Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
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Glücklich und auch ein wenig ängstlich fährt die Schauspielerin G...
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Glücklich und auch ein wenig ängstlich fährt die Schauspielerin Gemma Weihmann mit dem heimlich von ihrem Geliebten entliehenen Auto durch die schwachbeleuchtete Nebenstraße. Ein Stoß am rechten Kotflügel… Verzweifelt starrt sie den toten Mann auf dem nassen Asphalt an. Sie weiß nur eines in diesem Moment: Rolf Schubert – auf Reputation bedacht – wird sie endgültig verlassen, wenn er davon erfährt, sie wird einsamer sein als je zuvor. Und was soll aus ihrer Tochter werden? Sie hat Ines lange vernachlässigt, der Kontakt ist brüchig geworden. So kann Gemma auch nicht ahnen, daß das Mädchen an ebendiesem Abend fast zu gleicher Stunde mit dem Schauspieler Hardy Jäger dieselbe Nebenstraße passiert… Angst vor Entdeckung, das Gefühl von Verlassenheit und Ausweglosigkeit treiben die Schauspielerin bis auf die Höhen des Schnürbodens im Theater.
Ingrid Hahnfeld
Schwarze Narren
Verlag Das Neue Berlin
ISBN 3-360-00210-5 1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin ■ 1988 Lizenz-Nr.: 409-160/254/88 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republie Lichtsatz: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 853 7 00200
1 Gemma saß im Garderoberaum an ihrem Schminktisch. Sie hatte Puderschachteln und Schminktiegelchen zur Seite geschoben, ihre Handtasche umgestülpt und suchte in den verstreut herumliegenden Dingen nach dem Brief der Tochter. Der Lautsprecher über der Tür wurde eingeschaltet, der Inspizient rief zum Schlußapplaus. Fahrig schob Gemma Portemonnaie, Schlüsselbund und Zigarettenpäckchen in die Tasche zurück. Sie klappte ihre Brieftasche auf. Personalausweis. Fahrerlaubnis. Ein Stoß von Zettelkram, Fotos von Rolf und von Ines. Nur der Brief war nicht dabei. Hatte sie ihn zu Haus gelassen? „Frau Weihmann bitte zum Schlußapplaus!“ mahnte die Stimme des Inspizienten. Während Gemma die Brieftasche schloß, wurde vorsichtig die Tür geöffnet. Die Ankleiderin kam übertrieben leise herein. „Gemma, Kleines“, sagte sie, „höchste Zeit. Du mußt zur Bühne.“ „Hab’s gehört.“ Seufzend stand Gemma auf. Die Ankleiderin zupfte eine Locke in Gemmas Perücke zurecht, strich glättend über den gebauschten Reifrock. „Wie ein junges Mädchen siehst du aus.“ Die wütende Stimme des Inspizienten ließ Gemma zusammenfahren. „Frau Weihmann sofort zur Bühne!“ Der Applaus setzte bereits ein, als Gemma aus dem Garderoberaum schlüpfte. Sie raffte den Rock mit beiden Händen und lief der Bühne zu. Die Ankleiderin blickte ihr bewundernd nach. Wenige Minuten später kam Gemma zurück. Die Perü-
cke hatte sie schon vom Kopf genommen. Gemma warf sie auf den Schminktisch. „Der spielt verrückt“, sagte sie aufgebracht. Die Ankleiderin guckte erschreckt. „Was ist denn, Kind?“ Sie trat hinter Gemma und begann das enge Mieder aufzuhaken. Behutsam schob sie das lange, dunkelbraune Haar zur Seite. Gemma winkte ab. „Ach was. Soll er doch.“ Sie lachte kurz. auf. „Daß ich den Bruchteil einer Sekunde zu spät zum Applaus gekommen bin. Er schreibt es in den Vorstellungsbericht.“ Das Gewand flappte zu Boden, Gemma stieg aus dem seidenen Ring wie in einen anderen Raum. „Kennst ihn doch“, sagte die Ankleiderin beruhigend, „ist alles, was er hat: sein bißchen Korrektheit. Seine Genauigkeit.“ „Ja, und so geht er auch, der gute Löber. Jeder Schritt auf den Millimeter vorausbemessen.“ Gemma imitierte die Gangart des Inspizienten, indem sie die Füße zaudernd, als sei ein Ziel zu treffen, aufsetzte. Sie kniff die Augen zusammen, blinzelte aus schmalen Lidspalten. „Verstehst du diese falsche Eitelkeit“, fragte sie, „fast immer läuft er ohne Brille herum, wenn ich ihn treffe. Erkennt keinen Menschen.“ Berti zuckte mit den Schultern. „Der eine so, der andre so.“ Sie hängte das Kleid auf einen Bügel und half Gemma in ihren Schminkkittel. In der Tasche des Kittels knisterte Papier. „Da ist er ja.“ Gemma zog den Brief der Tochter aus der Kitteltasche, reichte ihn der Ankleiderin.
„Sei lieb, Berti. Lies mir vor. Ich hab’ ihn nur überfliegen können. Vergessen, mit welchem Zug sie ankommt.“ Sie setzte sich vor den Spiegel, tupfte Vaseline auf Stirn, Nase und Wangen und fing an, sich abzuschminken. Einen Augenblick lang sah Berti ihr zu. Gemma genoß die Bewunderung der alten Frau. „Was guckst du?“ fragte sie sanft. Berti kehrte sich ab. Sie ging zu ihrem Nähzeug am gegenüberstehenden Tisch, setzte die Arbeitsbrille auf. „Du bist so schön, Gemma“, sagte sie mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme, „daß ich dich immerzu ansehen könnte.“ Sie hakte sich die Brille ins graue Wuschelhaar, nahm den Brief auf. In verändertem, heiterem Tonfall fügte sie hinzu: „Du kannst wohl gar nicht alt werden, was? Als ich vierzig war, hatte ich schon graue Strähnen im Haar und zwei falsche Zähne. Wenn ich dein Gebiß betrachte!“ Gemma lächelte in den Spiegel hinein und zeigte Berti ihre makellosen Zahnreihen. „Nur zunehmen solltest du, Kleines. Siehst aus, als könntest du in zwei Hälften brechen.“ Gemma zog mit dem Kamm einen so geraden Mittelscheitel, daß er aussah wie mit einer Messerklinge ins dunkle Haar gesetzt. „Lies jetzt, Berti.“ Berti zog den Briefbogen aus dem Umschlag. Während Gemma sich kämmte, das Haar zu einem Nackenknoten aufsteckte, las sie langsam vor. „Meine liebe Mami, hoffentlich hast du am Wochenende keine Vorstellung. Hoffentlich hat sich schon etwas mit der Wohnung ergeben, damit wir hoffentlich bald
ausziehen aus dem Dreckloch. Und hoffentlich lungert der Pope nicht wieder bei Dir ‘rum, wenn ich komme.“ Berti räusperte sich. „Jeder Satz mit hoffentlich“, sagte sie verlegen lachend, „ein hoffnungsvolles Kind.“ Da Gemma in ihr Lachen nicht einstimmte, keinerlei Reaktion auf den Scherz zeigte, las Berti überstürzt weiter. „Ich bleib’ Freitag noch im Internat, wir haben bei der GST mit den Fahrstunden begonnen. Ich hab’ Freitag meine erste Nachtfahrt. Der Fahrlehrer ist doof, aber Spaß macht es. Am Samstag komme ich entweder früh um neun oder mit dem Mittagszug. Kuß Ines. Grüß Hardy.“ Berti steckte den Bogen zurück in den Briefumschlag. „Also morgen erst“, sagte Gemma, „fein.“ Sie schlüpfte in ihr Kleid, ließ von Berti den Reißverschluß zuziehen. „Hast du sie nicht gern zu Haus?“ fragte Berti erstaunt. „Doch, schon.“ Gemma zog mit einem Pinsel Lidstriche. „Ich sitze nach der Vorstellung gern noch ein bißchen in der Kantine, weißt du.“ Und nach einer Pause, zögernd: „Sie ist schwierig zur Zeit. Greift mich ständig an. Hast es ja gehört. Wahrscheinlich ist sie eifersüchtig.“ Berti verstand nicht. „Auf Hardy?“ Gemma warf lachend den Kopf zurück. „Aber nein. In Hardy ist sie verknallt. Der ruppige Gruß an ihn spricht doch Bände. Als wolle sie sich selbst zur Strafe beißen dafür, daß sie ihn hinschreiben mußte. Eifersüchtig ist sie auf Rolf.“ Sie schwiegen beide. „Unverändert?“ fragte Berti vor-
sichtig. Gemma blickte geradeaus, an Bertis besorgtem Gesicht vorbei, wie über eine weite Landschaft. „Ach, Gemma.“ Berti seufzte tief auf. Sie legte Gemma sacht eine Hand auf den Arm. Der Arm wirkte erstarrt. „Wie leid mir das tut. Wie furchtbar leid.“ Gemma löste sich aus ihrer kurzen Versunkenheit. „Regnet es noch?“ fragte sie nebenher und bückte sich, ihre Stiefel überzustreifen. Berti lüpfte den Fenstervorhang. „Es schüttet, was vom Himmel will. Du solltest bei dem Wetter lange Hosen tragen, Kleines.“ „Nie“, entgegnete Gemma, „das weißt du doch. Ich kann sie nicht ausstehen an mir.“ Berti legte den Kopf schief zur Schulter. „Hosen passen auch gar nicht zu dir.“ Gemma trat auf sie zu, legte kurz ihre Wange an das Gesicht der alten Frau. „Mach’s gut, Berti.“ Sie hatte schon die Hand auf der Klinke, blieb aber, bevor sie hinausging, noch einen Augenblick an der Tür stehen. „Wenn du Ines das nächste Mal siehst, Berti: Laß dir bitte nichts anmerken, nein? Was ich dir über ihre Angriffslust erzählt habe.“ Die Ankleiderin hob beschwörend die Hände. „Wo denkst du hin! Auch über ihre Verliebtheit kein Wort.“ Gemma drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. „Gib es zu, meine Alte. Du bist selbst in Hardy verliebt, stimmt’s?“ Berti schmunzelte. „Du etwa nicht?“ „Und ob!“ Gemma warf in der ihr eigentümlichen Art den Kopf. „In Hardy muß man verliebt sein.“ Sie öffnete die Tür. „Sag mal, Gemma.“ Berti hielt sie auf. „Nimm mir’s
nicht übel, ich vergesse es immer wieder. Was lernt die Ines da in ihrem Internat?’’ „Agrotechniker.“ Berti sagte in gespielter Verzweiflung: „Das vergesse ich sowieso wieder. Grüß Hardy!“ Gemma zog die Tür ins Schloß. Mit eiligen Schritten ging sie den Gang des Bühnentraktes entlang, vorbei an Türen zur Requisite, zur Maskenbildnerei, an den Garderoben ihrer Schauspielkollegen. Bei der Pförtnerloge blieb sie kurz stehen, beugte sich zum Schiebefensterchen hinab. „Was für mich, Papa Busch?“ Papa Busch ließ die Zeitung sinken. Seine volle, hängende Unterlippe vibrierte freundlich, als er Gemma ansah. Er fuhr sich mit einer Hand über die gestutzten grauen Haarborsten. „Bedaure, Frau Weihmann.“ Froh, doch etwas für sie zu haben, rief er ihr hinterher: „Doch!“ Sein Kopf tauchte unter dem Lukenfenster auf. „Herr Jäger wartet in der Kantine auf Sie.“ „Danke.“ Sie lächelte ihm über die Schulter zu. Wie gern der alte Pförtner ihr eine Freude machen wollte. Daß Hardy nach der Vorstellung auf sie wartete, war selbstverständlich. Ebenso überraschend wie diese Nachricht wäre es für sie gewesen, wenn Papa Busch ihr die Uhrzeit nachgerufen hätte. Hardy Jäger hob den Kopf, als Gemma die Kantine betrat. Er winkte ihr mit dem eleganten Stöckchen zu, das er der Requisitenabteilung abgeluchst hatte. Seitdem die
Dreigroschenoper nicht mehr auf dem Spielplan stand, lief Hardy privat mit dem schlanken Spazierstock herum. Er hatte den Mackie Messer gespielt, sich eigens für diese Rolle das hübsche Requisit anfertigen lassen. Der Rolle trauerte er nach. Als könne er wenigstens ein Zipfelchen davon festhalten, wenn er Mackies Stock in den Alltag hinüberrettete, hatte Hardy um das Stöckchen gekämpft. Gemma nickte. Sie sah, daß neben Hardys Apfelsaft schon ein Schoppen Wein für sie bereitstand. Es gelang Hardy so mühelos, jenes Gefühl von Geborgenheit zu erzeugen, das wärmend in ihr aufstieg. Dankbar atmete Gemma auf. Unwillkürlich rieb sie die Hände aneinander, als spüre sie fröstelnd den Gegensatz zwischen Hardys Fürsorge und ihrer schmerzlichen Beziehung zu Rolf. Sie durchquerte die Kantine, setzte sich zu Hardy an den Tisch. Seine Augen lächelten. „Trink einen Schluck, Gemma.“ Etwas in seiner Stimme klang seltsam erwartungsvoll. Er beobachtete Gemma, als sei er neugierig auf etwas. Sie trank einen Schluck. Ihr Blick fiel auf sein Haar. Sie stutzte. „Fällt etwas auf?“ fragte er, Das Lächeln war jetzt auch in Hardys Stimme. Prüfend sah Gemma ihn an. Was war verändert? Sein dichtes, halblanges Haar lag um das ovale Gesicht wie immer, schob sich in zwei weichen Wellen in den Nacken. Dann erst bemerkte sie den ungewohnten Mittelscheitel. Gemma warf den Kopf zurück und brach in Lachen aus. „Hardy! Du siehst aus wie ich.“ Hardy freute sich der gelungenen Überraschung. Er
fuhr sich mit gespreizten Fingern ins Haar, kämmte den Mittelscheitel fort. „Siehst du“, sagte er frohlockend, „Richard behauptet auch, daß wir einander ähneln.“ „Ja, kleiner Bruder. Wo ist denn Richard? Holt er dich ab?“ Hardys Augen überflog ein Schatten. Er schüttelte den Kopf. „Übers Wochenende ist er verreist. Zu einem Ärztekongreß.“ Gemma blickte Hardy teilnahmsvoll an. Wie ein verlassenes Kind saß er plötzlich da. „Wenn du willst, komm zu mir ‘rum. Dann bist du nicht so ganz und gar allein.“ Er guckte ratlos. „Dein Kostüm ist fertig“, sagte er schließlich, „falls ich komme, bringe ich es mit.“ „Ich mach’ Klöße“, sagte Gemma überredend, „und wenn du magst, backe ich einen Kuchen für dich. Allerdings wird Ines dasein. Ich soll dich grüßen von ihr.“ Hardy spielte mit seinem Stock. Er zog den Knauf, an dem ein Stilett befestigt war, aus dem Schaft. Er betrachtete beide Teile oberflächlich, fügte sie wieder ineinander. „Das gute Kind. Kannst du es ihr nicht ausreden?“ Gemma runzelte die Stirn. „Mein lieber Dummkopf“, sagte sie leise. „Weißt du etwas von der Glut in einem sechzehnjährigen Herzen? Ausreden! Ebenso könntest du wünschen, ich solle den Regen abschneiden.“ „Ich weiß“, entgegnete Hardy ebenso ernsthaft und verhalten, „schneid den Regen ab, Gemma.“ Sie leerte das Glas. „Zum Glück vergeht es irgendwann von selbst“, sagte Gemma traurig. „Ja. Ich weiß.“
In verändertem Ton schloß Gemma das Thema ab. „Überleg dir, ob du kommen willst. Falls wir kurz außer Haus sind: auf die paar Schritte wird es dir nicht ankommen.“ „Gut. Magst du noch Wein?“ Gemma lehnte ab. Eine Weile schwiegen sie miteinander. Gemma steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, Hardy reichte ihr Feuer. Dann stützte er beide Ellbogen auf den Tisch, legte sein Gesicht in die schmalen, blassen Hände. Nachdenklich schaute er die Freundin an. „Wie geht es dir, Gemma?“ Sie blickte dem Rauch nach. Deutlich sah sie das düstere Abrißhaus vor sich. Im Hinterhaus lungerte der krummbeinige Alte noch herum, sonst war kein Mensch mehr anzutreffen. Alle übrigen Mieter waren während der letzten Wochen ausgezogen. Nur sie nicht. Sie sitzt in dem kalten Gemäuer und wartet. Aus den verlassenen Wohnungen ringsum strömt Kälte. Hinter den endgültig geschlossenen Türen lauert das Ungeheure, das sich leerer Räume bemächtigt und keinen Namen hat. Eine Stille, die manchmal dröhnt, die manchmal knistert oder knackt. Die manchmal den Atem anhält, noch stiller zu werden scheint, beklommen macht. Die Treppenbeleuchtung funktioniert schon lange nicht mehr. Und die schwere Haustür, die nicht mehr abschließbar ist, seit jemand das Schloß ausgebaut hat, stöhnt. Stöhnt hinter Gemma her, wenn sie das Haus verläßt, stöhnt, wenn sie wiederkehrt, hastig die Stufen zu ihrer Wohnung erklimmt. Durch Tür - und Mauerritzen hat der Herbst Feuchtigkeit in das Haus gedrückt. Durch die zerbrochenen Fenster leerer Wohnungen ist diese
quellende Nässe gedrungen, kriecht unter den unbehausten, menschenverlassenen Wohnungen wieder hervor, nistet im Treppenhaus. Das Geländer klebt von jener schleimigen Feuchtigkeit, und die tastende Hand, die es sucht bei Dunkelheit, schrickt zurück. Manchmal streift jemand durchs Haus, irgendein Fremder auf der Suche nach Glück. Dann nimmt er eine gedrechselte Strebe des Treppengeländers mit. Oder einen Türgriff. Einmal fand Gemma morgens im unteren Flur, bei den Briefkästen, einen Mann. Er hatte dort geschlafen, nichts weiter. Und Gemma wundert sich, daß sie es trotz ihrer Furcht aushält in dem gräßlichen Haus. Daß sie durch eigene Schuld, durch Wunsch, noch nicht ausgezogen ist. Freiwillig hat sie den letztmöglichen Termin gewählt für den Umzug in die neue Wohnung. Wenn nur Ines nichts davon erfährt. Wie sollte die Tochter verstehen, daß die Mutter den Verlust des Telefons tiefer fürchtet als Kälte, Unheimlichkeit und Diebsgesindel? Diese einzige Brücke zu Rolf, wenn er tagelang nicht kommen kann. Wenn sie nichts hat als seine Anrufe, die sie sehnlich erwartet. In der neuen Wohnung wird sie kein Telefon haben. Mindestens ein Jahr lang wird sie warten müssen darauf. Der Gedanke treibt ihr Schwindelgefühl in den Kopf. Wie wird sie das aushalten können. „Gemma?“ Gemma antwortete in sich gekehrt: „Ich warte, Hardy. Entweder auf Rolf oder auf seine Anrufe.“ Sie zerdrückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher. „Manchmal hab’ ich entsetzliche Angst, wenn ich allein in der Wohnung bin. Dann ist mir, als sei das leere Haus um mich her eine Hand, die mich erwürgen kann. Kürzlich hab’ ich abends
ein Erlebnis gehabt, das mir Gänsehaut über den Körper gejagt hat. Ich sitze noch spät in meinem Zimmer und lese. Immer in Reichweite des Telefons. Immer erreichbar. Tiefe Stille um mich her. Und plötzlich streift etwas die Wand. Ein Geräusch, das jenseits der Wand zur leeren Nachbarwohnung ertönt. Da ich sehr nahe sitze, ist mir, als gälte es meinem Gesicht. Als solle es meine Wange erreichen. Es ist erst zart, dieses scharrende Geräusch. Dann wird es heftiger, nahezu schlagend oder rauschend. Erst wage ich nicht, mich zu bewegen. Dann springe ich auf und stürze zum Fenster. Ich weiß nicht, warum zum Fenster. Ich ziehe den Vorhang auf, gucke auf die nächtliche Straße hinab. Da sehe ich Löber. Sehe ihn in seiner vorsichtigen Gangart einen Abendspaziergang machen. Der Anblick hat mich augenblicks ernüchtert und beruhigt. Weißt du, da war wieder etwas, woran ich mich halten konnte, etwas Sicheres. Und ich war in der Lage, mir das Geräusch zu erklären. Schon tags hatte ich ja von unten gesehen, daß die Fensterscheiben der Nachbarwohnung zerbrochen sind und Tauben sich eingenistet haben. Das schabende Geräusch kam von Vogelschwingen. Taubenfedern hatten die Wand gestreift, Flügelschläge. Ich weiß nicht, wie Tauben schlafen. Aber vielleicht ist eine irgendwie abgerutscht.“ Gemma lachte ein wenig. „Oder sie ist aus einem bösen Traum hochgeschreckt. Seit diesem Abend höre ich öfter Tauben durch das Zimmer fliegen. Es gefällt mir.“ Hardy nahm Gemmas Hand. „Gut, daß Löber im selben Haus wohnt wie ich. Zum ersten Mal bin ich dankbar dafür. Wärest du nicht gleich
um die Ecke zu Haus, wäre er bestimmt an dem Taubenabend nicht unter deinem Fenster vorübergegangen. Ja?“ Jemand öffnete ein Fenster in der Kantine. Ein Schwall kalter Nachtluft drang herein, versetzte Rauschschwaden in Wallung. Gemma lauschte dem heftigen Rauschen des Regens. „Bist du mit dem Auto hier, Hardy?“ „Ja. Und du? Wann ist es so weit?“ Gemma winkte ab. „In zwei Jahren. Bis dahin hab’ ich das Fahren wieder verlernt.“ Hardy fragte: „Läßt Rolf dich nicht manchmal fahren?“ „Viel zu selten. - Wie alles.“
2 Langsam rollt der Zug in den Bahnhof ein. Bremsen quietschen, mit einem Ruck kommen die Wagen zum Stehen. In der Fensterecke eines überheizten Abteils ist Ines eingenickt. Sie hat sich unter die Kutte, die über ihrem Kopf am Haken hängt, gekuschelt. Auf der Fensterbank liegen Hefte und Lehrbücher ausgebreitet, am Boden steht ein geöffneter Campingbeutel, den das Mädchen im Halbschlaf mit beiden Beinen festhält. Das abgebrochene Fahrgeräusch macht sie wach. Ihr Kopf schießt so plötzlich unter der Kutte hervor, daß der Henkel reißt und ihr der Mantel auf die Knie sackt. In Eile rafft Ines Hefte und Bücher zusammen, stopft sie in den Campingbeutel und taumelt schlaftrunken aus dem Abteil. Auf dem Bahnsteig empfängt sie grauer Novemberniesel. Sie gähnt und zieht schaudernd die Kutte über. Als Ines durch die Bahnhofsvorhalle geht, entdeckt sie Rolf Schubert. Ihr erster Impuls: umkehren. Sie wendet
aber nur den Kopf ab und versucht, in einem Knäuel anderer Reisender ungesehen an ihm vorüberzukommen. Er steht weit genug von ihr entfernt in der Warteschlange vor einem Fahrkartenschalter. Offenbar hat er sie nicht bemerkt. Als Ines sich vorsichtig nach ihm umschaut, begegnet sie nicht seinem Blick. Ines verschwindet hinter einem Zeitungskiosk. Während sie so tut, als betrachte sie die Auslagen, beobachtet sie durch das Glasfenster hindurch Rolf Schubert. Will er verreisen? Der Gedanke stimmt sie froh, nimmt sie fast ein wenig für den Popen ein. Wenn er nicht stören kommt, wird die Mutter endlich mal wieder für sie Zeit haben. Klönzeit. Sie braucht dringend ein Gespräch über ihre Probleme. Jetzt ist er an der Reihe. Er beugt sich zum Schalter. Ein Lackaffe. Was die Mutter an ihm finden kann. Ein geschniegelter Bubi, der genau weiß, daß er gut aussieht. Wie er sein Haar wirft. Wie er lächelt, um sein Wangengrübchen zu zeigen. Wie er den Leuten seine gepflegten langen Hände unter die Augen bringt. Und wie behutsam er spricht. Leise und tief, damit auch ja ein jeder hinhöre auf den Schmelz seiner Stimme. Sie durchschaut sein Getue. Vielleicht mußte sie es der Mutter endlich sagen. Ihr die Augen öffnen. Ines sah Rolf Schubert durch die Halle gehen, auf ein Grüppchen zu. Drei Menschen standen ruhig wartend bei einem Hümpelchen Gepäck. Sie schienen eine Insel der Stille zu bilden in all dem Getriebe und Getöse des Bahnhofs. Eine Frau und zwei etwa zwölfjährige, einander vollkommen ähnelnde Mädchen. Ines biß sich auf die Lippe. Das ist sie also, seine Frau. Und das sind seine Zwillinge. Ines hatte sie noch nie gesehen.
Es geschah nichts, überhaupt nichts, als er zu ihnen auf die Insel trat. Was hatte sie denn erwartet? Daß die Frau ihren Betrüger ins Wasser stieße? Daß die Kinder vor solchem Vater die Flucht ergriffen? Ines starrte zu den vier Menschen hinüber. Wie man denen ansah, daß sie zusammengehörten. Die Frau schien etwas zu fragen. Rolf Schubert schob seinen Mantelärmel zurück und sah nach der Uhrzeit. Er redete in das ihm zugewandte Gesicht der Frau hinein. Ihre Miene erheiterte sich, dann lachte sie. Rolf bückte sich nach Koffer und Reisetasche, die Mädchen hoben Rucksäcke auf. Vater und Töchter zuckelten los in Richtung Treppe zum Bahnsteig. Die Frau folgte ihnen in geringem Abstand. Einmal sah sie sich nach der Insel um, die sie eben verlassen hatten. Vermutlich prüfte sie, ob kein Gepäckstück zurückgeblieben sei. Danach hielt sie den Abstand zu den anderen, ihr Rücken sah zufrieden aus. Ines hatte den Eindruck, die Frau halte mit stolzem Blick den vorausgehenden Ehemann und die Zwillinge an der Leine. Das Mädchen wehrte sich gegen den Neid, der in ihm aufkam. In solcher Familie leben können. Ein erwachsener Sohn, irgendwo als Kantor tätig, gehörte auch noch dazu. Warum ließ dieser Kerl von Rolf ihre Mutter nicht in Ruhe, die doch ihr gehörte. Gleichzeitig kränkte es Ines für die Mutter, daß Rolf Schubert hier so tat, als gäbe es eine Gemma Weihmann gar nicht. Sie schoß der Frau einen bösen Blick hinterdrein. So schön wie ihre Mutter war die längst nicht. Latschte in flachen Schuhen. Hatte diesen scheußlichen evangelischen Pfarrfrauenmantel an, dunkelgrünes Lodenzeug. Und ahnte nichts davon, daß ihr friedlicher Rolf eine an-
dere liebte. Schadenfroh seufzte Ines auf. Wenn du wüßtest, Frau Schubert, was ich weiß. Da bildest du dir etwas ein auf deine schwarzgelockten, fröhlichen Töchter. Fährst mit ihnen ins Wochenende, damit sie sich in deine Fürsorge einwickeln können wie in einen dicken Schal, wie in deinen kreuzbraven Lodenmantel, der sicherlich wärmt. Aber ich, ich könnte sie zum Weinen bringen, deine beiden Berufsengel, wenn ich ihnen etwas über ihren Vater stecken würde. Oder wäre es den beiden egal, daß ihr frommer Vater fremdgeht? Abrupt wandte Ines sich dem Bahnhofsausgang zu. In der Straßenbahn rutschte sie vor Ungeduld, heim zur Mutter zu kommen, auf ihrem Sitz hin und her. Sie blickte durch die trübe Fensterscheibe in den Novembermorgen hinaus. Der Monat hatte eben erst begonnen. Treffend grau, wie es ihm nachgesagt wird. Der Asphalt der Straßen schimmerte schmierig-feucht, die wenigen Fußgänger zeigten verdrossene Gesichter. Da und dort klebte durchnäßtes, faulfarbenes Laub im Rinnstein. Ein Monat, der in seiner traurigen Großstadtmonotonie bedrückte und schläfrig machte. Und doch war es dieser eben begonnene Monat, gegen dessen Ende einige Menschen der Stadt in schwere Bedrängnis geraten würden. Eine Zeitungsnotiz würde von einem unbekannten Mann zu berichten haben, der tot in einer stillen Nebenstraße gefunden werden würde. Vielleicht war jener Mann einer der gleichgültigen Straßenpassanten, an denen die Bahn vorüberratterte. Vielleicht lag er zu dieser Morgenstunde schlafend in seinem Bett daheim, vielleicht umarmte er eben jetzt eine, Frau. Viel-
leicht fuhr er auch im selben Straßenbahnwagen, in dem Ines saß und sich auf die Mutter freute. Ines jedenfalls, die aus dem Fenster schaute und dabei zerstreut mit den Haarenden ihres langen Zopfes spielte, würde auch später nicht erfahren, wo jener Mann sich am heutigen Morgen aufhielt. Ines umarmte die Mutter, gab ihr einen flüchtigen Kuß. „Der Henkel ist abgerissen“, sagte sie und warf die Kutte auf die Flurgarderobe. Gemma hatte eben gefrühstückt. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern, betrachtete prüfend ihre Tochter. „Du hast schon wieder zugenommen.“ Ines zog den Bauch ein, legte ihre Hände auf die Hüften. „Was soll ich denn machen“, sagte sie unglücklich, „darüber will ich auch mit dir reden.“ Im Zimmer war es noch nicht sonderlich warm. Die Tür zum Aschloch stand offen, im Kachelofen bullerte Feuer. Ines hockte sich vor den Ofen, schraubte die obere Tür auf und stocherte mit dem Feuerhaken zwischen den glühenden Kohlen. „Hoffentlich kriegen wir Fernheizung“, sagte sie und drückte die Ofentür wieder zu, „hast du schon etwas, Mami?“ Gespannt blickte sie die Mutter an. Gemma antwortete ausweichend. „Das zieht sich hin, weißt du.“ „Kümmerst du dich denn überhaupt?“ fragte Ines. „Alle andern sind doch längst ausgezogen. Ich begreife das nicht. Du mußt hingehn zum Wohnungsamt, immer wieder. Das ist doch hier kein Zustand mehr.“ Gemma verteidigte sich schwach. „Der Alte im Hinter-
haus wohnt auch noch.“ „Na der!“ Die Stimme des Mädchens klang brüchig vor Verachtung. „Dieser Mistkerl!“ „Na, na. Bitte, Ines.“ Ines setzte sich zur Mutter an den gedeckten Tisch. Als sie Gemmas benutztes Gedeck sah, schluckte sie vor Enttäuschung. „Ach - du hast schon.“ Sie schenkte sich lauwarmen Kaffee ein, verbiß sich bekümmert in ein Brötchen. Es schmeckte nicht. Sie spürte auch keinen Hunger mehr. Und doch kaute sie, schluckte hinunter, nahm mehr. Als könne sie so die Kränkung stillen, das Gefühl, von der Mutter vernachlässigt zu sein, zustopfen. In den schalen Kaffee mischte sich Tränengeschmack. Ines würgte hinab, nur nicht heulen. Es war aber sehr zum Heulen, so allein zu sein. Vor Verlassenheit so viel essen zu müssen, daß sie noch dicker werden würde. Und nur die Mutter trug die Schuld daran. „Ines, ich glaub’, du hast genug. Es ist das dritte Brötchen.“ Darauf paßte die Mutter nun auf. Oberflächlicher Kram. „Mir doch egal“, sagte sie mit vollem Mund. Sie streckte die Hand aus, ein viertes Brötchen zu nehmen. Da zog Gemma das Körbchen weg. „Es reicht, mein Dickerchen.“ Sie trug den Brötchenkorb in die Küche. Sie kam zurück, schraubte den Ofen zu, setzte sich wieder. Verdutzt schaute sie die Tochter an. Ines hatte sich fremdartig in Positur gesetzt. So, als markiere sie die große Dame. Der blasierte Gesichtsausdruck paßte denkbar schlecht zu
Ines’ aufgeworfenen Lippen, dem noch kindlich vollen Mund und zu den schläfrig wirkenden dicken Augenlidern. Gemma unterdrückte ein Lächeln. „Was hast du, Dickerchen?“ Das Wort machte Ines rasend, wie oft hatte sie es der Mutter untersagt. „Nenn mich nicht so!“ fauchte sie. Gemma lachte versöhnlich. „Bist es aber doch“, sagte sie und wollte der Tochter übers Haar streichen. Ines riß den Kopf wild zur Seite. „Laß mich!“ Sie spürte die Wut wie eine Faust im Magen. „Weißt du, wen ich gesehen habe?“ Ihre Stimme zitterte vor Kränkung. Sie räusperte sich, kämpfte die Erregung nieder. „Am Bahnhof hab’ ich deinen Popen getroffen.“ Voll schmerzlicher Genugtuung beobachtete Ines, wie sich der Gesichtsausdruck der Mutter veränderte. Als falle eine Hülle, verschwand das Lächeln aus ihren Zügen. Das ohnehin schmale Gesicht schien kleiner zu werden. Und die zartbronzene Hauttönung färbte sich blasser, spielte ins Gelbe. Krank vor Erwartung sah dieses Gesicht plötzlich aus, nahezu schamlos in seiner ungeschützten Offenheit. Es bereitete Ines Pein, die Mutter so zu sehen. Und gleichzeitig einen rebellischen Schmerz, daß sie selbst ausgeschlossen war von solcher Anteilnahme. Diesen Ausdruck vermochte nur jener Mann in die Züge der Mutter zu treiben, nur der. Die Mutter gehörte ihm mit Haut und Haar. Ines erschrak. So deutlich hatte sie das noch nie gedacht. Und sie wollte es nicht glauben. „Mami“, sagte sie stockend, „was ist denn? Hast du mich gar nicht mehr lieb?“
Gemma hörte nicht. Ihre heisere Stimme: „Du hast Rolf getroffen? Am Bahnhof?“ Ines befiel das dringliche Verlangen, etwas zu essen. In Brot zu beißen, in Schokolade, egal. Etwas kauen und schlucken gegen den Kummer, ausgeschlossen zu sein. Sie gab sich Mühe, das Selbstmitleid wegzudrücken. Sie zog an ihrem Zopf. „Die ganze heilige Familie“, sagte sie erbarmungslos, ,,hab’ ich am Bahnhof beobachten können.“ Sie betrachtete die Mutter unter halbgesenkten Lidern. „Süße Zwillinge. Wie heißen denn die beiden Anziehpuppen?“ „Hat Rolf dich gesehen?“ „Wie die Mädchen heißen, will ich wissen.“ Gemma, barsch vor Ungeduld: „Das ist doch unwichtig. Erzähl schon.“ Ines spielte mit dem Zopfende. „Mich interessiert, wie sie heißen.“ Gemma stöhnte. „Rebecca und Judith, glaub’ ich.“ Ines verzog den Mund. „Und seine Frau?“ „Sieglinde. Nun erzähl schon.“ „Jaa“, machte Ines langgezogen und warf sich den Zopf auf den Rücken, „ich fand das peinlich. In deren Alter! Der ist doch auch schon über Vierzig, nicht?“ „Fünfundvierzig“, antwortete Gemma spontan, „wieso?“ „Wieso? Na, wie der seine Sieglinde vor allen Leuten… einfach widerlich. Sah wie ‘ne kitschige Liebesszene aus.“ Sie sah, daß Gemmas Hände zitterten, als sie nach einer Zigarette griff und zu rauchen begann.
„Weißt du, Mami“, hob Ines wieder an, „ich finde das richtig gemein dir gegenüber. Der tut wie ein verliebter Gockel mit seiner Alten, fährt mit glücklicher Familie ins Wochenende. Und dich läßt er hier alleine sitzen.“ Gemma war sehr blaß geworden. „Ich kann mir das einfach nicht vorstellen“, sagte sie mit unsicherer Stimme, „das paßt nicht zu Rolf.“ „Glaubst du!“ Ines beugte sich vor, strich ihrer Mutter über die kalte Hand. „Arme Mami. Merkst du denn nicht, was das für ein geschniegelter Affe ist? Schick ihn weg, bitte! Der nutzt dich doch nur aus.“ Gemma warf die Hand der Tochter von sich. „Schweig!“ forderte sie hitzig. „Davon verstehst du nichts.“ Ines lächelte böse. „Wie du meinst.“ Langsam stand sie auf, schlenderte aus dem Zimmer. Sie kam, die Kutte über dem Arm, zurück. Sie hielt ein trockenes Brötchen in der Hand, in das sie herausfordernd hineinbiß. Kauend fragte sie: „Nähst du mir den Henkel an, Mami?“ Gemma blickte fassungslos in das runde Gesicht der Tochter. Soviel Unverfrorenheit verschlug ihr die Sprache. „Ich dachte“, sagte Ines harmlos, „du machst auch mal was für mich. Oder?“ Es klingelte an der Wohnungstür. Ines traf keine Anstalten, öffnen zu gehen. „Kriegst du Besuch?“ Gemma schob den Sessel zurück, stand seufzend auf. „Die Klöße“, sagte sie zerstreut, „hatte ich ganz vergessen.“ Sie ging aus dem Zimmer. Ines hörte sie im Korri-
dor die Wohnungstür öffnen und fröhlich lachen. Im selben Augenblick läutete das Telefon. Ines hob ab. Sie hörte die leise, gehetzte Stimme Rolf Schuberts, der nach Gemma fragte. „Die ist jetzt leider nicht da“, sagte Ines höflich und legte sofort wieder auf. Sie blieb noch einen Moment neben dem Telefon stehen, befürchtend, er könne nochmals anrufen. Da kam Gemma schon eilends ins Zimmer, erwartungsdunkle Augen. „Hat nicht das Telefon geläutet?“ Ines nickte. „War nichts. Jemand hat sich verwählt.“ Hinter der Mutter trat Hardy ins Zimmer. Ines spürte, wie ihr Magen ein Stückchen tiefer sackte. Ihre Handflächen wurden feucht. Sie wischte sie verstohlen an den Hosenbeinen ab. Rot war sie auch geworden, sie fühlte die verräterische Hitze im Gesicht und am Hals. Verwirrt sagte sie: „Hallo.“ Hardy zupfte sie zur Begrüßung am Zopf. „Ines. Nett, dich zu sehen. Hast du dir schon die neue Inszenierung angeschaut?“ Hardy legte den Packen ab, den er eingewickelt in eine Wolldecke bei sich trug. Er schlug die Decke auseinander, tippte mit seinem Stöckchen auf dunkles Zeug. „Dein Kostüm, Gemma.“ Und zu Ines: „Dumme Frage. Natürlich hast du die Inszenierung angeschaut. Ich hab’ dich doch in der Generalprobe gesehen. Wie findest du das? Soll Gemma zum Kappenfest anziehen. Hab’ ich genäht.“ Hardy breitete Hose und Jacke aus, ließ die schwarze Filzhaube auf seinem Stöckchen kreisen. Gemma beobachtete besorgt den Wandel, der sich an der Tochter vollzog. Das glühend rote Gesicht wurde
gläubig wie bei einem ganz kleinen Kind. Offenen Mundes, voller Bewunderung verfolgte Ines jede Bewegung Hardys. Ines verschränkte die Arme vor der vollen Brust. Ein hilfloser Versuch, sich schmaler zu machen. Schneid den Regen ab, Gemma. „Bißchen düster“, sagte Ines, „aber chic.“ Ihre Stimme klang spröde vor Verlegenheit. Hardy setzte sich. „Willst du los?“ fragte er mit Blick auf die Kutte, die Ines noch immer über dem Arm hing. Sie schüttelte den Kopf. „Der Henkel ist ab.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Stand mit diesem Bekenntnis blöd herum, dick und ungeschickt, sie spürte es selbst. Es prickelte in den Füßen, sie mußte sich lösen aus der beklemmenden Situation. Sie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Warum sagte denn niemand ein Wort. Wieder sprang Gemma ihr bei. „Gerade, als du kamst, hat mein erwachsenes Fräulein Tochter mir angeboten, den Henkel anzunähen.“ Hardy legte sein Stöckchen aus der Hand. „Ich näh’ ihn dir an“, sagte er sachlich nüchtern, „bring Nähzeug.“ Ines schaute ihn ungläubig an. „Du?“ Er hob nur den Kopf und gab dem Mädchen einen ernsten Blick. In seinen Augen war kein Funkeln, kein verborgenes Lächeln, gar nichts. Nur Gucken. Das war es, warum sie Hardy so lieben mußte. Er sagte nie etwas anderes als das, was er meinte. Andächtig sah Ines zu, wie Hardy einen Faden in die Nadel zog, wie er die ersten Stiche setzte. Das ist ein Nähen, dachte sie betäubt, das ist der Inbegriff von Nähen überhaupt. Aber nicht, weil Hardy einmal Schneidern gelernt hatte. Damit hatte es nichts zu tun. Vielleicht ist Nähen - Liebe. Oder Liebe ist - Nähen. Sie hielt es nicht
länger aus in diesem Raum. Sie mußte nachdenken über all das. In ihrem nächsten Gedicht würde sie Vergleiche dazu finden müssen… Ines ging aus dem Zimmer. In der Küche stellte sie sich ans Fenster und blickte in den düsteren Hinterhof. Gerümpel lag um die Mülltonnen verstreut, Möbelteile, Töpfe, verworfener Plunder der Mieter, die schon ausgezogen waren. Im Hinterhaus bewegte sich eine schmutzige Gardine. Sie wurde von einer Hand gerafft und zur Seite gezogen. Die ausdruckslosen Augen des Alten starrten sie an. Lag der denn ständig auf der Lauer. Ines verzog keine Miene. Sie hielt dem Blick stand, bis der Alte die Hände hob und eine unmißverständliche Gebärde vollführte. Angeekelt zuckte Ines zurück. Sie fing an, Geschirr zu spülen. Und jetzt kam die Freude zurück. Hardy nähte ihr den abgerissenen Henkel an. Ines gab der Eieruhr, die an der Wand befestigt war, einen aufmunternden Stups. Das Glasröhrchen drehte sich. Ines sah zu, wie der rötliche Sand in feinem Strahl durch den Glashals in das Auffangröhrchen rieselte. Hardy kam. „Mir ist etwas eingefallen“, sagte er verschmitzt. Ines ließ die Eieruhr nicht aus den Augen. „Willst du mitkommen zum Kappenfest? Ich nähe dir ein Kostüm.“ Er senkte die Stimme. „Das gleiche, wie Gemma es hat. Willst du?“ Ines war lediglich in der Lage, ein „Oh!“ hervorzubringen. „Das wird ein Spaß, Ines. Heimlich machen wir das, Gemma soll nichts davon wissen. Stell dir die Überraschung vor: Gemma ist auf dem Fest - und plötzlich taucht sie noch einmal auf, wenn du den Raum betrittst. Du als Doppelgängerin. Was sagst du?“
„Ich?“ Ines sah Hardy zweifelnd an. „Ich bin doch…“, sie brach ab. Das brachte sie nun doch nicht fertig, sich als viel zu dick zu bezeichnen. „Ich hab’ eine völlig andere Figur“, sagte sie rasch, „eher hält man dich für Mamis Doppelgänger.“ Hardy lächelte. Wie lauter Licht, dachte Ines berückt und mußte sich abwenden, um die aufsteigende Röte zu verbergen. Hardy tat, als habe er nichts gemerkt. „Ach was. Das kriegen wir schon hin. Willst du?“ „Ja.“ Ines nickte mit Nachdruck. Für Ines war es ein wunderbarer Samstag gewesen. Ihre Befangenheit war allmählich gewichen. Sie hatten zu dritt gegessen, hatten einen Spaziergang gemacht, Hardy hatte sie nach ihrer Lehre und dem Internat gefragt. Ines war in angeregtes Erzählen geraten. Einmal war sie nahe daran gewesen, Hardy von ihren Gedichten zu sprechen. Wie machte Hardy es nur, daß sie selbst sich in seiner Gegenwart verändert vorkam. Nicht so dick. Auch nicht nur geduldet. Kostbarer als sonst. Ein wenig gestört hatte sie, daß er einige Male Dr. Wendland erwähnt hatte, seinen Freund Richard. Doch die Regung von Eifersucht war jeweils rasch gewichen, sobald er sich ihr zugewendet hatte. Nach dem Abendbrot ist Hardy gegangen. Ines ist in den Sessel, der neben dem Ofen steht, geklettert, hat die Beine unter sich gezogen und kauert zufrieden in dieser Geborgenheit. Gemma sitzt ihr gegenüber. Sie hat der
Tochter eine Wolldecke über die Füße gelegt, hat dafür ein freudiges Quieken zu hören bekommen. Die beiden trinken eine Flasche Wein miteinander. Gemma sucht nach Worten. Es wird Ines verletzen, wenn sie ihr den Wohnungsschlüssel abverlangt. Aber könnte sie nicht ein wenig Verständnis von der Tochter fordern? Wenn Ines den Rolf nur nicht so ablehnen würde. Er hat dem Mädchen doch nie etwas getan. Beim Gedanken an die morgendliche Begegnung auf dem Bahnhof, von der Ines erzählt hat, wird es ihr eng in der Brust. Sie atmet hörbar auf, sagt: „Ines, ich habe eine Bitte an dich.“ Ines ist beschäftigt mit ihrem Gefühlsaufruhr. Wie ordnen. Wie zu Rande kommen damit, wie Klarheit schaffen in all dem Schäumen und Sprudeln, das ihr die Gedanken durcheinanderwirbelt. Sie ist ja so beseligend unglücklich. Und da sagen die Leute immer, das passiert im Frühling. Hirnverbrannter Erwachsenenquatsch. Dieser herrliche, herrliche November! Sie greift ab und an zum Weinglas, schüttet kleine, kühlende Schlückchen hinunter in das Glühen, das sie inwendig spürt. Ihre Wangen sind gerötet, in den Augen hoffnungsvoller Glanz. „Was denn, Mami.“ Erstaunt nimmt sie den zärtlichen Druck des Zopfes wahr, der Nacken und Rücken berührt. Das hat sie noch nie bemerkt. Sie lebt am ganzen Körper. Sogar ihr Haar ist lebendig. Sie hält einen Augenblick ganz still, wagt kaum zu atmen. So ist das also. Sie möchte es sich genau einprägen, unvergeßlich. „Laß mir deinen Schlüssel hier.“ Weil Ines nicht antwortet, sagt Gemma schnell: „Du
brauchst ihn doch nicht. Wenn du kommst, bin ich zu Hause, laß dich rein.“ Zu Gemmas Verblüffung zieht ein entzücktes Lächeln um den Mund der Tochter auf. Hat die zuviel Wein getrunken? Es verleiht den noch wenig ausgeprägten Gesichtszügen der Sechzehnjährigen einen Anflug von Blödheit. „Für deinen Popen“, sagt sie versunken, „den Schlüssel kannst du haben.“ Gemma ist derart erleichtert, daß sie hörwillig wird. „Ist was, Ines? Du siehst ein bißchen verdreht aus. Hast du einen Schwips?“ Ines stößt ein so seltsames Lachen aus, daß Gemma einen Blick auf die Weinflasche wirft. Es ist nicht möglich, Ines hat ihr erstes Glas Wein. Jäh bricht das Lachen ab. Ines wird tiefernst. Sie sieht nun noch komischer aus als zuvor mit dem törichten Lächeln um den Mund. Schlägt die Augen unter den geschwollen wirkenden Lidern auf, ein Blick, der todtraurig wirkt. Der wie aus einem tiefen Brunnenloch kommt, die Botschaft, die er ankündigt, dennoch nicht preisgeben darf. „Ja?“ fragt Gemma. „Sprich doch. Ich seh’ es dir an, daß du etwas auf dem Herzen hast.“ Ines wird rot und schüttelt ablehnend den Kopf. Sieht man ihr etwa an, daß sie Hardy liebt? „Was soll denn sein?“ fragt sie in gelangweiltem Tonfall und wendet den Blick ab. Unvermeidliche Zuflucht der Raucher: Gemma gewinnt Zeit, indem sie nach einer Zigarette greift, sie in Brand setzt, das Streichholz auswedelt und es bedächtig im Aschenbecher ablegt. Tiefer Zug. Wie weiter? Wie den
Regen abschneiden? „Weißt du“, beginnt sie vorsichtig, „daß Hardys Sohn fast so alt ist wie du?“ Ines ist wie vor den Kopf geschlagen. Verdattert fragt sie: „Was für ein Sohn?“ Und gleich darauf, protestierend: „Das kann überhaupt nicht sein!“ „So?“ Gemma lächelt. „Und warum nicht? Hardy ist verheiratet gewesen.“ Ines, ungläubig stammelnd: „Aber… Hardy ist doch… er hat doch… ich denke, Hardy ist nicht normal? Er hat doch diesen - Richard?“ Gemma bläst geräuschvoll Rauch aus. Streift Asche ab. Wie klarmachen, was das heißt. „Normal sein“, beginnt sie nachdenklich, „so sein wie alle. Was bedeutet das schon? Schrankwände aufstellen. Autos zusammensparen. Trinkgelder geben und nehmen. Eine Familie gründen…“ Sie unterbricht sich, schweigt. Und bitter denkt sie: betrügen. Auch das ist normal. Lügen, sich verstellen müssen, wie sie und Rolf es tun und tausend andere. „Findest du es normal“, fragt sie aus ihren Gedanken heraus, „einen Menschen zu lieben? Einen einzigen?“ Ines horcht gebannt auf das, was die Mutter sagt. „Aber ja“, antwortet sie voller Überzeugung. „Nichts anderes tut Hardy“, fährt Gemma fort. „Er liebt unerschütterlich einen einzigen Menschen. Neidisch könnte ich werden.“ Sie drückt die Zigarette aus. „Ich bin neidisch.“ Ines schwirrt der Kopf. Sie kommt mit dem Einordnen durcheinander. Hardy soll einen Sohn haben. „Aber Hardy ist doch - schwul.“
Gemma entgegnet heftig: „Hardy ist nicht schwul, Hardy ist treu.“ Und als sie den betroffenen Blick der Tochter wahrnimmt: „Mich bringt nur das Wort in Wut. Plappere du es den Dummköpfen nicht nach. Es ist unsinnig.“ Einen Augenblick überlegt Ines. Etwas erscheint ihr nicht folgerichtig in den Worten der Mutter. „Wenn Hardy treu ist“, fragt sie endlich, „hätte er dann nicht bei seiner Frau bleiben müssen?“ Gemma, abgelenkt: „Sie hat die Trennung gewollt. Nicht Hardy.“ Schon eine Zeitlang schweift ihr Blick immer wieder zum Telefon. Warum er nicht anruft. Wenn der Apparat defekt ist? Sie steht hastig auf, geht zum Telefon, nimmt den Hörer ab, preßt ihn ans Ohr. Freizeichen. Erleichtert legt sie auf. Sie verschränkt die Hände im Nacken unter dem dunklen Haarknoten, biegt den Kopf zurück. Kühl ist es im Zimmer geworden. Ines betrachtet voller Neid die schöne, schlanke Mutter. Deren Absprung zum Telefon durchschaut sie genau. Wieder dieser verdammte Kerl, um dessentwillen sie selbst abgehängt wird. Sie greift zur Weinflasche, schenkt sich nach. Die Mutter hätte ruhig etwas Gebäck auf den Tisch stellen können. Ines spürt schlagartig Hunger. Ein trostloser Hunger ist das. Sie weiß, daß ihr Gebäck jetzt gar nicht schmecken würde. Auch Fleisch nicht. Nichts eigentlich. Dennoch ist der Hunger da. Sie trinkt ein paar gierige Züge vom Wein. „Warum?“ fragt sie störrisch. „Warum hat die das gewollt?“ Gemma kommt zum Tisch. „Mir wird kalt“, sagt sie. Sie füllte ebenfalls ihr Glas nach, ging damit zum Ofen.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen lauwarme Kacheln. Gemma trank einen Schluck, zuckte mit den Schultern. „Alkohol.“ Ungläubig hielt Ines ihr entgegen: „Aber er trinkt niemals auch nur einen Tropfen!“ „Jetzt. Früher hat er.“ Ines wartete. Soviel Ungeahntes über Hardy zu erfahren bedurfte näherer Erklärung. „Na und?“ „Hardy spricht nicht gern darüber“, antwortete Gemma. Ob ihm recht wäre, wenn Ines davon erführe? Andererseits: sie hatte von der Tochter den Schlüssel bekommen. Das war einen Gegendienst wert. In dies erwartungsvolle Schweigen hinein fragte sie plötzlich: „Hörst du das?“ Ines, vom Flüstern der Mutter betroffen, hob ebenfalls lauschend den Kopf. „Was denn?“ Gemmas weitgeöffnete Augen sind auf die Wand gerichtet, hinter der die verlassene Nachbarwohnung liegt. Ines folgt diesem Blick, und nun hört sie es auch. Jenes schleifende Geräusch, als taste jemand die Wand ab. Das jählings abwärts zu trudeln scheint, in heftiges Rauschen verfällt, wie ein Seufzen abbricht. Beklommen fragt Ines mit halber Stimme: „Wer ist denn das?“ Gemma lächelt sonderbar, ehe sie antwortet. „Niemand. Hörst du, wie sie mit den Flügeln um sich schlagen? Wogegen sie sich wohl wehren müssen. Ihre Federn scharren wie Krallen. Tauben. Es sind Tauben, die im Schlaf erschrecken. Die unvermittelt etwas aufjagt, wer weiß.“ Tauben. Das leuchtete ein, sie hatte sie heut selbst gesehen bei Tage. Doch der Blick der Mutter bereitete Ines Unbehagen. Die betrachtete die Wand, als traue sie der eigenen Deutung nicht ganz.
„Wir müssen hier ‘raus, Mami. So schnell wie möglich. Versprich mir, daß du dich dringlicher um die neue Wohnung kümmerst, ja? Versprichst du es?“ Gemmas Lider zucken, sie verbirgt ihr Ertapptsein in einem unbestimmten Kopfnicken. „Mit Hardy“, sagte sie ablenkend, „war das damals so.“ Sie vergewisserte sich mit raschem Blick. Ines war sofort bereit, das Thema zu wechseln. „Er kam zu selten nach Hause. Er konnte nicht kommen. Er war engagiert an einem kleinen Theater im Gebirge. Jede Heimfahrt kostete fünf Stunden Bahnfahrt, und er hatte wenig frei. Verstehst du. Seine Frau saß hier herum mit dem Kind und wartete. Und langweilte sich wohl. Und war sehr jung. Hardy sagt: Wenn ich endlich einmal nach Haus fahren konnte, sah sie mich so vorwurfsvoll an, als würde ich ihr zu leben verbieten. Was hätte ich tun sollen? Sie hat wohl erwartet, daß ich den Beruf aufgebe… Nun, das hat Hardy nicht getan. Er hat, wie er sagt, lange an schwarzen Schmetterlingen gelitten. Ein Spruch der Franzosen, Traurigkeit auszudrücken. Sie haben ihn so verdunkelt, sagt Hardy, daß er zuletzt nicht mehr ein noch aus gewußt hat. Er hat zu trinken begonnen. Zuerst abends ein wenig in der Kantine. Dann auch tags. Auch in seinem Zimmer, in dem er zur Miete gewohnt hat. Bald ständig, gewohnheitsmäßig. Nun, wenn er einmal heimfuhr zu seiner Frau, gab es Streit. Zerwürfnisse wegen seiner Trinkerei. Das ging so - bis es eben nicht mehr ging. Hardy verlor mehrfach während der Proben die Kontrolle über sich, weil er schon morgens zur Flasche gegriffen hatte. Er hat sofort eingewilligt, als man ihm zu einer Entziehungskur riet. Drei Mo-
nate hat er in dem Sanatorium verbracht, ohne einen einzigen Brief von seiner Frau zu bekommen.“ Über Gemmas ebenmäßiges, feingeschnittenes Gesicht ging ein Schatten von Unmut. „Wie hat er das nur ausgehalten?“ fragte Ines atemlos. „Leider hab’ ich Hardy zu dieser Zeit noch nicht gekannt“, sagte die Mutter, „er hat mir das alles nur erzählt. Dieses dumme Ding. Dieses arme, dumme, junge, unberatene Ding. Einem solchen Mann davonzulaufen.“ Sie stellte das Glas ab, zündete eine neue Zigarette an. „Schließlich wird Hardy entlassen. Trocken. Die Heimfahrt ist eine Marter für ihn. Während der langen Stunden im Zug vergeht er nahezu vor Ungeduld. Was wird sie sagen? Freut sie sich ein wenig? Daß sie ihm nie in die Anstalt geschrieben hat - vielleicht war das ihre Art, mit der Situation zurechtzukommen. Er hofft noch, daß sie mit dem Jungen am Bahnhof stehen wird. Er hat ihr seine Ankunft mitgeteilt. Als er aus dem Zug steigt und sie nicht sieht, wird ihm übel vor Jammer. Hardy sagt, in der Straßenbahn habe er sich am eigenen Mantelärmel festgeklammert und immerfort daran gezerrt, um doch irgendeinen Halt wenigstens zu haben. Das Haus habe er mit solchem Herzklopfen betreten, daß er nicht sofort die Treppen habe steigen können. Er habe im unteren Hausflur die Stirn gegen den Briefkasten gepreßt und sei sich vorgekommen wie ein Tier im Käfig. Dann habe er sich plötzlich zusammengerafft und sei die Stufen hinaufgehüpft, als sei nur Spiel und Tanz in der Welt. Er habe genau gesehen, was er sich da vorspielte. Vor der Wohnungstür jedoch sei er wieder erwartungsvoll ernst gewesen, habe mit bebenden Fingern seine Taschen nach dem
Schlüssel durchsucht. Der Schlüssel sei nicht zu finden gewesen, und so habe er geklingelt. Das Klingeln habe äußerst seltsam geklungen, meint Hardy, es sei ihm wie ein Fragezeichen in die Ohren gedrungen. Wie aber sind Fragezeichen? Störend, hat Hardy gesagt, ungewiß. Es habe nur kurz gedauert, bis die Tür geöffnet worden sei. Vor Überraschung habe ihm ein Lächeln im Bart gehangen. Nur, er habe keinen Bart gehabt, sonst aber nicht gewußt, wo jenes fadenscheinige Lächeln anders hätte hängen sollen. Dann habe er lange nicht begriffen und an Limonade gedacht, weil plötzlich ein heftiger Durst ihn befallen habe, während der fremde Mann geredet und geredet habe. Und weißt du, was geschehen war?“ Gemma lachte freudlos auf. „Kannst du auch nicht. Die Frau war mit Kind und Habe ausgezogen, zu einem anderen Mann. Die Scheidungsklage hatte sie bereits eingereicht. Und der neue Mieter, dem Hardy hilflos gegenüberstand nach seinem Klingeln, war Doktor Richard Wendland. Daß er Hardy nicht zum Teufel schickte, weißt du. Und denk nur nicht, daß Mitleid oder Dankbarkeit im Spiel waren. Die beiden…“ Das Telefon läutete. Gemma flog beinahe, so rasch hatte sie den Hörer am Ohr. Am Farbwechsel, der sich im Gesicht der Mutter vollzog, erriet Ines sofort, daß Rolf Schubert der Anrufer war. Gemma lauschte. Ihr entrückter Blick veranlaßte Ines, geräuschvoll Luft auszublasen. Wie stets war es dem Popen gelungen, sie schlagartig von der Mutter zu trennen. Schon erhielt sie den Beweis, daß sie störte: Gemma winkte gebieterisch mit der Hand, sie möge still sein. Gekränkt schaute Ines dieser schma-
len, hübschen Hand nach, die sich nach ihrem Befehlswinken zärtlich um die Sprechmuschel des Telefonhörers schloß. Das erste Erschrecken über den nochmaligen Anruf, der ihren kleinen Betrug aufdecken konnte, verwandelte sich in Wut. Sollte sie doch! Sollte sie doch erfahren, daß die böse Tochter ihr mittags die Popenstimme vorenthalten hatte. Voll feindseliger Genugtuung nahm Ines wahr, daß Gemma bestürzt ihren Blick suchte. Hatte er es ihr also schon hinterbracht. Das Telefonat war kurz, offenbar hatte Rolf keine Zeit. Mit welchem Bedauern die Mutter den Hörer auflegte. Doch unmittelbar danach fuhr sie herum und stellte Ines zur Rede. „Weil mir sein Anruf nicht gepaßt hat, darum.“ Sie sah, wie der Zorn in Gemma anschwoll. Für Augenblicke verschlug es der Mutter die Sprache. Ines erwartete einen Ausbruch, ein Geschrei. Aber dann kam es verletzender für Ines als jeder Vorwurf. Die Mutter kehrte sich von ihr ab und sagte: „Gefräßig und herzlos. Was erwarte ich denn.“ Die Worte schlugen zu. Das Mädchen saß wie betäubt. Guckte, als müsse es sich verhört haben. Am krampfartigen Druck in Hals und Magen erkannte es, daß wahrhaftig gemeint schien, was gesagt worden war. Außer sich und den Tränen nahe, stieß Ines hervor: „Nicht du! Hardy hat mir den Henkel angenäht!“ Gemma, hart: „Mach dich nicht lächerlich.“ Die Tränen rannen unaufhaltsam. Ines wischte sie mit den Händen weg. Trostlos schluchzte sie hin und wieder auf. Aber als Gemma sich ihr näherte und sie mit sanfter Stimme zu beruhigen trachtete, stieß Ines die Hand der Mutter zur Seite. Weinend verließ sie das Zimmer, tappte über den
dunklen Korridor in die Küche und suchte nach etwas Eßbarem. Sie strich Butter auf eine Scheibe Brot und fütterte damit ihren grauen, einsamen Hunger.
3 Es war zeitiger Nachmittag. Der Novemberhimmel ließ verschleiert ein wenig Sonne sehen. Gemma befand sich auf dem Heimweg von der Probe. Sie stand in der Straßenbahn, die Hand im Haltegriff, und ließ sich nachgiebig durchrütteln. So entspannt, wie ihr Körper hin und her pendelte, war ihr Gemüt gestimmt. Sie hatte die glückliche Farbe im Gesicht, die ihre Haut annahm, wenn Gemma sich auf Rolf freuen durfte. Heut war ein verabredeter Tag, abends würde er kommen. Und bleiben. Gemma stieg aus der Straßenbahn und betrat eine Kaufhalle. Den Einkaufswagen stieß sie übermütig vor sich her. Obwohl sie wußte, daß Rolf zu Haus erst nach der Abendmahlzeit aufbrechen konnte, kaufte Gemma einige Dinge für ein gemeinsames Abendbrot. Und sie würde es auch zurechtmachen, ob es gegessen wurde oder nicht. Am Spirituosenstand fand sie seine Rotweinsorte nicht. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. Gemma bettelte und bekam heimlich eine Flasche Pinot noir zugesteckt. Beschwingt machte sie sich auf den Heimweg. Im Treppenhaus schlug ihr der muffig-feuchte Geruch entgegen, der erst verschwinden würde, wenn es die Mauern nicht mehr gab. Er legte sich Gemma beklemmend dinghaft auf Gesicht und Hände, drang ekelerregend in die Atemwege ein. Gemma hatte den Eindruck, daß jener Geruch mit jedem Tag aufdringlicher und viel-
deutiger würde. Als wären in den verlassenen Behausungen Küchenabfälle zurückgeblieben, die nun goren und stinkende Gase verströmten. Als habe jemand beschmutzte Babywindeln liegengelassen. Im unteren Flur stank es stark nach Urin. Und die dunkler gefärbten, strähnigen Flecke im Holzpaneel zeigten deutlich, daß der Ort als Toilette benutzt wurde. Einmal hatte Gemma den Alten aus dem Hinterhaus dabei ertappt. Blicklos und angewidert war sie an ihm vorübergegangen. Während Gemma die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufstieg, ertönte von oben ein Poltern. Ein schwerer Gegenstand mußte zu Boden gefallen sein. Erschreckt blieb sie stehen. Das Netz, in dem die Weinflasche steckte, fiel ihr aus der Hand. Beim Geräusch der zerscherbenden Flasche schreckte sie abermals zusammen, als habe ein Fremder es hervorgerufen. Gemma stand atemlos still. Erst als sie Schritte schleifen hörte und ein unwilliges Brummen vernahm, ging sie vorsichtig weiter. Sie blickte sich nach den Scherben im Netz um. Eine Weinlache breitete sich aus, das Gewebe des Netzes sog sich voll mit roter Farbe. Gemma zögerte. Erst mußte sie ergründen, was da im Gange war, die Scherben hatten bis später Zeit. Sie traf den Alten auf dem Treppenabsatz ihrer Wohnung. Er war damit beschäftigt, herumliegende Dinge in eine Kiste zu sammeln. Gemma erkannte Sachen wieder, die sie auf dem Boden erblickt hatte. Herrenlos gewordenen Plunder, den ausziehende Mieter nicht mehr gebraucht und zurückgelassen hatten. Altes Werkzeug, Schrauben, eine Müllschaufel - der verkommene Alte schien alles gebrauchen zu können. Gemma blieb stehen. Wortlos sah sie zu, wie der gebückte Mann behende sei-
ne verschüttete Beute einsammelte. Seine Hände waren sehnig und schmutzig. Auf dem Kopf stand dichtes gestutztes graues Haar. Sie suchte nach Worten. Von dem Alten wußte sie wenig. Gegrüßt hatten sie einander nie. Er war im Rentenalter, lebte offensichtlich allein in seiner Wohnung im Hinterhaus, deren Gardinen löchrig waren und vor Schmutz starrten. Manchmal, wenn er an ihr vorübergegangen war oder zufällig aus seinem Fenster schaute, wenn sie selbst aus ihrem Küchenfenster in den Hof hinabsah, hatten seine feindseligen Blicke sie getroffen. Gemma ahnte nicht, was ihn gegen sie einnahm. Vielleicht, daß sie im Vorderhaus wohnte, wo es Sonne gab. Vielleicht spürte er ihre Verachtung und haßte sie dafür. Als noch Leben in den verfallenden Mauern gesteckt hatte, sämtliche Wohnungen noch belegt gewesen waren, hatte der Alte oft im Schlafanzug am geöffneten Fenster gestanden und gestarrt. Jäh und unartikuliert war er in lautes Schimpfen verfallen, hatte in den Lichtschacht des Hofes hinausgebrüllt wie ein Tier. Dabei war sein Körper in ein groteskes Wackeln verfallen, steifbeinig hatte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, rhythmisch wie ein Uhrenpendel. Und einmal, in höchster Wut, hatte er Kartoffeln geworfen. Die Geschosse hatten allen gegolten oder keinem. Sie waren auf dem Hofasphalt zermatscht. Gemma hatte ihn dabei beobachtet und den Kopf geschüttelt. Als er sie erblickte, hatte er gestutzt und die Zähne gefletscht. „Was suchen Sie denn hier?“ brachte Gemma schließlich hervor. Der Alte richtete sich auf. Als nehme er sie jetzt erst wahr, blickte er ihr ins Gesicht. Er stand, etwas kleiner
als sie, krummbeinig vor ihr. Im Mundwinkel hing ein erloschener Zigarrenstummel. In seinen gelbgrauen Augen war keine Regung abzulesen. „Is nich Ihr Haus“, sagte er und bückte sich, seine Kiste aufzuheben. „Sind dis etwa Ihre Sachen, hä?“ fragte er dreist und hielt ihr die Kiste unter die Nase. Gemma zuckte zurück. Der Alte schlug ein gehässiges Gelächter an. „Is sich zu fein, die da“, sagte er und konnte eben noch den Zigarrenstummel auffangen, der ihm aus dem Mundwinkel gerutscht war. Ein Speichelfaden sickerte über sein Kinn. „Hol mir hier, was ich brauche, verstanden?“ Er bemerkte den Abscheu in Gemmas Augen sehr wohl. „Alles, was ich brauche. Verstanden? Nach und nach alles.“ Die Kiste unter einen Arm geklemmt, schickte der Alte sich an, die Treppe hinabzusteigen. Gemma überfiel plötzlich unerklärliche Furcht. Dieser Mann ging hier um, ganz allein im unbewachten Haus. Wenn er nun aus der Nachbarwohnung gekommen war? Sie warf einen raschen Blick auf jene Tür, die unversehrt aussah. Konnte er nicht auch irgendwann in ihre Wohnung eindringen und sie bestehlen? Ines hatte recht. Es wurde ständig gefährlicher, in dem offenen, abgeschriebenen Haus zu bleiben. Aus Angst sich anbiedernd, rief sie dem Alten hinterdrein: „Wann ziehen Sie denn? Haben Sie schon eine Wohnung?“ Unbeirrt tappte der Alte abwärts, eine Hand auf dem klebrigen Treppengeländer. Er blickte sich nicht einmal nach ihr um. Ganz so, als habe er nichts gehört. Doch unvermittelt brach er wieder in sein Gelächter aus, das im Raucherhusten erstickte. Sie hörte Scherben spritzen, wie
von einem Fuß gestoßen. In ihrer Wohnung betrachtete Gemma mißtrauisch alle Zimmertüren. Es war unsinnig, sich mit derartigen Vorstellungen zu belasten. Dennoch kam sie erst davon los, als Rolf anrief. Und sobald sie seine Stimme vernahm, wußte sie wieder, daß sie keinen Tag eher als nötig von diesem Telefon weichen würde. Er war aufgeregt, Gemma merkte es daran, daß er betont langsam sprach und sich mehrfach räuspern mußte. Auf ihre Frage, was sei, schwieg er. Als sie ihn drängte: Sag doch, etwas Wichtiges? Ja, antwortete er. Schlimm? fragte sie besorgt. Er atmete tief durch. Im Gegenteil, sagte er. Und plötzlich schwang in seiner Stimme ein so neuartiger Ton, daß Gemma befremdet aufhorchte. Sie spürte sein Bemühen, gleichgültig zu klingen. Doch sein leicht hingewischter Satz verriet ihr seine Begeisterung. „Ich habe damit gerechnet.“ Er zögerte. „Womit?“ fragte Gemma. „Sie konnten nicht an mir vorbei entscheiden, verstehst du?“ „Kein Wort,“ sagte sie ablehnend. Mit ihr, das spürte sie deutlich, hatte seine Begeisterung nichts zu tun. Er stutzte. Einlenkend sagte er: „Ich wollte dir das nicht am Telefon…“ Gemma unterbrach ihn: „Sag mir bitte, was los ist, Rolf!“ Er druckste, hob dann wieder an: „Das läuft schon eine Weile. Ich hab’ dir nichts davon erzählt, um dich nicht zu beunruhigen.“ Nun war sie wirklich beunruhigt. „Rede doch!“
Er stellte seine Stimme ein auf nüchterne Mitteilung, schickte bescheiden klingende Sätze durch die Leitung. „Heut hab’ ich Bescheid bekommen. Erst den Brief. Dann einen Anruf vom Konsistorium, der alles bestätigt. Ratzner - du erinnerst dich? Ich habe ihn mehrfach erwähnt? Oberkonsistorialrat Ratzner hat es mir gesagt. Ich bin berufen worden.“ Er machte eine Atempause, bevor er die bedeutsame Nachricht in kleines Wortgebilde stopfte und in ihr Ohr schickte. „Zum Superintendenten.“ Gemma spürte, daß er etwas von ihr erwartete. Hilflos fragte sie: „Ja - und?“ Sie sah es vor sich, wie seine schöne Hand in gespielter Verzweiflung ins wellige Haar tauchte. Doch seine Stimme zügelte er zu leiser, amüsiert klingender Heiterkeit. „Na und! Ich werde Superintendent. Ich, Gemma. Versteh das mal. Sie haben alle für mich gestimmt, meine Amtsbrüder und Amtsschwestern. Nur der arme Küchel…“ Der Schatten von Bedauern, der sich über seine Worte legte, klang durchaus echt. „Der arme Pfarrer Küchel ist verärgert, fürchte ich. Er hatte sich wohl Hoffnungen gemacht, daß er in dieses Amt kommt. Na, was sagst du?“ Was sollte sie sagen? Sie verstand nur so viel, daß er beruflich einen wesentlichen Schritt nach oben getan haben mußte. Sie war ausgeschlossen davon. Er hatte sogar von einer Beunruhigung für sie gesprochen. Warum? „Rolf?“ Sie verstummte. In ihr Schweigen hinein kam Antwort
auf die Frage, die Gemma nicht gestellt hatte. „Ich wollte wirklich nicht am Telefon… das verstehst du doch. Wir müssen sehr vorsichtig sein, Gemma.“ „Wie meinst du das?“ Beunruhigt wechselte Gemma den Telefonhörer von einer Hand in die andere. Eine beklemmende Ahnung stieg in ihr auf. Rolf dämpfte die Stimme. Gemma gewann den Eindruck, er halte sogar eine Hand vor den Mund. „Gemma. Das weißt du doch.“ Er seufzte. „Das ist nun einmal nicht mit meinem Amt zu vereinbaren. Wir. Du und ich. Vielleicht sollten wir eine Zeitlang…“ Ein eisiges Gefühl in der Magengegend. Sie unterbrach ihn. „Meinst du das im Ernst?“ Rolf lenkte ab. „Nicht jetzt. Darüber reden wir, ja?“ In großer Bedrängnis rief sie in die Sprechmuschel: „Rolf! Das darfst du nicht tun!“ Er beschwichtigte. „Nein. Nur: Wenn etwas über uns herauskommt, ist es aus mit uns.“ Wollte er ihr damit drohen? Gemma fragte leise: „Aus mit uns?“ „Und aus mit mir!“ Diesen Satz stieß er heftiger hervor, als er vermutlich gewollt hatte. Gemma griff ihn zornig auf. „So! Stirbst du dann?“ Langsam begriff sie. Für Rolf hatte ein Aufstieg begonnen, bei dem sie ihm womöglich im Wege war. „Antworte!“ Er entgegnete gereizt: „Du weißt, was ich meine. Schon ein Verdacht darf nicht auf mich fallen.“
„Jaja! Das weiß ich, seit wir uns kennen. Warum legst du jetzt so gesteigerten Wert darauf? Je höher das Amt, um so verlogener die Moral? Oder was? Als einfacher Pope durftest du auch nicht mit einer anderen Frau, ich meine…“ Rolf zog Samt über seine Stimme. „Sieh mal. Das Vertrauen, das mir jetzt geschenkt wird, darf ich nicht enttäuschen, Gemma.“ „Und mein Vertrauen?“ rief sie aufgebracht. Er kam nicht aus dem Konzept. „Das ist doch etwas völlig anderes. Du mußt die Dinge auseinander halten lernen.“ „Lernen?“ „Ja, lernen. Ich lerne auch dazu. Verstehst du nicht, daß die Verantwortung, die ich mit dieser Leitungsfunktion nun einmal übernehmen muß…“ „Du mußt?“ Er seufzte ergeben. Sehr bescheiden: „Ja, Gemma. Bestimmte Fähigkeiten hat man, um zu dienen. Ich darf mich nicht entziehen, wenn ich gebraucht werde.“ Gemma, dem Weinen nahe: „Ich brauche dich!“ Rolf überlegte einen Augenblick. „Kannst du das wirklich nicht begreifen? Denk doch nicht immer nur an dich. Ich werd’ Verantwortung für viele haben, Seelsorger sein für andere Kollegen…“ Wieder fuhr Gemma ihm in die Parade. „Seelsorge! Du! Und meine Seele?“ Jetzt klang er scharf und kalt: „Denkst du denn immer nur an dich!“ Gemma schluckte aufsteigende Tränen hinunter. „Kannst du mir sagen, an wen du denkst?“ Ihre Stimme
zitterte. „Du denkst an einen einzigen Menschen bei allem, was du tust: an dich. Verantwortung sagst du - und gemeint ist Karriere, nicht wahr? Du faselst von Seelsorge für andere, du, Rolf! Verwechselst du das nicht mit Macht, mit Ehre… was weiß ich?“ Sie unterbrach sich selbst, die Stimme kippte ab. Rolf sagte nichts. Mit seinem geduldigen Schweigen setzte er Gemma ins Unrecht. „Warum sagst du nichts,“ rief sie außer sich. Er entgegnete sanft: „Wenn das deine Sicht der Lage ist, tut es mir leid.“ Sie hatte den Eindruck, er wolle auflegen. Rasch, um ihn daran zu hindern, fragte Gemma das Nächstliegende, das ihr einfiel. „Was sagt denn deine Frau dazu?“ „Freut sich.“ Die Antwort kam so prompt, daß Gemma sich auf die Lippe biß. Unversehens fiel ihr ein, was Ines von der Begegnung am Bahnhof erzählt hatte. Die Worte brachen aus ihr hervor. „Du scheinheiliger Familienvater, du. Ich kann dir gar nicht sagen…“ Sie hörte ihn bestürzt fragen: „Gemma?“ Sie weinte still vor sich hin. „Gemma, weinst du?“ In völliger Überschätzung ihrer Willensfreiheit legte Gemma den Hörer auf. Es reute sie sofort. Sie riß ihn ans Ohr, rief töricht Rolfs Namen. Eigenhändig hatte sie die Verbindung zu ihm unterbrochen. Gemma legte abermals auf und starrte verzweifelt das Telefon an. Wenn er nun
heut abend nicht kommen würde. Wenn er nie mehr kommen würde. Wenn sein neues Amt etwa einen Ortswechsel mit sich brachte: Warum hatte sie versäumt, ihn danach zu fragen? Sie kannte sich schlecht aus in den kirchlichen Rangordnungen. Jetzt bedauerte sie, nie recht zugehört zu haben, wenn Rolf darüber gesprochen hatte. Lustlos kramte Gemma das Faschingskostüm heraus, das Hardy für sie zurechtgemacht hatte. Die schwarze Haube hätte genügt zum Kappenfest. Sie probierte sie auf. Den Knoten mußte sie lösen, das Haar um den Kopf schlingen. Fremd kam Gemma sich vor, als sie sich im Spiegel erblickte. Die Filzkappe verdeckte die Stirn zur Hälfte, lag dicht um Schläfen und Wangen und schloß unterhalb der Ohren im Nacken ab. Auf diese Weise wirkte der Hals besonders nackt. Sie gefiel sich nicht. Doch Hardy hatte sie so gebeten, ihm die Freude zu machen. Gemma legte die hüftlange schwarze Jacke über eine Sessellehne und betrachtete die dazu passende schwarze Hose. Würde sie bügeln müssen. Außerdem mochte sie Hosen nicht. Wenigstens war sie schwarz, das würde ihr stehen. Übermorgen also. Narrenmonat. Gegen Abend hatte sich der Himmel bezogen. Graue Wolken trieben im Wind, der stoßweise durch Bäume fuhr, an den Fensterläden der einstmaligen Villa rüttelte, die jetzt Büroräume und die Dienstwohnung des Pfarrers Schubert beherbergte. Rolf Schubert hatte auf Regen gehofft. Das Auto stand frisch gewaschen in der Garage. Wenn er bei trockenen Straßen heut abend lediglich die Stadtfahrt machte, würde niemand ihm morgen die Überlandfahrt glauben.
Nicht, wenn er das Auto genauer betrachtete. Und das tat Sieglinde jedesmal, sobald sie selbst eine Stadtfahrt unternahm. Während des Abendbrots hatte er sie beiläufig gefragt, ob sie morgen den Wagen brauche. Sie wußte es noch nicht. Und so hatte er mißmutig sein überflüssiges Gepäck im Kofferraum verstaut, das er nicht brauchte und dennoch zu benutzen nicht vergessen durfte. Die sinnfälligen Betrugsobjekte eines streunenden Ehemanns: Pyjama, Seife, Handtücher. Es war kurz nach neunzehn Uhr und stockdunkel, als Rolf Schubert den Trabant startete und mit überhöhter Geschwindigkeit stadtauswärts fuhr. Doch sein Unbehagen vermochte er nicht aus den Knochen zu fahren. Es saß in ihm, es war um ihn, er spürte es auf der Haut wie prickelnden Ameisensaft. Seit er Gemma angerufen hatte. Er durfte sich die Freude nicht trüben lassen. Superintendent. Ein Schritt die Stufenleiter hinauf. Es gab noch einige Sprossen, die er zu erklimmen hoffte. Warum denn nicht, eines Tages. Was heißt Ehrgeiz, wenn ein Mann entsprechende Fähigkeiten besitzt. Rolf Schubert atmete tief ein, blies verächtlich die Luft durch die Nase. Ehrgeiz ist ein Wort für Neider. Wieder zwickte ihn der Gedanke an Gemma. Wie sollte er sich entziehen. Er hatte die Möglichkeit schon mehrfach erwogen, ohne es sich recht einzugestehen. Jetzt störte Gemma endgültig, und das lag nicht an ihm. Dieses Amt… Er schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Zum Kuckuck. Wie klar wäre alles ohne sie. Mit Sieglinde war auszukommen. Er würde zurückfinden zu ihr, ohne daß sie seine vorübergehende Abwesenheit bemerkt haben würde. Das bieder-
brave Ehebett würde genügen müssen, er hatte keine andere Wahl. Nur heute noch. Danach mußte er auf sexuelle Leidenschaft verzichten. Die Erinnerung an Gemmas ungezügelte Begierde, an hitzig miteinander genossene Umarmungen erregte ihn. Eben dies hatte er bei ihrer ersten Begegnung vor einem halben Jahr gespürt. Nur sein Körper hatte gesprochen. Die fremde Frau vor ihm mit dem dunkel saugenden Blick. Er hatte sie angeschaut, nichts zu sagen vermocht. Doch in Gedanken war er ihr sofort in haltloser Gier zwischen die Schenkel gestürzt. «. Rolf Schubert kurbelte das Fenster ein Stück hinunter. Abendkühle streifte sein erhitztes Gesicht. Er durfte nicht immer wieder den Kopf verlieren. Von nun an mußte er sich zusammennehmen. Der Preis war zu hoch. Seine erotischen Abenteuer konnten Kopf und Kragen kosten. Er schaltete herunter, der Wagen bog in einen Waldweg ein. Während Rolf Schubert überlegte, wie er seinen Hals herausbekommen sollte aus der Liebesschlinge, holperte das Auto durch einsames Waldgelände. Der Weg war uneben, schmal. Unvermittelt bog Rolf Schubert scharf in einen Seitenpfad, um zu wenden. Dabei prallte der Wagen vorn gegen einen Widerstand, den Rolf nicht gesehen hatte. Verblüfft registrierte er den Aufprall. Das durfte doch ihm nicht passieren. Er stieg aus, besah den Schaden. Rechts vorn war die Stoßstange eingedrückt, und die Nebelleuchte hing schief. Er war gegen einen Baumstumpf gefahren, der halbmeterhoch aus dem Waldboden ragte. Verärgert schob er sofort Gemma die Schuld zu. Ihretwegen war er unterwegs, mußte das Auto mit Schmutz
tarnen. Nun das! Bevor er einstieg, rauchte Rolf Schubert zur Beruhigung eine Zigarette. Dabei blickte er immer wieder auf die verbeulte Stoßstange. Ein geringfügiger Schaden. Und Sieglinde war gut in der Werkstatt bekannt. Er bückte sich, bog die Nebelleuchte zurecht. Unwillkürlich dachte er daran, daß er im neuen Amt einen anderen Dienstwagen fahren würde. Vermutlich einen Wartburg. Er rügte sich selbst für das flüchtige Lächeln, das er um die Lippen verspürte. Streng trat er mit dem Fuß seinen Zigarettenstummel aus. Er nahm feuchtes Laub in die Hand, rieb damit über die Radkappen. Widerlich, was er da tat. Geschah es nicht einzig Gemma zuliebe? Er schnellte aus der Hocke hoch, warf das Laub fort und rieb seine Hände aneinander sauber. Ans Steuer setzte er sich besonders achtsam. Selten hatte er so deutlich gemerkt, daß der Trabant zu klein für ihn war. Seine langen Beine vermochte er kaum unterzubringen. Er fuhr behutsam, auf jedes Kieselchen achtend, in die Stadt zurück. Er parkte den Wagen vor dem düsteren Abrißhaus, in dem Gemma wohnte. Bevor er ausstieg und sein Gepäck aus dem Kofferraum hob, glättete er sein vieldeutiges Gesicht. Er näherte es dem inneren Abbild an, das er von sich selbst, in der Rolle des zärtlichen Liebhabers, mit sich herumtrug. Verstohlen blickte er um sich, ehe er das Haus betrat. Niemand zu sehen. Ausgestorben lag die häßlich entstellte Straße mit den wenigen bewohnten Häusern, dem Abrißgelände rings um Gemmas Wohnhaus, da. Einige Bauwagen standen herum. Um das Nachbargrundstück war ein Lattenzaun aufgeschlagen, hinter dem Schuttberge des eingerissenen Hau-
ses sich türmten. Finster ragte der Arm eines Krans in den Nachthimmel. Rolf sah auf die Armbanduhr. Trotz des Mißgeschicks im Wald war er auf die Minute pünktlich. Es kam ihm seltsam vor, daß er erst eine halbe Stunde von zu Hause fort war. In der Zwischenzeit hatte er sich innerlich von Gemma befreit. Was hatte er hier noch zu suchen? Er zog den Kopf kaum merklich tiefer in den Mantelkragen und betrat das Haus. Schuldbewußt erinnerte er sich seiner glühenden Worte. Die sieben Monate über, seit er sie kannte, hatte er von Liebe gesprochen. Nein, er war nicht schuldig. Erst jetzt wußte er ja, daß es nicht gestimmt hatte. In seinem Gewissenskonflikt dachte er mit flüchtigem Bedauern an Sieglinde. Wie geborgen hätte er an diesem Abend bei ihr zu Haus sitzen können. Statt dessen zwang ihn diese Frau, diese zügellose Gemma… Er seufzte und drückte den Lichtknopf. Vergeblich. Auch der abermalige Knopfdruck blieb erfolglos. Verärgert tat er einen tastenden Schritt, als in unmittelbarer Nähe hämisches Gelächter aufbrach. Er hatte das Empfinden, es streife seine Haut. Erschreckt zuckte er zurück. Einen Augenblick stand er reglos. Dann zog er sein Gasfeuerzeug hervor und drehte das Rädchen. Im Schein der niedrigen Flamme erkannte er das runzlige Gesicht des alten Mannes, der ins Hinterhaus gehörte. Nachdem er im Mundwinkel des Mannes die erloschene Zigarre gesehen hatte, nahm er nun auch den Geruch von kaltem Rauch wahr. Der Alte stand mit dem Rücken zur Briefkastenreihe, die in Brusthöhe an der Wand hing. Grinsend starrte er Rolf Schubert ins Gesicht. „Was machen Sie denn hier“, stieß er verärgert hervor
und ging an dem Alten vorüber auf die Treppe zu, „Sie erschrecken einen ja.“ Während er tastend die Stufen suchte und hinaufging, hörte er die knarrende Stimme hinter sich höhnen: „Is wahr, erschrecken? Hier kommt niemand, Herr. Hier hat keiner was zu suchen, Herr. Jetz nich mehr.“ Rolfs Fuß trat auf eine Glasscherbe. Er hörte das schneidende Knirschen unter seinem Schuh. Der Alte lachte abermals. „Tropp, tropp, tropp. Futsch der schöne Schluck, Herr.“ Plötzlich begann der Alte zu singen: „Mein Liebchen trägt keine Hosen, schon seit dem ersten April…“ Der Gesang begleitete ihn bis hinauf vor ihre Tür.
4 Gemma war so erleichtert, als es zur vereinbarten Zeit kurz nach halb acht klingelte, daß sie ihn wortlos in die Wohnung zog und sich aufatmend an ihn lehnte. „Rolf. Gott sei Dank.“ Der große, schlanke Mann stand ein wenig hilflos. In einer Hand baumelte seine Reisetasche. Mit der anderen versuchte er, Gemma behutsam von sich fortzuschieben. Sie hatte beide Arme um ihn geschlungen, hinderte jede Bewegung. „Verzeih mir.“ Und als er nichts entgegnete: „Verzeihst du mir, Herr Superintendent?“ Er machte sich von Gemma los. Seinen aufkeimenden Unmut deckte er mit samtener Stimme zu. „Laß uns heut nicht davon reden. - Der Alte lungert im dunklen Treppenhaus herum.“ Er sprach den letzten Satz erstaunt aus, als müsse
Gemma ihm eine Frage beantworten. Als sei sie es, die ihm den alten Strolch zugemutet habe. „Der hat nichts anderes zu tun“, sagte sie und nahm ihm die Reisetasche aus der Hand, „mir ist er auch widerwärtig.“ Erst in diesem Augenblick fiel ihr der verschüttete Wein wieder ein. „Das Netz muß noch auf der Treppe liegen. Hast du es gesehen?“ „Sehen. Du bist gut. Im Haus brennt kein Licht.“ Sie schaute ihn vorwurfsvoll an. „So lange bist du nicht hiergewesen. Die Treppenbeleuchtung ist seit fast einer Woche entzwei. Ich hab’ heut nachmittag deinen Pinot zerteppert, Schatz. Der Alte hatte mich erschreckt.“ Rolf ließ seine schmalen, hellen Hände ins wellige Haar tauchen, als wolle er die vertrauliche Anrede unterpflügen. Es verursachte ihm Pein, Gemmas Ahnungslosigkeit unwidersprochen ansehen zu müssen. Erschreckend, wie er schon von ihr abgerückt war. „Und ich hab’ Riesendurst“, sagte er schnell, „ausgerechnet heute: riesigen Durst!“ Sie stand vor ihm, sah ihn an. „Dein neues Amt gefällt mir vorläufig gar nicht.“ Um ihre Mundwinkel bogen sich Schatten, die ein Lächeln ankündigten. „Du vergißt mich zu küssen, Herr Superintendent.“ Rolf unterdrückte eine heftige Entgegnung. „Gemma. Ich habe dich gebeten…“ Amüsiert sah sie ihn an. „Ist es dir plötzlich peinlich, zu Ehre und Ansehen zu gelangen?“ Rolf fuhr unbeherrscht mit der Hand durch die Luft. Fischte dann nach erstbester Ausrede, die ihm einfiel.
„Ich fühle mich verschwitzt. Darf ich baden?“ Sie ging vor ihm her, öffnete die Tür zum Bad. „Wünschen Herr Superintendent Pfirsich- oder Apfelblütenschaum?“ „Laß das!“ Er fuhr sie scharf an, Gemma runzelte die Stirn. „Diese Art von Scherzen mag ich nicht“, sagte er einlenkend. Gemma zog sich zurück und schloß die Tür zum Bad. Was war heut los mit ihm? Offenbar hatte sein neues Amt, auf das er sich zu freuen schien, ihn dennoch in Verwirrung gestürzt. Sie mußte unbedingt Wein besorgen, Rolf brauchte heut einen Schluck. Sie klinkte die Badezimmertür noch einmal auf, steckte den Kopf durch den Spalt. „Ich geh’ inzwischen zum Getränkestützpunkt, Wein besorgen.“ „Fein.“ Rolf war schon entkleidet und fror. Er drängte Gemma sanft zur Tür hinaus, schloß ab. Während Gemma ihre Lederjacke überzog und in die flachen Schuhe schlüpfte, klingelte das Telefon. Im selben Augenblick fiel ihr ein, daß der Getränke - Stützpunkt heut Ruhetag hatte. Blieb nur der Weg zur Theaterkantine. „Rolf?“ rief sie fragend. Das Wasser rauschte in die Wanne, das Telefon schrillte. „Rolf! Ich muß bis zum Theater!“ Sie bekam keine Antwort, offenbar hatte er nicht gehört. Ihre Worte waren im Wasserrauschen untergegangen. Einen Augenblick zögerte sie. Wenn es sich ungünstig traf, würde sie mit der Straßenbahn für Hin- und Rückfahrt zum Theater eine knappe Stunde brauchen. Das Telefon gab keine Ruhe. Ungeduldig hob Gemma
den Hörer ab. Es war Ines. „Du, ich bin auf dem Sprung,“ sagte sie fast als erstes. Und als Ines stumm einer Erklärung zu harren schien: „Ich muß noch etwas besorgen gehn.“ Die Frage, ob sie Besuch habe, klingt borstig. Und Gemma tut sie mit kleinem Lachen ab. Fragt noch, ob sie heimkomme zum Wochenende. Spürt selbst, daß sie die Tochter unbillig abspeist, kann nicht anders: Rolf ist bei ihr. Gemma legt auf nach flüchtig gemurmeltem Abschied. Nun hatte sie mit dem Telefonat zusätzlich Zeit vertan. Wenn sie Rolf fragen würde, ob sie sein Auto nehmen dürfe? Damit mußte er einverstanden sein. Dennoch war Gemma schon bei seinem Mantel, ihre Hände suchten die Taschen nach dem Autoschlüssel ab. Da war er. Vergewissernd rief sie: „Rolf? Darf ich…“ Sie lauschte. Nichts. Entschlossen nahm Gemma aus ihrer Handtasche Portemonnaie und Fahrerlaubnis. „Ich gehe!“ rief sie munter und klappte die Wohnungstür hinter sich zu. Ihre Hand zitterte vor Aufregung, als sie den Zündschlüssel ins Schloß schob. Ob sie einen ordentlichen Start zuwege bringen würde? Gemma lachte beglückt auf, als das kleine Auto anhopste und tuckernd mit ihr davonfuhr. Na bitte, sie konnte es noch. Gemma Weihmann ist nicht die einzige in der Stadt, die ihre Wohnungstür hinter sich zuschnappen hört und im Dunkeln noch einmal das Haus verläßt. Da gibt es Leute, die einen Abendspaziergang machen
und dabei schon einmal in die Straße geraten, die nächtens etwas unheimlich wirkt mit Bauwagen und Häuserruinen. Zumal sie in der Nachbarschaft wohnen und der Fortgang der Abrißarbeiten sie interessiert. Leute, denen die Schauspielerin nicht ganz gleichgültig ist, die dort noch wohnt. Deren Interesse jedoch unversehens stärker gefesselt wird von einem Geschehen, das sich in einer ausgestorben wirkenden dunklen Nebenstraße abspielt. Die trotz schwachen Augenlichtes allerlei wahrnehmen, während sie mit abgezirkelt genauen Schritten ihres Weges gehen - wie der Theaterinspizient Löber. Da gibt es Umgetriebene, die sich eine Enttäuschung aus dem Leib laufen müssen, weil eben dieser Tag eine Gewißheit gebracht hat. Die enttäuscht worden sind in einer Hoffnung, die sie nun begraben müssen. Wie Pfarrer Küchel, dem das Amt des Superintendenten angestanden hätte. Er weiß, daß er der Rechte gewesen wäre. Und sein untrügliches Gefühl für menschliche Aufrichtigkeit sagt ihm, daß Rolf Schubert der Falsche ist. Welch ein Fehlgriff. Merkt denn außer ihm niemand, daß Schubert ein Scharlatan ist. Er beißt sich auf die Lippe, schüttelt, ergrimmt über sich selbst, den Kopf. Das ist seine Sache nicht, den Amtsbruder mit Schmähworten zu bedenken. Was maßt er sich an, nach Ehre zu hungern. Geschrieben steht: Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre um deiner Gnade und Treue willen! Und doch denkt Pfarrer Küchel sorgenvoll daran, welchen Schaden der falsche Mann im Amte anzurichten vermag. Er selbst, er hätte niemals dieses Amt mißbraucht… Küchel schluckt an der Zurücksetzung bitterlich. Er stößt seinen Stock
gegen das Pflaster, daß es durch die dunkle Straße hallt. Der er der Kirche treu gedient hat, um viele Jahre länger und redlicher als Schubert, ihn hat man übergangen. Wieder verfällt er ins Rechten und ins Richten und zürnt sich dafür. Bei seiner stummen Anklage geht er rascher, als ihm dienlich ist, gerät in Straßen, die er kaum kennt. Bleibt atemschöpfend stehen, als eine dämonische Erscheinung vor ihm aufragt, wie jäh aus dem Boden geschossen. Kein Erzengel mit rächendem Schwert, aber doch Küchels düstergrübelnder Stimmung entsprechend. Ein Kran mit drohendem Galgenarm. Da gibt es Eilige, die mit dem Auto unterwegs sind. Gemma Weihmann zur Theaterkantine, um Wein zu besorgen, hätte unter anderen Voraussetzungen Hardy Jäger treffen können, der mit seinem Wagen zur Vorstellung fahren muß. Aber weil sie kurz zuvor am Telefon die Tochter abgewimmelt hat, ist Hardy zunächst in Richtung Bahnhof unterwegs. Ines soll nicht vergeblich auf seinen Beistand gehofft haben. Und so ziehen beide Fahrzeuge ihre Bahnen durch die abendliche Stadt, und die Stelle, an der beider Spuren sich ungesehen kreuzen, unbemerkt voneinander, ist nichts als ein verhängnisvoller Zufallsort. Da gibt es verwahrloste Penner wie den alten Zigarrenraucher aus dem Hinterhaus, die dem lieben Gott auch noch die Nächte stehlen müssen. Die lungern und herumtappen nach einer faden Spitzbüberei, sei sie noch so klein. Und da gibt es einen Menschen, der sich’s nicht träumen lassen wird, daß am nächsten Tag eine Zeitungsnotiz ihn als Unbekannten erwähnen wird. Daß man Zeugen suchen wird für seinen Tod. Ahnte er auch nur
das Geringste: Er hätte seine Reise nicht ausgerechnet in dieser Stadt unterbrochen, als er im Zug den Verlust seiner Brieftasche bemerkte. Oder er hätte sich sofort zum nächsten Polizeirevier begeben und gemeldet, daß sein Personalausweis verschwunden sei. Auf gar keinen Fall aber hätte er sich verleiten lassen, überstürzt den Zug zu verlassen und in der ersten Kneipe, die er fand, einen Schreckschluck zu trinken. Mehrere Schlucke, bis der Schrecken gedämpft war. Als er sich dann schließlich auf den Weg machte, zur Polizei zu finden, war es zu spät für diesen Mann. Er hatte das Pech, in einer dunklen Straße zu stolpern und dabei zu taumeln. Er war schon auf den Knien, als das Auto auf ihn zukam. Warum trat die Frau nicht auf die Bremse, sah sie ihn denn nicht? Ihm war, als erblicke er aufgerissene erschreckte Augen. Als er tot aufgefunden wurde, war er ein Unbekannter. Gegen zwanzig Uhr betrat Gemma die Theaterkantine. Die Vorstellung hatte eben begonnen. An einem Tisch saß Dr. Wendland, der offenbar mit Hardy gekommen war. Gemma winkte ihm zu, „Ist Hardy in der Maske?“ Richard Wendland erwiderte ihr Winken. „Hallo. Hardy ist noch gar nicht im Haus.“ Während Gemma bei der Kantinenwirtin den Wein bezahlte und sich die Flasche durch die Ausschankluke reichen ließ, sagte sie: „Stimmt. Hardy ist ja erst im zweiten Akt dran.“ Richard kam zum Ausschank. „Trotzdem“, sagte er, „ich bin etwas unruhig. Ist gar nicht seine Art. Er müßte schon hier sein.“
Gemma lachte. „Keine Sorge, er kommt schon. Tschüs, ich werde erwartet!“ So unvermittelt kommt der Sturz in den Abgrund. Nichts, gar nichts hatte sie gesehen. Es durfte einfach nicht möglich sein, das Entsetzliche. Zwar war die Nebenstraße unbeleuchtet, aber sie hatte doch die Scheinwerfer an. Sie war nicht unvorsichtig gefahren. Wo hatte sie ihre Augen gehabt, wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen. Der dumpfe Anprall versetzte sie in jähen Schrecken. Obwohl sie noch keine geübte Fahrerin war, wußte Gemma augenblicks: vorn rechts. Sie trat sofort die Bremse, wurde geworfen, als das Auto abrupt stillstand. Noch immer nahm sie den Fuß nicht vom Bremspedal. Um Himmels willen, das fremde Auto. Rolfs Auto, das sie unerlaubt benutzt hatte. Wenn sie es in Klump gefahren hatte. Die Knie waren Gemma weich, als sie die Tür beim Fahrersitz öffnete und ausstieg. Hastig trat sie vor die Motorhaube, prüfte mit einem einzigen raschen Blick. Die Stoßstange. Die schiefbaumelnde Nebelleuchte. Sie stöhnte vor Pein, als sie den Schaden sah. Sie kauerte nieder und versuchte mit fliegenden Händen, die Leuchte zurechtzubiegen. Aus den Augenwinkeln nahm sie etwas wahr, das störte. Schon bevor sie hinsah, ahnte sie etwas vom Ausmaß des Schrecklichen. In Wahrheit hatte sie die schlaffe Hand schon erblickt und sich nur geweigert, einen Zusammenhang herzustellen zwischen jener Menschenhand auf dem Straßenpflaster und sich selbst. Immer noch vor dem Auto hockend, sah Gemma den ange-
winkelten Arm, der zu der Hand gehörte. Entsetzt starrte sie dem Mann, der dort auf der Straße lag, in sein nach oben gekehrtes Gesicht. Die geöffneten Augen schienen ihr angestrengt zuzusehen. Sie waren leicht schielend in ihre Blickrichtung gedreht. Es war, als suche der Mann nach Worten, mit denen er sie ansprechen könne. Gemma spürte an zwei Stellen ihres Körpers, wie Grauen nach ihr griff. Beide Kniescheiben überzog eisige Kälte. Sie hatte es sofort gesehen: Der Mann war tot. Sie richtete sich auf, ohne den Toten aus den Augen zu lassen. Das Knacken ihrer Kniegelenke ließ sie zusammenfahren. Und der nächste Augenblick, da sie sich gehetzt in der Straße umsah und keinen Menschen entdeckte, entschied über ihr Tun. In panischer Hast lief sie um das Auto herum, stieg ein, schlug die Tür zu, startete. Der Motor sprang an. Der Wagen fuhr seines Weges, als sei nichts geschehen. Sie parkte den Wagen an derselben Stelle, wo zuvor Rolf ihn abgestellt hatte. Nur erst im Haus sein, von der gefährlichen Straße weg. Ungeordnete Gedanken schössen Gemma durch den Kopf, während sie durch die Frontscheibe des Autos ihre Blicke über die dunkle Hausfassade irren ließ. Rolf ins Vertrauen ziehen? Nein. Sie war sich seiner so wenig sicher. Keinen Mitwisser haben. Aber das defekte Auto würde sie verraten. Lügen. Schnell eine Lüge erfinden. Nichts fiel ihr ein. Der aberwitzige Gedanke au Flucht jagte sie auf, daß sie unkontrolliert zur Wagentür griff. Wohin denn, sie konnte nicht fliehen. Alle Kraft aufbieten, sich nichts anmerken zu lassen. Gemma legte sich die Weinflasche in den Arm, hielt sie beim Aussteigen krampfhaft an sich gepreßt.
Niemand zu sehen. Sie schloß den Wagen ab, ging langsam auf das Haus zu. Plötzlich trieben einsetzende Schritte hinter dem Bauzaun sie voran. Sie hörte, wie ein Stock aufs Pflaster gestoßen wurde. Als sie die Haustür hinter sich zuwarf, erhaschte sie durch den sich schließenden Türspalt noch den Anblick des geschwungenen Stöckchens. Den Menschen, der im nächsten Augenblick hinter dem Bauzaun hervortrat, konnte sie nicht mehr sehen. Die Tür hatte sich geschlossen. Sie war beobachtet worden, als sie aus dem Auto gestiegen war. Hinter dem Zaun mußte er auf der Lauer gelegen haben. Seit wann - von welchem Augenblick an? Wer? Konnte jemand, der sie in der Nebenstraße hatte vor dem Auto kauern sehen, jetzt hier zur Stelle sein? Das war durchaus möglich, wenn er gerannt wäre. War das eben nicht Hardys Stöckchen gewesen? Gemma tastete sich im dunklen Treppenhaus die Stufen hinauf. Was sie während der letzten Minuten erlebt hatte, war unwirklich. Und doch hob sich ihr der Magen. Ein Strom kalter Zugluft kam mit der heftig aufgestoßenen Haustür herein. Gemma klammerte sich an die Weinflasche. Die Tür klappte zu, Schritte schlurrten. Zigarrengeruch stieg auf. Der Alte ging durch den Hausflur, trat in den Hof hinaus, trottete dem Eingang des Hinterhauses entgegen. Sein Streifzug hatte magere Beute gebracht. Er mußte in seiner Höhle erst bei Licht besehen, ob das Dingelchen irgendeinen Wert für ihn haben konnte. Die Hinterhaustür schnappte lasch hinter ihm zu. Flüsternd bewegte Gemma die Lippen. „Er war noch nicht im Theater.“ Sie schloß die Wohnungstür so geräuschlos auf, wie es
ihr möglich war. Den Autoschlüssel steckte sie, nachdem sie im dunklen Korridor Rolfs Mantel ertastet hatte, in eine seiner Taschen. Dann erst machte sie Licht. Sein Zuruf kam aus dem Wohnzimmer. „Halb neun durch! Du warst lange weg.“ Rolf saß wartend im Sessel und rauchte. Gemma, leichthin: „Ja. Ich mußte bis zur Theaterkantine.“ Rolf schien nicht erstaunt. Er entkorkte die Weinflasche, stieß mit Gemma an. Als er ihre bebende Hand sah, griff er danach. „Eiskalt. Was hast du?“ Gemma entzog ihm die Hand. „Es ist November“, sagte sie heftig. Rolf schüttelte den Kopf. „Dir ist doch was.“ Je gewaltsamer Gemma sich zusammennehmen wollte, um so mehr verlor sie die Beherrschung über sich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, hielt sich mit beiden Händen an den eigenen Schultern fest. Ihre Zähne schlugen aufeinander. „Hast du dich erkältet?“ Er legte eine Hand an ihre Stirn. „Fieber hast du nicht“, sagte er befremdet, während er den kalten Schweiß, der Gemmas Stirn überzogen hatte, von seiner Hand wischte. Ahnte sie etwas von seiner Absicht, sich von ihr zu trennen? Das Verlangen, augenblicks ihre Wohnung zu verlassen und sich damit allen Verwicklungen zu entziehen, war stark. Gemma hatte die Geste verstohlenen Ekels verfolgt, mit der er seine Hand am Hosenbein abgewischt hatte. „Was soll sein“, stieß sie hervor. „Der Alte schleicht wieder im Haus herum. Mich macht das alles nervös!“ Sie kehrte sich ab. „Alles“ hätte sie vielleicht nicht sagen dürfen. Das Wort hatte einen verdächtigen Nachklang in
ihren Ohren. „Ich meine“, murmelte sie hastig, „das dunkle Haus. Die Kälte. Dieser ganze November. Der Regen!“ Aber es regnete gar nicht. Sie lauerte, ob Rolf stutzen würde. Da fragte er: „Hast du Hardy getroffen?“ Sie fuhr wild herum. „Was willst du damit sagen?“ Verwirrt blickte er in ihre weitgeöffneten Augen. „Was hast du nur.“ Sie versuchte, ihre unbeherrschte Frage zurückzunehmen. Und spürte selbst, wie kläglich das mißlang. „Ich meine nur. Wie kommst du denn auf Hardy. Der ist im Theater. Er hat Vorstellung.“ In ihr Gestammel hinein seine Worte: „Na eben.“ Gemma horchte auf. Klang das nicht hinterhältig? Was verbarg er vor ihr? Ihre Gedanken sprangen durcheinander. Fragte er nach Hardy, weil er ihn vom Fenster aus unten gesehen hatte? War Hardy etwa hiergewesen, hatte mit Rolf gesprochen - während sie unterwegs gewesen war? Gemma schluckte trocken hinunter. Im Theater war er nicht gewesen. Wo sonst? Ihr Herzschlag wurde hart und schnell. Hardy hatte ihre Rückkehr hinter dem Bauzaun belauert. Mit eigenen Augen hatte sie jenes Stöckchen gesehen. „War - war jemand hier?“ fragte sie atemlos. Sie lauschte angespannt. Als Rolf sie berühren wollte, zuckte sie zurück. „Antworte!“ In ihren Augen glomm kaltes Feuer. Wozu würde diese Frau fähig sein. Beunruhigt dachte er wieder an seinen Rückzug. Er räusperte sich, sagte leicht: „Niemand war hier. Was hast du nur, du bist ja ganz verstört.“ Unvermittelt brach sie in Schluchzen aus. Sie warf sich an seine Brust, umklammerte schutzsuchend seinen Hals.
„Immer bin ich allein. Nie bist du da, ich halte das nicht mehr aus! Was soll nur werden…“ Ihre Worte erstickten im Weinen. Betreten lauschte er diesem Ausbruch, dem er sich so gern entzogen hätte. „Ich bin doch da“, sagte er trocken und löste ihre Hände von seinem Nacken. Sie fortschiebend, legte er ihr leicht eine Hand aufs Haar. Gemma fuhr auf. „Segne mich nicht!“ schrie sie ihn an. „Du - du Pope!“ Und gleich darauf: „Verzeih mir. Was mach’ ich nur.“ Rolf nahm sich zusammen, seinen Unmut zu verbergen. „Du nimmst jetzt ein Beruhigungsmittel“, sagte er energisch, „und keinen Widerspruch.“ Sie nickte stumm. Als er zur Zimmertür ging, fragte sie ängstlich: „Wohin gehst du?“ „Die Tabletten sind im Auto.“ Ihr Gesicht war fahl geworden. „Nicht zum Auto“, flüsterte sie. In ihren aufgerissenen Augen stand Furcht. „Aber Gemma. Ich bin sofort wieder bei dir.“ Er redete beruhigend auf sie ein, obwohl sie ihm Angst einflößte. Welch fremdartige Frau. Er mußte es beim ersten Blick gespürt haben, sonst wäre er nicht so tief erschrocken im vergangenen Mai. Was an verfänglicher Lust in ihm aufgeflammt war, war dem nicht von Anfang an ein leises Grauen beigemischt gewesen? Wie einem Tier sich das Fell sträubt, wenn es unbekannte Gefahr wittert. Rolf Schubert betrachtete das Wesen, das da vor ihm stand, voll ablehnenden Staunens. Maßlos war sie. Maßlos in allem. In ihrer Schönheit, in ihrer Leidenschaft, in ihrer hündischen Anhänglichkeit. Auch in ihrem Anspruch auf Dauer würde sie maßlos sein. Dauer ihrer Beziehung zu ihm. Sein Magen zog sich flau zusammen.
„Ich gehe die Tabletten holen“, sagte er kühl. Sein Tonfall irritierte sie. Gemma entgegnete nichts. Wortlos folgte sie ihm in den Korridor, sah bei der Schlüsselsuche zu. Zielsicher griff Rolf in die linke Manteltasche. Seine Finger tasteten. Verblüfft murmelte er: „Versteh’ ich nicht.“ Er klopfte die rechte Manteltasche ab. Erfolglos. „Das kann doch nicht sein“, sagte er zu sich selbst, während er in den Innentaschen suchte. Doch. Unversehens hielt er den Autoschlüssel in der Hand. Er warf einen ärgerlichen Seitenblick auf Gemma. Derart durcheinander brachte sie ihn, daß er seine Siebensachen verlegte. Kopflos machte sie ihn. Was schaute sie ihm so entgeistert zu? „Kommt vor“, sagte er achselzuckend und klinkte die Wohnungstür auf. „Hast du eine Taschenlampe?“ Er leuchtete sich die Treppen hinab. Unter der Haustür schorrte ein Stein, als er sie öffnete. Er stocherte ihn mit der Schuhspitze zur Seite. Im Taschenlampenstrahl betrachtete er nochmals den Schaden am Auto. Es hätte schlimmer ausgehen können. „Dumme Geschichte“, sagte er zu Gemma, als er wieder oben war, „hast du dir vorhin das Auto angesehen?“ Ihr stockte der Atem. „Wieso?“ , „Ich bin heut gegen einen Baumstumpf gefahren. Rechts vorn. Stoßstange und Nebelleuchte hat’s erwischt.“ Er gab ihr zwei Tabletten in den Handteller. Sie blickte ihn derart entgeistert an, daß er lachen mußte. „Nimm nur. Ich vergifte dich nicht.“ Im Laufe des Abends ließ Gemma sich mehrfach von Rolf erzählen, wie er im Wald gegen den Baumstumpf
gefahren war. Sobald seine Versionen in der Wortwahl geringfügig voneinander abwichen, reagierte Gemma ungnädig wie ein Kind, das sein Märchen wortwörtlich zu hören verlangt. Schließlich wurde er ärgerlich. „Vielleicht weißt du besser, wie es war.“ Da warf sie den Kopf zurück und lachte. Er hätte sie nach den Tabletten nicht vom Wein trinken lassen dürfen. Die Nacht war höllisch. Und er schwor sich, daß es die letzte mit ihr sein würde. Gemma raste, als wolle sie ihn mit Haut und Haar verschlingen.
5 Die Nervosität im Theater nahm zu. Papa Busch, der diensthabend in seiner Pförtnerloge saß und den Bühneneingang nicht aus den Augen ließ, wurde wiederholt nach Hardy Jäger gefragt. „Noch nicht im Haus“, sagte er eisern und unbestechlich. Am Inspizientenpult stand heute abend Hanne, die Berlinerin mit der frechen Schnauze. Löber hatte frei. Hanne schaltete die Rufanlage ein. Über den Lautsprecher, den Richard Wendland in der Kantine hören konnte, rief sie gedämpft: „Hardy, du bist gleich dran, Mensch. Wülste dein Ufftritt verpassen – oder wat? Los, los, ‘n bißken hoppla zur Bühne, Junge!“ Dr. Wendland drückte seine Zigarette aus. Er leerte in Eile sein Glas und verließ die Kantine. Als er zur Pförtnerloge trat, fand er ein Grüppchen beunruhigter Theaterleute vor. Der Maskenbildner, über dessen Augen schon ein verdächtig glasiger Glanz lag, sagte mit schleppender Stimme: „Der Hardy. Nein, der Hardy nun auch.“ „Das möchtest du wohl“, fuhr Berti ihn an, indem sie
erregt das wuschelgraue Haar zurückstreichen wollte, statt dessen aber gegen die Mütze stieß, die sie aufgestülpt trug. „Ich sag’ euch, der schafft es noch.“ Beifallheischend suchte sie den Blick des jungen Regisseurs, der vor der Pförtnerloge erregt auf und ab lief. Berti hatte Hardys Kostüm bei sich. Über einer Schulter hingen Hose und Krawatte, auf dem Kopf saß die Mütze, die Hardy Jäger für seine Rolle brauchte. „Was hat er heute für ein Hemd an?“ fragte sie Dr. Wendland, als er zu der Gruppe stieß. „Vielleicht kann er’s gleich anbehalten.“ Richard Wendland schüttelte vage den Kopf. „Keine Ahnung. Vermutlich seine Lederjacke. Und Pullover.“ Berti zirpte schmerzlich: „Pullover! So ein Pech.“ Wollte schon auf und davon, besann sich jedoch, kam zurück. „Dann spielt er eben im Pullover“, sagte sie resolut. Und als habe jemand ihre Entscheidung angegriffen: „Der spielt im falschen Kostüm noch zehnmal besser als andere im richtigen.“ Sie heftete ihre Blicke auf die Eingangstür. „Sobald er kommt, bindet einer ihm die Schuhe auf. Hosen ‘runter. Ich halte ihm die hier bereit, er steigt ein, Bart dran…“ Empört funkelte Berti den Maskenbildner an. „Wo ist Hardys Bart, verdammt noch mal? Statt hier WodkaReden zu schwingen, solltest du…“ Der Maskenbildner warf Berti einen mitleidigen Blick zu und feixte. Dennoch trottete er los, um den Bart und Mastix zum Kleben zu holen. „Ja, ja“, sagte er in seinem schleppenden Tonfall, „den Bart, du alte Hexe.“ Berti verzog den Mund. Ein angedeutetes Lachen, das
dem Davongehenden zu verstehen gab, daß sie zufrieden sei. „Wenn der mir den zweiten Akt versaut!“ Der Regisseur unterbrach seine Wanderung, holte tief Luft. Er wollte eben ansetzen zu Erläuterungen, sein verkniffener Mund arbeitete an Worten. In der Pförtnerloge klingelte das Telefon. Die Umstehenden erstarrten. Unbeirrt nahm Papa Busch den Hörer ab, meldete sich förmlich mit Theater und Rufnummer. Lauschte, ohne einen Blick für die anderen zu haben. „Moment.“ Er legte den Hörer ab, kam aus seinem Kabuff, ging zur Anschlagtafel, die der Pförtnerloge gegenüber an der Wand hing, studierte den Probenplan für den morgigen Tag. Gemessenen Schrittes nahm er den Rückweg, hob den Hörer ans Ohr, sagte: „Einzug ins Schloß. Sie nicht.“ Er legte auf. Aller Augen fragten: Na? Papa Busch ließ sich herbei: „Frau Rhein wollte wissen, ob sie morgen Probe hat.“ In das empörte Stöhnen seiner Zuhörer hinein meldete Hanne über den Lautsprecher: „Prima, Hardy. Hastet jeschafft. Eben fällt dein Stichwort det zweete Mal. Kommste noch, oder haste wat Beßret vor? Tempo. Menschenskind, wat is denn los!“ Und nach kurzer Pause: „Abendspielleiter sofort zur Bühne! Wie soll denn der Zirkus hier weiterloofen, Mensch?“ Der Maskenbildner trottete an. Offenbar hatte er in der Maskenbildnerei einen heimlichen Schluck genommen. „Der Bart ist da“, sagte er zufrieden. „Aber Hardy nicht!“ Bertis Augen glimmerten unter Tränen. Ausgerechnet ihr Hardy. Das paßte überhaupt nicht zu ihm. „Kommen
wird er schon“, milderte sie ihre frühere Behauptung kleinlaut ab. Und da war er. Die Tür des Bühneneingangs wurde aufgerissen, Hardy stürzte herein. Er mußte gerannt sein, er atmete hechelnd. Seine Blicke irrten über die Menschen im Vorraum, verweilten einen Moment hilfesuchend auf Richard Wendlands Gesicht. Er las Ablehnung. „Weißt du, wie spät es ist?“ fragte Dr. Wendland, während Berti und der Maskenbildner sich um Hardy bemühten. Der Regisseur kniete, schnürte Hardy die Schuhe auf. Irr und wirr und wortlos schüttelte Hardy den Kopf. „Es ist ungefähr zwei Minuten nach deinem Auftritt“, sagte Richard Wendland. Als er sah, wie Hardy zusammenfiel unter dieser Nachricht, spürte er das Bedürfnis, ihm tröstend die Hand zu reichen. Aber scheu vor den anderen, unterließ er es. Er kehrte sich ab. Hardy war dem Weinen nahe. Verstört blickte er zur Normaluhr über der Pförtnerloge auf. Wirklich, es war schon nach halb neun. Doch was sagte das, was bedeutete es noch. Er hatte seinen Auftritt verpaßt. Ihm war übel. Ihm war so übel, daß er ein Verlangen nach Schnaps spürte. Zum ersten Mal seit Jahren sprang dieser Wunsch ihn an. Die Vorstellung, ein Glas an die Lippen zu setzen, das scharfe Brennen die Kehle hinab zu genießen, die Helligkeit, die danach in ihm entstehen würde, packte ihn wie ein gewalttätiger Feind. Bedrängt kehrte sein Blick sich Berti zu, als sie ihm die Mütze auf den Kopf drückte. „Schnell zur Bühne“, sagte sie. Und als Hardys Blick sie nicht loslassen wollte: „Kann doch passieren.“
Er ließ sich von Berti zur Bühne schieben. Der Regisseur hastete hinter ihnen drein, gab Hardy fuchtelnd irgendwelche Zeichen. Er verstand nicht. Was wollte der von ihm. In seinem Kopf war es leer, leer. Wenn er einen Schluck zu trinken bekäme, könnte er sich auf seine Rolle besinnen. Er mußte hinaus auf die Bühne, sofort, sobald eine geeignete Textstelle seinen Auftritt zulassen würde. Doch was sollte er dort? Er erinnerte sich keines einzigen Wortes, das er zu sprechen hatte. „Mein Text“, flüsterte er, „ich weiß den Text nicht.“ Der Regisseur stand neben ihm in der Null-Gasse. Er packte Hardy am Arm, redete hastig auf ihn ein. Ein Satz fand Halt in Hardys Gedanken, eine Wortkette. Sein Rollentext. Mühelos spulten die folgenden Passagen sich ab, er atmete auf. Wenigstens das. „Jetzt“, sagte der Regisseur und gab Hardy einen Klaps auf den Oberarm. Hardy trat strahlend ins Scheinwerferlicht hinaus. Keck riß er die Mütze vom Kopf, sprach seinen ersten Satz, der dem Publikum ein Lachen entriß. Hardy lächelte hinreißend, fügte sich mit tänzerischer Leichtigkeit ins Spiel. Berti trug seine Lederjacke, die sie seit dem hektischen Umzug vor der Pförtnerloge noch immer im Arm hielt, in die Herrengarderobe. Auf dem Rückweg zur Bühne fing Richard Wendland sie ab. „Hat er gesagt, was los war?“ fragte er leise. „Kein Wort.“ Dr. Wendland nahm die Brille ab, strich mit Daumen und Zeigefinger bedächtig über sein Nasenbein. „Unser Wagen steht nicht draußen“, sagte er, „vielleicht hat Hardy eine Panne gehabt.“
Berti stutzte. Eben hatte sie doch vom Fenster der Herrengarderobe aus den hellen Dacia stehen sehen. „Doch“, sagte sie, „der Wagen ist hier. Hab’ ihn eben von Hardys Garderobenfenster aus…“ Dr. Wendland stülpte sich die Brille ins Gesicht. Mit einem ungläubigen kleinen Lächeln unterbrach er Berti. „Das kann kaum sein. Auf dieser Straßenseite ist Parkverbot.“ Berti nahm ihn mit in die Herrengarderobe, deutete zum Fenster hinaus. „Bitte.“ Verdattert blickte sie zur Straße hinunter. Weit und breit kein Auto zu sehen. „Na so was“, sagte sie verlegen, „da muß ich mich verguckt haben.“ Pfarrer Küchel stapfte wohl schon eine halbe Stunde in der Stadt herum. Sein Stöckchen klopfte das Pflaster. Sobald er an die Kränkung dachte, die ihm zugefügt worden war, überflutete ihn erneut eine Welle grimmiger Trauer. So also schätzte man ihn. So also entlohnte man ehrlich abgediente Jahre. Freilich war er kein Schöngesicht wie dieser Schubert. Keiner, der Haare flattern ließ und mit der Stimme balancierte. Es half ihm nicht in seinem Zorn, daß er sich die Worte des Propheten Jeremia ins Gedächtnis rief: Du, o Herr, kennst mich, du prüfst, wie mein Herz zu dir steht. Nein, es half ihm nicht aus seiner Schwäche auf. Küchel stöhnte leise unter der Wucht der Ungerechtigkeit. Wie man die Sache auch drehen und wenden mochte: Er war ein Betrogener. War gedemütigt. Der redliche Mann gestand sich ein, daß seine Gemütsaufwallung beschämend sei. Nur dem alten, dem zornigen Gott schenkte er heute Gehör, dem Gott, der noch nicht versöhnt war
mit dem sündigen Menschengeschlecht. Der finster zu fordern wußte: Auge um Auge, Zahn um Zahn! So hatte Küchel sich seit Jahren nicht gehenlassen, nicht einmal in Gedanken. Er war neidisch. Einen eifersüchtigen Popanz hatte man aus ihm gemacht. In seiner Kehle stieg Tränengeschmack hoch, der ihn die Lippen fest aufeinanderpressen ließ. Er kannte sich ja nicht wieder! Benommen verhielt er den Schritt, blickte um sich. Da stand das drohende Abbild seiner Gedanken vor ihm, ragte düster gen Himmel. Der gewaltige Arm - Küchel gestand es sich schuldbewußt ein: Mit solch rächendem Arm wäre er gern den Pharisäern zu Leibe gerückt, die sich in ihren Kirchenämtern verschanzt hielten. Wie eifrig seine Gedanken im dritten Buch Moses Zustimmung suchten! Alles, was auf dem Bauche kriecht, und alles, was auf vieren geht… sie sind ein Greuel. – Küchel ließ sich hinreißen, gewiß, er ging zu weit… Jaaa! Er atmete tief aus, nachdem er sich solche Gedanken gestattet hatte. In der Hitze des stummen Rachefeldzugs hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. Erschöpft lehnte er sich an die Latten des Bauzaunes, hinter dem der Kran ragte. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, mit dem Taschentuch die Stirn zu trocknen. Dabei bekam er die Konzertkarte zu fassen. Er würde es schwerlich wagen, sich morgen abend im Kirchenkonzert zu zeigen. All die Blicke der Kirchenleute auf sich gerichtet. Küchel, ein geschlagener Mann, der Trost bei der Musik suchen ging. Eben wollte er weitergehen, als ein Auto in die einsame Straße bog. Es verlangsamte seine Fahrt, scherte unmittelbar neben dem Baugelände ein. Küchel zuckte zurück. Undenkbar. Das war Schuberts Dienstwagen. Er mußte
sich geirrt haben. Küchel drückte sich an den Bauzaun und wartete. Was tat Schubert in dieser Gegend? Der Wagen hielt vor einem Abrißhaus. Machte Schubert hier Besuche? In halber Nacht? Da tat der Schlag sich auf, eine Frau stieg aus. Küchel sah sie die Wagentür abschließen und ins Haus gehen. Noch bevor die Haustür zuschnappte, schlüpfte er behende hervor, um sich zu vergewissern. Er las die Nummer. Es war Schuberts Wagen. Verdonnert betrachtete Pfarrer Küchel das bekannte Auto, aus dem eine fremde Frau gestiegen war. Dann glitt sein Blick an der Hausfront aufwärts. Hier wohnte niemand mehr. Doch. In einer Wohnung brannte Licht. Ein Kerl kam angeschlurft. Er warf Küchel einen undefinierbaren Blick zu und verschwand in dem Haus, das eben die Frau betreten hatte. Merkwürdig. Küchel wußte nicht, warum eine undeutliche Hoffnung in ihm aufkam. Er trat zurück und blickte zu der erleuchteten Wohnung hinauf. Er wartete. Es dauerte ein Weilchen. Doch was er schließlich zu sehen bekam, verschlug ihm den Atem. Waren die Menschen dort oben verrückt, daß sie die Fenstervorhänge nicht zuzogen? Küchel erblickte einen Mann, der Schuberts Haar hatte und von Schuberts Größe war. Und er sah die Frau, die kurz zuvor aus Schuberts Auto gestiegen war. Und diese Frau legte ihre Arme um Schuberts Hals und ihren Kopf an Schuberts Brust. Und Schubert antwortete in eindeutiger Weise. Er streichelte den Kopf der Frau. „Donner und Doria!“ Küchel stieß federnd das Stöckchen zu Boden. Wenn das da oben wenn er das… aber wie? Auge um Auge, Bruder Schu-
bert. Hast du mich getreten, trete ich nun dich. Pfarrer Küchel wurde es flau im Magen. Die Kränkung saß tief genug. Dennoch, für eine Niedertracht solchen Ausmaßes war er nicht geschaffen. Sogleich begann sein geradliniges Wesen herumzuhadern, Ausflüchte zu suchen. Wie sollte er imstande sein, die Intrige anzuzetteln. Küchel blickte noch immer zum Fenster hinauf. Aber die beiden waren nicht mehr zu sehen. Er tickte mit seinem Stöckchen heimwärts. Nun, er würde morgen das Konzert doch besuchen. Gleichgültig, was für Wetter. Wenn er einen freien Abend hatte, verstand sich für Lothar Löber ein Abendspaziergang von selbst. In seinem knarrenden Kunstledermantel, den Hals schallos, doch mit ordentlich geknoteter Krawatte versehen, machte Lothar Löber sich Punkt 20 Uhr auf den abendlichen Weg. Er genoß es, daß zu genau dieser Minute im Theater der Vorhang aufzugehen hatte. Ohne ihn. Unverrückbar hatte er frei. Wer weiß, wie die Vorstellung laufen würde. Diese Hanne war nicht die Zuverlässigste. Auf der Straße rieb Löber seine langen, trockenen Finger aneinander warm und schob sie in die Manteltaschen. Er faßte Tritt. Selbstverständlich war er brillenlos unterwegs. Hier in der Drehe kannte man ihn, da sollte man nicht meinen, er sei kurzsichtig oder sonst irgend augengeschädigt. Es würde, so meinte er, keine günstige Auskunft über sein Alter geben. Er ging auf die Fünfzig zu und hatte noch immer keine Frau finden können. Das wurmte ihn. Und er verstand es nicht. Daß er lang herausgewachsene, braun verfärbte Zähne hatte und auf-
grund seiner Füße einen etwas eigenartigen Gang, konnten doch keine Begründungen dafür sein. Ansonsten sah er ganz passabel aus. Er grübelte, während er durch den Novemberabend spazierte, wieder einmal darüber nach. Außer den Augen, die sich ein bißchen weit aus ihren Höhlen wölbten, war nichts Auffälliges an ihm. Löber fand, er sähe so aus, daß man ihn überhaupt nicht beschreiben könne. So unscheinbar normal. Nicht einmal per Zeitungsannonce war er zu ein wenig Liebesglück gekommen. Dumme Welt. Seine Überlegungen liefen jeweils darauf hinaus, daß er einen bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben verpaßt haben mußte. Aber wann das gewesen war - und womit er anderweitig beschäftigt gewesen war: Er kam nicht dahinter, so häufig er auch darüber nachsinnen mochte. Er wollte nicht nach den Sternen greifen. Dennoch dachte Lothar Löber manchmal an Gemma Weihmann. Warum nicht. Es gab Beispiele, daß Schauspielerinnen oder Sängerinnen Herren aus dem Chor oder Orchester geheiratet hatten. Ebenso schlössen sie Ehen mit Bühnentechnikern oder Beleuchtern. Als Inspizient kam er demnach durchaus in Frage. Und Gemma: gewiß, eine Schönheit. Da war ja auch einer, mit dem sie ging, wie Löber das nannte. Aber der war nicht zu haben, war gebunden. Jede Frau, da war Löber sich seiner Sache sicher, sehnte sich nach Dauer. Gemma würde in diesem Punkt keine Ausnahme sein. Lothar Löber zog die schmalen Lippen auseinander und lächelte die Dunkelheit an. Er fand, das habe er kürzlich ausgezeichnet gemacht. Ihr Zuspätkommen zum Schlußapplaus im Vorstellungsbericht zu rügen. Sollte sie spüren, wie er sein
konnte. Unbestechlich, korrekt. Sie hatte ja auch ein wenig geschäumt. Besonders in den dunklen Augen hatte er diese Spritzer entdeckt. Gerad wie Sahnespritzer, dachte Löber erstaunt, schwarze Sahne. Irritiert durch seine poetische Anwandlung strich er mit zwei Fingern über sein schütteres Oberlippenbärtchen. Im Bartstreichen wurde er stolz auf seinen merkwürdigen Vergleich. Schwarze Sahnespritzer in den Augen, dachte er noch einmal eitel. Wer weiß, ob er das nicht eines Tages zu Madame sagen würde! So dachte Löber, während er seine korrekten Schritte setzte. Eben war er dabei, um einen Entschluß zu ringen. Wenn er Gemma bekäme, wäre er bereit, künftig Haftschalen zu tragen. Opfer konnte er bringen. Er bog in eine dunkle Straße ein, die zu seinem Wohnviertel gehörte. Er kannte die Gegend genau. Hier war um diese Zeit „tote Hose“, wie er’s nannte. Darum maß er dem, was er sah, zunächst keine Bedeutung bei. Richtiger: Er sah gar nicht, was er sah, da es zu dieser Abendstunde hier nichts zu sehen geben konnte. Er war später überzeugt, daß man ihn gar nicht wahrgenommen habe. Seine Schritte auf Gummisohlen seien kaum hörbar gewesen. Überdies sei er dann ja auch erst einmal stehengeblieben. So Löbers Worte, die er später hören ließ, als er die abendliche Begegnung auf dem Polizeirevier schilderte. Auch sein Bedauern brachte er zum Ausdruck, ausnahmsweise ohne Brille unterwegs gewesen zu sein. Allerdings hätte er in der Dunkelheit sowieso nichts deutlicher erkennen können. Es sei eine Schande, daß die Lampen in jener Straße immer, aber auch immer kaputt seien. Man merke ja nun, wohin das führe. Löber stutzt also, bleibt stehen. Dort vorn, mitten auf
dem Fahrdamm, bewegt sich etwas. Eine Gestalt, die über einen Gegenstand gebeugt war, schnellt hoch. Löber steht mucksstill. Er sieht, wie die Gestalt, die er nun als schlank registriert, in beide Richtungen die Straße entlang blickt. Er ist zu weit entfernt, um ausmachen zu können, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt. Dunkles Haar meint er zu erkennen, falls die Gestalt nicht gar eine schwarze Mütze trägt. Jedenfalls endet das Schwarze in Kinn - oder Nackenhöhe. Das fällt Löber auf, weil der nackte Hals der Person matt leuchtet. Sekundenlang steht die Person still. Dann hebt sie ruckhaft einen Arm - es sieht aus, als wolle sie die Luft durchstoßen, die Nacht von sich drücken - und läßt die Hand flach auf den eigenen Kopf niederfallen. Dieser Schlag scheint sie in Bewegung zu setzen. Löber sieht sie losrennen, offene Jackenschöße flattern. Da bleibt sie abermals stehen - erst jetzt erkennt Löber ein unbeleuchtetes Auto am Straßenrand. Steht am Auto und zögert, ehe sie einsteigt. Schließlich wird der Schlag geworfen, das Auto prescht davon. Löber hat wortwörtlich das Nachsehen. Am Ende der Straße biegt der Wagen um die Ecke, entschwindet seinem Blick. Für Lothar Löber ist die Sache damit nicht erledigt. Will doch gucken, was es gibt an der Stelle, über die eben die Person sich noch bückte. Vielleicht hat der Mensch mit seinem Wagen einen Hund erwischt. Löber kneistet. Nichts zu erkennen auf die Entfernung. Den toten Mann sieht er erst, als er unmittelbar vor ihm steht. Bestürzt preßt Löber eine Faust auf sein Oberlippenbärtchen. Der anklagende Blick des Toten, der zu ihm aufschielt, jagt ihm einen Kälteschauer über den Rücken.
Vielleicht ist der Mann gar nicht tot? Wenn er derart guckt? Löber zögert. Anfassen kommt nicht in Frage. Er nimmt allen Mut zusammen und räuspert sich. Schließlich fragt er mit gedämpfter Stimme: „Hallo?“ Der Mann tut den Mund nicht auf. Der Mann schüttelt nicht den Kopf, der Mann nickt nicht, der Mann gibt auch keinen Wink mit den Augen. Löber wagt einen behutsamen Stups mit der Schuhspitze gegen den Fuß des Mannes. Da ist nichts mehr zu wollen, denkt er. Und in einer Anwandlung herzhafter Nächstenpflicht beugt Löber sich nun doch vornüber. greift die schlaffe Hand am angewinkelt ruhenden Arm, um nach dem Puls zu fühlen. Die lauwarme Hand treibt ihm einen neuerlichen Kälteschauer den Rücken hinunter. Auch das Knistern seines Kunstledermantels empfindet Löber als gespenstisch. Doch tapfer hält er stand, bis er feststellen muß, daß in diesem Menschen kein Puls mehr schlägt. Nun bricht Grimm aus Lothar Löber hervor. Dieses Schwein ist ausgekniffen! Fahrerflucht. Und sogleich tut Löber alles, was er korrekterweise als Zeuge tun kann. Er blickt auf seine Armbanduhr. Diese mickrigen Zeiger. Wie ihm die Brille jetzt fehlt. Er hebt den Arm dicht unter die Augen. Es muß zwischen Viertel und halb neun sein. Genau ausmachen kann er es nicht. Ungefähr zwanzig Uhr zwanzig. Diese Ungefährangabe wird er der Polizei geben. Nach einem vergewissernden Blick auf den unbekannten Toten macht Lothar Löber sich auf den Weg zur Polizei. Flüchtig kommt ihm der Gedanke, da Gemma Weihmann hier in der Gegend wohnt, sie aufzusuchen und von dort zu telefonieren. Jedoch halten ihn zwei
Dinge davon ab. Er hat vorhin das Auto ihres Freundes vor dem Haus gesehen. Sie ist nicht allein. Zum andern ist es für ihn die erste Gelegenheit seines Lebens, zur Polizei persönlichen Kontakt aufzunehmen. Ihr als wichtige Person ins Haus zu fallen. Und er darf nicht vergessen, sofort zu erwähnen, daß er den Toten berührt habe. Polizei-Deutsch beherrscht Löber nicht, vielleicht ist die Formulierung angebracht: zum Zwecke des Pulsfühlens. Oder: zum Zwecke der sofortigen Überprüfung eines eventuellen Nochvorhandenseins von Leben? Löber merkte, daß er die Finger seiner rechten Hand, die den Toten berührt hatten, starr gespreizt von sich streckte. Er zückte ein Taschentuch, wischte die Hand ab. Nun gehörte seine Hand ihm wieder vorbehaltlos, und er schob sie in die heimatliche Manteltasche. Auf seinem Weg zur Polizei begegnete er einem Menschen, der mit sich selbst zu reden schien. Löber blickte sich nach dem älteren Herrn, der seinen Spazierstock ticken ließ und blicklos an ihm vorüberging, um. Seltsamer Kauz. Es hörte sich an, als hadere er mit Gott. In Bahnhofsnähe sah er den krummbeinigen Alten aus Gemmas Hinterhaus. Überall traf man diesen Kerl. Trieb der sich denn nur im Freien herum. Offenbar war er auf dem Heimweg. Er ging rasch. Aus der Innentasche seiner Jacke ragte ein Stock oder eine Stange hervor. Er hielt seinen Arm darum wie um Beutegut. Zwei Schläge der Turmuhr hallten in der Dunkelheit nach. Eine halbe Stunde bis Mitternacht. Sie gingen schweigend nebeneinander her. Das Publi-
kum hatte sich verlaufen, die Straßen lagen einsam unter dem feuchten Novemberhimmel. Hardy räusperte sich. Er wagte kaum, Richard von der Seite anzuschauen. Der Freund hatte kein Wort gesagt, nachdem er Hardys Bericht gehört hatte. Kein Wort. Als habe es ihm die Sprache verschlagen. Schließlich fragte Hardy: „Wo steht er denn?“ Richard schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Was?“ Er deutete mit dem Kopf. „Paar Ecken weiter.“ Endlich. Er redete. Hardy griff nach dem Klümpchen Sprache wie nach einem rettenden Strohhalm. „Paar Ecken weiter“, wiederholte er. Damit war die Gesprächsbrücke abgebrochen. Wieder lastete jenes Schweigen, in dem unheilvoll die Geschehnisse des Abends auftauchten. Dennoch kamen sie Hardy seltsam entrückt vor. In unsinniger Hoffnung vertraute er auf einen Ausweg, den Richard finden würde. Ihm leuchtete nur nicht ein, warum er den Dacia vom Theater weggefahren hatte, während er auf der Bühne zu tun gehabt hatte. „Warum“, fragte er schüchtern, „hast du ihn eigentlich weggebracht?“ Richard blieb stehen, schnellte zu ihm herum. „Menschenskind!“ Sie standen einander gegenüber. Richard zwang sich, verhalten zu sprechen. Aber in seiner Stimme bebte Aufruhr. „Du hast im Parkverbot gestanden. Du hattest die Tür nicht abgeschlossen, der Zündschlüssel steckte. Ich hatte keine Ahnung, warum du so verstört warst. Mir war
lediglich klar, wie schlimm es bei euch ist, einen Auftritt zu versäumen.“ Er legte Hardy eine Hand auf die Schulter. „Komm weiter.“ Sie gingen nun rascher. Als sie um die nächste Ecke bogen, stand der Dacia vor ihnen. „Ich hatte gedacht“, sagte Richard, „dir damit zu einer Ausrede zu verhelfen. Verstehst du. Zu einem Grund für dein Zuspätkommen.“ Hardy blickte ihn verständnislos an. „Wie – wie meinst du das?“ „Das Auto am Theater nicht sehen lassen, mein Gott! Du hättest sagen können, daß du unterwegs liegengeblieben bist. Eine Panne gehabt hast. Das wäre doch eine Entschuldigung. Hast du irgend jemandem im Theater etwas gesagt?“ Hardy schüttelte den Kopf. „Was hätte ich schon sagen sollen“, antwortete er mutlos. „Eure Ankleiderin hat das Auto gesehen“, sagte Richard. „Aber ich glaube, ich hab’s ihr ausgeredet.“ „Ach, Berti.“ Hardy lächelte flüchtig. „Berti ist treu. Aber das ist ja nun alles egal.“ Richard ging um den Dacia herum, betrachtete ihn prüfend. „Ist was?“ fragte Hardy. ‘ Der Freund schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Sie stiegen ein, zogen die Türen zu. Richard steckte den Zündschlüssel ins Schloß, startete aber nicht. Ratlos legte er die Arme über das Lenkrad. „Und nun?“ Hardy schwieg. „Wie konntest du sie bloß…“ Trostlos brach Richard ab. Was halfen Vorwürfe. „Du mußt doch gesehen haben, daß sie…“, hob er wieder an, Hardy unterbrach ihn. „Ja! Ja doch. Da war es aber schon zu spät.“ Verzwei-
felt rief er aus: „Wäre ich nur gleich ins Theater gefahren!“ Richard sagte rasch: „Am besten, wir reden heute mit Gemma. Jetzt gleich.“ „Nein!“ Hardys Ruf klang entsetzt, „Nur das nicht. Am liebsten würde ich ihr nicht mehr unter die Augen kommen. Was soll ich nur machen.“ Er barg sein Gesicht in beiden Händen. „Wenn ich an die Probe morgen früh denke… ob ich zu Haus bleibe?“ Ein Funken leiser Hoffnung war in seinem Blick, mit dem er Richard befragte. „Bist du verrückt. Das würde alles noch schlimmer machen. Zur Probe gehst du erst mal.“ „Und dann? Ich kann Gemma gegenüber nicht so tun, als wüßte ich es nicht.“ „Bist du Schauspieler oder nicht?“ Hardy seufzte gepeinigt. „Im Privatleben doch nicht. Ich kann mich nicht verstellen, das weißt du.“ Richard entgegnete nüchtern: „Dann mußt du Gemma aus dem Weg gehn.“ „Das mach mal, du!“ Harry lachte unfroh auf. „Wir proben eine Szene zu zweit. Nur sie und ich. Wie soll ich ihr da aus dem Weg gehn.“ Und plötzlich rief Hardy ungläubig: „Und übermorgen ist das Kappenfest! Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Richard dachte einen Augenblick nach. „Wir fahren morgen nach deiner Probe zu Hans. Der kennt sich von Berufs wegen aus und wird uns…“ „Der kann nichts ändern.“ Richard startete den Wagen.
„Zu ändern ist nichts“, sagte er ruhig, „es ist sowieso falsch, was wir machen.“ Hardy blickte starr vor sich hin auf den nächtlichen Asphalt, der ihnen entgegenrollte. „Und Ines?“ fragte er nach einer Weile. „Ich würde das Mädchen so gern aus allem raushalten.“ Richard knurrte gereizt. „Fällt dir zu spät ein, mein Lieber. Schick sie zu ihrer Mutter. Das wird das beste sein.“ Hardy antwortete nicht darauf. Er stellte sich vor, Gemma und Ines beieinander, ein verzweifeltes Nachtgespräch. So weit meinte er Ines zu kennen: Schonungslos würde sie der Mutter keine Einzelheit ersparen. Gemma würde zusammenbrechen unter der Last ihrer Schuld. „Das hält Gemma nicht aus“, sagte er. Richard nickte grimmig. „Wie sollte sie.“ Hardy, endgültig: „Ich lasse sie nicht weg. Ines kriegt es fertig, gar nicht bei Gemma aufzukreuzen.“ „Sondern?“ „Kannst du dir’s nicht denken? Ich glaube, sie liefe schnurstracks zur Polizei und machte Anzeige.“ „Vielleicht, Hardy. Es wäre das beste.“ Hardy stammelte fassungslos: „Richard - das meinst du doch nicht?“ Richard: „Was sonst!“ Nach einem Seitenblick auf Hardy: „Nein, verzeih. Aber wir können Ines nicht einsperren, Hardy. Nur weil sie Bescheid weiß.“ Hardy entgegnete mürbe: „Laß das Kappenfest vorbei sein.“ Richard warf sarkastisch ein: „Du hast Nerven, willst
du wirklich hingehen? Bis übermorgen warten?“ Hardy nickte. „Bitte, Richard. Bis Montag.“ Der Freund warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. Dann sagte er: „Gut. Wenn es gelingt. Falls dir Gemma nicht zuvorkommt. Sie wird spüren, daß du etwas…“ „Schweig!“ Hardy war dem Weinen nahe. Richard schaltete wortlos in den zweiten Gang hinunter. „Wir sind gleich zu Hause. Nimm dich zusammen.“ Hardy gab sich keine Mühe mehr, die Tränen zurückzuhalten. Er wußte, daß er Alkohol trinken würde, sobald er Gelegenheit fand. Morgen abend ging Richard in den Wochenend-Bereitschaftsdienst. Und er, er würde trinken. Er weinte still über sich wie ein Kind, dem keiner zu helfen vermag. Schneid den Regen ab. Wie lange war es her, seit er das zu Gemma gesagt hatte.
6 Gemma erwachte vom Schnurren des Rasierapparates. Rolf hatte die Türen offengelassen. Im ersten Augenblick dachte sie an alltägliche, naheliegende Dinge. Heut war Freitag. Sie mußte zur Probe ins Theater. Der Schlüssel. Sie durfte nicht vergessen, Rolf den Wohnungsschlüssel mitzugeben. Gemma streckte den Arm zum Wandbord, um nach der Uhr zu greifen. Ihr Blick fiel auf das Tablettenröhrchen, das eine vage Erinnerung an den gestrigen Abend weckte. Sie mußte betrunken eingeschlafen sein. Benommen schaute sie auf die Schramme am rechten Handgelenk. Der Mund wurde ihr trocken. Die geringfügige Verlet-
zung hatte sie sich gestern abend am Auto geholt. Schlagartig stand das schreckliche Ereignis in aller Deutlichkeit vor ihr. Mit einem Ruck setzte sie sich im Bett auf. In den Schläfen setzten Stiche ein. Hatte sie Rolf etwas gesagt? Gemma schob sich vorsichtig aus dem Bett. Auf bloßen Füßen tappte sie zum Fenster. Sie nahm den Vorhang ein wenig zur Seite und blickte auf die Straße hinab. Kaltschnäuzig stand das Auto dort, als sei es nicht beteiligt gewesen an dem Unfall. Stoßstange und Nebelleuchte waren von hier oben nicht zu erkennen. Jetzt erinnerte sie sich. Mit jener Irrsinnsgeschichte, die Rolf von seiner Fahrt in den Wald erzählt hatte, hatte gestern ihre Trunkenheit begonnen. Der Zufall solcher Fügung mußte sie berauscht haben. Mehr als der Wein. Mehr als die Tabletten, die Rolf ihr aufgenötigt hatte. Das Rasiergeräusch brach ab. Gemma hörte Rolf ins Zimmer kommen. Ohne sich nach ihm umzublicken, fragte sie: „Man sieht gar nichts am Auto?“ „Ach du liebe Zeit!“ Sein Ausruf veranlaßte Gemma, sich hastig umzuschauen. „Ich hatte das weggeschlafen“, sagte er und kam in die Nähe des Fensters. „Über Nacht vollkommen vergessen. Mach zu, bitte.“ Gemma ließ den Vorhang fallen. Seine übertriebene Vorsicht reizte sie. Sie verbarg ihren Blick unter raschem Lidschlag, fragte leichthin: „Hast du dich über mich geärgert?“ „Geärgert?“ „Gestern“, ergänzte sie zögernd. Er begann seine Sachen zusammenzupacken. Er zwang
sich, es nicht zu hastig zu tun. Sie mußte nicht merken, wie ihm daran lag, fortzukommen. „Kindisch warst du.“ Sie sah ihn an. „Was meinst du damit?“ Erstaunt erwiderte er ihren Blick. Was war los, ihre Frage klang nach Angriff. „Was ist denn schon wieder.“ Höchste Zeit, sich zurückzuziehen. Er griff lau nach ihrer Hand, die Gemma ihm sofort entzog. Störrisch wiederholte sie ihre Frage. „Was meinst du mit kindisch?“ Er ließ die Schlösser seiner Tasche zuschnappen. „Warum ärgert dich das Wort? Ich meine die Art, wie du immer wieder meine Geschichte ertrotzt hast. Wie Kinder ihr Märchen.“ „Ist es ein Märchen?“ „Nein, zum Kuckuck. Fängt das schon wieder an. Wenn du es nicht glaubst, geh nachsehen. Das Auto steht vor deiner Tür. Was ist jetzt wieder?“ Ihr Blick war so undeutbar, daß Rolf auf einen erneuten Vorwurf gefaßt war. „Nichts“, entgegnete sie kurz und kehrte sich ab. Sie ging in die Küche. Während sie die Kaffeemaschine in Gang setzte und Brotscheiben in den Toaster schob, lauschte sie auf Geräusche im Zimmer. Würde er gehen? Würde er bleiben? Das Auto mußte weg dort unten, weg von ihrer Tür. Sie verschüttete Marmelade. Reglos sah sie zu, wie das dickflüssig-rote Rinnsal an ihrem Morgenmantel abwärts seimte. Rolf kam im Mantel, die gepackte Tasche in der Hand. Er blieb in der Küchentür stehen. „Du frühstückst nicht?“ fragte Gemma und brachte vor Erleichterung darüber ein Lächeln zustande. „Ich muß
versuchen, noch für heut einen Werkstatt-Termin zu kriegen.“ „Hoffentlich klappt es!“ Er wunderte sich, daß ihr so sehr daran gelegen schien. Mit Überraschungen geizte diese Frau wahrhaftig nicht. „Bestimmt“, sagte er zuversichtlich, „Sieglinde kennt dort jemanden.“ Er lächelte, als sei er schon fort. „Tschüs denn.“ Gemma hielt ihn auf. „Wann kommst du?“ Unsinnigerweise beantwortete er ihre Frage mit einem Blick auf die Armbanduhr. Zeit gewinnen. „Ja“, sagte er gedehnt, „ich ruf dich an.“ Ihrem Blick wich er aus. Warum? Gemma hörte das pulsend harte Pochen in ihren Schläfen. Mißtrauisch fragte sie: „Hab’ ich - hab’ ich gestern was Dummes gesagt?“ „Nein.“ Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht. „Nein“, wiederholte er, „wirklich nicht.“ Sie holte den Wohnungsschlüssel. „Nimm. Du kannst jederzeit herein.“ Betreten blickte Rolf auf den Schlüssel in seiner Hand. Er ließ das unselige Ding in seine Manteltasche gleiten und wandte sich zur Wohnungstür. Ihr Ruf hielt ihn noch einmal auf. „Rolf.“ Ungeduldig tauchten seine Finger ins Haar. „Ja?“ Sie sah und hörte, wie es ihn wegzog. „Samstag gehe ich zum Kappenfest.“
Sein fragender Blick. „Vielleicht willst du mitkommen“, sagte sie kalt, „falls du es ohne mich nicht aushältst.“ Sie hatte nur sich selbst verletzt mit ihrem mißlungenen Spott. Darum setzte sie noch eins drauf. „Du könntest dich als Superintendent verkleiden.“ Er zog die Wohnungstür hinter sich zu. Mit hurtigen Schritten sprang er die Stufen hinab. Den Schlüssel mußte er loswerden. Nicht sofort. Aber irgendwann konnte er ihn in Gemmas Briefkasten werfen. Rolf fuhr zusammen, als er im unteren Treppenflur um die Ecke bog. An der Wand lehnte der Alte aus dem Hinterhaus. Sein gelber Blick fixierte Rolf schamlos. Wütend ging er an dem Kerl vorüber. Der lachte dümmlich hinter ihm her. Rolf hörte ihn ausspucken. Er zog angeekelt den Kopf ein. „Is alles meins hier“, laberte der Alte, „kann alles nehmen. Hol mir alles, was ich will.“ Und plötzlich war er dicht hinter Rolf, tippte ihm auf die Schulter. „Was ich weiß, macht heiß.“ Er grinste niederträchtig. Als Rolf sich ihm zukehrte, trottete er davon, dem Hof zu. „Was ich weiß, macht heiß!“ rief er. Die Worte hatten einen seltsamen Klang in dem verwahrlosten kalten Treppenhaus. Wie ein kranker Zahn pocht, so rumorten sie in Rolf Schubert nach. Worauf hatte der Alte angespielt?
Innerlich abgelenkt, betrachtete er, bevor er einstieg, das Auto. Die Nebelleuchte hatte mehr abbekommen, als er gemeint hatte. Aber Sieglinde würde helfen können. Als er anfuhr, sah er im Rückspiegel den Alten. Offenbar hatte er es sich anders überlegt, war zurückgekommen. Er stand vor der Haustür und schaute dem Wagen nach. Unvermittelt riß er den Mund zu stummem Gelächter weit auf und vollführte eine obszön eindeutige Geste. Was ich weiß, macht heiß. Rolf erschrak. Beim Schalten in den zweiten Gang kuppelte er zu lasch, das Getriebe kreischte. Der Gedanke war unsinnig. Wenn der Alte seine Beziehung zu Gemma meinte - der konnte ihm nicht gefährlich werden. Außer diesem Gnom wußte niemand davon. Sich selbst beruhigend, schüttelte Rolf den Kopf. Bestimmt nicht. Gemma trat nicht, wie es ihre Gewohnheit war, ans Fenster, um ihm nachzuschauen. Sie lauschte auf Straßengeräusche. Als sie den Wagen abfahren hörte, atmete sie auf. Trügerische Beruhigung. Sie wunderte sich darüber, mit welcher Gelassenheit sie sich wusch und anzog. Das Frühstück nahm sie ein, als säße sie auf der Bühne. Sie betrachtete die eigene Hand, die beherrscht mit Tasse und Kaffeekanne umging. Kauend lehnte Gemma sich im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander. Sie ließ den Pumps an den Zehen wippen, drehte spielerisch den Fuß. Das leise Knacken des Fußgelenkes brachte sie jäh aus der Fassung. Signal der vergangenen Nacht: sie hörte es widerhallen in der finsteren Straße, als sie hochschoß aus hockender Haltung und ihre Kniegelenke sie weithin verrieten. Kam jemand? Gemma blickte sich über die
Schulter, betrachtete mit aufgerissenen Augen die Türklinke. Gleich würde es schellen. Sofort mußte es läuten, und sie saß in der Falle. Nur im Sprung aus dem Fenster war dann noch zu entkommen. Sie schob den Sessel zurück, stand hitzig auf. Geschirr klirrte aneinander, sie vermochte eben noch die Kaffeekanne festzuhalten. Mit wenigen Schritten war sie am Fenster, blickte abschätzend hinab. Waren es zehn Meter? Zwanzig Meter? Der Sturz könnte tödlich sein. Gemma rang nach Luft. Ihre Hand krampfte sich in der Gardine fest, haltsuchend vor dem unverhofften Abgrund. Nur nicht fallen. Sich zusammennehmen. Sie legte bedachtsam den Kopf in den Nacken. Bevor Gemma zur Straßenbahnhaltestelle ging, täuschte sie sich Kinointeresse vor. Sie machte einen Umweg zu der Litfaßsäule, die in der Unfallstraße stand. Während sie vor den Anschlägen stand und kein Wort zu erfassen vermochte, suchte sie mit verstohlenen Blicken die Straße ab. Keine Spur des nächtlichen Vorfalls. Sie hatte doch nicht etwa erwartet, den Toten noch liegen zu sehen. Er war weg. Vielleicht war überhaupt nichts geschehen. In der Straßenbahn wurde sie nicht anders gemustert als sonst. Daran war sie gewöhnt. Nur, Vergnügen bereiteten ihr die beifälligen Blicke heute nicht. Die Atmosphäre im Theater kam ihr eigenartig vor. Etwas lag in der Luft. Es beunruhigte Gemma, sobald sie das Haus durch den Bühneneingang betreten hatte. Die Pförtnerloge war unbesetzt, hinter dem Fensterchen lag nur Papa Buschs Brille auf einer aufgeschlagenen Zeitung. Annoncenteil. Den Gang herab hörte sie Stimmengewirr, das aus der Kantine zu kommen schien. Es brach
ab, als eine Tür zugeschlagen wurde. Papa Busch kam den Gang herabgeschlurrt und grüßte Gemma mürrisch. Betroffen blickte sie sich nach ihm um. Was hatte er heut gegen sie? Sie spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu klopfen begann, bevor sie die Kantinentür öffnete. Sie fürchtete sich vor der Begegnung mit Hardy. Wie Hardy zu ihr sein würde, daran ließe sich ablesen, was er wußte. Ob er gesehen hatte. Die Gespräche verstummten für einen Augenblick, wie immer, sobald jemand hereinkam. Gemma grüßte ein wenig zu forsch, um eine Winzigkeit zu munter, schien ihr selbst. Berti nickte ihr zu. „So zeitig heute?“ Gemma lächelte gezwungen. Auf was alles sollte sie mit einem Male achtgeben. Es war eine halbe Stunde vor Probenbeginn, so zeitig war sie sonst nicht im Haus. Um so bemerkenswerter, daß auch Hardy schon da war. Es versetzte Gemma einen Stich, als Hardys Blick sie traf. Er lächelte ihr nicht zu, nickte nur knapp einen Gruß herüber. Sah sie kurz und forschend an, als erwarte er irgendein Zeichen von ihr. Als es ausblieb, kehrte er sich wieder dem Maskenbildner zu, mit dem er zusammen am Tisch saß. Gemma traute ihren Augen kaum. Was sie sah, erfüllte sie mit einem Gemisch von Enttäuschung und Schrecken. Hardy hatte ein Bier vor sich stehen. Bier und Weinbrand. Und er trank von beidem. Mußte es nicht seltsam wirken, daß sie sich nicht an seinen Tisch wagte? Sie stand zögernd mit dem Kaffee, den sie sich am Ausschank hatte geben lassen, und setzte sich dann zu Berti. „Das ist ja schrecklich, Berti“, flüsterte Gemma. „Har-
dy trinkt. Wie ist denn das passiert?“ Berti nickte bekümmert. „Wegen gestern abend.“ Gemma wurde blaß. „Wieso“, stieß sie hervor. Sie versuchte einen Schluck Kaffee zu trinken, mußte jedoch die Tasse wieder absetzen. Ihre Hand zitterte so stark, daß Berti beim Klirren des angestoßenen Teelöffels zusammenfuhr. „Das weißt du ja noch gar nicht. Hardy hat gestern seinen Auftritt versäumt. Ist zu spät gekommen. Gemma ist dir nicht gut?“ Besorgt betrachtete die Garderobiere Gemmas Gesicht. Es sah aus, als kämpfe sie mit dem Weinen. Nervöse Schauer liefen um ihren Mund, kräuselten das Kinn. „Geht es dir so nahe, Kleines?“ Gemma wich Bertis Blicken aus. „Ich könnte mir denken“, sagte Berti leise, „daß Hardy mit dir sprechen möchte wegen gestern abend. Er war völlig durcheinander.“ Gemma schluckte. Ihre Stimme klang brüchig. „Was hab’ denn ich damit zu tun!“ Der verständnislose Ausdruck in Bertis Zügen brachte sie vollends durcheinander. Sie durfte nicht derart unkontrolliert herausplatzen. Gemma preßte beide Hände um den Tassenkopf. „Ich meine“, murmelte sie, „was will er denn von mir.“ Sie schlug die Augen nieder, um ihre lauernde Frage besser zu tarnen. „Wann… wann ist er denn gekommen?“ Berti überlegte einen Moment. „Jedenfalls zu spät“, antwortete sie schließlich, „das Stichwort für seinen Auftritt war durch.“ Jetzt schaute Gemma sie an. Das dunkelblaue Funkeln
im Grund ihrer braunen Augen verunsicherte Berti. „Wann“, forderte Gemma scharf. ] „Was ist denn mit dir?“ Berti musterte Gemma verdattert. „Hast du eine schlechte Nacht gehabt? Ich sag’ dir doch: Er kam zu spät. So um - nach halb neun wird es gewesen sein.“ Gemma hörte eine andere Stimme in sich widerhallen, während sie Berti ins Gesicht starrte, ohne sie zu sehen. Rolf. Wartend hatte er im Sessel gesessen und ihr die Zeit vorgehalten. „Halb neun durch. Du warst lange weg.“ Als Berti ihre Hand berührte, fuhr Gemma zusammen. Kein Zweifel. Hardy hatte sie gesehen. Wieder sah sie das Stöckchen blitzen, dessen Anblick die zuschnappende Tür ihr eben noch gewährt hatte. Und augenblicks war ihr klar, daß Hardy ihretwegen… Ihretwegen Alkohol. Ihretwegen ein verpaßter Auftritt. Ein rascher Blick zu Hardy. Er schaute nicht auf. Sie sah, daß sein Stöckchen nicht auf dem Tisch lag, er es überhaupt nicht bei sich hatte. Sein ständiges Begleitutensil - warum nicht? „Hast du dich verletzt?“ Berti streichelte Gemmas Handrücken. Die Schramme am Gelenk - daß sie daran nicht gedacht hatte! Unbeherrscht wischte Gemma Bertis Hand von sich wie einen Batzen Schmutz. Sie zerrte am Kleiderärmel, bis er zur Hälfte ihre Hand bedeckte. „Tut’s denn weh?“ Gemma war außerstande, Bertis einfache Frage zu beantworten. Sie schüttelte stumm den Kopf, vergeblich nach einer Ausrede suchend. Messer, Gabel, Schere, Licht taugt für kleine Gemma nicht. Großmutterspruch, der ihr sinnlos durch den Kopf schoß. „Was hast du nur.“ Leise, behutsame Worte von Berti.
Gemma, gepreßt: „Rolf war da.“ Berti atmete hörbar auf. „Darum. Arme Kleine.“ Für Berti schien damit Antwort gefunden. Entkommen. Vorübergehend befreit. Sie mußte auf der Hut sein vor Fragen. Wieder warf Gemma einen raschen Blick zu Hardy hinüber. Sie begegnete seinem ernsten Blick, der jedoch sofort von ihr absprang. Auch sie drehte ablehnend den Kopf zur Seite. Die Probe heut mußte eine Quälerei werden. Wie sollte sie es anstellen, Hardy auszuweichen. Sich ihm anvertrauen? Gemma sah aus den Augenwinkeln, wie Hardy das Schnapsglas leerte. Eine böse Ahnung stieg in ihr auf. Hardy würde vielleicht nicht den Mund halten. Wenn der Alkohol ihn zum Plaudern brachte, wenn er im Rausch Geheimnisse preisgeben sollte… „Wo hat er den Stock?“ fragte sie unvermittelt. „Wie?“ Berti folgte Gemmas Blickrichtung. „Sein MackieMesser-Stöckchen“, drängte Gemma. „Ach so. Darum ist er heute so zeitig gekommen.“ Beklommen lauschte Gemma Bertis Bericht. Hardy vermisse seit gestern abend den Stock. Er sei der Meinung, er habe ihn im Theater irgendwo verlegt, weil die gestrige Aufregung wegen des verpaßten Auftritts ihn konfus gemacht habe. Er sei heute früh wie benebelt durchs Haus gelaufen, habe überall gesucht. In den Garderoben. In der Maskenbildnerei. In der Pförtnerloge, Requisitenabteilung. Es habe einen Zusammenstoß mit Löber gegeben, Hardy habe ihn verdächtigt, das Stöckchen gestern abend noch auf seinem Inspizientenpult gesehen zu haben, ihn damit haben hantieren sehen. Großer Reinfall; denn Lö-
ber habe gestern abend frei gehabt und sich wortreich darüber gewundert, daß Hardy ihn habe mit der kessen Hanne verwechseln können. Also, Hardy habe sich kleinlaut bei Löber entschuldigen müssen und irgendwann die ganze Sucherei aufgegeben. Sie, Berti, sei allerdings der Meinung, Hardy habe schon gestern abend das Stöckchen nicht bei sich gehabt, als er ins Theater gestürzt gekommen sei. Natürlich könne sie sich irren, aber eigentlich sei sie ihrer Sache sicher. Dennoch: Dieser Abend habe es in sich gehabt, es sei wie verhext gewesen. Sie habe zum Beispiel deutlich den Dacia von Dr. Wendland unten stehen gesehen, als sie in Hardys Garderobe aus dem Fenster geschaut habe. Da sei sie aber einer verrückten Täuschung erlegen, wie Dr. Wendland ihr es ja bewiesen habe. Es habe kein Auto gestanden an dem Fleck, wo sie es eben noch zu sehen gemeint habe. Jedenfalls habe Hardy vorhin, nachdem er den Stock nicht habe finden können, sich irgendwie erschöpft auf den nächstbesten Stuhl gesetzt. Ausgerechnet an dem Tisch, wo der Suffkopp von Maskenbildner gelungert habe. Und Hardy habe nach dem fremden Schnapsglas gegriffen, das vor dem Maskenbildner stand, und es ausgetrunken. Es habe ausgesehen, als merke Hardy überhaupt nicht, was er tue. Die Lautsprecheranlage wurde eingeschaltet. Löbers sachliche Stimme meldete sich. „Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es ist neun Uhr zwanzig, zehn Minuten vor Probenbeginn. Wir fangen an mit dem ersten Bild, Auftritt Dorothee und Patrice. Frau Weihmann und Herr Jäger dann bitte bereithalten.“ Berti hatte mit schiefgeneigtem Kopf zugehört. Sie winkte ab. „Der wird noch platzen vor Wichtigkeit.“
Kurz darauf betrat Lothar Löber kauend die Kantine. Er trug eine Zeitung unter den Arm geklemmt und biß wiederholt von einer dünnen Klappschnitte ab. Leicht angewidert sah Gemma zu, wie er seine verfärbten Pferdezähne ins Brot schlug und sie dabei freundlich anplierte. Löbers vorstehende Augäpfel zeigten ständig den gleichen glanzlosen Ausdruck. Als seien sie unfähig, irgendeine Empfindung widerzuspiegeln. Löber aß auf. Er rieb die Fingerspitzen aneinander sauber, betupfte sein schmales Bärtchen. Er klemmte sich aufs Fensterbrett, so daß einfallendes Licht von draußen ihm die Sicht verbesserte. Er schlug die Zeitung auf, hielt sie dicht unter die Augen. Beim Lesen bewegte er tonlos die Lippen. Plötzlich gab er ein schmatzendes Geräusch von sich und blickte auf. „Hier“, sagte er, „hört mal.“ Die wenigen Kollegen, die im Raum saßen, blickten auf. Die Kantinenfrau klapperte mit Geschirr. Erst die eingetretene Stille machte sie aufmerksam, sie beugte sich aus der Luke, hielt in ihren Hantierungen inne. „Da steht’s“, sagte Löber triumphierend. Mit erhobener Stimme las er vor. Gestern abend um 21 Uhr lag in der Sternstraße, Höhe Möbellager Schütz, aus bisher unbekannter Ursache eine männliche Person auf der Fahrbahn, die offenbar von einem PKW überfahren wurde. Vermutlich kam der Mann dabei ums Leben. Der PKW-Fahrer ist flüchtig. Personen, die Angaben zu diesem Vorfall machen können, werden gebeten, dies der Volkspolizei… Löber klatschte mit der flachen Hand auf die Zeitung. „Ist doch ungenau“, sagte er empört. Vermutlich hatte er gehofft, erwähnt zu werden. Sei es auch nur anonym in
der Formulierung „ein wachsamer Bürger“ oder dergleichen. Er verbarg seine Enttäuschung unter ärgerlichem Protest. „Es war mindestens eine halbe Stunde eher, als ich ihn fand. Und da schreiben die einundzwanzig Uhr! Ich hab’s deutlich erwähnt, daß der Mann zu dem Zeitpunkt schon tot war. Und wie der tot war!“ Er warf die Zeitung aufs Fensterbrett, schaute sich unter den Kollegen um. Totenblaß starrte Gemma zu ihm hinüber. Das gab Löber neuen Auftrieb. „Ja, Frau Weihmann. Das ist auch entsetzlich, so einen Toten zu finden. Das können Sie mir glauben. Es braucht Nerven, so einem in die verdrehten Augen zu gucken. Und mit der Hand hat er so…“ Löber winkelte den Arm an und zeigte, wie die schlaffe Hand des Mannes vor ihm gelegen habe. Gemma lehnte sich zurück. Ihre Handflächen, die sie neben sich auf die Kunststoffpolsterung gepreßt hatte, klebten von kaltem Schweiß. Sie öffnete ein wenig den Mund. „Hör auf damit!“ Das war Berti. Feindselig fauchte sie Löber an. „Es ist fies, solche Einzelheiten zu erzählen. Siehst doch, wie das auf Frau Weihmann wirkt. Schließlich hat sie eine Probe vor sich.“ Als Berti Hardy anschaute, um bei ihm Zustimmung zu finden, saß auch der wie vom Blitz getroffen da. „Und Herr Jäger auch!“ Fuchtig knallte sie Löber die Worte hin. Sollte der sich hüten, sensiblen Schauspielern, ihren beiden Lieblingen, das Gemüt vor der Arbeit zu verdüstern. Als sein Name fiel, schoß Gemma einen sekundenkur-
zen Blick auf Hardy. Sie erkannte das Wissen in seinen Augen. Löber, entrüstet über die Abfuhr, die ihm Berti erteilt hatte, und auch betrogen um den knackfrischen Bericht eines Augenzeugen - von Dankbarkeit ganz zu schweigen, die man ihm hätte entgegenbringen können - , ereiferte sich. „Fies? Was ist denn daran fies! Was der Kerl getan hat, der den Toten hat liegenlassen, das ist fies!“ Hardys und Gemmas Blicke trafen sich, sprangen wie ertappt auseinander. „Einen umzufahren und sich aus dem Staub zu machen! Aber ich hab’ ihn noch gesehen, wie er zu seinem Auto gerannt ist, der Mistkerl.“ Zögernd fügte der korrekte Löber hinzu: „Die Person, meine ich.“ * Er schwieg einen Augenblick. „Was du schon siehst“, warf Berti hin, „im Dunkeln ohne Brille. Oder willst du uns einreden, du hättest die Brille aufgehabt.“ Löber war an der Grenze seiner Beherrschung. Aufgebracht glubschte er Berti an. „Selbst ohne Brille weiß ich, daß es noch nicht halb neun war. Und die Gestalt hab’ ich gesehen. Da kriegt man selbst im Dunkeln mit, ob einer robust ist oder mickrig. Der Kerl kann auch ‘ne Frau gewesen sein, war fast so zierlich wie Frau Weihmann. Seit alle Weiber Hosen tragen, sehn sie sowieso wie Männer aus.“ Gemma setzte sich steif aufrecht. Mit bebender, scharfer Stimme sagte sie: „Ich verbitte mir solche Vergleiche, Herr Löber!“ Löber zog den Kopf ein.
„Um Himmels willen! Das hab’ ich doch so nicht gemeint, Frau Weihmann. Wie käme ich dazu…“ Er brach hilflos ab, fing sich jedoch gleich wieder und fuhr in ruhigerem Ton fort: „Jedenfalls hab’ ich meine Bürgerpflicht erfüllt. Hätte das nicht jeder an meiner Stelle getan?“ Seine Frage blieb unerlöst in der Luft hängen. Löber mußte sie selbst wieder aufgreifen. „Jeder hätte das getan, will ich hoffen.“ Er räusperte sich bedeutungsvoll. „Ohne Verzögerung bin ich zur Polizei gegangen, nachdem ich den Toten gefunden hatte. Beinahe wäre ich bei Ihnen gelandet, Frau Weihmann.“ Gemma starrte in Löbers Lächeln hinein. „Weil Sie Telefon haben. Ich hätte von Ihnen aus die Polizei verständigen können, nicht wahr. Aber gestern abend“, Löber senkte vertraulich die Stimme, „wäre Ihnen mein Besuch kaum angenehm gewesen.“ Gemma wurde einer Antwort enthoben. Lärmend kamen einige Bühnentechniker herein. Sie stießen lachend und witzelnd die Kantinentür auf. Sie trugen Körbe in den Armen, hatten Papiergirlanden, bunte Lampions und Flitterkram bei sich. Einer von ihnen trug eine Leiter. Von der beklommenen Stimmung im Raum schienen sie nichts zu spüren. Unbekümmert und laut begannen sie den Faschingsschmuck aufzuhängen, unter Zurufen und Gehämmer. Vorbereitungen zum Kappenfest für morgen abend. Die Probe zog sich quälend in die Länge. Der Ärger des Regisseurs über Hardys versäumten Auftritt vom Vorabend war noch nicht verraucht, Deutlich mißgelaunt, mäkelte er an allen Angeboten, die Hardy zu seiner neu-
en Rolle zu machen hatte, herum. Hinzu kam, daß Hardy Textschwierigkeiten hatte, offensichtlich hatte er zur heutigen Probe nicht gelernt. Die Anschläge der Souffleuse genügten ihm nicht. Hardy mußte Wort für Wort von ihr abnehmen. Die Miene des Regisseurs verfinsterte sich. Er saß nicht unten im Zuschauerraum, sondern auf der Vorbühne, wohin er sich einen Stuhl neben den der Souffleuse gestellt hatte. „Dies ist keine Stellprobe, Herr Jäger.“ Gemma und Hardy, die einander vor Probenbeginn nur flüchtig die Hand gegeben und einige belanglose Worte gewechselt hatten, sahen sich an. Wenn der Regisseur zum Sie überging, wurde es mulmig, Hardy setzte zu einer Erklärung an, ließ es dann aber sein. Angestrengt horchte er auf die Souffleuse. Der Regisseur fuhr dazwischen. „Zum Donnerwetter noch mal, was denken Sie sich dabei! Ist das Ihre neue Arbeitshaltung, Herr Jäger? Auftritte versäumen? Proben nicht vorbereiten?“ Gemma wurde nervös. Wenn er merken sollte, daß Hardy vorhin in der Kantine getrunken hatte, war es aus. Sie fürchtete sich vor einer Auseinandersetzung zwischen den beiden. Gefährliche Worte konnten fallen - gefährlich für sie. Der gesamte Rollentext schien plötzlich voller Anspielungen zu stecken, die sie in Verwirrung stürzten. Es war, als trügen die Sätze des Dichters Jean Anouilh verschlüsselte Botschaften zwischen ihnen beiden hin und her, deren Sinn nur Hardy und sie verstanden. Und es war beklemmend, vor fremden Augen und Ohren mit jenem verborgenen Hintersinn zu spielen. , Mit einer Handbewegung schnitt der Regisseur der
Souffleuse das Wort ab. „Lernpause für Herrn Jäger.“ Er stieß seinen Stuhl zurück und verließ die Bühne. Löber hatte vom Inspizientenpult her die Bühne im Blick und sich während der ganzen Zeit still verhalten. Jetzt fragte er amtlich: „Wie lang die Lernpause?“ ,,Zehn Minuten!“ rief der Regisseur ihnen aus der Seitengasse zu. „Zehn Minuten Lernpause für Herrn Jäger“, wiederholte Löber über die eingeschaltete Rufanlage. Sollten es alle hören im Haus. Mit ihm war man heute auch nicht liebreich umgegangen. Hardy sagte kein Wort. Er beugte sich über das Textbuch, das die Souffleuse vor sich auf einem Tischchen liegen hatte. Flüsternd las er seine Rolle durch, immer wieder. Schloß dann die Augen, wiederholte die Worte aus dem Gedächtnis. Er sah angegriffen aus, Gemma betrachtete ihn verstohlen. Hardys Gemurmel, die Stille des hohen Bühnenraums, der nur mit funzligem Arbeitslicht erleuchtet war, und der besänftigende Geruch von Staub, der dem schweren Plüsch des Bühnenvorhangs entströmte, versetzten sie in einen tranceähnlichen Zustand von Zeitlosigkeit. In diesen wenigen Augenblicken hier war sie wie für immer. Brauchte nie wieder hinaus in fremde, jenseitige Zeitabläufe… Minutenlang war Ewigkeit, in der Gemma tief zufrieden ausharrte, gar nichts empfand. Und das war erstrebenswerter als Glück. Sie atmete ganz leicht, hätte singen können oder fliegen, zwischen beiden war kein Unterschied. Langsam legte sie den Kopf in den Nacken, blickte hinauf zum Schnürboden. Wie weit das weg war. Himmelweite, viele Meter.
Und gehörte dennoch zu diesem Haus, war ein Teil desselben. Gemma lächelte entrückt. Ihr Blick glitt abwärts die Leitersprossen entlang, die schmal in die Wand eingelassen waren. Wie oft schon hatte sie vergebens versucht, sie zu zählen. Wie oft schon hatte sie sich vorgenommen, hinaufzusteigen in die schwindelnde Höhe des Schnürbodens, von dort aus die Bühne zu betrachten… Der Regisseur kam zurück und riß sie aus ihrer Versunkenheit. Gemma schwankte ein wenig, ehe sie sich wieder fest auf sicherem Boden fand. Auf sicherem Boden, der erneut Unruhe mit sich brachte. „Na denn.“ Der Regisseur setzte sich auf seinen Stuhl. Er sah erfrischt aus und rieb sich aufmunternd die Hände. „Macht mal ein bißchen Kunst für mich. Lady Dorothee, bist du bereit?“ Gemma lächelte ihm vage zu. „Und Patrice. Kannst du deinen Text?“ Hardy räusperte sich erleichtert. „Also los. Auftritt.“ Während Gemma und Hardy in die Seitengasse traten, rief der Regisseur dem Inspizienten zu: „Löber, schicken Sie die anderen Kollegen nach Haus. Wir proben heut nur noch diese Szene.“ Löbers Kopf schob sich knapp hinter dem Portal hervor, er verzog den Mund zu schiefem Lächeln. „Mach’ ich.“ Gedämpft gab er die Durchsage und erinnerte dabei die Kollegen an das bevorstehende Kappenfest. Danach stand er still an seinem Pult und verfolgte die Bühnenprobe. „Auftritt!“ rief der Regisseur. Sie hatten sich wohl verhaspelt, die zwei. Als wollte einer dem anderen davonlaufen - aber wer wem -, kamen
sie auf die Bühne geschossen, gleichsam ineinander verknäult. Einer von ihnen stolperte, und der andere fing ihn eben noch auf. Das geschah so rasant, daß der Regisseur sie vorübergehend nicht auseinanderhalten konnte. Der Zwischenfall schien beiden peinlich zu sein; denn kaum hatten sie sich gefangen, schufen sie eine räumliche Distanz zwischen sich, als habe die vorherige ungebührliche Nähe sie verletzt. Der Regisseur entschloß sich, nicht zu unterbrechen. Sollte die Szene erst einmal durchlaufen, korrigieren würde er hinterher. Löber unterdrückte ein Feixen. Hardy keuchte bei seinem ersten Satz, als sei er weit gelaufen. „Dieser Bursche weiß etwas. Ich habe es ganz deutlich gesehen, als ich neben ihm stand. Er hat höhnisch gegrinst. Warum, frage ich Sie, hat er sich bemüßigt gefühlt, höhnisch zu grinsen? Nur, weil er etwas weiß.“ Gemma trat jetzt dicht an Hardy heran. Es war der erste direkte Blick aus der Nähe, den sie heut mit ihm wechselte, Sie sah ihm an, daß er sie warnen wollte. Wovor? Vor wem? fragten ihre Augen, während sie ihren Text sprach. „Wann glauben Sie dieses höhnische Grinsen bemerkt zu haben?“ „Gestern abend.“ Und als Gemmas Lider zuckten, fügte er schnell hinzu: „Auf der Terrasse nach dem Souper.“ Sie mußte es Hardy ausreden, unbedingt. Er durfte nichts bemerkt haben. Und zu Patrice sagte überredend Lady Dorothee: „ Gestern abend? Da war ich doch dabei. Er hatte sich beim Rauchen verschluckt. Das war kein höhnisches Grinsen, das waren schmerzliche Grimassen.“ Hardy nahm die Ausrede nicht an. Er widersprach so
bestimmt, daß Gemma ihn bang anschaute. „Verzeihen Sie, Liebste, mit diesen schmerzlichen Grimassen versuchte er das auffällige höhnische Grinsen zu kaschieren.“ Gemma holte tief Luft. Da kam von Hardy scharf: „Mich aber hat er keinen Augenblick täuschen können.“ Gemma geriet innerlich in Aufruhr. Warum ließ Hardy sich nicht wie früher auf ihre Seite ziehen. Warum zeigte er so schroff, daß er sie verloren gab. Unwillkürlich sah Gemma sich nach anderer Hilfe um. Doch ihr Blick traf nur Löber, der interessiert den Dialog auf der Bühne verfolgte. Gemma fand mühsam in ihre Rolle zurück. Es war lächerlich, was ihr da widerfuhr. Sie durfte nicht das Rollenspiel des Theaterstückes mit der Wirklichkeit verwechseln. Sie stammelte den Text mit verzweifelter Anstrengung heraus. „ Warum sollte sich dieser junge Mann, der mich gar nichts angeht…“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie hatte nicht genug zugehört. Wen hatte Hardy gemeint. Doch nicht den da, der da gelegen hatte mit verdrehtem Blick, dessen schlaffe Hand sie… „…der mich gar nichts angeht,“ rief sie bedrängt, in den Text zurückfindend, „zu einem höhnischen Grinsen veranlaßt gesehen haben? Selbst wenn er weiß, daß wir beide…?“ Hardy schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie sich vor ihm in acht.“ Gemma öffnete fragend den Mund. Also meinte er einen, der lebte. Wen? Sich selbst? „Er ist mir tief verdächtig“, fuhr Hardy in seinem Text fort. „Schon diese geschmacklose Art, seinem Bruder ähnlich zu sehen.“ Gemma verlor den Faden. Sie kam der Bedeutung der gehörten Sätze nicht auf die Spur. Die
Souffleuse gab ihr halblaut den Text. „Ich kann nicht glauben“, wiederholte Gemma verständnislos, „daß dieser junge Mann imstande sein soll, etwas zu erzählen.“ Aber sie glaubte es doch. Sie war sich keines Menschen Verschwiegenheit mehr sicher. Ines? Den rettenden Gedanken an die Tochter verwarf sie sofort. Jetzt drohte Hardy ganz offen. „Oh, er wird nichts erzählen! Er wird Anspielungen machen, in Gleichnissen sprechen, durch Zweideutigkeiten andeuten. Wie gestern abend: das höhnische Grinsen war deutlich genug.“ Endlich griff der Regisseur ein. „Schluß!“ Löber lugte wieder hinter dem Seitenportal hervor. Gemma bemerkte sein dummes Grinsen und kehrte sich von ihm ab. Der Inspizient sah aus, als habe Hardy die ganze Zeit über von ihm gesprochen. Der Regisseur fragte amüsiert: „Ich bin neugierig, was ihr euch dabei gedacht habt. Das kann doch nicht euer Ernst gewesen sein, das private Schauertheater, das ihr eben geboten habt. Die ,Einladung ins Schloß’ ist eine Komödie, wußtet ihr das nicht? Eine Komödie! Also hopp, das Ganze von vorn.“ Löber zog sich an sein Pult zurück. Quälend ging die Probe weiter bis zum zeitigen Nachmittag. Gemma verließ das Theater kurz vor 14 Uhr, nachdem sie längere Zeit erschöpft und gedankenlos unter der lauwarmen Dusche gestanden hatte. Beim Pförtner fragte sie nach Hardy. Der hatte längst das Haus verlassen. Als käme es darauf noch an, kehrte Gemma am Bühneneingang noch einmal um. „Hat er - hat er seinen Stock wiedergefunden?“ fragte
sie voll schwacher Hoffnung. Papa Busch guckte von seinem Schmöker auf. „Nicht, daß ich wüßte.“ Er winkte Gemma mit dem Zeigefinger heran, und sie beugte sich zur Fensterluke hinab. Papa Busch raunte ihr zu: „Herr Jäger hat getrunken. Ist das nicht ein Jammer nach der langen Zeit. Dr. Wendland hat ihn abgeholt. Sie haben nicht miteinander gesprochen. Wollten die verreisen?“ „Wieso?“ „Ich hab’ sie beim Einsteigen beobachtet. Auf dem Rücksitz des Autos lag ein Koffer.“ „Keine Ahnung.“ Beklommen ging Gemma zur Haltestelle der Straßenbahn. Wie war das zu deuten: verreisen? Das konnte nichts mit ihr zu tun haben. Morgen war das Kappenfest. Hardy wollte doch… Plötzlich bereute sie, nicht mit Hardy geredet zu haben. Unverdächtig, so wie immer. Womöglich hatte sie ihn durch ihr fremdartiges Verhalten gegen sich aufgebracht. Schon jetzt, in diesen Augenblicken, konnte er etwas gegen sie unternehmen. Hardy hatte sie ebenfalls deutlich gemieden. Der Pförtner konnte sich geirrt haben mit seiner Reisevermutung. Vielleicht hatte Richard nur Wochenenddienst, dazu nahm er meist ein Köfferchen mit. Sie mußte versuchen, Hardy zu Haus zu erreichen. Während ihres eiligen Fußmarsches wurde Gemma von zwei Straßenbahnen überholt, ohne sich darum zu kümmern. Wie aufgezogen bewegte sie sich auf ihr Ziel los. Sie war verschwitzt, das dunkle Haar klebte feucht um ihr Gesicht, als sie das Haus erreichte, in dem Hardy wohnte. Hoffentlich traf sie
Löber nicht im Treppenhaus. Eilig stieg Gemma die Stufen empor, an Löbers Wohnung vorüber, höher. Im Haus war es nachmittäglich still. Ihr Herz hämmerte, als sie den Klingelknopf drückte. Hardy mußte zu Haus sein, mußte. Beim zweiten Klingeln wußte sie, daß niemand ihr öffnen würde. Verzweifelt klingelte sie Sturm. Ihr war, als sie innehielt und das Ohr gegen die Tür preßte, als höre sie jemanden atmen. Ihre überreizten Nerven narrten sie. Langsam entfernte Gemma sich von der Tür, stieg die Stufen abwärts. Auf der Straße schaute sie zu den verschlossenen Fenstern der Wohnung hinauf. Abermals erlag sie einer Sinnestäuschung. Es kam ihr vor, als bewege sich hinter Hardys Fenstern kaum merklich die Gardine. Ob sie sich vor ihr verleugneten? Irritiert überquerte Gemma die Straße, bog um die Ecke in die eigene, verwahrloste Straße ein. Sie blickte sich nicht um. Wenn doch jemand zu Haus sein würde, konnte er sich vielleicht am Telefon melden. Sie würde später bei Hardy und Dr. Wendland anrufen. Womöglich verrieten sie sich dann.
8 Sie war in dumpfen Halbschlaf gesunken. Ein undefinierbares Geräusch in der Nähe störte. Etwas mußte die Tauben in der Nebenwohnung aufgescheucht haben. Heftiges Flügelschlagen schwirrte in der Luft, kratzte an der Wand. Danach klang es, als hämmere jemand. Doch das konnte nicht sein, dafür war das Geräusch, das sich in unregelmäßigen Abständen wiederholte und sich in ihren Schlaf bohrte, zu klein, zu entfernt
einem Hämmern ähnlich. Vielleicht knarrte nur die Haustür im aufkommenden Wind. Als sie erwachte, betrachtete Gemma erstaunt die Zimmerdecke. Daß sie hatte schlafen können. Und daß überhaupt nichts geschah. Außer der Zeitungsnotiz keinerlei Bedrohung, nichts. Konnte das so bleiben? Der Gedanke an Rolfs Auto jagte sie hoch. Man würde die Zerstörung entdecken. Aber nein! Mit einem Stöhnen ließ Gemma sich wieder auf den Rücken fallen. Der Unfall war im Wald passiert, Rolf hatte das nicht erfunden. Sie drehte den Kopf zur Uhr. Halb vier, es dämmerte schon. Was sollte sie beginnen mit dem langen, fürchterlich freien Abend. Rolf würde weder kommen noch anrufen, sie spürte es. Er hatte sich verändert ihr gegenüber. Nicht erst, seit er das neue Amt in Aussicht hatte. Sie grübelte nach über die ersten Anzeichen von Gleichgültigkeit, wann sie die wahrgenommen hatte. Wenn sie seine Liebe verlor… Plötzlich empfand Gemma bohrenden Hunger. Sie rappelte sich auf, ging auf Strümpfen in die Küche. Gegen ihre Gewohnheit schnitt sie eine dicke Scheibe vom Brot und stopfte sie trocken in sich hinein. Blieb dabei, auf den Tisch gestützt, stehen. Sie würgte an dem Brot, das sie nicht rasch genug zu sich nehmen konnte, das sie in freudloser Gier schluckte. Ines fiel ihr ein. In ähnlicher Weise hatte sie die Tochter oft etwas verschlingen sehen. Scheußlich. Sie nahm sich zusammen, legte den Rest der Schnitte auf einen Teller, bestrich ihn mit Butter. Der Gedanke an Ines versetzte ihr einen Stich in die Magengegend. Nur sie vorläufig nicht sehen müssen. Ihren ahnungslosen Blick nicht auf sich gerichtet fühlen. Gestern
am Telefon hatte sie eigenartig geklungen. Womöglich hatte sie Sorgen im Wohnheim. Gemma wehrte ihren Eindruck ab, daß sie Ines gestern abgewimmelt habe. Doch, das hatte sie getan. Sie würde es gutmachen, wenn das erst alles hinter ihr lag. Das. Wie nur sollte sie es je hinter sich bringen. Gemma ging eilig ins Zimmer zurück, als könne sie ihre Gedanken wie fremde Leute in der Küche stehen lassen. Sie hatte kaum die Tür eingeklinkt, als das Telefon läutete. Wie anders als gestern noch bewegte sie sich darauf zu. Wovor fürchtete sie sich denn? Daß eine Stimme sie fragen würde, ob sie es gewesen sei, gestern abend? Es meldete sich jemand vom Wohnungsamt. Noch heut könne sie die Zuweisung abholen, bis achtzehn Uhr. Ja, heute. Warum denn nicht, ob sie verhindert sei. Die Schlüsselübergabe sei Anfang nächster Woche. Jawohl, Neubau. Fernheizung selbstverständlich. Benommen legte Gemma den Hörer auf. Verloren blickte sie zum Fensterviereck, hinter dem es zu dunkeln begann. Sie empfand gar nichts. Nicht Freude, nicht Verlust. Ines würde jubeln, wenn sie es erführe. Eventuell konnte sie heut abend im Lehrlingswohnheim anrufen und Ines die Neuigkeit mitteilen. Dann war ein wenig gut gemacht vom gestrigen Telefonat. Gemma gab sich innerlich einen Ruck und wählte Hardys Nummer. Sie lauerte gespannt, ob jemand abnehmen würde. Ließ das Rufzeichen an die zehn Mal ertönen. Nichts. Sie legte auf und wollte sich eben zum Ausgehen anziehen, als ihr Apparat schrillte. Gemma hob sofort ab und meldete sich. Es kam keine Antwort. Sie hörte, daß jemand verhalten atmete. „Hallo. Wer ist denn da?“ Gemma fragte
leise: „Rolf?“ Kein Wort. Unverkennbar war nur, daß irgendwo jemand einen Telefonhörer hielt und ihrer Stimme lauschte. Gemma machte einen erneuten Versuch. „Hardy?“ Augenblicks wurde aufgelegt. Das Freizeichen tutete ihr laut ins Ohr. Was bedeutete dieses Spiel? Es bereitete ihr Unbehagen. Gemma wählte nochmals Hardys Rufnummer und wartete. Wie zuvor hob niemand ab. Überstürzt brach sie auf. Als wolle sie einem nochmaligen Telefonklingeln zuvorkommen, klappte Gemma die Wohnungstür zu und lauschte dann durch die geschlossene Tür in die Wohnung zurück. Sie vernahm keinen Laut. Jetzt erinnerte sie sich an die Geräusche, die in ihren Nachmittagsschlummer geschnitten hatten. Eigenartigerweise waren sie verstummt, obwohl es draußen stürmisch war. Weder die Haustür noch irgendwelche Fensterläden klapperten. Gemma sprang die Treppen abwärts, ständig gewärtig, auf den Alten vom Hinterhaus zu treffen. Er schien nicht dazusein. Ines stand in der fremden Küche und sah sich hilflos um. Durfte sie Wasser aufsetzen? Der Teekessel würde pfeifen. Aber sie konnte ihn ohne Trillerdeckel aufs Gas stellen. Sie fürchtete sich in dieser Wohnung vor lauten Geräuschen. Vielleicht, weil die Räume so hoch und düster waren. Wenn nur Hardy bald wiederkäme. Oder Richard. Sie mußte sich eingestehen, daß Richard ihr lieber gewesen wäre. Er war nicht so kopflos gewesen wie Hardy. Wenn es nach Richard gegangen wäre, würde sie nicht tatenlos in dieser Wohnung hocken. Sie war ja ent-
schlossen gewesen, sofort etwas zu unternehmen. Am Ende würde doch gar nichts anderes übrigbleiben. Aber Hardy hatte geweint… Das dicke Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte kaum merklich. Er tat ihr so leid, so leid. Sie wußte, daß er ihrer Mutter wegen zögerte, er wollte Gemma schonen. Aber bis wann? Es war doch nur ein Aufschieben. Die Sache hatte ihre Gefühle durcheinandergebracht. Es tat weh, an die Mutter zu denken. So lieb hatte Ines sie. Jetzt erst recht, nach diesem schrecklichen Vorfall. Sollte sie ihren Popen behalten, sie würde nie wieder eifersüchtig werden und die Mutter damit quälen. Ines biß die Zähne zusammen, während sie an den Schluß ihres letzten Gedichtes dachte. Immerzu gingen ihr die Worte durch den Kopf. Leise tappte sie zum Wasserhahn, als dürfe niemand ihre Schritte hören. Sie drehte ihn halb auf, füllte den Teekessel. Sie wurde das Verlangen nach heißem Kaffee nicht los, ebensowenig wie den Gedichtschluß. Seltsam, daß der übliche Hunger sie nicht plagte. Seit gestern abend, als sie am Bahnhof die Bockwurst gegessen hatte, während sie auf Hardy wartete, hatte sie nur noch getrunken. Keinen Bissen mehr hinuntergebracht. Ines riß ein Streichholz an, setzte den Teekessel aufs Gas. Trübe sah sie zu, wie die Flammen sich unter den Topfboden duckten. Vielleicht war es gar nicht schlecht, abzuwarten. Sie merkte, wie ihre Entschlossenheit ungenau wurde, abnahm. Wenn es nun doch einen Ausweg gab aus der „Sache“. Hatte sie darauf nicht heimlich gehofft, als sie vorhin angerufen hatte - dann aber, durch ihr Schweigen, den Anruf gleichsam zurücknahm? Sie hatte
ja kein Wort gesprochen, nur der verwirrten Stimme der Mutter gelauscht. Wenn erst das Kappenfest vorüber war und bis zum Montag niemand etwas entdeckt hätte… Dieses Gedicht. Wieder ratterten ihr die Worte durch den Sinn, und sie wünschte, sie nicht aufgeschrieben zu haben. Jetzt kam es ihr vor, als habe sie das Unglück herbeigewünscht. Die „Sache“. Ines griff haltsuchend nach ihrem Zopf und stopfte sich das Haarende zwischen die Zähne. Sie biß, ohne sich dessen bewußt zu sein, ingrimmig auf diesem Haarbüschel herum. Die „Sache“. Strafe für die „Sache“, Strafe für Gedichtworte. „Zum Nachtisch holt er die Mutter…“ Sie war dem Weinen nahe. Als das Telefon zu läuten begann, ließ Ines erschreckt den Zopf fahren und schniefte einmal auf. Dann stand sie reglos und hörte fast andächtig zu. Hatte es mit der „Sache“ zu tun? Endlich gab der Anrufer auf. Die Stille in der Wohnung nach dem langen Schellen war unheimlich. Beklommen nahm Ines das Ziehen in Bauch und Rücken wahr, das erst Tage später fällig wurde. Sie spürte einen Schub lauen Blutes am Schenkel hinabrinnen. Die „Sache“ hatte sie aus der Bahn geworfen. Unter den geschwollen wirkenden Lidern kam ein kindlicher Blick hervor, der Hilfe suchte. Er fand aber nur den prallen Campingbeutel, der gepackt in einer Ecke stand, unberührt seit gestern abend. Sie mußte das Kostüm herausnehmen, ehe es ganz zerknautscht sein würde… Dick und kinderklein stand Ines in der fremden Küche und begann haltlos zu weinen. Hätte sie ihr doch aufgemacht, als sie vorhin wie verrückt geklingelt hatte. Dann wären sie wenigstens beisammen.
Ihr hatte ja der Mut gefehlt, der Mutter nach dem gestrigen Abend gegenüberzutreten. Ihre Augen mußten doch sogleich verraten, was sie wußte. Es war bereits dunkel, als Gemma vom Wohnungsamt heimkam. Im Hausflur roch es nach Zigarrenrauch. Gewarnt blieb Gemma stehen. Wieder hatte sie die Taschenlampe vergessen. Sie hörte den Alten heranschlurren. Dicht vor ihr blieb er stehen und riß ein Streichholz an. Während es niederbrannte, betrachtete Gemma beklommen den Widerschein in den gelblichen Augen des Mannes, deren kalter Blick sie an Reptilaugen erinnerte. Das Holz erlosch. Der Alte ließ es zu Boden fallen und zündete ein zweites an. Und jetzt erkannte Gemma Hardys Mackie-Messer-Stöckchen, das der Alte unter den Arm geklemmt hatte. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus. „Is meins“, sagte der Alte und wich zurück. Gemma atmete Fuselgeruch. Der Schreck, in Händen des Penners plötzlich das vermißte Stöckchen wiederzufinden, beengte ihr die Brust. „Das gehört Ihnen nicht“, sagte sie. Der Alte machte sich nicht die Mühe, abermals ein Streichholz zu entzünden. Im dunklen Hausflur waren lediglich seine Umrisse auszumachen. Eine Reaktion auf ihre Worte vermochte Gemma nicht zu erkennen. „Sie haben es gefunden, nicht wahr?“ Ihre bange Frage machte den Alten hellhörig. „Jefunden, ja. Is meins. Warum, hä?“ „Es - es gefällt mir.“ „Aha“, machte der Alte, der ein Geschäft zu wittern begann, schlau, „jefällt. Aha.“ Dieses zweimalige Aha versetzte Gemma in Furcht. Es
klang hinterhältig. Sie fragte schnell: „Wo? Wo haben Sie es gefunden?“ Ihr fiel ein, daß der Alte gestern abend kurz nach ihrer Ankunft durchs Haus geschlurft war. Er war doch nicht etwa in jener Straße gewesen. Ihre Stimme klang heiser, als sie fragte: „Wo? Am Bauzaun?“ „Kann schon sein. Die Leute schmeißen weg. Die schmeißen sonst was weg.“ „Was heißt: kann schon sein? Wo, will ich wissen. Wo haben Sie es gefunden?“ Der herrische Ton brachte den Alten auf. „Sachte“, sagte er drohend, „sachte, verstanden. Geht Sie nich an, Sie. Geht Sie wohl mächtig was an.“ Gemma schluckte. Wenn der Kerl ahnte, wieviel es sie anging, durfte sie ihn nicht zum Feind haben. „Gefunden“, trumpfte er noch einmal auf, „is meins.“ „Ja doch. Ja.“ Gemma verlieh ihrer Stimme einen halb begütigenden, halb bittenden Tonfall. „Ich frag’ nur so. Am Bauzaun, sagen Sie?“ „Jawohl“, log er, „hintern Bauzaun. Wegjeschmissen von irjend so ‘n feinen Pinkel.“ Gemma unterdrückte ein Stöhnen. Ihre schlimme Vermutung schien bestätigt. Hardy hatte sie beobachtet. Es war klar, daß ihr Verhalten ihn derart entsetzt haben mußte, daß er darüber sein Stöckchen vergaß, den Auftritt verpaßte… „Haben Sie ihn gesehen?“ „Hä?“ Was diese Frau für begriffsstutzige Fragen stellte. Was ging es sie an, daß er den Stock bei seinem Streifzug in Bahnhofsnähe gefunden hatte. Sollte sie zur Sache kom-
men. „Schöner Stock“, sagte er lockend, „wertvoll, ‘ne richtige Waffe. So ‘ne Art Dolch, wat.“ Das hatte er also entdeckt. Gemma hörte, wie er das Stilett aus dem Schaft zog und es wieder hineinschob. „Ob Sie den Mann gesehen haben. Den feinen Pinkel.“ Da sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, zuckte Gemma zusammen, als das unvermutete Auflachen des Alten ihr einen Schwall Fuseldunst ins Gesicht stieß. „Tropp, tropp, tropp“, sagte er anzüglich und begann zu husten, „der doch nich.“ Gemma gab es auf. Ohnehin bereitete diese seltsame Unterhaltung, bei der sie ihr Gegenüber nicht zu sehen vermochte, ihr Pein. Sie mußte unbedingt in den Besitz des Stockes kommen. Seiner habhaft werden und ihn einsperren wie einen belastenden Zeugen. Was ihr das nutzen sollte, wußte sie nicht. „Geben Sie ihn mir“, sagte sie, „er gefällt mir.“ Nach kurzer Pause sagte der Alte: „Mir auch.“ Seine Stimme verriet Gier. „Vielleicht verkauf ich.“ Gemma schössen Zahlen durch den Sinn. Der Kerl würde ausverschämt sein. Bis zu welcher Summe würde sie mithalten? Hundert Mark wären das Äußerste. Aber sie mußte den Stock in jedem Falle an sich bringen. Der Penner hatte sie vorübergehend, ohne es zu ahnen, in der Hand. „Was wollen Sie dafür?“ fragte sie beherrscht. Er antwortete ohne Zögern: „Zwanzig.“ Gemma, ungläubig: „Zwanzig Mark?“ „Isser wert, Sie.“ „Kommen Sie mit.“ Gemma tastete sich am Treppengeländer hinauf zu ihrer Wohnungstür, hinter sich den keuchenden Alten. Sie schloß auf, machte Licht. Den Mann ließ sie nicht ein.
Voller Mißtrauen beobachtete sie, wie seine Blicke alle Gegenstände, die er von der Türschwelle aus sehen konnte, habsüchtig taxierten. Gemma kramte in der Handtasche nach ihrem Portemonnaie, drückte dem Alten einen Zwanzigmarkschein in die Hand. „Is wertvoll“, sagte der Mann grinsend und streckte ihr das Stöckchen hin. Gemma riß es ihm aus der Hand. Sie hatte genug von seinen unverschämten Andeutungen. „Gehen Sie.“ Der Alte machte zögernd kehrt, und Gemma schloß die Tür hinter ihm ab. Sie stand einen Augenblick unschlüssig, den Blick auf das Stöckchen gerichtet. Sie mußte ruhiger werden. Sich nicht von Phantasievorstellungen narren lassen. Wenn sie diesen verkommenen Suffkopp zum Mitwisser hätte: er war absolut unglaubwürdig. Gemma zog das Stilett aus der Scheide. Die stumpfe Metallspitze war mit ockerrotem Sandstaub bedeckt, als habe jemand damit an Steinen gekratzt. Sie verschloß das Stöckchen im Kleiderschrank. Um sich abzulenken, stellte Gemma Bügelbrett und Plätte bereit. Sie begann das schwarze Faschingskostüm zu bügeln. Unvorstellbar, daß sie morgen abend zu einem Vergnügen gehen sollte. Die Trauerrobe hatte eine makabre Bedeutung bekommen. Würde sie wahrhaftig auf dem Kappenfest erscheinen, sie, eine Verkappte? Der zwielichtige Sinn, den jenes Wort für sie angenommen hatte, trieb ihr ein Frösteln über Nacken und Arme. Sie streifte die Kostümjacke über einen Bügel und hängte sie ins Bad, sich möglichst weit aus dem Blickfeld. Ines fiel ihr ein. Im Internat würden sie jetzt beim Abendbrot sitzen. Ein günstiger Zeitpunkt, sie an den Apparat rufen zu las-
sen. Sollte wenigstens die Tochter Freude an der neuen Wohnung haben. Gemma suchte die Vorwahlnummer für das Ferngespräch heraus. Nachdem sie gewählt hatte, meldete sich sofort das Lehrlingswohnheim. Ein Mädchen, das Telefondienst hatte, fragte phlegmatisch; Hm? „Weihmann. Ich möchte bitte meine Tochter sprechen, Ines Weihmann.“ Das Mädchen schwieg einen Augenblick. Dann kam ein wenig vorwurfsvoll: „Jetzt ist Abendbrot.“ Gemma hatte den Eindruck, daß damit das Telefonat für den Lehrling beendet sei. „Moment!“ rief sie, um das Mädchen am Auflegen zu hindern. „Dann werden Sie sich eben zum Speisesaal bemühen und meine Tochter ans Telefon holen.“ Wieder eine Pause, in der das Mädchen zu überlegen schien. Zögernd kam schließlich: „Na, warten Sie mal.“ Der Hörer wurde abgelegt. Gemma wartete ungeduldig. Nach geraumer Zeit meldete sich das Mädchen wieder. „Hallo? Ines ist nicht da.“ „Was soll das heißen? Wo ist sie denn?“ Das Mädchen wurde etwas mitteilsamer. „Ich weiß auch nicht, wo die steckt. Ich hab’ Ines heute überhaupt noch nicht gesehen. Gestern abend war sie auch nicht im Heim, weil sie zur…“ Gemma unterbrach: „Das ist Unsinn. Natürlich war sie, im Heim, sie hat mich doch angerufen.“ „Kann sie gar nicht.“ Die Stimme des Mädchens klang zurechtweisend. „Gestern war doch Donnerstag!“
„Na und?“ Das Mädchen stöhnte wie über jemanden, der sich ausnehmend begriffsstutzig anstellt. „Donnerstags ist GST. Fahrschule. Ines wird auf dem GST-Gelände gewesen sein.“ Nach kurzer Ratlosigkeit sagte Gemma: „Aber sie hat mich doch angerufen. Sehen Sie bitte in Ihrem Gebührenheft nach. Ines wird sich eingetragen haben.“ Das Mädchen atmete angestrengt unter der Bürde, die ihm da auferlegt worden war. „Moment,“ murmelte es. Gemma hörte Papier rascheln, das langsame Umblättern von Heftseiten. „Sag ich doch!“ Das Mädchen trumpfte auf. „Ines steht nicht im Heft. Kann sie ja auch nicht.“ „Ja dann…“ In Gemmas Zögern kam die Frage des Mädchens, ob es etwas bestellen solle. „Nein, danke.“ Gemma legte auf. Sicherlich hatte Ines einen ihrer vielen Anläufe zu einer Fastenkur genommen und war deshalb zu den Mahlzeiten nicht erschienen. Aber ihre Telefongespräche nicht im Heft zu vermerken, das sollte sie in Zukunft lieber unterlassen. Wie schnell wurde so ein kleiner Betrug entdeckt. Geistesabwesend betrachtete Gemma die Wohnungszuweisung, die sie seit Beginn des Telefonates nicht aus der Hand gelegt hatte. Was den Umzug betraf, so gab es keinen Aufschub mehr. Könnte sie, was geschehen war, doch in dem alten Haus zurücklassen, unauffindbar für jegliche Nachforschung. Gemma ging nach nebenan in das ungeheizte Stübchen,
das Ines gehörte. Klamme Kälte stand im Raum, auf den Möbeln lag eine dicke Staubschicht. Gemma empfand drückende Traurigkeit angesichts des vernachlässigten Zimmers. Was wollte sie hier. Unschlüssig zog sie den Schreibtischstuhl hervor, strich über die Rückenlehne. Suchte sie nun Zuflucht bei der Tochter, die sie in letzter Zeit sträflich vernachlässigt hatte? Sie brauchte einen Menschen. Mit Rolf war nicht zu rechnen. Sein eiliger Aufbruch heut morgen - und wie er den Wohnungsschlüssel an sich genommen hatte: als sei er ein Schandfleck in seiner Hand. Niedergeschlagen setzte Gemma sich an den Schreibtisch der Tochter. Ines hatte recht. Rolf War ein geschniegelter Affe, der sie ausnutzte. Was blieb ihr übrig, als es hinzunehmen. Dann liebte sie eben einen geschniegelten Affen, ihr blieb keine Wahl. Gemma schüttelte leicht den Kopf. Nein, ausnutzen tat er sie nicht, das war Unsinn. Ines wußte nicht, wovon sie sprach. Und sie ließ sich anstecken von dem Kindergerede, wurde ungerecht gegen Rolf. Er hatte Zärtlichkeit in ihr Leben gebracht, Wärme. Wie besorgt um sie war er gewesen, als sie im Sommer krank zu Bett gelegen hatte. Er hatte für sie gekocht. Rolf für sie in ihrer Wohnung: gekocht! Gemma lächelte wehmütig ihrer Erinnerung zu. Kaum zu glauben, daß es das gegeben hatte. Diese kurze Spanne Zeit, in der sie sich geborgen fühlen durfte. Eine Woche lang war er jeden Tag gekommen, hatte sich eine Schürze umgewickelt und am Herd gestanden. Hatte neben ihren Teller kleine, rührende Geschenke gelegt: eine Vogelfeder, Steinchen, eine blühende Lindenrispe. Und an seinen Augen hatte sie ablesen können, wie er sich freute, bei ihr zu sein. Ach, diese Zeit war längst dahin.
Gemma stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und legte das Gesicht in die Hände. Sie mußte zugeben, daß Rolf so uneigennützig nicht war. Damals war nichts zu spüren gewesen von seiner Neigung, materielle Vorteile zu nutzen. Wann hatte sie bemerkt, daß er auf diese Dinge aus war? Auf Vorteile, die der kirchliche Beruf ihm sicherte und die er bedenkenlos für sich in Anspruch nahm. Daß er, wie alle Pfarrer, mietfrei wohnte, auf Dienstkosten private Ferngespräche führte: Vielleicht bereute Rolf längst, daß er es erzählt hatte. In plötzlicher Wut dachte Gemma an das zerbeulte Auto. Es war sein dritter Dienstwagen. Der brauchte nicht wie sie zehn Jahre auf einen bestellten Wagen zu warten. Ohne einen Finger zu rühren, ohne einen Pfennig zu zahlen, bekam er bei Bedarf ein neues Auto vor die Tür gestellt. Gemma zog die Unterlippe zwischen die Zähne, kaute darauf. Sie hatte wahrhaftig keinen Anlaß, neidisch zu sein. Mit den ungerechten Vorwürfen, die sie in Gedanken gegen Rolf ins Feld führte, suchte sie doch nur der eigenen Misere zu entkommen. Seufzend hob Gemma den Kopf. Gedankenlos begann sie nacheinander die kleinen Schubfächer des Schreibtisches aufzuziehen und zu schließen. Bis ein Zettel ihre Aufmerksamkeit weckte. Die Anordnung der Wörter fesselte sie, es war ein Gedicht. Und es war die Schrift der Tochter. Gemma las, ohne das Blatt in die Hand zu nehmen. Ines schien von ihr abzurücken, wurde nahezu eine Fremde.
Mein Kummer: Ein streunender Kater. Die Mutter tritt ihn mit Füßen zum Hause hinaus. Platz braucht sie zum Tanzen, die Schöne. Mein Kummer, der hungrige Kater, frißt mich mit Haut und mit Haar. Zum Nachtisch holt er die Mutter. Gemma las die Zeilen immer wieder. Ihr anfängliches Befremden wandelte sich in ein Gefühl nutzloser Reue. Es war nicht mehr gutzumachen, was sie an der Tochter versäumt hatte. Tränen traten ihr in die Augen, die Schrift verschwamm. Das Gedicht war ja eine Liebeserklärung an sie. Erschüttert schob Gemma das Schubfach zu. Zum ersten Mal seit Jahren dachte sie an Ines’ Vater. Wie flüchtig war ihre Beziehung gewesen. Ines, ihr Zufallskind, schrieb heimlich Gedichte - wie ihr Vater. Aber er war nicht so schamhaft damit umgegangen. Er hatte Geld damit verdient.
9 Pfarrer Küchel stand bei der weitgeöffneten Eingangstür zum Konzertsaal und beklopfte mit seinem Spazierstock aufgeregt den Fußboden. Er sah Musiker
ihre Instrumente stimmen, hörte das erregende Gemisch kurzer Tonfolgen und gedämpfter Unterhaltung. Ab und an nickte er einem bekannten Gesicht in der Zuhörerschaft einen Gruß, ließ sein kleines, ehrliches Lächeln spielen. Hier stand er und gab sich harmlos, nachdem er um Haaresbreite Verrat geübt hätte. Innerlich erbebte er bei der Vorstellung, wie nahe er der Versuchung gewesen war, Rolf Schubert dem Klatsch auszuliefern. Auf dem Weg zum Konzert hatte er die musikbeflissene Kantorin getroffen. Pfarrer Küchel war zunächst verstört über einen derart hilfreichen Zufall. Jemand wie die Kantorin Müller war der denkbar beste Ausgangspunkt, ein Gerücht oder einen Klatsch unter die Leute zu bringen. Sie gehörte zu den vielen austauschbaren MüllerMeier-Lehmann-Schneiders beiderlei Geschlechts, die in jedem Amt, in jeder Institution zu finden sind. Die Anvertrautes ausplaudern, süchtig Neuigkeiten erlauschen. Fräulein Müller bewies ihre Eignung während der ersten paar Schritte, die sie neben Küchel herging. Was noch gar nicht offiziell bekanntgegeben worden war, wovon folglich Fräulein Müller noch nicht wissen konnte: Fräulein Müller wußte. Ihre großen Blauaugen hinter der modisch getrimmten Brille funkelten Küchel an. Sie barsten beinahe vor Mitteilungsdrang. „Wissen Sie, Herr Pastor, wer Sup wird?“ Die Abkürzung für Superintendent sprach Fräulein Müller gewollt nachlässig aus, derart beweisend, wie vertraut sie war mit bestimmten Umgangsformen, wie genau sie kirchliche Strukturen kannte. Küchel, ohne eigenes Zutun auf sein Anliegen gestoßen, nickte zurückhaltend.
„Und? Was sagen Sie dazu?“ Fräulein Müller ging neben Küchel her, ohne auf den Weg zu achten. Sie hatte den Hals gereckt, den Kopf schief zur Schulter geneigt, um Küchel ins Gesicht blicken zu können. Ihr fahles, halblanges Haar schlenkerte in der Luft. Küchel räusperte sich. „Tja. Was soll man da sagen.“ Fräulein Müller, geübt im Heraushören von Zwischentönen, fragt sofort: „Wieso? Es stimmt doch?“ Und als Küchel vage nickt, fragt sie: „Oder stimmt etwas nicht?“ Küchel wiegt bedächtig den Kopf, es ist kein Nicken, es ist auch kein Schütteln. „Was ist denn passiert?“ fragt Fräulein Müller und nimmt Küchel damit mindestens die Hälfte der Arbeit ab. Sie gehen schweigend ein Stück, nur das Stöckchen dröhnt auf dem Pflaster. Küchel seufzt. Fräulein Müller kann deuten. Warum sollte Küchel seufzen, wenn nichts passiert wäre. Bei ihrer Frage senkt Fräulein Müller unwillkürlich die Stimme. „Was ist denn mit Pfarrer Schubert?“ Küchel wird es heiß unter seinem Hemdkragen. Der Krawattenknoten drückt merklich und beschwert das Atmen. Die Zeit drängt, bald sind sie da. Wenn er es jetzt nicht sagt, ist die günstige Gelegenheit vertan. Schlechten Gewissens, ringt er sich jedoch nur die Wiederholung ihrer Frage ab. „Was mit Pfarrer Schubert ist?“ Ihm ist, als spüre er die Neugier des Fräuleins wie eine Berührung auf seiner Haut. Er muß das abstreifen, er ist dem nicht gewachsen. Verunsichert zückt er sein Taschentuch, tupft Stirn und Schläfen trocken. Ein stilles Stoßge-
bet läßt ihn aufseufzen: ,Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.’ Ja, er muß Schluß machen mit dem Plan, für den er nicht taugt und nicht taugen will. Doch Fräulein Müller hat den neuerlichen Seufzer groß im Ohr und versucht ihn zu deuten. Sie wendet den drängenden Blick nicht von Küchel ab. „Ist etwas passiert?“ fragt sie abermals. Und weil Pfarrer Küchel keine Antwort gibt, beginnt Fräulein Müller zu mutmaßen. „Ich könnte mir keinen vorstellen, der geeigneter wäre zum Sup als Pfarrer Schubert. Haut dienstlich etwas nicht hin?“ Küchel schüttelt den Kopf. Während er das Taschentuch einsteckt, wagt er einen schnellen Seitenblick. Die Augen des Fräuleins vergrößern sich, als sei es mit heiklen Gedanken beschäftigt. Da spricht sie es schon aus. „Familiär vielleicht?“ Nein. Küchel stößt sein Stöckchen heftig auf. Er wird es nicht tun. Keinen Menschen wird er den lüstern klingenden Mutmaßungen eines Fräuleins Müller oder anderer Leute ausliefern. „Nichts“, sagt er. Den Kratzer in der Stimme räuspert er weg und wiederholt fest: „Es ist nichts.“ Fräulein Müller nimmt endlich den Blick von Küchel, sie streicht ihre Haarfahne hinters Ohr. „Aber Sie haben doch…“, fängt Fräulein Müller nochmals an, „mir kam es so vor…“ Ihre Worte klingen enttäuscht. „Liebes Fräulein Müller“, entgegnet Küchel herzlich. Er lächelt; denn er fühlt sich erleichtert. Und sein Lächeln vertieft sich, und in seinen Worten ist ein Anflug von Schelmerei. „Mein liebes Fräulein Müller. Lassen Sie sich nicht so leicht etwas irgendwie vorkom-
men. Es ist alles in Ordnung. Hören Sie nicht drauf, wenn Fliegen husten. Ich war vorhin mit meinen Gedanken - weit weg.“ Fräulein Müller schüttelt matt den Kopf, das Haar entschlüpft dem fesselnden Ohr und verhängt des Fräuleins Gesicht vor Küchels Blicken. „Hm“, macht Fräulein Müller und läßt die Neuigkeit, die sich nicht hat einstellen wollen, ins Vergessen rutschen. Ist augenblicks mit ihren Gedanken anderswo, besinnt sich auf ein Anliegen, das sie Ratzner hat vortragen wollen. „Ob Oberkonsistorialrat Ratzner im Konzert ist?“ „Das wird er wohl“, antwortet Küchel herzlich. Und nun, wenige Minuten später, sah Küchel vom Eingang des Konzertsaals aus zu, was hätte geschehen können, wenn er geredet hätte. Dankbar genoß er es, nicht schwach geworden zu sein. Fräulein Müller hatte Platz genommen, aber immer wieder den Kopf gedreht und Umschau gehalten. Ein kurzes Stutzen verriet, daß sie offenbar erblickt hatte, wonach ihre Blicke gesucht hatten. Jetzt warf sie energisch das Haar. Sie wogte hoch, schlängelte sich aus ihrer Sitzreihe und strebte einem Manne zu. Küchel erkannte ihn nicht gleich. Doch als der Mann nun aufstand, neben Fräulein Müller ein paar Meter zur Seite trat, in Nähe einer Fensternische, erkannte er Ratzner. Seine Halbglatze und die hochgekämmten Schläfenhaare zeigten ihm eindeutig den Oberkonsistorialrat. Pfarrer Küchel hielt sein Stöckchen in der Schwebe, es war, als halte es mit ihm gemeinsam den Atem an. So wenig hatte gefehlt, und sein Verrat an Schubert wäre jetzt weitergereicht worden. Was OKR Ratzner wußte, erfuhr unweigerlich
der Bischof. Und dann ging alles seinen kirchenrechtlichen Gang. Betroffen verfolgte Küchel, wie prompt Worte wirken können. Was nur hatte die Kantorin immer zuzutragen. Ratzners geneigtes Ohr lauschte den beflissenen Worten des Fräuleins. Ratzners Kopf fuhr zurück, als habe er einen Schlag empfangen. Ratzners Hand legte sich sekundenkurz über Ratzners Augen. Ein Moment der Starre. Dann schüttelte der Oberkonsistorialrat flau den Kopf, während Fräulein Müllers Kopf beharrlich nickte. Ratzner hielt sich sekundenlang reglos. Dann schien er der Kantorin beizupflichten. Er hob seine kleine Hand, fuhr sanft am linken Schläfenbüschel auf, strich rechts die Haare in die Höhe. Er nickte ein einziges Mal Zustimmung. Küchel holte seine Blicke zurück. Erleichtert und beklommen zugleich begab er sich an seinen Platz. Er schloß die Augen. Während er der Musik lauschte, ging’s ihm immer wieder durch den Sinn, daß er verschont geblieben war. Vor eigener Niedrigkeit. Gott sei gedankt! „Wo viele Worte sind, da geht’s ohne Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen im Zaum hält, ist klug.“ Küchel atmete tief und öffnete die Augen. Da gewahrte er, daß jemand ihn anblickte. Wenige Reihen schräg vor ihm saß der pensionierte Amtsbruder Straßburger und schaute sich nach Küchel um. Seit Monaten hatten sie einander nicht getroffen. Erfreut nickte Küchel ihm zu. Sie tauschten stumme Zeichen, nach dem Konzert aufeinander zu warten. Küchel lehnte sich zurück. Schon der bloße Anblick des hageren Mannes tat ihm wohl. Sofort hatte er Straßburgers ruhige Stimme wieder im Ohr, entsann sich dessen schlichter Predigten. Küchel schloß abermals die
Augen. Mit Straßburger würde er sprechen können über das, was ihn verletzt hatte. Was er über Rolf Schubert wußte. Nach dem Konzert ließ sich Küchel mit dem Menschenstrom aus dem Saal die Treppe hinab und auf die Straße treiben. Er stützte sich auf sein Stöckchen und wartete. Er sah Ratzner in die Novembernacht tauchen, seine Schläfenhaare wehten im Wind. Er sah, wie Fräulein Müller sich auf die Zehenspitzen hob, nach irgendwem ausschaute und unschlüssig davon schlenderte. Und nun kam Straßburger auf ihn zu, groß, leicht gebeugt, eine Baskenmütze auf dem Kopf. Sein mageres Gesicht hellte sich auf, während er Küchel die Hand schüttelte. Das brachte nur Straßburger fertig. Nach so langer Zeit eine wortlose Begrüßung, die nicht peinlich oder unpassend wirkte. Er berührte Küchel leicht am Ellenbogen, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Straßburger schlug die Richtung zu seiner Wohnung ein. „Sie kommen doch mit mir, Bruder Küchel.“ Gleich beim Betreten des Zimmers hatte Straßburger das Fenster geöffnet. Im überheizten Raum tickte schwerzüngig eine Wanduhr und schuf mit diesem trägen Geräusch eine nächtlich-friedvolle Atmosphäre. Straßburger hatte eine Flasche Wein aufgezogen, Römerkelche gefüllt und sich Küchel gegenüber unter eine matt scheinende Wandleuchte gesetzt. Auf dem runden Tisch zwischen ihnen hatte er eine Kerze angezündet. Mehr als eine Stunde war vergangen. Küchels Ohren hatten sich gerötet, während er dem Amtsbruder von seiner Enttäuschung über Schuberts Berufung erzählt hatte. Mitunter war ihm die Stimme weggekippt, wenn er em-
pört Schuberts Eignung für das Amt angezweifelt hatte. Und als er davon sprach, daß Schubert eine außereheliche Beziehung habe, hatte Straßburger ihm das Stöckchen abnehmen müssen: Küchel hatte Tischkante und Fußboden heftig damit traktiert, und Straßburger hatte fürchten müssen, daß seine Frau von dem Lärm erwachte. Straßburgers teilnahmsvolle Zwischenfragen, seine verständnisvollen Bemerkungen hatten Küchel gestärkt. Er nahm einen tiefen Zug vom Wein und schaute dem Uhrpendel zu, das ihn nach überstandener Pein angenehm schläfrig stimmte. Vor dem Fenster fielen einzelne Tropfen. Wind blähte die Gardinen, die Kerzenflamme auf dem Tisch flackerte. Straßburger erhob sich, tappte steifbeinig zum Fenster. Er schloß es jedoch nicht, sondern blickte eine Zeitlang stumm in die Dunkelheit hinaus. Stimmte denn, was er dem Bruder Küchel gesagt hatte? Würde Schubert wirklich mit größeren Aufgaben auch menschlich wachsen? Würde er seinen Fehltritt gutmachen? Und würden schließlich die Amtsbrüder Rolf Schubert durchschauen, wenn er sein Amt um persönlicher Vorteile willen- mißbrauchen sollte? Straßburger atmete tief die feuchte Luft. Mehr, als er sich eingestehen wollte, belastete Küchels Geständnis sein Gewissen. Straßburger kam zum Tisch zurück und setzte sich. „Ohne Vertrauen kommen wir nirgendwo weiter“, sagte er still, „und Lügen entlarven sich irgendwann von selbst.“ „Wollen wir es hoffen“, entgegnete Küchel. Straßburger bekräftigte diese Hoffnung. „Das Brot der Lüge schmeckt einem Manne gut; doch nachher füllt sich sein Mund mit Steinen. - Vertrauen wir dem Spruch.“ Küchel
nickte einverstanden. Auf dem Heimweg war er so erleichtert, daß er übermütig sein Stöckchen schwenkte. Befreit von der Last, die er bei Straßburger hatte abladen dürfen, war die gewohnte Seelenstärke ihm wiedergegeben. Küchel ahnte nichts davon, in welchem Zustand er seinen ehemaligen Amtsbruder Straßburger zurückgelassen hatte. Der alte Mann verbrachte eine schlaflose Nacht voller Gewissensnot. Durchdrungen vom Verantwortungsgefühl seines Berufes, grübelte er nach einem Weg. Wem durfte er sich anvertrauen? Bei wem durfte er Verschwiegenheit und Verständnis erwarten? Seine Wahl fiel endlich, nach langem Prüfen, auf Ratzner. Straßburger rief den Oberkonsistorialrat in aller Frühe an. Doch das Telefonat, das er mit behutsamen Worten eingeleitet hatte, entglitt ihm. Ratzner, sofort alarmiert, übernahm die Führung des Gesprächs und entlockte Straßburger alles, was er über Rolf Schubert gehört hatte. „Zum Nachtisch holt er die Mutter.“ Gemma schob das Schubfach zu. Die Worte, die so radikal auf Gedeih und Verderb in ihre Nähe drängten, gingen ihr nach. Wie Ines wohl zu ihr stehen würde, wenn sie vom gestrigen Abend etwas wüßte. Sie sprang auf, als sie es an der Wohnungstür schließen hörte. Ines durfte sie nicht an ihrem Schreibtisch finden und meinen, sie habe geschnüffelt. Daß Ines gar nicht in die Wohnung konnte, fiel Gemma erst ein, als sie im Korridor Rolf gegenüberstand. Die freudige Regung erstickte sofort, als sie seinen Gesichtsausdruck wahrnahm. Er lächelte nicht. Alle Sanftheit war aus seinen Zügen
verschwunden. Noch bevor er sprach, fürchtete Gemma sich vor seiner Stimme. Er stand drohend bei der geschlossenen Wohnungstür. Sie sah, daß er in den Manteltaschen Fäuste ballte. Er schien nicht gewillt abzulegen. Mühsam beherrscht fragte er: „Was war gestern los?“ Gemma öffnete unwillkürlich den Mund. Der Schrecken des vergangenen Abends war mit voller Heftigkeit wieder wach. Was wußte Rolf plötzlich. Jetzt erkannte sie auch, seinen unbarmherzigen Blick auf sie gerichtet, warum sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Er war ja feindselig gestimmt, er war ja gegen sie. Mit welcher Lüge sollte sie jetzt… Ihre Stimme klang spröde: „Ist etwas - hat es mit dem Auto nicht geklappt?“ „Das fragst du?“ Er war mit seiner Beherrschung am Ende. Er wurde laut und scharf, Gemma legte spontan einen Finger über die Lippen. „Schrei doch nicht!“ Rolf, ungehalten: „Hier hört uns niemand. Hier nicht!“ Er tat einen raschen Schritt auf sie zu, und Gemma wich zurück. „Vor mir muß man keine Angst haben. Ganz im Gegensatz zu dir. Einen üblen Streich hast du mir da gespielt.“ Sie wagte nicht, ihn zu berühren. Bittend öffnete sie ihm die Zimmertür. „Komm ‘rein.“ Er lehnte es ab, sich zu setzen. Ein paarmal ging er auf und ab, blieb schließlich vor ihr stehen. „Also. Wie ist das passiert?“ Gemma stand hilflos. Sie legte die Hände ineinander, rang sie stumm. Das Knacken der Fingergelenke beschwor augenblicklich die Erinnerung. Sie sah die ver-
renkte Hand auf dem Straßenpflaster, blickte in verdrehte Augen. Verzweifelt raunte sie: „Mein Gott. O mein Gott.“ Selbst in dieser Situation wies er sie zurecht. „Laß Gott aus dem Spiel.“ Er griff in die Innentasche seines Mantels. Wütend schleuderte er Gemmas Fahrerlaubnis auf den Tisch. „Wie ist das in mein Auto gekommen?“ Er schlug sich vor die Stirn. „Das ist doch nicht zu fassen! Wenn das Absicht war…“ Sein kalter Blick machte Gemma schaudern. „Wenn das Absicht war, dann hast du dich verrechnet. So fängt man mich nicht.“ Sie begriff nicht. Seine Worte waren so verletzend, daß sie flehend sagte; „Sprich nicht so mit mir. Wieso denn fangen? Was meinst du, Rolf?“ „Was ich meine?“ rief er erbost. „Das fragst du noch? Was hast du mir denn gestern abend vorgelogen? Und ich Dummkopf bin drauf reingefallen. Als der Autoschlüssel in der falschen Tasche war, da hätte ich es wissen müssen. Du bist gestern mit meinem Auto zum Theater gefahren, so ist es doch, nicht wahr? Ohne mich zu fragen – und dann das!“ Gemma zitterte, wieder versuchte sie, seine Lautstärke zu dämpfen. „Bitte: nicht so laut!“ Rolf schlug mit der Faust gegen die Wand. „Was soll das Getue hier in dem leeren Haus. Hast du Angst, die Wände hören zu?“ In dem Augenblick kurzer Stille, der dem Schlag gegen die Wand folgte, brach ein Putzbröckchen ab und rieselte zu Boden. An der Stelle, von der es sich gelöst hatte, zeigte sich ein ockerroter Fleck in der Wand. Beider Bli-
cke verweilten kurz darauf. „Wirklich abrißreif“, sagte Rolf mit solchem Nachdruck, daß er nicht nur das Haus zu meinen schien. „Ist das Auto - ist es in der Werkstatt?“ fragte Gemma bang. Er winkte ab. „Sieglinde hat es hingebracht. Darum geht es überhaupt nicht.“ Erneut stieg Zorn in ihm auf. Er atmete hörbar. „Und was findet meine Frau, als sie mit dem Wagen in die Werkstatt fährt? Deine Fahrerlaubnis! Sehr schön, wahrhaftig.“ Gemma schluckte nervös. „Wie stehe ich da!“ fuhr er aufgebracht fort. „Völlig überrumpelt muß ich Lügen erfinden. Muß Sieglinde ins Gesicht hinein etwas vorlügen von einer Tramperin, die ich gestern ein Stück mitgenommen habe. Sehr glaubwürdig finde ich das nicht.“ Er seufzte auf in Erinnerung an die Szene zu Haus. „In welche Situation hast du mich da gebracht! Darüber machst du dir wohl keine Gedanken. Meine Frau kommt nach Haus, nachdem sie den Wagen in der Werkstatt abgeliefert hat, und fragt mich ganz harmlos, wer Gemma Weihmann sei. Zum Glück rückt sie gleich mit deiner Fahrerlaubnis heraus, und mir fällt die Trampgeschichte ein. Ich hoffe nur, sie glaubt es.“ Und dann ein rascher Einfall: „Natürlich wird sie sich dein Foto angesehen haben. Du meine Güte!“ Er begann wieder zu wandern, die Hand an der Stirn. „In der Stadt hängen massenhaft Bühnenfotos von dir. Wenn sie dich wiedererkennt.“ Gemma benahm es den Atem. Vorübergehend deckte
die Kränkung ihre Angst vollkommen zu. „Darf eine Schauspielerin nicht trampen?“ fragte sie tonlos. „Du möchtest, ich soll mich unsichtbar machen, nicht wahr. Am liebsten hättest du mich aus der Welt. Hab’ ich recht, Herr Superintendent?“ Rolf wurde blaß. Der Amtstitel reizte ihn aufs äußerste. Er schleuderte ihr die Worte ins Gesicht: „Denkst du denn immer nur an dich!“ Sie blickte ihn fassungslos an. „Rolf,“ sagte sie bittend. Er beachtete sie nicht. In raschem Entschluß legte er den Schlüssel, den er am Morgen von Gemma empfangen hatte, zu der Fahrerlaubnis auf den Tisch. „Unter diesen Bedingungen“, sagte er, „du verstehst.“ „Nein!“ Sie schrie es. Rolf zuckte zusammen. In ihren Augen las er Panik. Sie stürzte auf ihn zu, klammerte sich an ihm fest. Befremdet spürte er, daß sie am ganzen Körper bebte. Er schob sie gewaltsam von sich. „Nimm dich zusammen. Du weißt, daß du jetzt klug sein mußt, wie ich es auch bin. Ich werde vorläufig nicht kommen.“ Er sah ihr entgeistertes Gesicht. „Bis Gras über die Sache gewachsen ist“, fügte er feige und zugleich widerwillig hinzu. Gemma schüttelte stumm den Kopf. „Ich brauche dich“, brachte sie schließlich hervor. Plötzlich hatte er wieder seine sanfte Streichelstimme: „Daran hättest du vorher denken müssen, Gemma.“ „Vorher?“ fragte sie heiser. „Ja. Vor gestern abend.“ Sprachlos sah sie zu, wie er aus dem Zimmer ging. Sie hörte die Wohnungstür hinter ihm zuschnappen. Er war
wirklich gegangen. Langsam bewegte Gemma sich durch das Zimmer. Stand dann im Korridor und schaute benommen die Wohnungstür an. Sie stellte sich dicht an die Tür und lehnte eine Wange dagegen. Sie ließ sich langsam zu Boden gleiten, das Gesicht rieb sich schmerzhaft am rauhen Holz. Sie kniete neben der Tür. Die schmerzende Wange ließ sie unversehens an das aufgeschrammte Handgelenk denken. Sie hob den Arm ein wenig, betrachtete die unscheinbare Verletzung sehr eingehend. Wer nichts wußte, sah es nicht. „Zum Nachtisch holt er die Mutter“, murmelte sie vor sich hin. Erschöpft vom Warten, war Ines schließlich eingeschlafen. Als sie erwachte, war es bereits dunkel im Zimmer. Sie wußte nicht gleich, wo sie war. Der Schein einer Straßenlaterne sprenkelte den Raum mit schwachen Lichtspritzern. Sie kauerte in einem Sessel. Und wer lümmelte dort im Sessel gegenüber? Der Kopf schien ihm auf die Brüst gesunken, Ines nahm nur die verdrehten Arme wahr, die über das Rückenpolster des Sessels baumelten. Und den schwarzen Hut, der auf den Armen ruhte. Sie rührte sich nicht. Atemlos starrte sie das reglose Gegenüber an, bis sie erkannte, daß es ihr Kostüm war. Sie selbst hatte es vorhin dort ausgebreitet. Wann war das Kappenfest? Heute? Morgen? Wo blieb Hardy? Sie war ja noch immer in der fremden Wohnung allein. Er hatte verspro-
chen, nach dem Besuch bei diesem Rechtsanwalt-Freund gleich wieder zu ihr zu kommen. Unverwandt behielt Ines das Kostüm im Blick. Und dabei merkte sie, daß sie innerlich von Hardy abgerückt war. Obwohl sie es gewesen war, die ihn gestern zu kopfloser Eile angetrieben, fast gezwungen hatte, konnte sie jetzt nicht mehr begreifen, daß Hardy mitgespielt hatte. Das hätte er nicht gedurft. Er hätte sich widersetzen müssen gegen ihre dringlichen Bitten. Schade, daß Richard zum Wochenenddienst mußte. Ines war sicher, daß er den Vorfall mit ihren Augen sah. Entschlossen stand sie auf und knipste das Licht an. Sie schaltete das Radio ein. Irgend etwas mußte sie tun. Sie durfte nicht abwarten, wie Hardy für sie entscheiden würde. Schließlich war sie kein Kind mehr. Und doch schaukelte die weiche, süße Musik, die aus dem Radio flutete, sie nicht anders als ein Kind in bergender Umarmung hin und her. Die Klänge machten ihr etwas vor, Illusionen über die eigene Stärke berauschten das Mädchen. Im Geist legte Ines sich Worte zurecht, mit denen sie vernünftig darlegen würde, was sich ereignet hatte. Sie würden überzeugen, und man mußte ihr glauben. Hardy durfte sie nicht hindern, die Wahrheit zu sagen. Etwas beunruhigte. Unbewußt griff Ines nach ihrem Zopfende, schob es zwischen die Zähne. Sie machte sich etwas vor. Hardy wollte sie ja gar nicht hindern, die Wahrheit zu sagen. Er hatte nichts im Sinn, als Gemma zu schonen. Doch es gab diese Möglichkeit nicht. Keine Rettung für die Mutter, wie würde sie das überstehen. Alles wäre anders gekommen, wenn nicht ausgerechnet gestern der Pope bei ihr gewesen wäre. Die Wirkung der
Musik verebbte. Mit unglücklichem Blick unter den geschwollenen Augenlidern starrte Ines vor sich hin, in den gestrigen Abend zurück. Als sie am Bahnhof aus dem ungeheizten Zug aussteigt, ist sie ganz steif vor Kälte. Schon vor der Fahrt war sie durchfroren gewesen. Sie hatte auf dem zugigen Gelände der Gesellschaft für Sport und Technik gestanden und auf ihre Fahrstunde gewartet. Endlich hatte jemand gesagt, daß die Stunde ausfällt, der Fahrlehrer krank sei. Kurz entschlossen hatte sie ihren Beutel gepackt und war, ohne sich im Lehrlingswohnheim abzumelden, nach Haus gefahren. Die Fahrt über denkt sie daran, daß ihren Schlüssel jetzt der Pope hat. Ihren ersten Impuls bei der Ankunft am Bahnhof, die Mutter einfach zu überraschen, verwirft sie. Sie kauft am Blumenkiosk ein winziges Sträußchen Strohblumen für die Mutter. Dann wartet sie vor einer Telefonzelle, bis sie an der Reihe ist. An Gemmas Stimme errät sie sofort, daß sie nicht allein ist. Die Mutter spricht hastig, abgelenkt, fern-glücklich. Mit ihr, das läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, weiß die Mutter an diesem Abend nichts anzufangen. „Du, ich bin auf dem Sprung.“ Ines weiß darauf nichts zu entgegnen. Die Worte wirken wie ein Schlag, ihr Kummer meldet sich augenblicks. Der streunende Kater, den die schöne Mutter mit einem Fußtritt aus dem Hause treibt. „Ich muß noch etwas besorgen gehn.“ Wie ungeduldig das klingt. Ja, denkt Ines bitter, du brauchst Platz zum Tanzen, da bin ich im Wege. Was
hast du abends noch zu besorgen, es kann nur etwas für ihn sein. Und mit borstiger Stimme, weil ihr schon wieder Tränen die Kehle rauh machen, fragt Ines, ob Besuch da sei. Gemmas kleines Lachen, mit dem sie die Frage abtut. Wie ein kleines Glöckchen klingt es Ines ins Ohr, Silberklang, der zornige Enttäuschung in ihr weckt. Stumm hört sie zu, wie sie abgeschoben wird, wieder einmal. Sagt kein Wort davon, daß sie schon in der Stadt ist, als die Mutter nach dem Wochenende fragt. „Na dann…“ Mehr bringt sie nicht hervor, sagt es, so forsch sie es kann. Steht wie vor den Kopf geschlagen, als die Mutter auflegt. Was soll sie tun, wenn sie zu Haus nicht nach Haus kommen darf. Der Einfall bereitet ihr Herzklopfen. Ines guckt den Telefonapparat an, während sie schon nach der nächsten Münze fischt. Die Rufnummer weiß sie im Schlaf. Sie nimmt ihren Mut zusammen, ruft bei ihm an. Wieder ist sie hingerissen von Hardys Fähigkeit, Dinge zu verstehen. Während sie noch Erklärungen stammelt, weiß Hardy schon, was zu tun ist. Auch er ist auf dem Sprung - doch anders als die Mutter. Er muß ins Theater zur Vorstellung fahren. Aber so viel Zeit hat er noch, sie vorher am Bahnhof abzuholen und bei seiner Wohnung abzusetzen. Warte am Ausgang. Ich bin gleich da. Ines ist entschädigt für die Abfuhr, die sie von der Mutter hat hinnehmen müssen. Daß sie noch rasch eine Bockwurst ißt, geschieht weder aus Hunger noch aus Kummer. Nur so. Sie muß die Zeit füllen, bis Hardy sie abholt. Ines steht kauend vor dem Bahnhofsportal. Das Strohblumensträußchen hat sie losgelassen, als habe sie es nie in Hän-
den gehabt. Es ist neben ihr zu Boden gefallen. Da liegt es, und sie schaut nicht ein einziges Mal hin. Sie wendet sich ab und geht ein paar Schritte, als sie den alten Stromer aus dem Hinterhaus in Bahnhofsnähe lungern sieht. Der scheint überall zu sein. Der Einfall kommt ihr, als Hardy lächelnd vor ihr steht. Ines hat nicht gesehen, wo er den Wagen geparkt hat. Hardy deutet mit dem Kopf, der Autoschlüssel baumelt an Hardys kleinem Finger. Als Ines ihre Bitte ausspricht, wird sein Gesicht ernst. Prüfend schaut er sie an. Er nickt nicht, und er sagt auch nichts. Aber als er vor ihr her zum Auto geht, weiß Ines, daß er ihren Wunsch erfüllen wird. Er hält den Kopf unmißverständlich gesenkt. Und als Ines ins Auto steigt, merkt sie vor Freude nichts. Hardys Stöckchen, das vom Sitz geglitten war, stößt sie unachtsam mit dem Fuß aus dem Wagen. Ines warf den Zopf auf den Rücken. Sie zwinkerte. Die Bilder des gestrigen Abends standen so deutlich vor ihr, daß sie aufstehen mußte, um ihnen zu entkommen. Sie lief im Zimmer auf und ab, schaltete das Radio aus. Verstohlen blickte sie zum Telefon. Sie pirschte sich in die Nähe des Apparates. Ob die Mutter zu Hause war? Vorstellung hatte sie heut abend nicht, eine Probe war ebenfalls nicht angesetzt. Wo sonst sollte sie sein als in ihrem Zimmer, zusammengekauert im Sessel neben dem Kachelofen. Dort würde sie lesen, hin und wieder fragend den Blick zur Wanduhr heben, rauchen. Insgeheim das Telefon belauern. Nein, das war unmöglich. Die Mutter konnte nicht wie an früheren Abenden, als das Unheil noch nicht geschehen war, in Gelassenheit den Abend verbringen. Ines konnte es sich einfach nicht vorstellen.
Vielleicht stand die Mutter in der dunklen Küche und horchte auf eingebildete Schritte, die sich nähern würden. Vielleicht verbarg sie sich hinter der Gardine und beobachtete voller Angst die dunkle Straße. Womöglich hoffte sie sogar, daß die Tochter kommen würde. Dieser Gedanke erweckte in Ines Mitleid. Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus. Und wenn der Pope bei ihr war? Ines ließ die Hand sinken. Sie horchte auf. Es schloß an der Wohnungstür. Endlich war Hardy zurück. Wortlos kam er ins Zimmer. Ines erschrak, so jammervoll sah er aus. Er war zu verzweifelt gewesen, um sich heut morgen rasieren zu können. Die Bartstoppeln im blaßgrauen Gesicht, das dunkle Haar, das ihm am Kopf klebte und strähnig ins Gesicht hing - er war für Ines kaum wiederzuerkennen. „Hardy“, sagte sie eingeschüchtert, „sag doch etwas.“ Er richtete den Blick auf sie, als erkenne er sie nicht. Seine Augen glänzten unnatürlich. „Hardy?“ fragte Ines angstvoll. Statt einer Entgegnung nickte er nur einmal mit dem Kopf. Er ging aus dem Zimmer, Ines hörte ihn in der Küche die Kühlschranktür öffnen und schließen. Dann kam er zurück, eine Schnapsflasche in der Hand, die er noch im Gehen aufschraubte. Er trank einen Schluck, stellte die Flasche ab und ließ sich in den Sessel sinken, auf dem das Faschingskostüm lag. Der schwarze Hut kollerte zu Boden, Hardy neben die Füße. Er merkte nichts. „Hardy!“ Beklommen rief Ines ihn abermals beim Namen. „Hardy“, bat sie, „rede mit mir. Bitte, trink doch nicht!“ Hardy bedeckte die Augen mit einer Hand. „Es brennt“, murmelte er, „es brennt entsetzlich.“
Ines kam einige Schritte heran. „Was brennt, Hardy?“ Hardy griff nach der Flasche. Ohne getrunken zu haben, setzte er sie wieder ab. „Mir brennt das Herz. Das Herz brennt mir im Leib, und es kann nicht aufhören zu brennen.“ Nach einer Pause stöhnte er auf. „Was hab’ ich nur getan. Wie konnte ich euch allen das antun!“ Verzweifelt goß er sich einen Strahl Schnaps in den Schlund. Ines kam zu ihm, kauerte neben dem Sessel nieder. „Du hast doch keine Schuld“, sagte sie drängend, „du doch nicht.“ Hardy schaute sie an. In seinem Blick las Ines so entfesselten Schmerz, daß sie zurückwich. Es geschah zum ersten Mal in ihrem sechzehnjährigen Leben, daß sie diesen Ausdruck in Menschenaugen fand. Mit hastigen Worten versuchte sie, Hardy zu überreden. „Komm doch. Komm, Hardy, wir gehen zusammen hin. Wir müssen alles sagen, was wir wissen.“ Für einen Augenblick tauchte Hardy auf. Alarmiert und nüchtern fragte er: „Du willst zur Polizei?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich meine Gemma. Bitte, Hardy.“ Hardy drehte den Kopf weg. Er, der Bitten so schwer widerstehen konnte, mußte sich sichern vor diesem Kinderblick. „Es ist besser“, fuhr Ines fort, „wenn Mami vorher erfährt, daß wir zur Polizei gehen. Wenn sie es vorher von uns erfährt. Wir müssen doch, Hardy, nicht wahr?“ Er antwortete nicht. Ines richtete sich aus der Hocke auf, blieb ratlos neben Hardy stehen. „Dann gehe ich allein.“ Er griff nach ihrem Handgelenk. „Laß mich nicht
allein, Ines.“ Sein flehender Tonfall machte sie hilflos. Sie betrachtete seine Hand, die ihren Arm festhielt. Gestern noch war sie in ihn verliebt gewesen. Und jetzt kam er ihr wie ein kleiner Junge vor, dem sie beistehen mußte. Sie suchte nach Worten, die ihn ein wenig trösten konnten. Gemmas Bericht über Hardys schwere Zeit fiel ihr ein. Sie beugte sich vor und fragte mitfühlend: „Leidest du an schwarzen Schmetterlingen?“ Ines hatte nicht vermuten können, welchen Aufruhr dieser Satz in Hardy wachrufen würde. Verblüfft schaute er zu ihr auf. Dann ließ er langsam, als lege er einen zerbrechlichen Gegenstand zur Seite, ihren Arm los. Einen Moment saß er steif aufrecht, und dann schien die Wucht der Erinnerung ihn kopfüber umzuwerfen. Er schlug mit der Stirn auf die Tischplatte und schluchzte gequält auf. „Nicht noch einmal“, stieß er hervor, „ich kann das nicht noch einmal ertragen! Einfach fortgegangen war sie mit dem Jungen, ohne ein einziges Wort. Kein Wort. Nichts! Er ist doch mein Sohn!“ Hardy richtete sich auf und schlug sich mit der Faust vor die Brust. „Es ist mein Kind, genausogut wie ihres!“ Die Stimme versagte ihm. Er sank in sich zusammen. Er winkte heftig mit der Hand ab, sich selbst die Tränen verbietend. Es half nicht, sie rannen ihm über das schutzlose Gesicht, und er gab sich keine Mühe, sie zu verbergen. Ines stand ganz still bei ihm und sah ihm zu. Sie begriff nicht ganz. Dennoch ahnte sie inmitten der Wirrnis etwas davon, daß andere Dinge einmal in ihrem Leben etwas zählen würden. Daß es nicht darauf ankam, dick zu sein oder nicht,
sich schuldig gemacht zu haben oder frei von Schuld zu sein. Und sie faßte diese undeutliche Gewißheit in behutsame Worte. „Trink einen Schluck, Hardy.“ Sie streckte ihm die Flasche hin. Hardys dankbares, kaum wahrnehmbares Lächeln verlieh ihr ungemeine Kraft. „Sollst mal sehn“, sagte sie mit solcher Überzeugung in der Stimme, als sei der gestrige Vorfall aus der Welt. Doch Hardy trank nicht. Er nahm Ines die Flasche aus der Hand, stellte sie wieder auf den Tisch zurück. Gefaßter als zuvor sagte er: „Das könnte ich kein zweites Mal ertragen, weißt du. Nach langer Zeit wiederkommen und verlassen worden zu sein. Richard nicht mehr vorzufinden.“ Er strich sich das klebende Haar aus dem Gesicht. „Verstehst du das, Ines?“ Sie verstand. Aber sie konnte es nicht sagen. Verlegen bückte sie sich und hob den Hut auf. Sie senkte den Blick auf die schwarze Kappe, die über ihrer Faust saß wie eine Glocke. „Aber was sollen wir tun?“ fragte sie, plötzlich wieder mutlos geworden. „Wir müssen doch…“ „Wir gehen morgen zum Kappenfest“, antwortete Hardy rasch, „danach, Ines, ich schwöre es…“ Sie unterbrach ihn heftig. „Warum nur? Das eben verstehe ich nicht. Warum willst du das dämliche Fest mitmachen nach allem.“ Er senkte den Kopf, murmelte: „Ja, warum. Wenn ich das wüßte. Vielleicht, weil es seit langem geplant und vorbereitet ist. Ich hab’ euch die Kostüme genäht, ich hab’ mich auf den Abend gefreut… Und Richard: Er mag solche Feste nicht, er hat extra seinen Bereitschaftsdienst so gelegt, daß wir einander nicht stören. Mein Gott, ich
weiß es doch auch nicht! Sicher ist es der letzte Abend, den wir…“ Er unterbrach sich, schüttelte benommen den Kopf. „Es ist verrückt. Dieses Fest, weißt du, es kommt mir vor, als sei es der letzte zuverlässige Schutz vor allem, was danach kommt. Kommen muß. Vielleicht bin ich sogar – bin so närrisch, auf ein Wunder zu hoffen. Geschehen denn keine Wunder mehr, Ines?“ Wieder redete er wie ein unverständiges Kind. Ines antwortete nüchtern: „Solche Wunder bestimmt nicht. Tote bleiben tot.“ „Aber Gemma“, drängte er, „bedenke doch. Es könnte ihr letzter unbeschwerter Abend sein auf lange Zeit. Was meinst du?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es doch auch nicht.“ Der Gedanke an die Mutter traf Ines so scharf, daß sie schlucken mußte. „Ich hab’ schrecklichen Hunger“, sagte sie.
10 Vor Stunden schon war er gegangen, und eine Zeitlang hatte Gemma gehofft, daß er sich melden würde. Sie anrufen. Sein Verhalten bereuen. Es war nicht denkbar, daß Rolf sich von ihr trennen wollte. Das konnte er nicht gemeint haben. Nein, das nicht. Nichts war seit seinem Aufbruch geschehen. Inzwischen war es spät geworden, die geräuschlose Wanduhr zeigte kurz vor Mitternacht. Gemma legte das Buch, in dem sie vergeblich zu lesen versucht hatte, aus der Hand. Vor ihr auf dem Tisch lagen einige halbbeschriebene Bogen Papier. Es waren Briefanfänge, gerichtet an Ines und an Rolf. Gemma überlas, was sie ge-
schrieben hatte. Den Brief an Rolf zerknüllte sie und warf ihn in den Kohleneimer, der neben dem Ofen stand. Weinerliches Zeug, törichtes Flehen um Anteilnahme. Auf diese Weise war Rolf nicht zu erreichen. Und wenn er etwas ahnte vom gestrigen Vorfall, würde er für sie nie mehr zu erreichen sein. Diese Aussicht versetzte Gemma in stumme Panik. Sie fühlte die Stille des nächtlichen Hauses gegen sich vorrücken. Gemma rang nach Atem, sah sich gehetzt im Zimmer um. Sie konnte die Einsamkeit nicht länger ertragen. Es war eine widersinnige, eine höhnische Einsamkeit. Als sitze sie inmitten durchsichtiger Wände, unbekannten Blicken zur Schau gestellt, die ihre Qual beobachteten. Unwillkürlich hob sie die Hand und fuhr sich über Gesicht und Haar, als gelte es, jene Blicke fortzuwischen wie herabgerieselten Staub. Beinahe erlöst durch das Geräusch, zuckte Gemma zusammen, als nebenan die Tauben in Aufruhr gerieten. Sie hörte das heftige Flügelschlagen, die Federn kratzten wie Krallen gegen die Wand. Wieder hatte sie wie schon früher den Eindruck, daß etwas die Vögel unvermittelt aufgejagt habe, sie aus dem Schlaf geschreckt. Träume? Daß in der Nachbarwohnung niemand war, wußte sie. Trotzdem würde sie allen Mut zusammennehmen und nachsehen. Sie stand auf, ging zum Telefon. Wen sollte sie rufen, falls sie in Gefahr war? Es gab nur Hardy und Rolf – jetzt beide gleichermaßen unerreichbar für sie. An die Polizei durfte sie nicht einmal denken. In ihrer Situation konnte sie sich allenfalls die Uhrzeit durchsagen lassen von irgendeiner anonymen Stimme auf Band. Sie hob den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Kein Zei-
chen. Tot. Rasch legte sie auf, wiederholte den Vorgang. Nichts. Das gleiche Schweigen, das zuvor im Zimmer auf ihr gelastet hatte, rückte nun auch aus der toten Leitung gegen sie vor. Ihr wurde kalt. Behutsam legte sie den Hörer in die Gabel. Als käme es jetzt darauf an, sich ebenso leise zu verhalten wie das Stumme rings, tastete Gemma sich mit vorsichtigen Schritten in den Korridor. Sie biß die Zähne zusammen. Was bedeutete das alles. Wollte man sie auf diese Weise mürbe machen, ein Geständnis erzwingen? Obwohl ihr die Furcht pochend im Hals saß, sie die Stöße ihres Herzschlags in den Schläfenadern widerhallen hörte, nahm Gemma mit ruhiger Hand Taschenlampe und Wohnungsschlüssel an sich. Bemüht, kein Geräusch zu machen, klinkte sie die Wohnungstür auf, schob sich in das Treppenhaus. Sie knipste sofort die Taschenlampe an, leuchtete die Tür zur Nachbarwohnung ab. Die war wie immer verschlossen. Gemma ließ die eigene Wohnungstür angelehnt, um sie als möglichen Fluchtweg ungehindert passieren zu können. Dann ging sie langsam, Stufe um Stufe, die Treppe hinab bis in den unteren Hausflur. Sie leuchtete Geländer und Treppen ab. Sie zog die Haustür auf, trat hinaus auf die Straße. Sie blickte an der Hausfront empor, musterte die leeren, dunklen Fenster der Nachbarwohnung, in der die Tauben hausten. Nichts. Gemma blieb einen Augenblick draußen stehen. Die neblig-feuchte Novemberluft, in der nichts von Gefahr oder Unheil zu spüren war, tat ihr gut und beruhigte sie. Nach einer Weile ging sie ins Haus zurück, leuchtete sich die Treppen hinauf. Das hatte Gemma beim Hinabgehen nicht bemerkt. Als der Strahl ihrer Taschenlampe auf die Wand fiel, blieb
sie ungläubig stehen. Das lose baumelnde Drahtende gehörte zu ihrem Telefon. Jemand hatte die Leitung durchgeschnitten. Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Sie hastete die restlichen Stufen hinauf in ihre Wohnung, warf die Tür zu, lehnte sich atemlos mit dem Rücken dagegen. Sie war entdeckt. Man verfolgte sie bereits. Was sollte sie tun. In närrischer Hoffnung, sie könne sich getäuscht haben, ging Gemma zu ihrem Telefon. Sie riß den Hörer ans Ohr. Die Leitung war tot, sie hatte es ja gesehen. „Was mach’ ich jetzt“, raunte sie vor sich hin, „was soll ich nur machen.“ Ihr Magen rebellierte. Sie sprach sich selbst zu wie einem Kinde. „Du hast noch nichts gegessen. Geh dir eine Schnitte holen. Es ist ja nichts. Du hast Hunger, weiter gar nichts. Gar nichts sonst. Nur Hunger.“ Mit diesen Worten trieb sie sich zur Küche. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Das Deckenlicht flammte auf, Gemma tat einige Schritte in den Raum hinein. Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Die Eier-Uhr lief. Entsetzt sah sie, wie der feine Sandstrahl durch den Glashals in das Auffangröhrchen rieselte. Sie wagte keinen Schritt. Kälte überzog ihre Kopfhaut. Gemma begann zu zittern. Sie klammerte ihre Hände so fest um den Rand der Spüle, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Japsend holte sie Luft. So stand sie, bis der rote Sand in der Uhr sich nicht mehr bewegte. Betäubt von Furcht lauschte sie in die Wohnung. Wieder hörte sie nichts als geballte Stille. Mit einem Ruck, als springe sie ins Wasser, stieß Gemma sich von der
Spüle ab und begab sich auf die Suche. Systematisch ging sie von Raum zu Raum, hielt den Atem an, bevor sie eine Tür aufstieß und Licht anknipste. Sie überwand sich, den Kleiderschrank zu öffnen. Sie atmete ihren eigenen Geruch, der, durchsetzt von Parfümdunst, ihren Kleidungsstücken entströmte. Als sie mit einer Hand zwischen die Kleider tauchte, kippte ihr Hardys Stöckchen entgegen. Sie schrie leise auf. Ein Ton, der wie das Miauen einer Katze klang. Den Stock behielt Gemma bei sich. Sie zog das Stilett aus dem Schaft, welchen sie achtlos zu Boden fallen ließ. Mit gezückter Waffe setzte sie ihre Suche fort. Ihr blieb schließlich nur noch der Blick unter das Bett. Sie konnte es nicht tun, selbst in ihrer Angst erschien es ihr zu abgeschmackt, sich so weit in die Nähe eines Gruselmärchens zu begeben. Doch schon beugte sie die Knie, um dem bösen Streich, den die Vorstellungskraft ihr spielte, entgegenzuwirken. Blitzartig hatte sie ihn vor sich gesehen mit seinen verdrehten Augen, die ihre Blicke suchten, mit der schlaffen Hand am verrenkt daliegenden Arm. Grauengeschüttelt kniete sie vor das Bett hin und sah darunter. Dunkle, gnädige Leere. In der Wohnung war niemand. Gemma machte kleine, steife Schritte. Sie atmete hechelnd, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie schluckte. Es gelang ihr nicht, die kurzen, erregten Atemstöße, die ihren gesamten Körper beben machten, zu unterdrücken. Gewaltsam riß sie sich zusammen, hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, war still. Da atmete es weiter jenseits der Wand, in heiserer Erregung, röchelte, brach stöhnend ab. Jetzt wußte sie Bescheid. Langsam näherte Gemma sich
der Wand zur Nachbarwohnung, ließ den ockerroten Fleck nicht aus den Augen, von dem der Putz geblättert war. Als sie dicht davorstand, meinte sie das Auge jenseits zu erkennen, wie es sich kalt und gierig an ihrer Angst aufgeilte. Sie hob das Stilett zu der Stelle. Ein winziges Loch war dort gebohrt, gebohrt mit dem Stilett, das sie in Händen hielt. Der ockerrote Staub haftete noch an der Waffe. Gemmas Angst, die in Bestürzung übergegangen war, wandelte sich augenblicks in Wut. „Sie Schwein!“ rief sie, halb erstickt vor Empörung. „Sie widerliches Schwein!“ Erschöpft brach sie in Tränen aus. Der Zorn trieb sie aus dem Zimmer. Im Korridor riß sie die Taschenlampe an sich. Entschlossen, sich auf irgendeine Weise Eintritt in die Nachbarwohnung zu verschaffen, stürzte Gemma aus ihrer Wohnung. Es war gar nicht nötig, zu rufen oder zu drohen. Die Tür stand sperrangelweit offen. Als der Taschenlampenstrahl in die leere, zugige Wohnung fuhr, trippelten ein paar dicke Tauben behäbig aus dem Licht. Gemma betrat den Korridor. Sie leuchtete in das Zimmer hinein, das an ihres grenzte. Kalter Zigarrenrauch überdeckte den Gestank von Taubenmist. Der Alte stand krummbeinig vor ihr und erwartete sie. Gemma merkte es zu spät. Sie hatte schon gesehen, worauf er aus gewesen war. Aus seiner geöffneten Hose hing der erschlaffte Penis. Ekel würgte sie. Der Alte lachte roh auf, dann schnalzte er obszön mit der Zunge. „Is schön“, sagte er, „komm schon, is schön,“ Sie stand wie angewurzelt und sah den Alten auf sich zutappen. Als er dicht vor ihr stand und nach ihrer Hand griff, gewann Gemma ihre
Bewegungsfähigkeit zurück. Sie riß sich los, leuchtete dem Alten mitten ins Gesicht. Er zwinkerte geblendet. In seinen gelblichen Augen glomm Wut auf. „Was fällt Ihnen ein“, fragte sie, mühsam beherrscht, „was erlauben Sie sich? Eine derartige Unverschämtheit…“ Ihr gingen die Worte aus. Was sollte sie dem widerwärtigen Gnom sagen. Schlimm genug, daß sie überhaupt das Wort an ihn richtete. „Sachte“, sagte der Alte mit kratziger Stimme, „sachte.“ Er spuckte aus. Gemma bekam vor Abscheu Gänsehaut. „Alles hier is meins“, sagte der Alte und stimmte sein dämliches Gelächter an, „alles meins. Nimm das Licht weg, Nuttchen. Na, wird’s.“ Die Stimme barst ihr vor Empörung. „Ich rufe die Polizei.“ Sie wandte sich zum Gehen, doch die schnoddrigen Worte des Penners hielten sie auf. „Polizei?“ Er stimmte ein lautes, niederträchtiges Gelächter an. „Sachte, Nuttchen. Mit Polizei is nich zu spaßen. Nur so ‘n Tip von mir.“ Sie blieb. Als der Kerl ihre Betroffenheit bemerkte, fügte er schlau hinzu: „Ich hab’ doch recht, Nuttchen. Polizei kann dir gestohlen bleiben. Was ich weiß, macht heiß, hä?“ Gemma fragte, scheinbar entrüstet: „Was wollen Sie damit sagen? Duzen Sie mich nicht!“ . Sie richtete den Lichtstrahl vorsichtig, um den Alten nicht durch Blenden erneut gegen sich aufzubringen, auf ihn. Der Mann ging endlich daran, seine Hose zuzuknöpfen. Dann fummelte er mit seinen schmutzigen Fingern eine Zigarre und Streichhölzer aus der Jackentasche. Er steck-
te sich die Zigarre zwischen die Lippen, setzte sie umständlich in Brand. Er paffte Gemma Rauchschwaden zu. „Was ich weiß, macht heiß“, sagte er wieder. Wie ein Tier schien er zu wittern, daß er der Frau Angst einflößen konnte, wenn er auch von den Zusammenhängen nichts begriff. „Stöckchen war meins“, probierte er es gerissen von neuem, sich der Lüge vom Nachmittag erinnernd, „schönes, wertvolles Stöckchen für Nuttchen.“ „Und?“ fragte sie atemlos. „Am Bauzaun feiner Pinkel wegjeschmissen“, kauderwelschte er, „die Leute schmeißen weg.“ Sie mußte dem Auftritt hier ein Ende machen. Mit gespielter Überzeugung in der Stimme sagte sie: „Sie reden Unsinn. Gar nichts wissen Sie.“ Der Alte äffte sie nach. „Gar nichts wissen Sie! Sachte, Nuttchen, sachte. Was ich weiß, macht heiß. Du willst doch keine Polizei.“ Er hatte nicht alles verstehen können, worüber die Frau und der Mann sich am zeitigen Abend unterhalten hatten. Doch einiges hatte er auf seinem Lauscherposten jenseits der Wand aufgeschnappt. Der Mann war wütend gewesen und laut geworden. Um ein Auto war es gegangen, „Is Auto kaputt?“ fragte er lauernd. Gemma fragte beklommen: „Was - was für ein Auto?“ Der Alte gluckste. „Is Führerschein weg, ja? Muß Nuttchen am liebsten aus der Welt?“ In höchster Angst fragte Gemma: „Was wollen Sie von mir?“ Er gab ihr keine Antwort. Das unerwartete Gefühl von Macht auskostend, das diese Begegnung ihm zugeschanzt hatte, ging er an der bestürzten Frau vorbei auf die Wohnungstür zu. Gemma wich ihm aus. Bevor er in
das Treppenhaus trat, sah er sich nach ihr um. „Was ich weiß, macht heiß“, sagte er triumphierend und zog die Tür hinter sich zu. Schreckgelähmt stand sie in der dunklen Wohnung. Der miese Kerl wußte alles. Seine Anspielungen waren deutlich genug gewesen. Würde er sie anzeigen gehen? Sie glaubte es nicht. Aber er hatte gezeigt, daß er sie in der Hand hatte. Plötzlich nahm Gemma, als habe zuvor die Gegenwart des Alten ihn niedergehalten, den durchdringenden Gestank von Fäulnis und Unrat wahr. Er biß ätzend in die Nasenschleimhaut, sei meinte ihn nahezu auf der Zunge zu schmecken. Sie leuchtete rings das Zimmer ab. Schlafende Tauben, vom Lichtstrahl getroffen, starrten blind ins Ungefähre, ruckten nicht vom Fleck. In einer Ecke des Raumes lag ein totes Tier. Gemma zog sich zur Wohnungstür zurück, die feisten Vögel nicht aus den Augen lassend. Sie wagte nicht, ihnen den Rücken zu kehren. In ihrem Zimmer setzte sich Gemma wie betäubt in den Sessel neben dem Ofen. Sie wußte nicht weiter. Immer wieder schweifte ihr Blick zu dem ockerroten Loch in der Wand. Die Worte, die sie vorhin an Ines geschrieben hatte, erschienen ihr hochtrabend und heuchlerisch zugleich. Sie redete von sich und abermals von sich. Selbst das Geständnis, daß sie absichtslos jenes Gedicht gelesen habe, diente ihr als Vorwand, die eigene innere Misere mit Rolf gefühlvoll zu erläutern. Kein Wort darüber, daß sie die Tochter verstehe. Daß sie Sorge trage um Ines. Die einzige Sorge, die sie ausgesprochen hatte in ihren Zeilen, war die um die Entdeckung ihres Verbrechens. Verbrechen - es war das erste Mal, daß sie das schlimme
Wort in Gedanken formulierte. Überdies durfte Ines der Brief sowieso erst in die Hände gelangen, wenn dieser Fall eintreten würde. Wenn man sie verhaften käme. Gemma zerriß den Brief in winzige Schnipsel. Ruhig beschrieb sie ein neues Blatt. Wenn Du doch diesen Brief nie würdest lesen müssen, meine kleine Ines. Wenn es möglich wäre, daß wir beide miteinander reden, ich Dir endlich einmal richtig zuhören könnte. Ines, ich habe Dein Gedicht gefunden. Glaub mir, daß ich nicht geschnüffelt habe, es war ein Zufall. Ich fühlte mich einsam. Da bin ich in Dein Zimmer gegangen, hab’ mich an Deinen Schreibtisch gesetzt – es geschah ohne Absicht, daß ich ein Schubfach aufzog. Bitte, Ines, bitte, glaube mir das. Ich habe es gelesen, was Du über Deinen Kummer mit mir schreibst. Es hat mir sehr weh getan, wie Du mich siehst. Es hat mir weh getan, weil Du recht hast. Mein liebes, kleines Mädchen, ich habe Dich schrecklich vernachlässigt. Vielleicht kannst Du mir ein wenig verzeihen, wenn ich Dir sage, daß es mir grenzenlos leid tut, ich es so gern gutmachen würde. Wenn es dafür nicht zu spät ist. Ines, ist es zu spät? Ich weiß nicht aus noch ein. Es ist etwas geschehen, was niemals gutzumachen ist. Ich habe einen Menschen überfahren. Ich weiß, daß er tot ist. Und ich bin ausgerissen, Ines. Ich habe ihn einfach liegenlassen. Ich weiß, wie schrecklich es ist, was ich da getan habe. Ich hoffte, nicht entdeckt zu werden. Und bin doch fast sicher, gesehen worden zu sein. Falls das stimmt, wird er Dir das nach meiner Verhaftung erzählen: Hardy. Ich vermute, Hardy weiß. Nach diesem Geständnis wirst Du mich für frivol halten, wenn ich morgen feiern gehe.
Wenn ich mit dieser Gewissenslast zum Kappenfest will. Ines, ich gehe dorthin aus Angst. Aus einer Angst, die seit gestern in mir sitzt, die ich vielleicht nie mehr loswerden kann… Wieder hob Gemma den Blick zu der ockerroten Wandstelle. Plötzlich stand sie auf, nahm aus der aufgeschlagenen Briefmappe eine Marke. Sie leckte flüchtig über die Rückseite der Briefmarke und klebte das winzige Loch in der Wand damit zu. Sie schrieb den Brief zu Ende, verschloß ihn. Auf den Briefumschlag schrieb sie: Für Ines. Und nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: DANACH. Sie kniffte den Brief zusammen und versteckte ihn in ihrer Brieftasche.
11 Unheilschwanger kündigte sich am folgenden Morgen der Samstag bei Rolf Schubert an. Oberkonsistorialrat Ratzner war nach dem Telefonat mit Straßburger, das ihn schon um sechs Uhr früh aus dem Bett geklingelt hatte, vollkommen durcheinander gewesen. Handeln. Er mußte handeln! Aber wie? In Eile hatte er sich angezogen, hatte das Haus verlassen und war unruhig durch morgendlich-dämmrige Straßen gelaufen. Zu unangenehm, daß er zum Wochenende von der Sache erfahren hatte. Heute dem Bischof damit kommen? Dennoch. Aufschub war nicht ratsam. Es durfte zu keiner Blamage kommen. Verstöße gegen die Sittlichkeit: Wenn es stimmte, mußte Schuberts Berufung rückgängig gemacht werden, bevor es zu seiner Amtseinführung kam. Heimgeweht war er durch den nebelnden Novembermorgen, Röte im Gesicht und Glut im blauen Blick. In
eleganten Lackschuhen eilig ausschreitend, war er, in Gedanken versunken und Rat schaffend, ganz bei der Sache. Da mußte ad hoc und vor Ort und ein Stück weit und partnerschaftlich und so weiter und so weiter sofort durchgegriffen werden. Größeren Schaden zu vermeiden, mußte da Schaden gestiftet werden. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Und wenn die Welt voll Teufel wär. Zu Haus angekommen, eilte er sofort zum Telefon. Noch in Mantel und Schal rief er, ungeachtet der frühen Stunde, beim Bischof an. Ratzner hatte Glück, der Bischof ließ sich erreichen. Hören zwar wollte der von der Angelegenheit, diesem Fall verletzter Sittlichkeit durch den Amtsbruder Schubert, deutlich nichts. Dem müden Manne kamen Worte von den Lippen wie „Nicht doch. Lieber Bruder Ratzner… So glauben Sie doch derartigen Klatsch nicht. Geredet wird manches…“ Kannte der Bischof Ratzner so schlecht? Der würde sich nicht abweisen lassen, sein fanatisches Flüstern verriet es. Er stampfte mit dem Fuß auf. Erschreckt, als könne er dabei von dem Bischof beobachtet worden sein, wischte er sanft mit der Schuhsohle den Stampfer aus, kehrte ihn behutsam vom Teppich. Warf nun einen ehrlichen Namen hin. Wußte, davor gab es kein Zurück. Wenn etwas echt war und sauber, dann dieser Name. Voller Genugtuung lauschte Ratzner dem erstaunten Schweigen des Bischofs. Schließlich fragte jener ungläubig: „Straßburger?“ „Ja, Straßburger“, wisperte Ratzner. Und wie ein Fisch an der Angel zappelte Ratzner, bis er die Leine niederzog, Sieger war, dem Bischof am anderen Ende der Schnur Anordnungen abtrotzte. Schwerfällig, unwillig
nur ließ jener sich herbei. Wollte immer noch Ausflüchte machen. Doch Ratzner, Oberkonsistorialrat Ratzner, beharrte unbeugsam auf Disziplin und Sittlichkeit. Und als er schließlich den Hörer aus der Hand und besonders nachdrücklich in die Gabel legte, hatte er alles erreicht, was für die nächsten Schritte nötig war. Er war befugt, Schubert anzurufen, um ihn zu einem „seelsorgerlichen Gespräch“ beim Bischof zu bitten. Termin dann und dann. Weiterhin hatte er die Zusage, daß der Einführungstermin in Schuberts neues Amt voraussichtlich verschoben werden würde. Und wenn sich als wahr herausstellen sollte, was da geredet worden war, durfte Schubert sich auf ein Disziplinarverfahren gefaßt machen. Oberkonsistorialrat Ratzner konnte sein Dankgebet sprechen. Was irgend um der Sache willen zu tun möglich gewesen war: Er hatte es vollbracht. Rolf Schubert hatte an diesem Samstagvormittag frei. In heiler Stimmung war er in den Keller hinabgestiegen, um an dem Puppenhaus zu basteln, das die Zwillinge zu Weihnachten bekommen sollten. Voller Zärtlichkeit dachte er an die beiden Mädchen. Er hatte selten Geschwister gesehen, die derart liebevoll miteinander umgingen wie Rebecca und Judith. Die beiden waren so einig, daß man ihnen ein gemeinsames Geschenk machen konnte. Eine Herzensfreude. Während er das Hausdach mit Ziegelfolie beklebte - trautes Heim, Glück allein -, wanderten seine Gedanken in die nächstliegende Zukunft. Zur Amtseinführung mußte er eine blendende Predigt zusammenbauen. Er würde seiner Vorliebe für die Salomonische Spruchsammlung nachgeben. Einen Text dieser Sammlung zur Grundlage seiner Predigt auswäh-
len. Vielleicht sogar den Spruch wieder aufgreifen, der Thema seiner alttestamentlichen Examensarbeit gewesen war. „Das Brot der Lüge schmeckt einem Manne gut; doch nachher füllt sich sein Mund mit Steinen.“ Daraus ließe sich etwas machen. Schon mit seiner Arbeit darüber hatte er damals geglänzt. Und er brauchte einen neuen Talar, aus extra feinem Tuch. Während er derart sinnierte und seine Hände mit der Bastelarbeit beschäftigt waren, läutete oben im Haus das Telefon. Er hörte es nicht. Blickte erst auf, als Sieglinde die Kellertür öffnete und zu ihm hinunterrief. „Rolf, Telefon!“ Er ließ sich Zeit, legte die Arbeit nicht gleich aus den Händen. Wer sollte heut etwas von ihm wollen. Aber Sieglinde drängte. „Mach schnell. Das Konsistorium.“ Das half. „Heute?“ fragte er überrumpelt. „Es ist doch Samstag.“ Er beeilte sich, die Treppe hinaufzuspringen. „Was wollen sie denn?“ Sieglinde zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es ist Ratzner.“ Rolf hob den Hörer ans Ohr, die freie Hand tauchte gewohnheitsmäßig ins wellige Haar. Zuvorkommend: – Ja? Guten Morgen, Bruder Ratzner. Sein verklärter Gesichtsausdruck verändert sich nach und nach. Sieglinde, die dabeisteht, malt mit dem Finger ein Fragezeichen in die Luft. Rolf winkt unmutig ab. Laß mich! Sie kehrt sich ab, will tatsächlich aus dem Zimmer gehen, da hält Rolfs verstörte Frage sie auf. - Mich? Wann? Sie tauscht einen Blick mit Rolf. Was um alle Welt hat er, was ist geschehen? Er ist ja blaß geworden. Nun verfällt er gar, der redegewandte Mann, ins Stammeln.
- Aber… aber warum denn? Könnten Sie mir nicht… in welcher Angelegenheit… ich meine… Ihrem ernsthaft fragenden Blick weicht er aus, indem er sich zum Fenster kehrt. Mit leicht eingezogenem Kopf horcht er auf das, was Ratzner ihm zu sagen hat. - Nein, ich kann es mir nicht erklären! sagt er so heftig, dass Sieglinde wieder ein paar Schritte näher kommt. - Ich sage Ihnen doch: Ich habe keinerlei Ahnung! Rolf wendet sich ihr wieder zu, ist jetzt rot im Gesicht, ist zornig. - Was heißt „unter Umständen“? Ich denke, der Termin für die Einführung steht fest? Ratzner sagt noch etwas, Rolf preßt die Lippen aufeinander: - Gut. Am Montag um zehn. Nachdem er den Hörer aufgelegt hat, geht er im Zimmer auf und ab. Eine Zeitlang schaut Sieglinde ihm wortlos zu. Dann fragt sie: „Was ist denn? Was wollte er?“ Er bleibt stehen, heuchelt völlige Ahnungslosigkeit. „Wenn ich das wüßte!“ Er schüttelt den Kopf, sagt in gespieltem Staunen: „Ich soll zum Bischof kommen. Ein Gespräch. Vermutlich etwas wegen der Amtseinführung.“ „Naja“, entgegnet Sieglinde eifrig, „das ist doch wichtig, Rolf. Schließlich ist das eine große Sache, da muß vorher alles genau abgesprochen sein. Das muß dir doch klar sein. Du wirst nicht alle Tage Sup, mein Lieber!“ Sie lacht, ist stolz auf ihn. „Rolf! Ich verstehe nicht, warum du dich darüber ärgern kannst. He!“ Sie gibt ihm einen liebevollen Stüber vor die Brust.
„Freu dich doch, du.“ „Ja“, entgegnet Rolf und ringt sich ein Lächeln ab, „es ist dieser Ratzner, der mich auf die Palme bringt. Ein Heuchler. Zum Übelwerden. Machst du mir einen Kaffee, bitte?“ Mit seiner Bitte läßt sie sich aus dem Zimmer treiben. Sofort hebt Rolf den Hörer ab. Niemand sonst als Gemma kann ihm diesen Verrat angetan haben. Innerlich bebt er vor Wut. Das soll sie noch bereuen. Hastig wählt er Gemmas Rufnummer. Nachdem er es mehrmals erfolglos probiert hat, legt er auf. Auch das wird Gemma so eingerichtet haben: plötzlich nicht mehr erreichbar zu sein. Ein deutliches Zeichen von schlechtem Gewissen. Aber sie wird es büßen. Rolf hält es nicht still auf einem Fleck aus. Wieder tigert er durchs Zimmer. Was Ratzner hat durchblicken lassen, ist ungeheuerlich. Wenn der Einführungstermin verschoben werden sollte, wenn der Bischof ihn seelsorgerlich sprechen wollte - es konnte nur einen Grund dafür geben. Das sollte ihm aber einer beweisen! Das sollten sie erst einmal können! Er würde leugnen, leugnen. Wenn nur Gemma nicht - er mußte dringend mit ihr reden. Es konnte schreckliche Folgen für ihn haben, wenn sie etwas zugeben würde. Alles wäre kaputt. Schlimmstenfalls konnte er mit einer Versetzung rechnen. Ab- geschoben nach sonstwo, auf irgendeine Dorfklitsche. Und dann: Karriere ade. Ruhelos durchmaß er den Raum, heftig atmend. Wie hatte er je so leichtsinnig sein können. Was hatte er aufs Spiel gesetzt. Und wofür? Wofür! Er schlug sich vor die Stirn. Eine alternde Frau, die ihn in ihre Fänge gelockt hatte. Rolf spürte den Klumpen in
der Magengegend, der schmerzhaft drückte. Das war mehr als Abneigung. Das war bohrender als abgetakelte Liebe. Das war Haß. Am eigenen Leibe erfuhr er die Folgen wohlschmeckender Lüge. Sein Mund füllte sich mit Steinen. Aber ein anderer Spruch sagte ihm: „Der Kluge sieht das Unheil und verbirgt sich.“ So stand er aufrecht und fast strahlend da, als Sieglinde ihm den Kaffee brachte. Offen zeigte er ihr, daß von nirgendwo Gefahr drohe, er sich lediglich über Ratzner geärgert hatte. Sein klarer Blick ließ bis auf den Grund eines makellosen Gewissens blicken. Rolf war über jeden unlauteren Verdacht erhaben, und Sieglinde wußte das. Sie lächelte ihm herzlich zu. Verliebt betrachtete sie die schlanke Gestalt ihres Mannes, seine schönen Hände, in denen er die Kaffeetasse hielt. Sie lachte leise in sich hinein, ehe sie ihm scherzhaft mit dem Finger drohte. „Du bist ein ganz Schlimmer!“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „So?“ fragte er samten. „Warum?“ Sieglinde machte ein finsteres Gesicht. Sie sprach mit verstellter, drohender Stimme. Aber sie hatte kein Talent zum Theaterspielen, das unterdrückte Lachen klang durch. „Du hast eine Geliebte, gestehe!“ Ohne daß sie es merkte, beobachtete er sie scharf. Sein freundlicher Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Und gegen die Steine im Mund ließ er einen weiteren Schluck Kaffee spülen. „Wenn es sein muß“, entgegnete er ebenso finster, ,,hab’ ich einen ganzen Harem.“ „Nein, eine.“ Sie kam dicht an ihn heran. „Darum muß ich dir leider die Augen auskratzen.“ Er
lächelte. „Darf ich wenigstens erfahren, wer es ist?“ „Wenn du leugnest, wird es nur noch schlimmer.“ Er stellte die Kaffeetasse ab, legte theatralisch eine Hand aufs Herz. „Aber ich leugne nicht, ich bin geständig.“ Sieglinde konnte nicht mehr an sich halten. Sie prustete heraus. Rolf, schlau in seiner Rolle beharrend, ließ sich auf ein Knie nieder. Es war die gleiche Pose, die er Gemma einmal auf der Bühne hatte vollführen sehen, als er sich eine Vorstellung angeschaut hatte. Sekundenschnell war die Erinnerung da, er sah vor sich, wie die Schauspielerin Gemma Weihmann den Kopf gehoben und den Blick des Königs gesucht hatte, vor dem sie kniete und überzeugend ihre Unschuld beteuerte. So tat er es ihr nach und blickte entsagungsvoll zu Sieglinde auf. Unwillkürlich benutzte er auch die Sprache als Versteck. „Hier kniet Ihr treuer Page, Herrscherin. Erweichen Sie Ihr Herz. Von Ihren Händen das Urteil. Aus Ihrem Mund den Namen.“ Er senkte den Kopf und verharrte regungslos auf einem Knie vor seiner Frau. „Der Name“, sagte sie gedehnt, „ist Gemma Weihmann.“ Die Steine im Mund machten ihm das Atmen schwer. Aber er schaffte es abermals, der Kluge zu sein, der sich verbirgt. Wieder hob er den Blick, ließ sich ins Herz schauen. „Gemma Weihmann? Hieß nicht so die Tramperin, die ich vorgestern mitgenommen habe, bei meinem nächtlichen Ritt über Land? Ich meine…“ Es gelang ihm, nicht merken zu lassen, daß er selbst vor dem zweideutigen Ausdruck innerlich zurückschreckte.
Als habe er nach einem passenderen Bild gesucht, fuhr er fort: „Ich meine, als ich hatte anspannen lassen und mit der Kutsche unterwegs war. Helfen Sie meinem treulosen Gedächtnis auf, Herrscherin.“ Sieglinde zauste übermütig sein Haar. Glucksend ließ sie sich zu ihm auf den Teppich plumpsen. „Ja, die! Was hast du eigentlich mit ihrem Führerschein gemacht?“ Jetzt war er vollkommen sicher, daß Sieglinde nichts wußte. Er gab das Spiel auf und antwortete nüchtern: „Abgegeben.“ „Bei der Polizei?“ Rolf strich ihr übers Haar. „Wo denn sonst, mein Schatz. Anschriften stehen nicht auf dem Führerschein.“ Sieglinde trumpfte auf. „Da weiß ich mehr! Du hättest ihn im Theater abgeben können.“ Er guckte so verdattert, daß sie laut herauslachte. „Ja, mein kluges Dummerchen. Die ist Schauspielerin. Ich habe das Gesicht gestern nachmittag auf den Fotos wiedererkannt, die im Theaterschaukasten hängen.“ „ Schauspielerin?“ Sie schmiegte sich an ihn. „Da staunst du, was? Ich finde sie schön. Und du?“ Er setzte sich auf den Teppich, legte einen Arm um ihre Schultern. „Du, es war dunkel. Ich hab’ sie kaum gesehen.“ Sieglinde seufzte zufrieden. „Ach, Rolf. Würdest du sie wenigstens wiedererkennen?“ Er wiegte bedächtig den Kopf. „Ich glaube nicht. Nein.“ Sieglinde legte ihm die Arme um den Hals, zog ihn zu sich. Sie lagen nebeneinander auf dem Fußboden. „So
eine schöne Frau läßt dieser Mensch sich entgehen“, sagte sie zärtlich an seinem Ohr. „Weißt du was?“ „Nein?“ fragte er ebenso leise und lächelte, bis sein Wangengrübchen sich höhlte und Sieglinde sehnsüchtig ihre Fingerkuppe in das warme Nest tauchen ließ. „Dafür lieb’ ich dich so.“ Er versuchte, sich von ihr loszumachen. „Kommen die Mädchen nicht bald aus der Schule?“ Sie gab ihn nicht frei. Sich an ihn schmiegend, antwortete sie mit Wärme in der Stimme: „Noch lange nicht.“ Die trägen Bewegungen seiner Frau ließen ihn an Gemma denken. Doch die Erinnerung weckte nicht Sehnsucht nach ihr, sondern schürte seinen Haß gegen jene Frau, die ihn auf Abwege gelockt hatte. Es klingelte Sturm. Gemma kam es vor, als dauere das schon Minuten. Sie stand wie gelähmt mitten im Zimmer, an der Stelle, wo das erste Läuten sie erreicht hatte. Wer so wütend Einlaß forderte, konnte nicht in freundlicher Absicht gekommen sein. Entweder war es der Alte – oder es war jemand von der Polizei. Mit angehaltenem Atem, auf Zehenspitzen, pirschte sie sich zum Fenster. Vorsichtig lugte sie hinter der Gardine auf die Straße hinab. Nichts und niemand. Die kahle Straße lag trübe und verlassen im Novemberdämmer, es war später Nachmittag. Am Bauzaun funzelte eine einzelne aufgehängte Warnleuchte. Die spärliche Straßenbeleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Das Klingeln setzte aus. Gemma fuhr zusammen, als es kurz darauf erneut auf ihr Trommelfell prallte, an ihren Nerven riß. Sie würde nicht aufmachen. Würde man die
Tür mit Gewalt öffnen? Sie eintreten? Wieder schätzte Gemma die Höhe ab. Der Alte konnte sie hier hinabstoßen, und niemand würde es je erfahren. Unsinn, warum sollte er das tun. Um sie auszurauben. Sie maß den Abgrund mit schauderndem Blick und hielt sich an der Gardine fest. Das Klingeln brach ab. Gemma lauschte angestrengt. Sie trat einen Schritt zurück. Wer fortging, sollte sie nicht sehen können. Wohl aber sie ihn. Sie wartete angstvoll. Falls es der Alte gewesen war, würde er ungesehen über den Hof im Hinterhaus verschwinden. Vor Überraschung konnte sie sich zunächst nicht rühren. Dort unten ging Rolf. Und sie hatte ihn nicht hereingelassen. Aber warum blickte er nicht zum Fenster hoch. Er ging so eilig davon. Bewegung kam in sie. Gemma zerrte die Gardine zur Seite, klopfte heftig gegen die Scheibe. Er konnte es unmöglich hören. Sie riegelte das Fenster auf, beugte sich weit hinaus. „Rolf,“ rief sie, „warte doch!“ Der Ruf hallte durch die verlassene Straße wie ein Fanfarenstoß. Sie erschrak vor der eigenen lauten Stimme. Aber Rolf sah sich nicht um. Daß er gehört hatte, erkannte Gemma daran, wie er seine Schritte beschleunigte. Sie hatte ihn verärgert. Zu Recht nahm er ihr übel, daß sie ihn vor der Tür hatte stehnlassen. Warum hatte er auch den Schlüssel nicht behalten. Nochmals rief sie, gedämpfter als beim ersten Male: „Rolf!“ Da bog er schon um die Ecke. Die Selbstvorwürfe, die Gemma sich machte, verzögerten ihren Aufbruch. Sie fand den Wohnungsschlüssel nicht gleich. Sie verhedderte sich in den Mantelärmeln. Warf den Mantel schließlich
zu Boden, entschlossen, in Rock und Bluse loszulaufen. Sie weinte fast, als es auch mit den Schuhen nicht klappen wollte. Ihre fahrigen Bewegungen hinderten sie daran, eilig die Schnürsenkel zu binden. Auf der Straße rannte sie in die Richtung, die Rolf eingeschlagen hatte. Er war nicht mehr zu sehen. Aufatmend blieb Gemma stehen. Wohin war er so schnell verschwunden? An der Straßenbahnhaltestelle standen wenig Leute. Vielleicht war kurz zuvor eine Bahn gefahren, die Rolf benutzt hatte. Ratlos ging Gemma noch ein Stück, schaute im Vorübergehen links und rechts in Hauseingänge. Lächerlich. Rolf würde sich nicht in fremde Häuser flüchten. Warum floh er denn vor ihr. Niedergeschlagen machte sie kehrt. Feuchter Wind fuhr sie an, Gemma fror. Plötzlich tauchte Rolf vor ihr auf. Gemma lief, holte ihn ein. Er blickte stur geradeaus, während sie ein paar Schritte neben ihm herging. „Rolf!“ rief sie ihn leise an. Ohne den Kopf nach ihr zu wenden, zischte er: „Sprich mich nicht auf offener Straße an.“ Gemma war so getroffen, daß sie stehenblieb. Er behandelte sie schlimmer als eine Fremde. Rolf schritt zügig aus, kümmerte sich nicht um ihr Zurückbleiben. Sie rannte ihm nach, holte ihn ein. „Was soll denn das?“ fragte sie atemlos. „Ich weiß, daß du eben zu mir wolltest. Verzeih mir doch. Ich dachte nicht, daß du es bist. Dieses rasende Geklingel hat mich…“ Er machte große, eilige Schritte. Gemma war zurückgefallen, gab sich Mühe, ihn wieder einzuholen. Er blieb abrupt stehen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, sagte er leise: „Hast du nicht verstanden. Geh nach
Hause. Ich komme nach.“ Und dann rannte er los, der Straßenbahnhaltestelle zu, als wolle er eine bestimmte Bahn erreichen. Gehorsam und betäubt von seinem Benehmen, ging Gemma nach Haus zurück. Sie blieb im Korridor stehen, wartete. Beim ersten Klingelanschlag öffnete sie überstürzt. Wortlos trat er ein, ging blicklos an ihr vorüber ins Wohnzimmer. Sie folgte ihm, schloß die Tür. Als er sie endlich ansah, war sein Blick so kalt, daß Gemma erschauerte. „Danke“, sagte er hart, „das ist dir gelungen.“ Verständnislos sah sie ihn an. „Was, Rolf? Wovon sprichst du?“ Er lachte böse auf. „Du elende Komödiantin. Mir machst du nichts mehr vor. Wie hast du es angestellt? Angerufen? Einen anonymen Brief geschrieben? Hingelaufen, alles selbst erzählt? Antworte!“ Gemmas Gesicht wurde klein vor Schmerz. „Du sollst mir antworten“, sagte Rolf drohend, „auf dein Gegucke falle ich nicht mehr herein. Es ist widerwärtig, wie du dich verstellst. Also wie?“ Die Stimme gehorchte ihr nicht, brach. „Rolf… wovon redest du?“ Sie überlegte fieberhaft. Wenn er von dem Vorfall wußte, konnte er nur die Polizei meinen. Vermutlich hatte er Angst, daß sie ihn hineinziehen würde, seinen Namen angeben. Daß er sie dessen verdächtigen konnte! „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte sie heiser, „bestimmt nicht. Ich werde deinen Namen nicht nennen.“ „Meinen Namen!“ platzte er zornig heraus. „Das ist wohl nicht nötig gewesen. Dafür hast du deinen genannt,
stimmt es?“ Sie guckte nur. „Ob es stimmt, will ich wissen. Was hast du Ratzner über uns erzählt?“ Gemma schüttelte fassungslos den Kopf. Wie kam er denn auf Ratzner, sie kannte ihn ja gar nicht. „Nichts.“ Er musterte sie kühl. „Bist du im Konsistorium gewesen?“ „Aber… aber Rolf. Was soll ich denn im Konsistorium?“ Wieder sein hartes Lachen. „Mich anschwärzen, was sonst. Das wirst doch du am besten wissen. Glaub nur nicht, daß dir das etwas nutzt.“ Gemma hob die Hände, rang nach Luft. „Nein!“ schrie sie ihm ins Gesicht. „Nein!“ Rolf zuckte zusammen. „Nicht so laut!“ Ein kümmerliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Hier hört uns niemand. Hast du nicht behauptet, daß die Wände dieses Hauses keine Ohren haben?“ Er schoß ihr einen wütenden Blick zu. „Lenke nicht ab. Niemand außer dir weiß von unserer Beziehung. Wie willst du mir erklären, daß beim Konsistorium etwas durchgesickert ist? Wie, wenn nicht durch dich?“ Sie schwieg, erschlagen von seiner Beweisführung. Darum also ging es. Wieder nur um ihn. Er trat auf sie zu, packte sie grob bei den Oberarmen. Er schüttelte sie. „Warum hast du mir das angetan? Willst du aus Rache, weil ich dich verlassen habe, das Leben meiner Familie zerstören? Das Glück meiner Kinder?“ Seine Worte tröpfelten gleich Giftspritzern in ihr Hirn. Sein Glück. Seine Familie. Verlassen. Was sie nicht hatte
glauben wollen: Sie war schon aufgegeben von ihm. Er ließ sie los. Unvermittelt verlegte er sich aufs Bitten. „Gemma, ich flehe dich an. Sag mir die Wahrheit. Was hast du unternommen gegen mich?“ In seinen Augen flackerten so deutlich erkennbar Feigheit und Bettelei, daß sie wußte: Dieses Gespräch war ihr letztes, das sie miteinander führen würden. Es war unweigerlich der Abschied. Er sah in ihr nichts anderes mehr als eine Gefährdung. Der Jammer würde später kommen. Jetzt warf sie den Kopf in den Nacken, sagte in sprödem Stolz: „Nichts, Rolf, Ich habe nichts gegen dich unternommen.“ Sie sah, wie er ihr glauben wollte. Und wie er es nicht konnte. Furchtlos in ihrem jäh erwachten Stolz, erhaben über den Mann, der um seinen beruflichen Aufstieg zitterte, gab sie ihm den Beweis ihrer Glaubwürdigkeit, durch ihr Geständnis. „Ich werde dir sagen, was ich getan habe.“ „Also doch! Hast du…“ Sie hob beschwichtigend eine Hand. „Nein, nein, nein, ich habe nicht. Es geht überhaupt nicht um deine Belange. Es geht um mich, Rolf. Ich habe an dem Abend, als ich dein Auto nahm…“ „Ach, das ist vorbei und vergessen. Davon will ich nichts mehr hören.“ Sie machte eine Pause. Dann sagte sie: „Ich habe etwas Schreckliches getan. Willst du es nicht wissen?“ Er fuhr sich ungeduldig ins Haar. „Du kannst tun, was du willst, Gemma. Es geht mich nichts mehr an.“
Sie blickte ihm ernst in die Augen. Ihre Lippen begannen zu zittern. „Und wenn ich dich bitte. Wenn ich dich bitte in deiner Eigenschaft als Seelsorger, mich anzuhören. Ich muß…“ Er unterbrach sie. „Mich doch nicht. Nicht jetzt. Bitte einen, der dich nicht kennt. Ich bin… bin befangen.“ Gemma, still: „Rolf? Das ist doch nicht dein Ernst.“ Er verschlang seine Finger ineinander, stöhnte auf. „Es ist mein Ernst. Ich hab’ den Kopf jetzt übervoll mit wichtigeren Dingen.“ Sein Blick irrte ab, offenbar hielt er Ausschau auf seine gefährdete Zukunft. „Was ist wichtiger als ein Menschenleben?“ fragte sie leise. „Eben.“ Vorwurfsvoll sah er sie an. „Davon reden wir die ganze Zeit. Es kostet dich wenige Worte - und du zerstörst das Leben meiner Familie. Und meines mit. Das kannst du nicht wollen, Gemma!“ Er stand da in seiner ganzen Erbärmlichkeit, den flehenden Blick auf sie gerichtet wie auf eine Fremde, von deren Gnade sein Schicksal abhing. Gemma empfand in diesem Augenblick weder Mitleid noch Abscheu, auch ihr Schmerz um den Verlust war noch nicht aufgebrochen. Am ehesten war es Verwunderung. Ungläubiges Staunen darüber, wie von einem Tag zum anderen ein vertrauter Mensch sich in einen völlig unbekannten verwandeln kann. Sie sagte langsam und jedes Wort deutlich betonend: „Ich habe getötet, Rolf.“ Seine Augen überflog ein schreckgefärbter Schatten. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Und gleich darauf meinte Gemma, er wollte sie schlagen. Mit äußerster Beherrschung schien er sich zu-
rückzuhalten, aber seine Stimme bebte vor Haß. „Du. Hast du es doch getan. Jetzt keine Ausflüchte mehr. Was hast du Ratzner gesagt? Hat er dich gesehen? Rede!“ Ihr war, als fühlte sie Eis in der Brust. Eine solche Kälte breitete sich in ihr aus, daß sie zu zittern begann. Die Zähne schlugen aufeinander. Sie war nicht fähig, ein Wort hervorzubringen. „Warst du bei Ratzner?“ Sie schüttelte den Kopf. „Hast du etwas über uns verraten?“ Wieder ihr Kopfschütteln. „Wann lügst du eigentlich“, fragte er, der Verzweiflung nahe, „worauf soll ich mich denn verlassen?“ Ihre Worte klangen gequält. „Ich habe nichts verraten. Ich werde es auch nicht tun.“ Er schöpfte Hoffnung. Sie wirkte überzeugend auf ihn. „Schwöre es“, forderte er. Abermals schüttelte Gemma stumm den Kopf. „Wenn es wahr ist“, bat er drängend, „dann schwöre es mir. Schwöre bei unserer…“ Er schien selbst zu empfinden, wie geschmacklos und verletzend seine Worte wirken mußten. Er ließ den Satz unbeendet, senkte den Blick. „Ich schwöre es“, sagte Gemma. „Gut. Ich glaube dir.“ Er ließ von ihr ab, sofort mit der unbekannten, neuen Fährte beschäftigt. „Wer nur“, murmelte er, „wer nur kann…“ Ihn überraschte, daß der naheliegende Einfall so spät kam. „Ines!“ rief er aus. „Es kann nur deine Tochter gewesen sein.“ Gepeinigt stöhnte Gemma auf. „Laß Ines aus dem Spiel. Das glaube ich auf keinen Fall. Das tut sie nicht.“
„Bist du sicher? Frage sie. Und schärf ihr ein, den Mund zu halten. Wo steckt sie denn?“ Gemma war am Ende ihrer Kraft. „Sie kommt dann“, log sie. Endlich schickte Rolf sich zum Gehen an. Doch an der Tür druckste er, ehe er öffnete. Er brauchte Gewißheit, unbedingt. „Wann kommt Ines?“ Gemma, überrumpelt: „Sie wollte… sie wird wohl gleich vom Bahnhof aus ins Theater fahren.“ „Ach ja. Das Kappenfest. Ist sie denn dabei?“ Gemma griff nach der Ausrede. „Ja. Sie ist dabei.“ „Dann siehst du sie also auf dem Fest?“ Sie lachte gezwungen. „Das wird sich nicht vermeiden lassen.“ Er sagte bestimmt: „Ich erwarte, daß du sofort mit ihr redest. Wegen dieser Sache.“ Gemma schluckte. „Das - das wird nicht möglich sein. So ein Fest, verstehst du, die vielen Leute…“ „Gemma.“ Seine Stimme klang drohend. „Vergiß nicht, daß du geschworen hast. Du wirst wohl Gelegenheit finden, ungestört ein paar Worte mit deiner Tochter zu wechseln. Oder?“ Sie entgegnete tonlos: „Vielleicht gehe ich gar nicht zum Kappenfest.“ In Rolf schwelte Wut. „Was soll denn das nun wieder. Dieses ständige Hin und Her ist unerträglich. Du wirst zum Fest gehen, wenn Ines nicht vorher nach Haus kommt. Und ich werde dich hinbringen.“ Sie sah ihn verstört an. „Mußt du nicht nach Haus?“ Er entgegnete kühl: „Du scheinst noch immer nicht zu
begreifen, worum es für mich geht. Muß ich warten?“ Plötzlich war ihre Beherrschung kaputt. „Warum quälst du mich so?“ schluchzte sie. „Wenn du wüßtest…“ Sie drehte den Kopf zur Seite, blickte zu Boden. „Du brauchst mich nicht zu bewachen. Ich gehe zum Fest.“ Rolf atmete hörbar auf. „Es ist der letzte Gefallen, um den ich dich bitte. Wann fängt das im Theater an?“ „Um acht.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Also. Ich werde - sagen wir, gegen einundzwanzig Uhr - am Bühnenausgang sein. Du kommst auf einen Sprung heraus und sagst mir Bescheid. Einverstanden?“ Sie biß sich auf die Lippe. „Bescheid?“ „Was du mit Ines erreicht hast. Versprichst du es?“ Sie nickte langsam. „Ja.“ „Ich werde warten. Viel Spaß!“ Zum Abschied strich er ihr flüchtig übers Haar. Die Tür klappte hinter ihm zu. Warten würde er. Hatte Zeit. Kaltherzig wünschte er ihr Spaß. Ein jähes Schwindelgefühl zwang Gemma, sich niederzusetzen. Rolf Schubert schlug den Mantelkragen hoch. Es nieselte. Ziellos schlenderte er durch abendliche Straßen. Was sollte er beginnen mit den Stunden, die zu verwarten waren. Sieglinde wußte ihn bei einem Kollegen, der ihn kurzfristig um ein Gespräch gebeten hatte. Es sollte die letzte Lüge sein, die er ihr zufügte, Pfarrer Schubert nahm es sich fest vor. Trotz dieses Entschlusses wurde er
ein undeutliches Schuldgefühl nicht los. Was hatte Gemma nun wirklich gemeint, mit dem Geständnis, getötet zu haben? Er hätte sie anhören müssen. Ach was. Pfarrer Schubert erinnerte sich anderer Überspanntheiten, mit denen Gemma ihn überrascht hatte. Eine Schauspielerin halt. Und wußte dennoch, daß er sich etwas vormachte. Doch die Steine mußten ihm aus dem Mund.
12 Es ging auf halb acht. Noch war die girlandengeschmückte Kantine fast leer. Hinter der geöffneten Ausschankluke rumorte die Kantinenfrau in der kleinen Teeküche. Schon mittags hatte sie den Kühlschrank mit Weißweinflaschen, Sekt- und Kornflaschen gefüllt. Jetzt war sie dabei, kalte Platten herzurichten. Sie bestrich Brötchen, schnitt Salami und Käse auf. Ab und an tauchte ihr Kopf in der Luke auf, um mißmutig wieder zu verschwinden. Es zog, und ihre wiederholten ungnädigen Blicke änderten daran nichts. Man hatte die Kantinentür ausgehängt, um die Korridore in die Feierei einbeziehen zu können. Die Kantine war zu eng für alle, und aus diesem Grunde hatte man draußen im Flur zusätzliche Tische und Stühle aufgestellt und dort auch die Musikanlage installiert. Und nun zog es. Fuchtig knallte die Kantinenfrau im Hintergrund der Küche ein kleines Fenster zu. Mußte sie eben umkommen in dieser Hitze, bitte schön. 3eine trockenen Hände reibend, betrat Lothar Löber die Kantine. Er ging zur Ausschankluke, zeigte lächelnd seine braun-verfärbten Zähne. Das schmale Oberlippenbärtchen lag oberhalb der Pferdezähne wie ein koh-
leschwarzes Ausrufezeichen. Er hatte es mit Tusche gefärbt. Endlich bekam die Kantinenfrau Gelegenheit, ihrem Ärger Luft zu machen. Nach einem mürrischen Blick in Löbers freundlich grüßendes Gesicht sagte sie abfällig: „Siehst du denn aus? Arsch mit Sauce.“ Löber ließ sich die Laune nicht verderben. Er rückte seinen Cowboyhut, der ihm in die Stirn gerutscht war, zurecht und bat ungerührt um einen Schraubenzieher. „Sonst noch was?“ Sie fauchte ihn ärgerlich an. „Denkst wohl, ich bin ein Werkzeuglager. Schraubenzieher!“ „Ein Messer tut es auch“, entgegnete Löber ruhig. Sie drehte ihm den Rücken, riß das Küchenfenster auf. „Menschenskind, es zieht! Merkt denn das keiner von euch, daß es hier zieht wie Hechtsuppe. Kein Mensch kann dabei arbeiten.“ Nachdem Löber mit dem Kopf durch die Luke getaucht war und korrekt bestätigt hatte, daß es schlimmer zöge als Hechtsuppe, war die Ausschankfrau zufrieden mit ihrem Los. Sie schloß das Fenster, legte Löber zwei Messer zur Auswahl vor. „Wozu brauchst du’s denn?“ Sein Schubfach, in dem er die Kassetten verschlossen hatte, ließ sich nicht öffnen. Etwas klemmte oder sperrte, aber er mußte es aufbekommen. Er hatte für den heutigen Abend seine Musikkassetten versprochen. „Dann nimm das.“ Löber schob mit einem stabilen Brotmesser los. Bevor er sich um die Musik kümmerte, schaltete er im Bühnenhaus Arbeitslicht an. Er prüfte, ob der eiserne Vorhang herabgelassen sei. Alles in Ordnung. Das Licht ließ er brennen für den Fall, daß jemand sich zur Bühne verirrte.
Es würde ohnehin ein Feuerwehrmann dasein und aufpassen, daß in diesem Bereich niemand rauchte. Als er von der stillen Hinterbühne zurück in den Flur des Garderobentraktes trat, schwoll ihm Stimmengewirr entgegen. Löber blieb einen Augenblick stehen. Er lauschte auf die fröhlichen Zurufe, das Gemurmel, Gelächter. Höchste Zeit, für Musik zu sorgen. Er ließ die Klinke los, und schwerfällig schnappte die Tür zum Bühneneingang hinter ihm zu. An seinem Garderobetisch bearbeitete er das sperrige Schubfach mit dem Messer. Es gelang. Er nahm Kassetten heraus, ging durch den Korridor zum Recorder. Als er an der Pförtnerloge vorüberkam, nickte Papa Busch ihm zu. Auf sein Stoppelhaar hatte er einen steifen roten Papphut mit schwarzer Troddel gesetzt. Er griff nach dem Bier, das er bei sich hatte, und prostete Löber zu. Jetzt drehte sich auch Hardy Jäger nach ihm um, der zuvor neben der Pförtnerloge gelehnt hatte, offensichtlich im Gespräch mit Papa Busch. Löber traute seinen Augen kaum. Er zwinkerte. Völlig verdattert konnte er nur hervorbringen: „Ach – Sie?“ Unglaublich, daß er Gemma für Hardy Jäger gehalten, hatte. Es konnte nur an der eigentümlichen Verkleidung liegen. Man sah ja von der Frau kaum etwas. Die schwarze Kappe verdeckte das Haar und einen Teil des Gesichtes. Die schwarze, lose hängende Jacke verbarg die schmale Taille. Jetzt wußte Löber es. Die langen Hosen waren es gewesen, die ihn vollends irregeführt hatten. Gemma Weihmann trug niemals Hosen. Löber starrte sie noch immer offenen Mundes an. Vermutlich hatte er sie mit seinem Ausruf erschreckt, denn
Gemma sah ihn so seltsam an, sie war, wenn er sich nicht täuschte, sogar blaß geworden. „Ich dachte“, stammelte er erklärend, „Herr Jäger…“ Sie schien nichts hören zu wollen. „Was wollen Sie von mir?“ fragte sie kalt und beherrscht. Aber ihre Augen straften sie Lügen. Auf dem Grund der dunklen Iris zuckte beginnende Panik auf. Löber bemerkte es nicht. Er nahm den Luftzug wahr, den Gemma verursachte, als sie an ihm vorüberrauschte und ihn stehenließ in seinem Staunen. Kopfschüttelnd sah er ihr nach. Von hinten hätte er sie wieder mit Hardy Jäger verwechseln können. Er legte Musik auf. Einige Paare begannen im Korridor, der von schummrigem Kerzenlicht beleuchtet war, zu tanzen. Ihre Schatten stiegen groß an den Wänden auf, verlängert durch Hauben, durch Helme und hohe Mützen. Die Nacht der Narren hatte angefangen. Gemma stand am Ausschank und trank Kognak. Sie gab sich, als beobachte sie durch die offene Tür gelassen die Tänzer im Korridor. In Wahrheit befürchtete sie, ihr harter, schneller Herzschlag müsse unter dem Kostüm, müsse an Hals und Schläfe sichtbar sein. Was hatte Löber gemeint: ACH - SIE. Daß er Hardy erwähnt hatte, beunruhigte sie ebenfalls. Sie versuchte, unauffällig die Anwesenden zu mustern. Die wenigsten hatten sich mit einer einfachen Kopfbedeckung begnügt. Einige trugen Kostüme, die im Theaterfundus geliehen sein mußten. Ein Papageno lehnte trübe in seiner Ecke und betrachtete gelangweilt das Treiben, das allmählich in Schwung kam. Der Elfenkönig Oberon war da und Zar Wasserwirbel, mehrere Prinzessinnen mit glitzernden Pappkronen
auf den Köpfen, Hofdamen in Reifröcken und gepuderten Allonge-Perücken. Die Herren vom Ballett hatten allesamt Zwergenmützen aufgesetzt. Unter den Phantasiegebilden, die einige Kollegen statt einer Kappe trugen, waren mitunter die Gesichter kaum zu erkennen, sie wirkten fremd. Gemma suchte Hardy in der bunten Schar. Sie konnte ihn nicht entdecken. Er hatte ihr nicht verraten, wie er sich kostümieren würde. Gewiß hatte er sich ein farbenprächtiges Gewand geschneidert. Sie war darauf gefaßt, ihn in strahlenden Farben zu erblicken. Gemma ließ sich einen zweiten Kognak einschenken. Papa Busch hatte gesagt, daß Hardy noch nicht im Hause sei. Inzwischen konnte er längst gekommen sein. Und wenn er überhaupt nicht erscheinen würde? Ihre geheime Furcht würde darum nicht geringer werden. Sie brauchte Gewißheit, woran sie mit Hardy war. Sie war eben im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden, als der Maskenbildner auf sie zutorkelte. Der Glanz seiner Augen verriet, er hatte schon einiges intus. Die Schellen an seiner Narrenkappe klingelten munter, als er sich vor Gemma verbeugte und ihr Feuer reichte. „Warum denn in Trauer?“ fragte er in seiner schleppenden Sprechweise. Gemma blies Rauch aus, lachte gezwungen. „Nicht in Trauer. Nur schwarz.“ Der Maskenbildner schüttelte den Kopf, die Glocken rasselten silbern los. „Doch in Trauer“, beharrte er und lachte albern auf. „Darf ich bitten, Dame in Trauer?“ Sie nickte knapp. Während er vor ihr her in den Korridor stapfte, fragte sich Gemma, warum er auf seiner hin-
tersinnigen Äußerung bestand. Doch da machte er schon eine eulenspiegelhafte Reverenz vor ihr, deutete ironisch an, daß sie weiterrauchen dürfe, und zog sie in einen Schunkeltanz. Er berührte sie nicht, hüpfte vor ihr hin und her, während Gemma kleine Schritte am Ort vollführte, sich leicht in den Hüften wiegte. Dann und wann zog sie an ihrer Zigarette, drehte sich geschmeidig um sich selbst. Die Musik hatte gewechselt, RumbaRhythmen erklangen. Unaufhörlich läuteten die Glocken an der Schelmenkappe, schufen mit ihrem Klang trughafter Zuversicht eine seltsame Abgeschiedenheit, in der Gemma sich bewegte. Sie verfiel dem gleichen Zauber von Zeitlosigkeit, den sie kürzlich während der Probenpause im Bühnenraum, im dämmrigen Arbeitslicht, unter dem Staubgeruch des Vorhangplüsches, erlebt hatte. Nie wieder hinaus müssen in jenseitige Zeitabläufe, nichts empfinden, gar nichts mehr… Doch dann drangen störend Blicke in diese Abgeschiedenheit, die ihre Bewegungen beobachteten. Löber, neben dem Recorder ausharrend wie ein standhafter Zinnsoldat, wandte kein Auge von ihr. Gemma schoß ihm einen verstohlenen Blick vor die Brust. Warum legte er das lächerliche Messer nicht endlich aus der Hand. Ein Cowboy mit Brotmesser. Gereizt nahm sie einen Zug aus ihrer Zigarette. In der nächsten Drehung blieb Gemma wie verhext stehen. Sie war vor einen Spiegel geraten. Während hinter ihr die Narrenglöckchen unablässig zirpten, stand sie, zu Stein geworden, sich selbst gegenüber. Jetzt sah sie auch, daß der Maskenbildner recht gehabt hatte. Die schwarze Kappe, die hängende Jacke, die Hose: ein Trauergewand. Sie blickte in ein kummer-verschattetes Gesicht, trostlose
Augen sahen sie an. Als sie geistesabwesend die Hand zum Mund führte, um einen Zug zu nehmen, tat ihr Spiegelbild nicht mit. Es hatte keine Zigarette zwischen den Fingern, rauchte nicht. Wenige Meter entfernt stand Hardy ihr gegenüber. Bei den Tanzenden erregte die Zwillingskostümierung kein großes Aufsehen. Amüsierte Blicke, kurze Verblüffung, Gelächter - man tanzte weiter. Nur Löber auf seinem Beobachterposten neben dem Recorder ließ nicht ab von den beiden. Er wußte nicht, was es war, das ihn unterschwellig alarmierte. Seine Blicke wanderten zwischen Gemma und Hardy hin und her. Allmählich fesselte Hardy seine Aufmerksamkeit stärker. Die Kappe, die Hardy trug, hatte nahezu den gleichen Schnitt wie sein Haar, sie veränderte die Silhouette kaum. Seltsam der Kontrast zu Hardys heller Haut. Der nackte Hals leuchtete matt. Hinter Gemma war der Maskenbildner stehengeblieben. Sein meckerndes Lachen rüttelte gleichsam an den Glöckchen. „Noch einer in Trauer“, sagte er, „und weit und breit kein Toter!“ Gemma sah, daß Hardy zusammenfuhr. Das Wort hatte offensichtlich die gleiche Wirkung auf ihn wie auf sie. Er wußte. Unwillkürlich wich sie zurück, als Hardy schrittweise langsam auf sie zukam. Er bewegte die Lippen, sagte irgend etwas im Näherkommen. Sie verstand nichts, die Musik setzte ohrenbetäubend zu einem Tango an. Löber hatte, in Beobachten und Grübeln versunken, am Knopf gedreht und die Lautstärke erhöht. Was hatte Hardy vor, daß er derart drohend auf sie zukam. Die scharf skandierten Rhythmen des Tangos übertrugen sich
auf Hardys Bewegungen. Er näherte sich, als hacke ein schwarzer Riesenvogel mit seinem Schnabel in ihre Richtung. Gemma schob sich rückwärts durch die Tanzenden hindurch, und Schritt für Schritt, sie nicht aus den Augen lassend, kam Hardy ihr nach. Sie drängte dicht an Löber vorüber. Mit einem Seitenblick auf ihn nahm sie die Spannung in seinen Zügen wahr. Er musterte sie, als sei er einer Erinnerung auf der Spur. Gemma hörte seine aufgeregten Atemzüge. Löber sah ihren nackten Hals leuchten. Und nun hatte er es, wonach er fieberhaft gesucht hatte: die Erinnerung an die Unglücksnacht. Das war ihm an jener Person im Dunkeln aufgefallen, ehe sie flüchtete: der nackte, matt leuchtende Hals. Er war derart schockiert, daß er das Messer fallen ließ, das er noch immer nicht zurückgegeben hatte. Es konnte ja nicht sein. Während Gemma sich, ruckhaft wie eine Marionette rücklings von unsichtbaren Fäden gezogen, entfernte, bückte Hardy sich nach dem Messer. Es war ihm direkt vor die Füße gefallen. Sekundenlang steht er still, streckt Löber das Messer entgegen. Doch der nimmt es nicht. Der sieht atemlos zu, wie die Person vor seinen Augen, deren nackter Hals matt leuchtet, ratlos steht. Und dann verschluckt Löber sich beinahe an innerer Hellsicht. Er ahnt, welche Gesten die Person in den nächsten Augenblicken vollführen wird. Und Hardy tut, was er an jenem Abend getan hat, als er sich aufrichtete über dem Toten auf der Straße, bevor er zu seinem Auto rannte. Er hat diese Augenblicke so oft erneut durchleben müssen, daß er am Ende seiner Kraft zum Verschweigen ist. Niemals wird Gemma ihm verzeihen, daß er Ines ans Lenkrad gelassen hat. Aber er muß es aussprechen, wenn er nicht daran
ber er muß es aussprechen, wenn er nicht daran ersticken soll. Er muß es ihr sagen. Jetzt. Wie er Ines vom Bahnhof an hat fahren lassen. Wie er nicht eingreifen konnte, als in der dunklen Straße plötzlich der Mann da war, mitten auf der Fahrbahn, kaum zu sehen, hingetorkelt, auf Knien. Seine entsetzten Augen. Der Schrei, den Ines ausstieß, als sie nicht bremsen konnte und über den Mann hinwegfuhr. Wie Ines, wild vor Angst in ihrem Schock, an Hardy rüttelte, flehte, schrie: Nichts verraten, nichts sagen! Nicht zur Polizei! Weg, schnell weg, nur weg von hier! Du mußt doch ins Theater! Wie er bei ihren Ausbrüchen nicht mehr gewußt habe, was er tue. Er sei wirklich ins Theater gefahren… und danach habe er, kopflos aufgeschoben, alles falsch gemacht. Und Löber bekommt zu sehen, was er schon einmal beobachtet hat. Die Person hebt ruckhaft einen Arm - es sieht aus, als wolle sie die Luft durchstoßen, die Nacht von sich drücken und läßt die Hand flach auf den eigenen Kopf niederfallen. Und die Person, die sich als Hardy Jäger entpuppt, die mit der anderen Hand noch immer das lächerliche Brotmesser festhält, stürzt davon, Gemma entgegen. Jetzt hält es Löber nicht mehr aus. Er ist sich seiner Sache sicher. Doch den ungeheuerlichen Schritt, jene aufgespürte Person bei ihrem alltäglichen Namen zu nennen, kann Löber in diesem Augenblick noch nicht vollziehn. Er schleudert einen Arm nach vorn, deutet in die Fluchtrichtung der beiden, und er ruft Gemma und Hardy hinterdrein: „Das ist die Person“, schreit er über die Musik hinweg, „die Person, die ihn getötet hat!“ Die wenigsten haben im Trubel des Vergnügens etwas mitbekommen von dem Auftritt. Als Gemma Hardy auf
sich losstürzen sieht, finsteren Blicks und das Messer in der Hand, schwinden ihr fast die Sinne. Doch ihr Körper in seiner blinden Angst ist fluchtbereit. Wie ein gejagtes Tier springt sie davon, als Löbers Worte sie erreichen. „Das ist die Person, die ihn getötet hat!“ Besinnungslos läuft sie den Korridor hinab, biegt in den Gang, der zur Bühneneingangstür führt. Mit wenigen Sätzen erreicht sie die Tür. Während sie mit unvermuteter Kraft die schwere Tür aufreißt, kommt aus der gegenüberliegenden Toilettentür, hinter der sie sich umgezogen hat, Ines heraus. Ahnungslos und benommen bleibt sie stehen, als die wilde Jagd an ihr vorüberprescht. Gemma sieht Ines nicht in ihrem schwarzen Aufzug, sie ist schon auf der Hinterbühne angelangt. Nur der Maskenbildner, der dem Zug neugierig hinterdreinklingelt, sieht den Trauerkloß von Mädchen ratlos dastehn. „Noch eine“, sagt er und gluckst, „wer ist denn nur gestorben, ihr Grabvögel?“ Mit schreckgeweiteten Augen blickt Ines dem davonspringenden Narren nach, hinter dem sich gleich darauf die Tür zum Bühnenzugang schließt. Sie begreift überhaupt nichts. Warum laufen sie zur Bühne. Was will Hardy mit dem Messer. Warum sieht ihre Mutter aus wie nicht bei Verstand. Hardy wird ihr alles erzählt haben. Ihr erster Impuls: sich verkriechen vor all den fremden Leuten. Wieder in der Toilette verschwinden, das Kostüm ablegen. Doch als niemand kommt, aus dem weitgestreckten Korridor Festtrubel zu ihr dringt, tut sie einige Schritte, guckt um die Ecke. Ungestört und ausgelassen wird getanzt. Ines schaut einige Sekunden zu. Dort kann nichts geschehen sein. Zögernd nähert sie sich der eiser-
nen Bühnentür. Gemma läuft, als ginge es um ihr Leben. Keuchend überquert sie die Bühne. Hinter sich hört sie Hardy, hört sie Löber, hört sie Narrengeläute. Das Blut rauscht in ihren Ohren, wird zu einem stürmischen Brausen. Sie meint Satzfetzen zu vernehmen, ein Stimmengewoge brandet in ihrem Kopf: Das ist die Person, die ihn getötet hat. Schneid den Regen ab, Gemma. Zum Nachtisch die Mutter. Und Rolf? Warum sagt er nichts? Da ist sie angelangt bei der Feuerleiter, greift nach den Sprossen, tut die ersten Tritte aufwärts. Überrumpelt schießt der Feuerwehrmann von seinem Stuhl neben der Feuerleiter hoch. Gemma ist schon weit über ihm, als sein empörter Ruf sie erreicht. „Hier wird nicht geraucht!“ Sie hat die Zigarette fortgeworfen, als sie ihren Aufstieg begann. Geschmeidig wie eine Katze erklimmt sie Sprosse um Sprosse. Hier hat sie schon einmal hinaufgewollt, zum himmelhohen Schnürboden. Keiner wird ihr folgen in schwindelnde Höhe, keiner. Hardy nicht mit seinem lächerlichen Messer, das er trägt wie einst sein Mackie-Messer-Stöckchen, Löber nicht mit seinen entlarvenden Worten, nicht jener klingelnde Narr… Und ganz und gar nicht Rolf, der ihre Liebe verschachert hat, eingetauscht gegen einen Posten. Gemma verhält einen Augenblick, sieht sich um. Viele Meter unter ihr steht Hardy, den Fuß auf der unteren Sprosse. Er ruft, er winkt ihr zu, er hat das Messer nicht mehr in der Hand. Aber Gemma ist taub gegen Zurufe, und Messer machen ihr keine Angst mehr. Den Blick noch auf Hardy, setzt sie den Fuß auf die nächste Sprosse. Das leise Knacken ihres Kniegelenkes treibt ihr eisi-
ges Entsetzen über die Haut. Nicht Hardy blickt zu ihr empor. Es ist das Gesicht des Toten, die verdrehten Augen sind anklagend auf sie gerichtet. Gemma wendet sich, flieht aufwärts in panischer Hast. Sie erreicht den Schnürboden in dem Augenblick, als Ines die Tür zum Bühnenraum öffnet. Und Gemma springt, als die Tür zuschnappt. Der Aufprall ihres Körpers ist so unglaubhaft, daß die Umstehenden schweigend auf die Tote starren, die in Trauerkleidung am Boden liegt. In die betäubte Stille hinein schüttelt der Maskenbildner, der nichts von den Verstrickungen der Menschen um ihn her ahnt, fassungslos den Kopf. Narrenschellen läuten den Tod ein. Der Menschenauflauf bunt verkleideter Leute, die noch von Musik und Tanz zu dampfen schienen, machte Rolf Schubert stutzig, als er sich dem Theater näherte. Flüsternd drängten sie zum hinteren Theaterzugang heraus auf die nächtliche Straße. Er stellte sich unauffällig zu ihnen. Alsbald bildeten sie eine Gasse, durch die zwei Männer in weißen Kitteln eine Trage schleppten. Von Hardy geführt, außer sich vor Schmerz, lief Ines neben der Trage her, schreiend und haltlos schluchzend. „Mami! Mami! Meine Mami!“ Selbst wenn er das dunkle Haar nicht gesehen hätte, das unter dem Leichentuch hervorschaute. Er wußte sofort, daß es Gemma war. Er fühlte, wie sein Mund sich mit Steinen füllte, und er würgte an seiner unleugbaren Schuld. Gemeinsam mit den versammelten Narren sah er dem davonfahrenden Krankenwagen nach. Ines war in die Fahrerkabine gestiegen. Nachdem die Schreie des Mäd-
chens verstummt waren, kam die Nacht ihm seltsam hohl vor. Während die Theaterleute allmählich wieder ins Haus gingen, kehrte Rolf Schubert sich ab. Bedrückt trat er den Heimweg an. Er gedachte seiner letzten Begegnung mit Gemma. Reuevoll und abbittend nannte er sie in Gedanken nicht mehr alternd, sondern jung. Viel zu jung zum Sterben. Und indem er sich einer kurzen, heftigen und aufrichtigen Traurigkeit um diese schöne Frau hingab, fand er zu reinem Gewissen und Zukunftsgewißheit zurück.
ENDE
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
– Kurzwort für Delikte, Indizien, Ermittlungen – erscheint seit 1970. Wir müssen darauf aufmerksam machen, daß alle Auflagen vergriffen sind; es ist zwecklos, Bestellungen an den Verlag zu richten.