussahen wie Lampen aus Reispapier, und bewunderte ihren leuchtenden Rhythmus. Plötzlich fühlte ich mich ganz leicht. Hier an dieser Ecke, mitten im Wind, war ich sicher, hier konnte mir nichts passieren. Die Welt war wieder erfüllt von Sinn und Zweck. Das Bewegungsmuster der Leute auf den Straßen war genauso komplex wie die Himmelsmechanik der Gestirne. Aber wenn ich gut genug aufpaßte, konnte ich ihr Ziel erraten, Antworten finden. Der Grillgeruch von Käse und Zwiebeln stieg mir in die Nase, und ich überquerte die Straße. Im Büro verfing ich mich beim Ausziehen in meinen Kleidern. Ich mußte sie abschütteln, um sie loszuwerden. Ich fuhr mit dem Finger über den Stadtplan und steckte einen schwarzen Reißnagel an den Fundort der Leiche: Insurance Alley. Dann goß ich mir ein Glas Wasser ein und machte das Licht aus. Im Fenster flimmerte die Neonschrift der Kirche unten. EKALE OTOPO AIEU, EKALE OTOPO AIEU. Irgendwo da draußen war Tangiers unterwegs und suchte die Brieftasche. Pech für ihn. Ich stand am Fenster, dort, wo es zuerst hell werden würde, nackt wie der Tote und bläulich angestrahlt von der unermüdlichen Neonbotschaft.
6
Als das Telefon klingelte, stand ich unter der Dusche. Ich trocknete mich ab und hörte mir die Nachricht an. Es war der Mann von Brands, der wissen wollte, warum ich nicht zum Termin erschienen war. Ich rief zurück, erzählte der Sekretärin, ich sei krank gewesen, und bat sie, die Unterlagen per Kurier zu schicken. Dann zog ich mich an und fuhr mit dem Taxi zum Regent, wo ich mein Auto nicht vorfand. Der Hotelboy hatte versprochen, es auf dem Parkplatz abzustellen, aber nach halbstündiger Sucherei war ich mir mit dem Portier einig, daß es nicht da war. Ich ging um die Ecke des Gebäudes, wo es am ehesten stehen konnte, wenn der Boy den Motor endgültig hatte absaufen lassen. Eine Halteverbotszone. Davor prangte das Schild der Abschleppfirma North City. Ich ging zurück ins Hotel, murmelte die Telefonnummer vor mich hin und wußte, daß ich einen leichten Sieg verspielt hatte. Der Mann am Telefon lachte. Ja, sie hätten mein Auto, bestätigte er und lachte wieder. Ich nahm wieder ein Taxi und fuhr zu North City. Die Firma lag am Stadtrand in einer Talsenke, eingekeilt zwischen ähnlichen Autohöfen. Der ölverschmierte Betonvorplatz war mit einem Tor aus Maschendraht versperrt. Die Pfosten bestanden aus blaugestrichenen Ziegelsteinen. Die Sonne schien durch vergitterte Fenster auf die Autos, die wild durcheinander in der Halle standen. Eine zweigeteilte Tür mit der Aufschrift EMPFANG war in das Tor eingelassen, die obere Hälfte stand offen. Ein Hund lag in einem der sonnigen Vierecke. Ein Terriermischling mit platter Schnauze und Schielaugen. Als er mich sah, setzte er sich auf die Hinterbeine und sperrte hechelnd seinen rosa Rachen auf. Ich rüttelte kräftig an der Tür. Ein Mann mit tätowierten Schultern kam aus einer angrenzenden Werkstatt geschlurft. Als er näher kam, sprang der Hund auf und bellte. Der Mann fluchte und wies mit dem Kinn in meine Richtung, ohne mich anzusehen. »Ich will mein Auto abholen«, sagte ich. »Macht hundertfünfundvierzig, Kumpel.« Ich schrieb einen Scheck aus. »Haben Sie einen Ausweis?«
»Hier.« Ich blätterte meine Kreditkarten und den Führerschein auf. Mit grünem Kugelschreiber schrieb er die Angaben ab und stellte mir eine Quittung aus. Den Stift hielt er mit Zeigefinger und Mittelfinger, als hätte er keinen Daumen. »Warten Sie hier, ich bringe ihn raus. Schlüssel?« Ich ließ ihn in seine ölschwarze Hand fallen. »Na, mein Hübscher«, meinte er und stupste den Hund mit dem Fuß an. »Charles«, sagte er zu ihm. »He, Charles.« Ich stellte mich an den Mast mit dem Windsack und wartete. Den Tomaso hörte ich, bevor ich ihn aus der Halle kommen sah. Die Leute, die draußen zu tun hatten, drehten sich um und gafften. Der Tätowierte hielt genau neben mir und stieg aus. »Da muß was dran gemacht werden«, sagte er. »Ich weiß.« »Bremsen sind total im Arsch.« Er grinste. Ein Goldzahn und eine Lücke. »Ich komm schon zurecht.« »Nee, die sind im Arsch.« Ich stieg ein und hatte Mühe, die Handbremse zu lösen. Der Motor stotterte und wollte schon ausgehen, aber ich fing ihn ab und fuhr los. Der Tätowierte im Rückspiegel glotzte mir nach und wurde immer kleiner. Ash Antiquitäten befand sich am oberen Ende der Symonds Street, zwischen der Kreuzung Khyber Pass und der Bushaltestelle. Eine alte Frau saß auf der Wartebank und sprach mit jemandem, der nicht zu sehen war. Ich tätschelte die Brieftasche in meinem Jackett. Ich durfte sie nicht abliefern, nicht einmal ahnen lassen, daß sie überhaupt existierte, nachdem ich Tangiers gelinkt hatte. Aber ihren Inhalt konnte ich trotzdem nicht ignorieren. Ich mußte das Rätsel lösen, den angefangenen Satz beenden. Jetzt war ich der Detektiv. Ich konnte mich nicht drücken. GESCHÄFTSAUFLÖSUNG, verkündeten mannsgroße Lettern auf dem Schaufenster. Die Ladenklingel ertönte, als ich die Tür aufstieß. Auf den ersten Blick sah ich nichts Kostbares. Ich quetschte mich an einem weißen Zahnarztstuhl vorbei, drei Kaminständern, einem alten Fahrrad, einem Rasenmäher mit zerbrochenem Griff. Es gab ein Grammophon mit Schalltrichter aus Pappmache und einer Schachtel mit Nadeln. Die Regale und Vitrinen waren mit 78er Platten in braunen Hüllen, mit Stereobetrachtern, wertlosem Besteck und vergilbten Porzellanpuppen gefüllt. Von
der rissigen Decke hingen ein paar rostige Sensen. Die rückwärtige Wand wurde von einem riesigen Samtgemälde einer Blondine und eines Einhorns verdeckt. Im vorderen Teil des Ladens stand ein kleiner Sekretär. Darauf waren eine Registrierkasse, das Telefon und mehrere alte Bücher sorgfältig arrangiert. Die Kassenrolle zeigte zwei Verkäufe an, einen heute, einen gestern: 5o,6o Dollar und 14,04 Dollar. Die Schreibunterlage sah neu aus. Nur die Visitenkarten in den goldgeprägten Lederecken zeugten davon, daß sie benutzt wurde. Ich fand Karten von Ash Antiquitäten — die gleichen, die ich in der Brieftasche hatte — und die von Veale & Associates, wo ich bereits angerufen hatte. Daß ich sie schon kannte, war mir unheimlich. Sie waren befleckt von den Dingen, die ich nicht hätte wissen dürfen. Ich steckte sie zurück und suchte nach neuen Fingerzeigen. Die anderen Karten stammten aus der Gebrauchtwarenbranche: Worts Leadlight Merchants (Bleiverglasungen, Ätzungen, Ornamentglas); Möbelrollen aus Goknar (größte Auswahl Neuseelands: Doppelrollen, Kugeln und Gleiter); T A. M. Buchbinderei (Spiralbindung, Festeinband, Aktenbindung). Ich steckte einen von zwei bunten Gutscheinen für die Yamada Bar in der Innenstadt ein (japanische Nudelgerichte, Alkoholausschank, montags geschlossen) und zog eine Klappkarte aus der vierten Ecke. Es war ein Bestattungsaufgebot. Für jemanden mit Namen Thaddeus Velim (Tad) Ash. Ich holte tief Luft. Als ich Schritte hörte, schob ich die Karte schnell zurück und schlug eins der Bücher auf, die daneben lagen. Zwischen den Seiten steckte ein Sammelbild: Star Trek, Episode 23: Skin of Evil. »Besonders selten«, sagte eine Männerstimme. »Nur mit der Pinzette zu berühren.« Behutsam klappte ich das Buch zu. »Oh, das wußte ich nicht.« »Nein, das Bild.« Der Mann wedelte mit seinem langen Zeigefinger und kam näher. »Star Trek: The Next Generation. Tasha Yar in holografischer Gestalt. Eine Rarität, wenn ich den jüngeren Kunden glauben darf. Ich benutze die Bilder als Lesezeichen, aber sie fassen die Dinger mit Samthandschuhen an. Wortwörtlich.« »Es gibt einen großen Markt für Sammelbilder«, sagte ich zögernd und versuchte das flaue Gefühl in meinem Bauch loszuwerden.
»Sind Sie Sammler?« Er blieb einen halben Meter vor mir stehen. Die Antwort blieb mir im Hals stecken. Ich schüttelte den Kopf und starrte ihn an wie hypnotisiert. Ich kannte sein Gesicht, aber ich wußte nicht, woher. Ich kannte jedes Detail — die hohe Stirn, das gepflegte graue Haar, die lange schmale Nase, die hellen Augen. Nicht die Person kannte ich, sondern die Momentaufnahme, glasklar und scharf. Ich starrte, bis ich wußte, was fehlte: das Blut, die Schnittwunden. Dieses Gesicht hatte ich in der Insurance Alley gesehen. Vor mir stand der Tote aus dem Glascontainer. Er wartete in aller Ruhe ab, bis ich den Namen nannte. »Tad Ash«, sagte ich. Der Antiquitätenhändler schloß kurz die Augen und lächelte. »Meine andere Hälfte«, erwiderte er. »Mein Zwillingsbruder. Ich bin drei Minuten älter.« Er hielt mir eine knochige Hand hin. »Dede Ash.« »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Aber Sie glaubten mich schon zu kennen. Das ist nicht ungewöhnlich.« Er ließ die Hand sinken. »Haben Sie Tad lange gekannt?« »Ich kannte ihn nicht«, sagte ich und verfiel in beklommenes Schweigen. Dede Ash rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Ich mußte gestern schon viele Fragen beantworten. Von welchem Dezernat sind Sie?« »Ich bin kein Polizist.« Ich räusperte mich. »Aber ich habe Ihren Bruder gesehen. Am Fundort. Es stand etwas innen auf dem Deckel. Von dem Container, in dem er gefunden wurde. P. Er hat P an den Deckel geschrieben. Und ich heiße Penrose. Verstehen Sie?« Dede Ash lachte. »Sie sind also doch Sammler«, sagte er. »Ich hab sie gefunden und mußte einfach fragen.« »Schon gut, verstehe.« Er hängte ein Schild an die Ladentür: Bin in 10 Minuten zurück. »Dieses Geschäft hat schon einiges an wackeligen Impulsen gesehen.« Er führte mich durch den Laden. »Das ist aus einer Haushaltsauflösung, spottbillig ... das ist ein Erbstück ... das haben wir auf der Straße gefunden ... das war ein Versandkauf.« Herkunft und Vorbesitzer, Verkauf und Wiederverkauf: für Dede Ash waren die Dinge eher durch ihre Vorgeschichte definiert als durch den Preis, den er automatisch an die Bezeichnung anhängte. Anstelle der Gegenstände sah er Eigentümer,
Liebhaber, Beschenkte. Diese Sachen waren nur ihre Erkennungszeichen. Ich blieb wortkarg. Er hatte mir einen grausamen Streich gespielt. Ein lebendiger Toter. Er drehte an einem Fahrradreifen, um mir zu zeigen, wie morsch der Schlauch war. Ich nickte gezwungen. Als wir zu dem Gemälde kamen, klappte er den Rahmen von der Wand weg, und wir betraten einen kahlen Verschlag, in dem zwei Bürostühle standen, dazwischen eine kleine Kiste. »Hier können wir sitzen«, sagte er. »Hier waren Sie, als ich hereinkam.« Er nickte und setzte sich auf den Stuhl hinter dem Einhorn. »Hier ist es im Sommer kühler.« Ich setzte mich ebenfalls und wartete. Auf sich selbst verwandte Ash deutlich mehr Sorgfalt als auf seine Waren. Sein Blick war auf die Rückseite des Gemäldes gerichtet, im Staub des Rahmens zeichneten sich Fingerspuren ab. Das Alter hatte dem Mann Würde verliehen, was man von seinen Antiquitäten nicht unbedingt sagen konnte. Gutgeschnittener Anzug, distinguierte Erscheinung. Ich hatte keinen Grund, ihm auszuweichen, als er mich mit wachen Augen musterte. »Eigentlich müßte ich Handschuhe tragen«, sagte er. »Alles müßte ordentlich archiviert und gelagert werden, vor Säure und schädlichen Umwelteinflüssen geschützt. Man kann nie wissen, ob die Dinge an Wert verlieren oder gewinnen. Man weiß nie, was man hat. Das ist unser Geschäft, sehen Sie, zumindest war es das. Früher einmal gehörte Ash Antiquitäten zu den besten Adressen.« »Wie meinen Sie das, früher einmal?« »Das Antiquitätengeschäft ist nicht mehr, was es einmal war. Die Ware, die wir verkaufen, wird älter, seltener und wertvoller, aber die Konkurrenz ist jünger und schneller. Es gibt keine gemütlichen Nischen mehr, nur noch einen einzigen Markt. Auf dem behaupten sich die Händler mit den reichsten Kunden, den entschlossensten Käufern. Die Amerikaner. Da fließen gewaltige Summen.« Dede Ash seufzte. »Ich habe mich in einen konservativeren, weniger riskanten Markt zurückgezogen. Denn wir wurden ja nicht jünger. Vielleicht ist es immer der Ältere, der ein wenig vorausdenkt. Mir ging es darum, zu schützen, was Sie hier sehen.« Er strich über den Samtstoff des Gemäldes, das uns von dem Trödel im Laden trennte, den Glasschwänen, den Sammelbildchen, den Plastikstühlen. »Ich habe entsprechende Kompromisse geschlossen, Tad nicht. Er
hat mir vorgeworfen, daß ich mich vor meinen Pflichten drücke, nicht aggressiv genug verkaufe. Das war unser größter Gegensatz. Er hielt es mit der modernen Technik – natürlich, er war ja der Jüngere. Als einer der ersten hat er einen Computer benutzt, während ich nächtelang die Buchführung mit der Hand gemacht habe. In den letzten Jahren haben wir wenig miteinander geredet.« Sein Mund verhärtete sich. »Tad hat weiter mit seltenen Büchern und Antiquitäten gehandelt. Im Auftrag eines Sammlers aus Übersee hat er das hier ersteigert.« Er wies auf die Kiste, die zwischen uns stand. »Es schien ein Routinevorgang, aber als er die Truhe hier übernahm, merkte er, daß sie viel mehr wert war, als er bezahlt hatte. Er stritt sich mit dem Sammler um seinen Anteil. Als die Truhe abgeholt werden sollte, gab er sie nicht her. Er wollte sie über einen Agenten weiterverkaufen – obwohl sie gar nicht sein Eigentum war. Eine schlimme Geschichte. Zwei Wochen lang befaßte er sich nur mit der Käufersuche. Er nahm keine anderen Anrufe entgegen und öffnete nicht seine Post. Ich bekam ihn kaum zu sehen. Und dann das.« Sein Blick schweifte durch den engen, abgedunkelten Verschlag. »Sein Tod«, sagte ich. »Ja. Die Polizei schob sein eigentümliches Verhalten auf sein Alter, seinen ... Lebenswandel.« Er leckte sich die Lippen, wie um einen schlechten Geschmack loszuwerden. »Das Geschäft mußte mehr abwerfen, damit er seine Drogen finanzieren konnte.« Dede Ash nickte. »Glauben Sie, er hatte Ärger mit seinem Dealer?« Er schüttelte den Kopf. »Das habe ich schon der Polizei erklärt. Die Summen, um die es dabei ging, waren unbedeutend. Wir reden hier von ein paar hundert Dollar. Tad hat gehofft, für die Truhe etwa tausend Dollar zu bekommen. Die Polizei glaubt nicht, daß es wegen solcher Beträge zum Mord kommt, Mr. Penrose. Und ich auch nicht.« »Aber Sie vermuten, daß der Mord damit zu tun hat.« »Das ja. Caveat emptor – der Käufer hüte sich.« Er richtete den Blick auf die Kiste. »Wissen Sie, was das ist?« »Ist es gefährlich?« »Ein Spielzeug.« Er beugte sich vor und strich über das glänzende Furnier. »Von 1860. Ein markantes Stück. Feine Arbeit. Sehen Sie hier?« Ich nickte. »Der Messingverschluß ist kaputt. Und innen«, er
klappte den Deckel auf, »ist sie eher schlicht. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist das hier.« Mit beiden Händen nahm er einen schwarzen und elfenbeinfarbenen Kasten heraus, stellte ihn quer auf die Truhe und steckte eine Kurbel hinein. Dann entnahm er der Truhe mehrere geschlitzte Pappscheiben. Sie waren etwa so groß wie Langspielplatten und mit fein gezeichneten Bilderfolgen versehen: Ein Reiter, zwei Boxer, ein Kind mit Reifen. »Ein Stroboskop«, sagte ich. »Damit erzeugt man bewegte Bilder.« Dede Ash nickte. »Sie sind nahe dran. Ein Phenakistoskop. Es beruht auf demselben Prinzip wie ein Stroboskop. Man setzt die Scheibe ein, dreht die Kurbel und blickt durch dieses Guckloch auf einen Spiegel. Das Gerät ist älter als die Truhe. Frühes 19. Jahrhundert. In diesem guten Zustand, voll funktionsfähig, ist es äußerst selten. Wir haben etliche Stroboskope und Mutoskope verkauft – im Museum steht auch eins –, aber ein Phenakistoskop in diesem hervorragenden Zustand habe ich sonst nie gesehen.« Er hielt mir eine Scheibe hin. Sie zeigte eine viktorianisch gekleidete Frau in verschiedenen Bewegungsphasen. »Sehen Sie, wie gut sich die Farben gehalten haben?« fragte Ash und schob die Pappscheibe behutsam in das Gerät ein. »Das sind Kollotypien. Etwas vergilbt zwar – die säurehaltige Pappe frißt sie langsam auf –, aber gemessen am Alter sind sie in Bestzustand.« »Und man muß nur kurbeln?« »Die Kerze anzünden und das Uhrwerk aufziehen.« Er machte sich am Mechanismus zu schaffen und zündete den Kerzenstummel mit einem Streichholz an. Mit flatterndem Geräusch setzte sich die Scheibe in Bewegung. Ein Hauch abgestandener Luft stieg mir in die Nase. Ich bückte mich und blickte durch das Loch. Durch die Rotation verflossen die schmalen Schlitze miteinander und verwandelten sich in ein Fenster, das den Blick auf die Bilder freigab, die wiederum zu einem einzigen bewegten Bild wurden: Die Frau ließ ein Taschentuch fallen und bückte sich, um es aufzuheben. »Sie ist lebendig«, sagte Ash und lächelte. Ohne Pause warf die Frau das Taschentuch und bückte sich – eine endlose Wiederholung desselben Vorgangs. Und jedesmal, wenn sie sich bückte, flog das Kleid in die Höhe und entblößte ihren nackten Hintern. So kurz gelebt und schon verdorben.
»Da saßen sie nun und haben sich an einer simplen Illusion begeistert, Mr. Penrose. Berauscht waren sie. Hypnotisiert.« Es war tatsächlich hypnotisierend. Das Auge starrte, und der Verstand wartete darauf, daß die Frau aus dem immergleichen Rhythmus ausbrach. Der Ablauf wurde quälend, man hoffte, daß sie weggehen oder sich umdrehen würde. Ich glaubte sogar etwas zu sehen, eine ganz leichte Änderung, aber es war nur die Verlangsamung des Mechanismus. Die Scheibe blieb stehen, die Frau erstarrte. Im Stillstand war sie grau und zerkratzt. Ich schaute genauer hin und sah Schrift auf der Scheibe. Ich griff hinein, doch Ash hielt mich zurück. »Nicht mit den Fingern«, sagte er und zog weiße Baumwollhandschuhe aus der Tasche. Ich streifte sie über und löste die Pappscheibe vorsichtig aus der Halterung. Sie bog sich unter ihrem eigenen Gewicht. Im Stillstand sah die Frau genauso üppig aus wie in Bewegung. Ihre Taille war mit einem Korsett eingeschnürt, ihr Hintern rund und prall, ihre Füße steckten in winzigen Schuhen. Die Augen und der Mund waren schmal wie die Schlitze, die in die Pappscheibe geschnitten waren. Um den Mittelpunkt rankte sich das Warenzeichen »London Stereoscopic Co.« und der Name des Produkts: »Das Rad des Lebens«. Daran schloß sich in konzentrischen Kreisen eine kaum sichtbare Beschriftung an. Die Tinte war stark verblaßt, aber der Abdruck der Feder auf der glänzenden Oberfläche der Pappe war noch zu erkennen. Jemand hatte die Scheibe in einer sorgfältigen Spirale beschriftet, die innen begann und außen endete. Es waren Hunderte von Wörtern. »Was ist das?« fragte ich, unwillkürlich flüsternd. »Der Anfang. Datiert ist er mit ...« Ich hielt die Scheibe ins Licht. Die zarte Handschrift begann mit einem Datum: Oktober 1875. Ich blickte zu Ash auf. Seine Schätzung des Alters dieses Apparats war verbunden mit einer objektiven Einschätzung seines Werts. Daß das Ding alt war, eine Antiquität, hatte ich beim ersten Blick darauf gesehen. Aber dies – daß jemand, der vor über hundert Jahren gelebt hatte, mit Tinte und Feder darauf geschrieben hatte, machte das Ganze irgendwie erst wirklich wertvoll. Mich packte eine seltsame Erregung. Am liebsten hätte ich die Pappscheibe unter den Arm geklemmt und wäre damit davongerannt, wie ich es auch mit der Brieftasche gemacht hatte. »Drehen Sie die Scheibe um«, sagte Ash.
Die Rückseite war genauso beschriftet, nur daß sich die Tinte auf der rauhen Seite der Pappe besser gehalten hatte. Ich versuchte die Scheibe zu drehen, aber die Handschuhe behinderten mich. »Es gibt noch mehr davon«, unterbrach mich Ash, als er sah, daß ich zu lesen begann. Er holte einen ganzen Stapel aus der Kiste und hielt ihn mir hin. Alle waren mit den gleichen Schriftspiralen versehen. »Ich habe die Schrift untersucht, aber den Text nicht gelesen. Antiquitäten sind oft von den verschiedenen Besitzern beschädigt oder signiert worden. Das hier hatte ich als zwanghafte Kritzelei abgetan. Mein Bruder hat allerdings herausgefunden, daß die Beschriftung der Scheiben fortlaufend ist und ein Tagebuch ergibt. Manche Stellen sollen ziemlich gepfeffert sein ...« Seine Stimme erstarb. »Und das wollte er verkaufen«, kombinierte ich. »Nicht den Apparat selbst, sondern das Tagebuch.« »Ja.« »Von wem stammt es?« »Von einem kleinen Jungen, der vor über hundert Jahren geboren wurde. Er hieß Palmer.« Mein Herz stockte. Ich war erleichtert und enttäuscht zugleich. »Palmer«, wiederholte ich. »Mit P.« Ash legte die Hände aneinander. »Es war so intim, so intensiv. Mir war gar nicht wohl dabei, daß erst Tad und dann ich mich darüber hermachte. Es kam mir unanständig vor, im Privatleben eines anderen herumzuschnüffeln. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es der Verfasser freiwillig hergegeben hätte. Es war wie eine Grabschändung, Mr. Penrose. Eine Verletzung der Totenruhe.« Er blickte mich an. »Sicher verstehen Sie meine Schuldgefühle, meine Scham.« »Manchmal ist es notwendig, sich darüber hinwegzusetzen«, sagte ich ein wenig zu voreilig. »Notwendig für wen?« »Irgendwo muß man anfangen. Jeder muß sehen, wo er bleibt.« Ich knetete meine Finger. »Sie sind nicht Ihrem Bruder zuliebe in das Geschäft eingestiegen. Sie handeln mit Antiquitäten, um Geld zu verdienen. Was ist mit den anderen Sachen, die durch Ihre Hände gegangen sind? Kleidern, Schuhen, Kinderspielzeug? Bekommen Sie da auch Schuldkomplexe? Wenn Sie einen Brief in einem alten Buch finden, lesen Sie ihn. Wenn jemand laut telefoniert, hören Sie zu. Sie können nicht sagen, daß Lesen, Hinschauen, Nachforschen ... daß das falsch ist.«
Ich bremste mich. Er musterte mich stumm. Er wirkte resigniert, aber nicht aufgebracht. Ich stand, und er saß, atmete dieselbe Luft wie ich, die von dem riesigen Samtgemälde festgehalten und erwärmt wurde, gefiltert vom Einhorn und dem verstaubten Krempel in den Regalen. »Sie haben weitergelesen, stimmt's?« bohrte ich. »Sie haben gehofft, dem Problem Ihres Bruders auf die Spur zu kommen. Das kann ich verstehen.« Ich zog die Handschuhe aus und legte sie neben den Apparat. »Was steht also in dem Tagebuch?« »Nun«, Dede Ash rutschte auf dem Stuhl herum. »Das ist schwer zu sagen.« »Versuchen Sie's.« Mit sorgfältig gewählten Worten begann er zu erzählen.
7
Oben wird die Scheibe hineingesteckt, an der Seite ist eine Kurbel. Die Scheiben haben lauter schmale Schlitze. Auf der einen sieht man einen Mann. Wenn man die Kurbel aufzieht, dreht sich die Scheibe immerzu im Kreis. Der Mann geht, als wäre er lebendig. Links, rechts, links, rechts, links, rechts. Mama packt einen weißen Käse aus. Sie legt ihn auf den Schneidestein und macht das Papier ab. Es ist zusammengefaltet und geht auf wie eine Blüte. Das Öl vom Käse macht das Papier durchsichtig. Solchen Käse haben wir gegessen, als ich ein kleines Mädchen war, so alt wie du, sagt Mama. Die Wände waren aus Gips und ganz glatt, und der Boden war trocken. Schule gab es nicht, Drew. Keinen Verkehr, keine Gaslampen, keine Telegramme. Und die Sommer waren heiß. Mein Vater rasiert sich mit einem langen Messer. Von jeder Seite wetzt er es elfmal. Er schmiert sich Schaum ins Gesicht. Das wirst du auch tun, wenn du groß bist, Drew. Jeden Tag muß man die Stoppeln abrasieren. Und wenn ich mir einen Bart stehen lasse? Pst, bloß nicht husten. Er setzt das Messer an. Er fängt am linken Ohr an und hört an der Kehle auf. »Palmer beginnt mit einer Beschreibung seiner Mutter — ihre Herkunft gibt er mit Rumänien an —, aber er nennt nie ihren Namen. Aus Verehrung vielleicht. Oder Haß. Mit ihr verbindet er sehr viel Kränkung und Unrecht. Als sie neunzehn war, reiste sie allein quer durch Europa, um nach London zu gelangen. Sie nutzte die Touristensaison, bewegte sich im Strom der Reisenden und versuchte, sich mit dem Geld durchzuschlagen, das sie bei ihnen verdienen konnte.« »Was hat sie dafür getan?« »So manches. Alles, kann man sagen. Von der Tischdame bis zu intimeren Gefälligkeiten. Sie hat mit vielen Männern geschlafen und auch etlichen Frauen.« »Das hat der kleine Sohn aufgeschrieben? Daß seine Mutter eine Prostituierte war?« »Das Tagebuch ist voll von späteren Ergänzungen«, erklärte Ash. »Die ursprünglichen Einträge waren kindlich und naiv. Die Einsicht folgt später. Die wichtigsten Erlebnisse hat er als Erwachsener noch einmal beschrieben und an anderen Quellen
überprüft. Es gibt viele Korrekturen. Er war gründlich und unerbittlich. Sie brauchte Geld, schreibt er, und war gezwungen, auf die verschiedenste Weise welches zu verdienen.« Beim Sprechen blätterte Ash in den Scheiben und nickte, wenn er vertraute Stellen wiedererkannte. »Palmer gibt den Reisenden die Schuld. Schon die frühesten Einträge zeigen, wie sehr er sie haßt. Er haßt die Herren in den weißen Smokings, die seine Mutter für zehn Minuten Hotelkorridor mit einem Trinkgeld abspeisten. Er haßt die reichen Frauen, die ihre geölte Haut begutachteten, die jungen Draufgänger, die sie in dunkle Ecken drängten. Die lockere Moral von Menschen, die ihre ganze Habe im Koffer mit sich herumschleppen, von Stadt zu Stadt ziehen und nur von unbezahlten Hotelrechnungen an ihr Vorleben erinnert werden. Nach langen Fußmärschen und vielen Strapazen kam sie erschöpft und ausgehungert in London an. Sie brach zusammen und wurde in ein städtisches Hospital eingeliefert. Dort wurde sie von einem Dr. Baldwin untersucht. Sie war von Fieber geschüttelt, ihr langes schwarzes Haar war verklebt vom Schweiß. Die Krankheit überzog ihre dunkle Haut mit einer geisterhaften Blässe. Ihre Hände waren wie Kinderhände, ihr Atem ging schwach. Der Arzt registrierte jedes Detail. Ihren Schmuck, ihren Geruch, die zerlumpten, ehemals weißen Kleider, die wunden Füße, ihre Schrammen und Beulen. Er erkannte darin die Zeichen ihres Leids und ihrer exotischen Herkunft und war überwältigt. Er verwöhnte sie mit seiner Fürsorge und vernachlässigte die anderen Kranken. Auch nachts schaute er nach ihr. Wenn sie schwitzte, wechselte er eigenhändig die Laken. Er kämmte ihr das Haar, während sie vor Fieber glühte. Er saß bis in die frühen Morgenstunden an ihrem Bett und hielt ihre Hand. In der vierten Nacht ließ das Fieber nach. Dafür hatte sich Baldwin ihre Blässe zugezogen, jetzt war er es, der abgerissen und erschöpft aussah, und der Grund war offensichtlich die bevorstehende Gesundung seiner Patientin. Er wollte nicht, daß sie ihre Farbe wiedergewann, daß ihre Stimme wieder zu Kräften kam. War sie erst geheilt, würde sie ihn verlassen. Er würde seinen kostbaren Fund verlieren. Und in der fünften Nacht teilte er ihr Lager. Man stelle sich vor: Der Arzt schläft mit seiner Patientin im Hospitalbett. Es gab weder Gewalt noch Gegenwehr, wie vermerkt wird. So als würde der Arzt lediglich ein anderes Medika-
ment verabreichen, eine andere Heilmethode wählen. Darauf verschlechterte sich ihr Zustand. Baldwin richtete es so ein, daß er sie Tag und Nacht umsorgen und ungestört bewundern konnte. Neun Monate später gebar sie ihren Sohn — Palmer — und war gesund. Der aufkeimende Skandal wurde dadurch erstickt, daß Baldwin zusammen mit einem Dr. Mood eine Privatpraxis eröffnete. Mood war eine imposante Erscheinung, zwanzig Jahre älter, hochgeachtet bei seinen Patienten und Kollegen, man schätzte sein ausgeglichenes Wesen. Allmählich fand auch sein junger Kompagnon Eingang in die bessere Gesellschaft. Dr. Mood und Dr. Baldwin wurden die bevorzugten Ärzte der Reichen. Palmer faßte eine besondere Zuneigung zu seinem Onkel Mood. Sein Tagebuch begann er an dem Tag, als sein Vater von Mood ein Phenakistoskop geschenkt erhielt — das Gerät, das Sie hier vor sich sehen. Seine Schilderung jenes Abends ist wie der Flug eines Vogels — erst nervös flatternd, dann geradlinig und elegant. Wahrscheinlich dachte er beim Schreiben an seine Mutter. Er saß auf ihrem Schoß, sie hielt ihn fest, und er betrachtete das Phenakistoskop. Sein Vater hielt schon eine neue Scheibe in der Hand, es herrschte allgemeines Gelächter. Die Figuren auf den Scheiben bewegten sich ohne Ende, und Palmer schaute durch das Guckloch, bis ihm langweilig wurde.« Ash drehte versonnen eine der alten Scheiben in der Hand. »Der Familie ging es gut, wie man an dieser Beschreibung erkennt. Ein behagliches Heim, Bedienstete, gepflegte Geselligkeit. Baldwin und Mood waren überall als Freunde bekannt, obwohl Baldwin Gesellschaft eher mied. In der Öffentlichkeit bewahrte er stets eine aufrechte Haltung.« »Was wurde aus der Frau?« fragte ich. »Eine Ehefrau und Mutter. Sie war fast einen Meter achtzig groß, hatte ein kräftiges Kinn, volle Lippen. Sie behielt ihren Akzent und ihre dunkle Haut. Ihr Haar blieb ungebändigt, es quoll unter ihrem Hut hervor. Mit ihren langen Beinen schritt sie aus wie ein Mann. Während die Mode schwindsüchtige Frauen bevorzugte, liebte sie lautstarke Auftritte. Seit sie wieder gesund war, fühlte sie sich gegen ihren Willen in diese Ehe gepreßt. Seine Autorität hat sie nie akzeptiert. Mit Verachtung kam sie ihren gesellschaftlichen Pflichten nach. Sie galt als hochmütig und abweisend. Und sie brütete finster vor sich hin, sie sträubte sich gegen ihr Los.
Ihr Mann störte sich nicht an ihrer Außenseiterrolle, im Gegenteil – ihre exotische Ausstrahlung machte sie nur um so begehrenswerter. Die bleichen Damen der Gesellschaft gingen ihr aus dem Weg. Deren Gatten jedoch nicht. Man traf sich auf Spaziergängen, in entlegenen Gassen. Sie strich durch das East End, frequentierte Kneipen und Spelunken, drang unbehelligt in Bordelle vor, um Zimmer und Bett zu mieten. Sie kannte viele Männer, und dies steigerte ihre Verachtung. Egal wie billig und flüchtig ihre Abenteuer – für sie waren es kostbare Momente der Befreiung, sie nährten ihren Stolz. Sie provozierte den jungen Arzt zum Streit. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich an Bagatellen und endeten in Handgreiflichkeiten. Sie schlug ihn und reizte ihn, zurückzuschlagen. Baldwin verstand sie nicht. In seiner Dummheit rechnete er ihr vor, was er für sie getan hatte – sie aufopfernd gepflegt, geliebt, geheilt –, und damit machte er sie nur noch wütender, denn gerade diese Fürsorge konnte sie nicht ertragen. Seine Zärtlichkeiten waren mehr als überflüssig; sie waren das Zeichen ihrer Sklaverei. Dann vergnügte sie sich, wie Palmer es ausdrückt, mit den Gästen. Das heißt, sie strich nicht mehr durch die Gassen, sondern holte sich ihre Liebhaber ins Haus. Sie vermied es, von ihrem Mann ertappt zu werden, ließ ihn aber mit Bedacht wissen, was sie tat. Sie quälte ihn. Es war die Rache für alles, was er ihr angetan hatte. Hinter dem Treppengeländer versteckt, beobachtete Palmer, wie die Diener die Fremden empfingen und in den Salon führten, wo sie von der Mutter erwartet wurden. Nach jedem Besuch eilte er die Treppe hinunter und beseitigte die Spuren, die sie absichtlich gelegt hatte: einen vergessenen Manschettenknopf, ein beflecktes Schondeckchen. Anfangs wunderte sie sich, daß ihr Mann nicht empört und angewidert aufschrie, wenn er in den Salon kam. Als sie merkte, daß der Sohn ihre Absichten hintertrieb, sperrte sie ihn in sein Zimmer. In der Woche darauf entdeckte Baldwin die sorgfältig plazierten Hinweise auf ihr Treiben. Sie erwartete ihn an der Dinnertafel – mit funkelnden Augen, neben ihr zitterte Palmer. Baldwin trat ein und begrüßte sie wie gewohnt. Das Essen wurde serviert, und die Familie verzehrte es schweigend. Baldwin hatte sich entschieden, die Provokation seiner Frau zu ignorieren. Palmer profitierte vom Gleichmut seines Vaters, er wurde mutiger. Er beschaffte sich einen Nachschlüssel und befreite sich, wenn die Mutter ihn einschloß. Als er sich an ihren Lebenswan-
del gewöhnt hatte, mied er auch ihren Blick nicht mehr. Bald war es umgekehrt: Er starrte sie vorwurfsvoll an, und sie wich ihm aus. Täglich verfolgte er hinter dem Treppengeländer dieselbe Szene: Es klopfte, die Diener öffneten, die Mutter lächelte. Ihre Auflehnung schrumpfte zur Salonkomödie. Die Untreue wurde zu einem verblassenden Ritual. In der Öffentlichkeit wahrte Baldwin sein Gesicht, aber innerlich fraß ihn die Demütigung auf. Er fand keinen Schlaf und magerte ab. Mit Gurgelwässern kämpfte er gegen seinen zunehmenden Husten an. Trotz aller Mühe verlor er immer mehr die Contenance. Er fuhr seine Patienten an, wurde wortkarg, manchmal sogar grob. Sein Wartezimmer leerte sich. Um diese Zeit kam ein neue Mode auf: das Sezieren von Leichen. Baldwin deckte sich mit stummen Patienten ein, die Toten wurden seine engsten Gefährten, und er wurde ihnen immer ähnlicher. Er begann zu trinken. Mood versuchte behutsam auf ihn einzuwirken, aber vergeblich. Er sah, daß sich das Schicksal seines Freundes erneut ins Negative wendete. Torte ist von außen gelb wie Stroh, von innen weiß wie saure Sahne. Zuckerguß ist rosa und durchsichtig wie Haut. Bonbons sind klein und hart. Marzipan zerbröckelt, wenn es alt ist. Im Zimmer ist es dunkel und still. Durchs Schlüsselloch kann ich nichts sehen. Mama nimmt mich mit in die Stadt. Sie spricht nicht mit mir. Sie kauft mir Anisbonbons, wenn ich brav bin und auf der Treppe warte. Sei ein guter Junge, Drew. Sie küßt mich auf die Backe. Mama kommt fröhlich zurück und küßt mich. Sie leckt mir den Anis ab. Drew, du bist ein Schmutzfink. Ein süßer Schmutzfink. Wir gehen zu Fuß nach Hause zurück. Sie wischt mit dem Handschuh über das schwarze Eisengeländer, als eine Kutsche vorbeirattert. Hör nur, das Pferd, Drew. Wie die Hufe klappern. Manchmal ruft mich Papa in sein Untersuchungszimmer. Drew, komm her. Ich möchte dich mit einem Gentleman bekannt machen. Nur keine Angst. Das ist Mr. Soundso. Papa trinkt aus einer Flasche. Ein bleicher Mann ist mit einem weißen Laken zugedeckt. Es riecht nach Gas. Der Mann hat einen Stoppelbart. Ist er gestorben, bevor er sich rasiert hat, Papa? Mein Vater lacht. Ah, Drew. Nach dem Tod wächst der Bart noch mindestens einen Tag weiter. Wirst du ihn rasieren, Papa?
Er ist wütend und knallt die Flasche auf den Tisch. Die Leichen rasieren, das machen die armen Schlucker. Wir kümmern uns hier nicht ums Äußere, die guten Sitten sind uns egal. Gott hat diesen Mann gerichtet, seine Seele ist entflohen. Er ist nur noch ein Leib. Was uns interessiert, ist das Innere. Und was ist da drinnen, Papa? Ah. Raff deinen Mut zusammen, Junge, und schau zu. »War Palmer sich selbst überlassen, trieb er sich im Hinterzimmer der väterlichen Praxis herum, zwischen medizinischen Büchern und verstöpselten Glasbehältern. Bald fand er sich zurecht in diesem Labyrinth der Krankheiten und Mißbildungen. Hier lernte er — spätabends und wenn seine Mutter Besuch empfing — die ersten Lektionen in Sachen Tod. Die Tatsache des körperlichen Verfalls wurde ihm ins Bewußtsein eingepflanzt. Er sah Embryos, die von toten Frauen stammten. Er sah einen Matrosenarm, den man wegen seiner Tätowierungen konserviert hatte. Ein Kalb mit zwei Köpfen schwebte im Formalin. Und die handkolorierten Bildtafeln der Bücher klärten ihn über die Krankheiten des Rachens, der Wirbelsäule und der Knochen auf, über die Lage der Organe und die Folgen ihres Versagens. Dazu kamen die Leichen, die durchs Haus getragen wurden, gehäutet und präpariert für anatomische Zeichnungen und private Studien — eine groteske Parade von Toten. Palmer wurde mit der Sterblichkeit konfrontiert. Er begann zu begreifen, daß er Teil einer vergänglichen Welt war. Er kam zu der düsteren Einsicht, daß seine Eltern sterben würden. Auch er selbst würde altern wie alles andere, stagnieren, erstarren, zerfallen. Nichts in seiner Umgebung, weder Vater noch Mutter, war dazu angetan, ihn zu beruhigen, ihm zu helfen. Er maß seine Atemzüge und seine Herzschläge und fragte sich, wann sie wohl stillstehen würden. Er wollte wissen, was nach seinem Tod mit ihm geschah. Er wollte wissen, wohin er dann gelangte. Es gab einen, der verstand, was in ihm vorging. Mood hatte nicht nur seinen Freund Baldwin, sondern auch dessen Sohn über längere Zeit beobachtet und kam zu der Einsicht, daß es Zeit war, einzugreifen. Er beschloß, Baldwins Frau einen Besuch abzustatten. Als Mrs. Baldwin sich erhob, um ihn zu begrüßen, blitzten ihre Augen vor Bosheit. Mood bot ihr eine ideale Gelegenheit. Er war Baldwins bester Freund, sein Berufskollege, sein Vertrauter
und sein Retter. Ein Lächeln überflog ihr Gesicht. Palmer sah, wie Mood in den Salon eintrat und die Tür hinter sich schloß. Während Mood sich wieder anzog, versteckte sie seinen Spazierstock und legte ihn gut sichtbar auf den Stuhl, als er gegangen war. Am Abend fand Baldwin den Stock. Palmer verfolgte hinter dem Treppengeländer, wie sein Vater den noch warmen Mantel wieder anzog, den Hut aufsetzte und aus dem Haus ging, den Stock in der Hand. Baldwin nahm eine Kutsche und fuhr durch die Stadt bis zu Moods Haus. Er bat den Diener, Mood zu rufen, und als dieser erschien, prügelte Baldwin ihn mit dem Stock zu Tode. Ein Zeitungsartikel über diesen Vorfall berichtete, das Blut des älteren Arztes sei die Treppe hinabgeflossen und in der Gosse zu Eis gefroren. Dies war das Ende von Baldwins Berufsleben. Er kam hinter Schloß und Riegel, das Gericht erklärte ihn für geistesgestört, und er wurde ins Murthlem Hospital vor den Toren Londons eingeliefert. Man sperrte ihn in eine einsame Zelle. Die Ärzte und ihre Helfer — oder soll ich sagen die Zauberer und ihre Knechte? — wollten den Druck, der auf seinem Gehirn lastete, lindern, indem sie ihm Abführmittel und Klistiere verordneten, Einreibungen für den Kopf, Natriumbromid und Eisenwässer. Er wurde ans Bett gefesselt und mit kaltem Wasser übergossen. Sie steckten ihn in eine Zwangsjacke und behandelten ihn wie ein unmündiges Kind. War Baldwin bei seiner Einlieferung nur verwirrt gewesen, so war er vollends verrückt, als seine Frau und sein Kind die Erlaubnis zu einem Besuch erhielten. Die Zugfahrt machte Palmer große Angst. Zwar schlief er den größten Teil der Strecke auf dem Schoß seiner Mutter, aber als der Zug mit Getöse in den letzten Tunnel einfuhr, wurde er geweckt. In der Dunkelheit des rüttelnden Waggons schrie er und schlug wild um sich. Er fürchtete sich nicht nur vor dem Lärm, sondern vor dem Tunnel selbst. Auch der Besuch bekam ihm nicht gut. Seinen Vater erlebte er in einem Zustand äußerster Verwahrlosung, unrasiert und brüllend. Nach einer förmlichen Begrüßung wurde der Junge von einer Schwester hinausgebracht und zum Spielen geschickt. Seine Mutter war entschlossen, den Kontakt zu dem Mann, der sie liebte, wiederherzustellen. Der kleine Palmer konnte sich nicht vorstellen, worin dieser Kontakt bestehen sollte. Seine Eltern zu belauschen, erschien ihm anfangs nur als harmloser Streich, doch als er sich zur Zelle des Vater zurückschlich, auf
einen Stuhl stieg und durch das Guckloch schaute, sah er seine Eltern in einen Akt unbeschreiblicher Kläglichkeit verwickelt. Sein Vater war mit Armen und Beinen an die eiserne Bettstatt gefesselt, und den Liebesakt beschreibt der Sohn als einen entsetzlichen Vorgang, einen Akt tiefster Erniedrigung in einem Haus, das voll von Schmutz und brüllenden Irren war. Palmer schrie laut und rannte fort. Seine Mutter rief einen Wärter, der die Verfolgung aufnahm. Palmer rannte in Richtung Bahnhof, der Wärter lief hinter ihm her. Am Bahnsteig sprang Palmer auf die Gleise und rannte die Schienen entlang. Der Wärter tat es ihm nach. Palmer rannte in den Tunnel, ohne einen Augenblick zu zögern. Der Wärter blieb ihm auf den Fersen. Palmer rannte und stolperte, rappelte sich auf und rannte weiter. Der Wärter holte ihn in der Dunkelheit ein. Als er ihn erwischte, waren sie tief im Tunnel und völlig außer Atem. Der Wärter schüttelte Palmer, und der schrie. Der Wärter ohrfeigte ihn, bis er sich beruhigte, dann hockten sie sich hin, um zu verschnaufen. Palmer war es, der das Geräusch trotz des Keuchens zuerst hörte. Hören Sie? sagte er zum Wärter. Und der Wärter fragte: Was? Ich habe etwas gehört, sagte Palmer. Was meinst du? fragte der Wärter. Was hast du gehört? Und Palmer sagte: Ein Pfeifen. Ein Zug fuhr auf den Tunnel zu. Es war ein schrecklicher Moment, als die beiden verzweifelt versuchten, sich zu orientieren. Das Pfeifen hallte von allen Seiten wider, so daß sie nicht wußten, aus welcher Richtung der Zug kam. Der Wärter ließ den Jungen stehen und rannte auf den hellen Punkt des Tunneleingangs zu. Palmer folgte, so schnell er konnte. Aber zu spät. Sie rannten in die falsche Richtung. Die Lokomotive fuhr mit stählerner Wucht in die Tunnelröhre ein, ein dröhnendes Konzert aus Stampfen, Rasseln und Zischen. Der Tunnel war schmal, neben den Schienen gab es keinen Platz zum Ausweichen. Der Wärter, ein Mann von nüchterner Vernunft, blieb einfach starr stehen, als das Ungetüm auf ihn zuraste. Er wurde auf der Stelle zermalmt. In der halben Sekunde bevor die Lokomotive ihn ereilte, wurde Palmer von seiner eigenen, aus panischer Todesangst geborenen Logik erfüllt. Der Zug war da. Der Tod war ihm sicher. Aber er sprang.« Ich blickte Ash fragend an, doch er wiederholte denselben Satz mit größerem Nachdruck und einem Anflug von Ungeduld. »Er sprang, Mr. Penrose. Der Junge ist einfach gesprungen. Er hat den Tod betrogen. Das genau sind seine Worte.« Ash
drehte die letzte Scheibe in der Hand und begann zu lesen. »>Plötzlich<, schreibt Palmer, >in eben der Sekunde, machte ich mich vollständig los. Ich löste mich von allen sterblichen Banden, von der Furcht und vom Gehorsam. Ich löste mich von meinen Eltern, von meinem Vater, von der Wut meiner Mutter, vom Seziertisch, von den Leichen, von den Organpräparaten, von meiner Zeit von siebzig Jahren – und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre –, vom Anprall dieser unnachgiebigen Masse aus Stahl. In diesem Moment sprang ich. Es war gar kein Platz dafür. Ich hatte keine Chance. Mein Schicksal war besiegelt. Die Vernunft sagte nein, die Logik sagte nein, Gott sagte nein. Aber ich tat es trotzdem. Ich sprang. Ich war flink genug. Ich sah den Tod kommen und entschlüpfte ihm. Mit einem Satz war ich frei<.« Wurde es um ihn dunkel oder hell? Blutrot oder geisterblaß? Wurde es still um ihn, oder spulte sich sein ganzes Leben vor ihm ab? Einen Vorgang, den ich mir nicht erklären konnte, konnte ich auch nicht nachvollziehen, geschweige denn glauben. Aber irgend etwas an der Vorstellung packte mich und hielt mich fest – so fest, wie Ash die Scheibe mit seinen zitternden, blaugeäderten Händen umschloß. »Was halten Sie davon, Mr. Penrose?« fragte er mit leuchtenden Augen. »Erklären Sie!« »Sehr seltsam.« Ich starrte auf die leeren weißen Handschuhe. »Ein unglaublicher Fall von Eskapismus.« »Eine phänomenale Flucht.« »Nein, ich meine Eskapismus. Eine Fluchtphantasie.« Ich wich seinem Blick aus. »Hören Sie, Mr. Ash. Es ist schrecklich, Ihnen das sagen zu müssen. Aber Ihr Bruder ist tot. Ich habe seine Leiche gesehen. Er ist nicht gesprungen. Er ist umgekommen. Der Tod hat ihn erwischt. Das kann ich Ihnen versichern. Eine Verbindung zu Palmers Bericht gibt es nur in Ihrer Vorstellung.« Meine Worte blieben im Raum stehen. Ich wand mich auf meinem Stuhl, wollte das Phenakistoskop in Gang setzen, aber die Feder war abgelaufen. Als ich aufblickte, sah ich Tränen in seinen Augen. Ich wollte ihm versichern, daß es keine verlorene Zeit gewesen sei, mir den Inhalt des Tagebuchs zu erzählen. Ich wollte ihn damit trösten, daß sein Bruder weiterlebte — in der Ähnlichkeit mit ihm und auch in seinem Herzen. Aber ich blieb stumm. Ich blickte zu Boden und tat, als könnte ich nicht anders. Ich weiß nicht, was ich von dem Buchstaben P erwartet hatte oder was ich hatte hören wollen. Ich hatte gewußt, daß er nichts
mit mir zu tun haben konnte, gleichzeitig hatte ich mir genau das erhofft. Ich war einem unwiderstehlichen Drang gefolgt, der Sache auf den Grund zu gehen, und nun, da ich wußte, was das P bedeutete, verstand ich gar nichts mehr. Der schlichte Lohn der Erkenntnis blieb mir verwehrt. Alles war rätselhaft, es gab keine Fingerzeige, keine Teilerfolge, nichts von praktischem Wert. Nur Leid, Verlust und Mißverständnis. Stumm saß ich Dede Ash gegenüber, so verbrachten wir die letzten Minuten des Morgens. Das Samtgemälde filterte das Mittagslicht und warf Tad Ashs Schatten auf uns. Im stillen verbanden sich unsere Erinnerungen an ihn miteinander. Dede Ashs lebenslange, meine kurze. Schließlich erhob ich mich zum Gehen und murmelte eine Entschuldigung, die so abgenutzt und kläglich war wie der alte Kram in den Regalen.
8
Auf der Bank der Bushaltestelle hockten zwei halbwüchsige Gestalten, die sich die Jacken über den Kopf gezogen hatten. Einer schaute mir mit glasigen Augen nach, der andere schnarchte leise durch den verklebten Mund. Sie waren zu bedröhnt, um noch bedrohlich zu wirken, und so zufrieden, daß sie wohl keine Hilfe brauchten. Ich drehte mich um und warf einen Blick zurück auf das Antiquitätengeschäft. Dede Ash stand noch hinter der Glastür. Ich startete den Motor und ließ ihn warmlaufen, durchwühlte das Handschuhfach nach dem Stadtplan und einem benutzbaren Kugelschreiber. Ich schlug eine fast leere Seite auf (Seite 43: Ackerland und der Hafen von Waitemata) und notierte mir die Namen und Daten aus Palmers Tagebuch. Dann riß ich die Seite heraus, strich sie über dem Lenkrad glatt und zeichnete den Grundriß des Antiquitätengeschäfts, die Lage der Türen, des Schreibtischs und des Verschlags, in dem wir gesessen hatten. Dann den Laden, wie er von der Straße aussah, das Schaufenster mit dem Scherengitter davor. Ich kreuzte die Stellen an, die sich am ehesten für einen Einbruch eigneten. An den Rand schrieb ich die Namen, die ich auf den Visitenkarten gelesen hatte. Ich nahm Tad Ashs Brieftasche heraus und schaute mir die Karte von Veale an. Veale & Associates. Verlagsberatung und Agentur. Tad Ash hatte versucht, das Tagebuch zu verkaufen. Veale mußte ich mir als nächsten vornehmen. Das einzige Datum, das ich mir gemerkt hatte, war Tad Ashs Beerdigung: morgen, elf Uhr. Auch das schrieb ich auf. Ich faltete den Zettel, schob ihn in die Brusttasche und fuhr los. Im Vorbeifahren sah ich Dede Ash nicht mehr, aber ich wußte, daß er mich sah. Die beiden Typen an der Haltestelle zogen die Köpfe ein, als würde ein Sturm aufziehen. Oder als wäre er schon im Gange. Veale erkannte meine Stimme nicht wieder, aber er klang so, als hätte er nur auf meinen Anruf gewartet. Sein Haus lag fünf Minuten von der City entfernt in einem Viertel, das sehr viel teurer war, als es aussah. Kinder spielten in einem kleinen Park am Straßenrand, ihr Geschrei wurde vom
Verkehrslärm erstickt. Hinter staubigen Hecken reihten sich mißfarbene Häuser. Veales Büro – und Wohnhaus, wie ich dann sah — befand sich in einer Sackgasse, die nicht viel breiter war als mein Auto. Ich fuhr auf den schrägen Bürgersteig. Die Wagentür kratzte über den Asphalt, als ich ausstieg, ich mußte mich durch den engen Türspalt quetschen. Roter Holzzaun, kurzgeschorener Rasen, eine Veranda mit Fliegentür. Mein Klopfen an der Tür war kaum zu hören. Ein großes Mobile aus purpurroten Windglöckchen hing reglos am anderen Ende der Veranda. »Hallo«, sagte die Frau, die mir öffnete. Sie trug eine Jogginghose und ein buntes T-Shirt, in der Hand hielt sie ein Küchenmesser. »Ich suche Mr. Veale«, sagte ich. »Ja«, erwiderte sie und wollte noch mehr sagen, als hinter ihr ein Mann die Treppe heruntergelaufen kam. Er schob sich an der Frau vorbei, öffnete die Fliegentür ein Stück weiter und grinste mich an, als wären wir alte Freunde. Er war untersetzt, trug kurze Hosen und ein ähnlich grelles T-Shirt wie die Frau. »Mr. Penrose! Das ging aber flott!«Die Frau lächelte mir zu und zog sich ins Haus zurück. »Ist das nicht ein Prachtwetter?« rief Veale. »Und das um diese Jahreszeit!« Er beugte sich aus der Tür und rieb sich die kahle Stirn. Seine Hände waren rot und faltig. Seine Erscheinung war ein seltsames Gemisch aus früheren Moden. Das Haar hatte er zu einer struppigen Tonsur aufgebürstet, um eine kahle Stelle zu kaschieren. Seine gefärbten Augenbrauen waren auffallend buschig, als hätte er sie mit Absicht auf doppelte Größe gezüchtet. Sein Körper wirkte schwammig und schlaff. Er trug mehrere Ringe, hatte lange, sorgfältig manikürte Nägel, das grelle T-Shirt war sauber bis auf ein paar Spritzer Haarfarbe auf den Schultern. Sein breites Grinsen begann zu flackern und verriet Unsicherheit. Er winkte mich herein. Das Zimmer war lachsfarben tapeziert, die Rattanmöbel wirkten ein wenig verbogen. In einem kleinen Büroregal reihten sich verblichene Paperbacks. »Vorsicht, das Fax«, sagte er und wies auf das beigefarbene Gerät mitten im Zimmer auf einem Rattanhocker. »Es steht etwas ungünstig.« Ich nahm den einzigen Sessel im Schatten. Das abgewetzte Polster war bereits gewendet. Als ich mich setzte, sank ich so tief ein, daß ich mich hinter meinen Knien verstecken konnte. Veale blickte im Zimmer umher, als hätte er etwas vergessen.
»Wie ich am Telefon sagte ...« »Ja, am Telefon.« »... interessiere ich mich für das Tagebuch.« »Ja.« Er nickte ungeduldig, als wüßte er längst, worum es ging. Aber danach kam nichts mehr. Ich räusperte mich. »Ich war in Verhandlungen mit einem Dritten, mit Tad Ash. Er hat mir Teile eines Manuskripts gezeigt, eines Tagebuchs, an dem ich interessiert war.« »Ja.« Veale kaute nervös auf den Fingern und gab preis, was seine dicken Augenbrauen zu verbergen versuchten. »Wie wär's mit einem Kaffee?« fragte er abrupt. »Das ist genau meine Zeit. Da schmeckt er mir am besten. Ich hab eine Maschine. Cappuccino?« »Ja, danke.« Er ging hinaus. Ich stand auf und schaute mich um. Ein kleiner Schreibtisch stand hinter der Tür, darauf eine große elektrische Schreibmaschine. In einem Ordner, der sich spreizte wie eine Harmonika, steckten Papiere. Ich klappte ihn auf. Manuskripte in altmodischem Stil, die von ungehorsamen Schülern und sausenden Rohrstöcken handelten. Die Fotos waren schon eindeutiger, aber ebenso alt. In Plastikhüllen steckten Postkarten mit vielsagenden Aufschriften: »Ein windiger Tag«, »Der Fahrradausflug«, »A travers les coulisses«, »Et maintenant: Toussez!« Veales Geschäfte waren nicht nur literarischer Natur. Ganz hinten ein Umschlag mit Faxkopien – grobe Konturen, ausgefranste Linien. Es waren Bilder von Schwimmern – Werbefotos, Illustriertenfotos. Alles Männer. Sortiert waren sie nach ihren Accessoires: Badekappen, Badehosen, Schwimmbrillen. Wo sie fehlten, wie bei den Nackten aus den Gesundheitsmagazinen, waren sie nachträglich eingezeichnet. Auf manchen Bildern, die nur den vagen Umriß eines Schwimmers zeigten, war mit Schreibmaschine vermerkt, was er getragen haben mochte. Und obwohl es sich offensichtlich um unterschiedliche Personen handelte, war jede mit einem kleinen Namensschildchen versehen, auf dem immer derselbe Name stand: Veale, E. Eine liebevoll arrangierte Sammlung. Als die Espressomaschine zu zischen begann, klappte ich den Aktenordner zu und setzte mich. Veale trug ein Tablett mit Keksen und zwei winzigen Tassen herein. »Da wären wir. Trinken Sie viel Kaffee?« fragte er. »Kann man wohl sagen.«
»Ich auch. Die Maschine war eine gute Investition.« »Normalerweise hole ich mir welchen im Café.« »Das hab ich früher auch gemacht. Aber mit dieser Maschine wird der Kaffee am besten, und seitdem gehe ich kaum noch weg.« Er reichte mir das eine Täßchen. »Es sind zwar kleine Portionen, aber wenn der Kaffee wirklich gut ist, braucht man auch nicht mehr. Möchten Sie Kekse?« »Haben Sie die auch selber gemacht?« »Nein.« Er lachte. »Die sind gekauft.« Der Kaffee schmeckte abscheulich. Ich balancierte das Täßchen auf dem Knie. »Ich würde Ihnen gern erklären, wonach ich suche«, begann ich. »Nehmen Sie Zucker?« fragte er und blickte in meine Tasse. »Danke, nein.« Das Telefon klingelte. »'tschuldigung, das ist für mich.« Er ging hastig ans Fax. Ich hörte, daß die Frau im Flur den Hörer abnahm und sich meldete. Er starrte einen Moment auf das Faxgerät, dann stellte er sich an die Tür und lauschte. Sie plauderte angeregt und lachte. Er kam zum Sofa zurück. »Sie ist rangegangen«, sagte er. »Klingt so, als hätten Sie 'ne Menge zu tun«, meinte ich. »Ja. Wie immer um diese Jahreszeit. Ich bin ziemlich gefragt.« Wieder hob er die Hand vor den Mund. »Ein spannender Job, eine aufregende Zeit. So viele neue Talente, es gibt alle Hände voll zu tun. Ein paar Klienten von mir sind absolute Spitze. Namen kann ich natürlich nicht nennen ...« Er warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Aber Sie können sicher sein ...« »Das Tagebuch«, erinnerte ich ihn. »Es stammt aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Sehr detailreich, sehr farbig, einzig in seiner Art.« »Und Sie wollen es verkaufen?« »Der Eigentümer wünscht einen schnellen Abschluß.« »Warum die Eile?« Er verzog das Gesicht. »Seit Tad mir die Ware übergeben hat, ist das Interesse ständig gewachsen. Es gibt die verschiedensten Kunden und Interessen bei Geschäften dieser Art, und man kann nicht alle zufriedenstellen. Das liegt in der Natur der Sache. Mir ist relativ egal, ob ich dann als Bösewicht dastehe. Man tut, was man kann, um möglichst alle zu berücksichtigen. Aber wenn es mal Tränen gibt oder eine blutige Nase, kann ich auch nichts machen.« »Wieviel wollen Sie?«
Er lehnte sich zurück. »Eigentlich nehme ich keine Gebote mehr an. Aber Sie können mir gern eins nennen. Der Einstiegspreis war achtzehneinhalb.« »Für ein einziges Tagebuch?« »Ein Autograph, komplett und intakt. Mit Zertifikat.« »Trotzdem ziemlich teuer.« »Der Markt für seltene und außergewöhnliche Manuskripte ist sehr umkämpft. Man muß spezielle Interessen bedienen. Ich vertrete ein paar Sammler, die sich nur mit Handschriften, intimen Tagebüchern, Briefen, Dokumenten befassen. Die kostbaren Momente aus dem Leben anderer Menschen. Unschätzbare Zeugnisse der Vergangenheit. Davon gibt es nicht sehr viel.« »Haben Sie keine moralischen Bedenken, Mr. Veale?« »Meine Moral heißt: möglichst keinen Ärger. Moral gehört zu einer Gesellschaft, die längst nicht mehr existiert. Wie der Schmutzrand in der Badewanne.« »Und der stört Sie nicht weiter.« Er lachte auf. »Nein. Ich mach das ja nicht für meine Gesundheit. Am Ende geht's immer ums Geld. Und stimmt die Kasse, stimmt auch alles andere. Wenn man schon so was in die Hände kriegt, muß man rausholen, was sich rausholen läßt. Da werden Sie mir zustimmen. Man versucht immer, das Beste aus seiner Lage zu machen.« »Was steht denn nun in dem Tagebuch?« fragte ich. »Können Sie Namen nennen? Orte?« »Leider nein. Dazu bin ich nicht befugt.« »Kann ich einen Blick reinwerfen?« »Solche Dinge bewahre ich nicht im Haus auf. Man weiß ja nie, wer vielleicht neugierig wird.« Er lächelte schelmisch, als wüßten wir beide nur zu gut, wen er meinte. Aber er verschwieg etwas. »Sie haben doch bestimmt eine Kopie, oder?« Er lächelte und schwieg. »Ich möchte das Tagebuch sehen.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Röte. »Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.« »Haben Sie es gelesen?« »Ich weiß, was drinsteht.« »Haben Sie es überhaupt?« Er grinste. »Ich würde bar zahlen.«
»So einfach ist das nicht.« Er beugte sich vor. »Es gibt bereits mehrere Interessenten. Und so gern ich mit Ihnen ins Geschäft käme — solche Informationen ... Ohne konkretes Angebot kann ich nicht davon ausgehen, daß ein Kaufinteresse vorliegt.« Ich stand auf. »Ich weiß nicht genau, was hier läuft. Und ich vermute, Sie wissen es noch weniger. Ich glaube, Sie verarschen mich. Nein, ich hoffe es. Ich hoffe für Sie, daß Sie das Tagebuch nicht haben. Denn derjenige, der es bis jetzt hatte, ist tot.« Er starrte mich an, die Röte stieg ihm wieder ins Gesicht. »Ich bringe Sie raus«, sagte er. Er stand hinter der Fliegentür und schaute mir nach. Sein Garten brauchte dringend Wasser. Ich ließ den Motor an und gab Gas. Der Eigentümer wünscht einen schnellen Abschluß. Das rätselhafte Verhalten, der ... Lebensstil von Tad Ash. Einstichnarben bis zum Stehkragen. Und immer scharf auf Geld. Veale war ein trauriger alter Sack. Dabei war er nicht mal alt. Ich kurbelte das Fenster runter und ließ mir frische Luft um die Ohren wehen. Es tat gut, wieder draußen zu sein, unterwegs. Was stand in dem Tagebuch, daß dafür ein Mensch sterben mußte? Erinnerungen. Ihr feuchter, weicher, liebeshungriger Mund. Ich fuhr und überließ dem Auto die Richtung.
9
Die Stadt erstickte im abendlichen Stau, die Luft war voller Gehupe und Motorenlärm. Die Leute drängten sich vor Eingängen und in engen Straßen. In den Eckkneipen, nicht größer als Wohnstuben, herrschte Hochbetrieb. Die Schlangen vor den Restaurants wurden von Straßenkünstlern belagert, die schon für den Mardi Gras übten. Die ganze City ein aufreibendes Gewimmel, die Ampelkreuzungen blinkten wie Spielautomaten. Heute stand ein anderer Hotelboy vor dem Regent. »Schräger Schlitten«, sagte er. »Ist der alt oder nachgemacht?« »Alt.« Ich gab ihm einen Zehner und nahm ihm das Versprechen ab, das Auto richtig zu parken. Er grinste und steckte den Schein weg. Als sich die große Schwingtür hinter mir schloß, atmete ich auf. Um den Flügel stand eine Band und spielte Songs, die so geläufig waren, daß sie nicht einmal mehr einen Namen hatten. Der Mann, der den Kontrabaß umarmte, schob ab und zu Töne ein, die nur mit Rhythmus, kaum mit Melodie zu tun hatten. Die Sängerin, eine magere Schwarze im blauen Satinkleid, stützte das Kinn auf die Hand und schonte ihre Stimme. Die Bar war gerammelt voll. Wenn Tony Dienst hatte, war er heute nicht ansprechbar. Ich suchte mir einen Sessel in der Nähe des Klaviers. Ich ließ mich in das tiefe Lederpolster sinken und rieb mir die Augen, bis die Lobby von roten Ameisen wimmelte. Mir gegenüber drängten sich mehrere Touristen auf einem einzigen Sofa. Sie wählten aus dem Kuchensortiment, das auf einem Servierwagen umhergeschoben wurde. Die Serviererin legte ein Stück auf einen großen weißen Teller, dekorierte es mit Schlagsahne und Puderzucker. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr eine schwarze Strähne ins Gesicht, sie neigte den Kopf zur Seite und schob die Strähne mit dem kleinen Finger zurück. So blieb sie stehen und nahm mit geschultem Lächeln die letzte Bestellung auf. Dann steuerte sie mit ihrem Wagen auf mich zu. Ihre Marinejacke saß locker, wie es sich gehörte, und ließ ihre schlanke Figur ahnen. Ihr Hemdkragen war gestärkt, ihr Lippenstift war rot. Sie trug eine weißgetüpfelte Herrenkrawatte. In der dunklen Uniform wirkte sie blaß, sie hatte ein schmales Gesicht,
unter ihren grünen Augen lagen dunkle Schatten. Ich fragte mich, wo sie ihren Schlaf versäumt hatte. Sie bedachte mich mit ihrem Berufslächeln. »Guten Abend, Sir. Ich bin Wilhelmina. Darf ich Sie zu einem Dessert verführen?« Ich beugte mich vor und nahm den Servierwagen in Augenschein. »Was haben Sie denn zu bieten?« Sie zählte das Angebot an den schlanken Fingern auf »Wir hätten Obstdesserts, Mont-Blanc-Baisers mit Kastaniencreme, Stachelbeer-Schaumrolle. Oder eine Cremespeise? Da wären französischer Flammeri und natürlich Zitronencreme.« »Natürlich.« »Dann die Eisspeisen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Mangoparfait, Schwarzwälder Kirschbombe. Und Käsekuchen: italienischer Käsekuchen.« »Sieht gut aus.« »Ist er auch«, bestätigte sie flink. »Und wenn Sie ein warmes Dessert vorziehen, bereitet Ihnen unser Küchenchef ein Omelett oder eine spanische Honigpastete.« Sie blickte mich erwartungsvoll an und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen changierten jetzt zwischen Grün und Blau. »Was ist denn das dort?« fragte ich. »Das sind bayerische Cremeküßchen.« »Sind die heute zu haben?« Sie verdrehte kurz die Augen zur Decke, und schon bereute ich es. Wie viele solcher plumpen Anzüglichkeiten waren von der Marmordecke schon abgeprallt? Sie mußte ganz verklebt sein davon. Plötzlich fiel mir auf, wie müde ich war. Das weiche Sesselpolster hatte mich in die Illusion versetzt, hier unter Freunden zu sein und mir solche Scherze erlauben zu können. Der Mann am Klavier leitete zur nächsten Allerweltsnummer über. Mein Blick wanderte von den lächerlich primitiven abstrakten Wandbildern zu den lemurenhaften Hotelboys mit ihren verschnittenen Frisuren und schlechtsitzenden Livreen. Warum sollte ich in einer Umgebung, die sich solche Geschmacklosigkeiten leistete, auf meine Worte achten? Die gediegene Atmosphäre war nur Täuschung, und alle fielen darauf herein. Dann senkte sich Wilhelminas sanfter, nachsichtiger Blick auf mich herab. »Wenn Sie bayerische Cremeküßchen mögen«, sagte sie, »das wäre schön.« Sie nahm einen Dessertteller vom Stapel, das Porzellan klingelte wie ein Glöckchen im Frühlingswind.
Die bayerischen Cremeküßchen schmeckten gut, obwohl ich sie mit nichts vergleichen konnte. Mir fiel meine Kindheit ein, nächtliche Milchgetränke, das Lesen mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Ich ließ mir die Cremeküßchen im Mund zergehen. Das Licht der Taschenlampe auf der knittrigen Buchseite. Die Taschenlampe war blau, hatte die Form eines Astronauten und war zerkratzt von den Nägeln und Zweicentstücken in meiner Hosentasche. Ich dachte an Schokoladenzigaretten, Apfelsinenschalen und all das Zeug, das mir die Taschen ausbeulte, daß ich kaum sitzen konnte. Ich aß langsam, um mir die Zeit zu vertreiben, bis Wilhelmina sich abgemeldet hatte, den Schlüssel von der Rezeption geholt und die Treppe hinabgegangen war. Als ich fertig war, stellte ich den Teller hin, tupfte mir den Mund mit der Serviette ab und ging hinter dem Klavier nicht nach links zur Bar, sondern nach rechts. Die Tür fürs Personal war angelehnt, und ich schlüpfte hinein. Die Lampen warfen gekrümmte Schatten in den Flur. Sie wartete am Ende des Flurs, vor der Tür zur Wäscherei, und schwenkte den Schlüssel. Drinnen war die Luft stickig. Es brannte kein Licht, nur die Insektenlampe tauchte alles in bläulichen Schimmer. Ich folgte Wilhelmina durch ein Labyrinth aus Wäscheregalen voller Bettbezüge, Tischtücher und Servietten. Das letzte Regal war angefüllt mit gestärkten weißen Handtüchern, die sich bis zur Decke stapelten. Sie sah mich mit großen Augen an. Die rasselnde Klimaanlage dörrte mir die Kehle aus. Wilhelmina biß sich auf die Unterlippe. Versuchsweise nahm ich ihr Gesicht zwischen die Hände. Sie schloß die Augen und legte den Kopf zurück. Ich forschte in ihrem Gesicht. Sie lächelte schläfrig, als hätte sie hier ewig auf mich gewartet und nur an mich gedacht — nur an dich, Baby. Und was ist dir in all den Stunden, die ich weg war, über die Lippen gegangen, Wilhelmina? Das, so wußte ich, würde sie mir nicht verraten. Ich ließ den Gedanken beiseite und küßte sie, flüsterte ihren Lippen zu, daß ich sie vermißt hatte, und streichelte ihren Nacken. Ich biß zu, bis ihr das Lächeln verging, dann küßte ich sie erneut und fuhr ihr mit der Zunge über die Zähne. Ihr Mund schmeckte nach Mandeln. Ich strich ihr über die Wange und lauschte auf das Meer. Ich nahm ihr die Jacke von den Schultern und mühte mich mit ihrer Krawatte ab. Sie breitete die beiden Vorderseiten ihres Hemdes aus wie Schmetterlingsflügel und drückte sich an mich.
Ich schob sie rückwärts in die Handtücher, öffnete ihr mit einem Griff den Rock, der Rock fiel zu Boden. Schwarzes Haar im blauen Licht. Unsere Sätze zerfielen zu einzelnen Wörtern. Baby. Höher. Nein. So. Ja. Ich drang in sie ein und flüsterte Liebeswörter. Sie hatte die Augen offen, ihr Blick war wie Applaus. Wir waren ganz allein, und sie hörte mir zu. Sie war hier, sie war bei mir. Mit Haut und Haar. Und sie war hellwach. Ich bog ihren Kopf zurück. Wir schoben uns höher in die Handtücher. Ich tastete mit den Händen nach Halt, riß die Handtücher bündelweise herunter, schob sie mit den Füßen beiseite. Sie umklammerte mich und richtete sich auf. Wir stolperten. Sie schrie und schlug gegen die Wand, ich hielt sie so fest, wie ich konnte, winselnd, ohne einen Zentimeter nachzugeben. Dann wurde ihr Gesicht feucht. Ich leckte es ab. Sie drehte sich zur Seite, ein Arm nach oben, die Beine gespreizt. Wie eine Puppe, aus großer Höhe gestürzt und zerbrochen. Wir sanken in einer Kaskade von Handtüchern zu Boden. Sie lachte, ich lachte auch, und beide wußten wir nicht warum. Ich lag rücklings auf dem Fußboden und zog sie auf mich. Sie fühlte sich warm an. Ich strich ihr übers Gesicht, ich schaukelte sie hin und her. Sie kicherte. »Wilhelmina«, sagte ich. Es klang wie eine Ankündigung. Sie richtete sich auf. »Du warst gestern nacht hier, sagt Tony.« »Ja.« »Warum bist du nicht geblieben? Ich hätte dich gern gesehen.« »Ich war müde. Ich hatte zu tun.« »Er meinte, du hattest keinen Appetit auf Süßes.« »Ich mußte etwas zurückgeben.« »In der Nacht? Was denn?« Ich zuckte die Schulter. »Das ist eine lange Geschichte.« Sie kniff die Augen zusammen. »Hat es mit deinem Job zu tun?« »Nein. Für den habe ich schon zwei Tage nichts getan.« »Warum nicht?« »Ich brauchte mal 'ne Pause. Bin ziemlich fertig.« »Du willst es mir nicht sagen.« Sie rutschte ein Stück von mir weg. »Und du willst mich nicht sehen. Ist schon gut.« Sie stand langsam auf und suchte ihre Sachen zusammen. »Und was hast du in letzter Zeit gemacht?« fragte ich. Sie knöpfte gemächlich ihre Bluse zu. »Alles mögliche«, sagte sie schließlich und schüttelte ihren Rock aus.
»War nur 'ne Frage.« »Ja.« Sie stieg in den Rock und zog den Reißverschluß zu. »Es war eine Frage.« »Ich weiß.« Sie strich den Rock glatt. »Ich hab einen neuen Job.« »Nämlich welchen?« »Einen, der Geld bringt. Ich will sparen und abhauen. Nach Europa. Ich will reisen.« »Für wie lange?« »Solange es geht. Ich will hier weg. Ich mache nichts aus meinem Leben.« »Was willst du dort machen, was du hier nicht machen könntest?« »Du hörst mir nicht zu.« Sie schaute umher. »Wo ist meine Krawatte?« »Hier.« Sie war auf den Boden gefallen. »Zieh dich an«, mahnte sie mich. »Ich muß zurück.« Ich setzte mich auf die Handtücher. »Ist gemütlich hier.« »Ich kann dir ein Zimmer besorgen. Wenn du müde bist.« »Was hast du vor?« »Noch eine halbe Schicht, dann gehe ich nach Hause.« »Warum nehmen wir nicht ein Zimmer zusammen?« Sie knotete ihre Krawatte. »Kommt nicht in Frage, Ehe.« Sie zog den Knoten zu und fand die Krawatte zu kurz. »Verdammt.« »Warte, laß mich.« Sie hockte sich vor mich. Den Knoten zu lösen war einfacher gewesen. Sie starrte mir ins Gesicht, während ich mich abmühte, scheiterte und von neuem anfing. »Was macht deine Wohnung?« fragte sie. »Ich hab die Fensterscheiben übermalt.« »Warum das?« »Nur im Schlafzimmer. Aber ich kann trotzdem nicht schlafen.« Ich löste den zweiten Knoten wieder auf. Irgend etwas verfing sich zischend in der Insektenlampe und verwandelte Wilhelminas Augenfarbe in Bleigrau. »Ich hab dich wachgehalten«, erinnerte sie mich. »Nicht nur du.« »Danke.« »Nicht, was du denkst. Sondern die Gedanken.« »Welche Gedanken?« »Was weiß ich.« Auch der dritte Knoten ging daneben, und ich verlor die Geduld. Ich zerrte ihn auf, band den Knoten an mir
selbst, zog mir die Schlinge vom Kopf und hielt sie ihr hin. Aber sie blickte ins Leere. »Was ist denn?« »Ich denke nicht mehr an dich. Früher ja. Da hab ich auf dich gewartet, wenn ich Spätschicht hatte. Bei der Kaffeepause hab ich mir vorgestellt, daß du mich ausrufen läßt.« Ein Mr. Penrose wünscht Ms. Litner. Ich stellte mir den Blick des Managers vor, das höfliche, stumme Einverständnis. »Das würden sie machen, Ellie, wenn du mal auf einen Sprung vorbeikämst.« Sie studierte meinen Blick. »Aber das würdest du nie tun. Ich hab lange gebraucht, um das zu begreifen. Ich soll nur für dich da sein, wenn du mich willst.« »Was soll ich dazu sagen?« »Gar nichts sollst du sagen. Ich erzähle dir nur, wie mir ist.« Sie streifte sich die Schlinge über und zog sie zu. Ich schaute ihr zu. »Schon besser.« »Wirklich?« Sie klappte ihren Kragen um. Ich nickte und rückte den Knoten zurecht. Ihr Atem war warm und angenehm. Meine Fingerspitzen berührten ihren zarten Hals. »Ich muß zurück, Ellie«, sagte sie. Ich suchte meine Sachen zusammen und fand alles, nur nicht die gewohnte Sicherheit, die mir das Ritual des Anziehens sonst verlieh. Die Socken waren schmutzig, der Hosengummi klebte an der Haut und juckte. Ich drehte Wilhelmina den Rücken zu, zog mich widerwillig an und träumte von einer Dusche, die mir den Staubgeruch der Wäschekammer herunterspülte. Wahrscheinlich hätte ich ein Zimmer genommen, wäre der Vorschlag nicht von ihr gekommen. Die Vorstellung, ihr so nahe zu sein und sie nicht für mich zu haben. Als ich mich zu ihr umdrehte, beugte sie sich vor und kämmte sich sorgfältig das Haar. Überall zerwühlte und zertrampelte Handtücher. »Wir haben eine Sauerei angerichtet«, sagte ich. »Na und.« Sie warf den Kopf zurück. »Irgend jemand wird sie schon wegmachen.« Ich ging auf den Flur hinaus. Sie mühte sich noch mit dem Schloß ab, aber ich wartete nicht. An der Personaltür blieb ich stehen und lauschte. Es war nichts von ihr zu hören. Ich fuhr mir durchs Haar, ging hinaus in die Lobby und ließ die Tür ins Schloß fallen. In der Lobby herrschte geschäftiges Treiben. Der Pianist spielte auswendig und nickte rhythmisch mit dem kahlen Kopf.
Er war mager und bleich, wie von der Musik ausgezehrt, seine Handrücken dick geädert. Die Sängerin stand starr aufrecht, mit geschlossenen Augen, und steuerte einen spärlichen ScatGesang bei. Der Bassist schlug die Saiten noch immer mit derselben Mischung aus Ungeduld und Langeweile. Eine andere Serviererin schob den Dessertwagen umher und zählte einem zappligen Gast, der schon längst wußte, was er wollte, sämtliche Desserts auf. Ein Hotelboy ging los, um meinen Wagen zu holen. Ich wartete mit den Händen in den Hosentaschen, während mich sein Kumpan mit hirnlosem Geschwätz unterhielt. Hatten Sie einen schönen Abend? Freuen Sie sich auf den Mardi Gras? Wie finden Sie die Musik? Waren Sie mit dem Dessert zufrieden? Ich wachte im leeren Bett auf. Mein Mund war ausgetrocknet. Durch das Fenster des Nachbarraums kam graues Frühlicht und verwandelte meine Stifte in Turmspitzen, meine Bücherstapel in Kathedralen. Ich stand auf, um die Sonne aufgehen zu sehen. Am Horizont malvenfarbene Wolkenbänke, der Himmel über mir war leer. Die Luft hatte einen kühlen Beigeschmack, der einen heißen Tag versprach. Ich setzte Wasser auf und nahm die Teebüchse aus dem Schrank. Die Mücken hatten mich zerstochen. Sie brüteten in den alten Dachrinnen und kamen herein, um sich an mir zu mästen. Ich stellte die Teekanne auf den Tisch und kratzte mich. Irgendwann gestern hatte die Firma Brands angerufen. Ich stellte den Anrufbeantworter lauter, trank meinen Tee und hörte dabei eine Sekretärin fragen, ob ich den Umschlag erhalten hätte. Ich solle umgehend zurückrufen, wenn er eingetroffen sei. Unter der Tür sah ich die Ecke des Umschlags. Sie hatten schneller reagiert als erwartet. Klar, Zeit war Geld, aber mein Interesse war geschwunden, seit ich es mit faszinierenderen Dingen zu tun hatte. Ich hob den Umschlag auf und warf ihn in eine Schublade. Dann musterte ich wieder einmal die Brieftasche. Sie war mir schon vertrauter – jetzt gehörte sie mir –, aber das seltsame Gefühl blieb. Um elf Uhr war die Trauerfeier für Tad Ash. Ich mußte hin,das war mir klar. Wenn ich etwas später kam, würde ich nicht weiter auffallen. Ich konnte mich von hinten dazustellen und mußte mit niemandem sprechen. Ich beschloß, die Teilnahme als respektvolle Geste gegenüber Dede Ash zu betrachten, obwohl meine Begegnung mit dem Toten alles andere als respektvoll gewesen war.
Beim Duschen ließ ich mir Zeit. Danach öffnete ich das Fenster und ließ die Sonne herein. Schweigend spülte ich den Rasierer ab, als wäre etwas Feierliches an diesem Vorgang. Mir tat der Kopf weh, mein Mund schmeckte nach Wilhelmina. Nach dem Rasieren spülte ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab und nahm ein frisches Handtuch zum Abtrocknen. Der Dampf stieg in Wolken aus dem Kippfenster. Ich kämmte mich vor dem Schrankspiegel, der so beschlagen war, daß ich mein Gesicht nicht sah, dann öffnete ich die Schranktür und suchte ein Eau de Cologne. Im Schlafzimmer entschied ich mich für einen anthrazitfarbenen Einreiher, ein weißes Hemd, schwarze Socken, flache Stiefel mit kantiger Spitze. Als ich die schwarze Seidenkrawatte in der Hand hielt, fiel mir etwas ein: ich hängte sie über die Schranktür und versuchte den Knoten von vorn zu binden. Langsam wurde ich besser. Ich wartete auf den Fahrstuhl und zupfte die Manschetten zurecht. Das Bestattungsinstitut war in Hafennähe, umgeben von Industrie und Bahnanlagen. Eine gute Gegend zum Ausfahren des Wagens, aber heute wollte ich zu Fuß gehen, trotz der Hitze. Ich wollte mit meinen Gedanken allein sein. Ich wollte über Tad Ash nachdenken. Nichts sonst. Das Foyer war dunkel und verlassen, die Fliesen waren kalt. Das Antiquariat hatte geöffnet, die Regale mit den alten Illustrierten lagen im graugrünen Schatten. Das Geschäft gehörte Louise, einer bebrillten Frau Ende Vierzig, die kaum ein Wort Englisch sprach und sich den Namen »Gebrauchtmagazine« für ihr Antiquariat ausgedacht hatte. Wenn man eintrat, erklang ein blechernes Glöckchen, und sie blickte kurz auf und lächelte dann auf die Tasse hinunter, die sie auf dem Schoß hielt. Sie benutzte immer dieselbe Glastasse mit einem braunen Plastikdeckel. Wenn sie trank, hob sie den Deckel ein klein wenig an, nahm einen vorsichtigen Schluck und schloß ihn hastig, um den Inhalt, worin immer er bestehen mochte, zu schützen. Abends waren es höchstwahrscheinlich Instantsuppen, die sie hinter dem Vorhang mit kochendem Wasser aufgoß. Beim Stöbern nach Krimis hatte ich einmal den Vorhang in der hinteren Ladenecke gelüftet und das Tischchen mit dem Wasserkocher gesehen, daneben auf der rotkarierten Plastikunterlage zwei bleiche Äpfel und eine Schale mit ältlichen Mandarinen. Ich vermutete, daß sie mit dem Wasserkocher auch Tee aufbrühte, für eine Freundin von Instantkaffee hielt ich sie nicht. Ich hatte sie schon oft fragen wollen, mich aber nie dazu durchringen können.
Louise antwortete selten auf Fragen und blickte einem nie in die Augen. Jeden dritten Tag etwa blieb ihr Laden geschlossen, dann bekam man nur das Schild mit der kindlichen Handschrift BIN GLEICH ZURÜCK zu sehen. Aber wenn sie geöffnet hatte, war ich ihr regelmäßiger Kunde. Ich mochte sie, sie mich vermutlich auch. Fotokopieren konnte ich bei ihr zu ermäßigten Preisen, und sie hielt für mich Ausschau nach den zwei Illustrierten, die zusammen eine unschlagbare Referenzbibliothek zu einem meiner Lieblingsthemen abgaben – 20th Century Freeway. A History of American Motoring und Dream Cars. Bei mir im Büro warteten die Sammelmappen aus Kunstleder auf ihre Komplettierung. Regelmäßig legte mir Louise auch die National Geographit zurück, gelegentlich einen New Scientist, und sie war mir unentbehrlich beim Aufspüren der fehlenden Bände meiner Encyclopaedia Britannica gewesen. Beim Blättern fand ich dann gelegentlich Zeitungsausschnitte, die sie mir hineingelegt hatte, in der Annahme,sie könnten mich interessieren. Ich überlegte, womit ich diese freundliche Geste erwidern konnte, aber mir fiel nichts ein. Letztes Jahr zu Weihnachten kaufte ich ihr eine CrownLynn-Tasse mit Untersetzer, über die sie sich sehr freute — ohne sie je zu benutzen. Wahrscheinlich wartete die Tasse still und bescheiden hinter dem Vorhang. Louise beugte sich über ein Reader's Digest, die linke Hand ruhte auf dem braunen Plastikdeckel ihrer Tasse. Ich klopfte im Vorbeigehen an die Scheibe. Sie blickte auf, winkte eifrig und bückte sich, um nach einem Bündel Zeitschriften zu greifen — alles in einer Bewegung, wie ein Insekt, das vom Licht aufgeschreckt wird. Ich nickte ihr zu, rief »Später!«, und sie legte die Illustrierten zurück unter den Ladentisch. Dann verkroch sie sich wieder hinter ihrem Digest. Meine Schritte hallten, als ich das Foyer verließ. Draußen teilte die Morgensonne die Straße bereits in einen hellen und einen dunklen Streifen. Die Leute blinzelten und blickten zu Boden, wenn sie durch die grelle Sonne eilten. Markisen warfen ihren Schatten auf den Asphalt und boten abschnittweise Zuflucht vor der Hitze. Ich hängte mir das Jackett über die Schulter und ging langsam, um nicht in Schweiß zu geraten. Die Leute am Fußgängerüberweg zögerten, wenn der Summer ertönte, weil die andere Seite ungeschützt in der grellen Sonne lag. Sie wollten lieber im Halbdunkel der Markisen bleiben, wo es sich frei atmen ließ.
Allmählich leerten sich die Bürgersteige, und der Lastwagenverkehr nahm zu, rechts und links Fabrikfassaden, Werkstätten, Holzhöfe. Die Luft schmeckte nach Diesel. Vor dem Ziegelbau des Bestattungsinstituts wartete ein Grüppchen Trauergäste. Ich ging an ihnen vorbei, weiter die Straße entlang, um abzuwarten, bis sie hineingegangen waren. Um fünf nach elf zog ich das Jackett an und kehrte um. An der Tür begrüßte mich der Direktor und überreichte mir die Karte mit dem Programmablauf Thaddeus Velim (Tad) Ash stand in Goldbuchstaben auf der Karte, das Sonnenlicht machte die Worte fast unsichtbar. Das Foyer war klein, nirgends konnte man ein Fenster öffnen. Die weißen Tapeten waren goldgemustert, die stuckverzierte Decke war taubenblau getüncht. Künstliche Kerzen verbreiteten ein rauchloses Flackerlicht, aus der Kapelle drangen elektrische Orgeltöne. Der Choral kroch zäh über den Fußboden und schwappte an mir hoch. Ich mußte mich räuspern. Alles saß schon auf den Plätzen. Ich blieb im Eingang der Kapelle stehen. Dreißig Trauergäste etwa, alle so alt wie Dede oder älter — abgesehen von zwei Kindern mit ihren Eltern. Ich zählte die grauen Köpfe, die Hörgeräte, die Nylonblousons ab. Ausgetretene, aber bequeme Schuhe, ordentlich geputzt. Betont bunte Blümchenkleider, längst eingemottete Bürohemden mit abgewetzten Kragen, Nylonmäntel über Strickjacken, ungeachtet der Hitze, Häkelwolle in verwaschenen Farben. Das Ganze ein Mischmasch aus Pietät und Routine, zusammengehalten durch das Bestreben, sich angemessen zu kleiden. Ich rückte meine Krawatte zurecht und zog mich ins Foyer zurück. Ich konnte von draußen zusehen, vielleicht sogar zuhören, ich hatte keine Lust, mich in die muffige Kapelle zu der verdrucksten Trauergemeinde zu setzen. Als ich noch einen Schritt zurück machte, legte sich eine Hand auf meinen Arm. »Es fängt gleich an. Ich habe Ihnen einen Platz freigehalten.« Ich drehte mich um und stand vor Tad Ash. Aber es war natürlich Dede, das perfekte Ebenbild seines Bruders. »Ich wußte, daß Sie kommen würden.« Zwinkernd wies er mit dem Kopf in die Kapelle. »Glauben Sie, daß Sie den Mörder finden?« »Haha!« Ich räusperte mich. »Sehr lustig.«Er legte auch die andere Hand auf meinen Arm. »Hier ist nicht der rechte Ort für Witze, ich weiß. Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind. Aus welchem Grund auch immer.« »Da bin ich mir selbst nicht sicher.«
»Jedenfalls sind Sie gekommen. Gestern waren Sie so schnell weg, daß ich nicht mal Zeit hatte, mich zu bedanken.« »Ich habe Ihnen gern zugehört.« »Ich war sehr aufgewühlt, sehr emotional.« »Ich bitte Sie!« beschwichtigte ich. »Sie haben einen großen Verlust erlitten.« »Was ich Ihnen erzählt habe ...« Er stockte. »Ja, bitte?« »Tad hat das alles sehr wichtig genommen. Sehr wichtig.« Ich nickte. »Es war so schwierig.« Er blickte in die Kapelle. »Jetzt kann man nicht mehr rechten.« Auf einem Podest aus Glas und Chrom, das gerade hoch genug war, um wie ein Altar zu wirken, stand der Sarg. Er war groß und sperrig, aber er hatte nichts Düsteres an sich, nur Lack und Chrom. »Der Grund, weshalb Sie gekommen sind« — sein Griff wurde fester —, »liegt in Ihnen selbst.« Er ließ mich los und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ich bin gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken, Mr. Ash.« »Danke, Mr. Penrose. Gehen Sie in die Kirche?« »Eher nicht.« Er nickte. »Tad gehörte zu den Händlern, die sich als erste für einen verkaufsoffenen Sonntag einsetzten.« Die Orgel setzte neu ein, diesmal lauter. Ash wies in die Kapelle. »Nehmen wir unsere Plätze ein. Hier.« Er gab mir eine Karte mit dem Programmablauf »Kommen Sie?« »Natürlich.« Ich folgte ihm durch den schmalen Mittelgang, vorbei an dicken Brillengläsern, halblautem Gemurmel und vagen Gesten — hier biß sich einer auf die Lippe, da wurde ein Auge mit dem Taschentuch betupft —, die auf Trauer oder einfach nur auf das Alter zurückzuführen sein konnten. Mein Platz war in der ersten Reihe, rechts neben dem Organisten und seiner winzigen Hammond. Ash wartete, bis ich saß, dann ging er weiter und flüsterte hier und da mit jemandem. Allmählich verstummten die Geräusche, und die Trauergäste setzten sich zurecht. Jetzt blieb mir nichts mehr übrig, als ebenfalls geradezusitzen und auf den Sarg zu starren. Vor einer Woche hatte Tad Ash noch den Telefonhörer abgenommen, die Registrierkasse bedient, Bücher zurechtge-
rückt, Regale abgestaubt, mit seinem Bruder gesprochen. Dann war er in eine Seitengasse gestolpert, von Glas zerschnitten worden, langsam verblutet. Er hatte Zuflucht gesucht, und nun hatte er sie gefunden, in einer Kiste. Alles blickte auf den Sarg und dachte an den Toten, aber niemand hatte ihn so gesehen wie ich, und niemand sonst besaß seine Brieftasche. Ich wußte also zwei Dinge über ihn, die selbst seine engsten Freunde niemals erfahren würden. Plötzlich war ich mit einer Mission betraut. Nicht daß ich mich irgendwie berufen fühlte. Aber es war eindeutig, daß mir nichts anderes übrigblieb. Der Pfarrer kam von hinten durch den Gang und schlug auf dem Altar seine kleine Bibel auf. Er gab den Choral an, und die Trauergemeinde erhob sich, manche unter Mühen, als der Organist mit der Einleitung begann. Die alten Männer sangen mit hohen Stimmen, die Frauen brummten leise mit. Ich fand mich nicht in die Tonart, meine Stimme kippte weg. In der letzten Strophe gab ich auf und bewegte nur noch die Lippen. Erleichtert setzte ich mich hin, als das Lied zu Ende war. Am Blick des Organisten merkte ich, daß ein Nachzügler gekommen war, der irgendwo hinter mir Platz nahm. Nicht einmal aus dem Augenwinkel konnte ich ihn sehen, aber etwas an diesem Vorgang, eine kaum spürbare atmosphärische Veränderung, ließ mir keine Ruhe. Ich mußte sehen, wer es war. Jetzt begann der Pfarrer seine Trauerrede. Ich konnte mich unmöglich umdrehen wie ein zappliges Kind, nur meine Antennen ausfahren und Signale einfangen. Hinter mir vereinzeltes Husten und Schniefen. Dede Ash hörte geduldig zu, während ihm der Pfarrer in aller Ausführlichkeit und in den wärmsten Tönen mitteilte, daß sein Bruder verstorben war. Die Frau, die neben mir saß, kroch in sich zusammen. Dede Ash bewahrte das schmerzliche Lächeln, das er auch mir gezeigt hatte. Was er zu hören bekam, war traurig, aber nicht neu. Er sah müde und einsam aus. Als die Gemeinde zum letzten Gebet aufstand, konnte ich mich kaum noch beherrschen. Wenn das Gebet vorbei ist, drehe ich mich um, sagte ich mir. Doch der Pfarrer verkündete eine Minute des stillen Gedenkens, und ich wollte losbrüllen: Noch eine Minute? Eine Minute, die der Mensch hinter mir nutzen würde, sich unauffällig zu verdrücken, während sich die anderen geräuschvoll setzten. »Eine Minute, in der wir in aller Stille unseren Frieden mit uns selbst machen wollen«, hörte ich den Pfarrer sagen. Da kam mir die Idee.
Ich machte einen Schritt nach vorn und kniete mich vor den Sarg. Keiner reagierte, niemand wirkte überrascht. Der Pfarrer bedachte mich mit einem verständnisvollen, vielleicht sogar respektvollen Blick. In der Kapelle herrschte vollkommene Stille. Ich tat, als würde ich die Augen schließen, und verfolgte den Sekundenzeiger meiner Uhr. Als zwanzig Sekunden vergangen waren, hob ich behutsam den Kopf und blickte auf die polierte Fläche des Sargs, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt war. Eine Weile brauchte ich, um das verzerrte Spiegelbild auf der Rundung des Sargs auszumachen, dann sah ich, was sich hinter meinem Rücken befand. Und dort, etwas abseits, stand der Nachzügler gerade auf. Groß, schwarzer Mantel, dunkle Sonnenbrille, blondes Haar. Ich sehe dich, flüsterte ich lautlos. Ich weiß, daß du da bist. Auf einmal war die Stille vorbei. Die Leute räusperten sich, rumorten und raschelten. Ich erhob mich und drehte mich um — gerade noch rechtzeitig, um den langen schwarzen Mantel in der Tür verschwinden zu sehen. Schon war der Gang mit alten Leuten verstopft, die langsam hinausgingen. Ich schloß mich ihnen an. Draußen keine Spur von dem Fremden. Nur Detective Tangiers und sein treuer Gehilfe standen auf der Straße und sahen sich die Trauergäste an. »Wie geht's?« fragte er. »Kennen Sie hier jemanden?« Dede Ash war ein Stück entfernt, jemand half ihm in ein Auto. »Nein«, sagte ich. »Dachte nur, es gehört sich so. Da ich die Leiche gesehen habe. Eine Frage des Respekts.« »Das leuchtet ein. Ich hab Sie in der ersten Reihe gesehen.« »Ich war früh da.« »Ah.« Er nickte und warf einen Blick über die Schulter. Ich war aus eigenem Entschluß hierhergekommen, wartete aber schon auf seine nächste Frage oder seine Erlaubnis zu gehen. Unruhig, mit flinkem Blick musterte er eine alte Frau von oben bis unten. Dann drehte er sich wieder zu mir um, mit demselben wachen, superschlauen Blick, mit dem er schon in meinem Büro aufgetaucht war. Er hatte nichts herausgefunden und brauchte dringend etwas. Wenn ich nicht aufpaßte, war ich geliefert. »Wer ist Veale?« fragte ich. »Veale?« »Dede Ash hat ihn erwähnt. Kennen Sie Dede Ash? Der Bruder des Toten. Erstaunliche Ähnlichkeit, wirklich. Ich hätte nicht gemerkt ...«
»Er hat über einen Mann gesprochen, der Veale hieß?« »Ja. Ich wollte ihm mein Beileid aussprechen, und er erwähnte beiläufig, daß jemand namens Veale gar nicht gekommen sei.« »Ash hatte Kontakt mit einem Veale«, blaffte Tangiers seinen Assistenten an, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Wir haben doch seine Nummer, oder?« »Das wird er wohl sein«, sagte ich so unschuldig wie möglich. »Vielleicht hat es einen Grund, daß er nicht gekommen ist.« »Könnte sein. Sehr gut, Mr. Penrose. Wenn Sie einer von meinen Leuten wären, hätten Sie jetzt was gut bei mir.« Der Leichenwagen setzte sich langsam in Bewegung, gefolgt von ehrwürdigen Limousinen. Auf den Rücksitzen drängten sich grauhaarige Trauergäste. Tangiers starrte der Prozession nach. »Wir sind hier fertig.« Sein Assistent nickte, sie gingen zu ihrem Auto. Tangiers drehte sich um und blickte mich auffordernd an. »Soll ich Sie mitnehmen?« »Ich glaube, ich laufe lieber.« »In dieser Gegend?« Er war belustigt. »Haben Sie hier zu tun?« »Nein, nichts.« Ich schnupperte die Fabrikluft. »Deshalb gefällt es mir hier.« Ich sah dem wegfahrenden Auto nach und stand allein auf der Straße. Die gelben Lampen des Bestattungsinstituts brannten trotz der Sonne. Ich wechselte die Straßenseite und ging in Richtung Hafen. In den besseren Straßen der Hafengegend wurde gerade mit der Sanierung begonnen, was mich nicht freute. Ich würde die Werkhallen und Speicher vermissen, die Bahnlinien, die die Stadt ernährt hatten, als sie wuchs. Von der Straße aus wirkten die Gleise verrostet und verkrümmt. Ich stieg über den Zaun, zwängte mich durchs Gebüsch, kletterte durch kniehohes Gras in die Senke hinunter und betrat das Gleisbett. Der lose Schotter knirschte und wirbelte rostigen Staub auf. Zwischen den Schienen wucherte der Löwenzahn. Ich lief auf den Schwellen, mit gleichmäßigem Schritt. Ein Bündel Zaundraht lag herum, hier eine Schwellenschraube, da eine alte Unterlegscheibe. Der Bahnsteig war mit Glassplittern übersät, die Wände graffitibeschmiert, von den Holzbänken ragten nur noch die Stahlverankerungen ins Leere. Am hinteren Ende des Gebäudes, geschützt vorm Seewind, stand eine halbierte Blechtonne, die
als Ofen diente, sorgfältig auf Steinen und verkohlten Balken aufgestellt. Ich betrat den Schalterraum. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Neben den Hinweisen, daß der Bahnhof geschlossen war, klebten Plakate; sogar hier wurde für den Mardi Gras geworben. Die große Parade! Kommt zur großen Parade! Auf dem Fußboden lagen Zeitungen, es roch nach Scheiße. Jedes Wochenende verwandelten die Penner den Bahnhof in ein Nachtlager, und jeden Montag wurde alles wieder zugenagelt. Von ferne hörte ich ein schrilles Pfeifen. Ein Zug näherte sich. Ich ging hinaus und sah eine große Diesellok, einen Personenwaggon, eine lange Reihe Güterwaggons. Der Zug wurde immer größer, der Frontscheinwerfer glomm in der Sonne. Wieder das Pfeifen, ganz nahe. Der Schatten verdunkelte den Bahnsteig, die Räder rieben sich mit mahlendem Geräusch an den Schienen, der Motorenlärm wurde von der Wand zurückgeworfen. Eine Sekunde schwoll das Dröhnen, das Klappern, das Kreischen entsetzlich an. Passagiere huschten vorbei, es stank nach Öl. Die Zugluft wirbelte Zeitungen umher und blies mir Staub ins Gesicht. Ich hielt mir die Hand vor die Augen, dann ratterten die Güterwagen vorbei, und der Zug schrumpfte wieder zurück in die Gleise. Der Moment der dröhnenden Angst war vorbei. Eines Tages würde ich Wilhelmina verlieren. Der Gedanke ließ mich nicht los. Ich fragte mich, wie man es schafft, die Lücken zu füllen, die von Alter und Krankheit gerissen werden, wie man zuschauen kann, wenn die Freunde einer nach dem anderen weggeholt werden wie Preise bei einer Wurfbude. Es schien besser, allein zu bleiben und sich auf flüchtige Bekanntschaften zu beschränken. Hatte Palmer die Reisenden vielleicht deshalb gehaßt? Ihr Kommen und Gehen machte ihnen die Abschiede leicht. Wenn der Tod kam, hatten sie schon Übung im Abschiednehmen. Der Tod war nur die längere Version der Sommerfrische, von der die Angehörigen stets zurückkehrten. Das Tagebuch auf den Scheiben des Phenakistoskops war nicht mehr als das Gekritzel eines Verrückten. Ein Hirngespinst auf Pappe. Aber ich war mir trotzdem sicher, daß es genauso direkt mit Tad Ashs Tod verbunden war wie die Bahnschienen mit der Stadt in meinem Rücken. Alles war irgendwie verbunden. Ich zählte die Sekunden, bis das Rattern des Zuges verschwunden war, bis der graue Umriß mit der Landschaft verschmolz. Tad Ash war hier und jetzt gestorben, auf diesem
Bahngelände, nicht vor zwei Nächten in der Insurance Alley. Ich winkte dem verschwundenen Zug nach. Die Hände in den Taschen vergraben, machte ich mich auf den Rückweg in die Stadt. Meine Finger wühlten ziellos im Durcheinander und wurden fündig. Es war die Karte der japanischen Nudelbar. Ich hatte Hunger – ich konnte genausogut ins Yamada wie irgendwoanders hingehen. Das Yamada war eine Nudelbar weit unten in der Stadt, es gehörte zu einer Kette, die es erst seit ein paar Jahren gab. Die Schwesterlokale waren teure Steakhäuser oder Sushi-Bars, doch das Yamada fand ich schließlich zwischen einem Touristencafé und einem schäbigen Reisebüro eingeklemmt in einer kleinen Seitenstraße hinter den Kais. Es war kaum größer als ein Korridor mit Barhockern entlang einer Theke aus Kunstfurnier. Etwa zwölf Leute saßen drinnen, damit war es schon fast voll. Ganz hinten sah ich einen leeren Platz, und auf dem Platz daneben saß Dede Ash. Der Koch und sein Helfer schnitten hinter der Theke Gemüse auf einer Arbeitsplatte aus Edelstahl. Ich drückte mich an ihnen und den Gästen vorbei, die sich über ihre Schüsseln beugten. Dede Ash trug noch seinen Beerdigungsanzug, er saß sehr gerade und las die Speisekarte. Wie sich das alles fügt, dachte ich. Man muß nur den Karten folgen. Einen Moment zögerte ich. Sollte ich ihn ansprechen? Hatte ich das Recht dazu? Aber gleichzeitig spürte ich, daß alles schon für mich arrangiert war. Er saß da, und ich stand hier, und wir hatten ein Wort miteinander zu reden. Ich ging zu ihm und streckte die Hand aus. »Ich konnte mich nicht mehr verabschieden«, sagte ich. Aber er blickte nicht auf. Er las weiter. Der Adamsapfel an seinem bleichen, mageren Hals fuhr auf und ab. Ich räusperte mich. Er klappte die Karte zu und starrte mich an. Er war hier, um nach der Beerdigung ein wenig allein zu sein, und ich drängte mich auf »Ich wollte Ihnen danken, das ist alles«, log ich. Er starrte mich an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Die Wasserhähne hinter der Bar, eingehüllt in Aluminiumfolie, tropften vor sich hin und ersetzten das Wasser, das aus dem ständig kochendem Topf verdampfte. Der Koch füllte zwei Schüsseln mit Brühe, ließ Nudeln abtropfen und kippte sie hinein. Dann rief er den Kellner, der die Schüsseln in den hinteren Teil des Lokals brachte. Ich mußte mich an die Wand drücken, damit er vorbeikam.
»Am besten, Sie setzen sich«, sagte Ash und wandte sich wieder der Speisekarte zu. Es tat gut zu sitzen. Ich zog mein Jackett aus. Der Kellner ging hinter die Bar und reichte mir eine fotokopierte Speisekarte. Die englische Übersetzung der Gerichte war mit Kugelschreiber unterstrichen. Die Lampen waren mit einem gelblichen Fettfilm überzogen. Die Gäste rauchten, aber es roch nicht nach Rauch. Die Ventilatoren über der Bar saugten den Rauch und die Kochdünste ab. Ein Fernseher ohne Ton spielte Musikvideos, die Musik kam aus einem kleinen Transistorradio – Hits der Sechziger und Siebziger. Sie ersparten es mir, etwas sagen zu müssen. Ich saß einfach da, hörte zu und ließ die anderen reden. Der Koch schnitt Fleisch mit einem scharf aussehenden Messer. Die Grillplatten zischten, als er sie mit Öl bestrich. Er legte panierte, fingergroße Fleischstückchen darauf und ließ sie bräunen. Ash bestellte Shoi Ramen und Tee, ich nahm Shoi und ein Sapporo. Wir gaben die Speisekarten zurück. »Wie sind Sie über den Tag gekommen?« fragte ich. »Jetzt fühle ich mich wie betäubt.« »Sie sind allein hergekommen.« »Ich wollte weg. Ich hatte das Reden satt.« »Das Gefühl kenne ich.« »So?« Der Kellner schob mir das Bier hin. Ich nahm die eiskalte Büchse in die Hand. Der Deckel löste sich in einer Spirale und verwandelte die Büchse in ein Glas. Ich nippte am Schaum. »Herb«, sagte ich, ohne mir viel dabei zu denken. Ash nickte. »Die Japaner mögen es herb.« Ich nahm einen kleinen Schluck. »Sind Sie mal in Japan gewesen?« »Nein.« »Ein Freund von mir hat da gearbeitet. Ich war nie dort.« Ich leckte mir die Lippen und nahm noch einen Schluck. »Würde aber gern mal hin. Ich müßte viel mehr reisen. Na, irgendwann.« »Ohne Tad zu verreisen wäre mir nie in den Sinn gekommen.« »Weil Sie Zwillinge waren?« Er nickte. »Wir blieben am liebsten zusammen. In der Schule hatte man uns getrennt — das war sehr schwierig. Die Leute haben nicht verstanden, wie sehr wir aneinander hingen. Wir haben uns nie gleich gekleidet, im Charakter waren wir völlig unterschiedlich. Aber das meiste haben wir zur gleichen Zeit
gemacht. Zähne bekommen, Laufen gelernt, Mumps gekriegt. Wir haben nicht mal gern in getrennten Zimmern geschlafen.« »Auch dieselben Mädchen gehabt?« »Solche Geschichten sind leider nur Märchen.« »Oh.« »Viele Menschen waren ursprünglich Zwillinge. Wenn die Zellteilung beginnt, kommt es oft zur Verdoppelung. Meistens stirbt eines der Zwillinge ab, aber sie halten sich oft länger, als man denkt. Hier in der Bar gibt es mindestens einen, der einmal einen Zwilling hatte. Vielleicht auch Sie, Mr. Penrose. Einen kleinen Doppelgänger. Daher Ihr Interesse.« Er senkte den Kopf und ließ den Gedanken fallen. »Tad und ich, wir gehören zu der kleinen Minderheit, die überlebt hat. Aber jetzt stimmt das natürlich nicht mehr.« »Sie sind noch da.« »Ja. Und warte auf den Tod.« Ich schaute ihn an und sagte nichts. »Zwillinge sterben in kurzem Abstand voneinander. Das wissen Sie sicher.« »Aber nicht in diesem Fall«, wandte ich ein. »Wieso nicht? Tad ist tot. Jetzt bin ich dran.« »Sein Tod war nicht vorgesehen. Es war ein Zufall. Er wurde ermordet.« »Wie auch immer, jetzt ist er tot.« Ash starrte in seine Teeschale. »Und ich bin überfällig.« Er nahm einen Schluck. »Mögen Sie grünen Tee?« »Ja.« »Man bekommt einen klaren Kopf davon.« Der Koch arbeitete mit flinken Händen. Helen Reddy sang. Ich zog die Stäbchen aus der Papierhülle und rieb sie aneinander, um die Splitter abzustreifen, als die Nudeln kamen. Wir aßen stumm, ich spülte die Nudeln mit Bier herunter. Ash aß bedachtsam, ich kleckerte. Als meine Schüssel halb leer war, schob ich sie weg und bestellte noch ein Bier. »Das war gut«, sagte ich. »Ich bin oft hier«, sagte Dede Ash. »Heute schmeckt es anders.« »Wirklich?« »Sehr salzig.« Er sog die Unterlippe ein. Ich öffnete die zweite Büchse. »Ich hab mich über jeden gefreut, der zur Trauerfeier kam«, sagte er. »Ich brauchte den Beistand.« »Aber jetzt sind Sie allein hier.«
»Ich hab auf Sie gewartet.« Er lächelte. »Nein – ich konnte nicht ahnen, daß es so schnell gehen würde, aber ich wußte, daß Sie kommen würden. Schon als Sie vor Tads Sarg knieten. Sie sind auf der Suche nach etwas.« »Ich war bei Veale.« Er zuckte die Schulter. »Hat er Sie beeindruckt?« »Ein schmieriger Typ, wie mir scheint. Er hat nicht mal eine Kopie von dem Ding, das er angeblich verkaufen will. Ich glaube nicht, daß er für Tad einen Deal arrangiert hat oder daß er überhaupt einen Käufer für irgendwas hat, am wenigsten für das Tagebuch. Aber er suchte nach einem Verlag. Vielleicht hat sein Gerede jemanden nervös gemacht. Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte?« »Wer weiß?« sagte er vage. Ich lächelte. »Die Polizei tappt wahrscheinlich im dunkeln, aber ich glaube, es ist jemand, der verhindern möchte, daß das Tagebuch veröffentlicht wird.« Ich musterte ihn von der Seite. »Ich bin Ihrer Meinung, Mr. Ash. Ich glaube auch, daß das Tagebuch dahintersteckt.« »Und wieder hat es einen faszinierten Anhänger gefunden«, seufzte er. »Schade, daß mein Bruder nicht mehr lebt, Mr. Penrose. Ich bin sicher, Sie wären der ideale Kunde für ihn gewesen.« Er bückte sich nach seiner Tasche und holte eine dicke rote Aktenmappe heraus. An dem Band, mit dem sie verknotet war, klebten Reste von Siegelwachs. »Bitte lesen Sie es«, sagte Ash mit Rührung in der Stimme. »Mein Bruder hätte es gewünscht.« »Was hat es damit auf sich?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Tad hat genauso reagiert. Den ersten Teil fand er nicht überzeugend, aber als er weiterlas ...« Er hielt mir die Mappe hin. »Sie werden es bald merken.« Seine Hände zitterten, als ich ihm die Mappe abnahm. Der plötzliche Tod seines Bruders, der frische Eindruck der Beerdigung – offenbar war er am Ende seiner Kräfte. Ich machte Platz auf dem Tresen, legte die Mappe hin, er sah zu, wie ich den Knoten löste. »Ich habe es mit mir herumgetragen«, sagte er. »Bei unserem ersten Treffen wollte ich Ihnen das Manuskript noch nicht geben. Aber mir raubt es nur den Schlaf, Mr. Penrose.« In der Mappe lag ein Stapel abgegriffener loser Blätter. »Wo kommen die her?« fragte ich. »Aus dem Boden des Phenakistoskops. Der Kasten hat eine Vertiefung, in der waren sie versteckt.«
Ich sah zwei verschiedene Handschriften. Eine große, ungelenke mit vielen Fehlern, die sich an die Linierung hielt, und eine kleine, schräge, sehr viel flüssigere Schrift. Sie füllte die Zwischenräume der Zeilen und setzte sich oft quer zur Seite an den Rändern fort. Manche Seiten waren so dicht beschrieben, daß sich die Handschriften zu einem teppichartigen Muster verwoben. Nach jeder handschriftlichen Seite folgte ein anderes Blatt mit getippten Notizen. »Wer hat diese Seiten geschrieben?« fragte ich. »Das sind die Transkriptionen meines Bruders.« Ash strich mit dem Finger über das Manuskriptblatt, das ich in der Hand hielt. »Die große Schrift stammt von einem Mann namens Odom Fray. Ursprünglich war es sein Tagebuch, er schrieb mit schwarzer indischer Tinte. Die kleine Handschrift gehört Palmer, es ist dieselbe Schrift wie auf den Scheiben. Er hat unsichtbare Tinte benutzt — Zitronensaft, manchmal Urin. Als das Papier alterte und austrocknete, ist die Schrift langsam zum Vorschein gekommen, aber damals war sie völlig unsichtbar.« Ash nahm ein Blatt und zeigte auf eine Stelle. »Sehen Sie, wie Fray die Zeilen von Palmer überschreibt? Sein Federstrich überlagert die Handschrift von Palmer. Und hier«, er nahm ein anderes Blatt, »passiert das Umgekehrte. Palmers Geheimtinte überlagert Frays Schrift und läßt sie ein wenig verfließen. Das beweist, daß sie das Tagebuch gleichzeitig führten, oft nur Stunden nacheinander.« »Warum sollten sie sich ein Tagebuch teilen?« »Palmer hat Fray damit einen Streich gespielt. Fray tat sehr geheimnisvoll, was sein Tagebuch betraf. Und wenn er schlief, hat Palmer seine Kommentare in unsichtbarer Tinte hinzugefügt. Fray hat nie gemerkt, was sein Lehrling mit dem Tagebuch anstellte.« »Sein Lehrling?« Ash stocherte in seinen Zähnen. »Odom Fray war beim Zirkus gewesen und bereiste Kalifornien in den zwanziger Jahren als Entfesselungskünstler. Palmer war sein Lehrling.« Ich hob die Hand. »Moment mal. Wenn das derselbe Palmer ist, muß er da schon über sechzig gewesen sein.« Ash nickte. »Palmer schreibt darüber, im Jahr 1929. Seine Eltern sind lange tot, er lebt in Amerika und ist achtzehn Jahre alt. Vierundsechzig Jahre sind seit seiner Geburt vergangen, aber er ist kaum gealtert.« Ash klopfte stolz auf die Mappe. »Da steht es drin, Mr. Penrose. In allen Einzelheiten. Klar und deutlich.« Er seufzte angestrengt und sank auf seinen Barhocker zurück.
»Verstehe«, sagte ich. »Ich werde mir die Sache ansehen. Ich bin sicher, ich finde, was ich suche.« »Ich bin sehr erleichtert, daß Sie sich des Falls annehmen wollen, sozusagen.« Er griff nach seiner Tasse. »Keiner sonst versteht das. Es geht über ihren Verstand.« Er trank seinen Tee aus und zählte seinen Anteil an der Rechnung in Münzen auf die Theke. Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab, die unbenutzt an seinem Platz gelegen hatte, stand auf, strich sich den Anzug glatt und ging. Der Koch rief ihm ein Dankeschön nach, dann auch der Kellner. Ich bestellte noch ein Bier und fing an zu lesen. Beim Blättern fand ich Ashs Auskunft bestätigt – Palmer lebte in Kalifornien, man schrieb das Jahr 1929. Der milde Sommer von San Francisco zog Badegäste und Touristen an, die nach Unterhaltung dürsteten. An der Promenade gab es Karussells und Freakshows, Tanzmarathons und Autorennen. Entfesselungskünstler waren nicht der letzte Schrei, zogen aber immer noch Publikum an. Unbeachtet von Presse und Wochenschau ging Odom Fray — oder Jack »Fearless« Fray, wie er sich nannte — seinem Gewerbe nach. Im Winter bereiste er die Revuetheater, im Sommer die Seebäder. Im Frühsommer des Jahres 1929 hatte er den jungen Palmer am Hafen aufgelesen. Fray führte die schlaksige Erscheinung des Jungen auf Unterernährung und die zerlumpte, zu klein gewordene Kleidung zurück. Er war ein Waisenkind ohne Schulbildung oder Beschäftigung, sprach mit einem »merkwürdigen Akzent«, zeigte sich im Gespräch naiv, aber selbstbewußt. Als Showmann wußte Fray, daß diese Art von Geradlinigkeit beim Publikum ankam, und machte Palmer zu seinem Lehrling und Assistenten. Wenn sie in eine Stadt kamen, mußte Palmer als erstes Handzettel verteilen und Plakate kleben, Eintrittskarten verkaufen und seinen Meister anpreisen. Dann stand er mit auf der Bühne und kommentierte mit aufgeregt überkippender Stimme die Nummern, die Fray vorführte. Wenn Fray mit Handschellen gefesselt in der zugenagelten Kiste saß und am Hafen im Wasser versenkt wurde, war es Palmers Aufgabe, mit der Stoppuhr in der Hand und mit wachsender Erregung die Sekunden zu zählen, bis die Zeit abgelaufen war. Und wenn die wundersamerweise unversehrt gebliebene Kiste aus dem Wasser gezogen wurde und der auf ihr sitzende Fray der Menge zuwinkte, ging Palmer mit dem Hut herum und nahm dankbar die Münzen in Empfang.
Er mußte Fray auch bei den Verrichtungen zur Hand gehen, die für das Publikum unsichtbar blieben; bei der Präparierung winziger Feilen und flacher Werkzeuge, die leicht zu verbergen waren, beim Zerlegen, Ölen und Wiedereinbau von Schlössern, damit sie sich leicht öffnen ließen. Im Falle des berühmten Befreiungsakts aus der Kiste war es Palmer, der die Kiste vierundzwanzig Stunden vor ihrem Einsatz bewachte, dabei die Nägel aus dem Boden entfernte und durch Drahtspangen ersetzte. Wenn die Kiste dann unter den Augen der Öffentlichkeit amtlich überprüft wurde und der mit Handschellen gefesselte Fray in ihr Platz nahm, mußte Palmer ganz zum Schluß noch einmal auf ihn zueilen, ihm bewegt die Hände schütteln und ihm dabei einen Schließhaken und eine kleine, in fleischfarbenes Wachs gedrückte Knipszange zuschieben. Wenn die Kiste versiegelt war und am Kranhaken hing, hatte Fray schon die Handschellen geöffnet und war dabei, die Drahtspangen mit der Zange zu lösen. Unter Wasser trat er den Boden aus der Kiste, tauchte heraus und befestigte den Boden wieder, dann wartete er, bis die Zeit abgelaufen war und Palmer die Spannung auf den Höhepunkt getrieben hatte. Bei diesen Vorstellungen wurde Fray als Held mit übernatürlichen Kräften gepriesen, als ein Mann, der den Tod überlistete. Palmer verlor den Respekt vor seinem Meister, sobald er alle Tricks durchschaut hatte. Schließlich fand er das Tagebuch und sah sich zu seiner Entrüstung als schwächlich und wirr beschrieben. Fray erregte sich immer häufiger über Palmers Launen und bestrafte ihn für seine Versäumnisse. Palmer rächte sich, indem er den alternden Entfesselungskünstler verspottete und ihn als Feigling bezeichnete. Odom nimmt mich mit zum Angeln. Wir rudern vom Ende des Piers in etwa zehn Meter tiefes Wasser. Wir stecken Brot auf die Haken und hängen die Zwei-Cent-Leinen über den Bootsrand. Ich war noch nie angeln. Er zeigt mir, wie man die Leine um den Finger wickelt, damit man schon das leiseste Zucken spürt. Wie merkt man, ob ein Fisch an der Leine ist? Er knabbert am Brot. Klar? Und mit einem Ruck zieht Odem die Leine hoch, damit sich der Haken im Fischmaul verfängt. So angelt man Fische, sagt er. Er hat rissige Hände wie mein Vater. Das ist ein Rasiermesser. So fängt man einen Fisch. Eines Tages habe ich einen Sohn und bringe ihm das Angeln bei. Suche mir ein schönes Mädchen, sehe meine Haut welken.
He, paß gefälligst auf. Träumst wohl von einem besseren Leben? So macht man einen Fang. Wie ein Schlangenbeschwörer. Ich rufe die Leute am Pier näher heran. Ladies and Gentlemen, sehr verehrte Damen und Herren. Ich zeige ihnen die Kiste. Mit beiden Armen hebe ich die Kiste an einer Ecke an, man sieht mir an, wie schwer sie ist. Ich zeige ihnen die Ketten. Reiche die Ketten herum. Die Frauen fassen sie nicht an, wegen Rost und Öl. Die Männer nehmen die Ketten in die Hand. Manche prüfen, ob die Ketten halten. Sie zerren an ihnen! Bestimmt nur, um Eindruck zu schinden. Ich zeige ihnen die Vorhängeschlösser, die Handschellen. Du warst noch ein Kind, als ich dich fand. In Lumpen warst du. Und wo du herkommst, kann ich nicht sagen. Niemand kann sich an dich erinnern, dein Gesicht ist so nichtssagend. Ein ovales Gesicht? Vielleicht. Ein rundes Gesicht? Vielleicht. Ein Mann? Ein Kind? An manchen Tagen sehe ich dieses Kind im hellen Licht und denke, du bist mein Herr. Du hast das Gesicht eines Kaufmanns. Eines Geschäftemachers, dessen Augen nichts entgeht. Die alles festhalten, was sie sehen. Hellwach. Er weiß alles. Gibt es etwas, was er nicht weiß? Und dann am Nachmittag, wenn die Schatten länger werden, sehe ich das Kind an und denke: ein Strauchdieb. Meine Achtung vor dir steigt und sinkt mit der Sonne. Ich will dir etwas beibringen, aber du weißt schon alles. Wo bist du entsprungen, als ich dich gefunden habe? Wo hast du deine Tricks vorgeführt? Ich frage die Leute, ich frage Freunde. Ich schreibe meinen Freunden und frage sie: Ist euch dieser Drew Palmer ein Begriff? Aber niemand hat von ihm gehört. Ein unbedeutender Darsteller, kein Star. Nur wandernd, wandernd. Du bist aus dem Nichts entsprungen, als ich dich gefunden habe. San Francisco 1929. Eine Menschenmenge sammelt sich am Pier, um Odom Frays berühmten Entfesselungsakt zu erleben. Die Kiste ist von einem Geistlichen überprüft worden, Fray, an Händen und Füßen mit Handschellen gefesselt, ist in die Kiste gesetzt worden. Der kalte Wind treibt Gischt von der See über das Geländer. Die Leute schaudern beim Gedanken, daß der Mann ins kalte Wasser versenkt wird. Wie immer löst sich im letzten Moment der junge Gehilfe aus der Menge, schüttelt seinem Meister ein letztes Mal die Hand und beschwört ihn, den Entfesselungsversuch diesmal lieber nicht zu wagen. Die Leute beginnen zu murren. Fray wird es wagen. Er hält die Hand des Gehilfen ein wenig länger fest als sonst. Der Gehilfe tritt zurück,
da streckt Fray erneut die Arme aus und schüttelt ihm leidenschaftlich die Hand. Der andere empfängt die Geste mit Dankbarkeit und löst sich ein zweites Mal von seinem Meister. Die Menge ist gerührt von diesem herzzerreißenden Abschied, aber Odom Fray, der sich in die Kiste duckt, scheint beunruhigt. Der Deckel senkt sich über ihm herab. Während die Nägel durch das kräftige Holz getrieben werden, spielt Palmer gedankenverloren mit der Knipszange und dem Schließhaken in seiner Hosentasche. Eine Kapelle spielt, als die Kiste am Kranseil in die Höhe schwebt. Der Kranarm schwenkt auf das Wasser hinaus, der kantige Schatten der Kiste tanzt auf dem schäumenden Grün des Meeres. Die Wellen klatschen gegen die Kiste, als sie versenkt wird. Dann entschwindet sie den Blicken. Fünfzehn Minuten später wird sie triefend aus dem Wasser gehoben. Obwohl der Abstand zum Pier der gleiche geblieben ist, scheint die Rückkehr der Kiste viel länger zu dauern. Die Kapelle hat ihr Spiel unterbrochen. Von den Zuschauern kommt kein Laut. Einige Frauen pressen sich Taschentücher vors Gesicht. Die Kiste landet mit einem häßlichen Plumpsen auf dem Pier. Zwei Männer schlagen mit der Picke dagegen, aber das dicke Holz gibt nicht nach. Dann hebeln sie den Deckel auf und kippen die Kiste um. Ein schlaffer grauer Körper rollt heraus. Palmer macht seine letzte Eintragung mit Geheimtinte ins Tagebuch. Er sitzt im Hotelzimmer, es ist gerade dunkel geworden, der Himmel ist noch rot. Er sitzt am Fenster, trinkt Coca Cola und wünscht sich ein stärkeres Getränk, um seine Angst, die düstere Stimmung und den wachsenden Widerwillen zu zerstreuen. Er betrachtet sich als doppelt verwaist: Er hat seine Eltern und Fray verloren. Sein Federhalter jagt über das Papier. Unten am Pier sieht er die Menschenmenge, die schon seit Mittag dort wartet. Manche sind sichtlich betrunken, sie lärmen und singen, aber die meisten stehen in stummer Erwartung da. Sie wissen selber nicht, worauf sie warten, weil es nicht von dieser ihrer zivilisierten Welt ist. Man kann es nicht in einem Strandgeschäft kaufen oder im Restaurant bestellen, obwohl das Zischen von Fleisch auf einer heißen Herdplatte von ferne an das erinnert, was sie wollen. Palmer weiß jetzt, was es ist. Es ist der Tod. Der unglückselige Fray hat ihnen Appetit gemacht auf mehr, hat das Tier in ihnen geweckt. Sie wollen eine Flucht ohne Entrinnen sehen, sie wollen einen Toten. Sie wollen Palmer. Als wüßten sie irgendwie von dem Zug im Tunnel und den unterschlagenen Lebensjahren. Als wüßten sie,
daß er sich der von Gott bestimmten menschlichen Lebensspanne entzieht. Als würden sie ihn zur Erfüllung seiner Bestimmung drängen. Vor dem Yamada war es dunkel. Meine Suppe war kalt, die Fettaugen schwammen wie kleine Vergrößerungsgläser auf der dünnen Hühnerbrühe. Ich winkte dem Kellner und verlangte die Rechnung. Er wischte sich lächelnd die Hände ab. Langsam schob ich die vergilbten Seiten zusammen und legte den Stapel wieder in die Mappe. Der Koch wartete geduldig, bis ich den Knoten verschlossen hatte, dann reichte er mir den Teller mit der Rechnung, auf der eine Pfefferminzpastille und ein Zahnstocher lagen. Ich nahm einen Zehner und einen Fünfer und legte die Scheine zu den Münzen von Ash. Ich steckte die Pfefferminzpastille in den Mund, streckte mich und wartete auf das Wechselgeld. Mein Rückgrat knackte an hundert Stellen. Ich hatte schon manche Fälschung gesehen — Buchhaltungsbelege, Kontobücher. Auch dies war eine Fälschung, gar keine Frage. Sie verriet eine Menge, aber nichts über Tad Ash, nicht das geringste. Armer Dede. Er war in eine Nacht hinausgegangen, die ihm nichts zu bieten hatte. Erst als ich zufällig einen Blick zur Seite warf, vorbei an den plaudernden Bargästen, sah ich ihre dunklen Augen. Sie saß aufrecht auf dem unbequemen Hocker an der vorderen Schmalseite der Bar und beobachtete mich. Ich hatte keine Ahnung, wie lange schon, ich hatte sie nicht hereinkommen sehen. Es war die Frau, die vor dem Dilworth auf ein Taxi gewartet hatte, als ich spätnachts vom Hotel nach Hause gekommen war. Der schwarze Ledermantel, die blonden Locken, die sich über den Kragen ringelten. Sie reckte das Kinn so in die Höhe, daß ihr Gesicht im Schatten lag; zwischen den schlanken Fingern mit den rotlackierten Nägeln balancierte sie eine Zigarette. Ihre Handgelenke waren zart und weiß. Möglich, daß sie hier in der Gegend wohnte, aber nach ihrer Aufmachung zu schließen war die Straße ihr Revier. Wenn mir solche Frauen über den Weg liefen, war ich oft überrascht, wie gut sie aussahen. Sie hatten jede Menge Erfahrung, wenn auch eher negative, aber das machte sie interessant – obwohl man ihnen das nicht sagen durfte. Wenn man davon anfing, wurden sie abweisend. Ich ertappte mich dabei, daß ich ihren Blick erwiderte. Ihr verschattetes Gesicht konnte ich nicht deuten, aber als sie abrupt aufstand, merkte ich, daß ich sie angestarrt hatte. Sie zog ihren
Mantel zu und ging hinaus, die Schwingtür pendelte hinter ihr. Ihr Bierglas war noch halbvoll, der Rauch ihrer vergessenen Zigarette kräuselte sich als weißer Faden zur Decke. Die Straßen waren still, der Hafen lag da wie tot. Die Kinos hatten schon geschlossen. Die schnellen Wagen standen in den Garagen der Vororte, mit zerkratzten Stoßstangen und Strafzetteln an den Scheibenwischern. Der wolkenschwere Himmel sah nach Regen aus. Ich klemmte mir die Mappe fest unter den Arm, als die ersten Tropfen fielen. Vor dem Dilworth fuhr ein Bus vorbei, er hielt an der Kirche. Die Türen klappten zischend auf und entließen eine lärmende Gesellschaft. Sie drängte sich unter dem Kirchenportal zusammen und schwatzte in einer Sprache, die ich nicht identifizieren konnte. Ich rannte vorbei und über die Straße, der Regen lief mir in den Nacken. Der Bus fuhr an, die Räder quietschten auf dem rutschigen Asphalt. Der Regen spülte die letzten Reste des Winters weg. Bald würde der Sommer mit seinem wolkenlos blauen Himmel die Oberhand gewinnen. Am Horizont sah ich einen schmalen, hellen Streifen – den Himmel über einem besseren Ort, einer besseren Zeit. Ich rannte ins Foyer und geradewegs weiter in den wartenden Fahrstuhl. Mein Büro roch muffig. Ich öffnete das Fenster und blickte auf die Straße hinab. Die laute Gesellschaft war verschwunden. Der Regen klatschte wie aus Eimern gegen die Scheiben. Ich zog mich aus, rieb mich mit dem Handtuch ab und zog mir etwas Trockenes an. Dann spülte ich die Kaffeemaschine aus und goß frisches Wasser hinein. Der Kaffee war vakuumverpackt. Ich piekste ein Loch in den Ziegel und knetete ihn, bis er weich wurde. Das Gute am Alleinleben ist, daß man diese Dinge ganz für sich hat. Auf dem Anrufbeantworter warteten drei zunehmend ungeduldige Nachrichten von Brands. Ich zog den Umschlag, den sie geschickt hatten, aus der Schublade und blätterte die Seiten durch. Ich machte ein paar rote Anstreichungen und Randbemerkungen, schrieb Telefonnummern und erste Ideen auf gelbe Notizzettel und klebte sie auf das Deckblatt. Den Rest konnte ich am Morgen erledigen. Ich schob die Papiere in den Umschlag und legte ihn in die Schublade zurück. Der Kaffee war durchgelaufen. Ich goß mir eine Tasse ein, setzte mich an den Schreibtisch und starrte unschlüssig auf die
Mappe. Dann gab ich den Widerstand auf, stellte die Tasse zur Seite, packte das Tagebuch aus und fing wieder an zu lesen. Palmer hatte Fray umgebracht, weil der die wahnhaften Vorstellungen gefährdete, mit denen sich Palmer von der Wirklichkeit abschirmte. Das Tagebuch war ein Geständnis. Aber der einzige, dem es gefährlich werden konnte, war Palmer, und Palmer war lange tot. Oder? Kein oder. Er war vor 1875 geboren. Ende der Überlegung. Ende der Fahnenstange. Keine Spur einer Verbindung zwischen diesen Aufzeichnungen und dem Mord über sechzig Jahre später. Die Aufregung von Dede Ash war unbegründet. Ich brütete verdrossen vor mich hin. Wie Dede Ash hatte ich mir von dem Tagebuch viel erhofft. Ich schloß die Mappe und nahm die Brieftasche heraus. Sie war das einzige, was mir jetzt weiterhelfen konnte. Ich klappte sie auf und schüttelte sie und nahm mir den Inhalt vor, so wie er sich auf dem Schreibtisch verteilt hatte. Die Briefmarken, die Geschäftskarten. Restaurantquittungen, Schlüssel, Sammelbild. Die abgeschnittene Postkartenecke und das Foto der schwarzen Katze sah ich mir genauer an, danach nahm ich mir den Zeitungsausschnitt vor und las die Inserate durch. Sie gaben sechs oder acht Telefonnummern her. Dann drehte ich den Ausschnitt um und fragte mich zum ersten Mal, ob Tad ihn wegen der Anzeige auf der anderen Seite aufgehoben hatte. Ein umrandeter Kasten: Madame Sunde, Fantasy Mistress. Dazu eine Telefonnummer. Hunderte riefen eine solche Nummer an. Es war völlig unverfänglich. Ich hätte sie auch von selbst in der Zeitung finden können. In einer Großstadt wie dieser, mit der enormen Zahl an statistischen Querverbindungen zwischen den Einwohnern, konnte es niemanden stutzig machen, daß ich die Nummer anrief, selbst wenn bekannt war, daß ich mich für Tad Ash interessierte. Ich hatte schon immer wissen wollen, was hinter solchen Dienstleistungen steckte, und das war eine gute Gelegenheit. Und vielleicht erfuhr ich dabei etwas über Tad Ash. Ich konnte sogar nach ihm fragen und mir Klarheit verschaffen. Aber bis ich das tat, war ich ein ganz gewöhnlicher Kunde. Ich atmete tief durch, klemmte mir den Hörer ans Ohr und wählte die Nummer der Madame Sunde. Ein Klingelton, dann ein Klicken und die aufgezeichnete Ansage: »Madame ist momentan nicht zu erreichen. Bitte sprechen Sie nach dem kleinen Pieps. Adieu!«
Ich legte auf, ließ dem Anrufbeantworter Zeit zum Zurückspulen und rief erneut an. Sprechen. So ein sanftes Wort, wenn man es aussprach wie sie. Spräähschen. Aber mir fiel nichts ein. Ich legte auf und wählte noch einmal. Madame Sunde verwandelte die harten Konsonanten in ein weiches, warmes Spräähschen. Diesmal sprach ich nach dem Pieps. »Ich hätte gern einen Termin«, sagte ich, nannte ihr meine Telefonnummer und zur Beglaubigung auch meine Kreditkartennummer. »Rufen Sie mich bitte so bald wie möglich zurück.« Ich räumte die Brieftasche wieder ein und verteilte die Karten so, daß sie in die im Leder zurückgebliebenen Abdrücke paßten. Am Katzenfoto blieb ich hängen. Eine nette Katze. Oder ein Kater? Im Schlafzimmer knipste ich die Lampe am Bett an und legte mich auf die Seite, ein Bein unter der Decke. Das Leinen war angenehm kühl. Ich warf die Brieftasche in die Höhe und fing sie auf. Ich trank den Kaffee aus, stellte die Tasse auf den Boden und ließ mich ins Kissen sinken. Ich hielt das Leder gegen das grelle Licht der Lampe. Das Licht blendete, also schloß ich kurz die Augen. Draußen rauschte der Regen, ich fühlte mich trocken und warm. Das Telefon riß mich aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, trat gegen die Tasse, die über den Fußboden kollerte, nahm den Hörer ab, aber es klingelte weiter. Also war es die Tür. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich auf die Uhr, es war zwei. Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Ich bin's«, sagte Wilhelmina. Der Lautsprecher klang, als würde sie mit zwei kratzigen Stimmen sprechen. »Kann ich raufkommen?« »Ja«, sagte ich und drückte auf den Summer. Ich hörte den Öffner klicken, dann war die Anlage still. Ich ging ins Bad, um mich zu waschen, als es erneut klingelte. »Die Tür geht nicht auf«, rief sie. »Es ist abgeschlossen.« »Versuch es noch mal, während ich den Summer drücke.« »Ich weiß, wie das geht. Die Tür geht nicht auf.« »Los, versuch es. Das Scheißding wird schon aufgehen.« »Ich werde ganz naß. Kannst du nicht ...« »Scheiße!« Ich versetzte dem Kasten einen Hieb, zog mir eine Jeans über und tappte mit bloßem Oberkörper die Treppen hinunter. Der Dreck blieb an meinen nackten Füßen kleben.
Als ich die Haustür aufschloß, lehnte sie am Türgitter. Ihr Haar war angeklatscht, ihr Pony klebte platt und zerfranst an der Stirn. Ihr Make-up war weggespült, die nasse Uniform hatte die Fasson verloren und schmiegte sich an ihren Körper, ihre Nikes waren vollgesogen. In der linken Hand hielt sie ihre Arbeitsschuhe, in der rechten eine große Tüte mit dem Logo des Regent und einem glänzenden Fettfleck, der köstliche Leckerbissen vermuten ließ. Ich hielt ihr die Tür auf; aber sie kam nicht herein. Sie stand im Regen und starrte mich mit unergründlichem Blick an. »Wie ist das Wetter?« fragte ich, aber sie lachte nicht. »Ich hatte die Friedhofsschicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe bis eben gearbeitet und dachte mir, ich schaue bei dir vorbei. Ich dachte, du wärst wach, ich dachte, du würdest arbeiten. Ich wollte dir Frühstück bringen. Ich hab es den ganzen Weg unter der Jacke gehalten, damit es nicht naß wird.« »Danke«, sagte ich. »Warum hast du kein Taxi genommen?« »Es ist nicht weit, der Regen ist warm. Mir war nach Laufen zumute. Ich wollte dich sehen.« Sie stockte. »Die Tür ist wirklich nicht aufgegangen.« »Das kommt vor.« Ich rieb mir die Augen. »Bei Regen. Ich glaube, bei Nässe kriegt die Anlage einen Kurzschluß.« »Wirklich?« Sie verstummte, dann sagte sie energischer: »Ich mag es nicht, wenn du fluchst, Ellie. Auch nicht durch die Sprechanlage.« »Ich war gerade aufgestanden. Ich hatte geschlafen.« »Ich mag es nicht, wenn du brüllst.« »Es tut mir leid.« Entschuldigungen klingen bei mir immer irgendwie unaufrichtig. Ich sah sie an, wie sie da im Regen stand, die Schuhe in der einen Hand, die Tüte in der anderen. Sie wollte, daß ich etwas sagte, und ich wußte, daß es falsch herauskommen würde. Ich begann zu frieren. »Komm doch rein«, sagte ich schließlich. »Soll ich wirklich?« »Natürlich sollst du.« Ihr Ärger erlosch allmählich, der Regen tat das seine. »Na, komm schon.« Ich strich ihr über die Stirn. Sie senkte den Blick, aber sie wich mir nicht aus. Wir blieben eine Weile so stehen, ich streichelte ihre nasse Wange, ihren Pony, ihre angespannten Kiefermuskeln. Mit dem Daumen stupste ich gegen die Brillanten, die an ihren Ohren glitzerten, links einer, rechts zwei — in der Hoffnung, den Schalter zu finden, der sie umstimmte. Ich fuhr über ihren
Nackenflaum, prüfte die vorschriftsmäßig fingerbreite Kragenweite ihrer durchnäßten Dienstbluse und nahm sie beim Kinn. Ihr Lippenstift war ein verschmierter Fleck, sie machte einen trotzigen Mund. Ich beugte mich näher, und sie drehte sich weg. »Ich bin so müde, daß ich kaum noch Lust habe«, sagte sie und drückte sich an mir vorbei in den Hausflur. Ich schärfte mir ein, daß es mir leid tat, und ließ die Tür ins Schloß fallen. Im rüttelnden Fahrstuhl stand sie kerzengerade da und kehrte mir schweigend den Rücken zu. Wilhelmina ärgerte mich wie kein Mensch sonst. Sie hielt sich gerade, wenn ich einen krummen Rücken machte, sie war nach einer langen Schicht hellwach, sie lief durch den Regen, wenn ich mich unterstellte. Sie spürte die Kälte nicht. Ich arbeitete die Nächte durch und konnte mich besser konzentrieren, aber soviel Lebensenergie wie sie brachte ich nicht auf. Ich war ständig erkältet, hatte Fieber oder Kopfschmerzen. Wie sollte ich ihr da gewachsen sein? Sie blickte zu den beleuchteten Nummern auf. Als die Sechs aufblinkte, trat sie zurück und ließ mich das Scherengitter öffnen. Drinnen stellte sie ihre Schuhe neben der Tür ab, überreichte mir die Tüte und bückte sich, um ihre Nikes auszuziehen. Sie zitterte. »Du frierst«, sagte ich. »Geh am besten gleich unter die Dusche.« Ich legte ihr den Arm um die Schultern, sie ließ es sich gefallen, blieb aber in der Hocke. Sie lehnte sich an meine Beine, bis ich wußte, daß sie mir nicht mehr böse war. Ich tätschelte ihre Schulter, zog sie hoch, sie legte mir ihre kalten Hände an die Wangen und küßte mich. Ihr Mund schmeckte betörend, ihr Hals unter der kratzigen Uniform war glatt und weich. Wir gingen umarmt ins Bad, ungelenk wie Schulkinder, ich küßte sie erneut unter der flackernden Neonröhre, ihr Kopf mit dem feuchten Haar war gegen die Kacheln gedrückt. Ich tastete nach dem Wasserhahn und drehte ihn auf. Als ich die Augen wieder öffnete, war der Raum voller Dampf. Ich zog sie unter die Dusche, sie ließ das Wasser über ihre geschlossenen Augen strömen, während ich jeden Knopf ihrer Jacke durch das geschwollene Knopfloch zwängte. Ich hielt sie an den Armen, sie streckte mir die Brust entgegen und küßte mich, zog mich tief in ihren Mund. Dann küßte sie mein Gesicht, die Wangenknochen, die Augen, und ich fummelte an ihrer Bluse, bis ich die Geduld verlor und an ihr herumzerrte, sie schrie Unwiederholbares, knöpfte meine Jeans auf und
versenkte die Hand hinein. Ihre weiße Baumwollbluse schien aus freien Stücken zu zerreißen, ich sah den Fetzen mit dem eingestickten R zu Boden fallen. Ihr Rock war stabiler und nun doppelt durchnäßt, ich bekam ihn nicht herunter, sie kam mir entgegen, schob ihn an meinem nun nackten Schenkel hoch und spreizte die Beine, wischte sich den Seifenschaum aus dem Gesicht, lachte mir mit triefendem Haar zu, wühlte im Duschvorhang und suchte nach der Querstange, bis ich sie hochhob. Irgendwie schüttelte sie den Rock ab. Frauen können Dinge, die Männer nie begreifen werden. Sie fand die Stange und hängte sich daran. Ich zog ihren Slip ein Stück herunter und drückte die Zähne gegen ihr Schamhaar, bis ich den kleinen Knubbel gefunden hatte. Das Wasser lief mir übers Gesicht und vermengte sich auf meiner Zunge mit ihrem Geschmack. Hinten waren ihre Schenkel noch kalt. Ich stöpselte die Wanne zu, zog sie von der Stange herunter und streichelte ihre weiche Möse, während sie ihre letzten Kleidungsstücke abstreifte. Sie stand vor mir, schlank und glatt, ich seifte ihren Bauch und ihre Brüste ein, rieb mit den Fingern den roten Abdruck ihres BHs, ihre Hände wanderten an meinen Armen auf und ab wie kleine Tiere. Plötzlich war mein Ärger wie weggeblasen. Sie war durch den Regen gelaufen, um mich zu besuchen, sie war schön, sie wollte mich. Halb sanken, halb fielen wir ins Wasser, mit lautem Platschen. Die Dusche prasselte auf uns nieder, mein Schwanz war in ihr, sie wand sich, laut und glücklich. Das heiße Wasser rauschte wie der Regen. Ich entlockte ihr zärtliche Worte, kleine Schreie, einen Scherz, einen schwachen Protest und hörte mich sagen, es tut mir leid, es tut mir so leid, und diesmal kam es ganz echt heraus, als meinte ich es ehrlich, und ich meinte es tatsächlich ehrlich. Wir blieben in der Wanne, bis das Wasser kalt wurde, dann trockneten wir uns ab, jeder für sich. Unsere Blicke begegneten sich nicht im Spiegel. Als wir ins schummrige Schlafzimmer kamen, tippte sie mit dem Finger auf das Polaroidfoto an der Wand. »Da hängt es ja noch«, sagte sie lächelnd. Die dunklen Scheiben des zugemalten Schlafzimmerfensters erstickten den Lärm der Straße, ich trat hinter sie und legte ihr die Arme um die Taille. »Ich hab es nur aufgehängt, weil du kamst.« »Das wußtest du doch nicht.«
»Doch. Ich weiß alles.« »Den Teufel tun Sie, Mr. Penrose.« »Bitte keine Flüche.« »Erwachsene dürfen fluchen.« Sie legte sich in die dunklere Hälfte des Betts, ich machte das Licht aus, drehte mich zu ihr um und zog die Decke um uns. Sie schmiegte sich an mich und legte den Kopf in meine Armbeuge. Meine Fingerspitzen wanderten auf ihr entlang, bis sie sich in den Falten der Bettdecke verloren. Die Linie ihres Kinns, ihre geschlossenen Augen. Ihre Füße suchten nach der richtigen Schlafstellung, der Gewißheit, daß sie bleiben konnte. Dann wurde ihr Griff fester, während meine Finger erschlafften.
13
Als ich aufwachte, lag sie neben mir auf den Ellbogen gestützt. Sie hatte meinen Schlaf beobachtet. Ihr Pony war ein schwarzes Gewirr. Ich kämmte ihn mit den Fingern, sie lächelte. »Wie spät ist es?« fragte ich. »Mußt du irgendwohin?« »Nein.« Ich schmiegte mich in ihre Wärme. »Wie wär's mit Frühstück? Du mußt Hunger haben.« »Hm.« Sie zog die Nase kraus. Ich gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze und stand auf. Der Fußboden war kalt, das Büro war erfüllt von schwächlich grauem Sonnenlicht. Ich schauderte, machte die Kaffeemaschine an und öffnete einen Karton Saft. Ich schaute in die Tüte, die Wilhelmina über sieben Straßenkreuzungen bis zu mir getragen hatte, legte die Croissants in den Ofen, schnitt die Blätterteigpasteten in Streifen, faltete die leere Tüte zusammen und warf sie in den Müll. Ich füllte das Tablett und trug es ins Schlafzimmer. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, den einen Arm über dem Bauch, den anderen hinter dem Kopf. Ich knipste die Wandlampe an, und ihre Augen wurden dunkel. »Kaffee kommt gleich«, sagte ich. »Hmm.« Sie richtete sich auf. »Das sieht ja lecker aus.« »Mein Lieferservice.« »Ach, ja?« Sie tunkte ihr Croissant in den Saft. »Was hat es gekostet?« »Von diesem Mädchen kriege ich alles umsonst.« Sie tupfte mit dem kleinen Finger einen Krümel weg. Der Kaffee war fertig. Sie trank eine Tasse, dann noch eine halbe. Ich schaltete die Nachrichten an. Sie stand auf und tappte barfuß durch das graue Bürolicht ins Bad. Der Wetterbericht meldete Stürme über Jakarta. Wilhelmina kam zurückgeschlendert, studierte im Vorbeigehen, was auf meinem Schreibtisch lag und was an der Wand hing. Dann kniete sie sich ans Bettende, ließ sich auf den Bauch fallen und streckte die Füße in die Luft. »So ein schrecklicher Tag«, sagte sie. »Ich bin ganz kaputt.« »Wovon?« »Die Jahreszeit. Ich fühle mich schlapp.« Sie ließ den Kopf zur Seite sinken. »Und du?«
»Mir geht's gut.« »Bist du glücklich?« »Klar.« Sie suchte meine Hand und legte sie auf ihre warme Möse. »Du sagst es aber nie.« »Ich bin leicht glücklich zu machen.« Mein Blick schweifte über die Wände, ich kramte in Erinnerungen, dachte an Briefe, vergangene Nachmittage. Aber alles in mir blieb stumm. Keine Offenbarungen, kein Applaus. Ich stellte meine Tasse auf den Fußboden und begann Wilhelminas Muskeln zu massieren, die Gifte der Nachtschicht aus ihr herauszupressen, sie stöhnte und reckte sich, ihre Arme gruben sich unters Kissen. Ich nahm mir die verspannten Stellen unter den Schulterblättern und am Nacken vor und walkte ihre Wirbelsäule durch, bis sie geziert quiekte und mich anflehte, nicht so grob zu sein. So hingegeben kam sie mir kleiner vor. Ich richtete die Massage nach meinen eigenen Muskelschmerzen, sie warf schniefend den Kopf hin und her. Ich bearbeitete ihre langen schneeweißen Flanken, meine Finger wanderten hin und wieder zu ihren Brüsten oder ließen sich in ihre Pospalte, ihre fleischige Möse locken. Sie räkelte sich wohlig, dann tastete sie unter dem Kissen und holte die Brieftasche von Tad Ash hervor. Verspielt, den Kopf zur Seite gewandt, begann sie die Brieftasche auszuräumen. »Das ist nicht deine«, stellte sie schließlich fest. »Nein. Sie gehört einem Toten.« »Igitt!« Sie ließ die Brieftasche fallen, als hätte sie sich verbrannt. »Sie ist sauber«, sagte ich. »Wieso sauber?« »Ich meine, der Tote hatte sie nicht bei sich, als er gefunden wurde. Er hatte sie vorher verloren.« Sie zog ein angeekeltes Gesicht. »Wo hast du die her?« »Gefunden. Wie gesagt, sie ist sauber. Kein Blut oder sonst was.« »Was heißt, du hast sie gefunden?« »Genauso, wie du sie gefunden hast. Und ich hab nachgesehen, was drin ist.« Sie wartete, aber ich sagte nichts mehr. Dann griff sie so vorsichtig nach der Brieftasche, als könnte sie beißen. Als nichts dergleichen geschah, ging sie routiniert den Inhalt durch. »Du hast Übung«, sagte ich.
»Ich bin Kellnerin. Eine Brieftasche sagt eine Menge über den Besitzer.« »Was sagt dir diese Brieftasche?« »Ein Geschäftsmann.« Sie blätterte die Karten durch. »Antiquitäten. Und Importe. Ist er Sammler?« »Antiquitätenhändler.« »Keine Kreditkarten, keine Telefonkarten. Wie eine Brieftasche vor zehn Jahren.« Sie überlegte kurz. »Er ist ein alter Mann.« »Er war ein alter Mann.« »Aber das hier?« Sie zeigte auf die Star-Trek-Sammelkarte. »Er hat damit gehandelt. Kein schlechtes Geschäft. Und hat sie als Lesezeichen benutzt.« Sie drehte die Karte um. »Hast du Tony davon erzählt?« »Ja. Er wußte nicht, daß es eine neue Serie gibt.« Sie grinste. »Der Tony ist ein ganz Süßer.« »Ach. Das wußte ich gar nicht.« »Na ja. Mir kommt er so vor. Die anderen Mädchen sagen das von ihm.« Ich ließ es durchgehen. »Was noch?« Sie strich den Zeitungsausschnitt glatt und studierte die Anzeigen. »Verkäufe. Haushaltsauflösungen. Er kauft alten Krempel.« »Falsch«, sagte ich. »Dreh den Zettel um.« Sie gehorchte, und ihre Augenbrauen gingen in die Höhe. »Madame Sunde. Fantasy Mistress. Telefonservice. Spezialität: S & M.« »Er brauchte jemanden zum Reden.« »Also war er einsam.« Ein tiefer Seufzer. »Ist das traurig. Die Brieftasche eines alten Mannes. Alles da drinnen ist einsam. Nur Geschäftsadressen und eine Pornonummer, andere Leute kannte er nicht. Und diese Katze.« Sie nahm das Foto in die Hand. »Wer wird sich um sie kümmern?« »Du weißt ja gar nicht, ob es seine Katze war. Vielleicht hat er das Bild gefunden. Die Leute heben die seltsamsten Sachen auf.« Sie schauderte. »Ich sehe das in manchen Nächten. Es ist gruselig. Die Leute schleichen durchs Hotel, sitzen einsam an der Bar. Männer, die Ausschau halten, Frauen, die keiner will. Die hocken dort und blasen Trübsal. Einmal, als ich morgens nach Hause ging, war niemand mehr da, und der Pianist spielte ganz allein. Hast du eine Ahnung, wie gut er eigentlich ist? Er hat Beethoven gespielt. Die Mondscheinsonate. Kennst du die? Er ist ein großartiger Musiker. Ich hab mich hingesetzt und zuge-
hört. Danach hab ich ihn gefragt, warum er spielt, wenn keiner da ist. Da sagte er, wenn es voll ist, hört auch keiner zu. Und das hier« — sie kam auf den Zeitungsausschnitt zurück — »ist wirklich gruselig.« »Manche machen es eben gern mit Worten.« »Das meine ich nicht. Der Telefonsex — das versteh ich zwar nicht, aber ich find's okay. Nein, ich meine, diese Frau, mit der hat er geredet, und nun ist er tot. Sie kennt ... kannte ihn. Was würde sie dazu sagen, daß er tot ist? Würde es sie überhaupt kümmern?« »Genau das will ich sie fragen.« »Du willst sie fragen?« »Ja. Ich hab sie angerufen.« Wilhelminas Mund blieb offen stehen. »Moment, das muß ich erst mal sortieren. Du willst die Nutte eines Toten anrufen?« »Ich bezahle sie dafür. Ein ganz normales Geschäft.« Sie blickte auf den Zeitungsschnipsel, dann auf mich. »Aber warum?« »Könnte sein, daß sie mir was zu sagen hat.« »Da bin ich sicher.« Das klang ziemlich trocken. »Was tut sie denn so für ihre Kunden?« »Ich weiß nicht. Aber ich glaube, du hast recht, daß er einsam war. Vielleicht war sie so etwas wie eine Freundin für ihn.« »Was ist das für ein Typ, den du da ausbuddelst, Ellie?« fragte sie scharf. »Was machst du mit seiner Brieftasche? Was soll das Ganze?« »Das muß ich selber erst rauskriegen.« Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war sie wütend, sie suchte nur noch die richtigen Worte. Sie wollte gerade loslegen, da klingelte das Telefon, und sie preßte die Lippen zusammen. Ich ging ins Büro hinüber, setzte mich und legte die Hand auf den Hörer. Wilhelmina stellte ihre Tasse ab und stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Turnschuhe und nahm meinen Regenmantel vom Stuhl. »Den nehme ich«, sagte sie, kam ins Büro und zog sich den Mantel über ihre warme nackte Haut. »Wenigstens das kannst du für mich tun.« Sie schüttelte ihr Haar zurecht und fuhr mit den Fingern hindurch, sammelte die verstreuten Teile ihre Uniform ein, rollte sie zusammen, klemmte sie unter den Arm und knallte die Tür hinter sich zu. Der Hörer lag schwer in meiner Hand, als ich abnahm. »Das ist Scheiße, was du gemacht hast«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Du hast alles falsch gemacht.«
Für den Fall, daß Wilhelmina zurückkam, wartete ich noch, bis ich den Fahrstuhl rumpeln hörte. »Alles, was du machst, ist sinnlos«, sagte die Frau. »Ach, ja?« Ich lehnte mich zurück. »Reden Sie weiter.« Madame Sundes Stimme klang belegt, als wäre sie in den letzten zwölf Stunden so lange wach gewesen wie ich, als wäre sie immer neben mir hergelaufen. »Wie heißt du?« »Penrose.« »Ich bin Madame. Du hast mich angerufen. Daher weiß ich, daß du böse Sachen gemacht hast.« Es war noch etwas Saft da. Ich zog den Karton näher und goß mir ein. »Ich kenne dich«, gurrte sie. »Ich weiß, wo du wohnst.« Das Glas mit dem Saft fror an meinen Lippen fest. »Wo ich wohne?« »Ja, wo du wohnst. Ich habe dich verfolgt. Ich beobachte dich. Das macht mir Spaß. Ich gehe dir nach, ich folge dir zu deinem Haus.« Aber ich hatte kein Haus, sondern wohnte im Büro. »Und ich sehe dich wichsen«, phantasierte sie weiter. »Wie du dich abrackerst, du kleiner Schmutzfink. Stimmt doch, oder?« Etwas Fruchtfleisch blieb mir zwischen den Zähnen hängen. »Ja«, sagte ich und polkte daran herum. »0 je.« Sie machte eine Kunstpause. »0 je, o je.« Ich hörte ihren Atem, gefolgt von dem saugenden Geräusch, mit dem sie an ihrer Zigarette zog. Wie die Blondine im Yamada. »Du bist ja ein ganz Abgebrühter. Oder nicht in Stimmung? Keine Lust auf einen Plausch mit Madame?« »Nein. Gestern abend war ich in Stimmung, heute nicht. Sie hätten gestern anrufen sollen.« »Ah, du warst nicht allein! Du hast dich verausgabt!« Ich blickte mich zum Bett um, zur Brieftasche. »Das wird es sein.« »Du hast gefickt, nicht wahr?« »Ja. Aber jetzt ist sie weg.« »Hm.« Ihr Lachen klang wie bleierne Würfel in der halb geschlossenen Hand. »Du fickst mit ihr, und wenn sie geht, telefonierst du mit mir, weil sie nicht genug ist für dich. Sie macht dich nicht zufrieden. Du braucht noch etwas anderes.« Ihr Akzent wurde stärker, als sie mit mehr Nachdruck sprach. Es klang wie ein Stocken mitten in den Wörtern. »Etwas Beson-deres.« »Vielleicht.«
»Vielleicht? Ha! Es kostet dein Geld!« Sie zog an ihrer Zigarette, ich hörte ihren bronchitischen Atem. »Erzähl mir von deiner Kleinen.« »Sie ist Kellnerin.« »Trägt sie eine hübsche Uniform?« »Ich hab sie ihr runtergerissen, weil sie naß war. Vom Regen.« »Du reißt ihr die Uniform runter, die Strümpfchen, die Schuhchen. Das machst du gern, ihr die Sachen runterreißen, hm? Sie ist das kleine Mädchen und du bist der Bösewicht. Du zwingst sie. Sie will gezwungen werden. Sie ist deine Sklavin. Sie liebt deinen Schwanz. Was machst du dann?« »Ich berühre sie.« »Was? Du berührst sie? Das ist gar nichts!« kläffte sie. »Du fickst sie. Du fickst das kleine Mädchen. Sag die Wahrheit!« »Ja. Stimmt.« »Du reißt ihr die Sachen runter und fickst sie, die kleine Kellnerin. Zwischen ihre bleichen Schenkel. Du fickst sie. Sie und ihre zerrissenen Sachen. Du dringst in ihr Dunkles ein, in ihren bösen schwarzen Tunnel, und hinterläßt dein Andenken, deinen weißen ...« Ich räusperte mich. Sie schwieg lange. »Macht dir das Spaß jetzt?« fragte sie schließlich mit dünner Stimme. »Nein.« »Du willst beweisen, daß du es kannst.« »Ich will Sie sehen«, sagte ich. »Ach, wirklich?« Sie kicherte. »Du hast es aber nötig!« »Sobald es geht.« »Natürlich. Machen wir einen Termin.« Sie nannte mir die Adresse, und wir machten eine Zeit aus. »Wenn du nicht kommst«, drohte sie, »rufe ich an und mache dir die Hölle heiß.« »Klar, verstehe. Ich komme«, sagte ich. Sie legte auf. Draußen nieselte es. Die Morgensonne hatte sich wieder verdrückt. Ich sah mein Spiegelbild in den Scheiben. Das Spiegelbild ging zum Ausguß und spülte das Saftglas aus. Eine Stunde befaßte ich mich mit den Unterlagen von Brands, aber ich war nicht ganz bei der Sache. Ich rief den Manager an und versicherte ihm, die Aussichten für das Optionsgeschäft seien gut, aber er solle noch warten, einen verbindlichen Rat könne ich erst nächste Woche geben. Der Mann schien erleichtert, daß ich mich überhaupt meldete, und wollte
unbedingt wissen, warum ich ihn versetzt hatte. Ich log ihm etwas vor. Ich war mir nicht sicher, ob das Geschäft wirklich gut war. Ich versprach, noch einmal anzurufen, bevor die Banken schlossen. Anschließend zog ich den Plattenspieler aus dem Bücherregal und versuchte, ihn zu reparieren. Als ich das Innere freigelegt hatte, fand ich ein paar lose Drähte, deren Bedeutung mir unklar war. In der Ecke nistete eine kleine Spinne, der Abrieb des Treibrads hatte sich über den ganzen Mechanismus verteilt. Die dicke Staubschicht sagte mir, daß ich im Inneren des Plattenspielers nichts zu suchen hatte. Grüne Kondensatoren glitzerten wie Edelsteine, ich sah nichts, was ich hätte reparieren können. Wahrscheinlich war irgend etwas durchgeschmort. Ich holte das Branchentelefonbuch und rief verschiedene Elektronikläden an, die entweder keine Lust hatten oder unverschämt teuer waren. Deshalb baute ich den Plattenspieler wieder einigermaßen zusammen und ließ die übriggebliebenen Schrauben als kleines Häufchen neben dem Geschwindigkeitsregler liegen. Ich ging an den Schreibtisch zurück, sammelte die herumliegenden Stifte auf, steckte sie in die Sapporo-Büchse, ordnete meine Notizzettel. Ein kleiner Stadtplan lag aufgeklappt herum, ich faltete ihn zusammen und schob ihn in einen Umschlag. Ich räumte das Wörterbuch, das Telefonbuch, das pazifische Who's Who of Business, die Hefte des New Scientist ins Regal zurück. Dann sah ich die Zettel an der Pinnwand durch, nahm sie seufzend ab und steckte sie in einen großen Umschlag, auf den ich das Datum schrieb. Die Reißzwecken verstaute ich in einer durchsichtigen Plastikschachtel. Die nächsten Stunden verbrachte ich mit der Ablage. Die Schubladen quollen über von unsortierten Papieren. Wenn ich mit einer anfing, mußte ich mir alle vornehmen. Ich ersetzte alte Ordner durch neue, überschrieb die alten Aufkleber, fütterte den Shredder. Danach schaltete ich den Computer ein, um die Buchführung in Ordnung zu bringen. Nachdem er gestartet war, forderte er mich auf, Backup-Dateien anzulegen. Ich legte Backup-Dateien an und beschriftete die Disketten. Ich sammelte die Klamotten auf, die überall herumlagen, und hängte sie an die Fleischerhaken, suchte meine Schuhe zusammen und putzte zwei Paar. Dann holte ich die Flasche mit dem Reinigungsmittel unter dem Ausguß hervor, nahm einen Lappen und wienerte die Wasserhähne. Als ich fertig war,
war der Lappen schwarz. Ich spülte ihn aus und sah die trüb schäumende Brühe im Abfluß verschwinden. Die Lampenschirme waren voller Fliegendreck und toter Motten. Ich schraubte die Birnen heraus und ließ die Schirme im Waschbecken weichen. Auch der Türrahmen sah schmutzig aus. Ich schob die Aktenschränke, den Schreibtisch und die Stühle in die Zimmermitte, füllte frisches Wasser in den Eimer, tat Waschpulver dazu und wusch die Wände ab. Während ich jede senkrechte Fläche, die mir unter die Finger kam, vom Schmutz befreite, verlor ich das Gefühl für die Zeit, bis das Büro fertig geschrubbt und sauber aufgeräumt war. Ich hielt die Hände unters kalte Wasser, schüttelte sie trocken und ging ins Schlafzimmer. Das Bett war noch so, wie sie es verlassen hatte. Auf dem Kissen die Krümel vom Frühstück, die Lampe war heiß geworden, ich knipste sie aus. Ich nahm das Kissen und drückte es an mich, legte mich hin und schloß die Augen. Das Bett roch nach Parfüm und nach ihr, und alles, was wir gesagt und getan hatten, war wieder da.
14
Die Nacht war wärmer, als ich gedacht hatte. Beim Anziehen hatten meine Finger Mühe mit den Schnürsenkeln, und für den Krawattenknoten brauchte ich eine halbe Ewigkeit. Im Spiegel sah ich aus wie ein alter Mann. Ich mühte mich eine Weile damit ab, einen geraden Scheitel hinzukriegen, dann kämmte ich alles mit Wasser nach hinten. Draußen, wenn ich keine Zeit hatte, darauf zu achten, sollte das Haar eben fallen, wie es wollte. Mein Aussehen, meine Stimme, mein Gang – nichts war so, wie es sein sollte. Ich konnte mich nur auf meine Erfahrung verlassen, die mir sagte, daß ich halbwegs in Ordnung war, nicht in Höchstform, aber auch nicht total im Eimer. Auf der Straße war über Nacht eine neue Baustelle entstanden, die Bauzäune waren noch feucht von den frisch angeklebten Mardi-Gras-Plakaten. Ich benutzte die Baustelle als Abkürzung, sprang über Regenpfützen und quetschte mich durch das grobe Gittertor. Die Adresse, die Madame Sunde mir gegeben hatte, kannte ich. In den frühen Siebzigern war das die Limelight Bar gewesen, den Eingang bewachte ein Türsteher im Smoking. Sofern er einen hereinließ, stieg man eine leopardengemusterte Treppe hinab zu natursteingetäfelten Wänden, Topfpalmen, dunkel-braunem Kork. Es gab ein DJ-Pult, eine kleine Jazzbühne und skandinavisches Smörgäsbord. 1978 rissen die neuen Eigentümer alles heraus, schlossen die Küche, stellten eine Biertheke auf, strichen den Laden schwarz und ließen Rockbands auftreten. Skinheads verkürzten den Namen auf »Lime«, indem sie die Hälfte der Lettern über dem Eingang herunterrissen. Die Rausschmeißer, bei einem Wachdienst angemietet, trugen blaue und beige Uniformen, Gesichtskontrollen gab es nicht, nur eine Frau und eine Kasse am Eingang, dafür fanden häufig Razzien statt. Ab Oktober 1982 wurde das DJ-Pult an den Freitagabenden wieder benutzt, und das Lime hieß fortan Fez. Personal und Gäste verjüngten sich, es gab Cocktails. Die Kasse wurde von einer neunzehnjährigen Engländerin mit gebleichten Haaren und Angorapullover besetzt. Mittwochs, donnerstags und samstags spielten Bands, und bis das Lokal gegen Ende 1983 an Beliebtheit verlor, war die Polizei regelmäßig zu Gast.
1984 wurde das Fez von den DJs erobert und in Temple umbenannt. Das DJ-Pult wurde zur Kanzel und die Bühne durch eine Tanzfläche ersetzt, hinter der Bar prangte ein Wandgemälde der Niagarafälle. Der Türsteher kehrte zurück, und die Garderobiere übernahm die Gesichtskontrolle. Sie trug einen weißen Frottee-Bademantel, hochhackige weiße Pantoffel, hatte ein weißes Handtuch um den Kopf geschlungen, anstelle der Geldbörse benutzte sie ein Necessaire. Das Temple überlebte zwei Jahre, bis ein Brand die Küche verwüstete. Silvester 1987 eröffnete es als Chabalaba, um Reggae und Musik der Dritten Welt zu pflegen, hielt aber nur sechs Monate durch. Nach Chabalaba hieß das Lokal Basement, dann Tunnel, dann Shaft. Was aus dem Shaft geworden war, wußte ich nicht. Selbst die Polizei kümmerte sich nicht mehr darum. Die Tür zumindest sah jetzt teuer aus und war rot lackiert. Als ich näher kam, ging eine Lampe an, die den Vorplatz beleuchtete. Ich drückte auf den weißen Knopf in dem Messingschild, über dem die diskreten Initialen C. C. angebracht waren, und hielt das Ohr dicht an den Lautsprecher, um etwaige Hintergrundgeräusche zu deuten. Aber es ließ sich nur ein statisches Knistern und eine klare Frauenstimme vernehmen. »Guten Abend, Sir. Bitte Ihre Mitgliedsnummer.« »Ich bin kein Mitglied. Ich bin mit Madame Sunde verabredet. Um ein Uhr.« »Ihren Namen bitte?« »Ellerslie Penrose.« »Einen Moment, Sir.« Ich studierte das benachbarte Schaufenster eine gute Minute lang, bis der Lautsprecher wieder knackte. »Mr. Ellerslie Penrose«, sagte die Stimme, »willkommen im Cot Club.« Das Türschloß klickte, die Tür ging auf, vor mir lagen schwarze Marmorstufen. Beim Hinabgehen umschmeichelte mich eine andere Lautsprecherstimme. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt bei uns.« Die Tür fiel ins Schloß, und die Treppe war ins Halbdunkel der Neonbeleuchtung getaucht, die hinter einem gezackten Art-déco-Fries verborgen war. »Vertrauen Sie uns Ihre ganz speziellen Wünsche an«, sagte die Stimme. »Wir werden Sie voll zufriedenstellen.« Ich hielt mich am Geländer fest. Die Stimme gehörte Madame Sunde, aber sie klang jünger, weicher, besänftigender. »Wir
wissen zu würdigen, daß Sie überall Ihr Bestes geben, und wir freuen uns sehr, daß Sie zu uns gekommen sind.« Am Fuß der Treppe wurde es noch dunkler, irgend etwas wischte über mein Gesicht. Ich zog einen schweren Vorhang zur Seite und stand in einem runden, niedrigen Foyer, ganz in grünem Samt gehalten. Ich wartete, daß sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, und wußte nicht wohin mit meinen Händen. Falls hier viel Betrieb herrschte, hatte er keine Spuren hinterlassen, der Teppich war sauber. Ich hörte entfernte Musik, synthetische Rhythmen, und wenn ich die Ohren anstrengte, auch Stimmen. »Sie sehen heute so gut aus«, säuselte Madame Sunde weiter. »Vertrauen Sie uns Ihre geheimsten Wünsche an, Sie sind hier bestens aufgehoben.« Der Vorhang teilte sich, und ich sah mich einem etwas kurz geratenen Mädchen gegenüber. Sie war bleich und stand ein wenig x-beinig da, barfuß und mit nackten Beinen, ihre Zehennägel waren grellrosa angemalt. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt und zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden, mit einer rosa und einer blauen Schleife, ihre Augen waren dick geschminkt wie bei einem Kind, das sich am Schminkkasten der Mutter vergriffen hat. Ihr Mund war hinter einem großen Babyschnuller verborgen. Bekleidet war sie nur mit einem Unterhemd und einer Windel, die mit überdimensionalen Sicherheitsnadeln befestigt war. Sie ließ den Vorhang hinter sich zufallen und trat näher. Eine Wolke von Rosenwasser und Puder umfing mich. Mit einem Plopp zog sie den Schnuller aus dem Mund — ihre Lippen waren grellrosa geschminkt. Ich nahm das Wesen in Augenschein. Anfang Zwanzig, mindestens. »Willkommen im Cot Club«, begrüßte sie mich. »Komm rein und spiel mit uns.« »Ich bin mit Madame Sunde verabredet.« Langsam wurde ich ungeduldig. »Wissen Sie nicht Bescheid?« »0 doch.« Sie schien sich zu freuen. »Mami will, daß du mit uns spielst. Später darfst du zu Mami. Sie hat es versprochen.« Sie nahm mich bei der Hand. »Ich bin die Angela.« »Hallo«, wollte ich sagen, aber sie legte mir den Finger auf den Mund. »Mami sagt, du heißt Mr. Penrose und bist schon erwachsen«, gurrte sie. »Komm, spiel mit uns.« »Was für ein Spiel?«
»Ringelreihen.« Sie kicherte, griff sich meine andere Hand und drehte mich im Kreis. Dann andersherum, weiter und weiter. Als sie fertig war, wußte ich nicht mehr, wo ich hergekommen war. »Her-ein-spa-ziert!« sagte sie und tippte mir bei jeder Silbe auf die Nasenspitze. Sie schob mich durch einen Vorhang, und ich stand im Dunkeln. Jemand fummelte an meinem Handgelenk und nahm mir meine Uhr ab, und schon stand ich im Cot Club. Ein Gewölbe in Holz und Marmor, das von fern an die alten Räumlichkeiten erinnerte — dort das DJ-Pult, hier die Bar, an den Wänden, die neuerdings durch Trennwände unterteilt waren, die Tische, in der Mitte eine kleine Tanzfläche mit Schachbrettmuster. Die Musik war laut, zu laut für diesen kleinen Raum, aber hinter den üppigen Vorhängen und Trennwänden herrschte angeregte Unterhaltung. Die meist männlichen Gäste kamen der Kleidung nach aus dem umliegenden Geschäftsviertel, sie sahen gepflegt und gesund aus wie Mitglieder eines Tennisclubs oder Kurgäste in einem Seebad. Sie trugen Zweireiher oder saßen hemdsärmlig mit Hosenträgern und Krawatte da. Die Serviererinnen und Hostessen waren als kleine Mädchen verkleidet. Barfuß oder in Kniestrümpfen. Pralle Hintern waren in Windeln gewickelt oder in Strampelhosen gequetscht. Brüste verschwanden hinter weiten, bunten T-Shirts oder waren gar bandagiert, um einen möglichst kindlichen Eindruck zu erwecken. Die Gesichter waren mehr beschmiert als geschminkt, und alle, die nicht sprechen mußten, hatten einen Schnuller im Mund. Dazu billiger Plastikschmuck: Halsketten zum Zusammenstecken, dicke Kinderarmbänder, Ringe mit Comic-Figuren. Langes Haar war zu Zöpfen geflochten, kurzes war mit bunten Haarspangen dekoriert. Angela führte mich zur Bar. »Such dir was Schönes zum Trinken aus. Du kannst haben, was du willst«, trällerte sie und hüpfte dazu. »Alles was du magst.« Die Bardame hieß Marianne und trug eine Schuluniform. Als Gast des Hauses konnte ich zwischen mehreren Biersorten wählen, etwas Hochprozentiges oder einen Cocktail bestellen; die Hostessen tranken aus Brauseflaschen und Babytassen. Eine ließ sich von ihrem Freier mit der Nuckelflasche füttern, eine andere lutschte hingebungsvoll am Daumen, den Kopf auf der Schulter eines Geschäftsmanns. Andere plauderten ganz normal wie Erwachsene und steckten nur dann den Daumen in den Mund, wenn der Freier antwortete. Die Mädchen wirkten
ganz heiter und entspannt. Plumpe Babyallüren wechselten mit routiniertem Small talk. »Ich will meine Uhr wiederhaben«, sagte ich zu Angela, die an einer Limoflasche nuckelte. Sie grinste und schüttelte den Kopf. »Nein.« »Ich brauche sie.« »Brauchst du nicht.« »Her damit.« »Hol sie dir. Ich hab sie versteckt.« »Und wo?« Sie legte meine Hand auf ihren Bauch. »Such sie doch.« »Angela!« ertönte eine scharfe Stimme. Wir drehten uns um. Madame Sunde. Groß, schlank, eine Samtjacke über dem schwarzen Abendkleid mit Schleppe, um den Hals einen schwarzen Seidenschal. Ihr geflochtenes Haar war grau, ihre Augenbrauen dünn nachgemalt, die Lippen dunkel geschminkt. Sie stützte sich mit beiden Händen auf ihren Stock, atmete mit geblähten Nasenflügeln, als wollte sie Witterung aufnehmen, und taxierte mich mit klaren blauen Augen. »Mami sagt, ich muß jetzt gehen«, teilte mir Angela mit, sie nahm ihre Fanta-Flasche und wandte sich weg, aber der Stock hielt sie zurück. Mit einem Blick auf den Stock erwog sie die Konsequenzen ihres Ungehorsams, dann griff sie in ihre Windel und holte die Uhr heraus. Sie schnallte sie mir fest ums Handgelenk und lief davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich öffnete die Schnalle des Armbands und stellte sie ein Loch weiter. Das Leder fühlte sich feucht und warm an. Madame Sunde lächelte und entblößte einen toten Zahn. »Angela ist ungezogen.« Ich nahm einen Schluck Gin. »Kommt das öfter vor?« Der Stock pochte auf den Boden. »Die Arbeit macht ihnen Freude. Und Sie haben doch auch Ihren Spaß. Aber Sie sagen es nicht. Sie sind ja so abgebrüht. So cool.« Ein tiefes, sattes Kichern. »Meine Güte! Am Telefon dachte ich, wie sieht er wohl aus, aber...« Sie zuckte die Schultern. »Ich liege immer falsch.« Ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte, war altersfleckig, von dicken Venen überzogen und mit vier wuchtigen Silberringen geschmückt. »Madame Sunde«, stellte sie sich vor und schmatzte mit den Lippen. »Liegen Sie auch falsch, oder bin ich so, wie Sie dachten?« Nein, die magere Zeitungsannonce hatte nichts dergleichen vermuten lassen. Nur ihre Stimme hätte mich warnen können. Ihr rasselnder Atem schien aus einem Glutofen zu kommen.
Sie führte mich durchs Lokal, vorbei an den Tischen, und ertastete mit dem Stock ihren Weg. Die Gäste lächelten ihr zu, die Mädchen nahmen kurz Haltung an oder ließen sich betont gehen. Sie steuerte die Nische in der hintersten Ecke an, legte den Stock quer über den Tisch und setzte sich auf das Ledersofa. Sie nahm genau hinter der Kerze Platz und nutzte die zwei Anstandssekunden, bis auch ich mich setzte, zu einem kurzen, aber heftigen Hustenanfall. Einen Moment lang entgleisten ihre Züge, mit glasigem Blick wischte sie sich den Mund ab und steckte das Papiertaschentuch in den Ärmel zurück, schnappte mit tiefen, röchelnden Atemzügen nach Luft. Sekunden später hatte sie sich unter Kontrolle und hielt Ausschau nach der Bedienung. Nach ein paar belanglosen Sätzen erläuterte sie mir wortreich die Speisekarte und legte mir nahe, nur das Beste zu wählen — einen teuren deutschen Weißwein, obwohl sie bereits klargemacht hatte, daß ich zahlen würde. Sie wollte nichts davon hören, daß ich keinen Hunger hatte, und bestand auf einer Vorspeise, natürlich der teuersten. Marianne nahm die Bestellungen entgegen, ich schaute ihr nach, als sie wegging. »Ist sie nicht reizend?« fragte Madame Sunde belustigt. »Jetzt denken Sie sicher an Ihre kleine Freundin, die Serviererin.« Als Marianne zurückkehrte, hob Madame Sunde Mariannes Plisseeröckchen und zeigte mir das Piercing. Ein goldener Ring zierte ihre Schamlippen. Ich hielt mich am Weinglas fest und versuchte, gelassen zu bleiben. Madame Sunde schickte das Mädchen weg und machte sich über die Vorspeise her. Sie tropfte Zitronensaft auf den Kaviar und rieb sich mit den ausgequetschten Scheiben über die Handrücken. »Das ist gut für die Haut«, erklärte sie. »Vitamine!« Und hielt mir ihre braun-fleckige Kralle unter die Nase. »Wollen Sie nicht essen?« »Ich habe keinen Hunger.« »Lieber etwas anderes? Wir sind das hier gewöhnt.« Sie breitete die Hände aus. »Wir sind wie eine große Familie. Und manche wissen nicht, was sie wollen. Sie probieren dies, sie probieren das, doch zufrieden sind sie nie. Aber das ist in Ordnung. Sie kommen zu mir, weil sie experimentieren wollen.« »Mit Drogen?« »Was Sie nur wollen«, bestätigte sie. »Und Sie, Sie sind sehr intelligent. Aber Sie verbergen etwas. Warum sind Sie so schweigsam?« »Bin ich das?«
Sie drückte die Fingerspitzen aneinander. »Nun, was sind Ihre Wünsche? Welche dunklen Gedanken haben Sie?« »Ich bin mir nicht sicher.« »Ich glaube, Sie wissen es genau. Sie trauen sich nur nicht. Wie kann man nur so ängstlich sein!« Ich füllte mein Weinglas nach. Sie schaute mir amüsiert zu. Der Wein hatte seine Süffigkeit verloren, jetzt war mir nur noch, als würde er meine Zunge lähmen und meine Sätze verwirren. Ich dachte daran, wie ich mit dem Tagebuch unter dem Arm durch die nassen, schlüpfrigen Straßen lief und am liebsten gerannt wäre, aber Angst hatte, auszurutschen und den Umschlag zu verlieren, der voller Rätsel steckte. Madame Sunde war ebenfalls schlüpfrig, aber ich fand es nicht schwer, mit ihr zu reden. Es war wie das Überqueren einer Straße bei Regen. »Darf ich Sie nach einem Ihrer Kunden fragen? Er hieß Tad. Seine Leidenschaft waren Drogen. Hat er die bei Ihnen bekommen?« Sie stutzte. »Waren Sie ein Freund von Tad?« »Ich habe etwas, was ihm gehört.« Ich holte die Brieftasche heraus und legte sie auf den Tisch. Sie starrte die Brieftasche an. »In der steckte das Inserat mit Ihrer Telefonnummer«, erklärte ich. »Ich wußte erst nicht, was sie zu bedeuten hat.« »Woher haben Sie diese Brieftasche?« »Ich habe sie gefunden. In der Nähe seiner Leiche.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist furchtbar! Wie können Sie nur!« »Ich war dort, wo er umgebracht wurde.« Mein Satz hing in der Luft, eine Handbreit über dem Tisch. »Ich habe die Leiche gesehen.« »Aber warum?« »Ich kannte ihn nicht. Aber ich bin zufällig hineingezogen worden in — in das, was passiert ist«, sagte ich und schauderte leicht. Sie schüttelte wieder den Kopf und krümmte langsam die Finger. »Seine Brieftasche! Wie konnten Sie so etwas tun!« »Ich wußte nicht, daß sie ihm gehörte.« Ich griff nach ihren Händen, sie zog sie weg und schüttelte sich. »Wie konnten Sie nur!« »Er hat etwas geschrieben, bevor er starb, mit seinem Blut. Den Anfangsbuchstaben meines Namens: P.« Sie starrte mich mit offenem Mund an. »Und ich dachte ... Jetzt kommt es mir verrückt vor, aber ich dachte, daß der Buchstabe irgendwie ...«
»Das P?« »Ja. Es ist verrückt ...« »Das reicht.« »Die Polizei geht davon aus, daß er den Buchstaben vor seinem Tod...« Sie nahm ihren Stock und stand auf. »Gehen Sie.« Ich griff nach der Brieftasche, sie stieß sie beiseite. Ihr Gesicht war wutverzerrt, aber sie konnte nicht weg, der Tisch klemmte sie ein. Sie schob sich seitwärts, um herauszukommen, und zischte wie eine Schlange. »Verschwinden Sie! Sind Sie immer noch da?« Sie wedelte mit der Brieftasche. »Raus!« Sie suchte Halt am Tisch, doch sie griff daneben. Verständnislos blickte sie nach unten, der Stock fiel klappernd zu Boden, Schweiß trat auf ihre Stirn. Das war keine Wut mehr, das war ein akuter Schwächeanfall. Mit verdrehten Augen und zitternden Lippen krümmte sie sich. Sie war zornig und betrunken und ängstlich und alt. Ihre Hand fuhr zuckend durch die Luft. Sie verlor das Bewußtsein.
15
Ich fing sie auf und wurde fast von ihr umgerissen. Sie war schwerer, als ich gedacht hatte. Marianne stellte das Tablett ab und eilte mir zu Hilfe. Ich hielt Madame Sunde fest, ihr Kopf ruhte an meiner Schulter, aus ihrem Mund kam leises Röcheln. Ihr Haar hatte sich gelöst, graue Strähnen hingen ihr ins faltige Gesicht. »Sie muß sich hinlegen«, sagte ich. »An einem ruhigen Ort, wo es ein Fenster gibt.« »Im Büro«, sagte Marianne. »Wo ist das?« »Im Obergeschoß.« »0 Gott.« Die Gäste drehten sich zu uns um, doch dann krachte es in der Verstärkeranlage, und eine Mädchenstimme dröhnte: »Nur keine Panik, Kinderchen.« Ich blickte zum DJ-Pult hinüber und sah Angela mit anzüglichem Grinsen ins Mikrofon sprechen. »Mami hat einen kleinen Schwips. Laßt euch nicht stören, spielt weiter!« Die Musik setzte wieder ein, und Angela rief durchs Mikrofon: »Wer will mit mir spielen? Wer will mit meiner Muschi spielen?« »Wir müssen sie hochbringen«, zischelte mir Marianne zu und ächzte unter den Gewicht ihrer Chefin. »Schritt für Schritt.« Ich steckte mit der freien Hand die Brieftasche ein. Zum Glück war Madame Sunde nicht mehr völlig bewußtlos. Bei jedem Schritt zuckten ihre Lider, ihr Kopf kippte nach vorn, als würde sie uns aufmunternd zunicken. Wir brachten sie zum Hinterausgang und schleppten sie langsam zwei Stockwerke hoch. Die Treppe endete vor einer Tür. Das Schloß klickte, und sie öffnete sich ins Dunkel. Als wir eintraten, raschelte es wie Papier, man hörte leises Trappeln, dann war es still. Marianne zog mich etwa acht Schritte weiter zu einer Chaiselongue. Als Madame Sunde lag, beugte sich Marianne über sie und öffnete ihr das hochgeschlossene Kleid, ich ging beiseite. Madame Sunde röchelte, als ihr Kragen geöffnet war, und begann zu husten. »Jetzt kriegt sie wieder Luft«, sagte Marianne. »Das wird helfen. Können Sie Licht machen?« »Wo ist der Schalter?« »Auf dem Tisch.«
»Es ist also eine Tischlampe.« »Ja.« Sie kicherte. »Eine Tischlampe.« »Wenn es eine Tischlampe ist, ist es keine Deckenlampe«, sagte ich und tappte herum. »Wenn ich Licht machen soll, suche ich den Schalter an der Wand.« »Ist ja wahr.« Vorsichtig tastend fand ich einen Wandtisch, auf der eine wacklige Lampe mit Stoffschirm stand. Nach längerem Suchen fand ich den Kippschalter und knipste das Licht an. Neben der Lampe standen das Telefon, ein Anrufbeantworter, eine Kristallkaraffe mit Gläsern. »Solche ungenauen Angaben können ...« Ich stockte. Ein Kätzchen blickte mit großen runden Augen zu mir auf, es war nicht einmal halb so groß wie die fünf oder sechs anderen Katzen, die uns aus der Ecke beobachteten. Doch es waren die vielen Frauenfotos an den Wänden, die mich ganz schwindlig machten. Polaroidfotos, Doppelseiten aus Illustrierten, AirbrushKreationen, Filmbilder, Kunstpostkarten — vom Boden bis zur Decke waren die Wände mit Mädchen bedeckt. Kokette Posen, leuchtende Gesichter, nackte Schenkel, pralle Lippen. Geräkelte Glieder und Fußkettchen ließen orientalische Genüsse vermuten. Die Kunstdrucke von Bonnard, Balthus, Toulouse-Lautrec waren im Lauf der Jahre verblichen, manche Bilder sahen tau-frisch aus. »Das ist Madames Boudoir«, sagte Marianne verlegen. »Hier können Sie nicht bleiben.« »Madame geht es nicht gut«, erklärte ich. »Sie ist krank. Aber keine Sorge, ich kümmere mich um sie.« »Ich weiß nicht ...« »Sonst muß ich einen Krankenwagen rufen, dann kommt sie in die Klinik. Sie ist alt und schwach. Man weiß ja, was dort mit den alten Leuten passiert. Wer einmal drin ist, kommt nicht mehr raus.« Marianne biß sich auf die Lippe. »Im Moment braucht sie nichts als Ruhe. Gehen Sie nach unten, sehen Sie nach dem Rechten. Ich kümmere mich um sie.« Marianne nickte. Ich brachte sie zur Treppe und schloß die Tür. Dort sah ich sie neben Veronica Lake an der Wand hängen, nackt, ohne kindisches Make-up. Von unten drang der gedämpfte Lärm des Clubs herauf. Dort ging alles seinen Gang. Als ich mich umdrehte, blickte mich Madame Sunde an. Das Klappen der Tür hatte sie geweckt.
»Die Polizei weiß, daß sich Tad Ash Heroin gespritzt hat«, sagte ich. »Bald weiß sie auch, wo er es her hatte.« Sie lachte. »Ich meine es ernst. Der Inspektor ist kein netter Typ von nebenan. Das ist ein verrückter Hund.« »Tangiers? Der ist ganz normal.« »Sie kennen ihn?« Sie grinste. »Ich erfülle meinen Gästen jeden Wunsch. Auch ihm.« »Tangiers?« Mir blieb der Mund offenstehen. »Tangiers ist ein Junkie?« »Wie sein verehrter Sherlock Holmes.« Sie tippte an ihren Ellbogen. »Alle hängen sie an der Nadel.« »Scheiße.« »Wußten Sie das nicht?« Sie zuckte mitleidig die Schultern. »Hier wird er ganz bestimmt nicht suchen. Nicht bei mir. Mich wird er nicht verhaften.« »Er hängt es wem anders an. Er ist der Typ dazu.« »Dann passen Sie wohl besser auf«, gurrte sie. Plötzlich fühlte ich mich verloren in ihrem Boudoir. »Wenn Sie so nett wären«, sagte sie und zeigte auf die Karaffe. »Ich hätte gern einen Schluck.« Ich schnupperte am Glasstöpsel. Wodka. »Ist das nicht ein bißchen stark?« »Ich bin's gewöhnt.« Ich goß ihr etwas in ein Glas. Sie nahm es mit zitternden Händen, trank einen Schluck und begann zu husten. »Jetzt ist mir schon besser«, sagte sie und richtete sich ein wenig auf. »Sie sind ohnmächtig geworden. Sie sollten nicht soviel trinken.« »Meine Mädchen kümmern sich um alles. Gute Mädchen«, sagte sie halb abwesend, mit verschwimmendem Blick. Ich betrachtete die Bilder an den Wänden. Das Kätzchen umstrich meine Beine. Ich nahm es hoch, und als ich es auf den Tisch setzen wollte, spreizte es die Beine und fauchte mich an. »Hübsche Katze«, sagte ich. »Travis.« »Ein Kater?« »Ja. Um diese Zeit werden sie munter.« Mit schläfriger Stimme stellte sie mir die anderen Katzen vor. Sushi (schwarzweiß gefleckt), Apples (ein fetter roter Kater), Basket (seine Mutter), Tufur und Moonpie (zwei Persianer, die große erhaben, die kleine lebhaft), Boy Cat (dürr, mit einfältigem Blick). Travis, der Klein-
ste von allen, tobte sich an den Quasten des Lampenschirms aus. Ich blickte auf die Bilder an den Wänden. »Und die dort?« »Meine Mädchen. Kennen Sie die?« »Ein paar.« »Sie kennen sich aus, aha.« Ich zeigte auf das Türkische Bad. »Das hat Ingres als alter Mann gemalt.« »Für mich ist es sein schönstes Bild.« »Er hat immer dieselben Mädchen gemalt. Sie wurden nie alt.« »Haben Sie auch Fotos an Ihren Wänden?« Im Halbdunkel sah ich ihr Lächeln. »Vor allem Regale. Ich muß meine Sachen griffbereit haben für meine Arbeit.« »Da sind wir uns gleich. Wir sind Sammler. Wir belügen die Polizei. Wir sind so gut wie tot.« Sie schloß die Augen. Etwas in den vergangenen Minuten mahnte mich zur Zurückhaltung. Jetzt keine Fragen stellen. Sie wirkte bitter und abweisend, wild darauf bedacht, sich zu schützen. »Sie denken, Sie haben viel gesehen und viel erfahren. Aber ich sitze hier und atme. Das ist anstrengender, als Sie glauben. Jede Sekunde kostet. Ich schulde der Welt so manches. Dollars, Gold, Schecks. Aber hier drinnen« — sie schlug sich an die Brust — »ist die eigentliche Schuld. Jeder Herzschlag.« Die Katzen strichen um die Sofabeine. »Ich werde diesen Club hinterlassen, die Mädchen — und das, was ich jetzt sage.« Sie blickte zu mir auf. »Ich hatte viele Männer, und keinen habe ich vergessen. Wenn Sie's wissen wollen: Einer von ihnen hieß Palmer.« Palmer. Ich starrte sie an. Wie ein Uberqueren der Straße bei Regen. Wir waren jetzt auf der anderen Seite. »Der Palmer, der die Tagebücher geschrieben hat?« fragte ich. »Sie kannten ihn?« Sie nickte ungeduldig. »Er war ein hübscher Junge damals. Noch ein Kind.« »Wann haben Sie ihn kennengelernt?« Sie nahm einen Schluck Wodka. »Sehen Sie, wie alt ich bin. Mit fünfzehn habe ich angefangen.« Ich schwieg. »Das war vor dem Krieg.« Sie rückte sich zurecht. »Ich war nicht Madame, ich war Miranda – Miranda Sunde. Mein Haar war damals hell, fast blond. Ich habe getanzt, anmutiger als andere Mädchen, glaube ich. In dem Haus trugen wir lange weiße
Seidenkleider. Sehr elegant. Ich fand mich wunderschön. Jeden Abend im Salon haben wir zum Klavierspiel getanzt und uns ausgezogen. Und eines Nachts kam ein Junge herein. Kein Mann, sondern ein Junge. Etwa mein Alter. Und er wählt mich, was sehr seltsam war. Normalerweise nehmen sich die Jungen eine Ältere. Jedenfalls, ich bringe ihn ins Zimmer und ziehe ihn aus. Ich küsse ihn und streichle ihn, aber nichts passiert. Am Anfang ging gar nichts bei ihm. Ich legte ihn in mein Bett und deckte ihn mit seinem Ledermantel zu. Dann sind wir zusammen eingeschlafen. Am Morgen wache ich auf und lausche auf den Lärm im Haus. Radiomusik, Geschrei, Stühlerücken, ich höre Türen klappen, Betten knarren. Und dieser Junge, er redet und redet. Er erzählt mir sein ganzes Leben. Alles, woran er sich erinnert. Wie sich seine Eltern gestritten haben, wie seine Mutter sich einen Liebhaber genommen hat, wie sein trunksüchtiger Vater Leichen sezierte. Er glaubte, es sei seine Schuld, daß sie alle starben. Ich habe ihn ausgelacht. Es war Krieg, das große Sterben war im Gange, und da grämt sich dieser Junge wegen drei Menschen. Daß er sie überhaupt im Gedächtnis behalten hat bei all den Leichenbergen! Aber er hat mir die Augen geöffnet — dafür, was aus mir geworden war. Mein Gott. So ein süßes Mädchen — und jetzt eine Hure. Ich schämte mich und sagte zu ihm, ich kann dir helfen. Flieh mit mir.« Ich rieb mir die Augen. »Und wie?« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe mit den richtigen Leuten geschlafen, mit U-Bootmatrosen, einem Kapitän. Soldaten, Flieger sind im Krieg gut, aber wenn der Krieg vorbei ist, ist nichts mehr mit ihnen los. Da bleibt einem nur die See. Die Matrosen nahmen uns mit, als sie flohen. Im U-Boot sind wir unter den Schiffen und den Scheinwerfern durchgetaucht. Wir sind nach Süden über den Äquator, in wärmere Gegenden, wo Schätze lagen, wo es alles im Überfluß gab, wo man Menschen traf. Mit dem Geld, das wir hatten, sind wir gereist, viel gereist. So vergingen die Jahre, aber für mich blieb er schön. Wir haben viel geredet, beisammengelegen, wir waren ein elegantes Paar, er und ich. Ich habe hier und da Geld verdient, er konnte mit Karten umgehen. Er hat gespielt und gewonnen. Wir sind unter falschen Namen gereist, als Hochstapler. Wir haben viele Menschen kennengelernt.« Sie zwinkerte mir zu. »Ich war eine Schönheit. Das können Sie mir glauben. Als Teenager war ich zu mager, zu lang, aber plötzlich kriegte ich eine wunderbare
Figur und wirkte ein bißchen älter als er. Wir haben darüber gelacht. Und sind weiter von Hotel zu Hotel gezogen. Können Sie Fremdsprachen, Mr. Penrose?« »Nein, nur englisch.« »Ich habe jeden Monat eine neue Sprache gelernt, einfach so aufgeschnappt. Der reine Instinkt. Ich mußte nur zuhören, mein Kopf hat den Sinn sortiert, und zwei Tage später sprach ich wie eine Einheimische.« Sie grinste. »Aber das ist lange vorbei.« »Was wurde aus Palmer?« »Er reiste gern. Das war nicht das Problem.« Ihre Augen waren nach unten, auf etwas tief Vergrabenes gerichtet. »Ich wurde älter, er nicht. Er fand es schrecklich. Ich habe mich verändert, wurde allmählich erwachsener, und er blieb der Junge, der er war. Er mied die Öffentlichkeit und haßte Uhren. Nie wollte er wissen, wie spät es war. In den Hotels ließ er die Vorhänge geschlossen, um nicht zu sehen, wie die Zeit verging. Er mochte keine Tiere, nicht mal die Blumen hat er gegossen. Er ließ sich das Essen aufs Zimmer bringen, ich ging aus, er blieb im Hotel. Saß ich im Restaurant, hat er mich angerufen. Wir haben lange geredet, dann ging ich an meinen Tisch zurück. Nach dem Kaffee rief ich ihn wieder an. Am Telefon haben wir mehr miteinander gesprochen als sonst. Er hat viel Musik gehört. Im Dunkeln. Er war sehr blaß. Er wußte nur das, was ich ihm erzählte, später auch das, was er im Fernsehen sah. Eines Tages kam ich zu ihm, und er war verändert. Nicht nur äußerlich. Er wirkte völlig ausgezehrt ... hohl. Von dem süßen Jungen war nichts mehr zu sehen. Er war zornig, voller Zorn auf alle. Und ich hatte Angst.« »Was dann?« »Ich habe meine Sachen gepackt. Und bin hierhergekommen, wo mich keiner kennt, wo mich nichts an ihn erinnert.« Sie hielt mir das leere Glas hin. Ich füllte nach. Ihre Hand zitterte nicht mehr. »Haben Sie noch einmal von ihm gehört?« »Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich habe nicht mehr an ihn gedacht. Bis Sie von Tad Ash anfingen.« »Tut mir leid, daß ich die Brieftasche genommen habe«, sagte ich. »Es war ein Fehler.« »Tad hat Sie gewarnt. Mit seinem eigenen Blut hat er das P geschrieben.« »Gewarnt wovor?«
Ihre Stimme war ein kaltes Klirren — wie Eis im Glas. »Vor Palmer.« Ich nickte. »Vor Palmers Tagebuch. Ich habe darin gelesen.« »Nein, vor Palmer. Er sagte damit, hüte dich vor Palmer.« »Mich hüten vor seiner Hinterlassenschaft?« »Nein. Vor ihm selbst. Hüten Sie sich. Er ist hinter Ihnen her.« Ich nickte wieder und öffnete die Schublade des Wandtisches. Sie fuhr hoch. »Was suchen Sie da?« »Etwas zum Schreiben.« Das Innere der Schublade bestand aus rohem Holz und war mit billigen Schrauben zusammengehalten. Ich fand Bleistift und Notizblock, riß ein Blatt heraus und fragte: »Palmer hat sein Tagebuch 1875 begonnen. Richtig?« Ich schrieb die Jahreszahl auf. »Sagen wir, da war er zehn. Okay? Gut.« Ich schrieb die Zahl aus und hielt den Zettel hoch. »Dann ist er heute hundertsechsundzwanzig Jahre alt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Sie behelligen wird.« »Er will uns töten, weil wir sein Geheimnis verraten haben. Tad und Dede, weil sie das Tagebuch gekauft haben. Und mich, weil ich es weggegeben habe. Sie werden sehen.« Sie schloß die Augen und verstummte. Ich stand da und starrte sie an. Nach einer Weile sprang Apples auf das Sofa, stupste vorsichtig mit einer Pfote auf ihren Bauch, rollte sich zusammen und schlief ein. Sushi beschnupperte ihre Stiefel. Die anderen Katzen schauten unbeteiligt zu, umstrichen mich und schnüffelten an meiner Hand. Travis sprang auf den Rand des Tisches und miaute kläglich. Unwillkürlich streckte ich die Hand aus und streichelte seinen kleinen Kopf. Travis dehnte sich mit Behagen und verlangte nach mehr. Das mehrstimmige Schnurren der Katzen füllte die Stille zwischen dem Ticken der Uhr. Als Travis gähnte, gab ich ihm einen Klaps und setzte ihn auf den Fußboden. Madame Sunde schlief fest, unten war es still geworden. Ich wußte selbst nicht, was ich hier noch zu suchen hatte. Es war, wie wenn man spät nachts fernsieht, auch wenn man weiß, daß nichts läuft. Man macht sich einen Kaffee, wischt den Küchentisch ab, wandert durchs Zimmer, und trotzdem tut sich nichts im Kasten. Um zwei Uhr zappt man sich immer noch durch alle Kanäle, aber meist vergeblich. Ich legte den Notizblock zurück und merkte, daß er gegen etwas stieß. Ich tastete danach: ein flaches Päckchen. Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß Madame Sunde schlief, holte ich es heraus. Es war in vergilbtes
Papier gewickelt, die Schrift darauf erkannte ich sofort. Ich faltete das Papier auseinander und las. Allen Zivilisten hat man Dunkelheit verordnet. Sie wird bei Sonnenuntergang angewendet, und der Effekt ist phänomenal. Nur an dem Lärm dort oben merkt man, daß man noch am Leben ist. Vor Mitternacht sitzen wir eine Stunde im Bahnhof. Miranda starrt die Leute an. Als es zwölf Uhr vorbei ist, gehen wir durch die Stadt zum Hafen. Die Lampen an der Umzäunung sind abgedunkelt, aber die Tore sind offen. Wir können unseren Atem sehen. Miranda in ihrem langen Armee-Trenchcoat tritt ins Licht. Die Posten beachten sie nicht. Wir gehen an ihnen vorbei. Es ist wie ein mit Stahl ausgekleideter Bunker. Zwölf oder fünfzehn Männer, die im Scheinwerferlicht Kisten schleppen. Gebrüllte Befehle, der Lärm der Stiefel auf den Stahlrosten. Ein Kran versenkt Fracht in einer Luke. Die Luke befindet sich im Bug, nur zehn Meter von uns entfernt. Der Bug gehört zu einem langen, zigarrenförmigen Rumpf mit einem Deck, das vorn und hinten spitz zuläuft wie eine Schiffchenmütze und von einer Drahtseilreling umgeben ist. In der Mitte der ovale Turm mit den großen weißen Lettern: U-977. Das Essen an Bord schmeckt faulig. Stocher nicht im Reis, sagt Miranda. Es ist ein Alptraum, so oder so. Sieh mich an! Vergiß die Details. Jetzt müssen wir die großen Stürme bestehen. Miranda nimmt einen Klumpen Reis mit schwarzen Käfern darin, steckt ihn in den Mund und kaut. Iß! Es ist nicht giftig. Der Krieg ist zu Ende. Sie können Maschinen, Motoren bauen, aber keine Menschen, die sie bedienen. Dieses Boot haben wir nicht verdient. Die Überfahrt ist uns in den Schoß gefallen. Wir nehmen die Dinge, wie sie kommen. Die Männer trinken und prahlen, daß sie 200 Meter tief tauchen können. Aber uns wird der Druck nicht brechen. Wir haben kein Rückgrat. Am dritten Tag schiebt Miranda die Hand zwischen die Beine und zeigt mir das Blut. Gott sei Dank, sagt sie, es hat geklappt. Sie umarmt mich und sagt, weine nicht. Das wäre das Schlimmste gewesen in dieser Situation. Wir haben das Richtige getan. Später ist genug Zeit dafür, in Südamerika. Alle Zeit der Welt. Ich schenke dir einen Sohn. Weine nicht. Im Papier steckte ein Foto, ein altes, gerahmtes Negativ. Ich hielt es hoch, bis die Silberschicht das Licht zurückwarf und ich
das Bild erkennen konnte. Ich schnappte nach Luft. Erschrocken drehte ich mich um, aber Madame Sunde schlief fest. Ich wickelte das Bild schnell wieder ein und steckte es in die Tasche, schloß die Tür auf und ging die Treppe hinunter. Der Club war verwaist. Nur die Notbeleuchtung brannte, die Stühle waren hochgestellt, die Lautsprecher brummten leise. Gespülte Gläser trockneten auf Geschirrtüchern, jemand hatte den Boden gewischt, es roch nach Rauch und schalem Bier. Ein Häufchen zusammengekehrter Fundsachen lag am Ende der Bar – Plastikschmuck, ein Dunhill-Feuerzeug. Ich fand den Notausgang und drückte die Tür auf. Ich blieb erst stehen, als ich weit vom Club entfernt war, wickelte das Bild aus und hielt es gegen den Morgenhimmel. Eine nackte Frau auf einem Bett. Es war kein pornographisches Bild, die raffinierte Pose verhinderte einen allzu intimen Blick. Ihre schwarzen Seidenstrümpfe endeten am Oberschenkel und lenkten den Blick auf ihre glatten Rundungen und die geschwungene Rückenlinie. Ein junges, aber erfahrenes Gesicht. Sie blickte verschwörerisch über die Schulter, das sichtbare Auge war kräftig geschminkt, das andere war hinter den langen blonden Locken verborgen. Auf dem Kopf trug sie eine Offiziersmütze aus Leder. Ihr Lächeln offenbarte einen kleinen Makel – einen abgestorbenen Schneidezahn. Schon beim ersten Blick auf das Bild hatte ich sie erkannt – und das gleich mehrmals. Es war Miranda Sunde als junge Hure, in ihrer Zeit mit Palmer. Und es war die Blondine im Yamada, dieselbe Frau, die am Dilworth ins Taxi gestiegen war. Und die Frau im langen schwarzen Mantel, die zu spät zu Tad Ashs Trauerfeier gekommen war. Ich hielt das Bild gegen das Licht und starrte, um mich herum wurde es ganz still. Sie war es, ohne Zweifel. Sie war der Beweis, daß Palmer in derselben Welt existierte wie ich.
16
Auf dem Heimweg kam ich an der Insurance Alley vorbei. Ich blieb stehen und sah mich um, dann ging ich hinein. Der Glascontainer war verschwunden. Jemand hatte alles beseitigt, was an das Martyrium von Tad Ash erinnerte, an Atemnot und Herzrasen, die Ausschüttung der schmerzbetäubenden Hormone, die Illusion von Licht und Erlösung, die rettende Hand am Ende des Tunnels, und dann Schwärze, ein letztes Aufflackern wie nach dem Auslaufen der Filmrolle. Aus, vorbei, nichts mehr. Nicht einmal das Klappen der Sitze. Nur ein erkaltender Körper, der nichts mehr spürte. Das Wissen, daß es mir ebenso ergehen würde, war hohl und unwirklich. Vielleicht war ich zu jung, der Tod mir zu fern. Oder ich hatte mehr mit Palmer gemeinsam als nur das P meines Namens. Einen Moment lang konnte ich mir die Angst im Tunnel vorstellen, aber nicht den Sprung ins Rettende. Ich lehnte mich an die graffitibeschmierte Hauswand und wartete, daß die Morgensonne irgend etwas sichtbar machte, was ich bisher übersehen hatte. Ganz kurz hatte ich das Gefühl, daß das tatsächlich passieren könnte, dann wurde der Durchgang wieder still um mich herum. Doch das Gefühl der Erleuchtung blieb mir erhalten, ich lief in mein Büro zurück, grübelte, zählte meinen Herzschlag. Der Welt schulde ich Dollars, Gold, Schecks. Der Imbißbetreiber vor dem Dilworth montierte die Gasflaschen ab und koppelte seinen Wagen an die Zugmaschine. Ich kaufte ihm die letzte Tüte Milch ab. Oben stellte ich mich ans Fenster, trank aus dem Karton und schaute zu, wie der Imbißwagen dorthin davonfuhr, wo er tagsüber abgestellt wurde, wo auch immer das sein mochte. Bis zum Nachmittag lief ich tatenlos auf und ab, ich redete mit mir selbst, kehrte immer wieder zu dem Negativ zurück. Der gebogene Rücken, die blonden Locken, der graue Zahn. Am Anfang seines Lebens war Palmer unschuldig gewesen, ein Opfer der Umstände. Und wie merkwürdig seine Flucht auch war, er hatte doch ein einfaches Motiv — er wollte leben. Er floh in ein anderes Land. Als Handlanger des Entfesselungskünstlers war er gezwungen, die tiefere Bedeutung dessen, was er getan hatte, zur Kenntnis zu nehmen. Also floh er
erneut, diesmal traf er das blonde Mädchen und verliebte sich. Er versuchte zu leben wie ein Mensch, und als er einsah, daß es nicht ging, kam die Trennung. Der Bruch zerstörte etwas in ihm und weckte seine finsteren Seiten. Er wurde häßlich, und nicht nur für sie. Als Arztsohn, als Schaustellergehilfe hatte er gewußt, wo er den Schnitt machen, wohin er gehen mußte. Aber Madame Sunde ... Ich schüttelte verwirrt den Kopf. In ihrem Club war sie alt, auf der Straße war sie jung. Ich hatte keine Erklärung. Doch langsam dämmerte mir die Bedeutung des Tagebuchs. Es verhalf mir ganz allmählich zur Wahrheit, zu dem Wissen, das die anderen Mitspieler schon die ganze Zeit besaßen. Mir hatten sie die Geschichte Stück für Stück verkauft, sie hatten mich geködert, sie hatten mich am Haken. Es wurde Zeit, an der Leine zu rütteln. Ich rief Dede Ash in seinem Laden an. »Hallo«, sagte er tonlos. »Ich habe nachgedacht, Mr. Ash. Hören Sie zu.« Ich hielt das Bild ins dünne Sonnenlicht. »Ich habe ein Foto gefunden, ein Negativ. Es sieht ziemlich alt aus. Können Sie so etwas datieren?« »Das ist nicht mein Gebiet.« »Es zeigt eine Frau. Eine Frau, die Palmer kannte. Sie heißt Miranda Sunde. Gestern abend hat sie mir erzählt, daß sie Tad kannte. Sie hatten geschäftliche Beziehungen. Wußten Sie davon, Mr. Ash?« Schweigen. Aber ich blieb dran. »Die Frau auf dem Foto ist Miranda Sunde, in der Zeit, als sie mit Palmer zusammenlebte. Sie ist wirklich sehenswert. Eine Schönheit. Langes blondes Haar, nackt, gute Figur. Sie sollten das mal sehen. Aber das wirklich Bemerkenswerte ist, daß sie genauso aussieht wie eine andere Frau, die ich in der Stadt gesehen habe, eine Doppelgängerin der Miranda Sunde, die einmal die Geliebte von Palmer war. Und diese Doppelgängerin scheint etwas über die ganze Angelegenheit zu wissen. Ich habe sie mehrmals gesehen. Als wir im Yamada waren, saß sie in der Ecke und hat uns beobachtet. Sie spürt mir nach. Sie weiß mehr als ich.« »Wie sollte das wohl möglich sein.« »Es ist total verrückt«, sagte ich fröhlich. »Aber ich bin sicher, es hängt alles irgendwie zusammen. Wollen Sie einen Blick auf das Foto werfen, vielleicht einen Experten fragen? Wir könnten
es datieren und — wer weiß? — vielleicht fällt Ihnen etwas dazu ein. Dann kämen wir ein Stück weiter.« Das Sonnenlicht brachte das Negativ zum Glänzen und machte jedes Detail sichtbar. Weiß wurde zu Schwarz, und Schwarz zu samtenem Silber. »Vielleicht ist Palmer nicht der einzige Untote«, sagte ich lachend. »Vielleicht läuft hier ein ganzer Trupp von Zombies herum. Wir sollten die Presse benachrichtigen, Fernsehen und so weiter. Ungeklärte Geheimnisse, rätselhafte Phänomene. Wir könnten ...« »Mr. Penrose«, fiel mir Ash ins Wort. »Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.« Jetzt kommt es, dachte ich. »Sie sind ein guter Geschäftsmann, Mr. Penrose. Sie haben Verstand. Also können Sie auch ermessen, wie tief Sie in der Sache drinstecken.« Er klang hart und abgehackt. »Sie waren dabei, als er gefunden wurde. Sie haben der Polizei Informationen vorenthalten. Sie waren bei mir, um die Tagebücher einzusehen, und bei Veale, um Ihr Kaufinteresse zu signalisieren.« »Dummes Zeug«, erwiderte ich betont locker. »Vor allem aber haben Sie Madame Sunde aufgesucht und sich Kenntnis von den illegalen Machenschaften eines Polizeibeamten verschafft, eines gewissen Detective Tangiers. Wenn er davon erfährt, wird er sich um so mehr für Ihre Verwicklungen interessieren. In Ihrer Lage scheinen Sie der ideale Käufer für die Tagebücher. Meinen Sie nicht?« »Donnerwetter, Mr. Ash! Und ich dachte, Ihr Bruder wäre der Geschäftstüchtige gewesen. Das eben könnte auch er gesagt haben.« Schweigen. Ich ließ ihn zappeln. Unten dröhnte der Verkehr. »Geben Sie mir Zeit«, sagte ich. »Ich muß das alles erst mal sortieren. Da sind so viele Fragen offen, daß ich noch eine Weile brauche. Ich weiß, Ihnen wird die Zeit lang. Das kommt davon, daß Sie mir einen Schritt voraus sind. Ich habe über Ihren Bruder nachgedacht, Mr. Ash. Sie haben zwar betont, daß Sie ganz anders sind als er, aber ich wette, wenn ein Zwillingsbruder drogenabhängig ist, ist es der andere höchstwahrscheinlich auch. Habe ich recht?« Schweigen. Natürlich hatte ich recht. Im Hörer knisterte das stumme Eingeständnis. Und die gespannte Aufmerksamkeit eines Dritten, der mithörte. Ich bohrte weiter. »Ich wette, keiner hat es gewußt. Ich wette, Sie haben sich gegenseitig mit Drogen versorgt. Ich wette, Sie sind als ein und
dieselbe Person aufgetreten. Was Sie in gewisser Weise auch waren. Beide am Tropf von Madame Sunde. Sie war eine sichere, diskrete Quelle. Sie hat Tangiers geschmiert, aber nicht mit Geld. Ein klares Tauschgeschäft. Vor den Bullen war sie dadurch sicher, aber nicht vor den Dealern. Für jeden Dollar, den sie verdient hat, hat er sich zwei Dollar in die Vene gespritzt. Ich wette, er hat sie ausgeblutet. Ich wette, sie steckt tief in der Scheiße, Mr. Ash. Sie waren es, der die Tagebücher verkaufen wollte, damit sie ihre Schulden bezahlen konnte, damit sie Ihnen erhalten blieb. Das war Ihr Werk, Mr. Ash. Sie waren der Geschäftsmann. Tad hatte nichts damit zu tun. Er hat die Tagebücher nicht auf einer Auktion ersteigert. Madame Sunde hat sie Ihnen anvertraut, und Sie wollten sie verkaufen. Aber Veale hat zuviel Reklame gemacht, um den Preis hochzutreiben. Der Falsche hat Wind davon bekommen. Der Mann, der die Tagebücher verfaßt hat — Palmer. Er versuchte den Verkauf zu verhindern. Er wollte Sie ermorden und hat den Falschen erwischt. Ihren Bruder. Was ist schlimmer für Sie, Mr. Ash? Daß Tad tot ist oder daß Sie leben?« Ash hustete. »Madame Sunde bat mich um Hilfe. Wir haben das natürlich professionell und diskret behandelt. Wir wären sicher zu einem guten Abschluß gekommen, der sie und uns zufriedengestellt hätte. Verschiedene Privatsammler hatten Interesse bekundet. Aber Madame schwankte. Wir sind mit der größten Sorgfalt verfahren. So etwas hätten wir niemals voraussehen können.« »Ich bitte Sie! Ein Sammler sagt es dem nächsten, so etwas spricht sich herum wie ein Lauffeuer. Mich haben Sie überzeugt, aber sich selbst haben Sie etwas vorgemacht. Mit dem Verkauf der Tagebücher bringen Sie sich in Lebensgefahr. Da bin ich sicher.« »Wir sind verpflichtet, die Transaktion durchzuführen. Madame Sunde wird prompt und zuverlässig in den Genuß des Ertrags kommen.« »Wie vielen Leuten hat Veale von dem Tagebuch erzählt, Mr. Ash? Wie lange wird es dauern, bis Palmer erfährt, daß Sie noch am Leben sind?« »Bis zum Abschluß sind es höchstens noch vierundzwanzig Stunden. Dann sind wir, sie und ich, längst nicht mehr hier.« »Er liebt Miranda, Mr. Ash. Er wird nicht dulden, daß Sie mit ihr verschwinden.«
»Aber er wird auch nichts tun, was ihr schaden könnte. Sie hat mich schon vor vielem bewahrt. Sie wird mich auch vor Palmer schützen.« »Früher vielleicht, als er noch ein menschliches Wesen war. Er ist über hundert Jahre alt, Mr. Ash. Er ist kein Mensch mehr. Das ist vorbei.« Am liebsten hätte ich den Hörer an die Wand geschleudert. Wie konnte der Mann so stur sein? »Mr. Ash, hören Sie. Ich komme jetzt zu Ihnen, okay? Ich bringe Ihnen das Tagebuch zurück, die Abschrift Ihres Bruders, alles. Ich helfe Ihnen. Aber lassen Sie Tangiers aus dem Spiel. Sonst blase ich alles ab. Verstanden?« Er legte wortlos auf. Ich lauschte weiter in den Hörer. Ich hörte immer noch den Atem, das Saugen an einer Zigarette, ein tiefes Inhalieren. »Madame Sunde?« rief ich. »Miranda? Sind Sie noch da?« Schweigen. »Ich weiß, daß Sie zugehört haben.« »Sie haben mich bestohlen«, sagte sie. »Madame, ich bitte Sie.« »Mein Foto.« Ihre Stimme zitterte. Ash hatte ganz ruhig geklungen. Für ihn war es einfach ein Geschäft, und er drängte sie, es durchzuziehen. »Wir brauchen das Geld, und Sie treiben Ihre Spielchen mit uns«, sagte sie. »Ich weiß, daß Sie unter Druck stehen. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Aber als ich das Foto sah ... Mr. Ash ist auch Sammler. Er wird Ihnen bestätigen, daß ich es nicht gestohlen habe. Sie bekommen es zurück. Ich mußte es mir genauer ansehen.« »Als ich aufwachte, wußte ich sofort, was Sie getan haben.« »Madame! Ich habe das Bild mitgenommen, weil ich mich vergewissern mußte. Auch die Brieftasche habe ich deshalb behalten.« Sie sagte nichts. »Sie wissen doch, was Vertrauen heißt, oder? Ob ein Foto oder eine Erinnerung – es läuft alles auf Vertrauen hinaus.« Ich preßte meine Finger gegen die Stirn. »Palmer hat Ihnen das Phenakistoskop übergeben, die Tagebücher, alles. Als Tad Ash ermordet wurde, haben Sie gedacht, es war Palmer. Ich glaube das auch, seit ich das Foto gesehen habe. Es beweist, daß es eine Verbindung gibt.« »Ich rufe jetzt Tangiers an.« Sie klang schon unentschlossener. »Sie wollen mich erpressen? Sie brauchen das Geld für Ihre Flucht? Gut. Aber Palmer weiß, daß Sie ihn hintergangen haben. Der Tod von Tad Ash war eine Warnung. Wahrscheinlich hat Palmer das P selbst geschrieben, um
sicherzugehen, daß Sie die Botschaft erhalten. Er hat mehr als ein ganzes Leben lang Zeit, Sie zu finden. Und er wird Sie aufspüren. Hören Sie, Miranda: Sie müssen ihm geben, was er will. Sie müssen ihm die Tagebücher zurückgeben.« Schweigen. »Sie fühlen sich schuldig. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Es ist wie mit Dede Ash – er glaubt, wenn er nicht versucht hätte, die Tagebücher zu verkaufen, wäre nichts passiert. Aber das sind müßige Überlegungen. Glauben Sie mir.« Schweigen. »Miranda? Hören Sie mir zu. Sie haben nichts mit dem Tod von Tad Ash zu tun. Sie haben Palmer vor vielen Jahren verlassen. Das ist alles Vergangenheit. Er kannte nur das junge Mädchen, das Sie waren. Damals waren Sie gut zu ihm. Das ist alles, was zählt.« Ich wartete. Im Hörer rauschte es. »Ich bringe die Tagebücher zurück«, sagte ich. »Sprechen Sie mit Dede Ash. Reden Sie ihm gut zu. Das können Sie. Sagen Sie ihm, was wir beide wissen. Wir werden das in Ordnung bringen, das verspreche ich.« Sie legte auf. Ich blieb noch eine Weile am Telefon stehen, falls es erneut klingelte. Als es still blieb, nahm ich meine Jacke, steckte die Schlüssel ein und ging mit dem Tagebuch unter dem Arm die Treppe hinunter. Louise schloß ihren Laden immer um fünf, aber für mich machte sie noch einmal auf. Sie hatte den Kopierer schon abgeschaltet, und wir mußten warten, bis er betriebsbereit war. Ich bat sie, die Tagebuchblätter zu kopieren und die Kosten anzuschreiben. Heute ist der zwanzigste, sagte sie lächelnd. Ich weiß, erwiderte ich. Ich setzte mich und sah ihr zu, wie sie die Blätter mit mechanischen Bewegungen auf die Scheibe legte, den Deckel schloß, auf den Knopf drückte. Die Maschine ächzte jedesmal, als wäre sie am Ende ihrer Kraft. Die warmen Kopien rutschten in den Auffangbehälter. Aufklappen, hinlegen, schließen, drücken. Louise arbeitete mit Sorgfalt. Als sie einmal den Deckel ein wenig offen ließ, fuhr ein weißer Lichtstrahl über ihr angespanntes Gesicht. Der Mensch ist gut – im großen und ganzen. Warum sollte er leiden? Daß Dede Ash mich bedroht hatte, war auf seine Angst zurückzuführen. Ich hatte ein paar Wertpapiere mit gutem Kurs,
die konnte ich für ihn zu Geld machen. Für die Flucht der beiden würde es reichen. Ich konnte mich um den Verkauf seines Geschäfts kümmern. Ruhe und Sicherheit für alle Beteiligten. Kein Problem. Ich holte das Negativ aus der Tasche und steckte es wieder weg. Es wäre sinnvoll gewesen, auch davon irgendwo eine Kopie machen zu lassen. Aber die Zeit war knapp und die Glasplatte empfindlich. Der Ton ihrer Haut war zart wie ein Atemhauch auf der Fensterscheibe. Ich würde das Bild bei den anderen Dingen in meinem Gedächtnis bewahren, die ich nie berührt hatte. Die Kopie brachte ich ins Büro hinauf, das Tagebuch legte ich unter den Beifahrersitz. Ich brachte den Wagen zum Laufen und machte mich auf den langen Weg zum Antiquitätenladen, einmal um die Stadt herum und über die Autobahnbrücke. Kurz vor dem Tal verdichtete sich der Verkehr. Ich erwog kurz, an der nächsten Kreuzung links abzubiegen, fuhr aber weiter, und als ich oben auf der Anhöhe war, sah ich, daß ich in der Falle steckte. Der Verkehr staute sich bis über die Brücke. Am Hang gegenüber standen sie Stoßstange an Stoßstange, nichts rührte sich. Das konnte dauern. Ich nahm den Gang heraus und verbrachte die zehn Minuten bis zur nächsten Kreuzung damit, das Radio richtig einzustellen. Seit einem Jahr hatte ich einen neuen Digitaltuner, weil das typeneigene Modell verendet war, doch ich kam noch immer nicht damit zurecht. Der Klang war so klar, daß jeder Knackser und Kratzer zu hören war, und statt der Musik schien das Radio nur atmosphärische Störungen aufzufangen. Aber da es ein teures Modell war, mußte es auch ein gutes sein – so etwa hatte der Verkäufer argumentiert. Endlich fand ich einen Kanal, der Hits aus den Sechzigern brachte. Ich lehnte mich zurück und studierte den Stau. Irgendwo dort vorn mußte es einen Unfall gegeben haben. Sehen konnte ich nichts davon. Auf der Autobahn unter der Brücke ging es flott voran, stellte ich seufzend fest. Vom Berg gegenüber hörte ich eine Sirene. Ich kurbelte das Fenster herunter und lauschte. Das Schrillen kam näher und verebbte dann. Ich schaffte es, das Fenster wieder hochzukurbeln. Langsam wurde der Motor ziemlich warm. Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad und spielte mit dem Höhenregler des Radios.
Ich mußte nicht genau hinblicken, um zu sehen, daß die Fahrer in den anderen Autos nervös wurden. Ungeduldig wippende Füße ließen die Bremslichter blinken. Wenn es ein wenig voranging, heulten Autos auf und machten einen Satz, um nach einem Meter wieder zu stoppen. Allmählich erreichte ich die Talsohle, die Autos vor mir fuhren schon wieder bergauf, mit schleifender Kupplung. Das Radio spielte einen Song mit dem Titel Sundown, erstaunlicherweise konnte ich den Text auswendig. Wieder eine Sirene, diesmal von hinten. Ich verstellte den Außenspiegel und sah einen Feuerwehrwagen mit blinkendem Blaulicht. Er kam nicht weiter und konnte wegen der verstopften Straße auch nicht umkehren. Der Fahrer fluchte und gestikulierte. Dann versuchte er mit plumpen Anläufen, die Betonschwelle in der Fahrbahnmitte zu überrollen. Bei jedem Anprall heulte der Motor auf, das Fahrzeug wurde durchgerüttelt, dann stieß es zurück, Bremsen quietschten, die Leute in ihren Auto brüllten und hupten, weil sie Angst hatten, von dem wütenden Fahrer gerammt zu werden. Endlich trieb ihn die Verzweiflung über die Barriere. Der Unterbau scharrte über den Beton, plumpsend landete der Wagen auf der anderen Seite, und sofort ging die Sirene wieder los. Er war keine drei Meter gefahren, als ein Mercedes aus der Gegenrichtung kam. Hupend, schleudernd mit kreischenden Bremsen krachte er seitlich in den Feuerwehrwagen. Es folgte ein Moment der Stille, dann ein sanftes Knirschen und das Prasseln von Tausenden kleiner Glassplitter. Der Mercedes drehte sich um die eigene Achse und schlug zweimal gegen das Eisengeländer, das ihn vorm Absturz auf die darunterliegende Autobahn bewahrte. Der Feuerwehrwagen hielt nicht an. Der Fahrer brachte das schwankende Gefährt mühsam unter Kontrolle und fuhr weiter den Hügel hinauf, vorbei an hupenden, bremsenden Autos, bis er hinter der Biegung verschwand. Einige Leute stiegen aus, um dem Mercedesfahrer zu helfen. Dann ging es langsam voran, als hätte der Unfall den Stau ein wenig entspannt. Mein Kühlwasser war kurz vorm Kochen. Ich hielt, zog die Handbremse, schaltete mich durch die Radiosender und hörte By the Time I Get to Phoenix. Diesmal fiel mir der Text nicht ein, etwas anderes drängte sich dazwischen. Ich kurbelte das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus. Die Luft war dunstig, es roch auffallend brenzlig.
Über den Häusern auf dem Hügel stieg eine Rauchwolke auf, irgendwo dort oben befand sich der Antiquitätenladen. Ich zog den Kopf ein, schob das Fenster hoch, schaltete das Radio und den Motor ab, stieg aus, schloß die Tür und rannte los. Die Steigung hinauf, durch Abgase und Gestank, im Rücken das Hupen der Autos hinter meinem Tomaso. An der oberen Kreuzung stand eine Postenkette, die mich aufhalten wollte. Ich duckte mich unter den Polizisten durch und rannte weiter. Ich hatte nur ein Ziel. Und ich wußte, daß es zu spät war, egal wie schnell ich lief. Als ich schwitzend und keuchend in die Straße einbog, schlugen die Flammen an der Fassade hoch. Vier Löschzüge waren im Einsatz, hinter ihnen wartete das aufgeschrammte Feuerwehrauto. Ein Feuerwehrmann winkte mich weg, aber ich war schon zu nahe. Miranda und Dede Ash waren dort drinnen, das war falsch, das war unerträglich, sie durften nicht sterben, denn ich würde doch alles in Ordnung bringen, alles richten. Ich rannte durch den naßkalten Vorhang aus Löschwasser, hinein in das Getöse aus prasselnden Flammen, berstendem Glas, stürzenden Balken. Ich weiß nicht, wie weit ich kam. Nicht einmal, ob ich überhaupt ins Haus eingedrungen bin. Aber ich war weit genug, um zu sehen, daß alles vor mir in einer grellweißen Feuerwand verschwand, ich riß den Mund auf und bekam keine Luft, ich schrie nach Dede Ash, aber aus meinem Mund kam kein Laut. Ich streckte die Arme aus und griff in die sengende Hitze. Meine Hände fühlten sich feucht an. Ich verlor die Orientierung, wußte nicht mehr, wo oben und wo unten war, als wäre ich von einer Meereswelle erfaßt worden, die mich umherwirbelte. Dann ein Stoß, ich sah den riesigen Handschuh eines Feuerwehrmanns auf meiner Schulter, ich wurde gepackt und fortgerissen. Ich fand mich im Rettungswagen wieder, auf dem Gesicht eine Sauerstoffmaske. Mein Zahnfleisch fühlte sich blasig an, mein Mund war ausgetrocknet. Es roch nach Öl, verschmortem Plastik und verkohltem Holz. Ich richtete mich auf und wurde sofort nach unten gedrückt. »Sie haben sich die Hände verbrannt«, sagte der Sanitäter. »Sie sind direkt ins Feuer gelaufen.« »Dede Ash«, krächzte ich. »Beinahe wären Sie verbrannt. Sie haben die Orientierung verloren. Sie würden staunen, wie oft das passiert.« Er hieb in die Luft. »Die Leute rennen direkt ins Feuer.« Jetzt drohte er
mir mit dem Finger. »Nicht sprechen. Ich habe Ihre Hände verbunden. Sehen Sie?« Ich hob den Kopf, um das Feuer zu sehen. Es war gewaltig. Das Ladenschild fiel herunter. Ich richtete mich auf, aber der Sanitäter drückte mich wieder auf die schmale Liege und betupfte mein Gesicht mit einer Tinktur. Mit tonloser Stimme erklärte er mir, wie ich die Verbrennungen behandeln mußte, und stopfte mir ein paar Mullbinden in die Taschen. Die Wunden würden wie von selbst heilen, wenn ich alles richtig machte, versicherte er. »Sie haben Glück. Manche verlieren alles, wenn ihr Haus abbrennt.« »Ich hab ein Foto«, sagte ich, um darauf hinzuweisen, daß in dem Haus Menschen waren, die ich kannte. Aber er verstand nicht. Ich zeigte hilflos auf meine Tasche. Er griff hinein und beförderte das Negativ zu Tage. »Schauen Sie«, sagte ich. »Das ist sie.« Verwirrt hielt er das Negativ gegen das Licht, dann musterte er mich verständnisvoll. »Nicht zu verachten«, sagte er anerkennend. »Hübsch.« Er schob das Bild in meine verbundenen Hände. »Sie sind ein Glückspilz.« Ich schüttelte den Kopf, wollte ihm erklären, was ich meinte, aber er tätschelte meine Schulter und sagte: »Ganz ruhig bleiben. Einfach entspannen.« Ich gehorchte, ließ mich zurücksinken, das Foto sah winzig aus in meinen dick bandagierten Händen. Miranda mit den blonden Locken, mit der Haut wie hingehauchtes Silber. Das Feuer schoß jedesmal hoch, wenn es neue Nahrung fand. Ein Fernseher, blaue Glasflaschen, ein Hörrohr, eine Rechenmaschine. Fenster explodierten mit sanftem Knall und gaben neue Hitze frei. Ob alt, ob neu, kostbar oder wertlos — alles brannte. Der Wind sei günstig, meinten die Feuerwehrleute, die Nachbarhäuser seien aus Stein und würden verschont bleiben. Sie richteten die Schläuche direkt ins Feuer, aber vergebens. Die Flammen wüteten weiter, bis alles Brennbare vernichtet war.
17
Die Sanitäter setzten mich im Ostteil der Stadt an der Bucht ab. Die Straßenlampen brannten schon, die Häuser hoben sich dunkel gegen den Himmel ab. Es war Ebbe, zwischen den Pohutakuwa-Bäumen standen Restpfützen. Der Rettungswagen wendete und wartete. Ich hob zum Dank die weiß verbundenen Hände, suchte nach dem Briefkasten und lief an der Klinkermauer entlang bis zum letzten Haus. Der Rettungswagen fuhr rumpelnd davon. Das Haus war still und dunkel. Ein weißes Geländer führte zur Eingangstür hinauf. Als ich näher kam, ging das automatische Licht an. Auf mein Klopfen reagierte niemand, von innen kam leise Radiomusik. Ich entfernte mich von der Tür und wartete, daß das Licht ausging. Ich stapfte über den struppigen Rasen, vorbei an schütteren Rosenbüschen und weißen gußeisernen Gartenmöbeln. Zur Bucht hin hatte das Haus eine große Schiebetür aus Glas, die auf eine Holzveranda führte. Als ich sie betrat, ging wieder ein Licht an. Ich nahm meinen kräftigsten Schlüssel, hakte ihn in die Verriegelung der Tür und öffnete sie mit einem kräftigen Ruck. Ich zwängte mich durch den Spalt, schloß die Tür von innen, und das Licht ging wieder aus, ich stand im Dunkeln. »Wilhelmina?« rief ich. Den Namen ihrer Mitbewohnerin hatte ich vergessen. Ich wischte mir mit den verbundenen Händen übers Gesicht und rief noch einmal. Das Radio dudelte vor sich hin. Ein verwelkter Blumenkranz hing an ihrer Tür. Ihr Zimmer roch nach Blumen. Auf der staubigen Anrichte stand eine große Schale mit Duftblüten. Eine Tarotkarte – das Schloß – steckte im Spiegelrahmen. Das Bett war eine Matratze auf dem Fußboden mit einer flauschigen weißen Decke darauf. Die Musik kam vom Radiowecker. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Abschaltknopf gefunden hatte, und stellte den Wecker zurück auf den Fußboden. Das rote Lämpchen erzeugte einen schwachen Widerschein auf dem ungepflegten Teppich. Ihre Arbeitsnummer fand ich in der Küche, an der Pinnwand über dem Telefon. Ich wählte mit dem Mittelfinger, der aus der Bandage herausschaute, und wartete auf die Verbindung. Mein Blick schweifte über Einkaufslisten, Polaroidfotos von Badeaus-
flügen und Kostümpartys, Fitneß-Tickets, einen Ersatzschlüssel für die Haustür. »Ja?« meldete sich Wilhelmina und riß mich aus meiner Versunkenheit. Sie wartete. Keins der Wörter, die mir durch den Kopf schwirrten, schien geeignet für den ersten Satz. »Ellerslie?« fragte sie. »Ellie, bist du's?« Ich hörte sie atmen. Beim Klang ihrer Stimme stieg mir ihr Parfüm in die Nase. Mein Magen zog sich zusammen. Der Mann an der Rezeption redete leise mit jemandem. Ich hörte ein scharrendes Geräusch, als Wilhelmina mit dem Telefon auf Abstand ging. Es war dumm, sie bei der Arbeit anzurufen. Wahrscheinlich war sie gerade bei einer Bestellung. »Ellie?« fragte sie. »Es ist was passiert.« Ich stockte. »Was ist passiert? Erzähl!« Ich legte einen Arm über meinen Bauch, lehnte mich an den Kühlschrank und preßte das Gesicht gegen die Tür. Mit jedem Pulsschlag quollen dunkle Muster hinter meinen Augen auf. »Ein Feuer«, brachte ich heraus. »Mein Gott.« Sie hielt den Atem an. »Bei dir? Bist du okay?« »Nicht bei mir. Bei einem anderen. Ich kannte den Mann. Der Alte. Der Mann mit der Brieftasche. Sein Bruder. Es ist ...« Ich öffnete die Augen, psychedelische Gebilde schwebten durch den Raum. »Es ist so verworren. Du weißt nicht Bescheid, und ich kann's dir nicht erklären.« Mehr fiel mir nicht ein. Sie wartete einen Moment und fragte: »Wo bist du?« »Bei ... bei dir zu Hause.« »Was? Hat Liza dich reingelassen? Ist jemand da?« »Nur ich.« Ich lachte. »Ich hoffe es jedenfalls. Ich hoffe, daß ich niemanden störe.« Ich erschrak bei dem Gedanken. »Oder?« Sie seufzte. »Nein. Es ist nur die Überraschung.« »Verzeih mir. Ich kann wieder gehen. Ich schließe ab und gehe.« »Nein. Bleib. Ich bin um zwölf hier fertig. Was machst du gerade?« »Ich rede mit dir.« »Mach dir was zu essen, Ellie«, drängte sie. »Geh unter die Dusche und dann ins Bett. Ich komme bald.« Ich atmete durch. »Okay.« »Jetzt muß ich weiter. Wir sehen uns nach zwölf.« »Ich laß die Tür offen.« »Nicht nötig. Ich hab einen Schlüssel.«
Wir legten auf. Im Kühlschrank fand ich eine halbe Flasche Weißwein, drei Flaschen Bier und einen Camembert. Der kalte Hauch tat mir wohl, aber ich konnte nicht essen. Ich ging in ihr Zimmer zurück, zog mich aus und legte meine Sachen zusammengefaltet neben einen Haufen Fitneßklamotten auf den Boden. Dann ging ich ins Bad und drehte die Dusche auf. Meine Verbrennungen spürte ich erst, als das Wasser durch die Binden drang. Wieder erwischte mich das Feuer, der Schmerz stach mit tausend Nadeln. Ich schrie auf, zerrte mit den Zähnen an den Verbänden und kippte um. Ich krachte gegen den Medizinschrank, die Türen sprangen auf, ein Regen aus Pillen, Wattepäckchen, Nagellackentferner und Sonnenöl prasselte auf mich nieder. Ich trat gegen das Waschbecken und ließ Lippenstifte und Cremedöschen folgen, alles war naß und scheußlich, meine Hände brannten. Ich brüllte, doch sie brannten weiter. Ich kniete auf dem Boden und hielt mir die gekrümmten Finger vors Gesicht. Das Wasser trommelte gegen den Duschvorhang. Mir fiel der Swimmingpool der Schule ein, meine Angst vor dem kalten Wasser, die mich zwang, ganz langsam Stufe für Stufe hineinzuklettern, während das Eis langsam an mir hochstieg. Die anderen sprangen munter und mit Anlauf ins Wasser, ich kam mir vor wie ein Feigling. Schließlich war es nur Wasser, weiter nichts. Aber ich konnte nicht anders, ich kostete die Kälte bis zum letzten aus, sah, wie sich die Beine im Wasser brachen, verflüssigten, sah meine bleiche Haut wie durchs Vergrößerungsglas. Langsam fand ich Halt und rappelte mich hoch. Ich brauchte ewig, bis ich aufrecht stand. Die Watte steckte in einer Tüte mit Plastikverschluß. Mit spitzen Fingern zog ich einen großen Bausch heraus und tupfte meine Wunden ab. Behutsam stieg ich wieder unter die Dusche, die Hände über dem Kopf. Ich ließ sie sinken, bis der Schmerz unerträglich wurde, dann hob ich sie erneut und suchte nach einem Schmerzmaß, das ich gerade noch ertragen konnte. Ich mußte husten, eine Brandblase platzte. Mit jeder Bewegung, die ich machte, traf das Wasser auf eine neue Wunde. Ich nahm die Seife zwischen beide Handrücken und rieb mich unbeholfen ein. Das weiche Seifenstück nahm die Form meiner Fingerknöchel an. Mandel, Wacholder. Ich sah nichts mehr vor lauter Dampf. Alles tat mir weh, aber das heiße Wasser war gut. Meine Haut war krebsrot, als ich aus der Dusche stieg.
Als ich den Hausschlüssel hörte, spürte ich plötzlich meine Müdigkeit. »Ellie?« rief sie, legte ihre Tasche in der Küche ab und kam ins Zimmer. Sie lächelte vorsichtig. Ihre schwarzen Locken waren zurückgebunden, sie trug noch immer meinen Regenmantel. »Ellie, ich dachte, du würdest schlafen«, sagte sie besorgt. Ich brachte kein Wort heraus. »Mein Gott, deine Hände!« Sie nahm mich bei den Handgelenken. »Die sind ja völlig wund.« »Brandblasen.« »Das muß ja furchtbar weh tun. Was hast du gemacht?« »Ich weiß nicht. Das Falsche. Nicht genug.« Ich zeigte auf meine Jacke. Sie fand die frischen Binden, umwickelte meine Hände und wischte mir das Gesicht ab. Erst mit der Hand, dann mit den Lippen, dann mit der Zunge. Sie legte mir die Arme um den Hals. »Ist ja schon gut.« »Ich kann nicht aufhören.« »Ist alles gut.« Sie streichelte mein Gesicht. »Leg dich hin und warte auf mich.« Sie zog den Regenmantel aus und ging in die Küche. »Ich hab ein paar Reste mitgebracht«, rief sie, die Mikrowelle piepste. »Risotto, Rinderlende und Tempura.« Ich hörte sie in der Schublade nach dem Korkenzieher kramen. Sie kam herein, schwenkte eine Flasche und zwei Gläser. »Burgunder. Nicht schlecht, was?« Sie zog die Bluse aus dem Rock und fuhr sich übers Haar. Sie goß mir ein und reichte mir das Glas. Dann holte sie das Essen, es war auf einem großen dampfenden Teller angerichtet, zu appetitlichen Portionen arrangiert. Sie stellte den Teller auf dem Radiowecker ab und kroch zu mir unter die Decke. Sie nahm einen Schluck Wein und ließ ihn beim Küssen in meinen Mund laufen. Der Geschmack mischte sich mit ihrem Aroma, ihrem Lippenstift. Sie nahm einen Schluck für sich selbst, den nächsten gab sie wieder an mich weiter. Ich blickte auf den Teller. »Danke«, sagte ich. »Ich bringe mir öfter Essen mit, wenn ich nichts im Haus hab.« »Sieht wunderbar aus.« »Man kann nie wissen.« Sie nahm die Gabel und fütterte mich mit Reis. »Ich hab schon Sachen gesehen in der Küche. Die Köche kosten die Sauce und lassen sie aus dem Mund in den Topf zurücktropfen. Die prüfen mit Spucke, ob die Pfanne heiß genug ist. Was runterfällt, kommt wieder auf den Teller. Und der ganze Schweiß. Die Küche ist wie eine Sauna.« Sie tupfte mir
mit der Serviette den Mund ab. »Verdorbenes Fleisch kommt in die Suppe, damit man es nicht schmeckt. Verfaultes Gemüse, schmutzige Arbeitsflächen, Rattendreck.« Sie sah mir beim Kauen zu. »Schmeckt es?« »Ja. Iß auch was.« »Ich hab schon gegessen. Möchtest du Steak?« Sie schnitt mir zwei Stückchen zurecht. »Ich hab mal gesehen, wie ein Koch einen Bierdeckel zubereitet hat. Er hat ihn in Saucen und Panaden gewälzt, dann fritiert und mit Salat und Pommes frites angerichtet. Der Gast war begeistert, hat dem Koch Komplimente gemacht.« Sie wischte mir den Mund ab. »Wie fühlst du dich?« »Die Frau, die gestern anrief, als du gerade gingst — sie war in dem brennenden Haus. Sie ist tot.« Wilhelmina wurde starr. »Ellie, das ist ja furchtbar!« »Ich kannte sie vorher nicht, aber ich habe sie noch getroffen, ihr ein paar Fragen gestellt. Sie hieß Sunde, Madame Sunde, und betrieb einen Club in der Stadt. Ich wollte ihr die Brieftasche geben, sie kannte den Besitzer. Sie wohnt — wohnte — dort mit all ihren Katzen.« Wilhelmina machte ein besorgtes Gesicht. »Die armen Kätzchen! Wer kümmert sich jetzt um die?« »Ich weiß nicht. Sie hat Angestellte. Irgend jemand wird schon für die Katzen sorgen.« Ich sah Angela vor mir, daumenlutschend, mit Babylöckchen. »Ich kann jetzt nicht über die Katzen nachdenken. Ich versuche, mir einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen.« »Welche Geschichte?« »Madame Sunde war vor langer Zeit mit einem Mann zusammen. Dessen Tagebuch hat sie an den Antiquitätenhändler Ash verkauft, der dann ermordet aufgefunden wurde. Sie und der Bruder von Ash waren überzeugt, daß der Mord etwas mit dem Tagebuch zu tun hatte. Beide hatten Angst. Ich konnte den Zusammenhang nicht sehen. Ich habe ihn erst begriffen, als sie verbrannt waren.« Ich blickte sie an. »Ich hätte es wissen müssen.« »Was wissen müssen?« »Der Mann, der das Tagebuch geschrieben hat. Ich glaube, er hat sie umgebracht.« »Hast du das jemandem gesagt?« »Die Polizei weiß etwas, aber ...« Ich zuckte die Schultern. »Er hat das Tagebuch vor langer Zeit geschrieben. Er ist uralt. Eigentlich müßte er längst tot sein.«
»Und woher weißt du, daß er am Leben ist?« »Das ist die einzige Erklärung. Er muß am Leben sein.« Ich stockte. »Und noch eine Sache, die verrückt ist: Miranda Sunde, die sehr alt war und nun mausetot ist, lebt auch noch. Aber als junge Frau. Ich habe sie gesehen. Ich weiß, es klingt lachhaft, aber es stimmt. Als würde die Zeit rückwärts laufen.« »Ellie, was du mir da erzählst! Das ergibt alles keinen Sinn.« »Nichts ergibt wirklich Sinn. Nimm bloß mal Chaostheorie und Quantentheorie ...« »Du bist hundemüde.« Sie hielt mir sanft den Mund zu und legte die Arme um mich. »Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht? Du brauchst Ruhe. Du hast dich da in etwas hineingesteigert.« Sie massierte meine Schultern, ihre warmen Hände taten mir gut. »Merkst du? Total verspannt. Und deine Haut ist trocken, dehydriert. Wie ist dein Schlaf? Hast du Träume?« »Normalerweise nicht. Nicht in letzter Zeit.« »Das ist ein Zeichen, daß du nicht richtig schläfst. Du bist überlastet und durcheinander.« Sie tastete hinter dem Radiowecker auf dem Boden herum und fand ein Pillenfläschchen. »Nimm eine von denen.« »Was ist das?« fragte ich und steckte die Tablette in den Mund. »Ein Schlafmittel. Du mußt schlafen, Ellie.« Sie verpaßte mir noch einen Mundvoll Wein, ich schluckte die Pille, drückte mich an sie und gab ihr einen langen Kuß. Sie hielt mir das Glas an die Lippen, ließ mich trinken und küßte mich erneut. »Was gibt's zum Nachtisch?« fragte ich. Ihr Blick verschwamm. »Der Nachtisch kommt als letztes«, sagte sie. Sie versuchte zu lächeln, aber ihr Gesicht bebte. Ich stieß den Teller weg und zog sie auf mich. Ihre Augen waren sehr nah und dunkel. Mir fiel der Abend damals in der Bar ein. Ich tauschte mich mit Tony über Hawaii fünf null aus, über die Folge, in der McGarrett im Gerichtssaal das vom Mörder gemalte Bild analysiert (»Die Leiter verrät seine Fluchtabsicht«), und wir einigten uns, daß es unsere Lieblingsszene war. Während er Gläser füllte und den Tresen abwischte, spielte Tony Stellen aus der Serie nach. Er duckte sich über ein imaginäres Lenkrad, das er mit beiden Händen umkrallte, oder schoß aus der Hüfte, indem er den Finger krümmte, ratternde Laute und Dialogfetzen von sich gab. Seine Version war fast besser als die im Fernsehen, aber ich schaute ihm nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Eine Serviererin lenkte mich ab. Während Tony redete und redete, verfolgte ich, wie sie Tische abräumte, Gäste plazierte,
Anrufe übermittelte, und freute mich jedesmal, wenn sie an die Kasse kam, die Rechnung abzeichnete und die Zimmernummer (unnötigerweise, wie ich fand) von Tony überprüfen ließ. Am nächsten kam sie mir, wenn sie die schmutzigen Gläser ablud. Tony wechselte über zu den Straßen von San Francisco, doch ich hatte nur noch Augen für sie. Es war nicht ihre Nähe, die mich erregte, sondern ihre Lockerheit. Sie arbeitete ohne Hast, ihre Anwesenheit strahlte Ruhe aus, ihre Gesten waren ungekünstelt. Es war halb zwei, kurz vor Ausschankschluß. Der Klavierspieler leitete zu My Funny Valentine über. Tony verbreitete sich über Starsky und Hutch (Hutch verwickelt Starsky in ein zweitägiges Versteckspiel, Starsky bekommt eine Magenvergiftung). Und dann endlich ihre Berührung. Sie griff nach einem Cocktailspieß, und dabei streifte sie meine Schulter. Sie schien mich gar nicht wahrzunehmen. Mit ihren langen Fingern suchte sie einen Spieß aus, ihre Schulter ruhte an meiner, für einen Moment kam auch ihre Hüfte in meine Nähe. Ich las ihr Namensschild. Wilhelmina Litner. Ich erinnerte mich an den leichten Schulterdruck, den abgewandten Blick, der halb von ihrem Pony verdeckt war, an die indirekte Barbeleuchtung, das piepsende Handy unter der Theke, das nach seinem Besitzer verlangte. Wenig später sah ich sie im Schatten der Topfpalmen neben dem Eingang. Sie blickte zu mir herüber, dann ins Foyer, dann wieder zu mir. Sie machte es uns leicht. Ich konnte mitgehen oder bleiben, niemand würde etwas merken. Sie erledigte die letzten Handgriffe ihrer arbeitsreichen Schicht — Reservierungen auf die Tischnummern verteilen, Schecks sortieren —, dann fragte sie mich mit kaum merklich gehobener Braue: »Sie sind Hotelgast, Sir?« Wir trafen uns in der obersten Etage, vor der Luxussuite am Ende des Korridors. Sie machte die Tür auf und winkte mich herein. Hier wohnten sehr reiche Leute, und sie waren nicht da. Verstreute Sachen, ein blinkender Laptop, offene Koffer. »Wenn man ein freies Zimmer benutzt, kann es Ärger geben«, erklärte sie und holte zwei Fläschchen Gin aus der Minibar. »Aber wenn es belegt ist, merkt keiner was.« Ich dachte an den Gin-Geschmack, an das Schild »Bitte nicht stören«, das sie vor die Tür hängte. »Ne pas deranger« klang für mich immer wie »Nicht durchdrehen«. Doch genau das taten wir, wieder und wieder. Plötzlich ihr fester Griff, ihre Schultern in
meinen Händen, mein Knie zwischen ihren Schenkeln. Ihre spitzen Krallen, ihr Lippenstift, das Platzen ihrer Jackennaht. Die Erinnerungen an diese ersten acht oder neun Sekunden trage ich mit mir herum wie einen Schlüsselbund. Ich klimpere und spiele mit den Schlüsseln, ich kenne jeden ganz genau, ich weiß, in welches Schloß er paßt. Am Anfang lief alles gut. Ich schaffte es, daß sie sich aufbäumte, bebte und kam, danach lag sie bei mir, ich redete mit ihr, irgendwelches Zeug, das nicht unbedingt Sinn ergeben mußte, bis ich einschlief. Die einfachste Sache der Welt; die Komplikationen stellten sich erst später ein. Mit dem Frühling kam die Schlaflosigkeit. Der Sex konnte nichts mehr flicken, machte mich nicht verliebter, sie nicht weniger verliebt. Er war eine wütende Leidenschaft, unabhängig von der Jahreszeit, der Zeitvertreib von Leuten, die sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Ich wußte, so konnte es nicht weitergehen. Sie wußte es auch, aber keiner sagte es laut. Es ging bergab, und das war ein Grund mehr, an den guten Dingen festzuhalten. Sie schob den Teller vom Bett fort. Ich zog sie mit den Handrücken näher, so wie ich schon die Seife gehalten hatte. Im Gegenlicht sah ich nur ihre Konturen. Ihre Unterarme ruhten auf meinen Schultern, ihre Hände schlossen sich um meinen Nacken. Ich küßte ihren Hals und ihre Augen, ihre Zehen strichen über meine Beine. Ihr Gewicht ruhte ein wenig seitlich auf mir, bis ich sie an mich zog und sie mir mit halbgeschlossenen Augen und Geflüster hineinhalf. Wir liebten uns langsam, ohne uns aus den Augen zu lassen. Als ich sah, wie sich ihre Pupillen weiteten und sich ihre Augen mit Tränen füllten, küßte ich ihren Mund, weil ich es nicht aushielt, ihr so nahe zu sein. In diesem Moment wollte ich nur, daß sie glücklich war, daß ich sie glücklich machen konnte. Danach lagen wir da und hörten die Geräusche der Nacht wie aus großer Ferne, vereinzelte Autos, Regentropfen an der Fensterscheibe. Ich spürte ihre Wärme, ihren sanften Atem, ich angelte nach der Bettdecke und deckte uns zu. Sie war eingeschlafen und lachte im Traum. Ich träumte von Miranda und war froh, daß Wilhelmina bei mir war. Jedesmal, wenn ich hochschreckte, küßte sie mich, strich mir über die Stirn und beruhigte mich, bis ich wieder einschlief. Als ich am Morgen aufwachte, war sie weg.
18
Ich zog mich an, räumte den Abfall von gestern weg und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Mehrere aufgeregte Anrufe von Brands. Sie verloren die Geduld, ich auch. Ich tippte die Nummer ein und sagte ihnen, sie sollten einfach kaufen und nicht länger warten. Der Typ sagte okay und legte auf, ohne sich auch nur zu bedanken. Mir war klar, daß mein Auto nicht mehr auf der Brücke stehen würde. Ich rief ein Taxi, holte meinen Regenmantel aus dem Zimmer und wartete an der Einfahrt. Charles, der Hund von der Abschleppfirma, lag schnarchend neben dem Schalter. Ein milchbärtiger Lehrling suchte wortlos an der Stecktafel und ging los, um den Wagen zu holen. Im Weggehen trat er gegen das Tor, das vor meiner Nase ins Schloß fiel. Der Hund blaffte und wollte mich anfallen oder vor mir fliehen. Ich streckte den Fuß durchs Tor, um ihn anzulocken. Er kam gerannt und knurrte mich an. »He, Charles«, rief der Lehrling von hinten. Er saß in meinem Wagen und steuerte ihn durch die enge Gasse der abgeschleppten Autos. Charles wackelte mit seinem Stummelschwanz. Der Lehrling stieg am Tor aus und schwenkte das Taschenmesser, das er als Zündschlüssel benutzt hatte. Ich zeigte auf die bösartige Schramme, die sich auf der Fahrerseite von vorn bis hinten durchzog. »Wer war das?« »Scheiße. Muß dort passiert sein, wo er stand.« »Ich habe ihn am Straßenrand abgestellt. Da war er sicher.« »Echt? Mist.« Er schüttelte den Kopf. »Manche Leute sind einfach das Letzte.« »Das muß beim Abschleppen passiert sein.« »Nee, Kumpel. Die sehen sich wirklich vor.« Ich beugte mich hinein. Die Sitze rochen nach Bier. Das Tagebuch lag noch auf dem Boden, von einem schmutzigen Schuh weit nach hinten geschoben. Ich tippte auf den Tacho. »Hier steht 77 601. Gestern abend stand der Tacho noch auf 77575.« Der Fußboden war voller Schlamm. »Jemand ist damit gefahren. Eine kleine Spritztour, was?« »Nee, nee, Kumpel. Der wurde direkt hierhergebracht.«
»Scheiße.« Ich ging nach hinten und entdeckte neben weiteren Kratzern ein zerbrochenes Rücklicht. »Der Wagen ist beschädigt worden.« »Nee, nee, Kumpel. Nicht von uns. Das war schon so.« Ich starrte den Lehrling an, der starrte das Auto an. Plötzlich wandte er sich weg und rief den Hund, der hinter dem Tor lag und sich leckte. »He, Charles.« Meine Schultern sackten herunter, ich fühlte mich schwer wie Blei. Sollte ich wütend werden? Nicht einmal das hatte Sinn. Der Lehrling schäkerte mit dem Hund, als wäre ich nicht da. Ich blätterte 145 Dollar hin, er schrieb mir eine Quittung aus. Ich sagte danke, stieg ein und fuhr los. Ash Antiques war ein schwarzes Skelett, das Ladenschild lag verschmort am Boden. Ich parkte gegenüber und stieg aus. Von der Brandstelle ging ein Gefühl der Ruhe aus, der Ruhe und Müdigkeit. Das klare, teilnahmslose Licht hob jede Einzelheit hervor, machte die Farben grell und die Haut unter meinen Fingernägeln blau. Die ganze Straße lag wie für eine Untersuchung da, ausgebleicht und unbelebt. Selbst die Gerüche waren noch frisch – Morgenfeuchtigkeit, verbranntes Holz, verbranntes Gummi, verbrannte Farbe. Das Grundstück war mit gelbem Band abgesperrt. Ein von der Hitze verschmortes Band lag schwärzlich und zerknüllt auf dem Fußweg. Ein dürrer Typ im Camel-T-Shirt lief vorbei, die Hände in den Taschen, und murmelte in seinen Ziegenbart: »Mann, schau dir das an.« Als ich auf das verschmorte Knäuel trat, knirschte es unter meinen Sohlen. Das Löschwasser hatte Asche und Holzkohle in die Gosse geschwemmt. Vom Haus war nur ein Gerüst von verkohlten Balken geblieben. Ein großer dicker Mann bewegte sich durch die Trümmer, sein schwarzer Mantel war aus einem steifen Material und stand ab wie ein Samurai-Gewand, er schwenkte ein Brecheisen und schlug damit gegen alles, was noch stand. Mit einem großen Schritt überquerte er ein Loch im Fußboden und tastete mit dem Stiefel vor, ob ihn die verbliebenen Dielen trugen. Als er sicher stand, stocherte er in den Deckenbalken, an denen bei meinem Besuch noch Fahrräder und ein Schaukelpferd gehangen hatten. Ein Placken Putz fiel herab, legte einen verkohlten Balken und ein Stück Himmel frei. Ich stand mit den Händen in den Taschen da, während er sich durch die Reste des Hauses bewegte. Als er mich bemerkte,
winkte er flüchtig mit dem Brecheisen. Es sah zierlich in seinen Händen aus, wie ein Kinderregenschirm. »Der Laden ist geschlossen«, sagte er grinsend. Ich nickte. »Haben Sie das Feuer gesehen?« Er klopfte an einen schwarzen Balken. »War wohl ziemlich übel.« »Sind Menschen zu Schaden gekommen?« »Wie ich hörte, ja.« »Oh.« Er bahnte sich einen Weg durch den Schutt und stocherte weiter herum, ab und zu fielen Brocken herab. Seine kleinen, bohrenden Augen schienen jede Einzelheit genau zu registrieren. Dicht vor mir blieb er stehen. Seine rissigen Hände waren voller Ruß, ihm fehlten mehrere Zähne, sein Mantelkragen war speckig an den Rändern. Er kratzte mit dem Brecheisen ein paar verbliebene Glassplitter des Schaufensters aus dem Rahmen. »Schöner Schlamassel«, sagte ich. »So schlimm ist es nicht. Das Haus steht ja noch.« »Wird es wieder aufgebaut?« Er schaute blinzelnd um sich und zeigte auf die Straße hinaus. »Es gehört zu der Häuserreihe, die sind alle miteinander verbunden. Morgen wird eingerüstet. Die Kernsubstanz ist in Ordnung.« »Und Sie kümmern sich um die Sicherheit?« »Wax Demolition heißt die Firma.« Er musterte mich. »Der Auftrag ist unter Dach und Fach.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht vom Bau. Ich war hier Kunde. Ich kann's immer noch nicht glauben. Wie ist das nur passiert?« Er zuckte die Schultern. »Mit Kerzen vielleicht. Der ganze Krempel hat gebrannt wie Zunder.« »Es war nicht alles Krempel.« »Die Alarmanlage hat nicht funktioniert.« »Warum? War sie zu alt?« Er zog die Mundwinkel nach unten. »Kaputtgemacht. Irgendwelche Kids haben Honig reingekippt.« »Honig?« Er grinste. »Die beste Methode, eine Alarmanlage unschädlich zu machen. Wenn Alarm ausgelöst wird, gibt's einen Kurzschluß, der Zucker fängt an zu brennen und die Drähte schmoren durch.« Er schlug mit dem Brecheisen gegen ein paar Garderobenhaken. »Der Witz daran ist: Wie soll man
jemandem verbieten, Honig zu kaufen?« Er war sichtlich stolz auf seinen Witz. »Wahrscheinlich haben sie ihn aus dem Supermarkt an der Ecke.« »Sie kennen sich ja gut aus.« »Das ist mein Job«, sagte er und schlug besonders heftig gegen einen Balken. »Die Banden in dieser Gegend machen kaputt, was sie nur können. Autos, Fenster. Sie blockieren die Alarmanlagen, damit sie einbrechen und übernachten können. Irgendwo müssen sie ja schlafen. Das haben wir hier ständig. Und die Polizei rührt keinen Finger. Man kann sowieso nichts machen. Irgendwo müssen die Kids ja schlafen. Die schnüffeln und machen Blödsinn, schon fängt es an zu brennen.« Er wies mit dem Kopf nach draußen. »Hier haben wir mindestens einmal pro Monat das Theater. Die hinteren Räume und die Keller saubermachen, wo sie sich ihre Schlafplätze suchen. Decken, Spraydosen, Schnapsflaschen rauswerfen.« »Haben Sie hier so etwas gefunden?« »Nein, aber das Feuer ist hinten ausgebrochen.« Er drehte sich um und trat gegen einen Stützpfeiler. »Hinter dem Haus?« »Ja.« Er stockte. »Verdammt.« »Was ist?« »Ein Tier.« Er stocherte mit dem Brecheisen zwischen den verkohlten Dielenbrettern. »Was für eins? Ist es tot?« »Eine streunende Katze wahrscheinlich.« Er stand unbeweglich in seinem schwarzen Mantel. »Tot«, sagte er und schob die Dielen mit dem Stiefel zurecht. »Können wir vergessen.« Meine Hände juckten. Wilhelmina hatte sie so sorgsam verbunden, daß die Bandagen ein sauberes Zopfmuster bildeten und hinter der Daumenwurzel zusammenliefen, wo sie mit Pflaster befestigt waren. Ich krümmte die Hände und zuckte zusammen. Mittelhand, hatte der Sanitäter gesagt. Manchmal fallen einem plötzlich solche Dinge ein, obwohl sie längst nicht mehr von Belang sind. Irgend etwas über die Mittelhand und die Schwierigkeiten der Heilung. An meinem Daumennagel zeigte sich eine klare Flüssigkeit. Ich wischte sie ab. Die rosafarbenen Brand-wunden unter der Binde würden abheilen, eine neue Haut würde wachsen, mit den alten Falten. »Wie lange brauchen Sie noch?« fragte ich den Mann. »Bis ich fertig bin«, erwiderte er und machte weiter. Durch das zerstörte Dach drang Licht nach unten, wo der Mann Wolken aus Staub und Asche aufwirbelte.
Vom Auto aus winkte ich ihm zu. Er hob kurz das Kinn, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Er schwang das Brecheisen, schlug zu, ging weiter, schwang, schlug zu, ging einen Schritt weiter und klopfte gegen die Wand, hinter der mir Dede Ash das Phenakistoskop gezeigt und aus dem Tagebuch vorgelesen hatte. Mir fiel die Pappscheibe mit der Frau ein, die das Taschentuch fallen ließ, aufhob, fallen ließ und wieder aufhob. Ich fuhr los. Es blies ein milder Wind. Werbeflächen und Ladenfronten schoben sich vor die Sonne. Ich fuhr auf dem Hügel entlang und sah das Krankenhaus, einen Backsteinkasten mit vielen Fenstern, mit Hinweisschildern, Besuchszeiten, Herzmonitoren. Dahinter ragte die Stadt in Ocker- und Schieferfarben auf, mit toten Fenstern, einem Hafen, der aussah wie plattgewalzt. Vor der Kreuzung warteten die Autos. Dann legte sich irgendwo in einem Kasten ein Schalter um, und es ging weiter. Ich hielt vor dem Cot Club, stieg aus, zupfte meine Verbände zurecht und klingelte. Nach einer Weile krächzte es im Lautsprecher. »Wir haben geschlossen.« Es war Angela. »Ich bin's. Ellerslie Penrose.« »Was willst du?« »Es ist wegen der – « »Verschwinde.« »Ich muß mit euch reden.« Sie überlegte kurz, dann sagte sie dasselbe, diesmal lauter und mit einer Autorität, für die ihr dünnes Stimmchen nicht gemacht war. Ich ließ den Finger auf dem Klingelknopf, bis sich eine andere Stimme meldete. »Ist ja gut, Mr. Penrose. Wir hören Sie.« Es war Marianne. »Ich würde gern reinkommen«, sagte ich. »Wir haben leider nicht geöffnet.« »Ich weiß. Aber es ist sehr wichtig. Nur für ein paar Minuten.« »Jetzt ist es ungünstig. Wir sind nicht in der richtigen Verfassung.« »Ich muß nur etwas nachsehen. Weiter nichts.« »Wir sind nicht in der richtigen Verfassung«, wiederholte sie. »Der Anwalt hat gesagt, wir dürfen keinen reinlassen.« »Das mit dem Anwalt kläre ich.« »Wir mußten es versprechen.« »Laßt das meine Sorge sein.« »Warum sollten wir Ihnen vertrauen?«
»Warum sollte ich lügen? Ich hab's eilig. Laßt mich rein. Bitte.« Nach einer weiteren Pause ertönte der Summer. Auf der Treppe war es dunkel. Ich mußte mich nach unten tasten. Marianne stand vor dem Samtvorhang, von drinnen kamen gedämpfte Musik und leise Stimmen. »Wir halten die Tür geschlossen, damit es keinen Ärger gibt«, sagte sie. »Noch mehr Ärger, meine ich.« »Vertrauen Sie uns Ihre ganz speziellen Wünsche an«, sagte eine Stimme. »Wir werden Sie voll zufrieden stellen.« »Verdammt!« Marianne schob den Vorhang zur Seite und tastete dahinter. »Stell das verflixte Ding ab!« schrie jemand. Marianne fluchte leise. Angela erschien in der Tür, ein Glas mit Whisky in der Hand. »Stell das ab!« »Wir wissen zu würdigen, daß Sie überall Ihr Bestes geben, und wir freuen uns sehr, daß Sie zu uns gekommen sind.« »Weg damit!« Angela stolperte auf uns zu und fing an zu schluchzen. Marianne schob den Vorhang weiter zurück und fand den Kassettenrekorder. Sie drückte eine Taste, entnahm die Kassette und hielt sie in die Höhe. »Hier ist sie, schau.« Angela blieb mißtrauisch. Sie umklammerte ihr Glas mit beiden Händen und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Hier«, sagte ich und nahm Marianne die Kassette aus der Hand. »Siehst du?« Ich hakte den kleinen Finger unter das Band und zog es heraus. Die Plastikspulen quietschten. Ich zog immer weiter, bis das Band abgespult war und als wirres Geschlinge auf dem Fußboden lag, dann warf ich die Kassette hin und zertrat sie. »Siehst du?« Angela nickte. »Aus und vorbei. Jetzt ist sie weg. Ich hab das Feuer gesehen, Angela. Ich hab mir die Hände verbrannt.« Ich hielt ihr die verbundenen Hände hin. »Siehst du? Siehst du, was ich gemacht habe?« Angela zuckte zurück, verzog das Gesicht und drückte sich an Marianne. Marianne stand steif da und wartete. Ich ließ die Hände sinken. »Tut mir leid. Ich wollte nicht brüllen.« »Wir sind alle mit den Nerven fertig«, sagte Marianne. Sie küßte Angela auf die Stirn und schob sie zur Tür zurück. »Setz dich hin, meine Süße.« Angela schob sich durch den Türspalt, ihre Schultern bebten.
»Ich möchte gern Mirandas Zimmer sehen«, sagte ich zu Marianne, als Angela verschwunden war. Sie schüttelte den Kopf, und ich hielt ihr die verbundenen Hände unter die Nase. »Ich will mich nur kurz hinsetzen. Eine Gedenkminute einlegen.« »Wenn Angela das merkt, wird sie wild. Und die anderen ...« Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich sage kein Wort. Und dann verschwinde ich wieder.« Seufzend gab sie nach und hielt mir den Vorhang auf. Im Club herrschte malvenfarbenes Schummerlicht. Die Mädchen hatten Tische auf die Tanzfläche geschoben und sich Flaschen von der Bar geholt, die Musik kam nicht von der Anlage, sondern von einem Kinderkassettengerät, das gelb und grün war wie ein frisch geschlüpfter Käfer. Es lief ein wenig langsam, doch niemand störte sich daran, daß Tammy Wynette zu schleppend klang. Ein Mädchen beugte sich vor und zündete ihre Zigarette an der Kerze an. Der Rauch strömte aus ihrer Nase, ihre künstlichen Wimpern klappten müde auf und zu. Angela saß mit am Tisch, hielt sich am Glas fest und warf mir einen trüben Blick zu. Ich ignorierte sie und folgte Marianne, die mich zum Schein in die Küche führte und dann die Hintertreppe hinaufschickte. Ich trat ein und machte Licht. Mirandas Boudoir sah erschreckend schäbig aus. Die Bilder an der Wand waren schmutzig, die Chaiselongue alt und abgewetzt, auf dem Fußboden rollten Staubflocken. Ich drehte den Lampenschirm nach unten, schon wurde es gemütlicher. Ich setzte mich, zog mein Notizbuch heraus und zeichnete den Grundriß des Zimmers auf. Rechts neben der Tür der Wandtisch, dann das erste Bücherregal, die Chaiselongue, das zweite Bücherregal. Ich zeichnete sieben Kreuze ein. Eins in die hinterste Ecke, zwei ins untere Regalfach, eins auf den Wandtisch, eins in die vordere Zimmerecke, zwei auf die Chaiselongue. Ich datierte die Zeichnung und schattierte jedes Möbelstück entsprechend seinem Gewicht. Die Bücherregale waren am schwersten und daher am dunkelsten, gefolgt von der Chaiselongue und dem Wandtisch. In die Schraffur schrieb ich die abgekürzten Bezeichnungen ein. Ich markierte den Verlauf der Dielenbretter, die Risse im Holz, die Türfüllung, das Zahlenschloß. Dann zeichnete ich die Kreuze dick nach und machte um jedes einen Kringel. Marianne schob leise die Tür auf. »Mr. Penrose ...« »Was habt ihr gemacht? Wo sind sie?«
»Wie bitte?« »Wo sind sie alle geblieben?« »Ich verstehe nicht.« Ich stand auf und zeigte ihr die Skizze. »Basket, Apples, Sushi, Tufur, Moonpie, Boy Cat, Travis.« »Ach, die Katzen!« Sie lächelte und stellte das Glas auf dem Tisch ab. »Die hat sie mitgenommen.« »Wer?« »Die Frau.« Ich hätte sie am liebsten gewürgt. »Welche Frau?« »Na, die Frau.« Marianne zuckte die Schultern. »Groß, blond, etwa mein Alter.« »Verdammt.« »Entschuldigung. Ich weiß nicht ...« »Raus mit der Sprache. Was hat sie gemacht? Was hat sie gesagt?« »Sie kam, nachdem die Polizei hier war, als wir schon geschlossen hatten.« »Um welche Zeit war das?« »Ich weiß nicht. Wir haben hier keine Uhr.« Sie lächelte hilflos. »Welche Zeit etwa — nach Ihrer Schätzung?« »Ich weiß es nicht!« »Scheiße! Was hat sie gesagt?« »Sie wollte nach den Katzen sehen. Sie sei eine Verwandte, hat sie gesagt. Wir wußten von nichts. Sie brachte zwei große Käfige mit. Wir hatten keine Ahnung.« Sie biß sich auf die Lippen und hielt die Hand vor den Mund. »Mein Gott, was ist passiert?« »Würden Sie die Frau wiedererkennen?« »Ich war total betrunken.« Sie sprach durch die Finger. »Es war dunkel. Ich weiß nicht. Warum ist das so wichtig?« »Bitte, sagen Sie es mir. Hat sie etwas hinterlassen?« Eine dicke Träne rollte über ihre Wange. »Ich kann mich nicht erinnern. « »An irgendwas müssen Sie sich erinnern. Sagen Sie schon!« »Was ist denn los?« Sie fing an zu heulen. »Was ist passiert?« Auf der Treppe hörte ich Schritte, Angela kam herein. »Was ist denn hier los!« schrie sie. »Raus! Sofort raus hier!« Sie schlug mir ins Gesicht und stieß mich vor sich her. Ich hörte die anderen Mädchen die Treppe heraufkommen. Marianne stand an der Wand und hielt die Hände vors Gesicht. Angela schlug mir gegen die Kehle, und ich zuckte zurück. Ich versuchte sie auf Abstand zu halten, aber sie trat mir zwischen
die Beine. Ich krümmte mich vor Schmerzen und gab ihr einen Stoß, sie knallte gegen die Wand und riß mehrere Bilder herunter. Laut schreiend stürzte sie sich auf mich, und im selben Moment kamen die anderen herein, fielen mit Fäusten und Krallen über mich her. Ich hielt die Arme vors Gesicht, rollte mich zur Seite und riß den Lampenstecker aus der Dose. Mit der Schnur um mich schlagend tastete ich mich in der Dunkelheit zur Tür, riß Bilder von der Wand, steckte Hiebe ein, rutschte auf den Bildern aus und schaffte es zur Tür, zur Treppe, zum Vorhang und endlich hinaus auf die Straße.
19
In den Straßencafes herrschte Nachmittagsbetrieb, der Lärm tat richtiggehend weh. Meine Kopfhaut brannte, als hätten mich die Mädchen skalpiert. Meine Hände zitterten. Ich saß im Auto und brachte mich in Ordnung, so gut es ging. Ich stieß mit dem Ellbogen schmerzhaft gegen die Tür, als ich den Spiegel in meine Richtung drehen wollte, und fluchte laut. Mein Mantel hatte einen großen Riß. Ich zupfte meine Bandagen zurecht, strich mir die Haare glatt, wischte mir Blut von der Wange. Ein Typ mit Dreadlocks beobachtete mich. Hier konnte ich nicht stehenbleiben, aber wo sollte ich hin? Ich konnte nicht bleiben, ich konnte nicht weg. Jetzt schauten auch die Freunde des Typs herüber. Ich drehte den Zündschlüssel und zog den Motor ein paarmal hoch, dann legte ich die Kupplung ein und startete mit quietschenden Reifen. Die frische Luft wehte mir um die Ohren, das Steuerrad lag fest in meinen bandagierten Händen. Ich lehnte mich ins Polster und gab dem Tomaso die Sporen, bog in scharfem Tempo in meine Straße ein und stieg auf die Bremse. Die Straße war in beiden Richtungen von Polizeiautos blockiert. Dahinter sah ich eine Blaskapelle üben. Die Musiker wandten mir den Rücken zu, dann machten sie eine Kehrwendung, traten auf der Stelle, bis der Kapellmeister den Arm senkte. Anschließend fingen sie wieder von vorn an. Ein Polizist kam an mein Auto. »Hier findet eine Parade statt«, sagte er. »Sie können nicht durch.« »Ich wohne aber da drüben. Ich muß nach Hause.« Er beugte sich zu mir herunter und legte die Hand auf die Tür. »Hier können Sie nicht durchfahren.« »Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich wohne in diesem Haus dort.« Ich zeigte auf das Dilworth, aber er drehte sich nicht um. »Sie bluten ja«, sagte er. Sein Blick fiel auf meine Hände. »Ist Ihnen was passiert?« »Ich bin gestürzt. Darf ich jetzt durch?«
»Wir können Sie nicht durchlassen.« Er beugte sich in mein Fenster und beäugte meinen zerrissenen Mantel, meine schmutzige Hose. »Ist das Ihr Wagen?« »Ja.« »Kann ich Ihre Papiere sehen?« »Ja.« Ich holte sie aus dem Handschuhfach. Er richtete sich auf und studierte meinen Führerschein, ich starrte an seinem Bauch vorbei. Die Blaskapelle nahm wieder Aufstellung, Paradegirls standen in Grüppchen herum und schwatzten. Ein mehrere Meter großer Frosch lag schlapp auf einem Tieflader und blähte sich langsam auf; während er mit Luft vollgepumpt wurde. Dahinter warteten noch mehr Fahrzeuge, die für die Parade aufgeputzt waren. Neugierige drängten sich auf den Bürgersteigen, sie schleppten Kühltaschen und Sixpacks oder Klappstühle mit sich herum, ein Ghettoblaster dröhnte und etliche sangen mit. Zu Hunderten zogen sie an meinem Haus vorbei und demonstrierten mit ihrer guten Laune ihr gutes Leben, die teuren Designerklamotten auf lässig getrimmt. Ihre Autos hatten sie am Hafen oder an der Universität abgestellt und waren dann hierhergeschlendert, und wenn alles vorbei war, würden sie zu ihren gepflegten Rasenflächen, gekachelten Badezimmern und säuselnden Stereoanlagen zurückkehren. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und schaute zu dem Polizisten auf. Er diktierte meine Führerscheindaten in sein Funkgerät. »Darf ich jetzt durch?« fragte ich. Er musterte mich von der Seite. »Haben Sie getrunken?« »Nein.« Seine Miene blieb unbewegt. »Sie sollten sich um Ihre Verletzung kümmern.« Ich wischte mir die Wange ab. Ein stechender Schmerz. Auf meiner verbundenen Hand zeigte sich eine dicke Blutspur. »Dazu müßten Sie mich in mein Haus lassen.« Das Funkgerät begann zu krächzen. Irgendein Wortsalat. Er wandte sich weg und hielt es ans Ohr. Dann sagte er »In Ordnung« und gab mir den Führerschein zurück. »Sie müssen diese Straße umfahren, dann kommen Sie durch.« »Aber ich muß in meine Tiefgarage. Wo soll ich sonst parken?« »Hier können Sie nicht durch. Hier geht gleich die Parade los.« Er wedelte mit der Hand. »Bitte kehren Sie um.« Ich wendete und fuhr zurück, den Berg hinauf. Am Horizont braute sich, kaum merklich, etwas zusammen. Bald würde es dunkel werden, Blitz und Donner lauerten, noch verborgen. Der
Wind peitschte die Transparente an den Lampen und wirbelte den Straßenschmutz auf. Es war die Zeit am Nachmittag, wo alles mögliche passieren kann. Aber die Stadt hatte nur den Mardi Gras im Sinn. Immer mehr Leute drängten in die Pubs und eilten zu den Büropartys. Viele waren schon maskiert und kostümiert. Fernsehcrews bauten an den strategischen Punkten ihre Technik auf. Die Bäume vor dem Regent waren mit bunten Bändern geschmückt. Ich hielt vor dem Eingang. Der Hotelboy zupfte an seinem Ohrring, als ich ausstieg. »Womit kann ich dienen, Sir?« »Nur das Auto, danke«, sagte ich, klemmte mir das Tagebuch unter den Arm und ließ die Tür für ihn offen, aber er rührte sich nicht. »Alles in Ordnung, Sir?« »Oh.« Ich grinste verschwörerisch. »Danke, keine Probleme. Bin nur ein bißchen ins Gedränge geraten.« Ich zeigte auf das Auto. »Der Schlüssel steckt.« »Wir sind ausgebucht«, sagte er unbeirrt. »Mardi Gras.« »Kann ich mir vorstellen. Die Stadt ist total überlaufen.« Die Wagentür klappte zu. Er machte keine Anstalten. »Das Auto«, erinnerte ich ihn. Er starrte auf die Schramme an der Fahrerseite. »Heute wollen alle ihr Auto bei uns loswerden«, sagte er schließlich. »Klar. Keine Frage.« Ich schob ihm einen Zehndollarschein in die Hand. »Besten Dank.« Meine Brieftasche verhakte sich im zerrissenen Mantelfutter. Mit einem säuerlichen Lächeln gab er mir den Schein zurück. »Tut mir leid, Sir, wir sind voll. Sie müßten sich schon woanders bemühen, wenn Sie zur Parade wollen.« »Ich möchte hier meinen Drink nehmen wie immer. Wo ist das Problem?« Ich hielt den Schein in der bandagierten Hand, meine Stimme begann zu zittern. »Wo ist das Problem?« »Es gibt kein Problem, Sir. Wir sind heute sehr ausgelastet, das ist alles.« Er öffnete mir den Wagenschlag. »Bitte.« Ein unterdrücktes Kichern verriet, was er dachte. »In Ihrem Zustand kann ich Sie nicht reinlassen. Hausordnung, Sir.« Ich biß mir auf die Lippe und blickte mich um. Auf der Straße waren Polizeiautos vorgefahren. Arbeiter in Orangewesten stellten Verkehrskegel und Umleitungsschilder auf. »Jetzt komme ich hier nicht mehr weg«, sagte ich. »Die Straße wird gerade für die Parade gesperrt.«
»Sie haben noch Zeit. Besten Dank, Sir.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Nehmen Sie das trotzdem.« Ich hielt den Schein zwischen zwei Finger geklemmt und machte Anstalten, ihn unter seinen Jackenkragen zu stopfen. Er zuckte zurück und fing an zu husten. Ich lief an ihm vorbei zur Hoteltür, und er packte meinen Arm, diesmal schon energischer. »Sir«, krächzte er mit rotem Gesicht. Ein Wachmann aus der Lobby kam mit großen Schritten auf mich zu. Er wollte mich gerade von der anderen Seite packen, da hörte ich Tony rufen. »Mr. Penrose!« rief er und ging dazwischen. »Wie geht's Ihnen so?« »Ein bißchen angeknackst bin ich«, sagte ich. »Na, die beiden helfen Ihnen schon rein«, rief er und schlug dem dicken Wachmann auf die Schulter. »Kennen Sie Adrian?« Er zeigte auf den Wachmann und wandte sich an den Hotelboy. »Du findest sicher einen Parkplatz für Mr. Penroses Wagen, Mike.« »Mike«, sagte ich grinsend. »Wir kennen uns so lange, aber Ihren Namen höre ich erst jetzt.« Mike biß sich auf die Lippe. »Der Parkplatz ist voll, Tony.« »Du findest schon ein Plätzchen.« Tony nahm mir den Schein ab, gab ihn an Mike weiter und redete unablässig auf ihn ein, während er mich ins Hotel zog. »Kommen Sie, Mr. Penrose. Vielen Dank, Adrian, vielen Dank, Mike.« »Danke, Jungs«, rief ich. Mike sah aus, als hätte er statt des Geldscheins eine tote Kröte in der Hand. Adrian starrte uns mit hängenden Armen nach. »Die machen nur ihren Job, Mr. Penrose«, sagte Tony. »Sie sehen ganz schön fertig aus.« »Ich hatte Ärger.« Er bugsierte mich an der Bar vorbei hinter die Topfpalmen, wo uns niemand sah. »Was ist mit Ihren Händen passiert?« »Ich bin hingeflogen. Hab mir Abschürfungen geholt.« »Und im Gesicht?« »Das war was anderes.« Er musterte mich von oben bis unten. »Ihr Mantel ist zerrissen. Ihre Hose sieht aus! Was ist mit Ihnen los, Mr. Penrose?« Mir fiel keine Antwort ein. Ich wußte es selbst nicht. »Wissen Sie was? Ich besorge Ihnen ein Zimmer, und Sie bringen sich ein bißchen in Ordnung. Ich kann Ihre Sachen zur Reinigung geben.« »Nicht nötig.«
»Doch, doch. Und Sie brauchen erst mal Ruhe.« »Haben Sie in letzter Zeit mit einer gewissen Serviererin gesprochen?« fragte ich mißtrauisch. Er blieb gelassen und führte mich durch die hinterste Ecke der Lobby. Neben dem Lift befand sich ein Zeitungsständer aus Mahagoni. Die Zeitungen hingen wie nasse Wäsche von den Messingstäben. Er rollte eine Abendzeitung zusammen und schob sie mir unter den Arm, dann holte er den Service-Fahrstuhl. Als die Tür aufging, kramte er einen Zimmerschlüssel aus der Tasche. »Vierhundertvierzehn«, sagte er und drückte mir den großen hölzernen Anhänger in die Hand. »Ich schicke jemanden hoch.« »Ist sie oben?« fragte ich nach kurzem Zögern. »Sie ist noch nicht da, Mr. Penrose. Aber wenn sie kommt, sage ich Bescheid. Versprochen.« Er tätschelte mir den Rücken, schob mich mit sanftem Nachdruck in den Fahrstuhl, steckte seinen Schlüssel in die Konsole und tippte den vierten Stock ein. »Okay?« Ich lehnte mich an die Fahrstuhlwand und nickte. Er zog seinen Schlüssel heraus, der an einer Art Uhrkette hing, und ließ ihn in der Westentasche verschwinden. Die Türen schlossen sich, der Fahrstuhl ruckte an. Mein Magen zog sich zusammen. So fühlte man sich vermutlich, wenn man sich selbst überlebte – ein Toter auf Urlaub. Der Schwerkraft beraubt, in einem Otis, der nie mehr stoppte. Ich drehte den Zimmerschlüssel hin und her, fuhr mit dem Finger über die sauber eingravierte Zahl. Die Neonröhre summte. Ich nahm mir die Zeitung vor. Auf dem Titelblatt ein Foto von Tangiers, sein Gesicht umlagert von Mikrofonen. Daneben das Phantombild eines hohlwangigen Mannes mit Kinnbart und Tätowierungen. MORDVERDÄCHTIGER GEFASST lautete die Schlagzeile. Ich las. Simon Eedie (29) aus Auckland wurde heute morgen unter dem dringenden Verdacht, den Antiquitätenhändler Thaddeus Ash (71) ermordet zu haben, in seiner Wohnung verhaftet. Der Sprecher der Mordkommission Dean Tangiers gab die Verhaftung am sechsten Tag der Ermittlungen bekannt. Der Ermordete war unbekleidet in einem Glascontainer in der Innenstadt aufgefunden worden. Anwohner zeigten sich schockiert von der Brutalität des Verbrechens. Detective Tangiers ordnet den Täter dem Drogenmilieu zu. Nach weiteren Personen wird in diesem Zusammenhang nicht gefahndet ...
Der Korridor des vierten Stocks war menschenleer. Ich folgte dem Teppichläufer um eine Ecke bis zum Ende des östlichen Flügels. Zimmer 414 kam als letztes. Durch die weißen Vorhänge drang mattes Tageslicht. Ich warf die Zeitung auf einen Sessel, klappte den Sekretär auf und legte das Tagebuch hinein, zog meinen Mantel aus und hängte ihn auf einen Bügel im Schrank. Dann nahm ich mir die Minibar vor, fand zwei Fläschchen Gin und eine Flasche Tonic, machte mir einen Drink und setzte mich an den Sekretär. Die Titelseite der Zeitung starrte zu mir hoch. Etwas fehlte, etwas stimmte nicht. Ich glaubte Tangiers keine Sekunde lang. Der Mann, den sie verhaftet hatten, konnte unmöglich der Mörder sein. Dafür lief alles zu glatt, zu schnell. Wollte Tangiers einen lästigen Zeugen verschwinden lassen, eine alte Rechnung begleichen? Ich war zu müde zum Überlegen. Der Zimmerkellner kam, als ich mir den zweiten Drink machte. Er brachte mir die Speisekarte und bat um meine Sachen. Ich zog mich im Badezimmer aus und hängte mir den Bademantel mit dem Hotelmonogramm über. Es war mir peinlich, dem Mann die blutverschmierten und verdreckten Klamotten in die Hand zu drücken. Der Mantel und die Hose hingen ihm wie alte Lumpen über dem Arm. Meine Schuhe wollte ich behalten, doch er zeigte auf die Absätze und meinte, die hätten es auch nötig. Er mußte versprechen, alles in spätestens zwei Stunden zurückzubringen. Er knäuelte sogar meine Socken zusammen und nahm sie mit. Ich wußte nicht, was ich bestellen sollte. Entscheiden Sie, sagte ich und gab ihm die Speisekarte zurück. Als ich ihm ein Trinkgeld geben wollte, winkte er ab. Das geht aufs Haus, sagte er. Wird alles erledigt. Das letzte Tageslicht versiegte. Ich machte Licht und ging unter die Dusche. Als ich wieder aus dem Badezimmer kam, wartete der Champagner auf mich. Der Flaschenhals ragte aus dem Sektkühler, der zusammen mit Toast und Kaviar auf einem Servierwagen stand. Unter einem Silberdeckel Lammkoteletts mit Spargel und Sauce Bearnaise. Ein Schälchen Erdbeeren in Kirschgeist, Kaffee, Käse. Naß wie ich war, setzte ich mich im Bademantel hin und fing an zu essen. Den Champagner trank ich aus der Flasche. Ich legte mich aufs Bett. Bald würden meine Sachen kommen, dann mußte ich überlegen, was ich tun sollte. Über Nacht konnte ich hier nicht bleiben. Die Zeit rannte mir davon, und ich mußte dranbleiben.
20
Mein Kopf lag in einer feuchten Kissenmulde, als ich aufwachte. Jemand hatte das Geschirr abgeholt und mich zugedeckt. Ich konnte nur vermuten, wer mein Wohltäter war. Ich ahnte es. Sie hatte den Vorhang ein wenig geöffnet, von fern hörte ich Lärm. Ich richtete mich auf, mein Mund war trocken, meine Augen brannten. Der Nachthimmel war tintenblau und gesprenkelt mit Satelliten. Irgendwo zischten Knallkörper. Ich strich den Bademantel glatt und holte eine Flasche Sodawasser aus dem Kühlschrank. Meine Sachen hingen in einem Reinigungsbeutel hinter der Tür. Meine Schuhe glänzten wie mit Spucke poliert, sie waren frisch besohlt, sogar neue Schnürsenkel lagen dabei. Ich stellte sie zurück auf den Fußboden und sah mich im Spiegel, meinen dunklen Umriß beim Trinken von Sodawasser. Es schmeckte besser als der Champagner. Am liebsten hätte ich alles noch einmal gemacht – Duschen, Essen, Schlafen, Aufwachen –, um diese Ruhe noch mehr auszukosten. Die Scheiben begannen zu vibrieren. Ich trat ans Fenster und sah den Hubschrauber über dem Hotel kreisen, sein blaues Scheinwerferlicht zuckte über das Treiben auf der Straße. Die Parade war in vollem Gang. Ein Lautsprecherwagen mit dröhnender Rockmusik und hallenden Durchsagen, Fernsehkameras auf den Balkons gegenüber. Ich sah den Berichterstatter mit dem dick gepolsterten Richtmikrofon eingeklemmt zwischen Technikern stehen, es regnete Glitzerkonfetti, Blaskapellen schmetterten Marschmusik, Schwebefiguren wurden geschwenkt, aber es sah aus, als würde die Parade auf der Stelle treten. Der Riesenfrosch wippte aufgeregt, weil Betrunkene an den Halteseilen zerrten, eine Nixe räkelte sich auf einem Pappfelsen, der von tanzenden Matrosen gezogen wurde. Ich drückte das Gesicht an die Scheibe, um zu sehen, warum die Parade stockte. An der Kreuzung war ein großes Transparent heruntergefallen, das die Straße blockierte. Polizeiketten sperrten die Fahrbahn ab, aber die Menge ließ sich von den Ordnungshütern und dem Blaulicht nicht stören. Wer vom Suchscheinwerfer des Hubschraubers erfaßt wurde, hob das T-Shirt oder versprühte Bier, glitzernde Luftballons
trieben über dem Gewühl. Ich preßte die Stirn an die kühle Scheibe und saugte an meinem Strohhalm. Was mir zuerst auffiel, war das Unbewegte an der Gestalt, die in den Scheinwerferkegel geraten war. Eine Frau mit nach oben gewandtem Gesicht, die plötzlich aus dem Dunkel herausgelöst wurde. Sie wich einen Schritt zurück, dann zur Seite, ohne den Blick von der Hotelfassade abzuwenden. Ich war wie gelähmt. Der Scheinwerferkegel huschte weiter, ihr blondes Haar versank wieder im Dunkel. Die Sodawasserflasche in meiner Hand fühlte sich kalt an. Dann tauchte der Scheinwerfer die Frau erneut in den silbrigen Schimmer, mit dem sie auch auf dem Foto abgebildet war. Miranda Sunde. Sie starrte zu mir hoch. Wie viele Treppen war ich von ihr entfernt? Sie würde wegrennen, sobald ich mich vom Fenster fortbewegte. Sie wäre schon über alle Berge, bevor ich auch nur das Hemd angezogen hätte. Ich konnte nur stehenbleiben und auf sie hinabblicken, während sie zu mir heraufschaute. Sie sah genauso aus wie die Male, als ich sie vorher gesehen hatte – eine schlanke junge Frau im langen schwarzen Ledermantel. Aber genauso wie ihr Anblick nagelte mich das Unmögliche dieses Anblicks am Boden fest: Eine alte Frau, im Feuer umgekommen, stand quicklebendig und um fünfzig Jahre verjüngt auf der Straße, verwandelt von der schwarzen Magie, über die ihr Geliebter verfügte. Niemandem dort unten schien das Unglaubliche ihrer Erscheinung aufzufallen. Die Menge umtobte sie, ohne ihr zu nahe zu kommen. Sie sah aus wie auf dem Foto, wie auf der Straße vor dem Dilworth, wie bei der Trauerfeier für Dede Ash, wie in der Nudelbar. Aber jetzt sah ich sie mit anderen Augen. Jede Begegnung hatte sie mir nähergebracht, und jetzt hatte sie nichts Unwirkliches, Gespenstisches mehr an sich. Sie blickte über die Schulter und wich einem Tänzer aus, ihre Bewegung verriet Unsicherheit, als würde sie sich von der Menge bedroht fühlen. Doch sie wandte den Blick nicht von meinem Fenster ab, da war ich mir sicher. Ich winkte. Langsam hob sie die Hand und ließ sie wieder sinken. Das Hubschrauberlicht bewegte sich weg und ließ sie im Dunkeln stehen. Aber jetzt hatte ich sie. Der Kontakt war da. Hastig stellte ich die Flasche hin und warf den Bademantel ab. Ich nahm den Kleiderbeutel vom Haken, riß ihn auf und fluchte. Das Hemd fehlte. Es war nicht zurückgekommen. Dann sah ich die Schachtel auf der Kommode und in der Schachtel das
Hemd, Kragen und Ärmel mit Nadeln befestigt, jeder Knopf geschlossen. Ich riß es aus der Schachtel heraus und entfernte die Nadeln. Ich entfaltete die Hose, riß den Reinigungszettel ab und schlüpfte in die Hosenbeine, zog die Socken an und bückte mich, um die Schnürsenkel einzufädeln. Meine Hände zitterten. Bei richtigem Licht wäre es leichter gewesen, aber ich hatte keine Zeit, aufzustehen und den Lichtschalter zu suchen, und ich war schon fast fertig, fast. Ich packte meinen Mantel und rannte hinaus. Das Licht im Korridor blendete mich. Mit Riesenschritten eilte ich zur Treppe, nahm drei Stufen auf einmal, jagte durch die Lobby, die frisch besohlten Schuhe rutschten gefährlich auf dem glatten Marmor. Adrian sah mich kommen und hielt mir die Tür auf, ich schoß die Stufen hinab, daß ich den Boden unter den Füßen verlor, ich streckte die Hände aus und landete weich in der jubelnden Menge. Als ich mich zur Straße durchwühlte, verlor ich den Überblick. Ich unterdrückte den Impuls, loszurennen, auf das zu, was mich erwartete. Wer nicht betrunken war, hatte sich in den langsamen Trott gefügt, so daß sich der Zug in zwei Geschwindigkeiten voranbewegte, im bedächtigen, gereizten Strom der Nüchternen und im ausgelassenen Getümmel derer, die besoffen und glücklich waren. Ich mischte mich unter die Lebhaften und zog mir im Laufen den Mantel über. Ein Feuerschlucker blies mir seinen flammenden Hauch entgegen, eine Windbö trieb den grinsenden Riesenfrosch auf mich zu. Ich nahm die Hände aus den Taschen. Da sah ich sie, nicht weit von der Stelle, an der sie gestanden hatte. Sie kehrte mir den Rücken zu und eilte auf die Tänzer und Stelzenläufer zu. Ich rannte durch die Flammen und den Kerosingestank und setzte ihr nach. Ein Mädchen in Pluderhosen brüllte mich an, als ich mich durch den Wald der Stelzenläufer zwängte, die über mir ihre Stöcke wirbelten und ihre Plastikschädel schwenkten. Die Tänzer schüttelten Tamburine und Schellen zur ohrenbetäubenden Musik, wechselten mit jedem Takt die Richtung und versperrten mir den Weg. Sie würde entkommen. Ich schubste einen Tänzer beiseite, schrie Sorry und rannte weiter. Jetzt schob sie sich durch eine Militärkapelle, quer durch Trompeten und Waldhörner und duckte sich unter den schwingenden Posaunen durch. Als ihr Mantelschlitz aufklaffte, sah ich kurz ihren Hintern, ihre Nahtstrümpfe. Ich bekam den Paukenschlegel ab, ein Posaunist drehte sich um, ich stieß gegen sein
Instrument, er heulte auf und griff sich an den Mund. Miranda rannte schon zwischen die Umzugswagen mit Farmtieren, vorbei an Heuballen und wartenden Pferden. Ich sprang über die Pferdeäpfel, die man in die Gosse gekehrt hatte, und sah Mirandas Mantel kurz zwischen den Cowboyhemden auftauchen. Sie strebte geradewegs auf den Pappfelsen mit der Nixe zu, und als sie sich nach hinten umdrehte, war ich schon neben ihr. Ich hätte sie berühren können, ihr Haar, ihre Schulter, sie packen und festnageln können. Jetzt endlich hatte ich sie, jetzt gehörte sie mir. Ich wollte ihr nahe sein, ihren Atem spüren. Ich schrie. Miranda, sagte ich, Miranda. Ich war der Glücklichste von allen. Weil sie jetzt mir gehörte. Sie fuhr zusammen wie vom Blitz getroffen. Dann hob sie den blaugrünen Zellophanvorhang und verschwand unter den Pappfelsen. »Wo ist sie hin?« überschrie ich die dröhnende Musik. »Auf welcher Seite ist sie rausgekommen?« Die Nixe zuckte die glitzernde Schulter, ihr Nixenschwanz schlug hohl gegen den Felsen. Ich drückte mich an dem rollenden Felsen vorbei, zwängte mich durch einen Trupp von Matrosen und Piraten, umrundete den Felsen ein zweites Mal, geriet wieder zwischen die Stelzenläufer. Ein Feuerwehrmann rannte auf die Blaskapelle zu. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Sie konnte jetzt einfach nicht verschwunden sein. Ich entdeckte sie hinter brennenden Wunderkerzen und fliegenden Sektkorken, ihr blondes Haar wippte, während sie mit jemandem sprach, den ich nicht sehen konnte. Mit zwei großen Schritten war ich hinter ihr, packte sie bei den Schultern und drehte sie zu mir um. Sie fluchte los und ging mir an den Kragen – es war ein Kerl mit Perücke und dickem Eyeliner. Ich ließ ihn los, sprang zurück und landete zwischen den Ledermännern in Silber und Schwarz, in Nazi- und Motorradcop-Uniformen. Einer gab mir einen Stoß, ich flog quer durch die Menge, riß einen anderen um und landete an einer Hauswand. Niemand beachtete mich. Ich rannte neben dem Festzug her, sprang auf Bänke und Vorgartenmauern und hielt nach ihr Ausschau. Die Kakophonie der Blaskapellen und Lautsprecherwagen dröhnte mir in den Ohren, meine Füße waren bleischwer, ich lehnte mich an eine Hauswand. Mein Hals tat weh, und als ich ihn berührte, merkte ich, daß er voller Blut war. So nahe war sie gewesen, ich hätte sie, ihr wehendes Haar berühren können. Und dann war sie weg, ohne sich auch nur umzudrehen.
Ich schrie nach ihr, so laut ich konnte, immer wieder und wieder, aber sobald ich aufhörte, verschwand ihr Name wieder spurlos im Lärm der Parade. Ich machte einen Schritt nach vorn, einen zurück, wandte mich zur einen und zur anderen Seite, ich lief zur Kreuzung vor, hielt mich vorgebeugt am Ampelpfosten fest und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Die Ordner hatten das Transparent endlich befestigt, die Masse der Wartenden jubelte, und schon wälzte sich der Strom weiter wie ein rückgratloses Ungeheuer. Ein verirrtes Auto fuhr auf die Kreuzung und blieb mitten im Gedränge stecken. Der Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster, eine Frau im Clownskostüm beugte sich über die Motorhaube und begoß die Frontscheibe mit Bier. Neues Gejubel. Die Parade zog vorbei, Kuhglocken, Piraten, Pappschwerter, Paradegirls, Kinder mit Luftballons und die Tanzmädchen im permanenten Striptease. Hüllen fallen lassen, anziehen, fallen lassen, anziehen. Vorsichtig knöpfte ich mir das Hemd auf und fuhr mit dem Finger unter den Kragen. Eine Stecknadel von der Reinigung hatte sich tief in meinen Hals gebohrt. Mit einem Ruck zog ich sie heraus und warf sie fort. Zwischen zwei Festwagen überquerte ich die Kreuzung, um zum Hotel zurückzukommen. Aber gerade jetzt war das Gedränge besonders groß. Ich blieb vor einem Duty-Free-Shop hängen und suchte Zuflucht im Eingang, drückte mich gegen das Fenster, in dem ein Bonsai-Gärtchen mit Parfümflaschen und Uhren behängt war, und starrte auf den Verlauf der Drähte, die den Wuchs der Bonsai-Bäumchen lenken sollten. Sie hatte nicht mit mir sprechen wollen. Warum hatte sie sich überhaupt gezeigt? Beim nächsten Mal würde sie mir wieder entwischen. Sie wußte genau über mich Bescheid. Eine Fernsehwand im Laden brachte Bilder vom Mardi Gras. Ein Gesicht füllte die Galerie der Bildschirme, dann wieder die Parade, die sich in endlosem Strom fortbewegte. Konfettikanonen sprühten ihre Ladung in die Luft und erzeugten einen Schneesturm auf den Bildschirmen, der aussah wie eine Bildstörung.
21
Ich ging nicht ins Regent zurück, jedenfalls nicht direkt. Ich schlief keine Sekunde. Ich stand da und schaute der Parade zu, bis ich meine Füße nicht mehr spürte. Allmählich zerstreute sich die Menge und hinterließ zertrampeltes Konfetti, die Festwagen rollten davon, die Straßen leerten sich. Gegen fünf Uhr morgens ging ich in mein Zimmer hoch, um meine Sachen zu holen. Der aufgerissene Beutel von der Reinigung lag noch auf dem Fußboden. Ich trank ein Glas Wasser und öffnete die Schublade. Das Tagebuch war weg. Nur das Deckblatt lag noch da. Alles andere – das Tagebuch, die Abschrift, das Foto – war verschwunden. Ich suchte in den anderen Schubladen, unter dem Bett, zwischen den Laken, unter der Matratze, im Kleiderschrank. Ich zog die Schubladen im Badezimmer heraus und schaute unter dem Waschbecken nach, hinter den Vorhängen und auf den Fensterbrettern. Verschwunden. Der Nachtportier konnte beschwören, daß keine Putzfrau das Zimmer betreten hatte. Er fragte, was mir abhanden gekommen war, ich konnte es ihm nicht erklären. Wichtige Papiere. Persönliche Dinge. Er griff zum Telefon und wählte den Notruf. Nein, nein, sagte ich. Doch, das muß angezeigt werden, beharrte er. Ich drückte die Gabel nach unten. Es sei nichts von materiellem Wert gewesen, und es würde schon wieder auftauchen, versicherte ich. Er legte enttäuscht den Hörer auf. Ich ließ ihn im Dienstplan nachsehen, aber Wilhelmina war schon nach Hause gegangen, kopfschüttelnd kam er vom Monitor zurück, und auf seinem Gesicht verfestigte sich genau der Ausdruck, den ich in all den Monaten hatte vermeiden wollen. Du bist derjenige, welcher, sagten seine Augen. Er zeichnete die Zimmerrechnung ab und schob sie mir hin. Ich sagte mit roten Ohren danke, warf den Schlüssel in den Schlitz und wartete vor dem Hoteleingang, daß der Hotelboy den Wagen brachte. Nach einer Weile kam er zurück, er könne den Wagen nicht finden, ob ich sicher sei, daß ich ihn abgegeben hatte. Der Hotelboy schlich eine Stunde hinter mir her, während ich den ganzen Parkplatz absuchte. Der Tomaso war gestohlen. Er fragte mich nach der Autonummer, aber sie fiel mir nicht ein. Er fragte, wann ich den Wagen abgegeben hatte, ob es Er-
satzschlüssel gäbe, eine Alarmanlage. Mir fiel nichts mehr ein. Ich setzte mich mitten auf die Fahrbahn. Ein Windstoß erfaßte das Deckblatt und wehte es unter einen Lieferwagen. Aus Mitleid, daß ich schon wieder etwas verloren hatte, hockte sich der Hotelboy hin, streckte ein Bein unter das Auto, holte das Blatt mit der Schuhspitze hervor und zerriß es dabei. Er hielt mir den Fetzen unter die Nase, ich starrte ihm ins Gesicht und sagte nichts. Sein dünner Unterarm ragte aus dem Jackenärmel heraus, das Papier wehte im Wind wie ein müder Wimpel. Er fragte, ob er ein Taxi rufen solle, ich sagte ihm, ich würde zu Fuß gehen. Das Schaufenster eines Kamerageschäfts flimmerte und flackerte in Formen und Farben, die keine Kamera hätte wiedergeben können. Meine Silhouette spiegelte sich in der Scheibe und schob den rechten Fuß vor, glich meine Neigung aus, den linken Fuß vorzuschieben. An den Sohlen klebten Reste von Luftschlangen. Ich stand vor der Scheibe und betrachtete mich. Eine einsame Silhouette. Der traurige Rest des Tagebuchs flatterte in meiner Hand. Zwei gelbe Reinigungsfahrzeuge kamen mir entgegen, das eine am linken, das andere am rechten Straßenrand, beide Fahrer hatten denselben Radiosender eingestellt, die Musik war ein dünner, aber harmonischer Klang. Es gab viel Unrat zu beseitigen. Die Paradestrecke war dicht übersät mit pastellfarbenem Konfetti, Flugblättern, Pappbechern, Luftschlangen und anderem Partyramsch. Ich blieb an der Ampel stehen und kratzte meine Sohlen sauber. Auf dem Platz war ein Stadtstreicher im Flickenmantel dabei, den Landeverkehr der Tauben zu dirigieren – ohne die Hilfe von Positionslichtern ein schwieriger Job. Er mußte rennen, um alle Landebahnen unter Kontrolle zu halten, beide Arme ausgestreckt wie kurze Flügel. Die Signale hatte er den Verkehrspolizisten abgeschaut: die steil erhobene Rechte bedeutete Stop, der linke Zeigefinger gewährte Vorrechte, ungeduldiges Winken gab freie Fahrt. Die Tauben umschwirrten seine nackten Füße, und wenn er in die Hände klatschte, um Drängler und Irrläufer zu strafen, klang das Flügelschlagen wie das Explodieren nasser Feuerwerkskörper. Eine Katze hatte eine Taube erwischt. Ich fand die Leiche im Rinnstein, nicht weit vom Sammelplatz der anderen, der Kopf war abgerissen, ein Flügel gebrochen. Die grauen Federn glänzten ölig und hatten eine metallisch rosa Färbung wie Corned beef oder Muschelfleisch. Ich nahm sie bei den blutigen
Schwanzfedern und warf sie in einen Abfallkübel. Zufälligen Zeugen hätte sich ein merkwürdiger Anblick geboten: Ein Barfüßiger kommandiert ein Taubengeschwader, ein übernächtigter Bummler beseitigt dezent eine Vogelleiche. Aber ich machte mir Sorgen, daß der Vogelmann die Leiche entdecken und als seinen Fehler, als eine Art Bruchlandung ansehen könnte. Ich wollte nicht, daß er sich Vorwürfe machte. Ich ging in die Tiefgarage unter dem Platz, um mir die Hände zu waschen. Die Toilette roch sauber. Sie war frisch gewischt und desinfiziert, in den Pissoirs lagen Duftsteine wie riesige Bonbons. Ich legte das Deckblatt vor dem Edelstahlspiegel ab. Die Binden um meine Hände waren verdreckt und zerrissen. Ich löste sie ab und ließ sie wie ein schmutziges Lasso zu Boden fallen. Meine verbrannten Handflächen waren rosa und mit Salbe verklebt. Ich ließ warmes Wasser ins Waschbecken, wusch mir das Gesicht und betrachtete es im vandalensicheren Spiegel. Ich war bleich, hatte dunkle Schatten unter den Augen, mein Hemd war blutverkrustet. Ich öffnete behutsam den Kragen. Die Stelle, wo die Nadel in meinen Hals eingedrungen war, hatte sich schwärzlich verfärbt. Ich betupfte sie mit nassen Fingerspitzen, kein angenehmes Gefühl. Auch der Regenmantel war blutig. Die Kratzer auf meiner Wange, zwölf Stunden älter, konnten schon fast als abgeheilt gelten. Mein Haar schien fettig im Neonlicht, meine Stirn zeigte Falten. Ich massierte sie weg, aber sie kamen wieder. Meine Augen waren ebenfalls wie elektrisiert, weit aufgerissen und blaß, das Weiße gelblich verfärbt. Ich strich mir die Haare glatt, tupfte vorsichtig die Hände an der Handtuchrolle ab und zog meinen Mantel zurecht. Mehr konnte ich nicht tun. Ich ging zurück auf die Straße. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün, ich wählte den weiten Umweg über den Berg, um zum Apollo zu gelangen. Durch die Queen Street kam ich so oft, daß die Leute mich schon kennen mußten. Die alte Frau zum Beispiel, die immer mit verschränkten Armen umhertappte, oder der chinesische Krüppel, der seine eintönige Ballade mit immergleicher Klagestimme vortrug. Den hatte ich den ganzen Winter nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte er Probleme mit seinen geschwollenen, arthritischen Fingern, mit denen er den Bogen seines einsaitigen Instruments führte. Unter den Markisen hatten sich Luftballons verfangen. Die Zeitungsständer waren voll von Schlagzeilen, die mich nichts
anzugehen schienen. Ich lief vorbei und maß sie mit schläfrigem Blick. Im Apollo war schon Betrieb. Eine Trupp Halbwüchsiger, der noch von der Parade übrig war, hing in den Sitzen. Lee klopfte den Espressofilter aus. Ich stellte mich an die Theke. Seine jungen Freunde legten Jacken und Pullover ab, Mädchen entblößten gepiercte Bauchnabel, die Jungen unterteilten sich in muskulöse und magere Typen. Fett war keiner. Mit ihrem Gerede übertönten sie die Musik, sie verglichen ihre Tattoos und fingerten an ihren Second-hand-Schnürstiefeln herum. Zwei küßten sich und erkundeten gegenseitig zärtlich ihre Zahnspangen. Ich bestellte einen großen Schwarzen, Orangensaft, zwei weichgekochte Eier. »Du solltest mal wieder surfen gehen«, sagte ich zu Lee. »Mach mal Pause.« Er schob die Brille hoch und blinzelte mich an. »Ich meine nur, du verdienst es. Du schmeißt den ganzen Laden und solltest mal verschnaufen. Urlaub mußt du dir nehmen, den gibt dir keiner.« Er wußte nicht recht, was er davon halten sollte. »Ich habe die Nacht durchgearbeitet«, sagte ich. »Cool«, erwiderte er. Ich sagte danke, nahm das Tablett und setzte mich hinaus. Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Der Tisch wackelte. Ich faltete das Deckblatt zusammen und schob es unter das zu kurze Tischbein. Dann gab ich mich der Morgensonne und der frischen Brise hin. Der Schatten eines Seevogels schwebte sanft über die Straße auf mich zu und wurde vom Aufwind fortgetragen. Ich streckte meine verkrampften Beine aus. Ein Typ im Nadelstreifen lief vorbei und sprach in sein Handy. Vor dem Eingang des Apollo war er fertig und klappte das Handy zu. »He, Ellerslie«, sagte er. »Du siehst echt Scheiße aus.« »Ich fühl mich prima«, versicherte ich. Mir fiel sein Name nicht ein. »Kein Wunder, nach gestern.« »Nach der Parade?« »Nein, nach Brands. Das Papier ist in den Keller gegangen, nachdem sie gekauft haben. Deine Jungs haben kräftig verloren.« Er kaute irgendwelche Zahlen wieder. »Die müssen stocksauer auf dich sein.« »Es läuft eben mal so, mal so«, sagte ich. »Ich hab hier einen Ausdruck. Willst du sehen?«
»Nein, danke. Laß stecken.« »Wie gewonnen, so zerronnen«, philosophierte er und ging. Irgendwann brachte Lee Salz und Pfeffer, eine frische Serviette, eine Extraportion Butter, Eiswasser und Marmelade. Mit abwesendem Blick setzte er das Tablett ab. Ich nahm die Serviette und schrieb die Zahlen nieder, die der Nadelstreifen mir genannt hatte, addierte und dividierte und starrte auf das Ergebnis. Es war katastrophal. Ich griff nach dem Wasserglas. Es hinterließ einen nassen Ring auf dem Tisch, ich wischte ihn weg, aber er blieb sichtbar. Ich schnupperte an der Marmelade. Aprikose, frisch. Das Apollo hat die beste Marmelade. Manche halten das für nebensächlich, ich nicht. Eine Kleinigkeit von Belang. Ich machte Notizen auf der Serviette: 7.40 Uhr: Jetzt kann Lee keinen Urlaub planen, ohne an mich zu denken. Der erste Einfall des Tages. Ich faltete die Serviette zusammen und schob sie in die Manteltasche. Dabei stieß ich auf eine andere Serviette mit Notizen: Das Telefonkabel so verdreht und dreckig, daß es keine rationale Erklärung dafür gibt. Warum klingen manche alten Platten erstklassig und andere scheußlich. Das Verschwinden der sehenswerten Fernsehfilme. Ich drehte die Serviette um, malte einen Lageplan der Tische vor dem Apollo, gab eine Kurzbeschreibung der Jugendlichen im Café und steckte sie in die andere Manteltasche zur Reinigungsquittung. Bald würde es so warm sein, daß ich den Mantel ausziehen konnte, vielleicht, wenn die Sonne auch die andere Hälfte der Straße aus dem Schatten holte. Die Möwe schwebte wieder auf mich zu, ich wünschte mich an ihre Stelle und hätte ihr stundenlang zuschauen können. Elegant und federleicht im frischen Wind zu segeln, von der Sonne gewärmt, den milden Luftstrom im Gesicht, mit samtener Schwerelosigkeit wie kurz vor dem Einschlafen. Oder dem Sterben. Man sinkt und sinkt, bis man irgendwo zwischen Sein und Nichtsein schwebt. Gibt es da noch etwas, was einen hält? Eine Angst? Ein menschliches Wesen? Kann man sich umdrehen und es berühren, die Stelle zwischen Hals und Schulter küssen? Das Schlimmste: Ich steckte schon zu tief drinnen. Es gab kein Zurück für mich. Mein Leben rutschte mir weg, mein Kopf war so voll, daß ich mich um die einfachen Dinge nicht mehr kümmern konnte. Notizzettel, Anrufe, Akten, Stadtpläne, Fotografien, Briefe – je mehr ich davon ansammelte, um so undurchdringlicher wurden sie. Mit jedem Jahr wuchs diese Schicht und
ließ das Darunterliegende verblassen. Je mehr ich herausfinde, um so mehr habe ich zu befürchten. Alles nimmt überhand, und ich bin der einzige, der es im Griff behalten kann. Und das tue ich. Es ist nicht meine Art, Menschen oder Dinge fallenzulassen. Was geschehen ist, hat seine Bedeutung. Mich interessiert, was vor mir war. Dafür werde ich nicht bezahlt — ich reiße mich auch nicht darum, in diese Dinge verwickelt zu werden. Aber ich bin darin besser als in anderen Jobs. Diese Erinnerungen mit Sinn zufüllen ist am ehesten das, was man als meinen Beruf bezeichnen könnte. Ich blinzelte in die Sonne und spürte die Tränen kommen. Sie rollten mir einfach übers Gesicht. Ich betastete es mit den Händen. Sie spürten alles — den Schmutz, das Öl, die Tränen. Ohne Verband waren sie überempfindlich. Ich verdeckte meine Augen und versuchte mir das Heulen zu verkneifen. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Schultern zuckten. Ich versuchte jeden Laut zu unterdrücken. Ich schnappte nach Luft. Heulen tut gut, aber nicht hier, nicht auf der Straße, nicht so früh am Morgen. Bitte nicht. Alles ging schief. Andere an meiner Stelle hätten das mühelos bewältigt. Welche Demütigung. Ich war am Ende. Diese Leere tat weh. Es war ein schlimmer Schmerz — nicht unerträglich, aber stets gegenwärtig. Wie neue Schuhe. Bei jedem Schritt, ob vorwärts oder rückwärts, drücken sie und machen dir das Leben schwer. Mein Gesicht war rot verheult. Blödsinnigerweise wischte ich es mit der nächstbesten Serviette ab. Ich sah, wie meine Zeichnung verschwamm und verschmierte, und mein einziger Gedanke war: Nun muß ich den Lageplan des Apollo noch einmal zeichnen. Oder auch nicht. Vielleicht kenne ich ihn jetzt auswendig. Vielleicht mache ich es später. Oder ich nehme gleich Fotos auf. Beweismaterial. Ich hatte Brands das Geschäft vermasselt. Und jetzt war ich fertig, erledigt. Die Konzentration eines einzigen Moments, ein Sekundenbruchteil, ein ganzes Leben. Ich hatte Scheiße gebaut. Das Frühstück schmeckte nach nichts.
22
Als ich ins Dilworth ging, winkte mich Louise in ihren Laden. Sie hatte einen kleinen Stapel Zeitschriften für mich zurechtgelegt. Ich dankte und wollte bezahlen, meine alten Schulden begleichen. Sie rechnete alles zusammen, ich kramte den Inhalt meiner Taschen auf den Ladentisch und suchte die Scheine heraus. Ich bat um eine Quittung. Sie holte das Quittungsbuch hinter dem Vorhang hervor, ich wartete lächelnd und glättete die Papiere, die ich aus meinen Taschen gezogen hatte. Die Servietten, die Hotelrechnung, den Reinigungsbeleg. »Fürs Finanzamt?« fragte Louise freundlich, als sie wiederkam. Ich nickte. »Das liebe Geld.« »Ja«, sagte ich, »das liebe Geld.« Jetzt mußte ich mich wirklich um meine Finanzen sorgen. Während Louise die Zeitschriftentitel auf die Quittung schrieb, schaute ich mir die Hotelrechnung an. Die Unterschrift war nicht zu lesen. Vielleicht konnte ich sie wirklich als Geschäftsaufwand von der Steuer absetzen. Und auch die Reinigungskosten. Ich drehte den Reinigungsbeleg um und las die Zimmernummer. Es war eine andere als auf der Hotelrechnung. Wilhelmina war in der Nacht im Hotel gewesen, aber in einem anderen Zimmer. Ich kam mir wie ein Trottel vor. Louise überreichte mir die Quittung und schob die Zeitschriften in eine Tüte. Ich fuhr hinauf. Im Büro roch es muffig. Ich suchte die Fotokopie des Tagebuchs heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Die Abzüge waren grau, die schwarzen Buchstaben weiß umrandet. Das war nun alles, was ich hatte. Eine Kopie von schlechter Qualität. Ich rief im Hotel an und verlangte die Zimmernummer auf dem Reinigungsbeleg. Doch ich wußte schon, es war die Nummer der Luxussuite, in der ich das erste Mal mit Wilhelmina geschlafen hatte. Zwischen ihr und meinem Zimmer von letzter Nacht lagen vier Stockwerke mit langen, kalten Fluren, Messingnummern und aufgeschlagenen Betten. Für den Zimmerservice wählen Sie bitte die Null. Hitchcocks Berüchtigt im Videokanal. Ich hielt den Hörer ans Ohr und wartete, bis die Rezeptionistin einen Hotelgast abgefertigt hatte. Ein Mann meldete sich.
Ich verstellte meine Stimme und hustete, ging ans Fenster, um den Verkehr ein wenig einfließen zu lassen. »Hallo?« rief er erneut. Ich seufzte. »Ist sie da?« Jetzt war er es, der schwieg. Er dachte nach. »Im Moment nicht«, sagte er. »Mein Name ist Penrose. Ich wollte ihr nur für das Zimmer danken. Wo steckt sie denn?« Er schnaufte. »Das geht mich nichts an.« »Wie lange ist sie schon weg?« »Eine ganze Weile.« »Wann kommt sie zurück?« »Um dieselbe Zeit wie immer.« »Ich muß sie sprechen.« »Schon recht. Penrose also. Wir haben denselben Anfangsbuchstaben.« Ich drehte mich um und warf einen Blick auf das Tagebuch. Der Toner schien sich in der Sonne zu verflüchtigen, die Kopie schien zu verblassen. Palmers Eltern, sein Lehrmeister, seine Flucht im U-Boot, alles würde langsam verschwinden. Ich warf einen langen Schatten auf den Fußboden, meine Hand mit dem Hörer ins Riesenhafte vergrößert. »Bitte legen Sie nicht auf«, sagte ich. »Warum sollte ich? Es ist nett, mit Ihnen zu plaudern. Sie gehören zum Bekanntenkreis von Madame?« »Ja. Ich bin ein guter Bekannter.« »Sie hat viele gute Bekannte.« Er lachte auf. »Und hat viel Ablenkung zu bieten.« »Ablenkung ist wichtig.« »Allerdings. Ein wahres Wort. Ihrem Tonfall entnehme ich, daß Sie wissen, wovon die Rede ist. Heutzutage ist alles so abgeschmackt, so bunt und laut — man kann das einfach nicht billigen. Im Laufe meines Lebens« — er machte eine Kunstpause — »ist die Menschheit immer gieriger nach Farbe geworden. Eine verhängnisvolle Entwicklung. Dieser Hunger nach Pigmentierung, nach grellen Tönen. Alles, aber wirklich alles ist heutzutage so bunt und so hektisch.« »Sie haben viel gesehen«, sagte ich. »Das kann man sagen.« Er klang gelangweilt. »Eine Vielfalt, die furchtbar beschränkt ist. Die Menschheit muß alles erforschen. Wo bleibt das Geheimnis? Als ich zur Welt kam, war der Himmel noch groß. Und es war mehr vorstellbar, weil weniger bekannt war. Die Wissenschaft kannte ihren Platz. Mich über-
rascht, daß man ihr jetzt so viel Aufmerksamkeit schenkt. Warum laßt ihr euch so von Zahlen faszinieren? Was bedeuten schon Zahlen? Zahlen sind nicht das Wichtigste. Ich gestehe, ich kann mich nicht daran gewöhnen. Man sagt mir, daß es nötig ist, aber in dieser Welt hatte ich nie einen Platz. Ich war immer ruhelos, immer unterwegs. Ich habe mir viele Orte angesehen, in der Hoffnung, irgendwo Halt zu finden, aber vergeblich. Die Welt ist sich überall gleich, bei aller Vielfalt. Eine Monotonie, die mich langweilt. Aber hier bin ich geblieben. Manchmal fällt es mir schwer, meine Existenz mit anderen Dingen in Einklang zu bringen, die überlebt haben. Diese Stadt ist mit Eifer dabei, ihre Vergangenheit auszumerzen. Was alt ist, wird abgerissen. Hat es einen Wert, wird es verkauft. Diese Stadt hat für die Vergangenheit nichts übrig, und das gefällt mir an ihr. Mit meiner Heimatstadt habe ich mich nie wieder befaßt. Erst vor kurzem fiel mir der Stadtplan im Atelier meines Vaters ein. Die Häuser standen so dichtgedrängt, daß der Plan wie eine rissige Haut aussah, und die Risse waren die Straßen und Gassen. So hatte ich den Stadtplan in Erinnerung. Später begriff ich meinen Irrtum. Es war kein Stadtplan, sondern eine anatomische Tafel, der Aufriß eines Körpers mit Haut und Knochen, nicht meine Heimatstadt. Als solche habe ich sie auch nie empfunden. Ich war ein ruheloses Kind. Wenn meine Eltern sich fotografieren ließen, war ich auf den Bildern immer verwackelt. Ihre Köpfe waren wie festgeschraubt, aber ich war nur eine verschwommene Wolke vor einer gemalten Landschaft. Ich glaube jedoch nicht, daß sie wirklich meine Eltern waren. Ich bin das Kind eines Vagabunden.« Er lachte verächtlich. »Ich weiß nicht, warum ich jetzt darauf komme. In den letzten Wochen sind mir viele alte Geschichten eingefallen. Ich werde von meinen jungen Jahren heimgesucht. Die habe ich aufgezeichnet, müssen Sie wissen. Schon als Kind habe ich ein Tagebuch geführt. Ich habe alles zum Schreiben benutzt — Buchseiten, Taschentücher. Ich wollte alles genau festhalten, und das aus gutem Grund. In Amerika arbeitete ich einmal bei einem Zauberkünstler. Ich brachte ihm seine Tricks bei. Er notierte sie in einem Buch, und als es mir in die Hände fiel, stellte ich fest, daß er sich als Lehrer und mich als Schüler darstellte. Sie können sich wohl denken, daß mich dieser Undank vor den Kopf stieß. Ich persönlich mußte diese Dinge Punkt für Punkt berichtigen. Und tatsächlich verunglückte er,
noch bevor ich damit fertig war. Er wurde ein Opfer seiner Unerfahrenheit. Ein Dummkopf. Dennoch ...« Er verschluckte den Rest des Satzes und setzte neu an. »Als ich Miranda fand, war sie auch nicht klüger. Saß in ihrem Bordellzimmer und schluchzte. Ein blasses, ausgehungertes Geschöpf. Ohne mich wäre sie vor die Hunde gegangen wie die anderen. Ich habe uns eine Bleibe gesucht und ihr aus der Patsche geholfen. In den nachfolgenden Jahren haben wir so komfortabel gelebt, wie es die Umstände erlaubten. Sie hatte keine Manieren und mußte sich erst an meine städtischen Umgangsformen gewöhnen, was ihr allmählich auch gelang. Als wir hier ankamen, beherrschte sie die einfacheren Dinge schon ohne Anleitung. Wir mußten uns diskret verhalten. Sie begriff dann auch die Vorteile des bürgerlichen Lebens. Ihre Freier waren natürlich enttäuscht. Heutzutage schreibe ich keine Tagebücher mehr«, erklärte er amüsiert. »Ich zeichne meine Gedanken auf, mit einem elektrischen Gerät, einem weißen Kasten, der neben meinem Bett steht. Wenn ich den Mund aufmache, schaltet er sich ein und nimmt alles auf, was ich sage. Es klickt, die kleinen Spulen drehen sich. Eine endlose Zahl von Wörtern. Ich spule sie nie zurück. Ich habe soviel Zeit damit verbracht, alt zu werden, verstehen Sie, ich habe auf so vieles verzichtet, was die Jugend für unentbehrlich hält, daß es absurd wäre, mir all diese Dinge noch einmal anzuhören. Ein leeres Echo, aber keine wirkliche Erinnerung.« Er stockte. »Wenn ich nachts wach werde, allein in der Dunkelheit, und es befällt mich die Angst, fange ich an zu sprechen, und die Maschine schaltet sich ein. Sie macht klick, und es geht los. Das ist besser als die Einsamkeit.« Er räusperte sich. »Das Gerät hat einiges gekostet. Aber ich hatte Geld. Im Lauf der Jahre habe ich ohne besondere Absicht vieles gesammelt. Man kann nie wissen, was davon wertvoll wird. Mal sind es Kämme, dann Teppiche, dann Uhren oder Knöpfe. Alltagsdinge, an denen nichts Besonderes ist, nur daß sie älter sind. Anfangs habe ich das nicht begriffen, aber genau danach gieren wir. Wir wollen mit dem Alter immer wertvoller, immer geschätzter werden. Verstehen Sie? Wir streichen den Wert der alten Dinge heraus und hoffen damit unseren eigenen Wert zu steigern.« Er lachte verächtlich. »Wie töricht! Auf die Händler war nicht der geringste Verlaß. Hinter meinem Rücken begannen sie ihre eigenen Ziele zu verfolgen und bedrohten
meine Existenz. Sie ließen sich mit einem schwachköpfigen Amateur ein, der meinen Aufenthalt, meine Vergangenheit herausposaunte. Das war ein unerträglicher Einbruch in meine Privatsphäre, der Gipfel der Zumutung. Ich bin alt und schwach und habe niemandem Anlaß zu einer solchen Behandlung gegeben. Es war eine grobe Rücksichtslosigkeit, eine Schandtat. Ich gestehe, sie hat mich erbost.« Das Gesicht von Tad Ash. Grau und zerschnitten. »Aber das ist vorbei«, versicherte er. »Die Herren sind nicht mehr im Geschäft. Wir sind alle mit den gleichen Chancen gesegnet, und ich habe das Beste aus den meinen gemacht. Ich kann nur mein Bedauern ausdrücken, mein aufrichtiges Bedauern, wenn andere nicht den rechten Pfad gewählt haben. Die Welt wimmelt von Gaunern, ich muß mich vor ihnen schützen. Ich lebe sehr zurückgezogen. Ich meide diese Menschen.« »Sie reisen mit leichtem Gepäck.« »Im Gegenteil, ich schleppe sehr viel mit mir herum.« Er klang belustigt. »Deshalb beschäftige ich momentan ein paar Helfer. Aber selbst auf die ist kein Verlaß. Kaum fangen sie an, wollen sie Urteile über mich fällen. Ich kann mich selbst beurteilen, im Licht vieler Ereignisse, und diese Menschen haben keine Ahnung, die zählen überhaupt nicht. Sie sind viel zu beschränkt, um das wahre Ausmaß zu begreifen. Sie würden erblassen, wenn sie wüßten.« Ich ließ ihn eine Weile schweigen, dann nahm ich Anlauf. Ich räusperte mich. »Als ich das P sah, dachte ich, es hätte mit mir zu tun, mit meinem Namen. Vielleicht habe ich etwas von Ihnen in mir erkannt, vielleicht hatte ich das Gefühl, Sie zu kennen. Aber dann las ich Ihre Schriften und traf ein paar Ihrer Bekannten und wußte, daß es nicht der Fall war.« »Meine Schriften?« fragte er verwundert. »Ich habe Ihr Tagebuch.« Ich legte die Hand auf den Papierstapel. »Ich habe es gelesen. Es wurde mir anvertraut.« »Unmöglich.« »Sie haben zwar viel getan, damit es nicht in falsche Hände gelangt, aber nicht genug.« Ich blätterte in den Seiten. 1875, der schwarze Tunnel, der Zug. »Ich habe einen Toten gesehen. In einem Durchgang. Tad Ash. Am ganzen Körper zerschnitten.« 1929: ein Entfesselungskünstler, dessen Kunst versagte. »Ein paar Tage später kam sein Zwillingsbruder Dede Ash um. Eingesperrt in sein Haus und bei lebendigem Leib verbrannt.« Das Negativ mit der Blondine, der tote Zahn. »Und
die Frau, die bei ihm war, verbrannte auch. Eine alte Frau. Madame Sunde. Miranda Sunde.« Mit meiner verbrannten Hand verstreute ich die Seiten über den Schreibtisch. »Sie ist tot. Sie kam in den Flammen um. Und wenn ich nicht so lange gebraucht hätte, um hinzukommen, wäre ich auch tot.« »Ich habe Miranda heute gesehen. Sie war, wie ich sie immer gekannt habe«, sagte er. »Sie besucht mich jeden Morgen, wenn sie ihre Geschäfte erledigt hat. Sie knöpft ihren Mantel auf; setzt sich ans Fußende des Bettes. Sie erinnert sich an alles. Die Orte, die wir bereist haben, die Menschen, die wir kannten. Sie hat ein frisches Gedächtnis. Und am Nachmittag geht sie wieder. Sie zieht den Mantel an und gibt mir einen Kuß.« Ich rieb mir die Stirn und versuchte die Fäden zu sortieren. »Und wann kommt sie zurück?« fuhr ich ihn an. »Morgen früh kommt sie wieder zu mir. Sie zieht sich aus. Was für ein Anblick! Schön wie eh und je. Wir werden uns unterhalten wie jeden Tag. Stundenlang. Es gibt so viele Erinnerungen. Sie war meine Reisegefährtin, wir haben so viel zusammen erlebt. Sie kennt Millionen Einzelheiten, die mein verkalktes Gehirn längst vergessen hat. Sie beschreibt mir die Moden von damals, die Hüte und Handschuhe, die sie trug. Wir besinnen uns auf die Empfänge, die wir besucht haben, die Gäste, die Gespräche. Miranda hat sich immer für Klatsch und Intrigen interessiert, und ich sorgte dafür, daß sie selbst im Mittelpunkt der Ereignisse stand. Unter meiner Obhut blühte sie auf, und diese Metamorphose machte mir große Freude. Wenn ich noch unter Menschen ginge, würde ich sie nur zu gern immer noch ermuntern und animieren. Am Nachmittag also geht sie und kümmert sich um ihre Geschäfte. Manchmal wünschte ich, ich könnte sie begleiten und beaufsichtigen, aber sie braucht das Gefühl, alles allein zu schaffen. Und ich weiß, daß sie zurückkommt, wenn sie sich langweilt. Und tatsächlich, am nächsten Morgen sitzt sie wieder bei mir, trotz ihrer Arbeit frisch, jung und ausgeruht, und das ist herrlich, denn in den nachfolgenden Stunden haben wir so viel zu besprechen. Ich kenne sie schon lange, sehr lange. Wir haben viel gesehen, viele Menschen kennengelernt. Ich könnte endlos mit ihr darüber plaudern. Bevor sie sich hinsetzt, zieht sie ihren Mantel aus und hängt ihn über den Stuhl. Und das erregt mich. Am Ende ihres Besuchs zieht sie den Mantel wieder an und geht. Sie hat viel zu tun, geschäftlich und privat, es wäre un-
gehörig, sie am Gehen zu hindern. Warum auch? Sie kommt am nächsten Morgen wieder. Sie tritt ein, legt den Mantel ab, und dann reden wir. Stundenlang. Bis sie gehen muß ...« Seine Stimme wurde immer höher, als sich seine Geschichte im Kreis drehte. »Ich liebe sie«, stieß er plötzlich hervor. »Ich habe sie immer geliebt. Immer. Sie versteht mich. Nach all den Reisen, nach all den Jahren. Sie weiß, warum sie hier ist. Niemand sonst hat diesen Glauben. Ihr mit eurer Wissenschaft. Ihr seht euch nur als Kombination chemischer Elemente, ihr sucht eure Bedeutung in dem wertlosen Kram, den ihr vorfindet, ihr tröstet euch mit Statistiken, die euer Dasein rechtfertigen sollen. Merkt ihr nicht, daß ihr gar nicht aus eigenem Willen lebt, sondern nur, weil die Wissenschaft sagt, daß ihr Lebewesen seid? Wenn morgen jemand eine Formel erfindet oder eine Theorie, die besagt, daß ihr überflüssig seid, schafft ihr euch selber ab. Aber ich lebe aus eigenem Willen. Ich bin hier, weil ich es will.« »Dann möchte ich gern mit Ihnen reden. Ich möchte Sie besuchen.« »Sie werden nicht das finden, was Sie erwarten. Keinen Nosferatu.« »Ich will nur den Mann sehen, der hinter all dem steckt.« »Da gibt es nichts zu sehen«, erwiderte er. Ich warf den Hörer hin und rannte los. Aus dem Büro, durch den Flur, die Treppen hinab, durchs Foyer. Louise trug gerade eine Mülltüte hinaus. »Sie haben's aber eilig, Mr. Penrose! Verpassen Sie nur nicht Ihr Rendezvous!« Die Straßen waren kupfern durchglüht, verstopft von Autos und Fußgängern, braungebrannten Touristen, überall krumme Rinnsteine, jaulende Alarmanlagen. Ich rannte, rannte, rannte. Vier Querstraßen, um die Ecke, noch eine Querstraße, eine Einfahrt, eine lange Ladenfront mit leeren Schaufenstern und signalrotem Schild Ladenräume zu vermieten. Wie schnell ich rennen konnte. Alles um mich zerfiel in sinnlose Partikel, doch wenn ich den Mann erreichte, wenn ich ihn fand, bekam alles wieder Sinn. Der Atem ging mir aus. Er hatte mir den Atem genommen, ich mußte ihn zurückholen. Und wie ich rannte! Ich rannte mit Straßenschuhen und Krawatte, ich hechtete, stolperte, rutschte, flog hin, sprang auf und rannte weiter. Ich brüllte Passanten an, die im Weg standen, ich schlug um mich, stieß eine Frau weg, ich rannte. Ich maß jede Unebenheit des Pflasters, jeden
schiefen Rinnstein, Papierkorb, Lampenmast, ich spuckte auf den Stoßverkehr, die Arbeitswoche, die blöden Zeitungsverkäufer. Nur als Kind war ich so gerannt. Als Stürmer war ich der Schnellste. Im Bogen übers Spielfeld und näher ans Tor als alle anderen. Dann die Riesenhand, die mich knapp verfehlt, weil ich abtauche, durchstarte – und weg. Während der Kerl auf den Knien durch den Dreck schlittert. Mann, das war gut, ihr hättet mich sehen sollen. Vier Querstraßen, um die Ecke, noch eine Querstraße. Am Regent fuhr eine Limousine vor. Ich wich ihr aus, hastete die Treppe hoch, an dem verdutzten Hotelboy vorbei, durch die blitzende Glastür, quer durch die Lobby, und alles drehte sich um. Der Portier griff schon zum Telefon, Bedienstete wollten mir den Weg abschneiden, aber ich war schneller, nahm zwei Stufen auf einmal, ignorierte den Lift. Als ich den achten Stock erreichte, war mir so schwindlig, daß ich mich festhalten mußte. Ich riß gerahmte Lithographien von der Wand, ein Blumentopf polterte die Treppe hinunter und verstreute Erde. Ich sah mich nicht um. Durch den Flur, vorbei am Lift, jemand kam heraus, ich schob ihn weg und brüllte: Weg hier! Schlug gegen die Wände. Ich schrie ihm entgegen, kündigte meinen Auftritt an, rief mein Publikum zusammen. Ich trat gegen Zimmertüren, sie flogen auf, dahinter waren Leute, die sich anzogen, fernsahen, sich küßten oder allein waren, Alte, Junge, Reiche, Leute mit Familie und mit Hautkrankheiten, mit blauen Slips, Schläfer mit zerzaustem Haar. Geschockte, fragende Gesichter, Wut, doch sofort begriffen sie, daß etwas Wichtiges, etwas Außergewöhnliches passierte, und wichen zur Seite. Sie kamen nicht aus den Zimmern, streckten nicht einmal die Köpfe heraus, nachdem ich hineingebrüllt hatte: Wo ist Palmer? Sie wußten, wie man sich bei außergewöhnlichen Vorkommnissen verhielt. Im Zimmer bleiben! Wo ist Palmer? Das Erkerfenster. Am Ende des Flurs, wo dieser eine Biegung um 45 Grad machte, sah ich ihn am Erkerfenster stehen, von dem man auf die Stadt hinabblickt. Groß, weißer Pferdeschwanz, langer Mantel, karierte Hose. Er wandte mir den Rücken zu. Schaute aus dem Fenster. Palmer, brüllte ich, aber er drehte sich nicht um. Er wartete auf mich, ich rannte auf ihn zu, ich mußte ihn erwischen, mit meinem ganzen Gewicht niederstrecken, noch drei Schritte, zwei, ich streckte die Arme aus und sprang. Und
dann sah ich auf seinen Schultern mein Spiegelbild in der Scheibe. In dem Bruchteil der Sekunde, bevor ich die Scheibe durchschlug, drehte er den Kopf und blickte mich an. Ein altes, zerklüftetes Gesicht, hellblaue Augen – und er lachte. Lachte, weil er mich genarrt hatte. Er stand nicht vor mir, sondern hinter der Biegung des Korridors, es war sein Spiegelbild, auf das ich mich stürzte, und ich krachte mit voller Wucht in das Fenster des achten Stocks. Der billigste Trick der Welt. Das Fenster explodierte, und ich flog, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Kühlender Wind umfing mich, ich drehte mich im Fall, um Palmer zu sehen, aber ich sah nur die dunkle Fensteröffnung, umkränzt von Scherben, die glitzernd in alle Richtungen sprühten. Meine Füße versperrten mir den Blick. Der achte Stock blieb über mir zurück. Ich krallte die Finger in die Luft, starrte an meinen Füßen vorbei, aber er war verschwunden. Ich hatte ihn verfehlt. Ich tat, was ich konnte, ich ruderte mit den Armen, um meinen Fall abzubremsen. Die Stockwerke sausten vorbei. Vorhänge, Vogelscheiße, Regenspuren, vielleicht auch Gesichter, die mir nachschauten. Ich versuchte den Kopf nach oben zu bekommen. Es war nicht leicht, der Wind war mein einziger Halt, ein verrückter Gedankenblitz schoß mir durch den Kopf: Jetzt war mein Frühstückswunsch in Erfüllung gegangen, ich schwebte wie eine Möwe. Für einen Moment hörte ich auf zu rudern und warf einen Blick auf die Stadt, auf den Hafen, auf die Berge und den Himmel darüber. Die Stadt war ausgebreitet wie ein Poncho, golden und schokoladenbraun in der Abendsonne, die Luft war mild. Die Leute in der Stadt redeten, lachten, durchlebten diesen Moment auf ihre Weise, so in ihren ganz eigenen, notwendigen und normalen Alltag vertieft, daß seine Anmut für immer verborgen bleiben mußte. Ich fiel nicht, ich flog. Ich breitete die Arme aus. Ich streifte mehrere Hindernisse und schlug auf dem Parkplatz auf. Ob ich vom Boden abprallte, weiß ich nicht. Ich lag da. Tot.
3- Teil
Erst traute sich niemand in die Nähe. Eine Frau schrie. Dann bildete sich allmählich ein Kreis aus bleichen Gesichtern. Sie kamen zögernd näher, flüsterten hinter vorgehaltener Hand. Der Hotelboy drängte sie zurück, aber er war genauso hilflos. Die Leute standen da und traten von einem Bein aufs andere. Ein Polizeiauto hielt. Der jüngere der beiden Polizisten stieg aus, rückte die Mütze zurecht und kam herüber, unter seinen Sohlen knirschten Scherben. Er bückte sich und berührte meinen Hals. Die Frau schrie wieder. Der Polizist fragte, ob es Zeugen gäbe. Während die Gaffer losplapperten, blickte er zum zerbrochenen Fenster des achten Stocks auf, dann auf das plattgedrückte Farnkraut am Rand des Parkplatzes. Er ging zurück zum Auto und sprach eine geraume Weile in sein Funkgerät. Auf der Straße staute sich der Verkehr, weil die Fahrer bremsten, um zu sehen, was passiert war. Der andere Polizist öffnete den Kofferraum, nahm einen Stapel orangeroter Verkehrskegel heraus und sperrte die Hotelzufahrt ab. Eine Rolle aus gelbem Plastikband mit der Aufschrift POLIZEISPERRE BETRETEN VERBOTEN befestigte er mit einer häßlichen Schleife am Treppengeländer. Im Rückwärtsgehen entrollte er das Band. Seine schweren Schuhe zerwühlten den Hotelvorgarten, als er das Band an den Sträuchern entlangzog. Er umrundete die Sträucher, die Stützpfeiler des Vorbaus und einen Stapel Gepäckkarren, bis der Hoteleingang versperrt war, machte einen weiteren Knoten und riß das Ende mit den Zähnen ab. Er klopfte seine Schuhe ab und ging zum Auto zurück. Der jüngere Polizist duckte sich unter der Absperrung durch, er hatte ein Notizbuch und eine Pappschachtel bei sich. Er löste mir die Uhr vom Handgelenk, las die Zeit ab, verstaute sie in einem Plastikbeutel und schob ihn in die Tasche. Schöne Schuhe, sagte er. Dann hockte er sich hin, durchsuchte behutsam meine Jacke, bis er die Brieftasche fand. Er studierte den Inhalt, schrieb meinen Namen auf, legte Brieftasche und Notizbuch zur Seite, klappte die Schachtel auf und entnahm ihr mit spitzen Fingern ein Stück Kreide. Er blies den Staub von der Kreide, dann zeichnete er meinen Umriß auf den Asphalt. Er
begann bei den Füßen und stieß mit der Kreide gegen meine Sohlen. Als er bei meiner Hüfte angelangt war, stockte er, weil ich hustete. Die Frau schrie erneut, der Polizist sprang erschrocken zurück, ich wollte mich aufrichten und ihm sagen, daß ich lebte, aber die Anstrengung war zu groß, und diesmal trat ich wirklich ab. Ich wachte in einem weißen Raum auf, in einem harten Gipsbett. Mein Hals steckte in einem breiten Stützkragen, der am Kinn scheuerte. Ein dünner Schlauch steckte in meinem Mund, irgendwas im Bauch tat scheußlich weh. Ich konnte mich nicht regen, lauschte auf meinen Atem und das Rauschen in den Ohren. Meine Hände waren warm. Ich starrte in das Gewirr von Seilen und Gewichten über mir und sah mein Spiegelbild im glänzenden Edelstahl – ein heller Fleck im weißen Mull. Ein Arzt kam herein und sprach mich an. Erst nach mehreren Besuchen verstand ich seinen Namen und was er sagte. Dr. Garbo war klein, unrasiert und schlurfte in Sandalen umher. Er saß gern an meinem Fußende, die Krankenakte auf den Knien, und erzählte mir stundenlang Witze und Geschichten über die Schwestern. Mein Körper würde sich selbst reparieren, und alles würde heilen, versicherte er mir ständig. »Oft wird die Wirbelsäule verletzt, und dann ist Schluß. Aber Sie können bald wieder laufen. Sie haben sagenhaftes Glück.« Ich konnte nichts erwidern. Es waren nicht nur die Schläuche, die mich am Reden hinderten, mein Mund steckte voller Wörter, die hinauswollten. Wenn ich zum Sprechen ansetzte, stellten sie sich quer, die Angst kam wieder, und ich sah mich fallen. Dr. Garbo fing mich jedesmal auf, indem er meine freiliegenden Fingerspitzen ergriff. »Bald können Sie reden«, versprach er mir. »Jetzt wirken die Beruhigungsmittel noch.« Er lächelte. »Habe ich Ihnen schon das neueste von meinem Kollegen erzählt?« Und er erzählte mir die ganze Geschichte, ohne meine Hand loszulassen. Als ich so kräftig war, daß ich sprechen konnte, fragte er mich, wie es zu dem Fenstersturz gekommen war, und irgendwann, nach vielen Stunden, kam ich auf Palmer. Es kostete mich größte Mühe, mit steifer Zunge alle Einzelheiten aufzuzählen, aber Dr. Garbo lauschte gespannt und störte sich nicht an meinem Genuschel. Er machte Notizen und verglich meine Auskünfte mit seinen Aufzeichnungen. Allmählich machte er
sich ein eigenes Bild aus meinen wirren Berichten und hob einzelne Dinge hervor, die ich bisher nicht beachtet hatte. Obwohl es mich anstrengte, so lange zu reden, spürte ich, daß er mich von einer großen Last befreite. Zumindest am Anfang. Als ich nämlich zum Ende meiner Geschichte kam, wich die Erleichterung der Verunsicherung. Dr. Garbos Fragen wurden seltsam, fast kränkend, und ich fragte mich, worauf er hinaus wollte. Er hatte ungewöhnlich viel Zeit für mich geopfert, seine Witze waren nicht besonders gut, und jetzt fragte er mich nach Dingen, die weder mit Palmer noch den Begleitumständen unserer Begegnung zu tun hatten. Sein Ton war ernst, aber er schweifte unbekümmert immer weiter vom Thema ab. Ich wurde wütend, trotz der Beruhigungsmittel. Ich bäumte mich gegen mein Gipskorsett auf, bis er mich zur Ruhe mahnte und sein Notizbuch weglegte. Dann entschuldigte er sich und schlurfte hinaus, worauf ich wieder in Schlaf versank. Mein Klinikschlaf blieb tief und fest, die Wachzeiten wurden durch Medikamente reguliert, ich wachte plötzlich auf, ohne zu wissen, wieviel Zeit verstrichen war. Auch die Träume wurden von den Schlafmitteln unterdrückt, daher wußte ich, daß ich nicht träumte, als ich Miranda Sunde an meinem Bett stehen sah. Sie sah genauso aus wie beim ersten Mal vor dem Dilworth. Der Ledermantel war abgetragen und regenfeucht. Blonde Strähnen fielen ihr in die besorgte Stirn. Sie drehte den Kopf zur Seite, um mein Gipsbett zu begutachten, und schien verwirrt. Sie biß sich auf die Lippe, und ich sah ihren toten Zahn. Dann wandte sie den Kopf. Sie wollte ihr Profil zeigen, ich sollte sie genau anschauen, jeden Winkel ihres Gesichts. Ich war ihr stummes Publikum, meine Zunge war von Beruhigungsmitteln betäubt. Verzweifelt versuchte ich, Worte zu formen. Ich mußte mit ihr sprechen, damit sie blieb, nicht wieder fortlief. Ich blinzelte sie an, meine Zunge war gelähmt, mein Mund wie vernagelt, mein Atem ging schwer. Da stand sie, direkt neben mir, ihr Gesicht war nur Zentimeter entfernt. Mitleidig legte sie mir die Hand auf die Stirn, strich mir über die Wange, beugte sich herab und küßte mich auf den Mund. Sie setzte sich auf die Bettkante, wischte sich Tränen ab und betrachtete mich schweigend. Dann neigte sie wie abwesend den Kopf, schob beide Daumen unter ihren Haaransatz und zerrte die blonde Perücke herunter. Zum Vorschein kam ihr
halblanges schwarzes Haar. »Es tut mir leid«, sagte Wilhelmina und warf die Perücke aufs Bett. Meine Schläfen hämmerten, plötzlich spürte ich den Gipspanzer wie eine Fessel, wie ein Gefängnis. Ich spürte meine Ohnmacht, meine Unfähigkeit zu reagieren. Ich konnte sie nicht in die Arme nehmen, ich konnte nicht schreien, kein Wort, kein Kuß war mir möglich. Die Perücke lag außer Reichweite, die Taschen ihres Regenmantels waren außerhalb meines Blickfelds. Ihr Gesicht sah ich nur, solange sie sich über mich beugte. Ich wollte, daß sie blieb, daß sie mir alles erklärte, aber ich konnte sie nicht einmal darum bitten. Ich konnte nur warten und hoffen. Eine Sekunde verging, die nächste, ein ganzes Jahr. Sie wischte mein Gesicht ab, dann ihr eigenes. Ich holte Atem. »Hattest du jemals Wahnvorstellungen, Ellie?« fragte sie schluchzend. »Hast du schon mal Träume für wirklich gehalten? Hast du nachts wachgelegen, Gespenster gesehen und Stimmen gehört? Bildest du dir Telefonanrufe ein, die gar nicht stattgefunden haben? Liest du Botschaften von einem leeren Blatt?« Ich schluckte. Sie schob die Hand unter meine Nackenstütze. »Hast du Sinnestäuschungen, Ellerslie Penrose? Ziehst du dich aus der Gesellschaft zurück, meidest du Menschen, wenn sich ihre Auffassungen nicht mit deinen decken? Hast du fixe Ideen, bist du hyperaktiv? Paranoid? Leidest du unter Schlaflosigkeit? Schlafstörungen?« Ihre Stimme zitterte. »Hast du Selbstmordgedanken? Hast du jemals versucht, Schluß zu machen, zum Beispiel von einem Gebäude zu springen?« Wieder liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Das ist es, was Dr. Garbo wissen will. Er hat mir laute solche Fragen gestellt. Du wirst hier als Suizidversuch geführt, Ellie. Sie sagen, du leidest an Schizophrenie und hattest gerade einen akuten Schub.« Sie blickte mir in die Augen. »Sie sagen, du bist sehr krank.« Ich holte tief Luft. »Ich bin nicht verrückt.« »Oh, ich weiß«, sagte sie nickend. »Ich weiß.« »Palmer, was ist mit Palmer?« »Der ist weg. Er war gerade am Packen, als du ihn ... anriefst. Wahrscheinlich ist er an dir vorbeigegangen, als du unten lagst. Der Hotelboy sagt, er stieg in ein Taxi. Und weg war er.« Wilhelmina stand auf, der Schatten des Flaschenzugs an der Decke bewegte sich. Sie sprach mit den Schwestern. Ich schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, knöpfte sie den Mantel auf, legte ihn aufs Bett und setzte sich wieder. Ich stellte
ihr Fragen, eine nach der anderen, sie streichelte meine Hand und gab mir Antwort. »Ich hab den Job über ein Mädchen vom Club bekommen.« Sie räusperte sich. »Ich war im Cot Club, und das Mädchen meinte, ich könnte da auch anfangen, wenn ich Lust hätte. Dazu habe ich nichts gesagt. Eine Woche später rief mich Madame Sunde an. Sie hätte mich im Club beobachtet. Wir haben uns nie gesehen, immer nur telefoniert. Sie meinte, ich sei was Besonderes, nicht so wie die anderen Mädchen, ich könne selbständig agieren. Daß sie reden konnte, weißt du ja«, sagte sie lächelnd und strich mir eine Strähne aus der Stirn. »Ich sollte mich als eine andere ausgeben und mit diesem Mann reden. Nur reden. Zweihundert Dollar die Stunde. Also sagte ich zu. Sie schickte mir das Foto einer blonden Frau, Kleider, diese Perücke ... Alles paßte, sie hatte an meiner Dienstuniform Maß nehmen lassen. Auf einer handgeschriebenen Liste standen Dinge, die ich auswendig lernen mußte, Erinnerungen an bestimmte Orte und Ereignisse. Ich sollte das Mädchen Miranda spielen, das einen Mann namens Palmer liebt. Als sie den besonderen Akzent beschrieb, den ich mir angewöhnen sollte, dämmerte mir, daß Miranda Madame Sunde war, daß ich sie spielen sollte. Irgendwie gefiel mir das nicht – ich fand es alles unheimlich. Ich rief sie an und sagte ab. Sie regte sich fürchterlich auf. Sie sagte, der Mann sei krank, sie könne ihn nicht mehr sehen. Nur über mich konnte sie mit ihm in Verbindung bleiben, vermute ich. Es war traurig, aber ich sagte trotzdem ab. Dann kriegte ich Gewissensbisse und rief sie wieder an. Sie bot mir noch mehr Geld.« Wilhelmina zuckte die Schultern. »Ich machte mich zurecht, wie sie es verlangte, und fuhr mit dem Taxi ins Regent. Mir zitterten die Knie, als ich durch die Lobby ging, aber es war eine andere Schicht, und mit der Perücke und dem Mantel erkannte mich niemand. Es war seltsam: Im selben Moment, als ich das merkte, verwandelte ich mich in eine andere. Ich mußte nicht nach dem Weg fragen, ich fuhr einfach hoch in den achten Stock und klopfte an die Tür. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, einen Greis im Rollstuhl oder etwas dergleichen. Als er öffnete, übte ich noch im stillen den fremden Akzent. Er war groß und dünn und trug einen komischen Anzug mit hochgeknöpftem Jackett. Er hatte graues Haar und einen Pferdeschwanz. Lange, schmale Hände. Sein Blick war sehr wach. Er lächelte beinahe, und ich lächelte zurück. Er nannte
mich Miranda und bat mich herein. Dann setzte er sich aufs Bett und wartete. Mir wurde schlecht. Ich dachte, jetzt mußt du da durch, das eine Mal wirst du's überstehen. Also fing ich an zu reden, ich erzählte die Geschichten, die Madame Sunde mir aufgeschrieben hatte, mit verstellter Stimme. Ich zog den Mantel aus, wie sie es verlangt hatte, dann« – sie machte eine verlegene Geste – »die anderen Sachen. Ich redete und redete, um von mir abzulenken, aber dann kam der Punkt, wo es so gut wie nichts mehr auszuziehen gab, und ich dachte: Gott, das ist wirklich das Letzte. Dann sah ich ihn an. Er saß einfach nur da und wirkte traurig. Ich mußte weiterreden, aber ich hatte mein Pulver verschossen und alles erzählt, was Madame Sunde mir aufgeschrieben hatte. Da fing ich an, ihm Fragen zu stellen nach der Art: Weißt du noch, damals in dem und dem Restaurant? Schon wurde er gesprächig und half mir über die Lücken. Er wußte alles über mich – über sie –, und für ihn waren die alten Geschichten nicht Vergangenheit, sondern als wären sie gestern passiert. Er liebte sie immer noch, das heißt, ich war ja sie. Ich dachte mir, okay, das ist ein alter Knacker, ein bißchen senil, aber harmlos. Ich redete noch lange mit ihm, dann zog ich mich an und ging. Am nächsten Morgen lag das Geld im Briefkasten. Fast fünfhundert Dollar in bar. Sie rief an und fragte, ob ich noch einmal hingehen würde. Ich sagte ja, aber ich hätte nichts mehr zu erzählen. Macht nichts, meinte sie, erzählen Sie einfach dasselbe noch einmal. Nach der Schicht ging ich zum Training, dort zog ich mich um und kehrte als Miranda ins Hotel zurück. Ich besuchte ihn alle paar Tage, und jedesmal war es dasselbe. Ich zog mich aus, lief vor ihm herum und sagte meine Sprüche auf, dann redete er, bis ich mich verabschiedete. Das ging monatelang so, Ellie. Ich habe unheimlich viel Geld verdient, aber ich wurde immer müder. Ich wollte nur noch schlafen, in deinem Bett. Ich hatte Sehnsucht nach dir, aber es hat sich nie ergeben. Und weil ich gut verdiente und irgendwann weit weg wollte, ließ ich die Dinge laufen, wie sie liefen. Dann kam der Tag, als Madame Sunde mir erzählte, einer ihrer besten Kunden sei gestorben, es gehe ihr schrecklich nahe, aber sie sei alt und gebrechlich und könne nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Ich bot ihr an, sie zu vertreten. Mir machte es nichts aus, ich hatte mich an die Rolle der Miranda gewöhnt, ich fuhr oft am hellichten Tag mit dem Taxi durch die Stadt, und es war mir egal, ob man mich sah. Sie bot mir Geld an, aber ich lehnte ab. Die Miranda war mir zur zweiten Natur geworden.
Als ich in die Kapelle kam und dich sah, Ellie, wurde ich richtig wütend. Weil du überall warst. Weil du dich in meine andere Existenz eingemischt hast, von der du gar nichts wußtest. Ich hab mich unauffällig verdrückt und die Beisetzung auf dem Friedhof von ferne verfolgt, wie mich Madame Sunde gebeten hatte. Danach sah ich mir Dede Ash, den Zwillingsbruder des Toten, näher an. Das war nicht ihr Auftrag, ich agierte schon auf eigene Faust. Es machte mir großen Spaß, ihm nachzuspionieren. Ich sah ihn in die Nudelbar gehen, folgte ihm kurzentschlossen und bestellte ein Bier. Plötzlich tauchtest du schon wieder auf. Ich war wie versteinert. Du bist ganz dicht an mir vorbeigegangen, hast dich nicht umgedreht und warst ganz auf ihn fixiert. Da fiel mir wieder ein, was du mir erzählt hattest – daß du hinter einer seltsamen Geschichte her bist, und jetzt wußte ich, welche Geschichte das war. Es gefiel mir gar nicht. Als du mich schließlich entdeckt hast, warst du wie ein Fremder für mich. Ich stand auf und ging. In der Nacht, als ich zu dir kam, hatte ich viel nachgedacht. Ich wußte, daß da etwas nicht stimmte, daß ich dir alles erzählen mußte. Aber als du mir die Brieftasche gezeigt hast, bin ich zu Eis geworden. Tad Ash war ermordet worden, und ich hatte wahnsinnige Angst, daß ich da irgendwie hineinverwickelt war. Ich wollte gerade auspacken, da sagtest du, du wolltest mit Madame Sunde telefonieren. Ich bekam die Panik, ich konnte nicht bleiben. Ich bin einfach abgehauen. Tut mir leid. Am nächsten Tag rief sie mich an und fragte nach der Beerdigung. Wer gekommen war und so weiter. Als sie hörte, daß die Polizei da war, wurde sie nervös. Sie fing von einem Tagebuch an, das sie unbedingt wiederhaben wollte – und du hattest auch von einem Tagebuch erzählt. Ich sollte ihr Bescheid geben, wenn ich etwas hörte. Es gäbe großen Ärger wegen des Tagebuchs, aber über die Hintergründe erfuhr ich nichts. Mein nächster Besuch bei Palmer lief nicht so gut. Das heißt, ich machte ihm die Miranda wie jedesmal, und er erzählte dasselbe Zeug wie sonst, weiter ist nichts passiert, wirklich gar nichts. Trotzdem war es anders. Mir war klar geworden, daß es sich um sein Tagebuch handeln mußte. Ein alter Mann mit all diesen Erinnerungen. Das Leuchten in seinen Augen war kein Leuchten, sondern ein Brennen. Es war unterdrückter Haß. Ich zog mich an und ging. Ich war heilfroh, wieder draußen zu sein. Als du mich bei der Arbeit anriefst und mir von dem Brand erzähltest, hätte ich fast einen Herzschlag bekommen. Ich hatte
solche Angst um dich.« Sie schauderte. »Ich war so erleichtert, daß du noch am Leben warst. Gleichzeitig wußte ich, was passiert war. Ich wußte, daß Madame Sunde tot war. Ich behielt dich die ganze Nacht bei mir und überlegte, was ich tun sollte. Jetzt endlich mußte ich erfahren, wer sie war und was sie hinterlassen hatte. Ich habe dir die Schlaftablette gegeben und mich als Miranda verkleidet, während du schliefst. Plötzlich hast du die Augen aufgemacht und mich angesehen. Ich hab dich geküßt und gesagt, es ist nur ein Traum. Da warst du zufrieden und hast geschlafen wie ein Baby. Ich wollte dich nicht allein lassen, aber ich mußte. Ich fuhr zum Cot Club und nahm ihre vielen Katzen mit, mir fiel nichts anderes ein, was ich tun konnte. Die blöden Weiber hätten sie nur verkommen lassen. Also nahm ich sie mit. Jetzt laufen sie bei mir herum. Ich war ziemlich sicher, daß Palmer den Brand gelegt hatte, daß er sie auf dem Gewissen hatte. Und am Abend sollte ich ihn besuchen. Ich mußte hingehen, sonst wäre ich vielleicht die Nächste gewesen. Es war der Abend des Mardi Gras. Nach der Arbeit zog ich mich um, kam als Miranda zurück und klopfte bei ihm an. Ich wartete eine Ewigkeit – zumindest kam es mir so vor –, und ich überlegte, was er jetzt mit mir anstellen würde. Dabei wurde mir immer klarer, daß es falsch war, zu ihm zu gehen. Es war eine Idiotie. Ich weiß selber nicht, wie ich darauf kam. Mich packte die Angst, weil er so lange brauchte, und natürlich ging in dem Moment, als ich weglaufen wollte, die Tür auf. Jetzt bin ich geliefert, dachte ich. Aber es lief genauso wie immer. Ich war ständig auf der Hut, beim ersten Anzeichen einer Gefahr wäre ich rausgerannt. Ich zog den Mantel aus, mein Kleid, wir redeten über unsere gemeinsamen Erlebnisse, unsere Reisen. Ich spielte mit, stellte meine Fragen, teilte seine Erinnerungen, wir lachten über alte Geschichten – alles wie immer. Ich lief im Zimmer herum, und er redete, als wäre ich Miranda, als wären wir beide noch zwanzig, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt. Nichts um ihn herum war für ihn real. Er lebte nur in seiner Vergangenheit. Deshalb war er zu dieser Tat fähig, Ellie. Die Miranda seiner jungen Jahre war das einzige Wesen, an dem er hing, er begriff nicht, daß die gealterte Madame Sunde die echte Miranda war und ich die falsche. In gewisser Weise hat er also nicht sie umgebracht. Andererseits wußte er gar nicht, was er verloren hatte. Er tat mir wirklich leid, als ich mich verabschiedete. Auch mich hatte er jetzt verloren.
Ich winkte noch einmal zu ihm hinauf, als ich auf der Straße stand, mitten in der Parade, dann wollte ich nach Hause. Aber da hörte ich jemanden brüllen, er wollte mich packen, und ich wurde hysterisch vor Angst. Ich hatte solche Angst, daß er es sein könnte, und rannte einfach los. Ich hab nicht gemerkt, daß du es warst. Und als ich es begriff, war ich völlig am Ende. Ich hätte dir das alles nicht erklären können, ich wollte nur noch nach Hause, in Sicherheit, aus diesen Klamotten raus. Und außerdem mußte ich die Katzen füttern.« Sie erhob sich seufzend, glättete das Laken, wo sie gesessen hatte, ging langsam um das Bett herum und zum Fenster. Sie zupfte an dem toten Zahn und zeigte mir die graue Folie, die sie zusammenknüllte und aus dem offenen Fenster warf. Mit verschränkten Armen und ohne ein weiteres Wort blieb sie am Fenster stehen und blickte hinaus. Die Sonne versank hinter den Bergen, die Umrisse der Stadt änderten sich unablässig, wuchsen in die Höhe, wurden dunkler, verworrener. Die moderne Welt bemächtigte sich des Sonnenuntergangs, wurde zum Handlanger der Nacht. Das Licht konzentrierte sich auf die Silhouetten und vergaß dabei die Zimmerecken, im einsetzenden Dämmer wurde der Ledermantel zu einem dunklen Klumpen, einem Stück Altweibergarderobe. Wilhelminas Haut bekam eine olivfarbene Tönung, ihr Haar wurde füllig und weich. Eine blasse Mondsichel trat langsam in das Fensterviereck ein, jemand kam und zog die Vorhänge zu.
24
An einem stillen Nachmittag tauchte Tangiers bei mir auf. Er wartete, bis die Schwestern das Zimmer verlassen hatten, und sagte dann: »Ich habe von Ihrem Unfall gehört.« »Ich hab es satt, darüber zu sprechen.« Er zuckte die Schultern. »Was ich wissen muß, erfahre ich auch von der Klinik.« Er beäugte die Drähte, den Gips, den Infusionsbeutel. »Sie kriegen ja hier das ganze Programm.« Er drückte versuchsweise am Beutel herum. »Den Täter haben wir.« »Ich lese die Zeitung.« »Hab ich mir gedacht. Immer gut informiert. Das finde ich achtenswert.« Er seufzte. »Der Alte wurde von seinem Dealer erledigt. Zu viele Schulden. Der Dealer setzte die Daumenschrauben an, wie das eben so geht. Er hat den Mann ausgezogen, seine Sachen durchsucht und ihn mißhandelt. Als er ihn für tot hielt, hat er ihn in den Glascontainer geworfen. Ash starb beim Versuch, sich zu befreien. Der Täter war leicht zu ermitteln, aber wir sind es behutsam angegangen. Einen Schritt nach dem anderen. Die Anklage soll wasserdicht sein. Und das ist sie. Der Bruder von Ash ist bei einem Brand umgekommen. Haben Sie davon gehört?« Tangiers beschäftigte sich eingehend mit dem Tropf und sah mich nicht an. »Sein Laden ist abgebrannt. Es wurde eine zweite Leiche gefunden, eine Ms. Sunde, eine stadtbekannte Prostituierte. Die Feuerwehr führt den Brand auf einen Kurzschluß zurück. Die Opfer wurden vom Feuer überrascht, weil die Alarmanlage zerstört war. Ein beliebter Trick der Straßenkinder. Auf diese Weise sichern sie sich Schlafplätze für die Nacht. Ms. Sunde hat beide Brüder von ihrem Bordell aus mit Mädchen versorgt. Offenbar hat sie mit dem hinterbliebenen Mr. Ash um einen guten Kunden getrauert. Anklage wegen Brandstiftung haben wir nicht erhoben. Das geht als Unfall durch. Damit haben wir kein Problem.« Er starrte versunken auf den Tropf, durch den man das Zimmer verkehrt herum sah. »So ist das also«, sagte ich. »Ja, genau so. Wir suchen noch nach den Mädchen, die für die Sunde gearbeitet haben. Aber das ist schwierig. Wir können nur an die Öffentlichkeit appellieren und auf Hinweise hoffen. Bis jetzt vergeblich. Die Opfer waren alt, ohne Angehörige. Und irgendwann ist eben Schluß. Ende der Geschichte.«
»Glauben Sie?« »Ja«, sagte er überzeugt. »Ist das die amtliche Version?« »Allerdings.« »Eine hübsche Geschichte.« »Eine wunderbare Geschichte.« »Daran ist nicht zu rütteln.« »Stimmt«, bestätigte er und beugte sich über mich. Seine Pupillen waren zu kleinen schwarzen Punkten verengt. »Ich werde Ihnen sagen, was wir nicht ins Protokoll genommen haben. Wir haben Ihren kleinen Freund besucht. Veale. Die Schwuchtel wollte nicht reden, aber wir haben ihn ein bißchen gekitzelt, da fing er an zu plaudern. Er sagte, Sie hätten ihn ausgefragt, nach dem Nachlaß des Ermordeten. Dann wurde ein Mann, der Ihrer Beschreibung entspricht, am Brandort gesehen. Sie kannten die Betroffenen. Sie waren auch im Cot Club. Sie sind bis über die Ohren in den Fall verwickelt. Sie haben uns in die Ermittlungen gepfuscht.« »Ich habe einiges herausgefunden.« »Und das nehmen Sie mit ins Grab.« »Ich weiß, daß der Dealer nicht der Mörder ist.« »Ach ja?« Wieder dieses dünne Lächeln. »Tad Ash wurde von einem Mann namens Palmer ermordet. Einem sehr alten Mann.« Ich mußte mich räuspern. »Vor vielen Jahren, als er noch jung war, hat er den Gesetzen des Lebens ein Schnippchen geschlagen. In einem Moment der Todesangst. Er wollte überleben. Sein Überleben geriet in Gefahr, als Tad Ash seine Tagebücher in die Finger bekam. Er mußte verhindern, daß der Inhalt bekannt wurde. Palmer tötete ihn, um sein Geheimnis zu wahren.« »Donnerwetter. Das ist ja spannend«, sagte Tangiers mit trockener Ironie. »Vielleicht sollte ich diesen Palmer mal befragen.« »Ich glaube nicht, daß Sie das schaffen. Man kann Leute aufspüren, weil sie ihren Lebensmustern, ihren Gewohnheiten folgen, aber Palmer hat keine. Er lebt nur für den Augenblick. Er hat keinen eigenen Mittelpunkt. Er ist ein Wanderer. Die Wirklichkeit zieht nur an ihm vorbei. Er kennt weder Stunde, Tag noch Jahr. Er ist kaum als Mensch zu bezeichnen.« »Das ist noch kein Verbrechen.« »Stimmt. Eigentlich ist er kein Mörder. Weil er nicht wußte, daß es Menschen waren, die er umgebracht hat. Das habe ich aus sicherer Quelle.«
»Wo kommt der Mann her?« »Von 1865.« Tangiers zeigte auf den Tropf. »Was kriegen Sie denn da eingeträufelt?« »Morphium. Möchten Sie ein bißchen?« »Ah, verstehe.« Er nickte langsam und lächelte. »Sie denken, ich bin scharf auf so etwas. Sie denken, ich bin nicht ganz dicht. Aber ich werde Ihnen mal was sagen: Ich habe den Fall gelöst. Ich bin Kriminalist, Sie sind ein Amateur. Sie nehmen, was Ihnen zufällig in die Hände fällt, und basteln sich Ihre Theorie zurecht. Ich mache die Knochenarbeit, ich gehe den Dingen auf den Grund. Meine Welt ist rational und logisch. Wenn ich etwas ermittle, dann deshalb, weil ich wissen will, wie es in diese rationale Welt paßt. Aber Sie« — er zeigte mit dem Finger auf mich —, »Sie stecken ihre Nase in Angelegenheiten, von denen Sie keine Vorstellung haben. Sie wissen nicht, was die Welt zusammenhält, und wollen es begreifen. Aber das läuft nicht so. Ich suche nach Antworten, Sie suchen nach der Wahrheit. Und die werden Sie nicht finden.« »Da irren Sie sich.« »Wenn Sie das Unmögliche ausschließen, ist das, was übrigbleibt, die Wahrheit, und mag sie noch so unwahrscheinlich sein.« Er reckte den Kopf in die Höhe, daß seine Wirbel knackten. »Sie sehen müde aus. Sie brauchen Schlaf.« Wieder musterte er mein Bett. »Wie lange bleibt das noch?« »Eine ganze Weile.« »Lieber Sie als ich.« »Darüber könnte man lange nachdenken.« »Ohne Phantasie gibt es keine Schrecken, sagt Sherlock Holmes. Studie in Scharlachrot.« Er sah mich erwartungsvoll an. Aber wir wußten beide, daß es zu Ende war. Er hatte seine Antworten. Ich war ihn los. Ich lag noch weitere acht Wochen fest, aber das befreite mich nicht von meinen Verpflichtungen, und ich war entschlossen, durchzuhalten. Wilhelmina rief meine Büronummer an und hielt mir den Hörer ans Ohr, damit ich die gespeicherten Anrufe abhören konnte. Sie brachte mir die Post und las mir die Briefe vor, während ich das Spiel der Sonnenstrahlen an der Decke verfolgte. Doch mit jedem Tag wurde das, was sie vorlas, weniger wichtig als der Klang ihrer Stimme. Ich versank in einer Welt ohne Zeit, es gab nur Hell und Dunkel, Tag und Nacht. Ich wurde gefüttert und entleert, gesäubert und gewaschen, mein
Körper war von mir getrennt. Nur die Variation der Spannseile und der Medikamente sagte mir, daß meine Wirbelsäule langsam heilte. Bald sollte ich in der Lage sein zu sitzen und der Welt wieder in aufrechter Haltung zu begegnen. Ich versuchte ab und zu, die Glieder zu bewegen, aber die Lähmung hatte mich noch fest im Griff. Als ich endlich vom Korsett befreit war und meine Briefe allein öffnen konnte, hatten sie ihre Bedeutung verloren. Die Märkte waren mir entglitten, Telefonnummern und Kontakte hatten sich geändert. Ich wußte nicht mehr, wieviel Geld ich auf dem Konto hatte und wie es dorthin gelangt war. Wilhelmina schob meinen Rollstuhl durch den sonnigen Krankenhauspark und zeigte mir die Blumen. Als die Nackenstütze abgenommen wurde, konnte ich meinen Kopf an ihre warme Hand auf dem Griff lehnen. Der Tomaso wurde gefunden, er hatte sich in Wellington um einen Telefonmast gewickelt. Irgendwelche Kids hatten ihn in den Bergen für Rennfahrten benutzt. Es kostete mich zweihundertfünfzig Dollar, ihn verschrotten zu lassen. Ich lief an Krücken, als ich das erste Mal wieder in mein Büro hinauffuhr. Wilhelmina schloß mir auf, und wir traten in eine muffige Höhle, die vollgestopft war mit ungelesenen Büchern und wertlosem Papierkram. Das einzige Bild an der Wand war ein Stadtplan voll roter Nadeln. Das Büro war eng und verrümpelt, stickig und zugig zugleich, ohne jede Wärme. Im Badezimmer hatte sich eine schmierige Schicht gebildet. In den Winkeln der Duschkabine gedieh schwarzer Schimmel, der Abfluß war mit Haaren verstopft. Auf der Küchentheke sah man Schmutzringe von Tassen und Gläsern, die Schränke rochen nach Mottenpulver. Das einzige Fenster, das nicht mit Farbe zugeschmiert war, ging auf die verschattete Straße voller Fahrbahnmarkierungen und Verkehrslärm. Wilhelmina hob die Post vom Fußboden auf. Ein Kündigungsschreiben des Vermieters mit dreimonatiger Frist und anschließender Räumung des Hauses. Das Dilworth sollte umgebaut werden — innerstädtische Luxusapartments für betuchte Anleger. Als ehemaliger Mieter hätte ich ein Vorkaufsrecht. Ich knüllte den Brief zusammen, warf ihn in die Ecke und schüttelte den Kopf über so viel Blödsinn. Wer wollte schon in einem Haus wie diesem wohnen? Tony erzählte mir, ein Kunde habe ihm ein Häuschen an der Westküste angeboten. Jetzt, nach der Saison, wurden die Mieten dort billig. Wilhelmina fuhr mit mir hin. Ein flacher Bungalow, schokoladenbraunes Holz, weiße Fensterbänke,
zweihundert Meter vom Strand entfernt. Ich zog meine Schuhe aus und stellte mich auf den holprigen Rasen. Wilhelmina saß auf der Veranda und baumelte mit den Beinen. Der Wind ebnete alle Geräusche ein. Ein Brecher nach dem anderen rollte heran. Ich wurde müde und setzte mich. Der Rasen war sandig. Der Umzug dauerte lange. Wir packten Kisten und brachten sie in kleinen Ladungen dorthin. Zwei Wochen nach dem Räumungstermin hatte ich immer noch etwas zu holen. Ich hielt vor dem Dilworth und sah, daß Louises Laden geschlossen war. Sie war verschwunden und hatte leere Schaufenster hinterlassen, nur ein paar Bücher mit Preisschildern waren zur Dekoration ausgelegt. Vor der Nische hing immer noch der Vorhang. Der Fahrstuhl war ausgebaut, der Schacht mit Warnschildern verstellt, ich mußte die Treppe benutzen. Die Aktenarchive auf den unteren Stockwerken waren ebenfalls geräumt, die anonymen Türen hatte man aus den Angeln gehoben und in einer Ecke gestapelt. Die Räume, die ich nur verschwommen durch das dicke Glas gesehen hatte, offenbarten sich nackt und kahl. Mein Büro hatte sich gründlich verwandelt. Es war durch billige Aluminiumrahmen unterteilt, die zu Trennwänden werden sollten, das Badezimmer war jetzt ein leeres Nebengelaß, in dem zwei Männer standen. Sie wälzten einen dicken Katalog mit Teppichmustern, schauten kurz auf und ignorierten mich, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Die Papiere, die ich suchte, steckten zusammen mit Holzresten und farbverschmierten Klebebändern in einem Müllsack. Ich fing an, in dem Durcheinander zu wühlen, dann ließ ich es sein. Ich hatte vergessen, was ich eigentlich damit wollte. Ich rief den Teppichverlegern auf Wiedersehen zu, sie taten so, als wären schon Wände in den Aluminiumrahmen, und reagierten nicht. Zum letzten Mal ging ich am Fahrstuhl vorbei, meine Schritte hallten im leeren Schacht wider. Als letztes zogen die Katzen um. Wir besorgten Käfige für Basket, Tufur, Apples, Sushi, Moonpie, Boy Cat und Travis (der beträchtlich gewachsen war), verfrachteten sie in den Bungalow und sperrten sie dort ein, damit sie sich an den neuen Geruch gewöhnten. Sie kratzten, miauten, versteckten sich in den Schränken und unter dem Sofa. Wilhelmina lag auf dem Fußboden und redete ihnen gut zu. Travis wagte sich als erster heraus. Als wir soweit waren, zum Friedhof zu fahren, kamen
sie alle aus ihren Verstecken und versammelten sich protestierend in der Küche. Dede Ash war bei seinem Bruder beerdigt, und auf irgend jemandes Wunsch lag Miranda Sunde neben ihnen. Es war das erste Grab in einem neu erschlossenen Abschnitt des Friedhofs — eine ungeschützte Fläche mit aufgeweichten Wegen und einem künstlich aussehenden Teich, an dem man Trauerweiden gepflanzt hatte. Die Grabhügel sahen frisch aus, die Grabsteine fehlten noch. »Ich weiß nicht, wer wo liegt«, sagte Wilhelmina, »aber das ist wohl auch egal.« Sie breitete Mirandas Ledermantel und ihr Kleid auf dem linken Grabhügel aus, legte die Schuhe dazu und drapierte die Perücke in die Kragenöffnung des Mantels. In den blonden Locken spielte der Wind. »Die Leute werden denken, das ist ein Witz.« Sie nahm meinen Arm und drückte ihr Gesicht an meine Schulter. Ich nahm die Brieftasche von Tad Ash in die Hand. Sie war warm von meiner Hosentasche. Wortlos, da mir nichts Kluges einfiel, steckte ich sie in die weiche Erde. Es ging ganz leicht, ich drückte, bis sie verschwunden war, und strich die Stelle glatt. Dann traten wir einen Schritt zurück und bewunderten unser Werk. Die wahren Identitäten waren versteckt, die Maskierungen für jeden sichtbar. Eine verkehrte Welt. So hätten sie es gewollt. Auf der Rückfahrt spielten sie Smokey Robinson im Autoradio, dann Baker Street, Phoebe Snow, Good Vibrations. Ich lehnte mich an die Kopfstütze und überlegte, wann ich zum letzten Mal Musik gehört hatte. Die Songs waren für mich wie ein Erwachen. Meine Platten steckten in den Kisten, die wir im Hohlraum unter dem Haus verstaut hatten. Bei einem einschlägigen Laden ließ ich Wilhelmina halten und kaufte einen gebrauchten Plattenspieler. Während der Fahrt ruhte er auf meinem Schoß. Als wir die Tür zum Bungalow aufmachten, kamen die Katzen herausgerannt und verdrückten sich in die Büsche. Wilhelmina stellte die Futternäpfe auf die Stufen. Ich schloß den Plattenspieler an ihren Ghettoblaster an, dann krochen wir unter das Haus und holten die Kartons hervor. Sie waren unbeschriftet, wir öffneten sie, wie sie kamen, und legten Platten auf; bei denen uns andere Platten einfielen. Wir wühlten in den Stapeln, um sie zu suchen, und rissen nach und nach die restlichen Kartons auf. Dabei stießen wir wieder auf
andere Platten, die wir auflegten und die uns von unserem ursprünglichen Ziel ablenkten. Manche Platten spielten wir ganz, manche waren eine Enttäuschung, aber alles klang frisch. Die Sonne ging langsam unter und ließ uns mit unseren Plattenbergen allein. Die Musik wehte über den Strand und wurde von den Bergen zurückgeworfen. Plötzlich war Musik wieder wichtig. Auf die Melodie kommt es an. Alles andere am Song unterstützt die Melodie oder lenkt von ihr ab. Am Ende kann man sie pfeifen, als wäre sie das Einfachste von der Welt, aber das ist sie nicht. Sie ist ein wunderschönes Gebilde, das von unsichtbaren Proportionen bestimmt wird. Wir würden gern unser Leben nach diesen Formprinzipien einrichten, aber das ist nicht leicht. Allmählich erkenne ich, daß das meiste erst im nachhinein Gestalt annimmt und sich zusammenschiebt wie Perlen auf einer Schnur. Wir tun so, als wäre das unsere Absicht gewesen, aber in Wirklichkeit haben wir nur eins zum anderen kommen lassen. Und jedes Ding für sich ist sinnlos. Wilhelmina hat Alpträume, daß Palmer sie verfolgt, und sah uns schon als Leichen im Flachwasser liegen. Aber ich glaube nicht, daß so etwas geschieht. Ich habe keine Angst vor dem Dunkel da draußen, und die Nächte an der Küste sind so dunkel wie nirgends sonst. Ich erkenne ihre Haarfarbe nicht, wenn ich sie streichle, sie erkennt mein Alter nicht. Jede Nacht könnte unsere erste sein, so ist es, wenn man ohne das städtische Neonlicht lebt. Unsere Liebe ist eine zärtliche Wissenschaft, die sich über viele Stunden erstreckt, über viele stille Momente vor dem Anprall der nächsten Welle. Wenn der Tag anbricht, erblickt er ihre Schönheit. Sie lächelt im Schlaf. Ihre Füße durchbrechen die Salzkruste des Sandes. Wir tauschen Küsse, sie wälzt sich in den Laken und entblößt ihre schlafwarme Haut. Ihre Düfte verfliegen und werden neu belebt. Sie amüsiert sich, sie langweilt sich. Sie ist ein Geschöpf der Zeit, und das Verstreichen der Zeit ist nicht mehr unwichtig. Wilhelmina ist jetzt das Mädchen meiner Erinnerung, ich habe aufgehört, die Minuten zu zählen, bis diese Szenen enden. Ich bin darauf vorbereitet, so gut es nur geht. Alles, was wir niemals vergessen wollten, wird ausgelöscht: Die Überstunden des letzten Monats, der Verkehrslärm, die Namen der Katzen. Wie wir unseren Kaffee trinken. Jedes unserer Worte. Es wird ein letztes Aufflackern geben, einen flatternden Laut. Diese Szenen werden zerfallen, die Worte werden zu Boden
sinken. Sie wird ihnen bereitwillig folgen, ihr Haar wird sich ausbreiten, und die Erde, die sie hergegeben hat, wird sie wieder umfangen. Stocher nicht im Reis, sagt Miranda. Es ist ein Alptraum, so oder so. Sieh mich an! Vergiß die Details. Jetzt müssen wir die großen Stürme bestehen. Miranda nimmt einen Klumpen Reis mit schwarzen Käfern darin, steckt ihn in den Mund und kaut. Iß! Es ist nicht giftig. Irgendwann kamen die Katzen zurück. Sie machten sich über die Futternäpfe her und schlichen ins dunkle Haus, vorbei an den Plattenstapeln und den aufgerissenen Kartons. Die letzte Platte drehte sich noch, die Nadel knackte in der Endrille. In der ersten Nacht war es noch so warm, daß wir auf dem Fußboden einschliefen. Wir waren ineinander verschlungen wie zwei Hände. Die Katzen schmiegten sich an uns und schnurrten. Draußen rauschte das Meer, eine sanfte Brise schläferte uns ein. Jetzt blicke ich oft auf das Meer. Ich stehe gern vor dem Hellwerden auf, lasse sie schlafen und suche mir einen Platz in den Dünen, wo die Gräser vom Wind gepeitscht werden, und warte auf den Sonnenaufgang. Es ist kälter geworden, der Winter hat sich eingestellt, ein neuer Sommer wird folgen. Man sieht, wie ein Tag den anderen ablöst. Vor allem deshalb bin ich hier. Ich vergrabe mich in meinen Regenmantel und bohre die nackten Füße in den Sand. Die frühen Schwimmer und die Fischer machen einen Bogen um mich – womöglich ein Gestrandeter, ein Obdachloser, werden sie sich sagen. Und ein wenig haben sie ja recht. Wo man wirklich zu Hause ist, verbringt man nicht so viel Zeit damit, in die Umgebung zu starren. Für alles andere reicht meine Konzentration nicht mehr. Auch mein Körper macht mir zu schaffen seit dem Sturz. Irgend etwas ist mir abhanden gekommen, als ich auf dem Asphalt lag. Eins von meinen neun Leben, meint Wilhelmina. Daß ich schon vier Leben bei dem Spielautomaten im Apollo aufgebraucht habe, weiß sie nicht. Über die Hälfte ist also weg. Zur Hälfte bin ich schon da, wo alle landen. Wilhelmina ist unglaublich schön. Ihre Schönheit wird sie überdauern. Das ist ein Grund zum Schreiben, obwohl ihre Schönheit zu den Dingen gehört, die man nicht beschreiben kann. Langsam habe ich angefangen, Pläne für eine Rückkehr ins Leben zu schmieden. Ich weiß, daß das meiste verloren ist,
aber manches wird sich retten lassen. Ich werde ein paar Sachen ganz für mich allein anfangen, ohne ihr etwas zu sagen. Ihr Erspartes wird nicht ewig reichen. Ich muß etwas unternehmen. Ein paar Briefe entwerfen, ein bißchen telefonieren. Allmählich werde ich dann schon den Anschluß finden. Nichts Großes für den Anfang. Ich werde mich hocharbeiten. Und statt hier davon zu schreiben, behalte ich es für mich, es bleibt mein Geheimnis, ein Teil meines Lebens, den niemand analysieren darf. Ich werde die Rückkehr schaffen. Es wird lange dauern, aber es ist nicht unmöglich. Kein anderer kann tun, was ich tun will. Ich weiß, daß ich es selbst in die Hand nehmen muß – und jetzt weiß ich auch, daß ich es kann. Kein Ballast behindert mich. Es gibt genügend Raum zum Denken. Ich könnte ihn mit Wörtern, mit Notizen füllen, aber das will ich nicht. Wenn Wilhelmina nach mir sucht und mich in den Dünen findet, reden wir über das Frühstück oder über die Farbe der Wolken, aber die Dinge, die uns hierhergebracht haben, liegen hinter uns. Die Papiere ruhen in Aktenkartons unter dem Haus, wo sie zum Fraß der Ratten und der Salzluft werden. Die Kälte hat die Spaziergänger vom Strand vertrieben. Wir lesen keine Zeitungen mehr, und die Berge erschweren den Fernsehempfang. Es gibt also nichts, was unsere Erinnerungen schürt, sie zehren nur von sich selbst. Hier bin ich also gelandet. Mein Sturz endete im weichen Sand, der mir über die nackten Füße rieselt, der Wind färbt meine Lippen blau. Mir gefällt es hier, die Stadt ist weit weg. Ich weiß, daß sie ihre Krallen nach Orten wie diesem ausstreckt. Ich weiß, daß die Denkmäler von gestern denen von heute Platz machen. Ich mißbillige das nicht, ich beklage mich nicht. Meine Traurigkeit ist eine Maschine, die von der Gewißheit getrieben wird, daß es eines Tages vorbei ist, daß wir alle verschwinden werden. Das beschäftigt mich tagein, tagaus. Es ist schwer, den Grund zu benennen, fast unmöglich. Die Leute fragen dich, warum machst du das? Und du weißt keine Antwort. Wir hegen Erinnerungen, weil wir sie kennen und schon erfahren haben. Das ist besser als das, was kommen wird. Was ich tue, hat keinen Sinn, denke ich manchmal. Keinen anderen Sinn, als meine Aufgabe zu Ende zu bringen. Ich weiß nur, daß ich es tun muß. Ich kann es nicht lassen. Ich hab es versucht, es geht nicht. Am Ende kann ich nichts sonst tun, nichts anderes macht mich froh. Es läßt mich nicht los, es quält mich. Ich meine das ernst. Zu anderen Zeiten, nachts wahrscheinlich,
könnte ich das überzeugender ausdrücken. Jetzt geht es mir zu leicht von der Zunge. Das ist alles ganz hübsch hier, aber wissen Sie, ohne meine Arbeit könnte ich nicht leben. Ich taste nach neuen Gedanken und finde nur Brackwasser. Trotzdem mache ich weiter, immerweiter, ich feile und schnitze an den Bruchstücken, und nur, wenn ich alle Teile beisammen habe, entsteht die ganze, die vollkommene Form. Das ist die einzige Wahrheit, die ich besitze, zu ihr werde ich zurückkehren, wo immer ich bin, und sie wird zu mir zurückkehren. Wenn ich überhaupt zu einem Glauben fähig bin, dann zu diesem. Und ich wüßte nicht einmal zu sagen, wo dieser Glaube herkommt. Wenn ich nachts wachliege, finde ich manchmal die Worte dafür. Wohltönende Sätze, glatte, präzise Gedanken, und ich kann mein Tun in einen größeren logischen, philosophischen oder gar religiösen Zusammenhang einordnen. Aber am Tag fragt dann jemand: Ellerslie Penrose? Und ich will auf diese Sätze zurückgreifen, und sie sind nicht mehr da. Es ist so kalt, daß die Wasserleitungen einfrieren und platzen. jemand schafft Abhilfe mit einem Kupferring und einer blaßblauen Flamme. Er hämmert vor sich hin, erzählt von seiner Familie, zeigt mir das Foto seines Kindes: Mondgesicht, gestreifte Hose, roter Roller. Ich bezahle ihn in bar. Meine Herkunft ist nicht sauber, mein Stammbaum ist verkrüppelt. Ich mache mir keine Hoffnungen auf einen Sohn. Allerdings weiß ich nicht, was ich auf meinen vielen Reisen hinterließ. Er hätte Miranda zur Mutter, und seine eigene Frau wäre ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ... Diese Träume sind selbstsüchtig, ein Ausdruck meiner Bürde, die mir nur durch ihn, meinen imaginären Sohn, erleichtert wird. Ich harre auf einen Erlöser, den Beweis meiner Bestimmung. Nichts von den bunten Dummheiten dieser Welt... Ich sehne mich nach dem Stillstand, nach einem Endpunkt. Und im vollen Wissen, daß sein Erbteil auch die Verzweiflungen, die Ängste und Schrecken enthielte, die mich schon so lange umtreiben, würde ich ihm den ganzen Schatz meiner Erfahrungen zugute kommen lassen. Meine Freuden würden die seinen werden, meine Irrtümer würden ihm zur Warnung dienen. Doch nein, es ist unmöglich. Ein Kind haben, das könnte ich nur durch die perversen Methoden, derer ich mich bisher bediente. Sein Erbteil wäre ihm genauso unwillkommen wie mir das meine. Er würde seinen Vater für unergründlich und sonderbar halten. Er würde mich verlassen oder verlassen werden.
Dennoch sitze ich hier und frage mich, welche Gestalt er wohl annähme, wo das Leben ihn finden würde. Ich sitze hier und denke nach und rede ... Hört mir jemand zu? Ich denke nach.
ENDE