EIN KOSTENLOSES ANGEBOT VON GEREBOOKS
Zu diesem Buch
Christine ist vom Land in die große Stadt gekommen und hat als ...
19 downloads
522 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
EIN KOSTENLOSES ANGEBOT VON GEREBOOKS
Zu diesem Buch
Christine ist vom Land in die große Stadt gekommen und hat als Schriftstellerin Karriere gemacht. Sie wird umschwärmt von den Medien, bewundert vom Publikum. Aber Ruhm und Geld sind nicht alles. In ihrer Sehnsucht nach Glück bietet sie vielen Männern ihr Bett an, erlebt jedoch eine Enttäuschung nach der anderen. Schließlich sucht Christine einen neuen Weg. Brigitte Schwaiger, geboren am 6. April 1949 in Freistadt / Oberösterreich als Tochter eines Medizinalrats, unterrichtete nach ihrem Studium Deutsch und Englisch in Spanien, malte und bildhauerte nebenher, kam dann über die Pädagogische Akademie zum Theater und zuletzt zum Schreiben. Sie verfaßte die Theaterstücke «Nestwärme» und «Liebesversuche», die Einakter «Die Klofrau» und «Büroklammern» sowie die Hörspiele «Steirerkostüm», «Murmeltiere», «Die Bock’, die Kinder und die Fisch’» und «Wie ein eigenes Kind». Ihr Erstlingsroman «Wie kommt das Salz ins Meer» (rororo Nr. 4324) wurde zu einem sensationellen Erfolg, in mehrere Sprachen übersetzt und von Peter Beauvais fürs Fernsehen verfilmt. Viel beachtet wurden auch ihr Prosaband «Mein spanisches Dorf» (rororo Nr. 4657), ihre Erzählungen «Liebesversuche» (rororo Nr. 12783), das Buch des Abschieds von ihrem Vater «Lange Abwesenheit» sowie ihre Dialoge mit Arnulf Rainer «Malstunde» (rororo Nr. 5361), nicht nur ein Porträt dieses Enfant terrible der Kunstszene, sondern auch ein unkonventioneller Versuch, den Leser in die Geheimnisse der modernen Kunst einzuweihen. Über ihr gemeinsam mit Eva Deutsch geschriebenes Buch «Die Galizianerin» (rororo Nr. 5461) schrieb die «Frankfurter Rundschau»: «Berichte von Opfern der Nazis gibt es viele. Keiner übertrifft diesen an Unmittelbarkeit.» In ihrer Beichte «Der Himmel ist süß» (rororo Nr. 5749) erzählt sie von den Schwierigkeiten eines heranwachsenden Mädchens und umkreist damit erneut ihr Thema von der Scheinheiligkeit bürgerlicher Verhältnisse. Brigitte Schwaiger lebt in Wien.
Brigitte Schwaiger
Schönes Licht Roman
Rowohlt
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1992 Copyright © 1990 by Langen Müller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung Nina Rothfos (Foto: Fernando Bueno/The Image Bank) Gesetzt aus der Baskerville der Fa. Berthold Satz Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 890-ISBN 3 499 12983 3
1 Ihre erste Kurzgeschichte wurde veröffentlicht, als Christine Leitenmeier siebzehn war. Der Journalist, den sie daraufhin aufsuchte, um ihm zu danken, fragte, was sie von der neuesten Mode halte, es gäbe Papierkleider, die seien hübsch und praktisch, man könne sie wegwerfen, wenn sie schmutzig seien. Er habe ein solches Kleid in seiner Redaktion, sie solle es anziehen, er würde selbstverständlich hinausgehen, und er schwöre ihr, es würde ihr gut stehen. Sie stand im Zimmer, ehrfurchtsvoll. Schließlich war «Journalistin» einer ihrer Traumberufe. Ernste Möbel standen dunkel herum. Jalousien waren heruntergelassen, im Zimmer wurde es immer düsterer, je bunter sie das Kleid leuchten sah. Sie zog sich aus und schlüpfte hinein. Es zeigte Knie und Oberschenkel. «Mini»-Rock und «Mini»-Kleid waren damals «letzter Schrei», beinah Pflicht. Aber soviel Haut wollte sie dem fremden Mann nicht zeigen. Sie zog das Kleid aus, schlüpfte in ihr eigenes, faltete das Papierkleid zusammen und gab es ihm zurück. «Sie provozieren mich!» sagte der Journalist. «Die Haare lassen Sie sich nicht so schneiden, wie ich es Ihnen geraten habe, ein Kleid, das ich für Sie gekauft habe, zeigen Sie mir nicht an Ihrem Körper! Was gedenken Sie mir denn noch alles anzutun?»
Seine Nase war stups, die Augen rund und blau, seine Wimpern rötlich, die Haare rotblond, und er maß ungefähr einen Meter fünfzig. Er hatte kleine Hände und weiße, leicht vorstehende Zähne. Der Mund war, wie Christines Mutter sagen würde, Kirschenmund. Aber über Männer würde die Mutter nie etwas Freundliches sagen. Christine hörte seit ihrer Pubertät eigentlich immer nur, wie apart, wie hübsch ihre Schwestern oder eine ihrer Freundinnen oder Filmschauspielerinnen waren. Über Männer sagte die Mutter meist nur, daß sie aus dem Mund rochen oder dürre Beine hätten. «Einen Mann darfst du in der Badehose nie anschauen!» Mit den kleinen Händen lenkte der Journalist einen Volkswagen, zeigte ihr die Stadt, beanstandete, daß sie Zeitung las, während er auf die Landschaft aufmerksam mache. «Schenken Sie mir Ihren Mund, Christine», sagte er einige Male. In seiner Wohnung tranken sie Wein. Dazu aßen sie Erdbeeren. Er erzählte von einer sehr großen Frau, mit der er händehaltend durch Wien gegangen sei. «Die Körpergröße spielt in der Liebe keine Rolle, wissen Sie? Wenn Sie wollen, können Sie Nächte mit mir verbringen, von denen Ihnen das Blut singt.» Sie aß die Erdbeeren, sie war Jungfrau. Er küßte sie. Seine Zunge schmeckte nach Weißwein und Zucker. Er wollte über den niedrigen Tisch zu ihr, und sie hielt ihn mit beiden Händen zurück. Einen Mann, dem man alles gab, mußte man heiraten. Denn man durfte nur dem Mann, den man heiraten würde, alles geben.
«Und der Papa sagt außerdem», hatte die Mutter hinzugefügt, «als Frau darf man nur mit einem Mann ins Bett gehen, von dem man sich auch ein Kind wünscht.» Christine wollte sich nicht so früh entscheiden. Der Journalist stand auf, ging zu seinem Bücherregal, nahm ein Buch heraus, schlug es auf und winkte ihr, ohne von dem Buch aufzuschauen, mit der rechten Hand. Sie lief zu ihm. Ihr Vater sagte oft, sie springe, anstatt sich wie eine Dame zu bewegen. «Da! Schauen Sie! Dieser Satz! Von Françoise Sagan! ‹Der Sommer war ein einziger gelber Fleck.› Sehen Sie, dafür liebe ich diese Frau.» «Das ist ein guter Satz, wirklich wahr!» Er machte das Buch zu, stellte es zurück. «Wenn Sie einmal solche Sätze schreiben, werde ich Ihnen, was Sie mir angetan haben, verzeihen. Eine JeanSeberg-Frisur würde Ihnen wirklich besser stehen! Jedes Haar kurz wie ein Zündholz, kürzer noch. Wie ein Igel müßten Sie aussehen. So wie die Jean Seberg in dem Film ‹Bonjour Tristesse›.» Christine hatte ihm die Kurzgeschichte ohne Titel geschickt. Sie wußte nicht, wie man etwas, wovon man nicht wußte, ob es gut war, nennen sollte. Der Journalist hatte, ohne sie zu fragen, die Geschichte «Worauf es im Leben ankommt» genannt und mit einem Rechtschreibfehler in ihrem Familiennamen publiziert. Trotzdem war es ein unsagbares Glücksgefühl, als sie eines Tages Zeitungen bekam, fünf Stück, und in jeder war ihre Geschichte. Auch fünfmal der falsch geschriebene Name. Aber trotzdem, diese Vorstellung: Jemand fuhr im Zug, langweilte sich, schlug die Zeitung auf …
Sie kam sich wie eine geheime Wohltäterin vor. Ein Fremder, der bisher nicht von ihrer Existenz gewußt hatte, las womöglich die ganze Geschichte bis zum Ende! Geld bekam sie keines. Sie war nicht sicher, ob sie anfragen sollte. Schließlich war es ihr eine Ehre, ihren Namen gedruckt zu sehen. Aber noch viel mehr, daß das, was sie sich, anstatt Latein zu lernen, ausgedacht hatte, gelesen werden konnte. Menschen, die das lasen, würden sich amüsieren oder nachdenklich werden. Auf jeden Fall würden sie ihr danken, innerlich, für den Zeitvertreib. Zehn bis fünfzehn Minuten lang den Kopf eines fremden Menschen beschäftigen, je nachdem, wie schnell oder wie genau jemand las, so etwas bedeutete doch Macht! Und wenn diese Menschen dann heimgingen und die Zeitung nicht gleich wegwarfen, wegen der Geschichte, und wenn dann ein Kind kam … Nein, lies das nicht, das ist nichts für dich! Manche Leute würden die Geschichte vielleicht nie mehr vergessen! Die ganz private Befriedigung, die sie dabei erfuhr, bestand außerdem noch darin, daß sie einem Mann, der blaß und desinteressiert während einer Bahnfahrt nach Wien ihr gegenübergesessen war ohne die geringsten Anstalten, sie zu umwerben, eine schwere Krankheit angedichtet hatte. Sie erfand auch eine Geschichte über einen Mann, der in Hinterstoder beim Après-Ski zum Five o’clock tea sie nicht zum Tanzen aufforderte, obwohl sie unaufhörlich zu ihm hinsah. Siegfried und ihre Schwester wurden schon nervös.
«Schau doch nicht immer zu dem Mann hin.» «Ich möchte wissen, ob er ein Engländer ist.» «Warum soll er denn ein Engländer sein.» «Weil er mich an jemanden erinnert, der mir in England gefallen hat.» Und mit dem ich im Bett gelegen bin, fügte sie nicht hinzu. Aber er hat mir nichts getan und gesagt, daß er mir etwas Gutes tut, wenn er verzichtet, und ich soll mich nie wieder zu einem dreißigjährigen Mann ins Bett legen. «Schau nicht immer hin!» sagte ihre Schwester Helli. «Ich will aber, daß er mit mir tanzt!» «Bist du wirklich so?» fragte Siegfried. Sie wußte nicht, wie «so» war, aber kaum aus Hinterstoder daheim, erfand sie GREGOR. Gregor war bildschön, nur, leider, seine Frau liebte ihn nicht, war wegen des Geldes von ihrem Vater mit ihm verheiratet worden, und nun tanzten sie beim Après-Ski und langweilten sich. Sie weitete die Geschichte aus, es gab viele Männer, die ihr gefielen. Sie war siebzehn und fühlte sich fast schon alt, aber die Burschen erklärten ihr, sie sei zu jung. Sie sagten es nicht direkt, aber alle Studenten, mit denen sie befreundet war, hatten ganz andere Mädchen in der Großstadt. Die Gregors häuften sich, die Geschichte wurde immer länger, und als Christine zwanzig war, hatte sie eine schöne Novelle beisammen. Sie tippte daran herum, änderte immer noch etwas, baute und flocht Männer, die sie auf der Straße sah, einfach ein, ließ Gregor immer unmöglicher werden. Der Titel aber blieb: «Worauf es im Leben ankommt». Sie zeigte sie beim Fernsehen herum, als sie in Wien Germanistik studierte und nebenbei Regie zu lernen
versuchte. Die Dramaturgen erklärten ihr, um schreiben zu können, müßte sie erst gewisse Erfahrungen sammeln. Einer wollte ihr zu Erfahrungen verhelfen, aber seine Zähne fühlten sich auf ihrer Oberlippe an wie die Zinken eines nassen Kamms. Der andere legte sich in seiner Wohnung auf den Diwan und sagte: «Komm.» Sie nahm wie er die Brille ab und legte ihren Mund auf seine offenen Lippen. Diese Lippen blieben offen, ihre geschlossen, und nach einer Weile setzte sie sich wieder dorthin, wo sie vorher gesessen war. «Was ist?» «Nichts.» «Für wie blöd hältst du mich eigentlich?» Sollte sie jetzt sagen, daß ein Mann, der eine Frau begehrte, diese Frau selbst küssen mußte? Und sie dann in sein Bett tragen? «Möchtest du noch Musik hören?» fragte er. «Ja.» «Ich spiele dir Béla Bartók vor. Weißt du, bei Béla Bartók habe ich einmal ein merkwürdiges Erlebnis gehabt. Der Aschenbecher war voll, ich hörte seit Stunden Béla Bartók, und auf einmal sind mir die Zigarettenstummel im Aschenbecher vorgekommen wie Skelette, die tanzen.» Er brachte sie zu einem Taxi, es war Winter, sie fuhr in ihre Untermiete, Wien war kalt. Sie flüchtete in ein wärmeres Land. Dort studierte sie Malerei. Rafael, ein Spanier, der gesagt hatte, er liebe sie mehr als die Luft, die er atme, entjungferte sie und brachte sie auf die Kunstschule. Sie heirateten, aber wegen ihrer Phantasien, die sie ihm
übersetzte, nannte er sie Ausländerin, Hure und Schlampe. Und als er sie fortschickte, redeten ihre Eltern nicht mit ihr, und sie wollte eigentlich sterben. Da setzte sich Walter Slavik in ihr Leben, ein Schriftsteller, über sechzig Jahre alt. Mit einem reifen Mann würde sie keine Enttäuschungen erleben. Walter konnte nicht mit ihr schlafen wollen, er war vierzig Jahre älter als sie. Aber Walter schrieb in einem Brief, er habe, was er fühlte, als er sie mit dem Manuskript stehen sah, zum letzten Mal als Gymnasiast empfunden. Und sie sei um Gottes willen nicht verpflichtet, mit ihm ins Bett zu gehen, nur, er wolle die Tatsache, daß sie eine Frau sei, nicht übersehen und schon gar nicht ausschließen. Er hielt Christine versteckt, und er pflegte Umgang mit berühmten Leuten. Christine sah ihn regelmäßig im Kaffeehaus, und sie gab ihm Gedichte, kleine Prosa, auch kurze Romane. Nur, Walter war mehr an gewissen anderen Dingen interessiert. Sie warf, was er ihr ungelesen zurückgab, weg. Da lernte sie Schnurr kennen. Als Redakteur einer Literaturzeitschrift hatte er bereits viel für sie getan, ohne daß sie einander kannten. Schnurr publizierte einiges von dem, was sie ihm schickte. Sie besuchte ihn, um ihm ihre Dankbarkeit auszudrücken, und er wischte sich immer wieder die Augen. Sie dachte, er sei traurig, aber ihn störte nur der Rauch. «Ich find, wir können uns du sagen.» «Ja.» «Jetzt muß ich leider heimgehen, meine Frau wartet. Sie bekommt in sechs Monaten ein Kind. Ich hab ja eigentlich nicht heiraten wollen, aber sie hat es sich gewünscht. Kind hätte ich auch keins gewollt, aber sie
hat es sich in den Kopf gesetzt. Sehen wir uns wieder?» «Sicher! Natürlich!» «Wann gehen wir endlich miteinander ins Bett?» fragte Schnurr, der schon seit Monaten «Worauf es im Leben ankommt» an deutsche Verlage schickte. «Ich will nicht mit dir ins Bett gehen.» «Mit jedem gehst du ins Bett, nur mit mir nicht!» «Deine Frau kriegt ein Kind!» «Na und?» «Ich will, daß wir befreundet sind! Es gibt doch nichts Schöneres als die Freundschaft unter Schriftstellern! Ich lese, was du schreibst, du liest, was ich schreibe …» «Naja, aber du parodierst mich ja immer gleich.» «Weil mir das Spotten leichtfällt. Außerdem übe ich mich in der Parodie.» «Über alles, was ich schreib, machst du dich lustig.»
2 In
Wien hat man nur eine Chance, wenn man Umgangsformen beherrscht. Man muß nach der Schrift reden, aber auch Dialekt verstehen. Der Wiener ist zumeist zweisprachig und kann von der Hochsprache in den Dialekt fallen, manchmal schon im zweiten Satz. Wenn er Dialekt spricht, ist er ein anderer, als wenn er hochdeutsch redet. Viele Wiener geben ihrer Volksverbundenheit dadurch Ausdruck, daß sie das Hochdeutsche wie den Dialekt beherrschen, also klug, gebildet und zugleich warm von Herzen sind. Oder auch gemütlich, ja urig. Wiener sind, wenn es sich nicht um echte Proleten handelt, die nur ein «Deutsch» verstehen, nämlich den überhaupt nicht deutschen Dialekt, eigentlich Ungeheuer. Als Christine Leitenmeier nach Wien kam, machten die Schauspieler, mit denen sie im Funkhaus zu tun hatte, sich lustig über Oberösterreich und darüber, daß sie den Namen ihrer Heimatstadt immer wieder vergaßen und mit einer deutschen Stadt verwechselten. Den oberösterreichischen Akzent hatte sie sich schon in der Schule abgewöhnt, weil es ihr recht gut gefiel, hochdeutsch zu reden. «Von wo kommen Sie? Aus dem Burgenland?» Das Burgenland war, wie sie erst in Wien erfuhr, eine vollkommen lächerliche Provinz. Manchmal hörte sie Witze, von denen sie dachte, es seien ostfriesische. Sie aber stellte sich das Burgenland schön vor. Störche,
Ziehbrunnen, viele Schwalben und Steppe. Wie Spanien, aber eben nicht spanische, sondern ungarische Weite. Sie fuhr einmal an den Neusiedler See, von dem sie in der Schule gelernt hatte, daß seine tiefste Stelle nur zwei Meter mißt. Schilf und Rohr stellte sie sich vor. Burgen vielleicht im ganzen Land, auf sandigem Boden, mit Fahnen und Flaggen und Rittern, die an einem Ziehbrunnen das Mädchen mit den Gänsen um Wasser bitten. Sie fuhr mit einem Burschen aus ihrer Heimatstadt auf einem Motorroller zum Neusiedler See. Er war Marxist und schwärmte von den billigen Wohnungen in der DDR. Jeder Satz begann bei ihm mit: «In der DDR …» Sie saßen in einem Holzboot, das der Bursche mit zwei hölzernen Stangen immer wieder vom Schilf wegzurudern versuchte. Sie war einmal verliebt gewesen in ihn, im Gymnasium. Damals hatte er einen zarten Hals und Ohren, frech gespitzt wie die eines kleinen Teufels. «In der DDR kann man übrigens …» Er verdarb ihr das ganze Burgenland. Früher war sie auch links gewesen, in Spanien, und sie hörte in der Nacht heimlich Kurzwellensendungen aus der DDR. Aber in Wien war ihr die Links-Intellektualität zu rüde. Man spuckte ihr nicht direkt ins Gesicht, weil sie bürgerlich war, sondern man grüßte nicht. Wenn sie das Arbeitszimmer im Bauser Verlag, ihrer zweiten beruflichen Station in Wien, betraten, taten sie, als gäbe es sie nicht, fragten aber trotzdem nach einer Weile, ob sie einen «Tschick» hätte, eine Zigarette. Wenn sie gingen, sagten sie «Seawas» und «Seawas, tschau». «Hosd a Feia aa?» Die linken progressiven Frauen von Wien machten ihr
angst mit ihren durchsichtigen Blusen, in denen große Brüste ohne Büstenhalter schwammen. In Spanien hätte man solche Frauen polizeilich angezeigt. Ihr Mann jedenfalls hätte sofort alle erschossen. Sie erschrak auch, als sie nach Österreich zurückkam und so viele nackte Frauen auf und in den Zeitschriften sah. «Ja, das haben wir seit zwei Jahren», sagte ein Schulfreund. «Hoffentlich hört das wieder auf. Das ist schon so fad.» Sie hatte sich umgewöhnt von Österreich auf Wien, von Wien auf Madrid, von Madrid auf Palma de Mallorca, wo sie zwei Jahre verbrachte, und dann mußte sie Linz lernen und nun wieder Wien. Von Österreich im allgemeinen auf Österreich im besonderen. Die Fräulein, Frauen und jungen Männer im Bauser Verlag waren aus verschiedenen Bundesländern, auch aus Wien, aber das einzige Wort, das ihr je in dieser Stadt gefallen hatte, war «Schanigarten». Sie übte manchmal das nasale Sprechen, auch das fragende Zwitschern. Hin und wieder machte sie ihren Chef auf seine gewagten Geschäftspraktiken aufmerksam, aber er lachte: «Mädchen! Das ist Geschäft! Du wirst doch nicht illoyal sein und dich nicht mit dem Verlag identifizieren?» Er riet ihr auch, mit Frau Jurka, bei der sie in Untermiete wohnte, einen Vertrag darüber abzuschließen, daß ihre Wohnung ihr gehören solle, wenn sie starb. «Ich helfe dir dabei, wenn du willst. Du kommst doch sonst nie zu einer Wohnung!» Schließlich bot er ihr an, den südamerikanischen und spanischen Sprachraum zu betreuen. «Wenn du willst, schmeiß ich den Dr. Mayr hinaus. Dir muß ich nicht so viel zahlen.» Herr Albertoni vom Jolly Verlag, dem ersten Verlag,
der sie veröffentlichte, benahm sich später viel majestätischer. Im Bauser Verlag hatte Christine begonnen, jedes Theaterstück genau zu lesen. Rechtschreibfehler besserte sie aus, machte Ruf- und Fragezeichen, wo ihr etwas gefiel oder wo sie sich nicht auskannte; um Sätze, die ihr phrasenhaft erschienen, zog sie mit Bleistift einen Kreis. So hatte sie es von dem bekannten Schriftsteller Walter Slavik gelernt, der ihr erstes Manuskript genauso behandelt hatte. «Schreiben Sie doch eine Geschichte über einen alternden Schriftsteller, der sich in ein junges Mädchen verliebt», sagte er, bevor er sie aus dem Cabriolet steigen ließ. Er gab Gas und fuhr weg. Obwohl er selbst lenkte, war er zu ihr so höflich gewesen, daß sie während der ganzen Zeit, in der sie neben ihm im Auto saß, meinte, er lenke nicht selbst, sondern habe einen Chauffeur. Er war braungebrannt, obwohl er nicht mehr jung war, und er trug einen Anzug in mildem Blau. Christine durfte nicht «Walter», sondern mußte «Slavik» zu ihm sagen. Seine Liebesromane fand sie kitschig, seine Briefe empfand sie als Bedrohung, und sie wurden ihr lästig. Er kam ihr bisweilen aufdringlich vor und unhöflich, war einmal schroff und abweisend, und sie sagte sich: Alter Trottel, du bist es ja, der etwas von mir will, nicht nur ich von dir. Sie fragte ihn, was ein Jude sei, im Gegensatz zu einem Arier, und ob es da wirklich einen Unterschied gäbe. Auf die Frage im Brief schrieb er, er wolle sich mit ihr treffen. Auf ihre Frage, warum man Juden verfolgt hat, sagte er: «Weil wir den Jesus gekreuzigt haben.»
Er war der von ihr auserkorene Meister, nicht Geliebter. Sie blickte zu ihm auf, bis er sie niederschlug und sie ihn nur noch wie eine Geprügelte anschauen konnte. Daß sie vor ihm Respekt habe, sagte sie, zuviel Respekt, und daß sie deshalb beim Reden gehemmt sei. «Die beste Art, vor einem Mann den Respekt zu verlieren, ist, mit ihm ins Bett zu gehen.» Er war nicht nur impotent, sondern auch unförmig. Er schrieb viele Briefe. «Wer zwei Frauen hat, hat keine», sagte er einmal. Er hatte Elisabeth, von der er geschieden war, und Maria, die er nicht heiratete. Christine und Walter lachten oft im Bett, nachher, aber es war kein reines Lachen. Sie wurde bei ihm alt. Sie fühlte sich älter, als man sich mit fünfundzwanzig fühlt. Vielleicht fühlt aber jede Frau sich alt ab neunzehn, zwanzig. Christines Arbeit im Verlag bestand im TelefonAbheben, Karteien-Ordnen, Menschen, die durch ihr Zimmer zum Chef gingen, freundlich zu begrüßen, dem Chefdramaturgen Dr. Mayr Briefe zu tippen, vor allem eine intensive Korrespondenz mit Ernesto Digetti, dem internationalen italienischen Regiestar. «Digetti hin! Digetti her!» rief Dr. Mayr. «Leider! Wir müssen ihm heute wieder mehrere Briefe schreiben!» Digettis Antwortbriefe trug der Chefdramaturg nach Hause, weil sie viel wert waren. Im Verlag gab es zwei Frauen, die bisher die beiden einzigen Dramaturginnen gewesen waren. «Chefdramaturg» gab es erst seit dem Eintritt Mayrs.
Dramaturgen sind Menschen, die einem Dichter helfen, Handlungen gut zu erfinden. Wenn Dichter nicht genau wissen, wie sie ihre Stücke schreiben sollen, suchen sie einen Verlag auf, bitten um ein Gespräch mit dem Dramaturgen, lesen ihm vor, erzählen ihm, was für eine Art Theaterstück und was für ein Theater und was für Schauspieler ihnen vorschweben, worauf der Dramaturg dem Dichter zuerst die Schauspieler, dann das Theater und schließlich das Stück ausredet. Dann erzählt der Dramaturg, wen er sich vorstellt, der das spielen könnte, dann schildert er das Theater, in dem es am besten stattfinden sollte, und wenn der Autor (Dichter gibt es ja heutzutage keine mehr) eingeschüchtert ist, versucht der Dramaturg ihm nahezubringen, was für ein Stück er selbst schreiben würde, insofern seine Zeit überhaupt für so etwas ausreichen würde. Der Dichter muß sein Stück im Verlag lassen, er darf nach Hause gehen. Man schickt ihm dann nach einigen Tagen sein Theaterstück «mit getrennter Post zurück, da wir leider im Rahmen unseres Verlagsprogramms derzeit für das oben genannte Werk keine Verwendung sehen». Christine kochte Tee für Dr. Mayr, war froh, acht Stunden am Tag einen Schreibtisch zwischen sich und den Menschen zu haben, und las heimlich Theaterstücke, bevor sie weggeschickt wurden, schrieb in eigener Verantwortung Briefe an die Dichter, machte ihnen Mut, und Dr. Mayr wunderte sich über die lästigen Kerle, die alle wieder auftauchten. So lernte sie Anton Leitl kennen, von dem Dr. Mayr ihr gesagt hatte, er sei sehr begabt, und er würde für Herrn Leitl bei der österreichischen Filmförderung um eine Prämie ansuchen. Ein kleiner Betrag von zwei bis
drei Millionen Schilling für die Herstellung eines Films, den das Unterrichtsministerium finanzieren und das Fernsehen senden sollte. Sie war sofort an Herrn Leitl interessiert. Er trat so auf, wie sie sich vorstellte, daß etwa Peter Handke den Bauser Verlag betreten würde. Leitl trug eine Brille, sprach aber ebenso leise und zurückhaltend wie Peter Handke, benahm sich störrisch bis sensibel und wirkte sehr auf Christine. Vor allem beeindruckte er sie dadurch, daß er sie nicht beachtete, obwohl sie die gesamte Korrespondenz zwischen ihm und Dr. Mayr getippt hatte. Sie durfte mit dem Chef und Anton Leitl in den «Kuckuck» essen gehen. Sie versuchte Leitls Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber der Chef und der Drehbuchautor redeten immer nur über das Unterrichtsministerium. Als Dr. Mayr fragte, ob sie Lust hätte, ihn zu besuchen, seine Frau sei nicht da, Anton Leitl würde kommen und ein sehr nettes Kameramann-Ehepaar, willigte sie ein. Anton Leitl stand von dem Sofa, auf dem er saß, als sie kam, nicht auf. Er hatte ein Bein normal auf dem Boden abgestellt, das andere lag abgewinkelt über seinem Oberschenkel, so daß sie die Sohle seines Schuhs bewundern konnte. Die war gelb gerippt, eine tadellose Ausstattung für den Winter. Herr Dr. Mayr stellte Christine Leitenmeier als seine Mitarbeiterin vor und erklärte, daß sie besonders nett sei. Dann kam ein Mädchen, von dem Leitl, der jetzt aufstand, sagte, sie sei seine Freundin. Das Mädchen blickte unentwegt den Kameramann an. Man unterhielt sich gerade übers Burgtheater. Der Kameramann hörte Christine zu und schaute das Mädchen an.
Als der Kameramann und seine Frau gegangen waren, ging auch das Mädchen. Leitl sagte: «Die Dorette ist nicht meine Freundin. Sie ist die Freundin vom Klaus. Der Klaus und die Dorette haben eine Zeitlang in meiner Wohnung in Hamburg gelebt. Sie haben sich durch mich kennengelernt.» Es war besser, acht Stunden am Tag hinter einem Schreibtisch zu sitzen, als allein durch Wien zu gehen. Walter Slavik bestellte Christine nur jeden Donnerstagabend zu sich hinaus. Jeden Freitag früh, wenn sie gegen halb vier in der Morgendämmerung nach Hause kam, nahm sie sich vor, ihn nicht mehr zu besuchen. Am Freitag um zwölf aber kam bereits Walters Telefonanruf. Sein Charme war unwiderstehlich. Er rief auch samstags und am Sonntag zu Mittag an, am Montag, am Dienstag, am Mittwoch, und also mußte sie Donnerstag abends bereit sein. Sie schwor sich, nicht mehr hinauszufahren. Aber wenn er starb? Er war über sechzig, und sie wollte nicht schuld an seinem Tod sein. In Spanien hatte sie den «Mann ohne Eigenschaften» zu einem großen Teil gelesen. Über hundert Seiten. Bis zum Frauenmörder Moosbrugger. Aber in den hundert Seiten stand so viel Ekelhaftes über Wien, daß sie sich nicht erst die Mühe machen mußte, die Bundeshauptstadt auf eigene Faust kennenzulernen. Die einheimischen Dramatiker und Dichter genügten ihr, wenn sie sie in den Karteien umordnete, weil die Kästen zu klein waren. Der Chef erlaubte ihr, einen dritten Karteikasten anschaffen zu lassen. So konnte sie auch die vielen ausländischen Autoren bequem unterbringen.
«Nehmt euch ein Beispiel an diesem Mädchen!» sagte der Chef. «Sie arbeitet sogar in der Mittagspause.» Sie vergrub sich in die vielen Titel und Namen, reiste im Geist zu den vielen Theatern Österreichs, Deutschlands und der Schweiz, in die der Bauser Verlag Stücke sandte, trug alles, was wegging und zurückkam, ein, und wenn ein Dichter, dessen Name oft vorkam, obwohl er eigentlich ein einheimischer war, das Zimmer betrat, spürte sie, wie auf einmal eine ganz besondere Luft aufkam. Einer dieser Dichter, er war der Star-Autor des Bauser Verlags, durfte sofort ins Chefzimmer. Er hielt sich nie lange bei Dr. Mayr auf, sondern behandelte den Chefdramaturgen eher mit Herablassung. Berühmte Autoren kamen nicht, sie erschienen. Wenn sie eine solche Erscheinung hatte, war sie glücklich. Sie wollte eines Tages auch mit einem Autor sprechen dürfen. Ihm würde sie vieles erzählen. Einem Autor, dachte sie, kann man sicher alles sagen. Man kam aber mit Autoren nur ins Gespräch, wenn man sehr hübsch war und dienstbereit oder wenn man selber schrieb. Nur der österreichische Dichter Anastasius Burghof-Czerny begrüßte Christine jedesmal, wenn er kam. Er war ziemlich alt und hatte noch gute Manieren. Wenn er in der Tür stand, die er selbst, nach zartem Klopfen, leise geöffnet hatte, fühlte sie sich beschützt. Christine wollte schon lange ein Buch veröffentlichen. Zwar wußte sie nicht, worüber, denn über ihre spanische Ehe durfte sie nicht schreiben, aber irgendein anderes Buch. Etwas, das bewirken könnte, daß man noch an sie dachte, wenn sie gestorben war. Denn eigentlich wollte
sie sich nach den Erlebnissen in Spanien und dem kühlen Empfang bei den Eltern nur noch umbringen. Das verschob sie aber von einer Woche auf die nächste, und im Theaterverlag konnte man so schön tun, als wäre nichts. Sie kleidete sich gut, benutzte Parfum und Schminke, und eines Tages betrat Anton Leitl das Zimmer, in dem sie am Schreibtisch saß. Er ging an ihr vorbei. Er mußte wirklich sehr begabt sein. Weil er sie nicht beachtete, empfand sie Hochachtung für ihn. Wenn er gute Drehbücher schrieb und so ernst zum Arbeitstisch von Dr. Mayr ging, ohne etwas anderes als sein Drehbuch und Dr. Mayr zu sehen, mußten auch seine literarischen und filmischen Anliegen ernst sein. Er schrieb fürs Fernsehen. Linksgerichtete Drehbuchautoren imponierten ihr besonders. Sie wären während ihrer Zeit in Spanien sehr gut geeignet gewesen, ihren Mann zu bekämpfen. Sie hatte noch immer Angst, von Rafael, ihrem spanischen Ehemann, erschossen zu werden. Sie kämpfte um die Annullierung der Ehe, kirchlich, damit er wieder heiraten konnte. Aber die Kirche ließ sich seit Jahren Zeit. Obwohl sie auf die Frage, ob sie ihn wieder heiraten würde, geantwortet hatte, sie würde lieber in ein Kloster gehen, und das, obwohl sie nicht an Gott glaube, erklärte man die Ehe, die sie unter einer Mordandrohung vor dem Altar geschlossen hatte, nicht für ungültig. Der Spanier schrieb lange Briefe. Sie gab sie Walters Ex-Frau Elisabeth zu lesen, die auch Spanisch konnte. «Der ist verrückt, lies keine Briefe von ihm», sagte sie. Sie hatte auch Walter davon erzählt, daß sie sich vor dem Mann fürchtete, aber Walter sagte: «Das ist doch nur ein Verrückter, wie es viele gibt. Denk nicht an ihn.»
Überhaupt dachte sie nach ihrer Heimkehr aus Mallorca, alle Österreicher seien gut. Sie erzählte jedem, der sie fragte, ob sie wirklich mit einem Torero verheiratet gewesen sei: «Nein. Aber mit einem Militaristen. Und er hat gedroht, daß er mich umbringt, wenn ich ihn wegen eines anderen verlasse. Zuerst meine Kinder vor meinen Augen, dann meinen Mann, dann mich, dann sich selbst.» Es wurde gelacht, und sie hoffte, daß es sich irgendwann bis Spanien durchsprechen würde. Damit Rafael, wenn er noch daran dachte, schneller kam. Denn außer daß er gedroht hatte, sie zu ermorden, hatte er auch befohlen: «Verrat mich nicht. Wenn du mich verrätst, werde ich mich zu rächen wissen. Eine Kugel für dich, eine für mich. Da hinein.» Er zeigte auf ihren und seinen Kopf. Christine war noch immer auf der Suche nach einer Wohnung. Eine Wohnung in Wien, was das kostet. Überall muß man «Ablöse» zahlen. Eine bis drei Millionen Schilling müßte man haben. Jedem Menschen seine Million. Und der Anton Leitl will vom Unterrichtsministerium ein paar Millionen Schilling für seinen Film. Warum vergibt der Staat die Millionen nicht für Wohnungssuchende? In einer Wohnung, die eine Million kostet, könnte Christine ein Leben lang leben und Bücher schreiben. Ein Film, der Millionen kostet, läuft eineinhalb Stunden über den Fernsehschirm, dann kommt der nächste Film, jeden Abend Filme. Sie konnte nicht anders, als Anton Leitl insgeheim fürchten und hassen. Dafür legte sie sich dann mit ihm ins Bett. Weil er so gut war. So ein guter Mensch, der da auf ihrem Sofa saß und fragte: «Könntest du dir vorstellen, mit mir zu leben?» «Ja», sagte sie, «wenn du willst? Wo?»
«In Hamburg. Dort habe ich eine Wohnung.» Sie bat ihn, bei ihr zu übernachten. Sein Körper war heiß. Endlich junger Geruch junges Schwitzen. Ganz anders als mit Walter, der hatte sich im karierten Baumwoll-Flanellhemd zu ihr ins Bett gelegt. Sie machten es spannend, schälten sich aus der vielen Unterwäsche heraus. «Du mußt dich hingeben», sagte er. «Gib dich hin. Ich möchte, daß es für dich schön ist. Wenn es schön ist, sagst du es mir.» Schön war, daß sein Körper die ganze Nacht heiß war. An so einem Mann kann man sich besser wärmen als an einem lauen Alten. Anton Leitl sagte, alle ihre Probleme seien zu lösen, wenn sie nach Hamburg käme. In Wien schmore jeder in seinem eigenen Saft, er hasse Wien, er lebe deshalb in Norddeutschland, aber er müsse leider zu Gesprächen mit dem Fernsehen immer wieder herkommen. «Du kannst bei mir wohnen, wenn die Dorette ausgezogen ist. Sie ist meine Untermieterin.» Dann schrieb er, sie könne doch nicht bei ihm einziehen, die Dorette ziehe nicht aus. «Warum hast Du mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, mit Dir zu leben?» schrieb sie. «Weil ich dadurch etwas über mich selbst erfahren wollte», antwortete er. Sie zerschnitt den Brief mit der Schere in viele kleine Stücke, steckte sie ins Kuvert, beschriftete es mit Leitls Namen und Adresse, schickte den Brief weg und fuhr mit einem Argentinier ins Gebirge. «Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn wir nur ein Doppelzimmer haben», sagte er im Reisebus.
«Ich habe keine Einzelzimmer bekommen.» Die Ski, die ihre Mutter ihr schickte, waren kaputt. Sie konnte auf ihnen nicht fahren. Also ging sie spazieren, lag in der Nacht neben dem Argentinier, der sie in Ruhe ließ. Er sah sehr gut aus, und er war nett. Sie wollte sich ihm mit ihren Schäden nicht zumuten. Und außerdem, spanisch sprechenden Menschen traute sie nicht. Wann schlägt Sympathie in Haß und Besitzerwahn um? Sie war viel zu geschädigt, als daß sie sich einem normalen, netten Mann überhaupt zumuten wollte, sondern suchte sich lieber verstörte Männer aus, bei denen es nichts machte, wenn auch sie verstört war. Christine schrieb also ein ganzes Buch, um zu beweisen, daß sie keine Kleinbürgerin war, keine Bürgerliche, keine Liberale, nichts, eigentlich nach dieser Ehe nicht einmal mehr sie selbst. Und nie gewesen, eigentlich, weil sie aus einer bürgerlichen Familie stammte. Noch dazu einer Nazi-Familie. Walter wollte, daß das Buch fertig wurde, Christine auch. Sie hatte es satt, immer übersehen zu werden. Sogar Dr. Mayr gab zu, daß es schön sein müßte, ein Autor zu sein: «Wenn ich mir so denke, ich betrete einen Saal oder ein Gasthaus, und ich muß mich nicht vorstellen, sondern alle wissen, ich bin der Mayr …»
3 Zucki
Taborski sah ein Bild, das sie gemalt, las einen Text, den sie geschrieben hatte, sagte: «Dieses Bild würde ich sofort kaufen!» und: «Sie werden sehen! Der Roman wird ein großer Erfolg! Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich Sie für die Fernseharbeit nehme. Ich habe das Gefühl, daß ich Sie mißbrauche. Sie müßten in einer Gärtnerei arbeiten oder auf einem Postamt. Das Fernsehen ist eine schrecklich harte Branche.» Dann, als sie du sagten: «Ich bin kein Kumpel. Ich glaube, daß du mich mißverstehst. Ich mag dich sehr. Und mir wäre es lieber, wir würden nicht miteinander arbeiten, sondern uns so immer wieder treffen.» Aber Christine war eigensinnig. Es mußte sein. Sie zerriß die Studienbelege von der Pädagogischen Akademie, damit es, falls es schiefging, nur ja keinen Weg zurück gab: Über den Bach bin ich gegangen auf einem Holzsteg. Jetzt reiße ich den Steg, über den ich herübergekommen bin ans andere Ufer, Künstlerland, weg. Damit ich nie mehr flüchten kann. Zuckis Frau war viel hübscher in Wirklichkeit als im Schwarzweiß-Fernsehen, und sie hatte eine silberne Stimme, ein herrliches Lachen, sie war eine schöne Frau mit wunderbaren Zähnen, idealem Busen, hoffentlich hatte sie wenigstens dicke Beine, aber nein, auch ihre Beine waren leider makellos. Zucki sagte,
daß sie kühl sei, und Christine sollte es niemandem sagen. «Sie ist lieb, und ich habe sie sehr lieb, aber sie ist kühl.» Christine merkte nichts von ihrer Kühlheit, Zuckis Frau stellte ihnen jeden Tag ein perfektes Frühstück hin, ein Mittagessen, ein Abendessen, und nebenbei beschäftigte sie sich mit ihrem Pudel und spielte die Eliza in «My Fair Lady» am Salzburger Landestheater. Sie war übermütig, witzig, aber sie bekam zuwenig gute Rollen, und die Fernsehserie, an der Christine mit Zucki schrieb, sollte für sie sein. Weibliche Hauptrolle. Zucki kam aus dem Fernsehen vergrämt nach Hause. Zuerst stieß er ein paar Flüche aus: Arschlöcher und Ober-Arschlöcher, Ober-Arschlöcher und Super-OberArschlöcher. Dann erzählte er vom Gespräch mit der Redakteurin, die vollkommen ausgetrocknet sei, «höchste Zeit, daß die einmal einen Mann kriegt! Die müßte man auf einen Tisch legen und quer durchficken!» Zucki war sehr bedacht auf seinen Ruf, und Christine durfte nie etwas weitererzählen, was er ihr anvertraute. «Du kennst die Branche nicht!» Sie fragte ihn, warum auf den Drehbüchern nicht auch ihr Name stand. «Das würde mir schaden! Du kennst die Branche nicht!» «Aber wir schreiben sie ja zusammen!!!» «Ich habe dir ein Angebot gemacht. Du hilfst mir. Momentan kann ich es mir nicht leisten, daß ein zweiter Name draufsteht! Ich muß das Haus bezahlen! Ich bekomme viel Geld, und das bekomme ich nur, weil ich es abgelehnt habe, mit einem Co-Autor zu arbeiten! Dann hätte ich nämlich fifty-fifty machen müssen! Für eine Anfängerin im Showgeschäft bezahle ich dich gut, und du hast eine Chance. Sekkier mich also jetzt nicht.»
Er war im übrigen zuversichtlich. 34 Jahre war er alt, Nummer 34 war seine Hausnummer, und die Zahl 34 kam auch in seiner Autonummer vor. «Mit einem Wort, es ist ein gutes Jahr, und ein Glück, daß ich dich mit vierunddreißig kennengelernt habe.» Seine Frau sei schon dreißig, sie fühle sich alt, sie beachte jede Falte aufmerksam, sie habe Angst, einmal gar keine Rollen mehr zu kriegen. «Ich gebe ihr eine Chance und dir eine.» Zucki war übermüdet, ihm fiel nichts ein, er sagte, er habe sie gewarnt, er werde müde sein, er sei langsam, ihm fließe nichts aus der Feder, er sitze über einem guten Text oft einen Monat. «An einem Satz, bis er witzig geworden ist, habe ich einmal zwölf Tage herumgefeilt. Die Liesl ist ins Zimmer gekommen und hat geschaut, ob ich noch lebe!» Seine Verwandten gingen ihm furchtbar auf die Nerven, gönnten ihm nichts, hatten das Badezimmer gesehen und ihn einen Hochstapler genannt. Christine fand es auch übertrieben, daß zwei Wannen da waren. Aber sie ging zu Zuckis Abteilung und roch an den Sprays. Gott sei Dank, dieser schreckliche Geruch, der sie vor ein paar Wochen gehindert hatte, mit ihm zu schlafen, kam nur aus der Dose. Dann wanderte sie zu Liesls Abteilung und beschmierte sich mit ihren Salben. Die Liesl schenkte ihr ein Mohairjäckchen zu Weihnachten, und ihre Hände berührten sich ganz leicht, wenn sie den Hund streichelten. Zucki konnte es nicht sehen, und sie würde Liesls Hände gerne weiterstreicheln. Einmal schlief Liesl auf dem Sofa, auf dem Zucki und sie normalerweise arbeiten. Sie wollte hingehen und ihr einen Kuß geben, aber vielleicht würfe
ihr Mann sie dann hinaus. (Die Liesl küsse nur ich, und wenn sie noch so kühl ist.) Liesl hatte auffallend viele Freundinnen, und Christine stöberte in den Briefen, die auf ihrem Regal im Schlafzimmer standen. Ob vielleicht ein Liebesbrief dabei war? Dann wäre ihr leichter. Sie stöberte in Zuckis Briefen. «Von einem Mann, mit dem man schläft, muß man wissen, was er mit wem korrespondiert!» «Spinnst du?» «Ich habe gestöbert, ja! Aber ich wollte wissen, ob deine Frau dich liebt! Und du sie! Und wen du noch alles liebst!» «Mach das nicht mehr! Da fühle ich mich unfrei!» Sie hingegen wäre froh, wenn er sich dafür interessierte, was sie Walter schrieb und was Walter ihr. Er erklärte ihr, er könne den Walter überhaupt nicht leiden. «Der ist einer von den Juden, die ‹Antisemit› schreien, wenn ihnen in der Straßenbahn jemand auf die Zehen steigt.» Über Walters Haus in Tirol lachte er. «Der Jid im Gebirg!» Liesl ist Halbjüdin. «Erzähl es niemandem, aber ihr Vater hat, wie er im Sterben gelegen ist, Gott um Verzeihung dafür gebeten, daß er keine Jüdin geheiratet hat. Seither ist die Liesl verstört. Sie hat ihre Eltern immer gehaßt, aber wie der Vater krank geworden ist, hat sie ihn entsetzlich geliebt, und sie ist an ihm sehr gehangen. Die Schwester von der Liesl, die Gretl, hat sich ‹Sarah› nennen lassen und ist nach Israel gezogen, hat einen deutschen Juden geheiratet und von ihm neun Kinder bekommen!»
Ein Leben in Wahrheit war alles, was ihr einfiel nach der Trennung von Zucki. Ich bin kein Kumpel, hatte er gesagt. Walters Briefe kamen noch immer. Christine war es peinlich, mit einem so alten Herrn wie Walter Slavik ein Verhältnis zu haben. Sie trug deshalb meistens flache Schuhe und ein dezentes Kostüm. Gern hätte sie den Walter geheiratet, um in die Literaturgeschichte einzugehen, aber Walter sagte: «Wer schreiben will, muß allein sein.» «Ich kann aber nicht schreiben, weil ich allein bin!» «Irrtum! Du kannst nicht schreiben, weil du immer daran denkst, wie allein du bist. Und du müßtest dir sagen, daß Alleinseindürfen das einzige Glück ist, das es auf Erden wirklich gibt. Alleinsein hat nichts mit Einsamsein zu tun.» «Wenn ich aber, damit ich das Alleinsein aushalte, immer mehr trinke!» «Warum berauschst du dich mit Bier? Berausch dich doch mit Gedanken an mich!»
4 Christine war ihres Lebens überdrüssig. Im Frühling hatte sie bei Herrn Albertoni einen Vertrag auf ihr Buchmanuskript «Worauf es im Leben ankommt» unterschrieben, Ende Mai mietete sie eine Wohnung im siebten Bezirk. Sie lag in der Lerchenfelderstraße, direkt über einer Buchhandlung. Eine gute Adresse. Ihr Großonkel, der Oberst aus dem Zweiten Weltkrieg, hatte in dieser Straße mit seiner Frau und seiner Tochter, einer Cousine von Christines Vater, gewohnt. Auch zwei jüngere Menschen gab es dort, die Kinder ihrer Tante: Ferdinand, ein blonder Cousin von Christine, zweiten Grades; Sybille, Ferdinands jüngere Schwester, «Billie» genannt, ein sehr liebes, aufrichtiges Mädchen. Über Billie wurde oft gelacht, weil sie Dinge sagte, die man nicht sagt. Sie fragte auch Dinge, nach denen man nicht fragt. Leider war Billie für eine Freundschaft mit Christine viel zu jung gewesen. Der Großonkel, der ihrem Opapa sehr ähnlich sah, war seit Jahren tot. Er war an einer Augenoperation gestorben nach gut überstandenem Eingriff. Eine Krankenschwester hatte ihm nach der Operation eine Tablette zum Einschlafen gegeben, und der Großonkel hatte ein schwaches Herz gehabt. Christine nahm die Wohnung in der Lerchenfelderstraße, ohne sie anzuschauen. Man ließ sie nämlich nicht hinein, die
Wohnung sei vergeben. Sie sagte: «Ich zahle Ihnen zehntausend Schilling mehr.» Der Mann notierte ihre Telefonnummer und rief am nächsten Tag an. Ob es bei dem Angebot bleibe. Sie bejahte. Dann fuhr sie in den Bezirk, die Wohnung besichtigen. Alles war dunkel. Aber nun hatte sie schon einmal ein Angebot gemacht, und sie hatte auch keine Lust, aus den Räumen wieder wegzugehen, die so nah beim Haus waren, in dem ihre Verwandten wohnten. Eine Straße mit gutem Namen: Lerchenfelderstraße. Jahrelang war dieser Name für sie ein Synonym für Wien gewesen. Seit ihrem ersten Brief an die Witwe des Onkels Franz, der ein Baron gewesen war. Nein, Freiherr, hieß es daheim, also, wenn du ihr schreibst, vergiß nicht den Titel. «An Freifrau Irmingard von …», schrieb sie, und sie schickte der Cousine ihres Vaters fünfzig Schilling zurück, die sie ihr am Westbahnhof geliehen hatte. «Rauchst du?» hatte Irmingard Christine gefragt, obwohl sie damals erst fünfzehn war. Kein Mensch hatte sie bis jetzt «Rauchst du?» gefragt. Niemand außer Christines Freundinnen war auf die Idee gekommen, ihr eine Zigarette anzubieten. Die Geste der Tante nahm Christine für alle Zeit für diese Tante ein. Die Tante war keine Schönheit, aber charmant, und sie hatte ein Gesicht, das Christine ihrer Mutter immer wieder zu beschreiben versuchte, bis Mutti hilfreich mit dem Wort «apart» kam. Etwas, was Christine an ihrer Mutter imponierte, war auch, daß sie – außer daß sie Romane schrieb, die sie aber immer wieder zerfetzte – passende Worte fand. Nun würde sie also in der Lerchenfelderstraße wohnen.
Man konnte nur ein anständiges Leben führen, wenn man in einem Haus mit Marmortreppenaufgang im ersten Stock eine parkettbodenausgelegte Wohnung bezog, steif, streng, herrschaftlich hoch die beiden Zimmer, hoch auch das Kabinett, die Küche und das Vorzimmer. «Mit Telefonanschluß». Ein eigenes Telefon hatte sie noch nie gehabt. Sie freute sich darauf mit einer Bangigkeit, als hinge ihr Leben davon ab, ob sie ein Telefon installiert bekam. Wenn sie es nicht bekam, konnte sie nicht einziehen. Sie würde in der Wohnung wie eingesperrt sein, zum Tode verurteilt. Komisch, daß eine Taxifahrerin das gleich gemerkt hatte, als sie einmal mit einer ins Plaudern kam, auf einer nächtlichen Fahrt zu Taborski. Die Fahrerin sagte: «Sie sind nicht gern allein und fürchten wahrscheinlich die Wochenenden und können nicht allein in einem Zimmer sein.» Eigentlich, seit sie ihren Selbstmord zum ersten Mal geplant und nicht bis zum Ende ausgeführt hatte, fürchtete Christine sich vor sich selbst. Was alles in einem steckte, und die Leute sahen es nicht. In Frau Jurkas Bett lag sie während der Abwesenheit der alten Frau, und sie hatte einen Traum, in dem sie glücklich war, von dem sie aber traurig aufwachte. Sie träumte, daß sie die Korblampenschirme, die sie bereits besaß, zwei kleine und einen großen, in einer Wohnung mit sehr niedrigem Plafond aufhängte. Die Wohnung war dunkel, gehörte aber ihr. Ein Glücksgefühl, ein strahlendes, im Traum, und als sie aufwachte, lag sie in Frau Jurkas Bett mit einer Hoffnung. Sie würde, ja, eine Wohnung nehmen. Und wenn es nur geschah, um sich
umzubringen. In einer fremden Wohnung konnte man lange liegen, man wurde nicht so leicht gefunden. Weiter dachte sie nicht. Auf keinen Fall durfte sie es bei Frau Jurka tun, die würde erschrecken und alles vermasseln durch Notruf und Rettung. Als sie dann in die Lerchenfelderstraße einzog, konnte sie nicht gleich dort übernachten, weil ein Schlafsack auf dem Boden war, gefüllt mit einem Mann, der trampte. Die frühere Mieterin hatte diesem jungen Mann einmal versprochen, er könnte bei ihr übernachten, wenn er nach Wien käme. Der junge Mann war Australier und auf Reisen durch Europa. Dann wollte er nach Israel gehen. Seine Mutter und seine Schwester waren schon dort. Er hieß David mit Vor-, Winter mit Nachnamen und küßte gut. Seine Eltern waren deutsche Juden, der Großvater war vor dem Ersten Weltkrieg nach Australien gegangen. Jetzt wollte die Familie israelisch werden. Dave erzählte nichts von der Vermieterin, die ihn eingeladen hatte. Christine ließ David in der Lerchenfelderstraße übernachten, brachte nach und nach ihre Sachen vom ersten Bezirk herauf, und dann übernachteten sie gemeinsam. Eigentlich wollte sie nicht viel ändern. Ihr gefiel die Wohnung, wie sie war. Sie suchte ja nur eine Bleibe. Ein vorübergehendes Dach überm Kopf. Dann begann sie zu investieren. Es war wie ein Fluch, daß sie immer mehr Geld in diese Wohnung hineinsteckte und immer unbeweglicher wurde. Dazu kam, daß die Wohnung um nichts besser und um nichts schöner wurde. Jeder Besucher fand etwas auszusetzen, keinem Freund konnte sie es recht machen. Wahrscheinlich hätte sie die Roßhaarmatratzen und das
altmodische Waschbecken niemals weggeben sollen. Aber sie lief damit den früheren Mietern sogar nach, und abends hatte sie Angst, auf die Straße zu gehen. Wenn ich nur Schlüssel und Geldbörse nehme, dachte sie, sieht jeder, daß ich allein lebe, und dann kommt man zu mir einbrechen. Sie fürchtete auch, das Haus könnte abgerissen werden oder einstürzen, dann würde sie ihre 120.000 Schilling Ablöse nicht zurückerhalten. Sie war eine Meisterin in voreiligem Handeln und machte einen Pfusch nach dem andern. Die Kästen aus dem Vorzimmer ließ sie wegtragen, und sie bezahlte dafür. «Entrümpelung». Die Bürokästen aus dem hinteren Zimmer, das im Sommer so schön ruhig und kühl war, bei geöffneten Fenstern, verschenkte sie. Sie entfernte so nach und nach alles, was an die früheren Mieter erinnerte, die ihr unsympathisch waren, weil sie sich von ihr hatten bestechen lassen. Sie kaufte Möbel. Vorhänge müsse sie haben, behauptete die Mutter, und Teppiche. Ohne Vorhänge und ohne Teppiche könne man nicht leben. Und Blumen! Blumen! «Aber du hast ja, wie du sagst, für Blumen keine Hand.» «Nein, Mutti, ich mag Blumen nicht, die man in einem Geschäft kauft. Ich mag sie auf der Wiese, wo man sie selber pflückt oder stehenläßt, je nachdem.» «Also, ich weiß noch, wie du den Rosen, die du einmal von jemandem bekommen hast, die Köpfe abgerissen und sie durchs Zimmer geworfen hast! Die Rosen können nichts dafür, hast du damals gesagt.» «Ja, ich weiß es noch. Ich wollte dir nur zeigen, wie verzweifelt ich war.»
«Trotzdem! Es war furchtbar! Damals habe ich mich vor dir gefürchtet!» sagte die Mutter. Und sie schaute Christine an mit einem Blick, als wüßte sie, die Mutter, daß Blumen einen Menschen, der ihnen etwas zuleide getan hat, mit ihrem Haß verfolgen. «In Hartford, Harryford and Hampshire …», sagte Dave, als sie händehaltend in der Straßenbahn standen, die zum Tiergarten Lainz hinausfuhr. «Hurrycanes hardly happen!» sang Christine. «Oh! Ich habe noch nie ein Mädchen getroffen, das weiß, was das ist! Ich habe diesen Test immer gemacht! Wenn mir ein Mädchen gefallen hat, habe ich ‹In Hartford, Harryford and Hampshire› gesagt. Und die Mädchen haben mich nur dumm angeschaut. Du bist die erste, wirklich! Ach, ich bin ja so froh!» Sie sangen «The rain in Spain», und er fragte sie, ob sie «Mary Poppins» kenne. Leider nein. Das sei auch sehr hübsch. Am Abend saßen sie in einem Theater, wo man Christines erstes Theaterstück aufführte. «Und das hast wirklich du geschrieben?» «Ja.» «Und die Leute lachen!» «Ja.» «Eine Frau, die etwas Komisches schreibt!» «Ja!» Sie flüsterte ihm englisch ins Ohr, was auf der Bühne geredet wurde, und er nickte. Dann nahm sie ihn mit in ihr Untermietzimmer, bot ihm das Bett der Frau Jurka an, das ohnehin frisch überzogen war, weil Frau Jurka in der Wohnung gründlich saubermachte, bevor sie nach Kärnten fuhr. Dave legte sich brav ins Bett, nachdem er
in Frau Jurkas Bad die Zähne geputzt und sich gewaschen hatte. «Ich möchte dir etwas sagen.» «Was denn?» «Es ist ernst. Ich möchte, daß du dich setzt, wenn ich es sage.» Sie setzte sich. Hoffentlich kam jetzt nichts Furchtbares. «Wenn du eine Jüdin wärst, würde ich dir den Hof machen.» «Was heißt das?» «Ich würde dich, wenn du eine Jüdin wärst, bitten, meine Frau zu werden.» Sie brachte ihn zu Bett, gab ihm einen Kuß auf die Stirn und legte sich in ihrem Zimmer nieder. Dann dachte sie: Zu blöd, diese Heuchelei. Ich kann nicht schlafen, weil ein sehniger junger Mann drüben im anderen Zimmer liegt. Ich gehe einfach hinüber und überrasche ihn. Er fuhr erschreckt in die Höhe. Sie hatte ihn wecken müssen. «Es ist nichts, es ist nichts», sagte sie und führte ihn, der noch im Halbschlaf war, ins andere Zimmer. Sie legte ihn in ihr Bett, und dann liebten sie sich. Es war etwas ganz Natürliches, sie taten es gleich noch einmal, er entschuldigte sich, daß es beim ersten Mal so schnell gegangen war, er sagte, sie müßten ein paar Minuten warten, dann ginge es wieder. Sie kam sich wie eine Spenderin vor. Eine Schenkende, eine Gebende. Ältere Frau, siebenundzwanzig, führt jüngeren Burschen, fünfundzwanzig, in die Geheimnisse der Liebe ein. Schade, daß er nicht fünfzehn war und sie so
stämmig und mächtig wie die Krankenschwester in Alberto Moravias «Ungehorsam». Dann wurde ihr fad. Sie konnte keine Lust empfinden, immer nur denken: Ich habe einem jungen Mann eine Freude gemacht. Sie war ja gar nicht die hingebreitet Liebende, die sie spielte. Sie war nicht das lüsterne Weib. Auch nicht das erlösende. Am nächsten Tag las er ihr ein Theaterstück vor. «Es ist über Jesus. Aber so, als wäre Jesus ein Markenprodukt. Eine Art Waschmittel, mit dem man viel Werbung macht. Etwas, was alle kaufen. Was jeder haben will, wenn man es anpreist.» Blasphemie. Sie sprach es nicht aus, ärgerte sich aber so sehr über ihn wie über Walter, wenn der behauptete, daß Jesus ein begabter Hysteriker war. Dann wieder spottete Walter: «Hysterischer Rabbi.» «Du erinnerst mich an Ellen», sagte Dave. «Wer ist Ellen?» «Sie war meine Freundin.» «Nimmst du sie nicht mit nach Israel?» «Sie will nicht. Sie ist Lehrerin. Ellen hat auch eine Zeitlang Valium genommen. Wenn sie keinen Orgasmus gehabt hat, hat sie sich lange an meinen Oberschenkel gepreßt.» Ellen war verheiratet gewesen, hatte sich scheiden lassen, und nach der Scheidung brauche sie Sedativa. Christine kam sich sehr austauschbar vor. Dann entschloß sie sich, Dave von Walter zu erzählen. «Er ist Jude. Fast siebzig Jahre alt. Er hat zwei Frauen. Von der einen ist er geschieden, die zweite hat er nie geheiratet. Und dazu mich. Aber mich versteckt er.»
Es war in Grinzing, sie aßen Schnitzel, obwohl Dave kein Schweinefleisch aß. Aber auf Reisen machte er Ausnahmen. «Warum ißt du kein Schweinefleisch, normalerweise?» «Weil es verboten ist.» «Wer hat es verboten?» «Moses.» Sie saßen in Grinzing, und er erzählte von Moses. «Du glaubst an Moses?» «Of course.» «An Gott auch?» «Yes, of course. Why not?» «Weil es keinen gibt!» «Das sagst du.» Er aß sein Schnitzel, nahm die Pommes frites, trank ein Glas Bier, denn weil es beim Heurigen kein Bier gab, hatte Christine ihn in einen «Wienerwald» geschleppt. Mit vollem Mund aß, trank und redete er darüber, daß es Gott natürlich gab, sonst hätte Moses ja nicht die Zehn Gebote, und wer an Gott glaube, der müsse sich an die Zehn Gebote – und wer nicht an Gott glaube, sich aber an die Zehn Gebote – «Sag, glaubst du das alles wirklich?» «Of course I believe it! Why shouldn’t I?» «Weil das Blödsinn ist.» «Nicht für mich. Ich bin Jude.» Griechenland, das war etwas Verbotenes, wenn man Mutti und Papa vorher nicht um Erlaubnis fragte, sie nicht einmal verständigte. Und nur eine Woche. Man fliegt doch nicht für eine Woche nach Griechenland. Das ist Geldverschwendung. Aber es war jetzt ihr Geld.
Und wenn Dave jede Nacht aus Rom anrief: «We can meet in Athens, if you like. I’ll take the flight from Rome to Athens. You take a flight from Vienna to Rome. I’ll help you with the money.» Die Hälfte könne er zahlen. Er würde auf einen Flug nach Paris verzichten. Oder nach Konstantinopel. Sie war sofort bereit, wegen des Verbots. Noch dazu: mit einem Juden in Athen verabredet. Etwas Abartigeres gab es nicht. Aber die Fluglinien machten es möglich. Sie packte, dann flog sie. In der Nacht. Weiße Flecken tauchten links unterm Fenster auf, in einem immer länger werdenden Streifen. Vorher waren sie über Budapest geschwebt. Der Kapitän erwähnte es. Jetzt ging es über Dörfer an der jugoslawischen Küste. Sie wußte nicht, als sie um vier Uhr früh landeten, wo dieser Ort war, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Es war kalt. Sie kam sich ausgesetzt vor. Dann hörte sie: Zwischenlandung – Heraklion – Kreta. Die Sonne stieg als roter Feuerball aus dem Wasser. Entstehung der Welt: und so wurde es hell. Griechische Inseln trieben, als wären sie Schildkröten, im Meer. Auf dem Flughafen in Athen verstand sie nichts, konnte keine Schrift lesen und schämte sich, Englisch zu reden. Sie wollte hier überhaupt nichts reden. Nur schauen. Sie setzte sich an einen Stacheldrahtzaun, und nach einer Stunde spürte sie, wie die Ägäis-Sonne ihr einen Sonnenbrand durch die Bluse hindurch verpaßt hatte. Jetzt fühlte sie sich von Griechenland angenommen. Wenn schon die Sonne so liebenswürdig war und sie anstrahlte wie einen gewöhnlichen Menschen? Vielleicht war sie wirklich ein gewöhnlicher Mensch und durfte leben? Nur, wie oft hatte sie diese Gewißheit?
Sie suchte Dave. Er kam nicht, aber lauter andere kamen. Dann fiel ihr ein, daß sie auf dem falschen Flugplatz war. Es gab einen für Inlandverkehr und einen für anfliegende Flugzeuge aus dem Ausland. Sie war von Kreta gekommen, in Kreta zwischengelandet, also mußte sie auf den Flughafen für die ankommenden Flüge aus Rom. Sie nahm ein Taxi, aber Dave war nicht dort. Sie fuhr mit dem Taxi in der Stadt herum. Athen war stickig, laut und verstaubt. Sie ging aufs Amerikanische Konsulat. Wahrscheinlich würde er dort eine Nachricht für sie hinterlassen haben. Aber dort hatte er sich nicht gemeldet. Wie konnte sie ihn finden? Sie fragte in einigen Jugendherbergen. Dann fuhr sie zurück auf den Flughafen für Inlandflüge. Dave war nicht da. Jemand sagte ihr, ein junger Mann habe ein Mädchen gesucht. Er sei jetzt auf den Flughafen für ausländische Ankünfte gefahren. Da kam er ihr wirklich entgegen. Es war, als ob er Stelzen benutzte. Sein Rucksack, das Gestell, der Stock. Sie fielen einander um den Hals, sie spürte den weichen Vollbart, seine gute Zunge, im Autobus küßten sie einander alle Augenblicke wieder. Es war wie in einem gelungenen Film. Dann Wirklichkeit. Sie hielten einander an den Händen. Jetzt mußten sie in ein billiges Hotel. Dave kontrollierte die Preise. Er war sehr sparsam. Geldbewußt. Es ging ihr auf die Nerven, als sie miteinander im Zimmer lagen. Sie schliefen miteinander, aber seine Sparsamkeit lenkte sie von jeder Freude ab. Warum hatten seine Eltern ihn so blöd erzogen. Geld vergißt man doch, wenn man erwachsen ist und endlich eines hat. «Meine Mutter sagt …»
«Ja, ich weiß schon, was deine Mutter sagt!» «Aber meine Mutter weiß es!» «Meine auch! Und trotzdem sage ich nicht, was meine Mutter sagt!» «Wenn meine Mutter es sagt, muß es schließlich wahr sein.» «Deiner Mutter ist es sicher nicht recht, daß du mit mir schläfst.» «Sie hat auch gegen Ellen nichts gehabt. Ellen war auch keine Jüdin.» Sie fuhren mit einem kleinen Schiff voller Ausflügler zu einem Strand, auf dem der Sand weich und fast weiß war. Das Meer lag vor ihnen, tiefblau und sehr ruhig. Dave ging immer wieder schwimmen. Sie schaute zu. Ihr war es noch nicht ganz selbstverständlich, in Griechenland zu sein. Noch dazu jetzt ein Land ohne Götter und Kulturen. Die Akropolis hatten sie besichtigt, und ihr wäre es lieber gewesen, nichts aus der Geschichte zu wissen, einfach nur den Bau zu sehen und die leichte, anhaltende Brise des Windes zu spüren, der ein Stehen und Gehen dort oben in der Mittagshitze erträglich, sogar zu einem Lustspaziergang machte. Sie brauchte keine Gedanken an Vergangenes, von dem man ohnehin nie mit Sicherheit wußte, ob alles wirklich so gewesen war, wie man es lehrte. Außer den Herrschenden und den Philosophen, die allein interessant für die Schule schienen, hatte es Tausende und Abertausende Individuen gegeben, und über die erfuhr man immer wieder nur, daß sie in Schlachten gefallen waren oder versklavt, verkauft, ausgetauscht, geopfert und hingeschlachtet worden waren.
Wen wundert es, daß junge Österreicher sich wehren, wenn sie die jüngste Vergangenheit aufarbeiten sollen? Sie waren doch zu Nazizeiten ebensowenig dabeigewesen wie zu Perikles’ erster Demokratie. Und Opfern und Hinschlachten, das war doch der Lauf der Welt. Warum hätte Hitler keinen Krieg beginnen sollen, wenn die Geschichte nichts als Kriege lehrte? Und Friedensverträge von Krieg zu Krieg. Auf der Insel lag sie, nur sie, sie allein. Und Dave. Und noch ein paar Menschen. Die Luft gehörte jetzt ihr, der Himmel, alles war für sie wie für die anderen da. Man brauchte um nichts zu streiten. Manche konnten besser schwimmen, manche schlechter. Dave trocknete sich ab. «Es wird ein Regen kommen. Die Leute wollen mit dem Boot früher zurück. Wahrscheinlich wird es stürmen.» Sie saßen frierend auf der Bank im Schiff. Aus dem Lautsprecher tönte plötzlich Schlagermusik, ziemlich forsch, laut und fröhlich. «Achtung!» sagte Christine auf englisch. «Alle bitte lustig werden!» «Wir sind nicht in Deutschland», antwortete Dave. Er hatte sie mißverstanden, sie wollte es ihm nicht sagen, es kam ihr jetzt jedes Wort überflüssig vor, und ein Streit wäre schädlich gewesen. Sie mochte Dave nicht mehr, und es stimmte also doch nicht, das mit der Wellenlänge. Sie entschädigte sich durch Kaufen. Keramikteller, griechische Handarbeiten. Ihr kam vor, sie habe das Geheimnis der Reisenden als Käufer entdeckt. Was du nicht heimnehmen kannst als ungetrübte Erinnerung, ersetzt du dir durch einen hübschen Gegenstand. Und
weil du nicht glauben kannst, wirklich dort gewesen zu sein – Flugzeuge sind ja so schnell –, bringst du deinen Bekannten Präsente mit. Damit sie sehen. Und außerdem schickt es sich, von Reisen all denen, die man nicht mitnahm, etwas zu bringen. Vor allem aber deutete so etwas, wenn Christine es tat, auf Normalität hin. Ich war in Griechenland, ja, und nicht einfach so, nein, ich habe euch etwas mitgebracht! Fellteppich, Glasuntersetzer, Kettchen, Ringe. Ich bin ja nicht nur für mich allein, Gott behüte, einmal irgendwohin gefahren. Griechenland war so angenehm weit weg von Spanien. Daß Onassis eine ganze Insel oder sogar mehrere besaß, störte sie nicht im geringsten. Es störte sie überhaupt nicht, daß andere reich waren. In Griechenland mußte sie nicht Show machen. Sie konnte ein armseliges Zimmer bewohnen und das schön finden: Tisch, Stuhl und Bett. Man aß, man ging aufs Klo, man schlief, man aß, man schaute, atmete, man lebte. Keiner fragt nach deinem Namen, deinen Eltern, deinem Beruf. Du bist die, die da steht, und so, wie du auf diese Menschen hier wirkst, so bist du für sie. Auf jeden wirkst du anders. Es macht dir nichts, denn es gehen dich ja auch diese Leute nicht viel an, solange du ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchst, und du gehst sie nichts an, weil du ihnen nichts zerstörst. Der alte Mann pflückte eine Blüte von einem Strauß, als Dave und Christine sich am Morgen aus seinem Haus verabschiedeten. Er zeigte sie Christine und steckte sie ihr ins Haar. «Das ist Lotus.» So schön war sie an keinem Ort der Welt von einem Menschen, von keinem Menschen bisher überhaupt verabschiedet worden. Am liebsten wäre sie
zurückgegangen und hätte das alte Ehepaar gefragt, ob sie bleiben und bei ihnen arbeiten dürfe. Spinat in Blätterteig gebacken, ölig, triefend, weich, geschmackvoll, wurde in jeder Straße in kleinen Geschäften verkauft. Man mußte sich anstellen, dann kam man dran so wie die vielen anderen Touristen, die meistens Spinat mit Blätterteig bestellten. Und dann noch die Nacht in der Pension, die Dave nahm, für die letzte Nacht. Vorher waren sie von Insel zu Insel gefahren mit Schiffen, die so simpel funktionierten wie Autobusse. Spetsey, Poros und Hydra. Dave sprach alles englisch aus, Christine stapfte hinter ihm, den griechischen Teppich tragend, der eingerollt war, den anderen griechischen Teppich tragend, der zu einem Paket gepackt war. Er schleppte, sie schleppte, er ärgerte sich über sie, daß sie so viel kaufte und vor allem diese schweren Sachen. Aber sie wollte Beweise aus Griechenland mit nach Wien nehmen, wenn sie schon Dave mit seiner Israel-Bestimmtheit und -Besessenheit nicht nach Österreich locken konnte. Sie hätte sich mit ihm gut verstanden, er war locker, ehrlich und gescheit. Er wirkte souverän. So als gäbe ihm das Zweiter-KlasseTicket, das er für Bahnfahrten in ganz Europa hatte, Macht über den Erdteil. Keine Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, was wäre, wenn sie ihn nach Israel begleitete. «Gehen wir ins Innere der Insel. Mieten wir eine Hütte. Oder ein kleines Haus», sagte sie. «Bleiben wir da.» «Ja, und nach einem Monat würdest du mir davonlaufen.» Irgendwie kamen ihr alle jungen Männer bekannt vor. Jeder schien sie sofort zu durchschauen,
jeder schien zu merken, daß mit ihr nichts zu machen und gar nichts zu planen war. Sie wußte nicht, wo sie ihren Dachschaden abgekriegt hatte und ob das überhaupt ein Schaden war, daß sie sich nicht fest binden, den Mann, den sie liebte, aber auch nicht verlieren wollte. Wahrscheinlich liebte sie Dave, und möglicherweise liebte auch er sie. Nur, er sagte es nie. Israel stand vor ihm als Möglichkeit, sein Leben vollkommen zu verändern. Und ihre Reize waren nicht stark genug, um ihn dieses Israel, das es in seinem Kopf gab, vergessen zu lassen. Mit dem Herzen konnte er doch nicht in ein Land wollen, in dem er noch nie gewesen war. Und wenn Juden an das Gelobte Land glaubten, so mußte das doch etwas Chimärenhaftes sein, eine Illusion mit rauhem Hintergrund. Sie wußte, er würde Heimweh nach Australien bekommen. Er war ja in Sydney geboren und dort aufgewachsen. Dave lebte als Jude schon in zweiter Generation auf einem Kontinent, der wahrscheinlich in nichts dem Palästinenserland und Israeli-Staat glich. Israel, das war aber auch für Christine eine Illusion. Seit sie von der Judenverfolgung wußte, wußte sie zugleich auch von der Existenz des Staates Israel. Und eine Judenverfolgung würde es also nicht mehr geben. Der Staat Israel setzte, so empfand sie es zumindest im Geschichtsunterricht, aller Verfolgung und aller Ungerechtigkeit ein Ende. Überhaupt war vieles, was im Krieg geschah, etwas, was sich niemals wiederholen würde. Dazu lernte man es ja in dem Fach Geschichte. Dort sammelten Historiker die Reliquien des Menschseins. Auschwitz, Mauthausen, Treblinka, Dachau, das gehörte der Vergangenheit an. Der Staat
Israel stand als leuchtender Punkt am Ende der vielen Sätze, die man über Judenverfolgung zu hören bekam. Und daß von dort Bananen kamen und Orangen, bewies eine allgemeine Versöhnung. «Schon nach drei Tagen würde dir langweilig werden! Und du würdest das Weite suchen!» «Aber warum?» «Weil ich das weiß.» Eine Frau muß Kinder gebären, ja. Na und? Was war dabei? Wenn man einen Mann hatte, der nett war, der Geld besaß, einem ein Heim richtete, niemals stereotyp redete, keine schiefen Sachen und keinen Blödsinn machte? Wenn Dave sie genommen hätte, sie hätte sich geehrt gefühlt. Er hätte wunderbar bewiesen, daß Vergangenes vergangen war. Aber er verlangte, daß sie Jüdin werden müßte. Und sie hatte doch Gott so satt. Was stellte er sich vor? Daß sie kleinen braunhäutigen und schwarzäugigen Kindern die Käppchen aufsetzte und sie mit Büchern in den Händen in den Religionsunterricht trieb? Dann würden die Kinder mit einem Gott nach Hause kommen, den sie nicht kannte, und sie würde schweigen müssen, um den Kindern nicht die Freude an ihrem Glauben zu verderben. Dann würde es eine Barriere geben zwischen ihr und den Kleinen, die sich erst wieder auflöste, wenn die Buben – sie stellte sich Söhne vor, denn ein Jude konnte nur Söhne haben! – erwachsen waren und zweifelten, und dann mußte sie als Mutter sagen: Ja, ich habe diese Sachen doch auch nie geglaubt, euch einfach so machen lassen, weil euer Vater es wollte. – Und Dave würde dann auf den Tisch hauen: Es gibt einen Gott! Und auch wenn es ihn nicht gibt, man muß an ihn glauben! Es spielt doch
keine Rolle, ob es ihn gibt oder nicht, solange man glaubt und als gläubiger Mensch handelt! Das Angenehme in Griechenland war, nicht die Sprache zu verstehen, nicht die Schriften lesen zu können auf den Tafeln, Plakaten, Schildern und Zeitungen. Erholung vom Schreiben, vom Denken, vom genauen Hinschauen, vom Buchstabieren. Wie gut wäre eine Welt ohne geschriebene Worte. Man konnte sich hier als Analphabetin fühlen und war für nichts zuständig. Eine ungeheure Freiheit, die an einem Abend bei Christine einen Sturm auslöste. Sie gingen, die Sonne war schon gesunken, ein Meeresufer entlang, und die Luft roch süß, das letzte Licht zwischen Wasser und Land war ein rosiger Schein. Süßer Nebel, in den man treten, in dem man noch alles erkennen konnte, und auf einmal wurde ihr klar, daß nur das das Paradies gewesen sein konnte. Ein Mann und eine Frau, sie sind frei, sie begleiten einander, fahren von Insel zu Insel, haben keine andere Sorge als die, daß sie etwas zu essen bekommen müssen. Geld ist da, dann ein Bett zum Schlafen, und genug schlichte Häuser sind da, in denen man schlichte Zimmer bekommt. Wandern. Dabei unterm Himmel, in der Luft, am Wasser gehen. Eine schönere Welt hätte Gott, wenn es ihn gäbe, nicht erschaffen können. Wenn auch das Mittagessen lau war, die Speisen fast kalt serviert wurden und viele Touristen in die Küche gingen, um ihre vollen Teller zurückzutragen und auf den Ofen zu zeigen. Dave aß Fleisch am Spieß, darunter war auch Schweinefleisch, aber für Griechenland machte er eine Ausnahme. Sie kam sich vor, als wäre sie seine Frau,
denn man hielt sie, so selbstverständlich wie sie miteinander umgingen, für ein Ehepaar. Auch Sartre und Simone de Beauvoir waren viel gereist, und für Christine waren diese beiden Menschen Idole. Freie Sexualität, keine Lügen. Versprechen, beieinander zu bleiben, auf jeweils zwei Jahre. Später konnte man diesen Pakt erneuern, und soviel sie wußte, war dieser Pakt stets erneuert worden. Auch wenn andere Menschen auftraten und manchmal dazwischen. Beauvoir und Sartre retteten ihre mustergültige Ehe durch Jahrzehnte hindurch. Einen so gescheiten Mann haben wie Sartre, der mit seiner Philosophie die Welt verändert! Den Lehrer, den Meister heiraten, den Mann an sich! Und Simone de Beauvoir, so mutig, so ehrlich. Wie viele Bücher schrieb sie? Man hätte auch bei ihr gern in die Lehre gehen und ihr die Bleistifte spitzen und Tee und Kaffee bringen mögen. Überhaupt, als Dienstmädchen bei diesen beiden Menschen angestellt! Christine hätte gern irgendwo gedient, wo es hell war. Die letzte Unterkunft nahmen sie in Athen. Sie hatten noch Streit wegen des Gepäcks. Es war Sonntag, und man konnte nicht in die Aufbewahrungshalle hinein. Dave wollte am Montag nach Tel Aviv fliegen, und er schlug ihr vor, den Rückflug nach Wien hinauszuschieben. Sie hatte aber Angst vor den leeren Stunden in einem Athen ohne ihn. Wahrscheinlich liebte sie ihn doch, konnte ihn aber aus Angst vor Israel und «was würden die Leut sagen» nicht begleiten. Es machte ihr nichts aus, wenn Leute über sie redeten: Die hat sich mit einem Juden zusammengetan, die spinnt. Aber die Leute brauchten ja nicht einmal zu reden. Das, was die Leute sagen würden, war in ihr. Es sprang aus ihr heraus,
in Form von Gedanken. Oder so, als wären es Gedanken. Und in Wirklichkeit hatte sie nur die hundertfach und vielleicht sogar tausendfach gebildeten Sätze der Menschen, unter denen sie aufgewachsen war, als scheinbar ihre eigenen Gedanken im Kopf. Sie war deshalb zuerst verletzt und enttäuscht, dann aber froh, als Dave, nachdem sie ein letztes Mal miteinander geschlafen hatten, ihr sagte, er sei zu müde, sie zum Flughafen zu begleiten. Sie solle allein fahren. Wie der Walter, sagte sie sich, und es war ein Trost. Also konnte sie guten Gewissens von ihm Abschied nehmen. Mann, der dich in der Nacht fortschickt, Mann, der dich nachts verläßt, Mann, der in der Nacht zu müde ist für ein Lebewohlsagen am Flugplatz. Sie hatte jetzt die neu gemietete Wohnung für sich allein. Dave schrieb ein paar Luftpostbriefe. Sie las ohne Interesse. Das Wort «Hebrew» kam so oft vor. Obwohl sie sehr gut Englisch konnte, war «Hebrew» nie in der Schule als englisches Wort gelehrt worden. Vielleicht glich es aber auch zu sehr dem Vornamen ihres Vaters, Herbert. Oft fürchtete sie sich vor Menschen der Namen wegen, die sie trugen. Ohne einen Menschen zu kennen, fürchtete Christine manche bereits bei der bloßen Erwähnung eines Namens. Zum Beispiel Rafael. Mit Dave war sie im «Stafa» gewesen und im «Gerngroß». Warenhäuser, in denen er ihr empfahl, die jeweils billigere Pfanne zu nehmen, die sei auch gut, seine Mutter habe das gesagt. Und die jeweils billigeren Gläser und einen billigeren Mistkübel. «Den mußt du nach zwei Jahren wegwerfen, weil er dann riecht. Aber so lange genügt er. In zwei Jahren wird
diese Wohnung ganz anders aussehen!» Sie wußte nicht, ob er es gut oder schlecht meinte, und sie dachte, es müsse so werden. Vielleicht änderte sie deshalb so vieles und richtete sich ein. Unbewußt hoffte sie sogar, daß er eines Tages auf Besuch kommen würde. Er hatte einen so frischen Mund gehabt. Sein Körper war ihr angenehm gewesen, und er war als Jude gegen den Juden Walter aufgetreten. Aber er schrieb, daß er wenig Geld habe, daß er sparen müsse, und vielleicht würde sie ihn eines Tages in Israel besuchen. Nachdem sie sich seiner erinnert und ihm geschrieben hatte, daß sie ihn vermisse, und nachdem er geantwortet hatte, er habe eine Freundin, sie sei aber gerne willkommen, schrieb sie, sie würde nicht nach Israel reisen, sie könne nicht, und er solle nicht denken, das habe mit Leila zu tun. Sie wünsche ihm viel Glück, er solle ihr verzeihen. Sie schickte ihm später ihr Buch. Er schrieb, er würde es erst lesen können, wenn es auf englisch oder in Hebrew erschiene. Und gewiß sei es sehr gut.
5 Albertoni hatte Christine die Tür zur Verlagswelt geöffnet, nun war sie Autorin. Sie kannte Albertoni bereits aus dem Fernsehen, als er zusammen mit anderen Herren, die über das Büchermachen und Bücherverkaufen sprachen, im «Club 2» aufgetreten war. Damals sagte Herr Albertoni immer «Äh …», bevor er das erste Wort zu einem langen Satz aussprach. Und wenn er mit seiner sonoren Stimme einen unsichtbaren Punkt gemacht hatte, atmete er nicht ein, und er atmete auch nicht aus, sondern er sagte «Äh …» und redete weiter, bis irgendein anderer Herr schnell etwas ganz anderes sagte, um auch ein paar wichtige Worte zu ergreifen, und das ging so eine Stunde, bis der Herr, der manchmal auf die Uhr schaute und freundlich lächelte und immer wieder etwas auf einen Zettel schrieb, zu allen Herren, die manchmal aufzeigten, um dem Herrn, der sie beaufsichtigte, zu zeigen, daß sie drankommen wollten, bedauernd auf die Uhr schaute und sagte: «Bedauernd stelle ich fest, daß unsere Sendezeit zu Ende ist!» Dann schauten die Herren einander erschrocken an, und dann wurden sie immer kleiner und kleiner, und man konnte lesen: «Sie sahen ‹Verleger im Gespräch›!», und man sah, wie die Herren hin- und herrückten, mit ihren kleinen Händen nach den Gläsern griffen und nach den Nüssen, die auf dem Tisch in den Schalen lagen, und sie knabberten und redeten noch ein bißchen weiter.
Herr Albertoni hatte gemeinsam mit seiner Frau das Gymnasium absolviert und Chemie studiert, aber als sein alter Schulfreund Ernst Oberrosler, von dem die spätere Frau Albertoni lange nicht gewußt hatte, ob sie ihn oder Herrn Albertoni heiraten sollte, einen Roman geschrieben hatte und über Nacht ein berühmter Schriftsteller wurde, trat Herr Albertoni trotz seiner unauslöschlichen Kenntnisse in Chemie in das Haus Jolly ein und bewarb sich beim alten Herrn von Witzleben. Der hatte seinem Verlag den Namen «Jolly» gegeben, weil er manche Bücher nur als Scherzartikel betrachten konnte und auch keineswegs die Herren, die damals den Buchmarkt beherrschten, hinters Licht führen wollte. Er verkaufte Romane wie «Nur noch zwei Kilometer bis zum Ende der Welt» und «Heute nie! Morgen schon». Aber mit diesen Scherzgeschichten finanzierte er so tragische Romane wie «Der letzte Chinese» und «Österreich, ein AdlerHort». Der alte Herr von Witzleben weihte den jungen Albertoni in die geschäftlichen Lösungen und Präparate des Hauses Jolly ein; und als der alte Herr eines Morgens nach einer Herzattacke blaß und kalt in seinem Chefsessel saß, sah Herr Albertoni sofort, daß dieser Mensch nicht mehr zu den Lebenden zählte. Er ließ ein großes Foto ins Vorzimmer hängen, auf dem Herr von Witzleben für immer gutmütig lächelte. Von diesem verregneten April-Vormittag an begann er sämtliche Verlagsregeln neu zu erfinden, wobei er als Chemiker die verschiedenen Substanzen der geschäftlichen Präparate neu untersuchte und durch allerlei Verbindungen, die Herrn von Witzleben zeitlebens völlig fremd gewesen waren, zu neuen Lösungen vermischte. Er nannte solche
Lösungen «amikale Lösungen», und wenn er mit einem Autor zu verhandeln hatte, lehnte er sich zurück, besann sich auf das Sonore, das er im Lauf der Jahre unter der Herrschaft des alten Herrn von Witzleben diesem abgehorcht und daheim in zahlreichen Sitzungen mit seiner Frau geübt hatte, und sagte dann: «Schauen Sie, ich bin Verleger. Sie sind der Autor. Wenn Sie mir sagen wollen, wie ich Ihre Bücher zu verlegen habe, dann schlage ich Ihnen vor: Sie verkaufen die Bücher, und ich schreibe sie!» Jeder Autor lachte darauf sofort hell auf, und Albertoni beschloß das Gespräch: «Also Sie vertrauen mir, ich vertraue Ihnen.» Auch Christine saß eingelullt in viele gütige Worte, die sich von Albertonis Zunge lösten, und es war, als hätte diese Zunge sogar Hände. Gefesselt hörte sie ihm zu. Hin und wieder riß eine Frau die Tür auf. Sie sah aus wie eine Internatsvorsteherin und fragte: «Sind Sie fertig?» «Nein, noch nicht», antwortete Herr Albertoni und wandte sich wieder Christine zu. «Wenn Sie fertig sind, möchte ich mit Ihnen noch etwas besprechen!» rief die Frau herein. «Aber ja! Zu besprechen gibt es ja immer etwas! Besonders, wenn ich gerade in einer Besprechung bin.» Er redete auf Christine ein. Sie saß gebannt. Dann zeigte er ihr Bücher, die er gerne las. Er öffnete einen Glasschrank und nahm Romane heraus. Welterfolge, erschienen in deutscher Sprache. Amerikaner, Engländer, Australier und Franzosen. Christine fühlte sich elend, verschwindend niedrig und klein. Sie nahm sich vor, Herrn Albertoni nicht zu belästigen.
«Der große Dichter John Mileswiles hat einmal zu mir gesagt», begann Albertoni feierlich, «und nicht nur einmal! Jedesmal, wenn wir uns treffen, sagt er es eigentlich immer wieder!» Der Name Mileswiles, der in ihrem Schullesebuch gestanden war, schüchterte Christine so ein, daß sie nicht zuhören konnte. Ehrfurcht überkam sie. Sie war an der heiligen Stätte, an der die Mileswiles-Bücher gemacht wurden! «Ist Otto von Zweifrosch Ihnen ein Begriff?» Sie nickte. «Otto von Zweifrosch pflegt mich immer wieder zu fragen, ob …» Christine wunderte sich, daß Herr Albertoni aussah wie ein gewöhnlicher Mensch. «Und ich pflege dem Otto dann zu antworten: Weißt du, Otto, ich habe diesbezüglich mit Isabella Schwertfisch schon einige Male darüber geredet, ob …!» Er war also sogar mit der berühmten Schwertfisch befreundet. Wieder ging die Tür auf. «Herr Albertoni, sind Sie fertig?» «Aber ja, meine Liebe!» Er überreichte Christine ein paar Bücher, küßte ihr die Hand und verabschiedete sich von ihr. Er begleitete sie zur hohen Glastür, und draußen setzte sie im Vorzimmer wieder ihre Haube auf. Es war noch Winter und ziemlich kalt. Sie ging mit brennender Literatur in den Händen aus dem Haus hinaus. Welterfolge, unzählige Male verfilmt, und dieser Herr hatte alle diese Bücher gemacht. Ein Klappentext, erklärten Herr Albertoni und die Cheflektorin Frau Doktor Namenlos, komme auf die
inneren Seiten des Schutzumschlags, im Buch, wenn man es aufklappt, rechts und links zu lesen, und in einem guten Klappentext müsse der Inhalt des Buchs angerissen und über die Autorin einiges berichtet werden. Deshalb solle Christine einen Fragebogen ausfüllen. Haarfarbe, Familienstand, Hobbies, irgendwelche prominente Vorfahren und so weiter. «Sie hat ein Gesicht», sagte Herr Albertoni zu Frau Doktor Namenlos. «Ich finde, wir sollten das nutzen. Wir werden sie fotografieren lassen und Autogramme von ihr verschicken, an alle Buchhändler und an die Kritiker unseres Hauses. Oder was meinen Sie?» «Ja, ich finde auch, daß sie ein Gesicht hat», stellte die Cheflektorin fest, nachdem sie Christine ins Auge geblickt hatte. «Und wir könnten ein Foto von ihr auf das Buch außen drauftun.» Wir wissen, lieber Autor, liebe Autorin, daß Sie das nicht gerne machen, Fragebögen ausfüllen, stand dort als erstes. Aber um Ihrem Buch, das zu verbreiten wir uns vorgenommen haben, eine möglichst große Zahl von Lesern zu sichern … Sie füllte den Bogen aus. Es war früher Herbst, noch warm, Christine war tagelang in der Wohnung gesessen und hatte geschrieben. Alles noch einmal von vorne, aber hinten beginnend, wie bei einem Theaterstück. Dort mußte man, wie sie gelesen hatte, den ersten Akt umschreiben, wenn der letzte fertig war, um die Spannung zu erhöhen, und sie schrieb also die letzten Passagen, dann die mittleren, dann den
Anfang. Und das Manuskript wurde von Herrn Albertoni gelobt. Es sei noch nie vorgekommen, sagte er, daß ein Autor, nachdem er Vertrag und Geld erhalten habe, etwas verbessert habe. Christine ging die Ringstraße entlang, mit nackten Füßen, in Gesundheitsschlapfen. Vorbei am Parlament, an der Pallas Athene, und vor der Universität mußte sie rechts abbiegen, in eine Straße hinein, die die Fotografin ihr gesagt hatte. Sie war unterwegs, um fotografiert zu werden für den Umschlag des Buches. Was für ein Sieg! Sie versuchte sich vorzustellen, was sie gefühlt hätte vor ein paar Jahren, wenn sie gewußt hätte, daß … Sie hatte der Universität einen Streich gespielt. Buch ist Literatur, ist vielleicht genau so viel wert wie eine Doktorarbeit. Auf jeden Fall wird ihr Buch in den Auslagen von Wien zu sehen sein. Ihre Tanten werden es sehen. Zufällig. Und sie werden zuerst natürlich nicht glauben, daß sie das ist. Sie hörte Papa noch sagen: «Viele sind berufen! Wenige auserwählt! Was glaubst du, wie viele Leute in Österreich schreiben!» Nun war sie zumindest herausgefischt worden. Wenn sie das gewußt hätte, damals, sagte sie sich immer wieder vor. Gasse hinein, Nähe Burgtheater, eine kleine Gasse. Sonnig. Autos. Sie fuhr mit einem Lift hinauf, in einem Haus noch aus der Kaiserzeit, mit sehr großen, sehr hohen Wohnungen. Dort wurde sie von der Fotografin an ein Fenster gebeten. «Da bleib stehen! Und schau nicht so traurig! Zieh andere Schuhe an, damit du größer bist! Rutsch mir nicht aus dem Bild!»
Die Tochter des Botschafters, dem die schöne Wohnung gehörte, lieh ihr ein Paar von den ihren. Sie hatte sich dem Jolly Verlag gegenüber verpflichtet, ihm ihre nächsten beiden Werke anzubieten. «Wenn wir das, was Sie in Zukunft schreiben, ebenfalls publizieren wollen, geben wir Ihnen einen Vertrag.» «Das ist so üblich», sagte Herr Albertoni, «daß Sie hier einfach Ihren Namen hinsetzen. Und wir werden das bei anderer Gelegenheit mit einem Glas Cognac begießen», sagte er, obwohl die Cheflektorin neben ihm stand und leicht eine Flasche Cognac und Gläser hätte bringen können. Sie unterschrieb also alles, was man ihr gesagt hatte, nämlich, daß Jolly-Verträge fair und vernünftig sind. Das war ja nur ihre verfluchte Krankheit, die Depression, daß sie alles so negativ sah! Sie legte sich nach der Vertragsunterzeichnung sofort zu Hause ins Bett. So also fühlt man sich, wenn man den Traum des Lebens verwirklicht hat … «Schau ein bißl freundlicher und rutsch mir nicht dauernd aus dem Bild!» sagte die Fotografin. Sie fuhr sich mit ihren großen Händen durchs Haar, und Christine wäre gern an ihrer Stelle gewesen. Herr Albertoni telefonierte sehr lange und liebevoll mit seiner Mutter, während Christine vor ihm saß. Die Mutter wollte immer wieder versichert haben, daß er sie besuchen würde, und er versicherte es. «Mama! Ja, Mama! Aber wirklich, Mama. Heute abend noch bin ich bei dir.» Und zu Christine dann: «Verzeihen Sie. Das war meine Mutter. Sie ist nicht mehr ganz jung.»
Er lebt bei seiner Mutter, dachte sie. Wie praktisch. Einen Verleger heiraten. Françoise Sagan war auch mit einem Verleger verheiratet oder verheiratet gewesen. Jedenfalls stellte sie sich sofort vor, wie sie bei dieser Mutter wohnen und schreiben würde, und jedes Jahr brachte Herr Albertoni ein Buch von ihr heraus. Sie wußte damals noch nichts von einem Verlag und dessen Vertrieb, nichts von eingeschweißten Büchern und Rezensionskarten, Rezensionsund GeschenkExemplaren, nichts von Buchhändlern und Vertretern, nichts von einem Frühjahrs- und einem Herbstkatalog. Sie wußte nicht, daß man Bücher am besten vor Weihnachten bringt und im Frühling vor Ostern. Bücher, dachte sie, kaufen die Menschen von selbst. Und zwar, wenn jemand sie auf ein Buch aufmerksam macht. Zum Beispiel mit Werbung in einem Buch … «In mein Buch, bitte, keine Werbung hineintun», bat sie. «Naja, also bitte, wenn Sie das nicht wollen?» «Ich will nicht, daß in meinem Buch für andere Bücher geworben wird.» «Warum?» «Ich weiß nicht.» Und sie wußte es wirklich nicht, weiß es bis heute nicht, warum sie das nicht wollte. Vielleicht, weil ihr Buch einzigartig sein sollte. Sie schickte das erste Exemplar, nachdem Herr Albertoni es ihr überreicht hatte, sofort ihrer Mutter. Dann, als diese anrief, um ihr zu gratulieren, fragte Christine sie, ob sie es schon Papa gezeigt habe. «Nein.» «Dann hole ihn zum Telefon, gib ihm den Hörer und
drücke ihm dann das Buch in die Hand.» Ihr Vater sagte: «Oh …!» Sie kam damals nicht auf die Idee, daß es ihm unangenehm sein könnte, wenn der gemeinsame Familienname bald in aller Munde war. Der Papa sagte oft, man dürfe nie auffallen, sich nirgends vordrängen, nirgends seine eigenen Fähigkeiten preisen. Andererseits sagte er aber auch, man dürfe sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Faulenzen ist jetzt Gebot. Als Bestsellerautorin darf Christine sich nirgends um eine Arbeit bewerben (was würden die Leute, der Albertoni, die vielen anderen sagen), sie hat ein Star zu sein, muß daheimbleiben und sich in ihrem Ruhm sonnen. Sie kann nicht irgendwo auftauchen: Bittschön, ich bin die Frau, das Fräulein Soundso, ich hätte gern einen Posten, irgendeine nützliche Beschäftigung. Denn ihr kommt das Bestsellerdasein so sinnlos vor. Jetzt ist sie nur noch ein Buch, und sie wird gehandelt. Man trifft sie, man streckt ihr die Hand entgegen, aber man schüttelt die Hand nicht ihr, sondern dem Buch. Ich habe Ihr Buch gelesen! sagt jemand. Ich habe Ihr Buch leider noch nicht gelesen! sagt jemand anderer. Egal, wo sie steht, was sie ißt, mit wem, es kommt immer wieder die Rede aufs Buch, und allmählich beginnt sie dieses kleine Werk, an dem sie so sehr hing, während sie es schrieb, das ihr Strohhalm war, ihr wirklich beinah letzter, in jeder Depression, zu hassen. Da hat sie sich so geplagt, da nahm sie die Zettel immer wieder aus der Lade, da bemühte sie sich, in eine andere Welt zu entfliehen, und jetzt sagen die Leute: Ihr Buch ist wahrscheinlich autobiographisch. Naja,
schließlich hat sie es ja wirklich selbst geschrieben. In diesem Sinn ist es eine Auto-Bio-Graphie. Aber das Wort beinhaltet Bio, Leben. Eine Selbst-Lebens-Schrift. Gut, daß man nicht gezwungen ist, manche deutsche Fremdwörter ins wirklich Deutsche oder gar Österreichische zu übersetzen. Beim Verlag wollte man, daß sie aus Kübel Eimer machte, aus Wangen Backen, aus Faschiertem Hackfleisch. Türen sollte man öffnen und schließen, nicht aufmachen und zumachen. Irgendwie scheinen die österreichischen Schriftsteller in ihrem Land in einer Art Urwald zu schreiben. Der gefällige Lektor, der an den Buchmarkt denkt, sagt: «Österreich hat sieben Millionen Einwohner, Deutschland sechzig!» Dieser gefällige Mensch hat alle österreichischen Wörter umgedeutscht, und sie österreicherte, was sie erwischen konnte, zurück. Von da an galt sie als schwierige Autorin. Hinzu kam, daß ihr Verleger über sie das Gerücht verbreitete, sie sei scheu. Davon erfuhr sie in einem lebhaften Geplänkel und Geplauder, das sie mit Wiener Buchhändlern führte. Buchhändler waren ihr schon immer sympathisch. Schließlich führte der Weg aus der Einsamkeit schon in ihrer Kindheit, Volksschul- und Gymnasialzeit in ein Buchgeschäft. Dort gab es die herrlichsten Welten aufzuschlagen, manchmal las sie schon im Heimgehen. Und dann, sie erfuhr dort auch aus Büchern, was in der Nazizeit wirklich stattgefunden hatte. «Dieses Buch war früher verboten!» sagte die Buchhändlerin einmal, bestellte «Liebe deinen Nächsten» von Erich Maria Remarque aber trotzdem. Um so gieriger las sie es. Immerhin hat die Buchhändlerin ihren Vater nicht angerufen und ihm
gesagt, daß sie auf seine Rechnung ein Buch kaufe, das man früher, in der «guten» Zeit, verbrannt hatte. Sie plauderte also, bei einer «Buch-Präsentation», aufs lustigste mit den netten Wiener Buchhändlern, und sie interessierten Buchhändler mehr als das Buffet. «Aber Sie sind doch scheu! Und jetzt stehen Sie hier und lachen mit uns!» Sie fühlte, das war ihr erstes Vergehen gegen Albertoni. Und der Name wurde mit der Zeit für sie zu einem Schreckenswort. Ihr ging es immer wieder durch den Kopf: Albertoni hat dich gelegt (du bist das Ei), Albertoni hat dich gezüchtet (du bist die Autorin aus der Retorte), Albertoni hat dich erfunden, nein, er hat dich, nach eigenen Worten, die er zu dir sprach, «als Schriftstellerin gezeugt».
6 Bei den Pfeiffers herrschte alles andere als eine frohe, weihnachtliche Stimmung. Bruno Pfeiffer wollte wieder einmal neben seiner Frau noch eine andere haben, die ihn, wie er sagte, besser verstand. Denn seit Dietlinde die Kinder hatte, verstand sie ihn, wie er behauptete, gar nicht mehr. Und außerdem wurde Dietlinde, die ihre Mutter haßte, immer mehr dieser Mutter ähnlich. Damit konnte Bruno sie am tiefsten treffen, wenn er sagte: «Du redest wie die Lore, schaust drein wie die Lore, du gehst bereits wie sie und machst dieselben Bewegungen wie sie, du bist die Lore in zweiter Ausfertigung!» Dietlinde beschloß, sich zu rächen. Sie würde Spanisch lernen im Latein-Amerika-Institut, dann wollte sie mit den Kindern im Sommer nach Spanien fahren und später nach Südamerika auswandern. Damals war es eine Liebesheirat gewesen, besonders von Dietlindes Seite. Zu Christine sagte sie: «Was die Alice Schwarzer schreibt in ihrem Buch ‹Der kleine Unterschied› das ist alles Blödsinn. Ich habe einmal mit Bruno ein schönes Erlebnis gehabt. Ich bin in meinem Bett gelegen und habe schon geschlafen. Dann ist der Bruno gekommen, und ohne mich zu wecken, ist er in mich hinein. Ich bin aufgewacht von einem herrlichen Orgasmus, ganz genau so, wie er bei Freud im Büchl steht, der erwachsene Orgasmus der vaginalen Frau.
Aber seit er mich betrogen hat, will ich nicht mehr.» Christine begleitete Dietlinde aufs Latein-AmerikaInstitut. Sie ging auch mit ihr aufs Gericht, wo sie Verhandlungen anhörten, über die sie dann gemeinsam schrieben. Dietlinde hatte Jus studiert und war promovierte Doktorin der Rechtswissenschaften. Christine wollte ihnen helfen, einen Job als Gerichtsreporterin bei der Zeitschrift «profil» zu bekommen. Sie formulierte für Dietlinde, während Dietlinde ihr während der Verhandlungen alles das, was Christine nicht verstand, ins Ohr flüsterte, denn Christine hörte schlecht. Einmal kam im Gang des Gerichtsgebäudes ein großer, schwerleibiger Mann auf Dietlinde zu. Er wäre beinah an ihr vorbeigegangen, hätte Dietlinde ihn nicht aufgehalten und ihn auf die Wange geküßt. «Grüß dich, Papa! Was machst denn du da?» «Ach, du bist’s!» wunderte sich der Mann in gespielter Freude. «Darf ich dir meine Freundin vorstellen, die Christine?» Es klang, als habe Dietlinde noch nie eine so wichtige Freundin gehabt. «Sehr erfreut! Sehr erfreut!» Der Mann schaute auf seine Uhr und ging weiter. «Das war mein Vater.» «Ja.» «Ich habe ihn schon lange nicht gesehen. Vielleicht hätte ich ihn fragen sollen, wie es seinem Freund geht. Er lebt mit einem jungen Perser zusammen. Meine Mutter hat sich von ihm scheiden lassen, wie sie gemerkt hat, daß er homosexuell ist. Sie ist hart geworden.» Der Redakteur von «profil» lehnte den Bericht, den
Christine und Dietlinde über den Prozeß zu einem Totschlag geschrieben hatten, ab. Man könne nicht für alles die Gesellschaft verantwortlich machen, und vor allem sei «die Gesellschaft» eine ganz fürchterliche Phrase. «Können Sie das nicht so schreiben, daß man mehr über den jungen Mann erfährt?» Christine bewunderte den Redakteur, der so kritisch war. Sie war in alle diese Journalisten bei «profil» verliebt wegen der Hektik, mit der sie herumliefen und telefonierten, Telegramme und Telexe von einem Zimmer ins andere trugen, ihren Sekretärinnen Briefe diktierten, sich Berichte zeigen ließen und das Layout, diese geheimnisvollen Ergebnisse aus der Druckerei. Das Wichtigste bei einer Zeitschrift war dieses Layout. Wie setzt man einen Artikel, was für eine Spalte füllt man womit, wie bringt man die Fotos unter, was für ein Gesicht hat das «Blatt». Oft wurde zugunsten des Layouts eine Reportage einfach zusammengestrichen. «Ob der verheiratet ist?» «Schaut nicht so aus.» «Er hat ein tadellos gebügeltes blaues Hemd.» «So etwas können Mütter auch.» «Vielleicht schauen wir einmal im Telefonbuch nach.» Christine suchte den Namen heraus, rief an, und eine alte Dame meldete sich. «Er ist noch nicht daheim. Kann ich ihm irgend etwas ausrichten?» «Nein, danke, wir rufen wieder an.» Er lebte also bei seiner Mutter, und weil der Fall des jungen Mannes vor Gericht zu tragisch war, entschlossen sie sich, keine Reportagen mehr zu schreiben.
Wen interessiert es schon, warum ein scheuer, schüchterner Kerl eine Rentnerin erwürgt? Weil sie ihm immer wieder das Hosentürl aufmacht und nach seinem Glied greift, «Geh, laß mi a bisserl spieln», als Entschädigung dafür, daß sie ihm einmal am Tag ein warmes Essen kocht und mit ihm am Abend Karten spielt. «Dann hat s’ wieder spielen wollen, da hab i zuadruckt!» Der junge Mann bekam acht Jahre Kerker mit einer Nacht im Jahr Strafverschärfung, zur Erinnerung an seine Tat. Etwas Ähnliches war ja Christine mit Walter passiert, so daß sie sich eigentlich fast nicht mehr unter die Leute traute. Walter war handgreiflich geworden nach einem kurzen Probediktat. Sie hatte als seine Sekretärin arbeiten wollen, aber Walter nannte das «Sekretärinnenspiel», und dann sollte etwas anderes stattfinden. Wie das Kaninchen in Hypnose war Christine der Schlange Walter in sein Schlafzimmer gefolgt, und was sich dort ereignete, konnte sie mit niemandem besprechen. Sie fühlte sich, weil Walter impotent war und sie zu gewissen Handlungen nötigte, mißbraucht. Wenn ein Mann so alt ist, daß er nicht mehr mit einer Frau schlafen kann, warum tut er es? Sie verehrte Walter wegen seiner Bücher. Aber es gab eben noch den ganz anderen Menschen, der hinter dem Schriftsteller steckte, und der hatte ihr die Lust auf Bücher so nach und nach verdorben. Sie hielt Schriftsteller jetzt nicht mehr für Heilige, und genau das hatte sie vorher getan. Jetzt erwies sie Dietlinde, die Christine in ganz anderer Weise brauchte, viele Dienste. Für Walter hatte sie keine Zeit. Sie spielte mit Dietlindes älterem Sohn, dem
Zehnjährigen, denn der kleine Fünfjährige war abweisend. «Beim ersten Kind hat man ein Versuchskaninchen. Wenn das zweite da ist, benimmt man sich schon ganz anders», sagte Dietlinde. Der Ältere war ein ständig um Gespräche ringender Bub, der sich, wenn Christine und Dietlinde sich abends beim Tee unterhielten, ein Buch nahm und an den Tisch setzte. Der Kleine spielte mit allen seinen Sachen, murrte manchmal, kam nur, wenn er etwas brauchte. Aber der Große strahlte Christine an. Sie nahm ihn mit ins Kino und ärgerte sich, als er Bedenken hatte, mit einem Taxi heimzufahren: «Nehmen wir die Straßenbahn! Das ist billiger!» «Aber wenn ich das Taxi bezahle?» «Trotzdem! Es ist zu teuer!» Noch dazu hatte Dietlinde Christine gewarnt. «Mary Poppins» sei ein schlechter Film, und Christine bestand darauf, daß «Mary Poppins» gut sein müsse, schließlich hatte Dave davon erzählt. «Mary Poppins» war wirklich schlecht gewesen, gar nicht lustig, sondern sehr gekünstelt und langweilig. Christine genierte sich, daß sie vor Dietlinde ihren Fehler zugeben mußte. Sie war gern die Überlegene, die Helfende. Aber so nach und nach wurde sie von Dietlinde überholt. Manchmal war Dietlinde für Christine ein Schutz. Eine Frau mit Kindern ist eine Frau, die Hilfen annimmt. Christine hatte eine Abtreibung gehabt und brauchte keine Kinder, wenn Dietlinde ihr die Möglichkeit gab, mit dem älteren Sohn zu reden und zu scherzen. Manchmal schrie der Bub zu laut, und oft ging er
Christine auf die Nerven. Aber in der Familie Pfeiffer fühlte sie sich sicher. Es kamen hin und wieder Gäste, Freunde von Bruno, einfach von Bruno eingeladen. Er ließ Leute bei sich übernachten, ohne Dietlinde vorher zu fragen. Oft auch Frauen, von denen Dietlinde nie wußte, ob sie näher mit Bruno bekannt waren. Christine begann sich allmählich in Bruno zu verlieben, gerade weil er trotz aller Eskapaden ein Familienvater war. Sie hätte sich gern dieser Familie angeschlossen und sich untergeordnet, nur um nicht in ihre eigene Wohnung zurückkehren zu müssen. Jeden Tag telefonierte sie mit Dietlinde, ging am Nachmittag hin, fuhr spätabends mit der Straßenbahn wieder heim. «Rollschuhe müßte man haben!» seufzte sie. «Kauf dir welche», sagte Dietlinde ganz ernst. Im Sommer fuhr Dietlinde mit den Kindern auf Urlaub nach Spanien. Sie brachte die Katze Schnurri zu Christine. In einem Einkaufsnetz trug sie das Tier durch die Kaiserstraße, und der Straßenlärm tat Schnurri nicht gut. Sie kämpfte im Netz und wollte heraus, aber Dietlinde hielt es oben gut zu. Die Buben schauten immer wieder nach, ob Schnurri noch lebte. «Da hast du das Kisterl», sagte Dietlinde. «Das füllen wir mit Streu, und du leerst die Streu alle vierzehn Tage aus, gibst jeden Tag den Dreck heraus und füllst Streu nach. Und zu fressen gib ihr jeden Tag Nieren. Erschrick nicht, wenn sie sich auf deinen Rücken legt beim Lesen. Du wirst sehen, du gewöhnst dich daran. Paß auf, daß sie nicht zur Tür hinausläuft. In den ersten Tagen wird sie sich wahrscheinlich verstecken. Such sie
nicht, du ahnst nicht, was für Verstecke Katzen haben. Man findet sie nie.» Christine verbrachte sechs Wochen mit Schnurri, gewöhnte sich an sie und wollte sie nicht zurückgeben. «Bist auf den Geschmack gekommen, gelt?» Der kleinere Bub bot an, daß Christine die Katze behalten sollte. Der größere schaute traurig. «Nein!» Sie trugen Schnurri im Einkaufsnetz nach Hause, und in der Kaiserstraße fürchtete sie sich wieder sehr. Christine nahm sich eine Katze. Eine ältere Frau brachte das Tigerkätzchen in einer Schuhschachtel mit Luftlöchern. Wie sollte sie sie nennen? Und wie machte man das Entwurmen und später das Sterilisieren? Hauskatzen mußten entmannt werden, wenn sie Kater waren, weil das Ausgespritzte fürchterlich stank. Weibchen wurden ihrer Eierstöcke beraubt, damit sie niemanden belästigten und nicht litten, wenn sie «rollig» waren. Sie rief ihre Mutter an. «Du, Mutti! Stell dir vor! Ich habe jetzt eine Katze! Grad hat sie bei mir im Bett geschlafen! So lieb!» «Du mußt aufpassen, daß du sie nicht erdrückst. Und daß du nicht auf sie draufsteigst! Hoffentlich gibst du ihr genug zum Fressen!» Kein Wort der Mitfreude. Und warum sagte die Mutter nicht: Du brauchst keine Katze, du brauchst einen Mann! Oder eine Freundin! Wer weiß, was du brauchst! Aber du brauchst doch einen Menschen! In deinem Alter schon eine Katze haben, mit nicht einmal dreißig? Christines Mutter war beschäftigt mit der Betreuung des Vaters und des Haushalts, des Enkels und der Enkelin, beide noch kleine Kinder, und mit der Tröstung
Helenes, Christines älterer Schwester, die an Herzanfällen litt. Helene sagte: «Ich sterbe, ach, Mutti, ich glaube, ich sterbe!» Dann hielt die Mutter Hellis Hand. «Nein, Helli, du stirbst nicht. Glaube mir, Helli, sterben tust du ganz bestimmt nicht! Ach, Helli, du. Du Arme. Wenn ich dir nur helfen könnte!» Helli konnte nicht im Auto fahren, nicht mit dem Flugzeug zurück zu ihrem Mann fliegen, konnte in kein Gasthaus gehen und keine Leute besuchen. Überall bekam sie Platzangst. Sie blieb zu Hause. Am Vormittag lag sie meistens im Bett mit Depressionen. Am Nachmittag stand sie auf. Am Abend saß sie vor dem Fernsehapparat. Die Mutter war eine sehr merkwürdige Frau. Bald weich, bald unnachgiebig. Sie trug den Kopf sehr hoch. Nicht einmal beim Essen senkte sie ihn. Immer schien sie auf etwas zu warten, was nicht von den Kindern kam und nicht von ihrem Mann. Immer war sie bereit, eine Beleidigung anzuhören. Sie beleidigte den Vater durch dumme Bemerkungen. Dumm, wie er sagte. Ob sie noch etwas Dümmeres auf Lager habe. Man merke, daß sie keine Matura habe. Er lief laut rufend durchs Haus: «Eine Frau mit Matura hätte ich heiraten müssen!» Die Mutter, anstatt das Alleinseligmachende schnell in Abendkursen nachzuholen, benützte nicht einmal ihren Führerschein. Einmal war sie statt auf die Bremse aufs Gas gestiegen und hatte seither nie wieder Auto fahren wollen. Mit einem Führerschein könnte sie jeden Tag einkaufen, in die Großstadt fahren, lockte der Vater. Aber sie benützte den Autobus oder fuhr mit Bekannten mit. Außerdem hatte sie ohnehin ihre Bücher und all die romantischen Filme, die sie entschädigten. Sie freute sich
auch an einem schönen Kleid, an schönen Sonnenuntergängen, ging mit dem Hund spazieren, jetzt mit zwei Hunden, denn Helli hatte aus dem Ausland ihren Hund mitgebracht. Sie verpflegte und betreute die Enkel. Wenn Christine heimfuhr, trieb es sie bald wieder weg. Immerhin hatte sie dieses Haus nach einem Streit verlassen, der nie geklärt worden war. Man redete nicht darüber. Wenn etwas schon eine Woche her war oder einen Monat oder gar Jahre, durfte man es nicht erwähnen. Da war die Mutter streng. Die Mutter verbat das Wiederaufwärmen von alten Sachen, der Vater sagte: «Ich kann mich nicht erinnern.» So lebten die Töchter bald unter der Tyrannei alles dessen, was die Eltern vergessen wollten, und das, was sie sich zu vergessen zwangen, staute sich in ihnen auf. Hellis Depressionen wurden so arg, daß sie einen Arzt gebraucht hätte. Aber der fragte dann womöglich nach den Familienverhältnissen. Also litt sie still, dann wieder laut, wenn Streit unter den Kindern war. Christines jüngere Schwestern waren sehr verschieden. Die eine aufbrausend, die andere geduckt. Die eine mit Schimpfwörtern um sich werfend, manchmal nicht einmal den Vater schonend, die andere leise Gehässigkeiten herauspressend. Wirklich fröhlich war eigentlich nur Christine, weil sie sich freute, wenn sie nach Hause kam. Die gewohnte Welt, eine gewohnte Ordnung lag darin. Nur, leider, wurde der Vater alt, zeigte sich nur noch als Großvater verantwortlich, hatte viele Falten bekommen, trug schwer an der Last, nun die erwachsene Helli und die beiden Enkelkinder ernähren zu müssen, redete jeden Tag davon, daß er sie alle ernähre,
wie sie hier saßen, und Christine fuhr weg in dem Gefühl, daß es nirgends besser war als in Wien, und wenn sie «Wien» las auf dem Schild, das neben der Abfahrt von der Westautobahn stand, sagte sie sich: Wien heißt Freiheit.
7 Es
war sehr kalt. November. Sie trug eine weinrote Kappe mit Schirmmütze, noch aus ihrer spanischen Zeit. Aus Schnürlsamt. Dazu einen blauen, taillierten Mantel. Einen Schal. Lauter Sachen, von denen sie wußte, daß sie sie nie mehr anziehen würde, denn mit diesen Kleidungsstücken würde man sie ja jetzt, nach ihren Fernsehauftritten, in ganz Österreich erkennen. Sie wollte ja bekannt werden, das schon, und ihre Eltern und alle Leute, die sie nie ernst genommen hatten, sollten vor ihr erschauern. Der Türmler trug einen weichen, großen Pelz. Jacke aus Fuchsfell, Kragen aufgestellt, sein Haar vom Wind verblasen, die Wangen von der Kälte frisch. Er sah einem Schauspieler ähnlich, der hübsch war, aber angeblich nur Männer liebte. Gut aufgehoben wirkte er in dem Pelz, wohlhabend und abgesichert. Der Pelz gefiel ihr so gut wie er. Man merkte ihm an, daß er auf sich achtete, daß sein Aussehen ihm nicht gleichgültig war. Ganz anders als Anton Leitl. Anders auch als die vielen linken, revolutionären Schriftsteller. «Halt! Da is a Spalt!» sang er, wenn er die Kamera hob und woanders wieder aufstellte. «Sie haben so einen schönen Mund», sagte er. Das ging ihr ein bißchen zu nah, sie war nicht gekommen, damit man über ihren Mund debattierte. Das wußte sie ohnehin,
daß er so ziemlich das schönste war an ihr. Aber hier ging es doch um die Literatur. Auch in der Uni wurde sie gefilmt. Man mußte hinfahren. Dort fragte der Türmler sie, ob sie «Taxi Driver» gesehen habe, sie verneinte, er sagte, sie solle sich den Film nicht entgehen lassen. Schade, daß er mich nicht einlädt, dachte sie, und kurze Zeit später erwähnte er wieder den Film und: «Ich würde ihn mir mit Ihnen noch ein zweites Mal anschauen.» Sie lief glücklich in ihre Wohnung. Für den Abend hatte sie eigentlich eine Verabredung, fiel ihr ein, und sie wollte dem Türmler – leider! leider! aber ganz ehrlich! – absagen. Also suchte sie im Telefonbuch. Guter Vorwand, gleich nachzuprüfen, ob neben seinem Namen in Klammern ein weiblicher Name stand. Sie fand seine Nummer, dort stand kein Name einer Frau. Sie wählte die Nummer. Es machte tü und tü und tü, und nach vielen Tüs hob noch immer niemand ab. Also mußte sie zum Kino gehen, sie sagte dem anderen ab, der war ohnehin verheiratet, und sie überlegte, was sie anziehen sollte, und sie blieb, wie sie war. Beim Kino stand er, sehr frisiert, gut riechend nach Eau de Cologne, zu scharf, zu stark, aber das machte nichts. Kein Name neben seinem Namen im Telefonbuch. Ihr kam vor, als wäre sein Gesicht ein wenig zu dick. Auch das störte sie nicht. Er kaufte ihr saure Zuckerl, es war wie ein Märchen, er griff während der Vorführung kein einziges Mal nach ihrem Schenkel, sie lutschte die Zuckerl, als könnte sie ihre Jugend zurückgewinnen aus dem Geschmack. Es war wunderbar, er schaute auf die Leinwand, sie auch, und dann fuhr er mit ihr durch Wien. Sie gingen in ein Gasthaus, kein Restaurant, dort fragte er
sie nach ihrer Meinung über den Hunger und die Armut in Südamerika. Auf einmal war ihr fad, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihr bei einem so wichtigen Thema fad wurde. Aber dann nahm sie sich vor, ihn für einen guten Menschen zu halten, den das alles eben noch aufrichtig interessierte, während sie ihre Begeisterung für die Probleme der Armen in Südamerika hinter sich hatte, seit im «Spiegel» gestanden war, daß die Europäer ihr frustriertes Innenleben mit einem sozialen Interesse für die Not Lateinamerikas übertünchten. Der Türmler schlug die Beine übereinander, schob eine Hand zwischen seine Oberschenkel und fragte, ob sie glaube, daß der Erfolg sie glücklich machen würde. «Das weiß ich nicht. Ich glaube, schon.» «Also, ich glaube nicht.» «Warum denn nicht?» «Naja, schauen Sie, Sie sind eine Frau. Und eine Frau braucht etwas anderes.» Dann geben Sie es mir! durfte sie jetzt natürlich nicht sagen. «Aber vielleicht brauche ich den Erfolg, um arbeiten zu können.» Arbeit, Arbeit, dachte sie gleich, ist denn Schreiben Arbeit? «Wollen Sie sich meine Wohnung anschauen?» fragte er. Als sie hineingingen, roch sie sofort, daß hier nie jemand rauchte. Es war Abend, er ließ den Fernsehapparat aufgedreht, sie hatten gebadet, jeder für sich allein, in dem rosaroten Badezimmer mit den vergoldeten Wasserhähnen.
«Habe ich alles aus der Türkei mitgebracht.» Statt der Glasscheiben waren Spiegel in den Türen, richtig luxuriös, man bekam Hemmungen. Hemmungen und Blähungen. Sie verstand auch nicht, wie ein Mann, der keine Frau hat, soviel Aufwand braucht in seinen vier Wänden. Wo doch der Hunger in der Welt ihn so bedrückte. Im Fernsehen lief der Film «In einem anderen Land» nach diesem schlechten Roman von Hemingway, dieser Kitsch, diese Schilderung von Freßlust mitten im Krieg, Nudeln, Spaghetti, Rotwein, dann ging es weiter mit der Italien-Berichterstattung, und eine Liebesszene, von Hemingway vierzehnmal geschrieben, trotzdem nicht besser geworden, Sterbeszene, Kitsch, alles Kitsch, sie wollte dem Türmler ins Gesicht schreien, daß sie Hemingway für ein Schwein hielt. Der Türmler lag nackt auf dem Bett. Sein Popo war wunderbar rosig, und sie dachte: Das wäre doch normal, jetzt, eigentlich. Aber er ließ sich von ihr nur verführen, tat nicht viel dazu, und nachher fühlte sie sich schuldig. Ganz sicher hatte sie den Popo gemeint, aber nachher war ihr, als hätte sie es wegen der Wohnung getan. Oder um nicht mit ihm zu streiten über den Film, über das Fernsehen, über diese ganze Verlogenheit. Oft schon, erinnerte sie sich, war sie mit einem Mann ins Bett gegangen, nur um etwas ganz Bestimmtes, was feindlich gewesen wäre gegen die ganze Welt, nicht zu sagen. Kein Mann würde eine Frau aushalten, die gegen die Welt an sich oder gegen das meiste, was es gibt, protestierte. Wozu denn. Niemand würde sie hören. Keiner will ja wissen, daß das, was er insgeheim denkt, andere auch denken.
Später störte ihn ihr Rauchen. Hast du heute schon geraucht? Wieviel hast du geraucht!? Warum konnte sie nicht sinnlich ein? Warum war sie es, und gleich fiel das Wort «geil» ihr ein, und wegen des Wortes verging ihr jedes Empfinden. Das Wort war stärker als der Zustand, und «Hure» hatte ein Bub in ihrer Klasse auf einen Zettel geschrieben und ihn ihr zugeschoben. «Leitenmeier, die Hur, Leitenmeier, die Gail», noch dazu falsch geschrieben. Sie war zum Religionsprofessor gegangen, bitte, Herr Professor, diesen Zettel habe ich bekommen. Der Religionsprofessor hatte nicht geantwortet. Dann die Erni. Diese primitive, ordinäre Person, Proletin, dachte sie, fühlte sich schuldig, was ist denn mit ihr, warum teilt sie die Menschen ein, das kann doch nur der Vater sein, dieser Vater in ihr, der nicht erlaubt, daß sie die Welt, die Menschen, mit eigenen Augen sieht. Die Erni war Türmlers Frau und hatte Kinder. Aber ihre Stimme war so kalt, so laut. Und immer noch werbend um den Türmler und abwehrend, nein, nein, danke, sehr lieb, aber dich brauche ich wirklich nicht mehr. Warum sah sie alles voraus, daß sie den Türmler eines Tages, sehr bald wahrscheinlich, auch nicht mehr brauchen würde? Sie haßte die Erni dafür. Und dann wollte sie nett sein. Zur Erni, zu den Kindern, zum Türmler, zu allen Leuten, und sie schleppte Einkaufssäcke, ärgerte sich, daß sie mit Lebensmitteln herumlief, warum, man konnte doch im Restaurant essen, könnte ins Kino gehen, man durfte gar nicht für einen
Mann kochen, das verboten die Feministinnen, man durfte sich doch gar nicht wohl fühlen mit einem Mann, man mußte doch mit ihm schlafen, mußte einen – unaussprechlich, dieses Wort, lateinisch, wie eine Krankheit – Orgasmus haben. Sie haßte Latein so sehr, daß sie diese fremdsprachige Leistung manchmal nicht erbrachte. In der Früh, als sie wieder nicht aufstehen konnte (bleib, Schlaf), zog Türmler sie an den Füßen aus dem Bett, zerrte sie ins Badezimmer, stellte sie in die Wanne und brauste sie mit kaltem Wasser ab. «Ich bin traurig», sagte er, als sie endlich miteinander badeten. «Warum?» «Weil ich grad auf deine Beine geschaut habe.» «Und?» «Ich habe gesehen, daß du wahrscheinlich Krampfadern kriegen wirst.» «Schatzerl, ich bin’s, der Türmler.» Es klang jedesmal so, als ob er sich entschuldigen müßte für seine Existenz. «Der Türmler, Butzi, ist’s. Hast heut abend Zeit?» «Schönes Licht», sagte er, «du hast so ein schönes Licht jetzt.» Sie saßen an einem Fenster in seiner Wohnung, sie hatte ihm etwas aus ihrem Leben erzählt. Vielleicht verstand ein Kameramann solche Worte als Trost. Vielleicht konnte er nichts anderes sagen als: Wart, ich fotografier dich. Ihn interessierten schöne Aufnahmen, mit möglichst schönem Licht. Er sah das Gesicht eines Menschen, aber
er sah nur, wie er es fotografieren würde. Leben mußte er von Fernsehberichterstattung. Früher war er Fotograf. Mit viel Glück war er beim ORF gelandet. Ob sie Lust hätte, mit ihm für ein paar Tage in die Steiermark zu fahren. Seine Eltern hätten dort ein Haus. Sie könnten das Wochenende draußen verbringen. Er setzte sie in ein Auto, das Benzin verlor. Dann stiegen sie um in ein großes. Das kleine Auto gehörte seiner geschiedenen Frau Erni. Er wollte es in die Steiermark bringen und dort reparieren, aber jetzt fuhren sie in seinem Mercedes. Sie trug das Kleid, das er ihr gekauft hatte. «Du erinnerst mich an jemanden», sagte sie. «Geh, Butzi, ich bin der Türmler. Denk nicht immer nach.» «Mir kommt vor, ich habe dein Gesicht schon oft gesehen.» «Vergleich mich mit niemandem, Butzi, bitte. – Butzi», sagte er dann. «Butzi, willst kein Butzi?» «Ein Kind?» «Ja. Meine frühere Freundin ist schwanger, und sie hat mich gefragt, ob sie abtreiben soll. Ich habe ihr geschrieben: Gib das Kind mir. Und dann ist da noch die Claudia, die Tochter von meiner geschiedenen Frau. Die tät ich gern zu mir nehmen.» «Zwei Kinder auf einen Schlag?» «Sind ja von mir!» Dann weinte er. Er fragte, ob er ein schlechter Mensch sei. Als sie in der Steiermark ankamen, fand er einen Brief vor. «Sie hat abgetrieben! Ihre Mutter behauptet, daß sie
es beim Skifahren verloren hat. Aber ich glaube das nicht. Butzi, ich hätte sie heiraten müssen, ihre Mutter schreibt das. Willst du den Brief lesen?» Sie tranken Schnaps aus kleinen Gläsern. Draußen regnete es. Sie saßen mit seinem Stiefvater in einem niedrigen Bauernhaus und prosteten einander zu. «Da bin ich mit meiner geschiedenen Frau immer gegangen», sagte er, als sie im steirischen Wald herumstapften. «Und dort in dem Haus, von dem du nur das Dach siehst, dort haben früher ein Bauer gelebt und eine Bäuerin. Der Bauer war kriegsversehrt, er hat nur ein Bein gehabt. Die Bäuerin hat ihn im Stall erwischt mit einer Magd, da hat sie eine Hacke genommen und –» Ihr wurde schlecht. Er wünschte sich eine Frau, die nicht berufstätig war und nicht rauchte. Beim Frühstück saß er mit Tränen in den Augen. Sie fragte ihn, was er habe. «Nichts. Ich denk an die Erni.» «Liebst du sie noch?» «Ich weiß nicht.» «Würdest du sie wieder heiraten, wenn sie möchte?» «Ja. Vielleicht. Wegen der Kinder.» Sie möchte gerne rauchen jetzt, bestreicht aber ein Butterbrot mit Marmelade. «Geh ich dir auf die Nerven?» fragte er. «Nein.» «Schade.» Er erzählte ihr alles aus seinem Leben, auch die Dinge,
die sie nicht hören wollte, denn eines Tages würde er über sie genauso reden bei einer andern wie jetzt über die Vorgängerinnen bei ihr, und er sagte: «Du bist die einzige Frau, bei der ich nicht lügen muß.» Sie wollte eine gute Zuhörerin sein, ein Kompliment, das man ihr schon machte, als sie klein war. So brav, so aufmerksam, so fleißig. Tut alles, was man ihr sagt. Ist so gescheit. «Das ist die nette junge Schriftstellerin!» sagte er zu seinem Vater. Dann, als sie unter vier Augen waren: «Er ist nicht mein Vater, meinen Vater habe ich nicht gekannt.» Der Tisch war bedeckt mit einem Plastiktuch, sie legte sich bald ins andere Zimmer, ihr war elend, sie wußte nicht, warum, das Plastik, was würden ihre Eltern dazu sagen. Dann saßen sie auf einer Bank. «Hier bin ich mit der Erni gegangen.» Er redete vom Wein und von den Bäumen, und wie man den Wein anbaute, wie die Bauern das machten, und daß es ein Hügelland war, aber sie sah das selbst. Sie erzählte ihm, daß sie schon mit vielen Männern leider! geschlafen habe, einfach so, um die Männer zu ärgern, ihnen Illusionen zu nehmen, Anläufe zu ersparen, Umwege, und auch, um sich zu zerstören, und er weinte. «Schatzerl, bringen wir uns um!» sagte er. «Schrei, bitte, ganz laut, wenn du einen Orgasmus hast!» sagte er, und sie sah den Orgasmus, wie er kam, eine dunkle, vermummte Gestalt, und wie dieser Mann weit entfernt von ihr stehenblieb … draußen war eine
Sternennacht, durch das winzige Bauernhaus konnte man den dunkelblauen Himmel und die Lichter sehen … weit von ihr stehenblieb. Und, außerdem, sie konnte das ja gar nicht: schreien. Je weniger er mit ihr schlafen wollte – sie rauften beinah, er wehrte sich, sie vergewaltigte ihn halb, er wollte nicht –, je weniger er sie wollte, um so stärker wollte sie ihn. Sie war siebenundzwanzig. Ihre Vorgängerin war neunzehn gewesen. Wahrscheinlich bin ich zu alt, dachte sie, und er roch an ihrem Haar, warf ihr den Geruch vor, sie putzte sich immer wieder die Zähne, nach jeder Zigarette beinah, und: «Du riechst, wie wenn du in einem Beisel gesessen wärst!» Er küßt mich nicht, wußte sie, weil ich nach Zigaretten schmecke. Und das bestätigte er ihr. Seine Mutter kam zu Weihnachten, sie kochte zwanzig Knödel. «Der lügt! Immer lügt er! Da ist er wie sein Vater!» schimpfte die Mutter, und der Türmler ging vorbei, als hätte er nichts gehört, und sein Stiefvater reparierte eine Türschnalle und sagte nichts. «Warum hast du damals bei der Liebesszene gelacht?» fragte der Türmler. «Bei was für einer? Wann? Wo?» «Wie der Film im Fernsehen gelaufen ist. ‹In einem anderen Land› oder wie das geheißen hat, von Hemingway.» «Weil es so komisch war.» «Mir hat es gefallen.» (Ja, dir.) Nur keinen Streit, in ihrer Wohnung war es kalt, in seiner bacherlwarm.
Er wollte eine Frau, die nicht immer will. «Weil, Butzi, schau, das ist doch nicht so wichtig. Es gibt viel Wichtigeres als das. Mit meiner früheren Freundin habe ich immer geschlafen, jede Nacht! Und sie hat mir versprochen, daß sie nicht raucht, und dann habe ich sie wieder erwischt mit einer Zigarette in der Hand. Ich lese dir etwas vor.» Er las eine Geschichte aus dem bäuerlichen Mittelalter. Jeden Abend, auch an den Nachmittagen, wenn sie wegen ihrer Depressionen im Bett lagen, las er ihr vor. Sie ging zu einer Psychiaterin, die ihr fünfhundert Schilling abnahm für die Auskunft, daß sie zu viele Patienten habe. Dann war Herrenabend, und zum Herrenabend nahm er sie nicht mit. «Schau, Butzi, keiner bringt seine Freundin mit.» Dann, als er heimkam: «Jeder hat seine Freundin mitgebracht, nur ich nicht! Was hast du denn gemacht derweil?» «Gesessen und nachgedacht.» «Denk nicht soviel nach.» Christine bekam Herzweh, lag wie unter einer Nadel. Sie stand auf, tastete sich ins kleine Zimmer, in dem nur ein Bett stand. Dort hinein legte sie sich nicht, denn über dem Bett hing eine in Gold gerahmte Fotografie. Mädchen mit Schneeflocken. Sie wußte nicht, ob es Erni war oder seine Tochter oder die frühere Freundin. Sie legte sich auf den Fußboden und spähte durch den Vorhangschlitz auf die gegenüberliegenden Fenster. Zu Weihnachten hatte sie ihm einen Fleckerlteppich aus dem Mühlviertel geschenkt, er ihr ein Hauskleid. Das sollte sie tragen, wenn sie auf ihn wartete. Christine schenkte ihm ein selbstgemaltes Bild. Degas, eine Frau.
Nur kopiert, in Öl. Die Leinwand hatte sie mit Knoblauch eingerieben. Aber schon Jahre vorher, man roch nichts mehr. «Das kann ich nicht annehmen», sagte er, und sie hängte es an die Wand über seinem Kamin. Am Morgen des 24. Dezember hatte sie ihr erstes weißes Haar entdeckt, bei Dietlinde. Sie hatte noch einmal bei Dietlinde vorbeigeschaut, Bruno wohnte wieder bei ihr, seine Freundin war in Hamburg, da war er bei seiner Familie wieder eingezogen. Im Badezimmer stand das Katzenkisterl mit der Katzenstreu. Dietlinde wickelte Geschenke für die ganze Familie ein, für Dietlindes Vater gab es ein Buch, für den Freund von ihrem Vater nur Zigaretten. Eigentlich wollte Dietlindes Vater Bruno haben, aber der Bruno hat damals Dietlinde geheiratet. Christine rief Erni an. «Frau Erni, was kann ich tun? Ihr geschiedener Mann wünscht sich, daß ich bei ihm wohne, aber er will nicht mit mir schlafen.» «Ja, vielleicht bin ich schuld daran. Ich habe ihn gern gehabt, und ich mag ihn heute noch. Was war denn mit der Lili, mit seiner jungen Freundin? Wissen Sie da Näheres?» «Mit der hat er jede Nacht geschlafen.» «Nein, also», Erni lachte, «das glaube ich nicht.» Sie ging in die Küche zu Dietlinde: «Schau, mein Haar, es ist auf einmal weiß geworden!» «Du», sagte Dietlinde, «da werden noch viele kommen. Mit dem Bruno ist es aus, er hat mir alle Briefe, die er von seiner Freundin bekommen hat, als Weihnachtsgeschenk aufs Bett gelegt, zum Zeichen, daß es vorbei ist.» Den Fleckerlteppich schleppte Christine zur Straßenbahn, dann stieg sie ins Weihnachtsgetümmel.
Viele Frauen hielten Pakete. Es war ein trockener, kalter Winter, sie trug den Teppich durch die Straße, läutete an Türmlers Haustor, bat ihn, als sie oben ankam, wegzuschauen. Jetzt. Jetzt muß er mich ja lieben. Spätestens heute abend. Der paßt doch gar nicht. Biedermeier und Fleckerlteppich? Bauernbiedermeier. O ja. Vielleicht. «Jetzt hast du ein schönes Licht», sagte er. «Wie, bitte?» «Das Licht fällt durchs Fenster, das Sonnenlicht, und der Strahl konturiert genau deine linke Wange.» Sie war deprimiert, nahm viele Valium-Tabletten und rauchte, fuhr zum Rauchen eigens in ihre Wohnung, blieb immer öfter dort, heizte ein, fuhr wieder zum Türmler, schrieb ihm ein Gedicht, schaute ihn an, wenn er las, und er fragte traurig: «Schatzerl? Warum mußt du schreiben?» Sie bügelte ihm noch die Bettwäsche, dann packte sie den Koffer. Später legte sie sich noch einmal zu ihm, aber in der Nacht rief sie ein Taxi an. Er kam ihr ins kleine Zimmer nach, im Pyjama, verschlafen. «Laß die Schlüssel da.» «Ich hab noch Sachen bei dir», sagte sie. «Ich kann jetzt nicht alles mitnehmen.» «Laß die Schlüssel da!» Sie fuhr in ihre Wohnung: Ich glaube, ich werde verrückt, wenn ich zu Hause angekommen bin, hallo, Gott, hallo, hier, bitte, ist das Funktaxi, in Wien sind die,
bitte, alle, besetzt. Die Häuser, hoch. In Wien, glaube ich, eine Frau, man sollte nicht so stolz sein. Eine Frau müßte sich einem Mann viel, viel mehr aufdrängen. «Weißt du», sagte er später am Telefon, «ich hab geglaubt, du wirst von jemandem abgeholt, und es ist alles geplant. Ich hab nicht gewußt, daß du mit dem Taxi heimfährst. Meine frühere Freundin, die hat sich manchmal einfach mitten in der Nacht von ihren Freundinnen abholen lassen.»
8 Frau
Albertoni hatte große Sympathien für Christine Leitenmeier. Jedenfalls küßte sie sie schallend auf beide Wangen, als ihr Buch im «Club 45», im oberen Stockwerk der Konditorei «Demel», vorgestellt wurde. Christine ging über die Stiegen hinauf, nicht ahnend, was die Präsentation sein würde. Alle Damen waren viel aufwendiger angezogen als sie. So kam sie in den Ruf, sympathisch zu sein. Noch bevor Herr Albertoni sie vorgestellt hatte, wurde sie von seiner Frau geküßt. Dann sprach ein bekannter Schauspieler über das Buch. Er sagte, er habe es in einer Nacht gelesen. Und ihm seien bei der Lektüre viele Lichter aufgegangen. Nur eines nicht, erinnerte sie sich: daß sie mit neunzehn einmal bei ihm war, vorsprechen, und daß er sie weggeschickt hatte mit dem Tip, sich eine Platte mit Paula Wessely zu kaufen und zu probieren, ob sie vielleicht betonen könnte wie sie. Das Wärmeproblem war sicher das Ausschlaggebende in Christines Leben. Sie konnte sich an einem Ort nicht wohl fühlen, wenn sie fror. Frieren bedeutete: nicht geliebt werden, kein Geld bekommen von zu Hause, den Eltern egal geworden sein, nachdem die Matura endlich bestanden war – studier doch, was du willst, aber laß uns in Ruhe, wir sind froh, wenn eine Tochter aus dem Haus ist.
Also war nicht zu frieren ihr sehr wichtig. In einer geheizten Wohnung konnte sie ihre Eltern vergessen. Auch wenn Mutti immer wieder anrief, besonders nach Papas Tod. Trotzdem stand etwas zwischen ihnen: die Kälte. Und dank Herrn Albertoni hatte sie es in ihrer Wohnung zu einer Gasheizung, einer EtagenZentralheizung, gebracht. Sie saß in ihrem angeblichen Arbeitszimmer und sinnierte. Dann im Schlafzimmer – und drehte den Fernsehapparat auf. Die Katze schlich um ihre Beine. Sie suchte sich einen Platz aus, wenn Christine lag, auf dem auch sie gut liegen konnte. Meistens auf ihr drauf. Christine roch den Katzenschweiß und ihre Wärme, vermischt mit Staub. Eine Katze durfte man nur bürsten und niemals absaugen. Auch erinnert das viel zu laute Geräusch des Staubsaugers nur daran, daß mit unserer Technik etwas nicht in Ordnung ist. Auf den Mond können manche Leute schon fliegen, aber einen Staubsauger, der leise ist und klein, hat man noch nicht erfunden. Wahrscheinlich fehlt für so etwas den Technikern die Zeit. Und wenn wahr ist, daß unser Planet bereits von der Menschheit verlassen worden ist, so wie eine englische Schriftstellerin das sagte, dann zahlt es sich auch nicht aus, noch irgendwelche praktischen Geräte für Frauen zu erfinden. Ein Mann kam das Badezimmer ausmessen. Die alte Wanne wurde hinuntergetragen in den Keller. Dort stand sie neben Kohlenbergen. Die Verfliesung des Badezimmers mit grünen Keramikkacheln, einige von ihnen muschelförmig, zur Zierde, kostete über zwanzigtausend Schilling. Der Mann wollte eine Garantie. Wo sie angestellt sei. Nirgends! Wovon sie
lebe. Ich schreibe! Er brauche Garantien. Die habe sie nicht. Dann könne er ihr das Bad nicht befliesen lassen. Ob er bei ihrer Bank anrufen könne, falls sie ein Konto habe? Nachher, als das Bad verfliest und das Buch im Fernsehen gezeigt worden war, schrieb er ihr einen Brief. Es sei ihm peinlich, er sei unglücklich in seiner Ehe und in seinem Beruf. Die Wohnung wurde dunkler, je fortgeschrittener der Winter war, und sie sah in der Wohnung vor lauter Wohnung nichts mehr. Ein Tapezierer, den sie aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte, kam ihre Zimmer vermessen. Er legte Tapetenmuster auf den Tisch und Muster für Teppichböden. Der Türmler half das richtige Muster fürs Kabinett auszusuchen. Es bestand aus lauter kleinen weinroten Blumensträußchen auf beigem Grund. «Und dazu mußt du dir Bauern-Biedermeier-Möbel hereinstellen, so wie bei mir. Und Samtvorhänge. Dann wird es gemütlich.» Aber Christine kaufte Küchenkästen von IKEA, die man auch als Wäscheschrank benützen konnte, dazu echte Kleiderkästen, die baute sie nach der Anleitung zusammen. Wenn man bei IKEA kaufte, wurde man geduzt. Sobald man das Geschäftshaus betrat, prangten einem die vielen Anreden auf Tafeln entgegen: Komm näher und setz dich her. Probiere dieses Sofa aus. Fühlst du dich nicht wunderbar darin? Wenn du noch etwas kaufen möchtest, geh in den zweiten Stock. Und vergiß nicht, an der Kasse zu bezahlen. Der Tapezierer legte seine Muster großzügig auf dem Tisch aus. Es war, als halte er Geschenke bereit, so sehr zierte er sich oft, den Preis für die Tapezierung auszurechnen. Aber Christine hatte zwei Männer in der
Wohnung, und solange Türmler und der Tapezierer über die Qualität und die Kostenunterschiede debattierten, fühlte sie sich wohl. Auch in ihrer Kindheit hatte sie immer mehrere Männer um sich gehabt. Und meistens Männer, die etwas für sie taten. Mit ihr spazierengehen, ihr einen Schlecker kaufen, sie «entführen», wie ihre Mutter das nannte, aber auch gerne zuließ. Auch mit dem einen, der ein Motorrad hatte mit einer Kiste daneben, die mitfuhr, der Beiwagen, lang und tief wie ein Sarg. Christine wurde von ihrer Mutter hineingelegt, der Mann fuhr los, und sie schrie. Erst nach einer Weile merkte sie, daß sie noch lebte. Dann erzählte der Mann ihr etwas von den «Heimkehrern». «Die Heimkehrer! Die Heimkehrer sind da!» rief er auf dem Weg zum Schwimmbad. Dort verkaufte er Eis und Schokolade. «Die Heimkehrer sind da!» rief er, als er sie wieder zu ihrer Mutter zurückbrachte. Dann wurde in einem Gasthaus gefeiert. Immer wieder trafen damals «Heimkehrer» ein, und immer betrunkener lallten die Patrioten. Türmler und der Tapezierer, nüchtern, im Gespräch, verhandelten über Preise. Die Auswahl traf Türmler, das Angebot machte der Tapezierer, und Christine mußte nur bezahlen. Seit sie über Geld en masse, wie ihr vorkam, verfügte, warf sie mit diesem Geld herum. Was sollte sie denn sonst damit tun? Kaufen konnte man sich einen Menschen leider nicht. Und was man in die Wohnung investiert, das bleibt. Sie wußte nicht, wie sehr sie diese Wohnung noch hassen würde. «Teppichboden! Wirklich! So ein Blödsinn! Da ist es besser, du gibst das Geld mir!» rief Anton Leitl, als er das Projekt sah. Aber Christine wollte
gutbürgerlich wohnen. Es sollte sich jeder, der herkam, wohl fühlen. Und sie überlegte, wen sie einladen konnte. Manchmal steckte ein Zettel an der Tür. «Ich war da. Türmler.» Dann läutete Bruno. Er schaute zu, wie sie auf einer Leiter stehend Bücher in die enormen Regale schichtete, die sie bei einem Tischler bestellt hatte, dessen Name ihr im Telefonbuch am besten gefiel: Holzleitner, das konnte nur ein erdnaher, biederer Tischler sein. Und kein tschechischer Name, wie so viele in den Telefonbüchern, die ihr alle angst machten. Sie war nationalsozialistisch erzogen, und unter den Tschechen gab es nun einmal keine guten Menschen. Wer wußte, was sich hinter einem Vlck oder Wotruba verbarg. Ein Politiker hieß Maleta, das hieß auf spanisch «Koffer». Vielleicht ein als Tscheche getarnter Jude. Sie freute sich, als einmal Zigeuner läuteten. Die konnten aus der Hand lesen und verlangten ein bißchen Geld, lächelten mit goldenen Zähnen und beteuerten, daß sie trotz bunter und sauberer Kleidung furchtbar arm waren. Die Leute im Haus trugen meistens sehr feine Kleider. Besonders eine Dame im obersten Stock fiel durch ihre Vornehmheit auf. Sie hatte es immer eilig, so wie Christines Mutter, aber doch nie so eilig, daß nicht Zeit gewesen wäre für ein paar nette Worte. «Sie haben den Schlüssel steckengelassen! Ich heiße Eferdinger! Wir wohnen im dritten Stock!» Schade, daß sie nicht allein wohnt, hatte Christine gedacht, sie ist nicht nur wie meine Mutter, sie hat auch Ähnlichkeit mit meiner ehemals besten Freundin. So gut war diese Freundin gewesen, daß neben ihr keine andere Platz hatte.
Christine entschloß sich, diese Freundin zu besuchen, aber dort wurden Witze gemacht über jüdische Namen: «Silberstein! So haben wir uns in Mexiko eingetragen, mein Freund und ich! Und bei ‹Reiseziel› haben wir ins Hotelbuch geschrieben: Dachau.» Christine wußte nicht, was sie sagen sollte. Lachen konnte sie nicht, es war peinlich. Wie sollte man einer früheren Freundin erklären, daß man jetzt keine Antisemitin mehr sein wollte? Früher war es so leicht gewesen, über Juden zu spotten und sich zugleich ein wenig für sie zu interessieren. Aber die Freundin war, bevor sie zur Austrian Airlines ging, Dienstmädchen bei Juden gewesen. Man nannte das au pair. Sie besorgte das Einkaufen und den Haushalt, und als die jüdische Familie einmal verreiste, bestand für sie der größte Spaß darin, die Milchspeisen in den Eisschrank für Fleisch zu legen und die Würste und Schinken in den für Milchspeisen. Dietlinde war zum Teil gräflicher, zum Teil jüdischer Abstammung. Auch ihre Mutter, nicht nur der Vater, fiel, was die früheren Rassegesetze betraf, unter die Rubrik «Mischling». Der Mann, mit dem die Mutter Dietlindes lange gelebt hatte und dem sie, seit er plötzlich gestorben war, nachtrauerte, war ein amerikanischer Jude gewesen. Wirklich, Christines Vater hatte recht gehabt, als er sagte: Geh nicht nach Wien, du wirst sehen, lauter Juden. Aber nirgends trat ein Jude so auf, daß Christine sofort hätte sehen können: hier also der Teufel. Nun war also das Schlimme, das an ihnen sein mußte, hinter einer ganz normalen Erscheinung versteckt. Christine war froh, daß es die abgrundtief häßliche Frau Fazekas gab, eine Ungarin und wahrscheinlich Jüdin, denn sie hatte lange
Fingernägel, gelb wie die einer schon längst Gestorbenen, sie trug ihr Kraushaar offen bis zu den Hüften, lachte schallend laut zwischen ihren Redeschwällen, hatte eine helle Schicht Make-up auf dem Gesicht, das trotzdem viele große Poren zeigte. Etwas so Häßliches war ihr noch nie begegnet, und weil Christine dachte, die Frau Fazekas mußte Jüdin sein, benahm sie sich zu ihr immer besonders freundlich. Nachher schüttelte sie sich innerlich. Aber das war eben ihr Christentum, gewisse Abneigungen und Regungen zu überwinden. Und sie kam sich ein wenig vor wie die stets opferbereiten Klausuranwältinnen für Gut und Böse. Sie hatte Frau Fazekas in ihrer ersten Stelle kennengelernt. Christine unterwarf sich der Hierarchie im Büro, als handle es sich um eine Kirche. Denn der Bürovorsteher hatte ihr, ohne es zu wissen, einmal das Leben gerettet. Als Christine nah daran war, sich wegen eines Streits mit ihrer Mutter und einer ihrer Schwestern umzubringen, rief sie in dem Büro an, ob über den Sommer vielleicht eine Stelle frei sei. «Sekretärinnen gehen oft auf Urlaub», sagte sie, «habe ich mir gedacht.» «Ja, ja, das ist schon richtig», sagte der ferne zukünftige Chef. «Was ist? Können Sie maschineschreiben?» «Ja!» «Dann kommen Sie morgen!» Dankbar packte Christine damals ihre Schreibmaschine ein. Mit einem Koffer und der Maschine fuhr sie nach Wien, und sie meldete sich im Büro bereits am nächsten Tag, kaufte in der Mittagspause eine hübsche Bluse. Gott sei Dank gab es im ersten Bezirk diese indischen Sachen,
und die Vermieterin erklärte ihr, daß früher viele jüdische Geschäfte hier gewesen seien. «Drüben ist die Leopoldstadt. Und da bei uns war das, wo man früher gesagt hat: Fetzenviertel. Die Juden, die hier gewesen sind, haben vor allem Stoffe verkauft.» Der Chef in diesem Büro war kein Jude, sondern Aristokrat. Christine verehrte ihn. Zugleich überkam sie ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl. Aristokrat kann man nicht werden, sosehr man sich anstrengt. Jetzt hatten «lauter Juden» ihr Buch gelobt, und ihr Verleger war ein Halbjude, viele waren Vierteljuden, lauter halbe, Viertel- und kaum jemals ganze Menschen standen ihr gegenüber. Der Vater redete nichts mit ihr, wenn sie heimkam, und es war, als müßte sie, weil sie doch alles, was sie dachte, zugleich auch vor sich geschrieben sah, das Wort «Buch» in Anführungszeichen setzen. Juden gab es. «Bücher» gab es nicht. Der Vater jedenfalls tat so, und gerade ihm, wenn nicht auch der Mutter, hatte sie diese Freude machen wollen. «Weißt du, der Papa hat Angst.» «Wovor?» «Um dich hat er soviel Angst. Um dich.» Erst viel später saß Klari bei ihr, die Adoptivtochter eines Ehepaars, das schon, als Klari noch ein Kind war, sehr alt war. Die Mutter watschelte daher, der Vater lag immer im Bett, mit einer schwarzen Wollhaube, und er las Kriminalromane. Klari hatte Christine, als sie beide noch sehr jung waren, ein Buch aus der Bibliothek ihres Stiefvaters gegeben. Es handelte von einem Lehrbuben, der seinen Mit-Lehrbuben verführen wollte. «Frauen stinken», stand im Buch, sagte der Bub,
«probier es doch mit mir! Mit Männern ist alles einfacher! Man wäscht sich nachher und kriegt keine Kinder.» «Mein Stiefvater war Todesschütze in Mauthausen», sagte Klari. «Ich habe es erst sehr spät erfahren.» Kriminalromane, im Bett gelegen, die ganze Nachkriegszeit nie mehr aufgestanden, so erschöpft muß er nach 1945 gewesen sein. Und Christine erinnerte sich noch, wie er erbost einmal in der Tür gestanden war: «Die Klari ist nicht daheim und sie geht mit euch heute nicht ins Lager!» Sehr schön hatte er geschimpft. Hochdeutsch. Da wirkte es am besten. Aber Christine fiel auf, daß er statt Lager «Loger» sagte, und überhaupt hatte er, außer daß er ein schwarzes Käppchen trug, eine komische Aussprache. Christine war damals zehn, und sie mußte ihre mitgebrachten Freundinnen trösten. Dann marschierten sie über die Stiege hinunter und gingen ohne Klari aus der Stadt hinaus, zu dem Baum, in dem sie ein Lager gebaut hatten mit Küche, Schlafzimmer, Vorzimmer und Wohnzimmer. Klari kam jetzt, weil Christine berühmt war, angerückt mit einem Tonband. «Geh, bitte, erzähl mir etwas. Lach nicht, wenn ich dich frag. Ich brauche ein Gespräch mit dir für meine Sendung!» «Reden wir Dialekt oder Hochdeutsch?» «Hochdeutsch wäre, glaube ich, besser.» «Siezen wir uns oder sagen wir uns du?» «Ich weiß nicht.» Klari war auch ziemlich ratlos. «Oder sagen wir: beides?» Sagen wir, sagen wir … Da war sie wieder, die alte
Kindheit. Nur, leider, Christine war jetzt berühmt. Und Klari nicht. Aber auf dem Weg dazu. Denn die Nachrichten über die immer erfolgreicher werdende Christine Leitenmeier hatten Klara Oberholzer dazu bewogen, ebenfalls etwas zumindest in Berühmten-Nähe zu versuchen. «Das muß ich dir ganz ehrlich sagen, daß ich deinen Lebensweg verfolgt habe und mir gedacht habe: Warum sie? Warum passiert das mir nicht? Ich werde jetzt wahrscheinlich auch ein Buch schreiben. Aber vorher muß ich mich von meinem Mann scheiden lassen.»
9 Herr
von Freudenau, der Christine irgendwie bekannt vorkam, so wie alle Männer ihr in gewisser Weise ein wenig bekannt vorkamen, zeigte auf die hohe Tür hinter Herrn Albertonis Arbeitssessel und sagte: «Wenn Sie, bitte, noch signieren kommen. Wir haben schon alles hergerichtet.» Sie mußte sich im anderen Zimmer an einen Tisch setzen, auf dem zwei Stapel Bücher standen. So hoch waren die Stapel, daß sie nicht sehen konnte, wie Herr von Freudenau immer neue Stapel von Büchern herübertrug und sie dort hintat, wo ein Stapel gerade kleiner geworden war. Er schnitt die Plastikfolie auf, in die jedes Buch eingeschweißt war, an einer Naht geschlossen, durchsichtiges Plastik, das sie lieber nie gesehen hätte. Sie hatte gebeten: «Bitte, mein Buch nicht einschweißen.» Aber Herr Albertoni hatte ihr erklärt, daß das Einschweißen von Büchern notwendig war. Wenn man die Bücher in die Buchhandlungen lieferte, wurden sie auf diese Weise nicht schmutzig, und es konnte auch nicht jeder Dahergelaufene in einer Buchhandlung ein Buch aufschlagen und darin ein wenig lesen, sondern Buchhändler fragten nur Kunden, die ihres Vertrauens würdig waren, ob sie die Einschweißung aufmachen sollten. Damit ersparten sich alle viel Ärger.
Es handelte sich hier eindeutig um Herrn Albertonis Bücher, nicht um ihre, und so viele Unterschriften hintereinander hatte sie noch nie in ihrem Leben geben müssen. Bei jeder kam ihr vor, daß sie etwas unterzeichnete, was gelogen war. Sie wußte auch nicht, daß ein Buch, einmal geschrieben, so viel Arbeit machen würde. «Wie viele sind denn das?» «Nur zweihundert.» «Und für wen?» «Wir verschicken sie an gute Buchhändler und an Freunde des Verlags.» Dann bekam sie von Herrn von Freudenau einen Brief. Sehr geehrte …! Sie werden am 1. 2. und am 3. 2. dort, am 21. 3. in … und am 24. 3. bei … lesen. «Bitte, Albertoni», flehte sie, «ich weiß nicht, ob ich lesen möchte.» «Der Freudenau hat sich nur ungeschickt ausgedrückt. Weißt du, er ist ein Trottel. Du liest natürlich nur dort, wo es dir wirklich Spaß macht.» Herr von Freudenau war «der Vertrieb». Romane vertreiben. «Ich möchte aber überhaupt nicht lesen!» «Du mußt lesen», sagte Herr Albertoni. «Es ist üblich. Die Buchhändler erwarten es. Du mußt bedenken, wenn ein Buchhändler weiß, daß du bei ihm lesen wirst, bestellt er eine Partie mehr.» «Was ist eine Partie?» «Eine Partie», sagte Herr Albertoni, «sind zehn Stück. Manche Buchhändler bestellen gleich zehn Partien! Andere nur eine halbe! Und den Unterschied macht, ob man bei ihm liest oder nicht.» Sie fühlte sich verpflichtet, nach allem, was die
Korrektur der Druckfahnen gekostet hatte, Herrn Albertoni das Geschäft nicht zu verderben. Schließlich war sie freie Schriftstellerin und mußte von den Einkünften leben, wie er. Schnurr fragte, ob seine Freundin mit Christine ein Interview machen dürfe. Die Redakteurin habe seine Freundin schon gewarnt, sie müsse bei der Leitenmeier aufpassen, die sei doppelbödig. Christine erfuhr auch, daß sie «schillerte». Eine «schillernde» Person. Und daß sie mit einem Schauspieler lebte, mit einem Regisseur, mit einem Kameramann, mit einem Journalisten, sogar mit einem Psychiater. Sie hatte auch Verhältnisse mit Leuten, die sie gar nicht kannte, und sie sei süchtig nach Tabletten und Alkohol, auch Rauschgift. Wer sie im Fernsehen gesehen hatte, wußte, daß Christine Leitenmeier vor allem nett war, lieb und freundlich, sogar zu Späßen aufgelegt. Wer könnte je vergessen, wie Zillinger sie fragte: «Und Sie? Warum heiraten Sie nicht?» Christine keck in die Kamera: «Mich will keiner.» Hinter dem Kameraauge saß nämlich der Türmler, aber es fühlten sich so viele Österreicher und Deutsche von der Aussage angesprochen, daß es Liebesbriefe und Heiratsanträge schneite. Türmler war nicht gleich aufgesprungen, hinter der Kamera, o ja! ich will dich!, sondern blieb sitzen hinterm dokumentierenden Auge und drehte weiter. Und nun sollte Christine nach Linz fahren, ausgerechnet in die Stadt, wo ein gewisser Rudi wohnte. Der kam nicht zur Lesung, aber Seibert aus dem
Gymnasium war da, und Christine las nur für ihn, weil er Rudi alles erzählen würde. Zum Geburtstag bekam sie viele Briefe, unter anderem eine Einladung von einem Herrn, den sie nicht näher kannte, der einmal mit einer ihrer Tanten zweiten Grades verheiratet gewesen war, und er schrieb: «Liebe Christine! Zu Deinem Geburtstag wünsche ich Dir das Allerbeste. Ich möchte Dir eine kleine Freude bereiten und Dich bitten, zu mir zu kommen. Meine Tochter, Du und ich, wir könnten ja Deinen Geburtstag gemeinsam feiern.» Der gar nicht blutsverwandte und durch Scheidung sehr entfernte Onkel hatte Christine, obwohl sie seit Jahren in Wien lebte, noch nie kontaktiert. Aber das Fernsehen wirkte Wunder. Es meldeten sich jetzt viele Leute, die jahrelang so getan hatten, als brauchten sie Christine nicht. Andere, die immer um sie gewesen waren, traten einige Schritte zurück. Sie riefen nur noch selten oder gar nicht an. Die Welt stand kopf, soviel war klar. Abweisende wurden freundlicher, sogar der Wirt an der Ecke, früher mürrisch, hofierte sie nun. «Viele werden jetzt etwas von dir wollen», sagte Herr Albertoni, «und es werden so manche versuchen, dich aus dem Verlag zu holen und dich mir zu entreißen. Wenn es jemand versucht, dann erzählst du es mir!» «Leitenmeier! Heb dein Telefon ab, wenn du daheim bist! Leg dir eine Geheimnummer zu! Das geht nicht, daß du dein Telefon einfach nicht abhebst.» «Aber es rufen so viele Leute an, die mir sagen, daß sie schreiben und ob ich ihnen irgendwie helfen kann.»
«Ich will, daß du jetzt mit dem Fotografen einer sehr bekannten Illustrierten essen gehst.» «Kann ich nicht! Ich bin mit einer Freundin verabredet.» «Die Illustrierte hat eine hohe Auflage!» «Ich habe da einen Brief bekommen», sagte Christine, «von einem literarischen Agenten mit ungarischem Namen. Er schreibt, der Zillinger hat ihm von mir erzählt, und er möchte mich vertreten.» «Um Gottes willen. Hast du ihm schon geantwortet?» «Nein.» «Dann gehen wir heute abend essen. Um halb sieben Uhr hole ich dich ab.» «Das geht nicht! Ich bin mit dem Walter Slavik verabredet.» «Du rufst den Slavik an und sagst ihm, daß du heute nicht kannst.» Slavik sagte, sie solle Herrn Albertoni anrufen und ihm sagen, sie könne nicht mit ihm essen gehen. Albertoni sagte, sie sollte Slavik sagen, er solle mitkommen. Slavik ließ ausrichten, er würde zwar nicht gern, aber doch mit ihm und der Christine essen gehen. Dann saßen sie zu dritt an einem viel zu großen Tisch im Restaurant «Wegenstein» in der Nußdorferstraße. Albertoni an einem Ende des Tisches, Slavik am anderen. «Zeigen Sie mir den Brief», sagte Slavik, «der Sie so sehr aufgeregt hat, daß Sie ihn dem Fräulein Leitenmeier gleich wegnehmen mußten!» Albertoni gab das Schriftstück nur widerwillig her. Slavik las. «Was wollen Sie? Das ist ein ganz normaler Brief von einem ganz normalen Agenten. Das Fräulein Leitenmeier
wird ja oder nein sagen, und es bleibt ihr überlassen, ob sie sich in Zukunft einen Agenten nimmt oder nicht.» «Sehen Sie nicht, daß mein vermeintlicher Freund Zillinger das angezettelt hat? Und daß es gegen mich gerichtet ist?» «Warum soll Ihr Freund Zillinger seine Kollegin Leitenmeier nicht dem Agenten empfehlen, der ihn selbst vertritt?» «Zillinger ist mir in den Rücken gefallen!» «Wieso, bitte?» «Weil die Leitenmeier keinen Agenten braucht!» «Das wird sie entscheiden! Ich finde, Sie machen viel zuviel Wetter um den Brief. Geben Sie ihn dem Fräulein Leitenmeier zurück.» «Nein!» «Der Brief gehört ihr!» «Sehen Sie nicht, daß das alles ein Komplott gegen mich ist! Ich brauche den Brief als Beweis!» «Ich hoffe, Christine», sagte Slavik, «du kämpfst jetzt darum, daß du von Herrn Albertoni den Brief, der ausschließlich an dich gerichtet ist, zurückerhältst.» «Christine?» fragte Herr Albertoni einfühlsam. «Willst du den Brief haben?» «Nein!» rief sie tapfer. «Aber das ist doch kindisch!» sagte Slavik. «Selbstverständlich nimmst du den Brief an dich.» «Das mit Zillinger erschüttert Sie also gar nicht, Meister?» fragte Albertoni. «Mich hat noch nie etwas erschüttert, was vom Zillinger gekommen ist.» «Wie in Ketten!» sagte Herr Albertoni am nächsten Tag, als er bei Christine anrief.
«Der Slavik hat dich nach unserem gemeinsamen Essen wie in Ketten abgeführt! Und du hast dich gar nicht gegen ihn gewehrt!» Daß sie den Brief des Agenten mit dem ungarischen Namen nicht beantwortete, hing bei Christine mit etwas ganz anderem zusammen. Ihre ältere Schwester war einmal mit einem Ungarn verlobt gewesen, und sie war mit diesem Ungarn nach Ascona gefahren. «Sie hat so ein Glück!» rief damals die Mutter. «Er ist nett und er ist sogar reich! Nein, daß meine Kinder so viel Glück haben!» Da läutete schon das Telefon, und eine Dame meldete sich. «Ja!» sagte Christines Mutter. «Ich weiß! Sie sind die Mutter meines zukünftigen Schwiegersohnes! Sie rufen an aus Budapest, nicht wahr? Meine Tochter war ja bei Ihnen, und es hat ihr in Ungarn so gut gefallen! In Ungarn, dort sind Sie ja alle, seid ihr alle so –» Gastfreundlich, hatte die Mutter sagen wollen, aber die Dame fiel ihr in den Satz. Sie sei nicht die erste, sondern die zweite Frau des Herrn Nagy, und seine erste Frau in Budapest kenne sie nicht, noch interessiere sie sich für sie, und es gehe ihr um das Glück ihres Stiefsohns, der dürfe keine Nazitochter heiraten, und schon gar nicht eine, deren Eltern erlaubten, daß sie ganz allein mit dem Stiefsohn, und das ohne Einwilligung seines Vaters und dessen zweiter Frau, kurz, diese Verlobung müsse gelöst werden. «Jesus, na, die hat mich zusammengeschrien», sagte die Mutter damals, und Christines ältere Schwester schenkte dem Ungarn noch eine Schallplatte mit Edith
Piaf, «Je ne regrette rien». Dann ging die Verlobung in die Brüche. Der Ungar hatte geglaubt, Christines Schwester meine ihr Vorleben, und die große Schwester gab zu, daß sie den Ungarn vor allem geliebt hatte, weil er reich war. «Der Nagy will doch nur deine Kurzgeschichten verscherbeln an die Illustrierten!» sagte Albertoni. «Ich hab ohnehin nichts.» «Doch, Christine, du hast Kurzgeschichten. Und wenn nicht, dann wirst du ein paar schreiben. Und dann gibst du mir sie.» «Ich will keine Geschichten schreiben.» «Du mußt! Wir bringen jetzt ein großes Buch mit lauter lustigen Geschichten von dir. An dem sollen die Kritiker sich die Messer stumpf stoßen. Und du schreibst derweil dein eigentliches zweites Buch. Die Kurzgeschichten veröffentlichen wir, um alle zu täuschen!» Da Herr Albertoni das Wort «Verlag» sehr oft aussprach, begann Christine sich für das Verlagswesen zu interessieren. Jolly und Albertoni verschmolzen für sie zu einer einzigen Persönlichkeit. Sie mußte Interviews geben und kam sich dabei vergewaltigt vor, biß aber die Zähne zusammen, weil auch ihr das Wohl des Verlages über alles ging. Herr Albertoni hielt sehr viel von Kritikern. Er legte ihr mit großem Bedauern die Presseartikel hin. «Siehst du. Er lobt dich. Du darfst dich freuen. Aber der hier, der scheint etwas gegen dich zu haben. Kennst du ihn vielleicht persönlich?» Er hatte Zettel bedrucken lassen mit der Bitte, man
möge das Buch besonders freundlich aufnehmen, denn es handle sich um den ersten Versuch einer Autorin, die Fragwürdigkeit der Ehe in sympathischer Weise und dennoch mit scharfem Urteil zu behandeln. «Den kenne ich. Er lobt dich. Weißt du, er ist ein sehr, sehr guter Freund von mir. Und ich habe ihm dein Buch besonders ans Herz gelegt.» «Der hat etwas gegen mich», sagte er und warf einen Zeitungsausschnitt in den Papierkorb. «Der kann dich nicht loben, weil er mich seit Jahren mit Haß verfolgt.» Christine las «Erstling» und «Senkrechtstart». Die Cheflektorin wohnte in einem Reihenhaus im neunzehnten Bezirk. Man ging über schmale Stiegen. In einem Zimmer waren Schinkenfleckerl vorbereitet, in einem zweiten saß auf einem Sofa, bei schummriger Beleuchtung, es brannten nur Kerzen, so als handle es sich um eine geheime Zusammenkunft, ein Musikkritiker. Seine Augen funkelten böse hinter einer Brille. Sein Gesicht war eckig, die Augen winzig und rund. «Sie haben einmal etwas geschrieben, was mich sehr geärgert hat», sagte Christine. «So?» «Ja. Sie haben von einem Konzert berichtet, bei dem eine Sängerin schlecht singt, weil sie alt ist. Und Sie haben geschrieben, daß Sie daraufhin nach Hause gegangen sind und eine Schallplatte auflegten mit der Stimme derselben Sängerin, als sie jung war. Und daß Sie die junge Stimme wesentlich besser fanden.» «Es war aber genauso! Warum soll ich nicht die Wahrheit schreiben?»
«Weil man sie auch anders schreiben kann.» «Ich habe nur die Wahrheit geschrieben.» «Finden Sie nicht auch, daß so etwas unmöglich ist?» fragte Christine eine neben dem Musikkritiker sitzende Dame. «Ja. Ich habe es gelesen und genauso unmöglich gefunden wie Sie», sagte die Frau. «Und ich habe es ihm auch gesagt. Noch bevor es in Druck ging. Der Herr ist mein Mann.» «Oh, Verzeihung.» «Es gibt nichts zu verzeihen.» Um zu den Schinkenfleckerln zu kommen, mußte man an Damen vorbei, die wie Herren aussahen, und an Herren, die sich wie Damen benahmen. Christine konnte Herrn Albertoni nirgends finden, so verabschiedete sie sich bald. «Ich habe dir etwas Erfreuliches mitzuteilen», sagte Herr Albertoni am Telefon. «Doris Schwind von der Süddeutschen Zeitung möchte mit dir ein Interview machen.» Christine ging ins chinesische Restaurant, setzte sich an einen Tisch und wartete auf «die Zischn», wie Walter gewarnt hatte. «Paß auf, das ist eine Zischn!» Eine sehr nette Frau kam an ihren Tisch, stellte ihre Handtasche drauf, zog ihren Mantel aus, nahm Kugelschreiber und Papier aus der Tasche, fragte sie viel, schrieb etliches auf, und Christine fühlte sich so angenehm wie bei einer Prüfung, bei der es egal ist, ob man etwas gelernt hat oder nicht. Man sagt einfach, was man denkt. Oder was man glaubt. Oder was man reden
will, denn die Prüferin weiß ja nicht, ob man etwas verschweigt oder nicht, sie ist ja den Stoff nicht durchgegangen. Christine muß nur Auskunft geben, ihr Gesicht zeigen und ihre Stimme spenden für ein kleines Tonbandgerät. «Sie haben ein gutes Buch geschrieben», sagte die blonde Frau. Christine begann zu weinen. «Ja, was ist denn?» «Es geht mir so schlecht.» «Was haben Sie denn?» «Depressionen!» Wenigstens wird sie nicht streng sein, dachte Christine. Das kann für das Buch und für Herrn Albertoni nur gut sein, wenn ich mich gebe, wie ich bin. Die Frau wird sehen: hier Buch, hier, hingegen, ich. Dann hat sie eine interessante Geschichte. Auf einmal wurde sie neugierig auf das, was die Frau schreiben würde. Wie sie wirklich war, bekam sie ja von einem Journalisten am besten dadurch heraus, daß sie alles erzählte, was ihr gerade einfiel, und dann konnte sie lesen, wie ein Journalist das sah. «Ich möchte mich am liebsten umbringen», sagte sie. «Ich bin so krank. Ich möchte nicht mehr schreiben.» «Schauen Sie, wenn man gerne schreibt, schreibt man nicht gut. Ich habe einen Kollegen, der schreibt furchtbar gern. Aber er bringt es nicht weit. Es macht ihm nur eine wirklich große Freude.» «Mir früher auch.» «Na, sehen Sie. Und Sie, Sie können jetzt schreiben! Und keiner, der es wirklich kann, schreibt gern!» Das Wort SCHREIBEN begleitete ihr Leben jetzt schon seit Monaten. Sie hörte es scheppern wie eine
Kassa, wie in einer Kassa, eine Registrierkasse, und es gab nur dieses Wort, sie war wie in einer Walze, in der etwas durchgedreht wurde, es gab dieses Wort, «schreiben», aber sie gab es nicht mehr. Es ging nicht um sie, wie sie da saß und essen und reden wollte. Es ging ums Schreiben! So als hätte sie das nicht gewußt, die ganze Zeit. Sie würde nie mehr etwas schreiben. Die Besen tanzten. Ein Buch in Herrn Albertonis weichen Händen, das immer mehr wurde und sich vermehrte zu Hunderten und Tausenden. Die blonde Frau hatte so ein Buch auf den Tisch gelegt, dort war Christine drauf, wie sie an dem Fenster in der Wohnung der Botschafterstochter lehnte. Die Frau hatte sie in ihrer Handtasche gehabt, und jetzt lag sie neben einem Teller. Sie wäre gern aufgesprungen und durch die verregnete Gasse gelaufen, irgendwohin, aber dieses Buch konnte ihr schon an der nächsten Ecke wieder entgegenfliegen, aus der Rocktasche von irgend jemandem, der es zufällig gekauft hatte. Das ist verrückt, dachte sie, jeder Autor freut sich, undankbar wäre es außerdem Herrn Albertoni gegenüber. Ich bin jemand, für den der ganze Verlag viel tut. Albertoni hat mein Leben gerettet, er hat bewirkt, daß ich für eine Journalistin befragenswert geworden bin. «Geht es Ihnen schon besser?» Christine hatte die ganze Zeit die Fragen der Frau beantwortet. Sie fragte nur kurze Sachen und leichte. Sie schrieb etwas auf, dann schaute sie freundlich, fragte wieder etwas ganz Leichtes und schrieb wieder mit. Christine hätte sie gern gebeten, etwas Schwereres zu fragen, damit sie besser nachdenken konnte. Die Fragen
waren alle so einfach, daß sie wußte, das habe ich schon oft erzählt, das muß ich irgendwie neu erzählen, sonst glaubt die Frau, ich lerne die Interviews auswendig, die bis jetzt erschienen sind, oder die Leute glauben, Journalisten schreiben voneinander ab. Was schreibt sie, dachte Christine, als die Frau sehr lange schrieb und nichts sagte. Vielleicht ein eigenes Tagebuch! Die Frau war auf einmal so entspannt, und es fiel ihr so viel ein. Sie schrieb wahrscheinlich schon den Artikel. Christine wollte sie nicht stören. Sie bestellte sich einen Schnaps und dachte: Wenn man wüßte, was die immer schreiben! Das ist so unfair. Selbst haben sie alles gelesen, was man geschrieben hat, und dann zeigen sie nicht her, was sie veröffentlichen werden. Sie schaute, um zu sehen, ob Doris Schwind sie vielleicht zeichnete. Aber sie schrieb und schrieb. Sie war ungerecht. Sie hätte eben dieses Buch nicht schreiben dürfen! Die Frau saß ja nicht ihretwegen da, sondern wegen diesem verdammten Buch. Und sie wird dann gehen und sagen: Danke schön. Aber «Kommen Sie uns einmal besuchen», sagte die Frau. «Ich bin mit dem Ignaz Hutter verbandelt. Das wissen Sie vielleicht.» Das war der, der gegen die Kirche schrieb. Das war aber gut! Das fand Christine großartig! Man mußte nur ein Buch veröffentlichen, und schon fielen einem alle Leute, die man früher nie kennenlernen hätte können, in den Schoß. «Ich würde mich freuen, wirklich», sagte die Frau, «wenn Sie uns einmal besuchen.» Sie hielt, als sie aus dem Lokal gingen, in den
schwarzen Regen hinaus, den Arm so, daß Christine sich in sie einhängen konnte. Sie lehnte sich fast an sie. Bis sie vor einem kleinen Auto in einer Seitengasse standen. Sie umarmte Christine und drückte sie fest. «Das kann ich brauchen», sagte sie, «danke schön.» Warum nahm sie sie nicht gleich mit? Einen Helden mit Tinte und Feder würde sie kennenlernen. Der, von dem Zucki Taborski so geschwärmt hatte. «Der Hutter!» schrie er oft. «Der Hutter! Der ist der einzige in Österreich, der sich wirklich etwas zu sagen traut gegen die Scheißkatholiken, diese Schwerverbrecher!» «Diese Varrrbrechaarr! Dieses Gesindelll!» hört sie Zuckis Stimme noch heute.
10 Verleihung
eines Literaturpreises an Frau Christine Leitenmeier. Türmler setzte sich derweil, obwohl es friert, in einen Park. «Wirklich, du, bitte, da will ich nicht dabeisein. Das ist doch deine Feier.» Dafür saß die Mutter von Christine daneben, und Christine wurde fotografiert. Ein Musiksachverständiger, den sie einmal als Lehrer gehabt hatte – «Singen Sie nicht so falsch! Sie singen so laut! Und dabei auch noch falsch!» –, reichte ihr die Hand, sie fragte ihn, ob er sich an sie erinnere, sie wußte nicht, warum sie das fragte, es ärgerte sie, daß sie dem überhaupt die Hand gab. Aber es wurde auch ein Musikpreis vergeben, und der Sachverständige war der, den einmal ein angeblich Wahnsinniger angeschossen hatte, voll Schrot war der Bauch. Der Kritiker mußte ins Spital. Die Zeitung berichtete, daß es eine Schande sei, wie wenig die Musikkünstler bereit seien, über einen eventuell Tatverdächtigen auszusagen, anscheinend sei man womöglich noch froh, daß dieser Kritiker ermordet hätte werden sollen. Dann sah sie Jürgen. Er wirkte verwegen. Ganz anders als der Türmler, viel kleiner, wendiger, aggressiv, dabei mit Charme, spitzbübisch arrogant, elegant. Freier Journalist, ideal, vierzig Jahre alt, sie wußte nicht, mit wie vielen Komplimenten sie ihn im stillen sofort
bedenken konnte, so froh war sie, daß es unter ihrem Nabel warm wurde. Nur ein Händedruck, ein paar Worte, und sie wußte: der wird mit mir schlafen. Jürgen rauchte Pfeife. Ein bißchen faltig war er, aber das konnten auch Sonnenfalten sein. Die Haut vielleicht nur ein bißchen zu strapaziert. Sportlich-faltig, ein Ereignis, so saß er am nächsten Tag im Café Eiles, und er schmunzelte fast so ansteckend wie manchmal der Walter. Trockener Februar. Sie wurde neugierig. «Für Frauenliteratur habe ich mich eigentlich nie interessiert», sagte er, «aber ich habe Ihr Foto gesehen, und da hab ich das Foto aus einer Redaktion, in der ich zufällig zu tun hatte, einfach mitgenommen.» «Ich kenne da einen, wie soll ich dir bloß sagen», hatte die Hamburger Journalistin angerufen, «der ist also, wie soll ich bloß sagen, mein Freund, nee, nich mein Freund, also, ich meine nur, wenn er dir gefällt oder so, du kannst, ich meine, du kannst, wenn du willst, mit ihm schlafen, da bin ich dir auf keinen Fall böse.» Wenn sie ihn liebt, borgt sie ihn nicht her. Sie liebt ihn eben nicht, sie verkennt Jürgen! Hamburgerinnen haben vielleicht ein ganz anderes Liebesleben. Vielleicht sind sie wie die Eskimos, die geben ja auch als Geschenk ihre Liebsten her, leihweise an den Gast. Und er war ein appetitlicher Journalist, nicht speckig, nicht fettig, nicht aus dem Mund riechend wie die, deren Zeitungsartikeln man leider nicht anmerkte, daß sie aus dem Mund rochen. Um wie vieles anders würden Zeitungsleser die Zeitungen lesen, wenn sie wüßten, wie manche Herren aussahen und rochen. «Ich würde gerne für ‹Petra› über Sie schreiben.»
«‹Petra› lese ich nicht.» «Ich auch nicht. Aber ich schreibe für ‹Petra›.» «Schreiben Sie über mich nichts.» «‹Petra› hat mir den Flug nach Wien bezahlt!» So ein geschmeidiger kleiner Mann mit Pfeife und schwarzem Samtanzug, jugendlich, frecher Haarschnitt, eine Strähne fast im Auge, Silberfäden drin, und dazu die vielen Schmunzelfalten, der selbstironisch lächelnde Mund, die gerade Nase – sie liebte gerade Nasen! Also, der ist eitel, dachte Christine, nur, es machte ja nichts, sie bestellte sofort einen Schnaps, um nicht zu denken: er ist eitel. Und um ihn noch sympathischer zu finden, als er war, denn eigentlich war er ihr nicht wirklich sympathisch. Aber das sind nur die Depressionen, sagte sie sich, ich sehe ja das Gold nie, auch wenn es noch so glänzt. Sobald sie litt, weil Gespräche ihr auf die Nerven gingen, weil jemand ihr widerlich war, jemand dumm war, da trank sie einfach. Jürgen zückte seinen Fotoapparat, so schnell konnte sie gar nicht schauen, da hatte er sie schon viele Male geknipst. Sie fand ihn unmöglich, trank daher weiter. Dann sah sie, daß er Schuppen auf den Schultern hatte, und sie schlug ihm vor, einen Spaziergang zu machen. «Eines Tages werde ich ein Sachbuch schreiben», sagte er. «Aber ein ganz freches. Etwas ungeheuer Freches möchte ich schreiben! Weiß nur noch nicht, worüber.» Er habe seinen Beruf satt, die Redaktionen, die Politik, früher sei er Star-Reporter gewesen, Redakteur beim «Spiegel». Sie gingen Richtung erster Bezirk, Donaukanal. Christine zeigte ihm, wo sie früher gewohnt hatte, und sie erzählte ihm, daß ihre Vermieterin einmal
in der Woche die Möwen mit Speiseresten fütterte. Es ärgerte sie dabei, daß sie hochdeutsch redete und nicht österreichisch. Warum kroch sie dem Deutschen in den Mund? Jürgen sagte, er würde ein Fotobuch über Wien machen. Alle alten Gassen, Häuser, Türen, Schilder, Ratten, alles fotografieren. «Ich bin mit einer Wiener Fotografin bekannt. Kennen Sie die?» Er nannte den Namen. «Sie ist mit der Prominenz von Wien befreundet. Man trifft unheimlich interessante Typen bei ihr. Sie hat von Wien schon so viele Fotos gemacht! Jetzt steht sie da mit den Bildern, weil kein Verlag ihr das Buch abnimmt. Es kostet zuviel. Fotobücher sind ja unheimlich teuer.» Es war saukalt. «Sie lebt mit dem Architekten Schönbauer … den Namen haben Sie sicher schon gehört?» «Nein. Leider.» Sie saßen in einem Restaurant, aßen Kroketten und Rindslungenbraten, tranken Wein, und er erzählte von einer Eurasierin, mit der er ein Kind hatte. «Ich habe eine Frau, die sich nicht von mir scheiden lassen will.» Und von einer anderen Frau hatte er einen Sohn. «Ich bin morgen abend bei Ignaz Hutter eingeladen. Kennen Sie den?» «Die Doris Schwind kenne ich», sagte Christine. «Sie hat mich einmal interviewt.» Jürgen ging telefonieren. Dann kam er zurück, Doris Schwind würde sich freuen, wenn sie mit ihm bei ihr und Hutter abendesse. Bevor Jürgen in ihre Wohnung kam, er wollte sie eine Stunde früher abholen, machte sie sich über den Fußboden her, ganz deutsch, deutsch und sauber, denn
der Fußboden war voller Staub, «Lurch» sagen die Wiener, der sich in langen Fäden ansammelt und Knäuel bildet. Den Staubsauger hatte sie wochenlang nicht angerührt. Sie geriet in Panik. Sogar der Staubsauger war staubig. Jürgen sah sofort den Sessel von daheim, aus dem Schlafzimmer der Großeltern, und er stellte fest: «Es ist kein Wunder, daß ein Volk, das solche Sesselbeine schnitzt, einen Weltkrieg anzetteln mußte.» «Ist der häßlich!» flüsterte Jürgen. «Sie ist eine attraktive Frau. Aber er? Wie kann sie mit einem eigentlich furchtbar häßlichen Mann leben?» «Ja, aber häßliche Männer», begann Christine und wollte gerade etwas Philosophisches auf den attraktiven Jürgen loslassen, schließlich waren sie ja Doris’ und Ignaz Hutters Gäste, da kam Hutter auch schon daher. Er ging langsam eine Wand entlang, den Bauch vorgereckt, er trug nur ein Hemd, kein Sakko, und die stark nach unten gebogene Nase ragte unter einer Brille über den Bauch. Sie dachte ans «Darmol»-Männchen, an diese Karikatur von einem Menschen in alten Illustrierten. Hutter setzte sich dazu, als habe er nichts gehört. Obwohl es doch seine Art war, wie sie später feststellte, daß er schreien hätte müssen: Was? Schiach bin i? Iiii? Aber Jürgen lenkte das Gespräch auf sein berühmtes Buch «Der heilige Geist». Und Christine sah ihm dabei zu. Wie leger er im Fauteuil, nein, Lehnstuhl lehnte, die Beine übergeschlagen, Pfeife im Mund, schwarzes Jackett. Mit so einem Mann müßte man, ja doch, verheiratet sein. Er wirkte gelassen und intelligent und
gebildet, so ruhig und mit einem so zärtlichen Blick schaute er sie an, obwohl Ignaz Hutter und Doris Schwind die gescheitesten Sachen sagten. Sie stellte sich vor, daß sie seine Frau wäre, und also benahm sie sich den ganzen Abend zurückhaltend, damenhaft, und wenn sie ihn anschaute, fuhr ihr Herz zusammen. Er würde morgen wegfliegen, und zwar nach Frankreich, den Sohn besuchen. Im Taxi küßte er sie auf den Mund, und sie wagte es nicht, ihn mit in die Wohnung zu nehmen. Denn sie nahm ihn ernst. Sie verführte nur Männer, die sie nicht ganz ernst nahm. Nachher wußte man ja nie, was man mit ihnen machen sollte. Süße Buben konnte man als Frau nicht so hartherzig nach Hause schicken wie ein Mann seine süßen Mädchen. Das wäre Menschenverachtung. Jürgen, mit dem ich mich wohl fühle, der zu schade ist für einen Spaß, sagte sie sich, der Jürgen, der muß mich verführen. Und dann kam der Brief. Ein wirklicher Brief, kein Traum, und die Buchstaben zerflossen nicht, wenn sie las, es war kein Traum, und Luftpost, in Frankreich aufgegeben. Sie steckte den Brief unter den Pullover, weil sie gerade fürs Fernsehen aufgenommen wurde, eine Mannschaft aus Hamburg, sie trank, redete, dachte an den Brief auf der Haut, unterm Pullover, und: ALS DER MORGEN GRAUTE, HATTE ER GEWEINT stand drin und ER FRAGT SIE, OB SIE MIT IHM UNTER EINER DECKE LIEGEN KÖNNTE. Dann beschrieb er noch, wie die Fotografin herumgegangen war in der Früh und er nicht aufstehen wollte, obwohl er sie werken hörte, ABER ER WOLLTE NOCH EINE STUNDE ODER ZWEI AN SIE DENKEN.
Walter saß bei ihr, sie zeigte ihm den Brief, Walter wollte, mußte unbedingt diesen Brief lesen. «Wenn du behauptest, daß er schön ist! Dann laß ihn mich zumindest lesen!» Danach: «Ja. Das ist ein schöner Brief.» Und dann wollte Walter sie küssen. Sie fragte, wie er das tun könne, was ihm denn einfalle, sie habe ihm doch gerade erzählt, wie verliebt sie sei. «Du hast recht», sagte Walter, und dann hatte sie wieder dieses schlechte Gewissen. Als er wegging, war er ein alter Mann. Eine Woche später saß Christine im Zug, Richtung Hamburg, die Fahrt war lang, sie las «Hans im Glück» von einem gewissen Henrik Pontoppidan. Der konnte schreiben! Sie genierte sich immer mehr für ihr «Buch». In Hamburg redete sie nichts. Jürgen erzählte über Hamburg, das ging ihr auf die Nerven, alles, alles ging ihr auf einmal auf die Nerven. Seine Unterhose war klein und schwarz, keß nannte man so etwas wahrscheinlich. Sie fragte sich, warum die Deutschen immer soviel über Städte reden, soviel über Städte zu sagen haben, und Wien, immer vergleichen sie ihre Städte mit Wien, das kann doch nicht wegen Dresden sein? War an Dresden vielleicht auch der Hitler schuld? Hamburg sei … sie wußte nicht, was er ihr alles sagte, aber schließlich ging sie so geschrumpft, als hätte sie Schläge bekommen. Weil der Hitler ein Österreicher war, weil sie nicht mehr Hochdeutsch konnte, plötzlich, es hatte ihr die Rede verschlagen beim Anblick der schwarzen Elbe, es regnete, mitten am Abend war es finster wie in der Nacht, sie sah keinen einzigen Stern, sie lagen unter
einer Decke, aber sie dachte nur: Ich bin in Deutschland. «Ich könnte zum Beispiel niemals einen Earl Grey trinken», sagte er, nachdem er ihr die vielen Teesorten in der Küche gezeigt hatte. Fotos hingen an einer Wand, mit Stecknadeln befestigt, viele aparte Gesichter von blonden Frauen, sehr, sehr apart, kein Wunder, er war ja attraktiv. Sie ging näher hin, gerade bereit anzuerkennen, daß ein Mann wie er natürlich eine interessante Erscheinung wie dieses möglicherweise immer nur gleiche Mädchen brauchte, gerade bereit, diese Tatsache einzusehen, neidlos, ohne Eifersucht, ohne Minderwertigkeitsgefühl das einfach zu bekennen, merkte sie, daß sie es selber war. Es waren die Bilder, die er in Wien geschossen hatte. «Wie kannst du von diesem Buch schwärmen?» fragte er, nachdem er «Hans im Glück» ein wenig gelesen hatte. «Es ist schlecht übersetzt! Fällt dir das nicht auf?» (Nein, weißt du, weil ich verliebt war, fand ich alles gut, nicht nur das Buch, sondern die ganze Welt. Aber seit du mit knapper Unterhose … du bist doch ein Mann und vierzig. Du könntest doch seriösere Wäsche …) Sie war sehr gehemmt. Sie dachte: Ich rieche nach Rauch. Er erzählte, was für Kleiderstoffe er niemals tragen würde, was für einen Tabak niemals rauchen, was für Lokale niemals aufsuchen, und sie dachte: Ich bin eben für Deutschland nicht geeignet. Deutschland ist unser Vater, und Österreich ist das Dienstmädel, das er nie, obwohl er mit ihm viele Kinder hat, geheiratet hat. «Was ist das bloß?» fragte er mit seinem noch immer charmanten Schmunzeln, direkt herausfordernd sah er sie jetzt an: «Du bist hager, ein richtiges Knochengerüst, du
hast Pickel und eine schlechte Haltung, und ich schlafe wahnsinnig gern mit dir, was kann das bloß sein?» «Das wird die Liebe sein!» sagte sie kühn. Dann, als sie sich über die kleinen Bierflaschen beklagte, bemerkte er: «Ja. In Deutschland ist alles kleiner.» «Wie du damals die Glastür aufgedrückt hast, als du in dieses Café kamst, wie hieß es bloß?» «Eiles.» «Damals warst du souveräner. Mir kommt vor, hier in Hamburg hast du deinen Status verloren.» «Ich kann mich nicht immer besaufen, um charmant zu bleiben», sagte sie leise, sehr leise, ganz ohne Absicht vollkommen leise.
11 Christine fuhr zu Professor Rongel in die Universitätsklinik. Sie brachte ihm ein Plakat aus dem Theater «Die Tribüne» mit dem Text, den er zwei Jahre vorher zu ihrem Theaterstück geschrieben hatte. «Wie geht es Ihnen?» fragte er. «Schlecht.» «Warum schlecht? Wieso? Sie haben doch einen großen Erfolg!» «Ich habe Angst, ich bin nervös, ich habe dauernd Selbstmordgedanken.» «Wollen Sie ein paar Tage bei uns schlafen?» fragte er. Er hatte «bei uns» gesagt. Es klang familiär. «Ich fahre jetzt auf Urlaub. Melden Sie sich nächste Woche bei Herrn Doktor Wolf und Frau Doktor Christian.» Mit Albertoni mußte sie noch nach Hamburg zum «Litera-Trubel». Auf dem Heimflug trafen sie Anton Leitl, er saß im «Airbus». Er schaute zu ihr her, sie zu ihm. Christine fürchtete sich. Gleich würde er sie beschimpfen. Aber Leitl blieb still, und bei der Gepäckausgabe lächelte er sogar. Sie gab ihm die Hand, am nächsten Tag kam er sie besuchen, sie gingen im Burggarten spazieren. Dann packte sie ihren Koffer für die Klinik. Ihre Katze brachte sie zu der Frau, von der sie sie bekommen hatte.
In der Klinik wurde sie in ein Zimmer mit vier Betten geführt. Eine Frau im Nachthemd saß in ihrem Bett. Christine sah Aschenbecher auf den Tischen und fragte, ob sie rauchen dürfe. «Ich bin Nichtraucherin», sagte die Frau. Christine packte ihren Koffer aus. Die Krankenschwester zeigte ihr, wohin sie die Sachen legen konnte. Sie war begierig nach Schlaf. Nach einer Woche Schlaf würde sie vielleicht ein anderer Mensch sein. Aber Anton hatte gesagt, eine Freundin von ihm, die Inge, sei nach einer Schlafkur nur noch weinend dagesessen. Die Krankenschwester nahm ihr das Manikürzeug weg und wollte wissen, ob sie Medikamente mitgebracht habe. Sie durchsuchte Christines Koffer. Sie mußte einen Zettel unterschreiben, daß sie sich in Behandlung begab und mit allen Methoden der Behandlung einverstanden sein würde. Sie las «Elektro-Therapie» und sagte: «Das will ich nicht.» Die Krankenschwester ging hinaus und kam mit der Oberschwester zurück. «Das ist nur eine Formalität», sagte die Oberschwester. «Da müssen Sie keine Angst haben.» Sie legte sich, nachdem sie unterschrieben hatte, ins Bett. Sie war gespannt, was jetzt passieren würde. Schlafkur, das würde so ähnlich sein wie ins Gefrierfach geschoben werden. Die Krankenschwester kam und sagte, sie solle aufstehen, sie würde ein anderes Zimmer bekommen. Dann lag sie in einem kleinen Zimmer, es war wie Hotel und Schiff zugleich, allein, kühl und ruhig. Draußen der Sommer. Die Krankenschwester zeigte ihr einen Apparat, mit dem sie rufen konnte, aber auch Musik hören. Es gab
ein kleines, weißes Kissen, das hing an einem Kabel, und man konnte es unters Ohr legen und auch Radioprogramme einschalten. Eine Ärztin kam mit der Krankenschwester und einer Spritze. Das Gestochenwerden in den Oberschenkel tat weh. Sie schlief ein und dachte noch: vielleicht hilft es. In der Nacht wachte sie davon auf, daß eine blonde Frau sich über sie beugte und wieder stach. Ihre Haare waren kurz, vorne länger und lockig. Was für eine nette Frau, dachte Christine. «Es wird nicht lange weh tun», sagte die Frau. Dann war sie wieder allein, aber der Schenkel tat so weh, daß sie den Pfleger rief. Er schmierte sie mit einer Salbe ein. Er hieß Herr Karl und hatte ein gutmütiges, ruhiges Gesicht. Als ihre drei Tage und Nächte Schlaf vorbei waren, erzählte ihr Karl, daß sein Bruder in Südafrika auf einer Farm lebte und dort einen schwarzen Kater hatte, der viel Fleisch fraß und wild war. Ein Kater wie ein Panther. «Der geht mir ab in Wien! Oft ist er die ganze Nacht fort gewesen. Übrigens, die Ärztin, die damals in der Nacht bei Ihnen war, die hat Ihner Buch g’lesn.» Sie kann nichts dafür, dachte Christine, und Albertoni kann auch nichts dafür, daß ich so krank bin. Sie schrieb ihm einen Brief: «Lieber Friedrich! Bin im Spital, mache eine Schlafkur. Ich bitte Dich, den Titel meines Buchs nie mehr zu erwähnen.» Auch mit Walter wollte sie reinen Tisch machen. «Du bist alt, und das Alter hat Dich entstellt.» Vielleicht stirbt er, wenn er den Brief bekommt, dachte sie. Aber sie wollte nicht mehr von ihm angerufen werden. Sie schrieb an Leitl, fast jeden Tag, und Leitl antwortete, sie solle
sich «bei diesen Schlaumeiern» nicht zu lange aufhalten. Er habe geträumt, daß sie einen Zauberer, der schöne Sachen machte, in einen Hund verwandelt habe. Er schickte ihr ein Foto von sich als kleinem Buben und bat sie, ihm zu schreiben, was sie glaube, woran der kleine Bub gerade denke. Und sie solle bald nach Hamburg kommen, dort habe er das Zimmer für sie, wo sie wohnen und arbeiten könne. Sie las «Krieg und Frieden». Jeden Tag achtzig Seiten, nahm sie sich vor. Sie zwang sich, es zu lesen, schließlich war sie für mehrere Wochen im Spital, sie mußte es können, auch wenn es schwer war. Später las sie je hundert Seiten täglich. Es war sehr spannend und entführte sie nach Rußland. Christine glaubte, alle Menschen zu verstehen, die in dem Roman vorkamen, und litt mit ihnen, hoffte, weinte ihretwegen, und danach war ihr schal. Sie bekam Migräne. Ein blonder Arzt mit Hornbrille stürmte herein. Er nahm schwungvoll einen Sessel und setzte sich drauf. «Ich hab mir gedacht, ich muß Sie anschauen kommen! Die muß ich sehen, hab ich mir gesagt, wie ich gehört habe, daß Sie da sind!» «Ja, ich habe Depressionen. Und Selbstmordgedanken.» «Selbstmord ist bei Ihnen nicht drinnen!» schrie er fast und lachte dynamisch. «Ich habe Angst, ich komme noch auf den Steinhof.» «Sie? Am Steinhof? Den ersten Tag, den Sie drinnen sind, erfahren wir es! Und es wird für Sie immer hier ein Bett frei sein! Und wenn wir Ihnen ein Bett im Chefzimmer geben müssen!» «Der Herr Dozent ist auch schon oft in der Zeitung
gestanden und im Fernsehen gewesen», sagte eine Krankenschwester. «Ja, ich habe Sie einmal gesehen, wie Sie einen Raubüberfall psychologisch fürs Fernsehen erklärt haben. Sie kümmern sich um Gefangene, oder?» «Ja, ich hab eigentlich den Gefängnis-Urlaub propagiert.» Selbstmord. Nicht drin. Er bemitleidete sie nicht, sondern schimpfte. So brauchte sie es. Leider ging er bald und kam nicht mehr. Er erzählte, was für Ärger er mit der Organisation seines Büros hatte. Die Krankenschwester tätschelte ihren Arm und hörte ihm zu. Christine fühlte sich geborgen, es war fast gemütlich. Gern hätte sie ihn gebeten, sein Büro in ihrem Zimmer aufzumachen. Es tat ihr gut, bei etwas dabeisein zu dürfen, ohne daß es um sie selbst ging. «Was lesen Sie denn da? Toller Roman! Sehr toll!» Er stürmte hinaus, wie er hereingestürmt war, und die Schwester sagte: «Na? Ist der lieb? Also mir ist er der liebste! Er ist zu jedem so, nicht nur zu Ihnen.» «Ich habe eine Überraschung für dich», sagte Herr Albertoni. Sie traute ihren Augen nicht, als sie ein Buch sah, auf dem in einer fremden Sprache ein Titel und darüber ihr Name stand. Wieder das Foto, auf dem sie in der Wohnung der Botschafterstochter an einem Fenster lehnte. «Die dänische Ausgabe. Heute gekommen. Ich hoffe, du freust dich.» Er drückte auf den Klingelknopf. «Und jetzt kommt die zweite Überraschung. Wir fliegen nach Kopenhagen. Das Buch wird im Oktober
präsentiert, und unser dänischer Verleger hat einen furchtbar lieben Brief geschrieben, wir sollen kommen. Ich habe mit der Irmi besprochen, daß wir zu viert fahren. Die Irmi, du, der Bua und ich.» Ihr fiel ein, daß Walter einmal gesagt hatte: Merke dir, wenn du eingeladen bist und es ist eine größere Reise, dann hast du Anspruch auf eine Begleitperson. «Ich möchte meine Mutter mitnehmen», sagte sie. «Bitte! Wenn Christine den nicht will, dann bleibe ich zu Hause!» sagte Frau Albertoni. «Ich finde es viel wichtiger, wenn der Bua nach Kopenhagen fliegt.» Aber dann flog Irmi Albertoni doch nach Kopenhagen, und der «Bua» blieb daheim. Frau Leitenmeier rutschte vor der Leiter, die ins Flugzeug führte, aus. Der Sternenhimmel in Schwechat war für sie ein noch größeres Erlebnis als der bevorstehende Flug. Christine wußte nicht, was stärker war, das Mitleid mit ihr oder die peinlichen Gefühle gegenüber den Albertonis. Sie wußte, daß ihre Mutter auf dieses Ehepaar keinen guten Eindruck machen konnte. «Mutti, du bist so lieb, aber du mußt besser aufpassen.» Sie überließ die beiden Albertonis ihrer Reisefreude und fragte sich, ob sie sich nicht doch hin und wieder auf Fritz Albertonis Schoß setzen sollte, damit er sich nicht unnütz vorkam. «Wenn der Papa das sehen könnte!» rief Frau Leitenmeier, als sie mit einem Taxi durchs nächtliche Kopenhagen fuhren. «So schade, daß der Papa nicht da ist!» «Den Papa nehme ich mit nach Paris», sagte Christine.
«Ja, das wird ihn freuen! In Frankreich war er noch nie.» «Du nach Paris?» fragte Herr Albertoni. «Sie hat doch gesagt, sie fährt nicht», sagte seine Frau. «Mit meinem Papa schon. Du kannst ja mitkommen, Irmi. Wir fahren alle nach Paris.» Im holzgetäfelten Antiquariat des dänischen Verlagshauses begann Christines Mutter alle Regale zu durchstöbern. Sie hatte sich das immer gewünscht, einmal in einer Buchhandlung richtig wühlen zu dürfen. «Am liebsten würde ich hier über Nacht bleiben!» sagte sie. Als die Präsentation zu Ende war, hockte sie vor einem Regal im unteren Geschoß. Herr Albertoni warf seiner Frau einen Blick zu. Christine versprach ihrer Mutter, daß sie alle Bücher, die sie in der Hand hielt, mitnehmen dürfe, wenn sie jetzt sofort aufstand und mitkam. «Laß sie. Sie freut sich», sagte Herr Albertoni. Herr Albertoni verzieh Christines Mutter alle Fehltritte, die sie in Dänemark beging. Christine betrank sich, nahm am Morgen Valium, blieb im Dämmerzustand. Auf dem Heimflug las sie im «Kurier», daß die JosefstadtSchauspielerin Sylvia Manas mit dem Auto tödlich verunglückt war, bei Preßbaum. Sie brach in Tränen aus. «Hast du sie gekannt?» fragte die Mutter. «Nein», sagte sie, «ich weine, weil der Slavik gesagt hat, sie verbreitet Heiterkeit.»
12 Der
Huber Loisl, der sich als Regisseur und Maler Wolf Jäger nannte, war über sie gekommen wie ein Wirbelsturm, dem man sich gern entgegenstellt, weil man ohnehin nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hat. Christine wußte alles im voraus, trotzdem war es schön, mit ihm durch Wien zu gehen. Mühlviertel liebt Mühlviertlerin. Ihr gefiel, daß er am Anfang so oft sagte: «Ich liebe meine Frau.» Und: «Du bist, wenn du schreibst, was sie auf der Leinwand ist.» Wenn er sie küßte, hielt sie sich an ihm fest, um nicht umzukippen. Am liebsten wäre sie ihm auf die Stiefelspitzen gestiegen und nicht mehr herunter. Seine Ledertasche, mit dem langen Riemen. Sie sah, als sie ins Restaurant «Glocke» kam, einen schwarzen Lederriemen, der keinen Platz zu haben schien auf einem Sessel, denn der Mann, dem die Tasche gehörte, drehte ihn immer wieder um und hob ihn dann samt Tasche auf einen anderen Stuhl. Die eiserne Halskette, die klirrte. Einen kleinen Hintern hatte er. Zu enge Hosen. «Ich muß sehen, wie du wohnst!» Warum trug er hohe Absätze? Warum wollte er noch größer sein, als er war? Er lief durch alle Zimmer und kam im Vorzimmer wieder heraus. In ihrer Wohnung konnte man rundherum gehen, und fast jeder Mann stellte das sofort
fest. Wolf lief vom Vorzimmer ins erste, dann ins zweite, von dort ins kleine Zimmer, ins Bad, in die Küche und aus der Küche kam er und stand wieder vor Christine. Sie setzten sich auf das Sofa am Fenster im ersten Zimmer. Die Zimmer waren sehr hoch, sie waren eigentlich mehr wie Schachteln, dachte Christine, der Anton Leitl hatte das gesagt, aber an den Toni dachte sie jetzt nicht, und Wolf schaute sie an. Wenn ich so geliebt werde, sagte sie sich, wie er schaut, dann möchte ich diese Liebe annehmen. «Wer ist Toni?» «Welcher Toni?» «Toni!» «Welcher Toni!!??» «Du hältst ihn in der Hand!» sagte er zärtlich. Sie schaute auf das Kaffeehäferl, das ihre Mutter ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr und dem Leitl je ein Häferl überreicht, nach der Fahrt durch den Winternachmittag. Sie hatte gearbeitet und ihren Milchkaffee aus irgendeinem großen Porzellan getrunken. Sie wurde rot, als sie sah, daß dieser Wolf jetzt lachte, stellte das Häferl auf den stummen Diener und freute sich, daß Besuch da war. Sie hatte ohnehin nichts weitergebracht. Und noch dazu ein Besuch, der verliebt war. Sie wollte ihn gerne küssen, aber er hielt ihre Hände, nachdem sie den «Toni» weggestellt hatte, und schaute sie an. Ein bißchen hysterisch kam er ihr vor, und nicht nur ihretwegen schien er so gehetzt zu sein. Er war vielleicht sein ganzes Leben lang immer nur mit langen
Schritten gelaufen. Gut, daß er saß. Sie wußte nicht, was er dachte, spürte aber, daß er sich mit ihr beschäftigte. Sein Blick tat gut. Sie hielt sich oft für verrückt, und wenn ein Verrückter kam, spürte sie, wie normal sie war. Er küßte sie, schob seine Hand in ihr Kleid. Gut, daß er heute gekommen ist, dachte sie, heute ist mein Busen größer. Als er den Reißverschluß am Rücken aufzog, hätte sie ihn gern ins hintere Zimmer gebeten, aber er sagte, er müsse gleich wieder weg. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie an. LASS MICH DEIN WEISSER ALTER BETROGENER SEIN stand in dem Brief, den er ihr geschrieben hatte, und dann rief er an. Und wenn er ihr auch vor ein paar Jahren im Fernsehen wie ein besoffener Trottel vorgekommen war, wollte sie lieben und saugte Staub, zog sich um, badete, zog sich wieder um, und als er kam, kniete er vor ihr. Er preßte sein Gesicht an ihren Bauch, und er war traurig. Aber vielleicht hatte er zu Hause auch nur Streit gehabt. Ob sie das nicht hätte sagen sollen, am Telefon: «Ja. Und ich möchte mit dir schlafen.» Er konnte nicht wissen, wieviel das für sie bedeutete, seit Rafael, seit allen. Daß sie noch immer dazu bereit war, und zwar sofort. Damit man sah, ob etwas dahinterlag. So wie ein Mann nachher ist, das zählt, hatte ihre Mutter gesagt. Nachher sagte er, er sei eingeladen. «Es ist offen! Es ist offen!» rief er, aber sie tat, als höre sie ihn nicht, drückte immer fester auf die Klingel, wollte ihn hänseln, ihn ärgern, ihm auch Spaß machen.
«Es war offen!» sagte er böse. Er hielt einen Pinsel und ging über die paar Stufen im Gang hinauf zu seinem Atelier. Er war eben doch schon ein älterer Mann. Sie war heraufgelaufen, über die Stiegen gestürmt. Atemlos war sie, strahlen wollte sie, und die Klingel sollte so strahlen wie sie. Aber er verstand keinen Spaß, den jedenfalls nicht. Als er sie küßte, störten sie ihre neuen Jackettkronen, er spielte ihr ein Lied vor, das er für seine Frau komponiert und auf Schallplatte aufgenommen hatte. Sie lief zu ihm hin, spiel es nicht, bitte, spiel es nicht, wollte sie sagen, deine Frau, diese Frau, geht mich nichts an. Aber da prallte ihr Jackettkronenpaar auf seine Oberlippe, es tat weh. Sie wußte nicht, ob ihm mehr als ihr. Beim Nachhausefahren parkte sie ihr Auto so schlecht, daß sie an ein anderes stieß. Ihr Psychiater hatte gesagt, er wäre von ihren Gedichten nicht begeistert. Lieber wäre ihr gewesen, er hätte gesagt: sie sind schlecht. Wolf sah eine rote Rolle mit Marken in Christines Schreibtischlade. Expreß-Aufkleber. «Ach Gott. Was für eine Einsamkeit.» «Wieso?» «Naja, das.» Er nahm die Rolle. «Ich schenke sie dir.» «Nein. Das mußt du haben. Du mußt schreiben. Und du mußt – allein sein.» Aber Christine wollte nicht allein bleiben. Sie bettelte, sie flehte ihn an. «Nein.»
«Laß mich Tür an Tür mit dir wohnen! Deine Frau kann kommen, sooft sie will! Gib mir die Wohnung, die frei wird gegenüber deinem Atelier. Sag deiner Frau, daß ich in deiner Nähe sein will! Bitte, sag ihr, daß ich mich bescheide! Sag ihr, daß ich sie verehre und nur in deiner Nähe sein will!» «Nein.» Sie weint. Aber er läßt sich nicht erweichen. Er geht weg, fährt weg, fliegt weg, reist immer wieder ab. Und allein. Einsamkeit. Warum? Warum hatte sie nicht gesagt: Ich will allein sein. Wer allein sein will, ist nicht einsam! Sie wollte ab siebzehn nur noch allein sein! In einem weiß gekalkten Zimmer. Ein Bett steht drin, karg. Ein Sessel, gewöhnliches Holz. Schmucklos. Kein Bild an der Wand. Ein Kofferradio. Offenes kleines Fenster. Sie sitzt auf dem Sessel, hält ein Buch. Es ist leer. Sie schreibt hinein. Und das Radio spielt. So stellte sie sich mit siebzehn die Freiheit fern von ihren Eltern vor. Und hin und wieder würde sie aus diesem reinen Zimmer hinausgehen in die große Stadt. Er diktierte ihr Formulierungen für eine Kurzgeschichte, bei der sie nicht weiterkam, weil sie sich für den Inhalt so schämte, er war wahr, und es war peinlich zu erzählen. Sie hatte einmal ein Loblied gesungen auf den Faschismus. In der Schule. Recht brav gewesen, gelehrig. Jetzt mußte sie sich selbst parodieren, das tat weh. Er half. Ihm fielen viele witzige Sachen ein. Sie gingen ins Theater, sie gingen nicht spazieren, er malte, er inszenierte, er hatte für die Liebe keine Zeit. Sie hängte sich an den riesigen Stoffhund, den sie ihm
gekauft hatte. Der Wuffi. Den hielt sie umarmt, damit sie einschlafen konnte hinter dem Vorhang, wo sein Bett stand, und er kam manchmal nachschauen, ob sie schlief. Sie behielt die Augen zu, damit er ohne schlechtes Gewissen mit den Schauspielerinnen proben konnte. Das Leben mit ihm war so aufregend, einmal war er ganz jung, dann wieder alter Mann. «In der Malerei bist du nicht sehr begabt», sagte Wolf und zeigte ihr alle seine Gemälde, lobte sich selbst bei jedem, und ihr machte es fast nichts, daß sie nicht sehr begabt war. «Ich liebe dich, und du wirst meine Frau.» «Hallo? Hallo? Ich habe dich nicht verstanden!» «Ich liebe dich! Und du wirst meine Frau!» Aber sie hatte schon zwei Valium zuviel genommen und konnte sich nur verhört haben. Am nächsten Tag rief er wieder an: «Du Dumme. Hast fünfmal gefragt: Was? Ich liebe dich, und du wirst meine Frau, habe ich gesagt!» «Wirklich?» «Ja!!!» Stolz ging sie dem nächsten Reporter entgegen. Ihr schönstes Gesicht zeigte sie, ihr liebstes Lächeln. Jetzt konnte sie auch so leicht lächeln wie jede andere Frau. Aber dann rief er nicht an. Und nach ein paar Tagen schrie sie ins Telefon: «Weil du eine Reise machst, muß ich glauben, daß du gestorben bist?» «Ich war nur bei einer Hochzeit!» «Kann man von Hochzeiten nicht anrufen, wenn sie drei Tage dauern?»
«Du verlierst mich, wenn du mich anschreist!» Sie legte auf, sie wollte etwas Böses tun, sie hatte gedacht, eine Verlobte ruft man jeden Tag an oder telegraphiert, oder schickt einen Brief. Es war doch früher jeden Tag ein Expreß-Liebesbrief gekommen. Er rief wieder an und spielte ihr die Himmelsmusik vor. «Diese Platte kenne ich», sagte sie. Die hatte sie ihm doch geschenkt, diese ganze Fiedlerei! So verlierst du mich, hatte er schon einmal gedroht, als sie auflegte. Er bekam Grippe, er litt unter furchtbaren Kopfschmerzen, seine Frau mußte ihn pflegen. Dann kam sie im Flugzeug nach Wien. Sie erzählte von der großen Schauspieler- und Dichter-Dynastie, aus der sie stammte. Und sie redete Christine kurz und klein. Sie lächelte so bezaubernd. Aus ihren fünfundfünfzig Jahren machte sie Güte, Frohsinn und Weisheit. Sie bat Christine, ihr auf dem Schwarzenbergplatz den Weg zu zeigen. Sie war so lange nicht in Wien gewesen. Und gleich erzählte sie wieder von ihrem Vater, der wunderbar gedichtet hatte. Als sie Christines Wohnung betrat, legte sie das Cape ab, und dann saß ein Weltstar auf dem bescheidenen Bett vom «Möbel-Leiner». Die IKEA-Sachen standen herum, das bißchen Bauernbiedermeier. Die paar Bilder, die ihr Wolf geschenkt hatte, waren schon abmontiert. Christine gab sie ihr alle mit. Sie trugen die Schätze zu Christines Auto. Das wollte sie alles noch in sein Wiener Atelier bringen, bevor sie wegflog. Dann wehte der Wind zu stark, sie schafften es nicht, sie trugen die Bilder zurück in die Wohnung. Sie fuhr weg, zum Flughafen.
In der Wohnung stand Christine vor den Bildern. Was sollte sie tun? Sie zerreißen? «Unser Lois» stand da, eine Zeichnung, ein Kind. Wir werden ein Kind haben, hatte er gesagt, einen Lois. «Derweil nimmst du den.» Sie sah ihn noch, wie er hereinkam, Stecknadeln im Mund. Und wie er an alle Wände in jedem Zimmer seine Zeichnungen heftete. Als er fertig war, drehte er sich um. «Soll ich sie heruntertun?» «Es schaut jetzt aus wie ein Museum», sagte sie. «Und ich will das nicht, daß du dich hier so … so …», breitmachst fiel ihr nicht ein, «und nie da bist.» «Aber Kind, mein liebes Mühlviertler Rauschkind, ich komme doch oft.» «Ich will aber dich, nicht deine Bilder.» «Ich bin meine Bilder. Den ‹Rosenkavalier› mußt du dir kaufen und oft hören! Wenn du den ‹Rosenkavalier› nicht liebst, können wir nicht miteinander leben.» – «Wenn du den ‹Rosenkavalier› nicht liebst, verlierst du mich», sagte er sogar. Sie hörte den «Rosenkavalier», wenn er nicht da war, und ihr ging die Musik auf die Nerven. «Wenn du mich lieben willst, mußt du den ‹Rosenkavalier› lieben», warnte er.
13 Christines Vater war todkrank. «Stinkt er?» hatte Herr Albertoni gefragt. «Man sagt, daß Krebskranke in ihrer letzten Phase fürchterlich stinken!» «Nein. Mein Vater stinkt nicht.» Sie wollte an der Himmelspforte stehen, wenn Papa kam, und er hätte gefragt: «Ja, Christine? Was machst denn du da?» Dann hätte sie geantwortet: «Damit du nicht allein bist.» Und sie würde mit ihrem Vater über die Wolken gehen. Sie lag im Halbschlaf, und die Gedanken an Linz kreisten in ihrem Kopf. Der Vater hatte Krebs, die Mutter war bei ihm. Sie dachte an ihn, an sie, dachte über ihn nach, über sie, dachte an den bevorstehenden Tod des Vaters, versuchte sich diesen Tod vorzustellen, dachte an Wolf Jäger, an ihren Verleger, an ihr «Berühmtsein», das eine Fessel war, und dann läutete das Telefon. Sie überlegte eine Weile, ob das ihre Mutter sein könnte. Vielleicht war der Vater gestorben. Blitzschnell stand sie auf. Es hatte schon fünfmal oder sogar öfter geläutet. Aber zuerst entschloß sie sich, nur zu horchen. Sie genoß es, daß es läutete. Da will jemand etwas von mir. Da will mich vielleicht jemand, und es kann nicht beruflich sein. Wie schön! Vielleicht ist es Wolf? Nein, das wollte sie gar nicht mehr hoffen, daß er anruft. Er hatte sie doch
betrogen, denn er hatte ja nur mit ihr gespielt. Also, er ist es? Kurzes Verweilen beim Ausmalen, daß es diesmal vielleicht wirklich der ganz besondere Anruf sein könnte, auf den sie ihr Leben lang wartete. Etwas, was sie erlöste. Aber dann: die Mutter! Vielleicht war Papa tot, und das mußte sie erfahren, denn es wäre eine gute Nachricht. Eine große Erleichterung, in mehrfacher Hinsicht. Sie müßte nicht mehr warten auf diesen Tod, sich nichts mehr fragen, nicht mehr zurückdenken, und er müßte nicht mehr leiden. Die ganze Familie würde nicht mehr leiden unter diesem Sterben, das für ihn qualvoll war, für die Verwandten aber auch. Denn keiner ging gern zu ihm, keiner setzte sich wirklich gern an sein Bett. Er war ein schrecklicher Mensch geblieben, auch noch in der Krankheit. Zu ihrem Vater würde es nie einen Weg geben. Er stand irgendwo, sie wußte nicht wo. Und er war so hoffnungslos weit weg von ihr. Sie ging zum Telefon, hob ab und: tü-tü, tü-tü. Telefone haben den Nachteil, daß sie technisch nicht so gebaut sind, daß man weiß, wer angerufen und dann aufgelegt hat. Man kann nicht zurückrufen, selbst wenn man das wollte, und, dringend, jetzt. Sie bereute es, nicht schneller gewesen zu sein. Vielleicht war es doch Wolf? Unzählige Menschen konnten es gewesen sein. Nur, wer? Mitten in ihre Überlegungen hinein machte die Haustor-Gegensprechanlage dieses widerliche Geräusch, das sie von Anfang an irritiert hatte, weil es kaum einen häßlicheren Ton gab, mit dem man von der Straße herauf einen Besuch ankündigen konnte. Sie ärgerte sich mehr über das Geräusch als über die Tatsache, daß jemand «läutete». Als schwirrte eine in Betrieb genommene Baumsäge durchs Zimmer.
Vielleicht war es die Polizei, dachte sie und wußte nicht, warum sie es dachte. Aber eine gewisse Freude lag in dem Gedanken. Polizei! Das würde bedeuten, daß sie wichtig war und unschuldig. Als Kind fürchtete sie Polizisten sehr. Und wann immer sie ein Polizist ansprach, war sie als Kind und auch später froh, gerade dastehen, eine Auskunft geben und ihre Unschuld beweisen zu können. Als sie den Hörer im Vorzimmer abgenommen hatte, hörte sie: «Polizei. Machen Sie, bitte, auf!» Es war wie ein Wirklichkeit gewordener Traum. Was führte die Polizei zu ihr? Es waren wirklich zwei Polizisten. Leichtfüßig stand sie da, fast leichtlebig wirkte sie in einem gelben T-Shirt und mit ihrer Fröhlichkeit. Auf einmal war sie heiter gestimmt. Wegen der Absurdität der Situation und ihrer Komik. Sie, halbnackt, nicht unattraktiv, und zwei fest gekleidete Herren. «Ist hier ein Selbstmordversuch gemacht worden?» «Nein. Warum?» «Ist außer Ihnen noch irgend jemand in der Wohnung?» «Nein. Nur ich.» «Und es wohnt bei Ihnen sonst niemand?» «Nein!» Sie taten, als müßten sie an ihr vorbeieilen und selbst nachschauen. Aber dann blieben sie doch stehen, und einer nahm ein Büchlein heraus und einen Kugelschreiber, und dann wurde sie gefragt nach Namen, Beruf, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand, Adresse und Telefonnummer. Sie antwortete auf alles, lachte dabei, war bei «Schriftstellerin» wieder verlegen, weil sie
sich unter Schriftstellerin ja etwas ganz anderes vorgestellt hatte: Haus am Land, Villa, Park, Ruhe. Schöne Möbel, Abgeschiedenheit, Vornehmheit und, nochmals, Ruhe. Aber sie wohnte in einer mittelgroßen, nicht sehr hellen, aber wegen der Lage zum Hinterhof ziemlich stillen Wohnung. Trotzdem in einer verkehrsbelebten und am Tag sehr lauten Straße. Es kam ihr alles lächerlich vor. Sie hatte eine Geheimnummer, sie war prominent, und jetzt konnten zwei von der Polizei ohne weiteres hier eindringen und sie, halbnackt, weil ja alles so schnell gegangen war, sehen. Sie hätte sich nichts anziehen können, die Polizisten hätten sonst Sturm geläutet oder geklopft, sie war sicher, und Nachbarn wären aufgewacht. Die Nachbarn mußten ja nicht unbedingt wissen, was für einen Besuch sie um fünf Uhr früh oder halb fünf bekam. Es hätte ein schlechtes Licht auf sie geworfen, und sie wollte im Haus ihren guten Ruf wahren. Auf einmal stand Ignaz Hutter vor ihr. Blaues Hemd, gelbe Krawatte. Er war genau so gekleidet, wie sie ihn im Fernsehen noch am Abend gesehen hatte, als Leiter einer Fernsehdiskussion. Sie mußte lachen, weil sie mit dem Besuch live, nur wenige Stunden später, nicht gerechnet hatte. Irgendwie war der Jungmädchentraum, Leute aus dem Fernsehen oder Radio sollten sie kennen und persönlich besuchen, nun in Erfüllung gegangen. «Ja, grüß dich, Ignaz!» sagte sie. «Was machst du denn hier?» Er beachtete sie nicht, sondern sagte: «Ah. Sie lebt. Gott sei Dank.» Die Polizisten fragten, ob er der Herr sei, der angerufen habe wegen des Selbstmordversuchs.
«Ja!» sagte Ignaz. «Was?» fragte Christine. «Du hast die Polizei angerufen?» Er winkte ab, es sei jetzt nicht wichtig, und dann teilte er den Polizisten auf ihre Fragen seinen Namen, seinen Beruf, sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort, seinen Familienstand mit. Da kam Albertoni über die Stiege herauf. Und hinter Herrn Albertoni seine Frau. Christine war so überwältigt von diesem Zusammentreffen, daß sie nicht dazu kam nachzudenken. Nachdem auch Herr und Frau Albertoni angegeben hatten, wer sie waren, wo sie wohnten, wann sie geboren waren und wo, was für Berufe sie hatten und daß sie miteinander verheiratet waren, fragte sie endlich, was los sei. Sie hoffte etwas Interessantes zu hören, denn es konnte ja nur ein Mißverständnis geben. Aber was für eines? Sie war darauf genauso gespannt, wie sie gut gelaunt war. Die Albertonis wirkten völlig erschöpft, zum Teil wegen des Stiegensteigens und zum Teil, weil sie sich mitten in der Nacht hatten anziehen und schnell herfahren müssen. Also. Beim Ignaz Hutter und bei der Doris Schwind hatte in der Nacht das Telefon geläutet. Nicht direkt in der Nacht, sondern gegen Morgen. Und ein Schluchzen war zu hören. Dann wurde aufgelegt. Das Telefon läutete wieder, und wieder hörte man nur ein Schluchzen. Das könne nur die Leitenmeier sein, hatte Doris vermutet, und sie hatte immer wieder diesen Namen gesagt und gefragt, ob sie es sei. Aber die Stimme schluchzte weiter und schluchzte und schluchzte. Also vermutete Doris, daß etwas passiert sei. Sie riefen bei
den Albertonis an. Herr Albertoni sagte, Christine hätte behauptet, sie würde am Abend nicht daheim sein, sondern bei Ignaz Hutter übernachten. Das stimmte sogar. Leider! Sie hatte Albertoni ärgern wollen und auf seine Frage, was sie am Abend tun würde, gesagt, sie ginge zum Hutter. Sie wollte ihm beweisen, daß sie nicht auf ihn und auf die Sorgen, die er sich machte, angewiesen war, und Doris hatte ihr schließlich angeboten, sie könne zu ihr und Ignaz kommen, wenn es ihr schlechtgehe, und sie könne dort übernachten. Einmal hatte sie sogar dort übernachtet im Gästezimmer. «Roll dich aber nicht zusammen wie ein Embryo!» hatte Doris sie ermahnt, bevor sie einschlief. «Naja, und dann haben wir Angst gekriegt! Die weinende Stimme, das Schluchzen, und der Albertoni sagt, daß du, wie er glaubt, bei mir bist! Ich habe zur Doris gesagt, daß nichts vereinbart war, nämlich, daß –» «Hauptsache, sie lebt!» sagte Frau Albertoni. «So, und jetzt wirst du uns einen Kaffee kochen», sagte Ignaz. «Aber wer hat angerufen? Ihr müßt euch doch um die Frau kümmern, die am Telefon geweint hat?» Ignaz winkte ab. «Aber die gibt es doch wirklich!» sagte Christine. «Wir können doch nicht hier sitzen und Kaffee trinken, und eine andere will sich vielleicht wirklich umbringen!» Er winkte wieder ab. Christine ging in die Küche, sehr unzufrieden. «Ist es nicht schön, Freunde zu haben?» fragte Frau Albertoni, die ihr in der Küche helfen wollte. Sie kniff
ihr in beide Wangen. «Hör auf, Irmi!» sagte Christine. «Es muß doch schön sein, zu sehen, daß man Freunde hat! Freust du dich nicht?» «Nicht um halb sechs Uhr früh.» Ignaz, Herr und Frau Albertoni unterhielten sich bis sieben Uhr übers Verlegen, übers Schreiben, übers Bücherverkaufen und über den «Heiligen Geist». Christine trank mit ihnen Kaffee und dachte an die weinende Frau. Wer konnte es gewesen sein? Eine von den unzähligen heimlichen Geliebten des Ignaz Hutter? Eine, von der die Doris nichts wissen durfte? Wo war Ignaz gewesen nach der Fernsehdiskussion? Er konnte zu Doris nicht sagen, daß er noch rasch eine Frau besuchte. Doris wußte schließlich, weil sie ihm beim Arbeiten gewissermaßen via Bildschirm zusah, wann die Diskussion aus war. Also konnte Ignaz nicht sagen: «Du, es ist leider furchtbar spät geworden.» Aber ja, freilich konnte er das sagen. Nach einer TV-Diskussion saß man, wenn es nett war oder interessant, noch zusammen. Wer weiß, wo Ignaz war. Und weshalb er diesen Verdacht sofort auf etwas ganz anderes lenken mußte, nämlich die selbstmordgefährdete Schriftstellerin. Worin lag die Logik seines Anrufs beim Verleger? Was fragt man einen Verleger, bevor man zu der vermutlichen Anruferin fährt? Bei Selbstmordgefahr muß man doch schnell sein! Also zuerst die Polizei? Nein, man ruft nicht die Polizei, Ignaz setzte sich ins Auto, Doris telefonierte derweil mit der Polizei, oder wer? Wie schnell ist das gegangen? Die Albertonis waren beide angezogen, kamen aber aus dem Schlaf. Ignaz wirkte
nicht, als ob er aus dem Schlaf käme, aber unklar blieb, weshalb Hutter und Doris auf die Idee kamen, ihren Verleger anzurufen. Wenn eine weibliche Stimme weint am Telefon, und man vermutet, daß es die Schriftstellerin ist, muß man da den Verleger etwas fragen? «Zu mir hat sie gesagt, sie ist heute abend bei Ihnen.» Ach so. Alarm. Hoppla, sie hat sich vorgenommen, sich umzubringen, und damit man sie nicht zu Hause vermutet, sagt sie eine andere Adresse. Dann also Polizei-Alarm. Warum fuhr man aber nicht direkt zu ihr? Nachschauen! Und was war mit der anderen? Für Doris und Hutter gab es nur eine Erklärung: Christine war unglücklich in Ignaz verliebt. Und daß sie wimmerte und ihren Namen nicht sagte, weil sie nur weinen möchte, nicht reden. Und die fremde Frau hatte ja leider nicht «nein!» gesagt. «Nein! die bin ich nicht!» und dann weitergeweint, sondern sie hatte vielleicht noch mehr geweint dann, weil man ihren Namen nicht wußte und sie also vermuten durfte, daß sie in Ignaz’ Leben nicht die einzige war, die wegen ihm weinte. Kriminalistin müßte man werden. Am nächsten Tag zu Mittag fragte Christine Doris noch einmal nach der fremden Frau. Ob sie schon wisse, wer es gewesen sei. Doris lachte: «Na, i weiß net, ob es nicht eh du warst!» Christines Mutter saß bei Papa, ließ niemanden hinein, dann wieder doch, hin und wieder stand sie auf, sie mußte ja dabeisein, es löste sie niemand ab, weder Helli
noch die anderen, und Christine mit ihrem Liebeskummer paßte jetzt gut hierher.
14 Walter
hatte für alles ein Rezept. Deprimierender Film? Dann geh nicht ins Kino! Deprimierende Radionachrichten? Dann schalt ab! Deprimierende Anblicke von betrunkenen Menschen auf den Straßen? Dann schau nicht. Für Walter war alles sehr einfach. Er hatte den siebzigsten Geburtstag hinter sich und feierte jeden Tag. Herzschwäche, verrauchte Lungen mit Wasser drin, das alles hinderte ihn daran, am Leben zu zweifeln. «Hast du denn eine Ahnung», sagte er. «Weißt du, was es bedeutet, der letzte zu sein? Meine Freunde sind gestorben. Beinah jeden Tag stirbt irgendwo jemand, den ich zumindest gut gekannt habe. Es ist etwas Schreckliches zu wissen, daß man allein ist und daß das einzige, was noch kommt, der Tod ist.» Einen Augenblick lang sah Christine um sich und Walter schwarze Luft. «Sie wird alt», sagt der siebzigjährige Walter über die vierzigjährige Maria. «Sie wird alt!» Hm hm hm hm. «Na, gut, ich bringe dich zu diesem Türmler, wenn der so gut ist, daß er sich seine Knöpfe selber annäht.» Später entschuldigte er sich, leider, wie so oft, und sie wurde ihn nicht los. Du wirst einen Menschen nicht los, dachte sie, wenn du dir seine Entschuldigung anhörst,
und man muß angeblich immer alles entschuldigen, also wird man, solange man lebt, keinen Menschen los, nicht einmal, wenn er gestorben ist. Es waren einige schon zu ihren Lebzeiten für sie gestorben, nur jetzt, als Tote, traten sie wieder auf: Walter, ich rette dich, du lagst, als du tot warst, in meinem Traum, in einem gläsernen Sarg, ich zog dich heraus, weil du winktest, und du standest blut- und dreckverschmiert vor mir, nicht tot, und die Elisabeth war auch da. Sie hielt sich abseits. Christine hatte sich sein Schriftstellerreich immer wie Miramare vorgestellt. Das war ein schönes Wort, dort gab es, es war mehr als ein Wort, einen Brunnen, in den konnte man etwas hineinwerfen und sich etwas wünschen. Sie wollte die Münzen aus dem Brunnen herausholen, aber ihr Vater erlaubte es nicht. Was wäre dabei gewesen? Vielleicht wären die Wünsche derer, die die Münzen geworfen hatten, in der Hand eines Kindes in Erfüllung gegangen. Sie wollte nur das Geld, dieses viele Geld haben, das im Brunnen lag. Geld für Eis. Geld für Gutes, für Süßes, für den Mund, für die Zunge, für den ganzen Magen. So rein war ihre offene, aufrichtige Gier nach Geld, daß sie den Münzen im Brunnen sicher nichts Besseres hätte antun können, als sie herauszufischen. Denn dann wären im durchsichtigen Wasser nicht mehr die Beweise für die vielen Wünsche der Menschen gewesen, für ihren Aberglauben und ihre Dummheit. Und der Brunnen rein. Aber nein, laß liegen, hätte der Alte gesagt und von Mexiko erzählt, daß dort ein österreichischer Kaiserbruder hingefahren und erschossen worden war. Die Mexikaner sind also Mörder. Sie hatte nur mit dem roten aufgespannten
Regenschirm von der Hermi ein Geld holen wollen, das niemandem gehörte. Walter rief an. Er bestellte Christine für Donnerstag abend in den Bungalow. Sie hatte wieder «ja» gesagt, weil sie nicht wußte, ob er stirbt. Er war nicht mehr jung, nicht mehr gesund, sie würde sich einen großen Vorwurf machen, wenn sie «nein» sagte und morgen Elisabeth anriefe und sagte: Du, ich muß dir leider etwas mitteilen. Der Walter hat gestern nacht einen Herzinfarkt erlitten und ist in meinen Armen gestorben. Christine war schon einmal zu einem älteren Herrn nicht gegangen, und er starb in den Armen ihrer Mutter. Walter erinnerte sie an ihren Großvater. Er war groß, er wußte viel, und er wußte möglicherweise alles, auch wenn er ihr nicht alles sagte. Seine Jugend, seine Kindheit, die Mannesjahre: das alles hatte er hinter sich, als sie zur Welt kam. Einundvierzig Jahre mußte Walter warten, falls er auf sie gewartet hatte. Er erklärte ihr gleich bei einem der ersten Gespräche: «Sie lieben einen Mann und er liebt Sie nicht? Seien Sie froh, daß Sie das wenigstens wissen! Andere haben dasselbe Problem, nur wissen sie es nicht! Und, außerdem, was ist denn das für eine Haltung zu sagen, daß man sich fragt, warum ausgerechnet einem selbst so etwas passieren muß? Die Frage wäre so zu stellen: Warum soll es ausgerechnet mir nicht passieren? Und hören Sie auf, daran zu denken, daß Sie nur ein winziger Punkt sind im Universum. Sie sind wichtig. Jeder Mensch ist wichtig.» «Was bilden Sie sich überhaupt ein?» fragte er. «Daß
Sie daherkommen, und nur, weil Sie hübsch sind und jung, muß Ihnen gleich ein Mann in den Schoß fallen? Es hat niemand auf Sie gewartet! Merken Sie sich das. Menschliche Beziehungen muß man sich erarbeiten! So etwas wird einem nicht geschenkt wie das Brot von den Eltern. Wann werden Sie denn erwachsen?» Walter war sehr gescheit. Christine lernte später nie wieder einen witzigeren, humorvolleren Menschen kennen. Aber auch keinen griesgrämigeren und grantigeren. «Der Brief? Nein! Es ist kein Brief gekommen!» «Aber ich habe ihn einer Freundin mitgegeben …» «Briefe, von denen man wünscht, daß sie ankommen, trägt man selber zum Briefkasten.» Bumm. Legte er auf. Alter Trottel, schrie sie, schaute Vorhang und Mauer an, blöder alter Trottel, ich bin krank gewesen, bin im Bett gelegen, habe Grippe gehabt, und die Kollegin von der Pädagogischen Akademie hat gesagt: «Ich gebe ihn dir auf.» Was hatte sie ihm überhaupt geschrieben? Vielleicht war das Wichtigste, was sie Walter sagen wollte, niemals bei ihm angekommen. Vielleicht hätte er von ihr mehr verstanden, wenn jene Dame den Brief nicht behalten hätte. So jedenfalls mußte sie sich Walter immer wieder erklären, schuldbekennend erklären, noch einmal etwas sagen, aber in seinen herrischen Kopf ging nichts hinein. «Das hast du mir schon gesagt», schnauzte er, «und den Rest brauche ich nicht zu wissen. Mich geht nicht alles, höre, aus deinem Leben, an.» Er war ein bißchen wie ihr Großvater, Vertreter, Kaufmann, Gold- und Silberhändler, Emigrant. Walter
konnte natürlich einen Großvater nicht ersetzen. Großvater ist, wer dich auf seinen Knien sitzen läßt und dir nicht unter den Rock greift. Großvater ist ferner, wer dich behütet, dir antwortet, dir erklärt und dich warnt. Der dich aber, zu letzterem, so warnt, daß du nicht aus Angst und falsch verstandenem Mut und aus Neugier und Widerspruchslust, kurz, im Trotz, genau das probierst, wovor er dich gewarnt hat. Walters Warnungen waren in den Wind geschrieben. Und zum Teil sprach er sie nicht aus. Oder einmal sagte er ja, das sei gut, dann wieder, über dieselbe Person: nein, dieser Mensch ist doch ekelhaft. Schnurr zum Beispiel: ein unerhört begabter, nein nicht sehr, ein begabter, ein, sagen wir nicht mäßig, aber doch ziemlich begabter Schriftsteller. Den solltest du heiraten, der wäre ein Mann für dich. Nur, der Schnurr, der ist feig, sagte er dann auch noch dazu. Und den Wolf Jäger, den vergißt du, bitte, gefälligst. Der Wolf! Der dich von oben bis unten angeschissen hat. «Donnerstag!» Er fragte nicht einmal: kommst du?, sondern er sagte, daß er am Donnerstag das Nachtmahl herrichtet. Mit anschließender Konversation im Konversationszimmer. Denn mit einer Frau redet er am liebsten im Bett. Auch Herr Albertoni sagte: «Es tut mir leid, daß ich dich nicht im Bett davon überzeugen kann, daß du mir vertrauen darfst.» Christine war in dem Alter, in dem man gern zu zweit aufwacht. Auf sie war noch nicht so viel heruntergeschneit wie auf Walter, Elisabeth und Maria. Sie hätte gerne ein Kind gehabt, das sie in der Früh anschaute. Oder irgendeine andere nützliche Beschäftigung.
Sie wäre gern mit Walter aufgewacht, wenn es hell war, und nicht, wenn er sie um drei Uhr nachts weckte: Du mußt aufstehen. Ich ruf das Taxi. Er wollte in der Früh allein sein. «Weißt du, wenn ich aufwache, bin ich schlecht gelaunt. Und ich tapse herum. Da ertrage ich es nicht, daß jemand mich anspricht. Und das einzige, was ich brauche, ist ein starker Kaffee.» «Ich mach dir den Kaffee.» «Nein, bitte, es geht wirklich nicht. Ich muß in der Früh allein sein.» Miteinander aufwachen, dachte Christine, das wäre doch das schönste. Noch viel schöner als miteinander einschlafen. Im Fernsehen lief eine Sendung mit Manès Sperber. «Die Freiheit des Menschen A hört dort auf, wo die Freiheit von B beginnt», sagte Sperber, und Christine fragte Walter, wie man das verstehen solle. «Es heißt, daß jeder Mensch einen Kreis um sich braucht. Und in diesen Kreis darf man, wenn es Berührung gibt, nicht einbrechen. Es heißt also, daß es Grenzen gibt. Eine Grenze ist etwas anderes als Entfernung.» «Aber manchmal empfindet man doch eine Grenze, an der man immer wieder anstößt, als eine Entfernung von dem, was man erreichen will?» «Du bist zu gescheit. Das ist dein Pech. Du bist so gescheit, daß ich es dir nur in Zahlen sagen kann. Du erreichst momentan acht. Aber gescheit bist du genug, um zehn zu erreichen. Zehn wirst du nie erreichen. Aber du würdest in deinem Leben schon sehr, sehr viel
glücklicher sein, wenn du neun erreicht haben wirst.» «Und das heißt?» «Momentan heißt das nix anderes, als daß du mich nicht verstehst, aber wenn du älter bist und ich gestorben, dann wirst du vielleicht mehr verstehen. Und eines Tages wirst du mich verraten.» «Inwiefern?» «Wenn du mich verstanden haben wirst, wirst du mich auch schon verraten haben.» Wann hatte sie begonnen, Walter zu lieben? Als er in die Hocke ging vor seinen Bücherregalen. Christine saß auf dem Sofa, er ging von ihr weg zu den Büchern. Und er suchte nicht ein Buch, das er selbst, sondern eines, das jemand anderer geschrieben hatte, für sie heraus. Ging in die Knie. Dann stand er auf und brachte ihr das Buch. Auf seinem Gesicht war ein Schimmer. Er konnte so ansteckend schmunzeln. In diesem Augenblick wünschte sie sich ein Kind von ihm. Walter wollte nicht, daß Christine treu war. Es würde ihn belasten. Sie solle, wenn sie ihm treu sein zu müssen glaube, es mit sich selber ausmachen. Treue gehe nur den etwas an, der treu sei. Sie überraschte ihn dann damit, daß sie ihn betrogen hatte. «Wie heißt er? Wo wohnt er!» Gespielte Empörung. «Er ist kein Er», sagte sie. «Es ist eine Sie.» «Wunderbar, da bin ich beruhigt, das tut jede bessere Frau, mit einer Frau schlafen.» «Was ist, hast du noch was mit der?» fragte er später, und Christine sagte ihm, daß sie ihr auf die Nerven gehe, sagte ihm nicht, daß sie ihr weh getan hatte, und Walter:
«Erzieh sie dir!» «Schatzerl», hatte der Türmler einmal gefragt, «was hast du mit dem Walter gemacht?»
15 Die Männer waren wichtig, sie wollte einen Mann haben, wollte lieben, so, als gäbe es keinen anderen Sinn auf dieser Welt. Sie war verblödet von den vielen Tabletten. Sie dachte: nur ein Leben mit einem Mann hat einen Sinn. Sie wollte, seit sie aus Spanien heimgekommen war, mit einem Österreicher verheiratet sein. Der sollte das, was geschehen war, gutmachen. In Journalisten hatte sie sich verliebt, zum Beispiel in Bauer und Müller. Beide zugleich, beide gleichzeitig. Was Bauer nicht hat, das hat Müller, und umgekehrt. Bauer und Müller könnten sich ergänzen. Der Bauer war witzig, der Müller in sich gekehrt. Bauer hatte ein freches Gesicht, Müller wirkte seriös. Bauer war klein, Müller groß, Bauer ein Frechdachs, Müller wirkte wie ein braver Sohn. «Frau Leitenmeier, tun S’ net dichteln, kommen S’ zu uns!» sagte Müller. «Ja! Is wahr! Schreib was für uns! Weißt, was d’ bei uns verdienst?» sagte der Bauer, und anstatt das Angebot freundlich zu erwägen, sagte sie, sie ginge nicht zur Journaille. Es sollte ein Scherz sein, eine Herausforderung, dieses Wort von Karl Kraus. Journalist ist gleich Kanaille. Aber der Bauer und der Müller sagten dann nichts mehr.
Es war ja so leicht, witzig zu sein mit fremden Federn. Alles, was man irgendwo aufgeschnappt hat, sagte man in einer, wie einem vorkam, passenden oder unpassenden Situation, je nachdem, ob man imponieren wollte oder verblüffen. Destruktiv, das alles war destruktiv, aber sie konnte nichts aufbauen. Männerfreundschaften, Männerbekanntschaften: mit einem Mann kannst du nicht befreundet sein. Entweder er will ins Bett oder will nicht ins Bett. Beides gleichermaßen irritierend, seit die Sexualität entdeckt ist. Dank Freud ist es salonfähig, darüber zu sprechen, was für sexuelle Probleme man hat. Aber es hat eben nicht jeder Freud gelesen. Und die, die ihn nicht lesen, sind schockiert. Mit wem würdest du lieber, mit Bauer oder mit Müller? Am liebsten mit beiden gleichzeitig. So müßtest du vor keinem einzelnen Angst haben. Weil es in Wien kalt war. Kälte und Unfreundlichkeit. Christine sah alles grau, obwohl es bunt war. Die vielen Leute in der Josefstädter Straße. Die Straßenbahn. Wie sie den Berg heraufkeuchte und heraufstöhnte, wie sie sich hinuntergleiten ließ, mit lautem Bremsgeräusch. Christine wollte in die Oper gehen, in Konzerte, aber nicht allein. Sie wartete darauf, daß sie jemanden kennenlernte, der sie einlud. Der Mann fürs Leben. Wie sollte sie gehen, welche Straße nehmen, sich in welches Kaffeehaus setzen, um ihn zu treffen? Wo war er, dieser nette, junge Mann, gut frisiert, schön angezogen, ein Bürgerssohn mit vielleicht großen, braunen Augen? In Graz hatte sie einmal einen gesehen, der war ihr Typ.
Aber anstatt es ihm zu sagen, war sie gebannt an ihm vorübergegangen, noch horchend, ob er ihr vielleicht etwas nachrief. In Italien fand sie es angenehm, von Männern angesprochen zu werden. Man konnte das so lange hinziehen, bis einem einmal einer gefiel. Aber leider sprachen einen nur die an, denen sie anmerkte, daß sie jede ansprechen. In Wien frieren und Wasserfarbenbilder malen und auf den Stehplatz in der Oper gehen: Sie war ja nicht der Hitler. Wie übel ist es der Welt dann ergangen dafür, daß Wien so abweisend war. Sie war kein Hitler geworden, aber eine Verräterin an ihrer Herkunft. In ihrem Buch, das «Saure Trauben» heißen müßte, karikierte sie, wonach sie sich sehnte und wen sie liebte. Sie wollte nichts als Ruhm, so als wäre das ein leuchtender, warmer Mantel, in dem man dann nur noch glücklich ist. Ruhm, für nichts. Ruhm, an sich. Einfach einen guten Ruf haben. Zu gut, als daß Rafael es wagen würde, sie zu erschießen. Und vorher? Bevor sie mit Rafael lebte im fast ewig warmen Land, wo sie den Ruhm nicht brauchte, nur Wärme, Sonnenlicht? Vorher wollte sie in der Nähe von Schauspielern sein, von Menschen, die das Leben nicht so ernst nahmen, nur ihr Spiel, als Arbeit, als Brot und auch als eine ewig mögliche Flucht aus einem schalen Leben. Auf die Bühne! Aus dir heraus! In eine andere Gestalt hinein, ihr Arme und Hände geben, Füße, Trippelschritte, umdrehen, vorwärts, noch einmal zurückschauen, Sie, ach Sie, oh! Stundenlang probte sie vor dem Spiegel, wie sie sich als Schauspielerin benehmen würde: Ich stehe in der Garderobe. Mein Auftritt ist vorbei. Großen Applaus
habe ich wieder gehabt. Nun bin ich dabei, mir die falschen Wimpern herunterzunehmen und Lidstrich und Tusche aufzulösen, da geht die Tür auf, und herein tritt mein Mann. Selbstverständlich sind wir geschieden, denn er hat meinen Erfolg nicht verkraftet. «Dein Muttermal!» sagt er. «Was ich an dir so liebte, das war immer dieses Muttermal.» Ich habe eins an der Wange, und ich wische es weg. «Was hast du getan? Du hast es weggewischt?» «Ja! Ich habe es entfernen lassen, weil du es so liebtest, und nur für die Vorstellungen schminke ich es mir manchmal wieder an.» So entschlossen schon, mit vierzehn, vor dem Spiegel, sich einst, wenn sie erwachsen sein würde, nur noch zu rächen. Nicht wie Hitler, nur: subtil. Sich retten vor der ewigen Liebe und Anhänglichkeit eines Mannes, indem sie sich das, was er an ihr liebt, entfernen läßt. Was du an mir gern hast, darauf pfeife ich, damit du mich nicht mehr gern hast! So viele gute Eigenschaften liebst du an mir? Und nicht mich? Dann weg mit ihnen! Sie wollte einmal so geliebt werden, daß man sie trotz aller Muttermale und guten Eigenschaften liebte, nicht trotz, sondern: daß der, der sie liebte, an ihr und in ihr gar nichts sieht. Sondern er liebt einfach. Und sie merkt es daran, daß sie ihn wiederliebt. «Der Wolf Jäger, der hat dich nicht als Frau geliebt, er hat dein Talent geliebt», sagte der Türmler. Und sie hatte ihn geliebt, weil er ein Mühlviertler war und es geschafft hatte, zum Theater zu gehen, während sie sich von ihrer Mutter sagen ließ: «Du kannst noch nicht aufs Mozarteum. Du mußt im Gymnasium bleiben.
Wenn du nicht Matura machst, hängt sich der Papa auf.» Also bewahrte sie Papa vor dem Selbstmord und mußte zur Belohnung dafür in Wien frieren. Jetzt war Papa tot, er starb im August. Und im August verliebte sie sich. Den jungen Mann würde sie auf der Buchmesse wiedersehen. Vielleicht wäre sie nicht nach Frankfurt geflogen, wenn der junge Mann nicht gesagt hätte: «Kommen Sie zur Buchmesse?» Er hieß Daniel und fragte: «Kommen Sie zur Buchmesse?» «Ja.» «Mein Buch erscheint im Herbst. Ich habe furchtbare Angst davor. Ein Buch zu schreiben, das ist doch, wie wenn man ein Kind bekommt.» Daniel kam ihr verwunschen vor. Vielleicht wußte er noch nicht, was eine Frau war. Sie würde es ihn lehren. Herr Albertoni hatte die Cheflektorin Helene Namenlos angeschaut mit einem Gesichtsausdruck wie: Wollen wir dieses Kind heuer firmen lassen oder nicht, bevor er zu Christine sagte: «Und du wirst heuer zur Buchmesse fahren.» Buch-Messe. Wirbel. Lichter. Christine stellte sich vor: Ein Volksfest in der Nacht, auf einem riesigen Gelände steht die riesige Nachahmung eines Buches, bestehend aus lauter Lichtern, und dieses leuchtende Buch dreht sich. Man eilt unter dunklen Gestalten als dunkle Gestalt unter diesem Buch hin und her. Walter glaubte, daß Christine wegen ihm zur Buchmesse fahren wollte. Aber sie rannte bereits ins nächste Glück. «Warum hast du mich nie bei dir leben lassen?» fragte sie ihn.
«Weil ich das nicht kann, mit einem Menschen unter einem Dach sein.» «Warum hast du die Maria nicht geheiratet?» «Weil ich sonst die Elisabeth verloren hätte.» «Warum hast du mich nicht deine Privatsekretärin werden lassen!» «Hör auf, mich solche Dinge zu fragen. Sonst muß ich dich von mir stoßen! Du bedrohst die Pfeiler meiner Existenz. Aber du gefährdest sie nicht», sagte er tröstend. Einen Koffer nahm sie, da legte sie, wäre doch ihre Mutter jetzt hier, fürsorglich alles hinein. Was schön war. Was gut war. Was man in einer Woche brauchte. Innerhalb einer Woche, sieben Tage, Nächte sogar, aber Nachthemd packte sie keines ein. Nur den Pyjama fürs Hotel. Es könnte ja sein, daß sie jede Nacht in dem Hotel verbrachte, das Herr Albertoni für sie gebucht hatte. Eine Woche lang brauchte sie nur Interviews zu geben und mußte anwesend sein. Brauchte für kein Essen und für kein Bett zu bezahlen, es sei denn, sie führte Daniel aus. Aber der hatte vielleicht Geld mit seinem Buch verdient, sie wußte ja nicht, was sein Verlag zahlte. Das Buch, das er geschrieben hatte, sah so billig aus. Es war als Taschenbuch erschienen, mit einem Foto von ihm drauf, auf dem sie ihn kaum erkannte. Sie hatte ihn krank und schön gefunden, blaß, milchig, ein Kindsgesicht. Daß man so in Trauer sein konnte! Auch sie war von Wolf Jäger verlassen worden, er hatte sie ins Herz gestoßen, in die Rippen, sie war verblutet, fast, sie hatte Wolf im Traum mit der Faust in die Zähne geschlagen, sie hätte sterben wollen vor Schmerz, vor Wut, denn über sich
selbst war sie am meisten wütend. Sie hatte doch gewußt, daß er nichts wert war. Alle Worte nur geredet, alle Gesten nur gespielt, und trotzdem hatte sie ihn dann gern gehabt. Dann kam seine Frau angerauscht, und sie hatte ihren Verzicht erklärt. Man verliebt sich nicht in Männer. Vor allem nicht in verheiratete. Am besten wäre es, sich überhaupt nicht mehr zu verlieben, sondern zu vergessen, daß es die Liebe gibt. Als Kind hatte sie das ja auch nicht gebraucht. Trotzdem. Sie war schon als Siebenjährige verzweifelt bei einem Fünfjährigen gesessen und hatte nicht gewußt, wie sie den Schmerz aus sich vertreiben sollte. Was für Wimpern! So gern hätte sie den Buben gestreichelt. Aber wo würde ein Kuß von ihr enden? Daniel war beinah fünf Jahre jünger. Sie hatte das Gefühl, einen Knaben zu schänden. Sie war sicher, er hatte Liebe noch nicht erlebt. Sie mußte ihn also einführen in alle Liebeskünste. Und alle Genüsse würde sie ihm beibringen. Am liebsten würde sie jetzt zu Hause bleiben. Für ihn war sie vielleicht eine Dame. Reif. Älter als er. Und die Buchmesse sollte doch ein Geschäftstrip sein. Man traf dort Leute. Der Verleger hatte gesagt: Aber heuer kommst du mit! Und Walter hatte gesagt: Du fliegst aber mit mir! Und Daniel hatte gefragt: Sie kommen doch zur Messe nach Frankfurt? So viele Tage waren es von August bis Oktober. Jeden Tag gezählt, zehnmal, abgehakt, jeden Abend. Ihre Mutter behauptete, daß nichts so schön sei wie die Vorfreude. Aber sie hatte sich den Glauben an bevorstehende Freuden bewahrt und war in der Erwartung nur unglücklich darüber, daß sie noch nicht da waren.
16 Im
Duty-free-Shop kann man Getränke kaufen, Parfums, Zigaretten, Schokolade, Bonbonnieren, Kosmetika, und man muß bei der Kassa die Flugkarte vorweisen, das Ticket. Der Plastiksack mit den bezahlten Waren wird zugepickt. Man trägt ein Kilo großer, internationaler Welt mit sich herum. Und vor dem Betreten des Wartesaals die kleine Formsache. Irgendwelche Bomben oder Waffen bei sich? Das Gepäck wird mit besonderen Strahlen durchleuchtet. Kameras mit Filmen bitte heraustun! Kein Vertrauen, wohin man blickt. Niemand wird wegen seines ehrlichen und lieben Gesichts durchgelassen. Deutsche, irische, arabische, italienische, sogar österreichische Terroristen gibt es. Die Guerilla ist grausam und international. Das Beste an Flugreisen ist der Moment, in dem man berührt wird. Zwei Hände tasten einen ab, ob man Waffen bei sich trägt. Gesichter von jungen deutschen Frauen und jungen deutschen Männern, die als Terroristen gesucht werden, auf Plakaten. Ab und zu ist ein neues Foto hinzugekommen und ein früheres durchgestrichen. Die Berührung durch die beiden fürsorglichen weiblichen Hände gaben Christine das Gefühl, wirklich zu sein. Gebraucht zu werden. Wenn auch nur dazu, damit eine Angestellte der Flughafenpolizei an ihr ihren Dienst tun konnte.
Fluggäste werden abgetastet, bevor sie ins Flugzeug dürfen. Wir leben in einer hoch abgesicherten Zeit. Autos sind versichert, Wohnungen, Personen, Tiere, es gibt so gut wie kein Risiko, scheint es, und wer dennoch wagt, verliert. Auf dem Flug nach Frankfurt wurde Christine «an Bord» begrüßt von einer Frauenstimme, die klang, als hielte sich die Dame beim Reden ins Mikrophon die Nase zu. Die Fluggäste wurden als große Gemeinschaft angesprochen und für mehr oder weniger dumm, flugunsicher und daher gefährlich und selbstgefährdend gehalten. Das Flugzeug rollte. Es hob ab und glitt über Wien, Niederösterreich, Wälder und Auen, Haine und Fluren, wie hieß doch diese Musik von Smetana? Irgendwo war Linz, die Stadt, aus der durch das Ableben Hitlers leider nichts Besonderes wurde. Unberührt von historischen Unfällen schlängelt sich unten träge die Donau. Die Donau ist ein Fluß, der Österreich gehört, wir bekommen sie von Deutschland herein, dann leihen wir sie den Ungarn, Rumänen und Bulgaren, aber die lassen sie ins Schwarze Meer fließen. Österreich ist ein Land, das viele Komponisten hervorgebracht hat. Deshalb sind wir auf Österreich stolz. Alle Touristen, die uns besuchen, beneiden uns. Nur die Deutschen nicht. Die haben nämlich Goethe und Schiller gehabt. Franzosen: interessantes Liebesleben. Engländer: kalt. Italiener: falsch, Spanier: heißblütig, Portugiesen liefern Sardinen, Tschechen haben uns vieles weggenommen, sind fürchterlich, haben sich ganz schrecklich gerächt, für nichts! Polen ist unteilbar. Dänemark hat Butter und
Käse. Norwegen liefert Holz, Schweden bietet Ingmar Bergman, Christine ließ ihre Gymnasialkenntnisse Revue passieren. Warum interessierte sie sich so wenig für andere Länder? Wahrscheinlich, weil sie im Zug von Madrid nach Toledo damals nach Schweden wollte, um Schwedisch zu lernen, an der Seite eines schwedischen Verlobten, und alle zwei Jahre in einem anderen Land mit einem Einheimischen verlobt, so lernt man viele Sprachen. Trotzdem war sie in Toledo ausgestiegen. Rafael hatte sie im Schiff vergewaltigt: «Du verläßt das Schiff nicht lebend» und «Hände vom Gesicht! Sonst zerschlage ich es dir!» und «Hände vom Gesicht, habe ich gesagt! Knie nieder, nimm meinen Schwanz in den Mund, du verläßt das Schiff nicht lebend!» und sie hatte geleckt, geleckt, um ihr Leben. Nachher hatte die Zukunft Europas sie nicht mehr interessiert. Das Flugzeugfenster war ein Bullauge. Sie erinnerte sich an eine Stewardeß, die erzählt hatte, daß es einen Fluggast, nachdem das Fenster durch einen Meteorit zerbrochen worden war, «hinauspassiert hat durch das Loch». Der Luftdruck. In der Kabine und außerhalb. Sie flogen über den Wolken. Selten stoßen Flugzeuge zusammen. Selten stürzt eines ab. Beinah jeden Tag, aber es ist nicht häufig, wenn man bedenkt, daß jeden Tag Tausende von Flugzeugen ihr Ziel erreichen. Nichts ist arg, wenn man bedenkt. Und es wird eben immer alles bedacht. Die Mitpassagiere lasen Zeitungen. Irgendwann wird man das Fliegen verbieten, das Autofahren, die Züge. Es wird ein Mann kommen, der mit Pferden wieder einen Wagen ziehen läßt. Man braucht dazu nur aufs Land zu gehen.
Frauen sollten wieder lange Kleider tragen, hatte sie sich als Kind gewünscht. Es war so hübsch, und alle hatten früher schöne Beine. Walter saß neben Christine. Er hatte eine feine Krawatte geknüpft. Sie wußte nicht, ob es nicht doch Maria oder Elisabeth waren, die sie ihm heimlich knüpften, welche gerade bei ihm war. Christine war mißtrauisch. Seine Hände waren groß, und eine Krawatte ist doch so etwas Zartes. «Welches Parfum würdest du dir aussuchen, wenn ich dir eines kaufe?» «Gar keins.» «O ja! Du wirst mir jetzt die Freude machen und läßt mich für dich ein Parfum kaufen!» Sie nannte eine Marke, von der jemand ihr erzählt hatte, daß der Schauspieler Klaus Maria Brandauer es nahm. Ihre erste Reise mit Walter, und jetzt ging er ihr auf die Nerven. Seit ihr Buch erschienen war, zeigte er sich mit ihr auch in der Öffentlichkeit. Sie gingen sogar manchmal ins Theater. Zu seinem Geburtstag war sie eingeladen und durfte mit Esther Vilar an einem Tisch sitzen. Ein kleiner, freundlicher Mann lächelte sie an, sie reichte ihm die Hand, er sagte: «Manès Sperber», und ihr blieb das Herz stehen, sie lief weg. Große Geister kauten und knabberten, tranken Wein, sie hätte sich die Welt der Bücher gern erhalten und nie einen Schriftsteller persönlich kennengelernt. Wozu schickte man ein Buch in die Welt hinaus, wenn nicht, um sich für immer zu verbergen? So hatte jedenfalls sie es gemacht, nur, damit der spanische Kerl sie nicht
umbrachte, hatte sie sich berühmt machen lassen. Eine Zelebrität zu erschießen bringt nicht so viel Ehre, wie Rafael glaubte. «Wenn ich dich erschieße, verzeiht man mir. Ich werde sagen, daß es aus Leidenschaft und im Affekt war. Und ich bekomme dafür sogar eine Medaille.» «Als der Silbervogel mit dir fortzog», schrieb ihre Mutter nach Spanien. Das Flugzeug, Feind aller Mütter. Dann saß die Mutter selbst im Flugzeug von Mallorca nach Österreich, Christine schaute zu, wie der unförmige, schwere Apparat in die Höhe trieb, vollkommen unnatürlich, etwas so Schweres und Steifes muß doch, sobald die Grenze des Übermuts erreicht ist, herunterfallen, und die Mutter im Flugzeug, sie fuhren in die Wohnung, die Mutter im Flugzeug, sie sahen fern, aber in den Nachrichten wurde Gott sei Dank kein Absturz einer Maschine nach Österreich gemeldet. «Ein österreichischer Rennfahrer ist verunglückt», hatte Rafael gesagt. «Chotschen Rien.» «Jochen Rindt?» «Ja, oder wie man das ausspricht! Er ist tot!» Christine machte gerade das Bett, in dem Rafael sie vergewaltigte: Bring Papier! Sperr dich nicht ein im Bad, ich durchbreche alle Schranken, spiel nicht mit mir! Bring das Papier, ich will vögeln! Wegen Jochen Rindt durfte sie auf einmal weinen. Seine Witwe hieß Nina, und zum Begräbnis hatte er sich «The End» gewünscht. At the end of a story. You’ll find a pot of gold. Die Angestellten der Airways halfen einem vergessen,
daß man in Benzinnähe in einer Höllenmaschine saß. Sie kamen mit Kaffee und Tee, als wären alle Passagiere hungrig und durstig irgendwo aufgelesen worden. Weil man ja in Wirklichkeit hier nicht mehr Mensch war, sondern Inhalt einer Konstruktion. «Captain Tower and his crew» oder «Captain Bauer and his crew», meldet sich der Pilot mit der sonoren Lässigkeit eines Discjockeys. Die Schwimm- und Rettungsweste befindet sich «in front of your seat». Die Dame in der Uniform zeigte, wie man eine solche Weste mit vielen Schnüren umbindet und aufbläst. Walter und sie schwammen dann miteinander zum ersten Mal. Stöckelschuhe muß man ausziehen, falsche Gebisse sind herauszunehmen bei Unwetter. Wenn sie jetzt abstürzten, was wäre das Leben gewesen? Für Walter sehr einfach. Er würde im Himmel ankommen und erklären, was ihm nicht paßte. Sitzordnungen an der himmlischen Tafel würde er sofort ändern. Neben dem sitze ich nicht. Wissen Sie nicht, was der über mich geschrieben hat? Was war das Leben anderes gewesen als Schulanfang, Schulanfang. Alles, was sie gelernt hatte, hatte sie für die Schule gelernt. Nachher das Leben zu erlernen versucht, damit sie es der Schule zeigte. Sie hatte eine Schlafkur gemacht nach dem GROSSEN ERFOLG. An Albertoni einen Brief geschickt: Buch nicht mehr erwähnen. An Walter einen grauslichen Brief: Du warst schiach und alt. «Krieg und Frieden» gelesen in der Klinik, eingesperrt, sie war auf einmal wieder wie in einem Schiff, aus dem sie nicht herauskonnte, und «der Koller», sie hatte keinen «Inselkoller» gehabt auf Mallorca, nur die Angst, jede
Nacht, daß das Meer überschwappte und die Meerestiere zu ihr ins Schlafzimmer hereinschwammen. Deshalb hatte sie jeden Abend die Holzjalousien in den Fenstern heruntergelassen. Schlafkur, das hieß: vergessen. Und beim Aufwachen weißt du alles wieder, und eine blonde Dame steht vor dir. «Ich bin die Anni Steininger. Ich bin eine Nichte von Ihrem Physikprofessor! Würden Sie mir, bitte, in Ihr Buch ein Autogramm geben? Kommen Sie uns einmal besuchen, mein Mann ist Tenor an der Wiener Staatsoper.» Vierzig Jahre war Walter älter als sie. Adrett saß sie neben ihm. Er hatte das Parfum gekauft und überreichte es ihr. Ein Hauch von Brandauer. Wenn Walter wüßte, was er ihr da schenkte: Theaterduft. Immer hatte er sie versteckt vor seinen Freunden. Die waren meistens knapp unter hundert gewesen und weit über siebzig, und wenn er reiste, fuhr er mit Maria in den Süden. Elisabeth sorgte derweil für den Umbau seines Hauses. Daß einer der brillantesten Köpfe Europas in einem Bungalow seine Suppendosen «Heinz» selber aufmachte, würde das brillante Europa nicht vermuten. Solche Details an Walter hatten sie immer gerührt. Er erzählte ihr, wie lustig er das Lied «Zwickt’s mi, i maan, i traam» von Wolfgang Ambros fand, und sie schenkte ihm die Platte, da sagte er: «Ich habe leider keinen Plattenspieler.» Rosen brachte sie ihm, jedesmal eine. Strohblumen, damit er länger an sie dachte. Eine Bonbonniere schenkte sie ihm. «Tut mir leid, ich darf keine Süßigkeiten essen.»
«Sie ist für Diabetiker!» «Trotzdem will ich nicht, daß du mir eine Bonbonniere schenkst!» «Dann gib sie deinen Damen.» «Ich habe keine Damen!» Später, schärfer noch: «Meine Damen gehen dich nichts an!» «Der Roman, an dem ich gerade arbeite», sagte er jetzt, weil das Treiben der Stewardeß mit der diffizilen Schwimmweste vorne schon zu bunt wurde, «handelt von einem fünfzigjährigen Mann, den seine zwanzigjährige Geliebte immer wieder verläßt. Er nimmt sie immer wieder auf, und er läßt sie immer wieder gehen, obwohl er weiß, daß sie in ihr Unglück rennt. Das letzte Mal, nachdem sie ihn verlassen hat, kommt sie zurück in seine Wohnung, und sie findet ihn tot. Er hat sich umgebracht.» «Du bist doch gegen Selbstmord.» «Ja. Ich schon.» «Warum bringst du dich dann um?» «Weil er es nicht mehr aushält.» «Was hält er nicht aus?» «Daß er recht hat! Er hat immer recht, er weiß alles voraus, und es ist für ihn so furchtbar, immer recht zu haben.» «Warum läßt er sie immer gehen?» «Weil sie gehen will.» «Warum geht sie?» «Weil er nicht will, daß sie sich ihm verpflichtet.» «Wenn sie sich aber gerne verpflichtet hätte?» «Der Roman ist der Roman! Und ein Roman hat eine eigene Wirklichkeit.» Seine Krawatte war aus Seide, sie mochte die gerade
Nase und den breiten Mund, sie hatte immer das «Kukident» gesucht, wenn sie sich in seinem Badezimmer die Zähne putzte, aber sie fand es nie. «Wenn wir uns vor zwanzig Jahren kennengelernt hätten», sagte sie. «Wenn ich fünfzig wäre und du dreißig», sagte er, «würden wir eine leidenschaftliche Affäre haben, und dann würde ich dich verlassen.» «Du mich?» «Jawohl! Ich dich!» «Und nicht ich vielleicht dich?» «Nein! Ich würde dich verlassen!» «Was bildest du dir überhaupt ein?» «Danke! Danke, daß du das gesagt hast.» Er fragte sie, ob sie diese Geschichte gelesen habe, diese eine, in der ihr Name vorkam. «Und nicht etwa, weil ich unser Zusammentreffen vorausgeahnt habe, sondern ich hab nicht gewußt, wie ich die Funsn nennen soll.» «Danke.» «Aber in der Geschichte kommt etwas vor. Ich weiß nicht, hast du sie überhaupt gelesen?» «Alles, was du geschrieben hast, habe ich gelesen.» «Dann erinnerst du dich an diesen Papierkorb, wie ich ihn beschreibe? Und die Stimmung, beim Fenster? Im Zug? Wie der Mann sich im Zug erinnert, daß er den Papierkorb nicht ausgeleert hat?» «Ja.» «Das war ein furchtbares Erlebnis, in Wirklichkeit. Damals bin ich mit dem Auto von Kärnten nach Graz gefahren. Es hat unheimlich geregnet, und auf einmal war da so ein Verlorenheitsgefühl. Alles ist mir fremd
gewesen. Ungefähr zehn Minuten lang habe ich geglaubt, auf einem anderen Planeten zu sein.» «Ja?» «Das hat nur zehn Minuten gedauert. Aber diese zehn Minuten waren die Hölle.» «Und?» «Hast du so etwas noch nie erlebt?» «Nein», sagte sie gebannt. So gebannt war sie, daß sie die Wahrheit verschwieg. Einfach, weil sie sie nicht mehr wußte. Daß sie seit Spanien in dieser Hölle lebte. Daß es nur Lichtblicke gab, wenn sie mit Walter oder jemand anderem über etwas lachte. Daß sie kaum noch lachen konnte. «Nein? Dann sei froh. Sei froh, daß du das nicht kennst.» «So kalt, wie du am Straßenrand gestanden bist.» «Ich habe gedacht, daß mich kein Wald, keine Wiese, kein Himmel mehr freut.» Stewardessen verlieren das Zeitgefühl, heißt es, und auch das Gefühl für Entfernungen. Jede wird nervös, wenn sie zu lange in einer Gasse geht. Der Gang zum Bäcker wird zum Hindernislauf. Große Wege, das sind: einen Wagen mit Getränken durch den Mittelgang des Flugkörpers schieben, jeden Fluggast anlächeln, ausnahmslos, wirklich jeden. Auf Charterflügen muß man nicht ganz so freundlich sein, aber ein bißchen schon. Jeden fragen, ob er Wünsche hat. Zum Lohn dafür sitzt manchmal ein Filmstar da. Und bohrt leider in der Nase. Aus Moskau bringen sie sich und ihrer Familie Russenfellmützen mit, aus Athen Rezina, winzige Kipferl
und Semmerl dürfen sie abends nicht aus dem Flugzeug nach Hause nehmen, tun es aber doch. Wien war damals grau gewesen, ein November schmutzig und kalt, aber ihre Freundin, die Stewardeß, kam aus London, aus Paris, während die kleine Studentin Christine sich nicht einmal in den J-Wagen getraut hatte. Der fuhr so schnell, auf der Josefstädter Straße geht es bergab, da bist du einmal unvorsichtig, dann verlierst du ein Bein. Fast jede Straßenbahn war die falsche, und wenn sie dann im Hörsaal ankam, war er voll. Sie mußte ganz hinten sitzen, die Füße brannten, sie hörte nichts, hinten, wozu Uni, es gab doch Menschen, und Meister. Bei einem Meister in die Lehre gehen. Einem Maler die Pinsel waschen. Einem Regisseur die Schauspieler herbeiholen. Für Walter Bleistifte spitzen. Christine saß neben Walter in einem flotten Kostüm, zwei Homosexuelle hatten ihr geholfen, schicke Kleider auszusuchen. Warme sagte man bei ihr daheim, das klang viel freundlicher. Schwul hieß es im deutschfreundlichen Wien. Zwei Warme, liebe, nette, gute Männer, hatten ihr geraten: was für Stiefel, was für eine Handtasche. Die Augen verbarg sie unter Stirnfransen und sah gut hindurch. Nach Frankfurt ging jeden Tag um sieben Uhr früh ein Flugzeug, und am Flughafen sagten einander die Vertreter «Guten Morgen» und «Mit was für einer fliegst du zurück?» Christine erinnerte sich an die Frau, weiß gekleidet, die in London in jeder Untergrundbahnstation ein seltsames Kreuzzeichen machte. Das Flugzeug, das auf Köln hinunterfiel. Ada Tschechowa starb dabei, die Tochter der Schauspielerin Olga Tschechowa, Mutter der für sie noch berühmteren Vera Tschechowa, sie las es
beim Mittagessen, aus der Schule gekommen, in den «Oberösterreichischen Nachrichten», und ihre Mutter sagte: «Stell dir vor, die Häuser, in denen Kinder schlafen, auf die fällt so ein Flugzeug …» Die Mutter verabschiedete sich von der Familie wie eine Todgeweihte, als sie zum ersten Mal in ein Flugzeug stieg. Später erzählte sie: «Da war ein Luftloch! Und ich hab mir schon gedacht: auf wen fallen wir?» Christine haßte Walter immer gründlicher, je länger sie im Flugzeug neben ihm saß, und ihr Haß war stärker als die Angst vor dem Abstürzen. Schuldbewußt gegenüber dem Leben stieg sie in Frankfurt aus. Das Leben, dieser große Brunnen, von dem wir alle trinken. Wie durfte man ihn in die Lüfte entführen. Wann wird dieser Brunnen sich rächen. Halb tot vor Dankbarkeit, daß sie noch am Leben war. Seit die Menschen wissen, daß die Erde rund ist, müssen sie vor Aufregung immer rundherum. Sonst hat man ja die Welt nicht in der Hand, und früher genügte es, den Weg vom Haus zum Haus des Nachbarn zu gehen, und heute ist unser Nachbar der Mond. «Du wirst dich gefälligst nicht von meiner Seite bewegen! Wir sind zusammen hergeflogen, wir gehen zusammen zum Gepäck, und du wirst mit mir zuerst in mein Hotel fahren», sagte Walter. Eine Theaterverlegerin und deren Mitarbeiterin, ein hübsches Mädchen, begrüßten sie. Die Theaterverlegerin küßte zuerst Christine, dann Walter, mitten auf den Mund. Dem Mädchen gaben sie nur die Hand. Es wisperte einen Namen. Im Hotel verschwand Walter im Lift. Er kam eine
Ewigkeit nicht herunter. Die Theaterverlegerin tröstete sie: «Mach dir keine Sorgen, du kommst zu deinem Treffen. In Frankfurt ist man daran gewöhnt, daß niemand pünktlich ist.»
17 Autoritäten,
wohin man schaute. Alte und junge Kritiker, ältere und jüngere Verleger. «Würdest du dich bitte hin und wieder am JollyVerlagsstand blicken lassen?» stand auf einem Zettel, den jemand Christine zusteckte. Einer Unterhaltungsschriftstellerin mit hohen Auflagen merkte man ihren Reichtum an. Die gute Laune, mit der sie Fotografen anstrahlte, widerlegte die Behauptung, Geld mache nicht glücklich. Der Regisseur eines Films über einen großen Komponisten war anwesend. In ganz Europa hatte man den Film im Fernsehen sehen können, und jetzt gab es zum Film das Buch. Man fand, daß dieser Regisseur seinem Helden sogar ähnlich sah, und er trug ein Konversationsbuch bei sich, in das er Namen und Telefonnummern schrieb. «Ich habe mich bemüht zu verstehen», sagte er, «diesen großen Menschen in seiner Menschlichkeit zu erfassen. Wie er wirklich war oder wirklich gewesen sein könnte, als Mensch.» Das Buch enthielt alle vom Komponisten existierenden Porträts, dazu viele Fotos vom Regisseur vor, während und nach der Arbeit, es war ein einziger Hymnus auf die Musik, und es wurde sehr oft gestohlen. Wegen der vielen Hochglanzfotos war es unerschwinglich teuer, und deshalb wollte es auch jeder haben. Vor der Halle
standen zwei Wächter des Verlages, die denen, die die Halle mit dem Riesenband verließen, die Bücher wieder wegnahmen. So stand auch über dieses Buch jeden Tag etwas in der Zeitung unter «Messesplitter». Zwischen den Kojen spazierte Ignaz Hutter auf und ab, mit Bauch, den man im Fernsehen nicht sah. Jeder, der ihn von Diskussions-Sitzungen kannte, glaubte, er sei mager. So ziemte es sich für einen Sohn der Kirche. Man wußte, daß Hutter sich derart kritisch und dabei auch noch konstruktiv geäußert hatte, daß die Kirchenoberen ihm empfahlen, eine eigene Kirche zu gründen. Hutter ging daraufhin eine Lebensgemeinschaft mit Doris Schwind ein. Christine begegnete dem ehemaligen Architekten Adolf Hitlers, denn auch der, wie hieß er nur?, war auf der Frankfurter Buchmesse anwesend, umringt von Leuten, die sein Autogramm wollten. Ein großer Mann, sehr groß, ruhig dastehend. Pullover. Kam aus Spandau und trug einen feinen Herrenpullover. Anläßlich des Erscheinens, bitte, seiner Memoiren. Manche wollten sich eigentlich angewidert abwenden, aber da wurden sie dem Herrn auch schon vorgestellt. Christine schlich auf Zehenspitzen weg, tippte Hutter auf die Schulter, bist du nicht, ja, der bin ich, «i bin do!» Ob er an Gott glaube, wollte er nicht verraten. Daß Jesus Gottes Sohn war: «Na, bitte, net!» Mit «Der heilige Geist» hatte er Millionen unzufriedenen Katholiken aus der Seele geschrieben. Aber ausgetreten aus der Kirche waren sie nicht. Hutter fand, man müsse die Kirche von innen verändern. Wenn du austrittst, bist du draußen. Uninteressant. «Schatzl, du bist unmöglich!» sagte Frau Albertoni.
«Wir haben einen Termin für dich und können dich nirgends finden.» Herr Albertoni deutete seine Mißbilligung mit einer gekränkten Miene an. Helene Namenlos erkannte Hutter, flüsterte Herrn Albertoni etwas zu, der sagte es seiner Irmi, die fiel Hutter um den Hals. «Herr Hutter, Sie sind doch Journalist! Könnten Sie nicht für die Bücher unseres Verlages etwas tun?» «Na, bitte, net!» Er ging weiter. Walter Slavik und Ignaz Hutter gingen einander aus dem Weg. Journalisten stürzten sich auf Hutter, auf Walter. Kameramänner von mehreren Fernsehstationen filmten Hutter, filmten Slavik, nachher schnitten sie die Filme zusammen, als hätten die beiden gemeinsam vor der Kamera gesessen und hätten einander nur freundlichst widersprochen. Für Ignaz Hutter war die Welt ein soziologisches Problem, für Walter eines der Nichteinhaltung der Zehn Gebote. Hutter fand es etwas zuviel verlangt, wenn man an die Zehn Gebote dachte und gefragt wurde, was man von Hitler hielte. Walter widersprach: Hitler war eine Folgeerscheinung der Nichteinhaltung der Zehn Gebote. Hutter auf die Frage, ob auch Tiere in den Himmel kommen: «Wenn Sie zu Hause a Katzerl habn, a liabs klans Katzerl, und Sie sterbn, und des Katzerl is nachher net bei Ihnen im Himmel, dann gibt’s für mi kan Himmel.» Walter zum Problem Himmel: «Uns geht das Diesseits an. Über das Nachher lassen Sie bitte den lieben Gott entscheiden.» Walter erzählte die berühmte Geschichte, die jeder kennen müßte, so sinnvoll ist sie, aber gerade deshalb kennt sie ja leider kaum jemand, also, der Diener in der
Synagoge, bitte, das ist nur ein jüdisches Gleichnis, aber eines Tages spricht Gott zu ihm! Und er sagt zum Synagogendiener: «Du hast mir so treu gedient. Dir will ich enthüllen, was das Geheimnis dieser Welt ist. Warum es Gut und Böse gibt, warum soviel Unglück geschieht! Dir enthülle ich jetzt, was nicht einmal Moses wußte!» Das sei furchtbar lieb, habe der Diener gesagt, und es freue ihn maßlos, aber der liebe Gott möge entschuldigen, er müsse jetzt den Dienst antreten. «Und hier, sehen Sie …», sagte Walter. «Das Erdbeben von Lissabon!» rief Hutter. «Die vielen Kinder! Und das war auch von Gott gewollt?» Wie er, Walter, zu Erdbeben stehe. «Ich stehe hier. Wir reden. Die Erde bebt nicht. Seien Sie froh.» «Das ist diese Süffisanz …» «Nein. Hier und jetzt.» «Nix hic Rhodus …» «Man überschätzt für gewöhnlich das Lateinische. Wenn Sie bedenken, der Jesus hat Aramäisch gesprochen, und der Luther hat aus dem Lateinischen übersetzt …» «Angelus Silesius!» waren Hutters letzte Worte, dann waren alle Filme aus. Auffallend, daß immer Fernsehdamen sich den zu interviewenden Herren näherten und schmucke Fernsehherren sich zu den interviewenden Damen. «Um die innere Freiheit geht es», sagte Walter. «Die Freiheit, sich entscheiden zu dürfen.» «Innere Freiheit, zu wos? Wann die halbe Welt verhungert?» Hutter und noch ein soziologisch orientierter Autor
sagten, da scheiße man doch auf Gedankenfreiheit, beim Anblick Afrikas. «Jeder dient dort, wo Gott ihn hingestellt hat. Alles Übel kommt vom abstrakten Vorausplanen und, verzeihen Sie, von der Missionierung.» «Gehet hin und lehret alle Völker!» «Ja, aber so, wie ich das verstehe –» Herr von Freudenau, der diskrete Angestellte des Jolly Verlags, sagte, in einem früheren Leben sei er ein Berater Karls des Fünften gewesen, er wisse das, er spüre jedesmal so einen Schmerz, wenn er an einer gewissen Burg vorbeifahre. Halle fünf, das Wochenendjournal DIE ZEIT lädt ein zum Sektfrühstück. Eine Lyrikerin saß zitternd neben einer Experimental-Autorin. Diese gab wenig von sich. Auch hier nicht. Sie trank und schwieg. Die Lyrikerin redete auch nichts, sie hatte ja, in ihren Büchern, schon alles gesagt. Außerdem widerte es sie an, hier sitzen zu müssen neben Journalisten. Die wenigsten von ihnen besprachen ein Buch, die meisten beurteilten es. Die Lyrikerin hielt ihr Sektglas so streng, als wäre darin Tinte. Sie nippte kein einziges Mal. Die ExperimentalAutorin griff nach den Brötchen. Ein paar wickelte sie ein, sie genierte sich nicht, schließlich könnte man draußen, beim Spaziergang dann, mehr Appetit haben. Etwas wurde einem hier aus der Hand genommen, etwas anderes dafür zur Diskussion gestellt, man wußte nicht, von wem, es waren da so viele Leute, man kannte die meisten, aber man wußte nicht, daß man sie kannte, denn man kannte sie nur namentlich. Viele hatten schon Besprechungen geschrieben, Rezensionen, die wie Verrisse waren, man wollte es so genau nicht lesen, nicht
wissen. Diese Leute lächelten einen jetzt an. Hoppla, das war nur der Fotograf. Du bekommst einen Blitz ins Gesicht. … nahezu unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten … muß Ihnen gestehen, ich fühle mich oft … wenn ich versuche … den Wortgefügen und Zusammenhalten … konkret poetische Aussagen … etwas in für mich zunächst einmal vollkommen unzugänglicher Weise. Christine glaubte, sie wäre in Bessarabien oder sonstwo in einem fremden Land. Sie verstand immer, was sie schrieb, außer sie rieb sich die Augen vor dem Einschlafen, da fielen die Lichter und stiegen die Funken auf den geschlossenen Lidern, und dann versuchte sie den Bildern einen Sinn zu geben. Sie hatte das Tonband neben dem Bett liegen, den Griffel in der Hand, das war ein Stab, kein Bleistift, und in diesen Griffel sprach sie hinein, bis sie müde war, hatte Einschlafbilder aufgefangen, wörtlich, und am nächsten Tag schrieb sie das ab, aber, leider, der Lektor hatte gesagt: Das ist psychedelisch! Sie nehmen wohl Drogen? … diese relativ schamlose Art, wie Sie ein Zitat von Rilke mit einem Goethe-Wort collagieren … Wortfetzen, sie saß im Dunkel, die ExperimentalAutorin war aufgestanden, hatte sich herzlich verabschiedet, die Handtasche voller Brötchen, trug sie durch die Halle hinaus. Die Lyrikerin schaute ihr nach. «Ich bin froh, wenn ein Buch publiziert ist! Schauen Sie, in meiner Wohnung herrscht ein derartiges Zettelchaos. Wenn es einmal gedruckt ist, brauche ich nicht lange zu suchen! Da hat man, was einem wichtig war, zwischen zwei Buchdeckeln.»
Wirbel, Lichter. Manche Namen schritten ruhig strahlend einher, andere explodierten wie ein Wetterleuchten, wenn man sie nannte, «aber der ist nicht da, er hat gesagt, er muß arbeiten, er wird sonst mit seinem Essayband nicht fertig.» Ein Schriftsteller hatte sich umgebracht. Darüber sprach man jetzt nicht. Es war nur in der Zeitung gestanden, und darüber war man natürlich bestürzt. Trotzdem, es gab so viele Neuerscheinungen. Auch neue Frauen in der Frauen-Abteilung, und solche, die schon routinierte Frauenrechtlerinnen waren. «Wir stehen vor dem Problem, zur Zeit», sagte eine Dame, «daß die Frauenbefreiung für sehr viele Männer ein Problem darstellt, mit dem sie schwer zurechtkommen. So haben wir Frauen in diesem Jahrzehnt zusätzlich dieses Problem der Männer. Da wir als Frauen ja leider dazu neigen, die Probleme der anderen zu unseren eigenen zu machen.» Sie sprach knapp und deutsch. Als Österreicherin in Deutschland kam es Christine immer so vor, als dürfte sie die Sprache der Deutschen gnadenhalber mitsprechen. Deutsche können nun einmal besser Deutsch als wir. Manche umarmten einander unglaublich fest und schlugen einander immer wieder die Hände auf den Rücken. Andere wichen einander aus, und vor allem gab es einen gewissen Slalom mancher seriöser Schriftsteller zwischen den mit Mikrophon durch die Halle gehenden Reportern. Einmal war Christine Leitenmeier ein Fräulein in einem Büro gewesen, jetzt war sie «Frau Leitenmeier», und tief und dunkel tönte ihr Name aus dem Hals Herrn
Albertonis. Terroristen stürmten in ihre Wohnung, hatte sie geträumt, und entführten sie, denn sie war abtrünnig geworden. Früher hatte sie von einem Leben mit den Guerilleros geträumt, Waffe in der Hand, Fidel Castro und Che Guevara küßte sie auf die stacheligen Wangen. Sie wollte den Walter loswerden. Den ganzen August hatte sie an Daniel gedacht, und im September, dann war es endlich Oktober geworden, und sie hatte sich schöngemacht. Sie ging hier in der Halle wie in einer Kleinstadt von einem Haus zum andern, Peter Henisch unterhielt sich am Stand des S. Fischer Verlages mit Marianne Fritz. Sie hatte sehr langes Haar und über «Die Schwerkraft der Verhältnisse» geschrieben. Daniel stand mit dem Gesicht zu den Büchern, fing gerade ein Buch heraus. «So ein schönes Rot!» sagte er und schaute auf ihr Kleid, das die warmen Burschen ausgesucht hatten. Sie hatte sich gesetzt und trug Stiefel, also tat sie die Knie auseinander, der rotgelb karierte Stoff des weiten Kleids spannte sich, sie könnte dreißig solche jungen Männer im Schoß wiegen. Seine Stimme war kindlich, seine Bewegungen zurückhaltend. Mager mußte er sein, unterm flattrigen Sakko. Diesen Knabenkörper muß ich haben, sonst sterbe ich. Ich muß ihn an mich pressen, bevor die Buchmesse zu Ende geht. «Magst du Mahler?» fragte sie, denn in «Lieben Sie Brahms?» schickte die Ältere den Jüngeren fort, damit sie ihm eines Tages nicht zu alt wird. «Mahler? Ja. Sehr.» Sie wurde eifersüchtig auf Mahler wie auf ihr Kleid.
«Die Gespräche hier, es ist wie in einer MahlerSymphonie.» (Gar nicht wahr.) «Ja! Tatsächlich!» Christine war eigentlich eine verlorene Person. Sie wußte das, obwohl sie sich Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie, sie wußte nicht genau, worunter, litt. Als sie Daniel begegnete, dem Sohn des Politikers, der immer wieder gegen die Verwendung von Kernkraftwerken und gegen die Kernwaffen eintrat, empfand sie diesem jungen Mann gegenüber eine hingebungsvolle Bereitschaft, ihn zu lieben. «Man muß ein Menschenfreund sein!» witzelte Daniel, als sie durch das Gedränge im oberen Stock gingen, wo Kunstbücher und Drucke mit graphischen und gemalten Werken ausgestellt waren. Sie fuhr zusammen. «Ich habe eine schöne Reproduktion von einem Camille-PissarroBild daheim», sagte sie, und sie wußte nicht, warum sie hinzufügte: «Die habe ich mir auf die Innenseite meiner Toilettentüre geklebt.» «Das muß ein Irrtum sein!» sagte Daniel. Es war eine seiner oft wiederholten Redewendungen, aber in ihr blieb «Irrtum» als Wort hängen. Warum hatte sie es erwähnt? Wäre es nicht klüger gewesen, ihm von ihrer Malerei zu erzählen und was sie eigentlich damit, daß sie sich die Toilette mit einem Farbdruck verschönerte, meinte? Es hingen in den öffentlichen Toiletten so viele Sprüche und Scherzworte und sogar scherzhaft gemeinte Gegenstände, so daß sie, im Widerspruch dazu, sich etwas Schönes auf die Tür geklebt hatte. Verdauung war etwas Ernstes, wie die Sexualität, und Grundlegendes, aber die meisten
Menschen fühlten sich veranlaßt, anläßlich der Verdauungs- und Geschlechtsangelegenheiten zu witzeln und zu spotten. Sie war in Daniel verliebt. Also war sie gehemmt. Sie konnte nicht gleich aussprechen, was sie dachte. Sie dachte in Erlebnissen, in Erinnerungen, in Bildern. Wenn jemand etwas behauptete, wozu sie eine gegenteilige Regung spürte, blieb es bei der Regung und bei der Stummheit. Vor ihrem inneren Auge aber liefen Szenen ab, und alle diese «Filme» (oder handelte es sich um Geist-Erscheinungen?) hätte sie in Worte fassen müssen. Dazu wäre es aber notwendig gewesen, daß sie abstrakt hätte reden können. Abstrahiere, und du faßt dein eigenes Leben und dich kurz. Sie konnte aber nur konkret reden, mit Beispielen, mit Geschichten, und auf Daniels «Das muß ein Irrtum sein!» wußte sie nichts zu antworten. Hoffentlich merkte er nicht, daß er sie an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte. Sie war eine Bilderverehrerin, eine Malerverehrerin. Deshalb verehrte sie auch Stöpsel, den abstrakten, wilden Maler, der den Spitznamen aus seiner Jugend – man nannte ihn in der Schule so – beibehalten hatte. «Man kann aus allem einen Wert machen, wenn man Künstler ist», pflegte Stöpsel in Interviews zu sagen. «Nennen Sie mir ein Ding aus Ihrem Haus oder Haushalt, das Sie verachten und wegwerfen! Ich als Künstler bearbeite es und befasse mich damit und erhebe es zu einem Wert! So auch mein Name, sehen Sie? Er ist in Amerika und Australien bekannt. Wen kümmert dort, was ‹Stöpsel› heißt? In Amerika schreibt man übrigens ‹Stoepsel›.» Jetzt fühlte sie sich minderer denn je. Daniel war Jude, Christine wollte sich und ihm beweisen, daß sie zwanglos
mit Juden reden konnte. Sie hatte doch an dem, was ihre Eltern gewesen waren, nicht die geringste Schuld. Aber in Daniels Augen mußte sie eine Dumme, eine «Goite», sein. Was immer das Wort hieß. «Schickse» und «Goite» hatte ein Psychiater ihr vor ein paar Jahren erklärt. «Dieser Walter zeigt sich mit Ihnen nicht in der Öffentlichkeit, weil Sie die Schickse sind. Eine Schickse ist in jüdischen Kreisen nicht angesehen.» Walter hatte immer wieder Freunde erwähnt, die alle jüdisch waren. «Mein jüdischer Freund» Soundso. Dann nannte er einen Namen, aber was Christine sich merkte, war das Wort «jüdisch». Warum gab es zwischen ihr und Walter keine erlösenden Worte? Die «jüdischen Freunde» standen wie Gespenster um den Tisch herum, an dem Christine und Walter jeden Donnerstag aßen. Mit den «jüdischen Freunden» gingen sie sogar ins Bett, und dann begann Walter etwas zu erzählen, und Christine hörte zu. Jüdische Freunde am Plafond, zu dem Walter seine Augen richtete, jüdische Freunde hinter dem Bettpolster an der Wand, auf dem Christines Kopf lag. Wenn Walter sich herüberdrehte und sie beim Reden anschaute. Jüdischer Freund, jetzt hatte sie selbst einen, er war jung wie sie, jünger sogar, würde aber nie ihr Freund werden, denn er benahm sich wie ein Snob, so kam es ihr vor, aber vielleicht durfte man einen Juden nicht Snob nennen. Vielleicht war bei Juden alles richtig, was sie sagten, taten und empfanden, einfach weil sie ein großes Leiden hinter sich hatten, noch immer litten, nie verzeihen und vergessen durften, denn das, was Hitler mit Hilfe des deutschen und des österreichischen und dann auch mit Hilfe des tschechischen und polnischen
Volkes getan hatte, war nicht zu verzeihen. Welcher Mensch konnte sich anmaßen und aufstehen und sagen: Ich verzeihe. Wo doch die Opfer so viele und sie noch dazu tot waren, ermordet, bestialisch, maschinell, so, als habe die bloße Anwesenheit jüdischer Menschen in Europa eine Insektenvernichtung notwendig gemacht. So ein Insekt spazierte nun gelassen neben Christine, in grauem Anzug, mit menschlichen Beinen, menschlichen Armen. Christine fühlte, daß sie Daniel in nichts widersprechen durfte, sondern verpflichtet war, über jedes Wort, das er sagte, nachzudenken. Wem widerfuhr schon die Ehre, wenn er (oder sie) als Kind von Nazis von einem Juden überhaupt noch angesprochen wurde? Besser und klarer wäre es vielleicht gewesen, die noch lebenden Juden hätten nach 1945 alle in Deutschland, Österreich, in der Tschechoslowakei und in Polen lebenden Schuldigen vertrieben, ihnen Land und Häuser weggenommen, sie ins Meer gejagt. Ein Moses hätte kommen müssen und besonders Deutsche und Österreicher ertrinken lassen in diesen Wogen, die sich teilen, damit die Hebräer durchziehen können, die anderen aber absaufen. Oder nicht mehr reden. Einen Bann ziehen um die Schuldigen, hart werden, mit Kindern von Nazis ebensowenig reden wie mit den Schuldigen selbst. Eine Art von Jesus war auferstanden. Und ich werde das Schwert bringen und die Tochter von der Mutter und den Sohn vom Vater trennen. So war ja, wie dieses Evangelienwort, die Situation heute, wenn Kinder von Nazis ihren Eltern abschworen, ihre Eltern öffentlich verleugneten und anprangerten. Christine nahm sich vor, ein Buch über ihren Vater zu schreiben. Vielleicht konnte
Daniel so etwas anerkennen. Das Buch sollte zugleich an Walter gerichtet sein und die ungeschriebene Frage zwischen den Zeilen enthalten: Stößt du mich jetzt weg von dir oder nimmst du mich an? «Man muß ein Menschenfreund sein!» rief Daniel, fröhlich in seiner Witzigkeit, als wieder fünf Leute so dicht an ihnen vorbeidrängten, daß sie beide fast umfielen. «Kennst du ‹Masse und Macht›?» fragte Christine. «Nein.» «Es ist von Elias Canetti.» «Ach so?» «Ich schätze Canetti sehr. Er schreibt, finde ich, die schönste deutsche Sprache Das beste Deutsch, meine ich.» «Sofern man behaupten kann, daß die deutsche Sprache eine schöne ist.» «Jede Sprache ist für den schön, der in ihr aufgewachsen ist. Es gibt keine häßlichen Sprachen.» «Das hast du im Deutschunterricht gelernt.» «Ich habe im Deutschunterricht unserem Lehrer einmal sehr widersprochen! Er hat sich lustig gemacht über das italienische Wort ‹amore› und behauptet, daß ‹Liebe› viel schöner ist. Damals habe ich das Wort ‹amore›, das er nur spöttisch ausgesprochen hat, verteidigt. Und genauso bei –» «Ja?» «Nichts.» «Was wolltest du sagen?» «Ich habe Streit gehabt mit ihm wegen Wagner.» «Ach so? Interessant.» «Ja.»
«Ja, und?» «Er hat sich über Wagner lustig gemacht.» «So etwas würde ich auch tun.» «Ich liebe Wagners Musik nicht, aber ich habe Wagner verteidigt, nur, verstehe es bitte nicht falsch, ich habe mich dagegen gewehrt, daß er einen Dichter verspottet.» «Richard Wagner war ein Dichter? Das auch noch?» «Er hat behauptet, man feiere Wagner als den größten Dichter deutscher Sprache, weil er die Libretti zu seinen Opern selbst geschrieben hat. Und alles, was Wagner geschrieben habe, sei so lächerlich.» «Das finde ich auch. Hab gar nicht gewußt, daß er auch geschrieben hat.» «Ich habe Wagner nur verteidigt, weil ich dachte, gegenüber einem Deutschlehrer muß man jeden Dichter verteidigen, egal was er schreibt. Ein Dichter ist mehr als ein Lehrer.» Sie wurden wieder angerempelt, Daniel fragte, wie sie das meine, wie er das aufzufassen habe, sie sagte: «Vielleicht rede ich Blödsinn.» «So etwas pflegt in den besten Kreisen vorzukommen.» «Ich gehöre nicht zu guten Kreisen.» «Ja, das weiß ich.» «Aber ich bemühe mich.» «Das ehrt dich.» «Sag einmal.» Sie blieb stehen. «Bist du arrogant?» Er kicherte. «Manchmal habe ich große Lust, nur noch arrogant zu sein. Aber das ist etwas, was jemand wie du wahrscheinlich nicht verstehen kann.»
Und ich habe manchmal Lust, euch gegenüber arrogant zu sein, dachte sie. Eigentlich verehrte sie ja seinen Vater. Sie war Gymnasiastin gewesen, als sie «Noli me tangere» gelesen hatte, «Berühre mich nicht», dieses Buch über die Unsinnigkeit, Atome zu spalten. Immer wieder hatte sie den Namen des Mannes buchstabiert, voll Hochachtung, dann im Physikunterricht, als sie die Hand gehoben und sich gemeldet hatte, ohne gefragt worden zu sein, «Bitte, Herr Professor, während Sie uns alle diese Formeln über die Kernspaltung aufschreiben, denke ich immer nur: Ein Atom soll man nicht spalten.» Das Gelächter der Buben war dröhnend. Die Mädchen lachten leise, einige blieben sogar ernst. Das Ergebnis war gewesen, daß ihr Lehrer sie dann besonders hart geprüft hatte und ihr «Nicht genügend» gab. Und da war ein Mensch, ein Mann, einer, der Bücher schrieb und genauso dachte wie sie. Einer, den sie damals gern an der Seite gehabt hätte in dem verdammten Gymnasium, in dem man immer nur verspottet wurde, wenn man anderer Meinung war als der Lehrer. Sie werde es noch schwer haben, drohte der Vater, sie habe ein Hirn wie ein Mann, sie würde nie einen Mann finden. Der Mann, der sie einmal heirate, täte ihr jetzt schon leid, sagte die Mutter manchmal, und sie werde immer unglücklich sein, hatte der Vater prophezeit, man müsse mit dem Strom der Zeit schwimmen, man müsse mit den Wölfen heulen, und sie, die Grüblerin, würde nie Freunde haben, sollte mehr Sport betreiben, und sie, die Weltverbesserin, würde erst mit vierzig Jahren wissen, wer sie sei.
Wie gut hatte es Daniel mit seinem politisch edlen Vater, einem Juden, der nicht nur Emigrant, sondern auch Widerstandskämpfer gewesen war. Wäre es nicht das gescheiteste, sich von so einem Sohn ein Kind machen zu lassen? Sie schob den Gedanken sofort weg. Welches jüdische Kind würde sich freuen, in ihrem Nazikörper auf die Welt zu kommen?
18 Wenn
sie badete, hatte Christine das Gefühl, daß Körperpflege oberstes Gebot war. Bei hoher, wenn nicht gar Todesstrafe. Die Fingernägel mußten kurz geschnitten werden, die Zehennägel flach, nicht rund, sonst wuchsen sie an den Seiten ins Fleisch. Zwischen den Zehen war die Haut besonders empfindlich, und gerade dort trocknete sie ihre Füße nicht ab. Aus Lust am Verbote-Übertreten. Wenn man mit so vielen Verboten aufgewachsen war wie sie, wußte man oft nicht, warum einen etwas freute. Ob es das Übertreten des Verbots war oder die Sache selbst. Sie hatte zu rauchen begonnen aus Protest gegen die Eltern in der Rauchergesellschaft ihrer Jugendzeit, weil sie gehänselt wurde, als Nichtraucherin, und also rauchte sie. Wenn sie verliebt war, badete sie täglich. Sie zupfte alle Härchen weg, von denen in Frauenzeitschriften geschrieben wurde, daß man sie wegzupfen mußte. Sie riß mit warmem Wachs sämtliche Haare aus ihren Achselhöhlen. Manche Männer wieder mochten Frauen mit Haaren auf den Beinen. Wie sollte man sich auskennen? Warum ließen Männer ihre Bärte nicht stehen? Vielleicht hatte der natürliche Vollbart des Mannes die Aufgabe, des Mannes Gesichtszüge zu verbergen, so daß man ihm keine Gefühle, auch wenn er sie hatte, anmerkte? Diese Tarnung, die die Natur den Männern schenkte, rasierten
Männer sich ab und verbargen dann ihre Regungen durch ungewöhnliches Benehmen. Sie schnipselte und bürstete an sich herum. Frauen, die ihr erzählt hatten, sie machten immer Theater, im Bett gehe es nicht ohne Theater, sie hätten im Bett alles immer gespielt, der Mann brauche es, lehnte Christine ab. Sie stand da wieder auf der Seite der Männer, die ihr leid taten. Dann will ich keine Frau sein, sagte sie sich, und ich werde mich immer dazu bekennen, daß ich keinen Orgasmus habe. Denn leider denke ich mir beim Beischlaf zuviel. Vor lauter Denken, wann er kommt, verscheuche ich ihn. Wenn es zu spät ist, ist es zu spät, und der Mann, der gern noch drinnenbleibt nachher, muß erst gefunden werden. Meine Männer machen sich immer lustig über ihr Glied, wenn es geschrumpft ist, und weil Christine mit einem solchen Glied einmal etwas Schreckliches erlebt hatte, ertrug sie keine sexuellen Scherze. Der Geschlechtsverkehr war ihr wichtig, wegen der Gesundheit. Weil Gesundheit etwas Ernstes ist, nahm sie auch die Sexualität ernst. Witze übers Bett vertrug sie nicht, schon gar nicht Herrn Albertonis Sprüche. «Ich weiß, daß du Verbalerotiker nicht magst, aber trotzdem sage ich dir jetzt …» Sie redete schnell über etwas, damit sie nichts hörte. «Weißt du, als ich vorhin sagte, ich würde gerne meine Hände unter deinen weiteren Lebensweg legen, da hatte ich eine Vision.» «Ja?» Sie war sehr für Visionen. «Ich sah mich meine beiden Hände mit den Innenflächen nach oben unter deinen nackten Popo legen.» Man hat, wenn man in einem Hotel ist, keinen Platz
zum Wohnen. Man lebt. Selten fühlt man es so deutlich wie in einem Hotelzimmer. Man macht die Tür zum Badezimmer auf, vor dem man erschrickt. Was da alles bereitsteht an Pflichten. Soll ich in den Spiegel schauen? Darf ich ein Vollbad nehmen? Wird das die anderen Hotelgäste nicht stören? Muß das Bidet benützt werden? Kann ich mir da drin nicht einfach meine Füße waschen? Daniel führte Christine in sein Hotel, in den Lift, der angenehm hinauffuhr. Er näherte sich seinem Zimmer auf so vorsichtigen Sohlen, als fürchtete er, einen Geist, der drinnen residierte, mit seinem Kommen zu erschrecken. Leise sperrte er auf. Er machte Schleichschritte zu Bad und Bett, knipste überall kleine Lichter an, sie zog sich aus, er schaute zu, sie war stolz auf ihren Körper, blödsinnig stolz, und er hatte eine glatte, magere Brust. Sie waren intim, und dann läutete das Telefon. Er hob ab. Dann sagte er, daß er später zurückrufe. «Ich kenne da ein sehr nettes Mädchen in München. Ihr Freund quält sie mit dir! Er behauptet, daß er jede Nacht stundenlang mit dir telefoniert.» «Wie heißt er denn?» Er sagte einen Namen. «Kenne ich nicht.» Daniel rief wieder in München an. Sie solle beruhigt sein. Viel später schrieb Christine ihm einen Brief. «Daniel, ich habe Dich geliebt, aber ich habe gefürchtet, unter Deiner Liebe sterbe ich. Du hast mir den Kaffee ans Bett gebracht, hast die Semmel von gestern im Backrohr aufgebacken, aber Du hast so viele berühmte Leute gekannt, ihre Namen tropften von Deinen Lippen wie Wasser, ich bin mir neben Dir wie ein Frosch vorgekommen, der Libelle spielt. Da habe ich Dir erklärt, daß ich einen älteren Mann brauche, und Du
sagtest, Du seist in Deinem früheren Leben Novalis gewesen, und auf einmal habe ich geglaubt, Du spinnst. Bevor wir miteinander geschlafen haben, bin ich mir vorgekommen wie eine Prinzessin. Dann wie eine lüsterne Lehrerin. Du hättest das Telefonat mit München nicht führen dürfen. Ja, sie liegt hier bei mir, hast Du nicht gesagt. Aber daß Du mich getroffen hast und daß Du mich gefragt hast, und daß die Geschichte also nicht wahr ist. Du wußtest nicht, wie empfindlich ich gegenüber Gerüchten bin.» Aber sie schickte den Brief nie ab. Rückflug nach Wien. Wann fliegst du? Ich fliege schon heute, und du? Ich erst morgen. Und du? Wir können ja zusammen fliegen, ich muß ohnehin nach Wien, sagte Daniel. Eine Wienerin hatte sich Daniel und Christine angeschlossen. Sie sagte, daß sie froh sei, von hier wegzukommen, und daß sie sich auf ihren Mann freue. «Die ist klebrig», sagte Daniel. «Merkst du nicht, daß sie klebrig ist?» Er erfand für manche Menschen Namen. «Die Klebrige». «Das Zuckerl». Sie erfanden «Brandl» für den Schauspieler Brandauer, den er kannte, auf den er, wie er sagte, überhaupt nicht eifersüchtig war, im Gegenteil, wenn der «Brandl» es wollte, würde er, Daniel, mit ihm ins Bett gehen. «Aber vielleicht auch so?» fragte Christine, und er sagte nicht: Wo denkst du hin. Der Rückflug mit Daniel, sie hatte es erreicht, aber das, was sie erreichen wollte, hatte sie nicht. Soviel anders war ein Flug, wenn es heimwärts ging. Sie sah immer nur die Wiener Wohnung vor sich und wie sie sein würde,
wenn Daniel sie mit ihr teilte. Er hatte gesagt, für ein paar Tage würde er bleiben. Was konnte sie ihm bieten, wie wird er die Zimmer finden, mag er ihre Katze? Sie holten sie gleich bei ihrer Tante ab. «Die war so furchtbar scheu», sagte die Tante. «Sie ist immer nur am Abend hervorgekommen.» Der Herbst ist in Wien schön. Gelbe und hellbraune Blätter erinnerten Christine an daheim. Der deftige, lauwarme Wind, von vielen nicht geschätzt, von ihr empfunden als Sturm, drückte gegen ihr Gesicht, und sie lief. Mit Daniel durfte sie nicht rennen. Nächstes Jahr würde sie dreißig werden. Daniel würde glauben, sie rannte nur, weil sie sich jünger machen wollte. Er war fünfundzwanzig. Er hatte ein Buch geschrieben, sie hatte zwei, noch dazu war sie so etwas wie eine «Bestsellerautorin». Hätte sie gewußt, was ihr blühte, wäre sie nie persönlich in den Jolly Verlag gegangen, sondern beim Künstlernamen geblieben, den sie sich ausgedacht hatte: Maria Feldbach. Maria, weil Maria, Mutter von Jesus. Feldbach, weil ihre Eltern sich dort kennengelernt hatten. Und ein Kollege auf der Pädagogischen Akademie fand, daß «Maria Feldbach» adelig klang. Also änderte sie das Pseudonym in «Eva Quidenius». Eva, weil weiblicher Mensch, Quidenius, weil angeblich ein gewisser Quidenius ihre Ururgroßmutter nicht geheiratet hatte, und somit nahm sie sich den Namen. «Bestsellerautorin», für sie klang das viel zu pompös, sie war doch nur sie, aber Daniel sah in ihr die Bestsellerautorin. Sie durfte nicht rennen, nicht glücklich sein. Hatte seriös zu bleiben. Außerdem mußte sie in
einer Großstadt beweisen, daß sie nicht provinziell war. Daniel kannte so viele bekannte Leute, war unter Berühmten groß geworden. Er könnte die Nase rümpfen, wenn sie sich falsch bewegte. Also ging sie im Korsett. Bestsellerautorin spricht über dies und das. Sie hatte nie mit einem Bestsellerautor oder gar mehreren zu tun gehabt, woher also sollte sie wissen, wie man sich als solche benimmt. Seriös. Der Bestsellerautor wird von vielen Leuten gelesen, Albertoni hatte es ihr eingeschärft, und viele wollten etwas von ihm, Albertoni hatte sie gewarnt, und er hatte also vielen etwas gesagt. Folglich mußte sie mit einer inneren Aufrecht-Haltung etwas darstellen. Herr Albertoni hatte sie ermahnt, daß eine elegante Frau zum Beispiel nur drei Farben trägt, nicht mehr. Beige, Braun und Dunkelbraun hatte sie gewählt. Was immer sie kaufte, mußte zu Beige, Braun und Dunkelbraun passen, also GrauBeige, Grau-Braun, Schwarz-Braun. Immer in Uniform, so etwas verstand sie unter Dame. Da sie nie Dame war, mußte sie sich verkleiden, wenn sie als Dame aufzutreten hatte. Daniel benahm sich wie ein Herr, folglich hatte sie eine Dame zu sein, nein. Die Dame, die sie spielte, war sie. So etwas ist anstrengend. Manchmal wollte sie niedersinken: Ich bin doch nur, ja, was? Oder: wer? Christine hatte etwas gegen das Wort «Bestsellerautorin». Es gab so viele zusammengesetzte Wörter, die man in anderen Sprachen getrennt schreiben würde. Auf spanisch zum Beispiel würde man sagen «Schreiberin von Bestsellern» oder «von einem Bestseller». Autorin, Urheberin und «Bestseller». So als wäre man es immer, obwohl man doch weiterschreibt und dann vielleicht keine Bestseller mehr.
«Bestseller» kann man nicht schreiben. Man schreibt etwas. Später wird das, durch verschiedene Umstände, möglicherweise einer. Sie wollte Schriftstellerin sein und sich nicht verpflichtet fühlen. Es wäre eine Belastung gewesen, eine Unmöglichkeit sogar. Auch wenn man das von mir erwartete: jedes Buch ein Sieg über viele andere Bücher. Es gab unter Büchern kein Wettrennen um zehnte, erste, achte, siebenundzwanzigste Plätze. Sie war in einem Korridor, einem engen Gang, in dem immer nur gelaufen werden mußte zwischen einem literarisch guten Buch und einem, das sich gut verkaufte. Trotzdem war sie von allem, was schreiben hieß, angeekelt. Sie wollte leben! Leben dürfen von dem, was sie schrieb, sich ernähren können davon, aber nicht über Nacht berühmt werden. Ein bißchen Anerkennung hätte genügt. Nur nicht ins Gerede kommen. Weder positiv noch negativ. Mit Menschen reden. Und der Wunsch, die Menschen hätten nur das Buch, keine Geschichten über sie und kein Bild, kein Foto. So daß sie beim Lesen des Buches durch nichts gestört und beeinträchtigt würden. Nicht die Fragen: Wer ist denn das? Wie lebt denn die? Sie glaubte nicht, daß Menschen, die Bücher um ihrer selbst willen lesen, sich für solche Dinge interessieren. Aber sie hatte den fatalen Rummel mitgemacht. Noch heute sehnte sie sich nach dem Zimmer bei Frau Jurka, wo sie ungestört geschrieben hatte. Ein Buch schreiben, etwas geleistet haben: mehr nicht. Ein normales Leben führen. Morgens aufstehen und ins Büro gehen, eine Arbeit machen und sich, wenn sie diese Arbeit langweilte oder ärgerte, damit trösten konnte, daß sie ja abends wieder das tun konnte, was sie viel mehr freute. Und sich sagen, daß sie nicht nur das von früh bis spät
benutzte Bürofräulein irgendeiner Firma war, sondern mehr. Nämlich ein Mensch, der selbständig dachte und handelte, wenn er schrieb. Daniel sprach nasal. Als langweilte ihn alles bereits in dem Moment, in dem er es auszusprechen begann. Kennst du, weißt du, hast du schon, wußtest du, daß. Sie sollte ihn zum Teufel jagen, das wußte sie. Aber er hatte eine junge Haut. Junge Haut gab es auch in ihrer Heimat. Sie mußte nur zurückfahren dorthin und sich einen Burschen nehmen. Aber der erfuhr dann, daß sie Bestsellerautorin war, und mit einer solchen hatte es einer wie Daniel leichter, folglich gab es kein Entkommen, sie war in die höhere Kaste aufgerückt. Wenn er wenigstens sagte: Du, in dem Buch, deinem Buch, das finde ich so gut, wie du … Aber er sagte, nachdem er die Stelle gesucht, das Buch aufgeschlagen hatte: «So ein Wort, ‹Teebutter›, würde ich nie schreiben. Entweder Butter oder Tee. Aber ‹Teebutter›, das ist doch, ich weiß nicht, also, so etwas schreibt man nicht.» Ihre Katze fand er lieb. «So lieb, daß es weh tut», sagte er. «Schau hin! Es tut weh. Findest du nicht?» Ihre Katze. Bisher hatte Christine ihr ein Leben in der Welt der Wörter erspart. Sie sagte immer nur ihren Namen, leise, ganz leise. Nun hatte Daniel sie beträufelt mit Sprache, und Christine glaubte mehr das, was er sagte, als das, was sie fühlte. Sollte sie nun die Katze weggeben oder ihn? Es war, als ob sie ein Vogel wäre, der sein Junges nicht mehr nahm, nachdem Menschen es angegriffen hatten. Sie erwog also, Daniel fortzuschicken. Denn die Katze konnte nichts dafür. Wortlos war das Einverständnis. Nun kommt ein Mann und trennt sie von Christine. Überempfindlich, kam ihr vor, und sie wußte es, und so ließ
sie ihn die Katze genießen, wurde aber das Gefühl nicht los, daß da ein Mann versuchte, es sich in ihrer Wohnung gemütlich zu machen, inklusive Katze, Haustier, Geborgenheit. Ihr wurde auf einmal unangenehm bewußt, daß sie für Daniel verantwortlich war. Sie wollte für einen so großen Knaben keine Verantwortung tragen. Er war über vierzehn, sie hatte mit ihm geschlafen, er war unter dreißig, für sie zu jung, wenn sie vierzig war, würde er fünfunddreißig sein und bei einer anderen, in deren Armen, sie mit einer einzigen Bemerkung abtun. Sie gingen zu Ignaz Hutter, der Leitl war auch dort. Daniel fragte auf dem Heimweg: «Warum hast du nie erzählt, daß dieser Leitl schielt?» «Weil es nicht wichtig war.» «O ja! So etwas ist wichtig.» Sie beharrte darauf, daß es nicht wichtig war. Daniel machte sie darauf aufmerksam, daß der Motor kalt war, das Auto kalt. «Es wird noch kälter werden, wenn du jetzt die Lüftung anstellst.» Sie manövrierte das Auto aus einer Parkzone seitlich der Ringstraße. «Und es ist nicht wichtig, daß der schielt!» «O ja. So etwas ist ganz, ganz wichtig.» «Der hat mir Schlimmeres angetan, als daß er geschielt hat!» «Trotzdem hättest du das erwähnen müssen. Dann hätte ich viel verstanden.» «Sag jetzt nicht: Hüte dich vor den Gezeichneten.» «Du fährst zu weit rechts.» Sie wollte nicht mehr, daß er mit in die Wohnung kam. Aber wo sollte er sonst übernachten?
19 Schade,
dachte Christine, daß der Helmut verschwunden ist. Er hatte auf einer Filmtagung in einem salzburgischen Dorf mit ihr einen langen Spaziergang gemacht und gefragt, ob es ihr auch so gehe, daß sie manchmal daheim vor dem aufgeschlagenen Telefon-Notizbuch sitze und die Namen durchgehe und nicht wisse, wen sie anrufen solle. «Ja.» Helmut war groß und dunkelhaarig. Er lachte. Seine vorderen Schneidezähne standen leicht vor. Er hatte ein hübsches Gesicht. «Ich wohne in Wien in der Halbgasse. Ganz in deiner Nähe. Wenn du willst, können wir uns, wenn wir beide wieder in Wien sind, öfter treffen.» «Hast du auch Depressionen?» fragte sie. «Ja! Und wie!» «Mir geht es immer so furchtbar schlecht, daß ich nur sterben möchte.» «Man muß es hinausschieben. Jeden Tag denken: heute tue ich es nicht, aber vielleicht nächste Woche. Nächste Woche dann verschiebst du es auf die übernächste.» «Aber dazwischen tut man doch so viele Dinge, die man nur noch tut, weil man denkt: ich bringe mich sowieso um.» «Das ist auch wieder wahr.» Helmut lachte, und sie lachte auch, weil sie auf einmal gar keine Depressionen
fühlte, eben weil auch er wußte, wie das war. Man konnte über sich lachen zusammen mit einem, der auch Depressionen hatte. Irgend etwas Falsches mußte an dieser angeblichen Krankheit sein, sonst würde man nicht im Gespräch mit einem Deprimierten auf einmal das Gefühl haben, daß alles nur eine geheimnisvolle Verschleierung war. Depression war vielleicht, daß man sich nicht mehr wehrte. Im Saal, in dem über die Filme diskutiert wurde, die ein tschechischer Regisseur, geflüchtet aus seiner Heimat, vorführen ließ, meldete ein junger Teilnehmer Bedenken an. Hier säßen lauter Arrivierte, die arrivierte Filmemacher eingeladen hätten, und niemand rede von den vielen Talenten, die Wichtigeres in Filmen zu zeigen hätten als diese reaktionäre Kunst. «Sie sind ein Neider und Sie stecken voll Haß! Und wenn Sie gekommen sind, um die Veranstaltung zu stören, dann verlassen Sie bitte den Saal!» «Ich bin ein politischer Mensch!» «Das ist Haß und Neid, nicht Politik, was aus Ihnen spricht! Ich lasse mich und meine Kollegen nicht beschuldigen, reaktionär zu sein! Ich komme aus einem kommunistischen Land! Ich weiß, was für Filme ich in Österreich drehe!» Der Junge ging, grinsend, und niemand applaudierte. «Kommen wir zurück auf Amerika», setzte der Vortragende seine Rede fort. «Wie ich Ihnen schon sagte: in Amerika kann man alles verfilmen, solange der Film ein Erfolg und also ein Geschäft wird. In Amerika können Sie sogar das ‹Kapital› von Karl Marx verfilmen, wenn es Geld einspielt.» Helmut erzählte Christine die Filme, die er drehen würde, wenn man ihm das Geld gäbe.
«Einmal einen Menschen zwei Stunden lang erzählen lassen, ein Fernsehprogramm, in dem die ganz gewöhnlichen Leute Gelegenheit haben zu reden. Bauern im Weinviertel bei ihrer Arbeit zeigen, andere Menschen bei ihrer Arbeit und wie sie leben. Filme ohne festgesetzte Handlung, ohne Drehbuch. Menschen! Menschen!» Er habe ein Projekt eingereicht. Es würde wahrscheinlich vom Fernsehen auf zehn oder zwanzig Minuten zusammengeschnitten werden, dabei habe er schon tagelang bei Bauern gedreht und Material für einen Film für vier bis fünf Stunden. «Heb es auf. Gib dem Fernsehen, was des Fernsehens ist.» «Und der Rest?» «Den bietest du woanders an. Es wird schon Menschen geben, die verstehen, was du machst, und es auch wollen.» Helmut kam, als sie wieder in Wien waren, jeden Tag. Er rief an, dann lief er von der Halbgasse herüber, setzte sich zu ihr, rauchte mit ihr. Sie tranken Tee. Er zeigte ihr, wie man guten Tee machte. Er reparierte eine wackelige Vorhangstange in ihrer Wohnung, übernachtete bei ihr, hätte gern mit ihr geschlafen, aber er lebte noch mit seiner Frau und den Kindern, obwohl er sagte, er werde sich scheiden lassen. Sie wollte keinen Grund haben zum Eifersüchtigsein, wollte kein Verhältnis mit ihm, und er begnügte sich. Dafür liebte sie ihn, konnte aber nicht sagen, wie, denn ein Bedürfnis, mit ihm zu schlafen, fühlte sie nicht. In der Nacht, wenn er bei ihr war, hielt er manchmal ihre Hand. Er mußte wegen seiner Dreharbeiten früh aufstehen. Oft fand sie einen großen Zettel auf dem Fußboden im anderen Zimmer.
«Dieses Leben ist eines der schwersten! Helmut.» Oder: «Guten Morgen! Hoffentlich hast du auch so gut geschlafen wie ich und schläfst noch länger.» Eigentlich war es Liebe, wenn man vom Körperlichen absah. Aber dann, als sie aus Hamburg zurückkam, von Jürgen, und als die vielen Briefe von Fernsehzuschauern auf dem Sessel lagen, fand Helmut für sie kein einziges Wort. Er hatte ein Mädchen mit dünnen, rotgefärbten Haaren bei sich. Er gab ihr die Wohnungsschlüssel und verabschiedete sich bald. Später kam er Geld ausleihen. In ihrer Sehnsucht nach Glück hatte sie schon vielen ihr Bett angeboten. Die Männer hatten sich ausgezogen, manche legten Hose, Hemd, Pullover, Socken, Unterwäsche auf den Fußboden, andere auf den Sessel. Manche nahmen die Armbanduhr ab. Manche schlüpften, wenn sie ins Bett kamen, nicht aus den Socken. Einer, mit dem sie auf einer Wiese lag, hätte am liebsten seinen Hut aufbehalten, und der Akt bestand darin, daß sie immer wieder versuchte, seinen Hut herunterzunehmen, während er ihn mit einer Hand festhielt. Er murmelte etwas von Ameisen, die den dritten Weltkrieg überleben würden, und er stieß in sie mit solcher Wut, daß sie beim anschließenden Mittagessen in einem Waldgasthaus noch immer zitterte und ein Bierglas umwarf. Dann biß sie so unglücklich in ein Schnitzel, daß ein Brösel ihr im Zahnfleisch steckenblieb. Als er wiederkam, zeigte sie ihm die vielen Bisse, die die Ameisen auf ihrem Gesäß hinterlassen hatten. Dann fuhr sie eines Tages doch nach Salzburg, um Daniel zu besuchen. «Der Brandauer ist berühmt geworden beim Kortner.
Bei ihm hat er den Prinzen in ‹Emilia Galotti› gespielt, und es war eine Sensation», dozierte er. «Weiß ich gar nicht.» «Also, bitte, das weiß man.» «Ich war so viele Jahre nicht da. Ich habe doch in Spanien gelebt!» «Trotzdem. Das weiß man. So etwas hat man zu wissen, wenn man den Brandauer persönlich kennt und noch dazu mit ihm im Bett gewesen ist.» «Ich bin nicht im Bett gewesen mit ihm! Ich weiß nicht, wie oft ich mir das noch anhören muß», sagte sie. «Natürlich hätte ich gern mit ihm geschlafen! Er gefiel mir, er hat so eine natürliche Art, er redet noch Dialekt, er hat eine Shakespeare-Szene einmal so frech gespielt, so unverfroren, so übermütig! Das war echtes Theater! Und kein Deklamieren und Erstarren in Ehrfurcht vor sich selbst, weil man in Ehrfurcht vor Shakespeare erstarrt. Shakespeare würde sich schieflachen über uns!» «Trotzdem hat man das zu wissen, seit wann er im deutschen Sprachraum in allen Theatern bekannt ist. Ich finde das unmöglich, daß du einen Menschen nur deshalb schätzt, weil er so wie du vom Land ist und Karriere gemacht hat!» «Könnten wir einmal über etwas anderes reden als über den Brandauer?» «Ja», sagte Daniel. «Ich zeige dir einen Film, wie ich auf der Filmschule in Hollywood war. Der Ingmar Bergman hat uns dort persönlich unterrichtet.» Viel ist dabei herausgekommen, dachte sie, der Apparat surrte, Daniel schaute fasziniert auf sich und seine Kollegen, wie sie sich gegenseitig filmten. «Ich weiß genau, was du jetzt denkst», sagte sie zu
Daniels Rücken: «Was könnte ich ihr jetzt noch bieten, mir ist mit ihr so fad, wie bringe ich sie aus meiner Wohnung hinaus, die Frauen wollen alle unterhalten werden.» «Ja, genau!» sagte er. «Du hast es erfaßt.» Sie sah nur den Buben. Vielleicht war er schon zwanzig, aber er hatte ein Kindergesicht. Immer verwundert, erstaunt, ungläubig. Er trug ein helles Hemd, fast weiß, aus Baumwolle. Dazu einen dunkelgrauen, ziemlich locker hängenden und ein wenig ausgebeulten Anzug. Der Stoff war fast durchgewetzt. Keine Krawatte, kein Mascherl. Er verbeugte sich gekonnt oder gönnerhaft. Christine trank Mineralwasser, während die Schauspieler, die bei den Brandauers eingeladen waren, Wein zu sich nahmen. Der Bub war eine Abwechslung, ein holder Streich, den sie den Anwesenden spielen konnte. Sich nicht in die endlosen Monologe eines alternden Schauspielers verlieren, sich nicht vergaffen in Leute, die sie nichts angingen, deren Namen ihr schon seit der Kindheit bekannt waren. Sich einfach konzentrieren auf den Buben dort drüben, zu dem der monologisierende Schauspieler (er erzählte von Werner Krauß) sagte: «Dich, dich habe ich geliebt!», und der Bub: «Ja, und in der Toilette hast du mir das Hemd heruntergerissen und mir die Brust zerkratzt, daß ich tagelang blutig war!» DIESE MUTTER, stand in Daniels Tagebuch. Er besaß ein chinesisches, eine Art Kalender mit chinesischem Horoskop und Sternzeichen, mit Raum für persönliche Eintragungen an jedem Tag, Summe der Woche, Summe
des Monats, und es war ein Buch, das man mehrere Jahre hindurch benützen konnte. Diese Mutter, stand in der Rubrik für den Tag, an dem sie bei Christines Mutter gewesen waren, Christine mit Perücke über den kurzen Haaren, die Mutter erkannte die Tochter nicht sofort. «Grüß Gott!» sagte sie. «Diese Mutter!» stand da. Daniels Schrift war wie eine Ansammlung von Spinnen und Insekten. Nichts Fließendes, nur hingekrakelt, einzelne Buchstaben, eckig, rund, mit langen Strichen nach oben, schräg, nach unten schräg hingeworfen. «Diese Mutter!» Was meinte er? Wie könnte sie ihn fragen? Sie blätterte weiter und fand in der Rubrik an dem Tag, an dem sie einander zum ersten Mal gesehen hatten, die Eintragung: «Mutters Geburtstag». Dann war da wenig später eine Eintragung: «Blutung» und ein Frauenname. Sie konnte ihn nicht fragen, da hätte sie zugeben müssen, daß sie gestöbert hatte. Aber sie wußte ja nicht, als sie das Buch mit den chinesischen Schrift- und Sternzeichen sah, daß es auch von etwas anderem noch handeln wollte. Das Buch war auf dem Tisch gelegen, warum räumte er seine Tagebücher nicht weg! Er sei anders als sie, sagte er, er sei Jude, und als Jude schwebe er ein bißchen «über diesem Planeterl». «Worin bist du anders? Was meinst du mit schweben?» «Ich bin anders! Und meine Füße berühren nicht den Boden.» «So etwas hat man zu mir über mich auch gesagt. Nur, es war als Vorwurf gemeint.» «Als Jude gehöre ich nicht ganz auf die Erde.» «Inwiefern bist du anders als ich?»
«Ich fühle, daß ich anders bin.» Er drehte den Fernsehapparat auf. Eine Diskussion. «Siehst du?» fragte er. «Was?» «Diese Frau hier!» «Ja, und?» «Gefällt sie dir?» «Sehr. Sie hat etwas so Vernünftiges. Fast wie eine Bäuerin.» «Sie ist aber keine Bäuerin, sondern Jüdin.» «Woran merkst du es?» «Als Jude merkt man sofort, wer Jude ist.» «Als Nazi auch.» «Aber ich merke es anders als ein Nazi. Ich spüre es. Und ich habe mich noch nie getäuscht.» «Woran merkt man es, als Jude, daß der andere Jude ist?» «Man merkt es!» «Und was fällt dir an mir auf?» «Daß du keine Jüdin bist.» «Inwiefern falle ich dir dadurch auf?» «Du bist anders.» «Ich lasse mir von dir nicht einreden, daß ich anders bin als du, wenn du mir nicht beweist, daß du anders bist.» «Tröste dich, du hast ja eh ein bißl jüdisches Blut.» Daniel stahl in Supermärkten, und auf die Frage, ob er das in Israel auch tun würde, sagte er: «Nein. Bestimmt nicht.» Es war seine kleine Rache an Deutschland und an Österreich, von allen Geschäften etwas, was er nicht bezahlt hatte, mitzunehmen. «Was ich nicht verstehe», sagte er, «das ist, daß die
Eltern nach dem Krieg zurückgekommen sind. Die ganze Verwandtschaft meiner Mutter ist ausgerottet worden. Auch der Vater hat alle Freunde und alle Bekannten und Verwandten verloren.» Sie riefen die Elisabeth an, Christine hatte erzählt, daß Walters geschiedene Frau sich am Telefon immer meldete mit einem laut dröhnenden unternehmungslustigen «Hallooo-hooo?!» Sie wählten die Wiener Nummer, und es dröhnte: «Hallooo-hooo?!» «Wirklich! So gut, wie du Menschen nachahmen kannst!» sagte Daniel. «Du solltest zum Kabarett gehen.» In der Badewanne spielten sie kleine Kinder und knabberten an der Seife. «Mutprobe!» rief Daniel und verstopfte Christine mit einer ganzen Seife den Mund. Sie fuhr zwischen Salzburg und Wien hin und her, nahm die Katze mit, lenkte sich ab auf der Autobahn, fuhr schnell, und wieder stritten sie übers Judentum. «Wenn du etwas anderes bist als ich, dann beweise es mir doch, behaupte es nicht immer!» Er wohnte am Stadtrand von Salzburg in einem Zweifamilienhaus, in dem die untere Wohnung vermietet war. Von seinen Eltern war er weggezogen, zuerst in der Stadt geblieben, dann wohnte er halb auf dem Land. In seinem Zimmer hing ein Plakat mit der Ankündigung eines Films von Peter Handke. Sie schminkte sich als Clown, als Kind, als ein Kind, das wie ein Clown aussah, und sie redete mit ihm, als wären sie beide noch klein.
«Deine Mutter ist mir unheimlich!» hatte eine Schulfreundin zu Christine gesagt, aber nicht erklärt, was dieses Unheimliche war. Ihre Mutter stritt mit Ignaz Hutter über den Wert der Tiere. Ignaz sagte: «Auch der Regenwurm, ja, ist nur ein Mensch.» «Ruhe!» rief es vom Hof herüber, die Fenster waren offen, es war eine warme Herbstnacht. Wenn sie wüßten, wer hier so lacht, dachte Christine, würden sie nicht «Ruhe» schreien, sondern herüberkommen: Ignaz Hutter, sonst nur im Fernsehen, diskutiert bei mir in der Wohnung! «Was Sie in ‹Der heilige Geist› über die Tiere geschrieben haben, gefällt mir nicht», sagte Christines Mutter. «Nächstes Mal schreibe ich ein Buch, das wird heißen: ‹Rosen im November›.» Den Türmler hatte sie zu ihrer Mutter gebracht. «Er sieht aus wie Emil, findest du nicht?» fragte sie. «Und er heißt nicht nur so, er ist auch, wie dein Emil war, Mutti, so nobel, oder?» Emil Türmler fühlte sich in Christines Familie sehr wohl. Er sagte, er habe sich schon lange nicht mehr so geborgen gefühlt. Mit der Witwe eines Tennis-Stars war Daniel liiert gewesen, nein, mit der sitzengelassenen Verlobten eines Tennis-Stars, aber eine Sitzengelassene ist ja so etwas Ähnliches wie eine Witwe. Daniel sagte: «Seltsam!» Sie gingen in das Haus, in dem er und seine Eltern früher gewohnt hatten, es stand in der Nähe eines Parks, ein Hochhaus, Neubau, Gemeindebau, er hatte dort seine Kindheit verbracht. Es war später Abend, sie
suchten das alte Türschild. Ein neuer, fremder Name stand drauf, aber unten, im Eingang, ein Türschild mit dem Familiennamen der Sitzengelassenen: «Seltsam!» Er erzählte ihr von der amerikanischen Schule und daß er als Kind nicht allein im Park hatte sein dürfen, daß «Jugendverbot» für ihn «Judenverbot» hieß, bei Filmen. «Die Eltern und ich, wir waren ein Körper. Wir waren eine Dreiheit, eine Einheit, auch körperlich! Wenn wir zu dritt waren, waren wir ein einziges Wesen. Wenn sie ohne mich fortgingen und mich in einem Hotel ließen, hatte ich Angst. In meinem Zimmer brannte ein kleines, grünes Licht. Das hatten sie in den Stecker gegeben, und dort schaute ich hin, bis ich sie wieder kommen hörte.» Diese Mutter! Was hieß das? Warum schrieb er nicht genauer, was «diese» hieß? Es nahm sie gegen ihn ein, aber sie ging noch immer nicht, obwohl sie sich bereits miteinander langweilten und deshalb die Verkleidungsund Verstellungsspiele machten. «Ich lese alles, was ich schreibe, bevor ich es veröffentliche, den Eltern vor», sagte er.
20 «Bezugsperson!»
sagte er zu ihr, schickte ihr Ansichtskarten, Manuskripte, Briefe: «Ich denke an Dich.» – «Denke sehr an Dich. Dein Daniel.» Sie fühlte sich schuldig am Scheitern dieser Liebe. Er war jünger als sie, sie wäre die Verantwortliche gewesen, aber das wollte sie nicht sein, fühlte sich trotzdem verantwortlich für das Scheitern jetzt. Sie war Österreicherin, er Amerikaner, er lebte hier, aber er sagte, er fühle sich hier als Gast. Sie war also Gastgeberin, und «Der Gast ist König!» hatte ihr Vater den Kindern daheim stets eingeschärft. Durch Daniel wurde sie erinnert an die Verbrechen ihres Volkes an seinem Volk. So wuchs der schmächtige Daniel zu einer Millionengröße heran. Ich werde auch einmal ein Buch über Amerika schreiben, dachte sie, und ich werde hinüberfahren und erzählen, wie ich mich als Österreicherin dort fremd fühle. Bei unserer Schutzmacht drüben. Amerikaner und Russen haben uns von Hitler befreit. Aber Amerikaner haben Atombomben geworfen auf Japaner, und die Welt ist, seit es Flugzeuge gibt, nicht mehr weit. Die Atombombe auf Hiroshima war ein Ereignis. Das Menschenausrottungsereignis von Nagasaki. Das Menschenausrottungsereignis von Hiroshima. Die Leichenverbrennungen von A., das Töten
mit Giftgas in A., das Desinfizieren des deutschen Volkskörpers gegen jeden Fremdling, der sich einnistet. Das Desinfizieren der deutschen Krankheit gegen jede Gesundheit, gegen jede niemals wieder möglich zu machende Einheit. Die erzeugte Fremdheit im Volk selbst durch das Niedermachen, Niedertreten und Töten alles Fremden. Sie war die Ältere, sie wurde an Daniel schuldig, auch sie hatte noch vor ein paar Jahren in Spanien erklärt, an einem Tisch sitzend mit ihrem Mann, mit der Schwiegermutter, Gäste waren da, sie erklärte den Spaniern auf spanisch, warum es notwendig gewesen war, daß man die Juden alle umbrachte. Sie hatte viele Begriffe im Kopf, die ließen sich schwer übersetzen. Sie verteidigte nicht nur ihren Vater, sondern Hitler, denn für sie war Hitler der Vater gewesen. Guter Hitler im Himmel, wenn Du kommst, wird alles gut, wirst Du beim Nürnberger Prozeß über Dich aussagen? Wirst Du erklären, warum Du das alles gewollt hast? Wirst Du erklären, daß Du die Atombombe nicht geworfen hast? Wirst Du sagen, bitte, das mit der Atombombe, das weise ich zurück, das haben die Japaner selbst gemacht!? Warum, würde man Hitler fragen, warum haben Sie das getan? Lesen Sie mein Buch, würde er antworten, in meinem Buch, da habe ich alles geschrieben, nein, bitte, ich habe es nur diktiert, es war eine Männerfreundschaft, wissen Sie, und wir haben uns an dem Haß genährt, der in uns war, von dem Haß aufs Bürgertum, auf die Großbürger, auf die Künstler, auf Kirche, auf Gott, auf die Gesellschaft! Wir sind Revolutionäre gewesen! Wir wollten eine neue Ordnung schaffen.
Hätte er nicht Selbstmord begangen, hätte er in Nürnberg doch ausgesagt, hätte er doch die Schuld auf sich genommen, stellvertretend für sein Volk! Er war doch eines ganzen Volkes Stellvertreter! Die haben sich alle angemaßt, den Willen der Deutschen zu formen und durchzusetzen. Hitler hat nicht nur den Tod gebracht, er hat auch die Schizophrenie hinterlassen, diese Bewußtseinsspaltung, mit der schwer ist zu leben. Wenn du zu denken aufhörst, stürzt du in einen Abgrund. Wenn du denkst, bist du auf beiden Seiten gleichzeitig. Der gute Hitler und der böse, der gute Stalin und der böse. Für Hitler ist es nicht leicht gewesen, sich beim Nürnberger Prozeß zu verteidigen. Man sprach in vielen Sprachen, alle redeten auf ihn ein, Deutsche, Rumänen, Bulgaren, alle, die vom Krieg betroffen waren, Franzosen, Engländer, alle, die er bekämpfte, Spanier, Italiener. Denn er hat auch spanische Kommunisten, die vor Franco geflüchtet waren, in Deutschland und in Österreich und überall, wo er war, umgebracht. Das hat alles der Hitler gemacht, schaut, Kinder, die Leichen! Auf dem Nürnberger Prozeß liest Hitler aus «Mein Kampf» vor. Er habe alles gewußt, alles gewollt, er habe es doch angekündigt. Das Buch ging in Satz, ging in Druck, und es wurde als Bestseller verteilt. Massenware Buch, «Mein Kampf», alle lesen es und finden es unmöglich, jeder bekommt es geschenkt zur Hochzeit, stellt es aufs Regal, und ein Führer, der ein Buch geschrieben hat, ist so ähnlich wie Moses, der mit den Gesetzestafeln kam. Und die Deutschen wird er führen in Länder, in denen Milch und Honig fließt, und er wird die Tempel ausräumen, hingehen wird er und alle
Völker lehren, und er wird seine Musik machen, diese ganze Musik von Wagner, mit Walzern und Operetten dazu. Schuhplatteln wird die SS. Ich war Teilhaber am Ersten Weltkrieg, bitte, wird er sagen, in Nürnberg, man möge ihm doch zugute halten, daß er Kriegsteilnehmer war, daß er im Ersten Weltkrieg seine Pflicht tat, und er wird sein Bärtchen drücken, und Flammen lodern aus seinem Mund. Stereotyp wird er sich verteidigen, immer dasselbe sagen, so oft, bis die Zuhörer gewonnen sind. Der Glaube ist wichtig, in dem ich etwas tue, meine Herren, und nicht, was ich tue. Die Pflicht ist wichtig, wie ich sie erfülle, und nicht was für eine Pflicht! Wirtschaftliche Überlegungen haben eine große Rolle für mich gespielt. Ich habe mein Volk gespeist als Bergprediger. Pfingstfeste habe ich gefeiert mit meinem Volke! Ich habe die Evangelien gekannt, schon als Kind! Nichts war mir so unklar, darum merkte ich mir alles, was ich nicht verstand. Ich fand viele, die auch als Kinder schon die Evangelien kannten, und sie folgten mir. Wenn Moses in Kanaan die dort Einheimischen ausrotten durfte für sein Volk, um wieviel mehr durfte ich dann mein Deutschland hinaustragen in den angrenzenden Raum! Volk ohne Licht, ohne Luft in Kellerwohnungen! «Mutter, erzähle mir von Adolf Hitler», gab es als Buch, und einen Psychiatrie-Lehrband, in dem stand, der deutsche Patient sei zu fragen, ob er wisse, wer Adolf Hitler sei. «Warum wolltest du denn berühmt werden, wenn es dir keinen Spaß macht?» fragte Daniel. «Weil ich wollte, daß ich jemand bin.»
«Das warst du doch auch so, vorher.» «Irrtum! Ich bin nicht so aufgewachsen, so gehätschelt worden wie du, Daniel. Ich war kein Einzelkind. Nicht ersehnt von den Eltern, ich bin ihnen einfach passiert.» «Und trotzdem, du wolltest dich hervortun, und es ist dir gelungen.» «Ja, aber es paßt nicht zu mir. Ich möchte, daß auch meine Schwestern, meine Eltern, daß jeder Mensch einen Namen hat. Jeder Mensch ist wichtig, sollte wichtig werden, sobald er lebt. Nachdem mein Buch erschienen war, glaubte ich, die Menschen drehten sich von oben nach unten, schauten von unten zu mir herauf, und in dieser Verrenkung küßten sie mir die Hand.» «Du, du bist eine Heilige», sagte er, «nichts paßt dir.» «Nein, mir paßt nichts, und lange halte ich diesen Zustand nicht mehr aus.» «Was für einen Zustand?» «Auf einer Bühne stehen und kein Privatleben haben.» «Dann mach dir eines!» «Das will ich ja, aber ich habe keinen Beruf gelernt.» «Ich ernähre dich», sagte er. «Da sind wir ja genau bei dem Problem: Einer ernährt den anderen, ein Erwachsener sorgt für einen anderen Erwachsenen, als könnte sich der nicht selber helfen!» «Dann ernährst du dich eben selbst und lernst einen Beruf!» «Aber man wird mich doch überall, wo ich hinkomme, unernst nehmen. Die sammelt Stoff für einen neuen Roman, wird es heißen.» «Pech!» sagte Daniel. «Dann hast du halt Pech gehabt.» Wie aber lebte es sich, wenn man pechbeschmiert
herumlief? Und die Leute sahen es nicht, sie strahlten: «Nein, daß ich Sie kennenlerne!» Daniel streckte sich auf ihrem Sofa aus. Sie wußte nicht, woran er dachte. Vielleicht an sein nächstes Buch. Zum Teufel, warum hatte sie ihm nicht ins Gesicht gesagt, daß sie sein Buch blöd fand? Geschwafel, nichts als Geschwafel mit schönen Worten. Florida! Sollte doch jeder sein Florida selbst erleben. Die Romanschriftsteller und die Reiseschriftsteller, die Journalisten und alle diese Schreiber nahmen immer alles voraus, das Angenehme, das Unangenehme. Wahrscheinlich müßten Bücher verboten werden. Und zwar alle. Ausnahmslos wirklich kein Buch mehr in dieser Welt. Wahrscheinlich müßte Geschichte verboten werden. Wen geht es an, was gestern geschah, bevor es ihn gab? Heutige Probleme sehen und nicht behaupten, daß man das Heute nur verstehen kann, wenn man das Gestern versteht. Erzähl diesen Schmus einer Blume! «Es sind die Gaskammern, die ich dir nicht verzeihe, Daniel! Ich, hörst du, ich verzeihe sie dir nicht! Daß ihr euch das gefallen habt lassen! Daß ihr geflüchtet seid! Wo doch angeblich das Weltjudentum eine Verschwörung plante! Warum habt ihr euch nicht gegen den Kretin aus Braunau verschworen! Warum habt ihr die Antisemiten nicht gekillt! Warum habt ihr sie studiert, anstatt die Religionsbücher der Kinder aufzuschlagen? Was ich in der Schule gelernt habe, in Religion, ist wörtlich das, was man Hitler lehrte. Geh in die Wiener Burggasse, schau nach in der Religionspädagogischen Bibliothek! Der Knabe Adolf wußte mit sechs Jahren, daß Juden Teufel sind, so wie das Mägdlein, das hier
neben dir im Bett liegt! Beim Nürnberger Prozeß ist der Katechismus nicht auf der Anklagebank gelegen. Münchner Prozeß, hätte ich beinah gesagt. Mir schwirrt der Kopf von Unsinn! Ich habe im Gymnasium bei einer Prüfung in Geschichte gesagt: Und wie dann der Dollfuß den Schuschnigg erschossen hat … Denen ist nichts aufgegangen! Die haben nur behauptet, daß ich faul bin. Und ich war, ich gestehe es gern, mit den Gedanken woanders. Mit siebzehn hätte ich nicht Geschichte lernen, sondern mit einem Mann im Bett liegen sollen. Ich war schon mit zwölf soweit, und die Buben auch, oder mit dreizehn, meinetwegen, und bis achtzehn mußten wir tun, als ob wir nicht soweit wären!» «Also, ich habe Selbstbefriedigung gemacht», warf Daniel ein. «Brav. Dafür wird man gelobt. Früher haben sie es verteufelt, weil sie sogar darauf eifersüchtig waren, heute loben sie es, weil es beweist, daß wir erwachsen sind. Und daß wir trotzdem den Eltern keine neuen Angehörigen aufzwingen.» «You are oversexed, my dear.» «Ich war mit zehn höllisch verliebt in einen Neunzehnjährigen. Alles hätte er mit mir tun dürfen! Ich hätte ihm alles erlaubt! Ich! Ich war nämlich mit zehn soweit, nicht mit zwölf! Mit zehn habe ich ausgeschaut wie fünfzehn, mit zwanzig habe ich dann ausgeschaut wie eine Achtjährige.» «This is very interesting.» «Aber ich habe den Burschen nicht auffordern dürfen. Das hätte ja bedeutet, daß er Kinder schändet. Nur, ich war kein Kind mehr. Und vielleicht hätte er auf mich
sogar Lust gehabt! Und, weißt du, was ich mit dreizehn getan habe? Wir waren in Nürnberg, er war aus Fürth, seine Eltern sind Freunde von meinen Eltern gewesen. Auf dem Nürnberger Reichstagsgelände habe ich mich hingestellt, ich, das Mädchen, das überreife, das lange schon traurige, und ich habe mich aufgestützt und gesagt: Deutsche Männer! Deutsche Frauen! Das hat mein Vater zum Lachen gefunden. Ich auch. Deutsche Frauen! Mit der Stimme Hitlers. Wenigstens so wollte ich ihn auf mich aufmerksam machen.» «Stupid.» «Dieses Wort könntest du über beinah alle Mädchen schreiben, die mit mir in die Schule gingen. Auf ein paar nicht, nur: auf die hat man mit dem Finger gezeigt. Flitsche, Früchterl, Hure, und die Braven, die haben sich dann mit neunzehn, mit zwanzig entjungfern lassen.»
Es war Januar, Christines Mutter kam mit einem Hund, der dick war, auf dürren Beinen. Ob sie ihn vielleicht nehmen würde oder jemanden wüßte, der ihn nimmt. «Nimm ihn nicht, bitte, bitte, nimm ihn nicht», flüsterte Daniel, und weil sein Vater engagierter Atombombengegner war, nahm sie den Hund nicht. Sie verließ sich auf Daniels Gefühl, obwohl sie ihrer Mutter das Tier gern entrissen hätte: Kümmere dich nicht um Viecher, jetzt, wo du endlich frei bist, als Witwe, kümmere dich um dich! Die Mutter blieb ein paar Stunden. Christine versuchte, ihr Gesellschaft zu leisten, sie saß so arm da. Aber Daniel schlich herum, wisperte ihr ins Ohr: «Der Hund, der ist furchtbar schiach.»
Ein dicker Mann, den sie nur komisch finden konnte, weil auch Daniel ihn komisch und sehr, sehr seltsam fand, half ihrer Mutter, in Wien herumzutelefonieren. Am liebsten würde sie mit ihr jetzt nach Hause fahren. Weil sie sich aber dieses Gefühl nicht erklären konnte, blieb sie. Und sie ließ ihre Mutter mit dem Tierschützer fortgehen. Christine wurde schwanger vom Spiel vor dem «Video». Sie hatten die Kamera, die ihr Anton Leitl empfohlen hatte, eingeschaltet und sich vor ihr ausgezogen und miteinander geschlafen, geliebt konnte man das nicht nennen. Aber aus einer Aktion für die Kamera wurde ein Kind. Daniel sagte: «Ich möchte nicht Vater werden. Ich will aber auch nicht, daß du es umbringst.» Christine wollte noch in der Nacht aus Daniels Wohnung wegfahren. Sie rief die Katze, aber die kam nicht. Wahrscheinlich hatte sie sich im Schnee verirrt. «Ich fahre trotzdem», sagte sie. «Ich kann hier nicht bleiben.» «Es ist Nacht! Es hat geschneit! Ich lasse dich nicht fahren!» «Es ist mir egal, ob es geschneit hat! Ich bin eine gute Autofahrerin!» «Du fährst nicht!» schrie er und versteckte ihre Schlüssel. Sie rauften um die Schlüssel, sie fiel aufs Bett, er schlug sie auf den Rücken, sie schrie: «Schlag mich nicht! Du wirst mich nicht schlagen! Ich lasse mich von dir nicht schlagen und von keinem Mann!» «Aber du forderst es heraus.» «Nichts fordere ich heraus!»
«O ja.» Sie wollte doch nur wegfahren, damit sie im Auto allein sein konnte. Nachdenken. Dann, in ihrer Wohnung allein, ein paar Tage lang nachgedacht, Daniel wieder angerufen, alles gut, probieren wir es weiter. Aber er zwang sie, sich neben ihn ins Bett zu legen. Sie war wie im Ehezimmer, in der Schiffskabine, sie mußte neben einem Mann liegen, mit dem sie zerstritten war, es war die größte Demütigung, denselben Plafond zu haben, dieselbe Decke mit einem Mann, neben dem man sich, schämte. Oder der einen verletzt hatte. Das waren die Augenblicke, in denen sie sich wehren wollte, und sie konnte es nicht anders als durch Verlassen. Ihr war es egal, was er empfand, sie spürte nur die Demütigung. Ihr waren alle Männer egal, was sie empfanden, wenn sie sie gekränkt oder verletzt hatten. Sie sollten leiden. Er hatte sie geschlagen, als sie schwanger war, das gab einen dramatischen Höhepunkt: Jude schlägt Nazitochter, die sein Kind im Bauch trägt. Worum war es überhaupt gegangen? Daß sie sich minderwertig fühlte ihm gegenüber. Er war von Eltern, die keine Schuld hatten. Er gehörte der Rasse der Bessergeborenen an. Sie gehörte zu den Kindern von Prüglern und Euthanasisten, das war doch nur Abschaum. Sie konnte für Daniel, konnte für Walter nur Abschaum sein. Solche Vorstellungen plagten sie. Und wenn man ihr hundertmal sagte: Du bist für deine Eltern nicht verantwortlich! Die Nazis, denen hätte man es verbieten müssen, nach
dem Krieg Kinder zu kriegen. Zuerst umarbeiten! Nicht aufarbeiten, umziehen, umerziehen, in ein Lager. Dann Erde umgraben. Zehnmal soviel Erde, wie Juden umgraben mußten, bevor man sie lebend und tot darin begrub. Zehnmal soviel Erde, weil es zehn Gebote gibt, zehnmal soviel, weil die Nazis nicht umgebracht, sondern nur umerzogen wurden. Und der Morgenthau-Plan wird durchgeführt: Deutschland, ein Bauernland. Keiner soll lesen und schreiben lernen dürfen, jeder darf mit dem Spaten in der Hand Gemüse und anderes Eßbare anbauen. Keine Militarisierung. Keine Fabrikgebäude. Ein Volk, das nur dann wieder zeugen darf, wenn sie singen «Kein besser Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit». Und die Kinder gehen nicht in die Schule, sondern lernen arbeiten. Und erst die Enkel der Nazis dürfen wieder studieren. Aber sie waren die Elite, unterschiedslos, im Gymnasium, und ein Mitschüler saß da, zitternd, mit mageren Knien, Speichel tropfte ihm aus dem Mund, er schwärmte für Hitler. Ein anderer saß da, zitternde Knie, er spielte Hitlerreden vor. Der dritte, der vierte, die meisten waren für Hitler, weil sie wußten, daß es verboten war. Und der Sohn des ehemaligen Kreisleiters der Stadt schwieg. Er wuchs ohne religiöses Bekenntnis auf, und er wurde kein Antisemit. Wenigstens das hatte Hitler erreicht: daß die Kinder von besonders treuen Nazis nicht Katholiken wurden, weil manche «Treue» nie wieder in die Kirche eintraten. Sie hielten ihre Kinder vom Religionsunterricht fern, o. B. ohne Befund, ohne Bekenntnis. Solche jungen Leute wußten nicht, wer Juden waren. Wenn man ihnen dann
von den Juden erzählte, die umgebracht worden waren vor kurzer Zeit, blieben sie skeptisch. Denn sie hatten in keinem Religionsunterricht die Lüge von der angeblichen Wahrheit gelernt. «Wie war es denn für dich?» fragte er, als Christine nach Hause kam. «Ich bin hingegangen wie der Elefant.» «Was heißt das, wie der Elefant?» «Hast du nie gelesen, daß Elefanten, wenn sie sterben, sich vom Rudel entfernen und es allein tun?» «Was tun sie allein?» «Sie gehen in den Busch, dort sterben sie. Und sie gehen so allein, wie ich gegangen bin.» «Du hast doch nicht von mir erwartet, daß ich dich zur Abtreibung begleite?» «Es sind ein paar Männer dort gewesen. Die hielten ihren Frauen die Hand. Die meisten Frauen waren allein. Die paar Männer, die neben ihren Frauen standen, und die Frauen saßen, bevor sie drankamen, und der jeweilige Mann hat ihnen die Hand –» «Ja! Ja! Ja!» «Die, die den Frauen die Hand gehalten haben, habe ich gehaßt dafür, daß sie diese Frauen in so eine Situation gebracht haben! Wenn du einer Frau die Hand halten kannst, dann kannst du ihr schließlich auch ein Kind –» «Nein! Ein Mann weiß doch nicht, wann er zeugt!» «Dann solltet ihr es lernen!» «Was lernen?» «Nicht zu zeugen!» Warum hatte sie aber wirklich abgetrieben? Um nicht Mutter eines Kindes von einem Juden zu werden? Sie
hatte sich doch auch von Walter ein Kind gewünscht, und er war Jude. Sie hatte abgetrieben, weil sie frei sein wollte. «Dieses Licht!» sagte Daniel, er zeigte auf den Plafond, auf die Lampe. «Es ist schrecklich, dieses Licht! Also, das würde ich nicht aushalten! In meiner Wohnung habe ich kleine Lampen stehen. Warme, weiche Lichtquellen. Die müßtest du überall in der Wohnung haben. Damit es gemütlich wird! Auf der Filmschule haben wir gelernt, wie man einen Raum ausleuchtet.» Er schrieb eine Geschichte über ihre Wohnung, wie man von einem Zimmer ins andere kommt. Dann über sie, wie sie mit der Katze redete. Sie erkannte weder die Wohnung wieder noch sich selbst. Aber gut, vielleicht ist es gut, sagte sie sich. Er zeigte ihr eine Taschenlampe. Sie war stabförmig, und man konnte mit ihr in einer Telefonzelle, ohne zu bezahlen, telefonieren. Man steckte einfach an einer bestimmten Stelle die Lampe an. Wenn er mich anruft, dachte sie, und dafür kein Geld ausgeben will? «Ich habe damit nach Paris telefoniert», sagte er. Sie fragte nicht, wen er angerufen hatte, sagte nicht, daß sie eifersüchtig war, sondern: «Und ich zahle in diesem Staat Geld, und du bestiehlst ihn. Bitte, geh jetzt!» Er lief mit eingezogenem Kopf über die Stiege hinunter. «Sag einmal», fragte Daniel, «wie ich dich damals geschlagen habe …» «Weiß ich gar nicht mehr.»
«O ja! Ich habe dich geschlagen! Erinnerst du dich nicht?» «Wann?» «Wie wir um den Schlüssel gerauft haben.» «Ach ja. Hast du mich damals geschlagen?» «Ja! Hast du es wirklich vergessen?» «Wirklich.» Und sie hatte es wirklich vergessen, sie log nicht, er mußte es ihr in Erinnerung rufen. Der Täter vergißt, das Opfer erinnert sich. Wahrscheinlich war sie Täterin gewesen, auch wenn er es dann war, der zugeschlagen hatte, denn sein Gewissen war vielleicht rein. «Und? Was willst du wissen?» «Naja, ich weiß jetzt nicht mehr, warst du damals noch schwanger, oder war das nach der Abtreibung?» «Da war ich noch schwanger», sagte sie, obwohl sie sich nicht erinnerte, daß er sie geschlagen hatte. Ihm fiel dieser Widerspruch nicht auf. Aber sie wollte ja nur, falls er sie wirklich geschlagen hatte, dazu auch noch schwanger gewesen sein. Aber sie traf Daniel auch weiterhin. Das Kind war weg, er meldete sich immer wieder, schickte Briefe, Ansichtskarten, Manuskripte. Sie las und korrigierte, so gut sie konnte. Manchmal sagte er, er würde zu schreiben aufhören, er sei kein Dichter, kein Schriftsteller, nur Journalist. «Was heißt nur? Journalisten, gute, sollte es geben! Wenn du ein guter Journalist bist, dann bist du etwas Gutes.» «Naja, aber ich möchte halt doch viel lieber Schriftsteller …»
Er fuhr nach Prag, er flog nach Rom, er verkroch sich in der Schweiz, im Salzburgischen, in Tirol, er flog nach New York, nach Tel Aviv, seine Reisen wurden finanziert von Zeitschriften, für die er Berichte schrieb. Er war in Erdbebengebieten, er würde wahrscheinlich zum Mond fliegen, wenn sie ihn mitnähmen. Im Fernsehen war eine Diskussion mehrerer Moslems und Christen und Juden, mehrerer Syrer, Libanesen und Israelis, die Herren schrien einander an, konnten sich auf nichts einigen angesichts der Bombardierung des Libanon durch den israelischen Staat. Sie telefonierten nach der Sendung. «Ich bin deprimiert, es ist entsetzlich», sagte Christine, «die können ja nicht miteinander reden, das ist ja furchtbar, wie soll es zu irgend etwas kommen, wenn sämtliche Teilnehmer sämtlichen Teilnehmern ins Gesicht schreien, daß sie lügen.» «Naja, mich hat es eher amüsiert.» «Du bist zu leicht!» sagte sie. «Du schwebst über dem Planeterl, nicht wahr? Tatsache ist, daß du herumreist, schaust, aufschreibst, publizierst und daß dir nichts zu Herzen geht!» Er legte auf, und zwei Tage später bekam sie einen Brief. Alles, was sie über ihn sage, über seine Teilnahmslosigkeit, sei antijüdisch, und er wolle sie nicht mehr sehen. Schönes Licht, das ist das Licht in der Wohnung, Behaglichkeit, und nicht das Licht des Geistes, kein Glitzern, kein Flimmern, kein Glänzen und kein Leuchten. Sondern einfach still sitzen und ein Buch lesen. Franz Kafkas Briefe an ein Mädchen, das weit von
ihm wohnte. Er schrieb ihr Briefe, Tag um Tag, Nacht um Nacht – beinahe. Aber er konnte Felice, wie er fand, nicht heiraten. Die Frau hat die Briefe aufbewahrt. Nach Kafkas Tod darf sie nun jeder lesen. Was sich Christine wünschte, das war eine Petroleumlampe. Solche Briefe durfte man nur lesen, wenn man ein warmes Licht besaß. Kleine Bauernstube, ein Sofa, ein Bauerntisch. Mit Möbeln hatte sie versucht, etwas zu erschaffen, was es nicht mehr gab: Geborgenheit. «Bei mir werden Sie keine Geborgenheit finden», hatte Walter gesagt. «Bei mir können Sie höchstens erwachsen werden.» Christine hatte die jeweiligen Epochen in ihrem Leben nach Männern benannt. Männer, die ihren Weg gekreuzt hatten, obwohl sie gar keinen Weg ging. Sie stand und saß am Rande. Sie wartete. Auch wenn eine Hand käme, würde sie sagen: Nimm mich mit!