KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
KURT VETHAKE
DER SECHZEHNJÄHRIGE ...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
KURT VETHAKE
DER SECHZEHNJÄHRIGE BRAILLE ERFINDET DIE BLINDENSCHRIFT
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU . MÜNCHEN . INNSBRUCK • BASEL
Es war Montag, der 31. Mai 1887, als mehrere feierlich gekleidete Herren in der Nähe von Paris auf der Station Esbly iden Zug verließen. Schweigend schritten sie durch ein Spalier von Zeitungsrcportern zu den Pferdewagen, die vor dem Bahnhof bereitstanden, um sie in das zwei Kilometer entfernte Coupvray zu bringen. Als sie das kleine Dorf erreicht hatten, über dessen Häusern sich das prachtvolle Schloß Rohan und ein ehrwürdiges Gotteshaus erhoben, traten die Herren des Magistrats auf sie zu, um ihnen den Willkommensgruß zu entbieten. In festlichem Zug ging es durch die Straßen, deren Häuser mit Girlanden und der Trikolore geschmückt waren. Um diese Stunde hatte sich ganz Coupvray auf dem malerischen Marktplatz versammelt. Eine Rednertribüne war errichtet. Mitten auf dem Platz erhob sich, noch verhüllt, das Standbild des Blindenlehrers Louis Braille. Um dieses Denkmal errichten zu können, war in ganz Frankreich gesammelt worden; und nicht nur in Frankreich. Auch aus Österreich, Deutschland, Rußland, Belgien, Griechenland, Spanien, Dänemark, England, Italien, Holland und Kanada Ovaren Spenden eingegangen, wie Monsieur Benard, der Präsident des Stiftungskomitees, in seiner Eröffnungsrede bekanntgab. Dann ergriff Direktor Martin vom Nationalen Institut der jungen Blinden von Paris das W o r t : „Wenn mich das Komitee damit betraut hat, hier das W o r t zu ergreifen, so hat es damit nur meinen eigenen Wünschen entsprochen; denn ich habe die Ehre, die Anstalt zu leiten, in der der Held dieses Tages ein ebenso guter Schüler wie Lehrer gewesen ist. Ich möchte der großen Freude Ausdruck geben, die das Pariser Blindeninstitut über diese Auszeichnung empfindet. So wie ein Regiment die Namen derjenigen, die dazu beigetragen haben, seine Fahne berühmt zu machen, in seinem Goldenen Buch verzeichnet, so hat auch unsere Schule die Büste unseres Helden seit langem in ihrer Ehrenhalle aufgestellt. Gewiß, dem Ort Coupvray gebührt der Vorzug, seine erste Heimat gewesen zu sein. Wir vom Nationalen Institut der jungen Blinden von Paris aber nehmen für uns die Ehre in Anspruch, seine zweite Heimat gewesen zu sein. Wenn aber die Wohltäter das 2
Recht haben, in allen Ländern zu wohnen, wo ihre Wohltat Früchte getragen hat, so können wir darüber hinaus bekennen: ,Seine Heimat war die ganze Welt!' An Brailles Leben sehen wir deutlich den Wink des Schicksals. Aus seinem Unglück, aus dem Unglück, das eine ganze Familie traf, erwuchs Glück für M i l l i o n e n . . . " Direktor Martin trat an das Denkmal heran und zog die Umhüllung herab. Auf hohem Sockel wurde die lebensvolle Büste des Blindenlehrers sichtbar. Braille war in der Tracht des Institutslehrers dargestellt und zeigte auf dem Revers ein Palmblatt, Zeichen seines Amtes. Aus erloschenen Augen, das Haupt ein wenig lauschend nach vorn geneigt, blickte Louis Braille in die tiefe innere Welt, in der er zeitlebens beheimatet gewesen war. Der große Meister Leroux hatte diesem durchgeistigten Bildnis die Züge äußerster Menschengüte aufgeprägt. Als die Umstehenden herandrängten, erkannten sie auf dem Denkmalssockel die nicht minder ergreifende Reliefszene, in welcher der Künstler das Lebenswerk Brailles gleichsam auf die kürzeste und doch umfassendste Weise sichtbar gemacht hatte. Dber ein Blinden-Alphabet in erhabenen Punkten hinweg führte Braille behutsam die Hand eines jungen Schülers. Beredtsamer als viele Worte war auch die schliehte Beschriftung im dunklen Stein: ~,A Braille — Les Aveugles Reconnaissances" ,Braille gewidmet — von den dankbaren Blinden'. Wer war dieser Lehrer Braille, dem sein Heimatdorf, dem Frankreich und Menschenfreunde aus aller Welt viele Jahre nach seinem Tode dieses Erinnerungsmal gesetzt haben? W i r möchten den Leser zurückführen in das Jahr 1812, in jenes Jahr, in dem Napoleon mit der Großen Armee nach R u ß land zog. Und wir möchten ihn in das Elternhaus Louis Brailles begleiten, das im Unterdorf von Coupvray lag, seitlieh der Straße Grande Rue Saint Denis. Das kleine Anwesen, zu dem ein wenig Acker- und Weinbergland gehörte, bestand aus drei bescheidenen Gebäuden. Links der Hofeinfahrt sah man die Scheune, den Geräteschuppen und den Stall, wo eine Kuh, ein Pferd und das Kleinvieh ihre Unterkunft hatten. Rechts der Einfahrt führten drei Stufen zum kleinbäuerlichen Wohnhaus hinauf. Gegenüber, auf der anderen Seite des Fahrwegs, der mitten durch das Brail3
lesche Besitztum führte, hatte der Vater seine Werkstatt. Es war ein kleiner, nicht sehr heller Raum, wo es beständig nach Leder und Säure roch. Dennoch hätte ihn der dreijährige Louis mit keinem Platz der Erde eingetauscht. Für ihn gab es nichts Schöneres, als dem Vater bei der Arbeit zuzuschauen. Simon Rene Braille war Sattlermeister, der die Feld- und Weinbergarbeit nur nebenbei betrieb. Während er mit blitzender Klinge das Leder schnitt, hockte Louis zu seinen Füßen und fing die Abfälle auf, die dem Messer zum Opfer fielen. Diese Lederstückchen hatten die wundersamsten Formen. Es machte dem kleinen Louis Spaß, die Dreiecke, Halbmonde, Sterne, Streifen zu lustigen Figuren zusammenzusetzen. Der Vater machte gerade ein paar neue Zügel. Sie waren bereits zugeschnitten und mit Löchern und Schnallen versehen. Nun tauchte er das Leder in eine Flüssigkeit und massierte es mit den Händen, bis es wie ein Spiegel glänzte. „Guck mal, Vater!" Louis hielt strahlend ein Stück Leder empor. Auf der gelackten Oberfläche konnte er deutlich sein Gesicht erkennen. Das Licht blitzte herrlich in der dunklen Spiegelfläche. Louis legte das Lederstück auf den Fußboden. Er blickte verstohlen zu seinem Vater. Der Sattlermeister war ganz in seine Arbeit vertieft. Er bemerkte nicht, wie der Sohn die Ahle vom Tisch nahm. Der Bub hatte vor Eifer rote Backen, während er mit dem spitzen Instrument die hin- und herspringenden Lichtblitze in dem Leder zu treffen suchte, bis es durch lauter Kratzer verunziert war. Das Spiel der Lichter war trübe geworden. Das Kind war höchst verwundert. Aber das Licht mußte wiederkommen. Und wieder griff Louis Braille nach der Ahle. Niemand konnte später sagen, wie das Schreckliche geschehen war, das sich in diesem Augenblick abspielte. Das nadelspitze Instrument drang dem Knaben in das linke Auge und durchbohrte den Augapfel. Louis schrie vor Schmerz gellend auf. Der Sattlermeister fuhr von seiner Arbeit hoch. Er sah, wie dem Jungen das Blut übers Gesicht rann. Noch glaubte er an keinen ernstlichen Schaden. Es war nicht das erste Mal, daß sich Louis verletzte. '„Nicht weinen, mein Kleiner!" sagte er. J,Wird alles wieder gut!" Er beugte sich über das weinende Kind. Aber dann schrie er entsetzt auf. Louis' linkes Auge war eine blutige Masse.
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In diesem Hause wurde am 4. Januar 1809 Louis Braille als Sohn des Sattlermeisters Simon Ren6 Braille geboren; er wuchs mit drei Geschwistern auf (Bild aus Jean Roblin, Les Doigts qui lisent. Kegain - Monte Carlo
;,Heilige Jungfrau!" rief er. 75Junge,' was hast du gemacht?" „Vater, nicht schimpfen!" jammerte Louis. Der kleine Körper erbebte unter einem krampfhaften Schluchzen. Simon Rene Braille nahm seinen Sohn auf den Arm und stürzte aus der Werkstatt. Er lief keuchend über den gepflasterten ,W e g zum Haus hinüber. „Monique!" schrie er. 7)Frau, w o bi s t d u ? " Frau Braille erschien am Fenster, das neben der Haustür geöffnet stand. Sie erschrak, als sie den wimmernden Knaben auf dem Arm ihres Mannes erblickte. „Um Gottes willen, Simon, was ist geschehen?" „Das Auge, sieh doch das Auge!'' sagte der Sattlermeister. „Das kann doch nicht sein!" Frau Braille kam mit bleichem' Gesicht aus dem Haus gestürzt, in der Hand einen Packen schnell 5
zusammengeraffter Tücher. „Mein Gott, wie konnte das geschehen?" Behutsam nahm sie Louis auf ihren Arm. Sie strich ihm liebevoll über das krause Haar und begann, das hervorquellende Blut abzutupfen. „Ich laufe zum Arzt, F r a u l " sagte der Mann. „Spann lieber den Wagen a n ! " sagte Frau Braille. „ W i r bringen Louis zu ihm." Während der Sattlermeister das Pferd aus dem Stall holte, versuchte seine Frau den Kleinen zu trösten. Sie unterdrückte tapfer alle Tränen und summte leise ein Wiegenlied. Indessen schirrte der Sattlermeister an. Kaum, daß seine zitternden Hände die Schnallen festmachen konnten. Dann saß er neben seiner Frau auf dem Kutschbock. Das Pferd zog an. Ratternd fuhr der Wagen aus dem Hof, rollte schaukelnd über das Pflaster. Sonst hatte Louis vor Freude gejubelt, wenn er mit dem Vater ausfahren durfte. Heute lag er totenblaß im Schoß der Mutter. „Lieber Gott", betete Frau Braille, „ l a ß nur den Jungen wieder heil und gesund werden!"
*
In Coupvray gab es einen Arzt, der sich recht und schlecht um das gesundheitliche Wohl und Wehe der hundertsiebzig Bauern- und Winzerfamilien des Dorfes und der Umgebung bemühte. Der Doktor war sofort bereit, sich den kleinen Patienten anzusehen. „Beruhigen Sie sich, vielleicht ist es gar nicht so schlimm!" meinte er. „So ein Auge sieht zwar sehr zerbrechlich aus, ist im Grunde genommen aber widerstandsfähiger, als man glaubt." Zunächst freilich war an keine Untersuchung zu denken. Erst mußte der Blutstrom gestillt werden. Madame Braille half, so gut sie es vermochte. Beruhigend sprach sie auf das Kind ein. Und immer wieder stellte Vater Braille die Frage, ob Louis je wieder auf dem verletzten Auge werde sehen können. Aber der Arzt vertröstete die Unglücklichen. Als der Blutstrom endlich versiegte, trug er den Knaben hinüber in sein Arbeitszimmer und ließ die Eltern allein. Es wurde Abend. Hinter dem W a l d ging die Sonne unter. Die Blätter schimmerten wie Kupfer; Wiesen und Felder leuchteten in sattem Purpur; und die Wolken, die im Himmelsblau segelten, waren rosig überhaucht. Monique Braille stand am Fenster und starrte in das flam-
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niendc Rot, das über den ganzen Himmel gegossen schien. Sie erschrak, als plötzlich die Tür aufging. Der Arzt trat ins Zimmer. Der Sattlermeister sprang auf. Er machte zwei Schritte auf den Doktor zu. Sein Blick suchte in den Zügen des Arztes zu losen. „ N u n ? " fragte er, „was ist mit Louis?" Frau Braille hielt die Stuhllehne krampfhaft umspannt. Sie sah den Doktor aus großen, angstgeweiteten Augen an. Der Doktor räusperte sich. Es fiel ihm schwer, den Eltern so wenig Hoffnung zu geben. „Bitte, vergessen Sie nicht, daß ich kein Augenarzt bin!" sagte er. „Darum hat meine Diagnose auch nur zweifelhaften W e r t . Immerhin — " , er legte seine ganze Anteilnahme in seine Stimme, „ich fürchte, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Es sieht aus, als wäre der Sehnerv getroffen und das andere Auge ebenfalls in Gefahr!" Frau Braille schluchzte laut auf. Ihr Mann legte ihr die Hand auf die Schulter. „Nicht weinen, Frau, vielleicht wird doch noch alles gut!" „ W i e gesagt, ich kann mich i r r e n ! " versuchte der Doktor (seine Worte abzuschwächen. „Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß ich mich irre. Als praktischer Arzt habe ich nicht die reiche Erfahrung des Fachkollegen." „ W a s raten Sie u n s ? " fragte der Sattlermeister. „ W a s sollen wir tun, Doktor?" „ W a r t e n Sie ein paar T a g e ! " erklärte der Gefragte. „Dann werden wir weiter sehen!" Im Schritt ging es mit dem Wagen zurück. Vor der Tür der Werkstatt stand der Bürgermeister. Braille ließ das Pferd halten. „Tut mir leid, aber die Zügel sind noch nicht fertig!" rief er von der Höhe des Kutschbocks. „Ich komme nicht wegen der Zügel!" sagte der Bürgermeister. „Ich habe gehört, was bei euch passiert ist. Ich fahre morgen nach Meaux. In meiner Kutsche ist noch Platz für Sie und den Jungen. Ich kenne den Arzt vom Hospiz. Sie wissen, man hat dort Anweisung, die Kranken unseres Dorfes in Notfällen kostenlos zu behandeln." Der Sattlermeister sah seine Frau an. „ F a h r ' nur, Mann!", sagte sie. Braille nickte. „ W i r können es ja versuchen 1",
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7,Also abgemacht!" rief der Bürgermeister. „Ich hole Sie morgen früh ab. Ich will nichts versprechen, aber . . . wenn jemand helfen kann, dann ist es der Augenarzt des Hospitals.'' „Ich glaube, F r a u " , sagte der Sattlermeister, als sie durch das Hoftor fuhren, ,,es wird doch noch alles gut werden!'' In der Nacht fanden beide nur wenig Schlaf. Früh schon stand Frau Braille auf, um das Frühstück zu richten. Dann sah sie nach dem Jungen. Louis, der um diese Stunde sonst so munter war, lag ganz still. „Du mußt jetzt etwas essen, mein Kleiner! Ihr werdet weit mit der Kutsche fahren, Vater und du. Da mußt du bei Kräften sein." „Ich mag nicht essen, Mutter!" Frau Braille beugte sich zärtlich über ihren Sohn. „Tut es noch sehr weh?'' Louis drückte mit beiden Fäustchen auf das rechte Auge. Monique Braille winkte hilfesuchend ihrem Mann: „Um Gottes willen, Simon!" „Höre, Louis!" sagte der Sattlermeister. „Es ist doch das andere Auge, das dir weh tut. " Aber der kleine Louis rieb jammernd über das schmerzhaft verkniffene Lid des rechten Auges. Frau Braille holte ein Seidentuch und band es mit zitternden Händen über Louis' rechtes Auge. Vorsichtig zog sie den Jungen an, dem nun beide Augen verhüllt waren. Vater und Sohn waren längst reisefertig, als die Kutsche vor dem Hoftor hielt. Monique Braille stand vor dem Haus und sah sie davonfahren. Sie schaute dem Wagen nach, bis die Tränen ihren Blick verschleierten. Gegen Mittag erreichten sie Meaux,' die Hauptstadt des Departements Seine-et-Marne. Sie passierten die Brücke über die Marne und quartierten sich in der Nähe in einem Gasthof ein. Der Vater ging sofort hinüber ins Hospiz; am nächsten Morgen sollte Louis dem Arzt vorgestellt werden . . .
* Vater und Sohn mußten etwas warten, bis sie in das Behandlungszimmer gerufen wurden. Der Arzt kam seinen Besuchern lächelnd entgegen. „ W e n haben wir denn d a ? " rief er gutgelaunt und streichelte dem Knaben das blonde Haar, das unter dem Verband hervorquoll. Dann wandte er sich an den Vater: 8
',Nicht immer gleich das Schlimmste denken! Kinder in diesem Alter erholen sich meist sehr schnell!" Er setzte sich und zog Louis zu sich heran. „Na, dann wollen wir mal sehen, was es ist!" Behutsam nahm er die Binden von den Augen. Aber dann erschrak er. Die ganze Augenpartie war rot verfärbt, die Wunde sah schlimm aus. Er schüttelte traurig den Kopf, als er den Vater zu sich heranrief. „Da bin ich machtlos, mein Freund! Auch das andere Auge ist schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Entzündung hat von innen übergegriffen. Nur der Herrgott kann ihm neue Augen wachsen lassen." „Sie meinen,' er wird auf beiden Augen blind werden, Doktor?" Der Sattlermeister stöhnte auf. Der Arzt beugte sich über den Patienten. „Tut's dir sehr weh, Louis?". Louis nickte. Der Doktor schob mit dem Daumen das linke Augenlid nach oben. Auf seinen Wink hielt ein Assistent eine brennende Kerze hoch. Aber der Augapfel blieb kalt und regungslos. Ohne zu blinzeln sah Louis in die helle Flamme. Der Doktor hielt einen Spiegel vor das unverletzte Auge. „Nun, siehst du mich?" fragte er. Louis gab keine Antwort. „Es ist sehr dunkel hier, nicht w a h r ! " sagte der Arzt. Er schob den Verband behutsam wieder über die sterbenden Augen. Dann stand er auf und nahm den Vater beiseite. „Das bißchen Wissen, das wir Ärzte heute vom menschlichen Körper haben, reicht gerade aus, um eine Schußwunde zu heilen oder eine trüb gewordene Augenlinse zu operieren. Von anderen Dingen haben wir wenig Ahnung. Soviel aber ist gewiß: Gegen solche Verletzungen haben wir keine Mittel." „Also gar keine Hoffnung ?" fragte der Sattlermeister. „Ich will gern bezahlen, was,Sie verlangen!" „Darum geht es nicht!" sagte der Doktor. „ W i r nehmen überhaupt kein Geld von Ihnen. Vertrauen Sie auf Gott! Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Ja, ja . . . ich weiß, was Sie bewegt", fuhr er fort, „haben wir Erfolg, so danken wir unserm H e r r gott, haben wir keinen Erfolg, so verlieren wir jedes Vertrauen. Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, Ihnen zu sagen, daß ich in Ihrem Fall nichts ausrichten kann. Doch das einzige, mit dem Ihnen gedient ist, ist Aufrichtigkeit!'' 9
Simon Braille biß die Zähne aufeinander, um seinen Schmerz nicht laut werden zu lassen. ,,Es besteht also keinerlei Hoffn u n g ? " fragte er. „Das linke Auge ist verloren!" wiederholte der Augenarzt. „Das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Was das rechte Auge angeht. . .", er zuckte die Schulter. Noch am gleichen Tage fuhren sie nach Coupvray zurück. Wieder saß Louis auf den Knien seines Vaters, der alles tat, um den Sohn aufzuheitern. Schließlich begann er ihm den Reiseweg zu beschreiben. „Dort den Vogel auf dem Baum — hörst du ihn rufen? Er ruft nach seiner F r a u ! " sagte Simon Braille. Louis hörte es. Aber die Schmerzen waren noch immer groß. „Es ist mein Fehler, ganz allein mein Fehler!" dachte 'der Sattlermeister, als er den Sohn in seiner Hilflosigkeit vor sich sah. „Ich hätte besser aufpassen müssen! Ich werde mir das nie im Leben verzeihen!" Als sie wieder vor dem Hoftor hielten," sagte er zu seinem Sohn: „Jetzt sind wir wieder bei der Mutter. Hier ist unser Haus! Hier ist der Brunnen! Die Sonne wirft Lichter in das W a s ser. Jetzt kommen wir an der Werkstatt vorbei. O, ich werde dir viel schönes Spielzeug machen." Frau Braille, die unter der Haustüre gewartet hatte, kam die Stiege heruntergelaufen. „ W a s bringt ihr für Nachrichten! Was meint der Doktor?'' Simon Rene Braille schüttelte den Kopf. „Später!" sagte er. „Nicht vor dem Jungen!" Aus dem Schornstein stieg kerzengerade der Rauch. Es roch gut im Hause. Die Mutter hatte alles für eine hoffnungsvolle Heimkehr vorbereitet. Und jetzt? Während sie mit dem Jungen auf dem Arm ins Haus ging, fühlte sie, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. ..Heilige Jungfrau", jammerte sie, „warum konnte es nicht mich treffen?" Niemand aß an diesem Abend einen Bissen. Während der nächsten Tage lag Louis still auf dem Sofa. Nachbarn kamen zu Besuch und brachten Kuchen und Süßigkeiten. Pfarrer Pillon kam mit einem Krug gekelterter Johannisbeeren. „Dieser Saft ist Medizin!" erklärte er. Er setzte sich an Louis' Bett und sprach eine Weile mit ihm. Louis nippte an dem Trank. „Sehen Sie, es geht ihm schon besser!" sagte der Pfarrer. „Ich werde mich ein wenig um den Jungen kümmern!'' 10
Allmählich ließen die Schmerzen nach. So oft Louis lächelte, rief Vater Braille beglückt: „Sieh, Frau, er lächelt!" „Sie dürfen nicht verzweifeln!" sagte der Pfarrer. „Sie müssen es mit Fassung tragen!" sagten die Nachbarn. „Oft hat die Zeit Wunden geheilt!" sagte der Lehrer. „Louis ist ja noch j u n g ! " sagten alle. Und die Monate vergingen. Louis bekam wieder rote Wangen. Seine Augen waren geheilt. Aber sehen konnte er nicht. Der Sattlermeister bastelte mancherlei Spielzeug für das Kind. Aus einer Buchenhecke schnitt er ihm einen Stock. Louis war blind, und ein Stock war das Allernötigste.
* Von nun an begleitete das Pochen des Stockes Louis' Lebensweg; und die Stöcke wuchsen in demselben Maße, wie Louis größer wurde. Allmählich gewöhnte er sich an die ewige Nacht, die ihn umgab. Zuweilen zuckte noch ein brennender Schmerz durch seine Stirn. Dann wieder gab es Augenblicke, wo er, den Kopf weit vorgestreckt, helle Erinnerungsbilder zu sehen schien. Sah er noch einmal den blauen Schimmer der Mutteraugen,' ihr kastanienbraunes Haar, oder die dunkle Gestalt des ewig gebückt sitzenden Vaters? Träumte er den einst geschauten Bildern der kleinen weißen Wolken nach, die am Himmel segelten, und hatte er noch eine Augenerinnerung an die Vögel, die vor seinem Fenster sangen; hatte dieses kleine Geschöpf überhaupt noch ein Gedenken an die Gesichter der Eltern und an die farbige Welt der häuslichen und dörflichen Umgebung? Gewiß ist, daß bei einem solch jungen Wesen alle vielleicht noch verbliebenen sichtbaren Erinnerungen bald ausgelöscht werden. In seiner zukünftigen Welt würde es weder Form noch Licht noch Schatten geben, ihm standen allein Tastsinn und Gehör zu Gebote. Er lernte die Vögel an ihrem Ruf unterscheiden und erkannte den Hauseingang an der Türschwellc, die er mit dem Stock ertastete. Als Louis gerade sechs Jahre alt geworden war, übernahm Pfarrer Jaques Polluy die Pfarrei Coupvray; als er wenige Tage später bei den Familien seiner Gemeinde Besuch machte, lernte er auch den kleinen Blinden kennen und schloß den aufgeweckten Knaben in sein Herz. Unter seiner Führung entfaltete Louis 11
Bwiille seine ungewöhnliche Begabung. In der Amtsstube des Pfarrhauses nahe der Kirche oder unter den Bäumen des Pfarrgartens unterwies er ihn in allem, was ihn fördern konnte. Ein Jahr später übergab der Pfarrer ihn der Obhut des jungen, begabten Antoine Becheret, der kürzlich als Lehrer angestellt worden war. Louis ging in die Dorfschule. Jeden Morgen nahm £hn der Vater oder ein Freund aus der Nachbarschaft bei der Hand und führte ihn zum Schulhaus. „Wie beurteilst du heute das Wetter, Louis?" fragte ihn einmal der Vater, als sie die Straße erreicht hatten. Es war Anfang März. Hart klang Louis' Stock auf dem gefrorenen Weg. „Die Luft wird milder!" antwortete Louis. „Es riecht nach Feuchtigkeit. Wetten, daß es heute regnet?'' Als er dann während des Unterrichts den Regen herniederrauschen hörte, freute er sich, daß er mit seiner Voraussage Recht gehabt hatte. Louis war ein guter und aufmerksamer Schüler. Der Lehrer war immer von neuem verwundert, wie der Junge rechnen lernte. Freilich, an Lesen und Schreiben war nicht zu denken. In der Freizeit saß Louis bei seinem Vater in der Werkstatt und knüpfte Schafwollfransen zur Ausstattung des Riemenzeugs. Der Sattlermeister aber arbeitete für zwei und legte Goldstück um Goldstück zurück, während seine Frau noch sparsamer als bisher wirtschaftete. „Der Junge wird Geld brauchen," wenn wir nicht mehr da sind!" sagten die Brailles. Als Louis zehn Jahre alt war, fragte er seinen Vater, ob er in die Blindenschule in Paris eintreten dürfe. „Eine Schule für Blinde?" wunderte sich Simon Braille. „Du mußt dich irren, Louis!" „Nein, Vater, die Schule gibt es wirklich!" beharrte Louis. „Pfarrer Polluy hat mir davon erzählt, und er kennt jemand, der mit dem Direktor befreundet i s t l " „Höre, mein Junge", sagte der Sattlermeister, „die werden dich dort zu einem Betteljungen erziehen, und du sollst mir kein Bettler werden. Mutter vind ich haben genug Geld für dich beiseitegelegt. Wozu sollte auch eine Blindenschule gut sein?" „Und wenn ich dich sehr b i t t e ? " fragte Louis. „Ich möchte wie die andern in Büchern lesen können!", „Es gibt keine Bücher für Blinde, mein Sohn!" erklärte der Sattlermeister mit Nachdruck. 12
^,Doch, Vater, es gibt welche!" rief Louis. „In der Schule in Paris gibt es Bücher für Blinde I Lehrer Becheret und der Pfarrer wissen es ganz genau!'' Darauf sprach der Sattlermeister mit dem Pfarrer," und ps stellte sich heraus, woher der Pfarrer so gut unterrichtet war. Er war mit dem Herrn des Schlosses Bohan befreundet; und der hatte einmal vor vielen, vielen Jahren, als Frankreich noch K ö nigreich gewesen war, am Hofe von Versailles die Blinden dieser Anstalt gesehen, wie sie unter Anleitung ihres Direktors vor dem König und der Königin rechneten und von Blättern lasen, auf die eine erhabene Schrift aufgedruckt war. „ W a s könnte es Besseres für den Jungen geben", sagte der Pfarrer. „Ich werde mit dem Schloßherrn sprechen." Der Marquis übernahm es persönlich, bei seinem nächsten Besuch in Paris alle Formalitäten zu erledigen. Die Schule, in die Louis eintreten sollte, war das „Institut für junge Blinde", in der Rue Saint Victor. Es war am 15. Februar 1819,' als Louis in Begleitung seines Vaters nach Paris fuhr . . . Der Mann, der diese erste Blindenschule im Jahre 1784 in Paris gegründet hatte, war Valentin Haüy. Der am 13. November 1746 zu St. Just Geborene war Lehrer in Paris, als er, ergriffen durch den Anblick einer Musikkapelle von Blinden, den Plan faßte, für blinde Kinder in ähnlicher Weise zu sorgen, wie es (der Abbe de l'Epee für die Taubstummen getan hatte. „Es darf nicht sein, daß die Blinden wie Ausgestoßene dahinvegetieren!" schrieb er an seine Mutter. „Ich will alles tun, um diese Unglücklichen in ein menschenwürdiges Dasein zurückzuführen.", Er sammelte Geld bei seinen reichen Freunden. Immerhin dauerte es vier Jahre, bis er seine Pläne verwirklichen konnte. Er kaufte für eine erste Unterkunft ein altes, baufälliges Haus, in das er gemeinsam mit seinen blinden Schülern zog. Anfangs waren es nur zwölf Schüler. Aber ihre Zahl stieg, je mehr sich der Erfolg seines Instituts herumsprach. Haüy hatte bald entdeckt, daß die Blinden nicht nur empfänglich für Musik, sondern vor allem auch sehr geschickt mit den Fingern waren. Darauf baute er seine Unterrichtsmethode auf. Er formte mühsam aus Holzstäben Buchstaben. Jeder war sechs Zoll groß und ließ sich gut abtasten. Auf diese Weise lernten 13
die Schüler die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets ertasten. Später wurden die Buchstaben zu Wörtern und Sätzen zusammengelegt. Auf einem einer Staffelei ähnlichen Aufbau entstanden Sätze wie „Mein Name ist Valentin H a ü y ! " Der Wortschatz wurde immer größer, die Sätze wurden immer länger. Haüy ließ einige reiche Freunde am Unterricht teilnehmen. Manche von ihnen trugen ein wenig zum Unterhalt der Schule bei, als sie sahen, welche Fortschritte die Schüler machten. Als die Kinder tatsächlich die von ihnen zusammengestellten Sätze entzifferten, war ihre Bewunderung groß. ;,Was für einen Nutzen soll es haben, daß Blinde lesen könn e n ? " fragten andere; der Blinde galt ihnen kaum mehr als ein Aussätziger, dessen bleibendes Los es sei, sich bettelnd durchs Leben zu schlagen. Haüy hatte über diese Frage nachgedacht, und er war zu der Erkenntnis gekommen, daß man auch die Blinden zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen könne. Hatten nicht manche Blinde, die über Vermögen verfügten, sich ihre eigene Lehrmethode geschaffen und nahmen wieder am öffentlichen Leben teil! Manche waren Klavier- oder Geigenvirtuosen geworden und feierten im Konzertsaal Triumphe. Die Blinden, die nichts besaßen oder die nicht den Rückhalt reicher Eltern hatten, führten dagegen, wie Geisteskranke von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, ein bemitleidenswertes Daseir. Deshalb verfolgte Haüy das Ziel, auch die unbemittelten Blinden wieder am Leben der Nation teilnehmen zu lassen, sie durch Förderung ihrer Handfertigkeiten und ihrer geistigen und musischen Anlagen auf bestimmte Berufe vorzubereiten. Allein schon dadurch, daß man ihnen das Lesen beibrachte, waren sie bereits vielen Zeitgenossen überlegen; denn Lesenkönnen gehörte damals keineswegs zu den Selbstverständlichkeiten. Um diese Kenntnis praktisch verwenden zu können, hätte es freilich Bücher und Zeitungen für Blinde geben müssen. „ W i l l Haüy etwa Bücher mit Holzbuehstaben herstellen?'' fragten die Spötter. „Einfach lächerlich!" In der Tat konnte die Methode des hölzernen Alphabets auf die Dauer nur als Notbehelf gelten. Sie blieb auch nicht lange die Grundlage des Unterrichts. Daß sie schneller als erwartet von einer besseren Methode abgelöst wurde, verdankt man, wie erzählt wird, einem Zufall. 14
Das Blindenheim an der Rue Saint Victor, In das der siebenjährige Louis Braille 1816 eintrat
Eines Tages hatte ein Besucher, der Haüy nicht antraf, seine Karte dem blinden Pförtner übergeben. Der Blinde hielt sie fest in seiner Hand, damit er sie nicht verlor. Plötzlich rötete sich sein Gesicht. Er tastete mit zitternden Fingern über das Papier. „Ein Freund von Ihnen war hier, Monsieur", sagte er, als Haüy wenig später von seinem Spaziergang zurückkehrte. „Hier ist seine Karte!" Haüy wollte den Pförtner mit ein paar freundlichen Worten entlassen, aber der Blinde folgte ihm auf sein Zimmer. „Monsieur", fragte er mit erregter Stimme, „haben Sie die Karte gefühlt? Bitte, glauben Sie nicht, ich wäre unverschämt!" rief er beschwörend, „aber die Schrift auf dieser Karte ist erhaben gearbeitet! Ich kann die Buchstaben fühlen." „Du fühlst die Buchstaben?" Haüy sah überrascht auf. ;,Nur weiter!" ermunterte er den Pförtner, der zugleich auch sein Schüler war. „ W a s willst du damit sagen?" „Ich meine", stammelte der Blinde, „ d a ß man auf diese Weise vielleicht eine Blindenschrift schaffen könnte!". 15
Begeistert griff Haüy die Idee auf, und es dauerte nicht lange, bis das erste Buch für Blinde in erhabenen Buchstaben gedruckt wurde. Diese Buchstaben waren nur noch einen Zoll groß. Metallbuchstaben wurden fest in dünnen Karton gepreßt, so daß sich auf der anderen Seite ein erhabener Abdruck bildete. Leider waren diese Bücher sehr schwer. Sie wurden deshalb in viele Teile zerlegt, von denen jeder bis zu zwanzig Pfund wog. Vor einer Unterrichtsstunde brachten zwei Gehilfen die Bücher in das Schulzimmer. Es gab nun bereits mehrere Klassen, die in Anfänger und Fortgeschrittene unterteilt waren. Von nun an lernten die Schüler nach der neuen Methode lesen. Bald gab es Lehr- und Unterhaltungsbücher in erhabener Schrift, so daß sich die Schüler selbst fortbilden konnten. Aber schreiben konnten sie noch immer nicht. Im Jahre 1791 wurde die Schule vom Staat übernommen, und Valentin Haüy zum Direktor ernannt. Bald konnte für die Blindenschule auch ein größeres Gebäude erworben werden; es lag zwischen dem Universitätsviertel und dem Botanischen Garten an der Rue Saint Victor. Das war das Haus, in das Louis Braille am 15. Februar 1819, im Alter von zehn Jahren, als „Schüler des königlichen Instituts" eintrat. Der verdienstvolle Gründer des Instituts, Valentin Haüy, war indes damals bereits von der Leitung der Schule entfernt worden, da seine demokratische Gesinnung verdächtig schien. Die Direktion wurde dem Augenarzt Dr. Guillie übertragen, der auch die schulische Leitung übernahm.
^,Bitte, passen Sie gut auf ihn auf!" sagte der Sattlermeister. ^,Seine Geschwister sind schon alle erwachsen! Er ist unser J ü n g ster. Vielleicht haben wir ihn deshalb ein wenig verwöhnt. Er ist ein sehr empfindsamer Junge. Und nach dem Unglück. . .". Er brach verlegen ab. Der Erzieher, dessen Klasse Louis Braille zugewiesen worden war, drückte Simon Braille fest die Hand. „Keine Angst!" versprach er. „ I h r Sohn ist bei uns gut aufgehoben." Er erklärte dem sorgenden Vater das Leben der Schule und die Verrichtungen im Ablauf des Tages. Wohlwollend blickte er auf seinen neuen Schüler, der blaß und zart vor ihm stand. Umständlich nahm der Sattlermeister von seinem Jungen Abschied. „Mach's gut, Kleiner!" sagte er und konnte nicht ver16
hindern, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Wie durch einen Schleier sah er Louis auf dem langen Korridor verschwinden. Seine neuen Schulkameraden brachten ihn zum Schlafsaal, wo ihm der Lehrer Bett und Schrank zuwies. Freilich dauerte es viele Wochen, bis Louis in der Schule heimisch wurde. In der ersten Nacht lag er lange wach und lauschte auf die Geräusche, die von der Straße heraufklangen. In Coupvray war es immer ganz still gewesen. Nun hörte er den Hufschlag der Pferde und das Rattern der Räder, die über das Pflaster rollten, fremde Laute, die ihn nicht einschlafen ließen. Er dachte an die Eltern und kam sich verlassener vor denn je. Auch am nächsten Morgen fühlte er sich fremd in dem großen Haus. Er wußte nicht, wo er seine Kleider abgelegt hatte und wo er sich waschen konnte. Zu allem Unglück kam er erst zum Frühstück, als die Suppe bereits ausgeteilt war. Aber sein Nachbar zur Linken, Gauthier, wußte Rat. Gauthier sollte 34 Jahre sein Freund bleiben. „Gleich an der Ecke ist eine Bäckerei", sagte er. „Wenn du willst, führe ich dich hin. Vorausgesetzt, daß du ein paar Sous besitzt 1" „Mein Vater hat mir etwas Geld dagelassen!" erwiderte Louis. „Dann komm!" flüsterte Gauthier, sein neuer Freund. Mit der Rechten den Stock gebrauchend, die Linke auf dem Arm seines Begleiters, ließ sich Louis zu der Bäckerei führen, wo er für sich und den Kameraden Kuchen kaufte. Als er die Bäckerei wieder verließ, trat er fehl und stürzte die Treppe hinab, die zum Laden führte. Im Sturz riß er Gauthier mit sich, und beide rollten die Stufen hinab. Der Kuchen war Louis aus der Hand gefallen und lag verstreut auf dem Pflaster. Bevor sich die Unglücklichen erhoben hatten, waren sie von einer Horde Straßenjungen umringt. „Blinde, Blinde!" gellte es ihnen in den Ohren. „Bettler sind es! Seht, sie haben Kuchen gebettelt!" Johlend höhnten die Straßenjungen ihre Opfer. Ein mitleidiger Erwachsener führte die beiden schluchzenden Knaben zur Schule zurück Vor allem Louis brauchte dringend Trost. Der Lehrer, der von dem Vorfall gehört hatte, suchte ihn auf. „Das wäre mir in Coupvray nie passiert!" schluchzte Louis, während ihn mit aller Macht das Heimweh überfiel. „Bitte, Mon-
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sieur", bat er, ^schreiben Sie an meinen Vater, daß er mich wieder abholt! Bitte, bitte, Monsieur!" „Höre, Louis", sagte der Lehrer, „warte nur noch ein paar Tage. Wenn du dann noch immer nach Coupvray zurückwillst, werde ich deinem Vater schreiben. Das Beste für dich ist, wenn du so schnell wie möglich selbständig wirst! Du mußt lernen, dich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Außerdem war es doch dein Wunsch, deine Kenntnisse zu erweitern.", „Ja, Monsieur!" sagte Louis weinend. „Und da willst du gleich am ersten Tag davonlaufen?" „Ich konnte doch nicht wissen, daß die Pariser so schlecht sind!" „Die Pariser?" lächelte der Lehrer. „Nur ein paar Straßenjungen. Willst du vor denen wirklich Reißaus nehmen?", Louis gab keine Antwort. „Und damit du siehst, daß es in Paris auch andere Leute gibt", fuhr der Erzieher fort, „will ich am Sonntag mit dir einen Besuch machen. Ich möchte wetten, daß du danach gern bei uns bleibst!" Wie versprochen, holte er am nächsten Sonntag Louis ab. Dem Knaben schlug das Herz vor Erregung, als er neben seinem Lehrer in der Kutsehe saß, die schnell davonrollte . . . Louis fühlte einen weichen Teppich unter seinen Füßen, als er am Arm seines Begleiters in das Zimmer trat. Es mußte ein riesiger Kaum sein, denn die Stimme, die sie willkommen hieß, kam von weither. „Sie haben mir so viel von Ihrem Schützling erzählt, Monsieur, daß ich gespannt bin, ihn kennenzulernen", sagte eine Frauenstimme. Louis hörte das dumpfe Aufstoßen eines Stockes. Das Geräusch kam langsam näher. Dann strich ihm eine weiche Hand liebevoll über das Gesicht. „Komm, setz dich!" befahl die Frauenstimme. Louis wurde zu einem Sofa geführt. Dann fühlte er eine Schale in seiner Hand. „Bonbons für dich!" sagte die Frau. „ O , Madame, ich bin doch kein kleines Kind mehr!" „Ich denke, sie werden dir trotzdem schmecken!" Die Frau hatte eine klangvolle Stimme. Aber Louis dachte an den Stock, den er gehört hatte. 18
Rlindenbücher sind wegen der Weitläufigkeit der Schrift und der Kürtonblätter sehr umfangreich- 22 Bände sind erforderlich, um den Wortschatz des einhändigen Duden unterzubringen
'„Bitte, Madame, verzeihen Sie mir eine Frage", stammelte er, '„aber mir war, als hätte ich einen Stock gehört. . ." ,,Ja, mein Sohn", gestand die Frau. „Auch ich bin blind." Ihre tastenden Hände umfingen seine Schultern. „ W e i ß t du, wer ich bin?", „Nein, Madame!" „Dann will ich dir etwas in meiner eigenen Sprache erzählen." Die Frau stand auf. Wieder hörte Louis den Takt des Stockes. Dann drangen plötzlich andere Laute an sein Ohr. Wie Wellen fluteten die Akkorde eines Klaviers über ihn hin. Louis lauschte hingerissen. Er fühlte sich bis ins Innerste aufgewühlt. Es war, als brächte die Musik eine verwandte Saite in ihm zum Klingen. Immer neue Bilder erstanden vor seiner Seele. Er vergaß, daß er blind war, er durchlitt höchste Freude « n d tiefsten Schmerz . . . „Mein Gott, Junge I" rief der Lehrer, als er die Tränen in Louis' Augen sah. Das Klavierspiel verstummte. Dein blinden Knaben war, als erwache er aus einem Traum. „Nicht wahr? Die Musik ist eine gute Sprache für uns Blinde?" fragte die Frau. Ihr Französisch klang fremdartig. „Madame sind nicht Französin?" erkundigte sich Louis. 19
^,Nein,' Österreicherin. Ich heiße Therese von Paradies. Vielleicht hast du meinen Namen schon einmal gehört?". „Nein, Madame!" „Madame ist eine der bekanntesten Konzertpianistinnen in Europa", erklärte ihm sein Begleiter. „Sie ist in allen Hauptstädten zu Hause und hat sogar vor Königen gespielt!" „Sie müssen entschuldigen, daß ich so unwissend bin, Madame", sagte Louis, „aber ich bin erst seit wenigen Tagen in Paris." „Monsieur scheint recht zu haben: Du bist anders als die anderen blinden Knaben, die ich kenne!" erklärte Frau von Paradies. „Höre, Louis, du weißt nun, welche Rolle die Musik in meinem Leben spielt. Mir ist ein großer Reichtum zuteil geworden. W i r Blinden sind ideale Musiker, weil wir ganz in der Musik leben. Willst du meinem Beispiel folgen? Bist du bereit, unermüdlich zu arbeiten?" „ J a , Madame!", „Nun gut! Ich werde mir überlegen, welches Instrument wir für dich wählen! Du wirst durch Monsieur von mir hören!" Bereits eine Woche später begann Louis mit dem Musikunterricht. Sobald die Schulstunden vorüber waren, ließ er sich in eine nahe Kirche bringen, um das Orgelspiel zu erlernen. Dieses Instrument hatte Madame von Paradies für Louis ausgewählt. Der Brief, den sie ihm aus diesem Anlaß schreiben ließ, wurde von Louis wie ein Schatz gehütet. Der Lehrer hatte ihm die wenigen Zeilen vorgelesen. Sie lauteten: '„Mein lieber kleiner Bruder! Ich habe beschlossen, Dich an der Orgel ausbilden zu lassen. Dieses heilige Instrument p a ß t besonders für uns Blinde, weil wir ohnehin unsere Augen immer zu Gott erhoben haben. Ich bin sicher, daß die Orgeltöne, mit denen Du die Herzen der Andächtigen erfreuen wirst, auch Dir Trost spenden werden. Versuche nie, glücklich zu werden, denn das ist unmöglich. Aber arbeite fleißig. Ich hoffe bald zu hören, daß Du gute Fortschritte machst. . ." Es blieb der einzige Brief, den Therese von Paradies an Louis Braille richtete, denn sie starb bereits im Jahre 1821. Im gleichen Jahre wechselte erneut die Leitung der Schule. An die Stelle Doktor Guillies, der, wie man später erfuhr, Valentin Haüy aus dem Institut vertrieben hatte, trat Doktor Pi20
gnier,' der sogleich dafür sorgte, daß der Gründer der Schule wieder Zutritt bekam und Anteil an ihrem Wohlergehen nehmen konnte. Die Blinden begrüßten ihren „Vater H a ü y " in einer glanzvollen Feierstunde mit unvorstellbarer Freude. Doch schon ein Jahr später, am 18. März 1822, schloß Valentin Haüy für immer die Augen. Louis Braille sollte noch oft an diesen großen Wohltäter der Blinden zurückdenken. Im Institut herrschte in dieser Zeit vielerlei Unordnung. Da beim Einzug in das uralte Gebäude die Mittel gefehlt hatten, das Haus instandzusetzen, war es schon bald hoffnungslos verfallen. Die Blinden lebten in einer bejammernswerten, ungesunden Umgebung. Auch der neue Direktor, Doktor Pignier, konnte an diesen Mißständen nichts ändern, obwohl mehrere staatliche Kommissionen das Haus besichtigten und dringend auf Abhilfe drängten. Aber immer blieben die Gelder aus. In diese wenig erfreuliche Umgebung gestellt, wuchs Louis Braille ins Leben. Beschenkt mit einer raschen Auffassungsgabe und einem erstaunlichen Scharfsinn, erwies sich Louis bald als ein hervorragender Schüler. Seine Aufsätze und sonstigen schulischen Arbeiten waren von großer Genauigkeit und zeichneten sich durch einen klaren Stil aus. Man fand viel Phantasie darin, die jedoch immer von Überlegungen geleitet war. Bald hatten sich Lehrer und Mitschüler daran gewöhnt, daß Louis jedes Jahr bei der Preisverteilung eine Menge Auszeichnungen davontrug. Oft schon wurde er beauftragt, jüngere Schüler zu unterweisen, und er tat es mit großem Geschick und innerster Anteilnahme. Später besuchte Louis auch den Unterricht in öffentlichen Schulen. Außerdem verfertigte er in der Handwerksstube des Instituts allerlei nützliche Arbeiten, durch die er seine Geschicklichkeit bewies. An der Orgel fiel Louis bald durch sein lebhaftes und glanzvolles Spiel auf, so daß er immer häufiger die Organisten in den Pariser Kirchen vertrat; zuletzt in der Kapelle der Lazaristen. Zu der Kirche führte Louis ein Mädchen namens Denise, das seine ständige Begleiterin wurde. Zuweilen las sie ihm auch aus der Zeitung vor. So geschah es, daß Louis eines Tages von Hauptmann Barbier und seiner Erfindung erfuhr . . .
*
„Lies das noch einmal, Denise!" rief Louis. „Monsieur Charles Barbier, ein ehemaliger Hauptmann", las 21
Denise, „hat ein Verfahren, die sogenannte Nachtschrift, entwikkelt, die es den Soldaten ermöglicht, wichtige Nachrichten auch im Dunkeln zu lesen . . ." „ I m Dunkeln!" murmelte Louis. „Ohne zu sehen!" Sein Gesicht zeigte eine hektische Röte. Er starrte Denise aus toten Augen an. „Ich muß mit Monsieur Barbier sprechen! Hörst du, Denise? Ich muß ihn finden! Ich muß . . . " ,,Ja, Louis, j a ! " sagte das Mädchen. „Aber du darfst dich nicht so aufregen!" Louis' Züge hatten sich immer mehr belebt. Jetzt zeigten sie eine Lebhaftigkeit, die sehr gegen die gewohnte Ruhe seiner äußeren Erscheinung abstach. „Schreiben ohne zu sehen! Weißt du, was das bedeutet, Denise?" fragte er. „ I n welcher Zeitung steht der Artikel?" „ I m ,Spectateur'! Ä sagte Denise. „Such die Adresse der Redaktion heraus, Denise!" befahl Louis. „Du mußt mich auf der Stelle hinführen!" Aber die Redaktion war bereits geschlossen. Trotzdem hatte Louis Glück. Die Portiersfrau nannte ihm die Wohnung des Chefredakteurs. Der Chefredakteur war im Begriff, mit seiner Frau in die Oper zu fahren. „Ich bin in Eile!" rief er ungehalten. „Wenn sie eine Auskunft wünschen, kommen Sie morgen in die R e d a k t i o n . . . " „Nur eine Frage, Monsieur", sagte Louis höflich. „ I n Ihrer Zeitung steht ein Artikel über Hauptmann Barbier! Können Sie mir sagen, wo er w o h n t ? " „Nein", sagte der Chefredakteur, „das kann ich nicht." „Bitte, Monsieur, Sie müssen uns helfen!" beschwor ihn Denise. „Den Artikel über Barbier hat Marcel Clement geschrieben", erklärte der Chefredakteur. „ E r müßte eigentlich wissen, wo Barbier wohnt!" „Die Adresse, Monsieur!" rief Louis! „ W o finden wir Marcel Clement?" „Rue de la Sante", sagte der Chefredakteur, „Nummer 23, vierter Stock!" Louis atmete auf, als er von dem Reporter die Adresse von Hauptmann Barbier bekam. Es war schon dunkel, als sie ihr Ziel erreichten. Der Hauptmann öffnete ihnen selbst die Tür. „Monsieur, ich komme in einer wichtigen Angelegenheit", sagte Louis. „Bitte, schenken Sie mir ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit!'' 22
Das Führungslineal mit dem Stichel in der Schreibhaltung. Geschrieben wird von rechts nach links. Der Schreibkarton ist in den Rahmen eingespannt
Barbier blickte abschätzend auf den Jungen," den ein Mädchen am Arm hielt. „Bitte, kommen Sie herein", sagte er und ließ die beiden eintreten. Dann öffnete er die Tür zum Wohnzimmer und führte Louis zu einem Stuhl. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber im Stehen sprechen", bat der Knabe. Er richtete sich hoch auf. „Monsieur, ich spreche nicht nur für mich, sondern für meine Kameraden. Ich möchte Sie bitten, mir von Ihrer Nachtschrift zu erzählen!" „ W a r u m nicht", sagte Barbier. „Es ist kein militärisches Geheimnis. Außerdem bin auch ich der Ansicht, daß meine Schrift den Blinden von Nutzen sein k a n n ! " „Es ist selten, daß sich jemand für uns Blinde interessiert", gestand Louis. „Um so dankbarer bin ich Ihnen, daß Sie mir von Ihrer Nachtschrift erzählen wollen!" „Als alter Artillerieoffizier und Feldmesser bin ich davon ausgegangen", erklärte der Hauptmann, „ d a ß es im Kriege Fälle gibt, wo ein Soldat des Nachts eine wichtige Meldung lesen muß, ohne daß ein Licht entzündet werden darf. Daher besteht meine Nachtschrift aus einer Reihe von tastbaren Punkten, welche die Buchstaben ersetzen. Dadurch, daß der Empfänger die erhabenen Punkte mit dem Finger abtastet, kann er auch in der Dunkelheit eine überbrachte Meldung lesen!". 23
'„Und wie werden die erhabenen Punkte erzeugt?" fragte Louis. „Man kann dazu einen stumpfen Stichel benutzen", sagte Barbier. „Freilich muß man festeres Papier nehmen. Außerdem gehört etwas Fingerspitzengefühl dazu, damit der Stichel nicht zu tief ins Papier eindringt. Man darf nicht hindurchstoßen, sondern auf der anderen Seite nur eine leichte Erhöhung schaffen. Damit der Schreiber schön auf der Linie bleibt und die Punkte ordentlich hinter- und untereinanderreiht, habe ich mir dieses Führungslineal anfertigen lassen, mit Schlitzen darin, in die der Stichel beim Punktieren gesetzt wird." Der Hauptmann nahm Papier und einen Stichel und begann nach seiner Methode zu schreiben. Dann reichte er Louis das Geschriebene. „Können Sie die Punkte fühlen?" 7,Ja!" Louis' Stimme zitterte vor Erregung. „Ich fühle sie ganz deutlich." „Natürlich müssen alle Nachrichten kurz und bündig formuliert werden", erklärte Barbier, „sonst braucht man zu viele Zeichen." „ W a s bedeuten diese P u n k t e ? " fragte Louis. „Es ist eine militärische Nachricht und lautet: ,Wir sind eingeschlossen' l" „Das sind an sich viele Punkte für so wenig W o r t e ! " sagte Louis. „Darf ich es auch mal versuchen?" „Bitte!" Der Hauptmann reichte ihm den Stichel und das Führungslineal. ;,Wahrhaftig!" rief der Blinde. „Es geht ganz leicht!" Es war spät am Abend. Denise war vor Müdigkeit auf ihrem Stuhl eingeschlafen. „Nicht böse sein", sagte Louis, als er sie weckte. „Es hat lange gedauert, aber ich habe auch viel erfahren! Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir Blinde bald schreiben können!" Der fünfzehnjährige Braille war besessen von dem Gedanken an eine Schreibschrift für Blinde. Haüys erhabene Buchstabenschrift in allen Ehren, dachte er, aber sie war hauptsächlich zum Lesen bestimmt. Und dann kam noch der Nachteil hinzu, d a ß die Fingerspitzen solche erhabenen, zollgroßen Buchstaben viel mühsamer und unsicherer ertasteten, als der Sehende glaubte. Braille kam es vor allem darauf an, daß der Blinde eine Schrift leicht lesen und sie schnell schreiben konnte, um schreibend und lesend teilzuhaben an den Werken des Geistes, der Dichtung, 24
des Wissens, an den schriftlich niedergelegten Ereignissen des Tages in Zeitschriften und Zeitungen. Barbier schien dem Knaben noch zu sehr befangen in der Vorstellung, daß der Blinde eben dieser geistigen Welt nicht bedürfe, daß ihm eine „Brotschrift" genüge, in der er das Wichtigste erfahren und das Notwendigste schriftlich niederlegen könne. Die Punktschrift Barbiers gab auch nur die Laute wieder, nicht die Wörter in ihrer Buchstabenfolge. Barbier gab zum Beispiel den Satz: „Les choses utiles ne sauraient etre trop simples" (nützliche Dinge können nicht einfach genug sein) in Punkten so wieder, wie die Wörter ausgesprochen wurden: ,,le choz util n sore etr tro simpl." Man sollte so schreiben, wie man sprach. Bei Barbier gab es keine Satzzeichen, keine Musiknotenzeichen, keine Zeichen für die Algebra. Barbier brauchte zudem zur Schreibung jedes einzelnen Buchstabens bis zu zwölf Punkte. Sie waren für die schmale Fläche der Fingerspitzen viel zu schwer zu erfassen. Und im übrigen: Zwölf Punkte, die konnte man zu mehr als 4000 Zeichen kombinieren. Aber was brauchte ein Blinder 4000 Zeichen, wenn das Alphabet nur 24 Buchstaben besaß, zu denen dann die geringe Zahl von Satz-, Mathematik- und Musikzeichen hinzukamen? Louis Braille überdachte das alles. Nein, mit Barbiers Methode machte man es den Blinden zu schwer, hob sie nicht aus ihrer herabgewürdigten Lage und ließ sie nicht vollgültig teilhaben am Kulturleben der Zeit. Das aber war das hohe Ziel des Blinden von Coupvray: über die Schrift seine Leidensgefährten heranzuführen an die höchsten Güter der Menschheit, über die Schrift ihre innere Welt so weit zu erhellen, wie es das Schicksal überhaupt nur zuließ. Täglich, nach dem Unterricht und den Musikstunden, saß Louis bis spät in die Nacht in seinem Zimmer und grübelte über dem Problem einer vollgültigen Blindenschrift. Während er mit einem Pfriem erhabene Punkte in dünnen Karton drückte, suchte pr verzweifelt nach dem geeigneten System. Er versuchte es mit den Zeichen des Tierkreises, dann mit mathematischen Zeichen; schließlich besann er sich auf die Noten. Mit sieben Grundnoten und einigen Linien lassen sich alle Töne aufschreiben, dachte er. Vielleicht kann man dieses System auf das Alphabet übertragen I Am Ende aber erwies sich auch diese Überlegung als falsch. Für das „Fingerspitzengefühl" einer Blindenhand war das alles nicht das Rechte. 25
Monat um Monat verging. Versuch reihte sich an Versuch,' Enttäuschung an Enttäuschung. Bis es ihm eines Tages glückte! Louis entschloß sich für eine Punkteanordnung, die man später das „Braillesche Element" genannt hat: Eine Gruppe von sechs Punkten sollte die Grundform seiner Blindenschrift darstellen. Die Punkte waren genau so angeordnet, wie die Punkte fler Sechs auf einem Spielwürfel. Für die Buchstaben des Alphabets, die Satzzeichen, die Musiknoten, die Zahlen und mathematischen Zeichen wählte Braille von diesen sechs Punkten jeweils Punkte in bestimmten Kombinationen aus. Aus der Sechserzahl ließen sich dreiundsechzig Kombinationen herstellen, die für alle Buchstaben, Zahlen, Zeichen und Noten ausreichten und auf alle Sprachen anwendbar waren. Kein Zeichen besaß mehr als sechs Punkte; nur den Zahlen war ein besonderer Schlüssel vorangestellt, der sie von den Buchstaben unterschied. Anfangs arbeitete Braille zur Verdeutlichung auch noch mit Strichen, die der Blinde aber nur schwer schreiben konnte. Die Punkte wurden nach wie vor mit einem metallenen Stichel geprägt. Geschrieben wurde auf einer Metalltafel, deren Oberfläche mit Rillen versehen war. übrigens wurde von rechts nach links geschrieben, damit man beim Umwenden des Blattes von links nach rechts lesen konnte. Zum Schreiben bediente man sich des Messinglineals Barbiers mit den Durchlöcherungen. Sechs Punkte Der Blinde tastete mit dem Stichel das Lineal ab, bis er auf die Löcher traf und konnte nun leicht die Punktkombination stechen,' die dem gewünschten Buchstaben oder Zeichen entsprach. Nachträglich erschien alles ganz einfach. Louis Braille war darauf gekommen, als er das Alphabet in jeweils zehn Buchstaben zerlegte. Für die ersten zehn Buchstaben und die ersten zehn arabischen Ziffern wählte er folgende Punkte aus den zwei oberen Punktpaaren der Sechserzahl:
•
a
1
b • • • • •
e
2
d e f g h i j • • • • • • • • • • • • • • • • •• • • • • • • • • • • • • 3
4
5 26
6
7
8
9
0
Durch das Hinzufügen eines weiteren Punktes auf der linken unteren Seite der Sechserzahl wurde die zweite Serie gebildet, welche die nächsten zehn Buchstaben enthielt.
k
l
m
n
o
p
q
p
s
t
Die dritte Serie schließlich besaß zwei Punkte. Für die Satzzeichen wählte Braille Punkte aus den beiden unteren Punktpaaren.
So war von der Nachtschrift des Hauptmanns Barbier nichts geblieben als die Idee, Buchstaben durch erhabene Punkte auszudrücken. Zwei Jahre hatte Louis gebraucht, um seine Punktschrift in den wesentlichen Grundzügen auszuarbeiten. Im Jahre 1825 hatte der Sechzehnjährige sie endlich so weit entwickelt, daß er sie bei den Mitschülern erproben konnte.
* Louis stand mit verklärtem Gesicht vor der Klasse. „Messieurs!" rief er, ,,ich möchte Sie heute mit dem Resultat meiner Untersuchungen bekannt machen." Seine Kameraden horchten auf. Louis spürte fast körperlich die Erregung, die seine Leidensgenossen ergriff. Sie wußten, wie er sich in den letzten Monaten abgequält hatte. Brailles erste Punktschrift hatte kein w, da die französische Schrift diesen Buchstahen nur in einigen Fremdwörtern kennt. Die heutige Brailleschrift enthält außerdem noch Umlaut-, Doppellaut- und Hilfszeichen
2?
5,Ist einer von den Bediensteten anwesend?" fragte er. „ J a , ich", sagte eine Stimme. '„Wer?" „Armand!" „Hören Sie, Armand", bat Louis, „nehmen Sie irgendein Buch und diktieren Sie mir etwas d a r a u s ! " „Ganz gleich, was, Monsieur?" erkundigte sich der Diener. „Irgend etwas, das Sie gerade zur Hand haben", erklärte Louis und setzte sich auf eine Bank. Während Armand den Text aussuchte, breitete Louis mehrere Bogen Papier auf die Schreibunterlage. Dann legte er das Lineal an und nahm den Stichel zur Hand. „ F e r t i g ? " fragte Armand. „Ich bin bereit", sagte Louis. Darauf begann Armand zu diktieren. Lange Zeit war nichts zu hören als die etwas heisere Stimme und das Geräusch, das Louis' Stichel erzeugte, wenn er die Punkte in das Papier prägte. „Genug!" rief der Blinde, als er merkte, daß die Zuhörer unruhig wurden. Er hob seine Stimme: „Und nun werde ich vorlesen, was Armand diktiert h a t ! " Er begann das Geschriebene vorzulesen. Manchmal stolperte er über ein besonders schwieriges W o r t und mußte mit dem Finger zurücktasten, dann wieder geriet er vor Aufregung ins Stottern, aber es war Wort für Wort der Text, den Armand diktiert hatte. Als Louis fertig war, wurde es für einen Augenblick,, ganz still. Dann setzte ein ungeheurer Tumult ein. Von allen Seiten schwirrten Fragen an sein Ohr. Mitten hinein sagte eine Stimme: „Ob das mit rechten Dingen zugeht?" Einer der Lehrer des Institutes hatte die Klasse betreten. „Monsieur Braille hat wohl den Text auswendig gelernt", sagte er. Wieder redete alles aufgeregt durcheinander. 7,Monsieur Ie professeur", erwiderte Braille, „ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich das Experiment in Ihrer Gegenwart wiederholen dürfte. Sie selbst sollen den Text aussuchen und bestimmen, wer ihn diktiert!", ^,Der Unterricht fällt a u s ! " sagte der Lehrer. ^Monsieur Braille, Sie kommen mit mir!" Er eilte, von Louis gefolgt, aus der Klasse. „Monsieur Ie professeur", begann Louis, als sie sich im Anstaltsbüro gegenübersaßen, „Sie dürfen nicht glauben, daß es ein Trick war!". „Um so schlimmer", erklärte der Lehrer,' der Braille wohl28
Namensschilder In Blindenschrift an einem Blinden-Wohnhaus. Mit Punktschrift versehen gilbt es auch Wählscheiben an Telefonen, Zifferblätter der Uhren, Lineale, Metermaße, Liftschilder, Schreibmaschinentasten, Thermometer, Barometer, Kompasse, Atlanten- und Landkartenblätter
wollte. ^,Wenn es kein Schwindel war, dann war es Dummheit! Wir haben jetzt weder Zeit noch Geld für Experimente. Gerade in diesen Tagen haben uns viele unserer Wohltäter ihre Unterstützung entzogen. Woher sollen wir das Geld für neue Versuche und all die erforderlichen Gerätschaften nehmen?" „Aber Monsieur", rief Louis, „so begreifen Sie doch: Es geht um das Wohl der Blinden." „Unsere Blinden haben dank der finanziellen Hilfe unserer Gönner und der Regierung nach einer brauchbaren Methode lesen gelernt", sagte der Lehrer. „Nun müßten unsere Schüler plötzlich wieder vergessen, was sie gelernt haben. Sie würden das Vertrauen zu uns verlieren. Mit einem Schlage wäre zerstört, was wir mühsam aufgebaut haben. Und d a n n . . . vergessen Sie nicht, mon ami, wir besitzen eine ansehnliche Bibliothek, angefüllt mit Büchern, die mit erhabenen Buchstaben ^gedruckt sind! 29
Alle t'«jse Bücher wären wertlos, weira wir Ihre Methode einführten!" „Mit meiner Methode kann man aber nicht nur lesen", rief Louis, „man kann damit auch schreiben!" „Zugegeben!" sagte der Lehrer. „Ich bewundere die Einfachheit und Vollkommenheit Ihrer Methode. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Anscheinend wollen Sie jedoch nicht begreifen, welchen Schwierigkeiten wir, die Lehrer einer Schule, gegenüberstehen, die aus öffentlichen Mitteln unterhalten wird. Was meinen Sie wohl, wieviel Verhandlungen mit Ministern, Vorsprachen bei hochgestellten Persönlichkeiten nötig sind! Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn wir plötzlich erklärten, alle bis dahin aufgewendeten Mittel wären nutzlos an die falsche Methode vertan. Wir würden in Zukunft keinen Sou mehr bekommen!" Louis schwieg enttäuscht. „Darum bin ich gegen Ihre Methode", schloß der Lehrer. „Darum muß ich mich gegen jede weiteren Versuche mit den Schülern wenden. Persönlich habe ich nichts gegen Ihre Schrift, aber wir haben Rücksichten zu nehmen. Draußen können Sie Ihre Punktschrift vorführen, wem Sie wollen. Aber, bitte, unterlassen Sie das hier im Hause." Louis kehrte bestürzt und ratlos in sein Zimmer zurück. Mit sechzehn Jahren fühlte er eine hoffnungslose Leere . . .
* Im Jahre 1828 wurde Braille Hilfslehrer an der Schule. Obwohl mit dieser Stellung kaum finanzielle Vorteile verbunden waren, nahm er seinen Beruf sehr ernst. Er gab Unterricht in Grammatik, Geschichte, Geographie, Arithmetik, Algebra, Geometrie, Klavier und Violincello. Aus dem vorzüglichen Schüler Louis Braille war ein ebenso vorzüglicher Lehrer geworden. Seine Vorträge waren lehrreich, seine Erklärungen leicht verständlich. Alles, was er sagte, war knapp, aber gehaltvoll. Es verdroß ihn nicht, immer wieder auf einen Gegenstand zurückzukommen, bis ihn alle Schüler verstanden hatten. Dennoch vermied er alle überflüssigen Worte. Er bestrafte seine Schüler selten und behandelte sie liebevoll, jedoch mit wohlwollender Strenge. Kein Wunder, / d a ß er von allen Zöglingen geliebt und geachtet wurde. Um so mehr litt Braille darunter, daß man seine Schrift im Institut nicht zuließ. Aber die Schüler, die er außerhalb der 30
Schule nach seiner Methode unterrichtete, wurden immer zahlreicher. ,,Ich habe Blinden in wenigen Monaten Lesen und Schreiben beigebracht", hielt er seinen Gegnern vor. „Gibt es einen überzeugenderen Beweis für die Güte meiner Methode?" 1829 veröffentlichte Braille eine Schrift über sein Verfahren. Auf 32 Seiten legte er seine Grundzüge der Öffentlichkeit vor. Der Erfolg wurde selbst von seinen Gegnern nicht bestritten. Was die Französische Akademie gegen Brailles Schrift einzuwenden hatte, war, daß sie Sehende und Blinde noch mehr entfremde. Die Methode, für die staatliche Förderung hätte erwartet werden können, sollte Blinden und Sehenden gleichermaßen verständlich sein. Vergeblich versuchte Braille klarzumachen, daß diese Forderung unerfüllbar war. Schließlich hatte er erst Erfolg gehabt, als er bei seiner Methode bewußt von der Schreibweise der ß e henden abgewichen war. Man glaubte ihm nicht. Aber Braille gab den Kampf nicht auf, obgleich sich seine ungesunde Lebensweise immer nachteiliger bemerkbar machte. Als Braille im Jahre 1833 zur Würde eines Institutsleiters aufstieg, konnte er etwas freier experimentieren. Noch überzeugender wurde seine Blindenschrift, als er alle Striche aus ihr entfernte und nur noch mit Punkten arbeitete. In den Klassen durfte die „Braille" jetzt versuchsweise im Unterricht verwendet werden. 1837 faßte er noch einmal die Grundlinien der Punktschrift zusammen, die jetzt ihre bleibende Form gefunden hatte. Auch eine Anweisung für eine Blinden-Punktstenographie kam in diesem Jahre heraus. Ein wenig später zeigte er, wie man mit Hilfe der Punktzeichen auch so schreiben konnte, daß ein Sehender das Geschriebene zu lesen imstande war. Aber immer noch mußte Braille zermürbende Kämpfe um die Anerkennung seiner Schrift führen. Sein geschwächter Körper widerstand all diesen Anstrengungen nicht. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr quälte ihn ein stechender Schmerz in der Brust. Immer häufiger zwangen ihn heftige P u stenanfälle, mit dem Studium auszusetzen. Zuletzt mußte er dem Unterricht in immer längeren Pausen fernbleiben und Erholung daheim bei den Seinigen suchen. Als sich Lungenbluten einstellte, hielt ihn nur noch der Wunsch, seiner Schrift zum Durchbruch zu verhelfen, am Leben. Ein gütiges Geschick bescherte ihm noch die Erfüllung. Im Jahre 1850 wurde nach langen Debatten die Brailleschrift 31
offiziell im Institut eingeführt, das inzwischen in ein neues, gesünderes Gebäude umgesiedelt war. Auch im Ausland begann sich die Sechs-Punktschrift Brailles durchzusetzen. Zwei Jahre später, am 6. Januar 1852, am Tage der Heiligen Drei Könige, starb Louis Braille im Hause der Lazaristen von Paris, wo er zuletzt gewohnt hatte.
# Aus der Blindenschrift, die der sechzehnjährige Braille erdacht hatte, ist in der Folge die Weltschrift der Blinden geworden, die in allen Kulturländern Verbreitung fand und die Blinden weithin in die Lebenswelt der Sehenden zurückführte. Sie ermöglichte auf breiter Grundlage den Aufstieg der Blinden in die normalen Berufe und ihre Teilnahme am allgemeinen Leben. Wenn heute Blinde als Stenotypisten, Maschinenschreiber, Korrespondenten, Dolmetscher, Sachbearbeiter, Anwälte, Wissenschaftler, Lehrer, Schriftleiter, Pfarrer, als Organisten und konzertierende Künstler tätig sein können, so danken sie das Louis Braille. Ohne ihn wären die großen Blindenbibliotheken nicht zu denken, die Bücher in Blindenschrift kostenlos ausleihen, ohne Brailles große Leistung gäbe es keine Zeitungen, Zeitschriften, Musikalien für Blinde, keine Blindenbuchverlage und Blindenbuchdruckereien, keine Blindenschreib- und Blindenstenographiemaschinen und nicht die vielerlei Hilfsmittel, die für die tastenden Hände der Nichtsehenden erfunden worden sind. Es war ein Akt der Dankbarkeit, daß dieses Leben, das durch tiefe Nacht geführt hatte, in das strahlende Licht der Unsterblichkeit erhoben wurde. An Brailles hundertstem Todestag wurden seine Gebeine vom kleinen Friedhof seines Heimatdorfes Coupvray in die französische Hauptstadt überführt und im „Pantheon" neben den Großen der Nation beigesetzt. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder : Blindenstudienanstalt Marburg, Ullstein-Bilderdienst, Jean Roblin, Bernard Henri, Jacques Maladorno
L u x - L e s e b o g e n 2 5 5 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, Oberbayern. Seldl-Park. — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth