Émile Zola
Seine Exzellenz Eugène Rougon
Roman Band 6 - der Rougon-Macquart Seine Exzellenz Eugène Rougon; (Son exce...
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Émile Zola
Seine Exzellenz Eugène Rougon
Roman Band 6 - der Rougon-Macquart Seine Exzellenz Eugène Rougon; (Son excellence Eugène Rougon 1876) Natur und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich
TUX - ebook 2010
Seine Exzellenz Eugène Rougon Kapitel I Noch stand der Präsident, umgeben von der leichten Unruhe, die sein Kommen soeben hervorgerufen hatte. Dann setzte er sich, wobei er halblaut und wie unbeteiligt sagte: »Die Sitzung ist eröffnet.« Und er ordnete die Gesetzentwürfe, die vor ihm auf dem Präsidiumstisch lagen. Zu seiner Linken verlas, die Nase dicht am Papier, ein kurzsichtiger Schriftführer mit eiligem Gestammel, dem kein Abgeordneter zuhörte, das Protokoll der letzten Sitzung. In dem Getöse, das im Saal herrschte, drang diese
Verlesung nur zu den Ohren der Huissiers1, die im Gegensatz zu der nachlässigen Haltung der Mitglieder des Abgeordnetenhauses sehr würdig, sehr korrekt wirkten. Es waren keine hundert Abgeordnete anwesend. Die einen lehnten sich mit ausdruckslosen Augen, bereits schläfrig, halb auf den roten Samtbänken zurück. Andere, wie unter dieser ärgerlichen Fron einer öffentlichen Sitzung am Rand ihrer Pulte zusammengesunken, klopften leise mit den Fingerspitzen auf das Mahagoniholz. Durch die Glasscheiben des Oberlichts, das einen grauen Halbmond aus dem Himmel schnitt, drang, senkrecht einfallend und die prunkvolle Strenge des Saals gleichmäßig erhellend, der ganze regnerische Mainachmittag herein. In einer breiten rötlichen Bahn von düsterer Pracht fiel das Licht, hier und da in den Winkeln der leeren Bänke in rosigem Widerschein aufleuchtend, auf die stufenweise ansteigenden Sitze, während auf der Nacktheit
der Statuen und sonstigen Skulpturen hinter dem Präsidenten helle weiße Flächen glänzten. Ein Abgeordneter in der dritten Bank rechts war in dem engen Gang stehengeblieben. Er rieb mit der Hand über seine harte, ergrauende Bartfräse und sah sorgenvoll aus. Und da gerade ein Huissier heraufkam, hielt er ihn an und stellte ihm halblaut eine Frage. »Nein, Herr Kahn«, erwiderte der Huissier, »der Herr Staatsratspräsident ist noch nicht gekommen.« Daraufhin setzte sich Herr Kahn. Dann wandte er sich plötzlich an seinen Nachbarn zur Linken und fragte: »Sagen Sie doch, Béjuin, haben Sie heute morgen Rougon gesehen?« Herr Béjuin, ein kleiner, magerer, schwarzhaariger Mann mit einem stillen Gesicht, war mit seinen Gedanken ganz woanders und hob, unruhig um sich blickend, den Kopf. Er hatte die Schreibfläche seines
Pults herausgezogen. Auf blauen Geschäftsbriefbogen mit dem Aufdruck »Béjuin & Ce, Kristallfabrik von SaintFlorent« erledigte er seine Korrespondenz. »Rougon?« wiederholte er. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Ich hatte keine Zeit, in den Staatsrat zu gehen.« Und er machte sich bedächtig wieder an seine Arbeit. Bei dem verworrenen Gemurmel des Schriftführers, der gerade die Verlesung des Protokolls beendete, zog er ein Notizbuch zu Rate, schrieb seinen zweiten Brief. Herr Kahn verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sein Gesicht mit den kräftigen Zügen, dessen wohlgebildete Nase jüdische Abstammung verriet, blieb mißgestimmt. Er betrachtete die goldenen Rosetten an der Decke, starrte auf den rauschenden Platzregen, der sich gerade auf die Scheiben des Oberlichts ergoß; dann schien er mit versunkenem Blick aufmerksam die
vielfältigen Verzierungen der großen Wand zu studieren, die er vor sich hatte. Einen Moment lang wurde er durch die mit vergoldeten Emblemen und Einfassungen überladenen Wandbespannungen aus grünem Samt an ihren beiden Enden gefesselt. Nachdem er dann mit einem Blick die Säulenpaare gemessen hatte, zwischen denen die allegorischen Statuen der Freiheit und der öffentlichen Ordnung ihre Marmorgesichter mit den leeren Augen zeigten, vertiefte er sich schließlich in die Betrachtung des grünseidenen Vorhangs, der das Fresko verhüllte, das LouisPhilippe2 darstellt, wie er den Eid auf die Verfassung leistet. Unterdessen hatte sich der Schriftführer hingesetzt. Das Getöse im Saal dauerte an. Der Präsident blätterte, ohne sich zu beeilen, noch immer in Schriftstücken. Mechanisch legte er die Hand auf den Drücker der Glocke, deren heftiges Klingeln nicht eine einzige der Privatunterhaltungen störte. Er hatte sich in
dem Lärm erhoben und verhielt sich einen Augenblick abwartend. »Meine Herren«, fing er an, »ich habe einen Brief erhalten ...« Er unterbrach sich, um abermals die Glocke ertönen zu lassen; wieder wartend, überragte er mit seinem ernsten und gelangweilten Gesicht den riesigen Präsidiumstisch, dessen rote Marmorplatten, die von weißem Marmor eingefaßt waren, sich unter ihm aufbauten. Sein zugeknöpfter Gehrock hob sich von dem hinter dem Tisch angebrachten Basrelief ab, wo er einen schwarzen Streifen durch die Peplons3 der mit antiken Profilen dargestellten symbolischen Gestalten von Ackerbau und Gewerbe zog. »Meine Herren«, begann der Präsident aufs neue, nachdem er sich etwas Ruhe verschafft hatte, »ich habe einen Brief von Herrn de Lamberthon erhalten, worin er sich entschuldigt, daß er nicht an der heutigen
Sitzung teilnehmen kann.« In einer der Bänke, der sechsten dem Tisch gegenüber, gab es ein leises Gelächter. Ein ganz junger Abgeordneter, höchstens achtundzwanzig Jahre alt, blond und bezaubernd, erstickte mit seinen weißen Händen seine perlende Heiterkeit, die Heiterkeit einer hübschen Frau. Einer seiner Kollegen, ein ungeheuer großer Mann, kam von drei Plätzen weiter zu ihm, um ihm die Frage ins Ohr zu flüstern: »Hat Lamberthon wirklich seine Frau gefunden? Das müssen Sie mir erzählen, La Rouquette.« Der Präsident hatte eine Handvoll Papiere ergriffen. Er sprach mit monotoner Stimme; Satzfetzen drangen bis hinten in den Saal: »Es liegen Urlaubsgesuche vor ... Herr Blachet, Herr BuquinLecomte, Herr de la Villardière ...« Und während das befragte Abgeordnetenhaus die Urlaube gewährte, hatte sich Herr Kahn,
der es offenbar müde geworden war, die vor das aufrührerische Bild LouisPhilippes gespannte grüne Seide anzusehen, halb umgedreht, um die Tribünen zu betrachten. Oberhalb des Sockels aus gelbem, mit Lack geädertem Marmor zeigte ein einziger Tribünenrang zwischen Säulen Brüstungen aus amarantfarbenem Samt, während es ganz oben einem Bogenbehang aus gaufriertem4 Leder nicht gelang, die Leere zu verbergen, die durch die Abschaffung des zweiten, vor dem Kaiserreich den Journalisten und dem Publikum vorbehaltenen Ranges entstanden war. Zwischen den dicken, vergilbten Säulen, die rings um das Halbrund ihre etwas schwerfällige Pracht entfalteten, taten sich die tiefen schmalen Logen auf, voll dunkler Schatten, fast leer, nur von drei oder vier hellen Frauenkleidern aufgeheitert. »Sieh da! Oberst Jobelin ist gekommen«, murmelte Herr Kahn.
Er lächelte dem Oberst zu, der ihn bemerkt hatte. Oberst Jobelin hatte den dunkelblauen Gehrock angelegt, den er seit seiner Pensionierung als Ziviluniform zu tragen pflegte. Ganz allein saß er in der Quästorenloge5, seine Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion6 war so groß, daß sie dem Knoten eines seidenen Halstuches glich. Herrn Kahns Augen hatten sich soeben auf ein junges Paar geheftet, das sich weiter links in einer Ecke der Staatsratsloge zärtlich aneinanderschmiegte. Der junge Mann beugte sich alle Augenblicke vor und sprach, den Mund fast an ihrem Halse, mit der jungen Frau, die sanft lächelte, ihn aber nicht ansah, sondern auf die allegorische Figur der öffentlichen Ordnung starrte. »Hören Sie mal, Béjuin«, flüsterte der Abgeordnete, seinen Kollegen mit dem Knie anstoßend. Herr Béjuin war mit seinem fünften Brief
beschäftigt. Er hob verstört den Kopf. »Gucken Sie mal, sehen Sie nicht da oben den kleinen d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard? Ich wette, er kneift sie in die Hüften. Sie macht Schmachtaugen ... Alle Freunde Rougons haben sich also ein Stelldichein gegeben. Dort auf der Publikumstribüne sind auch noch Frau Correur und die beiden Charbonnels.« Jetzt ertönte ein längeres Glockenzeichen. Ein Huissier rief mit schöner Baßstimme: »Ruhe, meine Herren!« Man merkte auf. Und der Präsident sprach folgenden Satz, von dem kein Wort verlorenging: »Herr Kahn bittet um Druckgenehmigung für die Rede, die er bei der Debatte über den Gesetzentwurf bezüglich der Einführung einer städtischen Steuer auf die in Paris laufenden Fahrzeuge und Pferde gehalten hat.« Durch die Bänke lief ein zustimmendes Gemurmel, und dann wurden die
Unterhaltungen wieder aufgenommen. Herr La Rouquette hatte sich neben Herrn Kahn gesetzt. »Sie arbeiten also für die Bevölkerung?« fragte er scherzend. Dann fügte er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Haben Sie Rougon nicht gesehen? Haben Sie nichts gehört? – Alle Welt spricht davon. Es scheint noch nichts gewiß zu sein.« Er wandte sich um und blickte auf die Uhr. »Schon zwanzig Minuten nach zwei! Ich würde mich jetzt davonmachen, wenn nicht die Verlesung dieses verflixten Berichts bevorstünde! – Findet die wirklich heute statt?« »Man hat uns alle davon benachrichtigt«, antwortete Herr Kahn. »Ich habe nichts davon gehört, daß etwas anderes angeordnet worden wäre ... Sie werden gut daran tun, hierzubleiben. Man wird gleich über die
vierhunderttausend Francs für die Taufe abstimmen.« »Zweifellos«, entgegnete Herr La Rouquette. »Der alte General Legrain, der zur Zeit auf beiden Beinen lahmt, hat sich von seinem Diener hertragen lassen; er wartet im Konferenzsaal auf die Abstimmung ... Der Kaiser7 verläßt sich mit Recht auf die Ergebenheit des gesamten Corps législatif8. Bei diesem feierlichen Anlaß soll ihm keine einzige unserer Stimmen fehlen.« Der junge Abgeordnete hatte sich sehr angestrengt, sich das ernsthafte Aussehen eines Politikers zu geben. Er plusterte sich auf und wiegte sein Zierpuppengesicht, das ein paar blonde Barthaare schmückten, leicht über seiner Krawatte. Einen Augenblick lang schien er die beiden letzten rhetorischen Phrasen, die er zustande gebracht hatte, auszukosten. Dann brach er plötzlich in Lachen aus. »Mein Gott«, sagte er, »wie grotesk diese
Charbonnels doch aussehen!« Daraufhin witzelten Herr Kahn und er auf Kosten der Charbonnels. Die Frau hatte einen ausgefallenen gelben Schal um; ihr Gatte trug einen jener Provinzgehröcke, die mit der Axt zugehauen zu sein scheinen; und beide, wohlbeleibt, rotbäckig und zusammengesunken, lagen fast mit dem Kinn auf dem Samt der Brüstung, um besser der Sitzung folgen zu können, aus der sie, sosehr sie auch die Augen aufsperrten, nicht klug zu werden schienen. »Wenn Rougon auffliegt«, murmelte Herr La Rouquette, »gebe ich keine zwei Sou für den Prozeß der Charbonnels ... Ebenso ist's mit Frau Correur ...« Er beugte sich zu Herrn Kahns Ohr und fuhr sehr leise fort: »Kurz gesagt, Sie kennen doch Rougon, erzählen Sie mir also mal ganz genau, was es eigentlich mit Frau Correur auf sich hat. Sie hat ein Hôtel geführt, nicht wahr?
Damals hat Rougon bei ihr gewohnt. Es heißt sogar, sie habe ihm Geld geliehen ... Und was für ein Gewerbe betreibt sie jetzt?« Herr Kahn war sehr ernst geworden. Mit zögernder Hand rieb er seine Bartfräse. »Frau Correur ist eine hochachtbare Dame«, sagte er nachdrücklich. Dieses Wort setzte Herrn La Rouquettes Neugier ein Ende. Er verzog die Lippen wie ein Schüler, dem soeben ein Verweis erteilt worden ist. Ein Weilchen betrachteten beide schweigend Frau Correur, die in der Nähe der Charbonnels saß. Sie hatte ein sehr auffallendes Kleid aus malvenfarbener Seide an, mit vielen Spitzen und viel Schmuck; ihr Gesicht war allzu rosig, die Stirn von blonden Puppenlöckchen bedeckt, und ihr fülliger, trotz ihrer achtundvierzig Jahre noch sehr schöner Hals war unverhüllt. Auf einmal aber hörte man im Hintergrund des
Saales eine Tür klappen und Kleider rauschen; alle Köpfe wandten sich danach um. Ein großes junges Mädchen, eine wunderbare Schönheit, recht seltsam angezogen mit einem schlechtsitzenden Kleid aus seegrünem Atlas, hatte soeben in Begleitung einer bejahrten Dame in Schwarz die Loge des diplomatischen Korps betreten. »Sieh da, die schöne Clorinde«, murmelte Herr La Rouquette und stand auf, um sich auf gut Glück zu verbeugen. Auch Herr Kahn hatte sich erhoben. Er neigte sich zu Herrn Béjuin hinüber, der damit beschäftigt war, seine Briefe in die Umschläge zu stecken. »Sehen Sie doch, Béjuin«, flüsterte er, »die Gräfin Balbi und ihre Tochter sind da ... Ich werde hinaufgehen und fragen, ob sie nicht Rougon gesehen haben.« Am Präsidiumstisch hatte der Präsident eine
neue Handvoll Papiere ergriffen. Ohne sich im Lesen zu unterbrechen, warf er der schönen Clorinde Balbi, deren Erscheinen ein allgemeines Geflüster im Saal hervorgerufen hatte, einen Blick zu. Und während er gleichzeitig die Blätter eins nach dem anderen an einen Schriftführer weiterreichte, sagte er punkt und kommalos und so, als würde es nie ein Ende nehmen: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Weitererhebung eines Aufschlags auf die städtische Steuer der Stadt Lille ... Vorlage eines Gesetzentwurfes bezüglich der Vereinigung der Gemeinden Doulevant lePetit und VilleenBlaisais im Departement Haute Marne zu einer einzigen Gemeinde ...« Als Herr Kahn wieder herunterkam, war er tiefbetrübt. »Es hat ihn wahrhaftig niemand gesehen«, sagte er zu seinen Kollegen Béjuin und La Rouquette, die er am unteren Ende des
halbkreisförmigen Saales traf. »Man hat mir versichert, der Kaiser habe ihn gestern abend rufen lassen, aber ich weiß nicht, wie die Unterredung ausgegangen ist ... Nichts ist so ärgerlich wie nicht zu wissen, woran man ist.« Herr La Rouquette drehte sich um und flüsterte dabei Herrn Béjuin ins Ohr: »Dieser arme Kahn hat eine schöne Angst, daß sich Rougon mit den Tuilerien9 überwirft. Dann könnte er seiner Bahnstrecke nachlaufen.« Da gab Herr Béjuin, der sich selten zu äußern pflegte, gewichtig den Satz von sich: »An dem Tag, an dem Rougon aus dem Staatsrat ausschiede, würden alle einen Verlust erleiden.« Und er winkte einen Huissier herbei, um ihn zu bitten, die Briefe, die er soeben geschrieben hatte, in den Kasten zu werfen. Die drei Abgeordneten blieben links am Sockel des Präsidiumstisches stehen. Sie
unterhielten sich vorsichtig über die Ungnade, die Rougon drohte. Es war eine verwickelte Geschichte. Ein entfernter Verwandter der Kaiserin10, ein gewisser Rodriguez, forderte seit 1808 einen Betrag von zwei Millionen von der französischen Regierung. Während des Spanischen Krieges war ein mit Zucker und Kaffee beladenes Schiff dieses Rodriguez, der Reeder war, im Golf von Biscaya durch eine unserer Fregatten, die »Vigilante«, gekapert und nach Brest gebracht worden. Auf Grund der Untersuchung, die die örtliche Kommission vornahm, erkannte der Intendanturoffizier auf Rechtsgültigkeit der Aufbringung, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten. Herr Rodriguez jedoch hatte sich beeilt, beim Staatsrat Verwahrung einzulegen. Später war er gestorben, und sein Sohn hatte unter allen Regierungen vergebens versucht, die Angelegenheit vor einen anderen Gerichtshof zu ziehen, bis zu dem Tage, da ein Wort der inzwischen allmächtig gewordenen
Tochter seiner Großkusine bewirkte, daß der Fall endlich zur Verhandlung kam. Über ihren Köpfen hörten die drei Abgeordneten die monotone Stimme des Präsidenten, der fortfuhr: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements Calvados, eine Anleihe von dreihunderttausend Francs aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung der Stadt Amiens, eine Anleihe von zweihunderttausend Francs zur Schaffung neuer Promenaden aufzulegen ... Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Ermächtigung des Departements CôtesduNord, eine Anleihe von dreihundertfünfundvierzigtausend Francs aufzulegen, dazu bestimmt, die Defizite der letzten fünf Jahre zu decken ...« »Wahr ist«, sagte Herr Kahn, seine Stimme noch mehr dämpfend, »daß besagter Rodriguez einen sehr schlauen Einfall gehabt hat. Er besaß gemeinsam mit einem seiner
Schwiegersöhne, der in New York ansässig war, Zwillingsschiffe, die beliebig unter amerikanischer oder spanischer Flagge reisten, je nach den Gefahren der Überfahrt ... Rougon hat mir versichert, daß das aufgebrachte Schiff tatsächlich dem Rodriguez gehörte und daß keineswegs ein Anlaß bestand, seinen Forderungen stattzugeben.« »Um so weniger«, fügte Herr Béjuin hinzu, »als das Vorgehen unangreifbar ist. Der Intendanturoffizier von Brest war nach dem Gewohnheitsrecht des Hafens durchaus befugt, auf Rechtsgültigkeit zu erkennen, ohne dem Prisengericht darüber Bericht zu erstatten.« Ein kurzes Schweigen trat ein. Herr La Rouquette, der mit dem Rücken gegen den Marmorsockel lehnte, hob den Kopf und versuchte, die Aufmerksamkeit der schönen Clorinde auf sich zu ziehen. »Weshalb aber«, fragte er naiv, »will Rougon nicht, daß man diesem Rodriguez die zwei
Millionen gibt? Was macht ihm das schon aus?« »Das ist eine Gewissenssache«, sagte Herr Kahn ernst. Herr La Rouquette blickte seine beiden Kollegen nacheinander an; als er aber ihre feierlichen Mienen sah, lächelte er nicht einmal. »Außerdem«, fuhr Herr Kahn fort, als wolle er etwas verteidigen, das er nicht offen aussprach, »hat Rougon Ärger, seit Marsy Innenminister ist. Sie haben einander nie leiden können ... Rougon hat mir gesagt, daß er sich ohne seine Anhänglichkeit an den Kaiser, dem er bereits so viele Dienste erwiesen, längst ins Privatleben zurückgezogen hätte ... Kurz, er fühlt sich nicht mehr wohl in den Tuilerien und hält es für notwendig, ein neues Leben anzufangen.« »Er handelt als Ehrenmann«, wiederholte Herr
Béjuin mehrmals. »Ja«, sagte Herr La Rouquette mit schlauer Miene, »wenn er sich zurückziehen will, ist die Gelegenheit günstig ... Aber immerhin, seine Freunde werden untröstlich sein. Sehen Sie doch den Oberst da oben, wie beunruhigt er aussieht; er hat so fest damit gerechnet, sich am nächsten 15. August11 das rote Band um den Hals binden zu können! ... Und die hübsche Frau Bouchard, die darauf geschworen hatte, daß der biedere Herr Bouchard vor Ablauf von sechs Monaten Abteilungschef im Innenministerium sein werde! Der kleine d'Escorailles, Rougons Goldkind, sollte am Namenstag der Frau Bouchard die Ernennungsurkunde ihres Gatten unter dessen Serviette legen ... Nanu, wo sind denn der kleine d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard geblieben?« Die Herren suchten sie. Schließlich entdeckten sie die beiden im Hintergrund der Loge, auf
deren erster Bank sie bei Eröffnung der Sitzung gesessen hatten. Sie hatten sich dorthin ins Dunkle zurückgezogen, hinter einen alten kahlköpfigen Herrn; und beide verhielten sich sehr ruhig, waren sehr rot. In diesem Augenblick beendete der Präsident die Lesung. Mit etwas matter gewordener Stimme, die sich in der barbarischen Holprigkeit des Satzes verhedderte, sprach er die letzten Worte: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, dessen Gegenstand die Genehmigung der Erhöhung des Zinsfußes einer mit Gesetz vom 9. Juni 1853 genehmigten Anleihe und eine außerordentliche Steuerauflage durch das Departement Manche bilden.« Herr Kahn war gerade einem Abgeordneten entgegengeeilt, der soeben den Saal betreten hatte. Er führte ihn zu den anderen und sagte: »Da ist Herr de Combelot ... Er hat wohl Neuigkeiten für uns.«
Herr de Combelot, ein Kammerherr, den das Departement Landes auf einen ausdrücklich vom Kaiser geäußerten Wunsch hin zum Abgeordneten ernannt hatte, verbeugte sich zurückhaltend und wartete darauf, daß man Fragen an ihn richte. Er war ein hochgewachsener, schöner Mann, sehr hellhäutig, mit einem tiefschwarzen Bart, der ihm große Erfolge bei Frauen verschaffte. »Nun also«, fing Herr Kahn an, »was sagt man im Schloß? Wie hat sich der Kaiser entschieden?« »Mein Gott«, erwiderte Herr de Combelot mit schnarrender Stimme, »man sagt allerlei ... Der Kaiser ist dem Herrn Staatsratspräsidenten äußerst zugetan. Die Zusammenkunft ist bestimmt sehr freundschaftlich verlaufen ... Ja, sie ist sehr freundschaftlich verlaufen.« Und nach diesem mit Bedacht gesprochenen Wort hielt er inne, um festzustellen, ob er sich nicht zu weit vorgewagt habe.
»Die Demission ist also zurückgezogen?« fragte Herr Kahn mit leuchtenden Augen. »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete der Kammerherr sehr beunruhigt, »ich weiß nichts. Sie werden verstehen, ich bin in einer besonderen Lage ...« Er beendete den Satz nicht, sondern begnügte sich mit einem Lächeln und beeilte sich, zu seiner Bank hinaufzugehen. Herr Kahn zuckte mit den Achseln und wandte sich an Herrn La Rouquette. »Aber da fällt mir ein, Sie müßten ja auf dem laufenden sein! Erzählt Ihnen Ihre Schwester, Frau de Llorentz, denn nichts?« »Oh, meine Schwester ist noch verschwiegener als Herr de Combelot«, sagte der junge Abgeordnete lachend. »Seit sie Palastdame ist, ist sie ernst wie ein Minister ... Allerdings hat sie mir gestern versichert, das Rücktrittsgesuch werde angenommen ... Dazu gibt es eine nette Geschichte. Man hat, scheint's, eine Dame zu Rougon geschickt, um
ihn zu erweichen. Und wissen Sie, was Rougon getan hat? Er hat der Dame die Tür gewiesen, und dabei war es eine sehr reizvolle Dame.« »Rougon ist keusch und züchtig«, erklärte Herr Béjuin feierlich. Herr La Rouquette wurde von einem tollen Lachen gepackt. Er erhob Einspruch; er könne Tatsachen anführen, wenn er wolle. »Frau Correur nämlich ...«, murmelte er. »Niemals!« sagte Herr Kahn. »Sie kennen diese Sache nicht.« »Nun gut, dann die schöne Clorinde!« »Hören Sie doch auf! Rougon ist viel zu gescheit, um sich mit diesem Satan von einem Mädchen zu vergessen.« Und die Herren traten nahe zueinander und vertieften sich mit recht derben Worten in eine gewagte Unterhaltung. Sie erzählten sich die
Anekdoten, die über die beiden Italienerinnen, Mutter und Tochter, halb Abenteuerinnen und halb vornehme Damen, in Umlauf waren; man traf sie überall an, wo es lebhaft zuging: bei den Ministern, in den Proszeniumslogen der kleinen Theater, in den gerade modernen Seebädern, in entlegenen Gasthöfen. Die Mutter, behauptete man, entstamme einem königlichen Bett; die Tochter, deren völlige Unkenntnis unserer französischen Konventionen einen originellen und sehr schlecht erzogenen »Satan von einem jungen Mädchen« aus ihr gemacht hatte, ritt beim Rennen Pferde zuschanden, zeigte sich an Regentagen mit schmutzigen Strümpfen und schiefgetretenen Stiefelchen auf der Straße, suchte mit dem dreisten Lächeln einer reifen Frau zu einem Ehemann zu kommen. Herr La Rouquette berichtete, sie sei zu einem Ball beim italienischen Botschafter, dem Cavaliere Rusconi, als Jagdgöttin Diana so entblößt erschienen, daß ihr tags darauf der alte Herr de
Nougarède, ein sehr lüsterner Senator, beinahe einen Heiratsantrag gemacht hätte. Und bei dieser Geschichte blickten die drei Abgeordneten immer wieder zu der schönen Clorinde hinauf, die, ungeachtet der Hausordnung, die Mitglieder der Kammer der Reihe nach durch ein großes Opernglas betrachtete. »Nein, nein«, wiederholte Herr Kahn, »so verrückt würde Rougon niemals sein ... Er sagt, sie sei sehr klug, und er nennt sie lachend ›Fräulein Machiavelli‹. Sie amüsiert ihn, das ist alles.« »Wie auch immer«, schloß Herr Béjuin, »Rougon tut nicht recht daran, sie nicht zu heiraten ... Das verleiht einem Mann Ansehen.« Dann einigten sich alle drei über die Frau, die Rougon brauche: eine nicht mehr ganz junge Frau, mindestens fünfunddreißig Jahre alt, die reich sein müsse und imstande, sein Haus nach
den Prinzipien vornehmer Ehrbarkeit zu führen. Unterdessen wurde es ringsum immer lauter. Die Herren hatten bei ihren schlüpfrigen Anekdoten so sehr alles andere vergessen, daß sie gar nicht merkten, was um sie her geschah. Von weitem, aus der Tiefe der Wandelgänge, hörte man die fernen Stimmen der Huissiers rufen: »Zur Sitzung, die Herren, zur Sitzung!« Und durch die Türen aus massivem Mahagoni, deren Flügel weit offenstanden und die goldenen Sterne ihrer Füllungen zeigten, kamen von allen Seiten Abgeordnete herbei. Der bis dahin halbleere Saal füllte sich nach und nach. Die kleinen Gruppen, die sich gelangweilt von Bank zu Bank unterhielten, die Schläfrigen, die ihr Gähnen unterdrückten, wurden geradezu überschwemmt von der steigenden Flut und der Menge der Händedrücke. Während die Mitglieder zur Rechten wie zur Linken ihre Plätze einnahmen, lächelten sie einander zu, sie
hatten eine gewisse Familienähnlichkeit: Gesichter, die alle in gleicher Weise von der Pflicht durchdrungen waren, zu deren Erfüllung sie hierherkamen. Ein dicker Mann auf der letzten Bank links, der zu fest eingenickt war, wurde von seinem Nachbarn geweckt, und nachdem dieser ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, rieb er sich schleunigst die Augen und nahm eine angemessene Haltung an. Die Sitzung, die sich bisher mit für diese Herren sehr langweiligen Fragen hingeschleppt hatte, gewann jetzt das größte Interesse. Von der Menge geschoben, gelangten Herr Kahn und seine beiden Kollegen zu ihren Bänken, ohne zu wissen wie. Sie plauderten noch immer, bemüht, ihr Lachen zu unterdrücken. Herr La Rouquette erzählte eine neue Geschichte von der schönen Clorinde. Sie hatte eines Tages den erstaunlichen Einfall gehabt, ihr Zimmer mit schwarzen, von silbernen Tränen übersäten Behängen
ausschlagen zu lassen und dort, auf liegend, ganz vergraben unter schwarzen Decken, aus denen Nasenspitze hervorschaute, ihre Freunde zu empfangen.
dem Bett ebenfalls nur ihre nächsten
Als Herr Kahn sich setzte, kam er plötzlich zur Besinnung. »Dieser La Rouquette mit seinem Altweibergeschwätz ist blödsinnig«, murmelte er. »Jetzt habe ich Rougon verpaßt!« Und sich mit wütender Miene zu seinem Nachbarn umwendend, sagte er: »Hören Sie, Béjuin, Sie hätten mich wirklich aufmerksam machen können!« Rougon, den man soeben mit dem üblichen Zeremoniell eingeführt hatte, saß bereits zwischen zwei Staatsräten auf der Bank der Regierungsvertreter, einer Art riesiger Mahagonilade, die unten vor dem Präsidiumstisch aufgestellt war, genau dort,
wo früher die nun abgeschaffte Rednertribüne gestanden hatte. Seine breiten Schultern sprengten fast seine Amtstracht aus grünem Tuch, die am Kragen und an den Ärmeln überreich mit Gold bestickt war. Das Gesicht dem Saal zugewandt, das dichte ergrauende Haar über der viereckigen Stirn gescheitelt, versteckte er seine Augen hinter schweren, stets halbgesenkten Lidern; und seine große Nase, seine sehr fleischigen Lippen, die langen Backen, auf denen seine sechsundvierzig Jahre keine einzige Falte eingezeichnet hatten, waren von abstoßender Gewöhnlichkeit, die nur hin und wieder blitzartig von der Schönheit der Kraft verklärt wurde. Angelehnt, das Kinn im Frackkragen, saß er ruhig da, mit gleichgültigem, ein wenig müdem Ausdruck, und schien niemanden zu sehen. »Er sieht aus wie immer«, murmelte Herr Béjuin.
Die Abgeordneten auf den Bänken beugten sich vor, um festzustellen, was für ein Gesicht er mache. Vorsichtige Bemerkungen liefen im Flüsterton von Ohr zu Ohr. Vor allem aber rief Rougons Erscheinen starkes Aufsehen auf den Tribünen hervor. Um zu zeigen, daß sie anwesend seien, streckten die Charbonnels ihre entzückten Gesichter so weit vor, daß die beiden fast in den Saal hinabgestürzt wären. Frau Correur hatte gehüstelt und dabei ein Taschentuch gezogen, das sie unter dem Vorwand, es an die Lippen zu führen, leicht schwenkte. Oberst Jobelin hatte sich wieder gestrafft, und die hübsche Frau Bouchard, die rasch zur ersten Bank hinuntergestiegen war, schnaufte ein wenig, als sie ihr Hutband neu knüpfte, indes sich Herr d'Escorailles schweigend und sehr verstimmt hinter ihr hielt. Was die schöne Clorinde betraf, so tat sie sich keinerlei Zwang an. Da sie sah, daß Rougon den Blick nicht hob, klopfte sie in deutlich
vernehmbaren kleinen Schlägen mit ihrem Opernglas auf den Marmor der Säule, an die sie sich lehnte; und als er sie auch weiterhin nicht beachtete, sagte sie mit so heller Stimme, daß man es im ganzen Saal hörte, zu ihrer Mutter: »Er schmollt also, der plumpe Duckmäuser!« Ein paar Abgeordnete drehten sich lächelnd um. Rougon entschloß sich, der schönen Clorinde einen Blick zu schenken. Darauf klatschte sie, während er ihr ein unmerkliches Zeichen mit dem Kopf gab, triumphierend in die Hände, bog sich lachend hintenüber und sprach dabei laut zu ihrer Mutter, ohne sich auch nur im allergeringsten durch die vielen Menschen da unten, die sie musterten, stören zu lassen. Rougon hatte, bevor er die Lider wieder sinken ließ, langsam an den Tribünen entlanggesehen, wo sein Blick gleichzeitig Frau Bouchard, Oberst Jobelin, Frau Correur und die
Charbonnels umfaßte. Sein Gesicht blieb unbewegt. Er versenkte wieder das Kinn in den Frackkragen, schloß halb die Augen und unterdrückte ein leichtes Gähnen. »Ich werde doch ein Wort mit ihm reden«, hauchte Herr Kahn Herrn Béjuin ins Ohr. Doch als er aufstand, gab der Präsident, der sich seit einem Weilchen vergewisserte, daß alle Abgeordneten zur Stelle waren, ein energisches Glockenzeichen. Und plötzlich herrschte tiefe Stille. In der ersten Sitzreihe, deren gelbe Marmorpulte Auflagen aus weißem Marmor hatten, stand ein blonder Herr. In der Hand hielt er ein großes Blatt Papier, von dem er beim Sprechen kein Auge ließ. »Ich habe die Ehre«, sagte er mit singender Stimme, »einen Bericht über den Gesetzentwurf vorzulegen, welcher dem Staatsministerium für das Finanzjahr 1856 die
Bereitstellung eines Betrages von vierhunderttausend Francs vorschlägt, um die Kosten der Taufe des Kaiserlichen Prinzen12 und der aus diesem Anlaß zu feiernden Feste zu bestreiten.« Und gerade schickte er sich mit verhaltenem Schritt an, den Bericht zu übergeben, als alle Abgeordneten in völliger Einmütigkeit riefen: »Verlesen! Verlesen!« Der Referent wartete, bis der Präsident entschieden hatte, daß die Verlesung stattfinden sollte. Und dann begann er in beinahe ergriffenem Ton: »Meine Herren, der Gesetzentwurf, der uns hier vorgelegt wird, ist einer von denen, welche die üblichen Formen einer Abstimmung als zu langsam erscheinen lassen, weil sie den spontanen Begeisterungsschwung des Corps législatif hemmen.« »Sehr richtig!« riefen mehrere der Mitglieder.
»In den bescheidensten Familien«, fuhr der Referent fort, wobei er jedes Wort sorgfältig modulierte, »ist die Geburt eines Sohnes, eines Erben, mit allen Vorstellungen des Fortbestehens, die mit diesem Namen verknüpft sind, eine Veranlassung zu so süßer Freude, daß die Prüfungen der Vergangenheit vergessen werden und einzig die Hoffnung über der Wiege des Neugeborenen schwebt. Aber was soll man von diesem Familienfest sagen, wenn es zugleich das Fest einer großen Nation ist und zudem ein europäisches Ereignis!« Da brach ein allgemeines Entzücken aus. Dieses rednerische Glanz stück riß die Kammer hin. Rougon, der zu schlafen schien, sah auf den vor ihm ansteigenden Bänken nur freudestrahlende Gesichter. Einige Abgeordnete lauschten, die Hände an den Ohren, mit übertriebener Aufmerksamkeit, um sich nichts von dieser gepflegten Prosa entgehen zu lassen.
Nach einer kurzen Pause fuhr der Referent mit erhobener Stimme fort: »Hier, meine Herren, ist es in der Tat die große französische Familie, die alle ihre Mitglieder auffordert, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen; und welcher Pracht bedürfte es nicht, wäre es überhaupt möglich, daß die äußeren Kundgebungen der Größe ihrer gerechtfertigten Hoffnungen zu entsprechen vermöchten.« Und abermals legte er eine Pause ein. »Sehr richtig! Sehr richtig!« riefen die gleichen Stimmen. »Das ist sehr fein gesagt«, bemerkte Herr Kahn, »nicht wahr, Béjuin?« Herr Béjuin wiegte leicht den Kopf, den Blick auf den Kronleuchter geheftet, der vor dem Präsidiumstisch vom Oberlicht herabhing. Er genoß. Auf der Tribüne ließ sich die schöne Clorinde,
das Opernglas fest auf den Referenten gerichtet, keinen Wechsel seines Mienenspiels entgehen; die Charbonnels hatten feuchte Augen; Frau Correur saß in der aufmerksamen Haltung einer wohlerzogenen Frau da, während der Oberst zustimmend nickte und die hübsche Frau Bouchard sich ganz hingegeben auf die Knie des Herrn d'Escorailles lehnte. Am Präsidiumstisch aber hörten der Präsident, die Schriftführer und auch die Huissiers regungslos und feierlich zu. »Hinfort«, sprach der Referent weiter, »verbürgt die Wiege des Kaiserlichen Prinzen die Sicherheit der Zukunft; denn indem sie der Dynastie, der wir alle zugejauchzt haben, Dauer verleiht, garantiert sie die Wohlfahrt des Landes, seine Ruhe in der Stabilität und eben dadurch die Ruhe des übrigen Europas.« Bei diesem rührenden Bild von der Wiege mußten einige »Pst!« Begeisterungsausbrüche verhindern.
»Auch in einer anderen Epoche schien ein Sprößling dieses erlauchten Blutes zu einer großen Zukunft bestimmt zu sein, aber die Zeiten haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Der Frieden ist das Ergebnis der weisen und weitblickenden Herrschaft, deren Früchte wir ernten, ebenso wie das Genie des Kriegers jenes Heldengedicht schrieb, welches das Erste Kaiserreich begründete. Bei seiner Geburt begrüßt von den Kanonen, die vom Norden bis zum Süden den Erfolg unserer Waffen verkündeten, wurde dem König von Rom13 nicht einmal das Glück zuteil, seinem Vaterlande zu dienen: so wollte es damals die Vorsehung.« »Was sagt er denn da? Er verliert sich«, murmelte der skeptische Herr La Rouquette. »Diese ganze Passage ist ungeschickt. Er wird sich sein Kunstwerk verderben.« Tatsächlich wurden die Abgeordneten unruhig. Wozu diese geschichtliche Rückerinnerung,
die ihrem Eifer abträglich war? Einige putzten sich die Nase. Der Referent aber lächelte, als er spürte, welche Kälte sein letzter Satz verbreitet hatte. Er erhob die Stimme; sorgfältig die Worte wägend, fuhr er, seiner Wirkung gewiß, in seiner Gegenüberstellung fort. »Doch zur Welt gekommen an einem dieser feierlichen Tage, da die Geburt eines einzelnen als das Heil aller betrachtet werden muß, scheint das Kind Frankreichs uns, und ebenso den künftigen Generationen, heute das Recht zu schenken, am heimatlichen Herd zu leben und zu sterben. Das ist hinfort das Unterpfand der göttlichen Gnade.« Das war ein rauschender Fall erlesener Sätze. Alle Abgeordneten verstanden, was er sagen wollte, und ein freudiges Gemurmel durchlief den Saal. Die Gewißheit ewigen Friedens war wahrhaft süß. Beruhigt nahmen die Herren wieder die Haltung von Politikern an, die
entzückt in Literatur schwelgen. Sie hatten Muße vor sich. Europa gehörte ihrem Herrn. »Der Kaiser, zum unumschränkten Gebieter über Europa geworden«, fuhr der Referent mit erneuter Weitschweifigkeit fort, »war gerade im Begriff, jenen großmütigen Friedensvertrag14 zu unterzeichnen, der, indem er die produktiven Kräfte der Nationen wieder vereint, sowohl das Bündnis der Völker wie auch das der Könige bedeutet, als es Gott gefiel, sein Glück zugleich mit seinem Ruhm auf den Gipfel zu führen. Ist es nicht erlaubt, zu denken, daß er von diesem Augenblick an zahlreiche glückliche Jahre vorausahnt, wenn er die Wiege betrachtet, darin, so klein noch, jener ruht, der seine großartige Politik fortsetzen wird?« Auch dies war ein sehr hübsches Bild. Und das war gewiß erlaubt; etliche Abgeordnete bestätigten es, indem sie langsam nickten. Aber der Bericht schien allmählich etwas zu
lang. Viele Mitglieder wurden wieder ernst, einige sahen sogar verstohlen zu den Tribünen hinauf, als erfahrene Leute, die es ein wenig verdroß, sich so zu zeigen, nämlich in der wahren Gestalt ihrer Politik. Andere waren zerstreut, dachten mit erdfahlem Gesicht an ihre eigenen Angelegenheiten, klopften erneut mit den Fingerspitzen auf das Mahagoni ihrer Pulte; und verschwommen zogen in ihrer Erinnerung frühere Sitzungen vorüber, frühere Ergebenheitserklärungen, die einem in der Wiege liegenden Kind Vollmachten übertrugen. Herr La Rouquette wandte oft den Kopf, um auf die Uhr zu sehen; als der Zeiger Viertel vor drei zeigte, machte er eine verzweifelte Gebärde; er verpaßte eine Zusammenkunft. Seite an Seite saßen mit verschränkten Armen regungslos Herr Kahn und Herr Béjuin und ließen mit blinzelnden Lidern den Blick von den großen grünsamtenen Wandbespannungen zu dem Basrelief aus weißem Marmor wandern, auf
das der Gehrock des Präsidenten einen schwarzen Fleck zeichnete. Und in der Diplomatenloge hatte sich die schöne Clorinde, das Opernglas noch immer gezückt, wieder darangemacht, lange und aufmerksam Rougon zu betrachten, der in der prächtigen Haltung eines schlummernden Stiers auf seiner Bank saß. Der Referent jedoch beeilte sich nicht, las zu seinem eigenen Vergnügen, mit einem rhythmischen und zufriedenen Wiegen der Schultern: »Haben wir also volles und ganzes Vertrauen, und möge sich der Corps législatif bei diesem wichtigen und ernsten Anlaß daran erinnern, daß er gemeinsam mit dem Kaiser zur Macht gelangte, was ihm fast ein größeres Familienrecht als den anderen Körperschaften des Staates gibt, an den Freuden des Herrschers teilzunehmen. Wie er hervorgegangen aus dem freien Wunsch des Volkes, wird daher der Corps
législatif in dieser Stunde zur Stimme der Nation, um dem erlauchten Kinde die Huldigung einer unwandelbaren Ehrerbietung, einer allen Prüfungen gewachsenen Ergebenheit und jener grenzenlosen Liebe darzubringen, die aus der politischen Überzeugung eine Religion macht, deren Pflichten man preist.« Da nun von Huldigung, Religion und Pflichten die Rede war, mußte es wohl bald zu Ende sein. Die Charbonnels wagten jetzt, im Flüsterton ihre Eindrücke auszutauschen, während Frau Correur ein Hüsteln in ihrem Taschentuch erstickte. Frau Bouchard begab sich verstohlen wieder in den Hintergrund der Staatsratsloge zu Herrn Jules d'Escorailles. Tatsächlich änderte der Referent plötzlich die Stimme, ging von dem feierlichen Ton zum familiären über und stammelte rasch: »Wir schlagen Ihnen vor, meine Herren, den Gesetzentwurf so, wie er vom Staatsrat
vorgelegt worden ist, ohne Einschränkung und Veränderung anzunehmen.« Und inmitten eines großen verworrenen Getöses setzte er sich hin. »Sehr richtig! Sehr richtig!« rief der ganze Saal. Laute Bravorufe ertönten. Herr de Combelot, dessen lächelnde Aufmerksamkeit keine Minute lang nachgelassen hatte, schrie sogar: »Es lebe der Kaiser!«, was in dem Lärm unterging. Und beinahe hätte man Oberst Jobelin, der ganz allein am Rande der Tribüne stand und, ungeachtet der Hausordnung, selbstvergessen mit seinen vertrockneten Händen Beifall klatschte, eine Ovation bereitet. Das ganze Entzücken, das die ersten Sätze hervorgerufen hatten, kam jetzt mit einer neuen Flut von Beglückwünschungen wieder zum Vorschein. Das war das Ende der Fron. Von einer Bank zur anderen wechselte man liebenswürdige Worte, während ein Strom von
Freunden auf den Referenten zustürzte, um ihm kräftig beide Hände zu drücken. Dann herrschte in dem Tumult bald ein Wort vor: »Beratung! Beratung!« Der Präsident, der hochaufgerichtet am Tisch stand, schien auf diesen Ruf gewartet zu haben. Es gab ein Glockenzeichen, und in dem jäh von Ehrerbietung erfüllten Saal sprach er: »Meine Herren, eine große Anzahl Mitglieder fordert, daß unverzüglich zur Beratung geschritten wird.« »Ja, ja!« bestätigte die gesamte Kammer mit einem einzigen Geschrei. Und es fand keine Beratung statt. Man stimmte sofort ab. Die beiden Artikel des Gesetzentwurfes, über die man nacheinander abstimmen ließ, wurden durch Sitzenbleiben und Aufstehen angenommen. Kaum hatte der Präsident die Lesung des Artikels beendet, als sich von oben bis unten auf allen Bänken
sämtliche Abgeordneten, wie vom Schwung der Begeisterung emporgerissen, mit lautem Füßescharren wie ein Mann erhoben. Dann machten die Urnen die Runde, Huissiers gingen zwischen den Bänken hindurch und sammelten in den Zinkkästen die Stimmen ein. Die Summe von vierhunderttausend Francs war einstimmig von zweihundertneununddreißig Abgeordneten gebilligt worden. »Das nenne ich ganze Arbeit«, sagte Herr Béjuin naiv und fing dann an zu lachen, weil er glaubte, etwas Witziges von sich gegeben zu haben. »Es ist drei Uhr durch, ich verdrücke mich«, murmelte Herr La Rouquette, als er an Herrn Kahn vorbeiging. Der Saal leerte sich. In aller Stille gelangten Abgeordnete zu den Türen, schienen in den Wänden zu verschwinden. Auf der Tagesordnung standen Gesetze von örtlichem
Interesse. Bald saßen auf den Bänken nur noch die gutwilligen Mitglieder, solche, die zweifellos an diesem Tage nichts anderes vorhatten; sie setzten ihren unterbrochenen Schlummer fort, sie nahmen ihr Geplauder genau dort wieder auf, wo sie es abgebrochen hatten, und die Sitzung ging, so wie sie begonnen, in ruhiger Gleichgültigkeit zu Ende. Sogar der Stimmenlärm verebbte nach und nach, als sei der Corps législatif in einem Winkel des schweigenden Paris vollständig eingeschlafen. »Hören Sie mal, Béjuin«, bat Herr Kahn, »versuchen Sie doch, beim Hinausgehen Delestang zum Reden zu bringen. Er ist zusammen mit Rougon gekommen, er muß etwas wissen.« »Ah ja, Sie haben recht, das ist Delestang«, murmelte Herr Béjuin, während er den Staatsrat betrachtete, der links von Rougon saß. »Ich erkenne ihn nie, das kommt von
diesen verteufelten Amtstrachten.« »Ich gehe nicht fort, denn ich will unseren großen Mann zu fassen bekommen«, fügte Herr Kahn hinzu. »Wir müssen unbedingt Bescheid wissen.« Der Präsident ließ über eine nicht endende Reihe von Gesetzentwürfen abstimmen, über die durch Sitzenbleiben und Aufstehen entschieden wurde. Die Abgeordneten standen mechanisch auf, setzten sich wieder, ohne mit Plaudern, ja sogar ohne mit Schlafen aufzuhören. Es wurde so langweilig, daß die wenigen Neugierigen auf den Tribünen weggingen. Nur Rougons Freunde blieben da. Sie hofften noch immer, daß er sprechen würde. Plötzlich erhob sich ein Abgeordneter mit dem korrekten Backenbart eines Provinzadvokaten. Das brachte den eintönigen Gang der Abstimmungsmaschine mit einmal zum Stillstand. In lebhafter Überraschtheit wandten
sich die Köpfe. »Meine Herren«, sagte der Abgeordnete, in seiner Bank stehend, »ich bitte, mich über die Gründe auslassen zu dürfen, die mich gezwungen haben, der Mehrheit der Kommission sehr wider meinen Willen nicht zuzustimmen.« Seine Stimme war so grell, so komisch, daß die schöne Clorinde ein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand erstickte. Aber unten bei den Herren nahm das Erstaunen zu. Was war denn da los? Weshalb redete er? Durch Fragen erfuhr man schließlich, daß der Präsident soeben den Entwurf eines Gesetzes zur Debatte gestellt hatte, durch welches das Departement PyrénéesOrientales ermächtigt werden sollte; eine Anleihe von zweihundertfünfzigtausend Francs für den Bau eines Justizpalastes in Perpignan aufzunehmen. Der Redner, der dem Generalrat15 dieses Departements angehörte,
sprach gegen den Gesetzentwurf. Das schien interessant zu werden. Man hörte zu. Der Abgeordnete mit dem korrekten Backenbart ging unterdessen mit außerordentlicher Vorsicht vor. Seine Sätze, in deren Verlauf er vor allen nur denkbaren Autoritäten den Hut zog, waren voller Vorbehalte. Aber die Lasten des Departements seien schwer; und er entwarf ein vollständiges Bild der finanziellen Lage der PyrénéesOrientales. Außerdem scheine ihm die Notwendigkeit eines neuen Justizpalastes nicht besonders erwiesen. Auf diese Weise sprach er fast eine Viertelstunde lang. Als er sich setzte, war er sehr erregt. Rougon, der die Augenlider gehoben hatte, ließ sie langsam wieder sinken. Dann kam der Referent an die Reihe, ein kleiner, sehr lebhafter Greis, der als ein seiner Sache sicherer Mann mit klarer Stimme sprach. Zunächst richtete er ein höfliches Wort
an seinen ehrenwerten Kollegen, mit dem er zu seinem Bedauern nicht übereinstimme. Allein, das Departement PyrénéesOrientales sei weit davon entfernt, so verschuldet zu sein, wie man behaupten wolle; und mit anderen Zahlen entwarf er ein neues vollständiges Bild der finanziellen Lage des Departements. Zudem könne die Notwendigkeit eines Justizpalastes nicht geleugnet werden. Er teilte Einzelheiten mit. Der alte Palast liege in einem so dicht bevölkerten Viertel, daß der Straßenlärm die Richter daran hindere, die Anwälte zu verstehen. Außerdem sei er zu klein; deshalb müßten sich die Zeugen, wenn bei Schwurgerichtsprozessen sehr viele geladen seien, auf einem Treppenabsatz aufhalten, was sie gefährlichen Zudringlichkeiten aussetze. Der Referent schloß damit, daß er als unwiderstehliches Argument verkündete, der Justizminister selber habe die Vorlage des Gesetzentwurfes bewirkt. Rougon, die Hände auf den Schenkeln gefaltet,
den Nacken gegen die Mahagonibank gelehnt, rührte sich nicht. Seit Beginn der Auseinandersetzung schien seine breitschultrige Gestalt noch schwerfälliger geworden. Und als der erste Redner Miene machte, erwidern zu wollen, erhob Rougon langsam seinen massigen Körper, ohne sich ganz bis zum Stehen aufzurichten, und sprach mit belegter Stimme den einzigen Satz: »Der Herr Referent vergaß hinzuzufügen, daß der Innenminister und der Finanzminister dem Gesetzentwurf zugestimmt haben.« Er sank auf seinen Sitz zurück, verfiel von neuem in die Haltung eines schlummernden Stiers. Manche der Abgeordneten hatte ein leichter Schauer überrieselt. Der Redner setzte sich wieder, wobei er grüßend den Oberkörper neigte. Und das Gesetz wurde angenommen. Die wenigen Mitglieder, die der Debatte neugierig gefolgt waren, machten gleichgültige Gesichter. Rougon hatte gesprochen! Von einer Loge zur
anderen zwinkerten Oberst Jobelin und die beiden Charbonnels einander zu, während sich Frau Correur anschickte, die Tribüne zu verlassen, wie man eine Theaterloge vor dem Fallen des Vorhangs verläßt, sobald der Held des Stückes seine letzte Tirade von sich gegeben hat. Herr d'Escorailles und Frau Bouchard waren schon gegangen. Clorinde, die an der Samtbrüstung stand und den Saal mit ihrer prachtvollen Erscheinung beherrschte, hüllte sich langsam und majestätisch in einen Spitzenschal, wobei sie den Blick rings um das Halbrund schweifen ließ. Der Regen trommelte nicht mehr auf die Scheiben des Oberlichts, aber der Himmel war noch düster von großen Wolken. Bei dem trüben Licht wirkte das Mahagoniholz der Pulte schwarz; wie ein Brodem stieg Dunkelheit längs der Bänke auf, wo nur noch die kahlen Schädel der Abgeordneten weiße Flecken bildeten; und auf dem Marmor der Sockel unterhalb der verschwommenen Blässe
der allegorischen Gestalten zeichneten sich der Präsident, die Schriftführer und die in einer Reihe stehenden Huissiers als starre Schattenspielfiguren ab. In diesem so plötzlich abnehmenden Tageslicht versank die Sitzung. »Lieber Gott, es ist zum Umkommen hier drin«, sagte Clorinde und drängte ihre Mutter zum Verlassen der Tribüne. Und sie verwirrte die auf dem Treppenabsatz eingenickten Huissiers durch die seltsame Art, in der sie sich ihren Schal um die Hüften gewickelt hatte. Unten im Vestibül trafen die beiden Damen den Oberst und Frau Correur. »Wir warten auf ihn«, sagte der Oberst, »vielleicht kommt er hier heraus ... Auf jeden Fall habe ich Kahn und Béjuin einen Wink gegeben, damit sie mir hierher Nachricht bringen.« Frau Correur hatte sich der Gräfin Balbi
genähert. Nun sagte sie mit trostloser Stimme: »Ach, das wäre ein großes Unglück«, ohne sich weiter auszulassen. Der Oberst hob den Blick gen Himmel. »Männer wie Rougon braucht das Land unbedingt«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Der Kaiser würde einen Fehler machen.« Und wieder schwiegen alle. Clorinde wollte in die große Wandelhalle hineinschauen, aber ein Huissier schloß jählings die Tür. Sie kehrte also zu ihrer Mutter zurück, die stumm unter ihrem kleinen schwarzen Schleier dastand. Sie murmelte: »Warten ist schrecklich langweilig.« Soldaten kamen. Der Oberst teilte mit, daß die Sitzung beendet sei. Tatsächlich erschienen oben auf der Treppe die Charbonnels. Hintereinander stiegen sie vorsichtig am Geländer entlang herunter. Als Herr
Charbonnel den Oberst gewahrte, rief er: »Er hat nicht viel gesagt, aber er hat ihnen schön das Maul gestopft!« »Es fehlt ihm an Gelegenheiten«, flüsterte der Oberst dem Biedermann ins Ohr, als dieser dicht bei ihm war, »sonst sollten Sie ihn hören! Er muß erst in Hitze geraten.« Unterdessen hatten die Soldaten vom Sitzungssaal bis zu der Galerie des Präsidiums, die auf das Vestibül hinausführt, Spalier gebildet. Und während die Tamboure einen Marsch schlugen, näherte sich ein feierlicher Zug. An der Spitze schritten zwei schwarzgekleidete Huissiers, den Chapeau claque unter dem Arm, die Kette um den Hals, den Degen mit dem stählernen Knopf an der Seite. Dann kam der Präsident, den zwei Offiziere geleiteten. Die Schriftführer des Präsidiums und der Generalsekretär seiner Kanzlei folgten. Als der Präsident an der schönen Clorinde vorbeiging, lächelte er ihr
als Mann von Welt trotz des feierlichen Aufzuges zu. »Ach, hier sind Sie«, rief Herr Kahn, der ganz bestürzt angelaufen kam. Und obwohl die große Wandelhalle damals für das Publikum gesperrt war, führte er sie in die Nische einer der hohen Glastüren, die auf den Garten hinausgehen. Er schien rasend zu sein. »Ich habe ihn wieder verfehlt«, sagte er. »Er ist nach der Rue de Bourgogne davon, während ich ihm im Saal des General Foy16 auflauerte ... Aber das tut nichts, wir werden trotzdem etwas erfahren. Ich habe Béjuin hinter Delestang hergejagt.« Und nun wartete man wieder, gute zehn Minuten lang. Zwischen den beiden großen Windfangwänden aus grünem Tuch, welche die Türen verbargen, kamen lässig die Abgeordneten heraus. Einige verweilten, um sich eine Zigarre anzustecken.
Andere blieben lachend, Händedrücke tauschend, in kleinen Gruppen stehen. Frau Correur war unterdessen an die Laokoongruppe herangetreten, um sie zu betrachten. Und während die Charbonnels weit den Hals zurückbogen, um eine Möwe zu sehen, die die spießbürgerliche Phantasie des Malers so, als sei sie aus dem Bild herausgeflogen, auf den Rahmen eines Wandgemäldes gemalt hatte, interessierte sich die schöne Clorinde, die vor der großen bronzenen Minerva stand, für die Arme und den Busen dieser riesigen Göttin. In der Nische der Glastür unterhielten sich Oberst Jobelin und Herr Kahn lebhaft im Flüsterton. »Ah, da ist Béjuin!« rief letzterer. Alle traten mit gespannten Gesichtern näher. Herr Béjuin atmete schwer. »Nun?« fragte man ihn. »Nun – die Demission ist angenommen
worden, Rougon tritt zurück.« Das wirkte wie ein Keulenschlag. Es herrschte tiefe Stille. Clorinde, die, um ihre unruhigen Finger zu beschäftigen, die Enden ihres Schals zusammenknüllte, erblickte gerade hinten im Garten die hübsche Frau Bouchard, die langsam am Arm des Herrn d'Escorailles dahinwandelte, den Kopf ein wenig auf seine Schulter geneigt. Die beiden waren vor den anderen hinuntergegangen, hatten sich eine offene Tür zunutze gemacht und führten nun in diesen zu ernsthaftem Nachsinnen bestimmten Alleen ihre Verliebtheit unter dem Spitzengewebe des jungen Laubes spazieren. Clorinde winkte sie mit der Hand herbei. »Der große Mann zieht sich zurück«, sagte sie zu der lächelnden jungen Frau. Frau Bouchard ließ jäh den Arm ihres Kavaliers fahren, wurde ganz bleich und ernst, indes Herr Kahn inmitten der bestürzten Gruppe der Freunde Rougons dadurch
Einspruch erhob, daß er verzweifelt die Arme zum Himmel emporreckte, ohne ein Wort herauszubringen.
Kapitel II Am Morgen hatte im »Moniteur«17 der Rücktritt Rougons gestanden, der »aus Gesundheitsgründen« demissioniert habe. Er war nach dem Frühstück in den Staatsrat gekommen mit der Absicht, seinem Nachfolger schon diesen Abend den Platz aufgeräumt zu hinterlassen. Und in dem großen rot und goldenen Arbeitszimmer, das dem Präsidenten vorbehalten war, leerte er, vor dem riesigen Schreibtisch aus Palisanderholz sitzend, die Schubfächer und ordnete Papiere, die er mit rosafarbenen Bindfäden bündelte. Er klingelte. Ein Türhüter trat ein, ein
prachtvoll gewachsener Mann, der bei der Kavallerie gedient hatte. »Bringen Sie mir eine brennende Kerze«, bat Rougon. Und als der Türhüter, nachdem er einen kleinen Leuchter vom Kamin auf den Schreibtisch gestellt hatte, gehen wollte, rief Rougon ihn zurück. »Merle, hören Sie! – Lassen Sie niemanden herein. Verstehen Sie, niemanden.« »Jawohl, Herr Präsident«, antwortete der Türhüter und schloß geräuschlos die Tür. Rougon lächelte leicht. Er wandte sich zu Delestang um, der am anderen Ende des Raumes vor einem Schrank mit Pappschubfächern stand, die er sorgfältig durchsah. »Der brave Merle hat heute morgen den ›Moniteur‹ nicht gelesen«, murmelte er.
Delestang schüttelte, da er nichts zu sagen wußte, nur den Kopf. Er hatte einen wundervollen Kopf, sehr kahl, aber mit einer dieser frühzeitigen Glatzen, die den Frauen gefallen. Sein nackter Schädel, der die Stirn übermäßig hoch erscheinen ließ, gab ihm den Anschein umfassender Intelligenz. Sein rosiges, ein wenig viereckiges Gesicht ohne ein einziges Barthaar erinnerte an jene korrekten und gedankenvollen Gesichter, wie phantasiebegabte Maler sie gern den großen Politikern verleihen. »Merle ist Ihnen sehr ergeben«, sagte er schließlich. Und er versenkte wieder den Kopf in das Pappfach, das er gerade durchstöberte. Rougon, der eine Handvoll Papiere zusammengedreht hatte, zündete sie an der Kerze an und warf sie dann in eine große Bronzeschale, die auf einer Ecke des Schreibtisches stand. Er sah zu, wie sie
verbrannten. »Delestang, die unteren Fächer rühren Sie mir bitte nicht an«, sagte er. »Darin sind Akten, in denen nur ich mich auskenne.« Dann setzten beide eine reichliche Viertelstunde lang schweigend ihre Tätigkeit fort. Es war sehr schönes Wetter, die Sonne schien durch die drei großen Fenster, die auf die Uferstraße hinausgingen. Eines der Fenster, das einen Spalt breit offenstand, ließ den leichten kühlen Luftzug von der Seine herein, der mitunter ein wenig die seidenen Fransen der Vorhänge hob. Zerknitterte, auf den Teppich geworfene Papiere flatterten mit leisem Rascheln weiter. »Hier, sehen Sie doch mal dies«, sagte Delestang und reichte Rougon einen Brief, den er soeben gefunden hatte. Rougon las den Brief und zündete ihn gelassen an der Kerze an. Es war ein delikater Brief.
Und sie plauderten in abgerissenen Sätzen, sich jeden Augenblick unterbrechend, die Nase in allerlei Papierkram. Rougon dankte Delestang dafür, daß er gekommen sei, ihm zu helfen. Dieser »liebe Freund« war der einzige, mit dem er unbekümmert die schmutzige Wäsche seiner fünf Präsidentschaftsjahre waschen konnte. Er hatte ihn in der Gesetzgebenden Versammlung kennengelernt, wo sie nebeneinander auf derselben Bank gesessen hatten. Dort hatte er eine echte Zuneigung zu diesem schönen Mann empfunden, wobei er ihn gleichzeitig köstlich dumm, hohl und stolz fand. Für gewöhnlich pflegte er mit überzeugter Miene zu sagen, daß »dieser verteufelte Delestang es weit bringen« werde. Und er förderte ihn, band ihn durch Dankbarkeit an sich, benutzte ihn wie ein Möbel, in das er alles verschloß, was er nicht mit sich herumtragen konnte. »Wie dumm ist man doch, daß man Papiere aufhebt!« meinte Rougon, während er ein
anderes überquellendes Schubfach öffnete. »Da ist ein Brief von einer Frau«, sagte Delestang mit einem Augenzwinkern. Rougon lachte herzlich. Seine ganze breite Brust schütterte. Protestierend nahm er den Brief. Sobald er die ersten Zeilen überflogen hatte, rief er: »Den hat der kleine d'Escorailles versehentlich hiergelassen! – Hübsche Zettelchen übrigens, solche Briefchen! Man bringt es weit mit drei Zeilen von einer Frau.« Und während er den Brief verbrannte, fügte er hinzu: »Sie wissen, Delestang, man soll sich vor den Frauen hüten!« Delestang senkte den Kopf. Immer steckte er in irgendeiner heiklen Liebesaffäre. 1851 hätte er sogar fast seine politische Zukunft gefährdet; damals war er leidenschaftlich in die Frau eines sozialistischen Abgeordneten verliebt, und um sich ihrem Gatten angenehm zu machen, stimmte er meist für die
Opposition, gegen das Elysée18. Daher traf ihn der 2. Dezember19 wie ein wahrer Keulenschlag. Zwei Tage lang schloß er sich ein, hilflos, am Ende, zerschmettert, zitternd vor Angst, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihn verhaften würde. Rougon hatte ihn aus dieser bösen Klemme retten müssen; er hatte ihn veranlaßt, nicht mehr bei den Wahlen in Erscheinung zu treten, und ihn ins Elysée gebracht, wo er eine Stellung als Staatsrat für ihn ergatterte. Delestang, Sohn eines Weinhändlers aus Bercy, ehemals Anwalt, Eigentümer eines Musterguts in der Nähe von Sainte Menehould, war mehrere Millionen schwer und bewohnte in der Rue du Colisée ein äußerst elegantes Stadthaus. »Ja, hüten Sie sich vor den Frauen«, wiederholte Rougon, der nach jedem Wort eine Pause machte, um einen Blick in die Aktenstücke zu werfen. »Wenn die Frauen einem keine Krone aufs Haupt setzen, legen sie einem einen Strick um den Hals ... In
unserem Alter muß man nämlich mit seinem Herzen ebenso pfleglich umgehen wie mit seinem Magen.« In diesem Augenblick erhob sich im Vorzimmer großer Lärm. Man hörte die Stimme Merles, der jemandem den Eintritt verwehrte. Und plötzlich kam mit den Worten: »Zum Teufel, ich muß ihm die Hand drücken, diesem teuren Freund«, ein kleiner Mann herein. »Sieh da, Du Poizat!« rief Rougon, ohne aufzustehen. Und als Merle heftige Gebärden machte, um sich zu entschuldigen, befahl er ihm, die Tür zu schließen. Dann sagte er ruhig: »Ich glaubte Sie in Bressuire ... Man läßt also seine Unterpräfektur im Stich wie eine alte Geliebte.«
Du Poizat, ein schmächtiger Mann mit einem kleinen, verschlagenen Gesicht und sehr weißen, unregelmäßig stehenden Zähnen, zuckte leicht mit den Achseln. »Ich bin seit heute morgen geschäftlich in Paris und wollte Ihnen erst abends in der Rue Marbeuf die Hand drücken. Ich hätte Sie zum Essen eingeladen ... Aber nachdem ich den ›Moniteur‹ gelesen hatte ...« Er zog einen Sessel an den Schreibtisch heran, ließ sich ungeniert Rougon gegenüber nieder. »Hören Sie mal, was geht denn eigentlich vor? Da komme ich von weit hinten aus dem Departement DeuxSèvres ... Ich hatte zwar da unten schon von irgendwas Wind bekommen. Aber ich war weit davon entfernt, zu ahnen ... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?« Jetzt zuckte Rougon seinerseits mit den Achseln. Es war klar, Du Poizat hatte dort unten erfahren, daß Rougon in Ungnade
gefallen war, und kam nun angerannt, um zu sehen, ob es hier keinen Strohhalm gäbe, an den er sich klammern könnte. Rougon blickte ihm bis in die Seele, als er sagte: »Ich hätte Ihnen heute abend geschrieben ... Reichen Sie Ihren Rücktritt ein, mein Bester ...« »Das ist alles, was ich wissen wollte, ich werde meinen Rücktritt einreichen«, erwiderte Du Poizat nur. Und vor sich hin pfeifend, stand er auf. Als er mit kleinen Schritten auf und ab ging, bemerkte er Delestang, der inmitten eines wüsten Haufens von Pappschachteln auf dem Teppich kniete. Schweigend gab er ihm die Hand. Dann zog er eine Zigarre aus der Tasche und steckte sie an der Kerze an. »Da man umzieht, darf man auch rauchen«, sagte er, während er sich abermals in den Sessel niederließ. »Umziehen ist lustig!« Rougon war in einen Stoß Papiere vertieft, die
er mit größter Aufmerksamkeit las. Er sortierte sie sorgfältig, verbrannte die einen, bewahrte andere auf. Du Poizat blies mit zurückgelehntem Kopf dünne Rauchfäden aus dem Mundwinkel und sah Rougon bei seinem Tun zu. Sie hatten sich ein paar Monate vor der Februarrevolution kennengelernt. Damals wohnten beide bei Frau Mélanie Correur, im Hôtel Vanneau in der Rue Vanneau. Du Poizat lebte als ihr Landsmann dort; er war ebenso wie Frau Correur in Coulonges, einer kleinen Stadt im Arrondissement Niort, geboren. Sein Vater, ein Gerichtsvollzieher, hatte ihn zum Rechtsstudium nach Paris geschickt, wohin er ihm monatlich hundert Francs für den Lebensunterhalt zahlte, obgleich er schöne runde Summen verdiente, indem er Geld auf kurze Zeit zu hohen Zinsen auslieh; das Vermögen dieses Biedermannes blieb selbst in seiner Heimatgegend so unerklärlich, daß man ihn verdächtigte, in irgendeinem alten Schrank, dessen gerichtliche Beschlagnahme
er durchgeführt hatte, einen Schatz gefunden zu haben. Seit den ersten Anfängen der bonapartistischen Propaganda machte sich Rougon diesen mageren Burschen zunutze, der wütend und mit beunruhigendem Lächeln seine monatlichen hundert Francs aufbrauchte; und sie beteiligten sich gemeinsam an den verfänglichsten Unternehmungen. Als später Rougon in die Gesetzgebende Versammlung einzutreten wünschte, war es Du Poizat, der mit aller Gewalt seine Wahl im Departement DeuxSèvres durchsetzte. Nach dem Staatsstreich arbeitete dann Rougon seinerseits für Du Poizat, indem er ihn zum Unterpräfekten in Bressuire ernennen ließ. Der junge Mann, kaum dreißig Jahre alt, hatte in seiner Heimat seinen Erfolg auskosten wollen, ein paar Meilen von seinem Vater entfernt, dessen Geiz ihn seit seinem Abgang vom Gymnasium marterte. »Und wie geht's dem Papa Du Poizat?« fragte Rougon, ohne aufzusehen.
»Zu gut«, antwortete der andere geradeheraus. »Er hat sein letztes Dienstmädchen weggejagt, weil sie drei Pfund Brot gegessen hat. Jetzt hat er zwei geladene Gewehre hinter der Tür stehen, und wenn ich zu ihm gehe, muß ich mich über die Hofmauer hinweg in Unterhandlungen einlassen.« Während der Unterhaltung hatte sich Du Poizat vorgebeugt und wühlte mit den Fingerspitzen in der Bronzeschale, in der noch halbverbrannte Papierstücke lagen. Rougon, der dieses Spiel bemerkt hatte, hob mit einem Ruck den Kopf. Er hatte vor seinem ehemaligen Kampfgefährten, dessen unregelmäßig stehende weiße Zähne denen eines jungen Wolfs glichen, immer eine leise Angst empfunden. Einst, als sie noch zusammen arbeiteten, war er stets sehr darum besorgt gewesen, ihm auch nicht das geringste kompromittierende Aktenstück in den Händen zu lassen. Deshalb warf er jetzt, als er sah, daß jener die unversehrt gebliebenen Wörter zu
lesen versuchte, eine Handvoll brennender Briefe in die Schale. Du Poizat verstand vollkommen. Aber er lächelte, scherzte. »Das ist das Großreinemachen«, meinte er. Und er ergriff eine lange Schere und bediente sich ihrer als Pinzette. Er steckte die Briefe, die am Erlöschen waren, aufs neue an der Kerze an, ließ die allzu fest zusammengedrückten Papierknäuel in der Luft verbrennen und rührte in den glimmenden Überresten wie in dem flammenden Alkohol einer Punschbowle. In der Schale flogen leuchtende Funken umher, indes bläulicher Rauch aufstieg und langsam zu dem offenen Fenster zog. Die Kerze begann zuweilen zu flackern und brannte dann wieder mit einer ganz geraden, sehr hohen Flamme. »Ihre Kerze sieht aus wie ein Kirchenlicht«, sagte Du Poizat grinsend. »Oh, was für ein Begräbnis, mein armer Freund! Wie viele Tote muß man in die Asche betten!«
Rougon war im Begriff zu antworten, als abermals Lärm aus dem Vorzimmer drang. Zum zweitenmal verwehrte Merle jemandem den Eintritt. Und als die Stimmen lauter wurden, sagte Rougon: »Delestang, seien Sie doch so liebenswürdig und sehen Sie nach, was da vor sich geht. Wenn ich mich blicken lasse, fällt man über uns her.« Delestang öffnete behutsam die Tür, die er hinter sich wieder schloß. Aber fast im selben Augenblick steckte er den Kopf herein und flüsterte: »Kahn ist hier.« »Nun gut, soll er hereinkommen«, entschied Rougon. »Aber nur er, hören Sie!« Und er rief Merle herbei, um diesem seine Anordnungen zu wiederholen. »Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Freund«, sagte er, sich Kahn zuwendend, als der Türhüter hinausgegangen war. »Aber ich bin so beschäftigt ... Setzen Sie sich neben Du
Poizat und rühren Sie sich nicht, sonst werfe ich Sie alle beide hinaus.« Den Abgeordneten schien dieser ungehobelte Empfang nicht im geringsten zu berühren. Er war an Rougons Eigentümlichkeiten gewöhnt. Er nahm einen Sessel, setzte sich neben Du Poizat, der sich eine zweite Zigarre ansteckte. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, begann er: »Es ist schon heiß ... Ich komme aus der Rue Marbeuf, ich glaubte, Sie noch zu Hause anzutreffen.« Rougon antwortete nicht, es entstand eine Pause. Er zerknüllte Papiere und warf sie in einen Korb, den er zu sich herangezogen hatte. »Ich muß mit Ihnen reden«, fing Herr Kahn an. »Reden Sie, reden Sie«, sagte Rougon. »Ich höre Ihnen zu.« Aber der Abgeordnete schien ganz plötzlich die Unordnung zu bemerken, die im Zimmer
herrschte. »Was machen Sie denn?« fragte er mit vollendet gespieltem Erstaunen. »Wechseln Sie das Arbeitszimmer?« Er hatte den Ton so gut getroffen, daß Delestang die Freundlichkeit besaß, aufzustehen, um Herrn Kahn einen »Moniteur« hinzureichen. »O mein Gott!« rief Herr Kahn, sobald er einen Blick auf die Zeitung geworfen hatte. »Ich dachte, die Sache sei seit gestern abend beigelegt. Das ist ein wahrer Blitzschlag ... Mein lieber Freund ...« Er war aufgesprungen und drückte Rougon die Hände. Der sah ihn schweigend an; auf seinem vollen Gesicht zogen sich zwei große spöttische Falten scharf an den Mundwinkeln vorbei. Und da Du Poizat den Gleichgültigen spielte, vermutete er, daß sich die beiden am Vormittag getroffen hätten, um so mehr, als
Herr Kahn versäumt hatte, erstaunt zu scheinen, als er den Unterpräfekten erblickte. Der eine mußte in den Staatsrat gegangen sein, während der andere in die Rue Marbeuf lief. Auf diese Weise waren sie sicher, ihn nicht zu verfehlen. »Nun, Sie hatten mir etwas zu sagen?« fragte Rougon in seiner gelassenen Art. »Sprechen wir nicht mehr davon, mein lieber Freund«, rief der Abgeordnete. »Sie haben Verdrießlichkeiten genug. Ich werde Sie an einem solchen Tage ganz gewiß nicht mit meinen kleinen Kümmernissen quälen.« »Nein, lassen Sie sich dadurch nicht stören. Reden Sie nur.« »Je nun, es ist wegen meiner Angelegenheit. Sie wissen ja, wegen dieser verwünschten Konzession ... Ich bin sogar froh, daß Du Poizat hier ist. Er wird uns einige Aufschlüsse geben können.«
Und er setzte lang und breit auseinander, wie weit seine Angelegenheit gediehen war. Es handelte sich um eine Eisenbahnlinie von Niort nach Angers, einen Plan, den er seit drei Jahren hegte. Allerdings führte der Schienenstrang über Bressuire, wo er Hochöfen besaß, deren Wert sich dadurch verzehnfachen sollte; einstweilen hielt sich das Unternehmen nur gerade so, wegen der Transportschwierigkeiten. Ferner bot die Verwirklichung des Projekts die Aussicht, höchst erfolgreich im trüben fischen zu können. Deshalb entfaltete Herr Kahn eine ungeheure Betriebsamkeit, um die Konzession zu erhalten; Rougon unterstützte ihn nachdrücklich, und die Konzession sollte gerade erteilt werden, als Herr de Marsy, der Innenminister, einerseits ärgerlich darüber, daß er an dem Geschäft, bei dem er prächtige Spekulationsgewinne witterte, nicht beteiligt war, andererseits sehr begierig darauf, Rougon Unannehmlichkeiten zu bereiten, den ganzen
Einfluß seiner hohen Stellung dazu verwandte, gegen den Plan anzukämpfen. Er hatte sogar kürzlich mit der Dreistigkeit, die ihn so gefürchtet machte, die Konzession durch den Minister für öffentliche Arbeiten dem Direktor der WestbahnGesellschaft anbieten lassen; und er verbreitete das Gerücht, einzig diese Gesellschaft sei imstande, den Bau einer Zweigbahn, der ernsthafte Garantien erfordere, erfolgreich durchzuführen. Herr Kahn würde dabei hart mitgenommen werden. Der Sturz Rougons mußte ihn vollends ruinieren. »Gestern habe ich erfahren«, sagte er, »daß ein Ingenieur jener Gesellschaft beauftragt worden ist, eine neue Streckenführung zu prüfen ... Haben Sie davon Wind gehabt, Du Poizat?« »Gewiß«, antwortete der Unterpräfekt. »Man hat sogar schon mit der Prüfung angefangen ... Man versucht, den Bogen zu vermeiden, den Sie machen wollten, um Bressuire zu berühren. Die Strecke wird in gerader
Richtung über verlaufen.«
Parthenay
Der Abgeordnete Gebärde.
machte
und
Thouars
eine
mutlose
»Das ist ja Schikane«, knurrte er. »Was würde es ihnen ausmachen, die Strecke an meinem Hüttenwerk vorbeizuführen? – Aber ich werde Einspruch erheben, ich werde eine Denkschrift gegen ihre Streckenführung verfassen ... Ich fahre mit Ihnen nach Bressuire zurück.« »Nein, warten Sie nicht auf mich«, entgegnete Du Poizat lächelnd. »Ich werde wohl meinen Rücktritt einreichen.« Herr Kahn ließ sich, wie von einer endgültigen Katastrophe getroffen, in seinen Sessel sinken. Mit beiden Händen rieb er seine Bartfräse und blickte flehend Rougon an. Der hatte seine Akten hingelegt. Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, hörte er zu. »Sie möchten einen Rat haben, nicht wahr?«
sagte er schließlich mit harter Stimme. »Nun gut, verhalten Sie sich ganz still, meine teuren Freunde, bemühen Sie sich darum, daß die Dinge auf ihrem derzeitigen Stand bleiben, und warten Sie ab, bis wir die Herren sind ... Du Poizat wird seinen Rücktritt einreichen, weil er, wenn er das nicht tut, vor Ablauf von vierzehn Tagen seine Entlassung erhalten wird. Was Sie betrifft, Kahn, so schreiben Sie an den Kaiser, verhindern Sie mit allen Mitteln, daß die Konzession an die WestbahnGesellschaft vergeben wird. Sie werden sie jetzt bestimmt nicht bekommen, aber solange sie niemandem gehört, kann sie später mal Ihnen gehören.« Und da die beiden Männer den Kopf schüttelten, fuhr er noch brutaler fort: »Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Ich liege am Boden, lassen Sie mir Zeit, mich wieder zu erheben ... Mache ich ein trauriges Gesicht? Nein, nicht wahr? Also gut, machen Sie mir das Vergnügen, nicht mehr so auszusehen, als gingen Sie hinter meinem
Leichenwagen her ... Ich bin geradezu entzückt, ins Privatleben zurückzukehren. Endlich werde ich mich doch ein wenig ausruhen können!« Die Arme verschränkt, den großen Körper wiegend, atmete er tief. Und Herr Kahn sprach nicht mehr von seiner Angelegenheit. Er ahmte Herrn Du Poizats gleichgültige Miene nach, bestrebt, vollständige Unbefangenheit an den Tag zu legen. Delestang hatte einen anderen Kasten in Angriff genommen, er machte hinter den beiden Sesseln so wenig Geräusch, daß man es zuweilen für das leise Geraschel einer Schar Mäuse halten konnte, die in den Aktenstößen spielten. Die Sonne, die über den roten Teppich wanderte, schnitt in den Schreibtisch einen Winkel blonden Lichts, in dem noch immer ganz bleich die Kerze brannte. Inzwischen hatte ein vertrauliches Geplauder begonnen. Rougon, der jetzt wieder Bündel
verschnürte, versicherte, die Politik sei nichts für ihn. Er lächelte gutmütig, während seine Lider, wie vor Müdigkeit, wieder über das Flammen seiner Augen sanken. Er hätte gern riesige Ländereien zu bestellen gehabt, mit Feldern, die er nach seinem Belieben bearbeiten würde, mit Viehherden, Pferden, Rindern, Schafen, Hunden, deren unumschränkter Gebieter er wäre. Und er erzählte, daß einst in Plassans, als er noch nichts weiter als ein kleiner Provinzadvokat gewesen, seine größte Freude darin bestanden habe, im Kittel loszuziehen und tagelang in den Schluchten der Seille zu jagen, wo er Adler abgeschossen habe. Er nannte sich einen Bauern, sein Großvater habe noch auf dem Felde schuften müssen. Dann fing er an, den der vornehmen Welt überdrüssigen Mann zu spielen. Die Macht langweile ihn. Er werde den Sommer auf dem Lande verbringen. Nie habe er sich unbeschwerter gefühlt als seit diesem Morgen; und er zuckte so gewaltig mit
seinen starken Schultern, als würfe er eine Last ab. »Was haben Sie hier als Präsident gehabt? Achtzigtausend Francs?« fragte Herr Kahn. Rougon bejahte mit einer Kopfbewegung. »Und nun bleiben Ihnen nur dreißigtausend Francs als Senator.«
Ihre
Was ihm das ausmache! Er könne von nichts leben, denn er habe keine Laster, was übrigens stimmte. Weder Spieler noch Schürzenjäger, noch Schlemmer. Er sehne sich nur danach, Herr in seinem Hause zu sein, nach nichts sonst. Und unausweichlich kam er auf seine Idee von einem Bauernhof zurück, wo ihm alle Tiere gehorchen würden. Sein Ideal sei, eine Peitsche zu haben und zu befehlen, allen überlegen, klüger und stärker als alle zu sein. Nach und nach wurde er lebhaft, sprach von den Tieren, wie er von Menschen gesprochen haben würde, und behauptete, die Massen
liebten den Stock, die Hirten lenkten ihre Herden nur mit Steinwürfen. Er verwandelte sich förmlich, seine dicken Lippen blähten sich vor Verachtung, das ganze Gesicht strotzte von Kraft. In der geballten Faust schwang er ein Aktenbündel und schien nahe daran zu sein, es Herrn Kahn und Herrn Du Poizat, die dieser plötzliche Leidenschaftsausbruch in Unruhe und Verlegenheit versetzte, an den Kopf zu werfen. »Der Kaiser hat sehr schlecht gehandelt«, murmelte Du Poizat. Da beruhigte sich Rougon plötzlich. Sein Gesicht wurde wieder grau, sein Körper sackte mit der Plumpheit eines fettleibigen Mannes zusammen. Er begann den Kaiser in übertriebener Weise zu loben: der besitze einen mächtigen Verstand, einen Geist von unglaublicher Tiefe. Du Poizat und Herr Kahn wechselten einen raschen Blick. Aber Rougon überbot sich noch, indem er von seiner
Ergebenheit redete und ganz demutsvoll sagte, er sei immer stolz darauf gewesen, nichts weiter als ein einfaches Werkzeug in den Händen Napoleons III. zu sein. Schließlich machte er sogar Du Poizat, einen Burschen von unangenehmer Lebhaftigkeit, ungeduldig. Und ein Streit entspann sich. Du Poizat sprach bitter von all dem, was Rougon und er von 1848 bis 1851 für das Kaiserreich getan hätten, während sie bei Frau Mélanie Correur am Hungertuch nagten. Er erzählte von den schrecklichen Tagen, vor allem während des ersten Jahres, Tagen, die sie damit verbrachten, im Schmutz von Paris herumzupatschen, um Parteigänger zu werben. Später hatten sie zwanzigmal ihre Haut zu Markte getragen. War es nicht Rougon gewesen, der sich am Morgen des 2. Dezember an der Spitze eines Linienregiments des PalaisBourbon20 bemächtigt hatte? Bei diesem Spiel ging es um den Kopf. Und heute gab man ihn preis, wurde er das Opfer einer
Hofintrige. Aber Rougon widersprach; man habe ihn nicht preisgegeben; er ziehe sich aus persönlichen Gründen zurück. Als dann Du Poizat, vollends in Schwung geraten, die Leute in den Tuilerien »Schweine« schimpfte, brachte ihn Rougon zum Schweigen, indem er dem Palisanderschreibtisch einen solchen Faustschlag versetzte, daß es krachte. »Dumm ist das alles!« sagte er nur. »Sie gehen ein wenig zu weit«, murmelte Herr Kahn. Delestang, sehr bleich geworden, hatte sich hinter die Sessel gestellt. Leise öffnete er die Tür, um nachzusehen, ob niemand lausche. Doch im Vorzimmer bemerkte er nur die hohe Silhouette Merles, dessen ihm zugewandter Rücken wie die Verschwiegenheit selber wirkte. Rougons Worte hatten Du Poizat erröten lassen; nüchtern geworden, verstummte er nun und kaute mit verdrossener Miene auf seiner Zigarre herum.
»Zweifellos hat der Kaiser nicht die richtigen Leute um sich«, fing Rougon nach einer Pause wieder an. »Ich habe mir erlaubt, ihm das zu sagen, und er hat gelächelt. Er hat sogar zu scherzen geruht, indem er hinzufügte, daß meine Umgebung nicht mehr tauge als die seine.« Du Poizat und Herr Kahn lachten gezwungen. Sie fanden den Ausspruch sehr hübsch. »Aber ich wiederhole«, fuhr Rougon in einem eigentümlichen Ton fort, »ich ziehe mich aus freien Stücken zurück. Wenn man Sie fragt, die Sie zu meinen Freunden gehören, so versichern Sie, daß es mir noch gestern abend freigestanden habe, meine Demission zurückzunehmen ... Erklären Sie auch das Altweibergeschwätz für Lüge, das in bezug auf die RodriguezAngelegenheit umgeht, aus der man, wie es scheint, einen ganzen Roman macht. Vielleicht habe ich in dieser Sache nicht mit der Mehrheit des Staatsrates
übereingestimmt, und das hat gewiß zu Reibungen geführt, die meinen Rücktritt beschleunigt haben. Aber ich hatte ältere und schwerwiegendere Gründe. Ich war schon lange entschlossen, die hohe Stellung aufzugeben, die ich dem Wohlwollen des Kaisers verdankte.« Diesen ganzen Erguß begleitete er mit einer Geste der rechten Hand, wie er sie im Übermaß anzuwenden pflegte, wenn er vor der Kammer sprach. Seine Erklärungen waren augenscheinlich für die Öffentlichkeit bestimmt. Herr Kahn und Du Poizat, die ihren Rougon kannten, versuchten durch schlau geführte Reden, die eigentliche Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Der große Mann, wie sie ihn unter sich vertraulich nannten, mußte irgendein ungeheures Spiel treiben. Sie brachten das Gespräch auf die Politik im allgemeinen. Rougon machte sich über das parlamentarische System lustig, das er den »Misthaufen der Mittelmäßigkeiten« nannte.
Die Abgeordnetenkammer genieße seiner Ansicht nach noch eine sinnlose Freiheit. Dort werde viel zuviel geredet. Frankreich müsse von einem gut zusammengesetzten Apparat regiert werden, an der Spitze der Kaiser, unten, auf die Funktion eines Räderwerks beschränkt, die großen Körperschaften und die Beamten. Er lachte, und seine Brust hüpfte, während er mit einer rasenden Verachtung für die Dummköpfe, die eine starke Regierung forderten, sein System übertrieben pries. »Aber«, unterbrach ihn Herr Kahn, »der Kaiser oben, alle anderen unten, das ist nur für den Kaiser vergnüglich!« »Wenn man sich langweilt, geht man eben«, sagte Rougon gelassen. Er lächelte und fügte dann hinzu: »Man wartet ab, bis es unterhaltsam wird, und kommt dann wieder.« Eine lange Pause trat ein. Herr Kahn begann
seine Bartfräse zu reiben, zufrieden, weil er erfahren hatte, was er zu erfahren wünschte. Er hatte tags zuvor in der Abgeordnetenkammer richtig geraten, als er zu verstehen gab, Rougon sei in der Erkenntnis, daß sein Ansehen in den Tuilerien erschüttert war, von sich aus einer Entlassung zuvorgekommen, um ein neues Leben anzufangen; die Sache mit Rodriguez bot ihm eine prachtvolle Gelegenheit, als Ehrenmann zu fallen. »Und was sagt man?« fragte Rougon, um das Schweigen zu brechen. »Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete Du Poizat. »Immerhin habe ich soeben in einem Café einen ordengeschmückten Herrn Ihren Rücktritt lebhaft billigen hören.« »Béjuin war gestern sehr ergriffen«, erklärte Herr Kahn, als die Reihe an ihm war. »Béjuin ist Ihnen äußerst zugetan. Er ist ein etwas farbloser Bursche, aber von großer Zuverlässigkeit. Selbst der kleine La
Rouquette schien sich mir sehr angemessen zu verhalten. Er spricht vortrefflich von Ihnen.« Und sie setzten die Unterhaltung über diese und jene Leute fort. Rougon stellte ohne die geringste Befangenheit Fragen, ließ sich einen genauen Bericht von dem Abgeordneten erstatten, der ihm willfährig und bis ins einzelne seine Beobachtungen über das Verhalten des Corps législatif in bezug auf ihn mitteilte. »Heute nachmittag«, unterbrach ihn Du Poizat, dem es schmerzlich war, daß er nicht mit Auskünften dienen konnte, »werde ich durch Paris bummeln, und morgen früh, sobald ich aufgestanden bin, werde ich Ihnen viel zu erzählen haben.« »Dabei fällt mir ein«, rief Herr Kahn lachend, »ich vergaß, Ihnen von de Combelot zu erzählen! – Nein wirklich, ich habe noch nie einen verlegeneren Menschen gesehen ...«
Doch er brach ab, weil Rougon mit einem Augenzwinkern auf den Rücken Delestangs wies, der gerade auf einen Stuhl gestiegen und damit beschäftigt war, den Oberteil eines Bücherschrankes auszuräumen, wo sich Zeitungen häuften. Herr de Combelot war mit einer Schwester Delestangs verheiratet. Letzterer litt, seit Rougon in Ungnade gefallen war, etwas unter seiner Verwandtschaft mit einem Kammerherrn; deshalb wollte er gern etwas Keckheit beweisen. Er wandte sich um und sagte mit einem Lächeln: »Warum sprechen Sie nicht weiter? – Combelot ist ein Dummkopf. So, nun wissen Sie Bescheid.« Diese unbekümmerte Aburteilung eines Schwagers erheiterte die Herren sehr. Als Delestang seinen Erfolg sah, trieb er es so weit, daß er sich über de Combelots Bart lustig machte, den berüchtigten schwarzen Bart, der bei den Damen so berühmt war. Dann sagte er ohne jeden Übergang, während er ein Bündel Zeitungen auf den Teppich warf, ernst: »Des
einen Kummer ist des andern Freude.« Dieser Ausspruch ließ den Namen des Herrn de Marsy in der Unterhaltung auftauchen. Rougon, den Kopf gebeugt, als sei er angelegentlich mit einer Aktenmappe beschäftigt, deren einzelne Taschen er sorgfältig durchsah, ließ seine Freunde sich ihren Groll vom Herzen reden. Sie sprachen von de Marsy mit dem Ingrimm von Politikern, die über einen Gegner herfallen. Es hagelte nur so von groben Worten, abscheulichen Beschuldigungen, bis zur Lüge übertriebenen wahren Geschichten. Du Poizat, der Marsy schon früher, vor dem Kaiserreich, gekannt hatte, versicherte, jener sei damals von seiner Geliebten ausgehalten worden, einer Baronin, deren Diamanten er innerhalb von drei Monaten durchgebracht habe. Herr Kahn behauptete, es gebe an der Pariser Börse kein einziges anrüchiges Geschäft, in dem man nicht Marsys Finger finde. Und sie feuerten sich gegenseitig an, warfen einander immer
stärkere Tatsachen zu: bei einem Grubenunternehmen habe Marsy Bestechungsgelder in Höhe von fünfzehnhunderttausend Francs eingestrichen, letzten Monat habe er der kleinen Florence vom »Les Bouffes21« ein vornehmes Stadthaus spendiert, eine Bagatelle von sechshunderttausend Francs, sein Anteil aus einem unsauberen Handel mit Aktien der marokkanischen Eisenbahnen; schließlich sei vor noch nicht acht Tagen das große Geschäft mit den ägyptischen Kanälen, das von seinen Kreaturen aufgezogen worden sei, mit einem ungeheuren Skandal zusammengebrochen, nachdem die Aktionäre erfahren hätten, daß in den zwei Jahren, in denen sie Geld eingezahlt, noch kein Spatenstich getan worden war. Dann fielen sie über seine persönlichsten Dinge her, bemühten sich, sein vornehmes Äußere, das eines eleganten Abenteurers, herabzusetzen, sprachen von früheren Krankheiten, die ihm später noch einen bösen Streich spielen
würden, und gingen so weit, die Gemäldesammlung anzugreifen, die er damals zusammenbrachte. »Das ist ein versehentlich in die Haut eines Possenschreibers geratener Bandit«, sagte abschließend Du Poizat. Rougon hob langsam den Kopf. Er sah die beiden Männer aus seinen großen Augen an. »Was soll denn die ganze Rederei«, sagte er. »Marsy macht seine Geschäfte, zum Teufel, wie Sie ja auch die Ihren machen möchten ... Wir verstehen einander nicht besonders. Ja, wenn ich ihm eines Tages das Genick brechen könnte, würde ich es gern tun. Aber alles, was Sie da erzählen, ändert nichts daran, daß Marsy enorm tüchtig ist. Wenn es ihm gerade einfiele, würde er sehr leicht mit Ihnen beiden fertig werden, lassen Sie sich das gesagt sein.« Und des Sitzens überdrüssig, stand er aus seinem Sessel auf und reckte die Glieder.
Dann fügte er unter heftigem Gähnen hinzu: »Das um so mehr, meine lieben Freunde, als ich nicht mehr eingreifen könnte.« »Oh, wenn Sie wollten«, murmelte Du Poizat mit einem dünnen Lächeln, »könnten Sie sehr viel bei de Marsy erreichen. Sie haben hier bestimmt irgendwelche Papiere, die er hoch bezahlen würde ... Sehen Sie, da unten das Aktenstück Lardenois, jenes Abenteuer, bei dem er eine so sonderbare Rolle gespielt hat. Ich kenne da einen Brief von ihm, einen sehr merkwürdigen, den ich selber Ihnen seinerzeit gebracht habe.« Rougon ging zum Kamin und warf die Papiere hinein, mit denen er nach und nach den Korb gefüllt hatte. Die Bronzeschale reichte nicht mehr aus. »Man schlägt einander tot, aber man fügt einander keine Nadelstiche zu«, sagte er mit einem verächtlichen Achselzucken. »Jedermann hat solche dummen Briefe
geschrieben, die bei anderen herumliegen.« Und er nahm den Brief, steckte ihn an der Kerze in Brand, benutzte ihn als Fidibus, um den Stoß Papiere im Kamin anzuzünden. Einen Augenblick lang blieb er dort zusammengekauert, dennoch riesenhaft, hocken und bewachte die brennenden Papiere, die bis auf den Teppich rollten. Einige Verwaltungsakten aus dickem Papier wurden schwarz, drehten sich zusammen wie dünne Bleiplatten; mit häßlichen Handschriften besudelte Briefe und Zettel brannten mit kleinen blauen Flammenzungen, während in der Feuerglut, mitten in einem Gewimmel von Funken, ganz versengte Stücke heil und noch lesbar blieben. In diesem Augenblick ging die Tür weit auf. Eine lachende Stimme sagte: »Gut, gut, ich werde Sie entschuldigen, Merle ... Ich gehöre zum Hause. Wenn Sie mich hindern wollten, hier einzutreten, würde ich, bei Gott, den Weg
durch den Sitzungssaal nehmen!« Das war Herr d'Escorailles, den Rougon vor sechs Monaten zum Auditeur22 beim Staatsrat hatte ernennen lassen. An seinem Arm führte er die hübsche Frau Bouchard mit herein, die in einer hellen Frühjahrstoilette strahlte. »Das hat mir gerade gefehlt! Jetzt auch noch Frauen!« brummte Rougon. Er ging nicht gleich vom Kamin fort. Er blieb auf dem Fußboden hocken, in der Hand die Schaufel, mit der er aus Angst vor einem Brand die Flamme erstickte. Und mit verdrossener Miene hob er sein großes Gesicht. Herr d'Escorailles ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Er und die junge Frau hatten schon beim Überschreiten der Schwelle aufgehört, einander anzulächeln, und statt dessen eine der Gelegenheit angemessene Haltung angenommen.
»Teurer Meister«, sagte er, »ich bringe Ihnen eine Ihrer Freundinnen, die Ihnen unbedingt ihr Bedauern aussprechen möchte ... Wir haben heute morgen den ›Moniteur‹ gelesen ...« »Sie haben den ›Moniteur‹ gelesen, Sie alle«, knurrte Rougon, der sich endlich entschloß aufzustehen. Aber da gewahrte er jemanden, den er noch nicht bemerkt hatte. Nach einem Blinzeln murmelte er: »Ah, Herr Bouchard!« Es war in der Tat ihr Ehemann. Still und würdevoll war er hinter den Röcken seiner Frau eingetreten. Herr Bouchard war sechzig Jahre alt, hatte einen völlig weißen Kopf und einen erloschenen Blick; sein Gesicht wirkte wie abgenutzt von seinen fünfundzwanzig Jahren Verwaltungsdienst. Er sprach kein Wort. Mit tief ergriffener Miene faßte er Rougons Hand, die er dreimal kräftig schüttelte. »Na ja«, sagte Rougon, »es ist sehr nett von
Ihnen, daß Sie alle zu mir gekommen sind; nur stören Sie mich entsetzlich ... Kurz, setzen Sie sich da drüben hin ... Du Poizat, geben Sie der gnädigen Frau Ihren Sessel.« Als er sich umdrehte, sah er sich nun Oberst Jobelin gegenüber. »Auch Sie, Oberst!« rief er. Die Tür war offengeblieben, und Merle hatte sich dem Eintreten des Obersten, der unmittelbar hinter den Bouchards die Treppe heraufgekommen war, nicht widersetzen können. Der Oberst hielt seinen Sohn an der Hand, einen großen Schlingel von fünfzehn Jahren, damals Schüler der dritten Klasse des Gymnasiums LouisleGrand. »Ich wollte Ihnen Auguste herbringen«, erklärte er. »Im Unglück geben sich die wahren Freunde zu erkennen ... Auguste, gib die Hand.« Aber Rougon stürzte zum Vorzimmer und
schrie: »Machen Sie doch die Tür zu, Merle! Wo haben Sie denn Ihre Gedanken! Ganz Paris wird noch hereinkommen.« Der Türhüter wandte ihm sein ruhiges Gesicht zu und sagte: »Das kommt davon, daß man Sie gesehen hat, Herr Präsident.« Und er mußte beiseite treten, um die Charbonnels vorbeizulassen. Sie kamen nebeneinander herein, aber nicht untergefaßt, nach Atem ringend, tief unglücklich, bestürzt. Sie sprachen beide zugleich. »Wir haben soeben den ›Moniteur‹ gelesen ... Ach, welche Nachricht! Wie verzweifelt wird Ihre arme Mutter sein! Und wir – in welch traurige Lage versetzt uns das!« Diese zwei, naiver als die anderen, fingen sofort mit ihren unwichtigen Angelegenheiten an. Rougon brachte sie zum Schweigen. Er schob einen unter dem Türschloß verborgenen Riegel vor, wobei er murmelte, jetzt könne
man die Tür seinetwegen einschlagen, und als er dann sah, daß offenbar nicht einer seiner Freunde sich entschließen mochte, das Zimmer zu verlassen, ergab er sich und versuchte, inmitten der neun Personen, die den Raum füllten, seine Arbeit zu Ende zu bringen. Das Ausräumen der Papiere hatte das Zimmer schließlich völlig in Unordnung gebracht. Auf dem Teppich lag ein wirres Durcheinander von Akten, so daß der Oberst und Herr Bouchard, die zu einer Fensternische gelangen wollten, die allergrößte Vorsicht walten lassen mußten, um auf dem Wege dorthin nicht irgend etwas Wichtiges zu zertreten. Auf allen Sitzgelegenheiten häuften sich verschnürte Bündel; einzig Frau Bouchard hatte sich auf einen leergebliebenen Sessel setzen können; und sie lächelte zu den Artigkeiten Du Poizats und Herrn Kahns, während Herr d'Escorailles, der keine Fußbank mehr fand, ihr einen dicken blauen, mit Briefen vollgepfropften Umschlag unter die Füße schob. Die in einer Ecke auf
einen Haufen umgestürzten Schubfächer ermöglichten es den Charbonnels, sich für einen Augenblick hinzuhocken, um wieder zu Atem zu kommen, indes der junge Auguste, entzückt davon, in dieses Umzugsdurcheinander geraten zu sein, umherschnüffelte und hinter dem Berg von Schubfächern verschwand, in dessen Mitte sich Delestang verschanzt zu haben schien. Letzterer machte viel Staub, indem er von oben die Zeitungen aus dem Bücherschrank herunterwarf. Frau Bouchard hüstelte. »Sie tun nicht gut daran, sich in diesem Schmutz aufzuhalten«, sagte Rougon, damit beschäftigt, die Schubfächer zu leeren, die nicht anzurühren er Delestang gebeten hatte. Aber die junge Frau, ganz rosig vom Husten, versicherte ihm, daß sie sich sehr wohl fühle und ihr Hut den Staub vertragen könne. Und die Clique konnte ihre Anteilnahme gar nicht genug bekunden. Der Kaiser kümmere sich
wahrlich nicht um das Wohl des Landes, wenn er sich von seines Vertrauens so wenig würdigen Männern umgarnen lasse. Frankreich erleide einen Verlust. Übrigens sei das immer so: gegen einen großen Geist verbündeten sich stets alle Mittelmäßigen. »Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn. »Um so schlimmer für sie!« sagte der Oberst. »Sie treffen sich selbst, wenn sie ihre Diener schlagen.« Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort behalten. Er wandte sich zu Rougon um. »Wenn ein Mann wie Sie stürzt, trauert das ganze Volk!« Die Clique bestätigte: »Ja, ja, dann trauert das ganze Volk!« Bei diesen plumpen Lobsprüchen hob Rougon den Kopf. Seine grauen Backen bekamen
einen roten Schimmer, sein ganzes Gesicht lächelte verhalten vor Befriedigung. Er war so eitel auf seine Macht, wie es eine Frau auf ihre Anmut ist; und er liebte es, wenn die Schmeicheleien seine breite Brust, die so stark war, daß kein Pflasterstein sie zerschmettern konnte, aus nächster Nähe trafen. Unterdessen wurde es offensichtlich, daß seine Freunde einander im Wege waren; sie belauerten sich mit Blicken, versuchten sich gegenseitig zu verdrängen, wollten nicht deutlich reden. Jetzt, da der große Mann gezähmt zu sein schien, mußte man sich beeilen, ihm ein Versprechen zu entreißen. Und als erster faßte der Oberst einen Entschluß. Er führte Rougon, der, ein Schubfach unter dem Arm, widerstandslos mitging, in eine Fensternische. »Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ihn im Flüsterton, mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Gewiß, Ihre Ernennung zum Kommandeur
der Ehrenlegion ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur werden Sie wohl einsehen, daß es mir heute unmöglich ist, irgend etwas zuzusichern ... Ich fürchte, ich gestehe es Ihnen, meine Freunde werden die Folgen davon, daß ich in Ungnade gefallen bin, zu spüren bekommen.« Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selber werde kämpfen. Dann drehte er sich plötzlich um und rief: »Auguste!« Der Schlingel kauerte auf allen vieren unter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, die Aufschriften auf den Aktendeckeln zu lesen, was ihm ermöglichte, leuchtende Blicke auf Frau Bouchards Stiefelchen zu werfen. Er kam rasch herbei. »Da ist mein munterer Sprößling«, sagte der Oberst leise. »Sie wissen, daß ich dieses Wurm da eines Tages irgendwo unterbringen muß. Ich rechne dabei auf Sie. Ich schwanke
noch zwischen der Gerichts und der Verwaltungslaufbahn ... Gib deinem guten Freund die Hand, Auguste, damit er sich deiner erinnert.« Inzwischen hatte sich Frau Bouchard, die vor Ungeduld an ihrem Handschuh knabberte, erhoben und das Fenster zur Linken erreicht; Herrn d'Escorailles hatte sie mit einem Blick befohlen, ihr zu folgen. Ihr Gatte war bereits dort; die Ellbogen auf die Schutzstange gestützt, genoß er die Aussicht. Ihm gegenüber zitterte das Laub der großen Kastanienbäume des Tuileriengartens in der heißen Sonne, während von der Pont Royal bis zur Pont de la Concorde die Seine ihr blaues, ganz mit Lichtflittern übersätes Wasser wälzte. Auf einmal wandte sich Frau Bouchard um und rief: »Oh, Herr Rougon, sehen Sie doch nur!« Und als sich Rougon beeilte, den Oberst zu verlassen, um ihrem Wunsch zu entsprechen,
zog sich Du Poizat, der der jungen Frau nachgegangen war, diskret zurück und gesellte sich wieder zu Herrn Kahn, der am Mittelfenster stand. »Sehen Sie doch, der mit Ziegeln beladene Kahn da wäre beinahe gekentert«, plapperte Frau Bouchard. Rougon blieb bereitwillig dort in der Sonne stehen, bis Herr d'Escorailles, auf einen abermaligen Blick der jungen Frau hin, zu ihm sagte: »Herr Bouchard will um seine Entlassung einkommen. Wir haben ihn mitgebracht, damit Sie ihm Vernunft predigen.« Darauf erklärte Herr Bouchard, daß ihn die Ungerechtigkeiten empörten. »Ja, Herr Rougon, ich habe als Sekretär im Innenministerium angefangen, und ich habe es bis zum Bürovorsteher gebracht, ohne etwas der Begünstigung oder irgendwelchen Ränken
zu verdanken ... Bürovorsteher bin ich seit dem Jahre siebenundvierzig. Nun gut! Inzwischen ist der Posten des Abteilungschefs schon fünfmal frei geworden, viermal während der Republik und einmal unter dem Kaiserreich, ohne daß der Minister an mich, der ich der Rangordnung nach Anspruch darauf habe, gedacht hätte ... Jetzt werden Sie das Versprechen, das Sie mir gegeben haben, nicht mehr einlösen können, und ich will lieber abgehen.« Rougon mußte ihn beschwichtigen. Der Posten sei immerhin noch nicht an einen anderen vergeben; wenn er ihm auch diesmal entgehe, so sei das nur eine verpaßte Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich gewiß wieder einmal ergeben werde. Dann ergriff Rougon Frau Bouchards Hände und machte ihr auf eine väterliche Art Komplimente. Das Haus des Bürovorstehers war das erste gewesen, wo er nach seiner Ankunft in Paris empfangen worden war. Dort hatte er den Oberst
getroffen, ein Geschwisterkind des Bürovorstehers. Später, als Herr Bouchard mit vierundfünfzig Jahren seinen Vater beerbte und ganz plötzlich von dem Wunsch gepackt wurde, sich zu verheiraten, hatte Rougon Frau Bouchard, geborene Adèle Desvignes, einer sehr wohlerzogenen jungen Dame aus einer angesehenen Familie in Rambouillet, als Trauzeuge gedient. Der Bürovorsteher hatte ein junges Mädchen aus der Provinz haben wollen, weil er auf Ehrbarkeit hielt. Adèle, blond, klein und bestrickend mit der ein wenig faden Naivität ihrer blauen Augen, war nach vier Ehejahren bei ihrem dritten Liebhaber angelangt. »Nun, machen Sie sich keinen Kummer«, sagte Rougon, der noch immer ihre Handgelenke mit seinen großen Händen umklammert hielt, »Sie wissen genau, daß man alles tut, was Sie wünschen ... Jules wird Ihnen an einem der nächsten Tage berichten, wie die Dinge stehen.«
Und er nahm Herrn d'Escorailles beiseite und teilte ihm mit, daß er selber an diesem Morgen an dessen Vater geschrieben habe, um ihn zu beruhigen. Der junge Auditeur solle ruhig seine Stellung beibehalten. Die Familie d'Escorailles war eine der ältesten Familien in Plassans, wo sie allgemeine Verehrung genoß. Deshalb setzte Rougon, der früher in schiefgetretenen Schuhen an dem Palais des alten Marquis, des Vaters von Jules, vorbeigegangen war, seinen Stolz darein, den jungen Mann zu protegieren. Die Familie trieb noch immer einen frommen Kult mit Heinrich V.23, gleichzeitig aber ließ sie es zu, daß sich ihr Kind dem Kaiserreich verband. Das kam von den abscheulichen Zeiten. Am Mittelfenster, das sie geöffnet hatten, um besser abgesondert zu sein, unterhielten sich Herr Kahn und Du Poizat und sahen dabei auf die fernen Dächer der Tuilerien hinaus, die in dem flimmernden Sonnenlicht bläulich schimmerten. Sie fühlten einander auf den
Zahn, gaben abgerissene, von großen Pausen unterbrochene Worte von sich, Rougon sei zu heftig, er hätte sich nicht über die RodriguezAngelegenheit ärgern dürfen, die sich so leicht beilegen lasse. Dann murmelte Herr Kahn mit abwesendem Blick, als spräche er zu sich selber: »Man weiß, daß man fällt, aber man weiß nie, ob man wieder aufsteht.« Du Poizat tat, als habe er nichts gehört. Und lange danach sagte er: »Oh, er ist ein sehr starker Kerl.« Da drehte sich der Abgeordnete plötzlich um und sprach, den anderen fest ansehend, sehr schnell: »Unter uns gesagt, mir ist bange um ihn. Er spielt mit dem Feuer ... Gewiß, wir sind seine Freunde, und es ist nicht die Rede davon, ihn im Stich zu lassen. Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, daß er bei dem allen sehr wenig an uns gedacht hat ... So habe ich zum Beispiel ungeheuer große und wichtige Dinge unter den Händen, die er mit seinem
unüberlegten Vorgehen gefährdet hat. Er hätte kein Recht, es mir zu verübeln, wenn ich jetzt an eine andere Tür klopfte, nicht wahr? Denn schließlich erleide nicht ich allein Schaden, sondern auch die Bevölkerung.« »Man muß an eine andere Tür klopfen«, wiederholte Du Poizat mit einem Lächeln. Herr Kahn aber rückte, von plötzlichem Zorn ergriffen, mit seiner wahren Meinung heraus. »Soll man es für möglich halten! – Dieser verteufelte Bursche bringt einen mit jedem auseinander. Wenn man zu seiner Clique gehört, ist es, als stände es einem an der Stirn geschrieben.« Er beruhigte sich, seufzte und schaute zum Are de Triomphe hinüber, dessen leicht graue Steinmasse über die grünen Flächen der ChampsElysées hinausragte. Bedächtig sagte er: »Was will man machen? Ich bin nun mal von einer blödsinnigen
Treue.« Seit einem Augenblick stand der Oberst hinter den beiden Herren. »Die Treue ist der Pfad der Ehre«, sprach er mit seiner soldatischen Stimme. Du Poizat und Herr Kahn traten auseinander, um dem Oberst Platz zu machen, der fortfuhr: »Rougon lädt heute eine Schuld gegen uns auf sich. Rougon ist nicht mehr sein eigener Herr.« Diese Worte hatten eine ungeheure Wirkung. Nein, Rougon war gewiß nicht mehr sein eigener Herr. Und man mußte ihm das deutlich sagen, damit er seine Pflichten begriff. Alle drei senkten die Stimme, trafen heimliche Vereinbarungen, machten einander Hoffnungen. Von Zeit zu Zeit wandten sie sich um, warfen einen raschen Blick in das große Zimmer, um zu sehen, ob nicht einer der Freunde den großen Mann zu lange mit
Beschlag belege. Jetzt sammelte der große Mann die Aktenstöße zusammen, wobei er sich gleichzeitig mit Frau Bouchard weiterunterhielt. Die Charbonnels aber waren in der Ecke, wo sie sich bis dahin stumm und verlegen aufgehalten hatten, in einen Wortstreit geraten. Zweimal hatten sie versucht, Rougons habhaft zu werden, der sich von dem Oberst Und der jungen Frau hatte entführen lassen. Schließlich schob Herr Charbonnel seine Frau auf ihn zu. »Heute morgen«, stammelte sie, »haben wir einen Brief von Ihrer Mutter erhalten ...« Er ließ sie nicht ausreden. Er selber führte, abermals die Akten ohne übermäßige Gereiztheit im Stich lassend, die Charbonnels in die rechte Fensternische. »Wir haben einen Brief von Ihrer Mutter erhalten«, wiederholte Frau Charbonnel. Und sie wollte ihm den Brief vorlesen, als er
ihn ihr wegnahm, um ihn mit einem Blick zu überfliegen. Die Charbonnels, ehemalige Ölhändler aus Plassans, waren die Schützlinge Frau Félicités, wie man Rougons Mutter in der kleinen Stadt, in der sie lebte, zu nennen pflegte. Sie hatte die Charbonnels anläßlich eines Gesuchs, das sie dem Staatsrat einreichen wollten, zu ihm geschickt. Der Sohn eines Vetters von ihnen, ein gewisser Chevassu, Anwalt in Faverolles, der Hauptstadt des benachbarten Departements, hatte bei seinem Ableben den Schwestern von der Heiligen Familie ein Vermögen von fünfhunderttausend Francs vermacht. Die Charbonnels, die niemals mit dieser Erbschaft gerechnet hatten, nun aber plötzlich durch den Tod eines Bruders des Verblichenen zu Erben geworden waren, klagten laut über Erbschleicherei; und als die Gemeinde vom Staatsrat die Ermächtigung erbat, das Legat anzunehmen, verließen sie ihren alten Wohnsitz Plassans und eilten nach
Paris, wo sie sich im Hôtel du Périgord in der Rue Jacob einmieteten, um ihre Angelegenheit aus der Nähe zu verfolgen. Und diese Angelegenheit zog sich schon sechs Monate hin. »Wir sind sehr traurig«, seufzte Frau Charbonnel, während Rougon den Brief las. »Ich wollte ja nichts von diesem Prozeß hören. Aber mein Mann sagte immer wieder, mit Ihrer Hilfe sei uns das Geld sicher, Sie brauchten nur ein Wort zu sagen, und die fünfhunderttausend Francs flössen in unsere Tasche ... Nicht wahr, Charbonnel?« Der ehemalige Ölhändler schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Das war ein Betrag«, fuhr die Frau fort, »dafür lohnte es sich, seine bisherige Lebensweise auf den Kopf zu stellen ... Ach ja, sie ist auf den Kopf gestellt worden, unsere Lebensweise! Denken Sie doch, Herr Rougon, noch gestern hat sich das Zimmermädchen geweigert, uns frische
Handtücher zu geben! Das mir, die ich in Plassans fünf Schränke voll Wäsche habe!« Und sie beklagte sich weiter bitter über Paris, das sie verabscheue. Sie waren für acht Tage hierhergekommen, später hatten sie sich, da sie von Woche zu Woche hofften, abreisen zu können, nichts nachschicken lassen. Jetzt, als die Sache kein Ende nahm, ließen sie es eigensinnig bei ihrem möblierten Zimmer bewenden, aßen, was das Hausmädchen ihnen gerade brachte, und saßen ohne Wäsche, ja fast ohne Kleidungsstücke da. Sie hatten nicht einmal eine Bürste, und Frau Charbonnel frisierte sich mit einem zerbrochenen Kamm. Zuweilen setzten sie sich auf ihren kleinen Koffer und weinten vor Erschöpfung und Wut. »Und dieses Hôtel hat so zweideutige Gäste!« murmelte Herr Charbonnel mit großen verstörten Augen. »Da wohnt ein junger Mann neben uns. Man hört da Sachen ...«
Rougon faltete den Brief zusammen. »Meine Mutter«, sagte er, »gibt Ihnen den ausgezeichneten Rat, sich zu gedulden. Ich kann Sie nur auffordern, sich mit einem neuen Vorrat an Mut zu wappnen ... Ihr Prozeß scheint mir gut zu stehen; aber nun bin ich abgegangen, und da wage ich Ihnen nichts mehr zu versprechen.« »Morgen verlassen wir Paris!« schrie Frau Charbonnel in einem Anfall von Verzweiflung. Doch kaum hatte sie diesen Schrei ausgestoßen, als sie ganz blaß wurde. Herr Charbonnel mußte sie stützen. Und einen Augenblick lang standen sie wortlos da, sahen einander mit zitternden Lippen an und hätten am liebsten geweint. Es wurde ihnen schwach, ein jäher Schreck befiel sie, als seien ganz plötzlich die fünfhunderttausend Francs vor ihren Augen zerronnen.
Rougon fuhr herzlich fort: »Sie haben es mit einem starken Gegner zu tun. Monsignore24 Rochart, der Bischof von Faverolles, ist persönlich nach Paris gekommen, um die Eingabe der Schwestern von der Heiligen Familie25 zu unterstützen. Ohne sein Dazwischentreten hätten Sie schon lange gewonnenes Spiel. Der Klerus ist heute leider sehr mächtig ... Aber ich lasse hier Freunde zurück, ich hoffe, etwas tun zu können, ohne selber in Erscheinung zu treten. Sie haben so lange gewartet, daß, wenn Sie morgen abreisten ...« »Wir werden bleiben. Wir werden bleiben«, beeilte sich Frau Charbonnel zu stammeln. »Ach, Herr Rougon, diese Erbschaft wird uns teuer zu stehen kommen!« Rougon machte sich eifrig wieder an seine Papiere. Er ließ einen befriedigten Blick durch den Raum schweifen, erleichtert, weil er niemanden mehr sah, der ihn noch in eine
Fensternische hätte führen können; die ganze Clique war abgespeist. In wenigen Minuten brachte er seine Arbeit ein gutes Stück weiter. Er besaß eine brutale Heiterkeit, mit der er sich über die Leute lustig machte, um sich für den Verdruß zu rächen, den man ihm verursachte. Eine Viertelstunde lang wurde er furchtbar für seine Freunde, deren Geschichten er sich eben noch mit soviel Wohlwollen angehört hatte. Er trieb es so weit, er zeigte sich so schroff gegen die hübsche Frau Bouchard, daß sich die Augen der jungen Frau mit Tränen füllten, obwohl sie nicht zu lächeln aufhörte. Die Freunde, an solche Keulenschläge gewöhnt, lachten. Niemals war es besser um ihre Angelegenheiten bestellt als in den Stunden, da Rougon seine Fäuste auf ihrem Nacken übte. In diesem Augenblick wurde leise an die Tür geklopft. »Nein, nein, machen Sie nicht auf!« rief er
Delestang zu, der aufgesprungen war. »Will man mich etwa zum Narren halten! Mir dröhnt schon der Kopf!« Und als man die Tür heftiger erschütterte, knurrte er zwischen den Zähnen: »Ach, wie würde ich diesen Merle hinauspfeffern, wenn ich hierbliebe!« Es klopfte nicht mehr. Auf einmal aber tat sich in einer Ecke des Zimmers eine kleine Tür auf, durch die sich ein riesiger Frauenrock aus blauer Seide rücklings hereinzwängte. Und dieser sehr helle, reich mit Bandschleifen verzierte Rock verhielt dort einen Augenblick, halb schon im Zimmer, ohne daß man etwas anderes sah. Draußen sprach lebhaft eine ganz zarte Frauenstimme. »Herr Rougon!« rief die Dame, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur in einem mit einem Rosensträußchen garnierten Hut. Rougon, der wütend, die Fäuste geballt, näher
gekommen war, ergab sich in sein Schicksal, drückte der Eintretenden die Hand und dienerte. »Ich habe Merle gefragt, wie es ihm hier gefällt«, sagte Frau Correur und ließ dabei ihren Blick zärtlich auf dem großen Kerl von Türhüter ruhen, der aufrecht und lächelnd vor ihr stand. »Und Sie, Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?« »Aber ja, gewiß doch«, erwiderte Rougon liebenswürdig. Merle behielt sein verzücktes Lächeln, die Augen starr auf Frau Correurs üppigen Hals gerichtet. Sie warf sich in die Brust, brachte mit einer Hand die Locken an den Schläfen in Ordnung. »Es geht also gut, junger Mann«, sagte sie. »Wenn ich jemanden unterbringe, möchte ich, daß alle zufrieden sind ... Und wenn Sie einen Rat brauchen sollten, so kommen Sie zu mir,
morgens, Sie wissen ja, zwischen acht und neun. Also, seien Sie brav.« Und mit den an Rougon gerichteten Worten: »Nichts geht über die ehemaligen Soldaten«, trat sie ganz in das Arbeitszimmer. Dann gab sie ihn nicht mehr frei; sie führte ihn mit kleinen Schritten zu dem Fenster am anderen Ende und zwang ihn so, den ganzen Raum zu durchqueren. Sie schalt ihn, weil er nicht aufgemacht hatte. Wenn sich Merle nicht bereit gefunden hätte, sie durch die kleine Tür hereinzulassen, hätte sie also draußen bleiben müssen? Doch Gott wisse, wie nötig es für sie sei, ihn zu sprechen! Denn schließlich könne er doch nicht einfach weggehen wollen, ohne ihr zu sagen, wie es um ihre Bittgesuche stehe. Sie zog ein kleines, sehr kostbares, in rosa Moiré gebundenes Notizbuch aus der Tasche. »Ich habe den ›Moniteur‹ erst nach dem Frühstück gesehen«, sagte sie. »Ich habe sofort eine Droschke genommen ... Hören Sie, wie
steht es mit der Angelegenheit von Frau Leturc, der Hauptmannswitwe, die um einen Tabakladen bittet? Ich habe ihr für nächste Woche eine Entscheidung versprochen ... Und die Sache jener jungen Dame, Sie wissen schon, Herminie Billecoq, eine frühere Schülerin von Saint Denis26, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten eingewilligt hat, falls irgendeine ehrliche Seele die vorgeschriebene Mitgift vorstrecken will. Wir hatten an die Kaiserin gedacht ... Und all die anderen Damen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, die seit Monaten warten?« Rougon antwortete in aller Ruhe, erklärte die Verzögerungen, ging auf die geringsten Einzelheiten ein. Er gab Frau Correur jedoch zu verstehen, daß sie von nun an sehr viel weniger auf ihn zählen dürfe. Da wurde sie tieftraurig. Es beglücke sie doch so sehr, anderen zu helfen! Was denn aus ihr und allen diesen Damen werden solle? Und sie endete
damit, von ihren persönlichen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, von den Martineaus in Coulonges, einer guten Familie aus der Vendée, in der man bis zu sieben aufeinanderfolgende Generationen Notare nachweisen könne. Niemals ließ sie sich deutlich darüber aus, wie sie selber zu dem Namen Correur gekommen war. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie mit einem Metzgerburschen durchgebrannt, nachdem sie sich einen ganzen Sommer lang mit ihm in einem Schuppen getroffen hatte. Ihr Vater hatte unter dem Schlag dieses Skandals, einer Ungeheuerlichkeit, von der man noch jetzt in jener Gegend sprach, sechs Monate lang mit dem Tode gerungen. Seit jener Zeit lebte sie in Paris, für ihre Familie sozusagen gestorben. Zehnmal hatte sie an ihren Bruder, der jetzt dem Notariat vorstand, geschrieben, ohne ihn zu einer Antwort bewegen zu können; und
dieses Schweigen legte sie ihrer Schwägerin zur Last; »eine Frau, die es mit den Pfaffen hält, die diesen Dummkopf Martineau an der Nase herumführt«, sagte sie. Eine ihrer fixen Ideen war, wie Du Poizat nach Coulonges zurückzukehren, um sich dort als sehr wohlhabende und geachtete Frau zu zeigen. »Noch vor acht Tagen habe ich geschrieben«, murmelte sie. »Ich wette, sie wirft meine Briefe ins Feuer ... Dennoch müßte sie mir, wenn Martineau stürbe, das Haus ganz weit auftun. Sie haben keine Kinder, ich würde wichtige Angelegenheiten zu regeln haben. Martineau ist fünfzehn Jahre älter als ich und leidet, wie man mir erzählt hat, an Gicht.« Dann änderte sie plötzlich den Ton und sagte: »Nun, denken wir nicht mehr an all das ... Jetzt geht es darum, daß man sich für Sie einsetzt, nicht wahr, Eugène? Und man wird sich einsetzen, das werden Sie sehen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie alles sind, damit wir
überhaupt etwas sind ... Erinnern Sie sich noch an einundfünfzig?« Rougon lächelte. Und als sie ihm mütterlich beide Hände drückte, neigte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Falls Sie Gilquin sehen, sagen Sie ihm, er solle vernünftig sein. Hat er es sich doch in der vorigen Woche einfallen lassen, nachdem er sich so benommen hatte, daß man ihn auf die Wache brachte, meinen Namen anzugeben, damit ich hingehen und seine Freilassung fordern sollte!« Frau Correur versprach, mit Gilquin zu reden, einem ihrer früheren Mieter aus jener Zeit, da Rougon im Hôtel Vanneau wohnte, einem sehr nützlichen Burschen, wenn es darauf ankam, der aber von einer recht kompromittierenden Liederlichkeit war. »Ich habe eine Droschke unten, ich mache mich davon«, sagte sie mit einem Lächeln und sehr laut, während sie in die Mitte des Zimmers zurückkehrte.
Und trotzdem blieb sie noch einige Minuten, von dem Wunsch erfüllt, die ganze Clique mit ihr zugleich fortgehen zu sehen. Um einen allgemeinen Aufbruch herbeizuführen, bot sie sogar an, jemanden in ihrer Droschke mitzunehmen. Der Oberst nahm an, und man kam überein, daß der kleine Auguste neben dem Kutscher sitzen solle. Dann begann ein großes Händeschütteln. Rougon hatte sich in die Nähe der weit offenen Tür gestellt. Alle, die an ihm vorbeigingen, sprachen ihm noch einmal mit ein paar phrasenhaften Worten ihre Anteilnahme aus. Herr Kahn, Du Poizat und der Oberst reckten den Hals, flüsterten ihm ganz leise etwas ins Ohr, damit er sie nicht vergäße. Die Charbonnels waren schon auf der obersten Treppenstufe, und Frau Correur plauderte im Hintergrund des Vorzimmers mit Merle, während sich Frau Bouchard, auf die in ein paar Schritt Entfernung Herr d'Escorailles und ihr Gatte warteten, noch sehr anmutig, sehr sanft bei Rougon versäumte und ihn
fragte, zu welcher Stunde sie ihn ganz allein in der Rue Marbeuf sprechen könne, weil sie in Gegenwart anderer allzu blöd sei. Als aber der Oberst sie diese Bitte äußern hörte, machte er plötzlich kehrt; die anderen folgten ihm, alle kamen wieder herein. »Wir alle werden Sie besuchen!« rief der Oberst. »Sie dürfen sich nicht vergraben«, sagten mehrere Stimmen. Herr Kahn bat mit einer Handbewegung um Ruhe. Dann gab er den großartigen Satz von sich: »Sie gehören nicht mehr sich selbst, Sie gehören Ihren Freunden und Frankreich.« Und endlich brachen sie auf. Rougon konnte die Tür wieder schließen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Da kam Delestang, den er ganz vergessen hatte, hinter dem Haufen Pappkästen hervor, in dessen Schutz er soeben als gewissenhafter Freund
das Ordnen der Papiere beendet hatte. Er war ein wenig stolz auf seine Leistung. Er handelte, indes die anderen redeten. So nahm er denn auch mit wahrem Genuß die lebhaften Dankesbezeigungen des großen Mannes entgegen. Nur er verstehe wirklich, einem hilfreich zu sein; er habe Sinn für Ordnung und eine Arbeitsweise, womit er es weit bringen werde. Und Rougon fand noch mehrere andere schmeichelhafte Dinge, ohne daß sich erkennen ließ, ob er sich nicht lustig machte. Dann, sich umwendend und einen Blick in alle Winkel werfend: »Aber nun sind wir, glaube ich, dank Ihrer fertig ... Man braucht nur noch Merle den Auftrag zu geben, diese Bündel da zu mir bringen zu lassen.« Er rief den Türhüter, bezeichnete ihm seine persönlichen Akten. Auf alle Anweisungen antwortete Türhüter: »Jawohl, Herr Präsident!«
der
»Ach, Sie Trottel«, schrie Rougon schließlich
gereizt, »nennen Sie mich doch nicht mehr Präsident, ich bin es ja nicht mehr!« Merle verbeugte sich, machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb zögernd stehen. Er kehrte zurück und sagte: »Unten ist eine Dame zu Pferde, die wünscht, Herrn ... Sie hat lachend erklärt, sie würde bestimmt heraufreiten, wenn nur die Treppe breit genug wäre ... Sie wollte dem Herrn nur die Hand drücken.« Rougon ballte schon die Fäuste, weil er es für einen Scherz hielt. Aber Delestang, der durch ein Fenster des Treppenabsatzes geschaut hatte, kam angelaufen und murmelte mit sehr erregtem Gesicht: »Fräulein Clorinde!« Da ließ Rougon ihr ausrichten, daß er hinunterkomme. Als Delestang und er dann nach ihren Hüten griffen, sah er ihn, erstaunt über seine Erregung, mit gerunzelten Brauen und argwöhnischer Miene an. »Hüten Sie sich vor den Frauen!« wiederholte
er. Und von der Schwelle aus schenkte er dem Arbeitszimmer einen letzten Blick. Durch die drei offengebliebenen Fenster fiel das volle Tageslicht herein, beleuchtete grell die ausgeräumten Schränke, die umherliegenden Schubfächer, die verschnürten und mitten auf dem Teppich aufgehäuften Bündel. Das Arbeitszimmer sah sehr groß, sehr trübselig aus. Im Kamin hatte die Masse der in ganzen Packen verbrannten Schriftstücke nur eine kleine Schaufel voll schwarzer Asche zurückgelassen. Als er die Tür schloß, erlosch die auf einer Ecke des Schreibtisches vergessene Kerze, wobei der kristallene Leuchtereinsatz mit lautem Klang in der Stille des leeren Zimmers zersprang.
Kapitel III Nachmittags gegen vier Uhr pflegte sich Rougon zuweilen für kurze Zeit zur Gräfin Balbi zu begeben. Er ging als Nachbar hin, zu Fuß. Die Gräfin bewohnte ein kleines Palais, ein paar Schritte von der Rue Marbeuf entfernt, an der Avenue des ChampsElysées. Übrigens war sie selten zu Hause; und wenn sie zufällig anwesend war, lag sie zu Bett und ließ sich entschuldigen. Das verhinderte nicht, daß das Treppenhaus des kleinen Palais von einem Heidenlärm geräuschvoller Besucher erfüllt war und daß unaufhörlich die Türen der Salons schlugen. Ihre Tochter Clorinde empfing in einem langen schmalen Raum, einer Art Maleratelier, das nach der Avenue zu große verglaste Öffnungen hatte. Fast drei Monate lang hatte sich Rougon mit der Brutalität eines keuschen Mannes dem entgegenkommenden Verhalten dieser Damen
gegenüber, die sich ihm auf einem Ball des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten hatten vorstellen lassen, sehr ablehnend benommen. Er begegnete ihnen überall, stets zeigten die beiden das gleiche auffordernde Lächeln, immer schwieg die Mutter, sprach das junge Mädchen anmaßend und sah ihm gerade in die Augen. Und er war standhaft, er mied sie, schlug die Augen nieder, um sie nicht zu sehen, lehnte die Einladungen ab, die sie ihm zukommen ließen. Immer wieder bedrängt, verfolgt bis in sein Haus hinein, an dem Clorinde mit Vorliebe vorbeizureiten schien, zog er dann Erkundigungen ein, bevor er sich zu ihnen wagte. In der italienischen Botschaft äußerte man sich zu ihm sehr günstig über diese Damen: den Grafen Balbi habe es tatsächlich gegeben; die Gräfin unterhalte hohe Beziehungen in Turin; die Tochter schließlich sei noch im vergangenen Jahr nahe daran gewesen, einen kleinen deutschen Fürsten zu heiraten. Aber
als sich Rougon anschließend an die Herzogin Sanquirino wandte, sah die Sache ganz anders aus. Dort versicherte man ihm, Clorinde sei zwei Jahre nach dem Tode des Grafen geboren; übrigens gehe eine sehr verwickelte Legende über das Ehepaar Balbi um, der zufolge Mann und Frau eine Menge Abenteuer hinter sich hätten, beiderseits Ausschweifungen, eine in Frankreich ausgesprochene Scheidung, eine in Italien überraschend vollzogene Aussöhnung, nach der sie in einer Art wilder Ehe gelebt hätten. Ein junger Botschaftsattaché, sehr auf dem laufenden über das, was sich am Hofe Viktor Emanuels27 zutrug, wurde noch deutlicher: wenn die Gräfin dort unten noch Einfluß besitze, so verdanke sie das seiner Ansicht nach einem früheren Liebesverhältnis mit einer sehr hochgestellten Persönlichkeit; und er ließ durchblicken, daß sie in Turin geblieben sein würde, hätte sich nicht ein gewisser ungeheurer Skandal ereignet, über
den er sich nicht näher auslassen könne. Rougon, allmählich von dem Reiz seiner Nachforschungen gepackt, ging bis zur Polizeipräfektur, wo er nichts Genaues ermitteln konnte; die Akten über die beiden Ausländerinnen stellten diese lediglich als zwei Frauen dar, die auf großem Fuß lebten, ohne daß etwas von einem ihnen gehörenden soliden Vermögen bekannt gewesen wäre. Sie behaupteten, Güter in Piemont zu besitzen. Tatsächlich war es zuweilen mit ihrem Aufwand plötzlich zu Ende; dann verschwanden sie auf einmal, um bald in neuem Glanz wieder aufzutauchen. Kurz, man wußte nichts über sie; man zog es vor, nichts zu wissen. Sie verkehrten in der besten Gesellschaft, ihr Haus wurde als neutraler Boden anerkannt, auf dem man Clorindes Überspanntheit als eine fremdländische Blüte duldete. Rougon entschloß sich, diese Damen zu besuchen. Beim dritten Besuch hatte die Neugier des
großen Mannes zugenommen. Er war von einer schwerfälligen Sinnlichkeit, die nur sehr langsam erwachte. Was ihn zunächst an Clorinde anzog, war das Prickelnde des Unbekannten, ihre ganze Vergangenheit, eine sie völlig beherrschende Zukunftsvorstellung, die er auf dem Grunde dieser großen Augen, den Augen einer jungen Göttin, zu lesen vermeinte. Wohl hatte man ihm abscheuliche Geschichten erzählt von einer ersten Schwäche für einen Kutscher und von einem später mit einem Bankier abgeschlossenen Geschäft, der die Scheinjungfräulichkeit des Fräuleins aus dem kleinen Palais der ChampsElysées bezahlt habe. Aber in manchen Stunden erschien sie ihm so kindlich, daß er zu zweifeln begann, sich fest vornahm, sie zu Geständnissen zu bewegen, und wiederkam, um das Geheimnis dieses seltsamen Mädchens zu ergründen, die, ein lebendes Rätsel, ihn schließlich ebensosehr beschäftigte wie ein schwieriges Problem der hohen Politik. Bis dahin war er ein
Frauenverächter gewesen, und die erste, an die er geriet, war bestimmt der komplizierteste Mechanismus, den man sich vorstellen konnte. Am Tage nach jenem, an dem Clorinde auf ihrem Mietspferd erschienen war, um Rougon an der Tür des Staatsrats teilnahmsvoll die Hand zu drücken, hatte er ihr einen Besuch gemacht, den sie übrigens nachdrücklich gefordert hatte. Sie müsse, hatte sie gesagt, ihm etwas zeigen, das ihn aus seiner trüben Stimmung reißen werde. Er nannte sie lachend »mein Laster«; er vergaß gern bei ihr die Zeit, belustigt, geschmeichelt, aufmerksamen Geistes, um so mehr, als er noch an ihr herumbuchstabierte, womit er noch nicht weitergekommen war als am ersten Tag. Als er um die Ecke der Rue Marbeuf bog, warf er einen Blick in die Rue du Colisée, auf das Stadthaus Delestangs, den er schon mehrmals dabei ertappt zu haben glaubte, wie er, das Gesicht zwischen den halb geöffneten Sommerläden, von der anderen Seite der
Avenue aus nach Clorindes Fenstern spähte; aber die Läden waren geschlossen, Delestang mußte wohl morgens auf sein Mustergut La Chamade gefahren sein. Die Tür des Palais Balbi stand stets weit offen. Rougon traf am Fuß der Treppe eine kleine, dunkelhäutige, schlecht frisierte Frau in einem zerlumpten gelben Kleid, die wie in einen Apfel in eine Orange biß. »Antonia, ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er sie. Sie antwortete nicht, da sie den Mund voll hatte, bewegte nur heftig und lachend den Kopf. Ihre Lippen waren ganz verschmiert vom Orangensaft; sie kniff die kleinen Augen zusammen, die wie zwei Tintenflecke auf ihrer braunen Haut aussahen. Rougon, bereits an die schlampige Dienerschaft des Hauses gewöhnt, ging hinauf. Im Treppenhaus kam er an einem baumlangen
Diener mit dem Aussehen eines Banditen und einem langen schwarzen Bart vorbei, der ihn ruhig ansah, ohne ihm die Geländerseite freizugeben. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks fand er sich dann allein drei offenen Türen gegenüber. Die zur Linken führte in Clorindes Zimmer. Er war so vorwitzig, einen langen Hals zu machen. Obwohl es bereits vier Uhr war, war das Zimmer noch nicht aufgeräumt; ein vor dem Bett aufgestellter Wandschirm verdeckte zur Hälfte die herunterhängenden Decken, und über den Wandschirm geworfen, trockneten die untenherum ganz mit Schmutz bespritzten Röcke vom Tage zuvor. Vor dem Fenster stand auf dem Fußboden die mit Seifenwasser gefüllte Waschschüssel, während die Katze des Hauses, ein grauer Kater, zusammengerollt auf einem Haufen Kleidungsstücke schlief. Clorinde hielt sich meist im zweiten Stock auf, in jenem Raum, aus dem sie nacheinander ein Atelier, ein Rauchzimmer, ein Treibhaus,
einen Sommersalon gemacht hatte. Je weiter Rougon hinaufstieg, um so stärker vernahm er Stimmenlärm, helles Gelächter, das Gepolter stürzender Möbelstücke. Und als er vor der Tür angelangt war, unterschied er schließlich, daß ein schwindsüchtiges Klavier den Lärm anführte, während eine Stimme sang. Er klopfte zweimal, ohne Antwort zu erhalten. Da entschloß er sich, einzutreten. »Ah! Bravo, bravo! Da ist er ja!« rief Clorinde und klatschte in die Hände. Er, der für gewöhnlich schwer aus der Fassung zu bringen war, blieb einen Augenblick lang staunend auf der Schwelle stehen. Vor dem alten Klavier, auf das er wütend einhieb, um ihm weniger dünne Töne zu entlocken, saß der Cavaliere Rusconi, der italienische Botschafter, ein schöner Mann, brünett und, wenn es ihm gerade paßte, ein ernsthafter Diplomat. In der Mitte des Raumes walzte der Abgeordnete La Rouquette mit einem Stuhl,
dessen Rücklehne er zärtlich mit den Armen an sich drückte, so hingerissen von seinem Schwung, daß er das Parkett mit umgestürzten Sitzgelegenheiten bestreut hatte. Und im grellen Licht eines der Fenster stand, einem jungen Mann gegenüber, der sie mit Reißkohle auf eine Leinwand zeichnete, mitten auf einem Tisch Clorinde mit nackten Schenkeln, nackten Armen, nackter Brust, völlig nackt und mit gelassener Miene Modell als Jagdgöttin Diana. Auf einem Kanapee saßen drei tiefernste Herren, rauchten dicke Zigarren und betrachteten, die Beine übereinandergeschlagen, das junge Mädchen, ohne ein Wort zu sprechen. »Lassen Sie, rühren Sie sich nicht«, rief der Cavaliere Rusconi Clorinde zu, die vom Tisch herunterspringen wollte. »Ich werde die Vorstellung übernehmen.« Und von Rougon begleitet, sagte er scherzend, als sie an Herrn La Rouquette vorbeigingen, der atemlos in einen Sessel gesunken war: »Herr La
Rouquette, den Sie kennen. Ein künftiger Minister.« Dann fuhr er, sich dem Maler nähernd, fort: »Herr Luigi Pozzo, mein Sekretär, Diplomat, Maler, Musiker und Verliebter.« Die drei Herren auf dem Kanapee vergaß er. Doch als er sich umwandte, bemerkte er sie; und er gab seinen scherzenden Ton auf, verneigte sich in ihrer Richtung und murmelte dabei in formvollendetem Ton: »Herr Brambilla, Herr Staderino, Herr Viscardi, alle drei politische Flüchtlinge.« Die drei Venetianer verbeugten sich, ohne ihre Zigarren aus der Hand zu legen. Der Cavaliere Rusconi kehrte gerade ans Klavier zurück, als Clorinde ihn heftig schalt und ihm vorwarf, er sei ein schlechter Zeremonienmeister. Und ihrerseits auf Rougon weisend, sagte sie einfach, aber mit einer besonderen, sehr schmeichelhaften Betonung: »Herr Eugène Rougon.«
Man verbeugte sich abermals. Rougon, der einen Augenblick lang irgendeinen unpassenden Scherz befürchtet hatte, war überrascht von dem plötzlichen Takt und der Würde dieses großen Mädchens, das da halbnackt in seinem Gazegewand stand. Er setzte sich und erkundigte sich nach dem Befinden der Gräfin Balbi, wie es seine Gepflogenheit war; er tat sogar bei jedem Besuch so, als gelte er der Mutter, was ihm schicklicher erschien. »Ich hätte mich sehr gefreut, ihr persönlich meine Aufwartung machen zu dürfen«, fügte er hinzu, die Formel anwendend, die er in diesem Fall zu gebrauchen pflegte. »Aber Mama ist ja hier«, sagte Clorinde, mit dem Ende ihres Bogens aus vergoldetem Holz auf eine Ecke des Raumes deutend. Und die Gräfin war tatsächlich da; hinter Möbelstücken verborgen, lag sie in einem großen Sessel. Das löste allgemeines
Erstaunen aus. Auch die drei politischen Flüchtlinge hatten offenbar nichts von ihrer Anwesenheit gewußt; sie standen auf und verbeugten sich. Rougon ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Er blieb bei ihr stehen, und sie, immer noch ausgestreckt, antwortete einsilbig, mit jenem ständigen Lächeln, das sie niemals verließ, nicht einmal wenn sie litt. Dann versank sie wieder in ihre Schweigsamkeit, war zerstreut, blickte seitlich auf die Avenue hinaus, wo ein Strom von Wagen entlangrollte. Sie hatte sich zweifellos hierhergesetzt, um dem Verkehr zuzusehen. Rougon ließ sie allein. Inzwischen suchte der Cavaliere Rusconi, der wieder am Klavier saß, leise die Tasten anschlagend und mit halber Stimme italienische Worte vor sich hin singend, nach einer Melodie. Herr La Rouquette fächelte sich mit seinem Taschentuch. Clorinde hatte sehr ernst ihre Pose wieder eingenommen. Und Rougon ging in der plötzlich entstandenen
Stille gemächlich auf und ab und betrachtete die Wände. Der Raum war mit einem erstaunlichen Durcheinander von Gegenständen vollgestopft: allerlei Möbelstücke, ein Schreibtisch, eine Truhe, mehrere Tische – alles in die Mitte geschoben –, schufen ein Labyrinth enger Gänge; an einem Ende welkten, schief aneinandergelehnt, ausrangierte Treibhauspflanzen, deren herabhängende grüne Wedel ganz von Rost zerfressen waren; am anderen Ende aber lag ein großer Haufen trocken gewordenen Tons, zwischen dem man noch die zerbröckelten Arme und Beine einer Statue erkannte, an der sich Clorinde versucht hatte, als sie eines schönen Tages von der Laune gepackt worden war, Künstlerin zu werden. Der sehr ausgedehnte Raum bot in der Tat an freiem Raum nur einen kleinen Platz vor einem der Fenster, eine Art viereckiger Lücke, die man mit zwei Kanapees und drei nicht zueinander passenden Sesseln in einen kleinen Salon
verwandelt hatte. »Sie dürfen rauchen«, sagte Clorinde zu Rougon. Er dankte, er rauche nie. Sie, ohne sich umzuwenden, rief: »Cavaliere, drehen Sie mir doch eine Zigarette. Tabak muß vor Ihnen auf dem Klavier stehen.« Und während der Cavaliere die Zigarette drehte, trat wieder Schweigen ein. Rougon, ärgerlich darüber, all diese Leute hier zu finden, wollte gehen und seinen Hut holen. Er trat jedoch wieder vor Clorinde hin, den Kopf erhoben, fragte lächelnd: »Haben Sie mich nicht gebeten, vorbeizukommen, weil Sie mir etwas zeigen wollten?« Sehr ernst, ganz mit dem Modellstehen beschäftigt, antwortete sie nicht sogleich. Er mußte nochmals fragen: »Was wollten Sie mir denn zeigen?« »Mich«, sagte sie.
Sie sagte das in einem überlegenen Ton, ohne jede Geste, in ihrer Göttinnenpose auf dem Tisch stehend. Rougon, nun seinerseits sehr ernst, trat einen Schritt zurück, betrachtete sie lange. Und sie war wirklich prachtvoll mit ihrem reinen Profil, ihrem schlanken Hals, den eine abfallende Linie mit den Schultern verband. Vor allem besaß sie jene königliche Schönheit, die Schönheit der Büste. Ihre runden Arme und Beine schimmerten wie Marmor. Ein wenig gebogen dadurch, daß sie die linke Hüfte leicht vorgeschoben hatte, streckte sie die rechte Hand in die Luft und bot so den Blicken eine lange, sehr wirkungsvolle und geschmeidige, in der Taille eingebogene, am Schenkel ausgebogene Linie von der Achselhöhle bis zur Ferse. Mit der anderen Hand stützte sie sich in der ruhig kraftvollen Haltung der antiken Jagdgöttin auf ihren Bogen, unbekümmert um ihre Nacktheit, der Liebe der Männer nicht achtend, kalt, hoheitsvoll, unsterblich.
»Sehr hübsch, sehr hübsch«, murmelte Rougon, der nicht wußte, was er sagen sollte. In Wahrheit war ihm ihre statuenhafte Regungslosigkeit unbehaglich. Sie schien so sieghaft, so davon überzeugt, klassisch schön zu sein, daß er, wenn er es gewagt hätte, Kritik an ihr geübt haben würde wie an einem Marmorbild, das seine spießbürgerlichen Augen durch gewisse Effekte beleidigte; er hätte eine zierlichere Taille, weniger breite Hüften, eine höher angesetzte Brust vorgezogen. Dann wandelte ihn ein brutales Gelüst an, ihr in die Wade zu greifen. Er mußte etwas zurücktreten, um diesem Gelüst nicht nachzugeben. »Haben Sie genug gesehen?« fragte Clorinde, immer noch ernst und von sich überzeugt. »Warten Sie, jetzt kommt etwas anderes.« Und auf einmal war sie nicht mehr Diana. Sie ließ ihren Bogen fallen, sie wurde Venus. Die Hände hinter den Kopf gehoben und in ihren
Haarknoten verschlungen, den Oberkörper etwas zurückgebogen, so daß sich die Spitzen der Brüste hoben, lächelte sie, öffnete ein wenig die Lippen und ließ den Blick schweifen, das Gesicht plötzlich wie in Sonne gebadet. Sie wirkte kleiner und als habe sie fleischigere Glieder, ganz vergoldet von einem Schauer des Begehrens, dessen warme Wellen er über ihre seidige Haut rieseln zu sehen vermeinte. Sie kauerte dort, bot sich dar, machte sich begehrenswert, sah aus wie eine unterwürfige Geliebte, die in einer Umarmung ganz und gar genommen werden will. Herr Brambilla, Herr Staderino und Herr Viscardi spendeten ihr ernsthaft Beifall, ohne ihre finstere Verschwörerstarre aufzugeben. »Bravo! bravo! bravo!« Herr La Rouquette brach in Begeisterungsrufe aus, indes der Cavaliere Rusconi, der sich dem Tisch wieder genähert hatte, um dem jungen Mädchen die Zigarette zu reichen, mit
verzücktem Blick stehenblieb und leicht den Kopf wiegte, als schlage er damit den Takt seiner Bewunderung. Rougon sagte nichts. Er schlang die Hände so fest ineinander, daß seine Finger knackten. Ein leichter Kälteschauer hatte ihn soeben vom Nacken bis zu den Fersen überlaufen. Jetzt dachte er nicht mehr daran, fortzugehen; er richtete sich auf Bleiben ein. Sie aber hatte bereits laut lachend, die Zigarette rauchend und mit hochfahrend geschürzten Lippen ihren durch keine Kleidung behinderten Körper wieder aufgerichtet. Sie erzählte, daß sie brennend gern Schauspielerin geworden wäre, alles hätte sie darstellen können, Zorn, Zärtlichkeit, Keuschheit, Entsetzen; und mit einer Haltung, einem Mienenspiel deutete sie Charaktere an. Dann sagte sie ganz plötzlich: »Herr Rougon, möchten Sie, daß ich Sie spiele, wie Sie im Corps législatif reden?« Sie blähte sich auf, warf sich in die Brust,
schnaufend, die Fäuste vorwärtsschleudernd, mit einer so drolligen Mimik, so wahr in der Übertreibung, daß alle vor Entzücken vergingen. Rougon lachte wie ein Kind; er fand sie anbetungswürdig, sehr durchtrieben und sehr beunruhigend. »Clorinda, Clorinda«, murmelte Luigi und klopfte leicht mit dem Malstock auf seine Staffelei. Clorinde bewegte sich so viel, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Er hatte die Reißkohle beiseite gelegt, um in der bemühten Art eines Schülers dünne Farben auf die Leinwand zu streichen. Inmitten des Gelächters blieb er ernst, warf flammende Blicke auf das junge Mädchen und sah mit einer schrecklichen Miene die Männer an, mit denen sie scherzte. Es war sein Einfall gewesen, sie in diesem Gewand der Jagdgöttin Diana zu malen, von dem seit dem letzten Botschaftsball ganz Paris sprach. Er bezeichnete sich als ihren Vetter,
weil sie beide in derselben Straße von Florenz geboren waren. »Clorinda!« wiederholte er in zornigem Ton. »Luigi hat recht«, sagte sie. »Sie sind nicht ganz gescheit, meine Herren; Sie vollführen einen Lärm! Arbeiten wir, arbeiten wir!« Und sie nahm wieder ihre olympische Stellung ein. Abermals wurde sie zu einem schönen Marmorbild. Die Herren verharrten auf ihren Plätzen, regungslos, wie angewurzelt. Einzig Herr Rouquette wagte es, mit den Fingerspitzen einen leisen Trommelwirbel auf der Armlehne seines Sessels zu schlagen. Rougon, den Rücken weit hintenübergebogen, sah Clorinde an und geriet nach und nach ins Träumen, von Phantasien überfallen, in denen das junge Mädchen ins Maßlose wuchs. Eine Frau war trotz allem ein seltsamer Mechanismus! Nie war es ihm eingefallen, es zu erforschen. Er begann ungewöhnliche Schwierigkeiten zu ahnen. Für Sekunden hatte
er ein sehr deutliches Vorgefühl von der Macht dieser nackten Schultern, die wohl fähig waren, eine Welt ins Wanken zu bringen. Clorinde dehnte sich vor seinen getrübten Augen immer mehr aus, versperrte ihm mit ihrer zu einer riesigen Statue gewordenen Gestalt das ganze Fenster. Doch er schloß und öffnete die Lider, und da fand er sie, sehr viel weniger groß als er selber, wieder auf dem Tisch. Nun mußte er lächeln; wenn er es gewollt hätte, würde er ihr wie einem kleinen Mädchen die Rute gegeben haben; und er wunderte sich, daß er sich einen Augenblick lang vor ihr gefürchtet hatte. Unterdessen erhob sich am anderen Ende des Raumes ein gedämpftes Stimmengeräusch. Rougon hörte, wie es seine Gewohnheit war, aufmerksam hin, vernahm aber nichts als ein schnelles Murmeln italienischer Silben. Der Cavaliere Rusconi, der sich soeben hinter die Möbel geschlichen hatte, stützte sich, ehrerbietig der Gräfin zugeneigt, mit der Hand
auf die Rücklehne ihres Sessels und schien ihr irgend etwas mit allen Einzelheiten zu erzählen. Die Gräfin begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Einmal jedoch machte sie eine Gebärde heftigen Abstreitens, und der Cavaliere beugte sich noch tiefer, beschwichtigte sie mit seiner singenden Stimme, die wie Vogelgezwitscher dahinplätscherte. Dank seiner Kenntnis des Provenzalischen erhaschte Rougon schließlich ein paar Worte, die ihn ernst stimmten. »Mama«, rief plötzlich Clorinde, »hast du dem Cavaliere die gestern abend gekommene Depesche gezeigt?« »Eine Depesche!« wiederholte der Cavaliere ganz laut. Die Gräfin hatte aus einer ihrer Taschen einen Packen Briefe gezogen, in dem sie lange herumsuchte. Endlich reichte sie ihm ein ganz zerknittertes Stück blaues Papier. Sobald er es überflogen hatte, machte er eine überraschte
und zornige Bewegung. »Nanu!« rief er, die anwesende Gesellschaft vergessend, auf französisch, »das wissen Sie seit gestern! Ich aber habe diese Nachricht erst heute morgen erhalten!« Clorinde brach in lautes Lachen aus, was ihn vollends ärgerlich machte. »Und Frau Gräfin lassen mich ihr die Geschichte lang und breit erzählen, als wisse sie nichts davon! – Da ja der Sitz der Botschaft hier ist, werde ich jeden Tag herkommen und die Korrespondenz durchsehen.« Die Gräfin lächelte. Sie blätterte noch immer in ihrem Briefpacken, nahm ein anderes Schriftstück heraus und ließ es ihn lesen. Diesmal schien er sehr befriedigt zu sein. Und die leise geführte Unterhaltung begann von neuem. Er hatte zu seinem ehrerbietigen Lächeln zurückgefunden. Als er die Gräfin verließ, küßte er ihr die Hand.
»So, damit wären die ernsten Angelegenheiten erledigt«, sagte er halblaut, als er sich wieder ans Klavier setzte. Er hieb aus Leibeskräften einen in jenem Jahr sehr beliebten Gassenhauer herunter. Dann sprang er, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, plötzlich auf, um seinen Hut zu holen. »Sie gehen?« fragte Clorinde. Sie winkte ihn heran, stützte sich auf seine Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Lachend schüttelte er den Kopf. Er murmelte: »Ganz großartig, ganz großartig ... Das werde ich denen da unten schreiben.« Und nachdem er sich verbeugt hatte, ging er hinaus. Luigi hatte Clorinde, die auf dem Tisch hockte, durch einen Schlag mit seinem Malstock veranlaßt, sich wieder aufrecht hinzustellen. Der Strom der Wagen, der die Avenue entlangrollte, langweilte die Gräfin auf die
Dauer zweifellos, denn sobald sie das Kupee des Cavaliere, das inmitten der Landauer, die aus dem Bois de Boulogne28 kamen, verschwand, aus den Augen verloren hatte, zog sie an einer Klingelschnur hinter ihr. Der baumlange Diener mit dem Banditengesicht trat ein und ließ die Tür offen. Die Gräfin vertraute sich seinem Arm an, durchquerte, zwischen den Herren, die sich vor ihr verbeugten, hindurchschreitend, langsam den Raum. Sie dankte mit einem Kopfneigen, mit ihrem Lächeln. Auf der Schwelle wandte sie sich dann um und sagte zu Clorinde: »Ich habe meine Migräne, ich will mich ein Weilchen hinlegen.« »Flaminio«, rief das junge Mädchen dem Bedienten zu, der ihre Mutter wegführte, »legen Sie ihr ein heißes Bügeleisen an die Füße!« Die drei politischen Flüchtlinge nahmen nicht wieder Platz. Sie blieben noch einen
Augenblick lang in einer Reihe stehen und kauten ihre Zigarren zu Ende, die sie alle mit der gleichen korrekten und wohlgezielten Bewegung in einen Winkel hinter dem Tonhaufen warfen. Und sie defilierten an Clorinde vorbei, gingen in feierlichem Zuge fort. »Mein Gott«, sagte La Rouquette, der gerade ein ernstes Gespräch mit Rougon begonnen hatte, »ich weiß genau, daß die Zuckerfrage von großer Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um einen ganzen Zweig der französischen Industrie. Das Unglück ist, daß, wie mir scheint, niemand in der Kammer diese Materie von Grund auf studiert hat.« Rougon, den er langweilte, antwortete nur durch Kopfbewegungen. Der junge Abgeordnete trat näher an ihn heran und fuhr, seinem Zierpuppengesicht plötzlich Würde verleihend, fort: »Sehen Sie, ich habe einen Onkel in der Zuckerindustrie. Er besitzt eine
der ertragreichsten Raffinerien von Marseille ... Nun, ich habe drei Monate bei ihm verbracht. Ich habe mir Notizen gemacht, oh, sehr viele Notizen. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern, kurz, ich machte mich mit allem vertraut! – Sie verstehen, ich wollte vor der Kammer sprechen ...« Er spielte sich vor Rougon auf, er gab sich ungeheure Mühe, ihn von den einzigen Dingen zu unterhalten, die, wie er glaubte, jenen interessieren mußten, war dabei allerdings sehr bestrebt, sich im Lichte eines gediegenen Politikers zu zeigen. »Und Sie haben nicht gesprochen?« fiel ihm Clorinde ins Wort, die Herrn La Rouquettes Anwesenheit ungeduldig zu machen schien. »Nein, ich habe nicht gesprochen«, erwiderte er mit leiserer Stimme, »ich glaubte, nicht sprechen zu sollen ... Im letzten Moment fürchtete ich, meine Zahlen könnten nicht ganz genau sein.«
Rougon sah ihn fest an und sagte dabei ernst: »Wissen Sie die Anzahl der Zuckerstücke, die pro Tag im Café Anglais verbraucht werden?« Einen Augenblick lang riß Herr La Rouquette verblüfft die Augen auf. Dann brach er in Lachen aus. »Ach, reizend, reizend!« rief er. »Ich verstehe, Sie scherzen ... Aber das, das ist die Frage des Zuckerhandels; ich sprach von der Frage der Zuckerindustrie ... Reizend! Sie gestatten mir wohl, den Ausspruch zu wiederholen, nicht wahr?« Er wippte vor Vergnügen in seinem Sessel. Er bekam wieder ein rosiges Gesicht, fühlte sich wieder wohl und suchte nach gefälligen Worten. Clorinde aber zog ihn der Frauen wegen auf. Sie habe ihn noch vor zwei Tagen im Théâtre des Variétés29 mit einer kleinen, sehr häßlichen, wie ein Pudel struwweligen Blondine gesehen. Zuerst leugnete er. Dann aber, ärgerlich über die grausame Art, in der
sie von dem »kleinen Pudel« sprach, vergaß er sich, verteidigte diese Dame, eine sehr wohlerzogene Person, die gar nicht so übel sei, und er erzählte von ihrem Haar, ihrem Wuchs, ihren Beinen. Clorinde wurde unausstehlich. Herr La Rouquette rief schließlich: »Sie erwartet mich, und ich gehe zu ihr.« Als er dann die Tür hinter sich geschlossen hatte, klatschte das junge Mädchen frohlockend in die Hände und sagte wiederholt: »Weg ist er, glückliche Reise!« Und sie sprang munter vom Tisch und lief auf Rougon zu, dem sie beide Hände reichte. Sie tat sehr sanft; sie sei sehr verdrießlich, daß er sie nicht allein angetroffen habe. Welch eine Mühe habe es sie gekostet, die ganze Gesellschaft wegzuschicken! Die Leute begriffen nichts, wirklich! Dieser La Rouquette mit seiner Zuckerindustrie sei reichlich lächerlich! Aber jetzt werde man sie vielleicht nicht mehr stören, und sie könnten
plaudern. Sie habe ihm so viel zu sagen! Während sie so sprach, führte sie ihn zu einem Kanapee. Er hatte sich hingesetzt, ohne ihre Hände loszulassen, als Luigi hart mit seinem Malstock aufklopfte und dabei in ärgerlichem Ton wiederholte: »Clorinda! Clorinda!« »Ach ja, richtig, das Porträt!« rief sie lachend. Sie entschlüpfte Rougon, ging hin und beugte sich auf eine zärtlich geschmeidige Art von hinten über den Maler. Oh, wie hübsch das sei, was er da gemacht hatte! Das komme sehr gut heraus. Aber sie sei wirklich etwas müde, und sie bitte um eine Viertelstunde Ruhe. Übrigens könne er ja am Gewand malen, dafür brauche sie doch nicht Modell zu stehen. Luigi warf funkelnde Blicke auf Rougon, fuhr fort, übellaunige Worte zu murmeln. Da sagte sie mit gerunzelten Brauen, aber immer noch lächelnd, sehr schnell etwas auf italienisch zu ihm. Und er schwieg, führte aufs neue vorsichtig seinen Pinsel.
»Ich schwindle nicht«, versicherte sie, während sie zu Rougon zurückkehrte und sich neben ihn setzte, »mein linkes Bein ist mir völlig eingeschlafen.« Sie klopfte sich auf das linke Bein, um das Blut wieder in Umlauf zu bringen, wie sie sagte. Durch die Gaze sah man als rosigen Fleck ihre Knie. Sie hatte jedoch vergessen, daß sie nackt war. Nachdenklich neigte sie sich ihm zu, die Haut ihrer Schulter an dem rauhen Tuch seines Überziehers scheuernd. Auf einmal aber ließ ein Knopf, auf den sie unerwartet traf, ihr einen heftigen Schauder über den Busen laufen. Sie sah an sich herab, wurde sehr rot. Und eilig holte sie irgendein Stück schwarze Spitze, das sie um sich schlang. »Mir ist ein bißchen kalt«, sagte sie, nachdem sie einen Sessel vor Rougon geschoben und sich hineingesetzt hatte. Außer einem schmalen Streifen ihrer bloßen
Handgelenke ließ sie nichts unter der Spitze hervorschauen. Sie hatte sich das Gewebe so um den Hals gewunden, daß es eine große Krawatte bildete, in die sie das Kinn vergrub. In dieser Hülle, die die Brust gänzlich verdeckte, war sie jetzt bis auf ihr wieder bleich und ernst gewordenes Gesicht ganz und gar schwarz. »Nun, was ist mit Ihnen geschehen?« fragte sie. »Erzählen Sie mir alles.« Und mit der Freimütigkeit kindlicher Neugier forschte sie ihn aus, wieso er in Ungnade gefallen sei. Sie betonte die Ausländerin, ließ sich bis zu drei Malen Einzelheiten wiederholen, die sie nicht verstanden zu haben behauptete. Sie unterbrach ihn mit Ausrufen in italienischer Sprache, während er in ihren dunklen Augen jeder Regung folgen konnte, die sein Bericht hervorrief. Weshalb er sich mit dem Kaiser überworfen habe? Wieso er auf eine so hohe Stellung habe verzichten
können? Wer denn seine Feinde seien, daß er sich so habe unterkriegen lassen? Und da er zögerte, als sie ihn mit der Behauptung, er wolle irgend etwas nicht gestehen, in die Enge trieb, sah sie ihn mit so rührender Treuherzigkeit an, daß er sich gehenließ und ihr die Geschichte vollständig erzählte. Bald hatte sie zweifellos alles erfahren, was sie zu wissen wünschte. Sie warf noch ein paar Fragen hin, die sehr wenig mit dem Thema zu tun hatten und deren Seltsamkeit Rougon erstaunte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und schwieg. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie dachte tief nach. »Nun?« fragte er lächelnd. »Nichts«, murmelte sie, »es hat mich traurig gemacht.« Er war gerührt und versuchte, abermals ihre Hände zu fassen, doch sie verbarg sie unter der Spitze, und das Schweigen dauerte an. Nach Verlauf von zwei langen Minuten hob sie die
Lider wieder und sagte: »Sie haben also irgendwelche Pläne?« Er sah sie fest an. Flüchtig tauchte ein Verdacht in ihm auf. Aber sie war jetzt so anbetungswürdig, wie sie da in der Haltung einer Leidenden tief im Sessel lag, als hätten die Kümmernisse ihres »lieben Freundes« sie aller Kraft beraubt, daß er sich nicht an das leichte Frösteln kehrte, das ihm soeben über den Nacken gerieselt war. Sie schmeichelte ihm sehr. Gewiß werde er nicht lange abseits bleiben, eines Tages werde er wieder der Herr sein. Sie sei überzeugt, daß er sich mit großen Gedanken trage und seinem Stern vertraue, denn das stehe ihm an der Stirn geschrieben. Weshalb er sie nicht zu seiner Vertrauten mache? Sie sei so verschwiegen, es würde sie so beglücken, seine Zukunft mit ihm zu teilen! Berauscht, immer noch bestrebt, die kleinen Hände, die sich in der Spitze verbargen, wieder zu erwischen, sprach Rougon weiter, sprach immerzu, gab schließlich alles preis,
seine Hoffnungen, seine Gewißheiten. Sie drängte ihn nicht mehr, ließ ihn ungestört weiterreden, rührte sich nicht, aus Angst, er könnte dann aufhören. Sie betrachtete ihn forschend, zergliederte ihn Stück für Stück, untersuchte seinen Schädel, wog seine Schultern, maß seine Brust. Das war entschieden ein starker Mann, der sie, so kräftig sie auch war, sich mit einem Handgriff auf den Rücken geworfen und sie ohne weiteres so hoch hinaufgetragen haben würde, wie sie gewollt hätte. »Ach, der liebe Freund!« sagte sie plötzlich. »Was mich betrifft, ich habe nie gezweifelt!« Sie hatte sich halb erhoben, hatte die Arme ausgebreitet und die Spitze zu Boden gleiten lassen. Nun kam sie wieder zum Vorschein, noch nackter, bot sich widerstandslos dar, ließ die Schultern mit einer so geschmeidigen Bewegung einer verliebten Katze aus der Gaze schlüpfen, daß sie aus dem Oberteil ihres
Gewandes herauszuspringen schien. Es war eine jähe Vision, als gewähre sie Rougon eine Belohnung und ein Versprechen. Und war nicht nur das Stück Spitze herabgeglitten? Schon hob sie es auf, schlang es fester um sich. »Pst!« flüsterte sie, »Luigi wird böse.« Und sie lief zu dem Maler hin, beugte sich abermals über ihn und sprach, den Mund dicht an seinem Halse, sehr schnell auf ihn ein. Rougon rieb sich, als sie nicht mehr bebend vor Lebendigkeit bei ihm war, heftig die Hände, war nervös, beinahe ärgerlich. Sie rief bei ihm ein seltsames Prickeln auf der Haut hervor. Und er fluchte auf sie. Mit zwanzig Jahren hätte er sich nicht dümmer anstellen können. Sie hatte ihm soeben wie einem Kind Geständnisse entlockt, ihm, der seit zwei Monaten versuchte, sie zum Reden zu bringen, ohne ihr etwas anderes abzugewinnen als herzliches Gelächter. Sie hatte ihm nur einen
Augenblick lang ihre Hände zu entziehen brauchen, und schon hatte er sich soweit vergessen, alles zu erzählen, damit sie sie ihm wieder reichte. Jetzt – das wurde ihm klar – würde sie ihn erobern; sie erwog wohl schon, ob es noch der Mühe lohne, ihn zu verführen. Rougon lächelte mit der Überlegenheit eines starken Mannes. Er würde sie zerbrechen, wenn er es wollte. War nicht sie es, die ihn herausforderte? Und unredliche Gedanken stiegen in ihm auf, ein ganzer Verführungsplan, in dessen Verfolg er sie sitzenlassen würde, nachdem er sie besessen. Er konnte wahrlich nicht diesem erwachsenen Mädchen gegenüber, die in solcher Art ihre Schultern zeigte, die Rolle eines Einfaltspinsels spielen. Dennoch war er nicht mehr ganz sicher, ob die Spitze nicht von selber herabgeglitten war. »Finden Sie, daß ich graue Augen habe?« fragte Clorinde, die wieder zu ihm kam.
Er stand auf, sah sie aus nächster Nähe an, ohne dadurch die klare Ruhe ihrer Augen zu trüben. Doch als er die Hände vorstreckte, gab sie ihm einen leichten Schlag. Es sei nicht nötig, daß er sie berühre. Sie war jetzt sehr kalt. Mit einer Schamhaftigkeit, die sich über die kleinsten Lücken beunruhigte, wickelte sie sich in ihren Spitzenlappen. Mochte er auch seinen Spott mit ihr treiben, sie necken, Miene machen, Gewalt zu gebrauchen, sie verhüllte sich nur um so mehr, stieß kleine Schreie aus, wenn er die Spitze streifte. Außerdem wollte sie sich nicht wieder hinsetzen. »Ich möchte lieber ein bißchen gehen«, sagte sie, »das macht meine Beine gelenkig.« Da begleitete er sie. Sie wanderten zusammen auf und ab. Er versuchte, ihr nun seinerseits Geständnisse zu entlocken. Für gewöhnlich antwortete sie nicht auf Fragen. Sie hatte eine Art, sprunghaft zu plaudern, unterbrochen von Ausrufen, untermischt mit Geschichtchen, die
sie niemals zu Ende erzählte. Als er sie mit List über eine zweiwöchige Abwesenheit in Gesellschaft ihrer Mutter im Monat zuvor befragte, reihte sie eine nicht endende Folge von Anekdoten über diese Reisen aneinander. Sie sei überall gewesen, in England, Spanien, Deutschland; alles habe sie gesehen. Daran schloß sich ein Regen unwichtiger kindischer Beobachtungen über das Essen, die Moden, das jeweilige Wetter. Zuweilen begann sie etwas zu erzählen, wobei sie sich mit bekannten Persönlichkeiten, deren Namen sie anführte, in Szene setzte. Rougon spitzte die Ohren, glaubte, sie werde sich endlich eine vertrauliche Äußerung entfahren lassen; aber die Erzählung schlug in Kinderei um oder blieb wohl auch ohne Abschluß. Auch an diesem Tage erfuhr er nichts. Auf ihrem Gesicht lag das Lächeln, hinter dem sie sich verbarg. Sie blieb trotz all ihren geschwätzigen Ergüssen undurchdringlich. Betäubt
von
diesen
verwirrenden
Mitteilungen, von denen die einen die anderen Lügen straften, wußte Rougon schließlich nicht mehr, ob er ein zwölfjähriges, bis zur Dummheit unschuldiges Mädelchen vor sich habe oder eine sehr gescheite Frau, die aus Raffinement zur Einfalt zurückgekehrt war. Clorinde unterbrach sich in der Erzählung eines Abenteuers, das sie in einer kleinen spanischen Stadt erlebt hatte, wo sie das Bett, das ein Reisender ihr aus Ritterlichkeit angeboten, habe annehmen müssen, während er auf einem Stuhl schlief. »Sie sollten nicht in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie ohne jeden Übergang. »Man muß Sie dort vermissen.« »Danke schön, Fräulein erwiderte er lachend.
Machiavelli«,
Sie lachte lauter als er. Aber dennoch fuhr sie fort, ihm ausgezeichnete Ratschläge zu geben. Und als er wieder versuchte, sie wie im Spiel in den Arm zu kneifen, wurde sie böse, schrie,
man könne keine zwei Minuten lang ernsthaft reden. Ach, wenn sie ein Mann wäre. Wie gut würde sie es verstehen, ihren Weg zu machen! Die Männer hatten so wenig Verstand! »Kommen Sie, erzählen Sie mir die Lebensgeschichten Ihrer Freunde«, fing sie wieder an und setzte sich auf die Tischkante, während Rougon vor ihr stehen blieb. Luigi, der den Blick nicht von ihnen wandte, schloß heftig seinen Malkasten. »Ich gehe weg«, sagte er. Aber Clorinde eilte auf ihn zu, holte ihn zurück, schwor, sie werde ihm gleich wieder Modell stehen. Sie mußte sich wohl davor fürchten, mit Rougon allein zu bleiben. Und als Luigi nachgab, versuchte sie Zeit zu gewinnen. »Sie werden mich doch etwas essen lassen. Ich habe solchen Hunger! Ach, nur zwei Bissen.«
Sie öffnete die Tür und rief: »Antonia! Antonia!« Und sie erteilte auf italienisch eine Anordnung. Kaum hatte sie sich wieder auf die Tischkante gesetzt, als Antonia eintrat, auf jeder Hand ein Butterbrot. Die Dienerin hielt sie ihr hin wie auf einem Tablett, mit dem ihr eigenen Lachen einer albernen Person, die man gerade kitzelt, einem Lachen, das ihren roten Mund in dem dunklen Gesicht aufriß. Dann ging sie, die Hände an ihrem Rock abwischend, hinaus. Clorinde rief sie zurück, um ein Glas Wasser zu verlangen. »Wollen Sie mithalten?« fragte sie Rougon. »Butter ist etwas sehr Gutes. Manchmal streue ich Zucker darauf. Aber man darf nicht immer ein Leckermaul sein.« Das war sie in der Tat nicht. Rougon hatte sie eines Morgens beim Frühstück überrascht, als sie im Begriff war, ein Stück kalten Eierkuchen vom Tage zuvor zu essen. Er
verdächtigte sie des Geizes, eines italienischen Lasters. »Drei Minuten, nicht wahr, Luigi?« rief sie, während sie in die erste Schnitte biß. Und sich wieder Rougon zuwendend, der immer noch vor ihr stand, fragte sie: »Nun, was hat zum Beispiel Herr Kahn für eine Geschichte, wieso ist er Abgeordneter?« In der Hoffnung, ihr irgendeine unfreiwillige Eröffnung abzunötigen, ließ Rougon bereitwillig dieses neue Verhör über sich ergehen. Er wußte, daß sie sehr neugierig auf das Leben eines jeden war, die Ohren nach allen unvorsichtigen Äußerungen spitzte, unaufhörlich auf der Lauer lag nach den verwickelten Intrigen, von denen sie ständig umgeben war. Hochgestellte Leute interessierten sie besonders. »Oh!« erwiderte er lachend, »Kahn ist als
Abgeordneter geboren. Er muß bereits seine Zähne auf den Bänken des Abgeordnetenhauses bekommen haben. Unter LouisPhilippe saß er schon im rechten Flügel des Zentrums und unterstützte mit jugendlicher Leidenschaft die konstitutionelle Monarchie. Nach achtundvierzig ist er zum linken Flügel übergegangen, übrigens nach wie vor sehr leidenschaftlich; er hat in erhabenem Stil ein republikanisches Glaubensbekenntnis verfaßt. Jetzt ist er wieder zum rechten Flügel zurückgekehrt und verteidigt leidenschaftlich das Kaiserreich ... Außerdem ist er Sohn eines jüdischen Bankiers aus Bordeaux, steht einem Hochofenwerk bei Bressuire vor, hat sich zum Spezialisten für finanzielle und industrielle Fragen ausgebildet, lebt in Erwartung des Vermögens, das er eines Tages erwerben wird, recht mittelmäßig, wurde am letzten 15. August zum Offizier der Ehrenlegion befördert ...«
Und Rougon richtete den Blick ins Leere und überlegte. »Ich habe, glaube ich, nichts vergessen ... Nein, Kinder hat er nicht ...« »Wie? Er ist verheiratet?« rief Clorinde aus. Sie deutete durch eine Handbewegung an, daß Herr Kahn sie nicht weiter interessiere. Das sei ein Duckmäuser; niemals habe er seine Frau vorgeführt. Darauf erklärte ihr Rougon, daß Frau Kahn sehr zurückgezogen in Paris lebe. Und dann begann er, ohne eine Frage abzuwarten, von neuem: »Wünschen Sie jetzt den Lebenslauf Béjuins?« »Nein, nein«, sagte das junge Mädchen. Aber er fuhr dennoch fort: »Er ist aus der Ecole polytechnique30 hervorgegangen. Er hat Broschüren geschrieben, die kein Mensch gelesen hat. Er leitet die Kristallfabrik in SaintFlorent, drei Meilen von Bourges ... Entdeckt hat ihn der Präfekt31 des
Departements Cher ...« »Hören Sie doch auf!« schrie sie. »Ein würdiger Mann, der richtig wählt, niemals redet, sehr geduldig wartet, bis man an ihn denkt, immer da ist und einen ansieht, damit man ihn nicht vergißt ... Ich habe ihn zum Ritter der Ehrenlegion ernennen lassen ...« Sie mußte ihm den Mund zuhalten; ärgerlich geworden, sagte sie: »Ach, der ist auch verheiratet! Er ist langweilig ... Ich habe bei Ihnen seine Frau gesehen, ein Trampel! Sie hat mich aufgefordert, ihre Kristallfabrik bei Bourges zu besichtigen.« Sie steckte den Rest ihrer ersten Brotschnitte mit einmal in den Mund. Dann trank sie einen großen Schluck Wasser. Ihre Beine hingen von der Tischkante herunter, und ein wenig zusammengesunken, den Hals zurückgebogen, baumelte sie mit ihnen in einer mechanischen
Bewegung, deren Rhythmus Rougon genau verfolgte. Bei jedem Hin und Herschlenkern schwollen die Waden unter der Gaze an. »Und Herr Du Poizat?« fragte sie nach einer Pause. »Du Poizat war Unterpräfekt«, antwortete er nur. Erstaunt über die Kürze der Geschichte, sah sie ihn an. »Ich weiß wohl«, sagte sie. »Was weiter?« »Weiter wird er später Präfekt werden, und dann wird er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.« Sie begriff, daß er nicht mehr darüber sagen wollte. Außerdem hatte sie den Namen Du Poizat beiläufig hingeworfen. Jetzt zählte sie die Herren an den Fingern her. Beim Daumen beginnend, murmelte sie: »Herr d'Escorailles: der ist nicht ernst zu nehmen, er liebt alle Frauen ... Herr La Rouquette: überflüssig, den
kenne ich zu gut ... Herr de Combelot: noch ein Verheirateter ...« Und als sie beim Ringfinger haltmachte, da ihr niemand mehr einfiel, sah Herr Rougon sie fest an und sagte: »Sie vergessen Delestang.« »Da haben Sie recht!« rief sie. »Erzählen Sie mir also von dem?« »Das ist ein schöner Mann«, erklärte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Er ist sehr reich. Ich habe ihm stets eine große Zukunft prophezeit.« In dieser Tonart fuhr er fort, übertrieb die Lobsprüche, verdoppelte die Summen. Das Mustergut La Chamade sei zwei Millionen wert. Delestang werde bestimmt eines Tages Minister. Aber Clorinde behielt einen geringschätzigen Zug um den Mund. »Er ist sehr dumm«, murmelte sie schließlich. »Sieh
da!«
sagte
Rougon
mit
einem
verschlagenen Lächeln. Er schien von dem Ausspruch, den sie sich hatte entschlüpfen lassen, entzückt zu sein. Dann stellte sie mit einem jener jähen Sprünge, an die er schon gewöhnt war, eine neue Frage, wobei sie ihn nun ihrerseits fest ansah. »Herrn de Marsy kennen Sie ja wohl sehr genau?« »Ja, ja, wir kennen einander«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken, als ergötze ihn das, was sie ihn da fragte, noch mehr. Doch er wurde wieder ernst. Er wurde sehr würdevoll, sehr gerecht. »Das ist ein Mann von ungewöhnlichem Verstand«, behauptete er. »Ich rechne es mir zur Ehre an, ihn zum Feind zu haben ... Er hat sich mit allem befaßt. Mit achtundzwanzig Jahren war er Oberst. Später begegnete man ihm als Leiter einer großen Fabrik. Dann hat er
sich nacheinander mit Landwirtschaft, Finanzen und Handel beschäftigt. Man behauptet sogar, er habe Porträts gemalt und Romane geschrieben.« Clorinde vergaß zu essen; sie war ins Träumen geraten. »Ich habe neulich abends mit ihm geplaudert«, sagte sie leise. »Das ist ein Prachtkerl ... Er ist eben der Sohn einer Königin32.« »Meiner Ansicht nach«, fuhr Rougon fort, »schadet es ihm, daß er so geistreich ist. Ich habe eine andere Vorstellung von Kraft. Ich habe ihn unter sehr ernsten Umständen mit Wortspielen witzeln hören. Immerhin, er hat es zu etwas gebracht, er regiert nicht weniger als der Kaiser. All diese Bastarde haben Glück! – Das Persönlichste an ihm ist sein schneidiges Vorgehen, eine eiserne Hand, kühn, entschlossen, sehr zart und dennoch sehr schlagfertig.«
Unwillkürlich hatte das junge Mädchen den Blick auf die groben Hände Rougons gesenkt. Er merkte es und sagte lächelnd: »Oh, ich habe Pranken, nicht wahr? Deshalb haben Marsy und ich einander nie verstanden. Er säbelt die Leute elegant nieder, ohne seine weißen Handschuhe zu beflecken. Ich – erschlage sie.« Er hatte die Fäuste geballt, fleischige Fäuste mit behaarten Fingergliedern, und er schüttelte sie, froh über ihre ungeheure Größe. Clorinde griff nach dem zweiten Butterbrot, in das sie, immer noch verträumt, die Zähne grub. Endlich hob sie die Augen zu Rougon auf. »Nun, und Sie?« fragte sie. »Meine Geschichte wollen Sie wissen?« sagte er. »Nichts ist leichter erzählt. Mein Großvater verkaufte Gemüse, ich selber habe bis zu meinem achtunddreißigsten Jahr als kleiner
Advokat meine abgetragenen Schuhe durch meine heimatliche Kleinstadt geschleift. Gestern war ich noch ein Unbekannter. Ich habe nicht, wie unser Freund Kahn, meine Schultern damit abgenützt, sämtliche Regierungen zu stützen. Ich bin nicht, wie Béjuin, aus der Ecole polytechnique hervorgegangen. Ich laufe weder mit dem schönen Namen des kleinen Escorailles noch mit der schönen Gestalt dieses armen Combelot herum. Ich habe keine so angesehenen Verwandten wie La Rouquette, der seinen Abgeordnetensitz seiner Schwester verdankt, der Witwe des Generals de Llorentz, die heute Palastdame ist. Mein Vater hat mir nicht, wie es Delestang geschah, ein im Weinhandel erworbenes Vermögen von fünf Millionen hinterlassen. Ich bin nicht, wie der Graf de Marsy, auf den Stufen eines Throns geboren und bin nicht, am Rock einer gelehrten Frau hängend, unter den Liebkosungen Talleyrands33 aufgewachsen.
Nein, ich bin ein neuer Mann, ich habe nichts als meine Fäuste ...« Und laut lachend schlug er, die Sache ins Scherzhafte ziehend, seine Fäuste aneinander. Aber er hatte sich hoch aufgerichtet, er schien zwischen seinen geschlossenen Fingern Steine zu zermalmen. Clorinde bewunderte ihn. »Ich war nichts; jetzt werde ich sein, was mir gefällt«, fuhr er fort, alles um sich her vergessend, nur für sich selber redend. »Ich bin eine Macht. Und ich kann nur die Schultern zucken über die andern, wenn sie sich auf ihre Ergebenheit für das Kaiserreich berufen! Lieben sie es etwa? Haben sie es im Gefühl? Würden sie sich nicht allen Regierungsformen anpassen? Ich bin mit dem Kaiserreich groß geworden; ich habe es geschaffen, und es hat mich geschaffen ... Ich wurde nach dem 10. Dezember34 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, zum Offizier im Januar 1852, zum Kommandeur am 15.
August 1854, zum Großoffizier vor drei Monaten. Unter der Präsidentschaft war ich für kurze Zeit Minister für öffentliche Arbeiten; später hat mich der Kaiser mit einer Mission in England beauftragt; dann bin ich in den Staatsrat eingezogen und in den Senat ...« »Und wo werden Sie morgen einziehen?« fragte Clorinde mit einem Lachen, hinter dem sie ihre brennende Neugier zu verbergen trachtete. Er sah sie an, brach jäh ab. »Sie sind recht neugierig, Fräulein Machiavelli«, sagte er. Da baumelte sie noch heftiger mit den Beinen. Eine Pause entstand. Als Rougon sie abermals in tiefe Träumerei versunken sah, hielt er den Augenblick für günstig, um etwas aus ihr herauszulocken. »Die Frauen ...«, begann er. Doch sie unterbrach ihn; mit verschleiertem Blick, leicht ihren Gedanken zulächelnd,
sprach sie halblaut: »Oh, die Frauen haben anderes.« Das war ihr einziges Geständnis. Sie aß ihr Butterbrot auf, leerte in einem Zuge das Glas klaren Wassers und stand mit einem Sprung, der von ihrer Reitergeschicklichkeit zeugte, auf dem Tisch. »Also Luigi!« rief sie. Der Maler hatte sich, vor Ungeduld auf seinem Schnurrbart kauend, seit einem Weilchen erhoben und war um sie und Rougon herumgetrappelt. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder, griff nach seiner Palette. Aus den drei Minuten Gnadenfrist, die Clorinde erbeten hatte, war eine Viertelstunde geworden. Jetzt aber stand sie, immer noch in das Stück schwarze Spitze gehüllt, auf dem Tisch. Als sie dann wieder in ihre Stellung zurückgefunden hatte, entblößte sie sich mit einer einzigen Bewegung. Sie wurde wieder zum Marmorbild, sie empfand keine Scham
mehr. In den ChampsElysées rollten die Wagen spärlicher. Die sinkende Sonne füllte die Avenue mit einem Geflimmer, das die Bäume bestäubte, als hätten die Räder diese Wolke rotgelben Lichts aufgewirbelt. In dem durch die hohen Fenster fallenden Tagesschein wurden Clorindes Schultern von goldenen Reflexen überspielt. Und allmählich verblich der Himmel. »Ist die Heirat des Herrn de Marsy mit jener walachischen Fürstin noch immer beschlossen?« fragte sie nach einer kleinen Weile. »Ich denke doch«, antwortete Rougon. »Sie ist ungeheuer reich. Marsy fehlt es stets an Geld. Übrigens erzählt man, er sei in sie vernarrt.« Die Stille wurde nicht mehr gestört. Rougon blieb, fühlte sich wie zu Hause, dachte nicht mehr daran, fortzugehen. Er überlegte, nahm
sein Umherwandern wieder auf. Diese Clorinde war wirklich ein sehr verführerisches Mädchen. Er dachte so an sie, als habe er sie schon seit langem verlassen; und die Augen aufs Parkett geheftet, versank er in undeutliche Gedanken, sehr angenehme Gedanken, deren inneres Prickeln ihm Genuß bereitete. Es kam ihm vor, als entsteige er mit einer köstlichen Mattigkeit der Glieder einem lauen Bad. Ein eigentümlicher Duft von fast zuckriger Strenge drang auf ihn ein. Er hätte sich gern auf eines der Kanapees gelegt, um dort in diesem Duft einzuschlafen. Er wurde jäh durch den Laut von Stimmen aufgeschreckt. Ein hochgewachsener Greis, den er nicht hatte eintreten sehen, küßte Clorinde, die sich lächelnd über den Rand des Tisches hinabbeugte, auf die Stirn. »Guten Tag, meine Kleine«, sagte er. »Wie schön du bist! Du zeigst wohl alles, was du hast?«
Er grinste ein wenig, und als Clorinde verwirrt ihr Stück schwarze Spitze aufraffte, meinte er lebhaft: »Nein, nein, es ist sehr hübsch so, du kannst alles sehen lassen, glaub's nur! – Ach, mein armes Kind, ich habe ganz andere gesehen!« Dann wandte er sich zu Rougon um, den er mit »lieber Kollege« ansprach, drückte ihm die Hand und fügte hinzu: »Ein wildes Mädelchen, das sich, als sie noch klein war, mehr als einmal auf meinen Knien vergessen hat! Jetzt hat sie einen Busen, der einen geradezu blendet!« Es war der alte Herr de Plouguern. Er zählte siebzig Jahre. Unter LouisPhilippe vom Departement Finistère in die Kammer entsandt, gehörte er zu den legitimistischen Abgeordneten, welche die Wallfahrt zum Belgrave Square35 machten; und anschließend an die entehrende Abstimmung, von der seine Gefährten und er überrascht wurden, reichte er
seinen Rücktritt ein. Später, nach den Februartagen, bekundete er seine plötzliche Liebe zur Republik, der er auf den Bänken der Verfassunggebenden Versammlung kräftig Beifall zollte. Jetzt war er, seit ihm der Kaiser im Senat eine wohlverdiente Zuflucht gesichert hatte, Bonapartist. Nur verstand er sich darauf, es als Edelmann zu sein. Seine große Unterwürfigkeit gestattete sich zuweilen den Reiz eines Anflugs von Opposition. Undankbarkeit ergötzte ihn. Skeptiker bis ins Mark, verteidigte er dennoch Religion und Familie. Er glaubte, das seinem Namen, einem der glänzendsten der Bretagne, schuldig zu sein. An manchen Tagen fand er das Kaiserreich unmoralisch und sprach das ganz laut aus. Er selber hatte sehr ausschweifend, sehr erfinderisch und die Genüsse verfeinernd, ein Leben voll anrüchiger Abenteuer geführt; man erzählte trotz seiner Jahre Geschichten von ihm, die in den jungen Leuten Träume weckten. Auf einer Reise durch Italien hatte er
die Gräfin Balbi kennengelernt, deren Liebhaber er fast dreißig Jahre lang blieb; nach jahrelangen Trennungen taten sie sich in den Städten, wo sie einander zufällig trafen, für drei Nächte wieder zusammen. Es wurde erzählt, Clorinde sei seine Tochter; aber weder er noch die Gräfin wußten zuverlässig etwas davon, und seit das Kind zu einer fülligen und begehrenswerten Frau heranwuchs, betonte er, daß er früher viel mit ihrem Vater verkehrt habe. Er blickte sie mit seinen noch immer funkelnden Augen zärtlich an und erlaubte sich bei ihr sehr freie Vertraulichkeiten eines alten Freundes. Herr de Plouguern, groß, dürr und knochig, hatte Ähnlichkeit mit Voltaire, den er insgeheim verehrte. »Pate, siehst du dir mein Porträt nicht an?« rief Clorinde. Sie nannte ihn aus Anhänglichkeit Pate. Er war hinter Luigi getreten und blinzelte kennerhaft.
»Köstlich!« murmelte er. Rougon kam näher heran, und Clorinde selber sprang vom Tisch, um das Bild zu betrachten. Und alle drei wollten vor Entzücken vergehen. Die Malerei war sehr sauber. Der Künstler hatte bereits die ganze Leinwand mit einer leichten, durchsichtigen Farbschicht in Rosa, Blau und Gelb bedeckt, die den blassen Schimmer eines Aquarells hatte. Und das Gesicht lächelte mit einer hübschen Puppenmiene, mit seinen geschwungenen Lippen, den an den Enden aufwärtsgebogenen Brauen, den von zartem Zinnoberrot überhauchten Wangen. Es war eine Diana wie für den Deckel einer Konfektdose. »Oh, sehen Sie doch, dort neben dem Auge das kleine Leberfleckchen«, sagte Clorinde, vor Bewunderung in die Hände klatschend. »Dieser Luigi, nichts vergißt er!« Rougon, den Gemälde in der Regel langweilten, war hingerissen. In diesem
Augenblick begriff er die Kunst. In sehr überzeugtem Ton gab er das Urteil ab: »Das ist vortrefflich gezeichnet.« »Und die Farbgebung ist hervorragend«, sagte Herr de Plouguern. »Diese Schultern sind wirkliches Fleisch ... Sehr reizend die Brüste. Besonders die linke ist frisch wie eine Rose ... Ah, welche Arme! Diese Kleine hat erstaunliche Arme! Besonders gefällt mir die Schwellung über der Ellbogenbeuge; das ist vollendet herausmodelliert.« Und zum Maler gewandt, fügte er hinzu: »Herr Pozzo, mein höchstes Kompliment. Ich habe schon eine ›Badende‹ von Ihnen gesehen. Aber dieses Porträt wird noch bedeutender ... Weshalb stellen Sie nicht aus? Ich kannte einen Diplomaten, der wunderbar Geige spielte; das hat ihn nicht gehindert, erfolgreich seinen Weg zu machen.« Luigi, sehr geschmeichelt, verbeugte sich. Inzwischen nahm das Tageslicht ab, und da er,
wie er sagte, ein Ohr noch fertigmalen wollte, bat er Clorinde, ihre Stellung für längstens zehn Minuten nochmals einzunehmen. Herr de Plouguern und Rougon fuhren fort, sich über Malerei zu unterhalten. Letzterer gestand, daß ihn Spezialstudien davon abgehalten hätten, die Entwicklung der Kunst während der letzten Jahre zu verfolgen; aber er betonte nachdrücklich seine Bewunderung für schöne Werke. Er kam darauf zu sprechen, daß die Farbe ihn ziemlich kaltlasse; eine schöne Zeichnung befriedige ihn vollkommen, eine Zeichnung, die imstande sei, die Seele zu erheben und große Gedanken einzuflößen. Was Herrn de Plouguern anlangte, so liebte dieser nur die Alten; er habe alle Museen Europas besucht, er verstehe nicht, wie man so kühn sein könne, sich noch ans Malen zu wagen. Dennoch habe er im vergangenen Monat von einem Künstler, den niemand kenne und der wirklich viel Talent besitze, einen kleinen Salon ausschmücken lassen.
»Er hat mir Amoretten, Blumen, Laubwerk ganz ausgezeichnet gemalt«, sagte er. »Tatsächlich glaubt man, die Blumen pflücken zu können. Und es gibt da Insekten, Schmetterlinge, Fliegen, Maikäfer, die man für lebend halten könnte. Kurz, das Ganze ist sehr heiter ... Ich liebe die heitere Malerei.« »Die Kunst ist nicht zum Langweilen da«, meinte Rougon abschließend. In diesem Augenblick, wie sie so nebeneinander gemächlich umhergingen, zerdrückte Herr de Plouguern unter dem Absatz seines Halbstiefels irgend etwas, das mit dem leichten Geräusch einer Knallerbse zersprang. »Was ist denn das?« rief er. Er hob einen Rosenkranz auf, der von einem Sessel geglitten war, auf den Clorinde wohl ihre Taschen entleert hatte. Eine der Glasperlen dicht beim Kreuz war zu Pulver
zermalmt; am Kreuz selber, einem winzigen silbernen Kreuz, war einer der Arme umgebogen und plattgedrückt. Der Greis schwenkte den Rosenkranz mit höhnischem Lächeln und sagte: »Kleine, weshalb läßt du denn dieses Spielzeug herumliegen?« Aber Clorinde war purpurrot geworden. Mit aufgeworfenen Lippen und vor Zorn getrübten Augen sprang sie mit einem Satz vom Tisch, verhüllte eilig ihre Schultern, stammelte: »Der Rose! Der Rose! Er hat meinen Rosenkranz kaputtgemacht!« Und sie entriß ihm den Rosenkranz. Sie weinte wie ein Kind. »Na, na«, sagte Herr de Plouguern, noch immer lachend. »Sieh einer meine Betschwester an! Neulich morgens hat sie mir fast die Augen ausgekratzt, weil ich sie, als ich hinten in ihrem Alkoven einen Palmzweig entdeckte, gefragt habe, was sie denn mit dem kleinen Besen da fege ... Weine doch nicht
mehr, kleines Schaf! Ich habe dem lieben Gott nichts gebrochen.« »Doch, doch«, schrie sie. »Sie haben ihm weh getan.« Sie duzte ihn nicht mehr. Mit zitternden Händen entfernte sie den Rest der Glasperle. Dann wollte sie unter verstärktem Schluchzen das Kreuz in Ordnung bringen. Sie wischte es mit den Fingerspitzen ab, als habe sie Blutstropfen auf seinem Metall perlen sehen. Sie flüsterte: »Der Papst hat ihn mir geschenkt, als ich ihn zum erstenmal mit Mama besuchte. Er kennt mich gut, der Papst; er nennt mich ›seinen schönen Apostel‹, weil ich ihm eines Tages gesagt habe, daß ich gern für ihn sterben würde ... Ein Rosenkranz, der mir Glück brachte. Jetzt wird er keine Kraft zum Guten mehr haben, er wird den Teufel herbeiziehen ...« »Komm, gib ihn her«, fiel ihr Herr de Plouguern ins Wort. »Du wirst dir die
Fingernägel verderben, wenn du das in Ordnung bringen willst ... Silber ist hart, meine Kleine.« Er hatte den Rosenkranz wieder an sich genommen, er versuchte, den Querbalken des Kreuzes geradezubiegen, behutsam, um es nicht zu zerbrechen. Clorinde weinte nicht mehr, mit starren Augen sah sie ihm gespannt zu. Auch Rougon streckte mit einem Lächeln den Kopf vor; er war von einer erbärmlichen Ungläubigkeit, in einem solchen Maße, daß das junge Mädchen schon zweimal nahe daran gewesen war, wegen unangebrachter Scherze mit ihm zu brechen. »Donnerwetter«, sagte Herr de Plouguern halblaut, »weich ist er nicht, dein lieber Gott! Ich habe nur Angst, ihn mitten entzweizubrechen ... Du sollst deinen lieben Gott ersetzt bekommen, Kleine.« Er machte einen neuen Versuch, das Kreuz brach glattweg durch.
»Ach, das tut mir leid!« rief er aus. »Diesmal ist es entzweigegangen.« Rougon hatte zu lachen begonnen. Da wich Clorinde mit tiefschwarzen Augen und verzerrtem Gesicht zurück, sah die beiden starr an, stieß sie dann mit geballten Fäusten wütend weg, als wolle sie sie zur Tür hinauswerfen. Wie von Sinnen beschimpfte sie sie auf italienisch. »Sie schlägt uns, sie schlägt uns«, sagte Herr de Plouguern fröhlich. »Da sieht man die Früchte des Aberglaubens«, stieß Rougon zwischen den Zähnen hervor. Der Greis hörte auf zu scherzen, zeigte plötzlich eine ernste Miene; und als der große Mann fortfuhr, lauter hergebrachte Redensarten über den verabscheuungswürdigen Einfluß des Klerus, über die erbärmliche Erziehung der katholischen Frauen, über den Niedergang des
den Priestern ausgelieferten Italiens vorzubringen, erklärte er mit schroffer Stimme: »Die Religion bewirkt die Größe der Staaten.« »Wenn sie die Staaten nicht wie ein Geschwür zerfrißt«, erwiderte Rougon. »So steht die Sache. Wenn der Kaiser die Bischöfe nicht in Schach hält, wird er es bald mit ihnen allen zu tun kriegen.« Da wurde Herr de Plouguern seinerseits ärgerlich. Er verteidigte Rom. Er sprach von den Überzeugungen seines ganzen Lebens. Ohne Religion würden die Menschen in den Zustand wilder Tiere zurücksinken. Und er ging dazu über, die große Sache der Familie zu verteidigen. Die gegenwärtige Epoche nehme eine Wendung zum Grundschlechten; noch nie habe sich das Laster schamloser zur Schau gestellt, noch nie habe die Ruchlosigkeit solche Verwirrung in den Gewissen angerichtet.
»Reden Sie mir nicht von Ihrem Kaiserreich«, rief er schließlich. »Es ist ein Bastard der Revolution ... Oh, wir wissen Bescheid, Ihr Kaiserreich träumt von der Demütigung der Kirche. Aber wir sind auch noch da, wir werden uns nicht wie Hammel abschlachten lassen ... Machen Sie nur mal einen kleinen Versuch, mein lieber Herr Rougon, Ihre Ansichten im Senat einzugestehen.« »Ach, antworten Sie ihm nicht mehr«, sagte Clorinde. »Wenn Sie ihn reizen, wird er schließlich noch Christus anspucken. Er ist ein Verdammter.« Rougon gab sich besiegt, er verbeugte sich. Es entstand eine Pause. Das junge Mädchen suchte auf dem Parkett das kleine vom Kreuz abgebrochene Stück; als sie es gefunden hatte, wickelte sie es mit dem Rosenkranz zusammen sorgfältig in ein Stück Zeitung. Sie beruhigte sich. »Hör mal, Herzchen«, begann plötzlich Herr
de Plouguern, »ich habe dir noch nicht erzählt, weshalb ich hier heraufgekommen bin. Ich habe für heute abend eine Loge im PalaisRoyal36, und ich nehme dich mit.« »Dieser Pate!« rief Clorinde aus, vor Vergnügen wieder ganz rosig geworden. »Man muß Mama wecken.« Und sie küßte ihn, »zur Belohnung«, wie sie sagte. Lächelnd, mit ausgestreckter Hand, wandte sie sich Rougon zu und sagte mit einem köstlichen Schmollgesicht: »Sie sind mir doch nicht böse? Bringen Sie mich also nicht wieder zum Rasen mit Ihren heidnischen Ideen ... Ich werde ganz dämlich, wenn man mich mit der Religion neckt. Ich könnte meine besten Freundschaften in Gefahr bringen.« Luigi, der einsah, daß er das Ohr an diesem Tage nicht mehr fertigmalen konnte, hatte unterdessen seine Staffelei in eine Ecke geschoben. Er griff nach seinem Hut, kam und berührte das junge Mädchen an der Schulter,
um sie darauf aufmerksam zu machen, daß er weggehe. Und sie begleitete ihn bis zum Treppenabsatz, sie selber zog die Tür hinter sich und ihm zu; aber sie verabschiedeten sich so geräuschvoll voneinander, daß man einen leichten Schrei Clorindes vernahm, der sich in einem unterdrückten Lachen verlor. Als sie wieder ins Zimmer trat, sagte sie: »Ich gehe mich umziehen, es sei denn, der Pate will mich so ins PalaisRoyal mitnehmen.« Und alle drei amüsierten sich über diesen Einfall. Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Als Rougon aufbrach, ging Clorinde mit ihm hinunter und ließ Herrn de Plouguern für einen Augenblick allein, so lange wie sie brauchte, um ein Kleid anzuziehen. Im Treppenhaus war es schon völlig dunkel. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie so langsam voraus, daß er die leise Berührung ihres Gazeüberwurfes an seinen Knien spürte. Als sie dann vor der Tür ihres Schlafzimmers angelangt war, trat sie ein; sie machte zwei Schritte, bevor sie sich
umwandte ... Er war ihr gefolgt. Dort erhellten die zwei Fenster das ungemachte Bett, die stehengebliebene Waschschüssel, die noch immer auf dem Haufen Kleidungsstücke schlafende Katze mit einem bleichen Schimmer. »Sie sind mir nicht böse?« wiederholte sie mit fast flüsternder Stimme, wobei sie ihm die Hände hinstreckte. Er schwor, es nicht zu sein. Er hatte ihre Hände ergriffen, ließ die seinen an ihren Armen bis über die Ellbogen hinaufgleiten, wobei er sich vorsichtig unter der schwarzen Spitze vorwärtstastete, damit seine plumpen Finger weiter gelangten, ohne etwas zu zerreißen. Sie hob die Arme ein wenig, als wünsche sie, ihm diese Bemühung zu erleichtern. Sie standen im Schatten des Wandschirms, keiner sah das Gesicht des anderen. Und in diesem Zimmer, dessen dumpfe Luft ihm das Atmen erschwerte,
verspürte er wieder jenen Duft von fast zuckriger Schärfe, der ihn schon zuvor berauscht hatte. Doch sobald er über ihre Ellbogen hinaufgelangt war und seine Hände brutal wurden, fühlte er, wie sich Clorinde ihm entzog, und er hörte sie durch die hinter ihnen offengebliebene Tür rufen: »Antonia! Licht, und bringen Sie mir mein graues Kleid.« Als sich Rougon wieder auf der Avenue des ChampsElysées befand, blieb er einen Augenblick wie betäubt stehen und atmete die frische Luft ein, die von der Höhe des ArcdeTriomphe heranwehte. Die Avenue, durch die jetzt keine Wagen mehr fuhren, ließ eine nach der anderen ihre Gasflammen aufleuchten, deren plötzliche Helligkeit das Dunkel mit einem Lauffeuer funkelnder Sterne tüpfelte. Ihm war, als habe er soeben einen Blutsturz gehabt, er strich sich mit den Händen übers Gesicht. »Ach nein«, sagte er ganz laut, »das wäre zu
dumm!«
Kapitel IV Der feierliche Taufzug sollte um fünf Uhr vom Pavillon de l'Horloge aufbrechen. Sein vorgesehener Weg führte durch die große Allee des Tuileriengartens, über den Place de la Concorde, die Rue de Rivoli, den Place de l'Hôtel de Ville, die Pont d'Arcole, die Rue d'Arcole zum Place du Parvis. Schon um vier Uhr hatte sich an der Pont d'Arcole eine ungeheure Menschenmenge angesammelt. In dem freien Raum, den der Fluß mitten in der Stadt geschaffen hatte, konnte eine ganze Volksmasse unterkommen. Dort bot sich unvermittelt ein großer Ausblick, weit weg sah man die Spitze der Ile SaintLouis, über die wie ein Querbalken der
schwarze Strich der Pont LouisPhilippe lief; zur Linken verlor sich der schmale Arm der Seine zwischen dicht zusammengedrängten niedrigen Gebäuden; zur Rechten tat der breitere Arm eine von blaßviolettem Dunst verhüllte Ferne auf, in der man den grünen Fleck der Räume des Port auxVins37 erkennen konnte. Dann zogen sich auf beiden Seiten, vom Quai SaintPaul bis zum Quai de la Mégisserie, vom Quai Napoléon bis zum Quai de l'Horloge, die Bürgersteige längs breiter Fahrstraßen hin, während gegenüber der Brücke der Place de l'Hôtel de Ville seine ebene Fläche dehnte. Und über diese unermeßlichen Räume spannte der Himmel, ein Junihimmel von warmer Reinheit, eine riesige Bahn seiner blauen Unendlichkeit. Als es halb fünf schlug, wimmelte es überall von Menschen. Die Bürgersteige entlang standen nicht endende Reihen Neugieriger gegen die Brüstungen gedrückt. Ein Meer von Menschenköpfen erfüllte in immer noch
wachsender Flut den Place de l'Hôtel de Ville. Gegenüber waren in den alten Häusern des Quai Napoléon in den schwarzen Lücken der weit offenen Fenster Gesichter zusammengepfercht, und sogar aus der Tiefe der dunklen, auf den Fluß zu führenden Gäßchen, der Rue Colombe, der Rue Saint Landry, der Rue Glatigny, beugten sich Frauenhauben mit im Winde flatternden Rändern vor. Die dichtbesetzte Pont NotreDame zeigte eine Reihe von Zuschauern, die Ellbogen auf den Stein gestützt wie auf den Brüstungssamt einer kolossalen Tribüne. Am anderen Ende, ganz weit fort, belebte sich die Pont LouisPhilippe mit einem Gekribbel schwarzer Punkte, während die entferntesten Fenster, die kleinen Streifen, die in regelmäßigen Abständen die gelben und grauen Fassaden des Häuserkaps an der Spitze der Insel durchbrachen, für Augenblicke von dem lichten Fleck eines Kleides erhellt wurden. Menschen standen zwischen den
Schornsteinen auf den Dächern. Leute, die man nicht sah, schauten durch Operngläser hoch von ihren Terrassen am Quai de la Tournelle herab. Und das sich weithin ergießende, schräg einfallende Sonnenlicht war wie das Erschauern dieser Menge; in ihm wogte das erregte Lachen dieser Dünung von Köpfen; grellfarbige Sonnenschirme, wie Spiegel gehalten, standen gleich runden Gestirnen in dem buntscheckigen Gemisch von Frauenkleidern und Überziehern. Doch was man von überallher sah, von den Quais, den Brücken, den Fenstern aus, das war am Horizont ein auf die kahle Mauer eines sechsstöckigen Hauses der Ile SaintLouis al fresco gemalter riesiger grauer Gehrock in Seitenansicht, den linken Ärmel im Ellbogen gekrümmt, als habe das Kleidungsstück die Haltung und die Rundungen eines Körpers bewahrt, der jetzt verschwunden war. Diese monumentale Reklame dort in der Sonne, über dem Gewimmel der Spaziergänger, gewann
eine außerordentliche Bedeutsamkeit. Ein doppeltes Spalier ermöglichte es jedoch, daß sich der feierliche Zug mitten durch die Menge fortbewegen konnte; zur Rechten reihten sich die Nationalgarden, zur Linken Soldaten der Linienregimenter. Das eine Ende dieses Spaliers verlor sich in der mit Fahnen geschmückten Rue d'Arcole, wo aus den Fenstern kostbare Stoffe hingen und in weichem Wallen an die dunklen Häuser schlugen. Inmitten der Überflutung auch des kleinsten Winkels war die leergelassene Brücke der einzige Streifen nackten Bodens, und in ihrer Leere und Leichtigkeit machte sie mit ihrem sanft geschwungenen eisernen Bogen einen seltsamen Eindruck. Unten aber, auf den steilen Uferböschungen, fing das Gedränge wieder an; sonntäglich herangeputzte Bürger hatten ihre Taschentücher ausgebreitet, hatten sich dort neben ihren Frauen hingesetzt, warteten ab und ruhten sich von einem ganzen Nachmittag
des Umherschlenderns aus. Jenseits der Brücke, mitten in der verbreiterten, ganz blauen, am Zusammenfluß der beiden Arme grün moirierten Fläche des Flusses, plagte sich eine Bootsmannschaft in roten Matrosenblusen damit ab, ihr Boot durch Ruderschläge auf der Höhe des PortauxFruits38 zu halten. Außerdem war da noch dicht am Quai de Gèvres ein großes Waschschiff mit vom Wasser grün gewordenen Planken, aus dem man das Gelächter der Wäscherinnen und das Klopfen ihrer Schlegel hörte. Und die drei bis vierhunderttausend Köpfe dieser zusammengeballten Menschenmenge hoben sich zuweilen, blickten nach den Türmen von NotreDame, die ihre viereckige Masse über den Häusern des Quai Napoléon aufreckten. Die Türme, von der sinkenden Sonne vergoldet, rostfarben gegen den hellen Himmel stehend, zitterten in der Luft, ganz Klang geworden von einem ungeheuren Geläute. Zwei oder dreimal bereits hatte blinder Alarm
ein heftiges Drängen und Stoßen in der Menge verursacht. »Ich versichere Ihnen, daß sie nicht vor halb sechs vorbeikommen werden«, sagte ein langer Kerl, der in Gesellschaft von Herrn und Frau Charbonnel vor einem Café am Quai de Gevres saß. Es war Gilquin, Théodore Gilquin, der ehemalige Mieter der Frau Mélanie Correur, Rougons schrecklicher Freund. An diesem Tage war er ganz in gelben Zwillich gekleidet, einen kompletten Anzug für neunundzwanzig Francs, zerknittert, fleckig, an den Nähten aufgeplatzt; und dazu trug er zerrissene Stiefel, hell havannafarbene Handschuhe, einen großen Strohhut ohne Band. Wenn Gilquin Handschuhe anlegte, war er »angezogen«. Seit der Mittagszeit führte er die Charbonnels umher, deren Bekanntschaft er eines Abends bei Rougon in der Küche gemacht hatte. »Sie werden alles sehen, meine Kinder«,
wiederholte er, mit der Hand seinen langen Schnurrbart abwischend, der eine schwarze Schmarre in sein Säufergesicht zeichnete. »Sie haben sich meinen Händen anvertraut, nicht wahr? Nun gut, lassen Sie mich die Anordnung und den Verlauf des kleinen Festes regeln.« Gilquin hatte schon drei Glas Kognak und fünf Schoppen Bier getrunken. Seit zwei vollen Stunden hielt er die Charbonnels hier unter dem Vorwand fest, daß man unter den ersten zur Stelle sein müsse. Es war ein kleines, ihm bekanntes Café, wo man, wie er sagte, ausgezeichnet aufgehoben sei; und er duzte den Kellner. In ihr Schicksal ergeben, hörten die Charbonnels ihm zu, sehr überrascht von der Weitschweifigkeit und Mannigfaltigkeit seines Geredes; Frau Charbonnel hatte nur ein Glas Zuckerwasser haben wollen; Herr Charbonnel nahm ein Glas Anisette, wie er es zuweilen im Kaufmannsklub zu Plassans tat. Unterdessen sprach Gilquin ihnen so von der
Taufe, als habe er den Vormittag in den Tuilerien verbracht, um Näheres darüber zu erfahren. »Die Kaiserin ist sehr zufrieden«, sagte er. »Sie hat eine prächtige Niederkunft gehabt. Oh, das ist eine lustige Frau! Sie werden sehen, wie stattlich sie aussieht ... Der Kaiser ist vorgestern von Nantes zurückgekommen, wohin er wegen der Überschwemmungen gefahren war ... Ach, welch ein Unglück sind solche Überschwemmungen!« Frau Charbonnel schob ihren Stuhl zurück. Sie hatte ein wenig Angst vor der Menschenmenge, die in immer dichteren Massen an ihr vorbeiströmte. »Wieviel Leute!« murmelte sie. »Bei Gott«, rief Gilquin, »es sind mehr als dreihunderttausend Fremde in Paris! Seit acht Tagen bringen Sonderzüge die ganze Provinz hierher ... Sehen Sie, das dort sind Leute aus
der Normandie und das dort Gascogner, und die da drüben sind aus der FrancheComté. Oh, so etwas rieche ich sofort! Ich bin ganz schön herumgekommen.« Dann erzählte er, daß die Gerichte nicht arbeiteten, daß die Börse geschlossen sei, daß alle Behörden ihre Angestellten beurlaubt hätten. Die gesamte Hauptstadt feiere die Taufe. Und er ging dazu über, Summen zu nennen und auszurechnen, was die kirchliche Feier und die Festlichkeiten kosten würden. Der Corps législatif habe vierhunderttausend Francs bewilligt; aber das sei eine Lappalie, denn ein Stallknecht der Tuilerien habe ihm tags zuvor versichert, daß allein der Festzug annähernd zweihunderttausend Francs kosten werde. Wenn der Kaiser nicht mehr als eine Million aus der Zivilliste hinzufügen müsse, werde er sich glücklich schätzen dürfen. Die Taufausstattung allein sei hunderttausend Francs wert.
»Hunderttausend Francs!« wiederholte Frau Charbonnel verblüfft. »Aber woraus besteht sie denn? Was hat man denn bloß dazu verwendet?« Gilquin lachte selbstgefällig. Es gebe so teure Spitzen. Er sei früher einmal Reisender in Spitzen gewesen. Und er fuhr in seinen Berechnungen fort: fünfzigtausend Francs seien ausgesetzt als Beihilfe für die Eltern ehelicher Kinder, die am selben Tage wie der kleine Prinz geboren wurden und bei denen der Kaiser und die Kaiserin Pate und Patin sein wollten; fünfundachtzigtausend Francs sollten für den Kauf von Medaillen für die Schöpfer von Kantaten, die in den Theatern gesungen würden, aufgewendet werden. Schließlich teilte er Einzelheiten über die hundertzwanzigtausend Erinnerungsmedaillen mit, die an die Gymnasiasten, an die Kinder in den Elementarschulen und den Kleinkinderbewahranstalten, an die Unteroffiziere und an die Soldaten der Pariser
Garnison verteilt worden waren. Er besaß eine, er wies sie vor. Es war eine Medaille von der Größe eines Zehnsoustücks, die auf einer Seite die Profile des Kaisers und der Kaiserin zeigte, auf der anderen das des Kaiserlichen Prinzen, dazu das Datum der Taufe: 14. Juni 1856. »Würden Sie sie mir überlassen?« fragte Herr Charbonnel. Gilquin willigte ein. Als ihm aber der Biedermann, in Verlegenheit wegen des Preises, ein Zwanzigsoustück gab, lehnte er es großartig ab und meinte, sie dürfe wohl kaum mehr als zehn Sou wert sein. Unterdessen betrachtete Frau Charbonnel die Profile des Kaiserpaares. Sie wurde gerührt. »Sie sehen sehr freundlich aus«, sagte sie. »Sie wirken hier so dicht nebeneinander wie schlichte, rechtschaffene Leute ... Sehen Sie doch, Charbonnel, man könnte meinen, zwei Köpfe auf demselben Kissen, wenn man die
Münze auf diese Weise anschaut.« Dann kam Gilquin wieder auf die Kaiserin zu sprechen, deren Mildtätigkeit er pries. Im neunten Monat ihrer Schwangerschaft habe sie ganze Nachmittage auf die Gründung einer Erziehungsanstalt für arme junge Mädchen weit oben im Faubourg SaintAntoine verwendet. Soeben habe sie die Annahme von achtzigtausend Francs verweigert, die fünfsouweise im Volk gesammelt worden waren, um dem kleinen Prinzen ein Geschenk darzubringen, und dieser Betrag solle auf ihren Wunsch dazu dienen, hundert Waisenkindern eine Lehrzeit zu ermöglichen. Gilquin, schon leicht benebelt, machte schreckliche Augen, während er sich bemühte, seiner Stimme einen zarten Klang zu geben und Ausdrücke zu finden, in denen sich die Ehrfurcht des Untertanen mit der leidenschaftlichen Bewunderung des Mannes vereinte. Er erklärte, daß er zu Füßen dieser edlen Frau gern sein Leben opfern würde. Aber um ihn
her erhob niemand Einspruch. Das Getöse der Volksmenge klang von weitem wie das sich in einem ununterbrochenen Geschrei ausbreitende Echo seiner Lobpreisungen. Und die Glocken von NotreDame wälzten in vollem Schwung die Lawine ihrer ungeheuren Freude über die Häuser. »Vielleicht wäre es allmählich an der Zeit, uns einen Platz zu suchen«, meinte zaghaft Herr Charbonnel, den das Sitzen langweilte. Frau Charbonnel war aufgestanden und raffte ihren gelben Schal um den Hals zusammen. »Gewiß«, murmelte sie. »Sie wollten als einer der ersten da sein, und nun bleiben wir hier sitzen und lassen uns alle Leute zuvorkommen.« Aber Gilquin wurde ärgerlich. Er schlug mit der Faust auf den kleinen Zinktisch und schimpfte. Kenne er etwa sein Paris nicht? Und während Frau Charbonnel
eingeschüchtert wieder auf ihren Stuhl sank, rief er dem Kellner zu: »Jules, einen Absinth und Zigarren!« Als er dann seinen dicken Schnurrbart in den Absinth getaucht hatte, rief er den Kellner wütend nochmals zurück. »Machst du dich etwa über mich lustig? Nimm gefälligst diesen Schund weg und stell mir die andere Flasche hin, die von Freitag! Ich bin in Likören gereist, mein Alter. Théodore läßt sich nicht reinlegen.« Er beruhigte sich, als ihm der Kellner, der Angst vor ihm zu haben schien, die Flasche gebracht hatte. Dann klopfte er den Charbonnels freundlich auf die Schulter, nannte sie Papa und Mama. »Was, Mama, jucken uns die Füßchen? Warten Sie nur, Sie werden von jetzt bis heut abend genug Zeit haben, sie zu brauchen ... Nun, zum Teufel, mein Dicker, haben wir es
nicht gut hier vor dem Café? Wir sitzen, wir sehen zu, wie die Leute vorbeikommen ... Ich sage Ihnen, wir haben Zeit. Lassen Sie sich etwas bringen.« »Danke, wir sind befriedigt«, erklärte Herr Charbonnel. Gilquin hatte sich gerade eine Zigarre angesteckt. Er lehnte sich zurück; die Daumen in den Ärmelausschnitten seiner Weste, wiegte er sich mit vorgewölbter Brust auf seinem Stuhl. Selige Zufriedenheit feuchtete seine Augen. Plötzlich kam ihm ein Einfall. »Wissen Sie was?« rief er. »Nun, morgen früh um sieben Uhr bin ich bei Ihnen und hole Sie ab, ich werde dafür sorgen, daß Sie das ganze Fest sehen. Das ist doch nett, nicht?« Die Charbonnels blickten einander höchst beunruhigt an. Er aber setzte lang und breit das Programm auseinander. Er hatte eine Stimme wie ein Bärenführer, der marktschreierisch
seine Vorführung anpreist. Vormittags Frühstück im PalaisRoyal und Spaziergang durch die Stadt. Nachmittags auf der Esplanade des Invalides militärische Vorführungen, Klettermasten; dreihundert Ballons, die Tüten mit Bonbons mit sich führten, wollte man aufsteigen lassen und einen großen Ballon mit Zuckerzeugregen. Abends Essen bei einem ihm bekannten Weinhändler am Quai de Billy, Feuerwerk, dessen Hauptstück eine Taufkapelle darstellen solle, Bummel durch die illuminierten Straßen. Und er erzählte ihnen von dem feurigen Kreuz, das man auf dem Hôtel de la Légion d'honneur aufrichte, von dem feenhaften Palast auf dem Place de la Concorde, für den man neunhundertfünfzigtausend farbige Gläser benötigt habe, von dem Tour Saint Jacques, dessen Statue hoch droben einer brennenden Fackel gleichen werde. Als die Charbonnels noch immer zögerten, neigte er sich vor und dämpfte die Stimme.
»Auf dem Heimweg werden wir dann in einem kleinen Milchladen in der Rue de Seine Station machen, wo man eine wirklich großartige Käsesuppe bekommt.« Da wagten die Charbonnels nicht mehr, es ihm abzuschlagen. Ihre rund gewordenen Augen drückten kindliche Neugier und kindliches Erschrecken zugleich aus. Sie fühlten, wie sie völlig abhängig wurden von diesem schrecklichen Mann. Frau Charbonnel beschränkte sich darauf, zu murmeln: »O dies Paris, dies Paris! – Da wir nun einmal hier sind, müssen wir schließlich wohl alles sehen. Aber wenn Sie wüßten, Herr Gilquin, wie ruhig wir in Plassans gelebt haben! Dort habe ich Eingemachtes, das verkommt, Konfitüren, Kirschen in Branntwein, Pfeffergürkchen ...« »Hab nur keine Angst, Mama«, beruhigte sie Gilquin, der so vergnügt wurde, daß er sie duzte. »Du gewinnst deinen Prozeß, und dann lädtst du mich ein, ha, wir werden alle
hinfahren und herfallen.«
über
das
Eingemachte
Er goß sich ein neues Glas Absinth ein. Er war völlig betrunken. Einen Moment lang heftete er einen gerührten Blick auf die Charbonnels. Wenn es nach ihm ginge, sollte man sein Herz auf der Hand tragen. Plötzlich stand er auf, schwang seine langen Arme und rief mehrmals: »Pst! Heda!« Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig kam in einem Kleid aus taubenhalsfarbener Seide Frau Mélanie Correur vorüber. Sie wandte den Kopf; es schien sie sehr zu verdrießen, Gilquins gewahr zu werden. Dennoch überquerte sie den Fahrdamm, wobei sie sich mit der Würde einer Fürstin in den Hüften wiegte. Und als sie am Tisch stand, ließ sie sich lange bitten, ehe sie etwas annahm. »Wie wär's mit einem Gläschen Cassis?« fragte Gilquin. »Den mögen Sie doch ... Sie erinnern sich, Rue Vanneau? Lustig ist's
zugegangen zu jener Zeit! Ach, die gute dumme Correur!« Als sie sich schließlich hinsetzte, lief ein ungeheures Jubelgeschrei durch die Menge. Wie von einem Windstoß davongewirbelt, stürmten die Spaziergänger mit dem Stampfen einer ausbrechenden Herde dahin. Die Charbonnels waren unwillkürlich aufgestanden, um einen Anlauf zu nehmen. Aber die schwere Hand Gilquins nagelte sie wieder auf ihren Stühlen fest. Er war puterrot. »Rühren Sie sich doch nicht, alle Wetter! Warten Sie auf den Befehl ... Sie sehen doch, daß all diese Dummköpfe sich unnütz die Nase einrennen. Es ist erst fünf Uhr, nicht wahr? Was jetzt kommt, ist der Kardinallegat. Auf den pfeifen wir, auf den Kardinallegaten! Ich finde es kränkend, daß der Papst39 nicht persönlich gekommen ist. Entweder man ist Pate, oder man ist es nicht, scheint mir! Ich schwöre Ihnen, daß das Knirpschen nicht vor einer halben Stunde vorbeikommt.«
Allmählich verlor er in der Trunkenheit den Respekt. Er hatte seinen Stuhl umgedreht, er blies den Leuten den Rauch ins Gesicht, zwinkerte den Frauen zu und sah die Männer mit herausfordernden Blicken an. An der ein paar Schritt entfernten Pont NotreDame entstand ein Wagengedränge; die Pferde stampften vor Ungeduld, goldbestickte, mit Orden besäte Uniformen hoher Beamter und Offiziere zeigten sich an den Wagenschlägen. »Was für eine Menge Lametta!« murmelte Gilquin mit dem Lächeln eines überlegenen Mannes. Aber als vom Quai de la Mégisserie her ein Kupee kam, hätte er fast mit einem Satz den Tisch umgeworfen. Er schrie: »Sieh da! Rougon!« Und stehend grüßte er mit seiner behandschuhten Hand. Dann nahm er, da er befürchtete, nicht bemerkt zu werden, seinen Strohhut und schwenkte ihn. Rougon, dessen
Senatorentracht sehr beachtet wurde, ließ sich schnell tief in eine Ecke des Kupees sinken. Da rief ihn Gilquin an, die halbgeschlossene Faust als Sprachrohr benutzend. Gegenüber auf dem Bürgersteig rottete sich die Menge zusammen, um zu sehen, auf wen dieser verteufelt lange Kerl in gelbem Zwillich es abgesehen habe. Endlich konnte der Kutscher auf sein Pferd lospeitschen, das Kupee fuhr auf die Pont NotreDame. »Seien Sie doch still!« mahnte mit gedämpfter Stimme Frau Correur und packte Gilquin beim Arm. Er wollte sich nicht sofort hinsetzen, sondern reckte sich in die Höhe, um dem zwischen den anderen Wagen dahinfahrenden Kupee mit dem Blick zu folgen. Und er schickte den fliehenden Rädern einen letzten Satz nach. »O der Treulose, das kommt davon, daß er jetzt Gold auf seinem Überrock hat! Das
ändert nichts daran, mein Dicker, daß du dir mehr als einmal Théodores Stiefel gepumpt hast!« Rings um ihn her an den sechs oder acht Tischen des kleinen Cafés rissen Bürger mit ihren Damen weit die Augen auf; besonders eine Familie am Nachbartisch, Vater, Mutter und drei Kinder, hörte ihm mit tiefinteressierten Mienen zu. Entzückt davon, ein Publikum zu haben, blähte er sich auf. Langsam ließ er den Blick über die Gäste wandern und sagte, während er sich wieder hinsetzte, sehr laut: »Rougon! Den habe ich gemacht!« Da ihn Frau Correur zu unterbrechen versucht hatte, rief er sie nun als Zeugin an. Sie wisse doch alles ganz genau! Das sei bei ihr geschehen, in der Rue Vanneau, im Hôtel Vanneau. Sie werde wohl nicht abstreiten, daß er dem da zwanzigmal seine Stiefel geliehen habe, damit er zu feinen Leuten gehen und
sich an einem Haufen von Geschäften beteiligen konnte, von denen niemand etwas verstand. Rougon habe zu jener Zeit nur ein Paar alte, schiefgetretene Schuhe besessen, die kein Lumpenhändler mehr hätte haben wollen. Und er beugte sich mit Siegermiene zum Nachbartisch hinüber, zog die Familie mit ins Gespräch, rief aus: »Bei Gott, sie wird nicht nein sagen! Sie war es, die ihm in Paris das erste Paar neue Stiefel bezahlte.« Frau Correur drehte ihren Stuhl, damit es so aussehen sollte, als gehöre sie nicht zu Gilquins Gesellschaft. Die Charbonnels saßen ganz bleich da, weil sie auf solche Art von einem Manne reden hörten, der ihnen fünfhunderttausend Francs in die Tasche schaffen sollte. Gilquin aber war einmal im Zuge, er erzählte mit unendlichen Einzelheiten von Rougons Anfängen. Sich selber nannte er einen Philosophen; er lachte jetzt, zog die Gäste der Reihe nach ins Gespräch; rauchend, spuckend, trinkend erklärte er ihnen, er sei an
die Undankbarkeit der Menschen gewöhnt; ihm genüge, wenn er selber Hochachtung vor sich habe. Und er wiederholte, daß er Rougon gemacht habe. Zu jener Zeit sei er Parfümeriereisender gewesen. Aber der Handel habe infolge der Republik nicht floriert. Alle beide seien sie im selben Stockwerk fast vor Hunger krepiert. Da habe er den Einfall gehabt, Rougon dazu zu veranlassen, sich von einem Gutsbesitzer in Plassans Olivenöl schicken zu lassen; und sie hätten sich, jeder für sich, mit Ölproben in den Taschen auf die Beine gemacht und bis zehn Uhr abends das Pflaster von Paris getreten. Rougon sei nicht geschickt gewesen, dennoch habe er zuweilen schöne Aufträge mitgebracht, die er von den großen Leuten hereingeholt habe, zu denen er zur Abendgesellschaft ging. O dieser Schuft Rougon! In allerlei Dingen dümmer als eine Gans, und dabei bösartig! Wie hatte er später Théodore für seine Politik schuften lassen! Hier dämpfte Gilquin ein
wenig die Stimme, blinzelte, denn schließlich hatte auch er selber zu der Clique gehört. Er habe die Kneipen vor den Toren belaufen und dort geschrien: »Es lebe die Republik!« Ei ja, man mußte schon Republikaner sein, um Leute zu werben. Das Kaiserreich sei ihm wirklich einen Blumentopf schuldig. Je nun, das Kaiserreich sage nicht einmal danke schön zu ihm. Während Rougon und seine Clique den Kuchen unter sich teilten, habe man ihn, Gilquin, wie einen räudigen Hund vor die Tür gejagt. Ihm sei es recht so, er bleibe lieber unabhängig. Eins aber bedaure er doch, nämlich daß er nicht bis ans Ende mit den Republikanern gegangen sei, um jenes ganze Lumpengesindel mit Flintenschüssen hinwegzufegen. »Genau wie der kleine Du Poizat, der so tut, als kennt er mich nicht mehr!« sagte er abschließend. »Ein schwächlicher Kerl, dem ich öfter einmal unter die Arme gegriffen habe! Du Poizat! Unterpräfekt! Ich hab ihn im
Hemd gesehen mit der großen Amélie, die ihn mit einer Ohrfeige zur Tür hinausbeförderte, wenn er nicht artig war.« Einen Augenblick lang schwieg er, plötzlich gerührt, mit vor Trunkenheit schwimmenden Augen. Dann fing er, die Gäste um ihn her befragend, aufs neue an: »Kurz, Sie haben soeben Rougon gesehen ... Ich bin ebenso groß wie er. Ich stehe in seinem Alter. Ich schmeichle mir, einen etwas weniger schurkischen Kopf zu haben als er. Ei nun, würde ich mich nicht in einem Wagen, den ganzen Körper mit vergoldeten Dekorationsstücken behängt, besser ausnehmen als dieses dicke Schwein?« Aber in diesem Moment erhob sich auf dem Place de l'Hôtel de Ville ein solcher Lärm, daß die Gäste gar nicht ans Antworten dachten. Abermals stürmte die Menge vor; man sah nur aufgeregt hastende Männerbeine und Frauen, die, um besser laufen zu können, die Röcke bis
an die Knie schürzten und ihre weißen Strümpfe zeigten. Und als sich der Lärm näherte, sich zu einem immer deutlicher werdenden Geschrei verstärkte, rief Gilquin: »Hallo, da kommt der Knirps! Bezahlen Sie schnell, Papa Charbonnel, und folgen Sie mir alle.« Frau Correur hatte, um nicht von Gilquin getrennt zu werden, einen Zipfel seines gelben Zwillichrocks ergriffen. Frau Charbonnel kam außer Atem hinterher. Fast hätte man Herrn Charbonnel unterwegs verloren. Gilquin hatte sich kühn mitten in die Menge geworfen und, die Ellbogen gebrauchend, eine Gasse geschaffen; er manövrierte so gebieterisch, daß sich die dichtgedrängtesten Reihen vor ihm teilten. Als er an der Brüstung des Quais angelangt war, wies er seiner Gesellschaft Plätze an. Mit einem Schwung hob er seine Damen in die Höhe und setzte sie, ungeachtet der kleinen Schreckensschreie, die sie ausstießen, auf die Brüstung, die Beine nach
dem Fluß zu. Er und Herr Charbonnel blieben hinter ihnen stehen. »He, meine Kätzchen, ihr sitzt im ersten Rang«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Habt keine Bange! Wir werden euch den Arm um die Taille legen.« Behutsam legte er beide Arme um die schöne Wohlbeleibtheit Frau Correurs, die ihm zulächelte. Man konnte diesem ausgelassenen Kerl nicht böse sein. Es war jedoch nichts zu sehen. Vom Place de l'Hôtel de Ville her drang so etwas wie ein leichter Wellenschlag von Köpfen, ein Schwall brausender Hochrufe; in der Ferne bildeten von unsichtbaren Händen geschwenkte Hüte über der Menge eine große schwarze Woge, deren Flut sich langsam immer weiter ausdehnte. Dann kam zuerst Leben in die dem Platz gegenüberliegenden Häuser am Quai Napoléon; an den Fenstern reckten sich die Leute, stießen einander beiseite, deuteten mit entzücktem Gesicht und
ausgestreckten Armen auf irgend etwas links, nach der Rue de Rivoli zu. Und drei unendliche Minuten lang blieb die Brücke noch leer. Die Glocken von NotreDame, wie von Freudenraserei ergriffen, läuteten stärker. Auf einmal erschienen mitten in der unruhig harrenden Menge Trompeter auf der leeren Brücke. Ein ungeheurer Seufzer stieg auf und erstarb. Hinter den Trompetern und dem Musikkorps, das ihnen folgte, ritt ein General, von seinem Stabe begleitet. Dann tauchten, nach Eskadronen von Karabiniers, Dragonern und Leibwache, die Galawagen auf. Zunächst waren es acht, mit je sechs Pferden bespannt. In den ersten saßen Palastdamen, Kammerherren, Beamte des Hofstaats des Kaisers und der Kaiserin, Ehrendamen der Großherzogin von Baden40, die die Patin vertreten mußte. Und Gilquin erklärte Frau Correur, dicht an ihrem Nacken sprechend, ohne sie loszulassen, daß sich die Patin, die Königin von Schweden41, ebensowenig wie
der Pate die Mühe gemacht habe, sich hierher zu begeben. Als dann der siebente Wagen vorüberfuhr und der achte, nannte er die Personen mit einer Vertrautheit, die ihn als sehr auf dem laufenden in den Hofangelegenheiten erwies. Diese beiden Damen seien die Prinzeß Mathilde42 und die Prinzeß Marie43. Jene drei Herren seien der König Jérôme44, der Prinz Napoléon45 und der Prinz von Schweden46; sie hätten die Großherzogin von Baden bei sich. Der Zug bewegte sich langsam vorwärts. An den Wagenschlägen zogen Stallmeister, Adjutanten, Hofkavaliere die Zügel ihrer Pferde straff, um sie im Schritt zu halten. »Wo ist denn der Kleine?« fragte Frau Charbonnel ungeduldig. »Bei Gott, man hat ihn nicht unter einen Wagensitz gesteckt«, antwortete Gilquin lachend. »Warten Sie, er kommt schon noch.« Er drückte Frau Correur zärtlicher, die es
geschehen ließ, weil sie, wie sie behauptete, zu fallen fürchte. Und von Bewunderung ergriffen, murmelte er mit glänzenden Augen: »Man kann sagen, was man will, dies ist wirklich schön! Wie die sich's bequem macht, diese freche, aufgeblasene Bande, in ihren seidenen Kästen! Wenn man bedenkt, daß ich auf all das hingearbeitet habe!« Er blähte sich auf; der feierliche Zug, die Volksmenge, alles, was sein Blick umfaßte, gehörte ihm. Doch in die kurze Stille, die durch das Erscheinen der ersten Wagen entstanden war, drang ein erschreckliches Getöse; jetzt flogen auf dem Quai selber die Hüte über die wogenden Köpfe empor. Mitten auf der Brücke ritten sechs Vorreiter des Kaisers in ihrer grünen Livree mit den runden Kappen, über deren Rand die goldübersponnenen Fäden einer dicken Quaste herabfielen. Und endlich zeigte sich der Wagen der Kaiserin, von acht Pferden gezogen; er hatte vier sehr kostbare Laternen,
die an den vier Ecken des Wagenkastens angebracht waren; und ganz aus Glas, geräumig, abgerundet, glich er einem großen kristallenen Schrein, ausgeschmückt mit goldenen Randleisten und auf goldene Räder gesetzt. Im Innern gewahrte man deutlich in einer Wolke weißer Spitzen als rosigen Fleck den Kaiserlichen Prinzen auf dem Schoß der Gouvernante der Kinder Frankreichs; neben ihr saß die Amme, eine schöne Burgunderin mit kräftiger Brust. Dann kam in einigem Abstand, nach einer Gruppe von Schirrmeistern zu Fuß und Stallmeistern zu Pferde, der Wagen des Kaisers, ebenfalls mit acht Pferden bespannt und von gleich großer Kostbarkeit, aus dem der Kaiser und die Kaiserin grüßten. An den Schlägen der beiden Wagen ließen Marschälle, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, den Staub von den Rädern auf die Stickereien ihrer Uniformen wehen. »Wenn nun die Brücke brechen würde!« sagte
grinsend Gilquin, der Geschmack gräßlichen Vorstellungen fand.
an
Erschreckt hieß Frau Correur ihn schweigen. Aber er ließ sich nicht abbringen und erklärte, diese eisernen Brücken seien nie sehr fest; und als die beiden Wagen auf der Mitte der Brücke waren, versicherte er, er sehe die Brückendecke schwanken. Was für einen Kopfsprung die machen würden, Donnerwetter! Der Papa, die Mama, das Kind, sie alle würden gehörig Wasser schlucken! Die Wagen fuhren langsam, geräuschlos; die Brückendecke mit ihrer langen sanften Kurve war so leicht, daß sie wie schwebend über dem großen leeren Raum des Flusses hingen; unten spiegelten sie sich in der blauen Wasserfläche, und es war, als schwämmen seltsame Goldfische zwischen zwei Gewässern. Der Kaiser und die Kaiserin, beide ein wenig müde, hatten den Kopf an das Atlaspolster gelehnt, froh, für einen Augenblick der Menge entronnen zu sein und nicht mehr grüßen zu
müssen. Auch die Gouvernante der Kinder von Frankreich machte sich die leeren Gehsteige zunutze, um den kleinen Prinzen, der ihr vom Schoß geglitten war, wieder höher zu legen, während sich die Amme vorbeugte und ihn durch ein Lächeln ablenkte. Und der ganze feierliche Zug war in Sonnenlicht gebadet; die Uniformen, die Toiletten, die Geschirre der Pferde flammten; die über und über funkelnden Wagen, erfüllt von einem Sternenschimmer, sandten Spiegelreflexe aus, die auf den dunklen Häusern des Quai Napoléon tanzten. In der Ferne erhob sich über der Brücke als Hintergrund dieses Gemäldes die monumentale, auf die Mauer eines sechsstöckigen Hauses der Ile Saint Louis gemalte Reklame: der riesige graue, von keinem Körper ausgefüllte Gehrock, den die Sonne mit ihren Strahlen wie in einer Apotheose verklärte. Gilquin bemerkte den Gehrock in dem Augenblick, als dieser gerade über den beiden
Wagen aufragte. Er rief: »Seht doch den Onkel da drüben!« Gelächter durchlief die Menge rings um ihn. Herr Charbonnel, der ihn nicht verstanden hatte, wollte um Erklärung bitten. Aber man konnte einander nicht mehr hören, ohrenbetäubende Hochrufe stiegen empor, die dreihunderttausend Menschen, die sich dort fast erdrückten, klatschten in die Hände. Als der kleine Prinz bis zur Mitte der Brücke gelangt war und man hinter ihm in diesem weiten offenen Raum, wo nichts den Blick behinderte, den Kaiser und die Kaiserin erscheinen sah, hatte sich der Neugierigen eine außerordentliche Gemütsbewegung bemächtigt. Es war zu einer jener erregenden mißreißenden Volksbegeisterungen gekommen, die wie unter einem Windstoß von einem Ende der Stadt bis zum anderen die Köpfe herumfahren lassen. Die Männer reckten sich auf, setzten sich verdutzte kleine Kinder rittlings auf den Nacken; die Frauen
weinten, stammelten zärtliche Worte für »den lieben Kleinen«, bekundeten mit von Herzen kommenden Äußerungen ihre Anteilnahme an der bürgerlichen Freude des kaiserlichen Paares. Vom Place de l'Hôtel de Ville ging noch immer ein Orkan von Schreien aus; auf dem Quai bemerkte man zu beiden Seiten, flußauf und flußab, so weit der Blick reichte, einen Wald von ausgestreckten, grüßenden Armen, die sich heftig bewegten. Aus den Fenstern flatterten Taschentücher, neigten sich Körper heraus, in den geröteten Gesichtern das schwarze Loch des weit geöffneten Mundes. Und ganz hinten belebten sich die Fenster der Ile SaintLouis, schmal wie dünne Kohlestriche, vom Geflimmer eines weißen Glanzes, von etwas Lebendigem, das man nicht deutlich erkennen konnte. Die Mannschaft der Bootsleute in roten Matrosenblusen aber brüllte aus vollem Halse, hoch aufgerichtet mitten auf der Seine, die sie davontrug, während die Wäscherinnen, zur
Hälfte aus den Fenstern des Schiffes heraushängend, die Arme nackt, den Busen halb entblößt, ganz toll geworden, so wütend mit ihren Schlegeln klopften, um nur ja gehört zu werden, daß sie diese fast zerbrachen. »Jetzt ist's vorbei, gehen wir«, sagte Gilquin. Aber die Charbonnels wollten alles bis zum Schluß sehen. Das Ende des Zuges, Eskadronen von kaiserlichen Leibgardisten, Kürassieren und Karabiniers, verschwand in die Rue d'Arcole. Dann entstand ein entsetzlicher Tumult; das doppelte Spalier aus Nationalgardisten und Soldaten der Linienregimenter wurde an mehreren Stellen durchbrochen; Frauen schrien. »Gehen wir«, wiederholte Gilquin. »Hier wird man ja erdrückt.« Und als er seine Damen auf den Bürgersteig gestellt hatte, brachte er sie trotz des Gedränges über den Fahrdamm. Frau Correur
und die Charbonnels schlugen vor, an der Brüstung entlangzugehen und die Pont NotreDame zu überschreiten, um zu sehen, was auf dem Place du Parvis vor sich ging. Aber er hörte nicht auf sie, er zog sie fort. Als sie wieder vor dem kleinen Café angelangt waren, schob er sie unsanft vorwärts und nötigte sie, sich an den Tisch zu setzen, den sie vor kurzem verlassen hatten. »Sie sind mir nette Käuze!« schrie er sie an. »Glauben Sie, ich hätte Lust, mir von diesem Haufen von Gaffern die Pfoten zertrampeln zu lassen? – Wir werden jetzt was trinken, bei Gott! Hier sind wir besser aufgehoben als in der Menge. Oh, wir haben genug von dem Fest! So etwas wird zuletzt doch albern ... Also, was möchten Sie, Mama?« Die Charbonnels, von denen er seine beunruhigenden Augen nicht abwandte, erhoben schüchtern Einspruch. Sie hätten gern den Auszug aus der Kirche gesehen. Daraufhin
erklärte er ihnen, man müsse erst abwarten, bis sich die Neugierigen verlaufen hätten; in einer Viertelstunde werde er sie hinführen, wenn dann nicht doch noch zu viele Leute dort wären. Frau Correur machte sich, während er von Jules wieder Zigarren und Bier verlangte, klüglich davon. »Nun wohl, so ist's recht, ruhen Sie sich aus«, sagte sie zu den Charbonnels. »Sie werden mich dort drüben finden.« Sie ging über die Pont NotreDame und bog in die Rue de la Cité ein. Aber dort war das Gedränge so groß, daß sie eine reichliche Viertelstunde brauchte, um die Rue de Constantine zu erreichen. Sie mußte sich entschließen, den kürzesten Weg zu nehmen, durch die Rue de la Licorne und die Rue des Trois Canettes. Endlich kam sie auf den Place du Parvis hinaus, nachdem ein ganzes Volant ihres taubenhalsfarbenen Kleides am Kellerfenster eines zweifelhaften Hauses
hängengeblieben war. Der mit Sand bestreute, mit Blumen übersäte Platz war mit Masten bepflanzt, die Banner mit dem kaiserlichen Wappen trugen. Vor der Kirche drapierte eine riesige, in Zeltform errichtete Vorhalle über die Nacktheit des Steins rote Samtvorhänge mit goldenen Fransen und Quasten. Hier wurde Frau Correur durch ein Spalier von Soldaten, das die Menge zurückhielt, am Weitergehen gehindert. In der Mitte des großen frei gelassenen Vierecks gingen längs der Wagen, die in fünf Reihen nebeneinander aufgefahren waren, Lakaien gemächlich auf und ab, während die Kutscher gravitätisch, die Zügel in der Hand, auf ihren Sitzen blieben. Und als Frau Correur auf der Suche nach einer Lücke, durch die sie schlüpfen könnte, den Kopf vorstreckte, gewahrte sie Du Poizat, der in einem Winkel des Platzes, mitten zwischen den Lakaien, seelenruhig eine Zigarre rauchte. »Können Sie mir nicht Eintritt verschaffen?«
fragte sie ihn, als es ihr gelungen war, ihn durch Winken mit dem Taschentuch herbeizurufen. Er sprach mit einem Offizier und führte sie bis an die Kirche. »Wenn Sie auf mich hören wollten, blieben Sie hier bei mir«, sagte er. »Da drin ist's zum Umkommen voll. Ich war am Ersticken, ich bin herausgegangen ... Ei sieh, da sind der Oberst und Herr Bouchard; sie haben es aufgegeben, Plätze zu finden.« Diese Herren waren tatsächlich hier, nach links zu, bei der Rue du Cloître NotreDame. Herr Bouchard erzählte, daß er gerade seine Frau Herrn d'Escorailles anvertraut habe, der über einen ausgezeichneten Sessel für eine Dame verfüge. Was den Oberst anlangte, so bedauerte er, seinem Sohn Auguste die feierliche Handlung nicht erläutern zu können. »Ich hätte ihm gern das berühmte Taufbecken gezeigt«, sagte er, »es ist, wie Sie wissen, das
Taufbecken Ludwigs des Heiligen47, ein damasziertes, mit schwarzem Schmelz ausgelegtes Kupfergefäß im schönsten persischen Stil, ein altes Kunstwerk aus der Zeit der Kreuzzüge, das bei den Taufen all unserer Könige benutzt worden ist.« »Haben Sie gesehen, wer die Ehrenämter ausübte?« fragte Herr Bouchard Du Poizat. »Ja«, erwiderte dieser. »Frau de Llorentz trug das Chrismale.« Er mußte Genaueres berichten. Das Chrismale sei das Taufmützchen. Keiner dieser Herren wußte das; sie schrien erstaunt auf. Dann zählte Du Poizat die Ehrenämter auf, die der Umgebung des Kaiserlichen Prinzen zustanden: das Chrismale, die Kerze und das Salzfaß zu reichen; und die Ehrenämter, die von den beiden Paten verliehen wurden: die Schale, die Wasserkanne und das Handtuch herbeizubringen. Alle diese Gegenstände wurden von Palastdamen getragen. Und ferner
war da noch der Taufumhang des kleinen Prinzen, ein wundervoller, außerordentlich schöner Mantel, den man neben dem Taufbecken auf einem Sessel ausgebreitet hatte. »Was, es gibt überhaupt keinen Platz mehr?« entrüstete sich Frau Correur, die bei diesen Einzelheiten von fieberhafter Neugier gepackt wurde. Da nannten sie ihr all die hohen Körperschaften, all die Behörden, all die Delegationen, die sie hatten vorbeikommen sehen. Es war ein unendlicher Zug: das diplomatische Korps, der Senat, der Corps législatif, der Staatsrat, der Kassationshof, der Rechnungshof, der kaiserliche Hofstaat, das Handelsgericht und das Amtsgericht, ungerechnet die Minister, die Präfekten, die Bürgermeister und ihre Beigeordneten, die Akademiemitglieder, die höheren Offiziere, bis zu den Abgesandten des israelitischen und
des protestantischen Konsistoriums. Und es gab noch mehr und immer noch mehr. »Mein Gott, muß das schön sein!« entfuhr es Frau Correur mit einem Seufzer. Du Poizat zuckte mit den Schultern. Er war in einer abscheulichen Stimmung. Diese ganze Gesellschaft »langweile« ihn. Und die lange Dauer der Zeremonie schien ihm auf die Nerven zu gehen. War es denn noch nicht bald zu Ende? Sie hatten das »Veni creator48« gesungen, hatten sich in Weihrauchwolken gehüllt, waren hin und her gegangen, hatten einander begrüßt. Der Kleine müsse nun bereits getauft sein. Herr Bouchard und der Oberst, die geduldiger waren, betrachteten die beflaggten Fenster des Platzes; dann warfen sie den Kopf zurück, weil ein plötzliches Geläut die Türme erschütterte; und beunruhigt von der ungeheuren Nähe der Kirche, deren Ende oben im Himmel sie nicht sehen konnten, fühlten sie sich von einem leichten
Schauer überrieselt. Auguste aber hatte sich an die Vorhalle herangeschlichen. Frau Correur folgte ihm. Doch als sie vor dem großen Portal anlangte, dessen beide Flügel offenstanden, ließ ein außergewöhnliches Schauspiel sie wie auf dem Pflaster angewurzelt stehenbleiben. Zwischen den beiden breiten Vorhängen dehnte sich die Kirche unermeßlich, wie die menschliches Begreifen übersteigende Vision eines Tabernakels49. Die zartblauen Gewölbe waren mit Sternen übersät. Die großen Kirchenfenster breiteten rings um dieses Firmament geheimnisvolle Sternbilder und entfachten die kleinen funkelnden Flämmchen zur Glut von Edelsteinen. Überall fiel roter Samt in reichem Faltenwurf von den hohen Säulen herab, verschluckte das bißchen Tageslicht, das noch im Schiff verweilte. Und in dieser roten Dunkelheit brannte allein, in der Mitte, eine glühende Feuerstätte von Kerzen, Tausende von Kerzen, so dicht nebeneinandergestellt, daß es wirkte wie eine
einzige Sonne, die in einem Funkenregen loderte. Das war der Altar, der auf einer Estrade in der Vierung gleichsam in Feuer stand. Rechts und links davon erhoben sich Throne. Ein großer Thronhimmel aus mit Hermelin abgefüttertem Samt schwebte wie ein riesiger Vogel mit schneeigem Bauch und purpurnen Schwingen über dem höchsten Thron. Und eine große, reichgeschmückte Menge, schillernd von Gold, sprühend von blitzendem Schmuck, füllte die Kirche: in der Nähe des Altars bildete im Hintergrund der Klerus, die Erzbischöfe mit Krummstab und Mitra50, einen Glorienschein, eine jener strahlenden Erscheinungen, die einen Blick in den Himmel auf tun; rings um die Estrade waren mit ungeheurem Prunk Fürstlichkeiten, hohe Würdenträger aufgestellt; sodann stiegen zu beiden Seiten in den Armen des Querschiffs stufenförmig angeordnete Sitze an, rechts mit dem diplomatischen Korps und dem Senat, links mit dem Corps législatif und dem
Staatsrat, während sich die Abordnungen aller Art im übrigen Schiff zusammendrängten und die Damen oben am Rand der Emporen die Blumenbuntheit ihrer hellen Stoffe zur Schau stellten. Eine Wolke blutroten Brodems durchzog den Raum. Die im Hintergrund zur Rechten und zur Linken übereinander erscheinenden Köpfe hatten die rosigen Töne gemalten Porzellans. Die Gewänder, der Atlas, die Seide, der Samt, zeigten Reflexe von düsterem Glanz, als seien sie nahe daran, in Brand zu geraten. Ganze Reihen flammten plötzlich auf. Die tiefe Kirche wurde erwärmt von unerhörter, wie ein Schmelzofen glühender Pracht. Dann sah Frau Correur, wie mitten im Chor ein Zeremonienmeister vortrat, der dreimal schallend rief: »Es lebe der Kaiserliche Prinz! Es lebe der Kaiserliche Prinz! Es lebe der Kaiserliche Prinz!« Und in dem gewaltigen Zujauchzen, von dem
die Gewölbe bebten, bemerkte Frau Correur am Rand der Estrade den Kaiser, der dort, die Menge überragend, stand. Er hob sich schwarz ab von dem goldenen Glanz, den die Erzbischöfe hinter ihm ausstrahlten. Er zeigte dem Volk den Kaiserlichen Prinzen, ein Bündel weißer Spitzen, das er mit erhobenen Armen sehr hoch hielt. Plötzlich aber verscheuchte ein Schweizer Frau Correur durch eine Handbewegung. Sie wich zwei Schritt zurück und hatte nichts mehr vor sich als, ganz nah, einen der Vorhänge der Vorhalle. Die Vision war verschwunden. Dann fand sie sich im vollen Tageslicht wieder; sie blieb verwirrt stehen und glaubte irgendein altes Gemälde gesehen zu haben, gleich denen im Louvre51, deren Farben vom Alter wärmer, purpurn und golden geworden waren, mit Gestalten früherer Zeiten, wie man deren nicht auf der Straße trifft. »Bleiben Sie nicht dort stehen«, sagte Du
Poizat zu ihr und führte sie wieder zu dem Oberst und Herrn Bouchard. Die Herren sprachen jetzt von den Überschwemmungen. Die Verwüstungen in den Tälern der Rhône und der Loire seien entsetzlich. Tausende von Familien seien obdachlos. Der Ertrag der von allen Seiten aufgelegten Sammellisten genüge nicht zur Linderung so vielen Elends. Aber der Mut und die Großherzigkeit des Kaisers seien bewundernswert; in Lyon habe man ihn durch die tief gelegenen, unter Wasser stehenden Stadtviertel waten sehen; in Tours sei er in einem Boot drei Stunden lang durch die überschwemmten Straßen gefahren. Und überall habe er Almosen ausgestreut, ohne zu rechnen. »Hören Sie doch mal!« unterbrach der Oberst. In der Kirche dröhnte die Orgel. Ein getragener Gesang drang durch die klaffende Öffnung der Vorhalle, deren Behänge unter
diesem gewaltigen Atem flatterten. »Das ist das Tedeum52«, sagte Herr Bouchard. Du Poizat seufzte erleichtert auf. Sie würden also gleich fertig sein! Doch Herr Bouchard erklärte ihm, daß die Urkunden noch nicht unterzeichnet seien. Daran anschließend werde der Kardinallegat den päpstlichen Segen erteilen. Dennoch begannen bald Leute herauszukommen. Als einer der ersten erschien Rougon, an seinem Arm ging eine magere, sehr einfach gekleidete Frau mit gelbem Gesicht. Ein Justizbeamter in der Amtstracht des Präsidenten des Appellationsgerichts begleitete die beiden. »Wer ist das?« fragte Frau Correur. Du Poizat nannte ihr die beiden. Herr Beulin d'Orchère habe Rougon kurz vor dem Staatsstreich kennengelernt, und er bezeige ihm seit jener Zeit eine besondere Hochschätzung, ohne jedoch zu versuchen,
einen regelmäßigen Verkehr zwischen ihnen herbeizuführen. Fräulein Véronique, seine Schwester, bewohne mit ihm zusammen ein Stadthaus in der Rue Garancière, das sie fast nur verlasse, um den stillen Messen in der Kirche SaintSulpice beizuwohnen. »Sieh da«, sagte der Oberst, die Stimme dämpfend, »das wäre die richtige Frau für Rougon.« »Durchaus«, bestätigte Herr Bouchard, »angemessenes Vermögen, gute Familie, eine wirtschaftliche und erfahrene Frau. Er könnte nichts Geeigneteres finden.« Aber Du Poizat erhob Einspruch. Das Fräulein sei reif wie eine Mispel, die man auf dem Stroh vergessen habe. Sie zähle mindestens sechsunddreißig Jahre und wirkte wie gut vierzig. Ein schöner Besenstiel, um ihn sich ins Bett zu legen! Eine Betschwester, die einen glatten Scheitel trage! Ein so ausdrucksloser, so fader Kopf, als habe er sechs Monate lang
in Weihwasser gelegen! »Sie sind jung«, erklärte ernsthaft der Bürovorsteher. »Rougon muß eine Vernunftsehe schließen ... Ich habe eine Liebesehe geschlossen; aber das gelingt nicht jedem.« »Ha, das Mädchen ist mir, kurz gesagt, gleichgültig«, gestand Du Poizat schließlich. »Was mir Angst macht, ist die Miene von Beulind'Orchère. Dieser Kerl hat eine Kinnlade wie ein Bullenbeißer ... Sehen Sie ihn sich doch an, mit seiner plumpen Visage und seinem Wald von krausen Haaren, in denen sich trotz seiner fünfzig Jahre kein einziger weißer Faden zeigt! Weiß man, was er denkt? Sagen Sie mir nur, weshalb er sich noch immer bemüht, seine Schwester Rougon in die Arme zu treiben, jetzt, da Rougon am Boden liegt?« Herr Bouchard und der Oberst, die einen beunruhigten Blick tauschten, bewahrten
Schweigen. Wollte etwa der »Bullenbeißer«, wie ihn der ehemalige Unterpräfekt nannte, Rougon ganz allein verschlingen? Aber Frau Correur sagte gedehnt: »Es ist sehr gut, Leute von der Justiz auf seiner Seite zu haben.« Rougon hatte unterdessen Fräulein Véronique zu ihrem Wagen geleitet und verabschiedete sich dort von ihr, bevor sie einstieg. Gerade in diesem Augenblick kam an Delestangs Arm die schöne Clorinde aus der Kirche. Sie wurde ernst, mit einem flammenden Blick umfaßte sie das große gelbe Fräulein, hinter der Rougon, ungeachtet seines Senatorenfracks, so liebenswürdig den Wagenschlag schloß. Während sich dann der Wagen entfernte, ließ sie Delestangs Arm fahren, fand zu ihrem Lächeln eines großen Kindes zurück und ging geradewegs auf Rougon zu. Die ganze Clique folgte ihr. »Ich habe Mama verloren«, rief sie ihm fröhlich zu. »Man hat mir mitten in der Menge
Mama entführt ... Sie bieten mir wohl ein Eckchen in Ihrem Kupee an, nicht?« Delestang, der ihr gerade vorschlagen wollte, sie nach Hause zu bringen, schien sehr verärgert. Sie trug ein Kleid aus orangefarbener, mit so grellbunten Blumen durchwirkter Seide, daß die Lakaien sie musterten. Rougon hatte sich zustimmend verneigt, aber sie mußten fast zehn Minuten lang auf das Kupee warten. Alle blieben da, sogar Delestang, dessen Wagen zwei Schritt entfernt in der ersten Reihe stand. Die Kirche leerte sich langsam weiter. Herr Kahn und Herr Béjuin, die gerade vorüberkamen, eilten herbei und schlossen sich der Gesellschaft an. Und da der große Mann schlaff die Hand gab und übelgelaunt aussah, fragte ihn Herr Kahn mit besorgtem Eifer: »Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Doch«, antwortete Rougon. »Nur haben mich all die Lichter da drinnen müde gemacht.«
Er schwieg, dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Es war ganz großartig ... Noch nie habe ich eine ähnliche Freude auf dem Gesicht eines Mannes gesehen.« Er sprach vom Kaiser. Er hatte in einer weiten Bewegung die Arme ausgebreitet, langsam und majestätisch, als wolle er die Szene in der Kirche in Erinnerung rufen; und er fügte nichts weiter hinzu. Seine Freunde, die ihn umstanden, schwiegen ebenfalls. Sie bildeten in einem Winkel des Platzes eine winzige Gruppe. Immer mehr Menschen zogen an ihnen vorüber, die Richter in ihren Roben, die Offiziere in Gala, die Beamten in Uniform, eine mit Tressen, Verbrämungen und Orden geschmückte Menge, die unter den Rufen der Lakaien und dem plötzlichen Anfahren der Wagen die Blumen zerstampfte, mit denen der Platz übersät war. Die Herrlichkeit des Kaiserreiches auf seinem Höhepunkt wallte im Purpur der untergehenden Sonne, während die Türme von NotreDame, ganz rosenfarben,
ganz Klang geworden, die künftige Herrschaft des unter ihren Wölbungen getauften Kindes sehr hoch hinauf, auf einen Gipfel des Friedens und der Größe zu tragen schienen. Sie aber spürten in ihrer Unzufriedenheit aus dem Glanz der Feierlichkeit, den läutenden Glocken, den fliegenden Bannern, der begeisterten Stadt, diesen freudestrahlenden Regierungskreisen nichts anderes in sich aufsteigen als eine unermeßliche Gier. Rougon, der zum erstenmal die Kälte der Ungnade empfand, hatte ein sehr bleiches Gesicht; und Träumen hingegeben, beneidete er den Kaiser. »Guten Abend, ich gehe jetzt, dies ist unerträglich«, sagte Du Poizat, nachdem er den anderen die Hand gedrückt hatte. »Was haben Sie denn heute?« fragte ihn der Oberst. »Sie sind ja so grimmig.« Und der Unterpräfekt erwiderte im Weggehen ruhig: »Na, hören Sie, weshalb sollte ich denn
heiter sein? Ich habe heute morgen im ›Moniteur‹ gelesen, daß man diesen Schwachkopf Campenon für die Präfektur ernannt hat, die man mir versprochen hatte.« Die anderen sahen einander an. Du Poizat hatte recht, sie hatten keinen Teil an diesem Fest. Seit der Geburt des Prinzen hatte ihnen Rougon einen ganzen Regen von Geschenken für den Tag der Taufe versprochen; Herr Kahn sollte seine Konzession erhalten, der Oberst das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion, Frau Correur die fünf oder sechs Tabakläden, um die sie laufend angesucht hatte. Und nun standen sie alle hier, ein kleines Häufchen in einer Ecke des Platzes, mit leeren Händen. Da erhoben sie den Blick so trostlos, so vorwurfsvoll zu Rougon, daß er furchtbar mit den Schultern zuckte. Als endlich sein Kupee kam, schob er Clorinde unsanft hinein, und ohne ein Wort zu sagen, verschloß er sich selber darin, indem er den Wagenschlag heftig hinter sich zuknallte.
»Da steht Marsy in der Vorhalle«, murmelte Herr Kahn und zog Herrn Béjuin mit sich fort. »Wie hochfahrend er aussieht, dieser Schurke! – Gucken Sie doch weg. Es fehlte noch, daß er unseren Gruß nicht erwiderte.« Delestang war eilig in seinen Wagen gestiegen, um dem Kupee zu folgen. Herr Bouchard wartete auf seine Frau; als dann die Kirche sich völlig geleert hatte, war er sehr erstaunt; er ging mit dem Oberst fort, der auch keine Lust mehr hatte, seinen Sohn Auguste zu suchen. Was Frau Correur anlangte, so hatte sie soeben den Arm eines Dragonerleutnants angenommen, eines Landsmannes von ihr, der ihr zum Teil seine Achselstücke verdankte. Unterdessen sprach Clorinde in dem Kupee mit Entzücken von der Feier, während ihr Rougon, zurückgelehnt, mit schläfrigem Gesicht zuhörte. Sie habe die Osterfeier in Rom gesehen: sie sei nicht großartiger. Und sie erklärte, daß für sie die Religion ein Blick
in einen Paradieswinkel sei, wo Gottvater auf seinem Throne sitze wie eine Sonne, inmitten der Pracht der um ihn geordneten Engel, in einem großen Kreis schöner junger Leute in goldenen Gewändern. Dann unterbrach sie sich plötzlich, sie fragte: »Kommen Sie heute abend zu dem Bankett, das die Stadt den Majestäten gibt? Das wäre herrlich.« Sie sei eingeladen. Sie werde eine rosenfarbene Toilette tragen, ganz mit Vergißmeinnicht besät. Herr de Plouguern solle sie begleiten, weil ihre Mutter ihrer Migräne wegen abends nicht mehr ausgehen wolle. Sie unterbrach sich abermals und stellte unvermittelt eine neue Frage: »Wer ist eigentlich der Justizbeamte, mit dem Sie vorhin zusammen waren?« Rougon tat wichtig, sagte in einem Atemzuge: »Herr Beulind'Orchère, fünfzig Jahre alt, aus einer Juristenfamilie, war Staatsanwaltsvertreter in Montbrison,
Staatsanwalt in Orléans, Vertreter des Generalstaatsanwalts in Rouen, war im Jahre 52 Mitglied einer gemischten Kommission, ist dann als Appellationsgerichtsrat nach Paris gekommen und ist schließlich heute Präsident dieses Gerichts ... Ah, ich vergaß! Er hat dem Dekret vom 22. Januar 1852 zugestimmt, durch das die Güter des Hauses Orléans53 konfisziert wurden ... Genügt Ihnen das?« Clorinde hatte zu lachen begonnen. Er mache sich über sie lustig, weil sie sich unterrichten wolle; aber es sei wohl erlaubt, sich über die Menschen zu informieren, denen man einmal begegnen könnte. Und sie versuchte nicht, ihn dahin zu bringen, über Fräulein Beulind'Orchère zu sprechen. Sie fing wieder von dem Bankett im Hôtel de Ville an: der Festsaal solle mit unerhörtem Luxus ausgeschmückt worden sein; während der ganzen Dauer des Diners werde ein Orchester Lieder spielen. Ach, Frankreich sei ein großartiges Land! Nirgendwo, weder in
England noch in Deutschland, noch in Spanien, noch in Italien habe sie rauschendere Bälle, wunderbarere Feste gesehen. Daher, so sagte sie mit vor Bewunderung glühendem Gesicht, habe sie jetzt ihre Wahl getroffen: sie wolle Französin werden. »Oh, Soldaten!« rief sie, »sehen Sie doch, Soldaten!« Das Kupee, das die Rue de la Cité entlanggefahren war, fand sich am Ende der Pont NotreDame durch ein Regiment aufgehalten, das auf dem Quai vorbeimarschierte. Es waren Linientruppen, kleine Kerle, die, durch die Bäume auf den Bürgersteigen ein wenig aus der Ordnung geraten, wie Hammel dahintrotteten. Sie kehrten vom Spalierbilden zurück. Ihren Gesichtern sah man an, wie sehr die starke Nachmittagssonne sie geblendet hatte, ihre Füße waren weiß bestaubt, das Rückgrat unter dem Gewicht des Tornisters und des Gewehrs
gekrümmt. Und sie hatten sich so abgequält, das Stoßen und Drängen der Menge aufzufangen, daß sie noch jetzt verwirrt und abgestumpft aussahen. »Ich liebe die französische Armee leidenschaftlich«, sagte Clorinde entzückt und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Rougon, wie neu belebt, sah ebenfalls hinaus. Was da im Staub der Straße vorüberzog, war die Macht des Kaiserreiches. Ein dichtes Gedränge von Equipagen versperrte allmählich die Brücke, doch die Kutscher, von Achtung erfüllt, warteten, während Persönlichkeiten in großer Aufmachung den Kopf zum Wagenschlag herausstreckten und, ein unbestimmtes Lächeln auf dem Gesicht, mit gerührten Blicken die kleinen, durch das lange Wachestehen wie benommenen Soldaten betrachteten. Die in der Sonne blitzenden Gewehre illuminierten das Fest. »Und die dort, die letzten, sehen Sie sie?« fing
Clorinde wieder an. »Da ist ein ganzes Glied dabei, in dem noch keiner einen Bart hat. Ach, sind die reizend!« Und in einem plötzlichen heftigen Zärtlichkeitsanfall warf sie den Soldaten vom Fond des Wagens aus mit beiden Händen Küsse zu. Sie verbarg sich ein wenig, damit man sie nicht sah. Das war eine Freude, eine Liebe zur bewaffneten Macht, die sie sich gönnte. Rougon lächelte väterlich; auch er genoß die erste Freude dieses Tages. »Was ist denn da los?« fragte er, als das Kupee endlich um die Ecke des Quais biegen konnte. Auf dem Bürgersteig und dem Fahrdamm hatte sich eine beträchtliche Menschenansammlung gebildet. Der Wagen mußte abermals halten. Eine Stimme aus der Menge sagte: »Da ist ein Betrunkener, der die Soldaten beleidigt hat. Die Schutzleute haben ihn eben festgenommen.«
Als dann eine Lücke in der Ansammlung entstand, gewahrte Rougon den stockbesoffenen Gilquin, den zwei Schutzleute beim Kragen gepackt hielten. Sein gelber Zwillichanzug war zerrissen und ließ an einigen Stellen die bloße Haut sehen. Aber er blieb mit seinem hängenden Schnurrbart im roten Gesicht ein gutmütiger Kerl. Er duzte die Schutzleute, er nannte sie »meine Lämmchen«. Und er erklärte ihnen, daß er den Nachmittag sehr ruhig in einem Café hier in der Nähe verbracht habe, in Gesellschaft sehr vermögender Leute. Man könne sich im Théâtre du Palais Royal erkundigen, wohin Herr und Frau Charbonnel gegangen seien, um sich das »Taufkonfekt« anzusehen, sie würden bestimmt nichts Gegenteiliges aussagen. »Laßt mich doch los, ihr Schäker«, schrie er, sich plötzlich sperrend. »Das Café ist hier dicht bei, zum Donnerwetter! Kommt mit mir hin, wenn ihr mir nicht glaubt! – Die Soldaten haben mich falsch verstanden, begreift das
doch! Da war so ein Kleiner, der lachte. Da hab ich ihm gesagt, er soll gehen und sich die Nase putzen lassen. Aber die französische Armee beleidigen, niemals! – Sprecht mal mit dem Kaiser über Théodore, ihr werdet sehen, was er dann sagt ... Ah, potztausend! Da werdet ihr schön ankommen!« Die Menge lachte belustigt. Die beiden Schutzleute blieben unerschütterlich, ließen Gilquin nicht los, schoben ihn langsam auf die Rue SaintMartin zu, in der man in der Ferne die rote Laterne einer Polizeiwache sah. Rougon hatte sich rasch tief in den Wagen zurückgelehnt. Doch plötzlich hob Gilquin den Kopf und erblickte ihn. Da wurde er in seiner Betrunkenheit spöttisch und pfiffig. Er sah Rougon an, zwinkerte ihm zu und sprach, auf ihn berechnet: »Genug, meine Kinder! Man könnte Skandal machen, aber man wird es nicht tun, weil man Würde besitzt ... He, nicht wahr, ihr würdet eure Pfoten von Théodore lassen, wenn er wie ein Bürger meiner
Bekanntschaft Fürstinnen mit sich herumschleppte. Man hat nichtsdestoweniger mit vornehmen Leuten gearbeitet, und zwar, worauf man stolz ist, auf feine Weise, ohne Berge von Gold zu verlangen. Man kennt seinen Wert. Das tröstet über die Niedrigkeit hinweg ... Gottsdonner! Sind die Freunde denn keine Freunde mehr?« Er wurde gerührt, seine Stimme war von Schluchzen unterbrochen. Rougon winkte heimlich einen ihm bekannten Mann in einem weiten Mantel herbei, den er in der Nähe des Kupees entdeckt hatte; und nachdem er leise mit ihm gesprochen, gab er ihm die Adresse Gilquins, Rue Virginie 17 in Grenelle. Der Mann trat an die Schutzleute heran, als wolle er ihnen helfen, den Betrunkenen, der sich widersetzte, zu halten. Die Menge sah höchlich überrascht, wie sich die Schutzleute nach links wandten und dann Gilquin in eine Droschke warfen, deren Kutscher auf eine Anweisung hin den Quai de la Megisserie
entlangfuhr. Aber der Kopf Gilquins, riesengroß, struwwelig und gleichsam berstend von einem triumphierenden Lachen, erschien ein letztes Mal hinter dem Wagenschlag und brüllte: »Es lebe die Republik!« Als die Ansammlung aufgelöst war, wurden die Uferstraßen wieder weit und still, Paris, der Begeisterung müde, saß bei Tisch. Die dreihunderttausend Neugierigen, die sich dort fast totgedrückt hatten, waren in die Gaststätten am Ufer und ins Quartier de Temple54 geflutet. Über die leeren Bürgersteige schleppten nur noch Provinzler ihre Füße, todmüde, nicht wissend, wo sie essen sollten. Unten, an den beiden Seiten des Schiffes, klopften die Wäscherinnen mit heftigen Schlägen ihre Wäsche fertig. Ein Sonnenstrahl vergoldete noch hoch oben die Türme von NotreDame, die jetzt stumm über den völlig schwarz im Schatten liegenden Häusern standen. Und in dem leichten Nebel, der von der Seine aufstieg, erkannte man dort
unten an der Spitze der Ile SaintLouis, inmitten des grauen Gewirrs der Fassaden nur noch den riesigen Gehrock, die monumentale Reklame, die an irgendeinem Nagel des Horizonts die bürgerliche Hinterlassenschaft eines Titanen aufgehängt hatte, dessen Glieder ein Blitz verzehrt zu haben schien.
Kapitel V Eines Vormittags gegen elf Uhr kam Clorinde zu Rougon in die Rue Marbeuf. Sie kehrte aus dem Bois de Boulogne zurück; ein Bedienter hielt an der Tür ihr Pferd. Sie ging geradewegs in den Garten, wandte sich nach links und stellte sich vor ein weit offenes Fenster des Zimmers, in dem der große Mann arbeitete. »Ha, ich überfalle Sie!« sagte sie plötzlich. Rougon hob jäh den Kopf. Sie lachte in der
warmen Junisonne. Ihr Reitkleid aus dunkelblauem Tuch, dessen lange Schleppe sie sich über den linken Arm geworfen hatte, ließ sie größer erscheinen, während das sehr anliegend gearbeitete westenartige Oberteil mit kleinen runden Schößen wie eine lebendige Haut war, die ihre Schultern, ihre Brust und ihre Hüften eng umspannte. Sie hatte leinene Manschetten an und einen Leinenkragen, unter dem der Knoten einer schmalen Krawatte aus blauem Foulard55 hervorkam. Auf ihrem eingerollten Haar trug sie sehr keck einen Herrenhut, um den ein Gazeschleier eine bläuliche, ganz vom Goldstaub der Sonne bepuderte Wolke legte. »Nanu, Sie sind es!« rief Rougon und eilte herbei. »Aber kommen Sie doch herein!« »Nein, nein«, antwortete sie. »Lassen Sie sich nicht stören, ich habe Ihnen nur ein Wort zu sagen ... Mama wird mit dem Frühstück auf mich warten.«
Dies war das drittemal, daß sie im Widerspruch zu aller Schicklichkeit so zu Rougon kam. Doch sie tat so, als wolle sie im Garten bleiben. Übrigens war sie die beiden ersten Male auch im Reitkleid, einem Anzug, der ihr eine jungenhafte Ungezwungenheit gab und dessen langer Rock ihr wohl als ausreichender Schutz erschien. »Sie müssen wissen, daß ich als Bettlerin komme«, sagte sie. »Es geht um Lotterielose ... Wir veranstalten eine Lotterie zugunsten armer junger Mädchen.« »Nun gut, kommen Sie herein!« wiederholte Rougon. »Sie müssen mir das erklären.« Sie hatte ihre Reitpeitsche in der Hand behalten, eine sehr zierliche Peitsche mit einem kleinen silbernen Griff. Sie fing wieder an zu lachen, wobei sie mit leichten Schlägen gegen ihren Rock klopfte.
»Da ist schon alles erklärt, bei Gott! Sie werden mir Lose abkaufen, nur deshalb bin ich gekommen ... Seit drei Tagen suche ich Sie, ohne Ihrer habhaft zu werden, und morgen ist die Ziehung.« Dann holte sie eine kleine Brieftasche hervor und fragte: »Wie viele Lose wollen Sie?« »Nicht eines, wenn Sie nicht hereinkommen«, rief er. In scherzendem Ton fügte er hinzu: »Zum Teufel, macht man Geschäfte durchs Fenster? Soll ich Ihnen etwa Geld reichen wie einer Bettelfrau?« »Das ist mir gleichgültig, geben Sie nur.« Aber er blieb standhaft. Einen Augenblick lang sah sie ihn stumm an. Dann sagte sie: »Wenn ich hineinkomme, nehmen Sie mir dann zehn ab? – Jedes kostet zehn Francs.«
Und sie entschloß sich nicht sogleich. Sie ließ erst einen schnellen Blick durch den Garten schweifen. In einem Baumgang kniete ein Gärtner und setzte einen Korb Geranien ein. Sie lächelte ein wenig und wandte sich der kleinen Freitreppe von drei Stufen zu, auf die die Glastür des Arbeitszimmers führte. Rougon streckte ihr bereits die Hand entgegen. Und als er sie bis in die Mitte des Raumes geführt hatte, sagte er: »Sie haben also Angst, ich könnte Sie fressen? Sie wissen gut, daß ich der unterwürfigste Ihrer Sklaven bin ... Was befürchten Sie hier?« Sie klopfte noch immer mit dem Ende ihrer Peitsche in leichten Schlägen gegen ihren Rock. »Ich fürchte gar nichts«, erwiderte sie mit der schönen Sicherheit eines emanzipierten Mädchens. Dann kramte sie, nachdem sie die Reitpeitsche auf ein Kanapee gelegt hatte, abermals in ihrer
Brieftasche. »Sie nehmen zehn, nicht wahr?« »Ich werde zwanzig nehmen, wenn Sie es wünschen«, sagte er, »aber seien Sie gnädig, setzen Sie sich, lassen Sie uns ein wenig plaudern ... Sie werden doch gewiß nicht gleich wieder davonlaufen?« »Also, ein Los für jede Minute, ja? – Wenn ich eine Viertelstunde bleibe, macht das fünfzehn Lose, wenn ich zwanzig Minuten bleibe, macht es zwanzig; und so weiter bis heute abend, von mir aus gern ... Einverstanden?« Über diese Abmachung lachten beide. Schließlich setzte sich Clorinde in einen Sessel in der Nische des offengebliebenen Fensters. Um sie nicht kopfscheu zu machen, nahm Rougon wieder an seinem Schreibtisch Platz. Und sie plauderten zunächst über das Haus. Sie blickte zum Fenster hinaus, fand den Garten etwas klein, aber entzückend mit
seinem Rasen in der Mitte und den dichten Gruppen immergrüner Bäume. Er beschrieb die genaue Lage der Räume: unten, im Erdgeschoß, befänden sich sein Arbeitszimmer, ein großer Salon, ein kleiner Salon und ein sehr schöner Speisesaal; in der ersten Etage seien sieben Zimmer, ebenso in der zweiten. All das sei, wenn auch verhältnismäßig klein, viel zu geräumig für ihn. Als ihm der Kaiser dieses Stadthaus schenkte, habe er eine verwitwete Dame heiraten sollen, die Seine Majestät persönlich ausgesucht hatte. Aber die Dame sei gestorben. Nun werde er ledig bleiben. »Weshalb?« fragte sie, ihm gerade ins Gesicht sehend. »Pah!« erwiderte er, »ich habe ganz was anderes zu tun. In meinem Alter braucht man keine Frau mehr.« Sie aber zuckte mit den Schultern und sagte nur: »Tun Sie doch nicht so erhaben!«
Es war zwischen ihnen dahin gekommen, daß sie sehr freie Gespräche miteinander führten. Sie behauptete, er sei von Natur ein Lüstling. Er verwahrte sich dagegen und erzählte ihr von seiner Jugend, den Jahren, die er in kahlen Zimmern verbracht hatte, in die nicht einmal die Wäscherinnen hereinkamen, wie er lachend sagte. Dann fragte sie ihn mit kindlicher Neugier nach seinen Geliebten; er habe bestimmt etliche gehabt, zum Beispiel könne er nicht eine in ganz Paris bekannte Dame ableugnen, die, nachdem sie ihn verlassenem die Provinz verzogen sei. Doch er zuckte mit den Achseln, die Frauenröcke hätten wenig Verwirrendes für ihn. Wenn ihm das Blut in den Kopf steige, sei er, bei Gott, wie alle Männer, er würde mit einem Schulterstoß eine Zwischenwand zertrümmern, um in einen Alkoven zu gelangen. Er schätze es nicht, sich mit langen Vorreden aufzuhalten. Sei es dann geschehen, so werde er wieder völlig ruhig.
»Nein, nein, keine Frau!« wiederholte er, dabei hatten seine Augen an Clorindes gelöster Haltung schon Feuer gefangen. »Das kostet einem zuviel Zeit.« Das junge Mädchen, tief in den Sessel zurückgelehnt, lächelte seltsam. Ihr Busen wogte langsam, und sie sah aus, als wolle sie vergehen. Mit singender Stimme übertrieb sie ihren italienischen Akzent. »Hören Sie doch auf, mein Lieber, Sie beten uns an«, sagte sie. »Wollen wir wetten, daß Sie übers Jahr verheiratet sein werden?« Und sie war tatsächlich aufreizend, so sehr schien sie des Sieges gewiß zu sein. Seit einiger Zeit bot sie sich Rougon unbekümmert an. Sie nahm sich nicht mehr die Mühe, ihr langwieriges Verführungswerk zu verbergen, dieses kunstvolle Vorgehen, womit sie ihn eingekreist hatte, bevor sie die Belagerung seiner Begierden begann. Jetzt hielt sie ihn schon für so weit erobert, daß sie das
Unternehmen ohne Maske betreiben könnte. Ein wahrer Zweikampf entspann sich jederzeit zwischen ihnen. Wenn sie auch die Kampfbedingungen noch nicht ganz deutlich stellten, so lagen doch auf ihren Lippen, in ihren Augen sehr offene Geständnisse. Blickten sie einander an, so konnten sie nicht umhin zu lächeln, und sie forderten sich gegenseitig heraus. Clorinde machte ihren Preis, ging mit prachtvoller Kühnheit auf ihr Ziel los in der Gewißheit, niemals mehr zu gewähren als das, wozu sie selber bereit sein würde. Rougon, berauscht, versessen auf dieses Spiel, schob alle Bedenken beiseite, träumte nur davon, dieses schöne Mädchen zu seiner Geliebten zu machen und sie dann zu verlassen, um ihr seine Überlegenheit über sie zu beweisen. Beider Stolz war noch stärker am Kampf beteiligt als ihre Sinne. »Bei uns«, fuhr sie fast flüsternd fort, »steht die Liebe an erster Stelle. Die zwölfjährigen Mädchen haben Liebhaber ... Ich bin wie ein
Junge geworden, weil ich gereist bin. Aber wenn Sie Mama gekannt hätten, als sie jung war! Sie verließ ihr Zimmer nicht. Sie war so schön, daß man von weither kam, um sie zu sehen. Ein Graf hat sich einzig ihretwegen sechs Monate in Mailand aufgehalten, ohne auch nur ihr Zopfende zu Gesicht zu bekommen. Die Italienerinnen sind nämlich nicht so wie die Französinnen, die schwatzen und herumschwärmen; sie bleiben dem Mann treu, den sie gewählt haben ... Ich aber bin gereist, ich weiß nicht, ob ich einem die Treue halten würde. Mir scheint jedoch, ich würde sehr heftig lieben, o ja, sehr heftig, zum Sterben ...« Ihre Lider hatten sich nach und nach geschlossen, ihr Gesicht war wie überflutet von wollüstigem Entzücken. Rougon hatte, während sie sprach, wie von einer höheren Gewalt angezogen, mit zitternden Händen seinen Schreibtisch verlassen. Doch als er nahe herangekommen war, schlug sie die
Augen weit auf, sah ihn mit ruhigem Ausdruck an. Und auf die Uhr deutend, sagte sie lächelnd: »Das macht zehn Lose.« »Wieso zehn Lose?« stammelte er; er begriff den Zusammenhang nicht mehr. Als er wieder zu sich kam, brach sie in lautes Lachen aus. Sie gefiel sich darin, ihn auf solche Weise zu betören; wenn er dann gerade die Arme ausbreiten wollte, wich sie ihm mit irgendeinem Wort aus; das schien ihr großen Spaß zu machen. Rougon, der plötzlich ganz bleich geworden war, sah sie wütend an, was ihre Heiterkeit nur vermehrte. »Also, ich gehe jetzt«, sagte sie. »Sie sind nicht artig genug zu Damen ... Nein, ernstlich, Mama wartet mit dem Frühstück auf mich.« Er aber hatte wieder seine väterliche Miene aufgesetzt. Nur in seinen grauen Augen unter den schweren Lidern loderte, als sie den Kopf wegwandte, noch eine Flamme; und dann
umfaßte er sie ganz mit einem einzigen Blick, mit dem Ingrimm eines Mannes, der zum Äußersten getrieben und entschlossen ist, der Sache ein Ende zu machen. Er sagte indes, sie könne ihm wohl noch fünf Minuten schenken. Die Arbeit, bei der sie ihn angetroffen habe, sei so langweilig, ein Bericht für den Senat, über Bittschriften! Und er sprach zu ihr von der Kaiserin, mit der sie einen wahren Kult trieb. Die Kaiserin sei seit acht Tagen in Biarritz. Da lehnte sich das junge Mädchen aufs neue zu einem endlosen Geschwätz in den Sessel zurück. Sie kenne Biarritz, sie habe dort eine Saison zugebracht, früher einmal, als dieses Seebad noch nicht in Mode gewesen sei. Sie war tief unglücklich darüber, nicht wieder hinfahren zu können, solange der Hof dort weilte. Dann ging sie dazu über, von einer Akademiesitzung zu erzählen, zu der Herr de Plouguern sie tags zuvor mitgenommen hatte. Man habe dort einen Schriftsteller eingeführt, den sie sehr geneckt habe, weil er kahlköpfig
sei. Übrigens habe sie einen Abscheu vor Büchern. Sobald sie es sich in den Kopf setze zu lesen, müsse sie sich mit Nervenanfällen ins Bett legen. Sie verstehe nicht, was sie lese. Als ihr Rougon sagte, der Schriftsteller, den man am Vortage eingeführt habe, sei ein Feind des Kaisers und seine Rede habe von abscheulichen Anspielungen gewimmelt, war sie bestürzt. »Er sah trotzdem wie ein aufrichtiger Mensch aus«, behauptete sie. Rougon wetterte jetzt seinerseits gegen die Bücher. Vor allem sei soeben ein Roman erschienen, der seine Entrüstung hervorrufe, ein Werk der verderbtesten Phantasie, das, angeblich um strenge Wahrheit bemüht, den Leser durch die Ausschweifungen einer hysterischen Frau schleife. Das Wort »hysterisch« schien ihm zu gefallen, denn er wiederholte es dreimal. Als ihn Clorinde nach dem Sinn dieses Wortes fragte,
weigerte er sich, von großer Schamhaftigkeit befallen, ihn zu erläutern. »Alles läßt sich sagen«, fuhr er fort, »nur gibt es eine bestimmte Art und Weise, alles zu sagen ... So ist man in der Verwaltung oft genötigt, die heikelsten Dinge zu erörtern. Ich habe zum Beispiel Berichte über gewisse Frauen gelesen – Sie verstehen mich wohl? –, nun gut, es fanden sich darin sehr genaue Einzelheiten aufgezeichnet in einem klaren, einfachen, anständigen Stil. Kurz gesagt, das blieb keusch! Während sich die Romanschreiber heutzutage einen schlüpfrigen Stil zugelegt haben, eine Art, die Dinge zu sagen, daß sie geradezu lebendig vor einem stehen. Sie nennen das Kunst. Unziemlichkeit ist es, nichts sonst.« Er sprach sogar das Wort »Pornographie« aus und ging so weit, den Marquis de Sade56 zu erwähnen, von dem er übrigens niemals etwas gelesen hatte. Dennoch manövrierte er
während des Redens mit großer Geschicklichkeit, um unbemerkt hinter Clorindes Sessel zu gelangen. Sie murmelte mit abwesendem Blick: »Oh, ich habe nie einen einzigen Roman aufgeschlagen! Das ist dumm, all diese Lügen ... Sie kennen ›Leonora die Zigeunerin‹ nicht. Das ist wirklich hübsch. Ich habe es in Italien gelesen, als ich noch klein war. Darin ist die Rede von einem jungen Mädchen, das am Ende einen reichen und hochgestellten Herrn heiratet. Zuerst wird sie von Briganten geraubt ...« Aber ein leichtes Knirschen hinter ihr ließ sie, wie plötzlich erwacht, rasch den Kopf wenden. »Was machen Sie denn da?« fragte sie. »Ich lasse den Vorhang herunter«, antwortete Rougon. »Die Sonne muß Ihnen doch lästig sein.« Sie saß tatsächlich in einem breiten Sonnenstrahl, dessen fliegende Stäubchen das
gestraffte Tuch ihres Reitkleides mit einem schimmernden Flaum vergoldeten. »Wollen Sie gefälligst den Vorhang so lassen!« rief sie. »Ich liebe die Sonne! Ich fühle mich wie in einem Bad.« Und sehr beunruhigt stand sie halb auf und warf einen Blick in den Garten, um festzustellen, ob der Gärtner noch dort sei. Als sie ihn, der an der anderen Seite des Beetes kauerte und von dem nur der Rücken seiner kurzen blauen Leinenjacke zu sehen war, entdeckt hatte, setzte sie sich beruhigt und lächelnd wieder hin. Rougon, der der Richtung ihres Blickes gefolgt war, ließ den Vorhang los, während sie ihn neckte. Er sei ja wie die Eulen, er suche das Dunkel. Aber er wurde nicht böse, er ging in die Mitte des Zimmers, ohne sich den geringsten Ärger anmerken zu lassen. Sein großer Körper hatte die zögernden Bewegungen eines Bären, der auf eine Tücke sinnt.
Als er sich dann am anderen Ende des Zimmers befand, dicht bei einem breiten Kanapee, über dem eine große Photographie hing, rief er sie. »Kommen Sie mal sehen«, sagte er. »Sie kennen doch mein letztes Porträt nicht?« Sie streckte sich noch mehr in ihrem Sessel aus und erwiderte, ohne mit Lächeln aufzuhören: »Ich sehe es ausgezeichnet von hier ... Übrigens haben Sie es mir bereits gezeigt.« Er ließ sich nicht entmutigen. Er hatte den Vorhang des anderen Fensters geschlossen und erfand noch zwei oder drei Vorwände, um sie in diesen Winkel verschwiegenen Schattens zu locken, wo es, wie er sagte, sehr behaglich sei. Sie, die diese plumpe Falle verschmähte, antwortete nicht einmal mehr, begnügte sich damit, durch eine Kopfbewegung abzulehnen. Da er merkte, daß Clorinde seine Absicht durchschaut hatte, kehrte er wieder zu ihr
zurück, pflanzte sich mit verschlungenen Händen vor ihr auf, verzichtete auf alle Listen, forderte sie unverhüllt heraus. »Ich vergaß! Ich wollte Ihnen Monarque, mein neues Pferd, zeigen. Sie wissen ja, daß ich einen Tausch gemacht habe ... Sie, die Sie doch Pferde lieben, sollen mir Ihre Meinung über das Tier sagen.« Wieder lehnte sie ab. Aber er ließ nicht locker; der Stall sei nur zwei Schritt entfernt; es erfordere höchstens fünf Minuten. Dann, als sie noch immer nein sagte, warf er mit gedämpfter Stimme und fast geringschätzigem Tonfall hin: »Ah, Sie haben keinen Mut!« Das wirkte wie ein Peitschenhieb. Ernst, ein wenig bleich stand sie auf. »Gehen wir Monarque anschaun«, sagte sie nur. Sie warf sich schon die Schleppe ihres Reitkleides über den linken Arm. Sie hatte
ihren Blick geradewegs in den seinen gebohrt. Einen Augenblick lang sahen sie einander an, so durchdringend, daß sie ihre Gedanken lasen. Es war eine uneingeschränkte Herausforderung, und sie wurde angenommen. Clorinde stieg als erste die Freitreppe hinab, während er mit einer mechanischen Bewegung den Hausrock, den er trug, zuknöpfte. Sie hatten jedoch noch keine drei Schritte in dem Baumgang getan, als sie stehenblieb. »Warten Sie«, sagte sie. Sie ging ins Arbeitszimmer zurück. Als sie wiederkam, ließ sie die Reitpeitsche leicht zwischen den Fingerspitzen baumeln, die sie hinter einem Kissen des Kanapees vergessen hatte. Rougon warf einen Seitenblick auf die Peitsche; dann hob er langsam die Augen zu Clorinde auf. Jetzt lächelte sie. Wieder ging sie vorauf. Der Pferdestall lag rechts hinten im Garten. Als sie an dem Gärtner vorüberkamen, stand
der Mann gerade da und räumte, im Begriff wegzugehen, seine Geräte zusammen. Rougon zog seine Uhr; es war fünf Minuten nach elf, der Pferdeknecht mußte also beim Frühstück sein. Und in der glühenden Sonne folgte er mit bloßem Kopf Clorinde, die, nach rechts und links Peitschenschläge gegen die Nadelbäume austeilend, gelassen weiterging. Sie wechselten kein Wort. Sie drehte sich nicht einmal um. Als sie dann beim Stall angelangt waren, ließ sie Rougon die Tür öffnen, schritt an ihm vorbei. Die zu stark aufgestoßene Tür schlug heftig wieder zu, ohne daß Clorinde zu lächeln aufhörte. Ihr Gesicht war arglos, stolz und zuversichtlich. Es war ein kleiner, sehr alltäglicher Stall mit vier Eichenboxen. Obwohl die Fliesen morgens gewaschen worden waren und das Holzwerk, die Raufen, die Krippen sehr sauber gehalten wurden, stieg ein scharfer Geruch auf. Es herrschte eine feuchte Wärme, wie in einem Badezimmer. Das Tageslicht, das durch
zwei runde Dachfenster hereindrang, durchquerte mit zwei blassen Strahlen das Dunkel unter der Decke, ohne die finsteren Ecken auf dem Boden zu erhellen. Clorinde, die Augen noch angefüllt mit dem hellen Licht draußen, konnte zunächst nichts erkennen; doch sie wartete, sie machte die Tür nicht wieder auf, um nicht ängstlich zu erscheinen. Nur zwei der Boxen waren besetzt. Die Pferde wandten den Kopf und schnoben. »Dieses hier ist es, nicht wahr?« fragte sie, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Mir scheint, es sieht sehr gut aus.« Sie klopfte dem Pferd leicht auf die Kruppe. Dann glitt sie in die Box und fuhr ihm, ohne die geringste Furcht zu zeigen, streichelnd über die Flanken. Sie sagte, sie möchte gern seinen Kopf sehen. Und als sie ganz hinten war, hörte Rougon, wie sie dem Tier stürmische Küsse auf die Nüstern gab. Diese Küsse brachten ihn außer sich.
»Kommen Sie heraus, ich bitte Sie«, rief er. »Wenn er sich zur Seite wirft, zerquetscht er Sie.« Aber sie lachte, küßte das Pferd heftiger, sprach in sehr liebevollen Worten zu ihm, indes das Tier, wie entzückt von diesem Regen unverhoffter Zärtlichkeiten, von Schauern überrieselt wurde, die über sein seidiges Fell liefen. Endlich kam sie wieder zum Vorschein. Sie sagte, sie liebe Pferde leidenschaftlich, die kennten sie gut und täten ihr niemals etwas zuleide, selbst dann nicht, wenn sie sie necke. Sie wisse, wie man mit ihnen umgehen müsse. Es seien sehr kitzlige Tiere. Dieses scheine ein gutmütiges Geschöpf zu sein. Und sie hockte sich hinter ihm nieder, hob mit beiden Händen einen seiner Füße an, um sich genau den Huf zu betrachten. Das Pferd ließ es geschehen. Rougon stand da und betrachtete sie, wie sie so vor ihm auf der Erde kauerte. In dem riesigen Haufen ihrer Röcke blähte sich der
Stoff über ihren Hüften, wenn sie sich vorbeugte. Er sagte nichts mehr, denn das Herz schlug ihm bis zum Hals, auf einmal hatte ihn die Schüchternheit des Rohlings erfaßt. Dennoch beugte er sich schließlich hinab. Da spürte sie eine leise Berührung unter den Achseln, aber so leicht, daß sie fortfuhr, den Huf des Pferdes zu untersuchen. Rougon holte Atem, streckte plötzlich die Hände weiter vor. Und als sei sie darauf gefaßt gewesen, zuckte sie nicht. Sie ließ nur den Huf los, sagte, ohne sich umzudrehen: »Was haben Sie denn? Was fällt Ihnen ein?« Er wollte sie um die Taille fassen, aber sie klopfte ihm auf die Finger, während sie hinzufügte: »Nein, keine Fingerspiele bitte! Ich bin wie die Pferde; ich bin kitzlig ... Sie sind komisch!« Sie lachte, schien nichts zu begreifen. Als Rougons Atem ihr warm in den Nacken wehte, stand sie mit der kraftvollen Elastizität einer
stählernen Feder auf; sie entschlüpfte, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer gegenüber den Boxen. Er folgte ihr mit vorgestreckten Händen, versuchte von ihr zu erhaschen, was er konnte. Aber sie schuf sich einen Schild aus der Schleppe ihres Reitkleides, die sie über dem linken Arm trug, indes ihre erhobene Rechte die Peitsche hielt. Er, dessen Lippen zitterten, sprach kein Wort. Sie hingegen, die sehr vergnügt war, redete immerzu. »Sie werden mich nicht anrühren, hören Sie!« sagte sie. »Ich habe, als ich noch jung war, Fechtunterricht genommen. Es tut mir sogar leid, daß ich das nicht fortgesetzt habe ... Nehmen Sie Ihre Finger in acht! Da! Hab ich's Ihnen nicht gesagt!« Sie schien zu spielen. Sie schlug nicht stark zu, ergötzte sich nur damit, ihm eins über die Haut zu ziehen, sooft er sich mit den Händen vorwagte. Und sie war so flink im Gegenangriff, daß er nicht einmal mehr bis an
ihr Kleid gelangen konnte. Zuerst hatte er sie bei den Schultern packen wollen; doch nachdem er zweimal von der Peitsche getroffen worden war, hatte er einen Angriff auf ihre Taille gemacht; dann, abermals getroffen, hatte er sich hinterlistig bis zu ihren Knien hinabgebeugt, jedoch nicht schnell genug, um einem Regen kleiner Schläge zu entgehen, unter dem er sich wieder aufrichten mußte. Es hagelte Schläge von rechts, von links, deren leichtes Klatschen man hörte. Von Schlägen überschüttet, wich Rougon mit brennender Haut einen Augenblick zurück. Er war jetzt hochrot, und Schweißtropfen begannen an seinen Schläfen zu perlen. Der scharfe Stallgeruch benebelte ihn; das von tierischer Ausdünstung warme Dunkel ermutigte ihn, alles zu wagen. Nun änderte sich das Spiel. Er stürzte sich mit jähen Sprüngen roh auf Clorinde. Und sie, die noch
immer nicht aufhörte zu lachen und zu plaudern, verzettelte ihre Peitschenhiebe nicht mehr in freundschaftlichen Klapsen, sie schlug hart zu, jeweils nur einmal, immer kräftiger. Sie war schön so; den Rock eng um die Beine gerafft, glich sie mit dem geschmeidigen Leib und dem dicht anliegenden Oberteil ihres Kleides einer behenden Schlange von tiefdunklem Blau. Wenn ihr Arm durch die Luft fuhr, war die Linie ihres ein wenig hintenübergebogenen Halses von großem Reiz. »Nun, ist es jetzt zu Ende?« fragte sie lachend. »Sie werden es als erster satt bekommen, mein Lieber.« Aber das waren die letzten Worte, die sie sprach. Rougon, außer sich, erschreckend, das Gesicht purpurrot, stürzte sich mit dem keuchenden Schnauben eines ausgebrochenen Stiers auf sie. Sie selber, froh, auf diesen Mann einzuschlagen, hatte ein Funkeln
aufflammender Grausamkeit in den Augen. Jetzt ebenfalls stumm, löste sie sich von der Mauer und schritt stolz bis zur Mitte des Stalles vor; und sie drehte sich um sich selber, vervielfältigte die Schläge, hielt ihn sich damit vom Leibe, traf ihn an Beinen und Armen, am Rumpf und an den Schultern, während er, benommen, riesengroß, wie ein Tier unter der Peitsche des Bändigers tanzte. Sie schlug von oben herab, als sei sie größer geworden, hochmütig, mit bleichen Wangen, auf den Lippen ein nervöses Lächeln festhaltend. Dennoch drängte er sie, ohne daß sie es bemerkte, nach hinten, auf eine Tür zu, die in einen zweiten Raum führte, wo ein Vorrat von Stroh und Heu aufbewahrt wurde. Dann, als sie ihre Reitpeitsche verteidigte, deren er sich bemächtigen zu wollen schien, packte er sie, ungeachtet der Schläge, um die Hüften und warf sie mit einem solchen Schwung durch die Tür auf das Stroh, daß er neben sie fiel. Sie stieß keinen Schrei aus. Weit ausholend, zog
sie ihm aus allen Kräften einen Peitschenhieb übers Gesicht, von einem Ohr zum andern. »Dirne!« schrie er. Und er stieß fluchend, hustend, dem Ersticken nahe, unflätige Worte aus. Er duzte sie, hielt ihr vor, sie habe mit aller Welt geschlafen, mit dem Kutscher, dem Bankier, mit Pozzo. Dann fragte er: »Warum wollen Sie nicht mit mir?« Sie würdigte ihn keiner Antwort: Regungslos, das Gesicht völlig weiß, stand sie in der hoheitsvollen Ruhe einer Statue da. »Weshalb wollen Sie nicht?« wiederholte er. »Sie haben mich doch Ihre nackten Arme fassen lassen ... Sagen Sie mir nur, weshalb Sie nicht wollen?« Sie blieb ernst, erhaben über die Beleidigung, die Augen abgewandt. »Darum«, erwiderte sie endlich. Und nach einer Pause sah sie ihn an und sagte:
»Heiraten Sie mich ... Nachher alles, was Sie wünschen.« Er lachte gezwungen, ein dummes und verletzendes Lachen, das er mit einer verneinenden Kopfbewegung begleitete. »Dann niemals!« rief sie aus. »Verstehen Sie? Niemals, niemals!« Ohne ein weiteres Wort kehrten sie in den Stall zurück. Die Pferde in ihren Boxen wandten den Kopf, schnoben heftiger, unruhig geworden durch den Kampflärm, den sie hinter sich gehört hatten. Die Sonne hatte gerade die beiden Dachfenster erreicht, zwei gelbe Strahlen sprenkelten das Dunkel mit einem flimmernden Staub, und das Pflaster dampfte, wo die Strahlen es trafen, einen noch stärkeren Geruch aus. Clorinde jedoch war in aller Ruhe, die Peitsche unter dem Arm, wieder zu Monarque geglitten. Sie drückte ihm zwei Küsse auf die Nüstern und sagte dabei: »Leb wohl, mein Guter, du bist vernünftig!«
Rougon, erschöpft und beschämt, empfand eine große Ruhe. Der letzte Peitschenhieb hatte gewissermaßen sein fleischliches Verlangen befriedigt. Mit noch immer zitternden Händen knüpfte er seine Krawatte neu, fühlte nach, ob sein Rock ordentlich zugeknöpft sei. Dann ertappte er sich dabei, wie er von dem Reitkleid des jungen Mädchens sorgfältig die paar Strohhälmchen ablas, die daran haftengeblieben waren. Jetzt veranlaßte ihn die Befürchtung, hier mit ihr angetroffen zu werden, die Ohren zu spitzen. Als sei nichts Ungewöhnliches zwischen ihnen geschehen, ließ sie ihn ohne die geringste Angst sich um ihren Rock bemühen. Sie bat ihn, die Tür zu öffnen, er gehorchte. Im Garten gingen sie ganz langsam. Rougon, der ein leichtes Brennen auf der linken Backe spürte, betupfte sich mit seinem Taschentuch. An der Schwelle des Arbeitszimmers galt Clorindes erster Blick der Uhr.
»Das macht zweiunddreißig Lose«, sagte sie lächelnd. Da er sie überrascht ansah, lachte sie lauter, fügte hinzu: »Schicken Sie mich schnell weg, der Zeiger rückt vor. Schon fängt die dreiunddreißigste Minute an ... Hier, ich lege die Lose auf Ihren Schreibtisch.« Ohne zu zögern, gab er dreihundertzwanzig Francs. Seine Finger bebten nur leicht beim Aufzählen der Goldstücke; es war eine Strafe, die er sich auferlegte. Begeistert von der Art, wie er eine solche Summe hergab, trat sie mit einer köstlich lässigen Geste auf ihn zu. Sie hielt ihm die Wange hin. Und als er einen väterlichen Kuß daraufgedrückt hatte, ging sie mit entzücktem Gesicht fort mit den Worten: »Dank im Namen dieser armen Mädchen ... Ich muß nur noch sieben Lose unterbringen. Die wird der Pate nehmen.« Sobald Rougon allein war, setzte er sich mechanisch wieder an den Schreibtisch. Er
nahm seine unterbrochene Arbeit wieder auf, schrieb einige Minuten lang, wobei er mit großer Aufmerksamkeit die vor ihm ausgebreiteten Dokumente zu Rate zog. Dann blieb er müßig sitzen, die Feder in der Hand, das Gesicht ernst, und schaute durch das offene Fenster in den Garten hinaus, ohne etwas zu sehen. Was er an diesem Fenster erblickte, war die schmale Silhouette Clorindes, die sich mit der weichen Wollust einer bläulichen Natter wiegte, zusammenwickelte, wieder entrollte. Sie schlängelte sich heran, sie kam herein. Und mitten im Zimmer reckte sie sich mit bebenden Hüften auf der lebendig gewordenen Schleppe ihres Kleides auf, indes sich ihre Arme durch ein endloses Gleiten geschmeidiger Ringe bis zu ihm hin verlängerten. Nach und nach nahmen Teile ihrer Gestalt von dem ganzen Raum Besitz, wälzten sich überall, auf dem Teppich, den Sesseln, an der Wandbespannung entlang,
stumm, leidenschaftlich. Ein scharfer Geruch strömte von ihr aus. Da warf Rougon heftig seine Feder hin, verließ voll Zorn den Schreibtisch, preßte die Hände ineinander, daß die Finger knackten. Wollte sie ihn jetzt am Arbeiten hindern? Wurde er verrückt, daß er Dinge sah, die nicht da waren, er, dessen Kopf so zuverlässig war? Er erinnerte sich an eine Frau aus früherer Zeit, als er Student war, neben der er ganze Nächte hindurch geschrieben hatte, ohne auch nur ihren leisen Atem zu hören. Er zog den Vorhang in die Höhe, öffnete das zweite Fenster, stellte Durchzug her, indem er unbeherrscht eine Tür am anderen Ende des Zimmers aufriß, als sei er dem Ersticken nahe. Und mit einer gereizten Bewegung, mit der er etwa eine gefährliche Wespe verjagt haben würde, fing er an, den Geruch Clorindes mit dem Taschentuch fortzuwedeln. Als er ihn nicht mehr spürte, atmete er geräuschvoll und fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht,
um die Hitze wegzuwischen, die dieses große Mädchen darauf hervorgerufen hatte. Er vermochte jedoch nicht, an der begonnenen Seite weiterzuarbeiten. Mit langsamen Schritten wanderte er von einem Ende des Zimmers zum anderen. Als er sich in einem Spiegel betrachtete, sah er etwas Rotes auf seiner linken Backe. Er ging näher heran, musterte sich genau. Die Reitpeitsche hatte dort nur eine leichte Schramme hinterlassen. Das würde er mit irgendeinem Unfall erklären können. Aber wenn auch auf der Haut kaum eine dünne rote Linie zurückgeblieben war, fühlte er doch von neuem im Fleisch tief das glühende Brandmal des Peitschenhiebs, der sein Gesicht getroffen hatte. Er lief in einen hinter einer Portiere eingerichteten Ankleideraum und tauchte den Kopf in eine Schüssel Wasser; das verschaffte ihm große Erleichterung. Er befürchtete, dieser Peitschenhieb könnte sein Begehren nach Clorinde noch verstärken. Er hatte Angst, an
sie zu denken, solange die kleine Schramme auf seiner Backe noch nicht geheilt sein würde. Die Glut, die ihm diese Stelle erhitzte, drang in seine Glieder hinab. »Nein, ich will nicht!« sagte er ganz laut, als er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte. »Das ist letztlich blödsinnig!« Er hatte sich mit geballten Fäusten auf das Kanapee gesetzt. Ein Bedienter kam, um ihn darauf aufmerksam zu machen, daß das Frühstück kalt werde, vermochte ihn damit aber nicht dieser Versunkenheit eines Kämpfers zu entreißen, der mit sich selber ringt. Sein hartes Gesicht schwoll vor innerer Anstrengung; sein Stiernacken zersprang fast, seine Muskeln spannten sich, als sei er im Begriff, ohne einen Schrei in seinem Innersten ein Tier zu ersticken, das ihn zerfleischte. Dieser Kampf dauerte volle zehn Minuten. Er entsann sich nicht, jemals so viel Kraft verausgabt zu haben. Bleich, mit Schweiß im
Nacken ging er daraus hervor. Zwei Tage lang empfing Rougon niemanden. Er hatte sich in eine umfangreiche Arbeit gestürzt. Eine ganze Nacht lang blieb er auf. Dreimal noch überraschte ihn sein Diener dabei, daß er wie stumpfsinnig, mit erschreckendem Gesicht auf dem Kanapee lag. Am Abend des zweiten Tages kleidete er sich an, um zu Delestang zu gehen, wo er zum Diner gebeten war. Aber statt die ChampsElysées zu überqueren, ging er die Avenue hinauf und betrat das Palais Balbi. Es war erst sechs Uhr. »Das Fräulein ist nicht zu Hause«, sagte die kleine Dienerin Antonia, die ihn mit dem ihr eigenen Meckern einer schwarzen Ziege im Treppenhaus anhielt. Er hob die Stimme, damit man ihn hörte, und er war noch unschlüssig, ob er sich zurückziehen solle, als Clorinde oben erschien und sich über das Geländer beugte.
»Kommen Sie doch herauf«, rief sie. »Wie dumm das Mädchen ist! Nie versteht sie die Befehle, die man ihr gibt.« Im ersten Stock ließ sie ihn in einen schmalen Raum neben ihrem Schlafzimmer eintreten. Es war ein Ankleidezimmer mit einer Tapete mit zartblauen Ranken, das sie mit einem großen, gegen die Wand gestützten Mahagonischreibtisch, dessen Politur stumpf geworden war, einem Ledersessel und einem Gestell mit Pappschubfächern ausgestattet hatte. Unter einer dicken Staubschicht lagen überall Schriftstücke herum. Man hätte meinen können, bei einem zweifelhaften Gerichtsvollzieher zu sein. Sie mußte einen Stuhl aus ihrem Schlafzimmer holen. »Ich habe Sie erwartet«, rief sie aus jenem Zimmer herüber. Nachdem sie den Stuhl gebracht hatte, erklärte sie, daß sie gerade ihre Korrespondenz erledige. Sie zeigte auf große, mit einer
kräftigen runden Schrift bedeckte Bogen gelblichen Papiers auf ihrem Schreibtisch. Und als sich Rougon setzte, bemerkte sie, daß er im Frack war. »Kommen Sie, um um meine Hand zu bitten?« fragte sie heiter. »Ganz richtig!« erwiderte er. Dann sagte er lächelnd: »Nicht für mich, für einen meiner Freunde.« Sie sah ihn unsicher an, weil sie nicht wußte, ob er scherzte. Sie war ungekämmt, schmutzig, in einem schlecht geschlossenen roten Hauskleid und trotz alldem schön, von der wirkungsvollen Schönheit eines antiken Marmorbildes, das lange im Laden einer Trödlerin herumgestanden hat. Und an einem ihrer Finger lutschend, auf den sie sich soeben einen Tintenfleck gemacht hatte, vergaß sie sich so weit, aufmerksam die leichte Schramme zu betrachten, die noch auf
Rougons linker Backe sichtbar war. Schließlich wiederholte sie halblaut, mit zerstreuter Miene: »Ich war überzeugt, daß Sie kommen würden. Nur hatte ich Sie früher erwartet.« Und ganz laut fügte sie, sich erinnernd und das Gespräch fortsetzend, hinzu: »Dann ist's also für einen Ihrer Freunde, Ihren besten Freund zweifellos.« Ihr schönes Lachen klang auf. Sie war jetzt überzeugt, daß Rougon von sich spräche. Sie verspürte Lust, die Narbe mit dem Finger zu berühren und sich zu vergewissern, daß sie ihn gezeichnet hatte, daß er von nun an ihr gehörte. Doch Rougon faßte sie bei den Handgelenken, drückte sie sanft in den Ledersessel. »Plaudern wir, wollen Sie?« sagte er. »Wir sind zwei gute Kameraden, na, ist Ihnen das recht? – Nun gut, ich habe seit vorgestern viel nachgedacht. Die ganze Zeit über dachte ich an Sie ... Ich stellte mir vor, wir seien verheiratet, lebten seit drei Monaten zusammen. Und wissen Sie nicht, womit ich
uns beide beschäftigt sah?« Sie antwortete nicht, ein wenig befangen trotz ihrer großen Selbstsicherheit. »Ich sah uns beide vor dem Kamin. Sie hatten die Schaufel ergriffen, ich hatte mich der Zange bemächtigt, und wir schlugen einander halbtot.« Das kam ihr so drollig vor, daß sie sich, von toller Heiterkeit gepackt, zurückwarf. »Nein, lachen Sie nicht, das ist kein Scherz«, fuhr er fort. »Es lohnt sich nicht, ein gemeinsames Leben zu beginnen, um sich gegenseitig totzuschlagen. Ich versichere Ihnen, daß es so kommen würde. Ohrfeigen, dann eine Scheidung ... Merken Sie sich dies gut: Man soll niemals versuchen, zwei Menschen mit starkem Willen zusammenzuspannen.« »Also?« fragte sie, sehr ernst geworden.
»Also denke ich, daß wir sehr klug daran tun werden, uns fest die Hand zu geben und für einander nichts als gute Freundschaft zu hegen.« Sie verharrte schweigend und sah ihm mit ihrem großen dunklen Blick fest in die Augen. Eine schreckliche Falte furchte ihre Stirn, die Stirn einer beleidigten Göttin. Ihre Lippen zitterten leicht in einem lautlosen verächtlichen Stammeln. »Sie erlauben wohl?« sagte sie. Und den Sessel wieder an den Schreibtisch rückend, begann sie ihre Briefe zu falten. Sie bediente sich großer grauer Umschläge, wie man sie bei Behörden zu benutzen pflegt, und versiegelte sie. Sie hatte eine Kerze angesteckt und sah zu, wie der Siegellack flammte. Rougon wartete ruhig darauf, daß sie damit fertig würde. »Sind Sie deshalb gekommen?« fing sie
schließlich an, unterbrechen.
ohne
ihre
Tätigkeit
zu
Jetzt antwortete er seinerseits nicht. Er wollte sie von vorn sehen. Als sie sich entschloß, ihren Sessel wieder umzudrehen, lächelte er sie an und versuchte, dabei ihren Augen zu begegnen; dann küßte er ihr die Hand, als wünsche er sehr, sie zu entwaffnen. Sie bewahrte ihre hochmütige Kälte. »Sie wissen genau«, sagte er, »daß ich hier bin, um für einen meiner Freunde um Sie anzuhalten.« Er sprach lange. Er liebe sie viel mehr, als sie glaube; er liebe sie vor allem, weil sie klug und stark sei. Es falle ihm schwer, auf sie zu verzichten; aber er bringe seine Leidenschaft ihrer beider Glück zum Opfer. Er wolle, daß sie in ihrem Hause Königin sei. Er sehe sie mit einem sehr reichen Mann vermählt, den sie nach ihrem Belieben lenken könne, und sie werde herrschen, sie brauche ihre
Persönlichkeit nicht aufzugeben. Sei das nicht mehr wert, als einander zu lähmen? Sie seien die Leute dazu, sich solche Wahrheiten ins Gesicht zu sagen. Zuletzt nannte er sie sein Kind. Sie sei seine lasterhafte Tochter, ein Geschöpf, an dessen Ränkesucht er seine Freude habe, und es würde ihn wirklich betrüben, wenn er sehen müßte, daß sie verkümmere. »Ist das alles?« fragte sie, als er schwieg. Sie hatte ihm mit der größten Aufmerksamkeit zugehört. Und den Blick zu ihm aufhebend, sagte sie: »Wenn Sie mich verheiraten wollen, um mich zu besitzen, so gebe ich Ihnen zu bedenken, daß Sie sich verrechnen ... Ich habe gesagt, niemals!« »Was für ein Einfall!« rief er leicht errötend aus. Er hustete und nahm ein auf dem Schreibtisch liegendes Papiermesser in die Hand, dessen
Griff er eingehend betrachtete, um seine Verwirrung vor ihr zu verbergen. Sie aber überlegte, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. »Und wer ist der Gatte?« fragte sie halblaut. »Erraten Sie es nicht?« Sie fand zu einem matten Lächeln zurück, klopfte mit den Fingern auf den Schreibtisch, zuckte mit den Achseln. Sie wußte genau, wen er meinte. »Er ist so dumm«, sagte sie leise. Rougon verteidigte Delestang. Er sei ein sehr wohlerzogener Mann, aus dem sie alles machen werde, was sie wolle. Er teilte ihr Näheres über seine Gesundheit, sein Vermögen, seine Gewohnheiten mit. Zudem verpflichtete er sich selber, ihnen, ihr sowohl wie ihm, mit seinem ganzen Einfluß zu Diensten zu stehen, wenn er jemals wieder zur Macht gelange. Delestang besitze vielleicht
keinen überragenden Verstand, aber er werde in keiner Lage falsch am Platze sein. »Oh, er erfüllt das Programm, das gebe ich Ihnen zu«, sagte sie mit freimütigem Lachen. Dann, nach einer abermaligen Pause: »Mein Gott, ich sage nicht nein, vielleicht haben Sie recht ... Herr Delestang mißfällt mir nicht.« Bei diesen letzten Worten blickte sie ihn an. Sie glaubte wiederholt bemerkt zu haben, daß er auf Delestang eifersüchtig sei. Aber sie sah kein Fältchen in seinem Gesicht zucken. Seine Fäuste waren tatsächlich groß genug gewesen, um in zwei Tagen die Begierde zu töten. Er schien sogar von dem Erfolg seines Schrittes entzückt zu sein; und er fing wieder an, die Vorzüge einer solchen Heirat vor ihr auszubreiten, als behandle er wie ein durchtriebener Anwalt eine für sie besonders günstige Angelegenheit. Er hatte ihre Hände ergriffen, tätschelte sie höchst freundschaftlich
in der Art eines glücklichen Mitverschworenen und wiederholte: »Das ist mir heute nacht eingefallen. Sofort dachte ich: So sind wir gerettet! – Ich will nicht, daß Sie ledig bleiben! Sie sind die einzige Frau, die mir einen Gatten verdient zu haben scheint. Durch Delestang kommt die Sache in Ordnung. Bei Delestang behalten wir freie Hand.« Und heiter fügte er hinzu: »Ich habe das sichere Gefühl, daß Sie mich belohnen werden, indem Sie mich später an außerordentlichen Dingen teilnehmen lassen.« »Kennt Herr Delestang Ihre Pläne?« fragte sie. Er schwieg einen Augenblick lang überrascht, als habe sie da ein Wort fallen lassen, das er von ihr nicht erwartete; dann erwiderte er in aller Ruhe: »Nein, das ist unnötig. Man wird ihm das später erklären.« Sie hatte seit einem Weilchen wieder angefangen, ihre Briefe zu kuvertieren.
Nachdem sie ein großes Petschaft ohne Initialen auf den Siegellack gedrückt hatte, drehte sie den Umschlag um, schrieb mit ihrer großen Schrift langsam die Adresse. Rougon versuchte so, wie sie nach und nach die Briefe auf die rechte Seite legte, die Aufschriften zu lesen. Zum größten Teil waren es Namen sehr bekannter italienischer Politiker. Sie mußte seine ungehörige Wißbegierde bemerkt haben, denn als sie aufstand und ihre Briefe hinausbrachte, um sie zur Post tragen zu lassen, sagte sie: »Wenn Mama ihre Migräne hat, schreibe ich nach dort unten.« Alleingeblieben ging Rougon in dem kleinen Raum umher. Auf den Pappschubfächern las er wie bei Geschäftsleuten: »Quittungen« – »Abzulegende Briefe« – »Akten A«. Er lächelte, als er inmitten des Papierwusts auf dem Schreibtisch ein verschlissenes, in der Taille aufgeplatztes Korsett liegen sah. Außerdem fanden sich in der Schale des Tintenfasses ein Stück Seife und auf dem
Fußboden blaue Atlasschnipsel, Abfälle vom Ausbessern irgendeines Kleiderrocks, die man vergessen hatte wegzufegen. Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt breit offen, und er war neugierig genug, einen langen Hals zu machen; aber die Sommerläden waren geschlossen, und es war so finster darin, daß er lediglich den großen Schatten der Bettvorhänge gewahrte. Clorinde kam wieder herein. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Ich esse heute abend bei unserem Mann. Geben Sie mir Handlungsfreiheit?« Sie antwortete nicht. Sie kehrte ganz trübsinnig zurück, so als habe sie auf der Treppe neue Überlegungen angestellt. Er hatte bereits die Hand am Geländer, doch sie holte ihn zurück, stieß die Tür wieder zu. Mit ihm entschwand ihr Traum, eine so kunstvoll der Erfüllung entgegengeführte Hoffnung, daß sie sie eine Stunde zuvor noch für eine Gewißheit
gehalten hatte. Das ganze Brennen einer tödlichen Beleidigung stieg ihr in die Wangen. Ihr war, als habe man sie geohrfeigt. »Es ist Ihnen also Ernst?« fragte sie, sich gegen das Licht stellend, damit er die Röte ihres Gesichts nicht bemerke. Und als er seine Argumente zum drittenmal vorgebracht hatte, schwieg sie. Sie fürchtete, falls sie sich auf ein Gespräch darüber einließe, in rasenden Zorn zu geraten, dessen Knirschen sie schon im Genick spürte. Sie hatte Angst, sie könnte Rougon schlagen. Dann verlor sie bei diesem Zusammenbruch eines Daseins, das sie sich bereits zurechtgelegt hatte, den klaren Blick für die Dinge, sie wich bis an die Tür des Schlafzimmers zurück, nahe daran, dort einzutreten, Rougon an sich zu ziehen und ihm zuzurufen: Hier, nimm mich, ich habe Vertrauen, ich werde dann später nur deine Frau, wenn du es willst. Rougon, der noch
immer sprach, verstand plötzlich; sehr bleich geworden, verstummte er. Und sie sahen einander an. Einen Augenblick lang zitterten beide unschlüssig. Er sah wieder seitwärts das Bett mit dem großen Schatten der Vorhänge. Sie berechnete bereits die Folgen ihrer Großmut. Es war auf beiden Seiten ein Sichgehenlassen, das nur eine Minute währte. »Wünschen Sie diese Heirat?« fragte sie langsam. Er zögerte nicht, er antwortete, die Stimme hebend: »Ja.« – »Nun gut, bewerkstelligen Sie sie.« Und beide gingen mit langsamen Schritten wieder zur Tür, traten mit völlig ruhiger Miene auf den Treppenabsatz hinaus. Rougon standen nur noch die paar Schweißtropfen, die ihn soeben sein letzter Sieg gekostet hatte, an den Schläfen. Clorinde richtete sich in der Gewißheit ihrer Stärke hoch auf. Einen Augenblick lang blieben sie, einander
zugewandt, schweigend stehen, sie hatten sich nichts mehr zu sagen und konnten sich dennoch nicht trennen. Als er sich schließlich mit einem Handschlag von ihr verabschiedete, hielt sie ihn durch einen kurzen Druck zurück, sagte ohne jeden Zorn zu ihm: »Sie glauben stärker zu sein als ich ... Sie irren sich ... Eines Tages werden Sie vielleicht bereuen.« Sie drohte ihm nicht weiter. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer, um ihn hinuntergehen zu sehen. Als er unten angelangt war, hob er den Kopf, und sie lächelten einander zu. Sie hatte keine kindischen Rachegefühle, sie träumte bereits davon, ihn durch irgendeinen glänzenden Sieg zu zerschmettern. Als sie in das kleine Zimmer zurückkehrte, überraschte sie sich dabei, wie sie halblaut sagte: »Ach, macht nichts! Alle Wege führen nach Rom.« Schon an diesem Abend begann Rougon, das Herz Delestangs zu belagern. Er berichtete
ihm von sehr schmeichelhaften Äußerungen, die Fräulein Balbi angeblich beim Bankett im Hôtel de Ville57 am Tage der Taufe in bezug auf Delestang getan hatte. Und von dieser Stunde an wurde er es nicht müde, den ehemaligen Anwalt von der außerordentlichen Schönheit des jungen Mädchens zu unterhalten. Er, der ihm früher so oft geraten hatte, vor den Frauen auf der Hut zu sein, versuchte, ihn dieser einen an Händen und Füßen gebunden auszuliefern. An einem Tag rühmte er ihre herrlichen Hände; an einem anderen sang er ein Lob auf ihren Wuchs und sprach mit herausfordernder Unverhohlenheit darüber. Der leicht entflammbare Delestang, dessen Herz bereits von Clorinde erfüllt war, loderte bald in rasender Leidenschaft. Nachdem ihm Rougon versichert hatte, daß er niemals an sie gedacht habe, gestand jener ihm, er liebe sie seit einem halben Jahr, habe aber aus Angst, ihm ins Gehege zu kommen, geschwiegen. Jetzt begab er sich jeden Abend
in die Rue Marbeuf, um von ihr zu plaudern. Es war, als sei er von einer Verschwörung umgeben; er traf niemanden mehr, ohne ein begeistertes Loblied auf den Gegenstand seiner Anbetung zu hören; sogar die Charbonnels hielten ihn eines Vormittags mitten auf dem Place de la Concorde an, um sich des langen und breiten aufs höchste über diese schöne junge Dame, mit der man ihn überall sehe, zu begeistern. Clorinde ihrerseits fand ein bezauberndes Lächeln. Sie hatte sich wieder einen Daseinsplan gemacht und sich in wenigen Tagen an ihre neue Rolle gewöhnt. Mit der Taktik eines Genies verführte sie den ehemaligen Anwalt nicht mit der ungeschminkten Freimütigkeit, mit der sie es noch vor kurzem bei Rougon versucht hatte. Sie verwandelte sich, stellte sich schmachtend, trug die ängstliche Scheu eines unschuldigen jungen Mädchens zur Schau, behauptete, sie sei so empfindlich, daß sie von einem zu
zärtlichen Händedruck Nervenzustände bekomme. Als Delestang Rougon erzählte, daß sie in seinen Armen bewußtlos geworden sei, weil er es gewagt hatte, ihr Handgelenk zu küssen, wollte dieser darin einen Beweis großer seelischer Reinheit erblicken. Da sich die Dinge aber zu langsam entwickelten, gab sich Clorinde Delestang an einem Juliabend in einem ihrer Anfälle schülerinnenhafter Hilflosigkeit hin. Er war von diesem Sieg verwirrt, um so mehr, als er glaubte, nichtswürdigerweise eine Ohnmacht des jungen Mädchens ausgenutzt zu haben: sie war wie tot liegengeblieben, sie schien sich an nichts zu erinnern. Wenn er eine Entschuldigung vorzubringen versuchte oder eine Vertraulichkeit wagte, sah sie ihn mit solcher Arglosigkeit an, daß er, von Reue und Begierde zerfleischt, zu stottern anfing. Deshalb dachte er nach diesem Vorfall ernstlich daran, sie zu heiraten. Er sah darin ein Mittel, sein gemeines Vorgehen
wiedergutzumachen; noch mehr aber sah er darin eine Möglichkeit, rechtmäßig das geraubte Glück zu besitzen, dieses Glück einer Minute, dessen Erinnerung ihn brannte und das jemals auf andere Weise wiederzuerlangen er keine Hoffnung hatte. Acht Tage lang jedoch zögerte Delestang noch. Er kam zu Rougon, sich Rat zu holen. Als letzterer begriff, was geschehen war, saß er einen Augenblick mit gesenktem Kopf da, um die ganze Abgründigkeit der Frau auszuloten, den langen Widerstand, den Clorinde ihm entgegengesetzt hatte, und nun ihren plötzlichen Sündenfall in den Armen dieses Dummkopfs. Er sah die tiefen Ursachen ihres zwiefältigen Verhaltens nicht. In seiner Sinnlichkeit verwundet, von einem Verlangen nach Brutalität gepackt, war er einen Moment lang nahe daran, in einer Flut von Beschimpfungen alles zu erzählen. Übrigens stritt Delestang als Ehrenmann auf die unzarten Fragen, die jener ihm stellte, jeden
Verkehr ab. Und das genügte, um Rougon zur Besinnung zu rufen. Er brachte also den ehemaligen Anwalt auf sehr geschickte Weise vollends zu einem Entschluß. Er riet ihm nicht zu dieser Heirat, er veranlaßte ihn dazu durch Überlegungen, die fast nichts mit der Sache zu tun hatten. Was die häßlichen Geschichten anlange, die etwa über Fräulein Balbi im Umlauf seien, so setzten sie ihn in Erstaunen; er glaube nicht daran, er selber habe Erkundigungen eingezogen und nur Ehrenhaftes erfahren. Übrigens solle man die Frau, die man liebe, nicht allzu kritisch betrachten. Das war sein letztes Wort. Sechs Wochen später, beim Verlassen der MadeleineKirche, wo soeben die Eheschließung mit außerordentlichem Gepränge vollzogen worden war, antwortete Rougon einem Abgeordneten, der sich über Delestangs Wahl wunderte: »Was wollen Sie, ich habe ihn hundertmal gewarnt ... Es konnte nicht ausbleiben, daß er von einer Frau
eingewickelt wurde.« Als Delestang und seine Gattin gegen Ende des Winters von einer Italienreise zurückkehrten, erfuhren sie, daß Rougon im Begriff stehe, Fräulein Beulin d'Orchère zu heiraten. Bei einem Besuch in der Rue Marbeuf beglückwünschte ihn Clorinde mit vollendetem Anstand. Er behauptete mit Biedermannsmiene, er tue das für seine Freunde. Seit drei Monaten setze man ihm zu, beweise ihm, daß ein Mann in seiner Stellung verheiratet sein müsse. Er lachte und fügte hinzu, daß, wenn er abends seine Vertrauten bei sich sehe, es nicht einmal eine Frau in seinem Hause gebe, um den Tee zu servieren. »Dann ist Ihnen das also ganz plötzlich eingefallen, Sie hatten früher gar nicht daran gedacht«, sagte Clorinde lächelnd. »Sie hätten gleichzeitig mit uns heiraten sollen. Da wären wir gemeinsam nach Italien gefahren.« Und unter Scherzen fragte sie ihn aus.
Zweifellos habe sein Freund Du Poizat diese glänzende Idee gehabt? Er schwor, so sei es nicht, und erzählte, daß Du Poizat im Gegenteil durchaus gegen diese Heirat sei; der ehemalige Unterpräfekt hege einen Abscheu gegen Herrn Beulind'Orchère. Alle anderen aber, Herr Kahn, Herr Béjuin, Frau Correur, sogar die Charbonnels, wüßten nicht genug von Fräulein Véroniques Vorzügen zu erzählen: sie werde, wenn man jene reden höre, Tugend, Wohlergehen und unvollstellbare Annehmlichkeiten in sein Haus bringen. Er schloß, indem er die Sache ins Komische zog: »Kurz, es ist eine Person, die man eigens für mich geschaffen hat. Ich konnte sie nicht ausschlagen.« Dann fügte er verschmitzt hinzu: »Wenn es im Herbst Krieg gibt, muß man an Verbündete denken.« Clorinde stimmte ihm lebhaft zu. Auch sie sang ein großes Loblied auf Fräulein
Beulind'Orchère, die sie indes nur ein einziges Mal gesehen hatte. Delestang, der sich bis dahin damit begnügt hatte, den Kopf zu schütteln, ohne dabei seine Frau aus den Augen zu lassen, stürzte sich in begeisterte Betrachtungen über die Ehe. Er fing gerade an, die Geschichte seines Glücks zu berichten, als sie sich erhob und davon sprach, daß sie noch einen anderen Besuch machen müßten. Und als Rougon sie hinausgeleitete, hielt sie ihn zurück und ließ ihren Gatten vorausgehen. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie vor Ablauf eines Jahres verheiratet sein würden«, flüsterte sie ihm heimlich ins Ohr.
Kapitel VI Es wurde Sommer. Rougon lebte in völliger Ruhe. Frau Rougon hatte innerhalb von drei Monaten dem Haus in der Rue Marbeuf, das
früher ein Hauch von Abenteuer durchwehte, Ernst und Würde verliehen. Jetzt roch es in den ein wenig kalten, sehr sauberen Räumen nach ehrbarem Leben; die regelmäßig angeordneten Möbel, die Vorhänge, die nur einen schmalen Streifen Tageslicht eindringen ließen, die jedes Geräusch dämpfenden Teppiche schufen dort die fast fromme Strenge eines Empfangsraums in einem Kloster; es schien sogar, als seien diese Gegenstände alt, als trete man in eine ganz von patriarchalischem Wohlgeruch erfüllte Wohnung aus längst vergangener Zeit. Diese häßliche große Frau, die eine ständige Überwachung ausübte, fügte dieser andächtigen Stille die Salbung ihres lautlosen Schritts hinzu; und sie führte den Haushalt mit so behutsamer und leichter Hand, als sei sie in zwanzig Ehejahren an diesem Ort alt geworden. Rougon lächelte, wenn man ihn beglückwünschte. Er behauptete hartnäckig, er
habe sich auf den Rat seiner Freunde und nach deren Wahl verheiratet. Er sei von seiner Frau entzückt; seit langem schon habe er Lust auf eine bürgerliche Häuslichkeit verspürt, die gewissermaßen einen greifbaren Beweis seiner Rechtschaffenheit darstellen würde. Das löse ihn vollends aus seiner verdächtigen Vergangenheit und reihe ihn unter die ehrbaren Leute ein. Er war sehr provinziell geblieben, sein Ideal waren noch immer gewisse protzig reiche Salons in Plassans, deren Sessel das ganze Jahr über in ihren Schutzhüllen aus weißem Leinen steckten. Wenn er zu Delestang ging, wo Clorinde aus einer Laune heraus einen tollen Luxus entfaltete, bezeigte er durch ein leichtes Achselzucken seine Geringschätzung. Nichts kam ihm so lächerlich vor wie das Geld zum Fenster hinauszuwerfen; nicht daß er geizig sei; aber er wiederholte für gewöhnlich, daß er Genüsse kenne, die allen käuflichen vorzuziehen seien. Deshalb habe er die Sorge
um ihr Vermögen auf seine Frau abgewälzt. Er habe bisher gelebt, ohne zu rechnen. Von nun ab verwalte sie das Geld mit der strengen Sorgfalt, die sie ja bereits auf die Führung des Haushalts verwende. Während der ersten Monate schloß sich Rougon ein, sammelte sich und bereitete sich auf die Kämpfe vor, von denen er träumte. Er liebte die Macht um der Macht willen, losgelöst von der Begier nach Eitelkeiten, nach Reichtum, nach Ehren. Von krasser Unwissenheit, von großer Mittelmäßigkeit in allen Dingen, die nichts mit der Führung von Menschen zu tun hatten, wurde er wahrhaft überlegen nur durch sein Herrschbedürfnis. Da strengte er sich gern an, trieb Götzendienst mit seiner Klugheit. Über der Menge stehen, in der er nur Einfältige und Schurken sah, die Menschen mit Knüttelschlägen lenken, das brachte in seinem schwerfälligen Körper einen schlauen Verstand von ungewöhnlicher Spannkraft zur Entfaltung. Er glaubte nur an
sich selber, hatte Überzeugungen, wo andere nur Argumente vorzubringen wissen, ordnete alles der fortgesetzten Ausweitung seiner Persönlichkeit unter. Frei von jeglichem Laster, feierte er im geheimen Orgien der Allmacht. Wenn er mit seinen breiten, plumpen Schultern, seiner teigigen Maske seinem Vater glich, so hatte er von seiner Mutter, jener fürchterlichen Félicité, die Plassans regierte, einen flammenden Willen mitbekommen, eine leidenschaftliche Liebe zur Macht, voll Verachtung für kleine Mittel und kleine Freuden; und er war bestimmt der Bedeutendste der Rougons. Als er nun so allein war, unbeschäftigt nach Jahren eines tätigen Lebens, empfand er zunächst ein köstliches Schlafbedürfnis. Es kam ihm vor, als habe er seit den heißen Tagen von 1851 nicht mehr geschlafen. Daß er in Ungnade gefallen war, nahm er wie einen durch lange Dienste wohlerworbenen Urlaub hin. Er gedachte, sich ein halbes Jahr lang
abseits zu halten, was ihm Zeit genug lassen würde, sich ein besseres Gelände zu suchen und später nach seinem Belieben wieder in die große Schlacht zurückzukehren. Doch nach Verlauf einiger Wochen war ihm die Ruhe bereits über. Noch nie war er sich so deutlich seiner Kraft bewußt gewesen; jetzt, da er Kopf und Glieder nicht mehr beschäftigte, waren sie ihm im Wege; und er brachte seine Tage damit zu, mit entsetzlichem Gähnen hinten in seinem schmalen Garten auf und ab zu wandern, gleich einem jener Löwen im Käfig, die gewaltig ihre eingeschlafenen Glieder recken. Nun begann für ihn ein widerwärtiges Dasein, dessen erdrückende Langeweile er sorgfältig verbarg. Er spielte den guten Kerl, behauptete, er sei sehr froh, aus dem »Schlamassel« heraus zu sein; zuweilen nur hoben sich seine schweren Lider, um heimlich zu beobachten, was geschah, und sanken wieder über die Flamme in seinen Augen herab, sobald man ihn ansah. Was ihn aufrechthielt, war die
Unbeliebtheit, von der er sich umgeben fühlte. Sein Sturz hatte viele überglücklich gemacht. Kein Tag verging, ohne daß ihn eine Zeitung angriff; man personifizierte in ihm den Staatsstreich, die Verfolgungen, all jene Gewaltsamkeiten, von denen man mit verblümten Worten sprach; man ging so weit, den Kaiser dazu zu beglückwünschen, daß er sich von einem Diener getrennt habe, der seinem Ansehen schadete. In den Tuilerien war die Feindseligkeit noch größer: der triumphierende Marsy ließ einen Hagel von Witzen über ihn los, die die Damen von Salon zu Salon trugen. Dieser Haß stärkte ihn, ließ ihn die Menschenherde noch tiefer verachten. Man vergaß ihn nicht, man verabscheute ihn, und das schien ihm gut so. Er allein gegen alle, das war ein Traum, den er hegte und pflegte; er allein, sich mit einer Peitsche die Tölpel vom Leibe haltend. Er berauschte sich an den Beschimpfungen, er wuchs im Stolz seiner Einsamkeit.
Dabei aber lastete der Müßiggang furchtbar auf seinen Kämpfermuskeln. Wenn er es gewagt hätte, würde er zu einem Spaten gegriffen und eine Ecke seines Gartens tief umgegraben haben. Er machte sich an eine langwierige Arbeit, das vergleichende Studium der englischen Verfassung und der kaiserlichen Verfassung von 1852; es ging ihm darum, unter Berücksichtigung der Geschichte und der politischen Gepflogenheiten der beiden Völker zu beweisen, daß in Frankreich die gleiche Freiheit herrsche wie in England. Als er dann die Unterlagen zusammengetragen hatte, als alle dazugehörigen Dokumente vollständig waren, kostete es ihn eine beträchtliche Anstrengung, zur Feder zu greifen; gern hätte er die Sache vor der Kammer vorgetragen; aber den Stoff zu redigieren, eine Arbeit zu schreiben, bei der Sorgfalt auf die Ausdrucksweise verwandt werden mußte, schien ihm ein Werk von ungeheurer Schwierigkeit und ohne
unmittelbaren Nutzen zu sein. Der Stil hatte ihm stets Verlegenheiten bereitet, deshalb hegte er auch eine große Geringschätzung für ihn. Er kam nicht über die zehnte Seite hinaus. Er ließ das begonnene Manuskript übrigens auf seinem Schreibtisch liegen, obwohl er keine zwanzig Zeilen in der Woche hinzufügte. Jedesmal, wenn man ihn fragte, womit er sich beschäftigte, antwortete er, indem er seine Ansichten lang und breit auseinandersetzte und dabei dem Werk eine ungeheure Bedeutung beilegte. Das war die Ausrede, hinter der er die jammervolle Leere seiner Tage verbarg. Die Monate verstrichen; er lächelte mit noch heiterer Gutmütigkeit. Nicht einer seiner Verzweiflungsanfälle, die er unterdrückte, zeigte sich auf seinem Gesicht. Den Klagen seiner nächsten Freunde begegnete er mit Einwänden, die alle darauf hinausliefen, daß er vollkommen glücklich sei. Sei er etwa nicht glücklich? Er liebe das Studium
leidenschaftlich, er arbeite, wie es ihm gerade passe; und das sei der fieberhaften Unruhe der Staatsgeschäfte vorzuziehen. Da der Kaiser seiner nicht bedürfe, tue er gut daran, ihn ruhig in seinem Winkel zu lassen; und er sprach vom Kaiser nur mit der tiefsten Ergebenheit. Oft jedoch erklärte er, er sei bereit, warte nur auf einen Wink seines Herrn, um »die Bürde der Macht« wieder auf sich zu nehmen; aber er fügte hinzu, daß er keinen einzigen Schritt versuchen werde, der einen solchen Wink herausfordern könnte. In der Tat schien er eifersüchtig darauf bedacht zu sein, sich abseits zu halten. In der Stille der ersten Jahre des Kaiserreichs, inmitten dieser seltsamen, aus Schrecken und Müdigkeit erzeugten Erstarrung vernahm er den Anbruch eines dumpfen Erwachens. Und als letzte Hoffnung rechnete er darauf, daß ihn irgendeine Katastrophe plötzlich unentbehrlich machen würde. Er war der Mann für ernste Situationen, »der Mann mit den dicken
Pratzen« nach einem Ausspruch des Herrn de Marsy. Sonntags und donnerstags stand das Haus in der Rue Marbeuf den Vertrauten offen. Man kam und unterhielt sich in dem großen roten Salon bis um halb elf Uhr, der Stunde, zu der Rougon seine Gäste unerbittlich hinaussetzte; er behauptete, das lange Aufbleiben verschleime das Gehirn. Pünktlich um zehn Uhr servierte Frau Rougon als eine auf die kleinsten Einzelheiten aufmerksame Hausfrau persönlich den Tee. Es gab nur zwei Platten mit Petitsfours, die niemand anrührte. An dem Julidonnerstag, der in jenem Jahr auf die allgemeinen Wahlen folgte, fand sich die ganze Clique schon um acht Uhr im Salon vereint. Die Damen – Frau Bouchard, Frau Charbonnel, Frau Correur –, die nahe bei einem geöffneten Fenster saßen, um die in seltenen Stößen aus dem engen Garten heranwehende Luft zu atmen, bildeten einen
Kreis, in dessen Mitte Herr d'Escorailles von seinen Jugendstreichen in Plassans erzählte, wie er, unter dem Vorwand einer Jagdpartie bei einem Freund, zwölf Stunden in Monaco verbracht habe. Frau Rougon, ganz in Schwarz, halb hinter einem Vorhang verborgen, hörte nicht zu, stand leise auf, verschwand für ganze Viertelstunden. Bei den Damen befand sich auch noch, auf der Kante eines Sessels sitzend, Herr Charbonnel, der aufs höchste erstaunt war, einen wohlerzogenen jungen Mann derartige Abenteuer eingestehen zu hören. Im Hintergrund des Raumes stand Clorinde und lauschte zerstreut einer Unterhaltung, die sich zwischen ihrem Gatten und Herrn Béjuin über die Ernte entsponnen hatte. In einem rohseidenen, mit strohgelben Bändern sehr überladenen Kleid klopfte sie mit kleinen Fächerschlägen auf die Innenfläche ihrer linken Hand und blickte dabei starr in die leuchtende Kugel der einzigen Lampe, die den
Salon erhellte. An einem Spieltisch saßen in dem gelblichen Licht der Oberst und Herr Bouchard beim Pikett, während Rougon auf einer Ecke des grünen Bezuges Patience legte, ernst und methodisch endlos die Karten abhebend. Das war sein liebstes Vergnügen an den Sonntagen und Donnerstagen, eine Beschäftigung für seine Finger und seine Gedanken. »Nun, geht es auf?« fragte lächelnd Clorinde, die zu ihm getreten war. »Aber es geht immer auf«, antwortete er ruhig. Sie blieb ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stehen, während er das Spiel Karten in acht Häufchen teilte. Als er alle Karten, jedesmal zwei, abgehoben hatte, meinte sie: »Sie haben recht, sie geht auf ... Woran haben Sie gedacht?« Er aber, langsam den Blick hebend, wie erstaunt über diese Frage, sagte schließlich:
»An das Wetter von morgen.« Und er machte sich wieder daran, die Karten auszulegen. Delestang und Herr Béjuin unterhielten sich nicht mehr miteinander. Ein perlendes Lachen der hübschen Frau Bouchard klang allein im Salon auf. Clorinde trat an eines der Fenster, verweilte dort einen Augenblick, um in die sinkende Nacht zu sehen. Dann fragte sie, ohne sich umzudrehen: »Hat jemand Nachricht von dem armen Herrn Kahn?« »Ich habe einen Brief bekommen«, antwortete Rougon. »Ich erwarte ihn heute abend.« Danach sprach man von Herrn Kahns Mißgeschick. Er war so unvorsichtig gewesen, während der letzten Sitzungsperiode recht heftig einen Gesetzentwurf der Regierung zu kritisieren; dieser Gesetzentwurf, der in einem benachbarten Departement eine gefährliche Konkurrenz schuf, drohte Herrn Kahns
Hochöfen von Bressuire zu ruinieren. Er glaubte die Grenzen der Notwehr nicht überschritten zu haben, hatte jedoch bei seiner Rückkehr in das Departement DeuxSèvres, wo er seine Wahl betreiben wollte, aus dem Munde des Präfekten selber erfahren, daß er nicht mehr Regierungskandidat sei; er sei nicht mehr genehm, der Minister habe einen Anwalt aus Niort empfohlen, einen Mann von großer Mittelmäßigkeit. Das traf ihn wie ein Keulenschlag. Rougon erzählte gerade Einzelheiten, als Herr Kahn in Begleitung von Herrn Du Poizat hereinkam. Beide waren mit dem Siebenuhrzug eingetroffen. Sie hatten sich nur die nötige Zeit zum Essen genommen. »Nun, was halten Sie davon?« sagte Herr Kahn, mitten im Salon stehend, während man ihn umdrängte. »Jetzt bin ich ein Revolutionär!« Du Poizat hatte sich in einen Sessel geworfen,
er sah erschöpft aus. »Ein nettes Manöver«, rief er, »ein netter Schlamassel! Das muß ja alle ehrlichen Leute anwidern!« Aber Herr Kahn mußte die Sache ausführlich erzählen. Als er dort unten angekommen sei, habe er, wie er sagte, schon bei den ersten Besuchen so etwas wie Verlegenheit bei seinen besten Freunden gespürt. Was den Präfekten, Herrn de Langlade, angehe, so sei der ein Mann von lockeren Sitten, den er beschuldigte, sich mit der Frau des Anwalts aus Niort, des neuen Abgeordneten, sehr gut zu stehen. Dennoch habe ihm dieser Langlade auf eine sehr liebenswürdige Art, nämlich bei einer Zigarre beim Nachtisch eines in der Präfektur veranstalteten Frühstücks, beigebracht, daß er in Ungnade gefallen sei. Und er berichtete die Unterhaltung von Anfang bis zu Ende. Das schlimmste sei, daß seine Plakate und Wahlzettel bereits gedruckt
seien. Im ersten Augenblick habe ihn der Zorn derart gewürgt, daß er sich trotz allem habe aufstellen lassen wollen. »Oh, wenn Sie uns nicht geschrieben hätten«, sagte Du Poizat, sich an Rougon wendend, »würden wir der Regierung eine gründliche Lektion erteilt haben!« Rougon zuckte mit den Achseln. Er erwiderte unbekümmert, während er seine Karten mischte: »Sie hätten Schiffbruch erlitten und wären auf immer kompromittiert gewesen. Das wäre was Rechtes!« »Ich weiß nicht, wie Sie gebaut sind!« rief Du Poizat, der plötzlich mit einer wütenden Gebärde aufstand. »Ich erkläre hiermit, daß de Marsy anfängt, mich in Harnisch zu bringen. Sie sind es, den er treffen wollte, als er unseren Freund Kahn schlug ... Haben Sie die Rundschreiben dieses Kerls gelesen? Oh, sauber sind sie, diese Wahlen! Er hat sie mit nichts als Phrasen gemacht ... Lachen Sie doch
nicht! Wenn Sie im Innenministerium gesessen hätten, würden Sie die Sache auf eine andere und viel großzügigere Art geführt haben.« Und als ihn Rougon noch immer lächelnd ansah, fügte er mit noch größerer Heftigkeit hinzu: »Wir sind dort unten gewesen, wir haben alles gesehen ... Es gibt da einen unglücklichen Burschen, einen alten Kameraden von mir, der es gewagt hat, sich als republikanischen Kandidaten aufstellen zu lassen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, was für eine Treibjagd man auf ihn veranstaltet hat. Der Präfekt, die Bürgermeister, die Gendarmen, die ganze Bande ist über ihn hergefallen; man hat seine Plakate zerrissen, seine Wahlzettel in die Gräben geworfen, man hat die paar armen Teufel verhaftet, die beauftragt waren, seine Rundschreiben zu verteilen; sogar seine Tante, eine gleichwohl ehrenwerte Frau, hat ihn bitten lassen, nie wieder den Fuß über ihre
Schwelle zu setzen, weil er sie in Verruf bringe. Und erst die Zeitungen! Darin wurde er als Schuft bezeichnet. Die alten Weiber bekreuzigen sich jetzt, wenn er durch ein Dorf geht.« Er holte geräuschvoll Luft und fing, nachdem er sich abermals in einen Sessel geworfen hatte, wieder an: »Es macht nichts, daß Marsy in allen Departements die Mehrheit gehabt hat, Paris hat nichtsdestoweniger fünf Abgeordnete von der Opposition ernannt ... Das ist das Erwachen. Soll der Kaiser nur die Macht in den Händen dieses großen Gecken von einem Minister und dieser AlkovenPräfekten lassen, die, um ungestört mit den Frauen schlafen zu können, die Ehemänner in die Kammer schicken; in fünf Jahren von jetzt ab wird dem erschütterten Kaiserreich der Zusammenbruch drohen ... Ich bin entzückt von den Pariser Wahlen, ich finde, das rächt uns.« »So,
und
wenn
Sie
Präfekt
gewesen
wären ...?« fragte Rougon auf seine ruhige Art mit so feiner Ironie, daß sie kaum die Winkel seiner dicken Lippen krümmte. Du Poizat entblößte seine unregelmäßig stehenden weißen Zähne. Seine Fäuste, schmächtig wie die eines kranken Kindes, griffen so fest um die Lehne des Sessels, als wolle er sie zerbrechen. »Oh«, murmelte er, »wenn ich Präfekt gewesen wäre ...« Aber er beendete den Satz nicht, er ließ sich gegen die Rücklehne sinken und sagte: »Nein, das ist, kurz gesagt, zum Übelwerden! – Übrigens bin ich ja immer Republikaner gewesen!« Die Damen am Fenster schwiegen unterdessen, das Gesicht dem Innern des Salons zugewandt, um zuzuhören, während Herr d'Escorailles, einen großen Fächer in der Hand, wortlos die hübsche, ganz ermattete
Frau Bouchard fächelte, deren Schläfen feucht waren vom heißen Atem des Gartens. Der Oberst und Herr Bouchard, die gerade eine neue Partie begonnen hatten, unterbrachen zuweilen ihr Spiel, um das, was gesagt wurde, mit Nicken oder Kopfschütteln zu bestätigen oder zu mißbilligen. Um Rougon herum hatte sich ein großer Kreis von Sesseln gebildet: Clorinde, aufmerksam lauschend, das Kinn in die Hand gestützt, wagte sich nicht zu rühren; Delestang, im Geiste mit irgendeiner zärtlichen Erinnerung beschäftigt, lächelte seiner Frau zu; Herr Béjuin, die Hände um die Knie gefaltet, sah mit verstörtem Gesicht der Reihe nach die Herren und die Damen an. Das plötzliche Erscheinen Du Poizats und Herrn Kahns war wie ein wahrer Orkan in die Ruhe des Salons gefahren; sie schienen in den Falten ihrer Anzüge einen Geruch von Opposition mitgebracht zu haben. »Kurz, ich bin Ihrem Rat gefolgt und habe mich zurückgezogen«, sagte Herr Kahn. »Man
hat mich gewarnt, ich würde noch rauher angefaßt werden als der republikanische Kandidat. Ich, der ich dem Kaiserreich mit solcher Ergebenheit gedient habe! Sie müssen zugeben, daß eine derartige Undankbarkeit geeignet ist, die stärksten Seelen mutlos zu machen.« Er beklagte sich bitter über eine Menge Widerwärtigkeiten. Er habe eine Zeitung gründen wollen, um sein Projekt einer Bahnlinie von Niort nach Angers zu unterstützen; später hätte diese Zeitung eine sehr starke finanzielle Waffe in seinen Händen werden sollen; aber man habe ihm soeben die Genehmigung verweigert, weil sich Herr de Marsy einbildete, Rougon stecke hinter ihm und es handle sich um ein Kampfblatt, dazu bestimmt, Breschen in Marsys Ministerstellung zu schießen. »Bei Gott!« sagte Du Poizat, »sie haben Angst, man könnte am Ende die Wahrheit
schreiben. Ach, ich hätte ihnen schöne Artikel geliefert! – Es ist eine Schande, eine Presse wie die unsere zu haben, mundtot gemacht und in Gefahr, beim ersten Aufschrei abgewürgt zu werden. Einer meiner Freunde, der gerade einen Roman veröffentlicht, ist ins Ministerium gerufen worden, wo ein Bürovorsteher ihn gebeten hat, die Farbe der Weste seines Helden zu ändern, weil diese Farbe dem Minister mißfalle. Das ist nicht etwa von mir erfunden.« Er führte andere Tatsachen an, sprach von den erschreckenden Gerüchten, die im Volk umgingen, vom Selbstmord einer jungen Schauspielerin und eines Verwandten des Kaisers, von dem angeblichen Duell zweier Generale, von denen der eine den anderen im Zusammenhang mit einer Diebstahlsaffäre in einem Korridor der Tuilerien getötet haben solle. Würden derartige Märchen Glauben gefunden haben, wenn sich die Presse offen hätte äußern dürfen? Und abschließend
wiederholte er: wahrhaftig.«
»Ich
bin
Republikaner,
»Sie haben es gut«, murmelte Herr Kahn, »ich weiß nicht mehr, was ich bin.« Rougon, die breiten Schultern vorgebeugt, hatte eine sehr schwierige Patience begonnen. Es handelte sich darum, nachdem die Karten dreimal aufgeteilt worden waren, erst auf sieben Häufchen, dann auf fünf und schließlich auf drei, dahin zu gelangen, daß, nachdem alle Karten abgehoben waren, sich die acht Eicheln im selben Häufchen befanden. Es schien, als sei er so davon in Anspruch genommen, daß er nichts hörte, obgleich seine Ohren bei manchen Worten so etwas wie ein Zittern befiel. »Die parlamentarische Regierungsform bot ernsthafte Garantien«, sagte der Oberst. »Ach, kämen doch die Prinzen wieder!« In seinen oppositionellen Augenblicken war
Oberst Jobelin Orléanist58. Er erzählte gern von der Schlacht am DschebelMusaïa59, wo er an der Seite des Herzogs von Aumale60, der damals Hauptmann im 4. Linienregiment war, im Gefecht die Entscheidung herbeigeführt hatte. »Man hatte es sehr gut unter LouisPhilippe«, fuhr er fort, als er das Schweigen bemerkte, mit dem man seinem Bedauern begegnete. »Glauben Sie nicht auch, daß, wenn wir ein verantwortliches Kabinett hätten, unser Freund vor Ablauf von sechs Monaten an der Spitze des Staates stände? Wir wären bald um einen großen Redner reicher.« Doch Herr Bouchard gab Zeichen von Ungeduld. Er behauptete, er sei Legitimist61; sein Großvater habe dereinst freien Zutritt bei Hofe gehabt. Daher brach auf jeder Abendgesellschaft ein furchtbarer Streit zwischen ihm und seinem Vetter über die Politik aus.
»Hören Sie doch auf!« murmelte er, »Ihre Juli Monarchie62 hat sich immer durchgeschwindelt. Es gibt nur ein Prinzip, das wissen Sie ganz genau.« Dann gingen sie sehr scharf gegeneinander vor. Sie machten reinen Tisch mit dem Kaiserreich, jeder richtete die Regierung nach seinem Geschmack ein. Hätte das Haus Orléans jemals einem alten Soldaten einen Orden vorenthalten? Hätten sich die rechtmäßigen Könige solche Zurücksetzungen zuschulden kommen lassen, wie man sie heute täglich in den Ämtern sah? Als sie so weit gekommen waren, einander insgeheim Dummköpfe zu schelten, griff der Oberst wütend nach seinen Karten und rief: »Lassen Sie mich in Ruhe, verstanden, Bouchard! – Ich habe vier Zehner und eine Quarte vom Buben. Ist das gut?« Delestang, durch den Streit aus seiner Träumerei gerissen, glaubte das Kaiserreich
verteidigen zu sollen. Mein Gott, er sei nicht etwa vollauf mit dem Kaiserreich zufrieden. Er hätte gern eine in umfassenderer Weise humane Regierung gesehen. Und er versuchte darzulegen, was er anstrebte, einen höchst komplizierten sozialistischen Plan, die Ausrottung des Pauperismus, die Vereinigung aller Arbeiter, so etwas wie sein Mustergut La Chamade im großen. Du Poizat pflegte zu sagen, Delestang sei zuviel mit Tieren umgegangen. Während ihr Gatte sprach und dabei lebhaft seinen prächtigen Diplomatenkopf bewegte, betrachtete ihn Clorinde mit leicht verzogenen Lippen. »Ja, ich bin Bonapartist63«, sagte er zu wiederholten Malen; »ich bin, wenn Sie so wollen, liberaler Bonapartist.« »Und Sie, Béjuin?« fragte plötzlich Herr Kahn. »Aber ich doch auch«, antwortete Herr Béjuin mit vom langen Schweigen schwerer Zunge.
»Das heißt, es gibt da sicher Schattierungen ... Mit einem Wort, ich bin Bonapartist.« Du Poizat lachte schrill auf. »Bei Gott!« rief er. Und als man ihn drängte, sich deutlicher zu äußern, fuhr er grob fort: »Sie haben gut reden, alle miteinander! Ihnen hat man nicht den Laufpaß gegeben. Delestang ist noch immer im Staatsrat. Béjuin hat man soeben wiedergewählt.« »Das ist durchaus mit rechten Dingen zugegangen«, unterbrach dieser. »Der Präfekt von Cher ...« »Oh, Sie haben nichts damit zu tun, Sie beschuldige ich nicht. Wir wissen, wie der Hase läuft ... Auch Combelot wurde wiedergewählt, ebenso La Rouquette ... Großartig ist das Kaiserreich!« Herr d'Escorailles, der noch immer die
hübsche Frau Bouchard fächelte, wollte vermittelnd eingreifen. Er verteidigte das Kaiserreich von einem anderen Gesichtspunkt aus; er habe sich ihm wieder verbunden, weil ihm scheine, der Kaiser habe eine Mission zu erfüllen; das Heil Frankreichs gehe allem voran. »Sie haben Ihre Stellung als Auditeur behalten, nicht wahr?« sagte Du Poizat, die Stimme hebend. »Nun, man kennt Ihre Ansichten ... Zum Teufel, Sie alle scheinen Anstoß an dem zu nehmen, was ich hier sage. Dabei ist es ganz einfach ... Kahn und ich werden nicht mehr dafür bezahlt, verblendet zu sein, das ist's!« Man wurde ärgerlich. Das sei eine abscheuliche Art, die Politik zu betrachten. Es gebe in der Politik andere Dinge als persönliche Interessen. Sogar der Oberst und Herr Bouchard meinten, obgleich sie keine Bonapartisten waren, daß es redliche
Bonapartisten geben könne, und sie sprachen mit noch größerer Wärme von ihren eigenen Überzeugungen, als hätte man sie ihnen mit Gewalt entreißen wollen. Was Delestang betraf, so war er sehr beleidigt; er wiederholte, man habe ihn nicht verstanden, und wies darauf hin, in welchen wesentlichen Punkten er sich von den blinden Parteigängern des Kaiserreichs unterscheide; was ihn zu neuen Auslassungen über die demokratische Entwicklung hinriß, für die ihm die Regierung des Kaisers geeignet zu sein scheine. Auch Herr Béjuin, ebenso übrigens Herr d'Escorailles fügten sich nicht darein, schlankweg Bonapartisten sein zu sollen; sie machten ungeheure Abstufungen geltend, verschanzten sich jeder hinter privaten, schwer zu erklärenden Ansichten, mit dem Ergebnis, daß nach Verlauf von zehn Minuten die ganze Gesellschaft zur Opposition übergegangen war. Die Stimmen wurden immer lauter. Es entspannen sich Auseinandersetzungen über
Einzelheiten, die Wörter Legitimisten, Orléanisten, Republikaner flogen nur so umher inmitten von zwanzigmal wiederholten Glaubensbekenntnissen. Einen Augenblick lang zeigte sich Frau Rougon mit beunruhigter Miene auf der Schwelle einer Tür, dann verschwand sie leise wieder. Rougon hatte indessen soeben seine Patience beendet. Clorinde beugte sich zu ihm herab, um ihn bei dem herrschenden Getöse zu fragen: »Ist sie aufgegangen?« »Aber gewiß doch«, erwiderte er mit seinem ruhigen Lächeln. Und als bemerke er erst jetzt den Stimmenlärm, schwenkte er die Hand und sagte: »Sie sind reichlich laut!« Sie verstummten, denn sie glaubten, er wolle sprechen. Tiefe Stille entstand. Sie warteten, alle ein wenig müde. Rougon hatte mit einem
Wurf dreizehn Karten fächerförmig auf dem Tisch ausgebreitet. Er zählte, sagte in das Schweigen hinein: »Drei Damen, das bedeutet Streit ... Eine Nachricht in der Nacht ... Eine brünette Frau, vor der man sich wird hüten müssen ....« Aber Du Poizat, der die Geduld verlor, unterbrach ihn. »Und Sie, Rougon, was meinen Sie?« Der große Mann lehnte sich in seinen Sessel zurück, streckte sich und verbarg ein leichtes Gähnen hinter seiner Hand. Er reckte das Kinn, als tue ihm der Hals weh. »Oh, ich«, murmelte er, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, »ich bin, wie Sie ja wissen, für eine autoritäre Regierung. Das wird einem angeboren. Das ist keine Ansicht, das ist eine innere Notwendigkeit ... Es ist dumm von Ihnen, sich zu streiten. Sobald in Frankreich fünf Herren in einem Salon
beisammen sind, stehen fünf Regierungssysteme einander kampfgerüstet gegenüber. Das hindert niemanden daran, der anerkannten Regierung zu dienen. Nun, das geschieht um der Unterhaltung willen, nicht wahr?« Er senkte den Kopf und warf ihnen der Reihe nach einen langen Blick zu. »Marsy hat die Wahlen sehr gut geleitet. Sie tadeln seine Rundschreiben zu Unrecht. Vor allem das letzte war sehr wirkungsvoll ... Was die Presse betrifft, so ist sie bereits allzu frei. Wie wäre es um uns bestellt, wenn der erstbeste schreiben dürfte, was er denkt? Ich würde übrigens, ebenso wie Marsy, Kahn die Erlaubnis, eine Zeitung zu gründen, verweigert haben. Es taugt nie etwas, seinen Gegner mit einer Waffe zu versehen ... Kaiserreiche, die weichherzig werden, sind nun einmal verloren. Frankreich braucht eine eiserne Hand. Wenn man ein wenig zu fest zupackt, geht es deshalb
nicht schlechter.« Delestang wollte Einspruch erheben. Er begann einen Satz: »Es gibt aber eine gewisse Anzahl notwendiger Freiheiten ...« Doch Clorinde gebot ihm Schweigen. Mit übertriebenem Kopfnicken stimmte sie allem zu, was Rougon sagte. Sie beugte sich vor, damit er besser sehe, daß sie sich, nunmehr überzeugt, seiner Ansicht unterwarf. Daher war auch sie es, der er einen raschen Blick zuwarf, als er ausrief: »Ah ja, die unerläßlichen Freiheiten, ich war darauf gefaßt, daß sie auftauchen würden! – Hören Sie, wenn mich der Kaiser zu Rate zöge, würde er niemals eine Freiheit gewähren.« Und als sich Delestang von neuem erregte, zwang ihn seine Frau mit einem schrecklichen Runzeln ihrer schönen Brauen, sich still zu verhalten. »Niemals!«
wiederholte
Rougon
mit
Nachdruck. Er hatte sich mit einer so furchtbaren Miene halb aus seinem Sessel erhoben, daß sich niemand muckste. Doch mit schlaffen Gliedern ließ er sich wie in einer plötzlichen Entspannung wieder zurücksinken und murmelte: »Nun bringen Sie sogar mich zum Schreien ... Ich bin jetzt ein guter Bürger. Ich habe mit dem allen nichts zu tun, und darüber bin ich sehr froh. Gebe Gott, daß der Kaiser meiner nicht mehr bedarf!« In diesem Augenblick ging die Tür des Salons auf. Er legte sich einen Finger auf den Mund und machte ganz leise: »Pst!« Der Eintretende war Herr La Rouquette. Rougon hegte den Verdacht, daß ihn seine Schwester, Frau de Llorentz, herschicke, um auszukundschaften, was hier geredet werde. Herr de Marsy hatte, obgleich seit kaum einem halben Jahr verheiratet, die Beziehungen zu dieser Dame, die fast zwei Jahre lang seine Geliebte
gewesen, gerade wieder aufgenommen. Daher hörte man auf, von Politik zu sprechen, sobald der junge Abgeordnete gekommen war. Im Salon herrschte wieder eine reservierte Haltung. Rougon ging selber und holte einen großen Schirm, den er auf die Lampe setzte; und in dem engen Kreis gelben Lichts sah man nur noch die vertrockneten Hände des Obersten und Herrn Bouchards mit Regelmäßigkeit die Karten abwerfen. Am Fenster erzählte Frau Charbonnel mit gedämpfter Stimme Frau Correur von ihren Kümmernissen, während Herr Charbonnel jede Einzelheit mit einem schweren Seufzer unterstrich; sie seien nun schon bald zwei Jahre in Paris, und ihr verwünschter Prozeß nehme kein Ende; noch tags zuvor hätten sie sich notgedrungen jeder sechs Hemden gekauft, weil sie von einem neuen Verzug der Angelegenheit erfuhren. Ein wenig weiter hinten, dicht bei einem Vorhang, schien Frau Bouchard, von der Hitze erschöpft, zu
schlummern. Herr d'Escorailles hatte sich soeben wieder zu ihr gesellt. Dann drückte er, als niemand auf sie achtete, mit gelassener Kühnheit einen langen lautlosen Kuß auf ihre halbgeschlossenen Lippen. Ganz weit schlug sie die Augen auf, ohne sich zu rühren, tiefernst. »Mein Gott, nein«, sagte Herr La Rouquette gerade in diesem Augenblick, »ich bin nicht ins Théâtre des Variétés gegangen, ich habe die Hauptprobe des Stückes gesehen. Oh, ein toller Erfolg, eine Musik von einer Heiterkeit! Ganz Paris wird hinlaufen ... Ich mußte eine Arbeit fertigmachen. Ich bereite etwas vor.« Er hatte den Herren die Hand gereicht und galant Clorindes Handgelenk oberhalb des Handschuhs geküßt. Jetzt stand er, auf die Lehne eines Sessels gestützt, lächelnd, tadellos korrekt angezogen da. Doch aus der Art, wie er seinen Gehrock knöpfte, ging hervor, daß er sich hohe Wichtigkeit anmaßte.
»Ja, so«, sagte er, sich an den Herrn des Hauses wendend, »ich wollte Sie auf ein Dokument für Ihr großes Werk aufmerksam machen, eine wirklich sehr bemerkenswerte Studie über die englische Verfassung, die in einer Wiener Zeitschrift erschienen ist ... Kommen Sie denn damit weiter?« »Oh, so langsam«, antwortete Rougon. »Ich bin gerade bei einem Kapitel, das mir viel Mühe macht.« Für gewöhnlich hatte es großen Reiz für ihn, den jungen Abgeordneten zum Reden zu bringen. Von ihm erfuhr er alles, was in den Tuilerien vor sich ging. Überzeugt davon, daß man Herrn La Rouquette an diesem Abend hierher geschickt hatte, um seine Ansicht über den Sieg der Regierungskandidaten kennenzulernen, brachte er es fertig, eine Menge von Aufschlüssen aus jenem herauszuholen, ohne sich selber durch einen einzigen Satz zu gefährden, der des
Weitertragens wert gewesen wäre. Er fing damit an, La Rouquette zu seiner Wiederwahl zu beglückwünschen. Dann hielt er auf seine biedermännische Art die Unterhaltung lediglich durch Kopfbewegungen im Gang. Der andere, ganz entzückt, das Wort zu haben, redete ununterbrochen. Der Hof sei sehr erfreut. Der Kaiser habe das Ergebnis der Wahlen in Plombières erfahren; man erzähle, er habe sich beim Empfang der Depesche hingesetzt, weil ihm vor innerer Bewegtheit die Beine den Dienst versagt hätten. Jedoch herrschte trotz dieses Sieges starke Beunruhigung: Paris habe wie ein Monstrum an Undankbarkeit gewählt. »Ha, man wird Paris den Mund stopfen«, murmelte Rougon, der, wie gelangweilt davon, daß er in Herrn La Rouquettes Wortschwall nichts Interessantes entdeckte, ein erneutes Gähnen unterdrückte. Es schlug zehn Uhr. Frau Rougon schob ein
rundes Tischchen in die Mitte des Zimmers und servierte den Tee. Es war die Stunde, um die sich in den Ecken abgesonderte Gruppen zu bilden pflegten. Herr Kahn stand mit einer Tasse in der Hand vor Herrn Delestang, der niemals Tee trank, weil das ihn aufrege, und erging sich in neuen Einzelheiten über seine Reise in die Vendée; seine wichtige Angelegenheit mit der Konzession für eine Bahnlinie von Niort nach Angers sei noch immer nicht weitergediehen. Dieser Schurke Langlade, der Präfekt des Departements DeuxSèvres, habe sich unterstanden, sich seines Plans als eines Wahlmanövers zugunsten des neuen Regierungskandidaten zu bedienen. Herr La Rouquette, der jetzt hinter den Damen vorbeiging, flüsterte ihnen Worte in den Nacken, die sie zum Lächeln brachten. Hinter einem Schutzwall von Sesseln unterhielt sich Frau Correur lebhaft mit Du Poizat, sie bat ihn, ihr etwas über ihren Bruder Martineau, den Notar in Coulonges, zu
berichten, und Du Poizat sagte, er habe ihn einen Augenblick vor der Kirche gesehen, unverändert, mit seinem kalten Gesicht, seinem ernsten Wesen. Als sie dann mit ihren üblichen Beschuldigungen anfing, riet er ihr boshaft, nie wieder einen Fuß über die Schwelle jenes Hauses zu setzen, denn Frau Martineau habe geschworen, ihr die Tür zu weisen. Berstend vor Zorn trank Frau Correur ihren Tee aus. »Nun, meine Kinder, es wird Zeit zum Schlafengehen«, sagte Rougon väterlich. Es war zehn Uhr fünfundzwanzig, und er bewilligte noch fünf Minuten. Einige Leute verabschiedeten sich. Er begleitete Herrn Kahn und Herrn Béjuin hinaus, denen Frau Rougon stets Grüße an ihre Frauen auftrug, obwohl sie diese Damen höchstens zweimal im Jahr sah. Sanft drängte er die Charbonnels, denen das Weggehen immer schwerfiel, auf die Tür zu. Und als die hübsche Frau Bouchard zwischen
Herrn d'Escorailles und Herrn La Rouquette hinausging, drehte er sich zum Spieltisch um und rief: »Heh, Herr Bouchard, da entführt man Ihnen Ihre Frau!« Aber der Bürovorsteher sagte, ohne auf ihn zu hören, seine Karten an. »Eine mit dem As beginnende Quinte vom Treff, ha, die ist gut! Drei Könige, die sind auch gut ...« Rougon nahm ihm mit seinen dicken Händen die Karten fort. »Schluß jetzt, gehen Sie«, sagte er. »Sie sollten sich schämen, sich so beim Spiel zu ereifern! Kommen Sie, Oberst, seien Sie vernünftig.« So ging es jeden Donnerstag und jeden Sonntag. Er mußte sie mitten in einer Partie unterbrechen oder manchmal sogar die Lampe auslöschen, damit sie sich entschlossen, das Spiel aufzugeben. Und wütend und
miteinander streitend brachen sie auf. Delestang und Clorinde blieben bis zuletzt. Während ihr Gatte überall nach ihrem Fächer suchte, sagte sie leise zu Rougon: »Es ist nicht recht von Ihnen, daß Sie sich nicht ein wenig Bewegung verschaffen, Sie werden krank werden.« Er machte eine zugleich gleichgültige und verzichtende Gebärde. Frau Rougon räumte bereits die Tassen und die Löffelchen zusammen. Als ihm dann die Delestangs die Hand schüttelten, gähnte er frei heraus, mit weit offenem Mund. Und aus Höflichkeit, damit man nicht glauben sollte, die Langeweile des Abends sei ihm in die Kehle gestiegen, sagte er: »Ei verflucht, heute nacht werde ich tüchtig schlafen.« Die Abendgesellschaften verliefen alle in dieser Weise. Nach einem Ausspruch Du Poizats, der auch fand, daß es in Rougons Salon jetzt »zu sehr nach Betschwester riecht«, regnete es dort Trübsinn. Clorinde benahm
sich wie eine Tochter. Oft kam sie des Nachmittags mit irgendeinem Auftrag, den sie übernommen hatte, allein in die Rue Marbeuf. Sie sagte munter zu Frau Rougon, sie komme, um ihrem Mann den Hof zu machen; und diese verzog die bleichen Lippen zu einem Lächeln und ließ die beiden stundenlang allein. Sie unterhielten sich freundschaftlich, schienen sich des Vergangenen nicht zu erinnern; in diesem selben Raum, wo er ein Jahr zuvor voller Begierde vor ihr mit den Füßen gestampft hatte, drückten sie einander kameradschaftlich die Hand. Da sie an das von damals nicht mehr dachten, überließen sich beide einer ruhigen Vertraulichkeit. Er brachte die losen, stets flatternden Löckchen an ihren Schläfen in Ordnung oder half ihr wohl auch, die übermäßig lange Schleppe ihres Kleides zwischen den Sesseln hervorzuziehen. Als sie eines Tages durch den Garten gingen, war sie so vorwitzig, die Stalltür aufzumachen. Sie sah ihn an und trat mit einem leichten Lachen ein.
Er, die Hände in den Taschen, beschränkte sich darauf, ebenfalls lächelnd, zu murmeln: »Ach, wie dumm man zuweilen ist!« Zudem gab er ihr bei jedem Besuch ausgezeichnete Ratschläge. Er nahm Partei für Delestang, der im ganzen genommen ein guter Ehemann sei. Sie antwortete zurückhaltend, daß sie ihn achte; wenn man sie reden hörte, hatte er noch keinen einzigen Anlaß zur Klage über sie. Sie sagte, sie sei nicht einmal gefallsüchtig; was der Wahrheit entsprach. Aus ihren geringsten Äußerungen klang große Gleichgültigkeit gegenüber den Männern, fast Verachtung für sie. Wenn von Frauen die Rede war, deren Liebhaber man nicht mehr zählen konnte, machte sie große Kinderaugen, erstaunte Augen, und fragte: »Ist das denn ein Vergnügen?« Wochenlang vergaß sie ihre Schönheit, entsann sich ihrer nur, wenn es irgendwie zweckmäßig war, dann aber bediente sie sich ihrer in erschreckender Weise, wie einer Waffe. Daher wurde sie, als
Rougon mit seltsamer Hartnäckigkeit auf dieses Thema zurückkam und ihr riet, Delestang treu zu bleiben, schließlich ärgerlich und rief: »Aber so lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich denke schon an all das ... Mit einem Wort, Sie sind beleidigend!« Eines Tages antwortete sie ihm geradeheraus: »Nun gut, wenn das geschähe, was könnte es Ihnen ausmachen? Sie haben dabei ja nichts zu verlieren!« Er wurde rot, gab es eine Zeitlang auf, mit ihr von ihren Pflichten, von der Gesellschaft, von Anstand zu reden. Diese ihn ständig durchschauernde Eifersucht war alles, was von seiner ehemaligen Leidenschaft in ihm zurückgeblieben war. Er trieb es so weit, sie in den Salons, die sie besuchte, überwachen zu lassen. Wenn er die geringste Intrige bemerkt hätte, würde er möglicherweise den Gatten verständigt haben. Sah er diesen allein, so warnte er ihn übrigens, sprach ihm von der
außerordentlichen Schönheit seiner Frau. Aber Delestang lachte zuversichtlich und in geckenhafter Weise, so daß bei dieser Ehe Rougon es war, der alle Qualen eines betrogenen Gatten litt. Seine anderen Ratschläge, Ratschläge sehr praktischer Art, bewiesen seine große Freundschaft zu Clorinde. Er war es, der sie allmählich dahin brachte, ihre Mutter nach Italien zurückzuschicken. Die Gräfin Balbi, nun allein in dem kleinen Palais in den ChampsElysées, führte dort ein seltsam unbekümmertes Dasein, über das geredet wurde. Er nahm es auf sich, mit ihr die heikle Frage einer lebenslänglichen Pension zu regeln. Man verkaufte das Palais, die Vergangenheit der jungen Frau war damit wie weggewischt. Ferner machte er den Versuch, sie von ihren Überspanntheiten zu heilen; aber da stieß er auf vollkommene Naivität, auf den Starrsinn einer beschränkten Frau. Clorinde lebte als Gattin eines reichen Mannes in
unglaublicher Verschwendung, mit jähen Anfällen von schandbarem Geiz. Ihre kleine Dienerin, den Schwarzkopf Antonia, die von morgens bis abends an Orangen lutschte, hatte sie behalten. Zu zweit versetzten sie die Gemächer der gnädigen Frau, einen beträchtlichen Teil des geräumigen Stadthauses in der Rue du Colisée, in einen abscheulich unsauberen Zustand. Wenn Rougon sie besuchte, fand er gebrauchte Teller auf den Sesseln, literweise Sirup auf dem Fußboden, längs der Wände. Er ahnte unter den Möbeln eine Anhäufung schmutziger Dinge, die man dorthin gestopft hatte, als sein Besuch gemeldet wurde. Und umgeben von der schmierigen Wandbespannung, dem von Staub grauen Holzwerk, hatte sie fortwährend verblüffende Einfälle. Oft empfing sie ihn halbnackt, in eine Decke gewickelt auf einem Kanapee liegend, und klagte über unbekannte Leiden, über einen Hund, der ihr die Füße abfresse, oder auch über eine versehentlich
verschluckte Stecknadel, deren Spitze an ihrer linken Hüfte herauskomme. Ein andermal schloß sie um drei Uhr die Sommerläden, zündete sämtliche Kerzen an und tanzte dann mit ihrer Dienerin, wobei sie so toll lachten, daß, wenn er eintrat, die Dienerin volle fünf Minuten keuchend an die Tür gelehnt stehenblieb, ehe sie hinauszugehen vermochte. Eines Tages wollte sich Clorinde nicht sehen lassen; sie hatte ihre Bettvorhänge von oben bis unten zusammengenäht, hockte in diesem Stoffkäfig auf dem Kopfkissen und plauderte länger als eine Stunde ruhig mit ihm, so, als säßen sie an den beiden Ecken eines Kamins. Das alles schien ihr ganz natürlich. Wenn er sie schalt, wunderte sie sich und erklärte, sie tue nichts Böses. Er mochte noch so sehr Anstand predigen, versprechen, sie innerhalb eines Monats zur verführerischsten Frau von Paris zu machen, sie brauste auf und sagte immer wieder: »Ich bin nun einmal so, ich lebe nun einmal so ... Was kann das den
anderen ausmachen?« Mitunter begann sie zu lächeln. »Man liebt mich trotzdem, lassen Sie es gut sein!« murmelte sie. Und tatsächlich betete Delestang sie an. Sie blieb seine Geliebte, hatte um so größere Gewalt über ihn, je weniger sie seine Frau zu sein schien. Von der schrecklichen Angst gepackt, sie könnte ihn, wie sie es ihm eines Tages angedroht hatte, verlassen, schloß er vor ihren Launen die Augen. Auf dem Grunde seiner Unterwürfigkeit empfand er vielleicht unklar, daß sie ihm überlegen war, stark genug, um aus ihm zu machen, was ihr gefiel. Vor der Welt behandelte er sie als Kind, sprach von ihr mit der nachsichtigen Zärtlichkeit eines gesetzten Mannes. Im geheimen weinte dieser große schöne Mann mit dem prachtvollen Kopf in den Nächten, in denen sie ihm die Tür ihres Schlafzimmers nicht auftun wollte. Er zog nur die Schlüssel
der Räume im ersten Stock ab, um seinen großen Salon vor Fettflecken zu bewahren. Dennoch erreichte Rougon bei Clorinde, daß sie sich allmählich wie alle Welt anzog. Sie war übrigens sehr schlau, von der Schläue von Leuten, die unter einer Wahnvorstellung leiden, sich aber in Gegenwart Fremder vernünftig stellen. In einigen Häusern traf er sie an, wie sie sich zurückhaltend gab, ihren Mann in den Vordergrund treten ließ und sich inmitten der von ihrer großen Schönheit hervorgerufenen Bewunderung mit vollendetem Anstand bewegte. Bei ihr zu Hause fand er oft Herrn de Plouguern vor; und sie scherzte mit ihnen beiden unter der Sturzflut ihrer Strafpredigt, während ihr der alte Senator, der sich vertrauliche Freiheiten herausnahm, zu Rougons großem Ärger die Wangen tätschelte; dieser aber wagte niemals zu äußern, was er dabei empfand. Kühner war er in bezug auf Luigi Pozzo, den Sekretär des Cavaliere Rusconi. Er hatte mehrmals
beobachtet, wie jener zu merkwürdigen Stunden ihr Haus verließ. Als er der jungen Frau zu verstehen gab, wie sehr sie dadurch ihren Ruf gefährden könne, schlug sie in der ihr eigenen Art verwundert ihre schönen Augen zu ihm auf; dann brach sie in lautes Lachen aus. Sie pfeife auf die öffentliche Meinung! In Italien empfingen die Frauen die Männer, die ihnen gefielen, niemand denke dabei an etwas Schlechtes. Außerdem zähle Luigi nicht, er sei ein Vetter; er bringe ihr kleine Mailänder Kuchen mit, die er in der Passage Colbert kaufe. Clorindes Hauptbeschäftigung aber blieb die Politik. Seit sie Delestang geheiratet hatte, verwandte sie ihren ganzen Verstand auf verdächtige und verzwickte Angelegenheiten, deren Bedeutung niemand genau kannte. Damit befriedigte sie ihr Bedürfnis nach Intrigen, dem sie so lange in ihren Verführungsfeldzügen gegen Männer mit großen Zukunftsaussichten Genüge getan
hatte; und so schien sie sich, indem sie bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Jahr ihre Fallen als heiratsfähiges Mädchen stellte, auf irgendeine größere Aufgabe vorbereitet zu haben. Jetzt unterhielt sie einen sehr regen Briefwechsel mit ihrer Mutter, die ihren Wohnsitz in Turin aufgeschlagen hatte. Sie ging fast täglich in die italienische Botschaft, wo der Cavaliere Rusconi sie zu eilig und leise geführten Gesprächen in stille Winkel führte. Dazu kamen unbegreifliche Gänge nach allen Enden von Paris, verstohlene Besuche bei hochgestellten Persönlichkeiten, Verabredungen in entlegenen Stadtvierteln. Alle Flüchtlinge aus Venetien – die Brambillas, die Staderinos, die Viscardis – sahen sie insgeheim und steckten ihr mit Notizen bekritzelte Zettel zu. Sie hatte sich eine Mappe aus rotem Maroquinleder gekauft, ein riesiges, eines Ministers würdiges Portefeuille mit einem Stahlschloß, in der sie eine Unzahl von Akten mit sich herumtrug. Im
Wagen hielt sie sie wie einen Muff auf den Knien; überall, wo sie hinging, nahm sie sie mit einer zur Gewohnheit gewordenen Bewegung unter dem Arm mit; selbst zu frühen Morgenstunden traf man sie, zu Fuß, die Mappe mit beiden Händen an die Brust gedrückt, mit zerknitterten Manschetten. Bald sah die Mappe schäbig aus und platzte an den Nähten auf. Da schnallte sie Riemen darum. Und in ihren grellfarbigen Kleidern mit den langen Schleppen, immer beladen mit diesem unförmigen Lederbeutel, der vor Packen von Papieren barst, glich sie einem verkommenen Advokaten, der bei allen Friedensgerichten herumläuft, um hundert Sou zu verdienen. Mehrmals hatte Rougon versucht, sich Kenntnis von Clorindes wichtigen Angelegenheiten zu verschaffen. Als sie ihn eines Tages einen Augenblick lang mit der berühmten Mappe allein gelassen, hatte er keine Bedenken getragen, die Briefe, von denen Ecken aus den Rissen hervordrangen,
herauszuziehen. Aber was er auf die eine oder andere Weise in Erfahrung brachte, schien ihm so zusammenhanglos, so lückenhaft, daß er über den politischen Dünkel der jungen Frau lächelte. Eines Nachmittags erklärte sie ihm mit ruhiger Miene ein ganzes umfassendes Projekt: sie sei im Begriff, im Hinblick auf einen bevorstehenden Feldzug gegen Österreich auf ein Bündnis zwischen Italien und Frankreich hinzuarbeiten. Rougon, einen Moment lang sehr betroffen, zuckte schließlich mit den Achseln angesichts der törichten Dinge, die sie mit ihrem Plan verbunden hatte. Seiner Meinung nach hatte sie darin einfach eine prickelnde Schrulle gefunden. Er legte Wert darauf, seine Ansicht über die Frauen nicht zu ändern. Clorinde fügte sich übrigens gern in die Rolle einer Jüngerin. Wenn sie ihn in der Rue Marbeuf besuchte, tat sie sehr bescheiden, sehr unterwürfig, befragte ihn und hörte ihm mit dem Eifer einer Neubekehrten zu, die darauf brennt, zu lernen. Und er vergaß
oft, zu wem er sprach, setzte sein Regierungssystem auseinander, ließ sich zu den offenherzigsten Geständnissen verleiten. Nach und nach wurden diese Gespräche zu einer Gewohnheit; er machte sie zu seiner Vertrauten, erholte sich dabei von dem Schweigen, das er seinen besten Freunden gegenüber beobachtete, und behandelte sie als verschwiegene Schülerin, deren ehrerbietige Bewunderung ihn entzückte. Während der Monate August und September wurden Clorindes Besuche immer häufiger. Sie kam jetzt bis zu drei, viermal die Woche. Noch niemals hatte sie sich als so liebevolle Jüngerin gezeigt. Sie schmeichelte Rougon oft, geriet in Verzückung über sein Genie und bedauerte, daß große Dinge ungetan blieben, die er vollführt haben würde, hätte er sich nicht abseits gestellt. Eines Tages fragte er sie in einem hellsichtigen Augenblick lachend: »Sie haben mich also sehr nötig?«
»Ja«, erwiderte sie kühn. Doch sie beeilte sich, wieder den Ausdruck verzückter Bewunderung anzunehmen. Sie finde Politik unterhaltender als einen Roman, sagte sie. Und als er den Rücken wandte, öffnete sie weit die Augen, in denen eine jähe Flamme brannte, ein alter, noch immer lebendiger Rachegedanke. Oft ließ sie ihre Hände in den seinen, als fühle sie sich noch zu schwach; und mit bebenden Handgelenken schien sie die Stunde zu erwarten, da sie ihm genug von seiner Kraft geraubt haben würde, um ihn erwürgen zu können. Was Clorinde vor allem beunruhigte, war die zunehmende Erschlaffung Rougons. Sie sah ihn in seiner Langeweile einschlafen. Zuerst hatte sie ganz genau unterschieden, was an seinem Verhalten Verstellung sein konnte. Jetzt aber fing sie trotz all ihres Scharfsinns an, ihn für wirklich entmutigt zu halten. Seine Gebärden wurden schwerfälliger, seine
Stimme matter, und an manchen Tagen zeigte er sich von einer solchen Gleichgültigkeit, einer so großen Gutmütigkeit, daß sich die junge Frau erschreckt fragte, ob er nicht am Ende seinen Ruheposten im Senat als ausgedienter Politiker ruhig hinnehmen würde. Gegen Ende September machte Rougon den Eindruck, innerlich sehr beschäftigt zu sein. Dann gestand er ihr bei einem ihrer üblichen Gespräche, daß er sich mit einem großen Projekt trage. Er langweile sich in Paris, er brauche frische Luft. Und in einem hin erzählte er: es sei ein umfassender Plan für ein neues Leben, ein freiwilliges Exil im Departement Landes64, die Urbarmachung mehrerer Quadratmeilen Bodens, die Gründung einer Stadt mitten in dem so eroberten Landstrich. Clorinde, ganz bleich geworden, hörte ihm zu. »Aber Ihre Stellung hier, Ihre Aussichten!« rief sie.
Er machte eine verächtliche Gebärde, brummte: »Pah! Luftschlösser! Ich bin nun einmal entschieden nicht für die Politik geschaffen.« Und er fing wieder von seinem Lieblingstraum an, ein großes Gut zu besitzen, mit Viehherden, über die er herrschen könnte. In Landes aber würde sein Ehrgeiz wachsen; er würde Eroberer und König eines neuen Gebiets werden; er würde ein Volk besitzen. Er erging sich in endlosen Einzelheiten. Seit vierzehn Tagen las er, ohne etwas darüber verlauten zu lassen, Fachbücher. Er legte Sümpfe trocken, ging mit mächtigen Maschinen gegen den steinigen Boden an, hielt die Wanderdünen durch Anpflanzungen von Strandkiefern auf, beschenkte Frankreich mit einem Erdenwinkel von wunderbarer Fruchtbarkeit. Seine ganze eingeschlafene Aktivität, die ganze Kraft eines unbeschäftigten Riesen erwachten bei diesem Schaffen; seine geballten Fäuste schienen
bereits die widerspenstigen Steine zu spalten; eine einzige Kraftanspannung seiner Arme wendete den Boden um; seine Schultern trugen fertiggebaute Häuser, die er nach seinem Gefallen an das Ufer eines Flusses stellte, dessen Bett er mit einem einzigen Fußtritt grub. Nichts leichter als all das. Dort werde er so viel Arbeit finden, wie er nur wolle. Der Kaiser sei ihm zweifellos noch zugetan genug, um ihm ein Departement zur Bearbeitung zu überlassen. Er stand mit glühenden Backen da, größer geworden durch das plötzliche Recken seiner plumpen Glieder, und brach in ein prachtvolles Lachen aus. »Oh, das ist eine Idee!« sagte er. »Ich werde der Stadt meinen Namen geben, auch ich gründe ein kleines Kaiserreich!« Clorinde hielt es für eine Laune, einen Wahn, geboren aus der tiefen Langeweile, mit der er sich herumschlug. Aber an den folgenden Tagen erzählte er ihr abermals und mit noch größerer Begeisterung von seinem Plan. Bei jedem
Besuch fand sie ihn in auf dem Schreibtisch, den Sitzgelegenheiten, dem Teppich ausgebreitete Karten vertieft. Eines Nachmittags konnte sie ihn nicht sprechen, er hatte eine Unterredung mit zwei Ingenieuren. Da begann sie richtige Angst zu spüren. Ließ er sie also im Stich, um weit hinten in einer Einöde seine Stadt zu bauen? Nahm er nicht vielmehr irgendein neues Projekt in Angriff? Sie verzichtete darauf, die eigentliche Wahrheit zu erfahren; sie hielt es für klug, die Clique zu alarmieren. Das gab eine Bestürzung! Du Poizat geriet außer sich; seit mehr als einem Jahr war er stellungslos; bei seiner letzten Reise in die Vendée hatte sein Vater, als er es wagte, ihn um zehntausend Francs zu bitten, um eine ausgezeichnete Sache aufzuziehen, eine Pistole aus seiner Schublade hervorgeholt; und jetzt fing wieder die Hungerleiderei wie 1848 an. Herr Kahn erwies sich genauso wütend: seinen Hochöfen in Bressuire drohte in Bälde
der Bankrott; er hielt sich für verloren, wenn er nicht vor Ablauf eines halben Jahres die Konzession für seine Bahnlinie erhielt. Die anderen – Herr Béjuin, der Oberst, die Bouchards, die Charbonells – ergingen sich gleichfalls in Klagen. So durfte es nicht enden. Rougon war tatsächlich nicht gescheit. Man mußte mit ihm reden. Inzwischen vergingen vierzehn Tage. Clorinde, auf die die ganze Clique sehr hörte, hatte dahin entschieden, daß es nicht gut sein würde, den großen Mann offen anzugreifen. Man wartete auf eine günstige Gelegenheit. An einem Sonntagabend gegen Mitte Oktober, als sich die Freunde vollzählig im Salon in der Rue Marbeuf versammelt fanden, fragte Rougon lächelnd: »Wissen Sie, was ich heute bekommen habe?« Und er zog hinter der Stutzuhr eine rosa Karte hervor, die er herumzeigte: »Eine Einladung nach Compiègne65.«
In diesem Augenblick öffnete der Kammerdiener behutsam die Tür. Der Mann, den der gnädige Herr erwarte, sei da. Rougon entschuldigte sich und ging hinaus. Clorinde war aufgestanden und hatte zugehört. Dann sagte sie mit Nachdruck in die Stille hinein: »Er muß unbedingt nach Compiègne fahren!« Die Freunde schauten sich vorsorglich um; doch sie waren ganz allein: Frau Rougon war seit einigen Minuten verschwunden. Da sprachen sie, immer die Tür im Auge behaltend, frei heraus. Die Damen bildeten einen Kreis vor dem Kamin, wo sich ein dickes Holzscheit in Glut verzehrte; Herr Bouchard und der Oberst spielten ihr ewiges Pikett, während die anderen Männer ihre Sessel in eine Ecke geschoben hatten, um sich abzusondern. Clorinde stand mit gesenktem Kopf mitten im Zimmer und dachte angestrengt nach. »Er hat also jemanden erwartet?« fragte Du
Poizat. »Wer mag das sein?« Die anderen zuckten mit den Achseln, was besagen sollte, daß sie es nicht wüßten. »Vielleicht auch in seiner blödsinnigen Angelegenheit«, fuhr er fort. »Ich weiß mir jetzt nicht mehr zu helfen. Sie werden sehen, an einem der nächsten Abende schleudere ich ihm alles, was ich denke, ins Gesicht.« »Pst!« machte Herr Kahn und legte einen Finger auf den Mund. Der ehemalige Unterpräfekt hatte auf eine beunruhigende Weise die Stimme erhoben. Alle lauschten einen Augenblick lang. Dann sagte Herr Kahn selber, sehr leise: »Zweifellos ist er Verpflichtungen uns gegenüber eingegangen.« »Sagen Sie, daß er eine Schuld zu begleichen hat«, fügte der Oberst hinzu und legte seine Karten hin. »Ja, ja, eine Schuld, das ist das richtige Wort«, erklärte Herr Bouchard. »Wir haben es ihm am
letzten Tag im Staatsrat geradeheraus gesagt.« Und die anderen bekräftigten das mit lebhaftem Kopfnicken. Ein allgemeines Wehklagen hob an. Rougon habe sie alle zugrunde gerichtet. Herr Bouchard fügte hinzu, daß er, hätte er sich nicht im Unglück treu erwiesen, längst Abteilungschef wäre. Wenn man den Oberst hörte, war ihm von Seiten des Grafen de Marsy das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion und ein Posten für seinen Sohn Auguste angeboten worden; aber er hatte aus Freundschaft für Rougon abgelehnt. Herrn d'Escorailles Eltern, wußte die hübsche Frau Bouchard zu berichten, seien sehr gekränkt darüber, daß ihr Sohn Auditeur geblieben sei, während sie schon seit einem halben Jahr auf seine Ernennung zum Berichterstatter über die Bittschriften warteten. Und selbst jene, die nichts sagten – Delestang, Herr Béjuin, Frau Correur, die Charbonnels –
verkniffen die Lippen, wandten mit dem Ausdruck von Märtyrern, deren Geduld zu schwinden beginnt, die Augen gen Himmel. »Kurz, wir sind betrogen«, fing Du Poizat wieder an. »Aber er wird nicht fortgehen, dafür stehe ich Ihnen ein! Hat es denn einen vernünftigen Sinn, hinzugehen und sich in ich weiß nicht welchem abgelegenen Loch mit Steinen herumzuschlagen, wenn man in Paris so schwerwiegende Interessen hat? – Wollen Sie, daß ich mit ihm rede?« Clorinde erwachte aus ihrer Träumerei. Sie gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen; nachdem sie dann die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, um nachzusehen, ob niemand draußen stehe, wiederholte sie: »Hören Sie, er muß unbedingt nach Compiègne fahren.« Und als sich ihr alle Gesichter zuwandten, verhinderte sie mit einer abermaligen Geste, daß Fragen gestellt wurden.
»Pst! Nicht hier!« Trotzdem sagte sie noch, daß auch ihr Gatte und sie nach Compiègne eingeladen seien; und sie ließ die Namen des Herrn de Marsy und der Frau de Llorentz fallen, ohne sich deutlicher äußern zu wollen. Man werde den großen Mann wider seinen Willen an die Macht bringen und ihn notfalls sogar kompromittieren. Herr Beulind'Orchère und die gesamte Justizbehörde stützten ihn heimlich. Der Kaiser, gestand Herr La Rouquette, bewahre inmitten des Hasses seiner Umgebung auf Rougon vollkommenes Schweigen; sobald man in seiner Gegenwart dessen Namen nenne, werde er ernst, sein Blick verschleiere sich, und sein Mund verberge sich im Schatten des Schnurrbarts. »Es handelt sich nicht um uns«, erklärte Herr Kahn schließlich. »Wenn uns das gelingt, ist das Vaterland uns zu Dank verpflichtet.« Dann sprach man ganz laut weiter, stimmte ein
großes Loblied auf den Herrn des Hauses an. Im Nebenzimmer hatte sich soeben Stimmengeräusch erhoben. Du Poizat öffnete, von Neugier geplagt, die Tür, als beabsichtige er hinauszugehen, und machte sie dann langsam genug wieder zu, um den Mann zu erkennen, der bei Rougon war. Es war Gilquin in einem weiten, fast sauberen Überzieher, in der Hand hielt er einen kräftigen Spazierstock mit einem kupfernen Knopf. Ohne die Stimme zu dämpfen, sagte er mit übertriebener Vertraulichkeit: »Denk dran, schicke jetzt nicht mehr in die Rue de Virginie in Grenelle. Ich habe da was gehabt; ich bleibe draußen in Les Batignolles, in der Passage Guttin ... Kurz, du kannst dich auf mich verlassen. Auf bald.« Und er drückte Rougon die Hand. Als dieser wieder in den Salon trat, entschuldigte er sich, wobei er Du Poizat fest ansah. »Ein braver Bursche, den Sie ja kennen, nicht wahr, Du Poizat? – Er wird mir Ansiedler für
meine neue Welt dort hinten in Landes anwerben ... Was das betrifft, ich nehme Sie alle mit; Sie können sich schon reisefertig machen. Kahn wird mein Ministerpräsident. Delestang und seine Frau bekommen das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Béjuin wird sich des Postwesens annehmen. Und die Damen vergesse ich auch nicht, Frau Bouchard wird das Zepter der Schönheit schwingen, und Frau Charbonnel vertraue ich die Schlüssel unserer Kornspeicher an.« Er scherzte, während sich die Freunde voll Unbehagen fragten, ob er sie nicht durch irgendeinen Spalt in der Wand gehört habe. Als er den Oberst mit seinen sämtlichen Orden auszeichnete, wäre dieser beinahe böse geworden. Clorinde betrachtete derweil die Einladung nach Compiègne, die sie vom Kamin genommen hatte. »Werden Sie hinfahren?« fragte sie beiläufig. »Aber gewiß doch«, antwortete Rougon
erstaunt. »Ich rechne fest darauf, die Gelegenheit dazu benutzen zu können, mir vom Kaiser mein Departement zuteilen zu lassen.« Es schlug zehn Uhr. Frau Rougon erschien wieder und reichte den Tee.
Kapitel VII Am Tage ihrer Ankunft in Compiègne unterhielt sich Clorinde gegen sieben Uhr abends mit Herrn de Plouguern in der Nähe eines Fensters der Galerie des cartes66. Man wartete auf den Kaiser und die Kaiserin, um in den Speisesaal hinüberzugehen. Die zweite Folge der in dieser Saison Geladenen befand sich seit knapp drei Uhr im Schloß, und da noch nicht alle nach unten gekommen waren, beschäftigte sich die junge Frau damit, die Eintretenden jeweils mit einem kurzen Wort
zu beurteilen. Die Damen, dekolletiert, Blumen im Haar, setzten schon auf der Schwelle ein liebliches Lächeln auf; die Herren, in weißer Krawatte und Kniehosen, straffe Waden unter den seidenen Strümpfen, blieben ernst. »Ah, da kommt der Cavaliere«, flüsterte Clorinde. »Er sieht sehr gut aus ... Aber schau dir doch Herrn Beulind'Orchère an, Pate, sollte man nicht meinen, er fange gleich an zu bellen? Und was für Beine, guter Gott!« Herr de Plouguern grinste, ihn freuten diese Lästereien. Der Cavaliere Rusconi kam herbei, um Clorinde mit der schmachtenden Galanterie des schönen Italieners zu begrüßen; dann ging er, sich in einer Folge rhythmischer Verbeugungen von zartester Wirkung wiegend, von einer Dame zur anderen. Ein paar Schritt entfernt betrachtete Delestang die ungeheuer großen Karten des Waldes von Compiègne, die die Wände der Galerie
bedeckten. »In welchen Wagen bist du denn eingestiegen?« sagte Clorinde. »Ich habe mich auf dem Bahnhof nach dir umgesehen, weil ich die Fahrt mit dir gemeinsam machen wollte. Stell dir vor, daß ich zwischen einen ganzen Haufen von Männern geraten bin ...« Aber sie unterbrach sich, erstickte ein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand. »Herr La Rouquette macht ein zuckersüßes Gesicht.« »Ja, zuckersüß wie das Frühstück in einem Mädchenpensionat«, meinte der Senator boshaft. In diesem Augenblick drang von der Tür her ein großes Rauschen von Stoffen; die Flügel öffneten sich ganz weit, und eine Dame trat ein, in einem so sehr mit Schleifen, Blumen und Spitzen überladenen Kleid, daß sie ihren Rock mit beiden Händen zusammendrücken
mußte, um durchzukommen. Es war Frau de Combelot, die Schwägerin Clorindes. Diese musterte sie scharf und murmelte: »Ist denn so was erlaubt!« Und als Herr de Plouguern sie selbst betrachtete, in ihrem ganz schlichten Musselinkleid, das über ein schlechtsitzendes Untergewand aus rosa Faule gezogen war, fuhr sie im Ton völliger Unbekümmertheit fort: »Ach, ich und Toiletten, du weißt ja, Pate! Mich nimmt man, wie ich bin.« Unterdessen hatte sich Delestang endlich von den Karten getrennt, um seiner Schwester entgegenzugehen, die er zu seiner Gattin führte. Die beiden Frauen mochten einander gar nicht. Sie wechselten ein paar sauersüße Höflichkeitsphrasen. Und Frau de Combelot, eine Atlasschleppe hinter sich herziehend, die einem Stück Blumenbeet glich, entfernte sich durch die Reihen schweigender Menschen, die
vor der überquellenden Flut dieser Spitzenvolants taktvoll zwei bis drei Schritt zurückwichen. Sobald Clorinde wieder mit Herrn de Plouguern allein war, machte sie scherzhafte Anspielungen auf die große Leidenschaft, die jene Dame für den Kaiser empfinde. Als dann der Senator von des letzteren edlem Widerstand erzählte, meinte sie: »Dabei hat er kein großes Verdienst, sie ist so mager! Ich habe verschiedentlich Männer sagen hören, sie sei hübsch, ich weiß nicht weshalb. Sie hat ein völlig unbedeutendes Gesicht.« Während sie plauderte, behielt sie fortwährend unruhig die Tür im Auge. »Ah«, sagte sie, »das muß Herr Rougon sein.« Doch mit einem kurzen Aufblitzen ihrer Augen nahm sie ihre Worte sogleich zurück: »Ei nein, es ist Herr de Marsy.« Der
Minister,
sehr
korrekt
in
seinem
schwarzen Frack und Kniehosen, ging lächelnd auf Frau de Combelot zu, und während er diese begrüßte, betrachtete er die Gäste mit abwesenden und verschleierten Blicken, als habe er niemanden erkannt. Dann neigte er, sobald ihn jemand grüßte, mit großer Liebenswürdigkeit den Kopf. Mehrere Herren näherten sich ihm. Bald war er der Mittelpunkt einer Gruppe. Sein bleicher, schlauer und boshafter Kopf überragte die Schultern, die ihn umwogten. »Da fällt mir ein«, sagte Clorinde und drängte Herrn de Plouguern tief in die Fensternische, »ich habe darauf gerechnet, durch dich Näheres zu erfahren ... Was weißt du über die berüchtigten Briefe der Frau de Llorentz?« »Nur, was alle Welt weiß«, erwiderte er. Und er sprach von drei Briefen, die, wie man behauptete, der Graf de Marsy vor bald fünf Jahren, kurz vor der Heirat des Kaisers, an Frau de Llorentz geschrieben hatte; diese
Dame, die gerade ihren Gatten, einen General spanischer Herkunft, verloren hatte, befand sich damals in Madrid, wo sie wichtige Angelegenheiten regelte. Das war die glückliche Zeit ihres Liebesverhältnisses. Um sie zu erheitern, hatte ihr der Graf, wobei er zugleich seiner Possendichterneigung nachgab, höchst pikante Einzelheiten über einige erlauchte Personen mitgeteilt, zu denen er in engster Beziehung stand. Und man erzählte sich, daß Frau de Llorentz, eine schöne, außerordentlich eifersüchtige Frau, seit jener Zeit diese Briefe aufbewahre und sie wie ein stets bereites Racheschwert über Herrn de Marsys Haupt schweben lasse. »Sie hat es eingesehen, als er eine wallachische Fürstin heiraten mußte«, sagte der Senator abschließend. »Aber nachdem sie ihm einen Honigmond zugebilligt hatte, hat sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß sie, falls er nicht zurückkehre und sich ihr zu Füßen lege, eines schönen Tages die drei
furchtbaren Briefe auf den Schreibtisch des Kaisers legen würde, und er hat seine Fessel wieder auf sich genommen ... Er überschüttet sie mit Freundlichkeiten, damit sie ihm die verwünschten Briefe zurückgibt.« Clorinde lachte sehr. Die Geschichte kam ihr höchst drollig vor. Und sie stellte immer neue Fragen. Würde also Frau de Llorentz, falls der Graf sie hinterging, imstande sein, ihre Drohung zu verwirklichen? Wo verwahrte sie diese drei Briefe? In ihrer Corsage, zwischen zwei Atlasbänder eingenäht, wie sie habe sagen hören? Aber Herr de Plouguern wußte nichts weiter darüber. Niemand habe die Briefe gelesen. Er kenne einen jungen Mann, der, um eine Abschrift davon zu machen, fast ein halbes Jahr lang ergebnislos den untertänigen Sklaven bei Frau de Llorentz gespielt habe. »Teufel!« fügte er hinzu, »er läßt kein Auge von dir, Kleine. Ah, ich habe es tatsächlich
vergessen: du hast ihn ja erobert! – Stimmt es, daß er bei seiner letzten Abendgesellschaft im Ministerium fast eine Stunde lang mit dir geplaudert hat?« Die junge Frau antwortete nicht. Sie hörte nicht mehr zu, reglos und stolz verharrte sie unter Herrn de Marsys unverwandtem Blick. Dann hob sie langsam den Kopf, sah den Grafen ihrerseits an und wartete auf seinen Gruß. Er näherte sich ihr, verbeugte sich. Und da lächelte sie ihm ganz leise zu. Sie sprachen kein Wort miteinander. Der Graf kehrte zu der Gruppe zurück, wo ihn Herr La Rouquette, der sehr laut redete, bei jedem Satz »Euer Exzellenz« titulierte. Nach und nach hatte sich die Galerie aber doch gefüllt. Es waren annähernd hundert Personen anwesend, hohe Beamte, Generäle, ausländische Diplomaten, fünf Abgeordnete, drei Präfekten, zwei Maler, ein Romanschriftsteller, zwei
Akademiemitglieder, ungerechnet die Hofbeamten, Kammerherren, Flügeladjutanten und Stallmeister. Das verhaltene Stimmengemurmel im Licht der Kronleuchter schwoll an. Diejenigen, welche häufig im Schloß verkehrten, gingen gemächlich umher, während die neuen Gäste herumstanden und Hemmungen hatten, sich unter die Damen zu wagen. Diese ersten Augenblicke der Befangenheit zwischen Leuten, von denen mehrere einander nicht kannten und die sich nun plötzlich vor der Tür des kaiserlichen Speisesaals versammelt fanden, verliehen den Gesichtern einen Ausdruck mürrischer Würde. Zuweilen entstand eine plötzliche Stille, Köpfe wandten sich in einer unbestimmten Ängstlichkeit. Und die Empiremöbel des weiten Raums, die gradbeinigen Konsolen, die viereckigen Sessel, schienen das Feierliche des Wartens noch zu steigern. »Da ist er endlich!« flüsterte Clorinde.
Soeben war Rougon eingetreten. Einen Moment lang blieb er zwei Schritt von der Tür entfernt stehen. Er kam in seiner schwerfälligen Biedermannshaltung mit ein wenig rundem Rücken und schläfrigem Gesicht. Mit einem einzigen Blick nahm er den leichten Schauer von Feindseligkeit wahr, den sein Erscheinen bei einigen Gruppen hervorrief. Dann richtete er es, hier und da Händedrücke austeilend, in aller Ruhe so ein, daß er sich Herrn de Marsy gegenüber befand. Sie begrüßten einander, schienen hocherfreut zu sein, sich zu begegnen. Und Auge in Auge, als Feinde, die für die Kraft des anderen Hochachtung empfinden, plauderten sie freundschaftlich. Um sie her hatte sich ein leerer Raum gebildet. Die Damen verfolgten aufmerksam auch die geringsten Gebärden der beiden, indes die Herren sehr diskret taten und anderswohin schauten, dabei aber verstohlene Blicke zu ihnen gleiten ließen. In den Ecken wurde geflüstert. Was mochte nur die geheime
Absicht des Kaisers sein? Weshalb brachte er diese beiden Persönlichkeiten auf solche Weise zusammen? Der ganz ratlose Herr La Rouquette glaubte ein schwerwiegendes Ereignis zu wittern. Er kam und befragte Herrn de Plouguern, der sich einen Spaß daraus machte, ihm zu antworten: »Himmel, Rougon wird vielleicht Marsy zu Fall bringen, und man wird gut daran tun, ihm ehrerbietig zu begegnen ... Es sei denn, der Kaiser führt etwas Böses im Schilde. Das kommt zuweilen bei ihm vor ... Vielleicht wollte er sich auch nur das Vergnügen bereiten, die beiden zusammen zu sehen, in der Hoffnung, daß es da etwas zu lachen gäbe.« Aber das Geflüster hörte auf, eine große Bewegung kam in die Gesellschaft. Zwei Hofbeamte schritten von Gruppe zu Gruppe und murmelten etwas mit gedämpfter Stimme. Und die Gäste begaben sich, sofort wieder ernst geworden, zu der linken Tür, wo sie, die Herren auf der einen Seite, die Damen auf der
anderen, Spalier bildeten. Dicht bei der Tür stellte sich Herr de Marsy auf, der Rougon neben sich behielt; dann reihten sich die anderen nach Rang und Würden an. Dort wartete man noch drei Minuten in tiefer Andacht. Beide Flügel der Tür öffneten sich. Der Kaiser, im Frack, quer über der Brust die rote Schärpe des Großkordons, trat als erster ein, gefolgt von Herrn de Combelot, dem diensthabenden Kammerherrn. Mit einem matten Lächeln blieb er vor Herrn de Marsy und Rougon stehen; den ganzen Körper hin und her wiegend, drehte er zögernd an seinem langen Schnurrbart. Dann sagte er leise und verlegen: »Richten Sie Frau Rougon aus, mit wie großem Bedauern wir gehört haben, daß sie krank ist ... Wir hätten sehr gewünscht, sie mit Ihnen hier zu sehen ... Nun, man muß hoffen, daß es nichts Ernstes ist. Zur Zeit sind viele Menschen erkältet.«
Und er ging weiter. Nach zwei Schritten drückte er einem General die Hand, bei dem er sich nach dessen Sohn erkundigte, den er seinen »kleinen Freund Gaston« nannte; Gaston war gleichaltrig mit dem Kaiserlichen Prinzen, aber schon sehr viel kräftiger. So, wie sich der Kaiser vorwärts bewegte, verneigte sich auch das Spalier. Ganz am Ende stellte ihm Herr der Combelot schließlich eins der beiden Akademiemitglieder vor, das zum erstenmal bei Hofe war; und der Kaiser sprach von einem kürzlich erschienenen Werk des Schriftstellers, wovon er, wie er sagte, einige Seiten mit dem größten Vergnügen gelesen habe. Inzwischen war, begleitet von Frau de Llorentz, die Kaiserin eingetreten. Sie trug eine sehr bescheidene Toilette, ein Kleid aus blauer Seide mit einem weißen Spitzenüberwurf. Lächelnd, den bloßen Hals,
um den an einem schlichten blauen Samtband ein Herz aus Diamanten hing, anmutig geneigt, ging sie langsam an der Reihe der Damen entlang. Wo sie vorüberschritt, riefen tiefe Hofknickse ein lautes Rascheln von Frauenröcken hervor, aus denen Moschusdüfte aufstiegen. Frau de Llorentz stellte der Kaiserin eine junge Frau vor, die sehr ergriffen zu sein schien. Frau de Combelot heuchelte gerührtes Mitgefühl. Als das Herrscherpaar dann am Ende des Spaliers angekommen war, ging es denselben Weg zurück; diesmal schritt der Kaiser an den Damen entlang und die Kaiserin an den Herren. Neue Vorstellungen erfolgten. Noch sprach niemand, ehrerbietige Befangenheit ließ die Gäste schweigend einander gegenüberstehen. Doch die Reihen lockerten sich; halblaute Worte wurden gewechselt und helles Lachen erklang, als der Generaladjutant des Schlosses kam und meldete, das Diner sei angerichtet.
»So, jetzt brauchst du mich nicht mehr!« flüsterte Herr de Plouguern heiter Clorinde ins Ohr. Sie lächelte ihn an. Sie war vor Herrn de Marsy stehengeblieben, um ihn zu zwingen, ihr den Arm zu bieten, was er übrigens mit liebenswürdiger Miene tat. Es herrschte ein leichtes Durcheinander. Der Kaiser und die Kaiserin gingen voraus, gefolgt von denjenigen, die ausersehen waren, zu ihrer Rechten und ihrer Linken zu sitzen; an diesem Tage waren das zwei ausländische Diplomaten, eine junge Amerikanerin und die Gattin eines Ministers. Nach ihnen kamen, wie es ihnen gerade beliebte, die anderen Gäste, jeder die nach seinem Gefallen gewählte Dame am Arm. Und langsam ordnete sich der Zug. Der Einzug in den Speisesaal war von großem Prunk. Fünf Kronleuchter flammten über dem langen Tisch und ließen das Silber des Tafelaufsatzes – Jagdszenen mit dem
fliehenden Hirsch, das Halali blasenden Hörnern, bei der Beute anlangenden Hunden – aufleuchten. Die silbernen Teller bildeten eine Kette schimmernder Monde um den Rand des Tischtuchs, und der Widerschein der Glut der Kerzen auf den Seiten der Schüsselwärmer, das von feurigen Tropfen rieselnde Kristall, die Fruchtkörbe und die mit Blumen von einem kräftigen Rosa gefüllten Vasen gaben der kaiserlichen Tafel einen Glanz, dessen flackernde Helligkeit den ungeheuer großen Raum erfüllte. Nachdem der Zug den Saal der Leibwache durchquert hatte, trat er verlangsamten Schrittes durch die weit offene Flügeltür. Die Herren beugten sich herab, sprachen ein paar Worte, richteten sich dann wieder auf, heimlich geschmeichelt von diesem pompösen Vorgang; die Damen mit ihren bloßen, wie von Licht durchtränkten Schultern waren auf das anmutigste entzückt, und ihre über die Teppiche schleppenden Röcke, die einen Abstand zwischen den
Paaren schufen, verliehen dem Zug, den sie mit dem leisen Rauschen kostbarer Stoffe begleiteten, noch mehr Großartigkeit. Es war ein fast zärtliches Nahen, eine genießerische Ankunft in einer Sphäre von Luxus, Licht und Lässigkeit, gleichsam ein wollüstiges Bad, wo sich der Moschusgeruch der Toiletten mit einem durch ein klein wenig Zitrone pikanter gemachten Duft nach gebratenem Wild mischte. Als die Gäste an der Schwelle, angesichts der prachtvoll gedeckten Tafel, von einer in einem anstoßenden Saal verborgenen Militärkapelle mit einem Tusch empfangen wurden, der dem Auftakt zu einem großen Zauberfest glich, drückten die Herren, die sich in ihren engen Kniehosen ein wenig unbehaglich fühlten, unwillkürlich den Arm ihrer Damen, ein Lächeln auf den Lippen. Dann ging die Kaiserin rechts am Tisch entlang und blieb an seiner Mitte stehen, während der Kaiser links entlang schritt und ihr gegenüber Platz nahm. Als sich die dazu
Ausersehenen zur Rechten und zur Linken der Majestäten eingefunden hatten, gingen die übrigen Paare einen Augenblick lang umher, wählten sich ihre Tischnachbarn, blieben an den Plätzen stehen, die ihnen zusagten. An diesem Abend war für siebenundachtzig Personen gedeckt. Fast drei Minuten verstrichen, bis alle eingetreten waren und Platz gefunden hatten. Das atlasgleiche Schillern der Schultern, die grellbunten Blumen der Toiletten, die Diamanten in den hohen Frisuren verliehen dem strahlenden Licht der Kronleuchter gewissermaßen ein lebendiges Lachen. Endlich nahmen die Lakaien den Herren die Hüte ab, die diese in der Hand behalten hatten. Und alle setzten sich. Herr de Plouguern hatte sich Rougon angeschlossen. Nach der Suppe stieß er ihn am Ellbogen an und fragte: »Haben Sie Clorinde beauftragt, Sie mit Marsy auszusöhnen?«
Und mit einem Seitenblick machte er ihn auf die junge Frau aufmerksam, die an der anderen Seite des Tisches neben dem Grafen saß und zärtlich mit ihm sprach. Rougon beschränkte sich darauf, mit sehr verdrossener Miene die Achseln zu zucken; dann tat er so, als achte er nicht mehr auf sein Gegenüber. Aber obwohl er sich um Gleichgültigkeit bemühte, kehrte sein Blick zu Clorinde zurück; er beobachtete ihre geringsten Gebärden, die Bewegungen ihrer Lippen, als wolle er die Worte ablesen, die sie sprach. »Herr Rougon«, sagte, sich herüberbeugend, Frau de Combelot, die sich so nah wie möglich zum Kaiser gesetzt hatte, »erinnern Sie sich noch jenes Vorfalls? Sie waren es, der mir eine Droschke holte. Ein ganzes Volant meines Kleides war abgerissen.« Sie wollte sich interessant machen, indem sie erzählte, wie ihr Wagen eines Tages durch den Landauer eines russischen Fürsten fast in zwei
Teile zerschnitten worden sei. Und Rougon mußte antworten. Ein Weilchen plauderte man an der Mitte der Tafel hierüber. Man sprach von allerlei Unglücksfällen, unter anderem davon, daß eine Parfümeriehändlerin aus der Passage des Panoramas in der Woche zuvor vom Pferde gestürzt sei und sich dabei einen Arm gebrochen habe. Die Kaiserin schrie vor Mitgefühl leicht auf. Der Kaiser sagte nichts; mit undurchdringlichem Gesicht langsam weiteressend, hörte er zu. »Wo ist denn Delestang hingeraten?« fragte nun seinerseits Rougon Herrn de Plouguern. Sie suchten ihn. Endlich entdeckte ihn der Senator am Ende der Tafel. In einer ganzen Reihe von Herren saß er neben Herrn de Combelot, die Ohren nach sehr freien Reden gespitzt, die der Stimmentumult übertönte. Herr La Rouquette hatte die etwas gewagte. Geschichte einer Wäscherin aus seiner Heimat begonnen; der Cavaliere Rusconi gab sein
persönliches Urteil über die Pariserinnen ab, während weiter unten der eine der beiden Maler und der Romanschriftsteller mit harten Worten Gericht über die Damen hielten, deren zu dicke oder zu dünne Arme ihnen ein spöttisches Grinsen entlockten. Und Rougon ließ seinen Blick wütend von Clorinde, die immer liebenswürdiger zu dem Grafen wurde, wieder zu ihrem Einfaltspinsel von Ehemann gleiten, der wie blind dort unten saß und zu den ein wenig starken Dingen, die er hörte, würdevoll lächelte. »Weshalb hat er sich nicht zu uns gesetzt?« murmelte er. »Oh, ich bedaure ihn nicht«, sagte Herr de Plouguern. »Man scheint sich dort unten gut zu amüsieren.« Dann fuhr er, dicht an Rougons Ohr, fort: »Ich glaube, sie haben Frau de Llorentz vor. Haben Sie bemerkt, wie dekolletiert sie ist? – Da wird ganz sicher gleich was rausrutschen. Die linke, was?«
Doch als er sich vorbeugte, um Frau de Llorentz, die fünf Plätze weiter an derselben Seite wie er saß, besser sehen zu können, wurde er ganz plötzlich ernst. Diese Dame, eine schöne, etwas starke Blondine, hatte in dem Augenblick ein furchtbares Gesicht, ganz bleich von kalter Wut, mit blauen, sich zu Schwarz verdunkelnden Augen, die starr auf Herrn de Marsy und Clorinde gerichtet waren. Und so leise, daß selbst Rougon ihn nicht zu verstehen vermochte, stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Zum Teufel, das wird böse ausgehen!« Die Kapelle spielte noch immer, eine ferne Musik, die von der Decke herab zu kommen schien. Bei gewissen lauten Klängen der Blechinstrumente hoben die Speisenden den Kopf, suchten nach der Melodie, die sie verfolgte. Dann hörten sie nicht mehr hin; das leichte Singen der Klarinetten in dem anstoßenden Saal verschmolz mit dem hellen Klirren des silbernen Geschirrs, das in
ungeheuren Stößen hereingebracht wurde. Große Schüsseln hallten mit dumpfem Zimbelklang. Rings um den Tisch herrschte schweigende Geschäftigkeit, ein ganzes Volk von Bedienten war, ohne ein Wort zu sprechen, in lebhafter Bewegung, die Türhüter in Frack und hellblauen Kniehosen, mit Degen und Dreimaster, die Lakaien, das Haar gepudert, im grünen, mit goldenen Tressen besetzten Frack der Galalivree. Pünktlich erschienen die Gerichte, zirkulierten die Weine, während die Mundschenke, die Haushofmeister, der Obertafelmeister und der Vorsteher der Silberkammer diesen komplizierten Vorgang überwachten, dies Gewirr, bei dem die Rolle auch des letzten Lakaien im voraus festgelegt war. Hinter dem Kaiser und der Kaiserin stehend, warteten mit tadelloser Würde die persönlichen Kammerdiener der Majestäten auf.
Als die Braten kamen und die edelsten Burgunderweine eingeschenkt wurden, stieg der Stimmenlärm an. Jetzt plauderte in der Herrenecke am Ende der Tafel Herr La Rouquette über Kochkunst und erörterte, ob ein am Spieß gebratenes Rehviertel, das man soeben aufgetragen hatte, auch richtig gar sei. Es gab eine Suppe à la Crécy67, Salm blau, Rindslende mit Schalottensauce, Poularden à la financière68, Rebhühner auf Kohl, Austernpastetchen. »Ich wette, wir bekommen spanische Artischocken au jus69 und Gurken à la crème70«, sagte der junge Abgeordnete. »Ich habe Krebse gesehen«, äußerte Delestang höflich. Doch als die spanischen Artischocken au jus und die Gurken à la crème erschienen, triumphierte Herr La Rouquette lärmend. Er fügte hinzu, daß er den Geschmack der Kaiserin kenne. Der Romanschriftsteller aber
sah mit leichtem Zungenschnalzen den Maler an. »Mäßige Küche, was?« murmelte er. Der Maler schnitt ein beipflichtendes Gesicht. Nachdem er getrunken hatte, meinte er dann seinerseits: »Die Weine sind ausgezeichnet.« In diesem Augenblick lachte die Kaiserin so laut auf, daß alle schwiegen. Man machte einen langen Hals, um zu sehen, was los sei. Die Kaiserin unterhielt sich mit dem deutschen Gesandten, der zu ihrer Rechten saß; sie lachte noch immer, wobei sie abgerissene Worte hervorbrachte, die nicht zu verstehen waren. In dem plötzlich eingetretenen neugierigen Schweigen spielte ein Ventilhorn, leise von den Bratschen begleitet, ein Solo, einen melodischen Satz aus einer gefühlvollen Romanze. Und nach und nach schwoll das Getöse wieder an. Die Stühle wurden halb gedreht, Ellbogen auf den Rand des Tafeltuches gestützt, vertrauliche Gespräche
begannen inmitten der dieser fürstlichen Tafel.
Ungezwungenheit
»Möchten Sie ein Petitfour?« fragte Herr de Plouguern. Rougon schüttelte den Kopf. Seit einer kleinen Weile aß er nicht mehr. Man hatte das silberne Geschirr gegen Sèvresporzellan ausgewechselt, das mit einer zarten Malerei in Blau und Rosa verziert war. Er ließ den ganzen Nachtisch an sich vorübergehen, ohne sich etwas anderes zu genehmigen als ein wenig Camembert. Er tat sich keinen Zwang mehr an, sah Clorinde und Herrn de Marsy ausgiebig ins Gesicht, zweifellos in der Hoffnung, die junge Frau einzuschüchtern. Diese aber heuchelte eine solche Vertraulichkeit mit dem Grafen, daß es schien, als habe sie vergessen, wo sie sich befand, und glaube sich in einem intimen Salon bei einem erlesenen Souper zu zweit. Ihre große Schönheit war von einer außerordentlichen
Zärtlichkeit überglänzt. Und sie knabberte Zuckerzeug, das ihr der Graf reichte, sie eroberte ihn auf eine schamlos gelassene Art mit ihrem anhaltenden Lächeln. Rings um sie fing man an zu flüstern. Die Unterhaltung hatte sich der Mode zugewandt, Herr de Plouguern, von Bosheit getrieben, erkundigte sich bei Clorinde nach der neuen Hutform. Da sie so tat, als habe sie nichts gehört, beugte er sich vor, um die gleiche Frage an Frau de Llorentz zu stellen. Doch er wagte es nicht, so fürchterlich erschien sie ihm mit ihren zusammengebissenen Zähnen, ihrem tragischen Ausdruck eifersüchtiger Wut. Clorinde hatte soeben Herrn de Marsy unter dem Vorwand, ihm eine antike Kamee zu zeigen, die sie am Finger trug, ihre linke Hand überlassen, und sie zog die Hand nicht zurück; der Graf streifte den Ring ab, streifte ihn ihr wieder auf; das war nahezu unschicklich. Frau de Llorentz, die nervös mit einem Löffel
spielte, zerschlug ihr Bordeauxglas, dessen Scherben ein Diener schnell entfernte. »Sie werden sich noch in die Haare geraten, das ist sicher«, raunte der Senator Rougon ins Ohr. »Haben Sie sie beobachtet? Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich Clorindes Spiel verstehe! Was bezweckt sie, wie?« Und als er die Augen auf seinen Tischnachbarn richtete, war er sehr überrascht von der Veränderung in dessen Zügen. »Was haben Schmerzen?«
Sie
denn?
Haben
Sie
»Nein«, antwortete Rougon, »mir ist nur etwas beklommen. Diese Diners dauern zu lange. Außerdem riecht es hier so stark nach Moschus!« Das Diner war zu Ende. Einige Damen aßen, weit in ihre Stühle zurückgelehnt, noch ein Biskuit. Niemand jedoch rührte sich vom Fleck. Der Kaiser, der bis dahin geschwiegen
hatte, erhob gerade die Stimme, und an beiden Enden der Tafel hörten die Tischgenossen, die die Anwesenheit Seiner Majestät völlig vergessen hatten, plötzlich mit der Miene großer Bereitwilligkeit aufmerksam zu. Der Herrscher äußerte sich zu einer Abhandlung des Herrn Beulind'Orchère gegen die Ehescheidung. Dann unterbrach er sich, warf einen Blick auf die sehr tief ausgeschnittene Corsage der jungen Amerikanerin, die zu seiner Linken saß, und sagte mit seiner teigigen Stimme: »In Amerika habe ich nur häßliche Frauen geschieden werden sehen.« Ein Lachen lief durch die Tischgesellschaft. Das schien ein sehr geistreicher Ausspruch zu sein, so geistvoll sogar, daß sich Herr La Rouquette den Kopf zerbrach, um den verborgenen Sinn zu entdecken. Die junge Amerikanerin glaubte zweifellos, ihn als Kompliment auffassen zu sollen, denn sie dankte verwirrt durch ein Neigen des Kopfes. Der Kaiser und die Kaiserin hatten sich
erhoben. Es entstand ein großes Rauschen von Röcken, ein Getrappel rings um den Tisch, während sich die Türhüter und Lakaien, ernst an den Wänden aufgereiht, als einzige inmitten dieser Gelockertheit von Leuten, die gut gespeist haben, noch korrekt verhielten. Und abermals ordnete sich der Zug und durchschritt, die Majestäten an der Spitze, anschließend in langer Reihe die durch die großen Schleppen voneinander in Abstand gehaltenen Gäste, mit ein wenig atemloser Feierlichkeit den Saal der Leibwache. Hinter ihnen schallten im hellen Licht der Kronleuchter, über der noch lauwarmen Unordnung der Tafel, die Paukenschläge der Militärkapelle, die gerade die letzte Figur einer Quadrille beendete. Der Kaffee wurde an diesem Abend in der Galerie des cartes serviert. Ein Palastpräfekt brachte auf einem Tablett aus Vermeil die Tasse des Kaisers. Mehrere Gäste waren jedoch bereits in das Rauchzimmer
hinaufgegangen. Die Kaiserin hatte sich soeben mit einigen Damen in den Familiensalon links von der Galerie zurückgezogen. Man flüsterte einander zu, sie habe lebhaftes Mißfallen über Clorindes seltsames Benehmen während des Diners bezeigt. Sie war bemüht, während des Aufenthalts in Compiègne bürgerlichen Anstand, Neigung zu unschuldigen Spielen und ländlichen Vergnügungen am Hofe einzuführen. Gegen gewisse Überspanntheiten zeigte sie einen persönlichen Haß, gleichsam einen nachtragenden Groll. Herr de Plouguern hatte Clorinde beiseite geführt, um ihr eine kleine Moralpredigt zu halten. Im Grunde genommen wollte er sie zu einem Geständnis zwingen. Aber sie tat höchst erstaunt. Wo nehme man das her, daß sie sich mit dem Grafen de Marsy ins Gerede gebracht habe? Sie hätten miteinander gescherzt, weiter nichts.
»Komm, schau her!« murmelte der alte Senator. Und die angelehnte Tür eines benachbarten kleinen Salons ein wenig weiter öffnend, zeigte er ihr Frau de Llorentz, die Herrn de Marsy eine entsetzliche Szene machte. Herr de Plouguern hatte die beiden dort hineingehen sehen. Die schöne, völlig kopflos gewordene Blondine verschaffte sich in sehr groben Ausdrücken Erleichterung, verlor dabei jedes Maß, vergaß, daß der Schall ihrer Stimme einen furchtbaren Skandal herbeiführen könnte. Der Graf, der ein wenig bleich war, aber dennoch lächelte, versuchte sie zu beruhigen, indem er rasch, sanft und leise auf sie einsprach. Da der Lärm des Streites in die Galerie des cartes gedrungen war, entfernten sich die Gäste, die ihn hören konnten, wohlweislich aus der Nähe des kleinen Salons. »Du möchtest also, daß sie die berüchtigten Briefe an allen Ecken des Schlosses
anschlägt?« fragte Herr de Plouguern, der, nachdem er der jungen Frau den Arm gereicht hatte, wieder umherzugehen begann. »Ha, das wäre lustig!« sagte sie lachend. Da fing er von neuem an, ihr eine Predigt zu halten, wobei er ihren bloßen Arm mit der Glut eines jungen Galans drückte. Die Überspanntheiten solle man Frau de Combelot überlassen. Dann versicherte er ihr, daß Ihre Majestät sehr erzürnt auf sie zu sein scheine. Clorinde, die die Kaiserin abgöttisch liebte, war höchst erstaunt. Womit habe sie denn Mißfallen erregen können? Und als sie vor dem Familiensalon anlangten, blieben sie einen Augenblick lang stehen und sahen durch die offengebliebene Tür. Ein ganzer Kreis von Damen umgab einen großen Tisch. Die Kaiserin saß mitten unter ihnen und brachte ihnen geduldig ein Geschicklichkeitsspiel mit Ringen bei, während einige Herren hinter den Sesseln standen und mit Ernst der
Unterweisung folgten. Unterdessen haderte Rougon am Ende der Galerie mit Delestang. Er hatte nicht gewagt, mit ihm über seine Frau zu reden; er ließ ihn hart an wegen der Unterwürfigkeit, womit jener ein Appartement hingenommen habe, das nach dem Hof des Schlosses hinaus lag, und er wollte ihn zwingen, nach dem Park zu gelegene Zimmer zu verlangen. Aber Clorinde näherte sich am Arm Herrn de Plouguerns. Sie sagte so, daß man es hören mußte: »Lassen Sie mich doch mit Ihrem Marsy in Ruhe! Ich werde den ganzen Abend nicht mehr mit ihm sprechen. So, sind Sie nun zufrieden?« Diese Worte beruhigten alle. Gerade kam Herr de Marsy mit sehr heiterer Miene aus dem kleinen Salon. Er scherzte einen Augenblick lang mit dem Cavaliere Rusconi, ging dann in den Familiensalon, wo man bald die Kaiserin und die Damen hellauf über eine Geschichte lachen hörte, die er ihnen erzählte. Zehn
Minuten später erschien auch Frau de Llorentz wieder; sie wirkte müde, ihre Hände zitterten noch, und da sie sah, daß neugierige Blicke auch noch die geringsten ihrer Gesten belauerten, blieb sie tapfer dort und plauderte mit verschiedenen Gruppen. In ehrerbietiger Langeweile wurde manches leichte Gähnen hinter Taschentüchern erstickt. Der Abend war der beschwerliche Teil des Tages. Die neuen Gäste, die nicht wußten, womit sie sich die Zeit vertreiben sollten, traten an die Fenster, blickten in die Nacht hinaus. Herr Beulind'Orchère fuhr in einer Ecke in seinem Vortrag gegen die Ehescheidung fort. Der Romanschriftsteller, der das »sterbenslangweilig« fand, fragte eines der Akademiemitglieder, ob es nicht erlaubt sei, schlafen zu gehen. Von Zeit zu Zeit jedoch erschien der Kaiser und schritt, eine Zigarette zwischen den Lippen, mit schleppendem Gang durch die Galerie.
»Es war unmöglich, für heute abend irgend etwas vorzubereiten«, erklärte Herr de Combelot der kleinen Gruppe, die von Rougon und seinen Freunden gebildet wurde. »Morgen nach der Parforcejagd soll es eine Curée froide bei Fackelschein geben. Übermorgen werden die Schauspieler der ComédieFrançaise71 kommen und ›Die Kläger72‹ spielen. Man spricht auch von lebenden Bildern und von einer Scharade73, die man gegen Ende der Woche aufführen wolle.« Und er erzählte Näheres. Seine Frau solle dabei mitwirken. Die Proben würden bald anfangen. Dann berichtete er ausführlich von einem Spaziergang, den der Hof tags zuvor zum Pierrequitourne gemacht hatte, einem druidischen Monolithen, um den herum damals Ausgrabungen vorgenommen wurden. Die Kaiserin habe darauf bestanden, in die Grube hinabzusteigen. »Stellen Sie sich vor«, fuhr der Kammerherr
mit bewegter Stimme fort, »daß die Arbeiter das Glück gehabt haben, in Gegenwart Ihrer Majestät zwei Schädel bloßzulegen. Niemand hatte dergleichen erwartet. Man war sehr befriedigt.« Er strich seinen prächtigen schwarzen Bart, der ihm soviel Erfolg bei den Damen eintrug; sein Gesicht, das Gesicht eines eitlen, schönen Mannes, machte einen einfältigsanftmütigen Eindruck, und aus übertriebener Höflichkeit lispelte er beim Sprechen. »Aber«, sagte Clorinde, »man hat mir versichert, die Schauspieler vom Théâtre du Vaudeville74 würden ein neues Stück spielen ... Die Frauen haben wunderbare Toiletten. Und man biegt sich anscheinend vor Lachen.« Herr de Combelot setzte eine pikierte Miene auf. »Ja, ja«, murmelte er, »es war kurz die Rede
davon.« »Nun und?« »Man hat diesen Plan fallenlassen ... Die Kaiserin liebt Stücke dieser Art nicht.« In diesem Augenblick entstand eine große Bewegung in der Galerie. Alle Herren waren aus dem Rauchsalon heruntergekommen. Der Kaiser wollte seine Partie Palet75 anfangen. Frau de Combelot, die sich auf ihre Geschicklichkeit in diesem Spiel etwas zugute tat, hatte ihn soeben um Revanche gebeten, da sie sich erinnere, in der vorigen Saison von ihm besiegt worden zu sein; und sie war so sanft und unterwürfig, sie bot sich immer wieder mit einem so unmißverständlichen Lächeln an, daß Seine Majestät, befangen und eingeschüchtert, oft die Augen wegwenden mußte. Die Partie begann. Eine große Anzahl Gäste stellte sich im Kreis ringsum, begutachtete die
Würfe und war ganz begeistert. An dem langen, mit grünem Tuch bedeckten Tisch stehend, warf die junge Frau ihre erste Scheibe, die dicht neben das durch einen weißen Punkt bezeichnete Ziel traf. Aber der Kaiser erwies sich als noch geschickter, er trieb die Scheibe von ihrem Platz und eroberte ihn für die seine. Man klatschte leise Beifall, dennoch gewann Frau de Combelot. »Sire, um was haben wir gespielt?« fragte sie keck. Er lächelte, ohne zu antworten. Dann wandte er sich um und sagte: »Herr Rougon, wollen Sie eine Partie mit mir spielen?« Rougon verbeugte sich, nahm die Wurfscheiben und sprach dabei von seiner Ungeschicklichkeit. Eine leichte Erregung hatte sich der zu beiden
Seiten des Tisches aufgereihten Personen bemächtigt. Sollte Rougon tatsächlich wieder in Gnaden aufgenommen werden? Und die dumpfe Feindseligkeit, die ihn seit seiner Ankunft umgab, schmolz dahin. Köpfe reckten sich, um seinen Wurfscheiben mit einem Ausdruck von Sympathie zu folgen. Herr La Rouquette, noch ratloser als vor dem Diner, führte seine Schwester beiseite, um zu erfahren, was er davon zu halten habe; doch sie vermochte ihm offensichtlich keine befriedigende Erklärung zu geben, denn er kam mit einer Gebärde ungeheurer Unsicherheit zurück. »Ha, sehr gut!« murmelte Clorinde bei einem elegant hingelegten Wurf Rougons. Und sie warf den anwesenden Freunden des großen Mannes bedeutungsvolle Blicke zu. Die Stunde war günstig, um ihm die Freundschaft des Kaisers wiederzuverschaffen. Sie führte den Angriff an. Einen Augenblick
lang ergoß sich ein Regen von Lobsprüchen. »Teufel noch mal!« entfuhr es Delestang, dem unter dem stummen Befehl der Augen seiner Frau nichts anderes einfiel. »Und Sie haben behauptet, Sie seien ungeschickt!« sagte der Cavaliere Rusconi hingerissen. »Ach, Sire, ich bitte Sie, spielen Sie nicht um Frankreich mit ihm!« »Aber Herr Rougon würde sich, was Frankreich betrifft, sehr gut verhalten, davon bin ich überzeugt«, fügte Herr Reulind'Orchère hinzu, seinem Bulldoggengesicht einen verschlagenen Ausdruck verleihend. Das Wort ging gerade aufs Ziel los. Der Kaiser geruhte zu lächeln. Und er lachte herzhaft, als Rougon, durch diese Komplimente verlegen gemacht, bescheiden mit der Erklärung antwortete: »Mein Gott, ich habe als kleiner Junge Bouchon76 gespielt.« Als man Seine Majestät lachen hörte, brach die
ganze Galerie in Gelächter aus. Einen Augenblick lang herrschte eine außerordentliche Heiterkeit. Clorinde hatte mit der Witterung eines schlauen Weibes begriffen, daß man, wenn man Rougon – einen im Grunde recht mittelmäßigen Spieler – bewunderte, vor allem dem Kaiser schmeichelte, der eine unbestreitbare Überlegenheit bewies. Herr de Plouguern jedoch, der auf diesen Erfolg neidisch war, hatte sich noch nicht dazu entschließen können. Sie kam und stieß ihn wie aus Versehen leicht mit dem Ellbogen an. Er verstand und geriet in Verzückung, als Rougon wieder eine Wurfscheibe schleuderte. Da rief Herr La Rouquette begeistert, alles wagend: »Ausgezeichnet! Das ist ein wahrhaft markiger Wurf!« Da der Kaiser gewonnen hatte, bat Rougon um Revanche. Von neuem glitten die Wurfscheiben mit dem leisen Rascheln welker Blätter über die grüne Tuchfläche, als an der
Tür des Familiensalons eine Gouvernante mit dem Kaiserlichen Prinzen auf dem Arm erschien. Der Kleine, etwa zwanzig Monate alt, hatte ein sehr schlichtes weißes Kleidchen an, sein Haar war zerzaust, die Augen vom Schlaf verschwollen. Für gewöhnlich brachte man ihn, wenn er am Abend so aufwachte, für ein Weilchen zur Kaiserin, damit sie ihn herze. Er blickte mit dem tiefernsten Gesicht kleiner Knaben ins Licht. Ein alter Mann, ein Großwürdenträger, war, so schnell seine gichtigen Beine ihn trugen, auf ihn zugeschlurft. Und sich mit greisenhaftem Zittern verbeugend, ergriff er das weiche Händchen des Prinzen, küßte es und murmelte dabei mit seiner brüchigen Stimme: »Monseigneur77, Monseigneur ...« Das Kind, erschreckt durch die Nähe dieses pergamentenen Gesichts, warf sich heftig zurück, stieß schreckliche Schreie aus. Doch der Greis ließ nicht los. Er beteuerte feierlich
seine Ergebenheit. Man mußte das weiche Händchen, das er an seine Lippen gepreßt hielt, seiner Huldigung entziehen. »Gehen Sie, bringen Sie ihn hinaus!« sagte der Kaiser, der die Geduld verlor, zu der Gouvernante. Der Herrscher hatte soeben die zweite Partie verloren. Das Entscheidungsspiel begann. Rougon, der das ihm gespendete Lob ernst nahm, gab sich große Mühe. Jetzt fand Clorinde, er spiele zu gut. Als er in diesem Augenblick gerade seine Wurfscheiben einsammelte, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich hoffe, Sie gewinnen diesmal nicht.« Er lächelte. Plötzlich aber ertönte heftiges Gebell. Das war Néro, des Kaisers Lieblingsbracke, der sich eine nur angelehnte Tür zunutze gemacht hatte und in die Galerie gestürmt war. Seine Majestät gaben Befehl, den Hund wegzuführen, und ein Türhüter hielt ihn bereits am Halsband, als mit dem Ruf:
»Mein schöner Néro, mein schöner Néro ...« abermals der Greis, der Großwürdenträger, herbeieilte. Und er kniete sich fast auf den Teppich, um das Tier mit seinen zitternden Armen zu umfassen. Er drückte sich seine Schnauze an die Brust und gab ihm schmatzende Küsse auf den Kopf, wiederholte immerzu: »Ich bitte Sie, Sire, schicken Sie ihn nicht fort ... Er ist so schön!« Der Kaiser gestattete, daß der Hund dablieb. Da verdoppelte der Greis seine Zärtlichkeiten. Und das Tier erschrak nicht, knurrte nicht. Es leckte die dürren Hände, die es streichelten. Inzwischen machte Rougon Fehler. Er hatte eine Wurfscheibe so ungeschickt geschleudert, daß das mit Tuch überzogene Bleiplättchen in die Corsage einer Dame geflogen war, die es errötend aus ihren Spitzen hervorzog. Der Kaiser gewann. Jetzt gab man ihm auf feine Weise zu verstehen, daß er da einen bedeutenden Sieg davongetragen habe. Das
erfüllte ihn mit einer Art Rührung. Plaudernd, als glaube er Rougon trösten zu müssen, ging er mit ihm weg. Die ganze Breite des Raumes einem kleinen Ball überlassend, für den man gerade Vorbereitungen traf, schritten sie bis ans Ende der Galerie. Die Kaiserin, die soeben den Familiensalon verlassen hatte, bemühte sich mit reizender Bereitwilligkeit, gegen die zunehmende Langeweile der Gäste anzukämpfen. Sie hatte vorgeschlagen, Schreibspiele zu machen; aber es war schon spät, man wollte lieber tanzen. Alle Damen fanden sich nun in der Galerie des cartes zusammen. Man schickte in den Rauchsalon, um die Herren, die sich dort verborgen hielten, herbeizuholen. Und als man sich zu einer Quadrille aufstellte, setzte sich Herr de Combelot liebenswürdigerweise ans Klavier. Es war ein mechanisches Klavier mit einer kleinen Kurbel rechts von der Klaviatur. Der Kammerherr drehte sie ununterbrochen, mit ernstem Gesicht.
»Herr Rougon«, begann der Kaiser, »man hat mir von einer Arbeit gesprochen, einem Vergleich zwischen der englischen Verfassung und der unsrigen ... Ich könnte Ihnen vielleicht Unterlagen beschaffen.« »Majestät sind zu gütig ... Aber ich hege einen anderen Plan, einen sehr großen Plan.« Und da sich der Herrscher so herzlich gab, wollte Rougon die Gelegenheit nutzen. Er setzte ihm in aller Ausführlichkeit seine Sache auseinander, seinen Traum von einer sehr ausgedehnten Landwirtschaft in einer entlegenen Gegend des Departements Landes, von der Urbarmachung mehrerer Quadratmeilen, der Gründung einer Stadt, der Eroberung eines neuen Gebiets. Während er sprach, sah ihn der Kaiser aus seinen trüben Augen an, in denen ein Schimmer aufleuchtete. Er sagte nichts, zuweilen bewegte er zustimmend den Kopf. Dann, als der andere schwieg: »Zweifellos ... Das ließe
sich überlegen ...« Und er wandte sich an eine in der Nähe befindliche Gruppe, die aus Clorinde, deren Gatten und Herrn de Plouguern bestand: »Herr Delestang, sagen Sie uns doch Ihre Ansicht ... Ich habe meinen Besuch auf Ihrem Mustergut La Chamade in bester Erinnerung.« Delestang trat zu ihm. Aber der Kreis, der sich um den Kaiser bildete, mußte bis in eine Fensternische zurückweichen. Die lange Schleppe Frau de Combelots, die sich, fast vergehend in den Armen des Herrn La Rouquette, im Walzer drehte, hatte sich beim Vorübergleiten um die seidenen Strümpfe Seiner Majestät geschlungen. Am Klavier genoß Herr de Combelot die Musik, die er machte; er drehte schneller, wiegte seinen tadellosen schönen Kopf, und mitunter warf er einen Blick nach unten auf das Gehäuse des Instruments, wie überrascht von den tiefen Tönen, die manche Umdrehungen der Kurbel
daraus hervorholten. »Ich habe das Glück gehabt, in diesem Jahr dank einer neuen Rassenkreuzung prachtvolle Kälber zu erzielen«, erklärte Delestang. »Leider wurden, als Euer Majestät kamen, gerade die Pferche ausgebessert.« Und der Kaiser sprach langsam, in abgerissenen Worten über Landbestellung, Viehzucht, Mastfutter. Seit seinem Besuch in La Chamade stand Delestang bei ihm in hohem Ansehen. Er lobte diesen besonders, weil er mit dem Personal seines Gutes den Versuch eines Gemeinschaftslebens gemacht hatte, mit einem ganzen System für die Verteilung gewisser Gewinne und für eine Pensionskasse. Wenn sich die beiden unterhielten, stimmten sie in mancherlei Ideen überein, in allerlei Anwandlungen von Humanitätsduselei, was dazu führte, daß sie einander mühelos verstanden. »Hat Ihnen Herr Rougon von seinem Plan
gesprochen?« fragte der Kaiser. »Oh, ein herrlicher Plan!« antwortete Delestang. »Man könnte Versuche im großen Stil machen ...« Er trug eine wahre Begeisterung zur Schau. Die Frage der Schweinerassen beschäftigte ihn sehr; die guten Arten stürben in Frankreich aus. Dann ließ er durchblicken, daß er sich mit einer neuen Bewirtschaftungsweise für künstliche Wiesen befasse. Aber dazu gehörten unermeßlich große Gebiete. Falls Rougon Erfolg hätte, würde er dorthin gehen und sein Verfahren anwenden. Und plötzlich hielt er inne: er hatte bemerkt, daß seine Frau ihn unverwandt ansah. Seit er Rougons Plan zustimmte, verkniff sie, wütend und ganz bleich, die Lippen. »Mein Freund«, murmelte sie, auf das Klavier deutend. Herr
de
Combelot,
dessen
Finger
wie
zerschlagen waren, spreizte sie und schloß dann langsam wieder die Hand, um sich zu entspannen. Gerade wollte er mit dem gefälligen Lächeln eines Märtyrers eine Polka anfangen, als Delestang herbeieilte und ihm anbot, ihn abzulösen, was er mit zuvorkommender Miene annahm, als überlasse er dem anderen einen Ehrenplatz. Und Delestang machte sich, die Polka beginnend, ans Kurbeln. Aber das war gar nicht zu vergleichen. Er verfügte nicht über ein so geschmeidiges Spiel, ein so leichtes und dabei markiges Drehen des Handgelenks wie der Kammerherr. Rougon wollte dennoch ein entscheidendes Wort vom Kaiser erlangen. Dieser, den die Sache sehr lockte, fragte ihn jetzt, ob er nicht beabsichtige, dort große Arbeitersiedlungen zu bauen; es würde ein leichtes sein, jeder Familie ein Stückchen Boden, freie Wasserversorgung in beschränktem Umfang und Geräte zu bewilligen, und er versprach
sogar, ihm Pläne zugänglich zu machen, das Projekt einer solchen Siedlung, das er selber schriftlich niedergelegt habe, mit lauter gleichen Häusern, bei denen alles Notwendige vorgesehen sei. »Gewiß, ich stimme den Ideen Eurer Majestät vollkommen bei«, antwortete Rougon, den der verschwommene Sozialismus des Herrschers ungeduldig machte. »Wir werden ohne Euer Majestät nichts schaffen können ... So wird es zweifellos nötig werden, einige Gemeinden zu enteignen. Man wird erklären müssen, daß es im Interesse des öffentlichen Wohls notwendig ist. Kurz, ich werde mich mit der Bildung einer Gesellschaft beschäftigen müssen ... Es bedarf nur eines Wortes Eurer Majestät ...« Der Blick des Kaisers wurde matt. Er schüttelte anhaltend den Kopf. Dann sagte er mehrmals dumpf, mit kaum vernehmbarer Stimme: »Wir werden sehen ... wir werden noch darüber sprechen ...«
Und damit entfernte er sich, mit seinem schleppenden Gang quer durch die Figur einer Quadrille schreitend. Rougon bewahrte Haltung, als sei ihm die Gewißheit einer günstigen Antwort geworden. Clorinde strahlte. Nach und nach verbreitete sich unter den gesetzten Herren, die nicht tanzten, die Nachricht, Rougon werde Paris verlassen und sich an die Spitze eines großen Unternehmens in Südfrankreich stellen. Da kam man zu ihm und beglückwünschte ihn. Von einem Ende der Galerie bis zum anderen lächelte man ihm zu. Von der Feindseligkeit des ersten Augenblicks blieb keine Spur mehr übrig. Da er sich freiwillig ins Exil begab, konnte man ihm die Hand drücken, ohne Gefahr zu laufen, sich zu schaden. Das war für viele der Gäste eine wahre Erleichterung. Herr La Rouquette hörte auf zu tanzen und sprach mit der hocherfreuten Miene eines von seinen Sorgen erlösten Mannes mit dem Cavaliere Rusconi darüber.
»Er tut gut daran, er wird dort unten Großes vollbringen«, meinte er, »Rougon ist ein sehr tüchtiger Mann; aber in der Politik fehlt es ihm nun einmal an Taktgefühl.« Dann zeigte er sich gerührt von der Güte des Kaisers, der, wie er es ausdrückte, »seine alten Diener so liebt, wie man ehemalige Geliebte liebt«. Die Gewöhnung mache ihn so anhänglich an sie, seine Zuneigung lebe auch nach dem heftigsten Zerwürfnis wieder auf. Wenn er Rougon nach Compiègne eingeladen habe, so gewiß aus einer verschwiegenen Weichherzigkeit. Und der junge Abgeordnete zählte andere Tatsachen auf, die dem guten Herzen Seiner Majestät zur Ehre gereichten: vierhunderttausend Francs habe er hergegeben, um die Schulden eines durch eine Tänzerin zugrunde gerichteten Generals zu bezahlen, achthunderttausend Francs als Hochzeitsgeschenk für einen seiner ehemaligen Mitverschworenen von Straßburg und Boulogne78 geopfert, nahezu eine Million
zugunsten der Witwe eines Großwürdenträgers aufgewendet. »Seine Schatulle wird ständig geplündert«, sagte er abschließend. »Er hat sich nur zum Kaiser ausrufen lassen, um seine Freunde reich zu machen ... Ich kann nur mit den Achseln zucken, wenn ich höre, wie die Republikaner ihm seine Zivilliste vorwerfen. Er könnte, um Gutes zu tun, zehn Zivilisten verbrauchen. Das ist Geld, das nach Frankreich zurückfließt.« Während sich Herr La Rouquette und der Cavaliere Rusconi so mit gedämpfter Stimme unterhielten, folgten sie mit den Blicken dem Kaiser. Dieser hatte fast die ganze Galerie durchwandert. Er bewegte sich vorsichtig zwischen den Tanzenden, schritt stumm und allein durch den leeren Raum, den die Ehrerbietung vor ihm auftat. Als er hinter den nackten Schultern einer sitzenden Dame vorbeikam, reckte er mit einem schrägen und bohrenden Blick aus halb zugekniffenen
Augen ein wenig den Hals. »Und einen Verstand hat er!« sagte mit noch leiserer Stimme der Cavaliere Rusconi. »Ein außerordentlicher Mann!« Der Kaiser war in ihre Nähe gelangt. Düster und unschlüssig blieb er eine Minute lang stehen. Dann schien er auf Clorinde zugehen zu wollen, die in diesem Augenblick sehr heiter, sehr schön war; doch sie sah ihn keck an und erschreckte ihn wohl. Er setzte seinen Weg fort, die linke Hand ins Kreuz gestützt, mit der anderen die gewichsten Enden seines Schnurrbarts drehend. Und als sich Herr Beulind'Orchère vor ihm befand, machte er einen Bogen, näherte sich ihm von der Seite und fragte: »Tanzen Sie denn nicht, Herr Präsident?« Der Justizbeamte gestand, daß er nicht tanzen könne, daß er in seinem ganzen Leben noch nicht getanzt habe. Da sagte der Kaiser in ermunterndem Ton: »Das macht nichts, man
tanzt trotzdem.« Das war sein letztes Wort. Er erreichte in aller Stille die Tür, er verschwand. »Nicht wahr, ein außerordentlicher Mann?« fragte Herr La Rouquette, den Ausspruch des Cavaliere Rusconi wiederholend. »Im Ausland beschäftigt man sich ja wohl ungeheuer viel mit ihm?« Der Cavaliere antwortete als diskreter Diplomat nur mit undeutbaren Kopfbewegungen. Dennoch gab er zu, daß die Blicke ganz Europas unablässig auf den Kaiser gerichtet seien. Ein in den Tuilerien gesprochenes Wort lasse die benachbarten Throne erzittern. »Das ist ein Fürst, der zu schweigen versteht«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, dessen feine Ironie dem jungen Abgeordneten entging. Die beiden kehrten galant zu den Damen zurück. Sie forderten einige von ihnen für die
nächste Quadrille auf. Seit einer Viertelstunde drehte ein Adjutant die Kurbel des Klaviers. Delestang und Herr de Combelot kamen angestürzt und erboten sich, ihn abzulösen. Aber die Damen riefen: »Herr de Combelot, Herr de Combelot ... Der dreht sehr viel besser!« Der Kammerherr dankte mit einer liebenswürdigen Verbeugung und kurbelte mit wahrhaft meisterlichem Gleichmaß. Es war die letzte Quadrille. Man hatte soeben im Familiensalon den Tee serviert. Néro, der hinter einem Kanapee hervorkam, wurde mit Sandwiches vollgestopft. Es bildeten sich kleine Gruppen, die vertraulich plauderten. Herr de Plouguern hatte sich einen Spritzkuchen geholt und ihn auf die Ecke einer Konsole gestellt. Er aß, trank dabei in kleinen Schlucken Tee und erklärte Delestang, mit dem er seinen Kuchen teilte, wieso er, dessen legitimistische Ansichten man kenne, schließlich doch Einladungen nach Compiègne
annehme. Mein Gott, das sei sehr einfach: er glaube, einer Regierung, die Frankreich vor der Anarchie rette, seinen Beistand nicht verweigern zu dürfen. Er unterbrach sich, um zu sagen: »Ausgezeichnet ist dieser Spritzkuchen ... Ich hatte heute abend reichlich schlecht gegessen.« In Compiègne war übrigens seine beredte Bosheit stets sprungbereit. Er sprach von den meisten der anwesenden Frauen mit so derben Ausdrücken, daß Delestang errötete. Ehrfurcht empfinde er nur vor der Kaiserin, einer Heiligen; sie sei von vorbildlicher Frömmigkeit, sei Legitimistin und würde sicherlich Heinrich V. zurückgerufen haben, wenn sie frei über den Thron hätte verfügen können. Einen Augenblick lang pries er die Süßigkeit der Religion. Als er dann aufs neue eine schlüpfrige Geschichte begann, kehrte die Kaiserin gerade in Begleitung von Frau de Llorentz in ihre Gemächer zurück. Auf der Türschwelle machte sie der ganzen
Gesellschaft eine tiefe Reverenz. verbeugte sich schweigend.
Alles
Die Salons leerten sich. Man unterhielt sich lauter. Händedrücke wurden gewechselt. Als Delestang seine Frau suchte, um mit ihr in ihr Zimmer hinaufzugehen, fand er sie nicht mehr. Endlich entdeckte Rougon, der ihm behiflich war, sie neben Herrn de Marsy auf einem schmalen Kanapee in jenem kleinen Salon, wo Frau de Llorentz dem Grafen nach dem Diner eine so furchtbare Eifersuchtsszene gemacht hatte. Clorinde lachte sehr laut. Als sie ihren Gatten gewahrte, erhob sie sich. Immer noch lachend, sagte sie: »Gute Nacht, Graf ... Sie werden morgen bei der Jagd sehen, daß ich diese Wette annehme.« Rougon folgte ihr mit den Blicken, während Delestang sie an seinem Arm wegführte. Er hätte sie gern bis an ihre Tür begleitet, um sie zu fragen, was das für eine Wette sei, von der sie gesprochen hatte; aber er mußte bleiben,
weil ihn Herr de Marsy zurückhielt, der ihn mit gesteigerter Höflichkeit behandelte.. Sobald er wieder über sich verfügen konnte, machte er sich, statt sich schlafen zu legen, eine offene Tür zunutze und ging in den Park hinab. Die Nacht war sehr dunkel, eine Oktobernacht ohne einen Stern, ohne einen Windhauch, schwarz und tot. In der Ferne lag der Hochwald wie ein Vorgebirge aus Finsternis. Nur mit Mühe konnte Rougon den bleichen Streifen der Alleen vor sich erkennen. Hundert Schritt von der Terrasse entfernt machte er halt. Den Hut in der Hand, stand er in der Dunkelheit da, und einen Augenblick lang traf die ganze Kühle der Nacht sein Gesicht. Das erquickte ihn wie ein kräftigendes Bad. Und er vergaß alles um sich her beim Anblick eines hellerleuchteten Fensters links in der Fassade; die anderen Fenster erloschen, bald war dies der einzige funkelnde Fleck in der schlafenden Masse des Schlosses. Der Kaiser wachte noch. Plötzlich
glaubte Rougon des Kaisers Schatten zu sehen, einen ungeheuer großen Kopf, von Schnurrbartenden seitlich überragt; dann glitten zwei andere Schatten vorüber, der eine sehr schmal, der andere stark, so breit, daß er das ganze Licht verdeckte. In diesem erkannte er deutlich die riesige Silhouette eines Agenten der Geheimpolizei, mit dem sich Seine Majestät mit Vorliebe stundenlang einzuschließen pflegte; und als der schmale Schatten abermals vorbeigeglitten war, dachte er, daß es sehr wohl der Schatten einer Frau sein könne. Alles verschwand, das Fenster stand wieder in seinem stillen Glanz da, mit der Starre seines Flammenblicks, der sich in den geheimnisvollen Tiefen des Parks verlor. Vielleicht dachte der Kaiser jetzt an die Urbarmachung eines Gebiets im Departement Landes, an die Gründung einer Arbeitersiedlung, wo die Ausrottung des Pauperismus im großen Stil versucht würde. Er traf seine Entscheidungen oft des Nachts.
Des Nachts unterschrieb er Dekrete, verfaßte Manifeste, setzte Minister ab. Nach und nach jedoch begann Rougon zu lächeln; er konnte nicht umhin, sich eines Histörchens zu entsinnen, wie der Kaiser in einer blauen Schürze, eine aus einem Zeitungsblatt gemachte Mütze auf dem Kopf, in einem Zimmer in Trianon79 Tapeten zu drei Francs die Rolle geklebt habe, um dort eine Geliebte einzuquartieren; und jetzt stellte er ihn sich in der Einsamkeit seines Arbeitszimmers vor, in der feierlichen Stille damit beschäftigt, Bilder auszuschneiden und sie mit Hilfe eines kleinen Pinsels sehr sauber aufzukleben. Da ertappte sich Rougon dabei, daß er die Arme hob und ganz laut sagte: »Seine Clique hat ihn zu dem gemacht, was er ist!« Rasch ging er wieder hinein. Ihn fror, besonders an den Beinen, die von den kurzen Hosen nur bis zu den Knien hinab bedeckt wurden. Tags darauf gegen neun Uhr schickte Clorinde
Antonia, die sie mitgenommen hatte, zu ihm, um fragen zu lassen, ob sie und ihr Gatte zum Frühstück zu ihm kommen könnten. Er hatte sich eine Tasse Schokolade heraufbringen lassen. Er erwartete sie. Antonia ging ihnen voraus und trug das große silberne Tablett, auf dem man ihnen in ihrem Schlafzimmer zwei Tassen Kaffee serviert hatte. »Nicht wahr, so ist es lustiger?« meinte Clorinde beim Hereinkommen. »Sie haben auf dieser Seite Sonne ... Oh, Sie wohnen sehr viel besser als wir!« Und sie besichtigte die Räumlichkeiten. Da war ein Vorzimmer, das rechts eine Tür zur Bedientenkammer hatte; hinten lag das Schlafzimmer, ein weiter Raum, dessen Wände mit naturfarbenem Cretonne mit großen roten Blumen bespannt waren und der mit einem umfangreichen quadratischen Mahagonibett und einem riesigen Kamin, in dem wahre Baumstämme loderten, ausgestattet
war. »Bei Gott«, rief Rougon, »Sie hätten sich beschweren sollen! Ich hätte keine nach dem Hof hinaus gelegene Räume angenommen. Ah, wenn man den Nacken beugt! – Das habe ich gestern schon zu Delestang gesagt.« Die junge Frau zuckte mit den Achseln, murmelte: »Der! Er würde es dulden, daß man mich in den Kornspeichern unterbrächte!« Sie wollte sogar das Ankleidezimmer sehen, dessen gesamte Garnitur aus weiß und goldenem, mit den kaiserlichen Initialen gezeichnetem Sèvresporzellan bestand. Dann trat sie ans Fenster. Ein leichter Schrei der Überraschung und Bewunderung entfuhr ihr. Ihr gegenüber erfüllte der Wald von Compiègne meilenweit den Horizont mit dem Meer seiner hohen alten Bäume; ungeheure Wipfel brandeten auf, verebbten im sanften Wiegen einer abnehmenden Dünung, und unter der blonden Sonne dieses
Oktobervormittags erstreckten sich Lachen von Gold, Lachen von Purpur, die ganze Kostbarkeit eines betreßten Mantels von einem Ende des Himmels bis zum andern. »Kommen Clorinde.
Sie,
frühstücken
wir«,
sagte
Sie räumten einen Tisch ab, auf dem sich ein Schreibzeug und eine Schreibunterlage befanden. Es erschien ihnen reizvoll, auf ihre Dienerschaft zu verzichten. Die heute sehr lachlustige junge Frau sagte wiederholt, es sei ihr am Morgen so vorgekommen, als erwache sie am Ziel einer langen Traumreise in einer Herberge, einer Herberge, die einen Prinzen zum Wirt habe. Das Zufallsfrühstück von dem silbernen Geschirr entzücke sie wie ein Abenteuer, das ihr in irgendeinem unbekannten, ganz fernen Land zugestoßen wäre, behauptete sie. Delestang hingegen verwunderte sich höchlich über die Holzmenge, die im Kamin brannte. Schließlich
murmelte er, den Blick auf die Flammen geheftet, mit ganz versunkener Miene: »Ich habe mir erzählen lassen, daß hier im Schloß täglich für fünfzehnhundert Francs Holz verbrannt wird ... Fünfzehnhundert Francs! Was meinen Sie, Rougon, kommt Ihnen die Summe nicht reichlich hoch vor?« Rougon, der langsam seine Schokolade trank, beschränkte sich auf ein Kopfnicken. Er war sehr mit Clorindes lebhafter Fröhlichkeit beschäftigt. An diesem Morgen schien sie mit einer ganz besonders glühenden Schönheit aufgestanden zu sein; ihre großen Augen funkelten vor Streitlust. »Was ist denn das für eine Wette, von der Sie gestern abend sprachen?« fragte er plötzlich. Sie fing an zu lachen, antwortete aber nicht. Und als er in sie drang, sagte sie: »Das werden Sie schon sehen.« Da wurde er allmählich ärgerlich, behandelte
sie schroff. Es kam zu einer richtigen Eifersuchtsszene mit zunächst versteckten Anspielungen, auf die bald unverhohlene Beschuldigungen folgten: sie habe allgemeines Aufsehen erregt, sie habe ihre Hand länger als zwei Minuten in der des Herrn de Marsy gelassen. Delestang tauchte mit gelassener Miene lange Brotschnittchen in seinen Milchkaffee. »Oh, ich sollte Ihr Gatte sein!« rief Rougon. Clorinde hatte sich erhoben; sie stand hinter Delestang, beide Hände auf dessen Schultern gestützt. »Nun, was würde sein, wenn Sie mein Gatte wären?« fragte sie. Und sie beugte sich über Delestang, sprach in sein Haar hinein, das sie mit einem warmen Hauch ein wenig aufwühlte: »Nicht wahr, mein Freund, er würde sehr folgsam sein, ebenso folgsam wie du?«
Statt einer Antwort bog er den Hals und küßte die Hand, die auf seiner linken Schulter lag. Mit einem gerührten und verlegenen Gesicht sah er Rougon an und zwinkerte, um ihm zu verstehen zu geben, daß er vielleicht etwas zu weit gehe. Rougon hätte ihn beinahe einen Einfaltspinsel genannt. Da ihm aber Clorinde über den Kopf ihres Mannes hinweg einen Wink gegeben hatte, folgte er ihr ans Fenster, wo sie sich mit den Ellbogen aufstützte. Einen Moment lang verharrte sie schweigend, den Blick wie abwesend auf den unermeßlichen Horizont gerichtet. Dann sagte sie unvermittelt: »Weshalb wollen Sie Paris verlassen? Sie lieben mich also nicht mehr? – Hören Sie, ich werde vernünftig sein, ich werde Ihre Ratschläge befolgen, wenn Sie darauf verzichten, sich in Ihr abscheuliches Land dort unten zu verbannen.« Er wurde sehr ernst bei diesem Handel. Er führte die großen Interessen an, denen er gehorche. Jetzt habe er keine Möglichkeit
mehr, sich zurückzuziehen. Und während er sprach, bemühte sich Clorinde vergebens, die wirkliche Wahrheit von seinem Gesicht abzulesen; er schien fest entschlossen, fortzugehen. »Gut denn, Sie lieben mich nicht mehr«, fing sie wieder an. »Dann kann ich also frei nach meinem Belieben handeln ... Sie werden schon sehen.« Ohne jede Verstimmung ging sie vom Fenster weg, sie lachte wieder. Delestang, den noch immer das Feuer interessierte, versuchte, die ungefähre Anzahl der Kamine im Schloß zu schätzen. Aber sie unterbrach ihn, denn sie hatte gerade noch Zeit genug, sich umzuziehen, wenn sie die Jagd nicht versäumen wollte. Rougon begleitete die beiden bis auf den Flur, einen breiten, klosterhaften Gang, den ein grüner Moquetteläufer80 schmückte. Clorinde begnügte sich damit, im Vorbeigehen an den
Türen die Namen der Gäste zu lesen, die auf kleine, von schmalen Holzleisten eingerahmte Karten geschrieben waren. Ganz am Ende des Flurs wandte sie sich dann um, und da sie vermeinte, Rougon unschlüssig zu sehen, so, als sei er nahe daran, sie zurückzurufen, blieb sie stehen, wartete ein paar Sekunden mit lächelndem Gesicht. Er kehrte in sein Zimmer zurück und schlug heftig die Tür zu. Das Frühstück fand an diesem Tage zeitiger statt. In der Galerie des cartes sprach man viel vom Wetter, das für eine Parforcejagd ausgezeichnet war: blasses, etwas flimmerndes Sonnenlicht, helle und kühle Luft, unbewegt wie ein stehendes Gewässer. Die Hofwagen fuhren kurz vor der Mittagsstunde vom Schloß ab. Der Treffpunkt war der PuitsduRoi, eine breite Wegkreuzung tief im Wald. Das kaiserliche Jagdpersonal wartete dort seit über einer Stunde, die Piköre zu Pferd, in Kniehosen aus rotem Tuch, den großen tressenbesetzten Dreimaster quer auf dem
Kopf, die Hundewärter in schwarzen Halbschuhen mit silbernen Schnallen, um leicht durch das Unterholz laufen zu können; und die Wagen der Gäste, die aus den benachbarten Schlössern gekommen waren, bildeten, tadellos aufgefahren, einen Halbkreis gegenüber der von den Wärtern gehaltenen Meute, während in der Mitte Gruppen von Damen und Jägern in Uniform den Vorwurf für ein altes Gemälde abgaben, eine in der golden schimmernden Luft auferstandene Jagd zur Zeit Ludwigs XV. Der Kaiser und die Kaiserin nahmen an der Jagd nicht teil. Daher wendeten gleich nach dem Anlegen der Lancierhunde ihre Breaks81 in einer Allee und fuhren zum Schloß zurück. Viele folgten ihrem Beispiel. Rougon hatte anfangs versucht, Clorinde zu begleiten; aber sie trieb ihr Pferd so toll an, daß sich ihr Vorsprung allmählich vergrößerte und er sich aus gekränkter Eigenliebe entschloß, umzukehren, wütend, weil er die junge Frau Seite an Seite
mit Herrn de Marsy weit hinten einen Weg hinabgaloppieren sah. Gegen halb sechs Uhr wurde Rougon gebeten, zum Tee in die Privatgemächer der Kaiserin hinunterzukommen. Das war eine Gunst, die gewöhnlich geistreichen Männern gewährt wurde. Herr Beulin d'Orchère und Herr de Plouguern waren bereits dort, und letzterer erzählte in gewählten Ausdrücken einen sehr derben Schwank, der einen großen Lacherfolg hatte. Inzwischen kehrten soeben erst die Jäger zurück. Frau de Combelot erschien und tat so, als sei sie außerordentlich müde. Und als man sie nach Neuigkeiten fragte, antwortete sie mit Fachausdrücken: »Oh, das Wild hat sich länger als vier Stunden treiben lassen ... Stellen Sie sich vor, daß es einen Augenblick in die Ebene ausgebrochen war. Es hatte sich etwas erholt ... Zuletzt hat es sich am Mare Rouge gestellt. Ein prachtvolles Halali!« Der
Cavaliere
Rusconi
erzählte
mit
beunruhigter Miene eine andere Einzelheit. »Frau Delestangs Pferd ist durchgegangen ... Sie ist in Richtung auf die Straße nach Pierrefonds zu verschwunden. Man hat noch nichts von ihr gehört.« Da bestürmte man ihn mit Fragen. Die Kaiserin schien tiefbetrübt zu sein. Der Botschafter berichtete, daß Clorinde die ganze Zeit über dem Wild mit ungeheurer Schnelligkeit nachgesetzt sei. Ihre Haltung habe die vollendetsten Parforcejäger begeistert. Dann sei ihr Pferd plötzlich in einen Seitenweg gerast. »Ja«, fügte Herr La Rouquette hinzu, der darauf brannte, auch ein Wort anzubringen, »sie hat entsetzlich auf das arme Tier losgepeitscht! Herr de Marsy ist ihr nachgejagt, um ihr zu Hilfe zu kommen. Auch er ist nicht wieder aufgetaucht.« Frau de Llorentz, die hinter Ihrer Majestät saß,
stand auf. Sie glaubte, daß man sie lächelnd ansähe. Sie wurde ganz blaß. Jetzt drehte sich die Unterhaltung um die Gefahren, die eine Jagd mit sich bringt. Einmal hatte sich der Hirsch, der sich in einen Pachthof geflüchtet hatte, so furchtbar gegen die Hunde gewandt, daß sich eine Dame in dem wüsten Durcheinander ein Bein brach. Dann erging man sich in Vermutungen. Falls es Herrn de Marsy gelungen sei, Frau Delestangs Pferd zu bändigen, seien vielleicht beide abgestiegen, um sich ein Weilchen auszuruhen; Schutzdächer, Hütten, Schuppen, Pavillons gab es in dem Wald die Fülle. Und es kam Frau de Llorentz so vor, als lächle man noch mehr, während man mit Seitenblicken ihre eifersüchtige Wut belauerte. Rougon schwieg und trommelte mit den Fingerspitzen fieberhaft einen Marsch auf seinen Knien. »Pah, und wenn sie die Nacht draußen verbrächten!« stieß Herr de Plouguern zwischen den Zähnen hervor.
Die Kaiserin hatte Anweisung erteilt, Clorinde bei deren Rückkehr zum Tee zu bitten. Plötzlich ertönten leise Ausrufe. Das Gesicht lebhaft gerötet, stand die junge Frau lächelnd und strahlend auf der Türschwelle. Sie dankte Ihrer Majestät für die Teilnahme, die diese ihr bezeigte. Und mit gelassener Miene sagte sie: »Mein Gott, ich bin untröstlich. Es lag kein Grund vor, sich zu beunruhigen ... Ich hatte eine Wette mit Herrn de Marsy abgeschlossen, daß ich als erste bei dem gestellten Hirsch anlangen würde. Wäre nicht dies verwünschte Pferd gewesen ...« Dann fügte sie fröhlich hinzu: »Keiner von uns hat verloren, weiter nichts.« Aber sie mußte das Abenteuer ausführlicher erzählen. Das verursachte ihr nicht die geringste Befangenheit. Nach zehn Minuten eines tollen Galopps sei ihr Pferd gestürzt, ohne daß sie irgendwie Schaden genommen habe. Da sie von der Aufregung ein wenig
taumelig gewesen sei, habe Herr de Marsy sie dann veranlaßt, für ein Weilchen unter ein Schutzdach zu treten. »Das hatten wir geahnt!« rief Herr La Rouquette. »Sie sagen, unter ein Schutzdach? Ich hatte gesagt, in einen Pavillon.« »Sie müssen sich darunter wenig behaglich gefühlt haben«, setzte Herr de Plouguern boshaft hinzu. Immer noch lächelnd, erwiderte Clorinde mit glücklicher Lässigkeit: »Nein, seien Sie beruhigt! Es gab dort Stroh. Ich habe mich hingesetzt ... Ein großer Schuppen voller Spinnennetze. Die Dunkelheit sank herab. Es war sehr lustig.« Und mit noch schleppenderer Stimme, die den Worten eine besondere Bedeutung verlieh, fuhr sie, Frau de Llorentz gerade ins Gesicht sehend, fort: »Herr de Marsy war sehr freundlich zu mir.«
Seit die junge Frau von ihrem Unfall berichtete, preßte Frau de Llorentz heftig zwei Finger gegen die Lippen. Bei den letzten Einzelheiten schloß sie die Augen, als sei ihr schwindlig geworden vor Zorn. Sie blieb noch eine Minute; dann ging sie hinaus, weil sie sich nicht mehr zu beherrschen vermochte. Herr de Plouguern schlich sehr neugierig hinter ihr her. Clorinde, die Frau de Llorentz, scharf beobachtet hatte, machte unwillkürlich eine Siegergeste. Die Unterhaltung wandte sich anderen Gegenständen zu. Herr Beulind'Orchère sprach von einem arges Aufsehen erregenden Prozeß, mit dem sich die öffentliche Meinung lebhaft beschäftigte; es handelte sich um eine Scheidungsklage, die sich auf Impotenz des Mannes gründete, und er berichtete gewisse Tatsachen in so dezenten juristischen Wendungen, daß Frau de Combelot sie nicht verstand und um Erklärung bat. Der Cavaliere Rusconi erntete lebhaften Beifall, als er mit
halber Stimme piemontesische Volkslieder sang, Liebesverse, die er anschließend ins Französische übersetzte. Mitten in einem dieser Lieder trat Delestang ein; er kam aus dem Wald zurück, wo er seit zwei Stunden auf der Suche nach seiner Frau alle Wege durchstreift hatte; man lächelte über sein seltsames Aussehen. Die Kaiserin aber schien plötzlich eine starke Zuneigung zu Clorinde gefaßt zu haben. Sie hatte sie aufgefordert, sich neben sie zu setzen, und unterhielt sich mit ihr über Pferde. Pyrame, das Pferd, das Clorinde bei der Jagd geritten hatte, habe einen sehr harten Galopp, und sie sagte, am nächsten Tag wolle sie ihr César geben lassen. Rougon stand seit Clorindes Ankunft an einem Fenster und tat so, als interessiere er sich sehr für die Lichter, die links vom Park in der Ferne aufflammten. So konnte niemand das leichte Zucken seines Gesichts sehen. Er verweilte lange dort und schaute in die Nacht hinaus. Als er sich endlich mit völlig beherrschter
Miene umwandte, kam Herr de Plouguern wieder herein, trat auf ihn zu und flüsterte ihm mit vor befriedigter Neugier fiebernder Stimme ins Ohr: »Oh, es hat einen schrecklichen Auftritt gegeben ... Sie haben ja gesehen, daß ich ihr gefolgt bin. Sie traf Marsy gerade am Ende des Flurs. Sie sind in ein Zimmer gegangen. Und ich habe gehört, wie Marsy ihr dort geradeheraus sagte, daß sie ihm lästig sei ... Sie ist wie eine Wahnsinnige herausgestürzt und hat sich nach dem Arbeitszimmer des Kaisers begeben ... Meiner Treu, ich glaube, sie ist hingegangen, um die berüchtigten Briefe auf des Kaisers Schreibtisch zu legen ...« In diesem Augenblick tauchte Frau de Llorentz wieder auf. Sie war totenbleich, die Haare hingen ihr wirr um die Schläfen, ihr Atem ging rasch. Mit der verzweifelten Ruhe eines Kranken, der soeben an sich selber eine furchtbare Operation vorgenommen hat, an der er möglicherweise sterben kann, nahm sie
ihren Platz hinter der Kaiserin wieder ein. »Sie hat bestimmt die Briefe weggegeben«, wiederholte Herr de Plouguern, der sie prüfend ansah. Und als ihn Rougon nicht zu verstehen schien, ging er hin und beugte sich von hinten über Clorinde und erzählte ihr die Sache. Sie hörte ihm entzückt zu, ihre Augen glänzten von strahlender Freude. Erst beim Verlassen der Privatgemächer der Kaiserin, als die Stunde des Diners heranrückte, schien Clorinde Rougon zu bemerken. Sie nahm seinen Arm und sagte, während Delestang hinter ihnen her schritt: »Nun gut, Sie haben ja gesehen ... Wären Sie heute vormittag nett gewesen, so hätte ich mir nicht beinahe die Beine gebrochen.« Am Abend gab es im Schloßhof eine Curée froide bei Fackelschein. Beim Verlassen des Speisesaals verteilte sich der Zug der Gäste, statt unverzüglich in die Kartengalerie
zurückzukehren, auf die Salons an der Fassade, deren Fenster weit geöffnet wurden. Der Kaiser nahm auf dem mittleren Balkon Platz, wohin ihn etwa zwanzig Personen begleiten konnten. Unten hielten zwei Reihen von Lakaien in großer Livree, die Haare gepudert, vom Gitter bis zum Vestibül einen breiten Gang frei. Jeder von ihnen hatte einen langen Spieß in der Hand, an dessen Ende in einem mit Weingeist gefüllten Becher Werg brannte. Diese hohen grünen Flammen tanzten wie flatternd und schwebend in der Luft, lichte Flecken in die Nacht werfend, ohne sie zu erhellen, und hoben aus der Finsternis nur die Doppelreihe scharlachroter Wämser hervor, die dabei blaßviolett wirkten. Zu beiden Seiten des Hofes staute sich eine Menschenmenge, Bürger aus Compiègne mit ihren Damen, fahle Antlitze, die im Dunkeln herumwimmelten, aus dem dann und wann der Widerschein des brennenden Wergs einen scheußlichen Kopf
hervortreten ließ, das grünspanfarbene Gesicht eines kleinen Rentiers. In der Mitte vor der Freitreppe hatte man die Überreste des Hirsches in einem Haufen auf das Pflaster geworfen und sie mit dem ausgebreiteten Fell des Tieres, den Kopf nach vorn, wieder bedeckt; am anderen Ende aber wartete dicht am Gitter, von den Pikören umgeben, die Meute. Dort schwangen Hundewärter in grünem Frack und langen weißen Baumwollstrümpfen Fackeln. Eine starke rötliche Helligkeit, durchzogen von Rauchstreifen, deren Ruß nach der Stadt zu trieb, übergoß mit dem glühenden Schein eines Schmelzofens die aneinandergedrängten Hunde, die mit aufgesperrtem Rachen heftig schnauften. Der Kaiser stand. Zuweilen konnte man bei einem jähen Aufleuchten der Fackeln sein ausdrucksloses, undurchdringliches Gesicht sehen. Clorinde hatte während des ganzen Diners jede seiner Gebärden belauert, ohne
ihm etwas anderes anzumerken als eine düstere Müdigkeit, die grämliche Stimmung eines Kranken, der im stillen leidet. Ein einziges Mal schien es ihr, als sähe er Herrn de Marsy verstohlen mit seinem trüben Blick an, über den sich gleich die Augenlider senkten. Verdrießlich und ein wenig gebeugt, blieb er, seinen Schnurrbart drehend, am Gitter des Balkons stehen, indes sich hinter ihm die Gäste auf die Zehen hoben, um etwas sehen zu können. »Los, Firmin!« sagte er, als verlöre er die Geduld. Die Piköre bliesen die Royale82. Die Hunde gaben Laut, heulten, den Hals vorgestreckt, halb auf den Hinterpfoten aufgerichtet, in einem Ausbruch entsetzlichen Lärms. In dem Augenblick, als einer der Wärter der wild erregten Meute den Kopf des Hirsches zeigte, senkte Firmin, der Koppelmeister, dessen Platz auf der Freitreppe war, plötzlich seine
Peitsche; und die Meute, die auf dieses Zeichen gewartet hatte, sprang mit vor Heißhunger fliegenden Flanken in drei Sätzen über den Hof. Aber Firmin hatte seine Peitsche wieder gehoben. Die Hunde, in einigem Abstand vom Hirsch zum Stehen gebracht, legten sich einen Augenblick lang auf das Pflaster, den Rücken von Schauern geschüttelt, den Rachen heiser von gierigem Gebell. Und sie mußten zurück, sie kehrten um und stellten sich am anderen Ende, dicht am Gitter, wieder auf. »O die armen Tiere!« sagte Frau de Combelot mit einer Miene schmachtenden Mitleids. »Prachtvoll!« rief Herr La Rouquette. Der Cavaliere Rusconi klatschte Beifall. Einige Damen beugten sich sehr aufgeregt vor, ihre Mundwinkel zuckten ein wenig, und sie waren dem Weinen nahe in dem dringenden Wunsch, die Hunde fressen zu sehen. Man gab ihnen die Knochen nicht sofort; das war sehr
aufwühlend. »Nein, nein, noch nicht«, murmelten belegte Stimmen. Unterdessen hatte Firmin noch zweimal seine Peitsche gehoben und gesenkt. Die Meute, völlig außer sich, schäumte. Beim drittenmal hob der Koppelmeister die Peitsche nicht wieder. Der Wärter hatte sich in Sicherheit gebracht und dabei Fell und Kopf des Hirsches mitgenommen. Die Hunde fielen über die Überreste her, wälzten sich darin; ihr wütendes Gebell beruhigte sich, ging in ein dumpfes Knurren über, ein krampfhaftes schwelgerisches Zittern. Knochen krachten. Jetzt herrschte auf dem Balkon und an den Fenstern allgemeine Befriedigung; die Damen bissen ihre weißen Zähne aufeinander und lächelten grausam; die Herren atmeten schwer, mit glänzenden Augen, während ihre Finger aus dem Speisesaal mitgebrachte Zahnstocher zerbrachen. Im Hof gestaltete sich so etwas
wie eine plötzliche Apotheose: die Piköre bliesen Fanfaren; die Hundewärter schwenkten die Fackeln; bengalische Feuer brannten blutig, verwandelten die Nacht in ein Feuermeer und überschütteten die friedlichen Köpfe der Bürger von Compiègne, die sich an den Seiten drängten, in großen Tropfen mit einem roten Regen. Der Kaiser wandte sich sofort zum Gehen. Und als er an Rougon vorbeikam, schien er aus dem tiefen Nachsinnen zu erwachen, das ihn seit dem Diner mit Mißmut erfüllt hatte. »Herr Rougon«, begann er, »ich habe über Ihre Sache nachgedacht ... Es gibt da Hindernisse, viele Hindernisse.« Er hielt inne, öffnete den Mund, schloß ihn wieder. Dann sagte er im Weitergehen noch: »Sie müssen in Paris bleiben, Herr Rougon.« Clorinde, die das hörte, machte lebhaft eine frohlockende Geste.
Nachdem sich die Äußerung des Kaisers herumgesprochen hatte, wurden alle Gesichter wieder ernst und besorgt, während Rougon langsam zwischen den Gruppen hindurchschritt und sich in die Galerie des cartes begab. Und unten verschlangen die Hunde den Rest der Knochen. Sie wälzten sich wütend übereinander, um in die Mitte des Haufens zu gelangen. Es wirkte wie ein Tuch aus sich heftig bewegenden Rücken; die weißen, die schwarzen stießen einander weg, streckten sich, breiteten sich mit gierigem Knurren aus wie ein lebender Pfuhl. Die Kiefer mahlten hastig, fraßen schnell, fieberhaft bemüht, alles aufzufressen. Kurze Zänkereien endeten in Geheul. Ein großer Bracke, ein prächtiges Tier, ärgerlich darüber, daß er zu sehr an den Rand gedrängt worden war, wich zurück und schwang sich dann mit einem Satz in die Mitte der Schar. Er errang sich einen Platz, er verschlang einen Fetzen vom Eingeweide des
Hirsches.
Kapitel VIII Wochen vergingen. Rougon hatte sein teilnahmsloses und langweiliges Leben wieder aufgenommen. Niemals machte er eine Anspielung darauf, daß der Kaiser ihm befohlen hatte, in Paris zu bleiben. Er sprach lediglich von seinem Pech, von den angeblichen Hindernissen, die sich der Urbarmachung eines Winkels von Landes in den Weg stellten, und bei diesem Thema fand er kein Ende. Was für Hindernisse mochten das sein? Er selber sehe keine. Er ging so weit, sich gegen den Kaiser zu ereifern, aus dem, wie er sagte, irgendeine Erklärung herauszuholen unmöglich sei. Befürchtete der Kaiser vielleicht, er könnte genötigt sein, dem Unternehmen eine staatliche Unterstützung
zukommen zu lassen? Unterdessen wurden, je mehr Tage verstrichen, Clorindes Besuche in der Rue Marbeuf immer häufiger. Jeden Nachmittag schien sie zu erwarten, daß ihr Rougon etwas mitteile, betrachtete sie ihn verwundert, weil er weiterhin schwieg. Seit seinem Aufenthalt in Compiègne lebte sie in der Hoffnung eines plötzlichen Triumphs; sie hatte sich ein ganzes Drama ausgemalt, einen schrecklichen Zornausbruch des Kaisers, einen großes Aufsehen erregenden Sturz des Herrn de Marsy, eine unverzügliche Rückkehr des großen Mannes an die Macht. Dieser echt weibliche Plan schien ihr einen sicheren Erfolg zu versprechen. Daher war sie nach Ablauf eines Monats grenzenlos erstaunt, als sie den Grafen im Ministerium verbleiben sah. Und Verachtung für den Kaiser, der sich nicht zu rächen verstehe, erfaßte sie. Sie würde an seiner Stelle ein glühendes Verlangen nach Vergeltung gespürt haben. Woran dachte er
nur bei dem ewigen Schweigen, das er bewahrte? Dennoch gab Clorinde die Hoffnung noch nicht auf. Sie witterte den Sieg, irgendeinen unvorhergesehenen Glücksfall. Herrn de Marsys Stellung war erschüttert. Rougon erwies ihr die Aufmerksamkeiten eines Ehemannes, der hintergangen zu werden fürchtet. Seit seinen Anfällen seltsamer Eifersucht in Compiègne überwachte er sie auf eine mehr väterliche Art, überschwemmte sie mit Moralpredigten, wollte sie täglich sehen. Die junge Frau lächelte; jetzt war sie überzeugt, daß er Paris nicht verlassen werde. Nichtsdestoweniger begann er nach Wochen eines schläfrigen Friedens gegen Mitte Dezember wieder von seiner großen Sache zu sprechen. Er habe Bankiers aufgesucht, er wünsche sich sehr, auf den Beistand des Kaisers verzichten zu können. Und abermals fand man ihn in Karten, Plänen und Fachbüchern vergraben. Gilquin, sagte er,
habe schon mehr als fünfhundert Arbeiter angeworben, die bereit seien, nach dort unten zu gehen; das sei die erste Handvoll Menschen eines ganzen Volkes. Da machte sich Clorinde wütend ans Werk und brachte die ganze Freundesclique auf Trab. Nun begann eine ungeheure Arbeit. Jeder übernahm eine Rolle. Man verständigte sich mit halben Worten an den Sonntagen und Donnerstagen bei Rougon selbst, in den Ecken seines Salons. Man teilte die schwierigen Aufgaben unter sich auf. Man stürzte sich mit dem verbissenen Willen, Einfluß zu gewinnen, täglich in das Zentrum von Paris. Man schätzte nichts gering; die winzigsten Erfolge zählten. Man machte sich alles zunutze, holte aus den unbedeutendsten Vorkommnissen heraus, was man nur konnte, man nutzte den ganzen Tag, vom Morgengruß an bis zum letzten Händedruck am Abend. Die Freunde der Freunde wurden Mitverschworene, und auch noch deren Freunde. Ganz Paris wurde in
dieses Ränkespiel hineingezogen. Tief in entlegenen Stadtvierteln gab es Leute, die sich nach dem Sieg Rougons sehnten, ohne recht zu wissen weshalb. Die Clique, zehn bis zwölf Personen, beherrschte die Stadt. »Wir sind die Regierung von morgen«, sagte Du Poizat feierlich. Er zog Parallelen zwischen ihnen und den Männern, die das Zweite Kaiserreich gemacht hatten, und fügte hinzu: »Ich werde der Marsy Rougons sein.« Ein Prätendent sei nur ein Name. Um eine Regierung zu bilden, brauche man Verbündete. Zwanzig Kerle mit einem gewaltigen Appetit seien stärker als ein Prinzip, und wenn sie als Vorwand ein Prinzip aufweisen könnten, würden sie unbesiegbar. Er selber lief überall umher, besuchte die Zeitungsredaktionen, wo er Zigarren rauchte und dabei heimlich Herrn de Marsys Stellung untergrub; er wußte stets heikle Geschichten
auf dessen Kosten; er beschuldigte ihn der Undankbarkeit und der Selbstsucht. Hatte er es dann dahin gebracht, daß der Name Rougon fiel, so eröffnete er mit verblümten Worten und vagen Versprechungen außerordentliche Aussichten; jener werde, könne er nur erst eines Tages die Hände auftun, auf alle Welt Belohnungen, Geschenke, Subventionen herabregnen lassen. In dieser Art versorgte er die Presse mit Hinweisen, Zitaten und Anekdoten, durch welche die Öffentlichkeit unausgesetzt mit der Persönlichkeit des großen Mannes beschäftigt wurde; zwei kleine Blätter veröffentlichten einen Bericht über einen Besuch in seinem Stadthaus in der Rue Marbeuf; andere äußerten sich zu dem berühmten Werk über die englische Verfassung und die Verfassung von 1852. Nach zwei Jahren feindseligen Schweigens schien sich Popularität einzustellen; ein dumpfes Gemurmel von Lobeserhebungen kam auf. Und Du Poizat gab sich anderen
Aufgaben hin, Betrügereien, die er nicht einmal sich selber eingestanden hätte, dem Kauf gewisser Verstärkungen, einer leidenschaftlichen Börsenspekulation auf den mehr oder weniger sicheren Einzug Rougons ins Ministerium. »Laßt uns nur an ihn denken«, wiederholte er oft in jener offenen Art zu reden, an der die steifen Herren der Clique Anstoß nahmen. »Später wird er dann an uns denken.« Herr Beulind'Orchère intrigierte unbeholfen; er beschwor gegen Herrn de Marsy einen Skandal herauf, der schleunigst vertuscht wurde. Geschickter zeigte er sich, als er verbreiten ließ, er selber könnte wohl eines Tages Justizminister werden, falls sein Schwager wieder an die Macht käme; wodurch er sich die Ergebenheit der Justizbeamten, seiner Kollegen, verschaffte. Herr Kahn führte ebenfalls eine Truppe zum Angriff vor, Finanzleute, Abgeordnete, höhere Beamte, die
die Reihen aller unterwegs angetroffenen Unzufriedenen anwachsen ließen; er hatte sich aus Herrn Béjuin einen fügsamen Stellvertreter gemacht; er setzte sogar Herrn de Combelot und Herrn La Rouquette ein, ohne daß diese auch nur das geringste von dem Werk ahnten, zu dem er sie antrieb. Er betätigte sich ganz oben in den Regierungskreisen, dehnte seine Propaganda bis in die Tuilerien aus, arbeitete tagelang unterirdisch, damit ein von Mund zu Mund weitergegebenes Wort schließlich dem Kaiser wiederholt würde. Vor allem aber ließen sich die Frauen die Sache leidenschaftlich angelegen sein. Es gab da schreckliche geheime Triebfedern, eine Verschlingung romantischer Abenteuer, deren Ausmaß man niemals genau kannte. Frau Correur nannte die hübsche Frau Bouchard nur noch »mein Kätzchen«. Sie nehme sie mit aufs Land, sagte sie, und eine Woche lang lebte Herr Bouchard als
Junggeselle, sogar Herr d'Escorailles mußte sich damit abfinden, seine Abende in den kleinen Theatern zu verbringen. Eines Tages hatte Du Poizat die beiden Damen in Gesellschaft von ordensgeschmückten Herren getroffen; er hütete sich wohl, davon zu sprechen. Frau Correur hatte jetzt zwei Wohnungen inne, eine in der Rue Blanche, die andere in der Rue Mazarine. Letztere war sehr kokett eingerichtet; dorthin kam nachmittags Frau Bouchard, den Schlüssel holte sie sich beim Portier. Man erzählte sich auch, die junge Frau habe an einem regnerischen Vormittag, als sie, ihre Röcke schürzend, über die PontRoyal ging, die Eroberung eines sehr hohen Beamten gemacht. Auch die Unbedeutenden unter den Freunden rührten sich, machten sich so nützlich, wie sie nur irgend konnten. Oberst Jobelin begab sich in ein Café an den Boulevards, um alte Bekannte, Offiziere, zu treffen; zwischen zwei Partien Pikett gab er ihnen
Verhaltensmaßregeln, und wenn er ein halbes Dutzend von ihnen geworben hatte, rieb er sich am Abend die Hände und sagte wiederholt, daß die ganze Armee zu der guten Sache stehe. Herr Bouchard gab sich einer ähnlichen Werbung im Ministerium hin. Nach und nach hatte er den Beamten einen wütenden Haß auf Herrn de Marsy eingeblasen; er gewann sie bis zu den Amtsdienern hinunter, brachte es dahin, daß all diese Leute sehnsüchtig ein goldenes Zeitalter erwarteten, von dem er seinen Vertrauten die Ohren vollflüsterte. Herr d'Escorailles wirkte auf die begüterte Jugend ein, der er die großzügigen Ideen Rougons rühmte, seine Nachsicht gegen gewisse Fehler, seine Liebe zu Kühnheit und Kraft. Schließlich fanden sogar die Charbonnels auf den Bänken des Jardin du Luxembourg, wo sie jeden Nachmittag auf den Ausgang ihres endlosen Prozesses warteten, die Möglichkeit, die kleinen Rentiers des OdéonViertels auf ihre
Seite zu bringen. Was Clorinde betraf, so begnügte sie sich nicht damit, in der Clique das große Wort zu führen. Sie leitete sehr verwickelte Aktionen, über die sie zu niemandem ein Wort verlauten ließ. Noch nie hatte man sie vormittags in so unordentlich geschlossenen Morgenkleidern angetroffen, wenn sie leidenschaftlicher denn je ihre an den Nähten aufgeplatzte, mit Bindfadenenden zusammengeschnürte Ministermappe in verdächtigen Stadtvierteln herumschleppte. Sie erteilte ihrem Gatten ungewöhnliche Aufträge, die dieser mit Lammsgeduld ausführte, ohne zu verstehen, um was es sich handelte. Sie schickte Luigi Pozzo mit Briefen weg; sie bat Herrn de Plouguern um seine Begleitung, ließ ihn dann eine Stunde lang irgendwo auf der Straße stehen und auf sie warten. Für einen Augenblick war ihr wohl der Gedanke gekommen, die italienische Regierung zugunsten Rougons in Bewegung zu setzen.
Ihr Briefwechsel mit ihrer Mutter, die ihren Wohnsitz noch immer in Turin hatte, wurde unheimlich rege. Sie träumte davon, ganz Europa umzuwälzen, und ging bis zu zweimal täglich zum Cavaliere Rusconi, um sich dort mit Diplomaten zu treffen. Oft schien sie sich jetzt in diesem sonderbar geführten Feldzug auf ihre Schönheit zu besinnen. Dann ging sie an einigen Nachmittagen sauber gewaschen, frisiert und prachtvoll anzusehen aus. Und wenn ihre Freunde, selber überrascht, ihr sagten, daß sie schön sei, erwiderte sie mit einer seltsamen Miene resignierter Müdigkeit: »Das ist auch sehr nötig!« Sie sparte sich als unwiderstehliches Argument auf. Ihrer Ansicht nach hatte es nichts auf sich, sich hinzugeben. Sie fand so wenig Vergnügen daran, daß es ein Geschäft wie jedes andere wurde, vielleicht ein wenig langweiliger. Als sie von Compiègne zurückgekehrt war, hatte Du Poizat, der von dem Abenteuer bei der Parforcejagd wußte,
erfahren wollen, wie sie mit Herrn de Marsy stehe. Er dachte unbestimmt daran, Rougon für den Grafen zu verraten, falls Clorinde es dahin gebracht haben sollte, dessen allvermögende Geliebte zu sein. Aber sie war beinahe böse geworden, als sie die ganze Geschichte energisch abstritt. Er halte sie wohl für sehr dumm, daß er sie einer solchen Liebschaft verdächtige? Und dann hatte sie ihr Ableugnen vergessen und hatte durchblicken lassen, daß sie sogar den Umgang mit Herrn de Marsy abbrechen werde. Früher hätte sie noch davon träumen können, ihn zu heiraten. Ein Mann von Geist tue ihrer Meinung nach niemals ernsthaft etwas für das Glück seiner Geliebten. Außerdem reife in ihr ein anderer Plan heran. »Sehen Sie«, sagte sie manchmal, »es gibt oft mehrere Arten, dorthin zu gelangen, wohin man will; aber unter all diesen Arten ist immer nur eine, die Vergnügen macht ... Ich aber habe vielerlei Ansprüchen zu genügen.«
Sie ließ Rougon nicht aus den Augen; sie wollte ihn groß, als träume sie davon, ihn für irgendeinen künftigen Schmaus mit Macht zu mästen. Sie behielt ihre jüngerhafte Unterwürfigkeit bei, stellte sich mit schmeichlerischer Demut in seinen Schatten. Inmitten der ununterbrochenen Betriebsamkeit der Clique schien er nichts zu bemerken. An den Donnerstagen und Sonntagen legte er in seinem Salon bedächtig, die Nase in den Karten, seine Patiencen und hörte scheinbar nichts von dem Geflüster in seinem Rücken. Die Clique unterhielt sich von ihrer Angelegenheit, gab sich über seinen Kopf hinweg Zeichen, zettelte an seinem Kamin Verschwörungen an, als sei er gar nicht da, so leicht schien er sich täuschen zu lassen; er blieb unberührt, von allem losgelöst, so fern den Dingen, von denen man mit leiser Stimme sprach, daß man schließlich lauter redete und sich über seine Geistesabwesenheit lustig machte. Brachte man das Gespräch auf seine
Rückkehr an die Macht, so brauste er auf, schwor, sich nicht zu rühren, selbst wenn an der nächsten Straßenecke ein Sieg seiner wartete, und tatsächlich hielt er sich in immer strengerer Abgesondertheit zu Hause und gab vor, von dem Geschehen draußen ganz und gar nichts zu wissen. Das kleine Stadthaus in der Rue Marbeuf, von dem ein solcher Propagandaeifer ausstrahlte, war eine Stätte des Schweigens und des Schlummers, auf deren Schwelle die Vertrauten einander Blicke des Einverständnisses zuwarfen, um den Kampfgeruch, den sie in ihren Kleidern mitbrachten, draußen zu lassen. »Ach was«, rief Du Poizat, »er hält uns alle zum besten! Er hört uns sehr wohl. Achten Sie nur mal abends auf seine Ohren; man sieht förmlich, wie er sie aufsperrt.« Das war der übliche Gesprächsgegenstand, wenn sie sich um halb elf Uhr alle gemeinsam entfernten. Es sei nicht möglich, daß der große
Mann nichts von der Ergebenheit seiner Freunde wisse. Er spiele lieber Gott, meinte der frühere Unterpräfekt abermals. Dieser verteufelte Rougon lebe wie ein Hindugötze, in Selbstgenügsamkeit dahindämmernd, die Hände auf dem Bauch übereinandergelegt, lächelnd und glückselig inmitten einer Menge von Gläubigen, die ihn anbeteten und sich dabei das Herz aus dem Leibe rissen. Man behauptete, dieser Vergleich sei sehr zutreffend. »Ich werde auf ihn aufpassen, Sie werden sehen«, sagte Du Poizat. Aber man mochte Rougons Gesicht noch so sehr studieren, man fand es stets verschlossen, friedlich, fast einfältig. Vielleicht war er ehrlich. Übrigens war es Clorinde lieber, wenn er sich nicht einmischte. Sie befürchtete, er könnte ihre Pläne durchkreuzen, wenn man ihn eines Tages dazu zwänge, die Augen aufzumachen. Man arbeitete gewissermaßen
gegen seinen Willen an seinem Glück. Es handelte sich darum, ihn dennoch vorwärts zu treiben, ihn gewaltsam auf einen Gipfel zu setzen. Nachher würde man abrechnen. Nach und nach jedoch, da sich die Dinge gar zu langsam entwickelten, verlor die Clique schließlich die Geduld. Du Poizats ätzende Reden brachten sie auf. Man warf Rougon nicht geradezu alles vor, was man für ihn tat; aber man überschüttete ihn mit Anspielungen, mit bitteren, doppelsinnigen Worten. Jetzt kam der Oberst manchmal mit weißbestaubten Schuhen zu den Abendgesellschaften; er habe keine Zeit gehabt, zwischendurch nach Hause zu gehen, er habe sich todmüde damit gemacht, den ganzen Nachmittag umherzulaufen; dumme Gänge, für die man sich gewiß niemals erkenntlich zeigen werde. An anderen Abenden war es Herr Kahn, der sich, die Augen von Müdigkeit geschwollen, darüber beklagte, daß er seit einem Monat zu spät ins Bett komme; er gehe viel aus, das
mache ihm nicht etwa Vergnügen – bei Gott nicht! –, aber er treffe da allerlei Leute in gewissen Angelegenheiten. Oder Frau Correur erzählte rührende Geschichten, so zum Beispiel die Geschichte einer armen jungen Frau, einer sehr achtbaren Witwe, der sie Gesellschaft zu leisten pflege; und sie bedauerte, keinerlei Macht zu besitzen, versicherte, wenn sie die Regierung wäre, würde sie viele Ungerechtigkeiten verhindern. Dann breiteten sämtliche Freunde ihr eigenes Elend aus; jeder jammerte, sagte, wie es um seine Lage bestellt sein würde, wenn er nicht gar so dumm gewesen wäre; Klagen ohne Ende, die von den auf Rougon geworfenen Blicken nachdrücklich unterstrichen wurden. Man spornte ihn bis aufs Blut, man ging so weit, Herrn de Marsy zu rühmen. Zunächst hatte Rougon seinen schönen Gleichmut bewahrt. Er begriff noch immer nichts. Doch nach einigen solchen Abenden lief bei gewissen in seinem Salon geäußerten Sätzen
ein leises Zucken über sein Gesicht. Er wurde nicht böse, schloß nur die Lippen ein wenig fester, als verspüre er heimliche Nadelstiche. Und auf die Dauer wurde er so nervös, daß er seine Patiencen aufgab; sie gingen nicht mehr auf, er zog es vor, mit langsamen Schritten umherzugehen, plauderte und ließ die Leute jählings stehen, wenn die versteckten Vorwürfe begannen. Hin und wieder wurde er von heller Wut gepackt; er schien krampfhaft die Hände hinter dem Rücken zusammenzupressen, um nicht der Lust nachzugeben, die ganze Gesellschaft an die Luft zu setzen. »Meine Lieben«, sagte eines Abends der Oberst, »ich komme frühestens in vierzehn Tagen wieder ... Man muß mit ihm schmollen. Wir werden ja sehen, ob er es ganz allein vergnüglich finden wird.« Da war Rougon, der sich danach gesehnt hatte, seine Tür zu verschließen, sehr gekränkt, weil
man ihn der Einsamkeit überließ. Der Oberst hatte Wort gehalten, andere taten es ihm nach; der Salon war fast leer, immer fehlten fünf oder sechs der Freunde. Wenn einer von ihnen nach längerem Fernbleiben wieder erschien und ihn der große Mann fragte, ob er etwa krank gewesen sei, verneinte er mit überraschter Miene, gab aber keinerlei Aufklärung. Eines Donnerstags kam niemand. Rougon verbrachte den einsamen Abend damit, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, in dem weiten Raum auf und ab zu wandern. Zum erstenmal empfand er, ein wie starkes Band ihn mit seiner Clique verknüpfte. Durch Achselzucken drückte sich seine Verachtung aus, wenn er an die Dummheit der Charbonnels dachte, an die neidische Wut Du Poizats, an Frau Correurs zweideutige Schmeicheleien. Dennoch hatte er das Bedürfnis, diese Vertrauten, von denen er eine so geringe Meinung hatte, zu sehen, sie zu beherrschen; es war das Bedürfnis eines
eifersüchtigen Gebieters, der im geheimen über die kleinste Treulosigkeit weint. Im Grunde seines Herzens war er sogar gerührt von ihrer Dummheit, liebte er ihre Laster. Sie schienen ihm jetzt ein Teil seiner selbst zu sein, oder er fühlte sich langsam aufgesogen werden, so sehr, daß er sich an Tagen, an denen sie sich seiner Person fernhielten, wie kleiner geworden vorkam. Daher schrieb er ihnen schließlich, wenn sich ihre Abwesenheit in die Länge zog. Er ging sogar so weit, sie zu besuchen, um nach den ernstlichen Verstimmungen Frieden zu schließen. Man lebte jetzt in der Rue Marbeuf in ständigem Streit, in dem Fieberzustand des Wechsels von Entzweiungen und Wiederversöhnungen, wie er bei Ehepaaren herrscht, deren Liebe in Gereiztheit übergeht. In den letzten Dezembertagen gab es ein besonders ernstes Zerwürfnis. Eines Abends hatte man, ohne daß man wußte weshalb – ein Wort hatte das andere ausgelöst –, einander
mit spitzen Zähnen zerfleischt. Fast drei Wochen lang kam man nicht wieder zusammen. Der eigentliche Grund war, daß die Clique allmählich die Hoffnung verlor. Die kunstvollsten Bemühungen führten zu keinem nennenswerten Erfolg. Die Situation schien sich lange nicht ändern zu sollen; die Clique ließ den Traum von irgendeiner unvorhergesehenen Katastrophe, die Rougon unentbehrlich gemacht hätte, fahren. Sie hatte die Eröffnung der Sitzungsperiode des Corps législatif abgewartet; aber die Wahlprüfung hatte stattgefunden, ohne etwas anderes mit sich zu bringen, als daß sich zwei republikanische Abgeordnete weigerten, den Eid zu leisten. In diesem Augenblick rechnete selbst Herr Kahn, der wendige und tiefblickende Mann der Gruppe, nicht mehr damit, daß sich die allgemeine Politik zu ihren Gunsten wenden könnte. Rougon, aufs äußerste erbittert, beschäftigte sich mit vermehrter Leidenschaft mit seinen Plänen für
das Departement Landes, als wolle er dadurch das Zucken seines Gesichts verbergen, das er nicht mehr zur Ruhe zu bringen vermochte. »Ich fühle mich nicht wohl«, meinte er zuweilen. »Sie sehen, meine Hände zittern ... Mein Arzt hat mir verordnet, mir Bewegung zu machen. Ich bin den ganzen Tag im Freien.« Er ging tatsächlich viel aus. Man traf ihn mit schlenkernden Armen und hochgetragenem Kopf, geistesabwesend. Wenn man ihn anhielt, erzählte er von endlosen Gängen. Eines Vormittags, als er nach einem Spaziergang in die Gegend von Chaillot zum Frühstück heimkehrte, fand er eine Besuchskarte mit Goldschnitt vor, auf der sich der Name Gilquin breitmachte, in schöner englischer Schreibschrift mit der Hand geschrieben; die Karte war sehr schmutzig, ganz voller Fettfingerspuren. Er schellte seinem Bedienten.
»Hat der Mann, der Ihnen diese Karte gegeben hat, nichts gesagt?« fragte er. Der Diener, der noch neu im Hause war, lächelte. »Es war ein Herr in einem grünen Überzieher. Er scheint sehr freundlich zu sein, er hat mir eine Zigarre angeboten ... Er hat nur gesagt, er sei ein Freund von Ihnen.« Er wollte schon gehen, als er sich eines anderen besann. »Ich glaube, es steht etwas auf der Rückseite.« Rougon drehte die Karte um und las die mit Bleistift geschriebenen Worte: »Kann unmöglich warten. Ich werde im Laufe des Abends vorbeikommen. Es eilt sehr, eine schnurrige Sache.« Er winkte gleichmütig ab. Aber nach dem Frühstück kam ihm der Satz: »Es eilt sehr, eine schnurrige Sache« wieder in den Sinn, drängte sich ihm auf, beunruhigte ihn schließlich. Was konnte das für eine Sache
sein, die Gilquin schnurrig fand? Seit er den ehemaligen Handlungsreisenden mit dunklen und verwickelten Aufgaben beauftragt hatte, sah er ihn regelmäßig an einem Abend der Woche; niemals war er vormittags erschienen. Es mußte sich also um etwas Außergewöhnliches handeln. Rougon, der nicht wußte, was er dahinter vermuten sollte, wurde von einer Ungeduld gepackt, die er selber lächerlich fand, und beschloß auszugehen, um zu versuchen, Gilquin noch vor dem Abend zu treffen. Irgendeine Säufergeschichte, dachte er, als er die ChampsElysées hinunterging. Nun, ich werde wenigstens beruhigt sein. Da er die Verordnung seines Arztes befolgen wollte, ging er zu Fuß. Der Tag war prächtig, eine helle Januarsonne an einem klaren Himmel. Gilquin wohnte nicht mehr in der Passage Guttin in Les Batignolles. Auf seiner Karte stand: Rue Guisarde, Faubourg
SaintGermain. Rougon hatte die allergrößte Mühe, diese abscheulich schmutzige Straße in der Nähe der Kirche Saint Sulpice zu entdecken. Weit hinten in einem finsteren Flur fand er die Concierge83, die im Bett lag und ihm von da aus mit einer von Fieber geschwächten Stimme zurief: »Herr Gilquin ... Ach, ich weiß nicht. Sehen Sie im vierten Stockwerk nach, ganz oben, die linke Tür.« Im vierten Stock war Gilquins Name an die Tür geschrieben, umrankt von Arabesken, die von Pfeilen durchbohrte flammende Herzen darstellten. Doch er konnte klopfen, soviel er wollte, er hörte hinter dem Holz nur das Ticken einer Kuckucksuhr und das Miauen einer Katze, das ganz leise durch die Stille klang. Er hatte schon im voraus geahnt, daß er einen vergeblichen Gang tun würde. Aber es erleichterte ihn dennoch, daß er hergekommen war. Beruhigt stieg er wieder hinunter und
sagte sich, er könne gut den Abend abwarten. Draußen verlangsamte er dann den Schritt; er überquerte den Marche SaintGermain, ging die Rue de Seine entlang, ziellos, bereits ein wenig müde, jedoch entschlossen, zu Fuß heimzukehren. Und als er auf der Höhe der Rue Jacob angelangt war, fielen ihm die Charbonnels ein. Seit zehn Tagen hatte er sie nicht gesehen. Sie schmollten mit ihm. Da beschloß er, auf einen Sprung zu ihnen hinaufzugehen, um ihnen die Hand zur Versöhnung zu bieten. An diesem Nachmittag war das Wetter so mild, daß er ganz weich gestimmt war. Das Zimmer der Charbonnels im Hôtel du Perigord lag nach dem Hof hinaus, einem dunklen Schacht, aus dem ein Geruch nach Spülicht aufstieg. Es war finster, groß, mit schadhaften Mahagonimöbeln und Vorhängen aus verschossenem rotem Damast. Als Rougon eintrat, faltete Frau Charbonnel gerade ihre Kleider zusammen, die sie auf den Boden
eines großen Koffers legte, während Herr Charbonnel schwitzend und mit steifen Armen einen anderen, kleineren Koffer verschnürte. »Nun, Sie reisen ab?« fragte er lächelnd. »O ja«, erwiderte Frau Charbonnel mit einem tiefen Seufzer; »diesmal endgültig.« Sie waren jedoch sehr zuvorkommend, sehr davon geschmeichelt, ihn bei sich zu sehen. Alle Stühle waren vollgepackt mit Kleidungsstücken, Wäschehaufen, Körben, deren Seiten zu platzen drohten. Rougon setzte sich auf die Bettkante und spielte wieder den Biederen. »Lassen Sie nur, ich sitze hier sehr gut ... Setzen Sie Ihre Arbeit ruhig fort, ich will Sie nicht stören ... Wollen Sie mit dem Achtuhrzug reisen?« »Ja, mit dem Achtuhrzug«, antwortete Herr Charbonnel.
»Das bedeutet, daß wir noch sechs Stunden in diesem Paris verbringen müssen ... Ach, wir werden noch lange daran denken, Herr Rougon.« Und er, der in der Regel wenig sprach, legte fürchterlich los, ging so weit, mit der Faust nach dem Fenster zu drohen und zu sagen, daß man in eine solche Stadt kommen müsse, damit man um zwei Uhr nachmittags zu Hause nicht mehr deutlich sehen könnte. Dieses trübe Licht, das aus dem engen Schacht des Hofes hereinfalle, das sei Paris. Aber in seinem Garten in Plassans werde er, Gott sei Dank, wieder Sonne haben. Und er blickte in die Runde, ob er nichts vergessen habe. Am Vormittag hatte er einen Fahrplan gekauft. Er wies auf ein Hühnchen, das in einem fettfleckigen Papier auf dem Kamin lag; das wollten sie als Wegzehrung mitnehmen. »Meine Gute«, fragte er wiederholt, »hast du auch alle Schubfächer leer gemacht? Im
Nachttisch standen meine Pantoffel ... Ich glaube, es sind Papiere hinter die Kommode gefallen ...« Auf der Bettkante sitzend, betrachtete Rougon beklommenen Herzens die Vorbereitungen dieser alten Leute, deren Hände beim Einpacken zitterten. Er spürte einen stummen Vorwurf aus ihrer Aufgeregtheit. Er war es, der sie in Paris zurückgehalten hatte, und das Ende davon war eine völlige Schlappe, eine wahre Flucht. »Sie tun nicht recht daran«, murmelte er. Frau Charbonnel machte eine flehende Gebärde, als wolle sie ihn zum Schweigen bringen. Sie sagte heftig: »Hören Sie, Herr Rougon, versprechen Sie uns nichts. Unser Elend würde nur aufs neue beginnen ... Wenn ich denke, daß wir schon zweieinhalb Jahre hier leben! Mein Gott, zweieinhalb Jahre in diesem Loch! – Ich werde für den Rest meiner Tage Schmerzen im linken Bein behalten; ich
habe im Bett an der Wand gelegen, und aus der Mauer dort hinter Ihnen sickert das Wasser ... Nein, ich kann Ihnen nicht alles sagen. Das würde zu lang werden. Wir haben ein wahnsinniges Geld verbraucht. Sehen Sie, gestern mußte ich diesen großen Koffer kaufen, um das wegzuschaffen, was wir in Paris vertragen haben, schlecht gearbeitete Kleider, die man uns zu haarsträubenden Preisen verkauft hat, Wäsche, die ich in Fetzen aus der Wäscherei zurückbekommen habe ... Oh, Ihren Wäscherinnen zum Beispiel werde ich gewiß nicht nachtrauern! Alles verbrennen sie mit ihren Säuren.« Und einen Haufen alter Wäschestücke in den Koffer werfend, rief sie: »Nein, nein, wir reisen ab. Glauben Sie mir, noch eine Stunde länger, und es wäre mein Tod.« Doch Rougon sprach hartnäckig abermals von ihrer Angelegenheit. Sie hätten also sehr schlechte Nachrichten gehabt? Da erzählten
ihm die Charbonnels fast weinend, daß ihnen die Erbschaft des Sohnes ihres Vetters Chevassu ganz bestimmt entgehen werde. Der Staatsrat sei im Begriff, die Schwestern von der Heiligen Familie zu ermächtigen, das Legat von fünfhunderttausend Francs anzunehmen. Und was sie noch der letzten Hoffnung beraubt habe, sei, daß man sie von der Anwesenheit Monsignore Rocharts in Paris in Kenntnis gesetzt habe, wohin dieser ein zweites Mal gekommen sei, um die Sache rasch zu erledigen. Plötzlich hörte Herr Charbonnel, von jähem Zorn ergriffen, auf, sich erbittert mit dem kleinen Koffer zu beschäftigen; er rang die Hände und sagte mehrmals mit gebrochener Stimme: »Fünfhunderttausend Francs! Fünfhunderttausend Francs!« Beiden entsank der Mut. Mitten im Durcheinander des Zimmers setzten sie sich hin, der Gatte auf den Koffer, die Frau auf ein
Bündel Wäsche. Und sie beklagten sich mit einem Schwall kraftloser Worte; wenn der eine schwieg, fing der andere wieder an. Sie erinnerten sich ihrer zärtlichen Zuneigung zu dem Sohn ihres Vetters Chevassu. Wie hatten sie ihn geliebt! In Wahrheit hatten sie ihn, als sie von seinem Tod erfuhren, seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen. In diesem Augenblick aber waren sie ganz aufrichtig gerührt, sie bildeten sich ein, ihn während seiner Krankheit mit Aufmerksamkeiten aller Art umgeben zu haben. Dann beschuldigten sie die Schwestern von der Heiligen Familie schändlicher Machenschaften; sie hätten sich in das Vertrauen ihres Verwandten eingeschlichen, hätten seine Freunde von ihm ferngehalten und einen unausgesetzten Druck auf den geschwächten Willen des Kranken ausgeübt. Frau Charbonnel, die immerhin fromm war, ging so weit, eine abscheuliche Geschichte zu erzählen, daß nämlich der Sohn ihres Vetters Chevassu aus Angst gestorben
sei, nachdem er sein Testament nach dem Diktat eines Priesters geschrieben, der ihm den Teufel am Fußende seines Bettes gezeigt habe. Was den Bischof von Faverolles, Monsignore Rochart, anlange, so treibe er da ein übles Handwerk, indem er anständige Leute, die in ganz Plassans für die Rechtlichkeit bekannt seien, mit der sie es im Ölhandel zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatten, ihres Erbteils beraube. »Aber vielleicht ist noch nicht alles verloren«, sagte Rougon, der sie schwach werden sah. »Monsignore Rochart ist nicht der liebe Gott ... Ich konnte mich nicht um Sie kümmern. Ich habe so viel am Halse! Lassen Sie mich feststellen, wie die Dinge stehen. Ich dulde es nicht, daß man uns bestiehlt.« Die Charbonnels sahen einander mit leichtem Achselzucken an. Der Gatte murmelte: »Es lohnt nicht die Mühe, Herr Rougon.« Und als Rougon in sie drang und schwor, er
werde nichts unversucht lassen, er wolle nichts davon wissen, daß sie so abreisten, wiederholte die Frau: »Es lohnt nicht die Mühe, ganz gewiß. Sie würden sich vergeblich anstrengen ... Wir haben mit unserem Anwalt über Sie gesprochen. Er hat angefangen zu lachen und uns gesagt, daß Sie in diesem Augenblick machtlos gegen Monsignore Rochart seien.« »Wenn man machtlos ist, was soll man da tun?« fragte seinerseits Herr Charbonnel. »Da gibt man besser nach.« Rougon hatte den Kopf gesenkt. Die Worte dieser alten Leute trafen ihn wie Ohrfeigen. Noch nie hatte er grausamer unter seiner Machtlosigkeit gelitten. Frau Charbonnel aber fuhr fort: »Wir kehren jetzt nach Plassans zurück. Das ist sehr viel vernünftiger ... Oh, wir scheiden nicht im unguten von Ihnen, Herr Rougon. Wenn wir dort unten Frau Félicité, Ihre Mutter, sehen,
werden wir ihr sagen, daß Sie sich für uns zerrissen haben. Und wenn andere uns fragen, haben Sie keine Angst, wir werden Ihnen niemals schaden. Man ist nicht gehalten, mehr zu tun, als man kann, nicht wahr?« Das war zuviel. Er stellte sich vor, wie die Charbonnels dahinten in ihrer Provinz ankamen. Am selben Abend schon würde die ganze Kleinstadt über ihn herziehen. Das wäre eine persönliche Schlappe für ihn, eine Niederlage, von der sich zu erholen er Jahre brauchen würde. »Bleiben Sie hier!« rief er. »Ich verlange, daß Sie hierbleiben! – Wir werden sehen, ob Monsignore Rochart mich so ohne weiteres verschlingt!« Er brach in ein beunruhigendes Gelächter aus, das die Charbonnels erschreckte. Trotzdem widersetzten sie sich noch immer. Schließlich willigten sie ein, noch eine Weile in Paris zu bleiben, längstens acht Tage. Der Mann
knotete mühsam die Rindfäden wieder auf, mit denen er den kleinen Koffer verschnürt hatte; die Frau zündete, obwohl es erst drei Uhr war, eine Kerze an, um die Wäsche und die Kleider wieder in die Schubfächer zu legen. Als Rougon sie verließ, drückte er ihnen herzlich die Hand und erneuerte sein Versprechen. Er war kaum zehn Schritt gegangen, als er schon Reue fühlte. Weshalb hatte er die Charbonnels, die sich darauf versteift hatten, abzureisen, zurückgehalten? Es wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen, sie loszuwerden. Jetzt sah er sich mehr denn je verpflichtet, ihnen behilflich zu sein, ihren Prozeß zu gewinnen. Und vor allem war er über sich selber ärgerlich, denn er mußte sich eingestehen, daß seine Eitelkeit ihn dazu bewogen hatte. Das schien ihm seiner Kraft unwürdig. Nun, er hatte es versprochen, er würde Rat finden. Er ging die Rue Bonaparte hinunter, dann den Quai entlang und überschritt die Pont des SaintsPères.
Das Wetter blieb milde. Auf dem Fluß jedoch blies ein sehr heftiger Wind. Rougon befand sich mitten auf der Brücke und knöpfte gerade seinen Überzieher zu, als er vor sich eine starke, dick in Pelzwerk verpackte Dame bemerkte, die ihm den Gehsteig versperrte. An der Stimme erkannte er Frau Correur. »Ach, Sie sind's«, sagte sie mit kläglicher Miene. »Ich muß Ihnen schon zufällig begegnen, um mich bereit zu finden, Ihnen die Hand zu geben ... Ich wäre acht Tage lang nicht zu Ihnen gekommen. Nein, Sie sind nicht gefällig genug.« Und sie warf ihm vor, daß er etwas nicht unternommen habe, worum sie ihn seit Monaten bitte! Es handele sich noch immer um jenes Fräulein Herminie Billecoq, eine ehemalige Schülerin von SaintDenis, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten einwilligen wollte, wenn irgendeine ehrliche Seele die vorschriftsmäßige Mitgift vorschösse.
Übrigens setzten alle diese Damen ihr zu; die Witwe Leturc warte auf ihren Tabakladen; die anderen – Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier – kämen alle Tage zu ihr, jammerten über ihr Elend und erinnerten sie an die Verpflichtungen, die sie eingehen zu können geglaubt habe. »Ich aber habe mich auf Sie verlassen«, meinte sie abschließend. »Oh, Sie haben mich schön in der Patsche sitzenlassen! Sehen Sie, gerade jetzt gehe ich ins Unterrichtsministerium wegen der Freistelle für den kleinen Jalaguier. Sie hatten mir diese Freistelle versprochen.« Sie seufzte und murmelte noch: »Kurz, es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns die Hacken abzulaufen, weil Sie sich weigern, der liebe Gott für uns alle zu sein.« Rougon, dem der Wind unangenehm war, beugte sich über das Geländer und betrachtete den Hafen SaintNicolas unten an der Brücke, durch den dort so etwas wie ein Stückchen
Handelsstadt entstanden war. Während er Frau Correur zuhörte, interessierte er sich gleichzeitig für eine mit Zuckerhüten beladene Pinasse; Männer entluden sie, indem sie die Hüte eine aus zwei Planken gebildete Rinne entlang rutschen ließen. Dreihundert Personen verfolgten diesen Vorgang von oben von den Uferstraßen aus. »Ich bin nichts, ich vermag nichts«, erwiderte er. »Sie grollen mir zu Unrecht.« Aber sie sagte mit hochfahrendem Ton: »Lassen Sie nur, ich kenne Sie doch! Wenn Sie wollten, wären Sie alles ... Spielen Sie doch nicht Theater, Eugène!« Er konnte nicht umhin, zu lächeln. Die Familiarität der Frau Mélanie, wie er sie einst genannt hatte, rief in ihm die Erinnerung an das Hôtel Vanneau wach, an jene Zeit, da er keine Stiefel an den Füßen hatte und Frankreich erobern wollte. Er vergaß die Vorwürfe, die er sich soeben, als er von den
Charbonnels wegging, gemacht hatte. »Also«, fragte er mit der Miene eines gutmütigen Jungen, »was haben Sie mir zu erzählen? – Aber ich bitte Sie, lassen Sie uns nicht hier stehenbleiben. Hier erfriert man ja. Da Sie in die Rue de Grenelle wollen, begleite ich Sie bis ans Ende der Brücke.« Damit kehrte er um, ging aber neben Frau Correur her, ohne ihr den Arm zu reichen. Sie verbreitete sich ausführlich über ihre Kümmernisse. »Die anderen sind mir im Grunde genommen gleichgültig! Jene Damen müssen eben warten ... Ich würde Sie nicht belästigen, ich wäre fröhlich wie einst, Sie erinnern sich wohl, wenn ich nicht selber großen Ärger hätte. Was wollen Sie, man verbittert schließlich! – Mein Gott, es handelt sich noch immer um meinen Bruder. Dieser arme Martineau! Seine Frau hat ihn vollständig verrückt gemacht. Er hat kein Herz mehr.«
Und sie ließ sich mit den kleinsten Einzelheiten über einen neuen Versöhnungsversuch aus, den sie in der Woche zuvor unternommen hatte. Um genau zu erfahren, wie ihr Bruder zu ihr stehe, war sie darauf verfallen, eine ihrer Freundinnen, eben jene Herminie Billecoq, deren Verheiratung sie seit zwei Jahren betrieb, nach Coulonges zu schicken. »Ihre Reise hat mich hundertsiebzehn Francs gekostet«, fuhr sie fort. »Je nun, wissen Sie, wie man sie empfangen hat? Frau Martineau hat sich wütend, Schaum vor dem Mund, zwischen sie und meinen Bruder geworfen und geschrien, wenn ich feile Dirnen schickte, würde sie sie von den Gendarmen verhaften lassen ... Meine gute Herminie zitterte noch so, als ich sie am Bahnhof Montparnasse abholte, daß wir in ein Café gehen mußten, um etwas zu uns zu nehmen.« Sie waren am Ende der Brücke angelangt. Die
Vorübergehenden stießen sie. Rougon bemühte sich, sie zu trösten, suchte nach guten Worten. »Das ist sehr ärgerlich. Sie werden sehen, Ihr Bruder wird zu Ihnen zurückfinden. Die Zeit renkt alles ein.« Als sie ihn dann an der Ecke des Gehsteiges, in dem Lärm der Wagen, die hier wendeten, noch immer nicht freigab, begann er wieder zu gehen, kehrte langsam auf die Brücke zurück. Sie folgte ihm und erklärte mehrmals: »Sie ist imstande, an dem Tage, an dem Martineau stirbt, alles zu verbrennen, falls er ein Testament hinterlassen hat ... Der arme liebe Mann ist nur noch Haut und Knochen. Herminie fand, daß er sehr elend aussah ... Kurz, ich bin arg geplagt.« »Da kann man nichts machen, man muß abwarten«, sagte Rougon mit einer vagen Geste.
Mitten auf der Brücke hielt sie ihn abermals an und berichtete mit gedämpfter Stimme: »Herminie hat mir etwas Sonderbares erzählt. Anscheinend hat sich Martineau jetzt auf die Politik geworfen. Er ist Republikaner. Bei den letzten Wahlen soll er die ganze Gegend in Aufregung versetzt haben ... Das hat mich wie ein Schlag getroffen. Nicht wahr, man könnte ihm Schwierigkeiten machen?« Eine Pause trat ein. Sie sah ihn starr an. Er folgte mit den Augen einem vorüberfahrenden Landauer, als wolle er ihrem Blick ausweichen. Mit unschuldiger Miene sagte er dann: »Beruhigen Sie sich. Sie haben doch Freunde, nicht wahr? Nun also, verlassen Sie sich auf sie.« »Ich verlasse mich einzig auf Sie, Eugène«, sagte sie zärtlich, sehr leise. Da schien er gerührt. Er sah ihr nun seinerseits ins Gesicht, und er fand sie ergreifend mit ihrem fülligen Hals, der weißgeschminkten
Maske einer schönen Frau, die nicht altern möchte. Sie war seine ganze Jugend. »Ja, verlassen Sie sich auf mich«, antwortete er und drückte ihr die Hände. »Sie wissen ganz genau, daß ich alle Ihre Angelegenheiten zu den meinigen mache.« Er begleitete sie noch bis zum Quai Voltaire zurück. Nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, überschritt er endlich die Brücke, ging langsamer und interessierte sich von neuem für die Zuckerhüte, die im Hafen SaintNicolas ausgeladen wurden. Er lehnte sich sogar ein Weilchen auf das Geländer. Aber die Zuckerhüte, die durch die Rinne rutschten, das grüne Wasser, dessen ununterbrochene Flut unter die Brückenbogen strömte, die Gaffer, die Häuser, alles versank bald wie in einem Nebel, ertrank in einer Träumerei, der er nicht zu widerstehen vermochte. Er dachte an verworrene Dinge, er stieg mit Frau Correur in finstere Tiefen hinab. Und er empfand kein Bedauern mehr; er träumte davon, sehr
bedeutend zu werden, sehr mächtig, um die, die ihn umgaben, über das Selbstverständliche und Mögliche hinaus zufriedenzustellen. Ein Kälteschauer entriß ihn seiner Reglosigkeit. Ihn fror. Die Dunkelheit sank herab, der Luftzug über dem Fluß ließ auf den Uferstraßen kleine weiße Staubwolken aufsteigen. Als er den Quai des Tuileries entlangging, fühlte er sich sehr müde. Ganz plötzlich fehlte ihm der Mut, zu Fuß heimzukehren. Aber es kamen nur besetzte Droschken vorüber, und er wollte schon die Hoffnung aufgeben, einen Wagen zu finden, als er sah, wie ein Kutscher sein Pferd ihm gegenüber anhielt. Aus dem Wagenschlag guckte ein Kopf hervor. Es war Herr Kahn, der rief: »Ich war gerade bei Ihnen. Steigen Sie doch ein! Ich begleite Sie zurück, und dabei können wir plaudern.« Rougon stieg ein. Kaum saß er, als der ehemalige Abgeordnete bei dem Rütteln des
Wagens, dessen Pferd sich wieder in seinen schläfrigen Trott gesetzt hatte, in heftige Worte ausbrach. »Ach, mein Freund, man hat mir gerade etwas vorgeschlagen ... Sie würden es nie erraten. Ich ersticke.« Und er ließ die Fensterscheibe an einem der Wagenschläge herunter. »Sie erlauben doch, nicht wahr?« Rougon lehnte sich tief in eine Ecke und sah durch das offene Fenster zu, wie die graue Mauer des Jardin des Tuileries vorüberglitt. Herr Kahn aber fuhr mit hochrotem Gesicht und abgehackten Bewegungen fort: »Sie wissen, ich bin Ihrem Rat gefolgt ... Seit zwei Jahren führe ich einen verbissenen Kampf. Dreimal habe ich den Kaiser gesprochen, ich bin bei meiner vierten Eingabe in dieser Sache. Wenn ich die Konzession für meine Bahnlinie auch nicht erhalten habe, so habe ich immerhin
verhindert, daß Marsy sie der WestbahnGesellschaft erteilen läßt ... Kurz, ich habe mein Verhalten danach eingerichtet, abzuwarten, bis wir wieder die Stärksten sind, wie Sie es mir angeraten hatten.« Er schwieg einen Augenblick lang, da seine Stimme von dem abscheulichen Gerassel eines mit Eisen beladenen Karrens übertönt wurde, der den Quai entlangfuhr. Als dann die Droschke den Karren überholt hatte, sprach er weiter: »Nun gut, gerade eben ist ein mir unbekannter Herr, anscheinend ein großer Unternehmer, in meinem Arbeitszimmer erschienen und hat mir im Namen de Marsys und des Direktors der WestbahnGesellschaft in aller Ruhe angeboten, mir die Konzession erteilen zu lassen, wenn ich diesen Herren eine Million in Aktien auszahlen würde ... Was sagen Sie dazu?« »Das ist ein bißchen teuer«, murmelte Rougon lächelnd.
Herr Kahn saß mit verschränkten Armen da und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie machen sich keine Vorstellung von dem sicheren Auftreten solcher Leute ... Ich müßte Ihnen mein ganzes Gespräch mit dem Unternehmer erzählen. Für diese Million will sich Marsy verpflichten, mich zu unterstützen und mein Gesuch innerhalb eines Monats durchzubringen. Er verlangt nur seinen Anteil, sonst nichts ... Und als ich vom Kaiser sprach, begann unser Mann zu lachen. Er hat mir wortwörtlich gesagt, daß ich verloren wäre, wenn ich den Kaiser auf meiner Seite hätte.« Die Droschke fuhr auf den Place de la Concorde hinaus. Wieder warm geworden, kam Rougon mit roten Backen aus seiner Ecke hervor. »Und Sie haben diesem Herrn die Tür gewiesen?« fragte er. Der ehemalige Abgeordnete sah ihn einen
Augenblick lang sehr erstaunt an, ohne zu antworten. Sein Zorn war plötzlich verraucht. Er lehnte sich nun seinerseits in eine Ecke des Wagens, überließ sich schlaff dem Gerüttel und murmelte: »O nein, man wirft die Leute nicht so mir nichts dir nichts hinaus ... Ich wollte übrigens Ihre Meinung hören. Ich muß gestehen, ich habe Lust zuzugreifen.« »Niemals, Kahn!« »Niemals!«
rief
Rougon
wütend.
Und sie redeten heftig hin und her. Herr Kahn nannte Zahlen; freilich sei ein Trinkgeld von einer Million ungeheuer; aber er bewies, daß man dieses Loch mit Hilfe gewisser Operationen leicht stopfen könne. Rougon hörte nicht zu, lehnte es mit einer Handbewegung ab, etwas davon zu erfahren. Auf das Geld pfiff er. Er wollte nicht, daß Marsy eine Million in die Tasche steckte, denn ihm diese Million zukommen lassen, hieß die eigene Machtlosigkeit zugeben, sich als
besiegt bekennen, den Einfluß seines Rivalen so übertrieben hoch bewerten, daß dieser Einfluß dadurch dem eigenen gegenüber noch größer erscheinen würde. »Sie sehen doch, daß er mürbe wird«, sagte er. »Er gibt schon nach ... Warten Sie noch. Wir werden die Konzession umsonst bekommen.« Und in fast drohendem Ton fügte er hinzu: »Wir werden uns überwerfen, ich warne Sie. Ich kann nicht zulassen, daß einer meiner Freunde auf diese Weise geprellt wird.« Eine Pause entstand. Die Droschke fuhr die ChampsElysées hinauf. Die beiden Männer, in Nachdenken versunken, schienen aufmerksam die Bäume in den Seitenalleen zu zählen. Als erster nahm Herr Kahn mit gedämpfter Stimme wieder das Wort: »Hören Sie, ich könnte mir nichts Besseres wünschen, ich bliebe gern bei Ihnen; aber Sie müssen zugeben, daß seit bald zwei Jahren ...«
Er beendete den Satz nicht, er gab ihm eine andere Wendung. »Kurz, es ist nicht Ihre Schuld; Ihnen sind augenblicklich die Hände gebunden ... Wir sollten die Million geben, glauben Sie mir.« »Niemals!« wiederholte Rougon mit Nachdruck. »In vierzehn Tagen werden Sie Ihre Konzession haben! Verstanden?« Die Droschke hielt gerade vor dem kleinen Stadthaus in der Rue Marbeuf. Sie sprachen, ohne auszusteigen, noch ein Weilchen bei geschlossenem Wagenschlag, als säßen sie sehr behaglich in ihrem Arbeitszimmer. Rougon hatte an diesem Abend Herrn Bouchard und Oberst Jobelin zum Diner da, und er wollte auch Herrn Kahn dabehalten, der sehr bedauerte, ablehnen zu müssen, weil er schon anderweitig eingeladen sei. Jetzt war der große Mann für die Konzessionsangelegenheit entflammt. Als er endlich aus der Droschke gestiegen war, schloß er freundschaftlich den
Wagenschlag, wobei er und der Abgeordnete einander noch einmal zunickten. »Auf morgen, Donnerstag, nicht wahr?« rief Herr Kahn, der den Kopf herausstreckte, während der Wagen ihn davontrug. Rougon kam mit ein wenig Fieber nach Hause. Er konnte nicht einmal die Abendzeitungen lesen. Obwohl es kaum fünf Uhr war, ging er in den Salon hinüber, wo er auf und ab wandernd seine Gäste erwartete. Von der ersten Sonne des Jahrs, dieser bleichen Januarsonne, hatte er eine leichte Migräne bekommen. Dieser Nachmittag hinterließ bei ihm einen sehr starken Eindruck. Da war die ganze Clique, die Freunde, die er nur duldete, jene, vor denen er Angst hatte, die anderen, für die er echte Zuneigung empfand; sie trieben ihn voran, drängten ihn zu einer unverzüglichen Entscheidung. Und das mißfiel ihm nicht; er fand ihre Ungeduld berechtigt, fühlte einen
Zorn in sich aufsteigen, der aus ihrer aller Zorn gemacht war. Es war, als habe man nach und nach den Raum vor seinen Schritten eingeengt. Die Stunde kam, da er genötigt sein würde, einen furchtbaren Sprung zu tun. Plötzlich dachte er an Gilquin, den er vollständig vergessen hatte. Er schellte, um zu fragen, ob »der Herr im grünen Überzieher« während seiner Abwesenheit nochmals dagewesen sei. Der Diener hatte niemanden gesehen. Da gab er Befehl, ihn, falls er am Abend erscheinen sollte, in sein Arbeitszimmer zu führen. »Und Sie werden es mir sofort melden«, fügte er hinzu, »selbst wenn wir bei Tisch sind.« Dann holte er, da seine Neugier erwacht war, Gilquins Karte. Er las mehrmals: »Es eilt sehr; eine schnurrige Sache«, ohne dadurch klüger zu werden. Als Herr Bouchard und der Oberst erschienen, ließ er die Karte in seiner Tasche verschwinden, beunruhigt und gereizt von
diesem Satz, der sich aufs neue in seinem Hirn einnistete. Das Diner war sehr einfach. Herr Bouchard war seit zwei Tagen Strohwitwer, weil seine Frau zu einer kranken Tante fahren mußte, von der sie übrigens zum erstenmal gesprochen hatte. Was den Oberst anlangte, der stets für sich bei Rougon gedeckt fand, so hatte er an diesem Abend seinen Sohn Auguste mitgebracht, der gerade Ferien hatte. Bei Tisch versah Frau Rougon mit ihrem stillen Anstand die Pflichten der Hausfrau. Unter ihren Augen vollzog sich das Servieren langsam, peinlich sorgfältig, ohne das geringste Klappern von Geschirr. Man unterhielt sich über den Unterricht in den Gymnasien. Der Bürovorsteher sagte Verse von Horaz her, erinnerte sich an den Preis, den er um 1813 beim allgemeinen jährlichen Wettbewerb davongetragen hatte. Der Oberst hätte eine mehr militärische Disziplin wünschenswert gefunden; und er erzählte, weshalb Auguste im
November beim Abiturientenexamen durchgefallen sei: das Kind habe einen so lebhaften Geist, daß es immer über die Fragen der Lehrer hinausgehe, was diese Herren verdrieße. Während der Vater auf diese Weise das Versagen seines Sohnes erklärte, aß dieser mit dem versteckten Lächeln eines Faulpelzes, dem das Ganze Spaß machte, ein Stück Hühnerbrust. Beim Nachtisch schien ein Anschlagen der Klingel im Vestibül den bis dahin zerstreuten Rougon in Unruhe zu versetzen. Er glaubte, es sei Gilquin, warf einen raschen Blick auf die Tür und faltete in der Erwartung, gerufen zu werden, bereits mechanisch seine Serviette zusammen. Statt dessen trat Du Poizat ein. Der ehemalige Unterpräfekt ließ sich als Freund des Hauses zwei Schritt vom Tisch entfernt nieder. Er kam abends oft früh, gleich nach seiner Mahlzeit, die er in einer kleinen Pension im Faubourg SaintHonoré einzunehmen pflegte.
»Ich bin wie gerädert«, brummelte er, ohne irgend etwas Näheres über die verwickelten Angelegenheiten zu äußern, denen er am Nachmittag nachgegangen war. »Ich hätte mich schlafen gelegt, wenn ich nicht auf den Einfall gekommen wäre, einen Blick in die Zeitungen zu werfen ... Die Zeitungen liegen in Ihrem Arbeitszimmer, nicht wahr, Rougon?« Er blieb aber dennoch da, nahm eine Birne und ein paar Schluck Wein ein. Das Gespräch hatte sich den hohen Lebensmittelpreisen zugewandt; alles war seit zwanzig Jahren auf das Doppelte gestiegen; Herr Bouchard entsann sich, in seiner Jugend Tauben zu fünfzehn Sou das Paar gesehen zu haben. Doch sobald der Kaffee und die Liköre gereicht waren, zog sich Frau Rougon diskret zurück. Man ging ohne sie wieder in den Salon; man war wie zu Hause. Der Oberst und der Bürovorsteher trugen selber den Spieltisch vor den Kamin; und bereits in tiefe
Berechnungen versunken, mischten sie angelegentlich die Karten. Auguste blätterte in dem Sammelband einer illustrierten Zeitschrift, der auf einem Tischchen lag. Du Poizat war verschwunden. »Sehen Sie doch dieses Spiel«, sagte plötzlich der Oberst. »Das ist erstaunlich, nicht wahr?« Rougon trat zu ihm, nickte. Als er sich dann wieder still hinsetzen wollte und nach der Feuerzange griff, um die Holzscheite zurechtzuschieben, flüsterte ihm der Diener, der leise eingetreten war, ins Ohr: »Der Herr von heute morgen ist da.« Rougon zuckte zusammen. Er hatte das Klingeln überhört. In seinem Arbeitszimmer fand er Gilquin, der mit einem spanischen Rohr unter dem Arm dastand und blinzelnd mit Kennermiene einen schlechten Stich betrachtete, der Napoleon auf Sankt Helena84 darstellte. Gilquin steckte tief in seinem bis ans Kinn zugeknöpften grünen Überzieher, auf
dem Kopf einen fast neuen schwarzen Seidenhut, den er sehr schräg aufs Ohr gesetzt hatte. »Nun und?« fragte Rougon lebhaft. Aber Gilquin beeilte sich nicht. Er wiegte den Kopf, sagte, den Stich besehend: »Es ist dennoch gut getroffen! Er sieht darauf aus, als ob er sich herzlich langweile!« Eine einzige Lampe beleuchtete von einer Ecke des Schreibtisches aus das Arbeitszimmer. Als Rougon hereinkam, war es, als raschele leise Papier in einem Sessel mit riesiger Rücklehne, der vor dem Kamin stand; nachher herrschte eine solche Stille, daß man hätte meinen können, ein halberloschenes Holzscheit habe geknistert. Gilquin lehnte es übrigens ab, Platz zu nehmen. Die beiden Männer blieben in der Nähe der Tür in einem Schattenstreifen stehen, den ein Bücherschrank warf.
»Nun und?« wiederholte Rougon. Und er sagte, daß er nachmittags in der Rue Guisarde hereingeschaut habe. Darauf sprach der andere von seiner Concierge, einer ausgezeichneten Person, die an Schwindsucht eingehe, weil das Erdgeschoß des Hauses feucht sei. »Aber diese eilige Sache ... Was ist denn das?« »Warte! Deshalb bin ich gekommen. Wir werden uns darüber unterhalten ... Und du bist oben gewesen, hast die Katze gehört? Stell dir vor, sie ist über die Dachtraufe gekommen. Eines Nachts, als mein Fenster offengeblieben war, habe ich sie bei mir im Bett gefunden. Sie leckte mir den Bart. Das kam mir spaßig vor, und so hab ich sie behalten.« Endlich entschloß er sich, von jener Angelegenheit zu sprechen. Aber es wurde eine lange Geschichte. Er begann damit, von seiner Liebschaft mit einer Plätterin zu
erzählen, deren Zuneigung er eines Abends beim Weggehen aus dem Ambigu85 gewonnen habe. Diese arme Eulalie habe sich gerade gezwungen gesehen, ihre Möbel an ihren Hauswirt abzutreten, weil ein Liebhaber sie just in dem Augenblick verlassen hatte, als sie für fünf Vierteljahre die Miete schuldete. Nun wohne sie seit zehn Tagen in einem Hôtel in der Rue Montmartre, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes; und bei ihr habe er die ganze Woche geschlafen, im zweiten Stock in einem finsteren Zimmerchen nach dem Hof hinaus, die Tür ganz hinten im Flur. Rougon hörte ihm ergeben zu. »Vor drei Tagen also«, fuhr Gilquin fort, »hatte ich Kuchen und eine Flasche Wein mitgebracht ... Wir haben das im Bett verzehrt, du verstehst. Wir legen uns sehr früh hin ... Eulalie ist kurz vor Mitternacht aufgestanden, um die Krumen auszuschütteln. Dann hat sie mit geballten Fäusten geschlafen. Ein wahrer
Klotz, das Mädchen! – Ich aber schlief nicht. Ich hatte die Kerze ausgeblasen und guckte in die Luft, als sich im Nebenzimmer ein Streit erhob. Du mußt wissen, daß die beiden Zimmer durch eine Tür verbunden sind, die jetzt zugestellt ist. Die Stimmen blieben leise, man schien sich zu versöhnen; aber ich hörte so seltsame Geräusche, daß ich, meiner Treu, hinging und ein Auge an eine Ritze in der Tür drückte ... Nein, du wirst es nie erraten ...« Mit aufgerissenen Augen hielt er inne und freute sich auf den Eindruck, den er hervorzurufen dachte. »Nun also, sie waren zu zweit, ein recht hübscher junger Mann von fünfundzwanzig Jahren und ein Alter, der über die Fünfzig hinaus sein muß, klein, mager und kränklich ... Die Kerle untersuchten Pistolen, Dolche, Säbel, neue Waffen aller Art, deren Stahl schimmerte ... Sie sprachen in einem eigenen Jargon, den ich anfangs nicht verstand. Aber
an einigen Wörtern habe ich erkannt, daß es Italienisch war. Du weißt, ich bin in Italien in Teigwaren gereist. Dann habe ich mir große Mühe gegeben, und ich habe begriffen, was los ist, mein Lieber ... Diese Herren sind nach Paris gekommen, um den Kaiser zu ermorden. Das wär's!« Und den Stock an die Brust gedrückt, verschränkte er die Arme und wiederholte mehrmals: »Nicht wahr, das ist schnurrig!« Das also war die Angelegenheit, die Gilquin schnurrig fand. Rougon zuckte mit den Achseln; man hatte ihm schon zwanzigmal Verschwörungen angekündigt. Aber der ehemalige Handlungsreisende hatte jetzt genaue Angaben gemacht. »Du hast gesagt, ich solle kommen und dir allen Klatsch aus meinem Viertel wiedererzählen. Ich will dir gern zu Diensten sein, ich erzähle dir alles, nicht wahr? Du schüttelst zu Unrecht den Kopf ... Glaubst du,
man hätte nicht ein gutes Trinkgeld springen lassen, wenn ich auf die Präfektur gegangen wäre? Nur lasse ich lieber einen Freund davon profitieren. Höre, es ist ernst! Geh und erzähle dem Kaiser die Sache, er wird dir, bei Gott, um den Hals fallen!« Seit drei Tagen überwache er diese reizenden Herren, wie er sie nannte. Tagsüber kämen noch zwei andere, ein junger und ein sehr schöner in reiferen Jahren, mit einem bleichen Gesicht und langem schwarzem Haar, der der Anführer zu sein scheine. All diese Leute kämen ganz erschöpft an, stritten miteinander in wenigen verblümten Worten. Tags zuvor habe er sie mit eisernen »Maschinchen« beladen gesehen, die ihm wie Bomben vorgekommen seien. Er hatte sich von Eulalie den Schlüssel geben lassen; er halte sich ohne Schuhe, die Ohren gespitzt, in dem Zimmer auf. Und von neun Uhr abends ab richteten sie es so ein, daß Eulalie schnarche, um die Nachbarn in Sicherheit zu wiegen. Seiner
Ansicht nach dürfe man Frauen niemals in politische Angelegenheiten hineinziehen. Je länger Gilquin sprach, um so ernster wurde Rougon. Er glaubte ihm. Er spürte, wie sich bei der leichten Betrunkenheit des ehemaligen Handelsreisenden aus den seltsamen Einzelheiten, mit denen dieser seinen Bericht unterbrach, etwas Wahres herausschälte und sich ihm aufdrängte. Nun erschien ihm all sein Warten den ganzen Tag über, seine unruhige Neugier wie ein Vorgefühl. Und wie schon am Vormittag bebte er nun wieder innerlich in der unwillkürlichen Erregtheit eines starken Mannes, der sein ganzes Geschick auf eine Karte setzt. »Dummköpfe, die die ganze Präfektur hinter sich her haben müssen«, murmelte er, große Gleichgültigkeit heuchelnd. Gilquin begann zu grinsen. Er stieß undeutlich zwischen den Zähnen hervor: »Die Präfektur täte in diesem Fall gut daran, sich zu beeilen.«
Und immer noch lachend, schwieg er und versetzte seinem Hut einen freundschaftlichen Klaps. Der große Mann begriff, daß Gilquin nicht alles gesagt hatte. Er sah ihn fest an. Aber der andere öffnete die Tür und fuhr fort: »Kurz, du weißt nun Bescheid ... Ich gehe jetzt essen, mein Lieber. Ich habe, wie ich hier gehe und stehe, noch nicht diniert. Den ganzen Nachmittag bin ich hinter meinen Burschen hergewesen ... Und ich habe einen Mordshunger!« Rougon hielt ihn zurück, bot ihm an, ihm ein Stück kalten Braten bringen zu lassen, und gab sofort Anweisung, ein Gedeck im Speisezimmer aufzulegen. Gilquin schien sehr gerührt zu sein. Er machte die Tür des Arbeitszimmers wieder zu, dämpfte die Stimme, damit ihn der Bediente nicht höre. »Du bist ein guter Kerl ... Paß gut auf. Ich will dich nicht belügen. Wenn du mich unfreundlich empfangen hättest, wäre ich zur
Präfektur gegangen ... Aber jetzt sollst du alles erfahren. Das nennt man Anständigkeit, was? Du wirst dich hoffentlich dieses Dienstes erinnern. Freunde bleiben immer Freunde, man mag sagen, was man will ...« Dann beugte er sich vor und fügte mit zischender Stimme hinzu: »Es ist auf morgen abend festgesetzt. Badinguet86 soll vor der Oper, in dem Augenblick, da er das Haus betritt, beseitigt werden. Der Wagen, die Adjutanten, das ganze Gelichter, alles wird auf einen Schlag weggefegt.« Während sich Gilquin im Speisesaal zu Tisch setzte, blieb Rougon regungslos mit erdfahlem Gesicht mitten in seinem Arbeitszimmer stehen. Er überlegte, er war unschlüssig. Schließlich setzte er sich an seinen Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier; aber er schob es fast sofort wieder beiseite. Einen Augenblick lang schien er eilig auf die Tür zugehen zu wollen, wie im Begriff, einen
Befehl zu erteilen. Doch er kam langsam zurück und versank abermals in einen Gedanken, der sein Gesicht verschattete. In diesem Augenblick machte der Sessel mit der riesigen Lehne einen plötzlichen Ruck. Du Poizat erhob sich, faltete mit gelassener Miene eine Zeitung zusammen. »Nanu! Sie waren hier?« sagte Rougon schroff. »Gewiß doch, ich habe die Zeitungen gelesen«, erwiderte der ehemalige Unterpräfekt mit einem Lächeln, das seine unregelmäßig stehenden weißen Zähne entblößte. »Sie wußten es doch, Sie haben mich ja beim Hereinkommen gesehen.« Diese dreiste Lüge enthob ihn jeder Rechtfertigung. Die beiden Männer sahen einander ein paar Sekunden lang schweigend an. Und als Rougon, der sich zum zweitenmal seinem Schreibtisch näherte, Du Poizat mit
einem ratlosen Blick zu befragen schien, machte dieser eine kleine Handbewegung, die deutlich besagte: Warten Sie doch, es eilt nicht, man muß erst sehen. Nicht ein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt. Sie kehrten in den Salon zurück. An diesem Abend war ein derartiger Streit über die Prinzen von Orléans87 und den Grafen de Chambord88 zwischen dem Oberst und Herrn Bouchard ausgebrochen, daß sie soeben die Karten hingeworfen hatten und schworen, nie wieder würden sie miteinander spielen. Sie hatten sich mit drohend aufgerissenen Augen zu beiden Seiten des Kamins hingesetzt. Als Rougon eintrat, versöhnten sie sich wieder und hielten eine außerordentliche Lobrede auf ihn. »Oh, ich geniere mich nicht, ich spreche es ruhig vor ihm aus«, fuhr der Oberst fort, »es gibt zur Zeit niemanden, der ihm gleichkäme.« »Wir sprachen schlecht von Ihnen, wie Sie
hören«, sagte Herr verschmitztem Gesicht.
Bouchard
mit
Und die Unterhaltung ging weiter. »Ein unvergleichlicher Verstand!« »Ein Mann der Tat, mit dem Blick des Eroberers!« »Ach, es wäre sehr nötig, daß er sich ein bißchen um unsere Angelegenheiten kümmerte!« »Ja, da wäre der Schlamassel weniger groß. Nur er vermag das Kaiserreich zu retten.« Rougon zog seine mächtigen Schultern ein und setzte aus gespielter Bescheidenheit eine mürrische Miene auf. Diese Beweihräucherung mitten ins Gesicht hinein war ihm höchst angenehm. Nie fühlte sich seine Eitelkeit köstlicher geschmeichelt, als wenn der Oberst und Herr Bouchard einander ganze Abende lang auf diese Weise
bewundernde Phrasen zuwarfen. Ihre Beschränktheit trat dabei deutlich zutage, ihre Gesichter nahmen einen drollig ernsten Ausdruck an; und je platter sie Rougon erschienen, desto mehr weidete er sich an ihren monotonen Stimmen, die ihn ununterbrochen zu Unrecht priesen. Manchmal machte er sich, wenn die beiden Vettern nicht zugegen waren, darüber lustig; aber darum befriedigte es nicht weniger seine Eitelkeit und seine Herrschergelüste. Es war gleichsam ein Misthaufen von Lobsprüchen, groß genug, daß er seinen massigen Körper behaglich darauf wälzen konnte. »Nein, nein, ich bin ein armseliger Mann«, sagte er, den Kopf schüttelnd. »Oh, wenn ich wirklich so stark wäre, wie Sie glauben ...« Er beendete den Satz nicht. Er hatte sich an den Spieltisch gesetzt und legte mechanisch eine Patience, was nur noch sehr selten geschah. Herr Bouchard und der Oberst fuhren
mit ihrer Lobhudelei fort; sie erklärten ihn für einen großen Redner, großen Verwaltungsbeamten, großen Finanzmann, großen Politiker. Du Poizat, der stehengeblieben war, stimmte durch Kopfnicken zu. Schließlich sagte er, ohne Rougon anzusehen, so als sei dieser gar nicht anwesend: »Mein Gott, ein Zwischenfall würde genügen ... Der Kaiser ist Rougon sehr gewogen. Wenn morgen eine Katastrophe hereinbräche, wenn er das Bedürfnis nach einem starken Arm empfände, wäre Rougon übermorgen Minister ... Weiß Gott!« Der große Mann blickte langsam auf. Ohne seine Patience zu beenden, ließ er sich mit einem wieder von Schatten grauen Gesicht in den Sessel zurücksinken. Doch die schmeichlerischen und unermüdlichen Stimmen des Obersts und Herrn Bouchards schienen ihn bei seinem Nachsinnen zu wiegen, ihn irgendeinem Entschluß zuzutreiben, vor dem er noch zögerte. Er
lächelte schließlich, als der junge Auguste, der soeben die unterbrochene Patience zu Ende gelegt hatte, ausrief: »Sie ist aufgegangen, Herr Rougon!« »Bei Gott, das geht immer auf!« sagte Du Poizat, den üblichen Ausspruch des großen Mannes wiederholend. In diesem Augenblick kam ein Diener und meldete Rougon, daß ein Herr und eine Dame nach ihm fragten, und er übergab ihm eine Karte, die ihn einen leichten Schrei ausstoßen ließ. »Was, sie sind in Paris?« Es waren der Marquis und die Marquise d'Escorailles. Rougon beeilte sich, sie in seinem Arbeitszimmer zu empfangen. Sie entschuldigten sich wegen ihres späten Kommens. Im Laufe der Unterhaltung ließen sie dann durchblicken, daß sie sich seit zwei Tagen in Paris befänden, aber die Befürchtung, ihr Besuch bei einer Persönlichkeit, die der Regierung nahestehe, könnte falsch ausgelegt
werden, habe sie diesen Besuch auf die ungehörige Stunde verschieben lassen, zu der sie nun erschienen seien. Diese Erklärung verletzte Rougon keineswegs. Die Anwesenheit des Marquis und der Marquise in seinem Hause war für ihn eine unverhoffte Ehre. Selbst wenn der Kaiser persönlich an seine Tür gepocht hätte, würde das seine Eitelkeit nicht so sehr befriedigt haben. Diese alten Leute kamen als Bittende, ganz Plassans bezeigte ihm damit seine Achtung, das kühle, aufgeblasene aristokratische Plassans, von dem er aus seiner frühen Jugend die Vorstellung eines unersteigbaren Olymps bewahrt hatte; und endlich erfüllte sich ihm ein alter ehrgeiziger Traum; er fühlte sich gerächt für die Geringschätzung, mit der seine heimatliche Kleinstadt auf ihn geblickt hatte, als er dort in den schiefgetretenen Schuhen eines unbeschäftigten Advokaten herumlief. »Wir haben Jules nicht angetroffen«, begann die Marquise. »Wir wollten uns das
Vergnügen machen, ihn zu überraschen ... Er mußte anscheinend in irgendeiner Angelegenheit nach Orléans fahren.« Rougon wußte nichts von der Abwesenheit des jungen Mannes. Doch als er sich erinnerte, daß die Tante, bei der sich Frau Bouchard aufhielt, in Orléans wohnte, ging ihm ein Licht auf. Und er entschuldigte Jules, er erklärte sogar die ernste Angelegenheit: eine Arbeit über einen Fall von Gewaltmißbrauch habe diese Reise erfordert. Er stellte ihn als einen begabten Burschen hin, der eine schöne Laufbahn vor sich habe. »Es ist für ihn sehr nötig, daß er es zu etwas bringt«, meinte der Marquis, ohne diese Anspielung auf den Verfall der Familie besonders zu betonen. »Wir haben uns mit großem Schmerz von ihm getrennt.« Und in zurückhaltender Weise beklagten die Eltern die traurigen Notwendigkeiten unserer abscheulichen Epoche, welche die Söhne
daran hindern, in den Überzeugungen ihrer Eltern aufzuwachsen. Sie selber hätten seit dem Sturz Karls X.89 keinen Fuß wieder nach Paris gesetzt. Sie wären bestimmt nie wieder hierhergekommen, wenn es sich nicht um Jules' Zukunft handelte. Seit das liebe Kind auf ihren geheimen Rat hin dem Kaiserreich diene, gäben sie sich zwar vor der Welt den Anschein, es zu verleugnen, seien aber im stillen ununterbrochen um sein Fortkommen bemüht. »Mit Ihnen brauchen wir ja nicht Versteck zu spielen, Herr Rougon«, fing der Marquis wieder im Tonfall reizender Zutraulichkeit an. »Wir lieben unser Kind, das ist wohl recht und billig ... Oh, Sie haben viel getan, und wir danken Ihnen. Aber Sie müssen noch mehr tun. Wir sind doch Freunde und Landsleute, nicht wahr?« Rougon verbeugte sich sehr bewegt. Die bescheidene Haltung dieser beiden alten
Menschen, die er oft so würdevoll sonntags in die Kirche SaintMarc hatte gehen sehen, ließ ihn vor sich selber größer werden. Er machte ihnen feste Zusicherungen. Als sie sich nach zwanzig Minuten vertraulichen Gesprächs verabschiedeten, ergriff die Marquise seine Hand, die sie einen Augenblick lang in der ihren behielt, und murmelte: »Also, es ist abgemacht, lieber Herr Rougon. Wir sind eigens von Plassans hergekommen. Wir waren ungeduldig geworden, das ist nun mal so in unserem Alter! Jetzt werden wir sehr froh dorthin zurückkehren ... Man hatte uns gesagt, Sie seien völlig machtlos.« Rougon lächelte. Mit einem Ausdruck von Entschlossenheit, der einem geheimen Gedanken in seinem Innern zu entsprechen schien, sprach er diese letzten Worte: »Man kann, was man will ... Verlassen Sie sich auf mich.«
Doch huschte ihm, nachdem sie fort waren, der Schatten eines Bedauerns übers Gesicht. Als er mitten im Vorzimmer haltmachte, bemerkte er einen sauber gekleideten Mann, der respektvoll in einer Ecke stand und einen kleinen runden Filzhut zwischen den Fingern baumeln ließ. »Was wünschen Sie?« fragte Rougon barsch. Der Mann, sehr groß, sehr kräftig, schlug die Augen nieder und fragte leise zurück: »Erkennen Sie mich nicht?« Und als Rougon schroff verneinte: »Ich bin Merle, der ehemalige Türhüter des gnädigen Herrn im Staatsrat.« Rougon besänftigte sich etwas. »Ah, ganz recht. Sie haben sich jetzt einen Vollbart stehenlassen ... Nun gut, was wünschen Sie, mein Sohn?« Da trug Merle mit den höflichen Manieren
eines wohlerzogenen Mannes sein Anliegen vor. Er habe diesen Nachmittag Frau Correur getroffen; sie habe ihm geraten, noch am selben Abend den gnädigen Herrn aufzusuchen, sonst würde er sich niemals erlaubt haben, den gnädigen Herrn um diese Zeit zu stören. »Frau Correur ist sehr gütig«, wiederholte er mehrmals. Dann sagte er endlich, daß er stellungslos sei. Wenn er einen Vollbart habe, so deshalb, weil er seit etwa sechs Monaten nicht mehr beim Staatsrat arbeite. Und als ihn Rougon nach den Gründen seiner Entlassung fragte, gestand er nicht, daß man ihn seines schlechten Betragens wegen vor die Tür gesetzt hatte. Er verkniff den Mund und erwiderte in diskret bescheidener Haltung: »Man wußte, wie ergeben ich dem gnädigen Herrn war. Seit dem Weggang des gnädigen Herrn hat man mich auf jede Weise schikaniert, weil ich es nie
verstand, meine Gefühle zu verbergen ... Eines Tages hätte ich fast einen Kollegen geohrfeigt, der ungebührliche Dinge redete ... Und da hat man mich weggeschickt.« Rougon sah ihn fest an. »Also liegen Sie meinethalben auf der Straße, mein Sohn?« Merle lächelte ein wenig. »Und ich schulde Ihnen einen Posten, nicht wahr? Ich muß Sie irgendwo unterbringen?« Merle lächelte abermals und sagte einfach: »Das wäre sehr gütig von dem gnädigen Herrn.« Ein Weilchen herrschte Schweigen. Rougon schlug mit einer mechanischen und nervösen Bewegung leicht die Hände gegeneinander. Entschlossen und erleichtert begann er zu lachen. Er hatte zu viele Schulden, er wollte alles bezahlen.
»Ich werde an Sie denken, Sie sollen eine Stellung bekommen«, fuhr er fort. »Sie haben gut daran getan herzukommen, mein Sohn.« Und er verabschiedete ihn. Diesmal war er nicht unschlüssig. Er betrat den Speisesaal, wo Gilquin gerade eine Schale eingemachter Früchte leer aß, nachdem er zuvor ein Stück Pastete, eine Hühnerkeule und kalte Kartoffeln verspeist hatte. Du Poizat, der sich zu ihm gesellt hatte, saß rittlings auf einem Stuhl und plauderte mit ihm. Sie sprachen in sehr derber Art über Frauen, davon, wie man ihre Liebe gewinnt. Gilquin hatte den Hut aufbehalten; er warf sich zurück, schaukelte sich auf seinem Stuhl, einen Zahnstocher zwischen den Lippen, um sich als Mann von feinem Benehmen zu zeigen. »Also, ich verdrücke mich«, sagte er und leerte, mit der Zunge schnalzend, sein volles Glas. »Ich gehe in die Rue Montmartre, um nachzusehen, was meine Vögel treiben.«
Aber Rougon, der sehr aufgeräumt zu sein schien, neckte ihn. Glaube er etwa, jetzt, nachdem er gegessen habe, noch immer an sein Verschwörermärchen? Auch Du Poizat stellte sich durchaus ungläubig. Er verabredete mit Gilquin, dem er, wie er sagte, ein Frühstück schuldig sei, eine Zusammenkunft für den nächsten Tag. Gilquin, seinen Stock unterm Arm, fragte, sobald er zu Wort kommen konnte, wiederholt: »Sie werden also nicht hingehen und Bescheid sagen ...« – »O doch«, antwortete Rougon schließlich. »Man wird sich zwar über mich lustig machen, nichts sonst ... Es eilt nicht. Morgen vormittag.« Der ehemalige Handelsreisende hatte schon die Hand am Türgriff, kam aber grinsend zurück. »Sie wissen«, sagte er, »mir ist's gleichgültig, wenn man Badinguet in die Luft sprengt! Das wäre sogar noch schnurriger.« »Oh«, fing der große Mann mit überzeugter,
fast andächtiger Miene wieder an, »der Kaiser fürchtet sich vor nichts, selbst wenn die Geschichte stimmt. Solche Streiche gelingen nie ... Es gibt eine Vorsehung.« Das war das letzte Wort, das gesprochen wurde. Du Poizat ging mit Gilquin zusammen fort, den er freundschaftlich duzte. Und als eine Stunde später, um halb elf, Rougon Herrn Bouchard und dem Oberst, die aufbrachen, die Hand drückte, reckte er die Arme, gähnte, wie er es manchmal tat, und sagte: »Ich bin wie gerädert. Ich werde heute nacht ausgezeichnet schlafen.« Am Abend des nächsten Tages krepierten vor der Oper drei Bomben unter dem Wagen des Kaisers. Eine entsetzliche Panik bemächtigte sich der Menschenmenge, die sich in der Rue Le Peletier staute. Mehr als fünfzig Personen waren getroffen worden. Eine auf der Stelle getötete Frau in einem blauen Seidenkleid lag quer über dem Rinnstein. Zwei Soldaten
hauchten auf dem Pflaster ihr Leben aus. Ein im Nacken verwundeter Adjutant hinterließ Blutstropfen, wo er ging. Und im grellen Licht der Gaslaternen stand mitten in dem Rauch grüßend der Kaiser, der völlig unversehrt dem von Bombensplittern durchsiebten Wagen entstiegen war. Nur in seinen Hut hatte ein Splitter ein Loch gerissen. Rougon hatte den Tag still zu Hause verbracht. Dennoch war er morgens ein wenig erregt gewesen und hatte zweimal Lust bezeigt auszugehen. Doch als er gerade mit dem Frühstück fertig war, fand sich Clorinde ein. Und beim Zusammensein mit ihr in seinem Arbeitszimmer bis zum Abend vergaß er alles. Sie kam, um seinen Rat in einer schwierigen Angelegenheit einzuholen; sie war entmutigt, sie erreiche gar nichts, sagte sie. Da tröstete er sie, sehr gerührt von ihrer Niedergeschlagenheit, zeigte sich sehr hoffnungsvoll und ließ durchblicken, daß sich alles ändern werde. Die Ergebenheit und die
Propagandatätigkeit seiner Freunde seien ihm nicht unbekannt; er werde auch noch die bescheidensten unter ihnen belohnen. Als sie ihn verließ, küßte er sie auf die Stirn. Nach dem Diner empfand er dann ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich Bewegung zu machen. Er ging aus dem Haus und schlug den kürzesten Weg zum Quai ein, denn er fühlte sich am Ersticken und strebte der frischen Luft am Fluß zu. Dieser Winterabend war sehr mild, mit einem bewölkten, niedrigen Himmel, der in düsterem Schweigen auf der Erde zu lasten schien. In der Ferne erstarb der dumpfe Lärm der großen Verkehrsstraßen. Mit gleichmäßigem Schritt ging er die leeren Bürgersteige entlang, immer geradeaus, mit seinem Überzieher die steinerne Brüstung streifend; unzählige Lichter weit hinten in der Finsternis, Sternen gleich, die die Grenzen eines erloschenen Himmels bezeichnen, ließen ihn diese Plätze und Straßen, deren Häuser er nicht mehr sah, als viel breiter, als
unermeßlich groß empfinden; und je weiter er ging, um so größer erschien ihm Paris, nach seinen Maßen geschaffen und mit Luft genug für seine Brust. Das tintenschwarze, mit funkelnden goldenen Schuppen überglitzerte Wasser hatte die tiefen und ruhigen Atemzüge eines schlummernden Kolosses, die die Ungeheuerlichkeit seines Traumes begleiteten. Als er vor dem Justizpalast anlangte, schlug eine Uhr neun. Er zuckte zusammen, wandte sich um, lauschte; es war ihm, als höre er einen jähen panischen Schrecken über die Dächer streifen, entfernten Lärm von Explosionen, Entsetzensschreie. Auf einmal schien ihm Paris wie betäubt von einem großen Verbrechen. Und da gedachte er jenes Juninachmittags, des klaren, von Jubel hallenden Nachmittags der Taufe, der in der warmen Sonne läutenden Glocken, der mit einer dichtgedrängten Menschenmenge gefüllten Uferstraßen, dieses ganzen Glanzes des Kaiserreichs auf seinem Höhepunkt, davon
er sich einen Augenblick lang zu Boden gedrückt gefühlt hatte, so sehr, da er den Kaiser beneidete. Jetzt hatte die Stunde geschlagen, die ihn rächte; ein mondloser Himmel, die Stadt erschreckt und stumm, die Uferstraßen leer, durchweht von einem Schauder, in dem die Gasflammen flackerten, während etwas Verdächtiges auf dem Grunde der Nacht lauerte. Er atmete in langen tiefen Zügen, er liebte dieses mörderische Paris, in dessen furchterregendem Dunkel er die unumschränkte Macht auflas. Zehn Tage darauf nahm Rougon im Innenministerium den Platz Herrn de Marsys ein, der zum Präsidenten des Corps législatif ernannt wurde.
Kapitel IX An einem Märzmorgen war Rougon in seinem
Arbeitszimmer im Innenministerium ganz davon beansprucht, ein vertrauliches Rundschreiben zu verfassen, das am folgenden Tage die Präfekten erhalten sollten. Er hielt inne, atmete schwer und zerbrach die Feder fast auf dem Papier. »Jules, nennen Sie mir doch ein anderes Wort für Obrigkeit«, sagte er. »Zu dumm, diese Sprache! In jeder Zeile habe ich Obrigkeit stehen.« »Na, da gibt's doch Staatsleitung, Regierung, oberste Behörde«, erwiderte der junge Mann lächelnd. Herr Jules d'Escorailles, den Rougon zu seinem Sekretär gemacht hatte, öffnete an einer Ecke des Schreibtisches die Post. Sorgfältig schnitt er mit einem Federmesser die Umschläge auf, überflog die Briefe mit einem Blick und sortierte sie. Vor dem Kamin, in dem ein mächtiges Feuer brannte, saßen der Oberst, Herr Kahn und Herr Béjuin. Alle
fühlten sich hier sehr wohl und wärmten sich mit ausgestreckten Beinen die Füße, ohne ein Wort zu reden. Sie waren hier wie zu Hause. Herr Kahn las eine Zeitung. Die beiden anderen drehten, behaglich zurückgelehnt, Daumen und sahen ins Feuer. Rougon stand auf, goß sich an einem Pfeilertischchen ein Glas Wasser ein und leerte es auf einen Zug. »Ich weiß nicht, was ich gestern gegessen habe«, murmelte er. »Ich könnte heute morgen die Seine austrinken.« Und er setzte sich nicht gleich wieder. Seinen großen Körper in den Hüften wiegend, ging er im Zimmer umher. Das Parkett unter dem dicken Teppich schütterte dumpf bei seinem Schritt. Er schlug die grünen Samtvorhänge zurück, um es heller zu haben. Dann reckte er mitten in dem riesigen Raum, der in seiner finsteren und verblichenen Pracht dem eines möblierten Mietspalastes glich, seine Glieder,
verschränkte die Hände im Nacken und gab sich der Freude hin, gleichsam berauscht von dem Behördengeruch, dem Geruch befriedigter Macht, den er dort einatmete. Unwillkürlich mußte er lachen, und er lachte für sich allein, bog sich in einem Lachen, das immer lauter wurde und aus dem sein Triumph klang. Als der Oberst und die anderen Herren diesen Heiterkeitsausbruch hörten, wandten sie sich um und nickten ihm schweigend zu. »Ach, das tut dennoch gut!« sagte er bloß. Als er seinen Platz vor dem riesigen Palisanderschreibtisch wieder eingenommen hatte, trat Merle ein. Der Türhüter sah tadellos aus, in schwarzem Frack und weißer Krawatte. Er hatte kein einziges Barthaar mehr, war glattrasiert und machte ein würdevolles Gesicht. »Ich bitte Euer Exzellenz um Entschuldigung«, murmelte er. »Der Präfekt des Departements Somme ist gekommen ...«
»Zum Teufel mit ihm, ich bin bei der Arbeit«, erwiderte Rougon barsch. »Es ist unglaublich, daß ich keinen Augenblick ungestört bleiben kann.« Merle ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er fuhr fort: »Der Herr Präfekt versichert, daß Euer Exzellenz ihn erwarten ... Auch die Präfekten der Departements Nièvre, Cher und Jura sind hier.« »Nun gut, mögen sie warten, dafür sind sie da!« entgegnete Rougon sehr laut. Der Türhüter ging hinaus. Herr d'Escorailles hatte gelächelt. Die drei anderen, die sich hier wärmten, streckten sich, ebenfalls sehr erheitert durch die Antwort des Ministers, noch behaglicher aus. Dieser fühlte sich geschmeichelt von der Wirkung, die er hervorgerufen hatte. »Es ist wahr, seit einem Monat hab ich's mit den Präfekten zu tun ... Ich habe sie alle
herbestellen müssen. Wahrlich ein schöner Aufzug, es gibt solche Dummköpfe darunter. Schließlich, sie gehorchen. Aber ich habe allmählich genug davon ... Übrigens arbeite ich heute vormittag für sie.« Er setzte sich wieder an sein Rundschreiben. In der warmen Luft des Zimmers war nichts mehr zu hören als das Kratzen seiner Gänsefeder und das leichte Rascheln der Briefumschläge, die Herr d'Escorailles öffnete. Herr Kahn hatte zu einer anderen Zeitung gegriffen; der Oberst und Her Béjuin dösten vor sich hin. Draußen schwieg das verängstigte Frankreich. Als der Kaiser Rougon wieder in die Regierung berief, geschah dies, weil er ein exemplarisches Vorgehen wünschte. Er kannte dessen eiserne Faust; am Tage nach dem Attentat hatte er im Zorn des dem Anschlag entronnenen Mannes zu ihm gesagt: »Keine Schonung! Man muß Sie fürchten!« Und
soeben hatte er ihn mit jenem furchtbaren Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit90 ausgerüstet, das ihn ermächtigte, jede Person, die wegen einer politischen Handlung verurteilt war, in Algerien internieren oder aus dem Kaiserreich ausweisen zu lassen. Obwohl an dem Verbrechen in der Rue Le Peletier kein Franzose beteiligt gewesen war, wurden die Republikaner verfolgt und deportiert; jetzt wurde aufgeräumt mit den zehntausend Verdächtigen, die man am 2. Dezember übersehen hatte. Man sprach von einem von der revolutionären Partei vorbereiteten Aufruhr, und es hieß, man habe Waffen und Schriften gefunden. Seit Mitte März waren dreihundertachtzig Internierte in Toulon eingeschifft worden. Jetzt ging alle acht Tage ein Transport ab. Das Land zitterte in dem Schrecken, der wie eine Gewitterwolke von dem grünsamtenen Arbeitszimmer ausging, wo Rougon die Glieder reckte und für sich
allein lachte. Noch nie hatte der große Mann eine solche Befriedigung verspürt. Er fühlte sich wohl, er nahm zu; mit der Macht war ihm die Gesundheit zurückgekehrt. Wenn er hin und her ging, schlug er die Absätze tief in den Teppich, damit man seinen schweren Schritt an allen Enden Frankreichs hören sollte. Es verlangte ihn danach, daß jedesmal, wenn er ein leeres Glas auf das Pfeilertischchen stellte, seine Feder hinlegte oder eine Bewegung machte, ein Ruck durch das ganze Land ging. Ein Schrecken zu sein, umgeben von seinen glückstrahlenden Freunden den Blitz zu schmieden, ein Volk halbtot zu schlagen mit seinen massigen Fäusten eines emporgekommenen Spießbürgers – das machte ihm Vergnügen. In einem Rundschreiben hatte er gesagt: »Die Guten dürfen beruhigt sein, nur die Bösen sollen zittern.« Und er spielte seine Rolle eines Gottes, der mit eifersüchtiger Hand die einen verdammt, die anderen erlöst. Ein
grenzenloser Dünkel überkam ihn, und der Götzendienst, den er mit seiner Kraft und seinem Verstand trieb, wurde zu einem regelrechten Kult. Er bereitete sich selber Festgelage übermenschlichen Genusses. In dem Gedränge der Männer des Zweiten Kaiserreichs brüstete sich Rougon schon lange mit autoritären Ansichten. Sein Name bedeutete äußerste Unterdrückung, Verweigerung aller Freiheiten, uneingeschränkte Herrschaft. Daher gab sich auch niemand einer Täuschung hin, als man sah, daß er im Ministerium saß. Seinen Freunden jedoch machte er Geständnisse; er habe eher Bedürfnisse als Ansichten; er finde die Macht zu begehrenswert, seinen Herrschergelüsten zu unentbehrlich, um sie nicht, unter welchen Bedingungen immer, anzunehmen. Regieren, der Menge den Fuß auf den Nacken setzen, das sei sein unmittelbarer Ehrgeiz; alles übrige seien nur nebensächliche Kleinigkeiten, denen er sich
stets anpassen würde. Seine einzige Leidenschaft sei, über allen zu stehen. Nur erhöhten für ihn jetzt die Umstände, unter denen er wieder an die Staatsgeschäfte gekommen war, die Freude am Erfolg; der Kaiser hatte ihm volle Handlungsfreiheit gegeben, er konnte seinen alten Wunsch, die Menschen wie eine Herde mit Peitschenhieben zu lenken, verwirklichen. Nichts stimmte ihn heiterer, als sich verhaßt zu fühlen. Wenn man ihn zum Tyrannen stempelte, lächelte er übrigens zuweilen und sprach die tiefsinnigen Worte: »Wenn ich eines Tages liberal werde, wird es heißen, ich hätte mich geändert.« Rougons größter Hochgenuß aber war es noch immer, vor seiner Clique als Sieger dazustehen. Er vergaß Frankreich, die Beamten, die vor ihm auf den Knien lagen, und das seine Tür belagernde Volk der Bittsteller, um ununterbrochen in der Bewunderung der zehn bis fünfzehn Vertrauten zu leben, die seinen täglichen
Umgang bildeten. Zu jeder Stunde stand ihnen sein Arbeitszimmer offen, er ließ es zu, daß sie sich dort auf den Sesseln, ja sogar an seinem Schreibtisch breitmachten, und pries sich glücklich, wenn sie ihm unaufhörlich wie treue Tiere zwischen den Beinen herumliefen. Der Minister, das war nicht er allein, das waren sie alle, die gewissermaßen ein Teil seiner selbst waren. Zugleich mit seinem Sieg vollzog sich ein geheimer innerer Vorgang, die Bande knüpften sich wieder fester, er begann die Freunde mit einer eifersüchtigen Freundschaft zu lieben, verwendete seine Macht dazu, nicht allein zu sein, fühlte, wie sich seine Brust durch ihren Ehrgeiz weitete. Er vergaß seine heimliche Verachtung, brachte es dahin, sie sehr klug, sehr tüchtig, ja ihm ebenbürtig zu finden. Er verlangte vor allem, daß man ihn selber in ihnen achtete, er verteidigte sie leidenschaftlich, so wie er die zehn Finger seiner Hände verteidigt haben würde. Er machte ihre Angelegenheiten zu den seinen.
Schließlich bildete er sich sogar ein, ihnen viel zu schulden, und lächelnd gedachte er ihres langen Eintretens für ihn. Und selber völlig bedürfnislos, teilte er der Clique fette Beutestücke zu und genoß, wenn er sie zufriedenstellte, die persönliche Freude, rings um sich her den Glanz seines Glückes zu erhöhen. Unterdessen herrschte in dem riesigen Raum noch immer eine schlaffe Stille. Nachdem Herr d'Escorailles die Aufschrift eines der Briefe, die er gerade öffnete, genau betrachtet hatte, hielt er ihn, ohne ihn aufzumachen, Rougon hin. »Ein Brief von meinem Vater«, sagte er. Der Marquis dankte dem Minister mit übertriebener Unterwürfigkeit dafür, daß er Jules in sein Arbeitszimmer genommen hatte. Rougon las langsam die zwei mit zierlicher Schrift bedeckten Seiten. Er faltete den Brief zusammen und ließ ihn in seine Tasche
gleiten. Dann fragte er, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte: »Hat Du Poizat nicht geschrieben?« »Doch, Herr Minister«, erwiderte der Sekretär und suchte einen Brief aus den anderen heraus. »Er fängt an, sich in seiner Präfektur auszukennen. Er sagt, daß das Departement DeuxSèvres und besonders die Stadt Niort unbedingt von einer festen Hand gelenkt werden müßten.« Rougon überflog den Brief. Als er damit fertig war, murmelte er: »Gewiß, er wird die Vollmacht erhalten, um die er bittet ... Antworten Sie ihm nicht, das ist nicht nötig. Mein Rundschreiben ist für ihn bestimmt.« Er griff wieder zur Feder, überlegte sich die letzten Sätze. Es war Du Poizats Wunsch gewesen, Präfekt in Niort, in seiner Heimat, zu werden, und der Minister befaßte sich bei jeder schwerwiegenden Entscheidung vor allem mit DeuxSèvres, regierte Frankreich gemäß den
Ansichten und Erfordernissen seines ehemaligen Elendsgefährten. Als er endlich gerade mit seinem vertraulichen Schreiben an die Präfekten fertig war, regte sich plötzlich Herr Kahn auf. »Ah, das ist ja abscheulich!« rief er. Und auf die Zeitung schlagend, die er in der Hand hielt, wandte er sich an Rougon: »Haben Sie das gelesen? Hier steht obenan ein Artikel, der an die übelsten Leidenschaften appelliert. Da, hören Sie diesen Satz: ›Die Hand, die straft, muß ohne Fehl sein, denn wenn es dahin kommt, daß die Justiz sich irrt, dann lösen sich die Bande der menschlichen Gesellschaft.‹ Sie verstehen wohl? – Und erst unter Vermischtes! Da finde ich die Geschichte von einer Gräfin, die von dem Sohn eines Getreidehändlers entführt wurde. Man dürfte solche Anekdoten nicht durchgehen lassen. Das zerstört die Achtung des Volkes vor den höheren Ständen.«
Herr d'Escorailles mischte sich ein. »Der Feuilletonroman ist noch anstößiger. Darin geht es um eine wohlerzogene Frau, die ihren Gatten betrügt. Der Verfasser läßt sie nicht einmal Gewissensbisse haben.« Rougon machte eine furchtbare Gebärde. »Ja, ja, man hat mich bereits auf diese Nummer aufmerksam gemacht«, sagte er. »Sie sehen ja wohl, daß ich die Stellen mit Rotstift angestrichen habe ... Dabei ist das eine Zeitung, die uns gehört! Täglich bin ich genötigt, sie Zeile für Zeile genau zu prüfen. Ach, die beste Zeitung taugt nichts, man müßte ihnen allen den Garaus machen!« Er verzog den Mund und fügte leiser hinzu: »Ich habe nach dem Direktor geschickt. Ich erwarte ihn.« Der Oberst hatte Herrn Kahn die Zeitung aus der Hand genommen. Er entrüstete sich und gab sie an Herrn Béjuin weiter, der ebenfalls
angeekelt zu sein schien. Rougon saß da, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, und dachte mit halbgeschlossenen Augen nach. »Da fällt mir ein«, sagte er, sich seinem Sekretär zuwendend, »der arme Huguenin ist gestern gestorben. Es ist also eine Inspektorstelle frei. Man wird jemanden ernennen müssen.« Und als die drei Freunde vor dem Kamin lebhaft den Kopf hoben, fuhr er fort: »Oh, ein unbedeutender Posten. Sechstausend Francs. Allerdings gibt es dort ganz und gar nichts zu tun.« Aber er wurde unterbrochen. Die Tür eines anstoßenden Zimmers hatte sich geöffnet. »Herein, herein, Herr Bouchard!« rief er. »Ich wollte Sie gerade rufen lassen.« Herr Bouchard, seit acht Tagen Abteilungschef, brachte eine Abhandlung über die Bürgermeister und Präfekten, die um Ritter
und Offizierskreuze der Ehrenlegion baten. Rougon verfügte über fünfundzwanzig Kreuze zur Verteilung an die Verdienstvollsten. Er nahm die Arbeit, prüfte die Namensliste, blätterte die Akten durch. Unterdessen ging der Abteilungschef zum Kamin hinüber und drückte den Herren dort die Hand. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Kamin und hob die Schöße seines Gehrocks hoch, um seine Oberschenkel der Glut auszusetzen. »Scheußlicher Regen, nicht?« murmelte er. »Der Frühling wird diesmal verspätet anfangen.« »Ein ganz verdammter Regen!« stimmte der Oberst zu. »Ich fühle, daß ich wieder einen Anfall bekomme, die ganze Nacht habe ich stechende Schmerzen im linken Fuß gehabt.« Nach einer Pause fragte Herr Kahn: »Und die gnädige Frau?« »Vielen Dank, es geht ihr gut«, erwiderte Herr
Bouchard. »Sie kommt, glaube ich, heute vormittag.« Wieder trat Schweigen ein. Rougon blätterte noch immer in den Schriftstücken. Bei einem Namen hielt er inne. »Isidore Gaudibert ... Hat der nicht Gedichte gemacht?« »Ganz richtig!« sagte Herr Bouchard. »Er ist seit 1852 Bürgermeister von Barbeville. Bei jedem frohen Ereignis, zur Hochzeit des Kaisers, zur Niederkunft der Kaiserin, zur Taufe des Kaiserlichen Prinzen, hat er den Majestäten sehr geschmackvolle Oden übersandt.« Der Minister zog eine geringschätzige Grimasse. Aber der Oberst bestätigte, er habe die Oden gelesen; er finde sie geistreich. Er rühmte besonders eine, in der der Kaiser mit einem Feuerwerk verglichen wurde. Und ohne jeden Übergang begannen die Herren,
zweifellos aus persönlicher Zufriedenheit, mit halblauter Stimme das Allerbeste vom Kaiser zu reden. Jetzt war die ganze Clique leidenschaftlich bonapartistisch. Die beiden Vettern, der Oberst und Herr Bouchard, hatten sich versöhnt, warfen sich nicht mehr die Prinzen von Orléans und den Grafen de Chambord an den Kopf, sondern lagen von nun an miteinander im Wettstreit, wer in den besten Wendungen das Lob des Kaisers sänge. »Ah nein, der nicht!« rief plötzlich Rougon. »Dieser Jusselin ist eine von Marsys Kreaturen. Ich habe es nicht nötig, die Freunde meines Vorgängers zu belohnen.« Und mit einem Federstrich, der einen Riß in das Papier machte, strich er den Namen durch. »Man muß bloß jemanden finden«, fing er wieder an. »Es ist ein Offizierskreuz.« Die Herren verhielten sich völlig still. Herr d'Escorailles hatte ungeachtet seiner großen
Jugend vor acht Tagen das Ritterkreuz bekommen; Herr Kahn und Herr Bouchard waren Offiziere der Ehrenlegion; der Oberst war endlich zum Kommandeur ernannt worden. »Mal sehen, es geht um ein Offizierskreuz«, wiederholte Rougon, von neuem in den Akten blätternd. Aber er unterbrach sich, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. »Sind Sie nicht irgendwo Bürgermeister, Herr Béjuin?« fragte er. Herr Béjuin begnügte sich damit, zweimal den Kopf zu neigen. An seiner Stelle antwortete Herr Kahn. »Gewiß, er ist Bürgermeister von SaintFlorent, der kleinen Gemeinde, in der seine Kristallfabrik liegt.« »Nun, dann versteht sich das von selbst!«
sagte der Minister, hocherfreut über diese Gelegenheit, einen der Seinigen zu fördern. »Er ist tatsächlich nur Ritter der Ehrenlegion ... Herr Béjuin, Sie bitten nie um etwas. Immer muß ich selber an Sie denken.« Herr Béjuin lächelte und bedankte sich. Er erbat tatsächlich nie etwas. Aber er war stets anwesend, schweigsam, bescheiden, und wartete auf die abfallenden Brosamen; und er sammelte alle auf. »Léon Béjuin – nicht wahr? – an Stelle von Pierre François Jusselin«, sprach Rougon und setzte den anderen Namen in die Liste ein. Der Oberst machte darauf aufmerksam, daß sich die Namen Béjuin und Jusselin reimten. Diese Bemerkung war anscheinend ein besonders feiner Scherz. Man lachte sehr darüber. Endlich trug Herr Bouchard die unterschriebenen Aktenstücke wieder weg. Rougon hatte sich erhoben; er habe solche
Unruhe in den Beinen, sagte er; die Regentage setzten ihm zu. Inzwischen war der Vormittag vorgeschritten. Aus der Ferne drang das surrende Geräusch der Büros; schnelle Schritte durchquerten die anstoßenden Zimmer; Türen öffneten sich, schlossen sich wieder; durch die Wandbespannung gedämpft, klang Stimmengemurmel herein. Mehrere Angestellte kamen noch und legten dem Minister Aktenstücke zur Unterschrift vor. Es war ein fortgesetztes Kommen und Gehen, der Verwaltungsapparat war mit einem außerordentlichen Aufwand an Schriftstücken, die von Büro zu Büro getragen wurden, bei der Arbeit. Und in all dieser Betriebsamkeit hörte man geradezu hinter der Tür das tiefe, resignierte Schweigen der einigen zwanzig Personen im Vorzimmer, die unter Merles Blicken einnickten, während sie darauf warteten, daß Seine Exzellenz sie gnädigst empfangen würde. Rougon stritt sich, wie von Tätigkeitsfieber befallen, inmitten dieser Leute
herum, gab in einer Ecke seines Arbeitszimmers mit halber Stimme Befehle, brach plötzlich in heftige Worte gegen irgendeinen Chef vom Dienst aus, verteilte die Arbeit, entschied die Angelegenheiten mit einem Wort, war riesig, vermessen, mit vor Kraft geblähtem Hals und fast platzendem Gesicht. Mit seiner gelassenen Würde, der die barschen Abweisungen nichts anzuhaben vermochten, trat Merle ein. »Der Herr Präfekt Somme ...«, begann er.
des
Departements
»Schon wieder!« unterbrach ihn Rougon wütend. Der Türhüter verbeugte sich, wartete auf die Möglichkeit zu sprechen. »Der Herr Präfekt des Departements Somme hat mich gebeten, Euer Exzellenz zu fragen, ob er heute vormittag noch empfangen würde.
Anderenfalls wäre es sehr gütig von Euer Exzellenz, ihm für morgen eine Zeit zu bestimmen.« »Ich werde ihn heute vormittag empfangen ... Er soll, zum Kuckuck, etwas Geduld haben!« Die Tür des Zimmers war offengeblieben, und man gewahrte durch den Spalt das Vorzimmer, einen weiten Raum mit einem großen Tisch in der Mitte und einer Reihe roter Samtsessel längs der Wände. Alle Sessel waren besetzt, zwei Damen standen sogar am Tisch. Die Köpfe wandten sich vorsichtig, flehende Blicke, glühend von dem Wunsch, eintreten zu dürfen, glitten in das Arbeitszimmer des Ministers. Dicht bei der Tür unterhielt sich der Präfekt des Departements Somme, ein kleiner blasser Mann, mit seinen beiden Kollegen von den Departements Jura und Cher. Und als er, zweifellos in dem Glauben, er werde endlich vorgelassen, eine Bewegung machte, als wolle er aufstehen, sagte Rougon, zu Merle gewandt:
»In zehn Minuten, verstanden? Ich kann im Augenblick durchaus niemanden empfangen.« Doch während er noch sprach, sah er Herrn Beulin d'Orchère das Vorzimmer durchschreiten. Er ging ihm rasch entgegen, zog ihn mit einem Händedruck in sein Arbeitszimmer und rief: »Ei, kommen Sie doch herein, lieber Freund! Sie sind gerade erst eingetroffen, nicht wahr? Sie haben nicht gewartet? – Was gibt es Neues?« Wieder wurde die Tür zum Vorzimmer, in dem verblüfftes Schweigen herrschte, geschlossen. Rougon und Herr Beulind'Orchère führten an einem der Fenster ein leises Gespräch; der Justizbeamte, kürzlich zum Ersten Gerichtspräsidenten von Paris ernannt, strebte nach dem Amt des Justizministers; aber der Kaiser, dem man diesbezüglich auf den Zahn gefühlt hatte, war undurchdringlich geblieben. »Gut, gut«, meinte der Minister, die Stimme
hebend. »Die Auskunft ist ausgezeichnet. Ich werde handeln, das verspreche ich Ihnen.« Er hatte ihn gerade durch seine eigenen Räume hinausgehen lassen, als Merle erschien und meldete: »Herr La Rouquette.« »Nein, nein, ich habe zu tun, er fällt mir auf die Nerven!« wehrte Rougon ab und bedeutete dem Türschließer mit einer energischen Handbewegung, er solle die Tür zumachen. Herr La Rouquette hörte das ganz genau. Nichtsdestoweniger drang er lächelnd und mit ausgestreckter Hand in das Arbeitszimmer ein: »Wie geht es Euer Exzellenz? Meine Schwester schickt mich. Sie hätten gestern in den Tuilerien ein wenig abgespannt ausgesehen ... Sie wissen, daß am kommenden Montag in den Gemächern der Kaiserin eine Scharade aufgeführt werden soll. Meine Schwester hat eine Rolle. Combelot hat die Kostüme entworfen. Sie kommen doch, nicht wahr?«
Und er blieb eine volle Viertelstunde da, war verbindlich, schmeichelte und hofierte Rougon, den er bald »Euer Exzellenz« und bald »lieber Meister« anredete. Er brachte ein paar Anekdoten über die kleinen Theater an, empfahl eine Tänzerin, bat um ein Wort an den Direktor der Tabakmanufaktur, um gute Zigarren zu bekommen. Und zum Schluß gab er scherzend etwas entsetzlich Böses über Herrn de Marsy von sich. »Er ist trotzdem nett«, erklärte Rougon, als der junge Abgeordnete gegangen war. »Nun, ich will das Gesicht in die Waschschüssel stecken, mir platzen fast die Backen.« Er verschwand für einen Augenblick hinter einem Vorhang. Man hörte lautes Plätschern. Er schnob und schnaufte. Unterdessen hatte Herr d'Escorailles, der mit dem Durchsehen der Post fertig war, eine kleine Feile mit einem Perlmuttergriff aus der Tasche gezogen und bearbeitete sorgfältig seine Fingernagel. Herr
Béjuin und der Oberst, so tief in ihre Sessel gesunken, als wollten sie sie niemals wieder verlassen, starrten die Zimmerdecke an. Herr Kahn blätterte ein Weilchen in dem Stoß Zeitungen, der neben ihm auf einem Tisch lag. Er drehte sie um, sah nach den Titeln, warf sie wieder hin. Dann stand er auf. »Gehen Sie?« fragte Rougon, der wieder zum Vorschein kam, sich das Gesicht mit einem Handtuch abtrocknend. »Ja«, antwortete Herr Kahn, »ich habe die Zeitungen gelesen, ich gehe weg.« Aber Rougon hieß ihn warten. Und dann führte er ihn beiseite, teilte ihm mit, daß er bestimmt in der nächsten Woche zur Eröffnung der Arbeiten an der Eisenbahnlinie von Niort nach Angers ins Departement DeuxSèvres fahren werde. Mehrere Gründe trieben ihn dazu, eine Reise dorthin zu unternehmen. Herr Kahn zeigte sich hocherfreut. Schon in den ersten Märztagen
hatte er endlich die Konzession erhalten. Jetzt handelte es sich nur darum, die Sache in Gang zu bringen, und er fühlte die ganze Feierlichkeit, die die Anwesenheit des Ministers diesem Festakt, dessen Einzelheiten er bereits sorgfältig ausarbeitete, verleihen würde. »Also, abgemacht, ich zähle auf Sie für den ersten Sprengschuß«, sagte er im Weggehen. Rougon hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt. Er sah eine Namensliste durch. Hinter der Tür, im Vorzimmer, nahm die Erwartung zu. »Ich habe kaum eine Viertelstunde Zeit«, murrte er. »Kurz, ich werde empfangen, wen ich empfangen kann.« Er klingelte und sagte zu Merle: »Lassen Sie den Herrn Präfekten des Departements Somme eintreten.« Aber sofort fing er, auf die Liste blickend,
wieder an: »Warten Sie doch! – Sind Herr und Frau Charbonnel da? Lassen Sie sie eintreten.« Man hörte die Stimme des Türhüters rufen: »Herr und Frau Charbonnel!« Und verfolgt von den erstaunten Blicken des ganzen Vorzimmers, erschienen die beiden Bürgersleute aus Plassans. Herr Charbonnel war im Frack, einem Frack mit viereckigen Schößen und einem Samtkragen; Frau Charbonnel trug ein flohbraunes Seidenkleid, dazu einen Hut mit gelben Bändern. Seit zwei Stunden hatten sie geduldig gewartet. »Sie hätten mir Ihre Karte hereinschicken sollen«, sagte Rougon. »Merle kennt Sie doch.« Und ohne ihnen Zeit zu lassen, ihr phrasenhaftes Gestammel, in dem die Worte »Euer Exzellenz« unaufhörlich wiederkehrten, zu beenden, rief er fröhlich: »Sieg! Der Staatsrat hat sein Urteil gefällt! Wir haben unseren schrecklichen Bischof geschlagen.«
Die Gemütsbewegung der alten Dame war so heftig, daß sie sich setzen mußte. Der Gatte stützte sich auf die Rücklehne eines Sessels. »Ich habe diese gute Nachricht gestern abend erfahren«, fuhr der Minister fort. »Da ich Wert darauf legte, sie Ihnen selber mitzuteilen, ließ ich Sie bitten, heute vormittag hierherzukommen ... Oh, das nenne ich einen tüchtigen Brocken, fünfhunderttausend Francs!« Er scherzte, beglückt von ihren fassungslosen Gesichtern. Frau Charbonnel vermochte endlich mit erstickter und schüchterner Stimme zu fragen: »Ist es jetzt ganz wirklich vorbei? – Wird man den Prozeß nicht von neuem anfangen?« »Nein, nein, seien Sie völlig beruhigt. Die Erbschaft gehört Ihnen.« Und er berichtete einige Einzelheiten. Der Staatsrat habe die Schwestern von der Heiligen Familie nicht ermächtigt, das Legat anzunehmen, er habe
sich auf das Vorhandensein natürlicher Erben gestützt und das Testament, das anscheinend nicht alle erforderlichen Merkmale der Echtheit aufwies, für ungültig erklärt. Monsignore Rochart sei höchst aufgebracht. Rougon, der ihn tags zuvor bei seinem Kollegen, dem Unterrichtsminister, getroffen hatte, lachte noch über seine wütenden Blicke. Sein Sieg über den geistlichen Würdenträger machte ihm großen Spaß. »Sie sehen nun wohl, daß er mich nicht verschlungen hat«, sagte er noch. »Ich bin zu dick ... Oh, es ist noch nicht alles zwischen uns erledigt. Das habe ich an der Farbe seiner Augen gesehen. Das ist ein Mann, der bestimmt nichts vergißt. Aber das betrifft nur mich.« Die Charbonnels erschöpften sich in von tiefen Verbeugungen begleiteten Dankesversicherungen. Sie sagten, sie würden noch am selben Abend abreisen. Jetzt waren
sie von einer heftigen Unruhe erfaßt. Das Haus ihres Vetters Chevassu in Faverolles wurde von einer alten frömmlerischen Dienerin betreut, die den Schwestern von der Heiligen Familie sehr ergeben war; vielleicht würde man, wenn man vom Ausgang des Prozesses erfuhr, hingehen und ihr Haus ausrauben. Diese Nonnen sollten zu allem fähig sein. »Ja, reisen Sie heute abend«, redete der Minister ihnen zu. »Falls dort unten irgend etwas nicht glattgehen sollte, schreiben Sie mir.« Er begleitete sie hinaus. Als die Tür geöffnet wurde, bemerkte er die Verwunderung auf den Gesichtern im Vorzimmer; der Präfekt des Departements Somme tauschte ein Lächeln mit seinen Kollegen von den Departements Jura und Cher; die beiden Damen am Tisch verzogen geringschätzig ein wenig die Lippen. Da sagte Rougon laut und deutlich: »Sie schreiben mir, nicht wahr? Sie wissen, wie
gern ich Ihnen zu Diensten bin ... Und wenn Sie nach Plassans kommen, berichten Sie meiner Mutter, daß es mir gut geht.« Er ging mit ihnen durch das ganze Vorzimmer, begleitete sie, ohne sich ihrer im geringsten zu schämen, bis an die andere Tür, um allen Leuten Hochachtung vor ihnen beizubringen, sehr stolz darauf, aus ihrer kleinen Stadt hervorgegangen zu sein und sie heute so herausstreichen zu können, wie es ihm gefiel. Und die Bittsteller, die höheren Beamten, die sich bei ihrem Vorübergehen verbeugten, bezeigten dem flohfarbenen Seidenkleid und dem mit viereckigen Schößen versehenen Frack der Charbonnels ihre Hochachtung. Als Rougon wieder in sein Arbeitszimmer trat, war der Oberst inzwischen aufgestanden. »Auf heute abend«, wollte sich letzterer verabschieden. »Es wird allmählich zu warm bei Ihnen.« Und er beugte sich vor, um Rougon ein paar
Worte ins Ohr zu flüstern. Es handelte sich um seinen Sohn Auguste, den er vom Gymnasium nehmen wollte, weil er die Hoffnung, ihn jemals sein Abitur machen zu sehen, aufgegeben hatte. Rougon hatte versprochen, ihn zu sich ins Ministerium zu nehmen, obwohl von allen Angestellten das Abiturientenzeugnis verlangt wurde. »Nun gut, das ist in Ordnung, bringen Sie ihn her«, antwortete er. »Ich werde mich über die Formalitäten hinwegsetzen. Ich werde einen Ausweg suchen ... Und da es Ihnen darum zu tun ist, soll er sofort etwas verdienen.« Herr Béjuin blieb allein vor dem Kamin. Er drehte seinen Sessel, schob ihn in die Mitte und bemerkte scheinbar gar nicht, daß sich das Zimmer leerte. Immer blieb er als letzter da, wartete noch, wenn die anderen schon gegangen waren, in der Hoffnung, er könnte irgendeinen bisher übersehenen Brocken angeboten bekommen.
Merle erhielt abermals den Befehl, den Präfekten des Departements Somme hereinzuführen. Aber statt zur Tür zu gehen, näherte er sich dem Schreibtisch. »Wenn Euer Exzellenz zu gestatten geruhen«, begann er mit liebenswürdigem Lächeln, »möchte ich mich unverzüglich eines kleinen Auftrages entledigen.« Rougon stützte beide Ellbogen auf seine Schreibunterlage, um zuzuhören. »Es betrifft die arme Frau. Correur ... Ich war heute morgen bei ihr. Sie liegt zu Bett, sie hat einen Furunkel an einer sehr unangenehmen Stelle und sehr groß, oh, größer als eine halbe Faust. Es ist nicht gefährlich, aber es verursacht ihr arge Schmerzen, weil sie eine sehr empfindliche Haut hat ...« »Nun und?« fragte der Minister. »Ich habe sogar dem Hausmädchen geholfen, sie umzudrehen. Aber ich habe ja meinen
Dienst ... Nun ist sie sehr beunruhigt, sie hatte Euer Exzellenz aufsuchen wollen wegen der Antworten, auf die sie wartet. Ich war schon im Begriff wegzugehen, als sie mich zurückrief und mir sagte, es wäre sehr nett von mir, wenn ich ihr heute abend nach dem Dienst die Antworten bringen könnte ... Würden Euer Exzellenz wohl so gefällig sein ...?« Der Minister wandte sich in aller Ruhe um. »Herr d'Escorailles, geben Sie mir doch das Aktenstück, das dort unten in dem Schrank liegt.« Es waren die Akten der Frau Correur, ein riesiger grauer Umschlag, der von Papieren barst. Da gab es Briefe, Projekte, Bittschriften in allen möglichen Handschriften und Orthographien: Gesuche um Tabakläden, Gesuche um Stempelämter, Gesuche um Hilfe, um geldliche Unterstützung, um Pensionen, um Zulagen. All diese losen Blätter trugen am
Rand empfehlende Bemerkungen von Frau Correur, fünf oder sechs Zeilen, unter denen eine dicke Unterschrift wie von Männerhand stand. Rougon durchblätterte die Akten und sah sich kleine, von ihm mit Rotstift geschriebene Notizen am Fuß der Briefe an. »Die Pension von Frau Jalaguier ist auf achtzehnhundert Francs erhöht worden. Frau Leturc hat ihren Tabakladen bekommen ... Die Lieferungen von Frau Chardon sind genehmigt ... Für Frau Testanière noch nichts ... Ach, berichten Sie auch, daß ich etwas für Fräulein Hermine Billecoq erreicht habe. Ich habe von ihr gesprochen. Einige Damen werden die erforderliche Mitgift für ihre Heirat mit dem Offizier, der sie verführt hat, stiften.« »Ich danke Euer Exzellenz tausendmal«, sagte Merle und verbeugte sich. Er ging hinaus, als ein entzückender blonder
Kopf mit einem rosa Hut darauf an der Tür erschien. »Darf ich Flötenstimme.
eintreten?«
fragte
eine
Und ohne eine Antwort abzuwarten, kam Frau Bouchard herein. Sie hatte den Türhüter nicht im Vorzimmer gesehen, da war sie einfach weitergegangen. Rougon, der sie »mein liebes Kind« nannte, ließ sie Platz nehmen, nachdem er einen Augenblick lang ihre kleinen behandschuhten Hände in den seinen gehalten hatte. »Liegt etwas Ernstes vor?« fragte er. »Ja, ja, etwas sehr Ernstes«, erwiderte sie lächelnd. Da befahl er Merle, niemanden hereinzuführen. Herr d'Escorailles, der seine Nagelpflege beendet hatte, war herangetreten, um Frau Bouchard zu begrüßen. Sie veranlaßte ihn durch ein Zeichen, sich zu ihr
herabzubeugen, redete sehr leise lebhaft auf ihn ein. Der junge Mann nickte zustimmend. Und im Begriff, seinen Hut aufzusetzen, sagte er zu Rougon: »Ich gehe frühstücken, ich sehe hier nichts Wichtiges mehr ... Da ist nur dieser Inspektorposten. Dafür müßte man jemanden ernennen.« Der Minister schüttelte ratlos den Kopf. »Ja, allerdings, man muß jemanden ernennen ... Man hat mir schon eine Menge Leute vorgeschlagen. Ich mag niemanden ernennen, den ich nicht kenne.« Und er blickte sich um, sah in alle Ecken des Zimmers, als könnte er dort jemanden finden. Plötzlich fiel sein Blick auf Herrn Béjuin, der schweigend und stillzufrieden in seinem Sessel vor dem Kamin lag. »Herr Béjuin!« rief Rougon. Der öffnete langsam die Augen, ohne sich zu rühren.
»Wollen Sie Inspektor werden? Ich werde es Ihnen erklären: eine Stellung mit sechstausend Francs, bei der man nichts zu tun hat und die sich mit Ihren Obliegenheiten als Abgeordneter sehr gut vereinbaren läßt.« Herr Béjuin wiegte den Kopf. Ja, ja, er nehme an. Und als die Sache abgemacht war, blieb er noch zwei Minuten, um Witterung zu nehmen. Doch er spürte zweifellos, daß es an diesem Vormittag nichts mehr einzuheimsen geben würde, denn er ging langsam, mit den Füßen schlurrend, hinter Herrn d'Escorailles hinaus. »So, nun sind wir allein ... Was gibt's denn, mein liebes Kind?« fragte Rougon die hübsche Frau Bouchard. Er hatte einen Sessel herangeschoben und sich mitten im Zimmer ihr gegenübergesetzt. Da fiel ihm ihre Toilette auf, ein sehr leichtes Gewand aus blaßrosa indischem Kaschmir, das sie wie ein Morgenrock umwallte. Sie war bekleidet und war es doch nicht. Auf ihren
Armen, ihrem Busen schien der schmiegsame Stoff zu leben, während große Falten in der weichen Fülle des Rocks die Rundung ihrer Beine abzeichneten. In all dem lag eine sehr kunstvolle Nacktheit, eine berechnende Verführung, auch in der ein wenig hinaufgeschobenen Taillenlinie, die den Hüften freies Spiel ließ. Und nicht ein Zipfelchen von einem Unterrock zeigte sich, sie schien keine Wäsche anzuhaben und war dennoch köstlich angezogen. »Was gibt es denn?« wiederholte Rougon. Sie lächelte, sprach aber noch nicht. Sie lehnte den Kopf mit dem unter dem rosa Hut gekräuselten Haar zurück und ließ zwischen den geöffneten Lippen das feuchte Weiß ihrer Zähne sehen. Ihr Gesichtchen war von schmeichlerischer Hingegebenheit, trug den Ausdruck heißen und unterwürfigen Flehens. »Ich muß Sie um etwas bitten«, flüsterte sie schließlich.
Dann fügte sie lebhaft hinzu: »Sagen Sie erst, ob Sie es mir gewähren werden.« Aber er versprach nichts. Er wolle erst Bescheid wissen. Er mißtraue den Damen. Und als sie sich ganz nahe zu ihm beugte, fragte er sie aus. »Es ist also etwas sehr Schlimmes, wenn Sie es nicht auszusprechen wagen. Ich muß Ihnen die Beichte abnehmen, nicht wahr? Gehen wir also ordnungsgemäß vor. Betrifft es Ihren Gatten?« Sie machte eine verneinende Kopfbewegung, lächelte jedoch weiter. »Teufel! – Also handelt es sich um Herrn d'Escorailles? Sie zwei haben hier vorhin eine heimliche Verabredung im Flüsterton getroffen.« Abermals verneinte sie. Sie zog eine leichte Grimasse, die deutlich besagte, daß es durchaus notwendig gewesen sei, Herrn
d'Escorailles wegzuschicken. Und während Rougon einigermaßen verwundert überlegte, schob sie ihren Sessel noch näher, so daß sie zwischen seinen Beinen saß. »Hören Sie ... Sie werden nicht mit mir schimpfen? Sie haben mich doch ein wenig lieb? – Es betrifft einen jungen Mann. Sie kennen ihn nicht; ich sage Ihnen gleich seinen Namen, wenn Sie ihm die Stellung gegeben haben ... Oh, eine unbedeutende Stellung. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und wir werden Ihnen sehr dankbar sein.« »Einer Ihrer Verwandten etwa?« fragte er aufs neue. Sie stieß einen Seufzer aus, sah ihn mit schmachtenden Augen an, ließ ihre Hände herabgleiten, damit er sie wieder in die seinen nähme. Und sie sprach ganz leise: »Nein, ein Freund ... Mein Gott, ich bin so unglücklich!« Sie gab sich preis, sie lieferte sich ihm aus
durch dieses Geständnis. Es war ein sehr wollüstiger Angriff, von meisterlicher Kunst, schlau darauf berechnet, Rougon auch die geringsten Bedenken zu nehmen. Einen Moment lang glaubte er sogar, sie habe diese Geschichte um einer raffinierten Verführung willen erfunden, um sich in dem Augenblick, da sie aus den Armen eines anderen kam, begehrenswerter zu machen. »Aber das ist sehr schlimm!« rief er. Da legte sie ihm mit einer flinken und vertraulichen Bewegung die Hand, von der sie den Handschuh abgestreift hatte, auf den Mund. Sie beugte sich ganz zu ihm hinüber. In ihrem verzückten Gesicht schlossen sich die Augen. Eines ihrer Knie hob den weichen Rock, der es kaum mit dem feinen Gewebe eines langen Nachthemds verhüllte. Dem gespannten Stoff der Corsage teilte sich das Wogen ihres Busens mit. Ein paar Sekunden lang empfand er sie wie nackt in seinen
Armen. Und er packte sie brutal um die Taille, stellte sie, ärgerlich geworden und fluchend, mitten im Arbeitszimmer auf die Beine. »Gottsdonner! Seien Sie doch vernünftig!« Mit bleichen Lippen blieb sie vor ihm stehen, sah ihn unter gesenkten Lidern hervor an. »Ja, das ist sehr schlimm, es ist würdelos! Herr Bouchard ist ein ausgezeichneter Mann. Er betet Sie an, er hat blindes Vertrauen zu Ihnen ... Nein, ich werde Ihnen bestimmt nicht helfen, ihn zu betrügen. Ich weigere mich, verstehen Sie, ich weigere mich unbedingt! Und ich sage Ihnen, was ich denke, ich sage es Ihnen geradeheraus, mein schönes Kind ... Man kann nachsichtig sein. So mag es zum Beispiel noch hingehen ...« Er hielt inne, er hätte sich fast entschlüpfen lassen, daß er ihr Herrn d'Escorailles zugestehe. Nach und nach beruhigte er sich, wurde sehr würdevoll. Da er sie von einem
leichten Zittern befallen sah, bat er sie, sich zu setzen; er selber blieb stehen und sagte ihr gründlich die Meinung. Es war eine förmliche Moralpredigt in sehr schönen Worten. Sie verletze alle göttlichen und menschlichen Gebote; sie schreite am Rande eines Abgrunds dahin, entehre den häuslichen Herd, bereite sich selber ein reuevolles Alter; und da er ein leichtes Lächeln in ihren Mundwinkeln zu gewahren glaubte, malte er sogar das Bild dieses Alters, die verheerte Schönheit, das auf immer leere Herz, die schamrote Stirn unter dem weißen Haar. Dann betrachtete er ihr Vergehen vom Gesichtspunkt der guten Gesellschaft aus; da vor allem zeigte er sich streng, denn möge sie auch für sich die Entschuldigung ihrer gefühlvollen Natur haben, so müsse doch das schlechte Beispiel, das sie gebe, unverziehen bleiben; was ihn dazu führte, gegen die moderne Sittenverwilderung, die abscheulichen Ausschweifungen der Epoche zu wettern.
Schließlich kam er auf sich selbst zurück. Er sei der Hüter des Gesetzes. Er könnte seine Macht nicht dazu mißbrauchen, das Laster zu ermutigen. Ohne Tugend scheine eine Regierung ihm unmöglich. Und er endete damit, er wolle wetten, daß seine Gegner in seiner Amtsführung keinen einzigen Fall von Vetternwirtschaft, keine einzige der Intrige verdankte Begünstigung entdecken könnten. Den Kopf tief gesenkt, so zusammengekauert, daß ihr zarter Hals unter dem Nackenschleier ihres rosa Hutes zu sehen war, hörte ihm die hübsche Frau Bouchard zu. Als er seinem Herzen Luft gemacht hatte, stand sie auf, schritt, ohne ein Wort zu sagen, auf die Tür zu. Doch im Hinausgehen, die Hand schon auf der Klinke, hob sie den Kopf, begann abermals zu lächeln und murmelte: »Er heißt Georges Duchesne. Er ist erster Sekretär in der Abteilung meines Mannes und möchte gern stellvertretender Abteilungschef
werden.« »Nein, nein!« schrie Rougon. Da umfaßte sie ihn mit einem langen Blick, dem verachtungsvollen Blick einer verschmähten Frau, und ging. Sie beeilte sich keineswegs, sie ließ ihr Kleid lässig schleppen, in dem Wunsch, Bedauern darüber zurückzulassen, daß er sie nicht genommen hatte. Der Minister sah müde aus, als er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte. Merle, dem er einen Wink gegeben hatte, folgte ihm. Die Tür war einen Spalt breit offengeblieben. »Der Herr Direktor des ›Vœu national‹, den Euer Exzellenz haben rufen lassen, ist soeben gekommen«, meldete der Türhüter leise. »Ausgezeichnet!« antwortete Rougon. »Aber erst werde ich die Beamten empfangen, die schon lange hier sind.«
In diesem Augenblick erschien ein Kammerdiener an der Tür, die zu den Privaträumen führte. Er meldete, daß das Frühstück bereitstehe und Frau Delestang Seine Exzellenz im Salon erwarte. Der Minister war rasch auf ihn zugegangen. »Sagen Sie, man soll anrichten! Tut mir leid, ich werde später empfangen. Ich komme um vor Hunger.« Er machte einen langen Hals, um einen Blick ins Vorzimmer zu werfen. Es war noch immer voll. Kein einziger Beamter, kein einziger Bittsteller hatte sich weggerührt. Die drei Präfekten unterhielten sich in ihrer Ecke, die beiden Damen am Tisch stützten sich, ein wenig müde geworden, mit den Fingerspitzen auf, entlang der Wände hoben sich starr und stumm dieselben Köpfe auf denselben Plätzen vom roten Samt der Rücklehnen ab. Dann befahl er Merle, den Präfekten des Departements Somme und den Direktor des
»Vœu national« nicht weggehen zu lassen, und verließ sein Arbeitszimmer. Frau Rougon war ein wenig leidend und deshalb am Abend zuvor nach Südfrankreich gereist, wo sie einen Monat zubringen sollte. Sie hatte einen Onkel in der Gegend von Pau. Delestang, mit einer sehr wichtigen Mission in einer landwirtschaftlichen Frage beauftragt, weilte seit sechs Wochen in Italien. Und so hatte der Minister Clorinde, die sich mit ihm ausführlich unterhalten wollte, zu einem Junggesellenfrühstück im Ministerium eingeladen. In einer Abhandlung über Verwaltungsrecht blätternd, die auf einem Tisch liegengeblieben war, wartete sie geduldig auf ihn. »Der Magen muß Ihnen schon bis in die Kniekehlen herunterhängen«, scherzte er. »Ich war heute vormittag übermäßig in Anspruch genommen.«
Und er bot ihr den Arm, führte sie in den Speisesaal, einen ungeheuer großen Raum, in dem die beiden Gedecke auf einem Tischchen vor dem Fenster wie verloren wirkten. Zwei hochgewachsene Lakaien servierten. Rougon und Clorinde, beide sehr mäßig, aßen rasch; ein paar Radieschen, eine Scheibe kalten Lachs, Rippchen mit Erbsenpüree und ein wenig Käse. Den Wein rührten sie nicht an. Rougon pflegte vormittags nur Wasser zu trinken. Sie wechselten kaum zehn Worte. Als dann die beiden Lakaien abgetragen und den Kaffee und die Liköre gebracht hatten, gab ihm die junge Frau durch eine leichte Bewegung der Augenbrauen einen Wink, den er vollkommen verstand. »Es ist gut«, sagte er, »Sie können gehen. Ich werde schellen.« Die Lakaien gingen hinaus. Da stand sie auf und klopfte leicht auf ihren Rock, damit die Krumen herunterfielen. Sie hatte ein zu weites
Kleid aus schwarzer Seide an, mit Volants überladen und so kompliziert, daß sie gleichsam darin eingewickelt war und man nicht ausmachen konnte, wo sich ihre Hüften und ihr Busen befanden. »Was für eine Halle!« rief sie, tief in den Raum hineingehend. »Ihr Speisesaal ist ja wie geschaffen für Hochzeiten und Vereinsbankette!« Zurückkehrend fügte sie hinzu: »Ich würde gern meine Zigarette rauchen!« »Verflixt!« sagte Rougon. »Es ist nämlich kein Tabak da. Ich rauche nie.« Aber sie zwinkerte ihm zu und holte ein goldbesticktes Tabaksbeutelchen aus roter Seide, kaum größer als eine Geldbörse, aus ihrer Tasche. Mit den Spitzen ihrer schlanken Finger drehte sie sich eine Zigarette. Dann machten sie, da sie nicht schellen wollten, durch den ganzen Raum Jagd auf
Streichhölzer. Schließlich fanden sie auf der Ecke einer Anrichte drei Streichhölzer, die sie sorgsam mitnahm. Und die Zigarette zwischen den Lippen, begann sie, wieder auf ihren Stuhl zurückgelehnt, in kleinen Schlucken ihren Kaffee zu trinken, wobei sie Rougon lächelnd gerade ins Gesicht sah. »Nun? Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung«, erklärte dieser und lächelte ebenfalls. »Sie wollten etwas besprechen, sprechen wir also.« Sie gab durch eine Geste zu verstehen, daß ihr das jetzt unwichtig sei. »Ja. Ich habe einen Brief von meinem Mann bekommen. Er langweilt sich in Turin. Er ist sehr glücklich darüber, daß Sie ihm diesen Auftrag verschafft haben, nur möchte er nicht, daß man ihn dort unten vergißt ... Aber davon werden wir gleich reden. Das eilt nicht.« Sie fing wieder an zu rauchen und ihn mit ihrem aufreizenden Lächeln anzusehen.
Rougon hatte sich nach und nach daran gewöhnt, mit ihr zusammen zu sein, ohne sich die Fragen zu stellen, die einst seine Neugier so heftig angestachelt hatten. Sie war ihm schließlich zu etwas Gewohntem geworden, er nahm sie jetzt hin wie eine eingeordnete, bekannte Gestalt, deren Seltsamkeiten ihn nicht mehr überrascht auffahren ließen. Aber in Wirklichkeit wußte er noch immer nichts Genaues über sie, er kannte sie noch immer ebensowenig wie in den ersten Tagen. Sie blieb vielgestaltig, bald kindisch, bald scharfsinnig, meistens dumm, zuweilen merkwürdig schlau, sehr sanft und sehr boshaft. Wenn sie ihn noch mit einer Geste, einem Wort überraschte, für die er keine Erklärung fand, hatte er dafür nur das Achselzucken eines starken Mannes und sagte, alle Frauen seien so. Und er glaubte, dadurch eine große Geringschätzung für die Frauen an den Tag zu legen, was Clorindes Lächeln schneidender machte, ein verschwiegenes und
grausames Lächeln, das die Spitzen ihrer Zähne zwischen den roten Lippen sehen ließ. »Weshalb sehen Sie mich denn so an?« fragte er endlich, durch diese ihn so groß anblickenden Augen gestört. »Habe ich etwas an mir, das Ihnen mißfällt?« Ein heimlicher Gedanke leuchtete in Clorindes Augen auf, während zwei Falten ihrem Mund einen harten Zug verliehen. Aber sofort lächelte sie wieder bestrickend, blies in dünnen Fäden den Rauch aus und murmelte: »Nein, nein, Sie gefallen mir sehr gut ... Ich dachte an etwas, mein Lieber. Wissen Sie, daß Sie riesiges Glück gehabt haben?« »Wieso?« »Ganz gewiß ... Sie stehen jetzt auf dem Gipfel, den Sie erreichen wollten. Alle Welt hat Ihnen vorangeholfen, sogar die Ereignisse haben Ihnen einen Dienst erwiesen.« Er war im Begriff zu antworten, als an die Tür
geklopft wurde. Clorinde verbarg mit einer instinktiven Bewegung ihre Zigarette hinter ihrem Rock. Es war ein Beamter, der Seiner Exzellenz eine sehr dringende Depesche zur Kenntnis bringen wollte. Rougon las die Depesche mit mürrischem Gesicht, gab dem Beamten Weisung, in welchem Sinne die Antwort abgefaßt werden müsse. Dann machte er die Tür heftig wieder zu, kam zurück, setzte sich und sagte: »Ja, meine Freunde haben sich sehr für mich aufgeopfert. Ich bemühe mich, dessen eingedenk zu sein ... Und Sie haben recht, ich muß sogar den Ereignissen dankbar sein. Die Menschen vermögen oft nichts, wenn ihnen nicht die Begebenheiten beistehen.« Während er diese Worte mit schleppender Stimme sprach, sah er sie an, die schweren Lider gesenkt, die halb den Blick verdeckten, mit dem er sie zu erforschen versuchte. Weshalb sprach sie von seinem Glück? Was wußte sie wirklich von den günstigen Ereignissen, auf die sie anspielte? Hatte etwa
Du Poizat geschwätzt? Doch da er sie lächelnd und nachdenklich sah, mit einem von einer wollüstigen Erinnerung weich gewordenen Gesicht, spürte er, daß anderes sie beschäftigte. Sicherlich wußte sie von nichts. Er selber pflegte darüber hinwegzusehen, zog es vor, nicht zu tief in seinem Gedächtnis zu schürfen. Es gab eine Stunde in seinem Leben, die ihm schließlich doch sehr verworren vorkam. Er brachte es dahin, zu glauben, daß er seine hohe Stellung tatsächlich der Aufopferung seiner Freunde verdanke. »Ich wollte gar nichts sein, man hat mich wider meinen Willen vorwärtsgeschoben«, fuhr er fort. »Schließlich haben die Dinge sich zum besten entwickelt. Wenn es mir gelingt, einiges Gute zu tun, will ich zufrieden sein.« Er trank seinen Kaffee aus. Clorinde drehte sich eine zweite Zigarette. »Erinnern Sie sich noch?« murmelte sie. »Als Sie vor zwei Jahren aus dem Staatsrat
ausgeschieden waren, nahm ich Sie ins Gebet, ich fragte Sie nach der Ursache dieses unüberlegten Streichs. Wie haben Sie zu jener Zeit den Heimlichen gespielt! Aber jetzt können Sie reden ... Spaß beiseite, ganz offen unter uns, hatten Sie einen festen Plan?« »Man hat immer einen Plan«, entgegnete er verschlagen. »Ich fühlte, daß ich fallen würde, und zog es vor, den Sprung selber zu tun.« »Und ist Ihr Plan zur Ausführung gekommen, ist alles genauso gegangen, wie Sie es vorausgesehen hatten?« Er zwinkerte ihr zu wie ein Helfershelfer, der sich keinen Zwang antut. »Aber nein, Sie wissen gut, daß es nie so geht ... Wenn man nur ans Ziel gelangt!« Und er unterbrach sich, um ihr Likör einzugießen. »Nun, was? Curaçao oder Chartreuse?«
Sie war für ein Gläschen Chartreuse. Als er ihr eingoß, klopfte es abermals. Wieder verbarg sie mit einer ungeduldigen Bewegung ihre Zigarette. Er stand wütend auf, ohne die Karaffe aus der Hand zu stellen. Diesmal brachte man ihm einen mit einem großen Siegel verschlossenen Brief. Er überflog ihn mit einem Blick, stopfte ihn in die Tasche seines Gehrocks und sagte: »Es ist gut! Und ich möchte nicht mehr gestört werden, nicht wahr?« Als er Clorinde wieder gegenübersaß, benetzte sie die Lippen mit ihrem Chartreuse, trank Schluck auf Schluck und sah ihn dabei heimlich mit leuchtenden Augen an. Sie war wieder von jener inneren Bewegtheit ergriffen, die ihr Gesicht weich machte. Beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, sprach sie ganz leise: »Nein, mein Lieber, Sie werden niemals alles erfahren, was man für Sie getan hat.« Er beugte sich zu ihr vor, stützte seinerseits
beide Ellbogen auf. »Ei ja, das stimmt!« rief er lebhaft. »Sie werden es mir erzählen! Jetzt gibt es keine Geheimniskrämerei mehr, nicht wahr? – Sagen Sie mir, was Sie getan haben.« Verneinend bewegte sie das Kinn, lange, die Zigarette mit den Lippen festklemmend. »Ist es denn etwas Schreckliches? Fürchten Sie vielleicht, ich könnte meine Schuld nicht begleichen? – Warten Sie, ich will versuchen, es zu erraten ... Haben Sie an den Papst geschrieben und, ohne daß ich es bemerkt hätte, irgendein Kruzifix in meine Wasserkanne getunkt?« Aber sie wurde ärgerlich über diesen Scherz. Sie drohte wegzugehen, falls er so weiterrede. »Machen Sie sich nicht über die Religion lustig«, warnte sie. »Das würde Ihnen Unglück bringen.«
Dann beruhigte sie sich, verjagte mit der Hand den Rauch, den sie ausblies und der Rougon zu belästigen schien, und fing mit einer eigentümlichen Stimme wieder an: »Ich bin mit sehr vielen Leuten zusammengekommen. Ich habe Ihnen Freunde verschafft.« Sie empfand ein böses Bedürfnis, ihm alles zu erzählen. Sie wollte, daß es ihm nicht unbekannt blieb, auf welche Weise sie sich für sein Glück betätigt hatte. Dieses Geständnis war eine erste Genugtuung in dem alten, so geduldig verborgenen Groll. Wenn er in sie gedrungen wäre, hätte sie ihm genaue Einzelheiten mitgeteilt. Es war diese Rückschau, was sie so lachlustig, ein wenig närrisch machte und es ihr so heiß werden ließ, daß sich ihre Haut mit einer leichten, golden schimmernden Feuchtigkeit bedeckte. »Ja, ja«, wiederholte sie, »Ihren Ideen sehr feindlich gesinnte Männer, die ich um Ihretwillen erobern mußte, mein Lieber.«
Rougon war sehr bleich geworden. Er hatte verstanden. »Ah!« sagte er nur. Er versuchte, diesem Thema auszuweichen. Aber sie sah ihm dreist und ruhig mit ihrem großen dunklen Blick in die Augen und lachte dabei tief in der Kehle. Da gab er nach und stellte Fragen. »Herr de Marsy, nicht wahr?« Sie bejahte mit einer Kopfbewegung und blies gleichzeitig eine Rauchwolke über ihre Schulter nach hinten. »Der Cavaliere Rusconi?« Wieder bejahte sie. »Herr Lebeau, Herr de Salneuve, Herr CuyotLaplanche?« Jedesmal bejahte sie. Beim Namen des Herrn de Plouguern erhob sie jedoch Einspruch. Nein, der nicht. Und mit triumphierender
Miene schleckte sie mit der Zungenspitze ihr Glas Chartreuse leer. Rougon war aufgestanden. Er ging tief in den Raum hinein, kehrte so zurück, daß er hinter ihr stand, und fragte sie, in ihre Haare sprechend: »Weshalb dann nicht mit mir?« Sie wandte sich jäh um aus Angst, er könne sie ins Haar küssen. »Mit Ihnen? Aber das ist doch unnötig! Weshalb mit Ihnen? – Was Sie da sagen, ist dumm! Bei Ihnen brauchte ich mich nicht für Ihre Sache einzusetzen.« Und als er sie, von hellem Zorn gepackt, ansah, brach sie in schallendes Gelächter aus. »Oh, so ein Einfaltspinsel! Man kann nicht einmal scherzen, er glaubt alles, was man ihm sagt! – Hören Sie, mein Lieber, halten Sie mich für fähig, einen derartigen Handel zu betreiben? Und noch dazu um Ihrer schönen Augen willen! Übrigens würde ich, wenn ich
all diese schmutzigen Dinge begangen hätte, Ihnen ganz gewiß nichts davon erzählen ... Nein, Sie sind wirklich amüsant!« Rougon war einen Augenblick lang fassungslos. Aber die spöttische Art, in der sie sich selber Lügen strafte, machte sie noch herausfordernder, und ihr ganzes Wesen, ihr gutturales Lachen, die Flamme in ihren Augen wiederholten ihre Geständnisse, sagten noch immer ja. Gerade streckte er die Arme aus, um sie um die Taille zu fassen, als zum drittenmal angeklopft wurde. »Schade«, meinte sie, »aber ich stecke meine Zigarette nicht weg.« Völlig außer Atem trat ein Türhüter ein und stammelte, daß Seine Exzellenz der Justizminister Seine Exzellenz zu sprechen wünschten, und dabei schielte er zu dieser rauchenden Dame hinüber. »Sagen Sie, ich sei weggegangen!« schrie
Rougon. »Ich bin für niemanden zu sprechen, haben Sie verstanden?« Als sich der Türhüter, im Rückwärtsgehen Verbeugungen machend, entfernt hatte, geriet Rougon außer sich, schlug mit der Faust auf die Möbel ein. Man lasse ihn nicht mehr zu Atem kommen; noch gestern habe man ihn, während er sich rasierte, bis in sein Ankleidezimmer verfolgt. Clorinde ging entschlossen auf die Tür zu. »Warten Sie«, sagte sie. »Man wird uns nicht mehr stören.« Sie zog die Schlüssel ab, steckte sie nach innen, schloß zweimal um. »So. Jetzt mag man ruhig klopfen.« Und sie kam zurück, stellte sich ans Fenster und drehte sich eine dritte Zigarette. Er war des Glaubens, sie habe eine schwache Stunde. Er näherte sich ihr, sprach dicht an ihrem Hals: »Clorinde!«
Sie rührte sich nicht, und er wiederholte mit leiserer Stimme: »Clorinde, weshalb willst du nicht?« Daß er sie duzte, machte keinen Eindruck auf sie. Sie bewegte verneinend den Kopf, aber nur schwach, so als wolle sie ihn ermutigen, ihn noch anreizen. Er wagte nicht, sie zu berühren, wurde plötzlich schüchtern, bat um Erlaubnis wie ein Schüler, den die erste Frauengunst hilflos macht. Dennoch küßte er sie schließlich roh am Haaransatz auf den Nacken. Da drehte sie sich um, rief voll Verachtung: »Sieh da, befällt Sie das also wieder, mein Lieber? Ich dachte, das sei bei Ihnen vorbei ... Was sind Sie doch für ein drolliger Kerl! Sie überlegen es sich acht Monate, bevor Sie eine Frau küssen.« Er stürzte sich mit gesenktem Kopf auf sie, ergriff eine ihrer Hände und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ sie ihm. Sie fuhr fort, sich lustig zu machen, ohne böse zu werden.
»Sie dürfen mich nur nicht in die Finger beißen, das ist das einzige, worum ich Sie bitte ... Oh, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht! Sie waren so vernünftig geworden, als ich Sie in der Rue Marbeuf zu besuchen pflegte! Und jetzt sind Sie wieder ganz toll, weil ich Ihnen schmutzige Dinge erzählt habe, die zu tun mir Gott sei Dank niemals in den Sinn gekommen ist! Na, Sie können mir ja gefallen, mein Lieber! – Bei mir hält das Feuer nicht so lange vor. Das ist vorbei. Sie haben mich nicht gewollt, jetzt will ich Sie nicht mehr.« »Hören Sie, alles, was Sie wollen«, murmelte er. »Ich werde alles tun, alles geben.« Doch sie sagte abermals nein, strafte ihn in seiner Sinnlichkeit für die einstige Geringschätzung, genoß eine erste Rache. Sie hatte ihn allmächtig gewünscht, um ihn zurückzuweisen und so seiner Manneskraft einen Schimpf anzutun. »Niemals, niemals!« rief sie wiederholt.
»Erinnern Sie sich denn nicht? Niemals!« Da warf sich Rougon ihr schändlicherweise zu Füßen. Er hatte ihre Röcke mit den Armen umschlungen, er küßte ihre Knie durch die Seide hindurch. Dies war nicht das weiche Kleid der Frau Bouchard, sondern ein Stoffbündel von aufreizender Undurchdringlichkeit, das ihn aber dennoch mit seinem Duft berauschte. Mit einem Achselzucken überließ sie ihm die Röcke. Aber er wurde kühner, seine Hände bewegten sich abwärts, suchten ihre Füße am Rand des Volants. »Hüten Sie sich!« sprach sie mit ihrer ruhigen Stimme. Und als er mit seinen Händen weiter vordrang, drückte sie ihm das glühende Ende ihrer Zigarette auf die Stirn. Einen Schrei ausstoßend, wich er zurück, wollte sich erneut auf sie stürzen. Doch sie war ihm entwischt
und hielt, neben dem Kamin an die Wand gelehnt, eine Klingelschnur gefaßt. Sie rief: »Ich schelle, ich sage, Sie hätten mich eingeschlossen!« Er drehte sich um sich selbst, die Fäuste an den Schläfen, den Körper von einem heftigen Schauder geschüttelt. Und ein paar Sekunden lang blieb er regungslos stehen, voll Angst, seinen Kopf zerspringen zu hören. Plötzlich straffte er sich, um sich auf einen Schlag zu beruhigen, es sauste ihm in den Ohren, und rote Flammen blendeten seine Augen. »Ich bin ein Vieh«, murmelte er. »So was ist Unsinn.« Clorinde lachte mit Siegermiene und hielt ihm eine Moralpredigt. Er tue Unrecht daran, die Frauen zu verachten; später werde er erkennen, daß es sehr mächtige Frauen gebe. Dann fand sie zu ihrem üblichen Ton einer braven Tochter zurück. »Wir sind einander nicht böse, nicht wahr? –
Hören Sie, bitten Sie mich nie wieder darum. Ich will es nicht, es gefällt mir nicht.« Rougon ging beschämt auf und ab. Sie ließ die Klingelschnur los, setzte sich wieder an den Tisch, wo sie sich ein Glas Zuckerwasser bereitete. »Ich habe also gestern einen Brief von meinem Mann bekommen«, erzählte sie ruhig. »Ich hatte heute vormittag so viel zu erledigen, daß ich vielleicht meine Zusage zum Frühstück nicht eingehalten hätte, wenn ich Ihnen den nicht hätten zeigen wollen. Sehen Sie, hier ... Er erinnert Sie an Ihre Versprechungen.« Er nahm den Brief, las ihn im Gehen, warf ihn, wie davon gelangweilt, wieder vor sie auf den Tisch. »Nun und?« fragte sie. Er aber sprach nicht sofort. Er reckte sich, gähnte leicht.
»Er ist dumm«, meinte er schließlich. Sie war sehr gekränkt. Seit einiger Zeit ertrug sie es nicht mehr, daß man an den Fähigkeiten ihres Gatten zu zweifeln schien. Sie senkte einen Augenblick lang den Kopf, brachte ihre Hände zur Ruhe, die vor Empörung zuckten. Nach und nach hatte sie sich aus ihrer schülerhaften Unterwürfigkeit befreit, schien Rougon genug von seiner Kraft entzogen zu haben, um als gefürchtete Gegnerin aufzutreten. »Wenn wir diesen Brief vorlegen wollten, wäre er ein erledigter Mann«, erklärte der Minister, den es dazu trieb, sich an dem Gatten für den Widerstand der Frau zu rächen. »Ach, der Schwachkopf ist nicht leicht unterzubringen.« »Sie übertreiben, mein Lieber«, wandte sie nach einer Pause ein. »Früher schworen Sie, er habe eine ausgezeichnete Karriere vor sich. Er hat sehr wichtige und sehr gediegene
Fähigkeiten ... Ich versichere Ihnen, es sind nicht die wirklich starken Männer, die es am weitesten bringen!« Rougon setzte sein Umherwandern fort. Er zuckte mit den Achseln. »Es liegt in Ihrem Interesse, daß er ins Ministerium gelangt. Sie haben dann dort einen Freund mehr. Wenn sich der Minister für Landwirtschaft und Handel wirklich aus Gesundheitsgründen zurückzieht, wie es heißt, so ist die Gelegenheit ausgezeichnet. Mein Mann ist da Sachverständiger, und seine Mission in Italien empfiehlt ihn der Wahl des Kaisers ... Sie wissen, daß ihm der Kaiser sehr zugetan ist; die zwei verstehen sich sehr gut; sie haben die gleichen Ideen ... Ein Wort von Ihnen würde die Sache glatt durchsetzen.« Er ging noch zwei oder dreimal hin und her, ohne zu antworten. Dann blieb er vor ihr stehen und sagte: »Ich bin schließlich bereit ... Es gibt Dümmere ... Aber ich tue es einzig und
allein um Ihretwillen. Ich möchte Sie gern entwaffnen. Oh, gut sind Sie wohl kaum. Sie sind sehr nachtragend, nicht wahr?« Er scherzte. Auch sie fing an zu lachen und wiederholte: »Ja, ja, sehr nachtragend ... Ich vergesse nichts.« Als sie sich dann verabschiedete, hielt er sie einen Augenblick an der Tür zurück. Zweimal drückten sie einander fest die Hand, ohne ein weiteres Wort. Sobald Rougon allein war, ging er wieder in sein Arbeitszimmer. Der große Raum war leer. Er setzte sich an den Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf den Rand der Schreibunterlage und atmete laut in der Stille. Seine Augenlider sanken herab, fast zehn Minuten lang war er wie betäubt von einer träumerischen Schläfrigkeit. Aber mit einem Ruck fuhr er in die Höhe, reckte die Arme; und er klingelte, Merle erschien.
»Der Herr Präfekt des Departements Somme wartet wohl noch immer? – Lassen Sie ihn hereinkommen.« Bleich und lächelnd, seine kleine Gestalt streckend, trat der Präfekt ein. Er begrüßte den Minister in tadelloser Haltung. Rougon, ein wenig träge, wartete etwas. Dann forderte er ihn auf, Platz zu nehmen. »Sehen Sie, Herr Präfekt, weshalb ich Sie hergebeten habe. Gewisse Instruktionen müssen mündlich erteilt werden ... Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß die revolutionäre Partei wieder das Haupt erhebt. Wir waren nur zwei Fingerbreit von einer entsetzlichen Katastrophe entfernt. Kurz, es ist erforderlich, daß das Land beruhigt wird, daß es sich unter dem kraftvollen Schutz der Regierung fühlt. Seinerseits ist Seine Majestät der Kaiser entschlossen, Exempel zu statuieren, denn bisher hat man seltsamerweise Mißbrauch mit seiner Güte getrieben ...«
Tief in seinen Sessel zurückgelehnt, sprach er langsam und spielte dabei mit einem großen Petschaft mit Achatgriff. Der Präfekt stimmte jedem einzelnen Satzteil mit einer lebhaften Kopfbewegung zu. »Ihr Departement«, fuhr der Minister fort, »ist eins der schlimmsten. Der republikanische Krebsschaden ...« »Ich gebe mir alle Mühe ...«, wollte der Präfekt einwenden. »Unterbrechen Sie mich nicht ... Die Strafmaßnahmen müssen dort also so sein, daß sie in die Augen springen. Um mich mit Ihnen über diese Sache ins Benehmen zu setzen, habe ich Sie zu sprechen gewünscht ... Wir haben uns hier mit einer Arbeit beschäftigt, wir haben eine Liste aufgestellt ...« Und er suchte unter seinen Papieren. Er ergriff ein Aktenbündel, in dem er blätterte. »Man hat die Zahl der für unerläßlich
erachteten Verhaftungen auf ganz Frankreich verteilen müssen. Die Anzahl für jedes Departement entspricht dem Schlag, den es zu versetzen gilt ... Verstehen Sie unsere Absicht richtig. Daher, sehen Sie hier, sind im Departement HauteMarne, wo die Republikaner eine winzige Minderheit bilden, nur drei Verhaftungen vorgesehen. Im Departement Meuse hingegen fünfzehn ... Was Ihr Departement betrifft, Somme, nicht wahr, wir sprechen von Somme ...« Er wandte die Blätter um, blinzelte mit den schweren Lidern. Endlich hob er den Kopf und sah den Beamten fest an. »Herr Präfekt, Sie haben zwölf Verhaftungen vorzunehmen.« Der kleine bleiche Mann verbeugte sich und wiederholte: »Zwölf Verhaftungen ... Ich habe Euer Exzellenz vollkommen verstanden.« Aber er war ratlos, von einer leichten
Bestürzung ergriffen, die er sich nicht anmerken lassen wollte. Als sich der Minister nach einigen Minuten Unterhaltung erhob, um den Präfekten zu verabschieden, entschloß sich dieser zu fragen: »Könnten Euer Exzellenz mir die Personen bezeichnen ...« »Oh, verhaften Sie, wen Sie wollen! Mit solchen Einzelheiten kann ich mich nicht abgeben. Da wäre ich übermäßig belastet. Und reisen Sie noch heute abend, leiten Sie schon morgen die ersten Verhaftungen ein ... Ah, dennoch rate ich Ihnen, sich an die Bessergestellten zu halten. Sie haben dort unten genug Advokaten, Großkaufleute, Apotheker, die sich mit Politik befassen. Sperren Sie mir die alle ein. Das ist wirkungsvoller.« Der Präfekt strich sich mit einer sorgenvollen Handbewegung über die Stirn, durchstöberte schon sein Gedächtnis auf der Suche nach Advokaten, Großkaufleuten, Apothekern.
Immer noch nickte er zustimmend. Aber Rougon war mit dieser unschlüssigen Haltung zweifellos nicht zufrieden. »Ich will Ihnen nicht verhehlen«, führte er weiter aus, »daß Seine Majestät zur Zeit sehr unzufrieden mit den Verwaltungsbeamten ist. Es könnte bald eine große Veränderung in den Präfekturen geben. Unter den ernsten Umständen, in denen wir uns befinden, benötigen wir sehr ergebene Männer.« Das wirkte wie ein Peitschenhieb. »Euer Exzellenz können sich auf mich verlassen«, rief der Präfekt. »Ich habe meine Männer schon; da ist ein Apotheker in Péronne, ein Tuchhändler und ein Papierfabrikant in Doullens; was die Advokaten betrifft, so ist daran kein Mangel, das ist eine Pest ... Oh, ich versichere Euer Exzellenz, daß ich das Dutzend zusammenbringe ... Ich bin ein alter Diener des Kaiserreichs.«
Er sprach noch von der Rettung des Vaterlandes und verabschiedete sich dann mit einer sehr tiefen Verbeugung; in seinem Rücken wiegte der Minister mit einem Ausdruck des Zweifels seine große Gestalt, er hatte kein Vertrauen zu kleingewachsenen Männern. Ohne sich wieder hinzusetzen, strich Rougon Somme mit einem Rotstift von der Liste. Mehr als zwei Drittel aller Departements waren bereits ausgestrichen. Im Arbeitszimmer herrschte die dumpfe Stille der grünen Wandbespannungen, die der Staub zerfraß, der fettige Geruch, mit dem Rougons Wohlbeleibtheit den Raum zu erfüllen schien. Als er abermals nach Merle klingelte, wurde er gereizt, weil er sah, daß das Vorzimmer immer noch voller Leute war. Er vermeinte sogar, die beiden Damen am Tisch wiederzuerkennen. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten alle fortschicken«, rief er. »Ich gehe jetzt weg, ich
kann niemanden mehr empfangen.« »Der Herr Direktor des ›Vœu national‹ ist hier«, teilte ihm der Türhüter mit. Den hatte Rougon vergessen. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und gab Befehl, ihn hereinzuführen. Es war ein sehr gewählt gekleideter Mann von etwa vierzig Jahren und von plumper Gestalt. »Ah, da sind Sie ja, mein Herr«, begann der Minister mit barscher Stimme. »Die Dinge können unmöglich auf solche Weise weitergehen, das lassen Sie sich gesagt sein!« Und im Hinundhergehen überschüttete er die Presse mit Schimpfworten. Sie wirke desorganisierend, demoralisierend, verleite alle zum Aufruhr. Er ziehe den Journalisten die Wegelagerer vor, die auf den Landstraßen Meuchelmorde begingen; von einem Dolchstich könne man genesen, während die Federstiche vergiftet seien; und er fand noch
packendere Vergleiche. Allmählich redete er sich immer mehr in Zorn, regte sich schrecklich auf, rollte die Stimme mit Donnergepolter. Der Direktor, der stehen geblieben war, beugte bei diesem Gewittersturm mit demütiger und bestürzter Miene den Kopf. Schließlich bat er: »Wenn Euer Exzellenz die Güte haben wollten, mich aufzuklären, ich verstehe nicht recht, weshalb ...« »Was? Weshalb!« schrie Rougon außer sich. Er stürzte an den Schreibtisch, breitete die Zeitung aus, zeigte auf die mit Rotstift über und über angestrichenen Spalten. »Keine zehn Zeilen gibt es hier, die nicht sträflich wären! In Ihrem Leitartikel scheinen Sie die Unfehlbarkeit der Regierung in Sachen der Strafmaßnahmen anzuzweifeln. In diesem Entrefilet91 auf der zweiten Seite machen Sie anscheinend eine Anspielung auf mich, indem Sie von den Emporkömmlingen und ihren
unverschämten Erfolgen reden. Unter ›Vermischtes‹ findet man bei Ihnen schmutzige Geschichten, unsinnige Angriffe gegen die höheren Stände.« Der erschrockene Direktor faltete die Hände, versuchte ein Wort anzubringen. »Ich schwöre Euer Exzellenz ... Ich bin tiefunglücklich, daß Euer Exzellenz einen Augenblick lang annehmen konnten ... Ich, der ich eine so große Bewunderung für Euer Exzellenz empfinde ...« Aber Rougon hörte ihm nicht zu. »Und das schlimmste, mein Herr, ist, daß jedermann die Bande kennt, die Sie mit den Verwaltungsbehörden verknüpfen. Wie können die anderen Blätter uns respektieren, wenn die Zeitungen, die wir bezahlen, uns nicht respektieren? Seit dem frühen Morgen schon machen mich all meine Freunde auf diese Greuel aufmerksam.«
Da stimmte der Direktor in Rougons Klagen ein. Jene Artikel seien ihm nicht zu Gesicht gekommen. Aber er werde seine sämtlichen Redakteure rausschmeißen. Wenn Seine Exzellenz es wünschten, werde er Seiner Exzellenz jeden Morgen einen Probeabzug der Nummer zukommen lassen. Rougon, der sich jetzt erleichtert fühlte, verzichtete darauf; dazu habe er keine Zeit. Und er drängte den Direktor schon zur Tür, als er sich eines Besseren besann. »Etwas habe ich vergessen. Ihr Feuilletonroman ist anstößig ... Diese wohlerzogene Frau, die ihren Mann hintergeht, liefert ein abscheuliches Argument gegen die gute Erziehung. Man darf nicht die Meinung aufkommen lassen, daß eine Frau der guten Gesellschaft einen Fehltritt begehen könnte.« »Der Feuilletonroman hat großen Erfolg«, erläuterte der Direktor, von neuem beunruhigt. »Ich habe ihn gelesen und habe ihn sehr
interessant gefunden.« »Ach, Sie haben ihn gelesen ... Je nun, hat diese Unglückliche am Schluß Gewissensbisse?« Bestürzt führte der Direktor die Hand an die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. »Gewissensbisse? Nein, ich glaube nicht.« Rougon hatte die Tür geöffnet. Er schloß sie hinter dem Direktor mit dem Ausruf: »Sie muß unbedingt Gewissensbisse haben! – Verlangen Sie vom Verfasser, daß er sie Gewissensbisse haben läßt!«
Kapitel X Rougon hatte an Du Poizat und an Herrn Kahn geschrieben, man möge ihm die Unbequemlichkeit eines offiziellen Empfangs
an den Toren von Niort ersparen. Er traf eines Samstagabends gegen sieben Uhr ein und stieg direkt in der Präfektur ab, mit der Absicht, sich bis zum Mittag des nächsten Tages auszuruhen; er war sehr müde. Aber nach dem Diner kamen ein paar Leute. Die Nachricht von der Anwesenheit des Ministers mußte sich schon in der Stadt herumgesprochen haben. Man öffnete die Tür eines kleinen Salons neben dem Speisesaal; es ergab sich so etwas wie eine Abendgesellschaft. Rougon, der zwischen zwei Fenstern stand, sah sich gezwungen, sein Gähnen zu unterdrücken und liebenswürdig auf die Willkommensgrüße zu antworten. Ein Abgeordneter des Departements, jener Anwalt, der an Stelle von Herrn Kahn Regierungskandidat geworden war, erschien als erster, ganz verstört, weil er in Gehrock und farbigen Beinkleidern war; und er entschuldigte sich, erklärte, er sei gerade erst zu Fuß von einem seiner Pachthöfe
zurückgekehrt, aber er habe dennoch sofort Seine Exzellenz begrüßen wollen. Dann stellte sich ein untersetzter, in einen etwas zu engen schwarzen Frack gezwängter und weißbehandschuhter Mann mit feierlichem und tiefbetrübtem Gesicht ein. Das war der stellvertretende Bürgermeister. Er war soeben durch sein Hausmädchen benachrichtigt worden. Er sagte wiederholt, daß der Herr Bürgermeister untröstlich sein werde; der Herr Bürgermeister, der Seine Exzellenz erst am folgenden Tag erwarte, befinde sich auf seiner zehn Kilometer entfernten Besitzung Les Varades. Hinter dem stellvertretenden Bürgermeister tauchten nacheinander noch sechs Herren auf; breite, massige Gestalten mit großen Füßen und dicken Händen; der Präfekt stellte sie als hervorragende Mitglieder der Statistischen Gesellschaft vor. Der Direktor des Gymnasiums schließlich brachte seine Frau mit, eine liebliche Blondine von achtundzwanzig Jahren, eine Pariserin, über
deren Toiletten sich ganz Niort aufregte. Sie beklagte sich bei Rougon bitter über die Provinz. Unterdessen erkundigte man sich ausgiebig bei Herrn Kahn, der mit dem Minister und dem Präfekten diniert hatte, nach den Feierlichkeiten des nächsten Tages. Man wollte sich eine Meile weit vor die Stadt hinaus begeben, in eine Les Moulins genannte Gegend, zum Ausgangspunkt eines für die Bahnlinie Niort nach Angers geplanten Tunnels, und dort würde Seine Exzellenz der Innenminister persönlich die Zündschnur der ersten Mine in Brand setzen. Das fand man ergreifend. Rougon spielte den Biedermann. Er wolle nur das so mühevolle Unternehmen eines alten Freundes ehren. Zudem betrachte er sich als Adoptivsohn des Departements DeuxSèvres, das ihn einst in die Gesetzgebende Versammlung entsandt habe. In Wahrheit war der Zweck seiner Reise, zu der Du Poizat ihm nachdrücklich geraten hatte,
ihn in seiner ganzen Macht seinen ehemaligen Wählern vorzuführen, um für den Fall, daß er je eines Tages in den Corps législatif eintreten müßte, seine Kandidatur vollständig sicherzustellen. Durch die Fenster des kleinen Salons sah man die dunkle und schlafende Stadt. Es kam niemand mehr. Man hatte die Ankunft des Ministers zu spät erfahren. Das wurde zu einem Triumph für die eifrigen Leute, die zugegen waren. Sie dachten nicht daran, sich zurückzuziehen, und blähten sich vor Vergnügen darüber, die ersten zu sein, die sich in kleinem Kreise der Gegenwart Seiner Exzellenz erfreuten. Der stellvertretende Bürgermeister sagte, jedesmal lauter, mit klagender Stimme, durch die ein großes Frohlocken drang: »Mein Gott, wie wird das den Herrn Bürgermeister verdrießen! Und den Herrn Präsidenten! Und den Herrn Staatsanwalt und all die anderen Herren!«
Dennoch hätte man gegen neun Uhr meinen können, die ganze Stadt sei im Vorzimmer. Es erscholl ein erheblicher Lärm von Schritten, dann kam ein Bedienter und meldete, daß der Herr Kreiskommissar Seiner Exzellenz seine ehrerbietige Aufwartung zu machen wünsche. Und herein trat Gilquin, in aller Pracht, im Frack, mit strohfarbenen Handschuhen und Chevreauschnürstiefeln. Du Poizat hatte ihm eine Stellung in seinem Departement verschafft. Gilquin benahm sich sehr manierlich, behielt nur ein etwas verwegenes Wiegen der Schultern bei und die Marotte, sich nicht von seinem Hut zu trennen; er stützte die linke Hand mit dem Hut in die Hüfte und lehnte sich in einer Pose, die er irgendeiner Modezeichnung abgeguckt hatte, leicht hintenüber. Als er sich vor Rougon verbeugte, murmelte er mit übertriebener Unterwürfigkeit: »Ich bringe mich bei Euer Exzellenz, die ich mehrmals in Paris zu treffen die Ehre hatte, in gütige Erinnerung.«
Rougon lächelte. Sie plauderten ein paar Minuten lang. Dann ging Gilquin in den Speisesaal, wo man soeben den Tee serviert hatte. Dort traf er Herrn Kahn, im Begriff, an einer Tischecke die Liste der für den nächsten Tag Eingeladenen nochmals durchzusehen. In dem kleinen Salon sprach man jetzt von der großartigen Regierung; Du Poizat, der neben Rougon stand, pries das Kaiserreich, und alle beide machten einander im Angesicht der vor ehrfurchtsvoller Bewunderung Mund und Nase aufsperrenden Einheimischen Verbeugungen, als beglückwünschten sie sich gegenseitig zu einem persönlichen Werk. »Die haben aber was los, diese freche Rande!« murmelte Gilquin, der die Szene durch die weit offene Tür verfolgte. Und während er Rum in seinen Tee goß, stieß er Herrn Kahn am Ellbogen an. Der magere und lebhafte Du Poizat mit seinen unregelmäßig stehenden weißen Zähnen und
dem von triumphierender Freude glühenden Gesicht eines fieberkranken Kindes entlockte Gilquin, der ihn »sehr gelungen« fand, ein behagliches Lachen. »Sie haben ihn wohl nicht im Departement ankommen sehen?« fuhr er mit leiser Stimme fort. »Ich aber war dabei. Er stampfte beim Gehen auf eine jähzornige Weise. Ich sage Ihnen, er hatte gewiß gegen die Leute hier viel auf dem Herzen. Seit er in seiner Präfektur sitzt, macht er sich ein Fest daraus, sich für seine Kindheit zu rächen. Und den Bürgern, die ihn einst als armen Teufel gekannt haben, ist heute nicht nach Lachen zumute, wenn er vorübergeht, dafür stehe ich Ihnen! – Oh, er ist ein zuverlässiger Präfekt, ganz der richtige Mann für sein Amt. Er gleicht in nichts jenem Langlade, den wir abgelöst haben und der ein Frauenliebling war, blond wie ein Mädchen ... Wir haben überall, selbst in den Aktendeckeln des Arbeitszimmers, Photographien von sehr dekolletierten Damen gefunden.«
Gilquin schwieg einen Augenblick lang. Er glaubte zu bemerken, daß ihn die Frau des Gymnasialdirektors von einer Ecke des kleinen Salons her nicht aus den Augen lasse. Da wollte er seine Figur zur Geltung bringen und bog und beugte sich, als er von neuem zu Herrn Kahn sagte: »Hat man Ihnen von der Zusammenkunft Du Poizats mit seinem Vater erzählt? Oh, es war das ergötzlichste Abenteuer der Welt! – Sie wissen, daß der Alte ein ehemaliger Gerichtsvollzieher ist, der einen Schatz angesammelt hat, indem er Geld auf kurze Zeit zu hohen Zinsen auslieh, und der jetzt wie ein Wolf lebt, in einem alten verfallenen Haus vergraben, mit geladenen Gewehren im Flur ... Nun, Du Poizat, dem er zwanzigmal das Schafott prophezeit hat, träumte seit langem davon, ihn gründlich zu ducken. Das hat sehr stark bei seinem Wunsch, hier Präfekt zu werden, mitgesprochen ... Eines Morgens also legt mein Du Poizat seine schönste Uniform an und klopft unter dem
Vorwand, gerade auf einer Amtsreise zu sein, an die Tür des Alten. Man unterhandelt eine gute Viertelstunde. Endlich schließt der Alte auf. Ein kleiner, bleicher Greis, der mit stumpfsinniger Miene die Stickereien an der Uniform betrachtet. Und wissen Sie, was er gesagt hat, schon beim zweiten Satz, als er erfuhr, daß sein Sohn Präfekt ist? ›Ei, Léopold, schick niemanden mehr zum Steuereinziehen her!‹ Im übrigen weder Rührung noch Staunen ... Als Du Poizat wiederkam, verkniff er den Mund und war weiß wie ein Laken. Diese Gelassenheit seines Vaters brachte ihn außer sich. Das ist einer, den er nie unterkriegen wird.« Herr Kahn nickte zurückhaltend. Er hatte die Liste der Eingeladenen wieder in die Tasche gesteckt, trank jetzt seinerseits eine Tasse Tee und warf hin und wieder einen Blick in den anstoßenden Salon. »Rougon schläft im Stehen«, meinte er. »Diese
Dummköpfe sollten ihn wirklich zu Bett gehen lassen. Er braucht Kraft für morgen.« »Ich hatte ihn lange nicht gesehen«, bemerkte Gilquin. »Er ist dicker geworden.« Dann senkte er die Stimme noch mehr und wiederholte: »Die haben was los, diese freche Bande! – Als es krachte, da haben sie ich weiß nicht was angestellt ... Ich hatte es ihnen vorher gesagt. Am nächsten Tag – knall! bums! – hat der Tanz dennoch stattgefunden. Rougon behauptete, er sei zur Präfektur gegangen, aber dort habe es niemand glauben wollen. Schließlich ist das seine Sache, man braucht nicht darüber zu reden ... Dieser Trottel Du Poizat hat mir ein großartiges Frühstück in einem Boulevardcafé bezahlt. Oh, was war das für ein Tag! Wir haben den Abend wohl im Theater verbracht, ich erinnere mich nicht mehr genau, ich habe zwei Tage geschlafen.« Zweifellos
fand
Herr
Kahn
Gilquins
vertrauliche Mitteilungen beunruhigend. Er verließ den Speisesaal. Und Gilquin, nun allein geblieben, überzeugte sich davon, daß die Frau des Gymnasialdirektors fraglos ihn ansah. Er kehrte in den Salon zurück, bemühte sich um ihre Gunst, brachte ihr Petitsfours und Spritzkuchen. Er war wirklich sehr angenehm, er glich einem schlecht erzogenen Mann der guten Gesellschaft, was die schöne Blondine nach und nach weich zu machen schien. Unterdessen bewies der Abgeordnete die Notwendigkeit einer neuen Kirche in Niort, der stellvertretende Bürgermeister forderte eine Brücke, der Gymnasialdirektor sprach von einer Vergrößerung der Gebäude des Gymnasiums, während die sechs Mitglieder der Statistischen Gesellschaft schwiegen und zu allem beistimmend nickten. »Das werden wir morgen überlegen, meine Herren«, erwiderte Rougon, die Lider halb geschlossen. »Ich bin hier, um Ihre Nöte kennenzulernen und Ihren Gesuchen
stattzugeben.« Es schlug zehn Uhr, als ein Bedienter eintrat und etwas zu dem Präfekten sagte, der sich sofort zum Ohr des Ministers beugte. Dieser ging eilig hinaus. In einem anstoßenden Zimmer erwartete ihn Frau Correur. Sie hatte ein großes und dünnes Mädchen mit einem ausdruckslosen, ganz von Sommersprossen gesprenkelten Gesicht bei sich. »Nanu, Sie in Niort?« rief Rougon aus. »Erst seit heute nachmittag«, antwortete Frau Correur. »Wir sind hier gegenüber am Place de la Préfecture im Hôtel de Paris abgestiegen.« Und sie erklärte, daß sie aus Coulonges komme, wo sie zwei Tage zugebracht habe. Dann unterbrach sie sich, um das große Mädchen vorzustellen: »Fräulein Herminie Billecoq, die so freundlich war, mich zu begleiten.« Herminie Billecoq machte einen feierlichen
Knicks. Frau Correur fuhr fort: »Ich habe Ihnen nichts von dieser Reise gesagt, weil Sie mich möglicherweise getadelt hätten; aber ich konnte nicht anders, ich wollte meinen Bruder sehen ... Als ich von Ihrer Reise nach Niort erfuhr, bin ich hergeeilt. Wir haben Ihnen nachgespürt, wir sahen Sie in die Präfektur gehen; nur haben wir es für besser gehalten, uns recht spät zu zeigen. Diese kleinen Städte sind so boshaft!« Rougon nickte zustimmend. Frau Correur, üppig, rosa angemalt, in einem gelben Kleid, schien ihm in der Provinz tatsächlich kompromittierend. »Und haben Sie Ihren Bruder gesehen?« fragte er. »Ja, ja«, stieß sie zusammengebissenen Zähnen habe ihn gesehen. Seine Frau gewagt, mich hinauszuweisen. uns wie Aussätzige behandelt
zwischen hervor, »ich hat es nicht Aber sie hat ... Der arme
Bruder! Ich wußte, daß er krank war, aber es hat mir trotzdem einen Schlag versetzt, ihn so abgezehrt zu sehen. Er hat mir versprochen, mich nicht zu enterben; das vertrüge sich nicht mit seinen Grundsätzen. Das Testament ist gemacht, das Vermögen soll zwischen mir und seiner Frau geteilt werden ... Nicht wahr, Herminie?« »Das Vermögen soll geteilt werden«, bestätigte das große Mädchen. »Das hat er gesagt, als Sie hereinkamen, und er hat es wiederholt, als er Ihnen die Tür wies. Oh, das habe ich ganz bestimmt gehört.« Rougon jedoch drängte die zwei Frauen zum Gehen, indem er sagte: »Nun, ich bin sehr erfreut! Sie sind jetzt ruhiger. Mein Gott, Familienstreitigkeiten enden immer mit einer Verständigung ... Gute Nacht denn. Ich gehe schlafen.« Doch Frau Correur hielt ihn zurück. Sie hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und betupfte
sich, von einem plötzlichen Verzweiflungsanfall gepackt, die Augen. »Der arme Martineau! Er war so gut, er hat mir mit solcher Schlichtheit vergeben! Wenn Sie wüßten, mein Freund ... Seinetwegen bin ich hierhergeeilt, um Sie zu seinen Gunsten anzuflehen ...« Tränen erstickten ihre Stimme. Sie schluchzte. Rougon war verwundert, verstand nichts und sah die beiden Frauen an. Auch Fräulein Herminie Billecoq weinte, aber mit mehr Zurückhaltung; sie war sehr empfindsam und wurde leicht von der Rührseligkeit anderer angesteckt. Sie konnte als erste stammeln: »Herr Martineau hat sich politisch bloßgestellt.« Da begann Frau Correur Zungenfertigkeit zu reden.
mit
großer
»Sie erinnern sich wohl, ich habe Ihnen eines Tages von meinen Befürchtungen gesprochen.
Ich hatte eine Vorahnung ... Martineau war Republikaner geworden. Bei den letzten Wahlen hatte er sich hinreißen lassen und eine leidenschaftliche Propaganda für den Kandidaten der Opposition entfaltet. Mir waren Einzelheiten bekannt, die ich nicht erzählen will. Kurz, das alles mußte eine schlechte Wendung nehmen ... Gleich nach meiner Ankunft in Coulonges habe ich im Gasthof ›Lion d'or‹, wo wir ein Zimmer mieteten, die Leute gefragt und noch Weiteres darüber erfahren. Martineau hat alle nur möglichen Dummheiten begangen. Niemand in der dortigen Gegend würde sich wundern, wenn man ihn verhaftet. Man erwartet von einem Tag zum anderen, daß die Gendarmen ihn abführen ... Sie können sich denken, wie mich das erschüttert hat! Und da habe ich an Sie gedacht, mein Freund ...« Wieder ging ihre Stimme in Schluchzen unter. Rougon versuchte sie zu beruhigen. Er werde mit Du Poizat darüber sprechen, er werde die
Verfolgung der Angelegenheit abbrechen lassen, falls sie bereits eingeleitet sei. Er ließ sich sogar das Wort entschlüpfen: »Hier habe ich zu bestimmen! Gehen Sie beruhigt schlafen.« Frau Correur schüttelte den Kopf, drehte, nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, ihr Taschentuch zusammen. Schließlich sagte sie mit halber Stimme: »Nein, nein, Sie wissen es ja nicht. Es ist ernster, als Sie denken ... Er bringt seine Frau zur Messe und bleibt vor der Tür der Kirche stehen, so als werde er niemals einen Fuß hineinsetzen, was jeden Sonntag ein arges Aufsehen erregt. Er geht sehr oft zu einem ehemaligen Advokaten dort, einem Achtundvierziger, mit dem man ihn stundenlang schreckliche Dinge reden hört. Man hat häufig bemerkt, daß sich Männer von verdächtigem Aussehen nachts in seinen Garten schlichen, zweifellos um sich ein Losungswort zu holen.«
Bei jeder Einzelheit zuckte Rougon mit den Achseln; aber Fräulein Herminie Billecoq fügte, wie ärgerlich über soviel Duldsamkeit, heftig hinzu: »Und die Briefe mit roten Siegeln, die er aus allen Ländern erhält; das hat uns der Postbote gesagt. Er wollte nicht reden, er war ganz bleich. Wir mußten ihm zwanzig Sou geben ... Und dann seine letzte Reise vor einem Monat. Er ist acht Tage weggeblieben, ohne daß auch heute noch irgendwer dort sagen könnte, wohin er gefahren ist. Die Wirtin vom ›Lion d'or‹ hat uns versichert, er habe nicht einmal Gepäck mitgenommen.« »Herminie, ich bitte Sie!« beschwor sie Frau Correur mit besorgter Miene. »Martineau ist schlimm genug daran. Es ist nicht unsere Sache, ihn zu belasten.« Rougon hörte jetzt aufmerksam zu und sah die beiden Frauen abwechselnd prüfend an. Er wurde sehr ernst.
»Wenn er sich schon so bloßgestellt hat ...«, murmelte er. Er glaubte in Frau Correurs trüben Augen eine Flamme aufflackern zu sehen. Er fuhr fort: »Ich werde mein möglichstes tun, aber ich verspreche nichts.« »Ach, er ist verloren, er ist bestimmt verloren!« rief Frau Correur aus. »Ich fühle es, sehen Sie ... Wir wollen nichts sagen. Wenn wir Ihnen alles sagten ...« Sie unterbrach sich, um auf ihr Taschentuch zu beißen. »Ich, die ich ihn zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte! Und nun finde ich ihn wieder, um ihn vielleicht nie wiederzusehen! – Er war so gut, so gut!« Herminie bewegte ein wenig die Schultern. Sie machte Rougon Zeichen, um ihm zu verstehen zu geben, daß man der Verzweiflung einer Schwester etwas zugute halten müsse, daß
aber der alte Notar der schlimmste aller Schufte sei. »An Ihrer Stelle«, sagte sie, »würde ich alles erzählen. Das wäre besser.« Da schien sich Frau Correur einen kräftigen Ruck zu geben. Sie dämpfte die Stimme noch mehr. »Sie erinnern sich gewiß daran, daß man überall das Tedeum gesungen hat, als der Kaiser vor dem Opernhaus so wunderbar gerettet wurde ... Nun gut, an dem Tage, an dem man in Coulonges das Tedeum sang, hat ein Nachbar Martineau gefragt, ob er denn nicht in die Kirche gehe, und dieser Unglückselige hat geantwortet: ›Weshalb denn in die Kirche? Mir ist der Kaiser völlig gleichgültig!‹« »Mir ist der Kaiser völlig gleichgültig!« wiederholte Fräulein Herminie Billecoq mit bestürzter Miene.
»Begreifen Sie jetzt meine Befürchtungen?« fuhr die ehemalige Hotelbesitzerin fort. »Ich habe es Ihnen ja gesagt, niemand in der Gegend würde sich wundern, wenn man ihn verhaftet.« Bei diesem Satz sah sie Rougon starr an. Der sprach nicht sogleich. Er schien ein letztes Mal dieses dicke, weichliche Gesicht zu durchforschen, in dem blasse Augen unter den spärlichen blonden Haaren der Brauen blinzelten. Er verweilte einen Augenblick lang bei dem fülligen und weißen Hals. Dann breitete er die Arme aus und rief: »Ich vermag nichts, ich versichere es Ihnen. Hier habe nicht ich zu bestimmen.« Und er führte Gründe an. Er habe Bedenken, meinte er, in Angelegenheiten dieser Art einzugreifen. Wenn sich die Gerichte einer Sache bemächtigt hätten, dann müßten die Dinge eben ihren Lauf nehmen. Lieber würde ihm sein, er wäre nicht mit Frau Correur
bekannt, denn seine Freundschaft für sie binde ihm nun die Hände; er habe sich geschworen, seinen Freunden gewisse Dienste niemals zu leisten. Kurzum, er werde Erkundigungen einziehen. Und er versuchte sie schon jetzt zu trösten, als sei ihr Bruder bereits nach einer Kolonie unterwegs. Sie senkte den Kopf, sie schluchzte in kleinen Stößen, wobei jedesmal der ungeheuer große Knoten blonder Haare wackelte, mit dem sie ihren Nacken beschwerte. Dennoch beruhigte sie sich. Als sie sich verabschiedete, schob sie Herminie vor sich und sagte: »Fräulein Herminie Billecoq ... Ich habe Sie Ihnen, glaube ich, vorgestellt. Entschuldigen Sie, mein Kopf ist ganz krank! – Es ist die junge Dame, für die wir eine Mitgift aufgetrieben haben. Der Offizier, ihr Verführer, konnte sie noch nicht heiraten, weil die Formalitäten kein Ende nehmen ... Bedanken Sie sich bei Seiner Exzellenz, meine Liebe.«
Das große Mädchen bedankte sich errötend, mit der Miene eines Unschuldsengels, vor dem man ein Schimpfwort ausgesprochen hat. Frau Correur ließ sie als erste hinausgehen; dann drückte sie Rougon kräftig die Hand, neigte sich zu ihm und fügte hinzu: »Ich verlasse mich auf Sie, Eugène.« Als der Minister wieder in den kleinen Salon kam, fand er ihn leer. Es war Du Poizat gelungen, den Abgeordneten, den stellvertretenden Bürgermeister und die sechs Mitglieder der Statistischen Gesellschaft zu verabschieden. Sogar Herr Kahn war fortgegangen, nachdem er für den nächsten Tag zehn Uhr eine Zusammenkunft vereinbart hatte. Im Speisesaal befanden sich nur noch die Frau des Gymnasialdirektors und Gilquin, die Petitsfours aßen und dabei von Paris plauderten. Gilquin rollte zärtlich die Augen, sprach mit der Ungezwungenheit eines Mannes, der überall zu Hause ist, von den Rennen, von der jährlichen
Gemäldeausstellung, von einer Erstaufführung in der ComédieFrançaise. Unterdessen gab der Gymnasialdirektor dem Präfekten mit leiser Stimme Auskünfte über einen Lehrer der Quarta, der im Verdacht stand, Republikaner zu sein. Es war elf Uhr. Man erhob sich, verbeugte sich vor Seiner Exzellenz, und Gilquin wollte sich gerade mit dem Direktor und dessen Frau, der er seinen Arm bot, zurückziehen, als ihn Rougon anhielt. »Herr Kreiskommissar, auf ein Wort, bitte.« Sobald sie allein waren, wandte er sich an den Kommissar und den Präfekten zugleich. »Was ist das eigentlich für eine Sache mit Martineau? – Hat sich dieser Mann wirklich sehr bloßgestellt?« Gilquin lächelte. Du Poizat gab einige Auskünfte. »Mein Gott, an den habe ich nicht gedacht. Man hat ihn denunziert. Ich habe Briefe
erhalten ... Es ist sicher, daß er sich politisch betätigt. Aber es sind bereits vier Verhaftungen im Departement erfolgt. Ich hätte, um auf die Zahl fünf zu kommen, die Sie für mich festgesetzt hatten, lieber einen Lehrer der Quarta eingelocht, der seinen Schülern revolutionäre Bücher vorliest.« »Ich habe sehr schwerwiegende Tatsachen erfahren«, erklärte Rougon streng. »Die Tränen seiner Schwester dürfen diesen Martineau nicht retten, wenn er wirklich so gefährlich ist. Es handelt sich hier um eine Frage des Staatswohls.« Und sich an Gilquin wendend, fragte er: »Was halten Sie davon?« »Ich werde morgen zur Verhaftung schreiten«, erwiderte dieser. »Ich kenne die ganze Angelegenheit. Ich habe Frau Correur im Hôtel de Paris gesehen, wo ich zu speisen pflege.« Du Poizat machte keinen Einwand. Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche, strich einen
Namen durch, um einen anderen darüberzuschreiben; gleichzeitig empfahl er dem Kreiskommissar, den Lehrer der Quarta dennoch überwachen zu lassen. Rougon begleitete Gilquin bis an die Tür. Er sagte: »Dieser Martineau ist, glaube ich, etwas leidend. Gehen Sie persönlich nach Coulonges. Verfahren Sie sehr sanft mit ihm.« Aber Gilquin reckte sich mit gekränkter Miene auf. Er vergaß allen Respekt. Er duzte Seine Exzellenz. »Hältst du mich für einen dreckigen Spitzel?« rief er aus. »Frage Du Poizat nach der Geschichte mit dem Apotheker, den ich vorgestern aus dem Bett heraus verhaftet habe. In seinem Bett lag die Frau eines Gerichtsvollziehers. Niemand hat es erfahren ... Ich handle immer als Mann von Welt.« Rougon schlief neun Stunden lang tief und fest. Als er am nächsten Tag gegen achteinhalb
Uhr die Augen aufschlug, ließ er Du Poizat rufen, der, eine Zigarre zwischen den Zähnen, sehr vergnügt ankam. Sie plauderten, sie scherzten wie einst, als sie noch bei Frau Mélanie Correur gewohnt und einander morgens mit Klapsen auf ihre bloßen Schenkel geweckt hatten. Während sich der Minister rasierte, fragte er den Präfekten nach Einzelheiten über die Gegend, nach den persönlichen Verhältnissen der höheren Beamten, den Nöten der einen, den Eitelkeitsbedürfnissen der anderen. Er wollte für jeden einen liebenswürdigen Satz finden können. »Haben Sie keine Angst, ich werde Ihnen vorsagen«, beruhigte ihn Du Poizat lachend. Und in kurzen Worten brachte er ihn aufs laufende, unterrichtete ihn über die Personen, die sich ihm nähern würden. Zuweilen ließ ihn Rougon etwas wiederholen, um es sich besser ins Gedächtnis zu prägen. Um zehn Uhr
erschien Herr Kahn. Sie frühstückten alle drei und legten dabei die letzten Einzelheiten der Feier fest. Der Präfekt werde eine Rede halten, Herr Kahn ebenfalls. Rougon werde als letzter das Wort ergreifen. Aber es würde gut sein, jemanden zu einer vierten Rede zu veranlassen. Einen Augenblick lang dachten sie an den Bürgermeister; allein Du Poizat fand ihn zu beschränkt, und er riet dazu, den Oberwegebauinspektor zu wählen, der in seiner Eigenschaft als solcher der gegebene war, dessen kritischen Geist Herr Kahn jedoch fürchtete. Schließlich stand dieser vom Tisch auf und führte den Minister beiseite, um ihn auf einige Punkte hinzuweisen, über deren nachdrückliche Hervorhebung in Rougons Rede er sich sehr freuen würde. Man wollte um zehneinhalb Uhr in der Präfektur zusammenkommen. Der Bürgermeister und sein Stellvertreter erschienen gemeinsam; der Bürgermeister stammelte, war untröstlich darüber, daß er sich
am Abend zuvor nicht in Niort befunden hatte, während sein Stellvertreter eifrig bestrebt war zu fragen, ob Seine Exzellenz eine gute Nacht gehabt habe und sich erholt fühle. Dann kamen der Präsident des Zivilgerichts, der Staatsanwalt mit seinen beiden Substituten, der Oberwegebauinspektor, denen nacheinander der Obersteuereinnehmer, der Direktor des Amtes für direkte Steuern und der Hypothekenbewahrer folgten. Mehrere dieser Herren waren von ihren Damen begleitet. Die Frau des Gymnasialdirektors, die reizende Blondine, die ein äußerst pikant wirkendes himmelblaues Kleid anhatte, erregte gewaltiges Aufsehen; sie bat Seine Exzellenz, ihren Gatten zu entschuldigen, der wegen eines Gichtanfalls, der ihn gestern abend auf dem Heimweg gepackt habe, im Gymnasium bleiben müsse. Unterdessen kamen weitere Persönlichkeiten: der Oberst des 78. Linienregiments, das seinen Standort in Niort hatte; der Präsident des Handelsgerichts, die
beiden Friedensrichter der Stadt, der Oberforstmeister mit seinen drei Töchtern, Ratsherren, Abgesandte der IndustrieundHandwerksKammer, der Statistischen Gesellschaft und des Gewerbegerichts. Der Empfang fand im großen Salon der Präfektur statt. Du Poizat übernahm die Vorstellung. Und der Minister empfing lächelnd und mit tiefen Verbeugungen jeden wie einen alten Bekannten. Er wußte von einem jeden erstaunliche Einzelheiten. Er sprach zum Staatsanwalt sehr lobend von einer kürzlich von diesem in einer Ehebruchsangelegenheit gehaltenen Anklagerede; er erkundigte sich mit bewegter Stimme bei dem Direktor des Amtes für direkte Steuern nach dem Befinden seiner Frau, die seit zwei Monaten bettlägerig war; er hielt einen Augenblick den Oberst des 78. Linienregiments fest, um ihm darzutun, daß er von den hervorragenden Studien seines Sohnes
in SaintCyr92 wisse; er unterhielt sich mit einem Ratsherrn, der große Schuhfabriken besaß, über Fußbekleidung und begann mit dem Hypothekenbewahrer, einem passionierten Altertumsforscher, ein Gespräch über einen Druidenstein, den man in der Woche zuvor entdeckt hatte. Wenn er zögerte, nach einem passenden Satz suchte, kam ihm Du Poizat mit einem geschickt zugeflüsterten Wort zu Hilfe. Übrigens war er von prachtvoller Sicherheit. Als der Präsident des Handelsgerichts eintrat und sich vor ihm verneigte, rief er mit leutseliger Stimme aus: »Sie kommen allein, Herr Präsident? Ich hoffe sehr, Sie werden heute abend zum Festessen Ihre Frau Gemahlin mitbringen ...« Da er rings um sich verlegene Gesichter sah, hielt er inne. Du Poizat stieß ihn leicht mit dem Ellbogen an. Da fiel ihm wieder ein, daß der Präsident des Handelsgerichts infolge
gewisser ärgerlicher Vorkommnisse von seiner Frau getrennt lebte. Er hatte sich geirrt, er hatte geglaubt, mit dem anderen Präsidenten, dem Präsidenten des Zivilgerichts, zu sprechen. Das beeinträchtigte seine Sicherheit jedoch nicht im geringsten. Immer noch lächelnd, ohne den Versuch zu machen, seine Ungeschicklichkeit auszugleichen, sagte er mit einem pfiffigen Gesicht: »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, mein Herr. Ich weiß, daß mein Kollege, der Justizminister, Sie für die Ehrenlegion vorgeschlagen hat ... Damit begehe ich eine Indiskretion. Hüten Sie mir das Geheimnis.« Der Präsident des Handelsgerichts wurde über und über rot. Er erstickte fast vor Freude. Man umdrängte ihn, beglückwünschte ihn, während sich Rougon im Geist dieses in einem so passenden Moment verliehene Kreuz notierte, damit er nicht vergaß, seinen Kollegen zu benachrichtigen. Es war der hintergangene Ehemann, dem er den Orden verlieh. Du
Poizat lächelte bewundernd. Inzwischen hatten sich in dem großen Salon etwa fünfzig Personen versammelt. Man wartete noch immer, mit stummen Gesichtern und verlegenen Blicken. »Die Zeit schreitet vor, man aufbrechen«, meinte der Minister.
sollte
Aber der Präfekt beugte sich zu ihm, erklärte ihm, daß der Abgeordnete, Herrn Kahns ehemaliger Gegner, noch nicht da sei. Endlich trat dieser in Schweiß gebadet ein; seine Uhr müsse stehengeblieben sein, er begreife es gar nicht. Dann fing er in dem Wunsch, vor allem an seinen Besuch am Abend zuvor zu erinnern, an: »Wie ich gestern abend zu Euer Exzellenz sagte ...« Und er ging neben Rougon her und teilte ihm mit, daß er am nächsten Tag nach Paris zurückkehren werde. Die Osterferien seien am Dienstag abgelaufen, die Sitzungsperiode habe
wieder begonnen. Doch er habe geglaubt, ein paar Tage länger in Niort bleiben zu sollen, um Seiner Exzellenz die Honneurs des Departements zu machen. Alle Geladenen hatten sich in den Hof der Präfektur hinabbegeben, wo, zu beiden Seiten der Freitreppe aufgereiht, an die zehn Wagen warteten. Der Minister stieg mit dem Abgeordneten, dem Präfekten und dem Bürgermeister in eine Kalesche, die sich als erste in Bewegung setzte. Die übrigen Gäste drängten sich, so genau wie möglich der Rangordnung entsprechend, zusammen; es waren noch zwei Kaleschen da, drei Viktorias93 und Charabans94 zu sechs und zu acht Plätzen. In der Rue de la Préfecture ordnete sich der Zug. Man fuhr in leichtem Trab los. Die Bänder der Damen flatterten, und ihre Röcke quollen über die Wagentüren hinaus. Die schwarzen Hüte der Herren spiegelten in der Sonne. Man mußte ein ganzes Ende durch die Stadt fahren. In den engen
Straßen rüttelte das holprige Pflaster die Wagen so rücksichtslos, daß sie mit einem Lärm dahinrollten, als hätten sie Eisenkram geladen. Und an allen Fenstern, an allen Türen grüßten die Einwohner Niorts ohne einen Zuruf, suchten Seine Exzellenz und waren sehr überrascht, als sie den bürgerlichen Gehrock des Ministers neben dem goldbestickten Frack des Präfekten sahen. Beim Verlassen der Stadt fuhr man durch eine breite, mit prächtigen Bäumen bepflanzte Promenade. Es war sehr mildes Wetter, ein schöner Apriltag mit klarem Himmel und ganz sonnenhell. Die gerade und ebene Straße führte zwischen Gärten dahin, in denen Mengen von Flieder und Aprikosen in Blüte standen. Dann dehnten sich Felder in riesigen angebauten Flächen, hier und da von einer Baumgruppe unterbrochen. In den Wagen plauderte man. »Das ist eine Spinnerei, nicht wahr?« sagte
Rougon, zu dessen Ohr sich der Präfekt beugte. Und er wandte sich an den Bürgermeister und wies auf das rote Ziegelgebäude am Rand des Wassers: »Eine Spinnerei, die, glaube ich, Ihnen gehört ... Man hat mir von Ihrem neuen Streichverfahren für Wolle gesprochen. Ich werde versuchen, einen freien Augenblick zu finden, um all diese Wunderdinge zu besichtigen.« Er fragte nach Einzelheiten über die Treibkraft des Flusses. Seiner Ansicht nach hätten bei günstigen Bedingungen die hydraulischen Kraftmaschinen ungeheure Vorzüge. Und er setzte den Bürgermeister durch seine technischen Kenntnisse in höchstes Erstaunen. Die anderen Wagen folgten ein wenig regellos. Beim gedämpften Trab der Pferde wurden Gespräche geführt, die geradezu mit Zahlen gespickt waren. Ein perlendes Lachen klang auf, das alle Köpfe herumfahren ließ: es war
die Frau des Gymnasialdirektors, deren Sonnenschirm soeben auf einen Haufen Kieselsteine entflogen war. »Sie besitzen hier herum ein Landgut«, sagte Rougon und lächelte den Abgeordneten an. »Dort auf jenem Abhang liegt es, wenn ich mich nicht irre ... Prachtvolle Wiesen! Ich weiß übrigens, daß Sie sich mit Viehzucht befassen und daß Kühe von Ihnen auf der letzten Versammlung des Landwirtschaftlichen Vereins preisgekrönt worden sind.« Dann sprachen sie von Rindvieh. Die in Sonnenlicht getauchten Wiesen waren sanft wie grüner Samt. Ein ganzes Meer von Blumen wuchs darauf. Vorhänge aus hohen Pappeln gewährten Ausblicke, schufen reizende Landschaftswinkel. Eine alte Frau, die einen Esel führte, mußte mit dem Tier am Wegrand stehenbleiben, um den Zug vorüberzulassen. Und der Esel, verstört durch
diese Prozession von Wagen, deren lackierte Flächen hier in der freien Ebene funkelten, begann zu schreien. Die geputzten Damen, die behandschuhten Herren bewahrten ihre ernste Haltung. Jetzt ging es nach links einen leichten Abhang hinauf; dann fuhr man wieder bergab. Man war am Ziel. Es war eine Bodenvertiefung, die Sackgasse eines engen kleinen Tals, eine Art Grube, eingezwängt zwischen drei Abhängen, die sie wie Mauern umgaben. Wenn man nach oben blickte, sah man von dem umliegenden Land nichts als die sich gegen den klaren Himmel abzeichnenden geborstenen Gerippe zweier verfallener Mühlen. Hier unten hatte man in der Mitte eines mit Gras bewachsenen Vierecks ein Zelt aus grauem, mit einer breiten roten Borte besetztem Leinen errichtet, das an den vier Außenseiten Flaggenbündel schmückten. Eine große Menge Neugieriger, die zu Fuß
gekommen waren, Bürger, Damen, Landleute dieser Gegend, staffelten sich rechts – auf der Schattenseite – das ganze Amphitheater entlang, das durch einen der Abhänge gebildet wurde. Vor dem Zelt stand eine Abteilung des 78. Linienregiments unter Gewehr gegenüber den Feuerwehrleuten von Niort, deren schöne Aufstellung sehr beachtet wurde, während am Rand der Grasfläche eine Arbeitergruppe in neuen Blusen wartete, an deren Spitze Ingenieure in Gehröcken standen. Sobald die Wagen auftauchten, begann die Philharmonische Gesellschaft der Stadt, eine Vereinigung von Leuten, die aus Liebhaberei musizierten, die Ouvertüre zur »Weißen Dame95« zu spielen. »Es lebe Seine Exzellenz!« riefen einige Stimmen, die der Lärm der Instrumente übertönte. Rougon stieg aus dem Wagen. Er hob die Augen, betrachtete die Grube, in der er sich
befand, und ärgerte sich über diese Einengung des Blickfeldes, die ihm die Feierlichkeit zu mindern schien. Und in Erwartung einer Begrüßungsansprache blieb er einen Augenblick lang auf dem Gras stehen. Endlich kam Herr Kahn angelaufen. Er habe sich sogleich nach dem Frühstück aus der Präfektur weggestohlen; er habe nur soeben vorsichtshalber die Mine überprüft, deren Zündschnur Seine Exzellenz in Brand setzen solle. Er war es, der den Minister bis an das Zelt geleitete. Die Geladenen folgten. Ein momentanes Durcheinander entstand. Rougon bat um Auskünfte. »In dieser Senke soll also der Tunnel beginnen?« »Ganz richtig«, antwortete Herr Kahn. »Die erste Mine ist in jenen rötlichen Felsen gebohrt, dort, wo Euer Exzellenz eine Fahne sehen.« An dem mit der Hacke angeschlagenen
Abhang im Hintergrund trat der nackte Fels hervor. Entwurzelte Sträucher hingen zwischen der abgetragenen Erde heraus. Den Boden der Senke hatte man mit Laub bestreut. Herr Kahn wies noch mit der Hand auf den künftigen Verlauf des Schienenstrangs, der – durch eine doppelte Reihe gerade ausgerichteter Absteckpfähle mit weißen Papierfähnchen bezeichnet – über Pfade und mitten durch Kräuter und Buschwerk führte. Es war ein friedliches Stück Natur, das hier aufgerissen werden sollte. Schließlich aber hatte sich die Obrigkeit unter dem Zelt eingerichtet. Die Neugierigen dahinter beugten sich vor, um zwischen den Leinwandbahnen hindurchzusehen. Die Philharmonische Gesellschaft beendete die Ouvertüre zur »Weißen Dame«. »Herr Minister«, sagte plötzlich eine helle Stimme, die in der Stille vibrierte, »es ist mir daran gelegen, als erster Euer Exzellenz dafür
zu danken, daß Euer Exzellenz so gütig waren, die Einladung, die Ihnen zukommen zu lassen wir uns erlaubten, anzunehmen. Das Departement DeuxSèvres wird eine ewige Erinnerung daran bewahren ...« Der soeben das Wort ergriffen hatte, war Du Poizat. Er war drei Schritt von Rougon entfernt, beide standen, und bei gewissen wohlabgemessenen Perioden neigten sie einer gegen den anderen leicht den Kopf. So redete er eine Viertelstunde lang, rief dem Minister ins Gedächtnis, in wie glänzender Weise dieser das Departement bei der Gesetzgebenden Versammlung vertreten hatte; die Stadt Niort habe seinen Namen als den eines Wohltäters in ihren Annalen verzeichnet und brenne darauf, ihm bei jeder Gelegenheit ihre Dankbarkeit zu beweisen. Du Poizat hatte den politischen und sachlichen Teil auf sich genommen. In manchen Augenblicken verlor sich seine Stimme unter dem freien Himmel. Dann sah man nur noch seine Gesten, eine
regelmäßige Bewegung des rechten Arms; und die Tausende der auf dem Abhang gestaffelten Neugierigen interessierten sich für die Stickereien an seinem Ärmel, deren Gold in einem Sonnenstrahl aufleuchtete. Dann trat Herr Kahn in die Mitte des Zeltes. Er hatte eine sehr rauhe Stimme. Gewisse Wörter bellte er förmlich heraus. Das Echo in dem kleinen Tal warf die Satzenden zurück, auf die er allzu selbstgefällig den Ton legte. Er berichtete von seinen langwierigen Bemühungen, den Studien, den Schritten, die er während fast vier Jahren hatte unternehmen müssen, um das Land mit einer neuen Bahnlinie auszustatten. Jetzt würden Wohlstand und Gedeihen auf das Departement herabregnen. Die Fruchtbarkeit der Felder werde erhöht werden, die Produktion in den Fabriken sich verdoppeln, der Handel bis in die bescheidensten Dörfer vordringen; und wenn man ihn reden hörte, schien es, als werde DeuxSèvres unter seinen ausgebreiteten
Händen zu einem Schlaraffenland mit Milchflüssen und märchenhaften Lustwäldchen, wo mit guten Dingen beladene Tische der Vorübergehenden harrten. Dann kehrte er plötzlich eine übermäßige Bescheidenheit heraus. Man schulde ihm keinerlei Dank, er hätte einen so umfassenden Plan niemals zu einem glücklichen Ende führen können ohne den hohen Gönner, auf den er stolz sei. Und zu Rougon gewandt, nannte er diesen »den vortrefflichen Minister, den Verteidiger aller edlen und nützlichen Ideen«. Zum Schluß pries er die finanziellen Vorteile der Sache. An der Börse reiße man sich um die Aktien. Glücklich die Rentiers, denen es möglich gewesen war, ihr Geld in einem Unternehmen anzulegen, mit dem Seine Exzellenz der Innenminister seinen Namen zu verbinden bereit sei! »Sehr richtig! Sehr richtig!« murmelten einige Gäste.
Der Bürgermeister und mehrere Vertreter der Obrigkeit drückten Herrn Kahn, der den Tiefergriffenen spielte, die Hand. Draußen erschallte Beifallsklatschen. Die Philharmonische Gesellschaft glaubte einen Geschwindmarsch anstimmen zu sollen; aber der stellvertretende Bürgermeister schickte eiligst einen Feuerwehrmann ab, um die Musik zum Schweigen zu bringen. Im Zelt machte der Oberwegebauinspektor unterdessen Ausflüchte, erklärte, er sei unvorbereitet. Schließlich ließ er sich durch die beharrlichen Bitten des Präfekten doch bewegen. Herr Kahn flüsterte letzterem beunruhigt ins Ohr: »Sie haben einen Fehler begangen, er ist sehr bösartig.« Der Oberwegebauinspektor war ein langer und magerer Mann, der sich einbildete, ein großer Ironiker zu sein. Er sprach langsam und verzerrte jedesmal die Mundwinkel, wenn er eine spöttische Bemerkung von sich geben wollte. Er begann damit, Herrn Kahn mit
Lobsprüchen zu überhäufen. Dann kamen die boshaften Anspielungen. In wenigen Worten beurteilte er mit der Geringschätzung der staatlichen Ingenieure für die Arbeit der Zivilingenieure das Projekt der Bahnlinie. Er erinnerte an den Gegenplan der WestbahnGesellschaft, wonach die Strecke über Thouars führen sollte, und verweilte, scheinbar ohne Bosheit, bei dem Bogen der von Herrn Kahn vorgesehenen Linie, welcher die Verbindung mit den Hochöfen von Bressuire herstellte. Das alles ohne jede Grobheit, mit liebenswürdigen Wendungen untermischt, wobei er Sticheleien anbrachte, die nur die Eingeweihten spürten. Am Schluß wurde er noch grausamer. Er schien zu bedauern, daß sich der »vortreffliche Minister« Unannehmlichkeiten aussetze bei einem Unternehmen, dessen finanzielle Seite bei allen Erfahrenen Besorgnis hervorrufe. Es würden ungeheure Beträge benötigt werden; die größte Redlichkeit, die größte
Uneigennützigkeit seien vonnöten. Und mit verzerrtem Mund gab er den letzten Satz von sich: »Diese Besorgnis ist unbegründet, wir sind vollständig beruhigt, da wir an der Spitze des Unternehmens einen Mann sehen, dessen ausgezeichnete Vermögenslage und hohe kaufmännische Rechtschaffenheit im ganzen Departement wohlbekannt sind.« Ein zustimmendes Gemurmel lief durch die Menge. Nur einige Leute sahen Herrn Kahn an, der sich mit weißen Lippen zu lächeln bemühte. Rougon hatte mit halbgeschlossenen Augen zugehört, als belästige ihn das starke Licht. Als er sie wieder öffnete, waren seine blassen Augen dunkel geworden. Er hatte ursprünglich sehr kurz sprechen wollen. Aber jetzt mußte er einen der Seinigen verteidigen. Er machte drei Schritte und stand damit am Rand des Zeltes; und mit einer Gebärde, die sich in ihrer Umfassendheit an das ganze aufmerksam lauschende Frankreich zu richten schien, begann er.
»Meine Herren, gestatten Sie mir, im Geiste diese Hügel zu überschreiten, das ganze Kaiserreich mit einem Blick zu umfangen und so der Feier, die uns hier versammelt, ein größeres Ausmaß zu geben, damit sie zum Fest der mühevollen Arbeit in Industrie und Handel werde. In eben diesem Augenblick, in dem ich zu Ihnen spreche, gräbt man vom Norden bis zum Süden Kanäle, legt Schienenstränge an, durchsticht Berge, baut Brücken ...« Tiefe Stille war entstanden. Zwischen den Sätzen hörte man es in den Zweigen säuseln, dann aus der Ferne die laute Stimme einer Schleuse. Die Feuerwehrleute, die unter der glühenden Sonne an guter Haltung mit den Soldaten wetteiferten, schielten, ohne den Kopf zu wenden, herüber, um den Minister reden zu sehen. Auf dem Abhang hatten es sich die Zuschauer allmählich bequem gemacht; die Damen hatten sich, nachdem sie ihr Taschentuch auf die Erde gebreitet hatten, niedergekauert; zwei Herren, bis zu denen die
Sonne gekommen war, hatten die Sonnenschirme ihrer Gattinnen aufgespannt. Und die Stimme Rougons schwoll nach und nach an. Es war, als sei er beengt hier unten in dieser Senke, als sei das kleine Tal nicht weit genug für seine Gesten. Mit seinen jäh vorstoßenden Händen schien er rings um sich alles, was ihm den Ausblick versperrte, wegräumen zu wollen. Zweimal suchte sein Blick die freie Weite, aber ihm begegneten oben, am Rand des Himmels, nur die Mühlen, deren ausgeweidete Gerippe in der Sonne knackten. Der Redner hatte das Thema des Herrn Kahn wieder aufgenommen, führte es jedoch weiter aus. Es war nicht mehr allein das Departement DeuxSèvres, für das dank der Zweigbahn von Niort nach Angers eine Ära wunderbaren Wohlstands begann, sondern ganz Frankreich. Zehn Minuten lang zählte er die zahllosen Wohltaten auf, die auf die Bevölkerung herabregnen würden. Er verstieg sich so weit,
von der Hand Gottes zu sprechen. Dann antwortete er dem Oberwegebauinspektor; er setzte sich nicht mit dessen Rede auseinander, er spielte nicht ein einziges Mal darauf an; er sagte lediglich das Gegenteil von dem, was jener gesagt hatte, betonte nachdrücklich Herrn Kahns aufopfernden Eifer, stellte ihn als bescheiden, uneigennützig und großartig hin. Die finanzielle Seite des Unternehmens lasse ihn völlig ruhig. Er lächelte, häufte mit einer flinken Handbewegung Gold in Hülle und Fülle an. Da hinderten ihn Bravorufe am Weiterreden. »Meine Herren, ein letztes Wort«, sagte er, nachdem er sich mit dem Taschentuch über die Lippen gewischt hatte. Das letzte Wort dauerte eine Viertelstunde. Er berauschte sich, versprach mehr, als er beabsichtigt hatte. Als er zum Schluß von der Größe der bestehenden Regierung sprach und den hohen Verstand des Kaisers pries, ließ er
sogar durchblicken, daß Seine Majestät auf besondere Art die Zweigbahn von Niort nach Angers unter seinen Schutz nehme. Das Unternehmen wurde zu einer Staatsangelegenheit. Dreimal erschallte donnerndes Beifallsklatschen. Eine Schar Raben, die in großer Höhe durch den wolkenlosen Himmel flog, erschrak und krächzte anhaltend. Gleich nach dem letzten Satz der Rede hatte die Philharmonische Gesellschaft auf ein vom Zelt ausgegangenes Zeichen hin zu spielen begonnen, während die Damen ihre Röcke zusammenrafften und sich rasch erhoben, um sich nur ja nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen. Die Gäste in Rougons Nähe aber lächelten mit entzückten Mienen. Der Bürgermeister, der Staatsanwalt, der Oberst des 78. Linienregiments nickten zustimmend, als sie hörten, wie der Abgeordnete mit halber
Stimme, so daß ihn der Minister hören mußte, seiner Bewunderung Ausdruck verlieh. Aber am begeistertsten war gewiß der Oberwegebauinspektor; mit verzerrtem Mund, wie von den herrlichen Worten des großen Mannes niedergedonnert, trug er eine außerordentliche Servilität zur Schau. »Wenn Euer Exzellenz mir folgen möchte«, sagte Herr Kahn, dessen dickes Gesicht vor Freude schwitzte. Dies war der Abschluß. Seine Exzellenz würde nun die Zündschnur der ersten Mine in Brand setzen. Soeben hatte man der Gruppe von Arbeitern in den neuen Kitteln Anweisungen erteilt. Diese Männer gingen vor dem Minister und Herrn Kahn in den Einschnitt und stellten sich ganz hinten in zwei Reihen auf. Ein Werkführer hielt ein Ende glimmender Lunte, das er Rougon überreichte. Die im Zelt verbliebene Obrigkeit machte einen langen Hals. Das Publikum wartete beklommen. Die
Philharmonische Gesellschaft spielte noch immer. »Wird das sehr großen Lärm machen?« fragte mit beunruhigtem Lächeln die Frau des Gymnasialdirektors einen der Substituten. »Das hängt von der Art des Gesteins ab«, beeilte sich der Präsident des Handelsgerichts zu antworten, und er begann mineralogische Erklärungen zu geben. »Ich werde mir die Ohren zuhalten«, murmelte die älteste der drei Töchter des Oberforstmeisters. Rougon, die glimmende Lunte in der Hand, kam sich inmitten dieser ganzen Gesellschaft lächerlich vor. Oben auf dem Kamm der Hügel knackten die Gerippe der Mühlen stärker. Da beeilte er sich, setzte die Zündschnur, deren Ende der Werkmeister ihm zwischen den Steinen zeigte, in Brand. Sofort ließ ein Arbeiter einen langen Trompetenton
erschallen. Die ganze Gruppe entfernte sich. Herr Kahn, dem man eine ängstliche Besorgtheit anmerkte, hatte Seine Exzellenz rasch unter das Zelt zurückgeführt. »Nanu, geht das denn nicht los?« stotterte der Hypothekenbewahrer, der vor lauter Bangigkeit blinzelte und sich rasend gern wie die Damen die Ohren zugehalten hätte. Die Explosion erfolgte erst nach etwa zwei Minuten. Man hatte vorsichtshalber eine sehr lange Zündschnur gelegt. Die Erwartung der Gäste wurde zu Angst; alle Augen starrten auf den roten Felsen, bildeten sich ein zu sehen, daß er sich bewege; nervöse Leute behaupteten, es drücke ihnen geradezu die Brust ein. Endlich erfolgte eine dumpfe Erschütterung, der Fels barst, während in einem hohen Strahl Brocken, so dick wie zwei Fäuste, in dem Rauch in die Höhe flogen. Darauf gingen alle fort. Man hörte die hundertmal wiederholten
Worte: »Riechen Sie das Pulver?« Am Abend gab der Präfekt ein Diner, dem die Obrigkeit beiwohnte. Für den anschließenden Ball hatte er fünfhundert Einladungen verschicken lassen. Es wurde ein prächtiger Ball. Der große Salon war mit Blattpflanzen ausgeschmückt, und in den vier Ecken hatte man zusätzlich vier kleine Kronleuchter angebracht, deren Kerzen im Verein mit denen der Mittelkrone eine außerordentliche Helligkeit verbreiteten. Niort erinnerte sich nicht, je solchen Glanz erlebt zu haben. Das Leuchten der sechs Fenster erhellte den Place de la Préfecture, wo sich, die Augen nach oben gerichtet, mehr als zweitausend Neugierige drängten, um dem Tanzen zuzusehen. Sogar das Orchester hörte man so deutlich, daß die Straßenjugend unten Galopps auf den Bürgersteigen veranstaltete. Schon um neun Uhr fächelten sich die Damen, wurden Erfrischungen gereicht, folgten Quadrillen auf die Walzer und Polkas. Nahe der Tür empfing
Du Poizat, sehr feierlich, die Nachzügler mit einem Lächeln. »Tanzen Euer Exzellenz denn nicht?« fragte keck die Frau des Gymnasialdirektors Rougon; sie war soeben eingetroffen und trug ein mit Goldsternen übersätes Tarlatankleid. Rougon entschuldigte sich lächelnd. Er stand mitten in einer Gruppe von Leuten an einem Fenster, und während er eine Unterhaltung über die Revision des Grundbuches in Gang hielt, warf er rasche Blicke nach draußen. Soeben hatte er auf der anderen Seite des Platzes in dem hellen Licht, das die Kronleuchter auf die Fassade des Hôtel de Paris warfen, an einem der Fenster Frau Correur und Fräulein Herminie Billecoq bemerkt. Die Ellbogen auf die Stützstange wie auf eine Logenbrüstung gelehnt, standen sie dort und sahen dem Fest zu. Ihre Gesichter leuchteten, ihre bloßen Hälse schwollen von einem Auflachen, wenn ein besonders heißer
Hauch des Festes zu ihnen drang. Derweil beendete die Frau des Gymnasialdirektors zerstreut, unempfindlich für die Bewunderung, die die Fülle ihres langen Rocks bei allen jungen Leuten hervorrief, ihren Rundgang durch den großen Salon. Während sie jemanden mit den Blicken suchte, lächelte sie unaufhörlich mit schmachtender Miene. »Ist denn der Herr Kreiskommissar nicht gekommen?« fragte sie schließlich Du Poizat, der sich bei ihr nach dem Befinden ihres Mannes erkundigte. »Ich habe ihm einen Walzer versprochen.« »Er müßte eigentlich hier sein«, antwortete der Präfekt, »es wundert mich, daß ich ihn nicht sehe ... Er mußte heute einen Auftrag ausführen. Aber er hatte mir versichert, er sei um sechs Uhr zurück.« Gilquin hatte Niort gegen Mittag, nach dem
Frühstück, zu Pferde verlassen, um den Notar Martineau zu verhaften. Coulonges war fünf Meilen entfernt. Er rechnete damit, um zwei Uhr dort zu sein und spätestens gegen vier Uhr wieder wegreiten zu können, was ihm erlauben würde, an dem Bankett teilzunehmen, zu dem er eingeladen war. Daher trieb er sein Pferd nicht zu einer beschleunigten Gangart an, sondern wiegte sich im Sattel und nahm sich vor, sich abends auf dem Ball sehr kühn jener blonden Dame zu nähern, die er nur ein wenig zu mager fand. Gilquin liebte die fülligen Frauen. In Coulonges stieg er im Gasthof zum »Lion d'or« ab, wo ihn ein Unteroffizier und zwei Gendarmen erwarten sollten. Auf diese Weise würde seine Ankunft unbemerkt bleiben; man würde einen Wagen mieten, man würde den Notar »wegspedieren«, ohne daß eine Nachbarsfrau sich unter die Tür stellte. Aber die Gendarmen waren nicht zur Stelle. Bis fünf Uhr wartete Gilquin auf sie, trank fluchend Grog und schaute jede Viertelstunde
auf die Uhr. Keinesfalls würde er zum Diner in Niort sein. Er ließ schon sein Pferd satteln, als endlich, gefolgt von seinen beiden Leuten, der Unteroffizier erschien. Es hatte ein Mißverständnis vorgelegen. »Gut, gut, halten Sie keine Entschuldigungsreden, dazu haben wir keine Zeit«, rief der Kreiskommissar wütend. »Es ist bereits Viertel nach fünf ... Nehmen wir unseren Mann fest, und daß mir das nicht lange dauert! In zehn Minuten müssen wir abfahren.« Für gewöhnlich war Gilquin gutmütig. Er setzte seinen Stolz darein, bei seinen Amtshandlungen mit vollendeter Höflichkeit vorzugehen. An diesem Tage hatte er sogar einen komplizierten Plan entworfen, um dem Bruder der Frau Correur allzu heftige Aufregungen zu ersparen: so wollte er allein in das Haus gehen, während die Gendarmen mit dem Wagen am Gartentor in einer nach dem
freien Feld zu gelegenen Gasse bleiben sollten. Aber das dreistündige Warten im »Lion d'or« hatte ihn so außer sich gebracht, daß er all seine schönen Vorsichtsmaßnahmen vergaß. Er ging quer durchs Dorf und klingelte rücksichtslos an der Haustür des Notars. Einen Gendarmen ließ er vor dieser Tür zurück; der andere ging um das Grundstück herum, um die Gartenmauer im Auge zu behalten. Der Kommissar war mit dem Unteroffizier hineingegangen. Zehn bis zwölf verstörte Neugierige sahen von weitem zu. Beim Anblick der Uniform verschwand, von kindlichem Schreck ergriffen, die Dienerin, die geöffnet hatte, und schrie aus Leibeskräften nur immer: »Gnädige Frau! Gnädige Frau! Gnädige Frau!« Eine kleine, rundliche Frau, deren Gesicht große Ruhe bewahrte, stieg langsam die Treppe herab. »Gewiß Frau Martineau?« sagte Gilquin
überstürzt. »Mein Gott, gnädige Frau, ich habe eine traurige Aufgabe zu erfüllen ... Ich komme, um Ihren Gatten zu verhaften.« Sie faltete die kurzen Finger, während ihre farblosen Lippen zitterten. Aber sie stieß keinen einzigen Schrei aus. Sie blieb auf der untersten Stufe stehen und versperrte mit ihren Röcken die Treppe. Sie wollte den Vorführungsbefehl sehen, verlangte Erklärungen, zog die Sache in die Länge. »Aufgepaßt, der Mann wird uns durch die Finger schlüpfen«, flüsterte der Unteroffizier dem Kommissar ins Ohr. Zweifellos hörte sie das. Sie sah sie mit ihrer ruhigen Miene an und sagte: »Gehen Sie hinauf, meine Herren.« Und sie ging als erste hinauf. Sie führte sie in ein Arbeitszimmer, in dessen Mitte Herr Martineau im Schlafrock stand. Auf das Geschrei des Hausmädchens hin hatte er sich
soeben aus dem Sessel erhoben, in dem er seine Tage zuzubringen pflegte. Er war sehr groß, seine Hände wirkten wie abgestorben, sein Gesicht war wachsbleich, das einzig Lebendige an ihm waren nur noch die Augen, sanfte und eindringliche schwarze Augen. Frau Martineau wies stumm auf ihn. »Mein Gott, mein Herr«, fing Gilquin an, »ich habe einen traurigen Auftrag zu erfüllen ...« Als er fertig war, schüttelte der Notar wortlos den Kopf. Ein leichter Schauder bewegte den Schlafrock, der in Falten um seine mageren Glieder hing. Schließlich sagte er mit äußerster Höflichkeit: »Es ist gut, meine Herren, ich werde mitkommen.« Dann begann er im Zimmer auf und ab zu gehen und die Gegenstände zurechtzurücken, die auf den Möbeln lagen. Er legte einen Stoß Bücher auf einen anderen Platz. Er bat seine Frau um ein frisches Hemd. Der Schauder, der
ihn erfaßt hatte, wurde heftiger. Da Frau Martineau ihn taumeln sah, folgte sie ihm, wie einem Kind, mit ausgebreiteten Armen, um ihn aufzufangen. »Rasch, rasch, mein Herr«, drängte Gilquin. Der Notar ging noch zweimal durchs Zimmer; plötzlich fuhren seine Arme durch die Luft, er ließ sich in einen Sessel fallen, verkrampft und steif durch einen Anfall von Gliederlähmung. Seine Frau weinte stumm dicke Tränen. Gilquin zog seine Uhr. »Gottsdonner!« rief er. Es war halb sechs. Jetzt mußte er die Hoffnung aufgeben, zum Diner in der Präfektur wieder in Niort zu sein. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis man diesen Mann in einen Wagen gesetzt hatte. Er versuchte sich damit zu trösten, daß er sich fest schwor, den Ball nicht zu versäumen; gerade fiel ihm ein, daß ihm die Frau des Gymnasialdirektors den
ersten Walzer versprochen hatte. »Der verstellt sich doch bloß!« raunte ihm der Unteroffizier ins Ohr. »Soll ich den Kerl wieder auf die Beine bringen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf den Notar zu, richtete Ermahnungen an ihn, um ihn zu veranlassen, die Justizbehörde nicht zu betrügen. Der Notar, der mit geschlossenen Lidern und schmal gewordenen Lippen dasaß, blieb starr wie eine Leiche. Nach und nach wurde der Unteroffizier ärgerlich, ging zu groben Worten über, legte schließlich seine schwere Gendarmenhand auf den Kragen des Schlafrocks. Aber Frau Martineau, die sich bis dahin so ruhig verhalten hatte, stieß ihn unsanft zurück, pflanzte sich vor ihrem Gatten auf und ballte mit der Gebärde einer unerschrockenen frommen Eiferin die Fäuste. »Der verstellt sich, das sage ich Ihnen!« wiederholte der Unteroffizier.
Gilquin zuckte mit den Schultern. Er war entschlossen, den Notar tot oder lebend mitzunehmen. »Einer Ihrer Leute soll im ›Lion d'or‹ den Wagen holen«, befahl er. »Ich habe den Gastwirt verständigt.« Als der Unteroffizier hinausgegangen war, trat Gilquin ans Fenster und betrachtete mit Wohlgefallen den Garten, wo die Aprikosenbäume blühten. Und er war ganz in Gedanken versunken, als er plötzlich fühlte, wie jemand seine Schulter berührte. Frau Martineau stand mit wieder trockenen Wangen hinter ihm und fragte ihn mit wieder fester Stimme: »Dieser Wagen ist für Sie, nicht wahr? Sie können meinen Mann in seinem augenblicklichen Zustand doch nicht nach Niort schleppen.« »Mein Gott, gnädige Frau«, sagte er zum drittenmal, »mein Auftrag ist sehr peinlich ...«
»Aber das ist ein Verbrechen! Sie töten ihn ... Sie sind doch nicht beauftragt, ihn zu töten!« »Ich habe meine Befehle«, erwiderte er mit schroffer Stimme, in dem Wunsch, einen Auftritt mit flehentlichen Bitten, den er kommen sah, schnell zu beenden. Sie gebärdete sich fürchterlich. Rasende Wut lief über ihr fettes Spießbürgergesicht, während ihre Blicke wie auf der Suche nach einem letzten Rettungsmittel durch das Zimmer streiften. Aber sie riß sich energisch zusammen, beruhigte sich und nahm wieder die Haltung einer starken Frau an, die sich nicht auf ihre Tränen verläßt. Nach einer Pause, während der sie die Augen nicht von ihm gewandt hatte, sprach sie nur: »Gott wird Sie strafen, mein Herr.« Und ohne ein Schluchzen, ohne eine Bitte ging sie wieder zu dem Sessel, in dem ihr Mann im Sterben lag, und stützte sich darauf. Gilquin
hatte gelächelt. In diesem Augenblick kam der Unteroffizier, der selber zum »Lion d'or« gegangen war, zurück und berichtete, der Gastwirt behaupte, ihm stehe momentan keine einzige Kutsche zur Verfügung. Das Gerücht von der Verhaftung des Notars, der in der Gegend sehr beliebt war, hatte sich wohl verbreitet. Der Wirt versteckte sicher seine Wagen; denn als ihn der Kreiskommissar vor zwei Stunden befragte, hatte er sich verpflichtet, ein altes Kupee für ihn dazubehalten, das er für gewöhnlich an Reisende zu Spazierfahrten in die Umgegend vermietete. »Durchsuchen Sie den Gasthof!« schrie Gilquin, angesichts dieses neuen Hindernisses wieder von Wut gepackt. »Durchsuchen Sie alle Häuser des Dorfes! Macht man sich am Ende über uns lustig? Ich werde erwartet, ich habe keine Zeit zu verlieren ... Ich gebe Ihnen
eine Viertelstunde! Verstanden?« Der Gendarm verschwand abermals, nahm seine Leute mit und schickte sich nach verschiedenen Richtungen aus. Drei viertel Stunden vergingen, dann vier, dann fünf. Nach Verlauf von anderthalb Stunden erschien endlich ein Gendarm mit langem Gesicht: alle Nachforschungen waren erfolglos geblieben. Gilquin, von fieberhafter Aufregung erfaßt, stelzte mit abgehackten Schritten zwischen Tür und Fenster hin und her und beobachtete dabei, wie das Tageslicht abnahm. Ganz gewiß würde der Ball ohne ihn eröffnet werden; die Frau des Gymnasialdirektors würde ihn für unhöflich halten; das würde ihn lächerlich machen, seine Verführungsmöglichkeiten lahmlegen. Und jedesmal, wenn er an dem Notar vorbeischritt, fühlte er, wie ihm der Zorn die Kehle zuschnürte. Noch nie hatte ihm ein Missetäter so viel Scherereien gemacht. Noch kälter und bleicher geworden, lag der Notar regungslos in seinem Sessel.
Erst nach sieben Uhr erschien mit strahlendem Gesicht der Unteroffizier wieder. Er hatte endlich das alte Kupee des Gastwirts gefunden, hinten in einem eine Viertelmeile vom Dorf entfernten Schuppen. Das Kupee war fertig bespannt, und das Schnauben des Pferdes hatte zu seiner Entdeckung geführt. Aber als der Wagen vor der Tür stand, mußte Herr Martineau angekleidet werden. Das dauerte sehr lange. Frau Martineau zog ihm mit ernster Langsamkeit weiße Strümpfe und ein weißes Hemd an. Dann kleidete sie ihn ganz in Schwarz, Hose, Weste und Gehrock. Niemals hätte sie eingewilligt, sich von einem der Gendarmen helfen zu lassen. Der Notar hing widerstandslos in ihren Armen. Man hatte eine Lampe angesteckt. Gilquin klatschte vor Ungeduld in die Hände, während die Kopfbedeckung des regungslos dastehenden Unteroffiziers einen riesigen Schatten an die Decke warf. »Sind Sie fertig, sind Sie fertig?« fragte
Gilquin wiederholt. Frau Martineau wühlte seit zehn Minuten in einem Schrank. Sie zog ein Paar schwarze Handschuhe daraus hervor und steckte sie Herrn Martineau in die Tasche. »Ich hoffe, mein Herr«, bat sie, »Sie werden mich mit in den Wagen steigen lassen. Ich will meinen Mann begleiten.« »Das ist unmöglich«, entgegnete Gilquin schroff. Sie nahm sich zusammen. Sie bestand nicht darauf. »Erlauben Sie mir wenigstens«, hob sie wieder an, »ihm zu folgen?« »Die Straßen sind frei«, erklärte er. »Aber Sie werden keinen Wagen auftreiben, denn hier in der Gegend gibt es keine.« Sie zuckte leicht mit den Schultern und ging hinaus, um eine Anordnung zu treffen. Zehn
Minuten später hielt hinter dem Kupee ein Kabriolett vor der Tür. Nun mußte Herr Martineau hinuntergebracht werden. Die beiden Gendarmen trugen ihn. Seine Frau hielt ihm den Kopf. Und bei dem geringsten Klagelaut, den der Sterbende ausstieß, befahl sie den beiden Gendarmen gebieterisch, stehenzubleiben, was diese trotz der schrecklichen Blicke des Kommissars auch taten. So wurde auf jedem Treppenabsatz Rast gemacht. Der Notar glich einer der Schicklichkeit entsprechend gekleideten Leiche, die hinausgetragen wird. Er war ohnmächtig, als man ihn in den Wagen setzte. »Halb neun Uhr!« rief Gilquin, ein letztes Mal auf seine Uhr sehend. »Ein vermaledeites Geschäft! Niemals werde ich hinkommen.« Soviel war sicher. Er hatte noch Glück, wenn er mitten während des Balles erscheinen konnte. Fluchend sprang er auf sein Pferd und gab dem Kutscher Befehl, schnell zu fahren.
An der Spitze fuhr das Kupee, neben dessen Schlägen die beiden Gendarmen galoppierten. Dann folgten in einigen Schritt Abstand der Kreiskommissar und der Unteroffizier; schließlich schloß das Kabriolett mit Frau Martineau den Aufzug. Die Nacht war sehr kühl. Auf der grauen, endlosen Straße fuhr der feierliche Zug mit dem dumpfen Rollen der Räder und dem monotonen Rhythmus des Galopps der Pferde durch das schlummernde Land. Nicht ein Wort wurde während der Fahrt gewechselt. Gilquin überlegte sich den Satz, mit dem er die Frau des Gymnasialdirektors ansprechen wollte. Frau Martineau reckte sich zuweilen in ihrem Kabriolett zu ihrer vollen Höhe auf, weil sie glaubte, ein Röcheln gehört zu haben; aber sie konnte kaum den Wagenkasten des Kupees erkennen, das weit vor ihr schwarz und schweigend dahinrollte. Um halb elf Uhr langte man in Niort an. Um nicht durch die Stadt zu fahren, ließ der Kommissar den Weg über die Wälle nehmen.
Am Gefängnis mußte man mehrmals schellen. Als der Schließer den so bleichen und starren Gefangenen sah, den man ihm da brachte, ging er hinauf, den Direktor zu wecken. Dieser, ein etwas leidender Mann, kam bald in Pantoffeln herbei. Aber er wurde böse, weigerte sich rundweg, einen Menschen in diesem Zustand aufzunehmen. Halte man das Gefängnis etwa für ein Krankenhaus? »Da er nun einmal verhaftet ist, was soll man denn nach Ihrer Meinung mit ihm tun?« fragte Gilquin, außer sich gebracht durch diesen neuen Zwischenfall. »Was Ihnen beliebt, Herr Kommissar«, antwortete der Direktor. »Ich wiederhole Ihnen, daß er mir hier nicht hereinkommt. Eine solche Verantwortung würde ich niemals übernehmen.« Frau Martineau hatte sich die Unterredung zunutze gemacht, um in das Kupee zu ihrem Mann zu steigen. Sie schlug vor, ihn ins Hôtel
zu bringen. »Ja, ins Hotel, zum Teufel, wohin Sie wollen!« schrie Gilquin. »Ich habe jetzt endlich genug davon! Nehmen Sie ihn wieder mit!« Dennoch trieb er die Erfüllung seiner Pflicht so weit, den Notar zum Hôtel de Paris zu begleiten, das Frau Martineau selber bezeichnet hatte. Der Place de la Préfecture begann sich zu leeren; nur die Straßenjugend sprang noch auf den Gehsteigen herum, während sich Bürgerpaare langsam im Dunkel der benachbarten Straßen verloren. Aber die strahlenden sechs Fenster des großen Salons beleuchteten den Platz noch immer mit dem hellen Schein vollen Tageslichts. Die Blechinstrumente des Orchesters tönten lauter; die Damen, deren nackte Schultern man durch die Spalten der Vorhänge vorübergleiten sah, balancierten ihre nach Pariser Mode frisierten Haarknoten. In dem Augenblick, da man den Notar in ein Zimmer des ersten Stockwerks
brachte, hob Gilquin den Kopf und bemerkte Frau Correur und Fräulein Herminie Billecoq, die ihren Fensterplatz nicht verlassen hatten. Vom Brodem des Festes erhitzt, standen sie da und wandten den Hals hin und her. Frau Correur mußte aber wohl ihren Bruder ankommen gesehen haben, denn sie beugte sich so weit vor, daß sie fast hinausgefallen wäre. Auf ein ungestümes Zeichen hin, das sie Gilquin gab, ging dieser hinauf. Und später, gegen Mitternacht, erreichte der Präfekturball seinen höchsten Glanz. Man hatte soeben die Türen zum Speisesaal geöffnet, wo ein kaltes Souper serviert wurde. Damen mit hochroten Gesichtern fächelten sich, aßen im Stehen und lachten dabei laut. Andere fuhren fort zu tanzen, wollten keine einzige Quadrille versäumen, begnügten sich mit ein paar Gläsern Limonade, die ihnen von den Herren gebracht wurden. Ein schimmernder Staub, der aus den Haaren, den Röcken und den mit Goldreifen bedeckten,
sich heftig bewegenden Armen aufzusteigen schien, schwebte über allem. Es war zuviel Gold da, zuviel Musik und zuviel Wärme. Rougon, dem es den Atem benahm, verließ auf einen heimlichen Wink Du Poizats hin eilig den Ballsaal. In dem Zimmer neben dem großen Salon, wo er sie schon am Abend zuvor gesprochen hatte, erwarteten ihn Frau Correur und Fräulein Herminie Billecoq, beide weinten mit lautem Schluchzen. »Mein armer Bruder, mein armer Martineau!« stammelte Frau Correur, die ihre Tränen in ihrem Taschentuch erstickte. »Ach, ich habe es gefühlt, Sie vermochten ihn nicht zu retten ... Mein Gott, weshalb haben Sie ihn nicht gerettet?« Er wollte sprechen, doch sie ließ ihm keine Zeit dazu. »Er ist heute verhaftet worden. Ich habe ihn
soeben gesehen ... Mein Gott, mein Gott!« »Grämen Sie sich nicht so«, wollte er sie endlich beruhigen. »Man wird seinen Fall untersuchen. Ich hoffe sehr, daß man ihn freilassen wird.« Frau Correur hörte auf, ihre Augen zu betupfen. Sie sah Rougon an und rief mit ihrer natürlichen Stimme: »Aber er ist tot!« Und sofort verfiel sie wieder in ihren klagenden Ton, verbarg abermals das Gesicht in ihrem Taschentuch. »Mein Gott, Martineau!«
mein
Gott!
Mein
armer
Tot! Rougon fühlte, wie ihm ein leichter Schauer über die Haut lief. Er fand keine Worte. Zum erstenmal hatte er das Gefühl, eine Grube vor sich zu sehen, eine von Finsternis erfüllte Grube, in die man ihn nach und nach hineindrängte. Also jetzt war dieser
Mann tot! Das hatte er keinesfalls beabsichtigt. Das ging zu weit. »Ach ja, der arme, liebe Mann, er ist tot«, erzählte mit tiefen Seufzern Fräulein Herminie Billecoq. »Anscheinend hat man sich geweigert, ihn im Gefängnis aufzunehmen. Als wir ihn dann in so traurigem Zustand im Hôtel ankommen sahen, ist die gnädige Frau hinuntergegangen und hat sich mit dem Ruf ›Ich bin seine Schwester!‹ Zugang zu ihm erzwungen. Eine Schwester, nicht wahr, hat stets das Recht, bei dem letzten Atemzug ihres Bruders zugegen zu sein. Das habe ich dieser Schurkin Frau Martineau gesagt, die noch davon sprach, uns verjagen zu wollen. Es ist ihr nichts anderes übriggeblieben, als uns einen Platz am Bett einzuräumen ... O mein Gott, es war sehr schnell zu Ende. Er hat nicht länger als eine Stunde geröchelt. Ganz in Schwarz gekleidet, lag er auf dem Bett; man hätte meinen können, einen Notar vor sich zu haben, der zu einer Hochzeit unterwegs war.
Und er ist erloschen wie eine Kerze, mit einer ganz kleinen Verzerrung des Gesichts. Es hat ihm nicht sehr weh tun können.« »Und hat etwa Frau Martineau nicht nachher Streit mit mir angefangen!« berichtete Frau Correur ihrerseits. »Ich weiß nicht, was sie gefaselt hat; sie sprach von der Erbschaft, sie beschuldigte mich, meinem Bruder den letzten Schlag versetzt zu haben. Ich habe ihr geantwortet: ›Ich, gnädige Frau, hätte niemals geduldet, daß man ihn wegbringt, lieber hätte ich mich von den Gendarmen in Stücke hauen lassen!‹ Und sie hätten mich in Stücke gehauen, das sage ich Ihnen ... Nicht wahr, Herminie?« »Ja, ja«, antwortete das große Mädchen. »Kurz, was wollen Sie, meine Tränen werden ihn nicht wiedererwecken, aber man weint, weil man das Bedürfnis zu weinen hat ... Mein armer Martineau!«
Rougon war es unbehaglich zumute. Er zog seine Hände, deren sich Frau Correur bemächtigt hatte, zurück. Und er wußte noch immer nichts zu sagen, angewidert von den näheren Umständen dieses Todes, der ihm abscheulich schien. »Sehen Sie«, rief Herminie, die am Fenster stand, »man sieht bei der großen Helligkeit von hier aus das Zimmer, dort gegenüber das dritte Fenster von links im ersten Stock ... Es brennt Licht hinter dem Vorhang.« Dann verabschiedete er sie, während sich Frau Correur entschuldigte, in ihren Freund nannte und erklärte, sie habe ihrer ersten Regung nachgegeben, als sie gekommen sei, ihm die unselige Nachricht zu bringen. »Das ist eine sehr ärgerliche Geschichte«, flüsterte er Du Poizat ins Ohr, als er mit noch ganz bleichem Gesicht zu dem Ball zurückkehrte.
»Ha, das ist dieser Dummkopf Gilquin!« erwiderte der Präfekt achselzuckend. Der Ball loderte geradezu vor Glanz. Im Speisesaal, von dem man durch die weit offene Tür eine Ecke sah, stopfte der stellvertretende Bürgermeister die drei Töchter des Oberforstmeisters mit Süßigkeiten voll, indes der Oberst des 78. Linienregiments Punsch trank, das Ohr nach den Bosheiten des Oberwegebauinspektors gespitzt, der Pralinees naschte. Herr Kahn stand nahe der Tür und wiederholte dem Präsidenten des Zivilgerichts ganz laut seine Rede vom Nachmittag über die Segnungen der neuen Eisenbahnlinie, umgeben von einer dichten Gruppe gewichtiger Herren, dem Direktor des Amtes für direkte Steuern, den beiden Friedensrichtern, den Abgesandten der IndustrieundHandwerksKammer und der Statistischen Gesellschaft, die mit offenem Mund lauschten. Rings durch den großen Salon wiegten sich unter den fünf
Kronleuchtern einige Paare in einem Walzer, den das Orchester mit Trompetengeschmetter spielte: der Sohn des Obersteuereinnehmers und die Schwester des Bürgermeisters, einer der Substituten mit einer jungen Dame in Blau, der andere Substitut mit einer jungen Dame in Rosa. Ein Paar vor allem aber rief ein Gemurmel der Bewunderung hervor: der Kreiskommissar und die Frau des Gymnasialdirektors, die sich in zärtlicher Umschlingung langsam drehten; er hatte in aller Eile einen vorschriftsmäßigen Anzug angelegt, schwarzen Frack, Lackstiefel, weiße Handschuhe; und die reizende Blondine hatte ihm sein Zuspätkommen verziehen und lehnte verzückt, die Augen feucht von Zärtlichkeit, an seiner Schulter. Gilquin hob die Bewegungen der Hüften hervor, indem er seinen Oberkörper, den Oberkörper eines stattlichen Tänzers öffentlicher Bälle, hintenüberbog und dabei mit einem Stich ins Vulgäre die Galerie entzückte. Rougon, den
das Paar fast umgerannt hätte, mußte sich an eine Wand drücken, um es in einer Woge von goldbesterntem Tarlatan vorüberzulassen.
Kapitel XI Rougon war es endlich gelungen, Delestang den Posten des Ministers für Landwirtschaft und Handel zu verschaffen. In den ersten Tagen des Mai ging er eines Morgens in die Rue du Colisée, um seinen neuen Kollegen abzuholen. Es sollte ein Ministerrat in SaintCloud stattfinden, wo sich der Hof soeben niedergelassen hatte. »Sieh da, Sie begleiten uns!« sagte er überrascht, als er Clorinde bemerkte, die in den fahrbereit vor der Freitreppe wartenden Landauer stieg. »Aber gewiß doch, ich gehe auch zum
Ministerrat«, erwiderte sie lachend. Und nachdem sie die Volants ihres langen Seidenrockes von hellem Kirschrot zwischen den Sitzbänken untergebracht hatte, fügte sie mit ernster Stimme hinzu: »Ich habe eine Zusammenkunft mit der Kaiserin. Ich bin Schatzmeisterin einer Stiftung für junge Arbeiterinnen, für die sich Ihre Majestät interessiert.« Nun bestiegen auch die beiden Herren den Wagen. Delestang nahm neben seiner Frau Platz; er hatte eine Advokatenmappe aus chamoisfarbenem Maroquin bei sich, die er auf seinen Knien festhielt. Rougon saß Clorinde gegenüber, er hatte die Hände frei. Es war fast halb zehn, und die Ratssitzung war auf zehn Uhr anberaumt. Der Kutscher bekam den Befehl, flott zuzufahren. Um so viel wie möglich abzuschneiden, nahm er die Rue Marbeuf, bog dann in den Bezirk von Chaillot ein, den die Hacke der Abbrucharbeiter
aufzureißen begann. Hier gab es verlassene, von Gärten und Bretterbuden gesäumte Straßen, steile, in sich selbst zurücklaufende Querwege, enge, mit dürftigen Bäumen bepflanzte kleinstädtische Plätze; die ganze Gegend war so etwas wie ein Großstadtbastard, der sich mit einem bunten Durcheinander von Villen und kleinen Krambuden auf einem Abhang an der Morgensonne wärmte. »Wie häßlich es hier ist!« meinte Clorinde, in den Fond des Landauers zurückgelehnt. Sie hatte sich halb ihrem Gatten zugewandt, sah ihn einen Augenblick lang mit ernster Miene prüfend an, und gleichsam wider Willen begann sie zu lächeln. Delestang, korrekt in seinen Gehrock eingeknöpft, saß mit Würde aufrecht da, den Körper weder zu weit nach vorn noch zu weit nach hinten gebeugt. Sein schönes, nachdenkliches Gesicht, die frühzeitige Kahlköpfigkeit, die seine Stirn
höher erscheinen ließ, veranlaßten die Vorübergehenden, sich umzudrehen. Die junge Frau bemerkte, daß niemand Rougon anschaute, dessen plumpes Gesicht zu schlafen schien. Dann zupfte sie mütterlich ein wenig an der linken Manschette ihres Gatten, die zu weit unter den Ärmelaufschlag gerutscht war. »Was haben Sie denn heute nacht gemacht?« fragte sie den großen Mann, als sie ihn wiederholt ein Gähnen hinter der Hand verbergen sah. »Ich habe bis spät gearbeitet, ich bin abgespannt«, murmelte er. »Ein Haufen blöder Angelegenheiten!« Und wieder versackte die Unterhaltung. Jetzt war es Rougon, den sie forschend ansah. Er überließ sich dem leichten Rütteln des Wagens, sein Gehrock wurde durch seine breiten Schultern verunstaltet, sein Hut war schlecht gebürstet, wies Spuren alter Regentropfen auf. Sie erinnerte sich daran, daß
sie im Monat zuvor von einem Pferdehändler, der ihm ähnlich sah, ein Pferd gekauft hatte. Ihr Lächeln kehrte mit einem Anflug von Verachtung auf ihr Gesicht zurück. »Nun und?« fragte er, gereizt darüber, daß sie ihn so musterte. »Je nun, ich schaue Sie an!« erwiderte sie. »Ist das etwa nicht erlaubt? – Sie haben wohl Angst, man könnte Sie verschlingen?« Sie warf diesen Satz mit einer herausfordernden Miene hin und zeigte dabei ihre weißen Zähne. Er aber scherzte: »Ich bin zu dick, ich würde Ihnen in der Kehle steckenbleiben.« »Oh, wenn man großen Hunger hätte!« sagte sie völlig ernst, nachdem sie scheinbar ihren Appetit befragt hatte. Endlich gelangte der Landauer zur Porte de la Muette. Nach den allzu engen Gäßchen von Chaillot tat sich hier plötzlich eine weite
Aussicht in das zarte Grün des Bois de Boulogne auf. Es war ein prachtvoller Vormittag, die Rasenflächen in der Ferne waren in blondes Licht getaucht, und durch das junge Laub der Bäume rieselte ein warmer Schauer. Sie ließen das Damwildgehege rechts liegen und schlugen den Weg nach SaintCloud ein. Jetzt rollte der Wagen auf der mit Sand bestreuten Allee ohne einen Stoß dahin, leicht und sanft wie ein über den Schnee gleitender Schlitten. »Das Pflaster ist unerträglich, nicht?« meinte Clorinde und lehnte sich zurück. »Hier atmet man auf, hier kann man plaudern ... Haben Sie Nachricht von unserem Freund Du Poizat?« »Ja«, antwortete Rougon. »Es geht ihm gut.« »Ist er noch immer mit seinem Departement zufrieden?« Er machte eine unbestimmte Handbewegung, wollte sich der Antwort entziehen. Die junge
Frau mußte wohl Kenntnis von gewissen Ärgernissen haben, die der Präfekt von DeuxSèvres ihm durch die Strenge seiner Verwaltung zu bereiten begann. Sie drang nicht weiter in ihn, sie sprach von Herrn Kahn und von Frau Correur, fragte ihn mit boshafter Neugier nach Einzelheiten über seine Reise nach dort unten. Dann unterbrach sie sich, um auszurufen: »Übrigens habe ich gestern Oberst Jobelin und seinen Vetter, Herrn Bouchard, getroffen. Wir haben von Ihnen gesprochen ... Ja, wir haben von Ihnen gesprochen.« Er nahm das ergeben hin, er schwieg noch immer. Da rief sie die Vergangenheit herauf: »Sie erinnern sich doch noch an unsere netten kleinen Abendgesellschaften in der Rue Marbeuf. Momentan haben Sie zuviel am Halse, man kann nicht an Sie herankommen. Ihre Freunde beklagen sich darüber. Sie behaupten, Sie hätten sie vergessen ... Sie wissen, ich pflege alles zu sagen. Nun wohl, man nennt Sie einen Treulosen, mein Lieber.«
In diesem Augenblick, als der Wagen gerade zwischen den beiden Seen hindurchgefahren war, begegnete er einem Kupee, das nach Paris zurückkehrte. Man sah, wie sich ein unangenehmes Gesicht rasch in den Fond des Wagens verdrückte, zweifellos um nicht grüßen zu müssen. »Aber das war doch Ihr Schwager!« rief Clorinde. »Ja, er ist leidend«, antwortete Rougon mit Lächeln. »Sein Arzt hat ihm Morgenspaziergänge verordnet.« Und plötzlich ließ er sich gehen, und indes der Landauer unter hohen Bäumen eine sanft geschwungene Allee entlangrollte, fuhr er fort: »Was wollen Sie! Ich kann ihnen trotz allem nicht das Blaue vom Himmel herunterholen! – Da ist zum Beispiel Beulin d'Orchère, der davon geträumt hat, Justizminister zu werden. Ich habe das Unmögliche versucht, habe beim Kaiser auf den Busch geklopft, ohne irgend
etwas aus ihm herauszubekommen. Der Kaiser fürchtet ihn, glaube ich. Das ist doch nicht meine Schuld, nicht wahr? – Beulind'Orchère ist Erster Gerichtspräsident. Das sollte ihm, zum Teufel, genügen, bis es besser wird. Und er vermeidet es, mich zu grüßen! Er ist ein Dummkopf.« Jetzt rührte sich Clorinde nicht mehr, sie hielt die Augen gesenkt, ihre Finger spielten mit der Quaste ihres Sonnenschirms. Sie ließ ihn weiterreden, kein Satz entging ihr. »Die anderen sind nicht vernünftiger. Wenn sich der Oberst und Bouchard beklagen, haben sie sehr unrecht, denn ich habe schon allzuviel für sie getan ... Ich verwende mich für alle meine Freunde. Es sind ihrer etwa ein Dutzend, die mir eine tüchtige Last auf die Schultern legen. Solange sie mir nicht das Fell abgezogen haben, werden sie sich nicht zufriedengeben.« Er schwieg, dann fing er gutmütig lachend
wieder an: »Pah, wenn es unbedingt nötig wäre, gäbe ich ihnen auch das noch ... Hat man die Hände einmal aufgetan, so ist es nicht mehr möglich, sie wieder zuzumachen. Trotz allem Schlechten, was meine Freunde von mir reden, verbringe ich meine ganzen Tage damit, eine Menge Begünstigungen für sie zu erbitten.« Und er berührte sie am Knie, zwang sie, ihn anzusehen. »Wie ist's denn mit Ihnen? Ich werde mich heute vormittag mit dem Kaiser unterhalten ... Haben Sie keine Wünsche?« »Nein, danke«, erwiderte sie mit harter Stimme. Als er sich noch weiter erbot, wurde sie ärgerlich, beschuldigte ihn, ihr die paar Gefälligkeiten vorzuwerfen, die er ihnen, ihr und ihrem Gatten, habe erweisen können. Sie würden ihm nicht mehr zur Last fallen.
Abschließend sagte sie: »Augenblicklich erledige ich meine Angelegenheiten selber. Dazu bin ich ja wohl erwachsen genug!« Inzwischen hatte der Wagen den Bois de Boulogne verlassen. Im Gepolter eines Zuges großer Karren fuhr er die GrandeRue entlang durch Boulogne. Bis dahin hatte Delestang stillzufrieden, die Hände auf der Maroquinmappe, ohne ein Wort zu sprechen, im Fond des Landauer gesessen, als gäbe er sich irgendwelchen hohen geistigen Spekulationen hin. Nun beugte er sich vor, rief Rougon inmitten des Lärms zu: »Glauben Sie, daß Seine Majestät uns zum Frühstück dabehält?« Rougon drückte durch eine Geste aus, daß er es nicht wisse. Dann sagte er: »Wenn die Sitzung lange dauert, pflegt man im Schloß zu frühstücken.« Delestang lehnte sich wieder in seine Ecke
zurück, wo er von neuem ernstestem Nachsinnen zu verfallen schien. Aber er beugte sich ein zweites Mal vor, um die Frage zu stellen: »Wird im Ministerrat heute vormittag sehr viel zu erledigen sein?« »Ja, vielleicht«, antwortete Rougon. »Das weiß man nie. Ich glaube, mehrere unserer Kollegen müssen Bericht über gewisse Arbeiten erstatten ... Ich werde auf jeden Fall die Frage jenes Buches anschneiden, dessentwegen ich mich mit der Kommission zur Verbreitung literarischer Erzeugnisse herumstreite.« »Was ist das für ein Buch?« fragte Clorinde lebhaft. »Eine Eselei, einer jener Bände, die man für die Bauern fabriziert. Es nennt sich ›Spinnabende bei Bauer Jacques‹. Darin gibt's von allem etwas, Sozialismus, Hexerei, Landwirtschaft, bis zu einem Abschnitt, der die Segnungen der Vergesellschaftung preist ...
Mit einem Wort, ein gefährlicher Schmöker!« Die junge Frau, deren Neugier offenbar nicht befriedigt war, wandte sich ihrem Mann zu, wie um dessen Ansicht zu hören. »Sie sind streng, Rougon«, erklärte Delestang. »Ich habe das Buch flüchtig durchgesehen, ich habe allerlei Gutes darin entdeckt; das Kapitel über die Vergesellschaftung ist gut geschrieben ... Ich würde mich wundern, wenn der Kaiser die Gedanken, die sich hier ausgedrückt finden, verurteilte.« Rougon wollte aufbrausen. Er hob protestierend die Arme. Und dann beruhigte er sich plötzlich, als wünsche er keine Auseinandersetzung; er schwieg und warf hin und wieder einen Blick auf die Gegend zu beiden Seiten. Der Landauer befand sich gerade mitten auf der Brücke von SaintCloud; der ganz von Sonne überglitzerte Fluß unten zeigte stille Flächen von blassem Blau, während die Baumreihen an den Ufern kräftige
Schatten in das Wasser hinabwarfen. Flußauf und flußab wölbte sich, ganz blank in seiner Frühlingsklarheit, der unermeßliche Himmel, kaum von einem blauen Hauch getönt. Als der Wagen im Schloßhof haltgemacht hatte, stieg Rougon als erster aus und hielt Clorinde die Hand hin. Diese aber tat so, als wolle sie diese Stütze nicht annehmen; sie sprang leichtfüßig zu Boden. Dann gab sie ihm, da er mit ausgestrecktem Arm stehenblieb, einen leichten Schlag mit dem Sonnenschirm auf die Finger und murmelte: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich erwachsen bin!« Und sie schien keinen Respekt mehr vor den riesigen Fäusten des Meisters zu haben, die sie früher oft als ergebene Schülerin in ihren Händen gehalten hatte, um ihnen ein wenig von ihrer Kraft zu rauben. Heute meinte sie gewiß, sie genügend geschwächt zu haben; sie erwies ihm nicht mehr ihre entzückenden
jüngerhaften Schmeicheleien. Zu Macht gekommen, wurde sie nun ihrerseits zur Gebieterin. Als Delestang aus dem Wagen gestiegen war, ließ sie Rougon als ersten hineingehen, um ihrem Mann ins Ohr zu flüstern: »Ich hoffe, Sie werden ihn nicht daran hindern, mit seinem ›Bauer Jacques‹ in Gedränge zu geraten. Sie haben da eine gute Gelegenheit, nicht immer das gleiche zu sagen wie er.« In der Vorhalle, bevor sie ihn verließ, umfing sie ihn mit einem letzten Blick, zeigte sich besorgt wegen eines Knopfes an seinem Gehrock, der den Stoff verzog, und während ein Türhüter sie bei der Kaiserin anmeldete, sah sie lächelnd zu, wie Rougon und er verschwanden. Der Ministerrat fand in einem Salon neben dem Arbeitszimmer des Kaisers statt. In der Mitte umgab ein Dutzend Sessel einen großen Tisch, auf dem eine Decke lag. Die hohen und
hellen Fenster gingen auf die Schloßterrasse hinaus. Als Rougon und Delestang eintraten, waren bereits alle ihre Kollegen versammelt, mit Ausnahme des Arbeitsministers und des Ministers für Seefahrt und Kolonien, die beide gerade Urlaub hatten. Der Kaiser war noch nicht erschienen. Fast zehn Minuten lang plauderten die Herren im Stehen vor den Fenstern oder in Gruppen um den Tisch. Zwei von ihnen, die einander so sehr verabscheuten, daß sie nie das Wort aneinander richteten, machten ein grämliches Gesicht, die anderen aber ließen es sich mit liebenswürdigen Mienen wohl sein, während sie auf die ernsten Angelegenheiten warteten. Paris beschäftigte damals gerade die Ankunft einer weit aus dem Fernen Osten gekommenen Gesandtschaft mit seltsamen Gewändern und ganz ungewöhnlichen Grußformen. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten erzählte von einem Besuch, den er tags zuvor dem Haupt dieser Gesandtschaft abgestattet hatte; er
machte sich auf feine Weise lustig, blieb dabei aber völlig korrekt. Dann ging die Unterhaltung zu nichtigeren Themen über; der Staatsminister gab Auskunft über das Befinden einer Tänzerin von der Oper, die sich beinahe ein Bein gebrochen hätte. Und selbst in ihrer Gelöstheit blieben diese Herren wachsam und mißtrauisch, suchten nach bestimmten Sätzen, fingen halbe Wörter auf, belauerten einander hinter ihrem Lächeln, wurden, sobald sie sich beobachtet fühlten, plötzlich ernst. »Also ist es eine einfache Verstauchung?« fragte Delestang, der sich sehr für Tänzerinnen interessierte. »Ja, eine Verstauchung«, wiederholte der Staatsminister. »Die arme Frau wird nun vierzehn Tage das Zimmer hüten müssen ... Sie empfindet es als sehr beschämend, daß sie gefallen ist.« Ein leises Geräusch ließ die Köpfe herumfahren. Alle verbeugten sich; der Kaiser
war eingetreten. Er stützte sich einen Augenblick auf die Rücklehne seines Sessels. Und mit seiner dumpfen Stimme fragte er langsam: »Geht es ihr besser?« »Viel besser, Sire«, antwortete der Minister mit einer abermaligen Verbeugung. »Ich habe heute morgen Nachricht über sie erhalten.« Auf eine Handbewegung des Kaisers hin nahmen die Mitglieder des Rats rings um den Tisch Platz. Es waren ihrer neun; mehrere breiteten Papiere vor sich aus; andere lehnten sich zurück und betrachteten ihre Fingernägel. Schweigen herrschte. Der Kaiser schien leidend zu sein; bedächtig drehte er die Enden seines Schnurrbarts, sein Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck. Dann schien er sich, da niemand sprach, darauf zu besinnen, wo er war, und sagte einige Worte. »Meine Herren, die Sitzungsperiode des Corps législatif wird bald zu Ende sein ...«
Zunächst war die Rede vom Budget, über das die Kammer soeben binnen fünf Tagen abgestimmt hatte. Der Finanzminister wies auf die vom Referenten ausgesprochenen Wünsche hin. Zum erstenmal hatte die Kammer kritische Anwandlungen. So verlangte der Referent, daß die Schuldentilgung auf eine normale Weise funktionieren und die Regierung sich mit den durch Abstimmung bewilligten Summen begnügen möge, ohne immer ihre Zuflucht zur Forderung zusätzlicher Kredite zu nehmen. Andererseits hatten sich Mitglieder darüber beschwert, daß der Staatsrat ihren Bemerkungen so wenig Beachtung schenke, wenn sie gewisse Ausgaben zu verringern suchten; einer von ihnen hatte sogar für den Corps législatif das Recht verlangt, das Budget aufzustellen. »Meiner Meinung nach besteht kein Anlaß, diese Einwände zu berücksichtigen«, sagte der Finanzminister abschließend. »Die Regierung
stellt ihre Budgets mit der größtmöglichen Sparsamkeit auf, und das ist so wahr, daß sich die Kommission große Mühe geben mußte, um es dahin zu bringen, zwei armselige Millionen zu streichen ... Immerhin halte ich es für klug, drei Forderungen nach zusätzlichen Krediten zurückzustellen, die vorgesehen waren. Ein Ausgleich zwischen den einzelnen Posten wird uns die nötigen Summen verschaffen, und die Situation wird dann später endgültig geregelt.« Der Kaiser stimmte mit einer Kopfbewegung zu. Er schien nicht zuzuhören, mit abwesendem Blick sah er wie geblendet in das helle Licht, das durch das Mittelfenster ihm gegenüber fiel. Wieder entstand eine Pause. Nach dem Kaiser stimmten alle Minister zu. Einen Augenblick lang vernahm man nur noch ein leises Geräusch. Das war der Justizminister, der in einem Manuskript von mehreren Seiten blätterte, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Er warf einen fragenden Blick auf seine Kollegen.
»Sire«, begann er schließlich, »ich habe den Entwurf einer Denkschrift über die Stiftung eines neuen Adels mitgebracht ... Einstweilen sind es nur Notizen; aber ich dachte, es wäre gut, sie, ehe man weiterginge, dem Rat vorzulesen, damit man sich die Einsicht aller zunutze machen könnte ...« »Ja, lesen Sie es vor, Herr Justizminister«, unterbrach ihn der Kaiser. »Sie haben recht.« Und er drehte sich halb um, damit er jenen beim Vorlesen ansehen konnte. Er belebte sich, in seinen grauen Augen brannte eine gelbe Flamme. Die Frage eines neuen Adels beschäftigte damals den Hof sehr. Die Regierung hatte zunächst dem Corps législatif den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, dem zufolge alle Personen, die überführt wurden, sich zu Unrecht irgendeinen Adelstitel beigelegt zu haben, mit einer Geldbuße und Gefängnis bestraft werden sollten. Es handelte sich
darum, die alten Titel zu sanktionieren und so die Schaffung neuer Titel vorzubereiten. Dieser Gesetzentwurf hatte in der Kammer eine leidenschaftliche Diskussion hervorgerufen; dem Kaiser sehr ergebene Abgeordnete hatten sich heftig dahingehend geäußert, daß es in einem demokratischen Staat keinen Adel geben könne; und bei der Abstimmung hatten sich soeben dreiundzwanzig Stimmen gegen den Entwurf ausgesprochen. Der Kaiser jedoch hätschelte noch weiter diesen Traum. Er selber hatte dem Justizminister einen ganzen umfassenden Plan angegeben. Die Denkschrift begann mit einem geschichtlichen Teil. Dann wurde das neue System lang und breit auseinandergesetzt; die Titel sollten nach Amtskategorien vergeben werden, um die Reihen des neuen Adels allen Bürgern erreichbar zu machen; ein demokratisches Auskunftsmittel, das den Justizminister anscheinend sehr begeisterte.
Schließlich folgte der Entwurf eines Dekrets. Bei Artikel II hob und verlangsamte der Minister die Stimme: »Der Titel Graf wird nach fünfjähriger Ausübung ihres Amtes oder Ehrenamtes oder nach Ernennung durch uns zum Inhaber des Großkreuzes der Ehrenlegion verliehen werden: an unsere Minister und die Mitglieder unseres Geheimen Rates, an die Kardinäle, die Marschälle, die Admirale und die Senatoren, an unsere Botschafter und an diejenigen Divisionsgenerale, die kommandierende Generale waren.« Er hielt einen Augenblick inne und sah den Kaiser fragend an, um sich zu vergewissern ob er niemanden vergessen habe. Seine Majestät, der der Kopf ein wenig auf die rechte Schulter gesunken war, riß sich zusammen. Schließlich murmelte er: »Ich glaube, man müßte die Präsidenten des Corps Législatif und des Staatsrats hinzufügen.« Der Justizminister nickte eifrig zum Zeichen
der Zustimmung und machte rasch eine Notiz an den Rand seines Manuskripts. Als er gerade wieder mit seiner Vorlesung beginnen wollte, wurde er durch den Kultusminister unterbrochen, der auf eine Auslassung aufmerksam machen wollte. »Die Erzbischöfe ...«, begann er. »Verzeihung«, erwiderte der Justizminister schroff, »die Erzbischöfe sollen nur Barone werden. Lassen Sie mich erst das ganze Dekret vorlesen.« Und er fand sich in seinen Blättern nicht mehr zurecht. Lange suchte er nach einer Seite, die sich zwischen die anderen verirrt hatte. Rougon, der massig dasaß, den Hals zwischen die schweren Bauernschultern eingezogen, lächelte mit den Mundwinkeln, und als er sich umwandte, sah er auf dem Gesicht seines Nebenmannes, des Staatsministers, des letzten Vertreters eines alten normannischen Geschlechts, ebenfalls ein feines verächtliches
Lächeln. Da bewegten beide leicht das Kinn. Der Emporkömmling und der Edelmann hatten einander verstanden. »Ah, sieh da!« fing endlich der Justizminister wieder an. »Artikel III: Der Titel Baron wird verliehen werden: 1. den Mitgliedern des Corps législatif, wenn sie dreimal durch ihre Mitbürger mit dem Mandat beehrt worden sind; 2. den Staatsräten nach achtjähriger Amtstätigkeit; 3. dem Ersten Vorsitzenden und dem Oberstaatsanwalt des Kassationsgerichts, dem Ersten Vorsitzenden und dem Oberstaatsanwalt des Rechnungshofes, den Divisionsgeneralen und den Vizeadmiralen, den Erzbischöfen und den bevollmächtigten Ministern nach fünfjähriger Ausübung ihres Amtes oder wenn sie den Rang eines Kommandeurs der Ehrenlegion erhalten haben ...« Und so fuhr er fort. Die Ersten Vorsitzenden und die Oberstaatsanwälte der kaiserlichen
Gerichte, die Brigadegenerale und die Konteradmirale, die Bischöfe und sogar die Bürgermeister der Departementshauptstädte mit Präfekturen erster Klasse sollten baronisiert werden; nur verlangte man von diesen eine zehnjährige Dienstzeit. »Alle Welt wird also Baron!« murmelte Rougon halblaut. Seine Kollegen, die so taten, als betrachteten sie ihn als einen schlechterzogenen Menschen, setzten ernste Mienen auf, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie diesen Scherz sehr unangebracht fänden. Der Kaiser schien nichts gehört zu haben. Doch als die Lesung beendet war, fragte er: »Was halten Sie von dem Plan, meine Herren?« Die Herren zögerten. Man wartete auf eine direktere Frage. »Herr Rougon«, begann Seine Majestät wieder, »was halten Sie von dem Plan?«
»Mein Gott, Sire«, erwiderte der Innenminister und lächelte auf seine gelassene Art, »ich halte nicht viel Gutes davon. Er birgt die schlimmste aller Gefahren in sich, die der Lächerlichkeit. Ja, ich hätte Angst, all diese Barone könnten Anlaß zum Lachen geben ... Ich berufe mich dabei nicht auf die schwerwiegenden Gründe, das Gleichheitsgefühl, das heute herrscht, die Raserei der Eitelkeit, die ein solches System entstehen lassen würde ...« Aber der Justizminister fiel ihm ins Wort; er wurde sehr scharf, war sehr gekränkt, verteidigte sich als persönlich angegriffener Mann. Er sagte, er sei ein Bürger, Sohn eines Bürgers und denke gar nicht daran, den Gleichheitsprinzipien der modernen Gesellschaft Abbruch zu tun. Der neue Adel solle ein demokratischer Adel sein; und die Bezeichnung »demokratischer Adel« brachte seine Idee zweifellos so gut zum Ausdruck, daß er sie mehrmals wiederholte. Rougon replizierte immer noch lächelnd, ohne
ärgerlich zu werden. Der Justizminister, klein, hager, sehr dunkel, brach schließlich in beleidigende persönliche Anzüglichkeiten aus. Der Kaiser saß da, als gehe ihn dieser Streit nichts an; wieder schaute er mit einem langsamen Wiegen der Schultern in das starke weiße Licht, das durch das Fenster ihm gegenüber fiel. Als aber die Stimmen anschwollen und seiner Würde abträglich wurden, murmelte er dennoch: »Meine Herren, meine Herren ...« Dann, nach einer Pause: »Herr Rougon hat möglicherweise recht ... Die Sache ist noch nicht reif. Man wird sie von anderen Gesichtspunkten aus durchdenken müssen. Später wird man dann sehen.« Sodann prüfte der Ministerrat einige geringfügige Angelegenheiten. Man sprach vor allem von der Zeitung »Le Siècle96«, in der soeben ein Artikel erschienen war, der am Hofe Anstoß erregt hatte. Es verging keine
Woche, ohne daß der Kaiser von Leuten seiner Umgebung dringend gebeten wurde, dieser Zeitung, dem einzigen republikanischen Organ, das sich noch hielt, ein Ende zu machen. Aber Seine Majestät hatte persönlich große Nachsicht mit der Presse, er belustigte sich oft damit, in der Verschwiegenheit seines Arbeitszimmers lange Artikel als Antwort auf Angriffe gegen seine Regierung zu schreiben; sein uneingestandener Traum war, eine eigene Zeitung zu haben, darin er Manifeste publizieren und einen Federkrieg eröffnen könnte. Nichtsdestoweniger bestimmte Seine Majestät an diesem Tage, daß dem »Siècle« eine Verwarnung geschickt werden solle. Die Exzellenzen hielten die Sitzung für beendet. Das sah man an der Art, in der die Herren auf der Kante ihrer Sessel saßen. Sogar der Kriegsminister, ein General mit gelangweiltem Aussehen, der während der ganzen Sitzung den Mund nicht aufgemacht hatte, zog bereits seine Handschuhe aus der
Tasche, als sich Rougon schwer mit den Ellbogen auf den Tisch stützte. »Sire«, sagte er, »ich möchte gern mit dem Rat über einen Konflikt sprechen, der sich zwischen der Kommission zur Verbreitung literarischer Erzeugnisse und mir anläßlich eines zur Genehmigung vorgelegten Werkes ergeben hat.« Seine Kollegen setzten sich wieder tiefer in ihre Sessel. Der Kaiser wandte sich mit einem leichten Kopfnicken halb um, um den Innenminister zum Weiterreden zu ermächtigen. Daraufhin ging Rougon auf Einzelheiten der Vorgeschichte ein. Er lächelte nicht mehr, trug nicht mehr seine Biedermannsmiene zur Schau. Über die Tischkante gebeugt, mit dem rechten Arm regelmäßig über die Decke fegend, berichtete er, er habe selber bei einer der letzten Sitzungen der Kommission den Vorsitz führen wollen, um den Eifer der
Mitglieder, aus denen zusammensetzte, anzustacheln.
sie
sich
»Ich habe sie auf die Ansichten der Regierung über die Verbesserungen hingewiesen, die in den wichtigen, ihnen übertragenen Aufgaben vorgenommen werden müssen ... Die Verbreitung literarischer Erzeugnisse würde große Gefahren mit sich bringen, wenn sie zu einer Waffe in den Händen der Revolutionäre würde und so dahin gelangte, die Auseinandersetzungen und Gehässigkeiten neu zu beleben. Die Kommission hat also die Pflicht, alle Werke zurückzuweisen, welche Leidenschaften nähren und steigern, die nicht mehr die unserer Zeit sind. Hingegen wird sie jene Bücher willkommen heißen, deren Sauberkeit bei ihr den Eindruck hervorruft, daß sie Gottesverehrung, Vaterlandsliebe und Dankbarkeit gegen den Herrscher zu erwecken vermögen.« Obwohl die Minister sehr mißgestimmt waren,
glaubten sie doch, diesem letzten Satzteil einen flüchtigen Beifall spenden zu müssen. »Die Anzahl der schlechten Bücher nimmt täglich zu. Es ist eine steigende Flut, vor der man das Vaterland nicht genug schützen kann. Von zwölf veröffentlichten Büchern taugen elfeinhalb nur dazu, ins Feuer geworfen zu werden. Das ist der Durchschnitt ... Noch nie haben die sträflichen Gefühle, die umstürzlerischen Theorien, die antisozialen Ungeheuerlichkeiten so viele Lobredner gefunden ... Ich bin zuweilen genötigt, gewisse Werke zu lesen. Je nun, ich versichere ...« Der Kultusminister unterbrechen.
wagte
es,
ihn
zu
»Die Romane ...«, begann er. »Ich lese niemals Romane«, erklärte Rougon schroff. Sein Kollege machte eine Gebärde schüchternen Protests, er rollte entrüstete
Augen, wie um zu schwören, daß auch er niemals Romane lese. Er legte seine Ansicht dar. »Ich wollte nur sagen: Die Romane sind vor allem eine vergiftete Nahrung, die der ungesunden Neugier der Massen vorgesetzt wird.« »Vollkommen richtig«, bestätigte der Innenminister. »Aber es geht um ganz genauso gefährliche Werke: ich spreche von jenen vulgarisierenden Werken, in denen die Verfasser sich bemühen, der Fassungskraft der Bauern und Arbeiter einen Schwall sozialen und ökonomischen Wissens zugänglich zu machen, wovon das augenfälligste Ergebnis eine Verwirrung der schwachen Gehirne ist ... Gerade ein Buch dieser Art, ›Spinnabende bei Bauer Jacques‹, liegt jetzt der Kommission zur Prüfung vor. Es handelt von einem Sergeanten, der in sein Dorf zurückgekehrt ist und sich an jedem Sonntagabend in Gegenwart von etwa
zwanzig Landleuten mit dem Schullehrer unterhält; und jedes Gespräch behandelt einen besonderen Gegenstand, die neuen Landbestellungsmethoden, die Arbeitervereinigungen, die bedeutende Rolle des Erzeugers in der Gesellschaft. Ich habe dieses Buch, auf das mich ein Angestellter aufmerksam machte, gelesen, ich fand es um so beunruhigender, als es unter einer vorgespielten Bewunderung für die kaiserlichen Institutionen unheilvolle Theorien verbirgt. Man kann sich nicht darüber täuschen, es ist das Werk eines Aufwieglers. Daher war ich sehr erstaunt, als mehrere Mitglieder der Kommission sich mir gegenüber auf lobende Art darüber äußerten. Ich habe einige Abschnitte mit ihnen durchgesprochen, anscheinend ohne sie zu überzeugen. Der Verfasser, so wurde mir versichert, soll sogar ein Exemplar seines Buches Seiner Majestät als Zeichen der Verehrung zugesandt haben ... Deshalb, Sire,
glaubte ich, Ihre Ansicht und die des Rates einholen zu sollen, bevor ich auch nur den geringsten Druck ausübte.« Und er sah den Kaiser fest an, dessen flackernde Augen sich schließlich auf ein vor ihm liegendes Papiermesser hefteten. Der Herrscher nahm dieses Messer, drehte es zwischen den Fingern und murmelte: »Ja, ja, ›Spinnabende bei Bauer Jacques‹ ...« Dann sah er, ohne sich weiter auszulassen, heimlich rechts und links den Tisch entlang. »Sie haben das Buch vielleicht durchgesehen, meine Herren, es wäre mir sehr lieb, zu erfahren ...« Er sprach nicht zu Ende, er pflegte seine Sätze zu verschlucken. Die Minister erkundigten sich heimlich beieinander, jeder verließ sich darauf, daß sein Nebenmann antworten, eine Ansicht vorbringen könnte. Unter zunehmender Verlegenheit zog sich das
Schweigen in die Länge. Offensichtlich wußte nicht einer von ihnen auch nur von dem Vorhandensein dieses Werkes. Endlich nahm es der Kriegsminister auf sich, mit einer großartigen Geste seine und all seiner Kollegen Unkenntnis einzugestehen. Der Kaiser drehte seinen Schnurrbart, ließ sich Zeit. »Und Sie, Herr Delestang?« fragte er. Delestang rutschte in seinem Sessel hin und her, als müsse er einen inneren Kampf ausfechten. Diese direkte Frage brachte ihn zu einem Entschluß. Aber bevor er sprach, warf er unwillkürlich einen Seitenblick auf Rougon. »Ich habe den Band in der Hand gehabt, Sire.« Er hielt inne, da er die großen grauen Augen Rougons starr auf sich gerichtet fühlte. Angesichts der sichtlichen Zufriedenheit des Kaisers fing er jedoch mit ein wenig zitternden Lippen wieder an: »Ich bin zu meinem
Bedauern nicht der gleichen Ansicht wie mein Freund und Kollege, der Herr Innenminister. Gewiß, etwas mehr Beschränkung könnte dem Werk nicht schaden, und es dürfte darin mehr Nachdruck auf die vorsichtige Allmählichkeit gelegt werden, mit der sich jeder wirklich nutzbringende Fortschritt vollziehen muß. Aber deshalb halte ich die ›Spinnabende bei Bauer Jacques‹ nicht weniger für ein in ausgezeichneter Absicht verfaßtes Buch. Die Wünsche, die darin für die Zukunft ausgesprochen werden, beleidigen in keiner Weise die kaiserlichen Institutionen. Sie sind im Gegenteil gewissermaßen deren zu Recht erwartete Weiterentwicklung ...« Abermals schwieg er. Obgleich er sehr bemüht war, sich dem Kaiser zuzuwenden, spürte er auf der anderen Seite des Tisches die riesige Gestalt Rougons, der mit aufgestützten Ellbogen und vor Staunen bleichem Gesicht dasaß. Für gewöhnlich war Delestang stets der Ansicht des großen Mannes. Daher hoffte
dieser einen Augenblick lang, den aufrührerischen Schüler mit einem Wort zurückzuholen. »Nun, man muß ein Beispiel anführen«, rief er, so fest die Hände faltend, daß sie knackten. »Es tut mir leid, daß ich das Buch nicht mitgebracht habe ... Aber sehen Sie, da ist ein Kapitel, an das ich mich erinnere. Der Bauer Jacques spricht von zwei Bettlern, die in dem Dorf von Tür zu Tür gehen, und auf eine Frage des Schullehrers erklärt er, daß er den Bauern das Mittel beibringen werde, nie mehr einen einzigen Armen unter sich zu haben. Folgt ein verwickeltes System für die Ausrottung des Pauperismus. Da befindet man sich mitten in der kommunistischen Theorie ... Der Herr Minister für Landwirtschaft und Handel kann dieses Kapitel wirklich nicht gutheißen.« Delestang wurde plötzlich mutig und wagte es, Rougon ins Gesicht zu sehen. »Oh, mitten in der kommunistischen Theorie«,
entgegnete er, »Sie gehen da reichlich weit! Ich habe darin nur eine scharfsinnige Darlegung der Grundbegriffe der Vergesellschaftung erblickt.« Während er sprach, kramte er in seiner Aktentasche. »Ich habe das Werk gerade da«, erklärte er schließlich. Und er begann, das in Rede stehende Kapitel vorzulesen. Er las mit sanfter und monotoner Stimme. Sein schöner Kopf, der Kopf eines großen Staatsmannes, nahm bei gewissen Abschnitten einen Ausdruck außerordentlichen Ernstes an. Der Kaiser lauschte mit undurchdringlicher Miene. Er schien sich besonders über die rührenden Stellen zu freuen, die Seiten, auf denen der Verfasser seinen Bauern eine Redeweise von kindlicher Einfalt verliehen hatte. Die Exzellenzen waren entzückt. – Was für eine reizende Geschichte! Rougon fallengelassen von Delestang, dem er
einzig und allein deshalb ein Portefeuille verschafft hatte, um inmitten der heimlichen Feindseligkeit des Rats an ihm eine Stütze zu haben! Seine Kollegen warfen ihm fortgesetzte Überschreitungen seiner Befugnisse vor, sein Herrschbedürfnis, das ihn dazu trieb, sie wie einfache kleine Beamte zu behandeln, während er so tat, als sei er der geheime Ratgeber und die rechte Hand Seiner Majestät. Und er würde bald völlig allein dastehen! Dieser Delestang war ein Mann, dem man Entgegenkommen zeigen mußte! »Da sind vielleicht ein oder zwei Ausdrücke«, murmelte der Kaiser, als das Vorlesen beendet war. »Aber im ganzen genommen sehe ich nicht ... Nicht wahr, meine Herren?« »Es ist völlig harmlos«, bestätigten die Minister. Rougon vermied es, zu antworten. Er schien sich zu ergeben. Dann erneuerte er seinen Angriff, und zwar gegen Delestang allein.
Einige Minuten lang wurde der Streit zwischen ihnen mit knappen Sätzen fortgeführt. Der schöne Mann wurde kampflustig, wurde bissig. Da lehnte sich Rougon allmählich auf. Zum erstenmal spürte er seine Macht unter sich krachen. Plötzlich wandte er sich, aufrecht stehend, mit einer ungestümen Gebärde an den Kaiser. »Sire, es ist eine Kleinigkeit, die Genehmigung wird erteilt werden, da Euer Majestät in Ihrer Weisheit das Buch für ungefährlich halten. Aber ich muß Ihnen erklären, Sire, daß es die allergrößten Gefahren mit sich brächte, wollte man Frankreich die Hälfte der von diesem Bauer Jacques geforderten Freiheiten gewähren. Sie haben mich unter schrecklichen Umständen in die Regierung berufen. Sie haben mir gesagt, ich solle nicht versuchen, durch eine unzeitgemäße Milde diejenigen zu beruhigen, die zitterten. Ich habe Ihren Wünschen entsprechend dafür gesorgt, daß man mich
fürchtet. Ich glaube, ich habe mich auch noch nach den geringsten Ihrer Anweisungen gerichtet und Ihnen die Dienste erwiesen, die Sie von mir erwarteten. Wenn mich jemand zu großer Härte beschuldigte, wenn man mir vorwürfe, die Macht, mit der Euer Majestät mich belehnten, mißbraucht zu haben, so käme ein solcher Tadel, Sire, ganz bestimmt von einem Gegner Ihrer Politik ... Nun wohl, glauben Sie mir, der Körper unserer Gesellschaft ist noch ebensotief gestört; es ist mir unglückseligerweise nicht gelungen, ihn in wenigen Wochen von den Übeln zu heilen, die ihn zerfressen. Die anarchischen Leidenschaften grollen noch immer in den Niederungen der Demagogie. Ich will diese Wunde nicht aufdecken, ihre Entsetzlichkeit nicht zu hoch anschlagen; aber ich habe die Pflicht, an ihr Vorhandensein zu erinnern, um Euer Majestät davor zu warnen, sich von Ihrem großmütigen Herzen hinreißen zu lassen. Einen Augenblick lang durfte man
hoffen, die Tatkraft des Herrschers und der ernste Wille des Vaterlandes hätten die abscheulichen Epochen allgemeiner Verderbtheit für immer ins Nichts zurückgestoßen. Die Ereignisse haben bewiesen, daß man sich in einem schmerzlichen Irrtum befand. Im Namen der Nation flehe ich Sie an, Sire, ziehen Sie Ihre starke Hand nicht zurück. Die Gefahr liegt nicht in den übermäßigen Vorrechten der Regierung, sondern im Fehlen von Strafgesetzen. Wenn Sie Ihre Hand zurückzögen, würden Sie die Hefe des Pöbels aufschäumen sehen, würden Sie sich unverzüglich von einer Flut revolutionärer Forderungen überschwemmt finden, und Ihre tatkräftigsten Diener würden bald nicht mehr wissen, wie sie Sie verteidigen sollten ... Ich erlaube mir, so nachdrücklich zu sprechen, weil die Katastrophen von morgen so schreckenerregend sein würden. Schrankenlose Freiheit ist unmöglich in einem
Lande, wo es eine Fraktion gibt, die in hartnäckiger Verstocktheit die grundlegenden Prinzipien der Regierung verkennt. Man wird sehr viele Jahre benötigen, bis die unumschränkte Macht sich alle unterworfen hat, bis sie die Erinnerung an die früheren Kämpfe in den Gedächtnissen ausgelöscht hat, bis sie so über jede Diskussion erhaben ist, daß man wieder über sie diskutieren darf. Einzig in dem in seiner ganzen Strenge angewandten autoritären Prinzip liegt Frankreichs Heil. An dem Tage, da Euer Majestät glauben werden, dem Volk die harmloseste Freiheit zurückgeben zu können, an ebendem Tage werden Euer Majestät die ganze Zukunft verpfänden. Eine Freiheit ist nicht möglich ohne eine zweite Freiheit, dann kommt eine dritte Freiheit und fegt alles hinweg, die Institutionen und die Dynastien. Das ist die unerbittliche Maschinerie, das Räderwerk, das die Fingerspitze erfaßt, die Hand nachzieht, den Arm verschlingt, den Körper zermalmt ...
Und, Sire, da ich mir erlaube, meine Ansicht über einen solchen Gegenstand offen zu äußern, will ich hier hinzufügen: der Parlamentarismus hat bereits eine Monarchie getötet, man darf ihm nicht ein Kaiserreich zum Töten überlassen. Der Corps législatif spielt eine schon allzu geräuschvolle Rolle. Möge man ihn niemals noch stärker an der Staatsführung des Herrschers teilnehmen lassen; das würde zur Quelle der lärmendsten und beklagenswertesten Auseinandersetzungen werden. Die letzten allgemeinen Wahlen haben wieder einmal die ewige Dankbarkeit des Vaterlandes bewiesen; aber es sind nichtsdestoweniger fünf Kandidaten dabei aufgestellt worden, deren schändlicher Erfolg zur Warnung dienen muß. Heute ist es die Hauptsache, die Bildung einer gegnerischen Minderheit zu verhindern und dieser vor allem, falls sie sich bilden sollte, keine Waffen dafür zu liefern, mit vermehrter Unverschämtheit gegen die Regierung zu
kämpfen. Ein Parlament, das schweigt, ist ein Parlament, das arbeitet ... Was die Presse betrifft, Sire, so verwandelt sie die Freiheit in Zügellosigkeit. Seit meinem Eintritt ins Ministerium lese ich aufmerksam die Berichte, jeden Morgen fühle ich mich angewidert. Die Presse ist das Sammelbecken für alle ekelerregenden Gärungsstoffe. Sie begünstigt die Revolutionen, sie bleibt der stets brennende Herd, an dem sich die Feuersbrünste entzünden. Nützlich wird sie erst dann werden, wenn es gelungen ist, sie zu zähmen und ihre Macht als ein Werkzeug der Regierung zu gebrauchen ... Ich spreche nicht von den anderen Freiheiten, der Koalitionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Freiheit zu allem. In den ›Spinnabenden bei Bauer Jacques‹ erbittet man sie ehrerbietig. Später wird man sie fordern. Das sind meine schlimmen Befürchtungen. Mögen Euer Majestät mich recht verstehen, es ist nötig, daß Frankreich lange Zeit das Gewicht einer
eisernen Hand auf sich ruhen fühlt ...« Er wiederholte sich, er verteidigte seine Macht mit zunehmender Heftigkeit. Fast eine Stunde lang redete er so fort, im Schütze des autoritären Prinzips, mit dem er sich deckte, mit dem er sich umgab wie jemand, der von der ganzen Widerstandsfähigkeit seiner Rüstung Gebrauch macht. Und ungeachtet seiner offensichtlichen Erregung bewahrte er Kaltblütigkeit genug, um ein wachsames Auge auf seine Kollegen zu haben und in ihren Mienen die Wirkung seiner Worte zu erspähen. Jene hatten ausdruckslose, unbewegte Gesichter. Plötzlich schwieg er. Eine ziemlich lange Pause trat ein. Der Kaiser hatte wieder mit dem Papiermesser zu spielen begonnen. »Der Herr Innenminister sieht die Lage Frankreichs zu schwarz«, meinte schließlich
der Staatsminister. »Nichts, meine ich, bedroht unsere Institutionen. Es herrscht absolute Ordnung. Wir können uns beruhigt auf die hohe Weisheit Seiner Majestät verlassen. Es beweist sogar einen Mangel an Vertrauen zu ihr, wenn man Befürchtungen zu erkennen gibt ...« »Gewiß, Stimmen.
gewiß«,
murmelten
mehrere
»Ich möchte hinzufügen«, sagte nun der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, »daß Frankreich noch nie so von Europa geachtet wurde. Überall im Ausland spricht man mit Hochachtung von der festen und würdigen Politik Seiner Majestät. Die Staatskanzleien sind der Meinung, daß unser Land für immer in eine Ära des Friedens und der Größe eingetreten sei.« Keiner der Herren nahm sich übrigens die Mühe, gegen das von Rougon verteidigte politische Programm zu kämpfen. Die Blicke
wandten sich Delestang zu. Dieser begriff, was man von ihm erwartete. Er fand zwei bis drei schöne Sätze. Er verglich das Kaiserreich mit einem Gebäude. »Gewiß, das autoritäre Prinzip darf nicht erschüttert werden; aber man soll keinesfalls systematisch den allgemeinen Freiheiten die Tür verschließen ... Das Kaiserreich ist gleichsam eine Zufluchtsstätte, ein riesiges und herrliches Gebäude, zu dem Seine Majestät mit eigener Hand die unzerstörbaren Fundamente gelegt hat. Noch heute arbeitet er daran, dessen Mauern aufzuführen. Nur wird der Tag kommen, da er, nachdem er sein Werk vollendet hat, an die Krönung des Gebäudes denken muß, und dann ...« »Niemals!« fiel ihm Rougon heftig ins Wort. »Alles wird zusammenstürzen!« Der Kaiser streckte die Hand aus, um dem Streit ein Ende zu machen. Er lächelte, schien aus einer Träumerei zu erwachen.
»Schon gut, schon gut«, lenkte er ein. »Wir sind von den laufenden Angelegenheiten abgekommen ... Wir werden sehen.« Und er erhob sich und fügte hinzu: »Meine Herren, es ist spät, Sie werden im Schloß frühstücken.« Die Ratssitzung war beendet. Die Minister schoben ihre Sessel zurück, standen auf, verbeugten sich vor dem Kaiser, der sich langsam zurückzog. Aber Seine Majestät wandte sich um, sprach halblaut: »Herr Rougon, auf ein Wort bitte.« Dann umdrängten, während der Herrscher Rougon in eine Fensternische zog, die Exzellenzen am anderen Ende des Raumes Delestang. Sie beglückwünschten ihn heimlich mit Augenzwinkern, schlauem Lächeln, einem allgemeinen gedämpften Gemurmel lobender Zustimmung. Der Staatsminister, ein Mann von durchdringendem Verstand und großer Erfahrenheit, gab sich besonders
abgeschmackt; es gehörte zu seinen Grundanschauungen, daß die Freundschaft der Dummköpfe Glück bringe. Bescheiden und ernst verneigte sich Delestang bei jedem Kompliment. »Nein, kommen Sie«, bat der Kaiser Rougon. Und er entschloß sich, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen, einen ziemlich engen Raum, wo auf allen Möbelstücken Haufen von Zeitungen und Büchern lagen. Dort steckte er sich eine Zigarette an, dann zeigte er Rougon das verkleinerte Modell einer neuen, von einem Offizier erfundenen Kanone. Die kleine Kanone erinnerte an ein Kinderspielzeug. Er schlug ostentativ einen sehr wohlwollenden Ton an, schien dem Minister beweisen zu wollen, daß er ihm seine ganze Gunst auch weiterhin bewahren werde. Rougon jedoch witterte eine Auseinandersetzung. Er wollte als erster sprechen.
»Sire«, sagte er, »ich weiß, mit welcher Heftigkeit man mich vor Euer Majestät angreift.« Der Kaiser lächelte, ohne zu antworten. Der Hof hatte sich in der Tat erneut gegen Rougon gestellt. Man beschuldigte ihn jetzt, die Macht zu mißbrauchen, dem Ruf des Kaiserreiches durch seine Gewaltmaßnahmen zu schaden. Die seltsamsten Geschichten über ihn gingen um, die Gänge des Schlosses hallten wider von Anekdoten und Klagen, deren Echo jeden Morgen in das kaiserliche Arbeitszimmer drang. »Setzen Sie sich, Herr Rougon, setzen Sie sich«, forderte der Kaiser ihn schließlich gutmütig auf. Dann setzte er sich selber und fuhr fort: »Man liegt mir mit einer Menge von Dingen in den Ohren. Ich will mich lieber mit Ihnen darüber unterhalten ... Was ist denn das für ein Notar, der nach seiner Verhaftung in Niort gestorben
ist, ein Herr Martineau, glaube ich?« Rougon berichtete gelassen Näheres. Dieser Martineau sei ein sehr kompromittierter Mann gewesen, ein Republikaner, dessen Einfluß im Departement große Gefahren mit sich bringen konnte. Man habe ihn verhaftet. Er sei tot. »Ja eben, er ist tot, das ist ja das Ärgerliche«, meinte der Kaiser. »Die feindlichen Zeitungen haben sich des Vorfalls bemächtigt, sie erzählen ihn auf eine geheimnisvolle Art und rufen durch vielsagendes Verschweigen bedauerliche Wirkungen hervor ... Ich bin sehr verdrießlich über das alles, Herr Rougon.« Er fragte nicht weiter. Die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, saß er einige Sekunden still da. »Sie sind kürzlich ins Departement DeuxSèvres gefahren«, fing er dann wieder an, »Sie haben an einer Feierlichkeit teilgenommen ... Sind Sie ganz überzeugt von
Herrn Kahns finanzieller Stärke?« »Oh, vollkommen überzeugt!« rief Rougon aus. Und er erging sich abermals in Erklärungen. Herr Kahn stütze sich auf eine sehr reiche englische Gesellschaft; die Aktien der Eisenbahn von Niort nach Angers seien an der Börse sehr gesucht; es sei das beste Unternehmen, das man sich vorstellen könne. Der Kaiser schien das zu bezweifeln. »Man hat vor mir Befürchtungen geäußert«, murmelte er. »Sie werden verstehen, wie mißlich es wäre, wenn Ihr Name im Zusammenhang mit einer Katastrophe genannt würde ... Kurz, da Sie das Entgegengesetzte behaupten ...« Er ließ dieses zweite Thema fallen, um zu einem dritten überzugehen. »Da
ist
auch
noch
der
Präfekt
des
Departements DeuxSèvres, man ist sehr unzufrieden mit ihm, wie mir versichert wurde. Er soll da unten alles in Unordnung gebracht haben. Außerdem soll er der Sohn eines ehemaligen Gerichtsvollziehers sein, über dessen wunderliches Benehmen das ganze Departement rede ... Herr Du Poizat ist Ihr Freund, glaube ich?« »Einer meiner guten Freunde, Sire.« Und da sich der Kaiser erhoben hatte, stand Rougon ebenfalls auf. Der Kaiser ging bis an ein Fenster, kam dann, leichte Rauchfäden ausblasend, zurück. »Sie haben viele Freunde, Herr Rougon«, bemerkte er verschlagen. »Ja, Sire, viele!« antwortete der Minister geradeheraus. Bis dahin hatte der Kaiser offenbar den Klatsch des Schlosses wiederholt, die Beschuldigungen, die von Personen seiner
Umgebung vorgebracht wurden. Doch er mußte wohl auch von anderen Geschichten wissen, von Tatsachen, die dem Hof unbekannt waren, über die ihn seine Privatagenten unterrichtet hatten und denen er ein viel stärkeres Interesse entgegenbrachte; er liebte die Bespitzelung, die ganze unterirdische Arbeit der Polizei sehr. Einen Augenblick lang sah er, ein vages Lächeln im Gesicht, Rougon an; dann sagte er in vertraulichem Ton, wie ein Mann, der sich über etwas lustig macht: »Oh, ich bin gut unterrichtet, besser als mir lieb ist ... Sehen Sie, eine andere kleine Tatsache. Sie haben da einen jungen Mann, den Sohn eines Obersts, in Ihren Büros angestellt, obwohl er kein Abiturientenzeugnis vorweisen konnte. Das fällt nicht ins Gewicht, ich weiß. Aber Sie haben keine Ahnung, wieviel Staub so etwas aufwirbelt! – Man verstimmt alle Welt mit solchen Dummheiten. Das ist sehr schlechte Politik.«
Rougon erwiderte nichts. Seine Majestät war noch nicht fertig. Er öffnete die Lippen, suchte nach einer Wendung; aber was er zu sagen hatte, schien ihn verlegen zu machen, denn er zögerte einen Augenblick lang, sich so weit herabzulassen. Schließlich stammelte er: »Ich will nicht von diesem Türhüter mit Ihnen sprechen, einem Ihrer Schützlinge, einem Mann namens Merle, nicht wahr? Er betrinkt sich, er ist unverschämt, das Publikum und die Angestellten beschweren sich darüber ... All das ist sehr ärgerlich, sehr ärgerlich.« Dann hob er die Stimme, erklärte jäh abschließend: »Sie haben zu viele Freunde, Herr Rougon. All diese Leute schädigen Sie. Man würde Ihnen einen Dienst erweisen, wenn man Sie mit ihnen entzweite ... Nun gut, erlauben Sie mir, Herrn Du Poizat abzusetzen, und versprechen Sie mir, die anderen aufzugeben.« Rougon war völlig beherrscht geblieben. Er
verbeugte sich, sagte in sehr ernstem Ton: »Sire, ich ersuche Euer Majestät im Gegenteil um das Offiziersband der Ehrenlegion für den Präfekten des Departements DeuxSèvres ... Ich möchte auch noch um andere Gunstbezeigungen bitten ...« Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und fuhr fort: »Herr Béjuin erbittet sich als Gnade von Euer Majestät einen Besuch der Kristallfabrik von SaintFlorent, wenn Euer Majestät nach Bourges fahren ... Oberst Jobelin wünscht sich eine Stellung in den kaiserlichen Schlössern ... Der Türhüter Merle erinnert daran, daß er die Militärmedaille erhalten hat, und hätte gern einen Tabakladen für eine seiner Schwestern ...« »Ist das alles?« fragte der Kaiser, der wieder zu lächeln begonnen hatte, »Sie sind ein heldenhafter Anwalt Ihrer Freunde. Die müssen Sie ja anbeten.« »Nein, Sire, sie beten mich nicht an, sie halten
mich aufrecht«, entgegnete Rougon mit seiner rücksichtslosen Offenheit. Dieser Ausspruch schien großen Eindruck auf den Herrscher zu machen. Rougon hatte soeben das ganze Geheimnis seiner Treue verraten; sobald er seinen Kredit nicht ausnützte, war es um diesen geschehen; und trotz dem Skandal, trotz der Unzufriedenheit und dem Verrat seiner Clique hatte er nur sie, konnte sich nur auf sie stützen, sah sich dazu verdammt, dafür zu sorgen, daß es ihr gut ging, wenn es ihm selber gut gehen sollte. Je mehr er für seine Freunde erreichte, je riesiger und unverdienter die Gunstbeweise wirkten, desto stärker war er. Ehrerbietig und mit deutlicher Absicht fügte er hinzu: »Ich wünsche von ganzem Herzen, daß Euer Majestät um der Größe Ihrer Herrschaft willen lange die ergebenen Diener um sich behalten, die Euer Majestät geholfen haben, das Kaiserreich wiederherzustellen.«
Der Kaiser lächelte nicht mehr. Mit trüben Augen, in Nachsinnen versunken, machte er ein paar Schritte, und er schien blaß geworden zu sein, von einem Schauder angerührt. Seiner rätselhaften Natur drängten sich die Vorgefühle mit außerordentlicher Gewalt auf. Er brach die Unterhaltung ab, um einer Entscheidung auszuweichen, und verschob die Verwirklichung seines Beschlusses auf später. Von neuem zeigte er sich sehr herzlich. Sogar als er auf die Auseinandersetzung zurückkam, die im Rat stattgefunden hatte, schien er jetzt, da er sprechen konnte, ohne sich festzulegen, Rougon recht zu geben. Das Land sei bestimmt noch nicht reif für die Freiheit. Noch lange müsse eine energische Hand für einen entschlossenen, von aller Schwäche freien Fortgang der Dinge sorgen. Und zum Abschluß versicherte er den Minister aufs neue seines ganzen Vertrauens; er gab ihm volle Handlungsfreiheit, er bestätigte all seine früheren Instruktionen. Rougon jedoch meinte,
weiter in ihn dringen zu müssen. »Sire«, sagte er, »ich könnte es nicht ertragen, der Willkür böswilligen Geredes ausgeliefert zu sein, ich muß wissen, daß meine Stellung von Dauer ist, wenn ich die schwere Aufgabe erfüllen soll, für die ich mich heute verantwortlich fühle.« »Herr Rougon«, erwiderte der Kaiser, »gehen Sie ohne Furcht vor, ich bin mit Ihnen.« Und er brach die Unterhaltung ab und ging, von dem Minister gefolgt, auf die Tür des Arbeitszimmers zu. Sie verließen es und durchschritten mehrere Räume, um in den Speisesaal zu gelangen. Aber als sie gerade dort eintreten wollten, wandte sich der Kaiser um und führte Rougon in die Ecke einer Galerie. »Sie billigen also«, fragte er mit matter Stimme, »das System der Adelsverleihung nicht, das der Herr Justizminister
vorgeschlagen hat? Ich hätte sehr gewünscht, Sie diesem Projekt geneigt zu sehen. Befassen Sie sich eingehend mit dieser Frage.« Dann fügte er, ohne eine Antwort abzuwarten, auf seine still eigensinnige Weise hinzu: »Es eilt nicht. Ich werde warten. Zehn Jahre lang, wenn es sein muß.« Nach dem Frühstück, das kaum eine halbe Stunde dauerte, gingen die Minister in einen anstoßenden kleinen Salon hinüber, wo der Kaffee serviert wurde. Dort standen sie noch ein Weilchen um den Kaiser herum und unterhielten sich. Clorinde, die von der Kaiserin ebenfalls dabehalten worden war, kam mit dem selbstsicheren Benehmen einer Frau, die in den Kreisen von Politikern eine Rolle spielt, ihren Mann abholen. Sie streckte mehreren der Herren die Hand hin. Alle waren äußerst zuvorkommend, die Unterhaltung schlug andere Bahnen ein. Aber Seine Majestät war so galant zu der jungen Frau, trat
bald mit vorgestrecktem Hals und heimlichen Blicken so dicht an sie heran, daß die Exzellenzen es für vom Takt geboten hielten, sich allmählich zu entfernen. Vier, dann noch drei gingen durch eine Glastür auf die Schloßterrasse hinaus. Nur zwei blieben zur Wahrung des Anstandes im Salon zurück. Der Staatsminister hatte seiner hochmütigen Edelmannsmiene einen leutseligen Ausdruck verliehen und Delestang diensteifrig weggeführt; von der Terrasse aus zeigte er ihm das ferne Paris. Auch Rougon versenkte sich, in der Sonne stehend, in den Anblick der großen Stadt, die gleich einer bläulichen, wirr geballten Wolkenmasse jenseits des ungeheuer großen grünen Teppichs des Bois de Boulogne den Horizont abschloß. Clorinde war an diesem Vormittag sehr schön. Wie immer geschmacklos angezogen, ließ sie ihr Seidenkleid von hellem Kirschrot schleppen; sie hatte anscheinend unter dem Stachel irgendeiner Begierde das Anziehen in
größter Eile besorgt. Sie lachte, während ihre Arme schlaff herunterhingen. Ihr ganzer Körper bot sich an. Auf einem Ball im Marineministerium, wohin sie als Herzdame gegangen war, mit Diamantherzen an Hals, Handgelenken und Knien, hatte sie den Kaiser erobert; und seit jenem Abend schien sie seine Freundin zu bleiben und jedesmal nur zu scherzen, wenn Seine Majestät geruhte, sie schön zu finden. »Sehen Sie mal, Herr Delestang«, sagte auf der Terrasse der Staatsminister zu seinem Kollegen, »die Kuppel des Pantheon dort unten links ist von einem außerordentlich zarten Blau.« Während sich der Gatte in Bewunderung erging, versuchte der Minister durch die offengebliebene Glastür neugierige Blicke in den kleinen Salon zu werfen. Der Kaiser sprach vornübergebeugt in das Gesicht der jungen Frau, die sich laut lachend zurückbog,
wie um ihm zu entgehen. Man sah nur das halb abgewandte Profil Seiner Majestät, ein sehr langes Ohr, eine große rote Nase, einen dicken Mund, der sich unter dem Zittern des Schnurrbarts verlor; und die fliehende Fläche der Backe, der kaum sichtbare Augenwinkel glühten vor Lüsternheit, vor sinnlicher Gier eines Mannes, den der Duft der Frau berauscht. Clorinde, aufreizend verführerisch, lehnte mit einem unmerklichen Wiegen des Kopfes ab, wobei sie gleichzeitig bei jedem Lachen die so kunstvoll entflammte Begierde mit dem Hauch ihres Atems schürte. Als die Exzellenzen in den Salon zurückkehrten, stand die junge Frau auf und sagte, ohne daß man wissen konnte, worauf sie antwortete: »O Sire, verlassen Sie sich nicht darauf, ich bin eigensinnig wie ein Maultier.« Rougon fuhr trotz des vorangegangenen Streits mit Delestang gemeinsam mit ihm und
Clorinde nach Paris zurück. Diese schien Frieden mit ihm machen zu wollen. Sie war jetzt nicht mehr von jener nervösen Unruhe, die sie zu unerquicklichen Gesprächsthemen trieb; zuweilen sah sie ihn sogar mit einer Art lächelnden Mitleids an. Als der Landauer in dem ganz in Sonne getauchten Bois langsam am Seeufer entlangrollte, lehnte sie sich mit einem Seufzer des Behagens zurück: »Ach, ist das heute ein schöner Tag!« Dann fragte sie, nachdem sie einen Augenblick lang wie träumend dagesessen hatte, ihren Gatten: »Sag mal, ist deine Schwester, Frau de Combelot, noch immer in den Kaiser verliebt?« »Henriette ist verrückt!« erwiderte Delestang und zuckte mit den Achseln. Rougon berichtete Näheres. »Ja, ja, noch immer«, sagte er. »Man erzählt sich, sie habe sich eines Abends Seiner
Majestät zu Füßen geworfen ... Er habe sie aufgehoben und ihr geraten, sie solle warten ...« »Ganz richtig, sie kann warten!« rief Clorinde heiter. »Es werden andere vor ihr drankommen.«
Kapitel XII In Clorinde entfalteten sich zu jener Zeit Absonderlichkeit und Macht zu voller Blüte. Sie blieb das überspannte erwachsene Mädchen, das auf einem Mietspferd ganz Paris abgeklappert hatte, um einen Ehemann zu erobern, aber das zur Frau gewordene Mädchen mit breiterer Büste und festen Hüften, das gelassen die ungewöhnlichsten Handlungen vollführte und den so lange gehegten Traum, eine Macht zu sein, verwirklicht hatte. Ihre endlosen Gänge in
abgelegenen Stadtvierteln, ihre Korrespondenz, die Frankreich und Italien von einem Ende bis zum anderen mit Briefen überschwemmte, ihre fortgesetzte Berührung mit politischen Persönlichkeiten, in deren Vertrauen sie sich einschlich, diese ganze verworrene und lückenhafte Betriebsamkeit ohne logisches Ziel hatte schließlich zu einem tatsächlich unbestreitbaren Einfluß geführt. Immer noch gab sie bei ernsthaften Gesprächen Ungeheuerlichkeiten von sich, verrückte Pläne, phantastische Hoffnungen; stets schleppte sie ihre riesengroße, zum Bersten vollgestopfte, mit Bindfaden zusammengehaltene Aktentasche mit, trug sie in den Armen wie ein Wickelkind, so von ihrer Wichtigkeit durchdrungen, daß die Vorübergehenden lächelten, wenn sie sie so in langen schmutzigen Böcken vorbeikommen sahen. Dennoch suchte man ihren Rat, fürchtete sie sogar. Niemand hätte zu sagen vermocht, woher sie ihre Macht bezog; es gab
da ganz verschiedene, unsichtbar gewordene, entlegene Quellen, die schwer aufzuspüren waren. Man kannte höchstens Bruchstücke von Geschichten, Anekdoten, die man einander zuraunte. Die Gesamtheit dieser seltsamen Erscheinung aber, eine aus allen Fugen geratene Phantasie, ein gesunder Menschenverstand, auf den sie hörte und dem sie folgte, ein prachtvoller Körper, in dem vielleicht das einzige Geheimnis ihrer Vorrangstellung beschlossen war, blieb unverständlich. Übrigens kam es auf die Hintergründe von Clorindes Glück wenig an. Es genügte, daß sie regierte, wenn auch als abenteuerliche Regentin. Man beugte sich ihr. Es war eine Epoche des Herrschens für die junge Frau. In ihrem Ankleidezimmer, wo schlecht ausgewischte Waschschüsseln herumstanden, versammelte sie die ganze politische Welt der Höfe Europas um sich. Ohne daß man dahinterkam, auf welchem Wege, erhielt sie die Nachrichten früher als die
Gesandtschaften, ins einzelne gehende Berichte, darin die geringsten Pulsschwankungen der Regierungen angekündigt wurden. Daher hatte sie einen Hofstaat – Bankiers, Diplomaten, Vertraute, die zu ihr kamen, um zu versuchen, sie auszuholen. Die Bankiers vor allem machten ihr sehr den Hof. Einem von ihnen hatte sie lediglich durch die vertrauliche Mitteilung einer Veränderung im Ministerium eines Nachbarstaates dazu verholten, auf einen Schlag etwa hundert Millionen zu verdienen. Sie hielt diese Schachergelüste der niedrigen Politik für unter ihrer Würde; sie erzählte alles, was sie wußte, den diplomatischen Klatsch und das internationale Geschwätz der Hauptstädte, einzig um des Vergnügens willen, zu reden und zu zeigen, daß sie alles zugleich überwachte, Turin, Wien, Madrid, London, sogar Berlin und Sankt Petersburg; da ergoß sich dann ein unversieglicher Strom von Auskünften über das Befinden der Könige,
ihre Liebschaften, ihre Gewohnheiten, über das politische Personal eines Landes, über die Chronique scandaleuse97 des kleinsten deutschen Herzogtums. Sie urteilte mit einem einzigen Satz die Staatsmänner ab, sprang ohne Übergang vom Norden zum Süden, brachte mit einem nachlässigen Antippen ihrer Fingerspitzen Königreiche durcheinander, fühlte sich in diesen Dingen wie zu Hause, als hätte die weite Erde mit ihren Städten, ihren Völkern in einer Spielzeugschachtel Platz, deren Papphäuschen und Biedermänner aus Holz sie je nach Laune aufstellen könnte. Verstummte sie dann, todmüde von dem Gewäsch, so schnalzte sie mit Daumen und Mittelfinger, eine Geste, die ihr zur Gewohnheit geworden war und die besagen sollte, daß das alles bestimmt weniger wert sei als das leichte Geräusch, das ihre Finger hervorbrachten. Für den Augenblick befaßte sie sich inmitten des Wirrwarrs ihrer vielfältigen
Beschäftigungen vor allem leidenschaftlich mit einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, wovon nicht zu reden sie sich zwar bemühte, ohne sich jedoch die Freude gewisser Anspielungen versagen zu können. Sie wollte Venedig haben. Wenn sie von dem großen italienischen Minister sprach, sagte sie in familiärem Ton »Cavour98«. Sie fügte hinzu: »Cavour wollte nicht, aber ich habe gewollt, und er hat es verstanden.« Sie schloß sich morgens und abends mit dem Cavaliere Rusconi in der Botschaft ein. Im übrigen ging »die Sache« jetzt sehr gut vorwärts. Und in aller Ruhe sprach sie, ihre beschränkte Göttinnenstirn zurücklehnend, in einer Art von Somnambulismus, ließ Satzbrocken fallen, zwischen denen keinerlei Zusammenhang bestand, bruchstückhafte Geständnisse: über eine heimliche Zusammenkunft zwischen dem Kaiser und einem ausländischen Staatsmann, über den Plan eines Bündnisvertrages, bei dem man sich
über einige Artikel noch streite, über einen Krieg im nächsten Frühjahr. An anderen Tagen war sie wie rasend, versetzte den Stühlen in ihrem Schlafzimmer Fußtritte, fuhrwerkte mit den Schüsseln in ihrem Ankleideraum herum, daß sie fast zerbrachen; sie tobte wie eine von einfältigen Ministern verratene Königin, die es mit ihrem Königreich immer schlimmer werden sieht. An solchen Tagen streckte sie mit tragischer Gebärde, die Faust geballt, ihren nackten und prachtvollen Arm gen Südosten, nach Italien zu, aus und wiederholte: »Ah, wenn ich dort unten wäre, würden sie nicht so viele Dummheiten machen!« Die Sorgen der hohen Politik hinderten Clorinde nicht daran, zur gleichen Zeit Geschäfte aller Art zu betreiben, in denen sie sich schließlich selber nicht mehr zurechtzufinden schien. Man sah sie, wenn man zu ihr kam, oft auf ihrem Bett sitzen, wo sie ihre riesige Aktentasche mitten auf die
Bettdecke entleert hatte und, weinend vor Wut, wie eine Irre bis zu den Ellbogen in einem Wust von Schriftstücken wühlte; sie kannte sich nicht mehr aus in dieser wirren Menge fliegender Blätter, oder sie suchte wohl auch irgendein verlegtes Aktenbündel, das sie schließlich hinter einem Möbelstück entdeckte, zwischen ihren alten Stiefeletten, bei ihrer schmutzigen Wäsche. Wenn sie aus dem Hause ging, um irgendeine Angelegenheit zu Ende zu bringen, nahm sie unterwegs zwei bis drei andere Unternehmungen in Angriff. Ihre Maßnahmen wurden immer verwickelter, sie lebte in einer ständigen Aufregung, überließ sich einem Wirbel von Einbildungen und Tatsächlichem, unter sich Abgründe und unerforschliche Verwicklungen unbekannter Intrigen. Wenn sie abends, die Beine wie zerschlagen vom vielen Treppensteigen, nach ganzen Tagen des Umherlaufens durch Paris heimkehrte und in den Falten ihrer Röcke die undefinierbaren Gerüche all der Milieus
mitbrachte, die sie gerade durchschritten hatte, so würde niemand es gewagt haben, auch nur die Hälfte der Dinge zu vermuten, die sie an allen Enden der Stadt getrieben hatte; und fragte man sie danach, so lachte sie, sie wußte es manchmal selber nicht mehr. Um diese Zeit hatte sie den erstaunlichen Einfall, sich in einem Separatzimmer eines der großen Boulevardrestaurants niederzulassen. Das Palais in der Rue de Colisée sei so abgelegen, sagte sie, sie wolle ein Quartier an einem zentral gelegenen Ort haben; und sie machte aus dem Separatzimmer ihr Büro. Zwei Monate lang empfing sie dort, von den Kellnern bedient, die die höchstgestellten Persönlichkeiten zu ihr zu führen hatten. Hohe Beamte, Gesandte, Minister erschienen in dem Restaurant. Clorinde, die sich dabei sehr wohl fühlte, ließ sie auf dem von den letzten Soupeusen99 des Karnevals tief eingesessenen Diwan Platz nehmen und blieb selber am Tisch stehen, dessen Decke niemals
abgenommen wurde und mit Brotkrumen bestreut, mit Papieren überhäuft war. Sie kampierte wie ein General. Als sie eines Tages von einem Unwohlsein befallen wurde, war sie in aller Ruhe nach oben gegangen und hatte sich in einem Zimmer unter dem Dach hingelegt, dem Zimmer des Oberkellners, der sie zu bedienen pflegte, ein großer brauner Bursche, von dem sie sich umarmen ließ. Erst am späten Abend, gegen Mitternacht, hatte sie es für gut befunden, sich nach Hause zu begeben. Delestang war trotz allem ein glücklicher Mann. Er schien von den Überspanntheiten seiner Frau nichts zu wissen. Sie beherrschte ihn jetzt völlig und bediente sich seiner nach ihrem Gefallen, ohne daß er sich auch nur zu murren erlaubt hätte. Seine Veranlagung prädisponierte ihn von vornherein zu solcher Sklaverei. Er befand sich zu wohl bei dem geheimen Verzicht auf eigenen Willen, um jemals eine Auflehnung zu versuchen. Zu
Hause erwies er ihr an Tagen, an denen sie eingewilligt hatte, ihn bei sich zu dulden, morgens beim Ankleiden kleine Hilfeleistungen, suchte überall unter den Möbeln nach den verlegten und nicht zusammengehörigen Stiefelchen, durchwühlte die ganze Wäsche in einem Schrank, bis er ein Hemd ohne Löcher fand. Es genügte ihm, vor der Welt die Haltung eines lächelnden und überlegenen Mannes zu bewahren. Man begegnete ihm fast mit Hochachtung, weil er immer mit so heiterer Zufriedenheit und der Miene eines zärtlichen Beschützers von seiner Frau sprach. Clorinde, zur unumschränkten Gebieterin geworden, war darauf verfallen, ihre Mutter aus Turin zurückkommen zu lassen; sie wünschte, daß die Gräfin Balbi künftighin jedes Jahr sechs Monate bei ihr verbringe. Da gab es dann einen plötzlichen Ausbruch von Tochterliebe. Sie stellte ein ganzes Stockwerk des Palais auf den Kopf, um die alte Dame so
nahe wie möglich bei ihren eigenen Räumen unterzubringen. Sie ließ sogar eine Verbindungstür schaffen, die von ihrem Ankleideraum in das Schlafzimmer der Mutter führte. Besonders in Gegenwart von Rougon stellte sie ihre Zuneigung mit italienischer Übertreibung an kosenden Ausdrücken zur Schau. Wie habe sie sich nur je darein finden können, so lange von der Gräfin getrennt zu leben, von ihr, die sie vor ihrer Heirat niemals auch nur eine Stunde lang verlassen hatte! Sie klagte sich der Hartherzigkeit an. Aber es sei nicht ihre Schuld, sie habe sich Ratschlägen fügen müssen, angeblichen Notwendigkeiten, die sie noch jetzt nicht begreife. Rougon verzog bei dieser Rebellion keine Miene. Er gab, ihr keine Verhaltensmaßregeln mehr, versuchte nicht mehr, aus ihr eine der vornehmen Damen von Paris zu machen. Einstmals, als ihm das Fieber seines Müßiggangs das Blut erhitzte und in seinen Gliedern wie bei einem untätigen Ringkämpfer
die Begierden weckte, vermochte sie die Leere seiner Tage auszufüllen. Heute, mitten in der Schlacht, dachte er kaum an diese Dinge; seine geringe Sinnlichkeit wurde durch seine täglich vierzehnstündige Arbeit aufgezehrt. Er begegnete Clorinde nach wie vor mit Wohlwollen, mit jenem Anflug von Geringschätzung, wie er sie Frauen für gewöhnlich zu bezeigen pflegte. Dennoch besuchte er sie von Zeit zu Zeit, die Augen gleichsam glänzend von einem Wiedererwachen der früheren, noch immer ungestillten Leidenschaft. Sie blieb sein Laster, das einzige Geschöpf, das seine Sinne beunruhigte. Seit Rougon im Ministerium wohnte und seine Freunde Klage darüber führten, daß sie nicht mehr vertraulich mit ihm zusammentreffen konnten, war Clorinde auf den Gedanken gekommen, die Clique bei sich zu empfangen. Nach und nach wurde das zur Gewohnheit. Um deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß
die Abendgesellschaften bei ihr an die Stelle der Zusammenkünfte in der Rue Marbeuf getreten waren, wählte sie ebenfalls den Sonntag und den Donnerstag. Nur daß man in der Rue du Colisée bis ein Uhr morgens blieb. Da Delestang aus Angst vor Fettflecken noch immer die Schlüssel zum großen Salon abzog, empfing sie in ihrem Boudoir. Weil dieses sich als reichlich klein herausstellte, ließ sie ihr Schlafzimmer und ihren Ankleideraum offen, mit dem Erfolg, daß man sich meistens im Schlafzimmer mitten zwischen herumliegendem Kram zusammenpferchte. An den Donnerstagen und Sonntagen war es Clorindes größte Sorge, früh genug nach Hause zu kommen, um in Eile zu essen und ihre Gäste zu empfangen. Das verhinderte nicht, daß sie trotz allen Gedächtnisanstrengungen die Eingeladenen zweimal vollständig vergaß und höchst erstaunt dastand, als sie, nach Mitternacht heimkehrend, so viele Leute um ihr Bett
versammelt fand. An einem Donnerstag Ende Mai kam sie ganz ausnahmsweise gegen fünf Uhr nach Hause; sie war zu Fuß weggegangen und hinter dem Place de la Concorde von einem Platzregen überrascht worden, konnte sich aber nicht darein schicken, dreißig Sou für eine Droschke bezahlen zu sollen, um die ChampsElysées hinaufzufahren. Völlig durchnäßt, ging sie unverzüglich in ihr Ankleidezimmer, wo ihre Kammerfrau Antonia, den Mund von einer Marmeladenschnitte verschmiert, sie mit schallendem Gelächter über das Getröpfel aus ihren Röcken, von denen das Wasser auf den Parkettboden troff, entkleidete. »Es ist ein Herr da«, meldete Antonia schließlich, als sie sich auf den Boden gesetzt hatte, um der jungen Frau die Stiefelchen auszuziehen. »Er wartet seit einer Stunde.« Clorinde fragte sie, was für ein Herr das sei. Da blieb die Kammerfrau, schlecht gekämmt
und in einem Kleid voller Fettflecken, auf dem Fußboden hocken und zeigte die weißen Zähne in ihrem braunen Gesicht. Der Herr sei dick, blaß und von strengem Aussehen. »Ach ja, Herr de Reuthlinguer, der Bankier!« rief die junge Frau aus. »Es stimmt, er sollte um vier Uhr kommen. Je nun, mag er warten ... Sie bereiten mir ein Bad, nicht wahr?« Und sie streckte sich gelassen in der hinter einem Vorhang im Hintergrund des Ankleidezimmers verborgenen Badewanne aus. Dort las sie die während ihrer Abwesenheit eingetroffenen Briefe. Nach Verlauf einer guten halben Stunde erschien Antonia, die seit einigen Minuten verschwunden gewesen war, wieder und murmelte: »Der Herr hat die gnädige Frau nach Hause kommen sehen. Er möchte Sie gern sprechen.« »Ja, so, ich vergaß ihn, den Baron!« sagte
Clorinde, die in der Badewanne aufstand. »Ziehen Sie mich jetzt an.« Aber sie hatte an diesem Abend ganz ausgefallene Launen hinsichtlich ihrer Toilette. Bei aller Vernachlässigung ihrer Person wurde sie zuweilen so von einem Anfall abgöttischer Liebe für ihren Körper erfaßt. Dann sann sie, nackt vor dem Spiegel stehend, auf eine raffinierte Verschönerung, ließ sich die Glieder mit Salben einreiben, mit Balsamen, aromatischen Ölen, die, wie sie sagte, ihr allein bekannt und von einem ihr befreundeten italienischen Diplomaten in Konstantinopel bei dem Parfümeriehändler des Serails gekauft worden seien. Und während Antonia sie einrieb, bewahrte sie die Haltung einer Statue. Das sollte ihr eine weiße Haut verschaffen, glatt und unvergänglich wie Marmor; ein bestimmtes Öl vor allem, davon sie selber die Tropfen auf einen Flanellbausch zählte, sollte die wunderbare Eigenschaft haben, unverzüglich auch die geringsten Falten
zum Verschwinden zu bringen. Dann widmete sie sich einer peinlich genauen Prüfung ihrer Hände und Füße. Sie hätte einen ganzen Tag mit Selbstvergötterung zubringen können. Dennoch fiel ihr nach Verlauf von drei Viertelstunden, als Antonia ihr ein Hemd und einen Unterrock übergezogen hatte, plötzlich der Wartende ein. »Da ist ja noch der Baron! – Ach, das tut mir aber leid, lassen Sie ihn hereinkommen! Er weiß genau, wie eine Frau aussieht.« Über zwei Stunden schon saß Herr de Reuthlinguer geduldig wartend, die Hände auf den Knien gefaltet, im Boudoir. Seit einiger Zeit antichambrierte der Bankier, ein bleicher und kalter Mann von puritanischen Sitten, Besitzer eines der größten Vermögen Europas, bis zu zwei, dreimal in der Woche bei Clorinde. Er zog sie sogar in sein Heim, diese züchtige und von einer eisigen Strenge durchwehte Häuslichkeit, wo der nachlässige
Aufzug der jungen Frau die Dienerschaft in Bestürzung versetzte. »Guten Tag, Baron!« rief sie. »Ich werde gerade frisiert, schauen Sie nicht her.« Sie saß halbnackt da, das Hemd war ihr von den Schultern geglitten. Die blassen Lippen des Barons verzogen sich zu einem nachsichtigen Lächeln, und er stellte sich neben sie, die Augen kalt und klar, und verbeugte sich zu einer Begrüßung von äußerster Höflichkeit. »Sie kommen der Nachrichten wegen, nicht wahr? – Ich habe gerade etwas erfahren.« Sie erhob sich, schickte Antonia hinaus, die den Kamin in ihrem Haar steckenließ. Zweifellos befürchtete sie doch noch, gehört zu werden, denn sie reckte sich auf, legte eine Hand auf die Schulter des Bankiers, sprach ihm ins Ohr. Der Bankier hatte, während er ihr zuhörte, die Augen auf ihren Busen geheftet,
der sich ihm entgegenhob; aber er sah ihn bestimmt nicht, er schüttelte heftig den Kopf. »So!« schloß sie mit lauter Stimme. »Danach können Sie sich jetzt richten.« Er nahm sie noch beim Arm und zog sie an sich heran, um einige Erklärungen von ihr zu erbitten. Einem seiner Schreiber gegenüber würde er sich nicht unbefangener gefühlt haben. Als er sich verabschiedete, lud er sie ein, am nächsten Tag zum Diner zu kommen; seine Frau erwarte sie bereits mit Ungeduld. Sie begleitete ihn bis an die Tür. Aber plötzlich verschränkte sie, ganz rot geworden, die Arme über der Brust und rief: »O je, so gehe ich mit Ihnen hinaus!« Dann stieß sie Antonia herum. Dieses Frauenzimmer wurde niemals fertig! Und sie ließ ihr kaum Zeit, ihr das Haar zu machen, sagte, sie schätze es nicht, so beim Ankleiden zu trödeln. Der Jahreszeit ungeachtet wollte sie ein langes Gewand aus schwarzem Samt
anlegen, eine Art faltigen Kittel, den eine rote Seidenschnur in der Taille zusammenhielt. Zweimal bereits war jemand heraufgekommen, um der gnädigen Frau zu melden, daß das Diner angerichtet sei. Aber als sie durch ihr Schlafzimmer ging, fand sie dort drei Herren vor, von deren Anwesenheit an diesem Ort niemand etwas ahnte. Es waren die drei politischen Flüchtlinge, die Herren Brambilla, Staderino und Viscardi. Sie schien nicht im geringsten erstaunt, sie hier anzutreffen. »Warten Sie schon lange auf mich?« fragte sie. »Ja, ja«, antworteten die Herren, langsam den Kopf wiegend. Sie waren noch vor dem Bankier gekommen. Und als unglückliche Geschöpfe, die durch politisches Mißgeschick zu schweigsamen und mit Bedacht handelnden Leuten geworden waren, hatten sie nicht das kleinste Geräusch gemacht. Nebeneinander auf derselben
Chaiselongue sitzend, kauten sie, alle drei in der gleichen Haltung zurückgelehnt, auf dicken erloschenen Zigarren. Jetzt aber hatten sie sich erhoben, sie stellten sich dicht um Clorinde. Dann erfolgte mit leisen Stimmen ein rasches Gestammel italienischer Silben, Sie schien ihnen Verhaltungsmaßregeln zu geben. Einer schrieb chiffrierte Notizen in ein Merkbuch, indes die anderen, offenbar sehr aufgeregt durch das, was sie hörten, mit ihren behandschuhten Fingern leise Ausrufe erstickten. Dann gingen sie alle drei mit undurchdringlichem Gesicht im Gänsemarsch davon. An diesem Donnerstag sollte eine Besprechung stattfinden, eine Besprechung zwischen mehreren Ministern in einer schwerwiegenden Angelegenheit, einem Streit über eine lebenswichtige Frage. Delestang versprach Clorinde, als er nach dem Diner fortging, Rougon mitzubringen, und sie verzog das Gesicht, als wolle sie zu verstehen geben,
daß sie keinen besonderen Wert darauf lege, ihn zu sehen. Sie standen noch nicht auf gespanntem Fuß miteinander, aber sie trug ihm gegenüber eine wachsende Kälte zur Schau. Gegen neun Uhr kamen als erste Herr Kahn und Herr Béjuin, denen in kurzem Abstand Frau Correur folgte. Sie fanden Clorinde in ihrem Schlafzimmer auf einer Chaiselongue ausgestreckt. Sie klagte über eines jener unbekannten und seltsamen Leiden, die sie plötzlich von einer Stunde zur anderen zu befallen pflegten; dieses Mal meinte sie, sie habe wohl beim Trinken eine Fliege verschluckt; sie fühle, wie das Tier in ihrem Magen herumfliege. In ihren weiten Kittel aus schwarzem Samt gehüllt, den Oberkörper von drei Kopfkissen gestützt, war sie von königlicher Schönheit; mit ihrem weißen Gesicht, den nackten Armen glich sie einer jener liegenden Figuren, die an Denkmäler gelehnt träumen. Ihr zu Füßen zupfte Luigi Pozzo sacht die Saiten einer Gitarre; er war der
Malerei untreu Musik.
geworden zugunsten
der
»Sie setzen sich, nicht wahr?« murmelte sie. »Sie entschuldigen mich. Es ist, ich weiß nicht wie, ein Tier in mich hineingeraten ...« Pozzo fuhr fort, seine Gitarre zu zupfen, und sang dabei ganz leise, mit verzücktem Gesicht in irgendeine Betrachtung versunken. Frau Correur rollte einen Sessel dicht zu der jungen Frau heran. Herr Kahn und Herr Béjuin fanden schließlich leere Stühle. Es war nicht so einfach, sich zu setzen, die fünf oder sechs Sitzgelegenheiten des Zimmers verschwanden unter Haufen von Unterröcken. Als fünf Minuten später Oberst Jobelin und sein Sohn Auguste erschienen, mußten sie stehen bleiben. »Kleiner«, bat Clorinde Auguste, den sie trotz seiner siebzehn Jahre noch immer duzte, »hole doch zwei Stühle aus dem Ankleidezimmer.«
Es waren Rohrstühle, deren Lack ganz abgesprungen war, weil ständig feuchte Tücher über den Lehnen hingen. Eine einzige Lampe mit einem Schirm aus rosenfarbener Papierspitze erhellte das Zimmer; eine andere hatte man ins Ankleidezimmer gestellt und eine dritte ins Boudoir, durch dessen weit offene Türen man dämmrige Tiefen sah, verschwimmende Räume, in denen Nachtlichte zu brennen schienen. Das Schlafzimmer selber, einst von zarter Malvenfarbe, heute in schmutziges Grau übergegangen, war wie von einem schwebenden Brodem erfüllt; man erkannte zur Not losgerissene Sesselecken, Staubstreifen auf den Möbeln, einen großen Tintenfleck, der sich mitten auf dem Teppich breitmachte, wo ein Tintenfaß hingefallen war und das Parkett bespritzt hatte; die Bettvorhänge im Hintergrund waren zugezogen, zweifellos um die zerwühlten Decken zu verbergen. Und in diesem trüben
Licht stieg ein starker Duft auf, als seien alle Flakons des Ankleidezimmers unverschlossen geblieben. Clorinde weigerte sich selbst bei warmem Wetter hartnäckig, ein Fenster zu öffnen. »Gut riecht's bei Ihnen«, sagte Frau Correur, um ihr etwas Liebenswürdiges zu sagen. »Ich selber rieche gut«, antwortete die junge Frau naiv. Und sie sprach von den Essenzen, die sie direkt vom Parfümeriehändler der Sultaninnen erhalte. Sie hielt Frau Correur einen ihrer bloßen Arme unter die Nase. Ihr schwarzer Samtkittel war etwas verrutscht, ihre Füße, die in roten Pantöffelchen steckten, schauten darunter hervor. Pozzo strich, halb benommen, berauscht von den starken Wohlgerüchen, die von ihr ausströmten, mit leichten Daumenschlägen über die Saiten. Doch nach Verlauf weniger Minuten wandte
sich das Gespräch zwangsläufig Rougon zu, wie es jeden Donnerstag und jeden Sonntag geschah. Die Clique kam einzig zu dem Zweck zusammen, diesen ewigen Gesprächsstoff erschöpfend zu behandeln, in dumpfem, zunehmendem Groll, aus dem Bedürfnis, sich durch endlose gegenseitige Klagen Erleichterung zu verschaffen. Clorinde gab sich nicht einmal mehr die Mühe, sie aufzureizen; sie kamen mit immer neuen Beschwerden, unzufrieden, neidisch, erbittert über alles, was Rougon für sie getan hatte, geradezu von einem heftigen Fieber der Undankbarkeit geplagt. »Haben Sie heute den groben Kerl schon gesehen?« fragte der Oberst. Jetzt war Rougon nicht mehr »der große Mann«. »Nein«, antwortete Clorinde. »Vielleicht sehen wir ihn noch heute abend. Mein Mann hat es sich in den Kopf gesetzt, ihn mitzubringen.« »Ich war heute nachmittag in einem Café, wo
man sehr streng über ihn urteilte«, fing der Oberst nach einer Pause wieder an. »Man versicherte, er stehe auf der Kippe, er werde keine zwei Monate mehr im Amt bleiben.« Herr Kahn machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Ich gebe ihm keine drei Wochen mehr ... Sehen Sie, Rougon ist nicht der richtige Mann für die Regierung; er liebt die Macht zu sehr, er läßt sich berauschen, und dann schlägt er blind drauflos, er herrscht mit Stockschlägen, mit einer empörenden Brutalität ... Kurz, seit fünf Monaten hat er abscheuliche Handlungen begangen ...« »Ja, ja«, unterbrach ihn der Oberst, »alle Arten von Übergriffen, Ungerechtigkeiten, widersinnigen Dingen ... Er treibt Mißbrauch mit seiner Stellung, wirklich, er treibt Mißbrauch.« Frau Correur drehte, ohne zu sprechen, die Finger in der Luft, als wolle sie sagen, Rougon
sei nicht ganz richtig im Kopf. »So ist es«, meinte Herr Kahn, als er die Handbewegung bemerkte. »Dem wackelt schon der Kopf, was?« Und da man Herrn Béjuin ansah, glaubte der, ebenfalls etwas von sich geben zu müssen. »Oh, Rougon ist nicht gescheit«, murmelte er, »ganz und gar nicht gescheit!« Clorinde, den Kopf auf ihre Kissen zurückgelehnt, betrachtete aufmerksam den Lichtkreis, den die Lampe an die Decke warf, und ließ die anderen reden. Als sie schwiegen, sagte sie ihrerseits, um sie anzustacheln: »Ganz gewiß hat er Mißbrauch getrieben, er behauptet jedoch, alles, was man ihm vorwirft, zu dem einzigen Zweck getan zu haben, seinen Freunden gefällig zu sein ... Ich habe also dieser Tage mit ihm darüber gesprochen. Die Dienste, die er Ihnen erwiesen hat ...« »Uns! Uns!« riefen alle vier gleichzeitig
wütend aus. Sie legten gemeinsam los, wollten sofort Einspruch erheben. Aber Herr Kahn schrie am lautesten. »Die Dienste, die er mir erwiesen hat! Der reinste Hohn! – Zwei Jahre habe ich auf meine Konzession warten müssen. Das hat mich zugrunde gerichtet. Die Sache, die ausgezeichnet war, ist sehr schwierig geworden ... Wenn er mich so gern hat, weshalb kommt er mir dann jetzt nicht zu Hilfe? Ich habe ihn gebeten, beim Kaiser ein Gesetz durchzusetzen, das die Fusion meiner Gesellschaft mit der WestbahnGesellschaft genehmigt; er hat mir geantwortet, man müsse abwarten ... Die Dienste Rougons! Ach, die möchte ich sehen! Er hat nie etwas getan, und er kann nichts mehr tun!« »Und ich, und ich«, warf der Oberst ein, durch eine Handbewegung Frau Correur das Wort abschneidend, »und ich, glauben Sie, ich
verdankte ihm etwas? Spricht er vielleicht von dem Rang eines Kommandeurs, der mir seit fünf Jahren zugesagt war? – Er hat Auguste in seine Büros genommen, das ist wahr; aber heute bereue ich das gründlich. Wenn ich Auguste in die Industrie gesteckt hätte, würde er heute schon das Doppelte verdienen ... Dieser Grobian Rougon hat mir gestern erklärt, es könne für Auguste vor Ablauf von achtzehn Monaten keine Gehaltserhöhung geben. Bringt er sich etwa auf diese Weise für seine Freunde um seinen Kredit?« Endlich gelang es Frau Correur, ihr Herz auszuschütten. Sie hatte sich zu Clorinde hinabgebeugt. »Sagen Sie, gnädige Frau, hat er mich nicht erwähnt? Niemals habe ich auch nur so viel von ihm bekommen. Noch nie habe ich etwas von seinen Wohltaten gesehen. Von sich kann er das nicht behaupten, und wenn ich reden wollte ... Ich habe mich für mehrere mir
befreundete Damen mit Bitten an ihn gewandt, das leugne ich nicht, ich bin gern hilfsbereit. Nun wohl, eine Beobachtung habe ich gemacht: alles, was er gewährt, wendet sich zum Schlechten. Seine Gunstbeweise scheinen den Leuten Unglück zu bringen. So dieser armen Herminie Billecoq, einer früheren Schülerin von SaintDenis, die von einem Offizier verführt wurde und für die er eine Mitgift beschafft hat; heute morgen kam sie angelaufen, um mir von einer Katastrophe zu berichten: sie heiratet nicht, der Offizier hat sich aus dem Staube gemacht, nachdem er die Mitgift durchgebracht hatte ... Verstehen Sie recht, immer für die anderen, niemals für mich! Als ich vor einiger Zeit mit meiner Erbschaft aus Coulonges zurückkam, hatte ich mir vorgenommen, ihn von Frau Martineaus Machenschaften in Kenntnis zu setzen. Ich verlangte bei der Teilung das Haus, in dem ich geboren wurde, und diese Frau hat es so eingerichtet, daß sie es behält ... Wissen Sie,
was seine einzige Antwort war? Er hat mir dreimal wiederholt, daß er sich mit dieser üblen Geschichte nicht mehr zu befassen wünsche.« Und auch Herr Béjuin regte sich auf. Er stotterte hervor: »Mir geht's wie der gnädigen Frau ... Ich habe nichts von ihm erbeten, niemals, niemals! Alles, was er tun konnte, geschah ohne mein Zutun, ohne mein Wissen. Daß man nichts sagt, macht er sich zunutze, um einen in seine Gewalt zu bekommen, ja, in seine Gewalt zu bekommen, das ist das richtige Wort ...« Seine Stimme erstarb in einem undeutlichen Gestammel. Und alle vier fuhren fort, den Kopf zu schütteln. Dann fing Herr Kahn wieder mit feierlicher Stimme an: »Die Wahrheit, sehen Sie, sieht so aus: Rougon ist ein Undankbarer. Sie erinnern sich an die Zeit, als wir ganz Paris abklapperten, um ihn ins Ministerium zu bringen. Oh, haben wir uns
etwa nicht genug für seine Sache aufgeopfert, so sehr, daß wir Essen und Trinken darüber vergaßen? In jener Zeit hat er eine Schuld auf sich geladen, zu deren Begleichung sein ganzes Leben nicht ausreichen würde. Bei Gott, heute fällt es ihm sauer, sich erkenntlich zu zeigen, und da läßt er uns fallen. Das mußte so kommen.« »Ja, ja, er verdankt uns alles!« riefen die andern. »Schön belohnt er uns dafür!« Einen Augenblick lang zermalmten sie ihn gleichsam unter der Aufzählung ihrer Wohltaten; wenn einer von ihnen schwieg, erinnerte ein anderer an eine noch belastendere Einzelheit. Dennoch beunruhigte sich der Oberst plötzlich wegen seines Sohnes Auguste; der junge Mann war nicht mehr im Zimmer. In diesem Moment drang ein seltsames Geräusch aus dem Ankleideraum, eine Art leises und anhaltendes Plätschern. Der Oberst beeilte sich nachzusehen, was es da
gäbe, und er fand Auguste angelegentlich mit der Badewanne beschäftigt, die Antonia zu leeren vergessen hatte. Zitronenscheiben, deren Clorinde sich für ihre Nägel bedient hatte, schwammen darin. Auguste tauchte die Finger ins Wasser und beschnupperte sie mit schuljungenhafter Lüsternheit. »Er ist unausstehlich, der Kleine!« bemerkte Clorinde halblaut. »Überall schnüffelt er herum.« »Mein Gott!« fuhr Frau Correur, die nur auf das Hinausgehen des Obersts gewartet zu haben schien, leise fort: »Was Rougon vor allem fehlt, ist Takt ... So hat – unter uns gesagt, während der gute Oberst nicht hier ist – Rougon völlig falsch gehandelt, als er diesen jungen Mann unter Übergehung der Vorschriften ins Ministerium nahm. Solcherart Dienste leistet man seinen Freunden nicht. Man kommt dadurch in Verruf.« Doch Clorinde unterbrach sie, murmelte:
»Liebe Dame, sehen Sie doch bitte nach, was sie da treiben.« Herr Kahn lächelte. Als Frau Correur nicht mehr im Zimmer war, senkte er seinerseits die Stimme. »Sie ist reizend! – Der Oberst ist von Rougon überschüttet worden. Aber wirklich, sie kann sich durchaus nicht beklagen. Rougon hat durch diese ärgerliche MartineauAngelegenheit unbedingt seinem Ruf geschadet. Er hat da sehr wenig Moral bewiesen. Man tötet doch nicht einen Menschen, um einer alten Bekannten gefällig zu sein, nicht wahr?« Er war aufgestanden und wanderte gemächlich umher. Dann ging er ins Vorzimmer, um sein Zigarrenetui aus seinem Überzieher zu holen. Der Oberst und Frau Correur kehrten zurück. »Sieh da, Kahn hat sich davongemacht«, sagte der Oberst.
Und ohne Übergang rief er aus: »Wir anderen mögen auf Rougon loshacken, Kahn aber sollte schweigen, finde ich. Ich mag Leute ohne Herz nicht ... Vorhin wollte ich nicht davon reden. Aber in dem Café, wo ich den Nachmittag verbracht habe, hat man ganz unumwunden gesagt, daß Rougon stürzen werde, weil er seinen Namen für diesen großen Schwindel mit der Eisenbahn von Niort nach Angers hergegeben habe. In diesem Punkt hat man einen guten Riecher! Dieser blöde dicke Mann, der hingeht und Sprengschüsse losgehen läßt und meilenlange Reden hält, wobei er sich sogar erlaubt, die Verantwortlichkeit des Kaisers mit hineinzuziehen! – Sehen Sie, meine lieben Freunde, Kahn ist es, der unseren Karren so tief in den Dreck gefahren hat. Nicht wahr, Béjuin, das ist auch Ihre Meinung?« Herr Béjuin stimmte lebhaft durch Kopfnicken zu. Er hatte schon den Worten Frau Correurs und Herrn Kahns seine volle Zustimmung
erteilt. Clorinde, den Kopf noch immer zurückgelehnt, vergnügte sich damit, auf die Troddel ihrer Gürtelschnur zu beißen, mit der sie sich, wie um sich zu kitzeln, übers Gesicht strich, und sie lächelte mit erstaunten Augen still in die Luft. »Pst!« hauchte sie. Herr Kahn trat wieder ins Zimmer, gerade biß er die Spitze einer Zigarre ab. Er steckte sie an, stieß drei oder vier dicke Rauchwolken aus; man pflegte im Schlafzimmer der jungen Frau zu rauchen. Dann sagte er, an das vorhergegangene Gespräch anknüpfend, zum Abschluß: »Kurz, wenn Rougon behauptet, er habe seine Macht dadurch ins Wanken gebracht, daß er uns gefällig war, so erkläre ich, daß ich uns im Gegenteil durch seine Protektion entsetzlich bloßgestellt finde. Er hat eine brutale Art, die Leute zu fördern, bei der sie sich den Kopf an der Wand einrennen ... Übrigens liegt er trotz seiner Fausthiebe, die
genügen, um einen Ochsen umzubringen, nun wieder am Boden. Danke schön, ich habe keine Lust, ihn ein zweites Mal aufzuheben! Wenn ein Mann sein Ansehen nicht zu wahren weiß, dann kommt das daher, daß er keine klaren Vorstellungen hat. Er kompromittiert uns, verstehen Sie, er kompromittiert uns! – Ich habe, meiner Treu, zu schwere Verantwortungen, ich trenne mich von ihm.« Dennoch war er unschlüssig, seine Stimme wurde matt, während der Oberst und Frau Correur den Kopf senkten, zweifellos damit sie sich nicht ebenso deutlich zu äußern brauchten. Schließlich war Rougon ja noch immer im Ministerium; außerdem mußte man sich, wollte man ihn verlassen, auf einen anderen Allgewaltigen stützen können. »Es gibt noch andere als den groben Kerl«, meinte Clorinde wie nebenbei. Sie sahen sie an, erhofften eine ausdrücklichere Zusicherung. Aber sie machte
nur eine Handbewegung, als wolle sie um ein wenig Geduld bitten. Dieses stillschweigende Versprechen eines ganz neuen Kredits, dessen Segnungen auf sie herabregnen würden, war im Grunde genommen der Hauptanlaß für den Eifer, mit dem sie zu den Donnerstagen und Sonntagen der jungen Frau erschienen. Sie witterten in diesem Schlafzimmer voll starker Düfte einen nahen Sieg. Im Glauben, Rougon damit verbraucht zu haben, ihre ersten Träume zu erfüllen, erwarteten sie das Auftreten irgendeiner jungen Macht, die ihre neuen, äußerst vielfältigen und erweiterten Träume befriedigen würde. Inzwischen hatte sich Clorinde von ihren Kissen aufgerichtet. Auf die Lehne der Chaiselongue gestützt, beugte sie sich auf einmal zu Pozzo hinab, pustete ihm mit hellem Lachen, wie von einer fröhlichen Tollheit ergriffen, in den Nacken. Wenn sie sehr zufrieden war, verfiel sie auf solche plötzlichen kindlichen Freuden. Pozzo, dessen
Hand auf der Gitarre eingeschlafen zu sein schien, warf den Kopf zurück, entblößte seine Zähne, die Zähne eines schönen Italieners, und erschauerte wie gekitzelt von der Liebkosung dieses Hauches, während die junge Frau noch lauter lachte, noch stärker blies, damit er um Gnade bäte. Nachdem sie ihn dann auf italienisch gescholten hatte, fügte sie, sich zu Frau Correur wendend, hinzu: »Er soll singen, nicht wahr? – Wenn er singt, puste ich nicht mehr, dann lasse ich ihn in Ruhe ... Er hat ein sehr hübsches Lied gemacht ...« Da baten alle um das Lied. Pozzo fing wieder an, auf der Gitarre zu klimpern, und er sang, die Augen auf Clorinde geheftet. Es war ein leidenschaftliches Säuseln, von kleinen, leicht hingesetzten Klängen begleitet; die tremulierend hingeseufzten italienischen Worte waren nicht zu verstehen; bei der letzten Strophe, zweifellos einer Strophe von Liebesleid, saß Pozzo, der jetzt mit schwermütiger Stimme sang, mit lächelndem
Mund und dem Ausdruck von Verzückung in der Verzweiflung da. Als er schwieg, spendete man ihm lebhaft Beifall. Weshalb ließ er diese reizenden Sachen nicht herausgeben? Seine Stellung als Diplomat sei kein Hindernis. »Ich kannte einen Hauptmann, der eine komische Oper aufführen ließ«, erzählte der Oberst Jobelin. »Man hat ihn deshalb im Regiment nicht weniger geschätzt.« »Ja, aber in der Diplomatie ...«, murmelte Frau Correur, den Kopf schüttelnd. »Mein Gott, nein, ich glaube, Sie irren sich«, erklärte Herr Kahn. »Die Diplomaten sind genau wie andere Menschen. Manche pflegen die geselligen Künste.« Clorinde hatte Pozzo einen leichten Fußtritt in die Seite versetzt und ihm halblaut einen Befehl gegeben. Er stand auf, warf die Gitarre auf einen Haufen Kleidungsstücke. Und als er
nach Verlauf von fünf Minuten wiederkam, folgte ihm Antonia mit einem Tablett, auf dem Gläser und eine Karaffe standen; er selber trug eine Zuckerschale, die auf dem Tablett keinen Platz mehr gefunden hatte, in der Hand. Niemals trank man bei der jungen Frau etwas anderes als Zuckerwasser; die engeren Freunde des Hauses wußten sogar, daß sie ihr ein Vergnügen machten, wenn sie reines Wasser tranken. »Nun, was ist da los?« frage Clorinde, sich nach dem Ankleidezimmer umdrehend, wo eine Tür knarrte. Dann rief sie, als erinnere sie sich plötzlich: »Ah, das ist Mama ... Sie hat gelegen.« Es war tatsächlich die Gräfin Balbi, in ein Hauskleid aus schwarzer Wolle gehüllt; um den Kopf hatte sie sich einen Fetzen Spitze geknotet, dessen Enden sich auf ihrem Hals ringelten. Flaminio, der große, langbärtige Lakai mit der Banditenmiene, stützte sie von
hinten, trug sie fast auf den Armen. Und sie schien nicht älter geworden zu sein, ihr weißes Gesicht zeigte noch immer das ständige Lächeln einer einstigen Schönheitskönigin. »Warte, Mama!« sagte Clorinde. »Ich überlasse dir meine Chaiselongue. Ich selber werde mich auf dem Bett ausstrecken ... Ich fühle mich nicht wohl. Ich habe ein Tier in mir. Jetzt fängt es wieder an, mich zu beißen.« Es gab geradezu einen Umzug. Pozzo und Frau Correur führten die junge Frau zu ihrem Bett; aber man mußte erst die Decken glattziehen und die Kissen aufschütteln. Unterdessen legte sich die Gräfin Balbi auf die Chaiselongue. Flaminio blieb finster und stumm hinter ihr stehen und ließ seine furchtbaren Blicke nicht von den Anwesenden. »Es macht Ihnen doch nichts, daß ich mich hinlege, nicht wahr?« fragte die junge Frau mehrmals. »Im Bett geht's mir viel besser ... Ich schicke Sie wenigstens nicht weg. Sie
sollen hierbleiben.« Sie hatte sich ausgestreckt, den Ellbogen tief in ein Kopfkissen gebohrt, hatte den schwarzen Kittel ausgebreitet, der in seiner Weite auf der weißen Decke gleichsam eine Tintenlache bildete. Niemand dachte übrigens daran, wegzugehen. Frau Correur plauderte halblaut mit Pozzo über die Vollkommenheit der Formen Clorindes, der die beiden soeben beigestanden hatten. Herr Kahn, Herr Béjuin und der Oberst begrüßten die Gräfin. Diese verneigte sich mit dem ihr eigenen Lächeln. Dann sprach sie, ohne sich umzudrehen, hin und wieder mit sehr sanfter Stimme: »Flaminio!« Der große Lakai verstand, schob ein Kissen höher, brachte einen Schemel herbei, zog ein Parfümfläschchen aus seiner Tasche, alles mit dem grimmigen Aussehen eines Briganten im schwarzen Frack. In diesem Augenblick richtete Auguste Unfug
an. Er war in den drei Räumen umhergestrichen, hatte sich bei all dem Weiberkram, der da herumlag, aufgehalten. Als es ihm dann langweilig wurde, war er darauf verfallen, gleich nacheinander mehrere Gläser Zuckerwasser zu trinken. Clorinde beobachtete ihn seit einem Weilchen und sah gerade, wie sich die Zuckerschale leerte, da zerbrach er das Glas, in dem er heftig mit dem Löffel herumfuhrwerkte. »Das kommt vom Zucker, er tut zuviel hinein!« rief sie. »Dummkopf!« schalt der Oberst. »Kannst du nicht ruhig Wasser trinken? – Morgens und abends ein großes Glas. Es gibt nichts Besseres. Das bewahrt einen vor allen Krankheiten.« Glücklicherweise trat Herr Bouchard ein. Er kam etwas spät, nach zehn Uhr, weil er in der Stadt hatte dinieren müssen. Und er schien erstaunt, seine Frau nicht hier zu finden.
»Herr d'Escorailles hatte es übernommen, sie hierherzubringen«, sagte er, »und ich hatte versprochen, sie im Vorbeigehen abzuholen.« Eine halbe Stunde später kam Frau Bouchard tatsächlich, begleitet von Herrn d'Escorailles und Herrn La Rouquette. Nach einem Zerwürfnis von einem Jahr hatte sich der junge Marquis mit der hübschen Blondine ausgesöhnt; jetzt wurde ihnen ihr Liebesverhältnis zur Gewohnheit, sie taten sich für acht Tage wieder zusammen, konnten es nicht lassen, einander hinter den Türen zu zwicken und zu küssen, wenn sie sich trafen. Das geschah ganz von allein, war wie selbstverständlich, wenn ihr sehr heftiges Begehren wiederauflebte. Als sie im offenen Wagen zu den Delestangs unterwegs waren, hatten sie Herrn La Rouquette getroffen. Und alle drei waren laut lachend und unter gewagten Scherzen in den Bois de Boulogne gefahren; Herr d'Escorailles hatte sogar einen Augenblick lang geglaubt, der Hand des
Abgeordneten hinter Frau Bouchards Taille zu begegnen. Als sie eintraten, brachten sie einen Schwall von Heiterkeit mit, die frische Luft der dunklen Alleen des Bois, das Geheimnisvolle der schlummernden Blätter, das ihr schamloses Gelächter gedämpft hatte. »Ja, wir kommen vom See«, berichtete Herr La Rouquette. »Auf Ehre, man hat mich verführt ... Ich ging schön ruhig nach Hause, um zu arbeiten.« Auf einmal wurde er wieder ernst. Bei der letzten Sitzung hatte er, nach einem vollen Monat Spezialstudien, in der Kammer eine Rede über eine Frage der Schuldentilgung gehalten, und seitdem zeigte er das gesetzte Benehmen eines verheirateten Mannes, als habe er beim Besteigen der Rednerbühne sein Junggesellenleben begraben. Kahn führte ihn in den Hintergrund des Schlafzimmers und tuschelte: »Was ich sagen wollte, Sie, der Sie gut mit Marsy stehen ...«
Ihre Stimmen waren kaum vernehmbar, sie unterhielten sich ganz leise. Inzwischen hatte sich die hübsche Frau Bouchard, nachdem sie die Gräfin begrüßt, an das Bett gesetzt, hatte Clorindes Hand in der ihren behalten und bedauerte sie mit flötender Stimme sehr. Plötzlich rief Herr Bouchard, der würdevoll und korrekt dastand, mitten in die gedämpften Unterhaltungen hinein: »Hab ich Ihnen das nicht erzählt? – Er ist allerliebst, der grobe Kerl!« Und ehe er sich deutlicher ausließ, sprach er wie die anderen bitter von Rougon. Man könne ihn um gar nichts mehr bitten, er sei nicht einmal mehr höflich; und Herr Bouchard hielt vor allem auf Höflichkeit. Als man ihn dann fragte, was Rougon ihm angetan habe, antwortete er schließlich: »Ich mag keine Ungerechtigkeiten ... Es geht um einen Angestellten meiner Abteilung, Georges Duchesne; Sie kennen ihn, Sie haben ihn bei
mir gesehen. Er ist ein sehr verdienstvoller Bursche! Er ist für uns wie ein eigenes Kind. Meine Frau hat ihn sehr gern, weil er aus ihrer Heimat stammt ... Da haben wir denn neulich ein kleines Komplott geschmiedet, um Duchesne die Ernennung zum stellvertretenden Abteilungschef zu verschaffen. Der Einfall stammte von mir, aber du hast ihn gebilligt, nicht wahr, Adèle?« Frau Bouchard beugte sich mit verlegenem Gesicht tiefer zu Clorinde, um Herrn d'Escorailles' Blick, den sie starr auf sich ruhen fühlte, auszuweichen. »Je nun«, fuhr der Abteilungschef fort, »wissen Sie nicht, wie der grobe Kerl meine Bitte aufgenommen hat? Er hat mich eine ganze Weile in seiner beleidigenden Art, die Sie ja kennen, schweigend angesehen. Dann hat er mir die Ernennung glattweg abgeschlagen. Und als ich noch einen Vorstoß unternahm, hat er mit einem Lächeln zu mir
gesagt: ›Herr Bouchard, bestehen Sie nicht darauf, Sie machen mir Kummer; es gibt da gewichtige Gründe ...‹ – Unmöglich, etwas anderes aus ihm herauszubekommen. Er hat sehr wohl gesehen, daß ich wütend war, denn er hat mich gebeten, ihn bei meiner Frau in freundliche Erinnerung zu bringen ... Nicht wahr, Adèle?« Frau Bouchard hatte gerade an diesem Abend eine sehr lebhafte Auseinandersetzung mit Herrn d'Escorailles wegen dieses Georges Duchesne gehabt. Sie glaubte, in einem übellaunigen Ton bemerken zu müssen: »Mein Gott, Herr Duchesne wird eben warten ... Er ist nicht so wichtig!« Aber der Gatte war hartnäckig. »Nein, nein, er hat es verdient, stellvertretender Abteilungschef zu werden, und er wird es werden! Koste es, was es wolle ... Ich verlange, daß man gerecht ist!«
Man mußte ihn beruhigen. Clorinde war nicht bei der Sache, sie versuchte, die Unterhaltung zwischen Herrn Kahn und Herrn La Rouquette zu verstehen, die sich an das Fußende ihres Bettes zurückgezogen hatten. Ersterer setzte mit verhüllten Worten seine Lage auseinander. Das große Unternehmen seiner Bahnlinie von Niort nach Angers stand unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Die Aktien hatten anfangs achtzig Francs über pari an der Börse erzielt, bevor noch ein einziger Hackenschlag getan war. Hinter seiner famosen englischen Gesellschaft verschanzt, hatte sich Herr Kahn den schamlosesten Spekulationen hingegeben. Und heute mußte es zum Bankrott kommen, wenn nicht irgendeine starke Hand ihn in seinem Sturz auffing. »Damals«, murmelte er, »hatte Marsy mir angeboten, die Sache an die WestbahnGesellschaft zu verkaufen. Ich bin durchaus bereit, wieder Unterhandlungen aufzunehmen. Es würde genügen, ein Gesetz
durchzubringen ...« Clorinde rief sie heimlich mit einer Handbewegung zu sich heran. Und beide über ihr Bett gebeugt, sprachen sie lange mit ihr. Marsy trage nichts nach. Sie werde mit ihm reden. Sie werde ihm die Million anbieten, die er im vorigen Jahr verlangt habe, um die Bitte um die Konzession zu unterstützen. Seine Stellung als Präsident des Corps législatif würde es ihm ermöglichen, das erforderliche Gesetz leicht durchzubringen. »Ich sage Ihnen, es gibt niemanden als Marsy, wenn man in Geschäften solcher Art Erfolg haben will«, erklärte sie lächelnd. »Will man ohne ihn auskommen, wenn man so etwas in Gang bringen möchte, so ist man bald gezwungen, sich an ihn zu wenden und ihn anzuflehen, die Bruchstücke wieder zusammenzuflicken.« Jetzt sprachen in dem Schlafzimmer alle gleichzeitig und sehr laut. Frau Correur setzte
Frau Bouchard ihren höchsten Wunsch auseinander: nach Coulonges ziehen und im Hause ihrer Familie sterben; und sie sprach voll Rührung von dem Ort, wo sie geboren worden war, sie werde Frau Martineau bestimmt zwingen, ihr dieses Haus wiederzugeben, das so erfüllt von Erinnerungen an ihre Kindheit sei. Zwangsläufig kamen die Gäste auf Rougon zurück: Herr d'Escorailles erzählte vom Zorn seiner Eltern, die ihm geschrieben hätten, er solle in den Staatsrat zurückkehren und mit dem Minister brechen, da sie von dessen Machtmißbrauch gehört hätten; der Oberst berichtete, wie sich der grobe Kerl rundweg geweigert habe, vom Kaiser einen Posten in den kaiserlichen Schlössern für ihn zu erbitten; selbst Herr Béjuin beklagte sich darüber, daß Seine Majestät nicht gelegentlich der letzten Reise nach Bourges zur Besichtigung der Kristallfabrik von SaintFlorent gekommen war, trotz Rougons ausdrücklich
eingegangener Verpflichtung, diese Gunst zu erwirken. Und bei diesem ganzen tollen Durcheinander von Worten lächelte die Gräfin Balbi auf der Chaiselongue, betrachtete ihre noch weichen und vollen Hände, sagte mehrmals leise: »Flaminio!« Der verteufelt große Diener hatte eine winzige Schildpattdose voll Pfefferminzplätzchen aus seiner Westentasche gezogen. Die Gräfin knabberte sie mit der Miene einer alten schleckerhaften Katze. Erst gegen Mitternacht kam Delestang nach Hause. Als man ihn den Türvorhang des Boudoirs heben sah, trat tiefe Stille ein, alle Hälse reckten sich. Aber der Vorhang war wieder gefallen, niemand folgte dem Hausherrn. Nachdem man nochmals ein paar Sekunden gewartet hatte, wurden Rufe laut. »Sie sind allein?« »Sie haben ihn also nicht mitgebracht?«
»Der grobe Kerl ist Ihnen wohl unterwegs abhanden gekommen?« Und alle fühlten sich erleichtert. Delestang erklärte, Rougon, der sehr müde gewesen sei, habe sich soeben an der Ecke der Rue Marbeuf von ihm getrennt. »Daran hat er gut getan«, meinte Clorinde, sich ganz auf dem Bett ausstreckend. »Er ist so wenig unterhaltend!« Das war das Signal für einen neuen hemmungslosen Ausbruch von Klagen und Anschuldigungen. Delestang erhob Einspruch, rief hin und wieder: »Erlauben Sie! Erlauben Sie!« Er tat meist so, als verteidige er Rougon. Als man ihn zum Sprechen kommen ließ, sagte er bedächtig: »Gewiß hätte er sich zu einigen seiner Freunde besser verhalten können. Aber er bleibt darum nicht weniger ein großer Geist ... Was mich betrifft, ich werde ihm ewig dankbar sein ...«
»Dankbar für was?« schrie Herr Kahn wutentbrannt. »Aber für alles, was er getan hat ...« Man fiel ihm ungestüm ins Wort. Rougon habe niemals etwas für ihn getan. Wie komme er zu der Annahme, Rougon habe etwas für ihn getan? »Sie sind erstaunlich!« schmeichelte ihm der Oberst. »So weit darf man die Bescheidenheit nicht treiben! – Mein lieber Freund, Sie hatten niemand nötig. Bei Gott, Sie sind aus eigener Kraft emporgestiegen.« Dann pries man Delestangs Verdienste. Sein Mustergut La Chamade sei eine unvergleichliche Schöpfung, die schon lange seine Befähigung zu einem guten Verwaltungsbeamten und einem wahrhaft begabten Staatsmann offenbart habe. Ihm eigne der sichere Blick, der klare Verstand, die energische und dabei nicht harte Hand. Habe
ihn überdies der Kaiser nicht vom ersten Tag an ausgezeichnet? Er habe in fast allen Fragen die gleichen Ansichten wie Seine Majestät. »Hören Sie doch auf!« erklärte Herr Kahn schließlich. »Sie sind es, der Rougon vor dem Fall bewahrt. Wenn Sie nicht sein Freund wären, wenn Sie ihn nicht im Ministerrat stützten, läge er spätestens in vierzehn Tagen am Roden.« Dennoch widersprach Delestang weiter. Gewiß, er sei nicht der erstbeste; aber man müsse den Eigenschaften aller Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen. So habe Rougon gerade an diesem Abend beim Justizminister in einer sehr verworrenen Frage von lebenswichtiger Bedeutung einen außerordentlich klaren Überblick bewiesen. »Oh, die Wendigkeit eines durchtriebenen Anwalts«, murmelte Herr La Rouquette verächtlich.
Clorinde hatte noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht. Blicke wandten sich ihr zu, baten dringend um das Wort, auf das jeder wartete. Sie wälzte langsam den Kopf auf dem Kissen hin und her, wie um sich im Nacken zu scheuern. Endlich sagte sie, indem sie von ihrem Gatten sprach, ohne ihn zu nennen: »Ja, schelten Sie ihn ... An dem Tag, da man ihn auf seinen wahren Platz stellen möchte, wird man ihn dazu prügeln müssen.« »Der Posten eines Ministers für Landwirtschaft und Handel ist durchaus zweitrangig«, bemerkte Herr Kahn, um die Dinge rasch weiterzutreiben. Damit rührte er an eine frische Wunde. Clorinde litt darunter, ihren Gatten in etwas eingezwängt zu sehen, was sie »ein Ministeriumchen« nannte. Sie setzte sich plötzlich auf und sprach das erwartete Wort: »Oh, wenn wir nur wollten, säße er im Innenministerium!«
Delestang wollte sprechen. Aber alle waren zu ihm hingestürzt, umringten ihn mit lärmendem Entzücken. Da schien er sich für besiegt zu erklären. Nach und nach überzog eine leichte Röte seine Backen, sein ganzes hochmütiges Gesicht war in lebhafte Freude getaucht. Frau Correur und Frau Bouchard sprachen mit halblauter Stimme davon, wie schön er sei; besonders die zweite blickte mit der perversen Vorliebe der Frauen für kahlköpfige Männer hingerissen auf seinen nackten Schädel. Herr Kahn, der Oberst und die anderen drückten durch Augenzwinkern, kleine Gesten und rasche Worte aus, welch große Stücke sie auf seine Tatkraft hielten. Sie erniedrigten sich vor dem Dümmsten der Clique, sie bewunderten sich selber in ihm. Dieser Gebieter würde wenigstens fügsam sein und sie nicht gefährden. Sie konnten ihn ungestraft für einen Gott halten, ohne seinen Blitz zu fürchten. Die hübsche Frau Bouchard machte mit ihrer sanften Stimme darauf aufmerksam, daß man
ihn ermüde. Man ermüdete ihn! Alle brachen in Mitgefühl aus. In der Tat, er war ein wenig blaß, die Augen fielen ihm zu. Man bedenke, wenn einer seit fünf Uhr morgens arbeitet! Nichts erschöpft so sehr wie Kopfarbeit. Und mit sanftem Zwang forderte man, daß er zu Bett gehe. Er gehorchte willig und zog sich zurück, nachdem er seiner Frau einen Kuß auf die Stirn gedrückt hatte. »Flaminio!« sagte die Gräfin leise. Auch sie wollte sich zu Bett begeben. Am Arm des Bedienten durchschritt sie das Schlafzimmer, winkte jedem grüßend mit der Hand zu. Vom Ankleidezimmer aus hörte man Flaminio fluchen, weil die Lampe ausgegangen war. Es war ein Uhr. Man sprach von Aufbrechen. Aber Clorinde versicherte, sie verspüre kein Schlafbedürfnis, man könne noch bleiben.
Dennoch setzte sich niemand wieder hin. Auch die Lampe im Boudoir war gerade ausgegangen; ein starker Geruch nach Brennöl verbreitete sich. Es machte große Mühe, kleine Gegenstände – einen Fächer, den Spazierstock des Obersts, Frau Bouchards Hut – wiederzufinden. Clorinde, friedlich ausgestreckt, hinderte Frau Correur daran, nach Antonia zu klingeln; die Kammerfrau legte sich gewöhnlich um elf Uhr hin. Als man endlich aufbrach, bemerkte der Oberst, daß er Auguste vergessen hatte; der junge Mann schlief auf dem Kanapee im Boudoir, den Kopf auf ein zu einem Puff zusammengerolltes Kleid gelegt; man schalt ihn, weil er die Lampe nicht höher geschraubt hatte. Im Dunkel des Treppenhauses, wo die kleingestellte Gasflamme am Erlöschen war, stieß Frau Bouchard einen leichten Schrei aus; ihr Fuß sei umgeknickt, sagte sie. Und als all diese Leute vorsichtig am Geländer entlang hinuntergingen, drang lautes Gelächter aus
Clorindes Schlafzimmer, wo Pozzo zurückgeblieben war; gewiß blies sie ihm in den Nacken. Jeden Donnerstag und jeden Sonntag glichen die Abendgesellschaften einander. In der Außenwelt ging das Gerücht, Frau Delestang habe einen politischen Salon. Man sei dort sehr liberal, man schieße Bresche in die Willkürherrschaft Rougons. Die ganze Clique sei zu dem Traum von einer humanitären Regierung übergegangen, die nach und nach den Kreis des Genusses der allgemeinen Rechte bis ins Unendliche erweitern werde. Der Oberst verfaßte in seinen Mußestunden Satzungen für Arbeitervereinigungen; Herr Béjuin sprach davon, rings um seine Kristallfabrik in SaintFlorent eine Siedlung zu schaffen; Herr Kahn unterhielt stundenlang Delestang von der demokratischen Rolle der Bonapartes in der modernen Gesellschaft. Und bei jeder neuen Handlung Rougons gab es entrüstete Proteste, patriotisches Entsetzen
darüber, Frankreich in den Händen eines solchen Mannes zugrunde gehen zu sehn. Eines Tages behauptete Delestang, der Kaiser sei der einzige Republikaner der Epoche. Die Clique trug das Verhalten einer frommen Sekte zur Schau, die das Heil bringt. Jetzt verschwor sie sich ganz offen, den groben Kerl zum höchsten Wohl des Vaterlandes zu stürzen. Clorinde jedoch hatte es nicht eilig. Man fand sie bald auf diesem, bald auf jenem Kanapee in ihren Räumen ausgestreckt, wie abwesend in die Luft schauend, in die Betrachtung der Deckenwinkel vertieft. Wenn die anderen schrien und vor Ungeduld um sie herumtrappelten, machte sie ein verschlossenes Gesicht und mahnte durch ein langsames Spiel der Augenlider zu größerer Vorsicht. Sie ging weniger aus, vergnügte sich damit, sich und ihre Kammerfrau als Männer zu verkleiden, offenbar um die Zeit totzuschlagen. Sie hatte plötzlich zärtliche
Liebe zu ihrem Mann gefaßt, küßte ihn in aller Öffentlichkeit, redete in der Kindersprache zu ihm, zeigte sich äußerst besorgt um seine Gesundheit, die ausgezeichnet war. Vielleicht wollte sie so die unumschränkte Herrschaft verbergen, die ununterbrochene Beaufsichtigung, die sie über ihn ausübte. Sie lenkte ihn bei jeder kleinsten Handlung, sagte ihm wie einem Schüler, dem man nicht traut, jeden Morgen, was er zu tun habe. Delestang erwies sich übrigens als durchaus gehorsam. Er verbeugte sich, lächelte, wurde ärgerlich, sagte schwarz, sagte weiß, entsprechend dem Fädchen, an dem sie gerade zog. Sobald er nicht mehr aufgezogen war, kam er von selber und gab sich in ihre Hände, damit sie ihn wieder richtig einstellte. Und so bewahrte er seine Überlegenheit. Clorinde wartete. Herr Beulind'Orchère, der es vermied, abends zu kommen, besuchte sie oft im Laufe des Tages. Er beklagte sich bitter über seinen Schwager, beschuldigte ihn, für
das Glück einer Menge fremder Leute zu arbeiten; aber so gehe es immer, um die Verwandten kümmere man sich nicht. Einzig Rougon könne den Kaiser davon abhalten, ihm den Posten des Justizministers anzuvertrauen, und zwar aus Angst, seinen Einfluß im Rat mit ihm teilen zu müssen. Die junge Frau peitschte seinen Groll auf. Dann sprach sie in Andeutungen vom baldigen Sieg ihres Gatten und gab ihm so die unbestimmte Hoffnung, in die neue Zusammensetzung des Ministeriums miteinbegriffen zu sein. Im ganzen genommen bediente sie sich seiner, um zu erfahren, was bei Rougon vorging. Aus einer weiblichen Boshaftigkeit heraus hätte sie es gern gesehen, wenn dieser in unglücklicher Ehe gelebt hätte; und sie drängte den Justizbeamten dazu, seine Schwester auf seine Seite zu bringen. Er solle es versuchen, solle laut eine Heirat bedauern, von der er gar keinen Nutzen habe; aber er werde gewiß an Frau Rougons Phlegma scheitern. Sein Schwager, sagte er, sei seit
einiger Zeit sehr nervös. Er ließ durchblicken, daß er ihn reif für einen Sturz halte; und er sah die junge Frau fest an, berichtete ihr in der liebenswürdigen Art eines Plauderers, der ohne böse Absicht das Geschwätz der Leute weiterträgt, bezeichnende Tatsachen. Weshalb handele sie denn nicht, wenn sie so viel zu sagen habe? Sie streckte sich träge noch mehr aus und setzte die Miene einer durch Regenwetter ans Haus gefesselten Frau auf, die ergeben auf einen Sonnenstrahl wartet. Dennoch nahm Clorindes Macht in den Tuilerien zu. Man sprach mit leiser Stimme von der lebhaften Zuneigung, die Seine Majestät für sie empfinde. Auf den Bällen, bei den offiziellen Empfängen, überall, wo ihr der Kaiser begegnete, drehte er sich mit seinem schleichenden Schritt um ihre Röcke, sah ihr in den Ausschnitt, sprach aus nächster Nähe zu ihr, mit einem zögernden Lächeln. Und sie habe ihm noch nichts gewährt, hieß es, nicht einmal die Fingerspitzen. Sie spielte ihr altes
Spiel des heiratsfähigen Mädchens, benahm sich sehr herausfordernd, sehr ungeniert, sagte alles, zeigte alles, war aber ununterbrochen auf der Hut, entzog sich genau in dem von ihr gewollten Augenblick. Sie schien die Leidenschaft des Herrschers heranreifen zu lassen, auf eine Gelegenheit zu lauern, um die Stunde geschickt herbeizuführen, in der er ihr nichts mehr würde abschlagen können, damit der volle Erfolg eines schon lange gefaßten Plans zur Gewißheit wurde. Etwa zu jener Zeit zeigte sie sich Herrn de Plouguern gegenüber auf einmal sehr reizbar. Es gab seit mehreren Monaten Mißhelligkeiten zwischen ihnen. Der Senator, der ihr stark den Hof machte und fast täglich kam, um ihrer Morgentoilette beizuwohnen, hatte sich eines schönen Tages darüber geärgert, daß er vor der Tür ihres Ankleidezimmers warten mußte, als sie sich anzog. Von einer vorübergehenden Schamhaftigkeit ergriffen, errötete Clorinde, wollte nicht mehr geneckt werden, fühlte sich,
wie sie behauptete, belästigt von den grauen Augen des Greises, in denen sich gelbe Flammen entzündeten. Er aber erhob Einspruch, weigerte sich, so wie jedermann zu Stunden zu erscheinen, da sich ihr Schlafzimmer mit Besuch füllte. War er nicht ihr Vater? War sie nicht als ganz kleines Mädchen auf seinen Knien geritten? Und er erzählte grinsend von den Züchtigungen, die er sich ihr einst bei hochgehobenen Röcken zu verabfolgen erlaubt habe. Schließlich brach sie mit ihm, als er eines Tages trotz Antonias Schreien und Faustschlägen eingedrungen war, während sie badete. Wenn Herr Kahn und Oberst Jobelin sie nach dem Ergehen Herrn de Plouguerns fragten, antwortete sie von oben herab: »Er wird wieder jung, er ist noch keine zwanzig Jahre alt ... Ich verkehre nicht mehr mit ihm.« Dann traf man plötzlich Herrn de Plouguern ständig bei ihr. Zu jeder Tageszeit war er da, in den Ecken des Ankleidezimmers, tief in den
heimlichen Winkeln des Schlafzimmers. Er wußte, wohin sie ihre Wäsche stopfte, holte ihr ein Hemd oder ein Paar Strümpfe; man hatte ihn sogar dabei überrascht, wie er im Begriff war, ihr das Korsett zuzuschnüren. Clorinde zeigte den Despotismus einer jungverheirateten Frau. »Pate, geh, hol mir die Nagelfeile, du weißt ja, in dem Schubfach ... Pate, gib mir doch mal meinen Schwamm ...« Das Wort Pate war ein Kosewort. Er sprach jetzt sehr oft vom Grafen Balbi, berichtete genaue Einzelheiten über Clorindes Geburt. Er log, behauptete, er habe die Mutter der jungen Frau im dritten Monat ihrer Schwangerschaft kennengelernt. Und wenn die Gräfin mit ihrem ewigen Lächeln auf dem verlebten Gesicht gerade bei Clorindes Aufstehen im Schlafzimmer zugegen war, warf er der alten Dame Blicke geheimen Einverständnisses zu, lenkte mit einem Augenzwinkern ihre
Aufmerksamkeit auf eine nackte Schulter, ein halbentblößtes Knie. »Nicht wahr, Leonora?« murmelte er. »Ganz Ihr Ebenbild!« Die Tochter erinnerte ihn an die Mutter. Sein knochiges Gesicht flammte. Oft streckte er die dürren Hände aus, griff nach Clorinde, drückte sie an sich, um ihr irgend etwas Schmutziges zu erzählen. Das verschaffte ihm Befriedigung. Er war Voltairianer, verneinte alles, suchte die letzten Bedenken der jungen Frau zu widerlegen, indem er mit seinem Kichern, das wie das Knirschen eines schlecht geschmierten Flaschenzuges klang, sagte: »Aber Dummchen, das ist doch erlaubt ... Was Vergnügen macht, ist erlaubt.« Man erfuhr nie, wie weit die Dinge zwischen ihnen gingen. Clorinde brauchte damals Herrn de Plouguern; sie behielt ihm eine Rolle in dem Drama vor, von dem sie träumte. Übrigens kam es zuweilen bei ihr vor, daß sie
auf solche Weise Freundschaften erkaufte, deren sie sich, wenn sie ihren Plan änderte, nicht mehr bediente. Das war in ihren Augen wie ein leichthin und ohne Nutzen gegebener Händedruck. Ihr war jene gründliche Geringschätzung ihrer Gunstbeweise eigen, die in ihr die übliche Ehrbarkeit verdrängte und dazu führte, daß sie ihren Stolz in anderes setzte. Ihre Wartezeit zog sich jedoch in die Länge. In verhüllten Worten sprach sie zu Herrn de Plouguern von einem unklaren, unbestimmten Ereignis, das allzulange nicht eintreten wolle. Der Senator schien mit der versunkenen Miene eines Schachspielers nach Zusammenhängen zu suchen; und er schüttelte den Kopf, zweifellos fand er nichts. Was sie betraf, so sagte sie an den seltenen Tagen, da Rougon sie noch besuchte, sie sei müde, und sprach davon, für drei Monate nach Italien reisen zu wollen.
Dann musterte sie ihn bei halbgeschlossenen Lidern mit einem schmalen, leuchtenden Blick. Ein Lächeln raffinierter Grausamkeit verzog ihre Lippen. Sie hätte schon jetzt versuchen können, ihn mit ihren langen schlanken Fingern zu erwürgen; aber sie wollte ihn plötzlich und endgültig erwürgen; und es bereitete ihr Genuß, geduldig zuzusehen, wie ihre Nägel langsam wuchsen. Rougon, stets sehr beschäftigt, drückte ihr zerstreut die Hand, ohne das nervöse Glühen ihrer Haut zu bemerken. Er glaubte, sie sei vernünftiger geworden, sprach ihr seine Anerkennung dafür aus, daß sie sich ihrem Gatten füge. »Sie sind schon bald so, wie ich Sie mir immer gewünscht habe«, meinte er. »Sie haben sehr recht, die Frauen sollen still zu Hause bleiben.« Und nachdem er gegangen war, rief sie mit grellem Lachen: »Mein Gott, wie dumm er ist!
– Und dabei findet er noch die Frauen dumm!« Endlich trat an einem Sonntagabend gegen zehn Uhr, als gerade die ganze Clique in Clorindes Schlafzimmer versammelt war, mit dem Aussehen eines Siegers Herr de Plouguern ein. »Nun«, fragte er, große Entrüstung heuchelnd, »kennen Sie Rougons neue Heldentat? – Diesmal ist das Maß voll.« Man scharte sich eifrig um ihn. Niemand wußte etwas. »Eine abscheuliche Tat«, fing er wieder an und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Man begreift nicht, wie ein Minister so tief sinken kann ...« Und er erzählte in einem Zuge, was geschehen war. Die Charbonnels hatten, nachdem sie in Faverolles angekommen waren, um das Erbe ihres Vetters Chevassu in Besitz zu nehmen,
großen Lärm geschlagen, weil angeblich eine beträchtliche Menge Silberzeug verschwunden war. Sie verdächtigten die mit der Bewachung des Hauses beauftragte Magd, eine sehr fromme Frau; bei der Nachricht von dem vom Staatsrat gefällten Urteil sollte sich diese Unglückliche mit den Schwestern von der Heiligen Familie verständigt und alle leicht zu versteckenden Wertgegenstände ins Kloster gebracht haben. Drei Tage später sprachen sie nicht mehr von der Magd; da waren es die Schwestern selber, die das Haus ausgeplündert hatten. Das rief in der Stadt entsetzliches Aufsehen hervor. Aber als sich der Polizeikommissar weigerte, im Kloster selbst Nachforschungen vornehmen zu lassen, hatte Rougon auf einen einfachen Brief der Charbonnels hin dem Präfekten depeschiert, er solle anordnen, daß unverzüglich eine Haussuchung stattzufinden habe. »Ja, eine Haussuchung, das steht voll ausgeschrieben in der Depesche«, betonte Herr
de Plouguern abschließend. »Dann hat man gesehen, wie der Kommissar und zwei Gendarmen das ganze Kloster auf den Kopf gestellt haben. Fünf Stunden lang waren sie dort. Die Gendarmen wollten alles durchwühlen ... Stellen Sie sich vor, daß sie die Nase sogar in die Strohsäcke der Nonnen gesteckt haben ...« »Die Strohsäcke der Nonnen, oh, das ist nichtswürdig!« rief Frau Bouchard empört. »Dazu muß einer schon überhaupt keine Religion mehr haben«, erklärte der Oberst. »Was wollen Sie denn«, seufzte ihrerseits Frau Correur, »Rougon hat niemals die religiösen Bräuche beobachtet ... Wie oft habe ich nicht, völlig vergeblich, versucht, ihn zu Gott zurückzuführen!« Herr Bouchard und Herr Béjuin schüttelten mit verzweifelter Miene den Kopf, als hätten sie soeben von einer sozialen Katastrophe
erfahren, die sie am menschlichen Verstand zweifeln ließe. Herr Kahn rieb heftig seine Bartfräse und fragte: »Und selbstverständlich hat man bei den Schwestern nichts gefunden?« »Nicht das geringste!« erwiderte Herr de Plouguern. Dann fügte er mit hastiger Stimme hinzu: »Eine silberne Kasserolle, glaube ich, zwei Becher, einen Ölflaschenständer, wertloses Zeug, Geschenke, die der ehrenwerte Verblichene, ein Greis von großer Frömmigkeit, den Nonnen vermacht hatte, um sie für die gute Pflege während seiner langen Krankheit zu belohnen.« »Ja, ja, anderen.
offensichtlich«,
murmelten
die
Der Senator ging nicht weiter darauf ein. In sehr gedehntem Ton, jeden Satz dadurch unterstreichend, daß er leicht die Hände zusammenschlug, sagte er: »Darum geht es
hier nicht. Es handelt sich um die Ehrfurcht, die man einem Kloster schuldet, einem dieser heiligen Häuser, darin alle die von unserer gottlosen Gesellschaft verjagten Tugenden Zuflucht gesucht haben. Wie kann man verlangen, daß die Massen religiös sind, wenn die Angriffe gegen die Religion von so hoher Stelle ausgehen! Rougon hat da eine wahre Heiligtumsschändung begangen, für die er sich verantworten müssen wird ... Die gute Gesellschaft von Faverolles ist entrüstet darüber. Monsignore Rochart, der hervorragende Kirchenfürst, der stets eine besondere Zuneigung für die Nonnen bewiesen hat, ist sofort nach Paris abgereist, wo er Recht fordern wird. Außerdem war man heute im Senat sehr erregt, man sprach davon, auf Grund der wenigen Einzelheiten, die ich beibringen konnte, etwas dagegen zu unternehmen. Kurz, sogar die Kaiserin ...« Alle reckten den Hals.
»Ja, die Kaiserin hat diese beklagenswerte Geschichte von Frau de Llorentz erfahren, die sie von unserem Freunde La Rouquette hatte, dem ich sie erzählte. Ihre Majestät hat ausgerufen: ›Herr Rougon ist nicht mehr würdig, im Namen Frankreichs zu sprechen.‹« »Sehr richtig!« bestätigten alle. An diesem Donnerstag war dies bis ein Uhr morgens der einzige Gesprächsgegenstand. Clorinde hatte den Mund nicht aufgetan. Bei den ersten Worten Herrn de Plouguerns hatte sie sich ein wenig bleich, mit zusammengepreßten Lippen auf der Chaiselongue zurückgelehnt. Dann bekreuzte sie sich dreimal, rasch und so, daß man es nicht sah, als danke sie dem Himmel für die Gewährung einer lange erbetenen Gnade. Bei dem Bericht von der Haussuchung bewegten sich dann ihre Hände wie die einer wutentbrannten Frömmlerin. Nach und nach war sie sehr rot geworden. Die Augen ins
Leere gerichtet, versank sie in ernstes Sinnen. Als dann die anderen hin und her redeten, trat Herr de Plouguern zu ihr und griff mit einer Hand unter den Rand ihrer Corsage, um sie vertraulich in den Busen zu kneifen. Und mit seinem skeptischen Grinsen, mit dem feinen Ton eines Grandseigneurs, der überall herumgekommen ist, hauchte er der jungen Frau ins Ohr: »Er hat sich am lieben Gott vergriffen, er ist geliefert!«
Kapitel XIII Acht Tage lang hörte Rougon, wie sich ein wachsendes Geschrei gegen ihn erhob. Man würde ihm alles verziehen haben, seinen Machtmißbrauch, die Begehrlichkeit seiner Clique, die Knebelung des Landes; aber daß er Gendarmen geschickt hatte, um die Strohsäcke der Nonnen zu durchsuchen, war ein so
ungeheures Verbrechen, daß die Damen bei Hofe so taten, als überlaufe sie ein leichter Schauder, wenn er an ihnen vorüberging. Monsignore Rochart schlug überall in den Regierungskreisen schrecklichen Lärm; er sei bis zur Kaiserin gegangen, hieß es. Außerdem sorgte wohl eine Handvoll auf ihren Vorteil bedachter Leute dafür, daß der Skandal nicht in Vergessenheit geriet; Parolen liefen um, die gleichen Gerüchte erhoben sich mit seltsamer Übereinstimmung von allen Seiten zugleich. Bei all diesen wütenden Angriffen blieb Rougon zunächst gelassen und lächelte nur. Er zuckte mit seinen gewaltigen Schultern, nannte diese Vorgänge »eine Dummheit«. Er scherzte sogar. Auf einer Abendgesellschaft beim Justizminister ließ er den Satz fallen: »Ich habe immerhin nicht erzählt, daß man in einem Strohsack einen Priester gefunden hat«, und als sich diese Bemerkung herumgesprochen hatte, gab es einen neuen Zornausbruch, denn nun erreichten Schande und Ruchlosigkeit
ihren Gipfel. Da packte ihn allmählich die Wut. Man langweile ihn nachgerade! Die Nonnen seien Diebinnen, man habe ja silberne Kasserollen und Becher bei ihnen gefunden. Und er wollte anfangen, die Sache ernstlich zu betreiben, er setzte sich noch mehr ein, sprach davon, die gesamte Geistlichkeit von Faverolles vor den Gerichten zu demütigen. Eines Morgens ließen sich zu früher Stunde die Charbonnels bei ihm melden. Das wunderte ihn sehr, denn er wußte nicht, daß sie in Paris waren. Sobald er sie erblickte, rief er ihnen entgegen, alles gehe gut; noch tags zuvor habe er dem Präfekten Anweisung gesandt, er solle die Staatsanwaltschaft zwingen, sich der Angelegenheit anzunehmen. Doch Herr Charbonnel war offenbar bestürzt, Frau Charbonnel rief aus: »Nein, nein, das nicht ... Sie sind zu weit gegangen, Herr Rougon. Sie haben uns mißverstanden.«
Und alle beide ergingen sich in Lobreden auf die Schwestern von der Heiligen Familie. Es seien sehr fromme Frauen. Sie hätten zwar einen Augenblick lang gegen sie prozessieren können; aber sie würden sich bestimmt niemals so weit erniedrigt haben, sie gemeiner Handlungen zu bezichtigen. Übrigens würde ganz Faverolles ihnen die Augen geöffnet haben, so sehr achteten dort die Mitglieder der guten Gesellschaft die lieben Nonnen. »Sie würden uns den größten Schaden zufügen, Herr Rougon«, beschwor ihn Frau Charbonnel zum Schluß, »wenn Sie sich weiterhin so gegen die Religion ereifern wollten. Wir kommen, um Sie dringend zu bitten, sich ruhig zu verhalten ... Gewiß, dort unten kann man nicht Bescheid wissen, nicht wahr? Man glaubt, wir trieben Sie an, und hätte am Ende noch mit Steinen nach uns geworfen ... Wir haben dem Kloster ein schönes Geschenk gemacht, ein elfenbeinernes Kruzifix, das über dem Bettende unseres
armen Vetters gehangen hat.« »Kurzum«, sagte Herr Charbonnel abschließend, »Sie sind gewarnt, jetzt ist das Ihre Sache ... Wir haben nichts mehr damit zu tun.« Rougon ließ sie reden. Sie schienen sehr ungehalten über ihn zu sein, schließlich schrien sie ihn an. Ein leichtes Kältegefühl war ihm ins Genick gestiegen. Von einer plötzlichen Müdigkeit befallen, als habe man ihm soeben noch etwas von seiner Kraft geraubt, sah er sie an. Übrigens stritt er nicht mit ihnen. Er verabschiedete sie mit dem Versprechen, nichts mehr zu unternehmen. Und in der Tat ließ er die Sache vertuschen. Seit einigen Tagen litt er unter der Auswirkung eines neuen Skandals, mit dem sein Name mittelbar verknüpft war. In Coulonges hatte sich ein schreckliches Drama abgespielt. Du Poizat, der, wie sich Gilquin ausdrückte, seinem Vater auf den Buckel
steigen wollte, hatte in seinem Eigensinn eines Tages wieder an die Tür des Geizhalses geklopft. Fünf Minuten später hörten die Nachbarn Flintenschüsse in dem Hause und dazu ein entsetzliches Geheul. Als man dort eindrang, fand man den Greis mit gespaltenem Schädel am Fuß der Treppe ausgestreckt. Zwei abgefeuerte Gewehre lagen mitten im Vorraum. Der leichenblasse Du Poizat erzählte, sein Vater habe, als er ihn auf die Treppe zugehen sah, plötzlich wie vom Wahnsinn befallen »Hilfe! Diebe!« geschrien und aus nächster Nähe zwei Schüsse auf ihn abgegeben; er zeigte sogar ein Loch von einer Kugel in seinem Hut. Dann sei, wie er weiter aussagte, sein Vater hintenübergefallen und habe sich an der Kante der untersten Treppenstufe den Schädel eingeschlagen. Dieser tragische Tod, dieses geheimnisvolle Drama, das sich ohne Zeugen abgespielt hatte, ließ im ganzen Departement die ärgerlichsten Gerüchte entstehen. Die Ärzte stellten zwar
fest, daß der Tod infolge eines Schlaganfalls eingetreten sei. Die Feinde des Präfekten aber behaupteten trotzdem, dieser müsse den Alten umgestoßen haben; und dank der übermäßig strengen Verwaltung, die Niort unter einem Schreckensregiment zu Boden drückte, wuchs die Zahl seiner Feinde von Tag zu Tag. Du Poizat biß die Zähne zusammen, verkrampfte seine Fäuste, die Fäuste eines kränklichen Kindes, blieb bleich und aufrecht und brachte, wo er vorüberging, die Schwätzer auf den Türschwellen mit einem einzigen Blick seiner grauen Augen zum Verstummen. Aber noch ein anderes Unglück traf ihn; er mußte Gilquin absetzen, der in eine üble Geschichte, bei der es um Befreiung vom Militärdienst ging, verwickelt war. Gilquin hatte sich für hundert Francs anheischig gemacht, Bauernsöhne freizukaufen; und alles, was man tun konnte, war, ihn vor dem Zuchtpolizeigericht zu retten und sich von ihm loszusagen. Bis dahin jedoch hatte sich Du Poizat stark auf Rougon gestützt,
dessen Verantwortlichkeit er bei jeder neuen Katastrophe immer mehr belastete. Er mußte wohl wittern, daß der Minister in Ungnade gefallen war, denn er kam nach Paris, ohne ihn zu benachrichtigen, selber sehr aus dem Gleichgewicht geraten, weil er fühlte, auf wie wackligen Füßen diese Macht stand, die er zugrunde gerichtet hatte, und war bereits auf der Suche nach einer starken Hand, an die er sich klammern könnte. Er dachte daran, sich um eine andere Präfektur zu bewerben, um einer sicheren Entlassung zu entgehen. Nach dem Tode seines Vaters und dem Schurkenstreich Gilquins wurde Niort für ihn unmöglich. »Ich habe Herrn Du Poizat zwei Schritt von hier im Faubourg SaintHonore getroffen«, sagte Clorinde eines Tages aus Bosheit zu dem Minister. »Stehen Sie denn nicht mehr gut miteinander? – Er scheint wütend auf Sie zu sein.«
Rougon vermied es, zu antworten. Nachdem er dem Präfekten mehrere Vergünstigungen hatte verweigern müssen, hatte er gespürt, wie nach und nach eine große Kälte zwischen ihnen entstand; jetzt ließen sie es bei den rein offiziellen Beziehungen bewenden. Übrigens war es ein allgemeines Auseinanderlaufen. Sogar Frau Correur verließ ihn. An manchen Abenden empfand er aufs neue jenes Einsamkeitsgefühl, unter dem er schon damals in der Rue Marbeuf gelitten hatte, als seine Clique an ihm zweifelte. Nach seinen so ausgefüllten Tagen inmitten der Menge, die seinen Salon belagerte, fand er sich wieder allein, verloren, tief unglücklich. Seine Vertrauten fehlten ihm. Es überkam ihn wieder ein unabweisliches Bedürfnis nach der Bewunderung des Obersts und des Herrn Bouchard, nach der Lebenswärme, mit der ihn sein kleiner Hofstaat zu umgeben pflegte; selbst das Schweigen des Herrn Béjuin vermißte er. Da versuchte er es nochmals,
seine Leute wieder an sich zu ziehen; er wurde liebenswürdig, schrieb Briefe, wagte es mit Besuchen. Aber die Bande waren zerrissen, nie gelang es ihm, sie alle da, alle nahe bei sich zu haben; wenn er den Faden an einem Ende wieder anknüpfte, so zerriß ihn irgendein Verdruß am anderen Ende; und er blieb dennoch unvollständig, mit zu wenigen Freunden, zu wenigen Gliedern. Kurz, alle entfernten sich von ihm. Das war der Todeskampf seiner Macht. Er, der so stark war, war durch die lange Arbeit für ihr gemeinsames Glück an diese Dummköpfe gefesselt. Sie nahmen jeder ein wenig von ihm fort, als sie sich zurückzogen. Bei dieser Verringerung seiner Bedeutung war seine Kraft gewissermaßen nutzlos; seine großen Fäuste schlugen ins Leere. An dem Tag, an dem sein Schatten allein unter der Sonne war, an dem er sich nicht länger durch den Mißbrauch seines Ansehens mästen konnte, schien es ihm, als habe sich sein Platz auf der
Erde verkleinert; und er träumte von einer Neugeburt, einer Wiederauferstehung als Jupiter tonans100, als welcher er, ohne Clique zu seinen Füßen, einzig durch den starken Schall seines Wortes gebieten würde. Indes hielt sich Rougon noch nicht für ernstlich in seiner Stellung erschüttert. Den Bissen, die ihm kaum die Fersen ritzten, schenkte er keine Beachtung. Unbeliebt und einsam, regierte er gebieterisch. Zudem baute er in allem auf den Kaiser. Seine Leichtgläubigkeit war damals seine einzige Schwäche. Jedesmal, wenn er den Herrscher sah, fand er ihn wohlwollend, sehr freundlich, mit seinem undurchdringlichen blassen Lächeln; und der Kaiser sprach ihm abermals sein Vertrauen aus, er wiederholte die so oft gegebenen Instruktionen. Das genügte ihm. Seine Majestät konnte nicht daran denken, ihn zu opfern. Diese Gewißheit bestimmte ihn dazu, einen kühnen Streich zu wagen. Um seine Feinde zum Schweigen zu bringen und
seine Macht auf festen Grund zu stellen, kam ihm der Einfall, in sehr würdiger Form seinen Rücktritt anzubieten; er sprach von den gegen ihn ausgestreuten Beschwerden, er sagte, daß er die Wünsche des Kaisers genau befolgt habe und das Bedürfnis nach einer hohen Bestätigung empfinde, bevor er in seinem Werk für das Staatswohl fortfahre. Im übrigen trat er geradeheraus als Mann der starken Faust auf, als Repräsentant der erbarmungslosen Unterdrückung. Der Hof weilte in Fontainebleau. Als das Rücktrittsangebot abgegangen war, wartete Rougon mit der Kaltblütigkeit eines guten Spielers. Die letzten Skandale, das Drama von Coulonges, die Haussuchung bei den Schwestern von der Heiligen Familie, würden bald vergessen sein. Falls er stürzte, wollte er im Gegenteil von seiner vollen Höhe herabstürzen, als starker Mann. An ebendem Tag, an dem sich das Schicksal
des Ministers entscheiden sollte, fand in der Orangerie der Tuilerien ein Wohltätigkeitsbasar zugunsten einer Kleinkinderbewahranstalt statt, die unter dem Protektorat der Kaiserin stand. Alle dem Schloß Nahestehenden, die ganzen hohen Regierungskreise würden sich bestimmt dort treffen, um ihren Eifer zu beweisen. Rougon beschloß, dort sein gelassenes Gesicht zu zeigen. Es war eine Herausforderung: den Leuten, die ihn mit ihren scheelen Blicken belauern würden, offen ins Gesicht zu sehen, seine stille Verachtung inmitten des Geflüsters der Menge spazierenzutragen. Gegen drei Uhr gab er gerade dem Personalchef eine letzte Anweisung, bevor er wegging, als ein Kammerdiener kam und ihm meldete, daß ein Herr und eine Dame dringend darum ersuchten, ihn in seinen Privaträumen zu sprechen. Die Karte trug die Namen des Marquis und der Marquise d'Escorailles. Die beiden alten Leute, die der Diener,
irregeführt durch ihr fast ärmliches Aussehen, im Speisesaal hatte warten lassen, erhoben sich förmlich. Rougon beeilte sich, sie in den Salon zu führen, ganz gerührt von ihrem Kommen, jedoch irgendwie beunruhigt. Er brach in Ausrufe der Verwunderung über ihre plötzliche Reise nach Paris aus, war bestrebt, sich sehr liebenswürdig zu zeigen. Aber sie blieben unzugänglich und steif, trugen saure Mienen zur Schau. »Mein Herr«, begann der Marquis endlich, »Sie werden den Schritt entschuldigen, den zu tun wir uns genötigt sehen ... Es handelt sich um unseren Sohn Jules. Wir möchten gern, daß er aus dem Verwaltungsdienst ausscheidet, wir bitten Sie, ihn nicht länger in Ihrer persönlichen Nähe zu behalten.« Und als der Minister sie mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens ansah, fuhr der alte Herr fort: »Die jungen Leute sind leichtfertig. Wir haben zweimal an Jules geschrieben, um ihm
unsere Gründe darzulegen, und haben ihn gebeten, sich abseits zu halten ... Da er uns nicht gehorchte, haben wir uns dann entschlossen herzukommen. Es ist dies das zweite Mal, mein Herr, daß wir innerhalb von dreißig Jahren die Reise nach Paris machen.« Da begehrte Rougon auf. Jules habe die besten Aussichten. Sie würden ihm die Karriere verderben. Während er sprach, gab die Marquise Zeichen der Ungeduld von sich. Als die Reihe an ihr war, äußerte sie sich mit größerer Lebhaftigkeit. »Mein Gott, Herr Rougon, es steht uns nicht zu, Sie zu richten. Aber es gibt in unserer Familie gewisse Traditionen ... Jules kann nicht an einer abscheulichen Verfolgung der Kirche teilnehmen. In Plassans wundert man sich bereits. Wir würden uns mit dem gesamten Adel unserer Heimat überwerfen.« Er hatte begriffen. Er wollte sprechen. Sie gebot ihm mit einer herrischen Geste
Schweigen. »Lassen Sie mich zu Ende reden ... Unser Sohn hat sich gegen unseren Willen politisch gebunden. Sie wissen, wie groß unser Schmerz war, als wir ihn einer unrechtmäßigen Regierung dienen sahen. Ich habe seinen Vater daran gehindert, ihn zu verfluchen. Seit jener Zeit herrscht Trauer in unserem Hause, und wenn wir Freunde empfangen, wird der Name unseres Sohnes niemals ausgesprochen. Wir hatten geschworen, uns nicht mehr um ihn zu kümmern; allein es gibt Grenzen, es wird unerträglich, daß sich ein d'Escorailles unter den Feinden unserer heiligen Religion befindet ... Sie verstehen mich, nicht wahr, mein Herr?« Rougon verbeugte sich. Er dachte nicht einmal daran, über die frommen Lügen der alten Dame zu lächeln. Er fand den Marquis und die Marquise so wieder, wie er sie zu jener Zeit gekannt hatte, als er auf dem Pflaster von Plassans fast verhungerte: hochmütig, voller
Dünkel und Anmaßung. Wenn ihm andere eine so seltsame Rede gehalten hätten, würde er ihnen bestimmt die Tür gewiesen haben. Aber er war verwirrt, gekränkt, klein geworden; für einen Augenblick kehrte seine Jugend mit ihrer jämmerlichen Armut zurück, vermeinte er, noch seine schiefgetretenen, abgetragenen Schuhe von einst an den Füßen zu haben. Er versprach, auf Jules einzuwirken. Dann begnügte er sich damit, mit einer Anspielung auf die Antwort, die er vom Kaiser erwartete, hinzuzufügen: »Übrigens, gnädige Frau, wird Ihnen Ihr Sohn vielleicht schon heute abend zurückgegeben werden.« Als Rougon wieder allein war, fühlte er sich von Furcht ergriffen. Diese alten Leute hatten seine schöne Kaltblütigkeit erschüttert. Jetzt zögerte er, bei diesem Wohltätigkeitsbasar zu erscheinen, wo ihm alle Augen seine Verwirrung vom Gesicht ablesen würden. Aber er schämte sich dieser kindischen Angst. Und er machte sich, durch sein Arbeitszimmer
gehend, auf den Weg. Er fragte Merle, ob nichts für ihn gekommen sei. »Nein, Exzellenz«, antwortete der Türhüter, der seit dem Morgen auf etwas zu lauern schien, im Tonfall eines Mannes, der im Bilde ist. Die Orangerie der Tuilerien, wo der Wohltätigkeitsbasar stattfand, war für diese Gelegenheit ganz prächtig ausgeschmückt worden. Eine Bespannung aus rotem Samt mit goldenen Fransen verdeckte die Mauern, verwandelte den weiten kahlen Raum in einen hohen Festsaal. An seinem linken Ende hatte man ihn durch einen ungeheuer großen Vorhang, ebenfalls aus rotem Samt, unterteilt, wodurch ein Zimmer entstand, und dieser Vorhang, mittels Gardinenhaltern mit riesigen goldenen Quasten gerafft, war weit geöffnet und verband den großen Saal, in dem man die Verkaufstische aufgereiht hatte, mit dem kleineren Zimmer, das als Erfrischungsraum
eingerichtet worden war. Den Boden hatte man mit feinem Sand bestreut. In jeder Ecke wuchsen aus Majolikakübeln dicke Büschel von Blattpflanzen auf. In der Mitte des Vierecks, das durch die Ladentische gebildet wurde, stand ein Rundsofa, gleichsam eine niedrige Samtbank mit sehr schräger Rücklehne, aus dessen Mitte eine kolossale Blumengarbe aufstieg, ein Gebinde von Zweigen, zwischen denen wie ein Regen funkelnder Tropfen Rosen, Nelken und Verbenen herabhingen. Und vor den offenen zweiflügligen Glastüren prüften auf der Terrasse am Rand des Wassers Türhüter im schwarzen Frack mit raschem Blick die Karten der Geladenen. Die Veranstalterinnen rechneten kaum damit, daß vor vier Uhr viele Leute kommen würden. Sie standen in dem großen Saal hinter den Tischen und warteten auf Kundschaft. Auf den langen, mit rotem Tuch bedeckten Tafeln waren die Waren zur Schau gestellt; es gab
mehrere Tische mit Pariser Artikeln und Chinoiserien, zwei Verkaufsstände für Kinderspielzeug, einen Blumenkiosk voller Rosen, schließlich ein Glücksrad unter einem Zelt, wie bei den Festen in den Vorstädten. Die Verkäuferinnen, in ausgeschnittenen Gesellschaftstoiletten, nahmen die gefälligen Manieren von Händlerinnen an, das Lächeln einer Modistin, die einen alten Hut an den Mann bringen will, schmeichlerische Modulationen der Stimme; und sie schwätzten und lobten ihre Ware, ohne etwas von ihr zu verstehen; und bei diesem Ladenfräuleinspielen machten sie sich mit Gekicher mit allen gemein, gekitzelt von all diesen Käuferhänden, den erstbesten, die ihre Hände berührten. Einen der Spielzeugstände hatte eine Fürstin inne; gegenüber verkaufte eine Marquise Portemonnaies zu neunundzwanzig Sou, die sie nicht billiger als für zwanzig Francs hergab; beide rivalisierten miteinander, versuchten den Triumph ihrer
Schönheit durch die größte Einnahme zu beweisen, sie nahmen sich gegenseitig die Kunden weg, sprachen die Herren an, verlangten unverschämte Preise, und nachdem sie wie betrügerische Schlächtersfrauen wütend gefeilscht hatten, gaben sie, um die großen Käufe zum Abschluß zu bringen, ein wenig von sich selber drein, eine Berührung der Fingerspitzen, den Anblick ihrer tief ausgeschnittenen Corsagen. Die Wohltätigkeit war nur Vorwand. Nach und nach jedoch füllte sich der Saal. Herren blieben ruhig stehen, betrachteten prüfend die Verkäuferinnen, als wären diese ein Teil der Auslage. Vor einigen Ladentischen entstand ein dichtes Gedränge von sehr eleganten jungen Leuten; sie kicherten, trieben es bis zu gassenjungenhaften Anspielungen auf ihre Einkäufe, während sich die Damen mit unerschöpflicher Gefälligkeit vom einen zum anderen wandten und ihren ganzen Laden mit der gleichen entzückten Miene anboten. Vier Stunden lang sich allen
anzubieten ist ein Festschmaus. Von hellem Lachen durchbrochen, erhob sich über dem gedämpften Stampfen der Schritte auf dem Sand ein Stimmenlärm wie bei einer Versteigerung. Die rote Wandbespannung schluckte das grelle Licht der hohen Fenstertüren auf, schuf einen wabernden roten Schein, der die nackten Busen in einem rosigen Hauch schimmern ließ. Und zwischen den Ladentischen, zwischen dem Publikum stürzten sich sechs weitere Damen, eine Baronin, zwei Bankierstöchter, drei Gattinnen hoher Beamter, die leichte, um den Hals gehängte Körbe umhertrugen und Zigarren und Zündhölzer ausriefen, jedem neuen Ankömmling entgegen. Frau de Combelot vor allem hatte viel Erfolg. Sie war Blumenverkäuferin und saß auf einem sehr hohen Sitz in dem Kiosk voller Rosen, einem kunstvoll nachgeahmten, vergoldeten Schweizerhäuschen, das einem großen Vogelbauer glich. Selber ganz in Rosa, einem
hautfarbenen Rosa, das ihre Nacktheit über den bogenförmigen Ausschnitt ihrer Corsage hinaus fortsetzte, nur zwischen den Brüsten das allen vorgeschriebene Veilchenbukett, hatte sie sich ausgedacht, ihre Sträuße wie eine richtige Blumenhändlerin vor den Augen des Publikums zu binden: eine Rose, eine Knospe, drei Blätter, die sie zwischen den Fingern drehte, während sie das Ende des Fadens mit den Zähnen hielt, und, je nach dem Aussehen der Herren, für ein bis zehn Louisdors verkaufte. Und man riß sich um ihre Sträußchen, sie konnte den Aufträgen gar nicht genügen, sie stach sich zuweilen bei ihrer eifrigen Tätigkeit und sog dann heftig das Blut aus ihren Fingern. In der Leinwandbude gegenüber bediente die hübsche Frau Bouchard das Glücksrad. Sie trug ein köstliches blaues Kleid von ländlichem Schnitt, mit hoher Taille, dessen Corsage fichurartig gearbeitet war, fast eine Verkleidung, um ganz so wie eine Lebkuchen
und Oblatenhändlerin auszusehen. Dazu verstellte sie ihre Stimme zu einem allerliebsten Lispeln, einem einfältigen Gezwitscher von feinster Eigenart. Auf dem Glücksrad waren die Gewinne nach Klassen geordnet, scheußliche Nippes zu fünf oder sechs Sou, Saffianwaren, Glassachen, Porzellangegenstände; und die Feder knirschte gegen die Messingdrähte, die rotierende Scheibe drehte mit einem ununterbrochenen Scheppern wie von zerbrochenem Geschirr die Gewinne mit. Wenn es an Spielern fehlte, sagte Frau Bouchard alle zwei Minuten mit der sanften Stimme einer Unschuld vom Lande, die erst tags zuvor aus ihrem Dorf gekommen ist: »Einmal drehen zwanzig Sou, meine Herren ... Kommen Sie, meine Herren, wagen Sie zwanzig Sou ...« Der Erfrischungsraum, ebenfalls mit Sand bestreut und in den Ecken mit Blattpflanzen geschmückt, war mit kleinen runden Tischen und mit Rohrstühlen ausgestattet. Um die
Sache reizvoller zu gestalten, hatte man versucht, ein richtiges Café nachzuahmen. An dem monumentalen Verkaufstisch im Hintergrund fächelten sich drei Damen in Erwartung der Bestellungen der Gäste. Vor ihnen bildeten Likörkaraffen, Schüsseln mit Kuchen und Sandwiches, Naschwerk, Zigarren und Zigaretten eine recht gemischte Auslage wie bei einem öffentlichen Ball. Und zuweilen erhob sich die mittelste der Damen, eine braunhaarige und ungestüme Gräfin, beugte sich vor, um ein Gläschen zu füllen, kannte sich nicht mehr aus in diesem Durcheinander von Karaffen und fuhrwerkte, auf die Gefahr hin, alles zu zerschlagen, mit ihren bloßen Armen herum. Clorinde aber herrschte im Erfrischungsraum. Sie bediente das Publikum an den Tischen. Man hätte meinen können, Juno101 sei Kellnerin in einem Bierlokal geworden. Sie trug ein Kleid aus gelbem Atlas, mit schrägen schwarzen Atlasstreifen besetzt, eine ungewöhnliche, die Blicke
verwirrende Robe von wunderbarer Schönheit, deren Schleppe einem Kometenschweif glich. Sehr tief dekolletiert, den Busen fast ganz entblößt, bewegte sie sich königlich zwischen den Rohrstühlen und trug mit der Gelassenheit einer Göttin auf Tabletts aus Weißmetall Biergläser umher. Sie streifte die Schultern der Männer mit ihren nackten Ellbogen, beugte sich in ihrer ausgeschnittenen Corsage vor, um Bestellungen entgegenzunehmen, wurde, ohne sich zu hetzen, allen gerecht, lächelte und fühlte sich ganz in ihrem Element. Wenn die Getränke ausgetrunken waren, nahm sie mit ihrer prachtvollen Hand die Silberstücke und die Sous entgegen und warf sie mit einer schon gewohnten Bewegung in einen Geldbeutel, der an ihrem Gürtel hing. Inzwischen hatten sich soeben Herr Kahn und Herr Béjuin hingesetzt. Ersterer klopfte im Scherz auf den Zinktisch und rief: »Madam, zwei Bock!«
Sie kam, servierte die zwei Gläser Bockbier und blieb dort stehen, um sich einen Augenblick lang auszuruhen, weil der Erfrischungsraum gerade fast leer war. Zerstreut wischte sie sich mit ihrem Spitzentaschentuch die Finger ab, über die Bier geflossen war. Herrn Kahn fiel das besondere Leuchten ihrer Augen auf, das triumphierende Strahlen, das von ihrem ganzen Gesicht ausging. Er zwinkerte ihr zu; dann fragte er: »Wann sind Sie von Fontainebleau zurückgekehrt?« »Heute morgen«, antwortete sie. »Und Sie haben den Kaiser gesehen? Was gibt's Neues?« Sie lächelte, verzog auf eine undefinierbare Weise die Lippen und sah ihn ihrerseits an. Da erblickte er an ihr ein sonderbares Schmuckstück, das er nicht an ihr kannte. Auf ihrem bloßen Hals, ihren bloßen Schultern lag ein Hundehalsband, ein richtiges
Hundehalsband aus schwarzem Samt, mit Schnalle, Ring und Glöckchen, einem Glöckchen aus Gold, in dem eine echte Perle bimmelte. Auf dem Halsband standen in ineinander verschlungenen und seltsam gewundenen Buchstaben aus Diamanten zwei Namen. Und von dem Ring hing zwischen ihren Brüsten eine dicke goldene Kette bis zu ihrem Schoß hinab, lief dann wieder nach oben und war in ein goldenes Schild eingehakt, das an ihrem rechten Arm befestigt war und auf dem man las: »Ich gehöre meinem Herrn.« »Ist das ein Geschenk?« murmelte Herr Kahn diskret und deutete auf das Schmuckstück. Sie bejahte durch Kopfnicken, die Lippen noch immer zu einem schlauen und sinnlichen Ausdruck verzogen. Sie hatte diese Hörigkeit gewollt. Sie trug sie mit einer schamlosen Heiterkeit zur Schau, die sie über die alltäglichen Fehltritte hinaushob, geehrt durch eine fürstliche Wahl, von allen beneidet. Als sie so erschienen war, den Hals von dem
Halsband umschlossen, auf dem die stechenden Augen der Nebenbuhlerinnen einen erlauchten Vornamen, mit dem ihrigen verschlungen, zu entziffern behaupteten, hatten alle Frauen begriffen und rasche Blicke gewechselt, wie um einander zu sagen: Es ist also passiert! Seit einem Monat redete man in allen Regierungskreisen von diesem Ereignis, erwartete diesen Ausgang. Und es war tatsächlich passiert; sie schrie es selber hinaus, sie trug es auf ihrer Schulter geschrieben. Wenn man einer von Ohr zu Ohr geflüsterten Geschichte glauben durfte, war ihr erstes Liebeslager mit fünfzehn Jahren das Strohbündel gewesen, auf dem ein Kutscher schlief, hinten in einem Pferdestall. Später war sie in andere Betten gestiegen, immer höher hinauf, Betten von Bankiers, von höheren Beamten, von Ministern, und hatte in jeder dieser Nächte mehr und mehr ihr Glück gemacht. Dann hatte sie, von Alkoven zu Alkoven, von Stufe zu Stufe gelangend,
gleichsam als strahlenden Abschluß, um einen höchsten Wunsch und eine höchste Eitelkeit zu befriedigen, soeben ihren schönen kühlen Kopf auf das kaiserliche Kissen gelegt. »Madam, ein Bock, bitte!« verlangte ein dicker Herr, Mitglied der Ehrenlegion, ein General, der sie lächelnd anblickte. Und als sie das Bier gebracht hatte, riefen zwei Abgeordnete nach ihr. »Zwei Gläser Chartreuse, bitte!« Eine Flut von Leuten kam herein, von allen Seiten kreuzten sich die Bestellungen: Grog, Anisette, Limonade, Kuchen, Zigarren. Die Männer musterten sie scharf und unterhielten sich dabei leise, befeuert durch die schlüpfrige Geschichte, die in Umlauf war. Und wenn diese Bierkellnerin, die am selben Morgen aus den Armen eines Kaisers gekommen war, mit ausgestreckter Hand das Geld in Empfang nahm, schienen sie zu schnuppern, irgend
etwas von dieser staatsoberhauptlichen Liebe an ihr zu suchen. Ohne jede Verwirrung drehte sie langsam den Hals, um ihr Hundehalsband zu zeigen, dessen dicke goldene Kette leise klirrte. Es mußte der Sache einen erhöhten Reiz verleihen, sich zur Bedienerin aller zu machen, nachdem man soeben für eine Nacht Herrscherin gewesen war, und zum Spaß auf ihren Füßen, den Füßen eines Marmorbildes, die ein erlauchter Schnurrbart leidenschaftlich geküßt hatte, zwischen Zitronenscheiben und Kuchenkrümeln um die Tische eines Cafés zu streichen. »Das ist sehr ergötzlich«, sagte sie, als sie sich wieder vor Herrn Kahn aufpflanzte. »Sie halten mich, auf Ehrenwort, für eine Kellnerin! Einer hat mich, glaube ich, gekniffen. Ich habe nichts gesagt. Wozu auch? – Es ist ja für die Armen, nicht wahr?« Herr Kahn bat sie mit einem Augenzwinkern, sich zu bücken, und ganz leise fragte er: »Nun
also, was ist mit Rougon?« »Pst! Gleich!« erwiderte sie, ebenfalls die Stimme dämpfend. »Ich habe ihm in meinem Namen eine Einladungskarte geschickt. Ich erwarte ihn.« Und da Herr Kahn den Kopf schüttelte, fügte sie lebhaft hinzu: »Doch, doch, ich kenne ihn, er wird kommen ... Übrigens weiß er von nichts.« Von da an begannen Herr Kahn und Herr Béjuin auf die Ankunft Rougons zu lauern. Durch die weit offenen Vorhänge überblickten sie den ganzen großen Saal. Dort nahm die Menge von Minute zu Minute zu. Herren, die mit übereinandergeschlagenen Beinen zurückgelehnt rings auf dem Rundsofa saßen, schlossen mit schläfriger Miene die Augen, während sich ein ununterbrochener Zug von Gästen, über ihre vorgestreckten Füße stolpernd, an ihnen vorbeidrehte. Es wurde übermäßig warm. Das Getöse in dem roten
Brodem, der über den schwarzen Hüten schwebte, wurde immer stärker. Und inmitten des dumpfen Gemurmels ging zuweilen mit dem Geräusch einer Knarre das Knirschen des Glücksrades los. In einem weiß und malvenfarben gestreiften Kleid aus Seidenbarege, unter dem das Fett der Schultern und Arme zu Wülsten von schmutzigem Rosa aufquoll, war soeben die sehr üppige Frau Correur erschienen und schritt langsam an den Ladentischen entlang. Ein Ausdruck von Vorsicht lag auf ihrem Gesicht, und sie blickte nachdenklich wie eine Kundin, die ein gutes Geschäft zu tätigen sucht. Für gewöhnlich behauptete sie, man könne auf solchen Wohltätigkeitsbasaren ausgezeichnete Gelegenheitskäufe machen; diese armen Damen wüßten nicht Bescheid, kennten ihre Waren nicht immer. Niemals übrigens kaufe sie bei Verkäuferinnen aus ihrem Bekanntenkreis; die »schröpften« ihre Leute zu sehr. Als sie durch den ganzen Saal
gegangen war, alle Gegenstände umgedreht, sie beschnuppert und wieder hingelegt hatte, kehrte sie zu einem Tisch mit Saffianwaren zurück, vor dem sie volle zehn Minuten stehenblieb und mit ratloser Miene die Auslage durchwühlte. Endlich griff sie scheinbar gleichgültig nach einer Mappe aus Juchtenleder, auf die sie seit mehr als einer Viertelstunde ein Auge geworfen hatte. »Was kostet die?« fragte sie. Die Verkäuferin, eine große, blonde junge Frau, die gerade mit zwei Herren scherzte, wandte sich kaum um, antwortete: »Fünfzehn Francs.« Die Mappe war mindestens zwanzig Francs wert. Diese Damen, die miteinander darum kämpften, aus den Herren tolle Beträge herauszuholen, verkauften in einer Art freimaurerischen Zusammengehörigkeitsgefühls im allgemeinen an Frauen zum Einkaufspreis. Aber Frau
Correur legte mit entsetztem Gesicht die Mappe wieder auf den Tisch und murmelte: »Oh, das ist zu teuer ... Ich will ein Geschenk machen. Zehn Francs würde ich dafür anlegen, mehr nicht. Haben Sie nicht etwas Hübsches für zehn Francs?« Und wieder warf sie die ganze Auslage durcheinander. Nichts gefiel ihr. Mein Gott, wenn die Mappe doch nicht so teuer wäre! Sie nahm sie abermals in die Hand, steckte die Nase in die einzelnen Taschen. Die Verkäuferin, die die Geduld verlor, wollte sie ihr schließlich für vierzehn Francs ablassen, dann für zwölf. Nein, nein, das sei noch immer zu teuer. Und nach wildem Feilschen bekam sie sie für elf Francs. Die große junge Frau sagte: »Ich verkaufe lieber ... alle Frauen feilschen ... Keine einzige kauft ... Ach, wenn wir die Herren nicht hätten!« Frau Correur hatte die Freude, im Weggehen unten in der Mappe ein Schildchen zu finden,
auf dem der Preis von fünfundzwanzig Francs stand. Sie streifte noch ein Weilchen umher, ließ sich dann neben Frau Bouchard hinter dem Glücksrad nieder. Sie nannte sie »meine Teure« und brachte ihr zwei Stirnlöckchen in Ordnung, die sich aufgelöst hatten. »Sieh da, der Oberst kommt!« rief Herr Kahn, der noch immer an seinem Tisch im Erfrischungsraum saß und mit den Augen die Eingänge überwachte. Der Oberst kam, weil er nicht anders konnte. Er rechnete darauf, mit einem Louisdor davonzukommen, und schon das ließ ihm das Herz bluten. Bereits an der Tür wurde er von drei oder vier Damen umringt und bestürmt, die immerzu wiederholten: »Mein Herr, kaufen Sie mir eine Zigarre ab ... Mein Herr, eine Schachtel Streichhölzer ...« Er lächelte und machte sich höflich frei. Dann verschaffte er sich einen Überblick, wollte sofort seine Schuldigkeit tun. Er blieb bei
einem Tisch stehen, den eine Dame, die sich sehr gut mit dem Hof stand, innehatte, und fragte sie nach dem Preis eines sehr häßlichen Zigarettenetuis. Fünfundsiebzig Francs! Er konnte eine Gebärde des Schreckens nicht unterdrücken, warf das Etui wieder hin und ging davon, während die Dame, rot geworden, gekränkt den Kopf wandte, als sei er ihr persönlich unziemlich zu nahe getreten. Dann näherte er sich, um ärgerliche Bemerkungen zu verhindern, dem Kiosk, in dem Frau de Combelot noch immer ihre kleinen Sträuße band. Diese Sträußchen würden wohl nicht teuer sein. Da er ahnte, daß die Blumenverkäuferin ihre Arbeit hoch bewerten würde, wollte er vorsichtshalber nicht einmal einen Strauß nehmen. Aus dem Haufen von Rosen wählte er die am wenigsten aufgeblühte, die dürftigste, eine halbzerfressene Knospe. Und sein Portemonnaie ziehend, fragte er höflich: »Gnädige Frau, was kostet diese Blume?«
»Hundert Francs, mein Herr«, antwortete die Dame, die sein Treiben heimlich beobachtet hatte. Er fing an zu stammeln, seine Hände zitterten. Aber diesmal war es unmöglich, zurückzutreten. Es waren viele Leute da, man sah ihn an. Er bezahlte, flüchtete sich in den Erfrischungsraum, setzte sich an den Tisch zu Herrn Kahn und murmelte: »Das ist die reinste Räuberhöhle, die reinste Räuberhöhle ...« »Haben Sie Rougon nicht im Saal gesehen?« fragte Herr Kahn. Der Oberst antwortete nicht. Er warf von weitem wütende Blicke auf die Verkäuferinnen. Als dann Herr d'Escorailles und Herr La Rouquette vor einem Verkaufstisch in ein lautes Gelächter ausbrachen, stieß er wieder zwischen den Zähnen hervor: »Bei Gott, den jungen Leuten macht das Vergnügen ... Sie bekommen am Ende immer etwas für ihr Geld.«
Herr d'Escorailles und Herr La Rouquette amüsierten sich in der Tat sehr. Die Damen rissen sich um sie. Schon bei ihrem Kommen hatten sich ihnen Arme entgegengestreckt; rechts und links erklangen ihre Namen. »Herr d'Escorailles, Sie wissen, was Sie mir versprochen haben ... Nun, Herr La Rouquette, Sie werden mir doch ein kleines Pferdchen abkaufen. Nein? Dann eine Puppe. Ja, ja, eine Puppe, gerade die brauchen Sie!« Sie hakten sich unter, um sich zu schützen, wie sie lachend sagten. Sie gingen weiter. Strahlend, entzückt schritten sie durch den Ansturm all der Frauenröcke, das warme Streicheln dieser hübschen Stimmen. Zuweilen verschwanden sie, versunken unter den nackten Busen, gegen die sie sich, kleine Schreckensschreie ausstoßend, zu verteidigen vorgaben. Und an jedem Tisch ließen sie sich liebenswürdig Gewalt antun. Dann spielten sie den Geizigen, heuchelten ein komisches
Entsetzen. Ein Püppchen, das einen Sou wert sei, für einen Louisdor, das überschreite ihre Mittel! Drei Bleistifte zwei Louisdors, man wolle ihnen wohl das Brot vor dem Munde wegnehmen! Es war zum Totlachen. Die Damen waren von einer girrenden Heiterkeit, die wie ein Flötenlied klang. Berauscht von diesem Goldregen, wurden sie gieriger, verdreifachten, vervierfachten, von leidenschaftlicher Raublust gepackt, die Preise. Sie reichten sich die Herren mit Augenzwinkern von Hand zu Hand weiter, und Worte liefen um wie: »Die werde ich zwicken, die ... Sie sollen sehen, man kann sie schröpfen ...«, Aussprüche, die die beiden Herren hörten und auf die sie mit neckischen Verbeugungen antworteten. Hinter ihrem Rücken triumphierten die Damen und rühmten sich ihrer Erfolge; die Schlimmste, die am meisten Beneidete war ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, die eine Stange Siegellack für drei Louisdors verkauft hatte.
Als sie jedoch am Ende des Saales angekommen waren und eine Verkäuferin Herrn d'Escorailles durchaus eine Schachtel Seife in die Taschen stopfen wollte, rief dieser aus: »Ich habe keinen Sou mehr, aber wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen Schuldscheine aus!« Er schüttelte sein Portemonnaie. Die Dame, allzusehr in Schwung, vergaß sich, ergriff das Portemonnaie, durchsuchte es. Und sie sah den jungen Mann an, sie schien im Begriff, ihm seine Uhrkette abzufordern. Es war ein Spaß. Herr d'Escorailles nahm zu solchen Basaren stets zum Scherz ein leeres Portemonnaie mit. »Ah, zum Kuckuck!« sagte er, Herrn La Rouquette fortziehend. »Ich werde knauserig ... Wir müssen wohl versuchen, das Verlorene wiederzugewinnen.« Und als sie an dem Glücksrad vorbeikamen,
ließ Frau Bouchard ihren Ruf ertönen: »Einmal drehen zwanzig Sous, meine Herren ... Wagen Sie zwanzig Sou ...« Sie traten heran, taten so, als hätten sie nicht verstanden. »Was kostet einmal drehen, Madam?« »Zwanzig Sou, meine Herren.« Das Gelächter fing von neuem an, wurde noch lauter. Aber Frau Bouchard in ihrem blauen Gewand spielte weiter die Treuherzige, schlug erstaunte Augen zu den beiden Herren auf, als seien sie ihr unbekannt. Dann begann eine großartige Partie. Während einer Viertelstunde knirschte das Glücksrad, ohne einmal anzuhalten. Sie drehten abwechselnd. Herr d'Escorailles gewann zwei Dutzend Eierbecher, drei kleine Spiegel, sieben Biskuitfigürchen, fünf Zigarettenetuis; Herrn La Rouquettes Gewinn bestand aus zwei Bündeln Spitzen, einem Videpoche102 aus
minderwertigem Porzellan mit Füßen aus vergoldetem Zink, Gläsern, einem Handleuchter, einem Kasten mit einer Spiegelscheibe. Schließlich verzog Frau Bouchard den Mund und rief: »Aber nein, Sie haben zuviel Glück! Ich spiele nicht mehr ... Hier nehmen Sie das Zeug mit.« Sie hatte alles auf einem danebenstehenden Tisch zu zwei großen Haufen zusammengestellt. Herr La Rouquette schien bestürzt zu sein. Er bat sie, seinen Haufen gegen das vorschriftsmäßige Veilchensträußchen einzutauschen, das sie ins Haar gesteckt trug. Aber das lehnte sie ab. »Nein, nein, Sie haben das gewonnen, nicht wahr? Nun also, nehmen Sie es mit.« »Die gnädige Frau hat recht«, meinte Herr d'Escorailles ernst. »Man schlägt sein Glück nicht aus. Was mich betrifft, will ich des Teufels sein, wenn ich auch nur einen Eierbecher hierlasse! – Ich werde knauserig.«
Er hatte sein Taschentuch ausgebreitet und knüpfte säuberlich ein Bündel. Es gab einen neuen Heiterkeitsausbruch. Herrn La Rouquettes Verlegenheit war nicht weniger belustigend. Da streckte Frau Correur, die bis dahin im Hintergrund des Zeltes eine lächelnde Matronenwürde bewahrt hatte, ihr breites rosiges Gesicht heraus. Sie wolle gern einen Tausch machen. »Nein, ich will nichts dafür«, beeilte sich der junge Abgeordnete zu sagen. »Nehmen Sie das Ganze, ich schenke Ihnen alles.« Und sie gingen nicht fort, sie blieben noch ein Weilchen da. Jetzt richteten sie an Frau Bouchard mit gedämpfter Stimme Schmeicheleien von zweifelhaftem Geschmack. Bei ihrem Anblick drehten sich die Köpfe noch mehr als ihr Glücksrad. Was verdiene man denn bei ihrem reizenden Spiel? Aber so schön wie ein Pfänderspiel sei es nicht; und beim Pfänderspiel würden sie
allerlei nette Dinge mit ihr treiben. Frau Bouchard senkte die Wimpern und kicherte wie ein dummes Gänschen; sie wiegte sich leicht in den Hüften wie eine Bäuerin, wenn Herren Spott und Spaß mit ihr treiben, während Frau Correur vor Entzücken über sie außer sich geriet und wiederholt mit Kennermiene begeistert ausrief: »Wie allerliebst sie ist, wie allerliebst!« Aber Frau Bouchard klopfte schließlich Herrn d'Escorailles auf die Finger, weil er den Mechanismus des Glücksrades untersuchen wollte und behauptete, sie betrüge. Würden sie sie wohl endlich in Ruhe lassen! Und als sie sie fortgeschickt hatte, fing sie wieder mit ihrer einladenden Händlerinnenstimme an: »Kommen Sie, meine Herren, einmal drehen zwanzig Sou ... Wagen Sie zwanzig Sou!« In diesem Augenblick setzte sich Herr Kahn, der aufgestanden war, um über die Köpfe hinwegzusehen, schleunigst wieder hin und
murmelte: »Da ist Rougon ... Wir wollen tun, als wüßten wir von nichts, nicht wahr?« Rougon schritt langsam durch den großen Saal. Er blieb stehen, spielte bei Frau Bouchard Glücksrad, bezahlte bei Frau de Combelot drei Louisdors für eine Rose. Als er so seine Opfergabe dargebracht hatte, schien er sofort wieder weggehen zu wollen. Er schob die Menge beiseite, bewegte sich bereits auf eine Tür zu. Aber plötzlich, als er gerade einen Blick in den Erfrischungsraum geworfen hatte, wandte er sich mit hocherhobenem Kopf gelassen, hochmütig nach jener Seite. Herr d'Escorailles und Herr La Rouquette hatten sich zu Herrn Kahn, Herrn Béjuin und dem Oberst gesetzt, auch Herr Bouchard war gerade gekommen. Und alle diese Herren überlief, als der Minister an ihnen vorüberging, ein leichter Schauder, so groß und stark schien er ihnen mit seinen massigen Gliedern. Er hatte alle auf einmal gegrüßt, ganz ungezwungen. Er setzte sich an einen
nahen Tisch. Sein breites Gesicht senkte sich nicht, langsam drehte er es nach links, nach rechts, wie um den Blicken, die er starr auf sich gerichtet fühlte, die Stirn zu bieten und sie zu ertragen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Clorinde, königlich ihr schweres gelbes Gewand nachschleppend, war zu ihm getreten. Mit geheuchelter Gewöhnlichkeit, aus der ein Anflug von Spott herausklang, fragte sie ihn: »Womit kann ich Ihnen dienen?« »Ah, sieh da!« sagte er munter. »Ich trinke nie etwas ... Was haben Sie denn?« Da zählte sie ihm schnell Schnäpse auf: Kognak, Rum, Curaçao, Kirsch, Chartreuse, Anisette, Vesperto, Kümmel. »Nein, nein, geben Zuckerwasser.«
Sie
mir
ein
Glas
Sie ging zum Büfett, holte, ihre göttinnenhafte Majestät wahrend, das Glas Zuckerwasser.
Und sie blieb bei Rougon stehen und sah zu, wie er den Zucker zergehen ließ. Er lächelte noch immer. Er gab die erstbesten abgedroschenen Redensarten von sich. »Geht es Ihnen gut? – Ich habe Sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« »Ich war in Fontainebleau«, antwortete sie nur. Er hob die Augen, sah sie mit einem durchdringenden Blick forschend an. Aber nun befragte sie ihn ihrerseits. »Und sind Sie zufrieden? Geht alles nach Wunsch?« »Ja, durchaus«, entgegnete er. »Nun, um so besser!« Und sie bemühte sich um ihn mit der Aufmerksamkeit eines CaféKellners. Sie ließ die böse Flamme ihrer Augen nicht von ihm, als sei sie im Begriff, im nächsten Augenblick ihren Triumph zu verraten.
Als sie sich endlich entschloß, ihn zu verlassen, hob sie sich auf die Fußspitzen, um einen Blick in den anstoßenden Saal zu werfen. Dann berührte sie ihn an der Schulter und sagte mit brennendem Gesicht: »Ich glaube, man sucht Sie.« Tatsächlich kam Merle ehrerbietig zwischen den Stühlen und Tischen des Erfrischungsraumes heran. Er machte rasch nacheinander drei Verbeugungen. Und er bat Seine Exzellenz, ihn zu entschuldigen. Man habe nach dem Fortgehen Seiner Exzellenz den Brief gebracht, den Seine Exzellenz seit dem Morgen zu erwarten schien. Da habe er, obwohl er keinen Befehl erhalten, geglaubt ... »Schon gut, geben Sie her«, unterbrach ihn Rougon. Der Türhüter überreichte ihm einen großen Umschlag und streifte dann im Saal umher. Rougon hatte mit einem Blick die Handschrift erkannt; es war ein eigenhändig geschriebener
Brief des Kaisers, die Antwort auf das Rücktrittsangebot. Leichter kalter Schweiß überzog seine Schläfen. Aber er wurde nicht einmal blaß. Ruhig schob er den Brief in die Innentasche seines Gehrocks und bot dabei unverwandt den Blicken Trotz, die man vom Tisch des Herrn Kahn auf ihn richtete. Dorthin war Clorinde gegangen, um Kahn ein paar Worte zu sagen. Die ganze Clique belauerte jetzt mit heftiger, fieberhafter Neugier Rougon, ließ sich nicht eine seiner Bewegungen entgehen. Als die junge Frau zu ihm zurückgekehrt war und sich vor ihn hinstellte, trank er endlich die Hälfte seines Glases Zuckerwasser und suchte nach einer Schmeichelei. »Sie sind heute von vollendeter Schönheit. Wenn die Königinnen Dienstmädchen würden ...« Sie schnitt sein Kompliment ab und fragte in ihrer dreisten Art: »Sie lesen ihn also nicht?«
Er tat, als wisse er gar nicht, wovon sie sprach. Dann, als erinnere er sich wieder: »Ach ja, den Brief ... Wenn es Ihnen Vergnügen macht, werde ich ihn lesen.« Und er schlitzte den Umschlag sorgfältig mit einem Federmesser auf. Mit einem einzigen Blick hatte er die wenigen Zeilen überflogen. Der Kaiser nahm seinen Rücktritt an. Fast eine Minute lang hielt er sich das Blatt Papier vors Gesicht, wie um es nochmals zu lesen. Er hatte Angst, nicht mehr seine gelassene Miene bewahren zu können. Ein furchtbarer Sturm erhob sich in ihm; eine Empörung seiner ganzen Kraft, die den Sturz nicht hinnehmen wollte, schüttelte ihn rasend, bis ins Mark; wenn er sich nicht bis zur Starrheit zusammengerissen hätte, würde er geschrien, den Tisch mit Faustschlägen zertrümmert haben. Den Blick noch immer auf den Brief geheftet, sah er den Kaiser wieder so vor sich, wie er ihn in SaintCloud gesehen hatte, als dieser ihm mit seiner lässigen Redeweise,
seinem eigensinnigen Lächeln aufs neue sein Vertrauen aussprach, ihm seine Instruktionen bestätigte. Wie lange also mußte er hinter seinem verschleierten Gesicht bereits den Gedanken, Rougon in Ungnade fallen zu lassen, gehegt haben, um ihn in einer einzigen Nacht so jäh zu vernichten, nachdem er ihn zwanzigmal in der Regierung behalten hatte? Es gelang Rougon mit äußerster Anstrengung, sich zu beherrschen. Er hob wieder das Gesicht, in dem kein Zug sich rührte; den Brief steckte er mit einer gleichgültigen Geste wieder in die Tasche. Clorinde aber hatte beide Hände auf das Tischchen gestützt. Sie neigte sich in einer lässigen Bewegung zu ihm herab und flüsterte mit zuckenden Mundwinkeln: »Ich habe es gewußt, ich war noch heute morgen dort ... mein armer Freund!« Und sie bedauerte ihn mit einer so grausam spöttischen Stimme, daß er sie abermals Auge in Auge ansah. Sie verstellte sich übrigens
nicht mehr. Sie ließ sich den seit Monaten erwarteten Genuß nicht entgehen, kostete ohne Eile, Satz auf Satz, die Wollust aus, sich ihm endlich als unversöhnliche und gerächte Feindin zu zeigen. »Ich konnte Sie nicht verteidigen«, fuhr sie fort. »Es ist Ihnen zweifellos nicht bekannt ...« Sie beendete den Satz nicht. Dann fragte sie spitz: »Erraten Sie, wer im Innenministerium an Ihre Stelle treten wird?« Er machte eine Geste, als kümmere ihn das nicht. Sie aber quälte ihn mit ihrem Blick. Schließlich warf sie kurz hin: »Mein Mann!« Rougon, dem der Mund trocken geworden war, trank noch einen Schluck Zuckerwasser. Sie hatte alles in dieses Wort gelegt, ihren Zorn darüber, einst verschmäht worden zu sein, ihre mit so viel Kunst herbeigeführte Rache, die Freude einer Frau, einen Mann zu besiegen, der im Ruf höchster Kraft stand.
Dann machte sie sich das Vergnügen, ihn zu martern, Mißbrauch mit ihrem Sieg zu treiben; sie wurde verletzend. Mein Gott, ihr Mann sei kein überragender Mensch; sie gab es zu, sie scherzte sogar darüber und wollte damit zum Ausdruck bringen, daß der erstbeste genügt habe, daß sie selbst den Türhüter Merle zum Minister gemacht haben würde, wenn die Laune sie dazu getrieben hätte. Ja, den Türhüter Merle, einen beliebigen Schwachkopf, ganz gleich wen: Rougon würde in jedem Fall einen würdigen Nachfolger gehabt haben. Das beweise die unumschränkte Macht des Weibes. Dann verriet sie sich ganz, sie zeigte sich mütterlich, als Beschützerin, Erteilerin guter Ratschläge. »Sehen Sie, mein Lieber, ich habe es Ihnen oft gesagt. Sie tun unrecht daran, die Frauen zu verachten. Nein, die Frauen sind nicht so dumm, wie Sie denken. Das hat mich in Zorn versetzt. Sie uns als Närrinnen behandeln zu hören, als lästige Gegenstände, was weiß ich
noch, als Klotz an den Füßen ... Sehen Sie doch meinen Mann an! War ich ihm etwa ein Klotz am Bein? – Ich wollte Sie dahin bringen, das einzusehen. Ich hatte mir diesen Genuß an dem Tage versprochen, an dem wir jenes Gespräch führten, Sie erinnern sich wohl. Jetzt haben Sie es gesehen, nicht wahr? Nun gut, keinen Groll weiter ... Sie sind ein kluger Kopf, mein Lieber. Aber lassen Sie sich das eine gesagt sein: eine Frau wird stets die Oberhand über Sie gewinnen, wenn sie sich die Mühe dazu nehmen mag.« Rougon, ein wenig bleich, lächelte. »Ja, Sie haben vielleicht recht«, entgegnete er langsam, während er sich die ganze Geschichte wieder ins Gedächtnis zurückrief. »Ich hatte nichts als meinen Verstand. Sie hatten ...« »Ich hatte anderes, bei Gott!« ergänzte sie mit einer Offenheit, die an Größe grenzte, so stolz war sie auf ihre Verachtung alles
herkömmlichen Anstands. Er äußerte keine einzige Klage. Sie hatte ihm von seiner Kraft geraubt, um ihn zu besiegen; heute wandte sie die an seiner Seite als gelehrige Schülerin während der schönen Nachmittage in der Rue Marbeuf buchstabierten Lehren gegen ihn. Das war Undankbarkeit, Verrat, ein bitterer Trank, den er als erfahrener Mann ohne Widerwillen schluckte. Das einzige, was ihn bei dieser Katastrophe lebhaft beschäftigte, war, daß er gern gewußt hätte, ob er sie nun endlich ganz und gar kenne. Er entsann sich seiner einstigen Nachforschungen, seiner vergeblichen Bemühungen, das geheime Räderwerk dieses prachtvollen, aber aus allen Fugen geratenen Mechanismus zu durchschauen. Die Dummheit der Männer war entschieden sehr groß. Zweimal war Clorinde weggegangen, um Liköre
zwischendurch zu servieren.
Nachdem sie sich Genugtuung verschafft hatte, nahm sie wieder ihr königliches Umherwandern zwischen den Tischen auf und tat so, als befasse sie sich nicht mehr mit ihm. Er folgte ihr mit den Rücken und sah, wie sie sich einem Herrn mit einem ungeheuren Bart näherte, einem Ausländer, dessen Verschwendungssucht damals ganz Paris in Aufregung versetzte. Dieser trank soeben ein Glas Malaga aus. »Wieviel macht das, Madam?« erkundigte er sich im Aufstehen. »Fünf Francs, mein Herr. Alle Getränke kosten fünf Francs.« Er bezahlte. Dann fragte er im gleichen Ton, mit seiner fremden Aussprache: »Und was kostet ein Kuß?« »Hunderttausend Francs«, antwortete sie ohne Zögern. Er setzte sich wieder, schrieb ein paar Worte
auf ein aus einem Notizbuch gerissenes Blatt. Dann drückte er ihr einen schallenden Kuß auf die Wange, bezahlte, ging mit völlig gelassenem Schritt davon. Alle Welt lächelte, fand das ausgezeichnet. »Man muß nur den Preis festzusetzen verstehen«, erklärte leise Clorinde, die wieder zu Rougon zurückkehrte. Und er sah darin eine neue Anspielung. Zu ihm hatte sie »niemals« gesagt. Da litt dieser gehemmte Mann, der unter dem Keulenschlag der kaiserlichen Ungnade nicht zusammengebrochen war, bitter unter dem Anblick des Halsbandes, das die junge Frau in so schamloser Weise trug. Sie beugte sich noch mehr vor, forderte ihn heraus, drehte den Hals. Die echte Perle bimmelte in dem goldenen Glöckchen; die Kette hing da, als sei sie noch warm von der Hand des Herrn, die Diamanten funkelten auf dem Samt, wo Rougon mit Leichtigkeit das allen bekannte
Geheimnis entzifferte. Und noch nie hatte er sich in solchem Maße von dieser uneingestandenen Eifersucht gepackt gefühlt, diesem brennenden, hoffärtigen Neid, den er zuweilen angesichts des allgewaltigen Kaisers empfunden hatte. Lieber hätte er Clorinde in den Armen jenes Kutschers gesehen, von dem man sich flüsternd erzählte. Daß er sie für ihn unerreichbar wußte, ganz hoch oben, Sklavin eines Mannes, der mit einem einzigen Wort Menschen demütigte, reizte seine alte Begierde auf. Zweifellos erriet die junge Frau seine Qual. Sie fügte eine neue Grausamkeit hinzu, sie wies mit einem Augenzwinkern auf Frau de Combelot, die in ihrem Blumenkiosk ihre Rosen verkaufte. Und sie murmelte mit ihrem bösen Lachen: »Ach, die arme Frau de Combelot, sie wartet noch immer!« Rougon trank sein Zuckerwasser aus. Er fühlte sich dem Ersticken nahe. Er zog sein
Portemonnaie, stammelte: »Wieviel macht es?« »Fünf Francs.« Als sie die Münze in ihren Geldbeutel geworfen hatte, streckte sie nochmals die Hand hin und fragte scherzend: »Und der Kellnerin geben Sie nichts?« Er suchte, fand zwei Sous, die er ihr in die Hand drückte. Das war seine brutale Art, die einzige Rache, die dieser ungeschliffene Emporkömmling zu ersinnen wußte. Trotz ihrer großen Sicherheit errötete sie. Aber sie nahm wieder ihre göttinnenhafte Hoheit an. Sie verneigte sich, sagte obenhin: »Danke, Exzellenz«, und ging fort. Rougon wagte nicht, sofort aufzustehen. Die Knie waren ihm weich geworden, er fürchtete zu versagen, und er wollte doch so gehen, wie er gekommen war, stark und fest, mit ruhigem Gesicht. Vor allem bangte ihm davor, an
seinen alten Vertrauten vorbeizugehen, deren gereckte Hälse, gespitzte Ohren und fest auf ihn gerichtete Augen sich auch nicht die kleinste Einzelheit des Vorgangs hatten entgehen lassen. Er spielte den Gleichgültigen und ließ seinen Blick noch ein Weilchen umherschweifen. Er überlegte. Abermals war also ein Akt seines politischen Lebens zu Ende. Er stürzte, untergraben, angefressen, verschlungen von seiner Clique. Seine starken Schultern krachten unter der Last der Verantwortung, unter den Dummheiten und den Gemeinheiten, die er aus prahlerischer Großmannssucht, in dem Bedürfnis, ein gefürchtetes und großherziges Oberhaupt zu sein, auf seine Rechnung genommen hatte. Seine Stiermuskeln machten seinen Sturz nur dröhnender, den Zusammenbruch seiner Sippschaft umfassender. Gerade die Voraussetzungen der Macht, die Notwendigkeit, Befriedigung heischende Begierden hinter sich zu haben, sich dank dem
Mißbrauch seines Kredits zu behaupten, hatten die Katastrophe unausbleiblich zu einer Frage der Zeit gemacht. Und in dieser Stunde gedachte er der langwierigen Arbeit seiner Clique, jener scharfen Zähne, die täglich etwas von seiner Kraft wegzehrten. Stets waren sie um ihn herum; sie kletterten ihm aufs Knie, dann auf die Brust, dann an die Kehle, bis sie ihn schließlich erwürgten; sie hatten ihm alles genommen, seine Füße, um damit zu steigen, seine Hände, um damit zu stehlen, seine Kinnladen, um damit zu beißen und zu verschlingen; sie hatten sich in seinen Gliedmaßen eingenistet, sogen aus ihnen ihre Freude und ihre Gesundheit, schlemmten von ihnen, ohne an das Morgen zu denken. Nun aber, da sie ihn ausgeleert hatten und das Knistern im Gebälk hörten, machten sie sich heimlich davon, den Ratten gleich, die ihr Instinkt vor dem nahen Einsturz der Häuser warnt, deren Mauern sie zernagt haben. Die ganze Clique strahlte und blühte. Sie mästete
sich bereits am Fett eines anderen. Herr Kahn hatte soeben seine Bahnlinie von Niort nach Angers an den Grafen de Marsy verkauft. Der Oberst sollte in der nächsten Woche einen Posten in den kaiserlichen Schlössern erhalten. Herr Bouchard war im Besitz der ausdrücklichen Zusage, daß sein Schützling, der interessante George Duchesne, zum stellvertretenden Abteilungschef ernannt werden würde, sobald Delestang das Innenministerium übernahm. Frau Correur freute sich über eine schwere Krankheit der Frau Martineau und sah sich schon in ihrem Haus in Coulonges wohnen, ihre Zinsen als gute Bürgerin verzehren und im dortigen Bezirk Gutes tun. Herr Béjuin war gewiß, daß der Kaiser im Herbst die Kristallfabrik besuchen werde. Herr d'Escorailles schließlich lag nach eindringlichen Strafpredigten des Marquis und der Marquise vor Clorinde auf den Knien, errang allein durch die höchste Bewunderung, mit der er sie Liköre servieren
sah, eine Stelle als Unterpräfekt. Und Rougon kam sich angesichts der vollgefressenen Clique kleiner als früher vor, empfand nun sie als riesig, fühlte sich von ihr erdrückt und wagte noch nicht, seinen Stuhl zu verlassen, aus Angst, sie lächeln zu sehen, falls er stolpern sollte. Nachdem dann sein Kopf freier geworden war und er sich allmählich wieder gefaßt hatte, stand er dennoch auf. Er schob soeben das Zinktischchen zurück, um vorbeizukönnen, als Delestang am Arm des Grafen de Marsy eintrat. Über diesen erzählte man sich gerade eine sehr merkwürdige Geschichte. Wenn man gewissen Tuscheleien glauben wollte, hatte er sich in der vorigen Woche mit Clorinde im Schloß von Fontainebleau getroffen, und zwar einzig zu dem Zweck, die Zusammenkünfte der jungen Frau mit Seiner Majestät zu erleichtern. Er hatte die Aufgabe, die Kaiserin zu unterhalten. Übrigens fand man das anscheinend prickelnd, nichts sonst; es war
eine jener Gefälligkeiten, die man einander unter Männern stets erweist. Aber Rougon witterte darin eine Rache des Grafen, der, indem er im Komplott mit Clorinde auf Rougons Sturz hinarbeitete, sich jetzt gegen seinen Nachfolger im Ministerium der gleichen Waffen bediente, die einige Monate zuvor in Compiègne dazu verwendet worden waren, ihn, Marsy, zu stürzen. Er tat das auf geistvolle Art, mit einem Anflug eleganter Unflätigkeit. Seit seiner Rückkehr aus Fontainebleau wich Herr de Marsy Delestang nicht mehr von der Seite. Herr Kahn, Herr Béjuin, der Oberst, die ganze Clique warf sich dem neuen Minister in die Arme. Die Ernennung sollte erst am folgenden Tag im »Moniteur« bekanntgegeben werden, anschließend an die Meldung vom Rücktritt Rougons; aber der Erlaß war unterschrieben, man konnte schon frohlocken. Sie drückten ihm lange und kräftig die Hand, mit Grinsen, geflüsterten Worten, einem Feuer der
Begeisterung, das die Blicke des ganzen Saales nur mit knapper Not in Grenzen zu halten vermochten. So begannen die Vertrauten, die die Füße küssen, die Hände küssen, bevor sie sich aller seiner Gliedmaßen bemächtigen, allmählich Besitz von ihm zu ergreifen. Und er gehörte ihnen bereits; einer hielt ihn am rechten Arm gefaßt, ein anderer am linken; ein dritter hatte einen Knopf seines Gehrocks ergriffen, während sich ein vierter hinter seinem Rücken aufreckte und ihm etwas in den Nacken flüsterte. Er trug seinen schönen Kopf hoch, war von einer leutseligen Würde, zeigte die achtunggebietende korrekte und einfältige Miene eines Staatsoberhaupts auf Reisen, dem die Damen der Unterpräfekturen Blumensträuße überreichen, wie man das auf den offiziellen Bildern sieht. Rougon, sehr bleich geworden, bis aufs Blut gepeinigt von dieser Verherrlichung der Mittelmäßigkeit, konnte angesichts dieser Gruppe dennoch
nicht umhin zu lächeln. Er erinnerte sich. »Ich habe immer vorausgesagt, daß Delestang es weit bringen wird«, sagte er mit schalkhafter Miene zu Graf de Marsy, der mit ausgestreckter Hand auf ihn zugegangen war. Der Graf verzog als Antwort mit bezaubernder Ironie leicht die Lippen. Seit er mit Delestang Freundschaft geschlossen hatte, nachdem er dessen Frau gefällig gewesen war, mußte er sich wohl außerordentlich gut amüsieren. Er hielt Rougon einen Augenblick lang zurück, war von ausgesuchter Höflichkeit zu ihm. Immer im Streit miteinander liegend, Widersacher von Natur, begrüßten sich diese beiden starken Männer am Ende eines jeden ihrer Zweikämpfe als Gegner von gleicher Fähigkeit, nahmen sich vor, unaufhörlich Vergeltung zu üben. Rougon hatte Marsy verwundet und Marsy soeben Rougon, so würde das weitergehen, bis einer von beiden auf der Strecke blieb. Vielleicht wünschten sie
einander im Grunde genommen nicht einmal den völligen Tod, denn der Kampf machte ihnen Vergnügen, und ihre Nebenbuhlerschaft füllte ihr Leben aus; zudem empfanden sie sich undeutlich als die zwei für das Gleichgewicht des Kaiserreichs notwendigen Gegengewichte, die haarige Faust, die erschlägt, die vornehme behandschuhte Hand, die erdrosselt. Unterdessen wurde Delestang von einer grausamen Verlegenheit gepeinigt. Er hatte Rougon bemerkt und wußte nicht, ob er hingehen und ihm die Hand geben sollte. Er sah ratlos zu Clorinde hinüber, die, scheinbar von ihrem Dienst ganz in Anspruch genommen und gegen alles andere gleichgültig, nach allen Seiten des Erfrischungsraums Sandwiches, Babas103 und Spritzkuchen brachte. Und auf einen Blick der jungen Frau hin, den er zu verstehen glaubte, trat er endlich ein wenig verwirrt und sich entschuldigend auf Rougon zu.
»Mein Freund, Sie sind mir doch nicht böse ... Ich weigerte mich, man hat mich gezwungen ... Nicht wahr, es gibt Erfordernisse ...« Rougon unterbrach ihn; der Kaiser habe nach seiner Weisheit gehandelt, das Land werde sich in ausgezeichneten Händen befinden. Da faßte sich Delestang ein Herz. »Oh, ich habe Sie verteidigt, wir alle haben Sie verteidigt. Aber, unter uns, Sie waren ein wenig zu weit gegangen ... Vor allem lag einem Ihr letztes Vorgehen für die Charbonnels auf der Seele. Sie wissen, diese armen Nonnen ...« Herr de Marsy unterdrückte ein Lächeln. Rougon erwiderte mit der Gutmütigkeit seiner glücklichen Tage: »Ja, ja, der Besuch bei den Nonnen ... Mein Gott, unter allen Dummheiten, zu denen mich meine Freunde veranlaßt haben, ist das vielleicht die einzige
vernünftige und gerechte Sache in den fünf Monaten, die ich am Ruder war.« Und er wollte gerade gehen, als er sah, daß Du Poizat eintrat und Delestang mit Beschlag belegte. Der Präfekt tat so, als bemerke er Rougon nicht. Seit drei Tagen lag er in Paris auf der Lauer und wartete. Er mußte seinen Präfekturwechsel durchgesetzt haben, denn er floß über von Dankesäußerungen und entblößte bei seinem wolfhaften Lächeln seine weißen, unregelmäßig stehenden Zähne. Als sich der neue Minister dann umwandte, fiel ihm beinahe der Türhüter Merle in die Arme, den Frau Correur vor sich her schob; der Türhüter schlug die Augen nieder wie ein schüchternes junges Mädchen, während Frau Correur ihn warm empfahl. »Er ist im Ministerium nicht beliebt«, flüsterte sie, »weil er durch sein Schweigen gegen die Mißbräuche protestierte. Ich sage Ihnen, er hat unter Herrn Rougon seltsame Dinge gesehen!«
»O ja, sehr seltsame!« bestätigte Merle. »Ich könnte lange davon erzählen ... Um Herrn Rougon wird es kaum jemandem leid tun. Ich werde vor allem nicht dafür besoldet, ihn zu lieben. Er hätte mich beinah rauswerfen lassen.« In dem großen Saal, den Rougon langsamen Schrittes durchquerte, waren die Verkaufstische leer. Um sich bei der Kaiserin, unter deren Schirmherrschaft die Veranstaltung stand, beliebt zu machen, hatten die Gäste alle Waren aufgekauft. Die Verkäuferinnen waren entzückt und sprachen davon, noch am selben Abend ihre Stände mit frischen Waren neu zu eröffnen. Und sie zählten ihr Geld auf den Tischen. Unter triumphierendem Gelächter wurden Zahlen ausgerufen: eine hatte dreitausend Francs eingenommen, eine andere viertausendfünfhundert, eine weitere siebentausend, wieder eine zehntausend. Diese strahlte. Sie war eine ZehntausendFrancsFrau.
Frau de Combelot jedoch war verzweifelt. Soeben hatte sie ihre letzte Rose an den Mann gebracht, und noch immer belagerten die Kunden ihren Kiosk. Sie stieg herunter, um Frau Bouchard zu fragen, ob diese nichts Verkäufliches habe, ganz gleich was. Aber auch das Glücksrad war leer; eine Dame nahm gerade den letzten Gewinn mit, eine kleine Puppenwaschschüssel. Sie suchten trotzdem, sie waren hartnäckig und fanden schließlich ein Päckchen Zahnstocher, das auf die Erde gefallen war. Frau de Combelot trug es mit Siegesgeschrei davon. Frau Bouchard folgte ihr. Alle beide stiegen wieder in den Kiosk. »Meine Herren! Meine Herren!« rief erstere, kühn dastehend und die Herren unten mit einer runden Bewegung ihrer nackten Arme um sich versammelnd. »Dies ist alles, was wir noch haben, ein Päckchen Zahnstocher ... Es sind fünfundzwanzig Zahnstocher ... Ich verkaufe sie meistbietend ...«
Die Herren stießen einander fast um, lachten, streckten die behandschuhten Hände in die Luft. Frau de Combelots Einfall hatte einen tollen Erfolg. »Ein Zahnstocher!« rief sie. »Ich selber biete fünf Francs ... Los, meine Herren, fünf Francs!« »Zehn Francs!« sagte eine Stimme. »Zwölf Francs!« – »Fünfzehn Francs!« Als aber Herr d'Escorailles jäh auf fünfundzwanzig Francs gesprungen war, bekam Frau Bouchard es mit der Eile und sagte mit ihrer Flötenstimme: »Für fünfundzwanzig Francs zugeschlagen!« Die anderen Zahnstocher stiegen noch viel höher. Herr La Rouquette bezahlte seinen mit dreiundvierzig Francs; der Cavaliere Rusconi, der gerade kam, trieb sein Gebot bis auf zweiundsiebzig Francs; endlich wurde der letzte, ein ganz dünner Zahnstocher, von dem
Frau de Combelot, die, wie sie sagte, ihre Leute nicht betrügen wollte, verkündete, daß er gespalten sei, für den Betrag von hundertsiebzehn Francs einem alten Herrn zugeschlagen, der sehr entflammt war von dem Eifer der jungen Frau, deren Corsage bei jeder ihrer leidenschaftlichen Bewegungen als Auktionskommissar ein wenig auseinanderklaffte. »Er ist gespalten, meine Herren, aber man kann ihn noch benutzen ... Wir sagen hundertacht! – Hundertzehn der dort! – Hundertelf! Hundertzwölf! Hundertdreizehn! Hundertvierzehn! – Sieh da, hundertvierzehn! Er ist mehr wert ... Hundertsiebzehn! Hundertsiebzehn! Bietet niemand mehr? Zugeschlagen für hundertsiebzehn!« Und von diesen Zahlen verfolgt, verließ Rougon den Saal. Auf der Terrasse am Wasser verlangsamte er den Schritt. Am Horizont zog ein Unwetter auf. Unten zwischen den fahlen
Kais, von denen große Staubwolken aufflogen, floß träge, Ölig und schmutziggrün die Seine. Im Garten schüttelten Stöße glühender Luft die Bäume, deren Äste schlaff und tot, mit reglosem Laub herabhingen. Rougon ging unter den großen Kastanienbäumen dahin; dort war es fast völlig finster; wie von einem Kellergewölbe sickerte warme Feuchtigkeit herab. Als er auf die große Allee hinauskam, erblickte er die Charbonnels, die es sich mitten auf einer Bank bequem gemacht hatten, prächtig herausgeputzt, ganz verwandelt; der Gatte steckte in hellen Beinkleidern und einem in der Taille eng anliegenden Gehrock, die Frau hatte einen Hut mit roten Blumen auf und trug über einem Kleid aus lila Seide einen leichten Mantel. Neben ihnen saß rittlings auf einem Ende der Bank ein zerlumptes Individuum ohne Wäsche, nur mit einem alten elenden Jagdrock bekleidet, gestikulierte, rückte näher. Es war Gilquin. Seine Hand schlug immer wieder gegen seine leinene
Schirmmütze, die ihm wegrutschte. »Eine Lumpenbande!« schrie er. »Hat Théodore jemals jemanden auch nur um einen Sou schädigen wollen? Sie haben eine Geschichte von Freikauf vom Militär erfunden, um mich zu kompromittieren. Da habe ich sie sitzenlassen. Sie verstehen. Sollen sie zur Hölle fahren, nicht wahr? Sie haben Angst vor mir, bei Gott! Sie kennen meine politischen Ansichten ganz genau. Ich habe nie zu Badinguets Anhang gehört ...« Schmachtende Augen rollend, beugte er sich vor, fügte leiser hinzu: »Nur um eine Person dort unten ist es mir leid ... Oh, eine anbetungswürdige Frau, eine Dame der Gesellschaft. Ja, ja, eine sehr angenehme Beziehung ... Sie war blond. Ich habe Haare von ihr.« Dann fing er, ganz dicht bei Frau Charbonnel, der er auf den Leib klopfte, mit donnernder Stimme wieder an: »Je, nun, Mama, wann
nehmen Sie mich mit nach Plassans, Sie wissen ja, um das Eingemachte zu verzehren, die Äpfel, die Kirschen, die Marmelade? – Ah, jetzt hat man einen vollen Beutel!« Aber die Charbonnels schien Gilquins Vertraulichkeit sehr zu verdrießen. Die Frau antwortete widerwillig, ihr lila Seidenkleid wegziehend: »Wir sind für einige Zeit in Paris ... Wir werden hier auf jeden Fall jedes Jahr sechs Monate verbringen.« »Oh, Paris«, sprach der Gatte mit dem Ausdruck tiefster Bewunderung, »es geht nichts über Paris!« Und da die Windstöße stärker wurden und eine aufgelöste Schar von Kindermädchen durch den Garten lief, sagte er, sich seiner Frau zuwendend: »Meine Teure, wir werden gut daran tun, nach Hause zu gehen, wenn wir nicht naß werden wollen.
Glücklicherweise wohnen wir nur zwei Schritt entfernt.« Sie waren im Hôtel du PalaisRoyal in der Rue de Rivoli abgestiegen. Gilquin sah mit verächtlichem Achselzucken zu, wie sie sich entfernten. »Auch welche, die einen treulos verlassen!« murmelte er. »Alles Treulose!« Plötzlich bemerkte er Rougon. Er wiegte sich in den Hüften, wartete darauf, daß jener vorbeikam, gab seiner Mütze einen Klaps. »Ich habe dich nicht aufgesucht«, wandte er sich an ihn. »Du hast es mir nicht übelgenommen, nicht wahr? – Dieser Windbeutel Du Poizat wird dir wohl über mich Bericht erstattet haben. Lügen, mein Lieber; ich werde es dir beweisen, wenn du magst ... Kurz, ich bin dir nicht böse. Und siehst du, zum Beweis gebe ich dir meine Adresse: Rue du BonPuits 25 in La Chapelle, fünf Minuten
vor der Stadt. Also, falls du mich noch nötig haben solltest, brauchst du mir nur einen Wink zu geben.« Schlurfend ging er davon. Einen Augenblick lang schien er Umschau zu halten. Dann drohte er mit der Faust dem Tuilerienschloß, das weit dort hinten in der Allee bleigrau unter dem finsteren Himmel lag, und rief: »Es lebe die Republik!« Rougon verließ den Garten, ging die ChampsElysées hinauf. Er war von einem plötzlichen Verlangen erfaßt, sofort sein kleines Stadthaus in der Rue Marbeuf wiederzusehen. Er rechnete damit, schon am nächsten Tag aus dem Ministerium auszuziehen und von neuem dort zu leben. Sein Kopf war wie erschöpft, erfüllt von einer großen Ruhe, mit einem dumpfen Schmerz tief innen. Er dachte an unbestimmte Dinge, an große Dinge, die er eines Tages tun würde, um seine Kraft zu beweisen. Hin und wieder hob
er den Kopf, betrachtete den Himmel. Das Unwetter wollte noch immer nicht losbrechen. Kupferrote Wolken ballten sich am Horizont. Durch die menschenleere Avenue des ChampsElysées rollten schwere Donnerschläge mit dem Getöse im Galopp dahinjagender Artillerie, und die Wipfel der Bäume bewahrten davon ein Zittern. Die ersten Regentropfen fielen, als Rougon um die Ecke der Rue Marbeuf bog. Vor der Tür des Palais hielt ein Kupee. Er fand dort seine Frau vor, die die Zimmer einer Besichtigung unterzog, die Fenster ausmaß, einem Tapezierer Anweisungen gab. Er war sehr überrascht. Aber sie erklärte ihm, sie habe soeben ihren Bruder, Herrn Beulind'Orchère, besucht; der Justizbeamte, schon von Rougons Sturz unterrichtet, hatte seine Schwester demütigen, ihr seinen baldigen Einzug ins Justizministerium verkünden und versuchen wollen, endlich Unfrieden in die Ehe zu
bringen. Frau Rougon hatte daraufhin lediglich anspannen lassen, um sich unverzüglich um ihre bevorstehende Übersiedlung zu kümmern. Sie hatte noch immer das graue und ausgeruhte Gesicht einer Frömmlerin, die unerschütterliche Ruhe einer guten Hausfrau; und mit ihrem gedämpften Schritt ging sie durch die Räume, nahm wieder Besitz von diesem Haus, das sie kühl und lautlos wie ein Kloster gemacht hatte. Ihre einzige Sorge war, als getreuer Intendant das Vermögen zu verwalten, für das sie sich verantwortlich sah. Rougon wurde weich gestimmt angesichts dieser anmutlosen und beschränkten Gestalt mit der übertriebenen Vorliebe für peinliche Ordnung. Unterdessen entlud sich das Gewitter mit unerhörter Heftigkeit. Der Donner grollte, das Wasser ergoß sich in Strömen. Rougon mußte fast drei Viertelstunden lang warten. Er wollte zu Fuß zurückkehren. Die ChampsElysées waren ein Schlammsee, gelber flüssiger
Schlamm, der vom Arc de Triomphe bis zum Place de la Concorde so etwas wie das Bett eines auf einen Zug abgelassenen Flusses entstehen ließ. Die Avenue lag noch verödet, nur wenige Fußgänger wagten sich hinaus, vorsichtig die hervorstehenden Pflastersteine wählend; und die von Wasser rieselnden Bäume tropften in der Stille und Frische der Luft ab. Am Himmel hatte das Gewitter einen Schweif von kupferfarbenen Fetzen zurückgelassen, einen ganzen schmutzigen, niedrig dahinziehenden Schwarm, aus dem ein Rest schwermütigen Tageslichts herabfiel, das trübe Licht einer Räuberhöhle. Rougon wandte sich wieder seinen unbestimmten Zukunftsträumen zu. Vereinzelte Regentropfen netzten ihm die Hände. Er empfand noch immer eine solche Zerschlagenheit seines ganzen Wesens, als sei er gegen irgendein Hindernis gerannt, das ihm den Weg versperrte. Und plötzlich hörte er hinter sich lautes Getrappel, das Nahen eines
rhythmischen Galopps, von dem der Boden zitterte. Er wandte sich um. Was da durch den Matsch der Chaussee unter dem gespaltenen Licht des kupferfarbenen Himmels herankam, war ein festlicher Zug, der, aus dem Bois de Boulogne zurückkehrend, mit dem Glanz der Uniformen eine leuchtende Spur durch die unter Wasser gesetzte Weite der ChampsElysées zog. An der Spitze und am Schluß galoppierten kleine Dragonerabteilungen. In der Mitte fuhr ein geschlossener, mit vier Pferden bespannter Landauer, an dessen beiden Wagenschlägen sich zwei Stallmeister in goldbestickter Galauniform hielten und, von den Stulpenstiefeln bis zum zweispitzigen Hut mit einer Schicht flüssigen Schlamms bedeckt, gelassen die fortwährend von den Rädern fliegenden Kotspritzer hinnahmen. Und in der Finsternis des geschlossenen Wagens erschien einzig ein Kind, der Kaiserliche Prinz, der sich, die gespreizten Finger und die rosige
Nase an die Scheibe gedrückt, die Welt betrachtete. »Sieh einer diesen Knirps!« sagte lächelnd ein Straßenarbeiter, der einen Karren schob. Rougon war nachdenklich stehengeblieben und folgte mit den Blicken dem Zug, der durch die aufspritzenden Pfützen davonfegte und bis zu den unteren Blättern der Bäume alles mit Schmutz besprenkelte.
Kapitel XIV Drei Jahre später fand an einem Märztag eine sehr stürmische Sitzung im Corps législatif statt. Man besprach dort zum erstenmal die Adresse104. Herr La Rouquette und ein alter Abgeordneter, Herr de Lamberthon, der Gatte einer entzückenden Frau, hielten sich im
Erfrischungsraum auf. Sie saßen friedlich einander gegenüber und tranken Grog. »Wie wär's, wenn wir in den Saal zurückkehrten?« fragte Herr de Lamberthon, der gespannt lauschte. »Ich glaube, es geht dort heiß her.« Man vernahm zuweilen einen entfernten Lärm, ein Stimmengetöse, jäh wie ein Windstoß; dann wieder versank alles in eine große Stille. Aber Herr La Rouquette rauchte mit der Miene völliger Unbekümmertheit weiter und erwiderte: »Ach nein, lassen Sie nur, ich möchte meine Zigarre zu Ende rauchen ... Man wird uns schon benachrichtigen, wenn man uns braucht. Ich habe gebeten, uns zu benachrichtigen.« Sie waren allein im Erfrischungsraum, einem kleinen, sehr eleganten Café, das man hinten in dem schmalen Garten, der die Ecke des Kais und der Rue de Bourgogne bildet, eingerichtet hatte. In zartem Grün gestrichen,
an den Wänden ein Gitterwerk aus Bambus und mit großen Fenstern auf das dichte Gesträuch des Gartens hinaus, glich es mit seinen Spiegelglasfüllungen, seinen Tischen, seinem Büfett aus rotem Marmor, seinen gepolsterten grünen Ripsbänken einem in ein für große Feste bestimmtes Restaurant verwandelten Gewächshaus. Eines der offenen Fenster ließ den schönen Nachmittag herein, eine laue Frühlingswärme, die von dem lebhaften Luftzug über der Seine Frische empfing. »Der Krieg in Italien hat seinem Ruhm die Krone aufgesetzt«, sagte Herr La Rouquette, ein unterbrochenes Gespräch wieder aufnehmend. »Indem er dem Land die Freiheit zurückgibt, beweist er heute die ganze Stärke seines Genies ...« Er sprach vom Kaiser. Einen Augenblick lang pries er die Bedeutung der NovemberDekrete, die unmittelbare Mitwirkung der großen
Körperschaften des Staates an der Politik des Herrschers, die Ernennung von Ministern ohne Portefeuille, deren Aufgabe es war, die Regierung bei den Kammern zu vertreten. Das sei die Rückkehr des konstitutionellen Regimes, all dessen, was es darin an Gesundem und Vernünftigem gebe. Eine neue Ära, das liberale Kaiserreich, breche an. Er streifte die Asche von seiner Zigarre ab und war ganz hingerissen von Bewunderung. Herr de Lamberthon schüttelte den Kopf. »Es ist ein bißchen allzu schnell gegangen«, murmelte er. »Man hätte noch warten können. Es eilte nicht.« »Doch, doch, ich versichere Ihnen, es mußte etwas unternommen werden«, entgegnete der junge Abgeordnete lebhaft. »Gerade darin zeigt sich das Genie ...« Er dämpfte die Stimme und legte mit bedeutungsvollen Blicken die politische Lage
dar. Die Hirtenbriefe der Bischöfe anläßlich der Tatsache, daß die weltliche Macht des Papstes von der Turiner Regierung bedroht wurde, beunruhigten den Kaiser sehr. Andererseits sei die Opposition wieder erwacht, das Land durchlebe eine mißliche Zeit. Jetzt sei der Augenblick für den Versuch gekommen, die Parteien miteinander auszusöhnen und die schmollenden Politiker an sich zu ziehen, indem man ihnen kluge Zugeständnisse machte. Nun fand er das autoritäre Kaiserreich sehr unvollkommen und verherrlichte das liberale Kaiserreich als etwas, das ganz Europa erleuchten werde. »Wenn auch, er hat zu schnell gehandelt«, wiederholte Herr de Lamberthon, der noch immer den Kopf schüttelte. »Ich verstehe sehr wohl – das liberale Kaiserreich; aber es ist das Unbekannte, lieber Herr, das Unbekannte, das Unbekannte ...« Und
er
sprach
dieses
Wort
mit
drei
verschiedenen Betonungen aus, wobei er die Hand vor sich im Leeren hin und her bewegte. Herr La Rouquette sagte nichts mehr; er trank seinen Grog aus. Die beiden Abgeordneten blieben noch sitzen, betrachteten mit versunkenem Blick durch das offene Fenster den Himmel, als suchten sie das Unbekannte jenseits des Kais, bei den Tuilerien, wo große graue Dunstwolken dahintrieben. Hinter ihnen, in der Tiefe der Gänge, grollte von neuem der Orkan der Stimmen mit dem dumpfen Lärm eines nahenden Gewitters. Von Unruhe erfaßt, wandte Herr de Lamberthon den Kopf. Nach einer Pause fragte er: »Rougon soll erwidern, nicht wahr?« »Ja, ich glaube«, antwortete Rouquette zurückhaltend, mit Lippen.
Herr La schmalen
»Er war sehr kompromittiert«, fing der alte Abgeordnete wieder an. »Der Kaiser hat eine merkwürdige Wahl getroffen, als er ihn zum
Minister ohne Portefeuille ernannte und ihn beauftragte, seine neue Politik zu verteidigen!« Dann rief er mit veränderter Stimme aus: »Hören Sie mal, finden Sie nicht auch, daß dieser Grog nicht berühmt ist ... Ich habe einen rasenden Durst, ich habe Lust auf ein Glas Limonade.« Er bestellte ein Glas Limonade. Herr de Lamberthon war unschlüssig, entschied sich schließlich für Madeira. Und sie plauderten von Frau de Lamberthon; der Gatte warf dem jungen Kollegen vor, daß er sie so selten besuche. Dieser hatte sich auf der gepolsterten Rank zurückgelehnt, betrachtete sich von der Seite im Spiegel und freute sich an dem zarten Grün der Wände, diesem ganzen kühlen Erfrischungsraum, der etwas von den Hainen der Pompadourzeit hatte, wie sie damals an irgendeiner Wegkreuzung eines fürstlichen Waldes für Liebeszusammenkünfte geschaffen worden waren.
Ein Huissier trat außer Atem ein. »Herr La Rouquette, man wünscht, daß Sie sofort kommen, sofort.« Und da der junge Abgeordnete eine ärgerliche Geste machte, beugte sich der Huissier zu seinem Ohr, flüsterte ihm zu, Herr de Marsy persönlich, der Präsident der Kammer, habe ihn geschickt. Lauter fügte er hinzu: »Kurz, man benötigt jeden, kommen Sie rasch.« Herr de Lamberthon war zum Sitzungssaal geeilt. Herr La Rouquette folgte ihm zunächst, besann sich dann aber anscheinend eines anderen. In ihm stieg der Gedanke auf, alle umherschlendernden Abgeordneten gewaltsam zusammenzuholen, um sie auf ihre Sitze zu schicken. Zunächst stürzte er in den Konferenzsaal, einen sehr schönen Saal mit Oberlicht, in dem ein riesiger Kamin aus grünem Marmor stand, verziert mit zwei nackten, liegenden Frauengestalten aus weißem Marmor. Trotz des milden
Nachmittags brannten darin wahre Baumstämme. An dem ungeheuer großen Tisch dösten mit offenen Augen drei Abgeordnete und betrachteten dabei die Wandgemälde und die berühmte Pendüle, die nur einmal im Jahr aufgezogen wurde; ein vierter stand, damit beschäftigt, sich den Rücken zu wärmen, vor dem Kamin und schien mit gerührter Miene aufmerksam eine kleine Gipsstatue Heinrichs IV. anzuschauen, die sich am anderen Ende des Raumes von den bei Marengo, Austerlitz und Jena erbeuteten Fahnen abhob. Auf die Aufforderung ihres Kollegen hin, der von einem zum anderen ging und rief: »Schnell, schnell, zur Sitzung!«, fuhren die Kollegen, wie jäh aus dem Schlaf gerissen, auf und verschwanden der Reihe nach. Unterdessen lief Herr La Rouquette, von seinem Begeisterungsschwung beflügelt, schon zur Bibliothek, als er vorsichtshalber kehrtmachte, um mit einem raschen Blick den
Flur mit den Waschtoiletten abzusuchen. Dort bürstete sich Herr de Combelot, die Hände tief in ein großes Becken getaucht, gemächlich die Finger, ihrer Weiße zulächelnd. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er werde gleich auf seinen Platz zurückkehren. Und er nahm sich die Zeit, sich lange mit einem warmen Tuch, das er dann wieder in den mit kupfernen Türen versehenen Wärmeschrank legte, die Hände abzutrocknen. Er ging sogar bis zu einem hohen Spiegel am äußersten Ende des Ganges, um mit einem kleinen Taschenkamm seinen schönen schwarzen Bart zu strählen. In der Bibliothek war niemand. Die Bücher schliefen in ihren eichenen Schränken; völlig leer, stellten die beiden großen Tische den Ernst ihrer grünen Decken zur Schau; an den Armlehnen der Sessel, die in tadelloser Ordnung dastanden, waren die von einer leichten Staubschicht grauen mechanischen Pulte zusammengeklappt. Und inmitten dieser Stille, in der Verlassenheit des langen
schmalen Saales, wo ein Geruch nach Papier schwebte, sagte Herr La Rouquette, die Tür zuschlagend, ganz laut: »Hier ist nie jemand!« Dann stürmte er in die Flucht der Gänge und Säle. Er durchschritt den mit Fliesen aus Pyrenäenmarmor ausgelegten Saal, in dem die Schriftstücke ausgegeben wurden und wo sein Schritt wie unter einem Kirchengewölbe hallte. Da ihm ein Huissier mitgeteilt hatte, daß ein ihm befreundeter Abgeordneter, Herr de la Villardière, einem Herrn und einer Dame des Palais zeige, setzte er es sich in den Kopf, ihn zu finden. Er lief zum Saal des Generals Foy, dieser strengen Vorhalle, deren vier Statuen – Mirabeau, General Foy, Bailly und Casimir Périer – den Gegenstand ehrerbietiger Bewunderung der Provinzler bilden. Und nebenan im Thronsaal entdeckte er endlich Herrn de la Villardière zwischen einer dicken Dame und einem dicken Herrn, einem Ehepaar aus Dijon, ein Notar und einflußreicher Wähler mit seiner Gattin.
»Sie werden gewünscht«, sagte Herr La Rouquette, »schnell auf Ihren Posten, hören Sie?« »Ja, gleich«, antwortete der Abgeordnete. Aber er konnte sich nicht losmachen. Der dicke Herr, sehr beeindruckt von der Pracht des Saales, dem Geriesel der Vergoldungen, den Wandfüllungen aus Spiegelglas, hatte den Hut abgenommen; und er gab seinen »lieben Abgeordneten« nicht frei, er bat ihn um Erklärungen zu den Gemälden von Delacroix, die die Meere und die Flüsse Frankreichs darstellen, hohe dekorative Gestalten, Mediterraneum Mare, Oceanus, Ligeris, Rhenus, Sequana, Rhodanus, Garumna und Araris105. Diese lateinischen Wörter setzten ihn in Verlegenheit. »Ligeris heißt die Loire«, erläuterte Herr de la Villardière. Der Notar aus Dijon nickte lebhaft, er hatte begriffen. Währenddessen betrachtete seine Frau eingehend den Thron,
einen Sessel, etwas höher als die anderen, der, mit einer Schutzhülle bedeckt, auf einer breiten Stufe stand. Sie hielt sich mit sehr ergriffener Miene in ehrfurchtsvoller Entfernung. Schließlich ging sie näher heran, faßte sich ein Herz und hob verstohlen die Schutzhülle an, berührte das vergoldete Holz, betastete den roten Samt. Jetzt klapperte Herr La Rouquette den rechten Flügel des Palais ab, die unendlichen Flure, die den Schreibzimmern und den Ausschüssen vorbehaltenen Räume. Er kehrte durch den Saal der vier Säulen zurück, wo die jungen Abgeordneten vor den Standbildern von Brutus, Solon und Lykurg zu träumen pflegen, ging quer durch die große Wandelhalle, lief rasch den Rundgang entlang, jene halbkreisförmige Galerie, eine Art sehr niedriger Krypta, fahl und kahl wie eine Kirche, Tag und Nacht von Gasflammen beleuchtet; und außer Atem, hinter sich die kleine Schar der Abgeordneten herziehend, die
er bei seiner Treibjagd zusammengebracht hatte, öffnete er eine große goldbesternte Mahagonitür. Herr de Combelot, mit frisch gewaschenen Händen und tadellos gekämmtem Bart, trat gleichzeitig mit ihm ein. Herr de la Villardière, der sich seiner beiden Wähler entledigt hatte, folgte ihm auf den Fersen. Alle nahmen die Treppen mit einem Satz, stürzten geradezu in den Sitzungssaal, wo die Abgeordneten wütend in ihren Bänken standen, die Arme ausstreckten und, einen kaltblütigen Redner auf der Rednerbühne bedrohend, »Zur Ordnung! Zur Ordnung! Zur Ordnung!« schrien. »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« schrien noch lauter Herr La Rouquette und seine Freunde, ohne zu wissen, um was es sich handelte. Ein entsetzliches Getöse herrschte. Es wurde wie rasend getrampelt, durch heftiges Rütteln an den Schreibflächen der Pulte ein wahres Gewitterrollen hervorgerufen. Kreischende,
schrille Stimmen mischten Pfeiftöne in andere, schnarrende, wie Orgelbegleitung lange nachhallende Stimmen. Mitunter schienen sich die Geräusche zu brechen, entstanden Lücken im Lärm; und dann stiegen in dem abebbenden Radau Rufe der Mißbilligung auf, und einzelne Worte waren zu verstehen. »Das ist widerwärtig! Das ist unerträglich!« »Er muß das zurücknehmen!« »Ja, ja, nehmen Sie das zurück!« Aber der hartnäckigste Ruf, der Ruf, der unaufhörlich wiederkehrte, zu dem das Klappern gleichsam den Takt schlug, war der Ruf »Zur Ordnung! Zur Ordnung! Zur Ordnung!«, der immer gereizter, immer heiserer aus den ausgetrockneten Kehlen kam. Der Mann auf der Rednerbühne hatte die Arme verschränkt. Er sah die wütende Kammer fest an, diese kläffenden Gesichter, diese geschwungenen Fäuste. Zweimal, als es
ein wenig Ruhe zu geben schien, tat er den Mund auf, was ein Anschwellen des Getöses, einen rasenden Zornausbruch herbeiführte. Der Saal krachte in allen Fugen. Herr de Marsy stand vor seinem Präsidentensessel, die Hand auf dem Drücker der Glocke, und klingelte ununterbrochen, ein Alarmläuten inmitten eines Orkans. Sein hochmütiges bleiches Gesicht war von vollkommener Gelassenheit. Er hörte einen Augenblick zu klingeln auf, zog ruhig an seinen Manschetten, begann dann von neuem sein Geläute. Sein dünnes skeptisches Lächeln, eine Art Tick, der ihm zur Gewohnheit geworden war, verzog die Winkel seines schmalen Mundes. Als die Stimmen ermatteten, begnügte er sich damit, zu rufen: »Meine Herren, gestatten Sie, gestatten Sie ...« Endlich gelang es ihm, eine leidliche Ruhe herzustellen. »Ich fordere den Redner auf«, sagte er, »das
Wort, das er soeben ausgesprochen hat, näher zu erklären.« Vorgebeugt, auf die Rampe der Bühne gestützt, wiederholte der Redner seinen Ausspruch, den er mit einer eigensinnigen Kinnbewegung bekräftigte: »Ich habe gesagt, der 2. Dezember sei ein Verbrechen gewesen.« Er konnte nicht fortfahren. Der Sturm brach aufs neue los. Ein Abgeordneter, dem der Zorn das Blut ins Gesicht getrieben hatte, nannte ihn einen Mörder; ein anderer schrie ihm ein so derbes Schimpfwort zu, daß die Stenographen lächelten und sich hüteten, das Wort hinzuschreiben. Die Ausrufe überschnitten sich, übertönten einander. Dennoch hörte man die Flötenstimme Herrn La Rouquettes heraus, der mehrmals wiederholte: »Er beleidigt den Kaiser, er beleidigt Frankreich!« Herr de Marsy machte eine würdevolle Geste. Er setzte sich wieder und sagte: »Ich rufe den Redner zur Ordnung.«
Darauf folgte eine lange anhaltende Erregung. Das war nicht mehr der schläfrige Corps législatif, der fünf Jahre zuvor für einen Betrag von vierhunderttausend Francs für die Taufe des Kaiserlichen Prinzen gestimmt hatte. Auf der Linken beklatschten vier Abgeordnete den Ausspruch, den ihr Kollege von der Rednerbühne in den Saal geschleudert hatte. Jetzt waren es fünf, die das Kaiserreich angriffen. Sie brachten es durch ununterbrochenes Rütteln zum Wanken, verneinten es, verweigerten ihm ihre Stimme mit so hartnäckigem Protest, daß dessen Wirkung nach und nach das ganze Land aufwiegeln mußte. Als eine winzige Gruppe, verloren inmitten einer erdrückenden Mehrheit, standen diese Abgeordneten da; und auf die Drohungen, auf die gereckten Fäuste, auf den lärmenden Druck, die die Kammer auf sie ausübte, antworteten sie ohne jeden Kleinmut, standhaft und voll Eifer in ihrer Verteidigung.
Der Saal selber schien verwandelt, widerhallend von Lärm, in Fieberschauern erbebend. Man hatte die Rednerbühne am Fuß des Präsidiumstisches wieder aufgeschlagen. Die Kälte des Marmors, die prunkvolle Reihe der Säulen des Halbrunds erwärmten sich beim glühenden Wort der Redner. Auf den stufenweise ansteigenden Sitzen, entlang der langen roten Samtbänke, schien das durch die verglaste Deckenöffnung senkrecht herabfallende Licht bei den Stürmen der großen Sitzungen Brände zu entfachen. Der riesige Tisch mit seinen strengen Seitenflächen bekam gleichsam Leben bei dem Spott und der Anmaßendheit Herrn de Marsys, dessen tadelloser Gehrock, dessen schmale Figur eines erschöpften Lebemannes die Nacktheit der Basreliefs in seinem Rücken mit einer dürftigen Linie durchschnitten. Und nur die allegorischen Figuren der Öffentlichen Ordnung und der Freiheit bewahrten in ihren Nischen zwischen ihren Säulenpaaren die
leblosen Gesichter und leeren Augen steinerner Gottheiten. Was aber vor allem Leben in den Saal brachte, war das zahlreichere Publikum, das angstvoll vorgebeugt den Debatten folgte und seine Leidenschaft hierher mitbrachte. Der zweite Tribünenrang war kürzlich wieder an seinem alten Platz angebracht worden. Die Journalisten hatten ihre eigenen Logen. Ganz oben, am Rund des mit Vergoldungen überladenen Kranzgesimses, reckten sich Köpfe vor, eine hereingebrochene Menschenmasse, zu der manchmal die Augen der Abgeordneten beunruhigt emporblickten, als glaubten diese Herren, plötzlich das Stampfen der Volksmenge am Tag des Aufruhrs zu hören. Unterdessen wartete der Mann auf der Rednerbühne noch immer darauf, fortfahren zu können. Während das grollende Gemurmel noch seine Stimme übertönte, sagte er: »Meine Herren, ich fasse kurz zusammen ...«
Aber er hielt inne und sprach dann lauter, den Lärm beherrschend, weiter: »Wenn sich die Kammer weigert, mich anzuhören, so erhebe ich Einspruch und verlasse die Rednerbühne.« »Sprechen Sie, sprechen Sie!« rief man von mehreren Bänken. Und eine grobe, gleichsam heisergebrüllte Stimme knurrte: »Sprechen Sie, man wird Ihnen zu antworten wissen.« Auf einmal herrschte Stille. Auf den Sitzen, auf den Tribünen reckte man den Hals, um Rougon zu sehen, der soeben diesen Satz gerufen hatte. Er saß in der ersten Bank, die Ellbogen auf die Marmorplatte gestützt. Die Reglosigkeit seines breiten, gewölbten Rückens wurde kaum dann und wann durch ein leichtes Wiegen der Schultern unterbrochen. Sein in den großen Händen verborgenes Gesicht konnte man nicht sehen. Er hörte zu. Sein erstes Auftreten wurde mit lebhafter Neugier erwartet; denn seit seiner Ernennung zum Minister ohne Portefeuille
hatte er noch nicht das Wort ergriffen. Zweifellos war er sich all der auf ihn gehefteten Blicke bewußt. Er wandte den Kopf, sah sich rings im Saal um. Gegenüber, in der Ministerloge, schaute ihn Clorinde in einem violetten Kleid, auf die rotsamtene Rampe gestützt, mit ihrer ruhigen Dreistigkeit lange an. Zwei Sekunden sahen sie einander in die Augen, ohne sich zuzulächeln, wie Fremde. Dann nahm Rougon seine vorige Haltung wieder ein, hörte von neuem zu, das Gesicht zwischen den Handflächen. »Meine Herren, ich fasse kurz zusammen«, wiederholte der Redner. »Das Dekret vom 24. November bewilligt rein illusorische Freiheiten. Wir sind noch sehr weit von den Grundsätzen des Jahres 1789106 entfernt, die so hochtrabend an der Spitze der kaiserlichen Verfassung stehen. Wenn die Regierung mit Ausnahmegesetzen ausgestattet bleibt, wenn sie fortfährt, dem Land ihre Kandidaten aufzuzwingen, wenn sie die Presse nicht von
der Willkürherrschaft befreit, kurz, wenn ihr Frankreich noch immer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist, dann sind alle scheinbaren Zugeständnisse, die sie machen kann, verlogen ...« Der Präsident unterbrach ihn. »Ich kann nicht zulassen, daß sich der Redner eines solchen Ausdrucks bedient!« »Sehr richtig! Sehr richtig!« rief man von rechts. Der Redner nahm seinen Satz wieder auf, schwächte ihn aber etwas ab. Er bemühte sich, jetzt sehr maßvoll zu sein, baute abgerundete schöne Perioden von vollendeter Sauberkeit der Sprache, die in ernstem Tonfall von seinen Lippen kamen. Aber Herr de Marsy ereiferte sich, beanstandete jeden seiner Ausdrücke. Da erhob er sich zu hohen Betrachtungen, zu einer verschwommenen, mit großen Worten gespickten, phrasenhaften Redeweise, die
seine Ansichten so gut verbarg, daß ihn der Präsident in Ruhe lassen mußte. Dann kehrte er ganz plötzlich zu seinem Ausgangspunkt zurück. »Ich fasse zusammen. Meine Freunde und ich werden nicht für den ersten Absatz der Adresse stimmen, mit der die Kammer auf die Thronrede antworten will ...« »Man wird ohne Sie fertig werden!« rief eine Stimme. Eine tosende Heiterkeit durchlief die Bänke. »Wir werden nicht für den ersten Absatz der Adresse stimmen«, fing der Redner gelassen wieder an, »wenn unser Abänderungsvorschlag nicht angenommen wird. Wir vermöchten nicht, uns übertriebenen Dankesbezeigungen anzuschließen, da uns die Absicht des Staatsoberhauptes voller Vorbehalte zu sein scheint. Es gibt nur eine Freiheit, man kann sie nicht in Stücke
schneiden und in Portionen zuteilen, als wäre sie ein Almosen.« Hier ertönten an allen Ecken des Saales Ausrufe: »Ihre Freiheit ist Zügellosigkeit!« – »Reden Sie nicht von Almosen, Sie erbetteln eine schädliche Popularität!« – »Und Sie, Sie schlagen Köpfe ab!« »Unser Abänderungsvorschlag«, fuhr der Redner fort, als höre er nichts, »verlangt die Abschaffung des Gesetzes zum Schutz der allgemeinen Sicherheit, die Freiheit der Presse, Ehrlichkeit der Wahlen ...« Wieder ertönte Gelächter. Ein Abgeordneter hatte laut genug, um von seinen Nachbarn verstanden zu werden, gesagt: »Glaub mir nur, mein Guter, nichts von dem allen wirst du bekommen!« Ein anderer fügte jedem Satz, der von der Rednerbühne kam, drollige Worte hinzu. Aber die meisten vergnügten sich damit, die Sätze des Redners mit eiligen, heimlich unter den Pulten vollführten
Papiermesserschlägen zu skandieren, was wie ein Trommelwirbel klang, in dem die Stimme des Redners unterging. Dieser kämpfte dennoch bis zum Schluß. Er hatte sich wieder aufgerichtet, schleuderte kraftvoll die letzten Worte über den Tumult hin: »Ja, wir sind Revolutionäre, wenn Sie darunter Männer des Fortschritts verstehen, die entschlossen sind, die Freiheit zu erobern! Verweigern Sie dem Volk die Freiheit – eines Tages wird das Volk sie sich wieder holen.« Und unter einem neuen Wutausbruch stieg er von der Rednerbühne herab. Die Abgeordneten lachten nicht mehr wie eine Bande entwischter Gymnasiasten. Sie hatten sich erhoben, der Linken zugewandt, und stießen abermals den Ruf aus: »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« Der Redner war wieder zu seiner Bank gelangt und blieb dort stehen, von seinen Freunden umringt. Es gab ein großes Gedränge. Die Mehrheit schien sich auf die fünf Männer stürzen zu wollen, deren bleiche
Gesichter sie herausforderten. Aber Herr de Marsy war ärgerlich geworden, klingelte ruckweise und sah dabei zu den Tribünen hin, wo die Damen mit ängstlichen Mienen zurückwichen. »Meine Herren«, begann er, »es ist eine Schande ...« Und als Ruhe eingetreten war, fuhr er sehr von oben herab in seiner schneidenden, gebieterischen Art fort: »Ich möchte keinen zweiten Ordnungsruf aussprechen. Ich will nur sagen, daß es wahrhaft schändlich ist, auf dieser Rednerbühne Drohungen zu äußern, die sie entehren.« Eine dreifache Beifallssalve begrüßte diese Worte des Präsidenten. Man schrie bravo, und die Papiermesser rührten sich gewaltig, diesmal zum Zeichen der Zustimmung. Der Redner der Linken wollte antworten, aber seine Freunde hinderten ihn daran. Der Tumult beruhigte sich allmählich, verlor sich im
Stimmengewirr der Einzelunterhaltungen. »Das Wort hat Seine Exzellenz Rougon«, sprach Herr de Marsy mit ruhiger Stimme. Ein Schauer lief durch den Saal, ein Seufzer befriedigter Neugier, den andächtige Aufmerksamkeit ablöste. Rougon, die Schultern vorgewölbt, war schwerfällig auf die Rednerbühne gestiegen. Er sah zunächst nicht in den Saal; er legte einen Stoß Notizzettel vor sich hin, schob das Glas Zuckerwasser zurück, bewegte seine Hände, als wolle er von dem engen Mahagonigehäuse Besitz ergreifen. Endlich hob er, mit dem Rücken gegen den Präsidiumstisch gelehnt, das Gesicht. Er war nicht gealtert. Seine eckige Stirn, seine große, gutgeschnittene Nase, seine langen faltenlosen Backen hatten noch immer eine rosige Blässe, die frische Hautfarbe eines Kleinstadtnotars. Nur sein ergrauendes, so unsorgfältig gescheiteltes Haar lichtete sich an den Schläfen und ließ seine großen Ohren
unbedeckt. Unter halbgeschlossenen Lidern hervor warf er abwartend einen Blick in den Saal. Einen Moment lang schien er zu suchen, begegnete dem aufmerksam vorgeneigten Gesicht Clorindes und begann dann mit schwerer und belegter Zunge: »Auch wir sind Revolutionäre, wenn man unter diesem Wort Männer des Fortschritts versteht, entschlossen, dem Vaterland nach und nach alle wohlerwogenen Freiheiten zu geben ...« »Sehr richtig! Sehr richtig!« »Ach, meine Herren, welche Regierung hat je besser als das Kaiserreich die liberalen Reformen verwirklicht, deren verführerisches Programm Sie soeben darlegen hörten? Ich werde die Auslassungen meines geehrten Vorredners nicht zu widerlegen versuchen. Es wird mir genügen, zu beweisen, daß das Genie und das große Herz des Kaisers den Beschwerden der erbittertsten Gegner seiner Regierung zuvorgekommen sind. Ja, meine
Herren, von selber hat der Herrscher der Nation die Macht zurückgegeben, mit der sie ihn an einem Tage allgemeiner Gefahr bekleidet hatte. Ein herrliches Schauspiel, so selten in der Geschichte! Oh, wir begreifen den Verdruß gewisser Umstürzler. Sie sehen sich darauf beschränkt, die Absichten anzugreifen, über den Umfang der zurückgegebenen Freiheit zu streiten. – Sie, meine Herren, haben die große Tat des 24. Novembers verstanden. Sie wollten im ersten Absatz der Adresse dem Kaiser Ihre Dankbarkeit für seine Hochherzigkeit und sein Vertrauen auf die Klugheit des Corps législatif bezeugen. Die Annahme des Abänderungsvorschlages, der Ihnen unterbreitet wurde, wäre eine grundlose Kränkung, ich möchte sogar sagen, eine schlechte Handlung. Gehen Sie mit Ihrem Gewissen zu Rate, meine Herren, fragen Sie sich, ob Sie sich frei fühlen. Heute herrscht vollständige, gänzliche Freiheit, dafür
verbürge ich mich ...« Anhaltender Beifall unterbrach ihn. Er war allmählich an den Rand der Rednertribüne getreten. Jetzt erhob er, den Körper leicht vorgebeugt, den rechten Arm ausgestreckt, die Stimme, die mit außerordentlicher Kraft hervorbrach. Hinter ihm hörte Herr de Marsy, tief in seinen Sessel gelehnt, ihm mit der unbestimmt lächelnden Miene eines Amateurs zu, der aufs höchste die meisterhafte Ausführung irgendeines Bravourstücks bewundert. Im Saal steckten beim Donner der Bravorufe Mitglieder die Köpfe zusammen, flüsterten überrascht mit verkniffenen Lippen. Clorindes Arme lagen lässig auf dem roten Samt der Brüstung, sie war völlig ernst. Rougon fuhr fort: »Heute hat endlich die Stunde geschlagen, auf die wir alle mit Ungeduld gewartet haben. Es ist keine Gefahr mehr dabei, aus dem blühenden Frankreich ein freies Frankreich zu machen. Die anarchischen
Leidenschaften sind tot. Die Tatkraft des Herrschers und der feierliche Wille des Landes haben auf immer die abscheulichen Zeiten allgemeiner Verderbtheit ins Nichts zurückgestoßen. An dem Tage, da jene Fraktion, die hartnäckig dabei verharrte, die grundlegenden Prinzipien der Regierung zu verkennen, besiegt wurde, ist die Freiheit möglich geworden. Deshalb hat der Kaiser geglaubt, seine starke Hand zurückziehen zu sollen, indem er die übermäßigen Vorrechte der Regierung als eine überflüssige Last verwarf, weil er der Ansicht ist, daß es über seine Herrschaft so wenig zu reden gibt, daß wieder darüber geredet werden darf. Und er ist nicht zurückgewichen vor dem Gedanken, die Zukunft zu verpfänden; er wird sein Befreiungswerk vollenden, er wird zu den nach seiner Weisheit festgesetzten Zeitpunkten die Freiheiten eine nach der anderen zurückgeben. Dieses Programm ununterbrochenen Fortschritts zu verteidigen
ist künftighin unsere Aufgabe in dieser Versammlung.« Einer der fünf Abgeordneten der Linken erhob sich entrüstet und rief: »Sie waren der Minister der schärfsten Unterdrückung!« Und ein anderer fügte leidenschaftlich hinzu: »Die Lieferanten für Cayenne107 und Lambessa108 haben nicht das Recht, im Namen der Freiheit zu sprechen!« Ein heftiges Murren erhob sich. Viele Abgeordnete hatten nicht verstanden, beugten sich vor, fragten ihre Nachbarn. Herr de Marsy tat so, als habe er nichts gehört; und er begnügte sich damit, den Störern zu drohen, er werde sie zur Ordnung rufen. »Man hat mir soeben vorgeworfen ...«, fing Rougon wieder an. Aber von der Rechten ertönten Rufe, hinderten ihn am Weitersprechen.
»Nein, nein, antworten Sie nicht darauf!« »Diese Beleidigungen können Sie gar nicht treffen!« Dann beruhigte er die Kammer mit einer Handbewegung, und sich mit beiden Fäusten auf den Rand der Rednerbühne stützend, wandte er sich der Linken zu und sah dabei aus wie ein gereizter Keiler. »Ich werde nicht antworten«, erklärte er ruhig. Das war erst der Anfang. Obwohl er versprochen hatte, die Rede des Abgeordneten der Linken nicht zu widerlegen, trat er nun in eine bis ins kleinste gehende Erörterung ein. Zunächst gab er eine sehr vollständige Darlegung der Argumente seines Gegners; er tat es mit einer Art von Koketterie, einer Unparteilichkeit, deren Wirkung ungeheuer groß war, gleichsam als schätze er all diese guten Gründe gering und sei bereit, sie mit einem Atemhauch wegzublasen. Dann schien
er zu vergessen, sie zu bekämpfen, er widerlegte keinen, er griff mit unerhörter Heftigkeit den schwächsten unter ihnen an, ertränkte ihn in einer Flut von Worten. Man zollte ihm Beifall, er frohlockte. Sein großer Körper füllte die Rednerbühne völlig aus. Seine Schultern bewegten sich im Takt seiner dahinrollenden Sätze auf und ab. Er war von einer platten, ungenauen, ganz mit Rechtsfragen gespickten Beredsamkeit, blähte Gemeinplätze auf und ließ sie mit Donnergepolter zerplatzen. Er wetterte, warf mit einfältigen Worten um sich. Das einzige, was ihn als Redner überlegen machte, war sein Atem, ein ungeheurer, unerschöpflicher Atem, der seine Perioden wiegte und stundenlang herrlich dahinströmte, unbekümmert darum, welcher Fracht er diente. Nachdem er eine Stunde lang ununterbrochen gesprochen hatte, trank er einen Schluck Wasser, verschnaufte ein wenig und ordnete dabei die vor ihm liegenden Notizen.
»Ruhen Sie sich Abgeordnete.
aus«, sagten
mehrere
Aber er fühlte sich nicht müde. Er wollte zum Schluß kommen. »Was verlangt Herren?«
man
von
Ihnen,
meine
»Hört! Hört!« Tiefe Aufmerksamkeit ließ von neuem alle verstummen, hielt die Gesichter ihm zugewandt. Wenn seine Stimme besonders laut wurde, ging von einem Ende der Kammer bis zum andern eine Bewegung, als fege ein starker Wind über die Versammlung hin. »Man verlangt von Ihnen, meine Herren, die Aufhebung des Gesetzes zum Schütze der allgemeinen Sicherheit. Ich werde nicht die auf ewig verfluchte Stunde zurückrufen, in der dieses Gesetz eine unerläßliche Waffe war; es handelte sich darum, das Vaterland zu beruhigen, Frankreich vor einer neuen Sintflut
zu bewahren. Heute steckt die Waffe in der Scheide. Die Regierung, die sich ihrer stets mit der größten Besonnenheit bedient hat, ich möchte sogar sagen: mit der größten Mäßigung ...« »Das stimmt!« »Die Regierung wendet sie nur noch in gewissen, ganz besonderen Ausnahmefällen an. Diese Waffe stört niemanden, es sei denn die Fanatiker, die noch immer den sträflichen Wahn hegen, zu den schlimmsten Tagen unserer Geschichte zurückkehren zu wollen. Gehen Sie durch unsere Städte, gehen Sie durch unsere Dörfer, überall werden Sie Frieden und Wohlstand sehen; befragen Sie die Männer der Ordnung, keiner fühlt auf seinen Schultern die Ausnahmegesetze lasten, die man uns als ein so großes Verbrechen angerechnet hat. Ich wiederhole, in den väterlichen Händen der Regierung werden sie auch weiterhin die Gesellschaft gegen
widerwärtige Anschläge schützen, die übrigens in Zukunft unmöglich noch Erfolg haben können. Die anständigen Leute brauchen sich keine Gedanken über ihr Vorhandensein zu machen. Lassen wir sie dort, wo sie schlummern, bis zu dem Tage, da der Herrscher es für richtig halten wird, sie selber zu zerbrechen ... Was verlangt man noch von Ihnen, meine Herren? Ehrlichkeit der Wahlen, Freiheit der Presse, alle nur vorstellbaren Freiheiten. Oh, lassen Sie mich hier bei dem Anblick der großen Dinge verweilen, die das Kaiserreich bereits vollbracht hat. Rings um mich her, überall, wohin ich meine Augen wende, sehe ich die allgemeinen Freiheiten wachsen und köstliche Früchte tragen. Ich bin tief bewegt. Frankreich, das so erniedrigt war, erhebt sich wieder, bietet der Welt das Beispiel eines Volkes, das durch sein gutes Verhalten seine Mündigsprechung erworben hat. In dieser Stunde sind die Tage der Prüfung vorüber. Es
ist nicht mehr die Rede von Diktatur, von autoritärem Regieren. Wir alle schaffen für die Freiheit ...« »Bravo! Bravo!« »Man fordert Ehrlichkeit der Wahlen. Ist nicht das allgemeine Stimmrecht, auf der breitesten Basis angewandt, die erste Daseinsbedingung des Kaiserreichs? Gewiß empfiehlt die Regierung ihre Kandidaten. Unterstützt die Revolution die ihren nicht mit unverschämter Kühnheit? Man greift uns an, wir verteidigen uns, nichts wäre gerechtfertigter. Man möchte uns mundtot machen, uns die Hände binden, uns zu Kadavern herabwürdigen. Das werden wir uns niemals gefallen lassen. Aus Liebe zum Vaterland werden wir immer zur Stelle sein, um ihm zu raten, ihm zu sagen, wo seine wahren Interessen liegen. Das Vaterland bleibt zudem der unumschränkte Herr seines Geschicks. Es wählt, und wir beugen uns. Die Mitglieder der Opposition, die dieser
Körperschaft angehören, wo sie volle Redefreiheit genießen, sind ein Beweis unserer Achtung vor der jeweiligen Entscheidung des allgemeinen Stimmrechts. Die Umstürzler müssen sich an das Vaterland halten, wenn das Vaterland mit erdrückender Mehrheit dem Kaiserreich zujauchzt ... Im Parlament sind heute alle Hemmnisse beseitigt, die einer ungehinderten Kontrolle im Wege stehen könnten. Der Kaiser hat geruht, den großen Körperschaften des Staates eine unmittelbare Mitwirkung bei seiner Politik zu gewähren und ihnen einen leuchtenden Beweis seines Vertrauens zu geben. Sie können von nun an die Handlungen der Regierung kritisch erörtern, in vollem Umfang das Recht zu Abänderungsvorschlägen ausüben, begründete Wünsche vorbringen. Alljährlich wird die Adresse gleichsam eine Zusammenkunft zwischen dem Kaiser und den Vertretern der Nation sein, bei der diese befugt sind, freimütig alles auszusprechen. Aus der
Diskussion in aller Öffentlichkeit gehen die starken Staaten hervor. Die Rednertribüne ist wieder aufgestellt worden, diese durch so viele Redner, deren Namen in die Geschichte eingegangen sind, berühmt gewordene Bühne. Ein Parlament, das diskutiert, ist ein Parlament, das arbeitet. Und wenn Sie meine Ansicht genau kennenlernen wollen: Ich freue mich, hier eine Gruppe gegnerischer Abgeordneter zu sehen. Es wird immer Widersacher unter uns geben, die versuchen, uns bei einem Fehler zu ertappen, und auf diese Weise unsere Ehrenhaftigkeit ins volle Licht rücken werden. Wir fordern für sie die umfassendste Immunität. Wir fürchten weder die Leidenschaft noch den Skandal, noch den Mißbrauch des Worts, so gefährlich sie auch sein mögen ... Was die Presse anlangt, meine Herren, so hat sie sich noch nie einer vollständigen Freiheit erfreut, unter keiner Regierung, die entschlossen war, sich Respekt zu verschaffen. Für alle großen Fragen, alle
wichtigen Interessen gibt es Organe. Die Verwaltung bekämpft lediglich die Propagierung unheilvoller Lehren, die Verbreitung von Gift. Aber verstehen Sie mich recht, wir alle sind von achtungsvoller Ehrerbietung für die anständige Presse erfüllt, die die große Stimme der öffentlichen Meinung ist. Sie hilft uns bei unserer Aufgabe, sie ist das Werkzeug des Jahrhunderts. Wenn die Regierung sie in ihre Hände genommen hat, dann einzig deshalb, um sie nicht den Händen ihrer Feinde zu überlassen ...« Zustimmendes Gelächter klang auf. Rougon jedoch näherte sich dem Schluß der Rede. Mit krampfigen Fingern umklammerte er das Holz der Rednerbühne. Er warf den Oberkörper vor, fegte mit dem rechten Arm durch die Luft. Seine Stimme rollte dröhnend wie ein Sturzbach dahin. Plötzlich schien er mitten in seinem liberalen Idyll von einer keuchenden Wut gepackt zu werden. Seine gereckte Faust, die er wie einen Rammklotz schwang,
bedrohte irgend etwas weit fort im Leeren. Dieser unsichtbare Gegner war das rote Gespenst. In einigen dramatischen Sätzen schilderte er, wie das rote Gespenst sein blutiges Banner schüttele, seine Brandfackel einhertrage, Bäche von Schlamm und Blut hinter sich zurücklasse. Alle Sturmglocken der Tage des Aufruhrs mit dem Pfeifen der Kugeln, den Kassenschränken der ausgeraubten Bank von Frankreich, dem gestohlenen und geteilten Geld der Bürger tönten aus seiner Stimme. Die Abgeordneten auf den Bänken erbleichten. Dann beruhigte sich Rougon, und mit großen Lobestönen, die wie das Schwenken von Weihrauchkesseln klangen, schloß er seine Rede, indem er vom Kaiser sprach. »Gott sei Dank, daß wir unter dem Schutz dieses Fürsten stehen, den die Vorsehung ausersehen hat, um uns in einem Licht unendlicher Gnade zu bergen. Wir können uns ausruhen im Schatten seines hohen Geistes. Er
hat uns bei der Hand genommen, und er führt uns Schritt für Schritt mitten durch die Klippen dem Hafen zu.« Beifallsklatschen erschallte. Die Sitzung wurde für fast zehn Minuten unterbrochen. Ein Strom von Abgeordneten war dem Minister entgegengestürzt, der mit schweißbedecktem Gesicht, die Brust noch wogend von seinem stürmischen Atem, auf seine Bank zurückkehrte. Herr La Rouquette, Herr de Combelot, hundert andere beglückwünschten ihn, streckten den Arm aus, um zu versuchen, im Vorbeigehen einen Händedruck von ihm zu erhaschen. Es war, als pflanze sich eine lange Erschütterung durch den Saal fort. Sogar die Tribünen sprachen und gestikulierten. Unter dem in Sonne getauchten Oberlicht, zwischen den Vergoldungen, dem Marmor, all dieser ernsten Pracht, die etwas von einem Tempel und auch etwas von einem Geschäftszimmer hatte, herrschte eine Unruhe wie auf einem öffentlichen Platz, ungläubiges Lachen,
lärmendes Erstaunen, begeisterte Bewunderung, das Geschrei einer von Leidenschaften geschüttelten Menge. Als Herrn de Marsys und Clorindes Blicke sich trafen, schüttelten beide den Kopf. Sie gestanden sich den Sieg des großen Mannes ein. Rougon hatte soeben durch seine Rede den Anfang zu dem wunderbaren Glück gemacht, das ihn so hoch hinauftragen sollte. Inzwischen hatte ein Abgeordneter die Rednerbühne bestiegen. Er hatte ein glattrasiertes, wachsbleiches Gesicht und lange blonde Haare, deren spärliche Locken ihm auf die Schultern fielen. Steif, ohne irgendeine Bewegung überflog er eilig große Blätter, das Manuskript einer Rede, die er mit kraftloser Stimme vorzulesen begann. Die Huissiers riefen ihr: »Ruhe, die Herren! Wollen Sie bitte ruhig sein!« Der Redner verlangte Aufklärung von der Regierung. Er zeigte sich sehr aufgebracht
über die abwartende Haltung Frankreichs angesichts des von Italien bedrohten Heiligen Stuhles. Die weltliche Macht des Papstes sei die Bundeslade, und die Adresse müsse ein förmliches Versprechen, ja eine ausdrückliche Aufforderung enthalten, ihr unangetastetes Fortbestehen zu sichern. Die Rede ging auf historische Betrachtungen ein, legte dar, daß das christliche Recht mehrere Jahrhunderte vor den Verträgen von 1815109 die politische Ordnung in Europa errichtet habe. Dann folgten Wendungen einer vom Schrecken gefärbten Rhetorik; der Redner sagte, er sehe mit Entsetzen, wie sich die alte europäische Gesellschaft inmitten der Zuckungen der Völker auflöse. Zuweilen, bei einigen allzu unmittelbaren Anspielungen auf den König von Italien, erhob sich im Saal verworrenes Gemurmel. Aber auf der Rechten lauschte aufmerksam die geschlossene Gruppe der klerikalen Abgeordneten, fast hundert Mitglieder, die noch die geringsten Passagen
durch ihre Zustimmung unterstrichen und jedesmal applaudierten, wenn ihr Kollege mit einer leichten devoten Verneigung den Papst erwähnte. Als Abschluß sprach der Redner einen von Bravorufen übertönten Satz. »Es mißfällt mir«, sagte er, »daß das herrliche Venedig, die Königin der Adria, zum obskuren Vasallen Turins geworden ist.« Rougon, den Nacken noch feucht von Schweiß, die Stimme heiser, den massigen Körper wie zerschlagen von seiner ersten Rede, war so eigensinnig, unverzüglich antworten zu wollen. Das wurde ein schöner Anblick. Er stellte seine Müdigkeit zur Schau, setzte sich damit in Szene, schleppte sich auf die Rednerbühne, wo er zunächst gedämpfte Worte stammelte. Er klagte bitter darüber, unter den Gegnern der Regierung angesehene Männer zu finden, die bis dahin den kaiserlichen Institutionen so ergeben gewesen
seien. Da liege sicher ein Mißverständnis vor; sie beabsichtigten wohl nicht, die Reihen der Aufrührer zu mehren, eine Herrschaft zu erschüttern, deren ständiges Bemühen es sei, den Sieg der Religion zu sichern. Und an die Rechte gewandt, richtete er pathetische Gebärden an die Abgeordneten, sprach zu ihnen mit verschlagener Unterwürfigkeit, wie zu mächtigen Feinden, den einzigen Feinden, vor denen er zittere. Nach und nach aber war seine Stimme wieder zu ihrem ganzen Überschwang gelangt. Er erfüllte den Saal mit seinem Gebrüll, er schlug sich mit gewaltigen Fausthieben an die Brust. »Man hat uns der Irreligiosität beschuldigt. Man hat gelogen! Wir sind das ehrerbietige Kind der Kirche und haben das Glück, gläubig zu sein ... Ja, meine Herren, der Glaube ist unser Führer und unsere Stütze bei dieser schweren Aufgabe der Regierung, an der man mitunter so schwer trägt. Was würde aus uns
werden, wollten wir uns nicht den Händen der Vorsehung überlassen? Wir haben einzig den Ehrgeiz, der bescheidene Vollzieher ihrer Absichten zu sein, das gefügige Werkzeug des Willens Gottes. Das ist es, was uns erlaubt, unsere Stimme laut zu erheben und ein wenig Gutes zu tun ... Und, meine Herren, ich freue mich dieser Gelegenheit, hier mit der ganzen Glut meines katholischen Herzens vor dem Pontifex maximus110 niederzuknien, vor diesem erhabenen Greis, dessen wachsame und ergebene Tochter Frankreich bleiben wird.« Das Beifallsklatschen wartete nicht das Ende des Satzes ab. Der Triumph wurde zur Apotheose. Der ganze Saal erbebte. Beim Hinausgehen paßte Clorinde Rougon ab. Seit drei Jahren hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Als er erschien, verjüngt, wie erleichtert, nachdem er in einer einzigen Stunde sein ganzes politisches Leben
Lügen gestraft hatte, bereit, bei einem scheinbaren Parlamentarismus seine wütende Machtgier zu befriedigen, gab sie einer hinreißenden Gewalt nach, ging mit ausgestreckter Hand und einem gerührten, von Zärtlichkeit feuchten Blick auf ihn zu und sagte: »Sie sind trotz allem enorm tüchtig!«
Anmerkungen 1 Huissier – (franz.) Diener in Ministerien oder Parlamenten. 2 LouisPhilippe – (1773–1850) genannt der Bürgerkönig; übernahm nach der Julirevolution von 1830 zunächst die Regentschaft und bestieg dann auf Grund des Kammerbeschlusses vom 7.8.1830 als König der Franzosen den Thron. Er führte die Regierung im Interesse der Finanzbourgeoisie und wurde 1848 durch die Februarrevolution
gestürzt. 3 Peplons – ärmellose griechische Gewänder. 4 gaufriert – mit eingepreßtem Muster versehen. 5 Quästoren – im Zweiten Kaiserreich die alljährlich vom Staatsoberhaupt ernannten Beamten, die die Gelder des Corps législatif (s. Anm. zu S. 9) verwalteten. 6 Ehrenlegion – der einzige, jetzt noch bestehende französische Orden, gestiftet 1802. Der Stern der Ehrenlegion wird von den Rittern, dem untersten Grad, auf einem roten Moiréband auf der linken Brust getragen; von den Offizieren ebenso, aber auf einer Rosette; von den Kommandeuren an einem breiteren, um den Hals hängenden roten Moiréband; von den Großoffizieren auf der rechten Brust. Der Großkordon, die höchste Auszeichnung, ist auf einer breiten roten Moiréschärpe unterhalb der rechten Schulter befestigt; außerdem tragen
die Inhaber des Großkordons auf der linken Brust den Großoffiziersstern. 7 Kaiser – CharlesLouisNapoléon Bonaparte (1808–1873), Neffe Napoleons I., wurde 1848 zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt. Durch seinen Staatsstreich vom 2.12.1851 verlängerte er seine Amtszeit unter Verfassungsbruch um weitere zehn Jahre. Am 2.12.1852 ließ er sich als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen ausrufen, wurde jedoch nach der Kapitulation bei Sedan durch die Ausrufung der Republik am 4.9.1870 abgesetzt. Seine Herrschaft begünstigte die »Ausbeutung Frankreichs durch eine Bande politischer und finanzieller Abenteurer« (Marx). 8 Corps législatif – (franz.) gesetzgebende Körperschaft; früher in Frankreich häufig gebrauchte Bezeichnung für Parlament. 9 Tuilerien – ehemaliges Schloß in Paris; im Zweiten Kaiserreich Residenz Napoleons III.
10 Kaiserin – Eugénie (1826–1920), Kaiserin der Franzosen; zweite Tochter des spanischen Grafen de Montijo y Teba, Herzogs von Peñaranda; vermählte sich am 21.1.1853 mit Napoleon III. Sie strebte nach politischem Einfluß und führte in Abwesenheit des Kaisers wiederholt die Regentschaft. 11 15. August – Geburtstag Napoleons I.; unter dem Zweiten Kaiserreich Nationalfeiertag. An diesem Tage fanden die Neuaufnahmen und Beförderungen der Ehrenlegion statt. 12 Kaiserlicher Prinz – EugèneLouisJeanJoseph Napoléon Bonaparte, genannt Lulu (1856–1879), einziger Sohn Napoleons III. und der Kaiserin Eugénie; lebte nach dem Sturz seines Vaters in England und nannte sich Graf de Pierrefonds. 1879 nahm er auf englischer Seite am Zulukrieg in Südafrika teil und fiel bei einem Erkundungsgefecht. 13 König von Rom – Napoléon Franz Joseph
Karl Herzog von Reichstadt (1811–1832), einziger Sohn Napoleons I. aus dessen Ehe mit der österreichischen Erzherzogin Marie Luise; erhielt bei Geburt den Titel eines Königs von Rom. Nach Napoleons Sturz wurde er in Wien unter Aufsicht seines Großvaters, des österreichischen Kaisers Franz I., erzogen. 14 Friedensvertrag – Am 30.3.1856 wurde in Paris der Friedensvertrag zwischen den am Krimkrieg beteiligten Mächten unterzeichnet. Der Vertrag wurde unter Mitwirkung Preußens und Österreichs zwischen Rußland einerseits und Frankreich, Großbritannien, PiemontSardinien und der Türkei andererseits abgeschlossen. Rußland mußte das südliche Bessarabien mit den Donaumündungen abtreten und durfte keine Kriegsflotte mehr im Schwarzen Meer unterhalten. 15 Generalrat parlamentarische Departements.
–
in Frankreich die Vertretung eines
16 Foy – MaximilienSébastien Foy (1775– 1825), französischer General und Politiker; wurde 1819 Mitglied der Deputiertenkammer, wo er an der Spitze einer an Zahl schwachen liberalen Opposition der ultraroyalistischen und klerikalen Majorität unerschrocken entgegentrat. 17 »Moniteur« – Die 1789 gegründete Pariser Tageszeitung »Le Moniteur universel« war von 1799 bis 1815 und von 1816 bis 1868 offizielles Organ der französischen Regierung. 18 Elysée – Vom Palais de l'Elysée aus, dem Sitz des Präsidenten der Französischen Republik, bereitete der PrinzPräsident LouisNapoléon Bonaparte seinen Staatsstreich vor. 19 2. Dezember – Am 2. Dezember 1851 unternahm der PrinzPräsident LouisNapoléon Bonaparte seinen Staatsstreich und löste das Parlament auf, das sich weigerte, die Verfassung zu revidieren und das Verbot der
Wiederwählbarkeit eines Präsidenten aufzuheben. Den bewaffneten Widerstand in Paris ließ er blutig unterdrücken. Die Führer der Opposition schickte er in die Verbannung. 20 PalaisBourbon – Sitz der französischen Deputiertenkammer in Paris. 21 Les Bouffes – von der vornehmen Pariser Gesellschaft gebrauchte Bezeichnung für das ThéâtreItalien, das von 1801 bis 1878 bestand und hauptsächlich italienische Stücke, meist Opern, aufführte. 22 Auditeur – (franz.) Zuhörer; im damaligen Frankreich Titel höherer Staatsbeamter, die ohne Stimmrecht den Sitzungen des Staatsrats beiwohnten, um dort eine Probezeit durchzumachen, bevor sie mit wichtigen Ämtern betraut wurden. 23 Heinrich V. – HenriCharles de Bourbon, Graf de Chambord, Herzog von Bordeaux (1820–1883), französischer Thronprätendent;
war der letzte Vertreter der älteren Linie der Bourbonen. Als 1836 Karl X. (s. Anm. zu S. 227) im Exil starb, erklärte ihn ein Teil der Legitimisten als Heinrich V. zum König. 24 Monsignore – vom Papst verliehener Titel für katholische geistliche Würdenträger. 25 Schwestern von der Heiligen Familie – französische katholische Frauenkongregation, die sich vor allem der Erziehung widmet. 26 SaintDenis – In SaintDenis bei Paris befindet sich eine Erziehungsanstalt für Töchter von Offizieren der Ehrenlegion. 27 Viktor Emanuel – Viktor Emanuel II. (1820–1878), König von Sardinien von 1849 bis 1861 und König von Italien von 1861 bis 1878. 28 Bois de Boulogne – großer Park in Paris; Napoleon III. überließ 1852 den Bois de Boulogne der Stadt Paris, die damals mehrere Millionen für seine Verschönerung ausgab.
29 Théâtre des Variétés – 1790 gegründetes Pariser Lustspiel und Operettentheater. 30 Ecole polytechnique – Ausbildungsanstalt für Offiziere in Paris. 31 Präfekt – in Frankreich seit 1800 der vom Staatsoberhaupt ernannte oberste Verwaltungsbeamte eines Departements. 32 Sohn einer Königin – Aus dieser Andeutung ist zu entnehmen, daß Zola in der Figur Marsys den Halbbruder Napoleons III., CharlesAugusteLouisJoseph Herzog von Morny (1811–1865), darstellen wollte, der aus einem Verhältnis zwischen dem General AugusteCharles Graf de Flahault de la Billarderie und der Mutter Napoleons III., EugénieHortense de BeauharnaisBonaparte, hervorging, die von 1806 bis 1810 Königin von Holland war. Morny war von 1851 bis 1852 Innenminister und seit 1854 Präsident des Corps législatif. Seine politische Stellung nutzte er schamlos zu Spekulationen aus. In
seinen Mußestunden literarisch.
betätigte
er
sich
33 Talleyrand – CharlesMaurice Herzog von Talleyrand, Fürst von Benevent (1754–1838); war anfangs Bischof, ging aber bei Ausbruch der Französischen Revolution von 1789 zum dritten Stand über, förderte den Staatsstreich Napoleons I., wurde 1797 Außenminister und schied 1807 wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Kaiser aus dem Amt. Nach dessen Sturz setzte er sich für die Wiederkehr der Bourbonen ein und vertrat geschickt Frankreichs Belange auf dem Wiener Kongreß; seit 1824 wieder in der Opposition, 1830 bis 1834 Gesandter in London. 34 10. Dezember – Am 10. Dezember 1848 wurde LouisNapoléon Bonaparte zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt. 35 Wallfahrt zum Belgrave Square – 1844
suchten besonders treue Anhänger des Grafen de Chambord (s. Anm. Heinrich V. zu S. 49) diesen in seiner Wohnung am Belgrave Square in London auf, um ihm ihre Ergebenheit zu bekunden. 36 PalaisRoyal – Gemeint ist das Théâtre du Palais Royal, das 1783 erbaut wurde und seit 1831 diesen Namen führt. 37 PortauxVins – Pariser Weinhafen am linken SeineUfer. 38 PortauxFruits – Obsthafen von Paris. 39 Papst – Pius IX. (1792–1878); seine Wahl zum Papst 1846 wurde anfangs als ein Zugeständnis an die italienische Freiheitsbewegung angesehen. Bald stellte sich jedoch heraus, daß er die reaktionäre Politik seines Vorgängers fortsetzte. 1848 zwang ihn der Volksaufstand in Rom zur Flucht nach Gaëta. 1850 nach Rom zurückgekehrt, trat er in schärfsten Gegensatz
zur liberalen Einigungsbewegung. Während des italienischen Krieges empörte sich deshalb die Romagna und wurde 1860 mit Umbrien dem Königreich Italien einverleibt. Der Rest des Kirchenstaates blieb infolge des französischen Eingreifens zunächst noch bestehen. Die französischen Truppen zogen jedoch 1870 ab, und die Italiener rückten in Rom ein, das Viktor Emanuel (s. Anm. zu S. 59) zu seiner Residenz machte. Die weltliche Herrschaft des Papstes war damit beendet. Er zog sich in den Vatikan zurück und verkündete, daß er und seine Nachfolger niemals die Grenzen der Vatikanstadt überschreiten würden. 40 Großherzogin von Baden – StephanieLouise Adrienne de Beauharnais Tascher de la Pagerie (1789–1860), eine Kusine der ersten Frau Napoleons I.; mußte auf dessen Wunsch 1806 den Kurprinzen Karl Ludwig Friedrich von Baden heiraten, der 1811 Großherzog wurde.
41 Königin von Schweden – Königin Josephine von Schweden (1807 bis 1876) war durch ihren Vater, Eugène de Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg und Fürst von Eichstätt, mit Napoleon III. verwandt. 42 Prinzeß Mathilde – MathildeLaetitiaWilhelmine Bonaparte (1820 bis 1904), Tochter des Königs Jérôme; unterstützte den Staatsstreich ihres Vetters LouisNapoléon und spielte im Zweiten Kaiserreich eine nicht unbedeutende Rolle. 43 Prinzeß Marie – Prinzessin Marie von Baden, Herzogin von Hamilton, geb. 1817; Tochter der Großherzogin Stephanie von Baden. 44 König Jérôme – Jérôme Bonaparte (1784– 1860), König von Westfalen von 1807 bis 1813; als Bruder Napoleons I. wurde er 1806 zum Prinzen erhoben und erhielt ein Jahr später das Königreich Westfalen, wo er in seiner Residenz Wilhelmshöhe bei Kassel ein
ausschweifendes Leben führte. Nach dem Sturz seines Bruders lebte er als Fürst von Montfort in Österreich, Italien und der Schweiz. PrinzPräsident LouisNapoléon Bonaparte ernannte ihn 1850 zum Marschall von Frankreich, und im Zweiten Kaiserreich wurde Jérôme kaiserlicher Prinz mit dem Recht der Thronfolge. Bei der im Roman geschilderten Zeremonie war er allerdings nicht zugegen. Zola stützte sich bei seiner Darstellung auf eine irrige, später berichtigte Meldung im »Moniteur universel« vom 15.6.1856. 45 Prinz Napoléon – (1822–1891), Sohn des Königs Jérôme; unterstützte die Sache seines Vetters Napoleon III. Seine liberale Einstellung führte 1865 jedoch zu einem Konflikt mit dem Kaiser. 46 Prinz von Schweden – Prinz Oskar von Schweden (1829–1907), bestieg 1872 als Oskar II. den schwedischen Königsthron.
47 Ludwig der Heilige – Ludwig IX. (1214– 1270), König von Frankreich; Initiator des letzten Kreuzzuges, versuchte dabei hauptsächlich in Afrika Stützpunkte für weitere Operationen zu erobern und starb während der Belagerung von Tunis an der Pest. 48 Veni creator – der mit den Worten »Veni creator spiritus« – (lat.) Komm, Schöpfer Geist – beginnende Pfingsthymnus der katholischen Kirche. 49 Tabernakel – in katholischen Kirchen der Altarschrein, in dem die geweihten Hostien aufbewahrt werden. 50 Mitra – die aus zwei flachen, hohen, oben spitz zulaufenden, mit Seidenstoff von der Farbe des Meßgewandes überzogenen Deckeln bestehende Kopfbedeckung der römischkatholischen Bischöfe. 51 Louvre – ehemaliges Königsschloß in
Paris, das seit der Französischen Revolution von 1789 eines der reichhaltigsten Kunstmuseen der Welt beherbergt. 52 Tedeum – der mit den Worten »Te deum laudamus« – (lat.) Dich, Gott, loben wir – beginnende Hymnus der katholischen Kirche. 53 Haus Orléans – wichtigste Nebenlinie der Dynastie Bourbon; gelangte mit LouisPhilippe (s. Anm. zu S. 6) auf den französischen Königsthron, den es aber durch die Februarrevolution von 1848 wieder verlor. Die Mitglieder des Hauses Orléans wurden 1848 aus Frankreich verbannt, ihr bedeutendes Vermögen wurde 1852 von Napoleon III. eingezogen. 54 Quartier du Temple – Stadtteil von Paris, in dem früher der Temple, das Haus des Templerordens, stand. 55 Foulard – leichter, bedruckter Seidenstoff. 56
Marquis
de
Sade
–
DonatienAlphonseFrançois Marquis de Sade (1740–1814), französischer Schriftsteller. 57 Hôtel de Ville – (franz.) Rathaus. 58 Orléanist – Anhänger des Hauses Orléans (s. Anm. zu S. 110). 59 Dschebel Musaïa – Berg in Algerien. 60 Herzog von Aumale – HenriEugènePhilippe Louis d'Orléans, Herzog von Aumale (1822–1897), vierter Sohn LouisPhilippes; kämpfte seit 1840 in Algier und wurde 1847 Generalgouverneur von Algerien. Nach dem Sturz seines Vaters mußte er 1848 nach England gehen. 61 Legitimist – in Frankreich Anhänger der älteren Linie der Bourbonen. 62 JuliMonarchie LouisPhilippes.
–
die
Regierungszeit
63 Bonapartist – Verfechter Thronansprüche der Familie Bonaparte.
der
64 Landes – an der Küste des Golfs von Biskaya gelegenes Departement. 65 Compiègne – Arrondissementshauptstadt im Departement Oise. Das riesige Schloß von Compiègne diente seit ältesten Zeiten vielen französischen Herrschern, besonders auch Napoleon III., als Landresidenz. Der angrenzende Wald von Compiègne ist einer der größten Frankreichs und war beliebtes Jagdgebiet. 66 Galerie des cartes – (franz.) Kartengalerie. 67 Suppe à la Crécy – Möhrensuppe. 68 Poularden à la financière – Masthühner mit feinen Zutaten. 69 au jus – (franz.) mit geliertem Fleischsaft. 70 à la crème – (franz.) mit Sahne. 71 ComédieFrançaise – seit 1687 der Name der 1680 als ThéâtreFrançais gegründeten staatlichen Schauspielbühne Frankreichs.
72 »Die Kläger« – Komödie des französischen Klassikers JeanBaptist Racine (1639–1699). 73 Scharade – Wort oder Silbenrätsel, bei dem der Sinn der einzelnen Silben beziehungsweise des Wortes durch lebende Bilder oder pantomimische Szenen dargestellt wird. 74 Théâtre du Vaudeville – 1792 gegründetes Pariser Lustspieltheater. 75 Palet – (franz.) Wurfscheibe; hier ein Spiel, bei dem es darauf ankommt, seine Wurfscheibe möglichst nahe an das Ziel heranzubringen. 76 Bouchon – (franz.) Pfropfen; hier ein Spiel, bei dem ein Pfropfen, auf dem Geldstücke liegen, mittels einer Wurfscheibe zum Umfallen gebracht werden muß. 77 Monseigneur – (franz.) gnädiger Herr; in Frankreich Anrede für Fürsten. 78 Straßburg und Boulogne – LouisNapoléon
Bonaparte unternahm am 30.10.1836 seinen ersten Putsch gegen das französische Bürgerkönigtum und versuchte, sich der Festung Straßburg zu bemächtigen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch kläglich. Die französische Regierung schob ihn nach Amerika ab, von wo er aber bald zurückkehrte. Als er auf Verlangen Frankreichs aus der Schweiz ausgewiesen werden sollte, ging er 1838 nach England. Durch die Überführung der Leiche seines Onkels, Napoleons I., nach Frankreich erreichte 1840 der Napoleonkult seinen Höhepunkt, und Louis Bonaparte hielt die Zeit für gekommen, durch einen Handstreich bei Boulogne die Macht im Staate an sich zu reißen. Er wurde aber gefangengenommen und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aus der er 1846 nach England entfloh, von wo aus er seine Machenschaften mit Erfolg fortsetzen konnte. 79 Trianon – Name zweier Schlößchen im Park von Versailles.
80 Moquetteläufer – Läufer buntgemustertem Plüschgewebe.
aus
81 Breaks – offene vierrädrige Wagen mit hohem Bock, Längs und Querbänken für Jagd und Gesellschaftsfahrten. 82 Royale – Hornsignal, das in Frankreich beim feierlichen Abschluß einer Hetzjagd im Schloßhof geblasen wurde. 83 Concierge – (franz.) Portier oder Portiersfrau, die in den Pariser Häusern eine für die Mieter sehr wichtige Stellung einnehmen. 84 Sankt Helena – in britischem Besitz befindliche Insel im Atlantischen Ozean; Verbannungsort Napoleons I., der hier in Longwood von 1815 bis zu seinem Tode am 5.5.1821 in englischem Gewahrsam lebte. 85 Ambigu – gemeint ist das Théâtre de l'Ambigu Comique, das älteste Pariser Boulevardtheater.
86 Badinguet – Spottname für Napoleon III.; angeblich soll der Maurer, in dessen Kleidung er 1846 aus der Festung Ham entfloh, so geheißen haben. 87 Prinzen von Orléans – Gemeint sind die Söhne des Bürgerkönigs LouisPhilippe. 88 Graf de Chambord – s. Anm. Heinrich V. zu S. 49. 89 Karl X. – (1757–1836), König von Frankreich von 1824 bis zu seiner Abdankung am 2.8.1830 nach der Julirevolution. 90 Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit – Nach dem von dem Italiener Felice Orsini organisierten Bombenanschlag auf das französische Kaiserpaar am 14.1.1858 wurden durch das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit dem Innenminister die weitesten Vollmachten zur rücksichtslosen Unterdrückung aller fortschrittlichen Kräfte übertragen.
91 Entrefilet – (franz.) ein redaktionellen Teil einer eingeschobener kürzerer Artikel.
in den Zeitung
92 SaintCyr – Gemeinde im Departement Seineet Oise; seit 1808 Sitz einer berühmten Militärfachschule. 93 Viktoria – Luxuswagen mit aufklappbarem Verdeck. 94 Charaban – offener, leichter Familienwagen mit mehreren Längsbänken. 95 »Die weiße Dame« – Oper des französischen Komponisten FrançoisAdrien Boieldieu (1775–1834). 96 »Le Siècle« – 1836 gegründetes rechtsrepublikanisches Pariser Morgenblatt. 97 Chronique scandaleuse – (franz.) Klatsch. 98 Cavour – Camillo Graf Benso di Cavour (1810–1861), italienischer Staatsmann; als führender Politiker des Königreichs Sardinien
trug er durch Ausnutzung der Zwistigkeiten unter den Großmächten und der Erfolge des kleinbürgerlichen Revolutionärs Guiseppe Garibaldi wesentlich zur Einigung Italiens unter dem Könighaus Savoyen bei. 99 Soupeusen – (franz.) Teilnehmerinnen an nächtlichen Gelagen. 100 Jupiter tonans – (lat.) der Gewitter bringende Gott der Römer. 101 Juno – römische Göttin; Beschützerin des häuslichen Herdes. 102 Videpoche – (franz.) Schale oder Körbchen, wohinein man seine Taschen entleert. 103 Baba – eine Art zuckerhutförmiger Napfkuchen. 104 Adresse – hier: schriftliche Antwort des Parlaments auf die Thronrede des Herrschers. 105 Mediterranum Mare, Oceanus, Ligeris,
Rhenus, Sequana, Rhodanus, Garumna, Araris – (lat.) Mittelmeer, Ozean, Loire, Rhein, Seine, Rhone, Garonne, Saône. 106 Grundsätze des Jahres 1789 – Am 26.8.1789 erließ die französische Nationalversammlung die berühmte »Erklärung der Menschen und Bürgerrechte«, in der Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung als die Grundrechte des Menschen bezeichnet werden. 107 Cayenne – Hauptstadt von FranzösischGuayana; wichtigste französische Strafkolonie. 108 Lambessa – Dorf in Algerien; unter dem Zweiten Kaiserreich berüchtigter Internierungsort für politische Gefangene. 109 Verträge von 1815 – Nach dem Sturz Napoleons I. kamen die europäischen Fürsten und Staatsmänner 1814 in Wien zusammen,
um die Friedensbedingungen auszuarbeiten. Das Ergebnis des Wiener Kongresses, das in der Wiener Schlußakte vom 9.6.1815 zusammengefaßt und im Zweiten Pariser Frieden vom 20.11.1815 noch weiter zuungunsten Frankreichs abgeändert wurde, war die Rückführung Frankreichs auf die Grenzen, die vor Beginn der Revolutionskriege bestanden hatten, und eine Aufteilung Europas, bei der sich die Monarchen rücksichtslos über die Rechte und Ansprüche der Völker hinwegsetzten. 110 Pontifex maximus – in der katholischen Kirche seit dem 5. Jahrhundert offizielle Bezeichnung des Papstes.
Zur Dialektik von historischer Gestalt und literarischer Figur Von
allen
Romanen
der
»RougonMacquart«Reihe gehört »Seine Exzellenz Eugène Rougon« zu denen, die am wenigsten gelesen werden. Diese Tatsache vermerkt die Tochter Zolas, Denise Le BlondZola, in dem Erinnerungsbuch über ihren Vater, und sie fügt hinzu, man könne sich diese Art von Ungnade, in die der Roman gefallen sei, zu ihrer Zeit gar nicht erklären. Den Versuch, eine Erklärung hierfür zu finden, unternimmt ein Artikel Regis Bergerons in der 1952 zu Zolas 50. Todestag erschienenen Sondernummer der »Europe«. Der Verfasser zeigt, daß die Unbeliebtheit des Romans bei seinem Erscheinen durch die unmittelbaren Zeitumstände bedingt und später aus begreiflichen Gründen politischer Abwehr aufrechterhalten wurde. Denn dieser Roman sollte, nach Zolas eigener Absicht, die »politischen Kulissen« studieren, er sollte zeigen, »in welcher Weise die sogenannten ernsten Geschäfte gebraut werden
...« »Ein Roman, dessen Rahmen die offizielle Welt und dessen Held Alfred Goiraud [Eugène Rougon] sein soll, der Mann, der beim Staatsstreich geholfen hat. Ich kann aus ihm entweder einen Minister oder einen hohen Staatsbeamten machen. Der Ehrgeiz Alfreds ist größer als der aller anderen Mitglieder seiner Familie. Er hat weniger Gier nach Geld als nach Macht. Aber der Sinn für Gerechtigkeit geht ihm ab: er ist eine würdige Stütze des Kaiserreichs. Übrigens ist er ein Mann von Talent. Ein Morny im kleinen. Er soll die Tochter irgendeines mit dem Kaiserreich verbündeten Grafen heiraten. Das würde in den Roman abgeschwächte Typen unseres in Agonie liegenden Adels bringen.« Mit diesen Worten skizziert Zola »Seine Exzellenz Eugène Rougon« in den Planentwürfen vom Jahre 1868/69. Und am 8. September 1875 teilte er dem
Direktor des »Westnik Jewropy« in Petersburg, Stassjulewitsch, mit, daß er den sechsten Band seiner Serie beendet habe, eines der »interessantesten Bücher« von allen, die er bisher geschrieben habe, wegen seiner besonders modernen und naturalistischen Bilder und wegen des neuen Stoffgebiets, das dieses Buch für den Roman eröffne. Und er schloß mit den Worten: »Ich erwarte, daß er bei seinem Erscheinen Aufsehen erregt.« Aber bei der Feuilletonveröffentlichung blieb das erwartete Aufsehen aus, denn das Jahr 1875 mit. seiner politischen Unruhe, seinen Wahlkämpfen, seinem Parteienstreit um die neue Verfassung war alles andere als eine für Kunst und Literatur günstige Atmosphäre. Außerdem leuchtete dieser Roman zu tief in das Gestrüpp politischer Intrigen und Gemeinheiten, mit denen auch die Vertreter des neuen »Ordre moral« ihren persönlichen Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit zu erschwindeln suchten, als daß er ihnen nicht
verdächtig gewesen wäre. Und die Buchpublikation im März des nächsten Jahres ging in dem Skandal um den gleichzeitig als Feuilleton im »Bien Public« erscheinenden »Totschläger« unter. Von da an war Zola gleichsam abgestempelt als der Schriftsteller der Gosse, dessen frühere und spätere Publikationen von den zeitgenössischen Lesern durch die Brille der oft erbarmungslosen Bilder und schockierenden Szenen des »Totschlägers« betrachtet wurden. »Seine Exzellenz Eugène Rougon« gehört zusammen mit dem »Glück der Familie Rougon« und dem »Zusammenbruch« zu den eigentlich historischen Romanen der »RougonMacquart«Reihe. Zwar ist die ganze Serie in gewissem Sinne ein großes historisches Gemälde, aber in diesem Roman wird an ganz bestimmte geschichtliche Ereignisse angeknüpft, werden bestimmte geschichtliche Persönlichkeiten in die Darstellung mit einbezogen.
Die zentrale Gestalt des Romans, Eugène Rougon, der älteste Sohn Pierre Rougons und der ehrgeizigen Félicité Puech aus Plassans, der schon während des Staatsstreichs einer der engsten Mitarbeiter und Gehilfen Napoleons ist und in dem neu errichteten Kaiserreich schnell eine bedeutende Rolle zu spielen beginnt, taucht in den Romanen der »RougonMacquart«Reihe immer wieder auf, wie die lebendige Verkörperung jener neuen Schicht mehr oder, weniger begabter und skrupelloser Abenteurer, die mit Napoleon an die Macht gekommen waren und in ihren neuen Stellungen ihre »Gelüste und Begierden« hemmungslos zu befriedigen trachteten. In diesem Spiel der Leidenschaften verkörpert Eugène eine ganz bestimmte Note: den unbedingten Machtdrang und Machtwillen. Er hat keine andere Leidenschaft; enthaltsam und mäßig in allen körperlichen Genüssen, kennt er nur eine Ausschweifung in seinem Leben: das
Sichberauschen an Macht. Wie ein Koloß steht er über der ganzen Familie, die er mit seinem Gewicht fast erdrückt. Schon im »Glück der Familie Rougon« ist er der große Sohn, derjenige, von dem Félicité und ihr Mann, ja schließlich die ganze Anhängerschaft des gelben Salons in Plassans Glanz und Ansehen beziehen. Aber Eugène bleibt geheimnisvoll im Hintergrund, tritt selbst nicht eigentlich in Erscheinung. Sein Eingreifen in den großen Lauf der Ereignisse kann man aus gelegentlichen Äußerungen der Eltern, aus den Anweisungen, die sie von ihm erhalten und nach denen sich ihre eigene kleine Provinzpolitik richtet, mehr erraten als genau ablesen. Und doch beherrscht er in gewissem Sinne das Romangeschehen und wird damit trotz aller räumlichen Entfernung zum Mitschuldigen an dem furchtbaren Verbrechen, dem die beiden Kinder Miette und Silvère zum Opfer fallen. Sie erliegen dem neuen grausamen Prinzip, in dessen Dienst
Eugène seine ganze Kraft gestellt hat. Im zweiten Band, in der »Beute«, bewohnt Eugène noch »zwei große, kahle, dürftig eingerichtete Zimmer« in der Rue de Penthièvre. Er ist im Aufsteigen begriffen, aber keineswegs schon so arriviert, daß er seinen kompromittierten Bruder beliebig in der neuen Verwaltung unterbringen könnte. Hinter seiner hohen Gestalt, die schweigend und dunkel hie und da bei den rauschenden Festen Saccards auftaucht, spürt man noch das Abenteuerliche, Unsolide, eine ganze Fülle unsauberer Geschichten und Affären, die diesen Mann mit einer eigentümlich pikanten Aura des Geheimnisvollen umgeben und ihn zu einer interessanten und zugleich leise beunruhigenden Erscheinung machen. »Eugène ... war zu dieser Zeit eine geheime Macht ... ein kleiner Advokat, in dem ein großer Politiker heranwuchs.« Dabei wird in diesen beiden Romanen von Eugène höchstens ein Schattenriß entworfen. Erst in »Seine
Exzellenz Eugène Rougon« wird er voll herausgearbeitet. Man hat sich immer Wieder gefragt, welchen Minister der Ära Napoleons III. Zola mit seinem Eugène nachzeichnen wollte, und immer wieder wurde auf einen Mann verwiesen: Eugène Rouher, den allmächtigen Minister, des späten Kaiserreichs. Allein schon die Namensgebung schien diese Gleichsetzung herauszufordern. Aber bereits Paul Alexis, der treue Freund des Dichters, erklärte, daß Zola der historischen Gestalt Rouhers für seinen Eugène Rougon nur einige Züge entlehnt, ihn im übrigen aber frei geschaffen habe, im Charakter mehr seinem eigenen Bild entsprechend als einem fremden. Eugène Rougon, das wäre Zola als Minister. Wie steht es nun wirklich mit dieser Gestalt? In welcher Weise hat sich Zola die historische Wirklichkeit nutzbar gemacht, wie hat er sie verarbeitet?
Zola hat sich für diesen Roman wie für jeden anderen aufs genaueste über die historischen Ereignisse orientiert. Er arbeitete die Geschichtswerke von Taxile Delord und LouisErnest Hamel gründlich durch, studierte den »Moniteur«, das amtliche Presseorgan dieser Jahre, in dem die Kammerberichte, die Regierungsreden und offiziellen Bulletins über den Kaiserhof erschienen, und verschaffte sich vor allem mit Hilfe des Buches »Erinnerungen eines Kammerdieners« einen Einblick in das gesellschaftliche Leben bei Hofe. Denn diese Seiten des Romans machten ihm große sachliche Schwierigkeiten, weil er diese Welt gar nicht kannte. Die Brüder Goncourt berichten in ihrem »Journal«, wie sich Zola vor allem von Flaubert über die kleinsten Details unterrichten ließ. »Sonntag, den 7. März 1875: Als Zola bei Flaubert [bei dem sich einige literarische Freunde jeden Sonntagnachmittag
zusammenzufinden pflegten – R. Sch.] eintrat, ließ er sich in einen Stuhl fallen und murmelte mit verzweifelter Stimme: ›Was mir dieses Compiègne für Mühe macht ... Was mir das für Mühe macht!‹ Dann fragte Zola Flaubert, wieviel Lüster bei der Abendtafel angezündet wurden, ob es bei der Unterhaltung laut zuging ... und worüber man sich unterhielt ... und was der Kaiser sagte ... Und Flaubert, halb aus Mitleid mit Zolas Unkenntnis der kaiserlichen Intimität, halb aus Befriedigung, den zwei oder drei Besuchern mitzuteilen, daß er vierzehn Tage in Compiègne verbracht hatte, spielte in seinem Schlafrock Zola einen klassischen Kaiser mit schleppendem Schritt vor, eine Hand hinter seinem stark vorgebeugten Rücken, idiotische Sätze fallenlassend ... seinen Schnurrbart drehend. ›Ja‹, sagte er, nachdem er gesehen, daß Zolas Skizze fertig war, ›dieser Mann war die
Dummheit, die Dummheit in Person!‹ ›Sicherlich‹, sagte ich [Goncourt – R. Sch.], ›ich bin auch Ihrer Ansicht ... aber die Dummheit ist im allgemeinen geschwätzig, und seine war stumm; das war seine Stärke, sie ließ alles vermuten.‹« Nicht ganz so fern lag Zola die Welt des Parlaments, in die der Roman ebenfalls führen sollte. Zola kannte diese Atmosphäre aus seiner Tätigkeit als Parlamentsberichterstatter im Frühjahr 1871 für Ulbachs Zeitung »La Cloche«, und die politischen Ereignisse des Zweiten Kaiserreiches hatte er ja selbst miterlebt. Zola legte die Vorgänge seines Romans in die Zeit zwischen Mai 1856 und März 1861, also in eine für das Kaiserreich sehr bewegte und entscheidende Epoche, die eingeleitet wurde durch ein scheinbares Anwachsen der Autorität Napoleons und des Kaiserreiches in außenpolitischen Fragen, denn die Rolle, die
sich Frankreich in den Pariser Friedensverhandlungen zur Beendigung des Krimkrieges anmaßte, konnte Napoleon in die Illusion wiegen, zum Schiedsrichter in Angelegenheiten der europäischen Politik geworden zu sein. Die persönlichen Begegnungen des Kaiserpaares mit der englischen Königin und ihrem Gatten im Jahr 1855 wurden als wohlwollende Anerkennung der neuen Dynastie durch die alten traditionellen Mächte betrachtet, und als am 13. März, dem Palmsonntag des Jahres 1856, Eugénie einen Sohn zur Welt brachte, da schien auch die Zukunft endgültig gesichert. Kurz nach diesem Ereignis beginnt Zolas Roman. Die Taufe des Kaiserlichen Prinzen wurde am 14. Juni mit großem Pomp gefeiert, und die beiden Taufpaten, der Papst und die Königin von Schweden, verknüpften gleichsam symbolisch die traditionellen reaktionären Mächte der Zeit aufs engste mit dem reaktionären Reich des Emporkömmlings,
der sich so gern von Zeit zu Zeit als patriarchalischer Familienvater und arbeiterfreundlicher Herrscher gab. Der propagandistische Erfolg dieser Tauffestlichkeiten rechtfertigte in den Augen Napoleons durchaus die enormen Aufwendungen, die großenteils durch einen Sonderkredit des Corps législatif über 400000 Francs und im übrigen aus seiner Privatschatulle aufgebracht wurden. Der Sieg bei den Deputiertenwahlen im Juni des nächsten Jahres schien diese Berechnungen zu bestätigen. Die Regierungskandidaten erhielten 5500000 Stimmen, während die gesamte Opposition nur 570000 Stimmen auf sich zu vereinigen vermochte. Allerdings hatte die Regierung diese Mehrheit nur durch größten Wahldruck erreicht, durch rigorose Behinderung der oppositionellen Kandidaten, Verleumdungen und
Bestechungen, In Zolas Roman werden diese ganzen Machenschaften im sechsten Kapitel, in den Gesprächen der Freunde Eugènes, vor allem Du Poizats und Kahns, angedeutet: »Oh, sauber sind sie, diese Wahlen! ... Es gibt da ... einen alten Kameraden von mir, der es gewagt hat, sich als republikanischen Kandidaten aufstellen zu lassen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, was für eine Treibjagd man auf ihn veranstaltet hat ... man hat seine Plakate zerrissen, seine Wahlzettel in die Gräben geworfen, man hat die paar armen Teufel verhaftet, die beauftragt waren, seine Rundschreiben zu verteilen ... Und erst die Zeitungen! Darin wurde er als Schuft bezeichnet. Die alten Weiber bekreuzigen sich jetzt, wenn er durch ein Dorf geht.« Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheinen auch die 570000 Gegenstimmen in einem ganz anderen Licht, und die aufkeimende Opposition wirkt um so beunruhigender, wenn man bedenkt, daß sie sich vor allem auf die
Großstädte, Paris mit fünf und Lyon mit einem Gegenkandidaten, konzentrierte und damit bis zu einem gewissen Grad Ausdruck des zunehmenden Selbstbewußtseins und Kraftgefühls der Arbeiterschaft, ja selbst der Unzufriedenheit gewisser bürgerlicher Kreise wird, während bei der französischen Landbevölkerung, den kleinen Handwerkern und Weinbauern, mit deren Stimmen Napoleon vornehmlich zur Macht gekommen war, der Zauber seines traditionsverklärten Namens noch vorhielt. Auch wenn die winzige Gruppe der fünf oppositionellen Abgeordneten – Cavaignac war vor Beginn der Session gestorben – auf die Politik des Corps législatif zunächst keinen tatsächlichen Einfluß ausüben konnte, so war damit doch in das autokrate Gebäude des Zweiten Kaiserreiches die erste Bresche geschlagen, die allmählich von den unzufriedenen Kräften erweitert wurde. Schon die nächsten Wahlen im Jahre 1863 zeigten
das unaufhaltsame Erstarken der gegnerischen Kreise und die wachsende Unterhöhlung des Regimes, das ja von Anfang an auf dem Quivive sein mußte. Dafür sorgten auch die sich seit 1853 in ständiger Folge wiederholenden Attentate auf Napoleon, von denen besonders das Attentat Orsinis im Jahre 1858 eine wahre Panik in den Tuilerien auslöste. Als am Abend des 14. Januar 1858 das Kaiserpaar vor der Oper vorfuhr, warfen die Verschwörer rasch hintereinander drei Bomben, durch die nahezu 150 Personen verletzt und zehn getötet wurden. Ein Splitter durchbohrte Napoleons Hut, aber sonst blieben er und seine Frau unverletzt. Da die Hauptbeteiligten an diesem Anschlag, Orsini, Pieri und Gomez, Italiener waren, die als politische Flüchtlinge in London gelebt und sich dort zusammengefunden hatten, haftete dem Attentat rein äußerlich der Geruch einer vom Ausland und von mißvergnügten
Emigrantenkreisen inszenierten Verschwörung an, und die kaiserliche Polizei hütete sich wohlweislich, die tieferen Hintergründe aufzuhellen, die Spuren zu verfolgen, die auf eine französische Umsturzbewegung hindeuteten, von der die Polizei nach Ansicht einiger Zeitgenossen Kenntnis gehabt haben soll. Ein ähnlicher Hinweis des Herzogs von Morny bei der Eröffnung des Corps législatif macht diese Vermutung wahrscheinlich. Zola war also durchaus berechtigt, Eugène Rougon Mitwisserschaft an dem Attentat zu unterschieben, das in der historischen Wirklichkeit ebenso wie im Roman den Vorwand zu einer Reihe scharfer Maßnahmen gab, die durch das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit vom 27. Februar 1858 festgelegt wurden. Dieses Gesetz konzentrierte praktisch die Macht in den Händen des Innenministers und der ihm unmittelbar unterstellten Präfekten und Oberstaatsanwälte. Zur Durchführung der notwendigen
Maßnahmen wurde der bisherige Innenminister Billault von einem anderen Staatsstreichgehilfen Napoleons, dem skrupellosen General Espinasse, abgelöst, der sich schon bei den Verurteilungen und Deportationen 1852 unrühmlich hervorgetan hatte und nun rücksichtslos durchgriff. Er berief sämtliche Präfekten zu sich und diktierte ihnen die Anzahl der Verhaftungen, die er in dem jeweiligen Departement als abschreckende Maßnahme für notwendig hielt. Die Auswahl der Personen blieb dem einzelnen überlassen. Das neunte Kapitel in Zolas Roman gibt diese Vorgänge mit geradezu dokumentarischer Genauigkeit wieder. Insgesamt wird nach Angaben der Historiker die Zähl der Opfer auf 2060 geschätzt. Ebenso rigoros ging Espinasse gegen die Presse vor. Er konnte sich bei all seinen Maßnahmen auf die persönlichen Instruktionen des Kaisers berufen, von dem er als »Mann des eisernen Besens« herangeholt
worden war. »Der soziale Körper«, hatte Napoleon am 15. Februar zu ihm gesagt, »wird von einem Ungeziefer zernagt, dessen wir uns um jeden Preis entledigen müssen. Auch unter den Präfekten befinden sich solche, die trotz ihrer Beschützer zu beseitigen sind. Ich rechne in dieser Beziehung auf Ihren Eifer. Suchen Sie nicht durch unzeitgemäße Milde die zu beruhigen, welche Ihr Eintritt ins Ministerium mit Schreck erfüllt hat. Man muß Sie fürchten; andernfalls hätte Ihre Ernennung keine Berechtigung.« (Hervorhebung R. Sch.) Mit der Berufung auf eine ähnliche Instruktion rechtfertigt Eugène Rougon bei der Ministerratssitzung in SaintCloud seine Terrorpolitik: » ... Sie haben mich unter schrecklichen Umständen in die Regierung berufen. Sie haben mir gesagt, ich solle nicht versuchen, durch eine unzeitgemäße Milde diejenigen zu beruhigen, die zitterten. Ich habe Ihren Wünschen entsprechend dafür gesorgt, daß man mich fürchtet ...« (Hervorhebung R.
Sch.) Trotz dieser ausdrücklichen Ordre Napoleons stand Espinasse ebenso wie Rougon nicht allzu lange in Gunst. Der General, der seine Stellung schwanken fühlte, suchte dem Kaiser in einem Schreiben die gefährliche Situation noch einmal deutlich vor Augen zu führen, ihn vor der wachsenden Opposition zu warnen und die Politik der starken Hand zu verteidigen. Aber der Kaiser entließ ihn und berief an seiner Stelle am 14. Juni 1858 den unbedeutenden Delangle, der ebenfalls zu den alten ergebenen Helfern Napoleons gehörte und als Präsident des kaiserlichen Gerichtshofes den Prozeß gegen Orsini geleitet hatte. Den äußeren Anlaß für die Abberufung Espinasses gab ein Konflikt mit der Geistlichkeit. Auch hierin folgt Zola in seinem Roman getreulich den historischen Tatsachen. Der General Espinasse fand schon im nächsten
Jahr während des italienischen Feldzuges in der Schlacht bei Magenta den Tod. Dieser Italienkrieg war für Napoleons Innenpolitik ein zweischneidiges Schwert: einmal wollte er sich damit den Liberalen gegenüber als Verteidiger nationaler Freiheit aufspielen und so seiner sinkenden Macht neuen Kredit verschaffen; zum anderen brachte ihn die italienische Angelegenheit dauernd in Schwierigkeiten und Konflikte mit den Ultramontanen, zu denen auch die Gruppe um die Kaiserin gehörte und die in den nationalen Einigungsbestrebungen Italiens eine Gefahr für die weltliche Macht des Papstes sahen, weshalb sie das ganze Unternehmen mit sehr scheelen Augen betrachteten. Tatsächlich wuchs der Druck von dieser Seite und führte zu einer Spaltung des rechten Flügels. Der ultramontane Teil trat in Opposition, die im letzten noch reaktionärer war als die offizielle Regierungspolitik. Wenn sich andererseits die Prachtentfaltung des
Hofes und der führenden Gesellschaft in diesen Jahren immer hemmungsloser steigerte, die Bälle, Empfänge und Festlichkeiten sich immer kostspieliger und luxuriöser gestalteten, so mußte dieses Verhalten der Napoleonischen Clique um so deplacierter wirken, je größer die Schwierigkeiten des Regimes wurden und je mehr sich die wirtschaftliche Lage verwickelte. Die Weltmarktkrise von 1857 griff natürlich auch auf Frankreich über, und die teilweise oder vollständige Aufhebung der Schutzzölle, die Napoleon gegen den Widerstand gewisser Industriekreise ab 1860 durchsetzte, weil er sich davon ein Doppeltes versprach – Verbesserung des französischen Handels und Hebung des Inlandsmarktes –, hatte zunächst nur ein Zurückgehen gewisser Industriezweige mit der damit notwendig verbundenen Arbeitslosigkeit zur Folge. Das alles zwang den Kaiser zu einer Revision seiner bisherigen Außen und Innenpolitik. Ein Jahr nach Delangles Amtsantritt wurde eine
Amnestie für die Exilierten (aus der Staatsstreichperiode) erlassen. Auch durch eine Reihe anderer Maßnahmen, wie z.B. Erweiterung der Befugnisse des Corps législatif, beschränkte Lockerung des Drucks auf die Presse, suchte sich das Kaiserreich ab 1860 einen liberaleren Anstrich zu geben. Diese »Reformen«, die sparsam genug bemessen waren, aber trotzdem noch den Widerstand der Anhänger einer autoritären Politik hervorriefen und andererseits die Forderungen der Opposition keineswegs befriedigten, sollte der ehemalige Innenminister Billault, der zusammen mit Baroche und Magne im gleichen Jahr zum Minister ohne Portefeuille ernannt worden war, im Corps législatif als Sprecher der Regierung vertreten. Rouher hatte diese Aufgabe abgelehnt. Es kam zu einigen erregten Sitzungen, in denen die oppositionellen Abgeordneten heftige Kritik
an der Regierung üben konnten, weil der Herzog von Morny als Präsident des Corps législatif ihrem Tun Vorschub leistete. Billaults Entgegnungen darauf waren geradezu Glanzleistungen der Rhetorik. Er verstand es, unter geschickter Darlegung allgemeiner Prinzipien den eigenen Standpunkt so klar und überzeugend begründet vorzutragen, daß er die gegnerischen Argumente entkräftete, ohne sich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Eigenschaften, die Eugènes Redetechnik ebenfalls auszeichnen. Seine Kammeransprache im letzten Kapitel des Romans ist dafür der beste Beleg. Sie entspricht der tatsächlichen historischen Rolle Billaults im Jahre 1861. Schon die zeitliche Umgrenzung des Romans auf die Jahre 1856 bis 1861 zeigt, daß Zola nicht einfach Rouher als Vorbild für seinen Minister Rougon gewählt haben kann, da Rouher in diesen Jahren noch keine entscheidende politische Rolle spielte,
während die historischen Vorgänge im Roman vielmehr mit dem Wirken des Ministers Billault und des Generals Espinasse zusammenfallen. Doch ebenso fest steht, daß Zola Rouher als Vorbild tatsächlich mitbenutzt hat. Eugène Rougon tritt ja in diesem Roman nicht zum letztenmal auf. Im »Geld« finden wir ihn wieder als Gefangenen seiner eigenen Politik, und im »Doktor Pascal« gehört er zu jenen Überbleibseln aus dem Kaiserreich, die im republikanischen Parlament das Ewiggestrige vertreten. In beiden Punkten stimmt Eugènes Schicksal mit dem Rouhers haargenau überein. Und so wie hier hat Zola auch schon in »Seine Exzellenz Eugène Rougon« eine Reihe von Einzelzügen Rouhers übernommen, dessen eigentliche Glanzzeit in das späte Kaiserreich fällt, wo er noch einmal die alte autokratische Politik durchzusetzen bemüht war. Denn all diese »Reform«Versuche von oben in
den Jahren 1860/61 hatten den wachsenden Widerstand gegen das Napoleonische System nicht mehr wirksam aufzuhalten vermocht. Die Wahlen von 1863 brachten einen neuerlichen »Linksruck« und weitere Differenzierung im Lager der Staatsstreichclique. Da berief der Kaiser 1863, nach dem Tode Billaults, Rouher auf den Posten des Staatsministers, der wie die früheren »Sprechminister« die Regierungspolitik im Corps législatif zu vertreten hatte, aber größere Machtvollkommenheit besaß als jene, weil sich diese Aufgabe nunmehr in seiner Hand allein konzentrierte. Gleichzeitig ernannte er Rouher zum Präsidenten des Staatsrates. Rouher, 1814 geboren – die Mithelfer beim Staatsstreich gehörten ungefähr alle dieser Generation an –, hatte wie Eugène Rougon seine Laufbahn zunächst als kleiner Provinzadvokat begonnen. In der Julimonarchie spielte er keine Rolle. 1848 zog er als rechter Deputierter in die
Abgeordnetenkammer ein. Im Oktoberkabinett des Jahres 1849 trat er als Justizminister für die Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts ein und dokumentierte sich schon damit als der geeignete Mann der kommenden Ereignisse. Im Staatsstreich war er einer der eifrigsten Helfershelfer Napoleons, für den er im Jahre 1852 die Endredaktion des neuen Verfassungsentwurfs besorgte, der Napoleon als PrinzPräsidenten praktisch die Diktatur gab und das parlamentarische System liquidierte. Aber wegen einer Meinungsverschiedenheit bezüglich der Enteignungsdekrete gegen das Haus Orleans trat Rouher 1852 zusammen mit Fould, Magne und Morny aus dem Kabinett aus und wurde Vizepräsident des Staatsrates. Zola hat in seinen Vorarbeiten zu »Seine Exzellenz Eugène Rougon« von ihm folgendes Porträt entworfen: » ... ein mittelmäßiger Mann, geschmeidig, klug, im übrigen ungebildet, mit dem Drang nach Genuß, unbekümmert um die Nachwelt, von plattem
Ehrgeiz ... ein geschickter Praktiker ... ein Mann des gesunden Menschenverstandes und der Gemeinplätze. Alles zusammen, schwerfällig. Enkel eines Gerichtsdieners, Sohn eines Anwalts, in Prozessen und Rechtskniffen aufgewachsen, zu allem fähig. Er war nichts, ehe er Minister wurde, weder Schriftsteller noch etwas anderes. Er ist nichts, sobald er seinen Posten verliert ... Er hat nichts gesehen, nichts gelesen, nichts studiert außer seinen Akten. Er vermeidet historische Zitate oder irrt sich ... Er hat ein glückliches Gesicht ohne Falten. Eine sehr hohe Stirn, weil er glatzköpfig ist ... Er besitzt eine große Anpassungsgabe, versteht es, ein Aktenstück schnell zu überprüfen und auszuziehen ... Niemand ist höher in der Gunst des Herrschers und in der Verwunderung des ganzen Landes gestiegen ...« Dieser Mann verstand es tatsächlich, das Vertrauen des Kaisers in einem außergewöhnlich hohen Maße zu gewinnen und seine Politik nachhaltig zu
beeinflussen. Immer wieder stellte er sich dem Übergang zu mehr parlamentarischen Formen in den Weg und suchte jede Vorwärtsentwicklung aufzuhalten. In der Kammer wirkte er ähnlich wie vorher Billault durch seine raffiniert vereinfachende Argumentation und seine auf Gesamtwirkung berechnete Gestik. »Er ist ein Rhetoriker. Ein As an Banalität«, um mit Zola zu reden. »Er beginnt mit Versprechungen, einer ergreifenden Analyse der gegnerischen Argumente. Er bringt sie durcheinander, dann entwischt er, umgeht Schwierigkeiten, reitet auf irgendeinem ganz nebensächlichen Widerspruch herum und appelliert zum Schluß an die Leidenschaften. Seine Behauptungen sind unexakt; ebenso wie vor Gericht meint er, daß, sobald der Prozeß gewonnen ist, von dem, wofür plädiert wurde, keine Spur bleibt ... Am Anfang spricht er mit belegter Stimme. Dann schwillt die Stimme an ... Mit dem rechten Arm schleudert er die Sätze in den Raum und
haut dann mit der Faust auf das Rednerpult ... Er droht und besänftigt sich wieder. Er steht hinten auf der Rednertribüne. Er kommt vor. Sein Körper ist nach rechts vorgeneigt. Sein rechter Arm ausgestreckt. Mit der linken Hand hält er sich hinten an der Tribüne fest. Er folgt in der Bewegung von A bis Z seinem Gedankengang ... Er gibt einen vollständigen Überblick über die Argumente seines Gegners. Dann sucht er den schwachen Punkt, schlägt mit aller Kraft zu, geht auf kein einziges Argument ein. Er spricht in langen Perioden ...« So waren vor allem Rouhers Reden in der Frühjahrssession des Jahres 1867, die Zola für die letzte Kammerrede Eugènes in seinem Roman benutzt hat. Doch auf die Dauer konnte sich Rouher gegen den immer größeren Druck von links mit seinen diktatorischen Neigungen nicht halten. Als bei den Wahlen des Jahres 1869 die Opposition von insgesamt 292 Abgeordnetensitzen 100 für sich gewann,
vermochte selbst die Gunst des Kaisers den allmächtigen Minister nicht länger vor dem Rücktritt zu bewahren. Zwar unternahm Rouher noch einen letzten Versuch zu Beginn der kleinen Session des gleichen Jahres, sich als Anwalt parlamentarischer Reformen zu betätigen, jedoch ohne Erfolg. Sein Sturz bedeutete allerdings keineswegs völliges Ausscheiden aus der Regierung, sondern wie üblich wechselte er nur auf einen anderen Platz. Er wurde Senatspräsident. Rouher gehörte zu jenen Politikern, die auch noch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches im Abgeordnetenhaus saßen und den Bestand der neu errichteten Republik in den ersten Jahren durch bonapartistische Umtriebe ständig gefährdeten. Vergleicht man mit dieser historischen Gestalt die Charakterskizze, die Zola von Eugène Rougon in den Vorarbeiten zu seinem Roman entwirft, so springen die verwandten Züge auf den ersten Blick in die Augen: »Eugène
Rougon, 1857 sechsundvierzig Jahre alt, groß, stark, breit in den Schultern ... Ein breites, viereckiges Gesicht, kein Bart, große Nase, fester Mund, eine zu hohe eckige Stirn, graue Augen, keine Falten ... Ein schlechter Provinzadvokat mit belegter Stimme und schwerfälliger Gestik ... Seine charakterliche Veranlagung: Liebe zur Macht um der Macht willen ... Der Intellekt hat bei ihm die Leidenschaften aufgezehrt. Weder wollüstig noch schlemmerhaft, noch eigennützig. Eine etwas träge Fleischmasse, in der ein geschickter, geschmeidiger, starker Geist steckt ... Ein typischer Minister des Zweiten Kaiserreiches, ohne Überzeugung, mit einer einzigen Gier nach Macht. Wirklich stark nur durch seine Gier zu herrschen. Ungebildet, mittelmäßig, wenn es nicht um die Macht geht ...« Diese Ähnlichkeit zwischen Rougon und Rouher erstreckt sich bis auf kleine
persönliche Züge: die Haltung beim Sprechen vor der Kammer, die Gestik, die Argumentationsweise. Rougon liebt es ebenso wie Rouher, seine Günstlinge zu lancieren und zu belohnen. Er ist ebenso wie der allmächtige Minister eifersüchtig darauf bedacht, starke Persönlichkeiten von der Umgebung des Kaisers fernzuhalten, um desto sicherer und uneingeschränkter über ihn und durch ihn zu herrschen. Und doch beschränkt sich die Verwandtschaft dieser beiden Gestalten nicht allein auf die Kongruenz äußerlicher und charakterlicher Einzelheiten. Sie geht viel tiefer, ist letztlich in der sozialpsychischen Wesensgleichheit beschlossen, die Rougon mit Rouher ebensogut verbindet wie mit Billault oder Espinasse, weil sich in Rougon alle jene Züge konzentrieren, die für »den typischen Minister des Zweiten Kaiserreiches« schlechthin charakteristisch sind. Deshalb kann Zola auch in dem Roman die historisch belegten
Handlungen verschiedener Personen auf Rougon übertragen, ohne die sozialhistorische Relevanz dieser Gestalt zu zerstören, die vielmehr erst dadurch ihre volle Gültigkeit erhält. Das wird vielleicht am deutlichsten in der politischen Schwenkung; die Rougon am Schluß vollzieht, wobei er »in einer einzigen Stunde sein ganzes politisches Leben Lügen« straft, wie es die historischen Akteure Billault und Rouher in den Jahren 1860 und 1869 ebenfalls getan hatten. Die Schlußszene des Romans, die auf den ersten Blick nur lose angefügt erscheint, gibt dem Charakter Rougons die letzte Ausformung. Der brüske Gesinnungswechsel erhellt blitzartig die abgrundtiefe Skrupellosigkeit und schrankenlose Machtgier dieses Mannes, der jeder, aber auch jeder Gemeinheit fähig ist, um diese Machtgier zu befriedigen. Wenn seine alte politische Überzeugung, seine wegwerfende Verachtung der Massen dazu nicht mehr taugt, so ist er ohne Zögern bereit,
sich vor den parlamentarischen Karren zu spannen, Papst und Kirche Weihrauch zu streuen, vorausgesetzt, daß ihm dieses VordenKarrenSpannen und Weihrauchstreuen die weitere Befriedigung seiner Herrschgelüste sichert. Gerade dieser Gesinnungswandel soll nicht nur einen persönlichen Charakterzug Rougons, sondern alle jene »Politiker« kennzeichnen, die mit Napoleon zur Macht gekommen Waren und im Kaiserreich ein Mittel zum Zweck, zur Befriedigung ihrer Gelüste sahen. Aber Rougon ist nach Zolas Konzeption nicht allein ein sozialhistorischer Typ, sondern ebensosehr »ein physiologischer Fall«, ein Monomane des Machthungers, entsprechend der Doppelkonzeption des Zyklus als einer »Natur und Sozialgeschichte«. Nur aus dieser Rückführung seines Helden auf den Typ einer bestimmten biopsychischen Veranlagung kann Zola, entsprechend seiner den naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit
verpflichteten Konzeption, die eigentliche Fabel des Romans, die dramatische Handlung herauskristallisieren. Die Vorarbeiten geben Aufschluß darüber, wie lange der Schriftsteller unsicher hin und her tastete, um ein geeignetes »Drama« für seinen Roman zu finden. Daß man es aus dem politischen Spiel selbst gewinnen könnte, erschien Zola unmöglich: »Ich kann keinen parlamentarischen Gegensatz nehmen, das ... würde den Roman vereinfachen.« Dabei hätte gerade diese »vereinfachende« Intrige, führte Zola sie auf ihre Hintergründe zurück, ihm gestattet, die Drahtzieher am Werke zu zeigen, die das Spiel der parlamentarischen Puppen in Bewegung setzen. Nach Ausscheiden dieser Möglichkeit denkt Zola einen Augenblick daran, die Ehe Rougons in den Mittelpunkt zu ziehen, aber dann spürt er, daß das kaum eine Verschmelzung des politischen Geschehens mit dem privaten erbringen würde, während er bei Einführung einer Frau als
persönlichpolitischer Gegenspielerin nicht nur den politischen Gegenkreis dramatisch einbeziehen, sondern zugleich der sozialhistorischen Problematik, wiederum seiner Theorie entsprechend, eine »physiologische« unterlegen und das Geschehen als den Kampf dreier »Temperamente«: Rougons, de Marsys, Clorindens, hinstellen kann. »Der Kampf der Regierungsinteressen mit den sozialen. Auf die eine Seite setze ich die Autorität, das Absolute einer despotischen Intelligenz (Eugène); auf die andere den menschenfreundlichen und demokratischen Traum ... und ich gebe den Sieg dem Willen, der Machtkaprice einer Frau.« Am Ende steht also das Weib als triumphierende, naturhaft siegende Kraft. Um dieses Gegensatzes der Temperamente willen ersetzt Zola auch Napoleon, den er ursprünglich als Gegenspieler Rougons
nehmen wollte, durch de Marsy, weil dieser in seinen Augen eine andere, wenn auch ungleich kompliziertere »Begierde« verkörpert, in der sich der Erotiker und Salonmensch mit dem geschickten Geschäftemacher und kalt berechnenden Politiker vereinigt, für den Herrschen, Macht nur einen Teil des Genießens darstellen, aber einen notwendigen Teil; ein Mann, der alle Schwierigkeiten der Politik gleichsam tändelnd auf dem Parkett löst, moralisch ebenso skrupellos wie Rougon, aber nach außen hin eleganter, geräuschloser, verbindlicher, dabei im Grunde gefährlicher, weil er undurchsichtig und unberechenbar ist. Dieser temperamentbedingte Gegensatz macht in Zolas Augen de Marsy zum naturgegebenen Gegenspieler Rougons: »Ich behalte nur de Marsy, der ihm anlagemäßig entgegengesetzt ist.« Eine vereinfachende, gesellschaftliche Widersprüche in physiologisch bedingte Temperamentsoppositionen verlagernde Auffassung. Trotz dieser Reduktion
historischer Prozesse auf biologische hat Zola mit der Auswechslung der Aktionspaare die künstlerisch richtige Lösung getroffen, da de, Marsy, historisch weniger gebunden als die Gestalt Napoleons, eine viel größere Verdichtung, Straffung und Dramatisierung der Zusammenhänge erlaubt, durch die erst die rein historischen Gestalten und Begebenheiten, wie der Kaiser und die Kaiserin, der sie umgebende Hof mit seinen Intrigen, die Bilder von der Abendgesellschaft in Compiègne oder dem Ministerrat in SaintCloud, voll wirksam einbezogen werden können. Das Vertauschen von Vordergrund und Hintergrundfiguren zugunsten der fiktiven Gestalten zeigt Zolas sicheren künstlerischen Instinkt. Dabei verbirgt sich auch hinter de Marsy durchaus eine historische Persönlichkeit, der Herzog von Morny, der im Regentschaftsrat Rouhers Gegenspieler war, sich als illegitimer Halbbruder Napoleons diesem schon vor dem Staatsstreich angeschlossen hatte und seit 1859
zu den eifrigsten Verfechtern des Parlamentarismus gehörte. Der moralische und charakterliche Habitus de Marsys ist ihm aufs getreueste nachgezeichnet. Dabei hat Zola wiederum verschiedene historische Einzelheiten, wie das Vorhandensein kompromittierender Briefe de Marsys, von anderen Personen entlehnt. Briefe waren tatsächlich von Billault, Magne und Fould bekannt. Immer kommt es dem Dichter darauf an, das erregende Spiel wechselnder Leidenschaften, von Haß und Liebe, Freundschaft und Verrat zu zeigen. Das fesselt ihn, fesselt ihn so, daß es seine Aufmerksamkeit absorbiert und seinen Blick auf die dahinter verborgenen gesellschaftlichen Triebkräfte verdunkelt. Eine solche Konzeption historischer Vorgänge entsprach zugleich den ihnen im Alltagswissen seiner Leser entsprechenden Interpretationsmustern. Zola hat in »Seine Exzellenz Eugène Rougon«
Leben und Treiben der Staatsstreichclique, ihre Charakter und Seelenhaltung in ihrer Symptomatik glänzend erfaßt und wiedergegeben, aber eben vor allem in ihrer Symptomatik. Deshalb stilisiert er seine Gestalten fast zu monomanen Figuren, weil sich für ihn nur in dieser Konfrontierung der Leidenschaften, ihrem Gegen und Zusammenspiel, der Mechanismus sozialen Seins begreifen läßt. Darunter aber kommt eine bittere soziale Satire zutage, die sich gegen die kleinbürgerliche Spießigkeit und sentimentale Verlogenheit des Zweiten Kaiserreiches richtet. Zola gelingt es glänzend, diese Grundhaltungen bis in die kleinsten Details aufzuspüren und lächerlich zu machen, z.B. gleich in der ersten Szene, der Kammerdebatte über den Kredit für die Tauffestlichkeiten. Mit welcher Ironie behandelt Zola doch die pathetischgefühlvolle Rede des offiziellen Regierungssprechers, der in blumigen
Wendungen die Geburt des Kaiserlichen Prinzen als nationales Ereignis feiert. Die Abgeordneten schlürfen seine Worte förmlich in sich hinein, die ihren eigenen Gefühlen, ihrer Dummheit schmeicheln und ihnen die eigene Mittelmäßigkeit als Höchstmaß gesellschaftlicher Erlebnisform vortäuschen. Mit einer einzigen kleinen Randbemerkung zeigt Zola, wie der Leser diese hochtrabenden Parlamentsphrasen zu werten hat: »Da nun von Huldigung, Religion und Pflichten die Rede war, mußte es wohl bald zu Ende sein.« Und das ZuEnde Sein, das die Abgeordneten der »Fron« des Zuhörens entbindet, ist ihnen fast noch angenehmer als das Schwelgen in verlogenen Gefühlen. Und ein ebenso glänzendes und zugleich satirisches Bild entwirft Zola von den Tauffestlichkeiten. Wiederum trifft sein Spott die kleinbürgerliche Gefühlsseligkeit der Massen, die von Napoleon geschickt ausgenutzt und genährt wird. Man zeigt sich
dem Volk im Negligé der intimsten Gefühle, breitet sein Familienglück gönnerisch vor ihm aus und läßt es damit gleichsam teilhaben am großen Staatsgeschehen. Die wunschgemäß eintretende und sich äußernde Reaktion der Menge hat Zola in treffenden Details wiedergegeben: » ... die Frauen weinten, stammelten zärtliche Worte für ›den lieben Kleinen‹, bekundeten mit von Herzen kommenden Äußerungen ihre Anteilnahme an der bürgerlichen Freude des kaiserlichen Paares.« In die gleiche Richtung zielt auch Gilquins gutmütig spöttische, Gruseln erregende Bemerkung: »Wenn nun die Brücke brechen würde!« Der nachfolgende Satz: »Der Papa, die Mama, das Kind, sie alle würden gehörig Wasser schlucken!« in seinem plump vertraulichen Ton ist typisch für die innere Haltung der Bürger, die sich bei dem Schauspiel des Taufzuges mit den Herrschaften auf gleichem Fuße stehend erleben. Aber die ganze Taufszene ist nicht nur
eine unnachahmliche Satire, sie ist ein ebenso großartiges Massengemälde, mit einem einzigen Sinneseindruck gearbeitet, dem visuellen. Alles ist auf Licht und Schatten und Farbkontraste abgestimmt: »Zwischen den beiden breiten Vorhängen wölbte sich die Kirche unermeßlich ... Die zartblauen Gewölbe waren mit Sternen übersät ... Überall fiel roter Samt in reichem Faltenwurf von den hohen Säulen herab ... Und in dieser roten Dunkelheit brannte allein, in der Mitte, eine glühende Feuerstätte von Kerzen .... daß es wirkte wie eine einzige Sonne, die in einem Funkenregen loderte ... Ein großer Thronhimmel ... schwebte wie ein riesiger Vogel mit schneeigem Bauch und purpurnen Schwingen über dem höchsten Thron. Und eine große, reichgeschmückte Menge, schillernd von Gold, sprühend von blitzendem Schmuck, füllte die Kirche ... während ... die Damen oben am Rand der Emporen die Blumenbuntheit ihrer hellen Stoffe zur Schau
stellten. Eine Wolke blutroten Brodems durchzog den Raum. Die im Hintergrund ... erscheinenden Köpfe hatten die rosigen Töne gemalten Porzellans ... Und in dem gewaltigen Zujauchzen ... bemerkte Frau Correur ... den Kaiser ... Er hob sich schwarz ab von dem goldenen Glanz, den die Erzbischöfe hinter ihm ausstrahlten. Er zeigte dem Volk den Kaiserlichen Prinzen, ein Bündel weißer Spitzen, das er mit erhobenen Armen sehr hoch hielt.« (Hervorhebungen R. Sch.) In dieser großartigen Farbvision läßt Zola Frau Correur die eigentliche Taufe erleben. Daß es ihm dabei wirklich um malerische Effekte geht, zeigt sich in der durchgängigen Anwendung der gleichen Beschreibungstechnik in dem ganzen Kapitel, das wie eine Kette aneinandergereihter Teilabschnitte eines großangelegten Gesamtgemäldes wirkt, wobei der Künstler mehrmals den Standort wechseln muß, um alle Aspekte einzufangen.
So beginnt Zola zunächst mit einem allgemein gehaltenen Stimmungsbild, nimmt es dann aus der Perspektive Gilquins und der Charbonnels sowie Frau Correurs im entscheidenden Augenblick beim Herannahen des Taufzuges wieder auf und führt es schließlich mit der Vision Frau Correurs von den Vorgängen in NotreDame zu Ende. Und Zola rahmt sein Gemälde durch die dreimal aufgenommenen und dreimal in veränderter Symbolik gedeuteten Farbtupfen der grauen GehrockReklame, der roten Matrosenblusen und des grünen Schiffes mit den Wäscherinnen. Eigentlich eine dem Impressionismus entlehnte Beschreibungstechnik, aber mit welcher Genialität gehandhabt. Da sitzt jedes Wort, jede Zeile, jeder Satz! Man erlebt förmlich mit den Charbonnels und Gilquin die erregte Atmosphäre des Wartens, sieht die Menschen drängen und strömen, ist geblendet von der Pracht des Taufzuges.
Die Beispiele für Zolas großartige Bildtechnik ließen sich beliebig erweitern, ebenso wie für seine souveräne Handhabung der Satire, die bald Beschränktheit, Geltungsbedürfnis und kleinlichen Intrigengeist der Provinzgrößen von Niort anprangert, bald die unehrliche Nächstenliebe der vornehmen Damen und Herren, denen es beim Wohltätigkeitsbasar viel mehr um eigenes Vergnügen als um wahre Mildtätigkeit geht, aufdeckt, bald die liberalen Anwandlungen des Kaiserreiches als ebensoviele geschickte Manöver bloßstellt. Aber Zola wollte mit seinem Roman nicht nur eine Karikatur des Kaiserreiches entwerfen, sondern zugleich »ein breites soziales und menschliches Gemälde«. Er wollte mit dem Sturz Rougons durch seine Clique die »Geschichte der Regierungen« überhaupt zeigen, denn wie immer soll die Zeitgeschichte das Paradigma der Universalgeschichte darstellen. Und bis zu einem gewissen Grade gelingt es Zola, unter anderem durch die
Einbeziehung der sozial ganz verschiedenartig zusammengesetzten Clique Rougons, dieses Ziel zu erreichen. Er kann schließlich die Machenschaften Du Poizats oder Kahns nicht darstellen, ohne auf die wirtschaftlichen Fragen und Beweggründe ihres Handelns einzugehen. Sonst wäre ihm auch die Ausformung dieser sozialhistorischen Typen und ihrer individuellen Charaktere nicht möglich. Auf das Erfassen dieser Charaktere kommt es Zola in erster Linie an. Aber die Beschränkung auf die Protagonisten des Napoleonischen Regimes läßt die Einbeziehung »positiver« Gestalten nicht zu. Darum erscheinen die Menschen des Romans schwarz in schwarz. Trotzdem gelingt es Zola, für die eigentliche Zentralgestalt, Eugène Rougon, das Interesse, ja die innere Anteilnahme des Lesers zu erwecken, weil Eugène bei all seiner Gemeinheit und Amoral in einem Punkte seiner Clique menschlich überlegen ist: in seiner Anhänglichkeit zu ihr.
Zwar hat dieses Eintreten für seine Freunde keineswegs uneigennützige Gründe – das Gespräch mit dem Kaiser in SaintCloud macht dies überdeutlich –, aber gegenüber der kleinlich gehässigen Charakterlosigkeit seiner Clique besitzt Rougon ein gewisses Format. Denn er bleibt sich stets selbst treu, sein Handeln, seine Haltung sind von Anfang bis zum Ende ungebrochen. Zolas eigene Sympathie für diesen Kraftmenschen – denn Zola, der Arbeitsfanatiker, hatte für Stärke jederzeit eine Schwäche – teilt sich dem Leser mit. Als Rougon bei dem Wohltätigkeitsfest erfährt, daß er abermals in Ungnade gefallen ist, und ihn auch die letzten Anhänger brüsk verlassen und Clorinde ihn in seinem Unglück noch verhöhnt, ohne daß er sich von seiner inneren Bewegung, seiner Verzweiflung auch nur etwas anmerken ließe, da gibt ihm Zola eine gewisse Größe, und die letzte Szene ist wie eine Bestätigung der unverwüstlichen Kraft dieses Mannes.
Diese letzte Szene, die Rougons Charakterzeichnung rundet, verleiht der Romanhandlung etwas Unabgeschlossenes, Episodenhaftes, weil sie die unabsehbare Wiederholung des gleichen Zyklus von Aufstieg und Niedergang zu eröffnen scheint. Und Zola hat diesen Eindruck noch dadurch verstärkt, daß er die wechselnde Gunst und Ungnade der beiden Gegenspieler, Rougon und de Marsy, als die Etappen eines Wettspiels hinstellt. Dieses Unabgeschlossen Wirken liegt durchaus in Zolas künstlerischer Absicht und entspricht seinen naturalistischen Prinzipien, nach denen der Roman einerseits nur einen Ausschnitt, eine Seite aus dem Leben geben soll, andererseits sozialen Vorgängen prinzipiell ein biologisches Kreislauf Schema unterlegt wird. Auf diesen naturalistischen Prinzipien beruht die Schlußszene ebenso wie die Gesamtkomposition des Romans. Er läßt sich in eine Reihe in sich geschlossener und geometrisch genau angeordneter Einzelbilder
zerlegen. In anderen Details zeigt sich Zolas Verhaftetsein in den literarischen Wahrnehmungs und Darstellungsschemata seiner Zeit, vor allem in der Beschreibung von Clorindes Schönheit. Clorinde ist das Weib. Ihre Stärke beruht auf ihren körperlichen Reizen, die durchgängig mit den Vergleichen und Bildern der l'artpourl'artLyrik Baudelaires beschrieben werden. Immer wirkt ihre Schönheit statuenhaft, unbeweglich, marmorn, gefühllos, Fluch und Untergang für den Betrachter beschwörend, nicht Erlösung. Nicht zufällig beschreibt Zola Clorindes Körper zum erstenmal bei der Maler Sitzung in der statuenhaften Pose einer griechischen Göttin. Diese Haltung steigert sie ins Übermenschliche: »Ihre Gestalt einer riesigen Statue ... macht sie erdrückend beängstigend.« Diese Verkehrung der Werturteile, das Empfinden der Schönheit als Fluch, Verherrlichen des Häßlichen als eines
ästhetischen Ideals ist charakteristisch für eine Poesie, die sich in Übereinstimmung mit der Malerei gegen idealisierende, harmonisierende und erstarrte Atelierkunst wendet. Maupassant hat in »Mont Oriol« die Schönheit seiner Heldin Christiane Andermatt mit denselben Mitteln beschrieben, aber im gleichen Augenblick auf diesen Zusammenhang ironisch hingewiesen. Zola dagegen nimmt diese Darstellungsweise ernst, sie ist für ihn gesteigerter Ausdruck sinnlicher Schönheit. Deshalb verwendet er sie durchgängig, in der »Beute«, im »Werk«, in »Nana«, überall dort, wo das Weib als destruktives Element der Gesellschaft mit all seiner weiblichen Verführungskunst dargestellt werden soll. Im übrigen steht in diesem Roman die Beschreibung der politischen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Zweiten Kaiserreichs auf einer solchen künstlerischen Höhe, daß für den aufmerksamen Leser die innere Struktur, das
eigentliche gesellschaftliche Gefüge mit seinen ökonomischen Hintergründen und klassenmäßigen Verwicklungen durchscheint. Der Roman zeigt zugleich, wie vielfältig und nuancenreich Zolas Schreibweise ist, wie er immer wieder neu und immer wieder anders zu schreiben vermag, wie jeder Strich bei ihm sitzt und Menschen und Geschehnisse unter seiner Feder plastische Gestalt gewinnen; wie er bohrt und sucht, die Schwächen der Menschen aufspürt, um sie durch die Enthüllung der »Wahrheit« davon zu befreien. Denn hinter dem ganzen Zyklus steht letztlich der optimistische Glaube, daß das Reich des Verfalls, das er darstellt, nur eine Durchgangsphase zu dem Reich der Zukunft ist, der »cité« der Wahrheit und Gerechtigkeit. ebook - Erstellung Februar 2010 - TUX
Ende