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SchlA 23
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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge
Band 23
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Bernhard Schmidt
Schleiermachers Liederblätter 1817 Edition, Analyse und Kommentar eines einzigartigen Phänomens
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung, Köln.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020706-4 ISSN 1861-6038 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Inhaltsverzeichnis Geleitwort
................................................
VII
I. Einleitung 1. Schleiermachers Liederblätter (Einführung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen ..................... Der Gottesdienst als Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Liederblätter des Jahres 1817 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Liedbearbeitungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kirchenmusiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Liederblätter als Dokument der Gottesdiensttheorie Schleiermachers
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II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.
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35 49 56 64 71 82 88 97 105 113 120 126 137 144 155 162 170 177 184
Die Liederblätter des Jahres 1817 Am Neujahrstage 1817 . . . . . . . . . . . . . . . Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1817 Am dritten Sonntage nach Epiphanias 1817 Am Sonntage Sexagesimä 1817 . . . . . . . . . Am Sonntag Invocavit 1817 ........... Am Sonntag Oculi 1817 .............. Am Sonntag Judica 1817 . . . . . . . . . . . . . . Am Ostersonntage 1817 . . . . . . . . . . . . . . Am Sonntage Misericordias Domini . . . . . Am Sonntage Cantate 1817 . . . . . . . . . . . . Am Sonntage Exaudi 1817 ............ Am zweiten Pfingsttage 1817 . . . . . . . . . . Am Sonntag Trinitatis 1817 ........... Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817 Am vierten Sonntage nach Trinitatis 1817 Am sechsten Sonntag nach Trinitatis 1817 Am achten Sonntag nach Trinitatis 1817 . Am zehnten Sonntag Trinitatis 1817 . . . . . Am zwölften Sonntag nach Trinitatis 1817
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1 2 2 5 16 16 19 21 25
VI 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.
Inhaltsverzeichnis
Am vierzehnten Sonntag nach Trinitatis 1817 . . . . . . Am sechszehnten Sonntag Trinitatis 1817 ......... Am Erndtefest 1817 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817 . . . . . . Am zweiten Tage des Reformationsfestes 1817 . . . . . Am zweiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817 Bei Eröffnung der Synode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am vierundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817 Am ersten Adventssonntage 1817 ............... Am dritten Adventssonntage 1817 . . . . . . . . . . . . . . . Am zweiten Weihnachtstage 1817 . . . . . . . . . . . . . . . Am Sonntage nach Weihnachten 1817 . . . . . . . . . . . .
Abbildungen
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190 195 202 210 219 237 245 254 262 271 279 291
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Abkürzungsverzeichnis
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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1. Schleiermachers Liederblätter
VII
Geleitwort In Zeiten, in denen die evangelische Theologie ihre uralte Spezialdisziplin Liturgik neu entdeckt und die evangelische Kirche ihre Spiritualität, in Zeiten, in denen in der Kirche laut nach der „Qualität von Gottesdiensten“ gerufen wird und „Salz der Erde“, das Perspektivprogramm meiner Landeskirche, für die kirchliche Praxis der Gegenwart diagnostiziert, dass „das Zusammenspiel von Liedern, Gebeten, Texten und Predigt nicht immer stimmig“ sei und fordert, „die Verbindung zwischen Wort und Musik im Gottesdienst zu stärken“ und nach „Beispielen guter Praxis“ zu suchen, da mag auch der Blick in die eigene Geschichte und Tradition förderlich sein. Wie hat es wohl Friedrich Schleiermacher gemacht, „der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ (C. Lülmann) und „Klassiker der Theologie“ (U. Barth)? Zwar reicht der Ruhm des Predigers Schleiermacher bis in die Gegenwart, doch beschränkte sich seine gottesdienstliche Wirksamkeit keineswegs nur auf die Predigt, vielmehr wurden seine Gottesdienste als Ganzes, gleichsam als Gesamtkunstwerke, konzipiert und rezipiert. Nur dieser Totaleindruck kann die gewaltige Wirkung erklären, die Schleiermachers Gottesdienste auf seine Zeitgenossen hinterließen. Freilich ist mit ihrer Wirkung die Frage, ob Schleiermachers Gottesdienste solche „Beispiele guter Praxis“ waren und vor allem, ob sie auch für uns noch bedeutsam sind, nicht schon beantwortet. Dafür bedarf es der Kenntnis der Quellen, die einen Einblick in Schleiermachers „Gottesdienstwerkstatt“ gewähren und uns in die Lage versetzen, diese zur Diskussion zu stellen. Mit der Ausgabe der „Liederblätter des Jahres 1817“ werden die vor 20 Jahren wiederentdeckten Liederblätter, die neben den Predigten wichtigsten Dokumente der Schleiermacherschen Gottesdienste, zunächst für den Zeitraum eines Jahres, vollständig vorgelegt und analysiert. Ich setze damit die Arbeit fort, die mein verehrter Lehrer Jürgen Henkys mit seiner Miszelle („Die Lieder in Schleiermachers Gottesdiensten 1830‒1834. Hinweis auf eine fällige Aufgabe“ 1985) angeregt hatte, die mein Freund und Kollege Wolfgang Virmond vor vielen Jahren begann, und die ich im Rahmen meiner Dissertation über den Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers weiterführen durfte. Außer Wolfgang Virmond bin ich den Schleiermacherforschern Kurt Viktor Selge, Andreas Arndt und Simon Gerber in Berlin für allen Rat und alle Förderung zu tiefem Dank verpflichtet, außerdem Günter Meckenstock und seinem Forschungsteam in Kiel für Hinweise zu den Predigten, Hermann Fischer und den Mitherausgebern des Schleiermacher-Archiv für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe, dem De Gruyter-Verlag, vor allem in Person
VIII
Geleitwort
von Albrecht Döhnert für alle Hilfe in der Schlussphase, weiter dem Musikwissenschaftler Tobias Schwinger für viele Auskünfte aus dem wiederentdeckten Archiv der Singakademie sowie ganz besonders der Fritz-ThyssenStiftung in Köln für die finanzielle Unterstützung dieses Projektes. Ohne all deren Rat und Tat und Geld hätte ich dieses Buch nicht schreiben können, noch weniger ohne die Zeit, die mir vor allem meine Frau Amelie, aber auch meine Söhne und meine Gemeinde in den letzten Jahren geschenkt haben. Potsdam-Groß Glienicke am Reformationstag 2008
Bernhard Schmidt
I. Einleitung 1. Schleiermachers Liederblätter Friedrich Schleiermacher (1768–1834), seit 1809 reformierter Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, hat über sechzehn Jahre lang für jeden seiner Hauptgottesdienste (Sonntags 9 Uhr) ein eigenes Liedblatt drucken lassen. Wir wissen heute, dass Schleiermacher bereits im Jahre 1812 und durchgehend seit 1813, also zu einer Zeit, da an ein neues Gesangbuch noch gar nicht zu denken war, damit begonnen hatte, für seine Hauptgottesdienste an der Dreifaltigkeitskirche systematisch Liederblätter herzustellen und herauszugeben.1 Gottesdienstzettel waren damals nichts Ungewöhnliches. Das Besondere an Schleiermachers Praxis ist, dass die Liederblätter regelmäßig und kontinuierlich erschienen, und dass die Texte der Lieder durch den Liturgen und Prediger redaktionell bearbeitet wurden.2 Doch warum tat er das? Was wollte er damit bezwecken? Was waren die Liederblätter? Waren sie nur kulturelle Standesmerkmale? Oder waren sie Vorarbeiten für das neue Gesangbuch oder Dokumente durchkomponierter Gottesdienste? Um diese Frage beantworten zu können, müssen die Liederblätter insgesamt analysiert werden. Nur eine systematische Untersuchung der Liederblätter kann ihren eigentlichen Zweck sichtbar machen. Zwei große Sammlungen und einige Einzelblätter sind uns überliefert. Mit den jeweils drei bis fünf strophenweise aufgeführten Liedern dokumentieren die Liederblätter weit über 1000 Liedtexte von über 400 Schleiermacherschen Gottesdiensten, was um so interessanter ist, als die Textfassungen noch im Fluss waren und die jeweilige Textgestalt interpretierbar ist. Trotz der beträchtlichen Masse sind noch nicht alle Liederblätter wieder aufgetaucht. So wird es künftiger Forschung vorbehalten bleiben, weitere Liederblätter aufzustöbern, damit die Sammlung zu komplettieren und die undatieren Liederblätter der Jahre 1812 bis 1816 zu ordnen und zu datieren. Im Rahmen meiner Dissertation über den Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers hatte ich mit der Analyse von Liederblättern und Gottesdiensten 1 2
Zur Erläuterung s. u. S. 25f., Fußnote 117. Die Möglichkeit, dass die Liederblätter samt Textfassungen vom zuständigen Kantor hergestellt worden sein könnten, scheidet aus. Neben verschiedenen Zeugen der Schleiermacherschen Urheberschaft, vgl. I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, S. 31‒33, gibt Schleiermacher auch in seinen Notizen zur Anleitung zum Entwurf der Kirchenordnung (1818), vgl. KGA I/9, S.199–202, zur Frage der Liedauswahl selbst sehr entschieden zu Protokoll: „Wahl nicht dem Cantor überlassen.“ (S. 201).
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I. Einleitung
bereits begonnen, allerdings in Form eines Querschnitts durch die gesamte Liedblattepoche und mit dem alleinigen Fokus auf die Festgottesdienste.3 Ich hatte damals die Auffassung vertreten, dass die Liedbearbeitungen für die Liederblätter immer auch im Blick auf den jeweiligen Gottesdienst, für den sie bestimmt waren, beurteilt werden müssen.4 Diese These soll nun anhand der Untersuchung der Liederblätter des Jahres 1817 und der dazugehörigen Predigten überprüft und verifiziert werden. An dieser Stelle weise ich ausdrücklich darauf hin, dass ich die Predigten zwar referiere und für die Gesamtdeutung der Gottesdienste in Anspruch nehme, dass ich aber damit weder eine Edition noch eine homiletische oder sprachwissenschaftliche Analyse der Predigten liefern kann. Doch nun ist nach den praktisch-theologischen Voraussetzungen zu fragen. Was gibt Schleiermachers eigene Gottesdiensttheorie für meine These her?5
2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen 2.1. Der Gottesdienst als Organismus6 Schleiermacher hat vor allem in seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie7 eine Theorie des Gottesdienstes vorgelegt und sich zum Verhältnis der einzelnen gottesdienstlichen Elemente geäußert. Grundlegend für seine Liturgik ist 3
4
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Bernhard Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Berlin-New York 2002, hrsg. von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge, Schleiermacher-Archiv, Band 20. Ebd., S. 478f. – Zum Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen vgl. B. Schmidt, ebd. S. 25‒28. Im Zusammenhang seiner Gottesdienstlehre fragt Schleiermacher in der Vorlesung zur Praktischen Theologie: „Was ist die gemeinsame Idee welche dem ganzen Gottesdienst zum Grunde liegt?“, PT, SW I/13, hrsg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850, S. 67. Ich schließe mich damit der Ansicht Alexander Schweizers an, der in seiner Schrift „Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger“, Halle 1834, S. 4, bemerkt: „Immer also ist die theoretische Ansicht Schleiermachers selbst über seine Predigerwirksamkeit das unumgänglich nothwendige Mittelglied, dessen jede Beurtheilung bedarf, bei ihm aber um so mehr, da er namentlich in öffentlicher Wirksamkeit schwerlich irgend etwas, wenigstens nie irgend etwas vom Gewohnten Abweichendes gethan hat, ohne auf bewußte, für ihn begründete Weise.“ Hierbei handelt es sich um die komprimierte Fassung des Abschnitts 2.2. (Die Einheit des Kultus) aus meiner Dissertation, s. o. S. 2, Fußnote 3. Schleiermacher hat in seiner Berliner Zeit zwischen 1812 und 1833 insgesamt zehnmal Vorlesungen zur Praktischen Theologie angeboten, außerdem bereits ein Kolleg im Wintersemester 1806/07 in Halle, das aber in Folge politischer Turbulenzen nicht zustande kam, ebenso wie das PT-Kolleg im Wintersemester 1813/14. Im Wintersemester 1814/15 las Schleiermacher Liturgik, und zwar öffentlich (publice). Vgl. W. Virmond, Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge, in: New Athenaeum, Volume III, Lewiston 1992, S. 127‒151, besonders S. 144f. – Schleiermacher las meistens fünfmal wöchentlich von 8 bis 9 Uhr. Vgl. die Liste der Schleiermacherschen Vorlesungen, in: A. Arndt und W. Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (1992), S. 300–330. Die o. g. LiturgikVorlesung kann als Schleiermachers Antwort auf die liturgischen Alleingänge des Königs betrachtet werden, vgl. das Fragment E in PT, S. 838–844.
2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen
3
der wohl aus der Ästhetik stammende Grundsatz des Primats des Ganzen vor dem Einzelnen, der zur Folge hat, dass Schleiermacher zunächst das Wesen des öffentlichen Gottesdienstes bestimmt, dann die „Elemente des Cultus“ beschreibt, worunter gleichsam die elementaren Prinzipien alles liturgischen Gestaltens verstanden sind. Es folgt ein Abschnitt über den „Organismus des Cultus“, in dem das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen reflektiert wird. Erst daran schließen sich die Theorien der einzelnen liturgischen Bestandteile an: Liturgie, Gesang, Gebet, Predigt an. Aus dieser Deduktion folgt, dass sich das Teil aus dem Ganzen ergibt und das Ganze dem Teil logisch vorausliegt, dass sich also das Teil in die Idee des Ganzen einfügen muss. Das hat zur Folge, dass etwa auch die Homiletik in den Deutungskontext der Liturgik fällt. Diese Idee beansprucht Geltung sowohl für die Konstruktion der Liturgik als auch für die Komposition der Liturgie: „Man fängt mit der Theorie der Theile an und gelangt nicht zu der Stellung des Ganzen. Dadurch wird das ganze lebendige Bild zerstört, das eine scheint für das andere schlechthin zufällig [...] es kann keine richtige Anschauung des Verhältnisses der verschiedenen Theile entstehen.“8
Darum formuliert Schleiermacher die grundlegende Frage: „Was ist die gemeinsame Idee welche dem ganzen Gottesdienst zum Grunde liegt?“9 War Schleiermacher auch nicht der Erste, der den Gedanken der intentionalen Einheit auf die Liturgik anwendete10, so war er wohl der Erste, der dieses Postulat methodisch und auch theologisch reflektierte. Denn ihm zufolge stellt es einen Wesenszug aller religiösen Kunst dar, wie sie sich vorzüglich im Gottesdienst manifestiert, dass sie auf Einheit gerichtet ist. Aus dieser formal-theologischen Prämisse ergibt sich für den Gottesdienst das Form- und Stil-Prinzip der Einheitlichkeit, zu der die verschiedenen Einzelelemente finden und beitragen müssen. Schleiermacher begründet das liturgische Einheitsprinzip buchstäblich theo-logisch: „Indem die religiöse Darstellung alle menschlichen Verhältnisse nur behandeln kann in Beziehung auf Gott, liegt überall die Beziehung auf die absolute Einheit zum Grunde, und die ist wesentlich hier das dominirende, so daß die Vielheit sich hier durchaus nur als Darstellungsmittel verhält.“11
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PT, S. 67. Ebd. Genannt sei z. B. der Aufklärungsliturgiker G. F. Seiler (†1807), vgl. H.-Ch. Schmidt-Lauber, Handbuch der Liturgik (1995), S. 21. Schmidt-Lauber nennt als Merkmale aufgeklärter Liturgik u. a. das Bemühen um „thematische Durchformung (innere Einheit)“ des Gottesdienstes. Zur Sache vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 121ff. „Man verlangte vom Gottesdienst der späten deutschen Aufklärung [...], daß er als ganzer ein einheitliches Gepräge und eine innere Geschlossenheit aufwies.“ Ebd., S. 121f. – Zur praktischen Realisation vgl. die Schleswig-Holsteinische Kirchen-Agende (1791) von J. G. C. Adler, in: W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst. (19922), S. 158‒166 und die beherrschende Stellung der Predigt, von der her der Gottesdienst vereinheitlicht wird. PT, S. 87.
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I. Einleitung
Schleiermacher hat in der PT und in der Ästhetik das Phänomen einer Stilduplizität sowohl spekulativ als auch empirisch erörtert und für den religiösen Stil den Kanon der Einfachheit postuliert, der darauf beruht, „daß alles einzelne[,] selbst der Gedanke in der religiösen Composition[,] nur als Darstellungsmittel erscheint. Darin liegt daß das einzelne auch seinem Gehalte nach keine Selbständigkeit haben soll, sondern es soll alles auf einen einfachen Eindrukk ausgehen [...] Es muß überall das einzelne organisch gebunden sein, so daß jedes mit dem anderen zugleich durch das andere bedingt zu dem Totaleindrukk beiträgt und nicht seinem Gehalte nach für sich heraustritt.“12
Der Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen zugunsten des Totaleindrucks gilt also für die Gesamtkomposition des Gottesdienstes ebenso wie für die Gestaltung eines jeden Einzelelements. Da aber der Primat der Ganzheit die Gefahr der Gesetzlichkeit in sich birgt, wählt Schleiermacher den Ausdruck des Organismus, den die Vorstellung eines lebendigen Austausches zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen bestimmt. „Indem wir unsere organische Betrachtung des Cultus anstellen, müssen wir ihn als ein Ganzes betrachten in welchem alle Theile nach einer innern Nothwendigkeit, die hier freilich nur die der Freiheit sein kann, zusammengehören. Ein solches ganzes ist ein Organismus, wo die Selbständigkeit des einzelnen und die Einheit des ganzen in solchem Wechselverhältniß stehen daß jedes das andere bedingt und voraussezt.“13
Dabei wird vorausgesetzt, dass das Erlebnis des Ganzen sowohl zur Erbauung als auch zum Verständnis des Einzelnen beiträgt, dass also die Organik eine ästhetische und hermeneutische Funktion hat. „Die natürliche Folge davon ist die, daß so wie die Zuhörer durch den ganzen Act des Cultus in den Zustand der Aufregung gesezt werden, wenn das ganze geschlossen ist sie sich im Zustande der Befriedigung befinden. Wenn eine Menge Vorstellungen erregt werden ohne Zusammenhang, so könnte solche Befriedigung nicht entstehen. Je mehr man die Gedanken vereinzelt, desto weniger ist Grund, warum man aufhört; zeigt sich aber das vorgetragene als abgeschlossenes Ganze: so ist die Befriedigung das Ziel der Aufregung.“14
Wie nun der einzelne Gottesdienst ein organisches Ganzes darstellt, das seinen Bestandteilen Sinn und Schönheit verleiht, so kann er auch seinerseits als Teil und Funktion des Kirchenjahres verstanden werden: „Die Zusammensezung des Cultus ist eine doppelte: die Zusammensezung der einzelnen Handlungen und die Zusammensezung des jährlichen Cyclus.“15 So sieht Schleiermacher den Einzelgottesdienst eingebettet in ein größeres liturgisches Ganzes: „Das finden wir nun im jährlichen Cyklus, wie der Gottesdienst eines Jahres aus dem Gegensaz der gewöhnlichen kirchlichen Versammlungen und der in jedem Jahreslauf sich wiederholenden christlichen Feste besteht. Das bildet ein ganzes,
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PT, S. 93, zur Stilduplizität vgl. auch B. Schmidt, Lied, S. 45. PT, S. 126. PT, S. 217. PT (A), S. 736.
2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen
5
und abstrahirt von dem was sich durch die successive Beschaffenheit daran ändert, ist es das was das größte ist und was wir suchen müssen richtig zu construiren.“16
Dabei betont Schleiermacher die „Biblizität“ der Feste, während er die Lebensstationen Christi als die „Festurkunden“ bezeichnet.17 Aber das Kirchenjahr besteht nicht nur aus der Abfolge der Kirchenjahresfeste; vielmehr bietet es die Gesamtheit aller möglichen Themen des religiösen Lebens an: „So ergiebt sich, daß nicht nur im ganzen Leben des Geistlichen sondern schon im jährlichen Cyklus eine Totalität religiöser Darstellungen gegeben sein muß.“18
Ein Ganzes hat also für Schleiermacher stets einen gleichsam additivästhetischen und einen funktional-dialektischen Aspekt, d. h. ein Ganzes wird daran erkannt, dass es aus sinnvoll anzuordnenden Teilen besteht, und dass es einen Gegensatz überbrückt: den relativen Gegensatz von Klerus und Laien bzw. von Sonntag und Festtag. Erst diese Ganzheit erlaubt die vollkommene Erfüllung des gottesdienstlichen Zweckes: die vollständige Darstellung des religiösen Bewusstseins.19
2.2. Das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander Fast beiläufig wird Schleiermacher später, in seiner Apologie des Berliner Gesangbuchs von 1830, die Einbettung der Lieder in den liturgischen Zusammenhang behaupten: Auch ein fleißiges und andächtiges Durchlesen kann ihr [der Gemeinde, B. S.] diesen [Totaleindruck, B. S.] nicht richtig verschaffen, weil ja die Lieder nicht zu diesem Behuf, sondern für den Zusammenhang mit den andern Theilen des Gottesdienstes gewählt und diesem Zwekk angeeignet worden sind.20
Aber wie verhalten sich nun die Einzelbestandteile des Gottesdienstes zueinander? Da Schleiermacher die Predigt in gut reformatorischer Tradition als Zentrum des Kultus betrachtet21, muss die Frage so präzisiert werden: Wie verhalten sich die Einzelbestandteile Liturgie, Gesang und Gebet zur Predigt 16 17 18 19
20 21
PT, S. 127. PT, S. 127. PT, S. 206. In ihrem Aufsatz „Schleiermachers Gottesdiensttheorie im Schnittpunkt von Kunst und Religion“ weist Inken Mädler auf die Abkunft des Schleiermacherschen Darstellungsbegriffs vom antiken Mimesisbegriff hin und auf das darin liegende Verbindende von Kulturs und Kunst, vgl. A. Arndt, U. Barth, W. Gräb (Hrsg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Berlin-New York 2008, S. 147-163, besonders S. 151f. F. Schleiermacher, Ueber das Berliner Gesangbuch. Ein Schreiben an Herrn Bischof Dr. Ritschl in Stettin, Berlin 1830, KGA 1/9, S. 479. Vgl. etwa PT, S. 224: Schleiermacher stellt fest, „daß die religiöse Rede der Mittelpunkt von einem einzelnen Acte des Cultus ist, auf welchen sich alle anderen Standpunkte des Cultus beziehen ...“ Mit „einem einzelnen Acte des Cultus“ ist hier ein einzelner Gottesdienst im Kontinuum des Kirchenjahres gemeint. Zur Stellung der Predigt im Gottesdienst vgl. auch PT, S. 264 und S. 58.
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I. Einleitung
im Kontext des Gesamtgottesdienstes? Auf die „Liturgie“, unter der Schleiermacher das agendarische Gerüst des Gottesdienstes versteht, kann ich hier nicht eingehen.22 In seiner „Theorie des Gebets im Cultus“ unterscheidet Schleiermacher zwei Gebete: Das Gebet nach dem Eingangslied soll sich auf dieses zurückbeziehen und zugleich die psychologische Situation am Beginn des Gottesdienst auffangen.23 Dagegen soll das auf die Predigt folgende Gebet auf die Predigt Bezug nehmen. Die Bezugnahmen äußern sich beide Male in Inhalt und Form bzw. Stil: „Der Gesang der der Anfang des Gottesdienstes ist, kann nur ein Ausspruch dessen sein was in allen ist, daher die symbolischen Gesänge hieher gehören. Daran wird sich auch das Gebet anzuschließen haben sofern es durch den Gesang bestimmt ist [...] Dazu ist also ein universeller Typus des Denkens und der Sprache erforderlich. Anders ist es mit dem Gebet nach der Rede, denn durch diese ist schon eine Gedankenmasse angeregt die eine Gemeinschaft aller geworden ist.“24
Schleiermacher kann das unmittelbar auf die Predigt folgende Gebet sogar als „das Maximum der Aeußerung der religiösen Stimmung“ bezeichnen und folgern: „Nun soll die religiöse Rede das Maximum hervorbringen, und da ist solche Aeußerung an ihrer Stelle. In soweit ist das Gebet noch ein Bestandtheil der religiösen Rede und aus ihr hervorwachsend.“25
Wie auch immer das Gebet aus der Predigt „hervorwächst“, es kann prinzipiell nur einen Inhalt haben: die Bitte um Förderung des Reiches Gottes. Insofern schließen sich hier auch die üblichen Fürbitten sinnvoll an.26 Die Fürbitten sind als Übergang in den Alltag des Lebens zu verstehen.27 Daher empfiehlt Schleiermacher einen zurückhaltenden Umgang mit ihnen an festlichen Tagen.28 Zur textlichen Gestaltung der Kirchenmusiken hat sich Schleiermacher nicht geäußert. Doch da er sie den kirchlichen Feiertagen vorbehalten sieht, legt sich eine Beziehung auf die jeweilige Festthematik nahe. Bei der Alternatimpraxis, dem Wechselgesang von Chor und Gemeinde, ist der Stoff ohnehin durch das Lied vorgegeben. So bleibt noch die Beziehung von Lied und Predigt zu erörtern. Schleiermacher zufolge dient der Gottesdienst der Darstellung des religiösen Bewusstseins, doch „dies Hervorheben des religiösen Bewußtseins muß 22 23
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Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 28f. Eine Ausnahme bildet der Festgottesdienst, in dem bereits das erste Gebet den festlichen Typus tragen und die Feststimmung der Gemeinde zum Ausdruck bringen soll: „Giebt es etwas die ganze Gemeine afficirendes: so will sie auch den Anklang davon im Gebet haben, und der Geistliche muß Freiheit hierin haben, nicht an ein buchstäbliches gebunden sein.“ PT, S. 194. PT, S. 192. PT, S. 195. Vgl. PT, S. 199. Zur variablen Anordnung von Predigt, Gesang und den genannten Bestandteilen des Schlussgebets vgl. PT, S. 199f. Vgl. Schleiermachers Schrift „Ueber die neue Liturgie“ (1816), KGA I/9, S. 92. Vgl. PT, S. 195f.
2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen
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[...] ein gemeinsames sein.“29 Darum beginnt der Gottesdienst mit dem gemeinschaftlichen Vollzug des Gesanges. „Der Gesang steht voran bei vorausgedachter Andacht, um in den Einzelnen das Bewußtsein der Gemeinschaft zu erregen.“30 So erweckt das Singen das Gemeinschaftsbewusstsein der Versammelten bzw. bringt es zur Darstellung und trägt so, noch ganz unabhängig vom Text des Liedes, als ein spezifisch gemeinschaftliches Tun Zeichencharakter, der auf das Wesen des evangelischen Gottesdienstes verweist. Denn diesen konstituiert der „relative Gegensatz“ zwischen Liturg und Gemeinde, was bedeutet, dass die Aktivität des Liturgen bzw. Predigers mit der der Gemeinde abwechselt. Weil der Gesang die Selbsttätigkeit der Gemeinde darstellt, darum darf er im Gottesdienst nie fehlen.31 Der kommunikationstheoretischen Begründung entspricht eine kunsttheoretische: Als Komposition aus verschiedenen Kunstelementen32 weist der Gottesdienst gleichsam eine Klimax auf: Die Rede, die den Gegensatz von Kleriker und Gemeinde repräsentiert, erhebt sich aus dem Gesang und führt auf ihn zurück. Lied und Liturgie als Symbole der Einheit der Gemeinde und der Christenheit eröffnen den Gottesdienst, Lied und Liturgie (Segen) beschließen ihn und rahmen die Predigt als den Höhenpunkt des individuellen Hervortretens ein. „Der Gegensaz muß sich aus der Identität erheben und in sie zurükkehren. Daher Stellung des Gesanges.“33 29 30
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PT, S. 131. PT (C, 1833), S. 826. Auch Jürgen Henkys weist 150 Jahre später auf die soziale Bindekraft bzw. kommunikatorische Funktion des gemeinsamen Gesanges hin: „Das Lied vergegenwärtigt Grunderfahrungen. Auf dem Wege symbolischer Repräsentation stellt es Übereinstimmung her zu dem, was die einzelnen Christen in persönlicher Tiefe schon erfahren haben oder zu erfahren hoffen. Es verleiht ihnen und der ganzen Gemeinde, in der sie sich zusammenfinden, Stimme und Sprache, damit sie gemeinschaftlich ausdrücken können, was sie hält und bewegt.“ J. Henkys, Lieder im Gottesdienst, in: Handbuch der Praktischen Theologie, hrsg. von P. C. Bloth u. a., Bd. 3, Gütersloh 1983, S. 103. Vgl. PT, S. 135. Unter einem relativen Gegensatz versteht Schleiermacher einen formal, nicht prinzipiell notwendigen Gegensatz. So ist der genannte Gegensatz von Liturg und Gemeinde zwar konstitutiv für den Gottesdienst, da er den Aufbau strukturiert, aber nicht wesentlich wie etwa in der katholischen Kirche. Darum wird er in einer größeren Identität, nämlich dem Gemeindegesang als dem Symbol der Gleichheit, aufgehoben. Mit Schleiermachers Gottesdiensttheorie im Schnittpunkt von Kunst und Religion befasste sich kürzlich Inken Mädler in ihrem gleichnamigen Aufsatz, s. o. S. 5, Fußnote 19. Darin bestätigt sie die Kunsthaltigkeit und Kunsthaftigkeit des Gottesdienstes: „Derart aus ‚Kunstelementen’ zusammengesetzt, fällt der Gottesdienst folglich in das ‚Gebiet der Kunst’, weshalb – wie Schleiermacher in der zweiten Auflage der ‚Kurzen Darstellung’ präzisierend ergänzt – die ‚Theorie des Kultus im allgemeinen die religiöse Kunstlehre’ genannt werden kann. Ihre Aufgabe besteht zu gleichen Teilen darin, 1. ‚den religiösen Stil in jeder Kunst zu bestimmen’ und 2. ‚die Art, wie aus ihnen insgesamt das religiöse Kunstwerk, der Kultus, zu bestimmen ist.’“ Und Mädler fährt fort: „Als Kunstwerk betrachtet steht der Gottesdienst nach Schleiermacher also im Schnittpunkt zweier kultureller Sphären als das wären Kunst und Religion, weshalb die wechselseitige Beziehung beider Bereiche aufeinander und ihre Abgrenzung voneinander eine elementare kulturhermeneutische Aufgabe ist, die der Theologie zu allen Zeiten jeweils neu aufgegeben ist, so sie auch zu ihrer Zeit den Gottesdienst lebendig erhalten will als ‚darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins’.“ Ebd., S. 150. PT (A), S. 752.
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I. Einleitung
Doch nun ist der Gottesdienst nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern ein Dokument des geschichtlich geprägten religiösen Lebens. Schleiermacher weist darauf hin, dass die Anordnung der Lieder im Gottesdienst den Artikeln des apostolischen Glaubensbekenntnisses verwandt ist, und dass sich das im Verlaufe des Gottesdienstes entwickelnde christlich-religiöse Bewusstsein darin widerspiegelt:34 Mit einer allgemein religiösen Stimmung kommen die Gläubigen zum Gottesdienst. Diese Stimmung wird durch das Anfangslied aufgenommen und gestärkt. Wie viele Strophen gesungen werden, hängt vom Bedarf ab: Der Gesang „muß da am längsten dauern wo es am nothwendigsten ist das Bewußtsein der Gemeinschaft zu erregen.“35 Für den ersten Liedplatz empfiehlt Schleiermacher „symbolische“ Lieder, deren vorherrschender Charakter das Gemeingefühl sei,36 denn das symbolische Lied soll die Gemeinschaft der Gläubigen und die Einheit der Christenheit bewusst machen. Das zweite Lied führt zur Predigt hin und trägt einen individuelleren Charakter. Während das erste Lied „universelle Elemente“ enthält, nimmt das zweite Bezug auf die Predigt. Doch bildet der Gesang immer einen selbständigen Teil. Auf das Lied unter der Predigt geht Schleiermacher in den von J. Frerichs gesammelten Vorlesungen zur PT an keiner Stelle ein.37 Der kurze Gesang nach der Predigt schließlich will die Gemeinde noch einmal zu Wort kommen lassen, er soll nach Möglichkeit das Ergebnis der Predigt festhalten und das erhöhte christliche Bewusstsein der Gemeinde in das christliche Leben des Alltags hinaustragen.38 Weil der Gottesdienst zu einer Belebung des christlich-religiösen Bewusstseins beitragen will, darum nimmt er seinen Verlauf vom Allgemeinen zum Besonderen. Die allgemein-religiöse Feststimmung wird im Verlaufe des Gottesdienstes verchristlicht und sozusagen aktualisiert.39 Das gemeinsame Singen
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Vgl. PT (A), S. 752. PT, S. 214. Vgl. PT, S. 180f. Die Regel sind dort drei Lieder im Gottesdienst. Den Kanzelvers hat Schleiermacher selbst allerdings unterschiedlich beurteilt. Im zweiten der beiden unvorgreiflichen Gutachten über das protestantische Kirchenwesen von 1804, KGA I/4 (2002), S. 426, verwirft er ihn, in seiner Liturgieschrift von 1816, KGA I/9, S. 99, verteidigt er ihn vorsichtig. Zur eigenen Praxis, vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 44‒46. Im Kontext der Theorie des Gebets (PT, S. 187‒201) wird von Schleiermacher die Möglichkeit eines doppelten Schlussgesangs erwogen, die er sogar als die „vollständige Form“ bezeichnet: „Es würde eine vollständigere Form sein, wenn sich eine Selbstthätigkeit der Gemeine unmittelbar auf die religiöse Rede bezieht, dann das Gebet folgt und hernach mit einem Schlußgesang von allgemeinem Inhalt der Gottesdienst endigt. Dadurch wird die genaueste Analogie zwischen dem Schluß und dem Anfang hervorgebracht.“ PT, S. 199. Dieser Prozess darf nicht gestört werden, indem etwa liturgische Gesänge zwischen Hauptlied und Predigt geschoben werden. Sie haben ihren Platz am Beginn des Gottesdienstes, vgl. PT (A), S. 757. Schleiermachers Kritik an der „neuen Liturgie“ Friedrich Wilhelms III. läuft darauf hinaus, dass hier die Organik des Gottesdienstes gestört sei. Die starre Liturgie nehme zu viel Raum ein und dränge die Variablen Predigt und Lied zurück. So sei aber keine indivi-
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sammelt die Gemeinde im Handeln und Empfinden, die individuell unterschiedlichen Gemütszustände werden konzentriert. „Dies specielle, das der einzelne mitbringt, muß also zurükktreten wenn alle an dem Mittelpunkt des Cultus [der Predigt] gemeinsam theilnehmen wollen.“40 So charakterisiert Schleiermacher den Gottesdienst als eine Komposition von Elementen individueller Darstellung und kollektiver Mitteilung. „Nur in dem Wechsel und Zusammensein solcher Elemente in denen der Gegensaz auftritt, und solcher in denen die allgemeine Selbstthätigkeit ihn vermittelt, kann der Gottesdienst bestehen.“41
Dieser Gegensatz manifestiert sich im Gegenüber von Lied und Predigt und wird zugleich in der größeren Einheit beider aufgehoben. Aber wie stellt sich nun die spezielle Beziehung von Gesang und Predigt dar? Schleiermacher kritisiert die neue Liturgie des Königs: Der „Gesang unmittelbar vor der Predigt [...] muß sich doch einigermaßen auf den besonderen Inhalt von dieser beziehen, und kann also nicht immer Festgesang sein.“42 Indem das Hauptlied der Predigt unmittelbar vorausgeht, wird es besonders von den unteren Ständen als Vorbereitung auf die Predigt verstanden. Auch Schleiermacher kann das Hauptlied „unmittelbar Vorbereitung auf die religiöse Rede“ nennen.43 Doch das Lied vor der Predigt erschöpft sich nicht darin, denn der Gesang ist „religiöse Darstellung und Mitteilung an sich und muß daher betrachtet werden an und für sich.“44 Das Hauptlied stellt einen organischen Bestandteil des Gottesdienstes dar45, einen Bestand-Teil zwar, aber doch ein Ganzes. Ein Lied ist keine Predigt. Der Unterschied zwischen Predigt und Lied besteht zunächst in der Handlungsform: hier der Einzelne, dort Alle, dann in der Urheberschaft: hier der Prediger, dort der häufig längst verstorbene, in seinem Anliegen und den persönlichen Empfindungen von Raum, Zeit und Schicksal geprägte Dichter. „Der religiöse Redner will und soll die religiösen Momente als seinen eigenen Zustand darstellen, aber nur wiefern sie übereinstimmend sind mit der objektiven Allgemeinheit der besonderen religiösen Form in der religiösen Gemeinschaft, und deswegen kann da nur die prosaische Form hervortreten. Der religiöse Dichter, wenn er für den Cultus dichtet, kann die religiösen Momente darstellen als wirkliche Zustände: aber es sollen sich diese Darstellungen alle aneignen können, und
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duelle, d. h. aktuelle Belebung des religiösen Bewußtseins möglich, die doch den Zweck des Gottesdienstes bilde. Vgl. Ueber die neue Liturgie, KGA I/9, S. 98f. PT, S. 131. PT, S. 132. Ueber die neue Liturgie (1816), KGA I/9, S. 94. PT (B, 1828), S. 803. – Die Auswahl der Lieder nach ihrem Verhältnis zur Predigt war bereits Grundsatz der Aufklärungsliturgik, vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 125: „Daß der belehrende Religionsvortrag der Predigt bei den Hörern eine gewisse Sammlung und Hinführung erfordert und daß dies die Aufgabe der Gottesdienstteile vor der Predigt sei, darin sind sich eigentlich alle Liturgiker dieser Zeit einig.“ PT, S. 175. Vgl. PT, S. 174f.
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I. Einleitung
deswegen kann der einzelne, der Urheber der Darstellung ist, verschwinden, aber die poetische Form ist nothwendig, weil sie die bestimmte Anregung erfordert. Wenn wir auf den Unterschied der Darstellung und Mittheilung sehen, so verschwindet der Widerspruch.“46
Weil die Darstellung immer auch Mitteilung sein soll, darum wird das Persönliche verallgemeinert: in der Predigt durch die Sprachform, im Lied durch den gemeinsamen Vollzug, denn Gegenstand des Kultus ist die mitteilende Darstellung des Individuellen, sofern es allgemein ist, „das Gebiet der gemeinsamen Erfahrung.“47 Der Hauptunterschied zwischen Lied und Predigt besteht in der Sprachform: hier Prosa, dort Poesie. Darum kann das Lied niemals eine stringente Einleitung der Predigt sein, „weil Poesie und Prosa nicht dieselbe Einheit haben.“48 Zwar handelt es sich bei beiden um Formen künstlerisch geprägter Sprache, denn im Christentum dominiert – nach Schleiermacher – die redende Kunst, weil der christliche Gottesdienst geistig sei und der Geist sich durch das Wort verständlich mache; die Sprache ist also das primäre Darstellungsmittel im Kultus. Doch wodurch unterscheiden sich Poesie und Prosa? Weiter unterscheiden sich Lied und Predigt in der ihnen zugrundeliegenden Darstellungsform: gesprochene Prosa hier, gesungene Poesie dort.49 Die Poesie gilt Schleiermacher nun als das adäquate Medium der religiösen Erregung, wobei der Grad der Poesie nicht am Silbenmaß gemessen werden kann: „Man kann nicht auf gleichmäßige Weise sagen, daß das Silbenmaaß die äußere Form der Poesie sei. Wir müssen daher versuchen einen inneren Charakter aufzusuchen.“ Nähert sich die Sprache dem Bild, ist sie poetisch, nähert sich die Sprache der Formel, ist sie prosaisch. Mit dem Inhalt eines Textes hat das noch nichts zu tun, denn „daß derselbe Gegenstand auf eine poetische und prosaische Weise behandelt werden kann, ist klar.“50 Als Identitäts- und Qualitätsmaßstab poetisch geprägter Sprache betrachtet Schleiermacher also ihre Bildhaftigkeit, im Unterschied zur Begrifflichkeit prosaischer Sprache. Darum verwirft er sogenannte Reimpredigten, also solche Lieder, die einen dogmatischen oder moralischen Begriff entfalten. „Wenn so das Lied an einen Begriff gefesselt ist, so kann es auch nichts anders werden als eine Abhandlung in Versen oder vielmehr in Reimen. Die Gedanken durch-
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PT, S. 119f. PT, S. 97. Einen „individualistischen Erbauungsbegriff“, so Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 114, kann ich hier nicht erkennen. PT (B, 1828), S. 809, vgl. auch PT, S. 186. Zur gesungenen reinen Prosa äußert sich Schleiermacher ablehnend, sie sei „kunstwidrig“, PT, S. 173, nur aus akustischen Gründen könne man sie gelten lassen, vgl. PT (B, 1828), S. 803. PT, S. 118. – Bei dieser Charakterisierung des Liedes kommt die musikalische Komponente und der Ereignischarakter, die der Poesie Melodie und Rhythmus verleihen und sie damit zum adäquaten Darstellungsmittel der religiösen Erregung machen, zu kurz. Das Lied wird vornehmlich vom Text her verstanden und formal gedeutet als gemeinschaftliches Tun.
2. Praktisch-Theologische Voraussetzungen
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laufen denselben Kreis und ordnen sich auf ähnliche Art wie die Rede, die ebenfalls, aber mit mehrerem Recht, einen Begriff zur Einheit hat.“51
Umgekehrt wird der prosaische Charakter der Predigtsprache ausdrücklich betont.52 Dieser manifestiert sich einerseits im klassischen Periodenbau, andererseits in der „Popularität“ der Wortwahl, die Schleiermacher auch als „Sprache des Umgangs“ bezeichnet.53 Der Gegensatz von Bild und Formel deutete bereits das unterschiedliche Rezeptionsverhalten gegenüber Lied und Predigt an. Doch stets ist das Bestreben darauf gerichtet, die „Einheit“ eines Kunstelements zu erfassen. Während für Schleiermacher „das Thema der eigentliche Repräsentant der Einheit“ der Predigt ist54, sieht er die „Einheit des Liedes“ in der jeweils vorherrschenden „religiösen Stimmung“.55 Dieser Gegensatz von objektivem und subjektivem Ursprung bringt es mit sich, dass die poetische Darstellung des religösen Bewusstseins einen eher individuellen, die prosaische dagegen einen eher universellen Charakter trägt. Die „religiöse Stimmung“, das sind die religiösen Gemütszustände, deren tendentiell unendliche Vielfalt typologisiert werden kann. Schleiermacher unterscheidet „erhebende“ und „drückende“ Gemütszustände und konstruiert die möglichen Darstellungstypen durch Kreuzung von vier Koordinaten: allgemein-menschlich, individuell-christlich, demütigend, erhebend. „Es ist natürlich daß in jedem besonderen Darstellungsact eins von den Gliedern ein Uebergewicht hat; und dann würden sie zugleich Principe der Gattung sein und wir würden sagen, Es ist eine Gattung der Darstellung in dem individuell christlichen und dem allgemeine religiösen, in dem erhebenden und niederschlagenden dominirend.“56
In dieses Gattungsschema ordnet Schleiermacher nun jeden Gottesdienst ein, indem er jeweils die christliche „Intensität“ und die psychologische Tendenz feststellt: Handelt es sich etwa um einen vom Gedenken an das Leiden Christi geprägten Sonntag in der Passionszeit oder um einen durch die Freude an der Schöpfung bestimmten Sonntag in der Trinitatiszeit? 51 52
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So bereits im zweiten der zwei unvorgreiflichen Gutachten von 1804, KGA I/4, S. 420. Vgl. PT, S. 186; zur Predigtsprache vgl. auch PT, S. 286 und PT (A), S. 773. – Auch Schleiermachers Schüler Alexander Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, hatte beobachtet: „Keuschheit soll auch im Style herrschen. Und die finden wir bei S. im höchsten Grade, er predigt nicht in bilderreichem, blumigem Style, sondern hat mehr jene altklassische Kraft, die von solchen Dingen nichts suchte.“ S. 81. Vgl. Schleiermachers homiletische „Theorie des Ausdrukkes“, PT, S. 286‒321. Die Begriffsbezogenheit der Predigt und Begrifflichkeit der Predigtsprache hat er in der PT nicht mehr vertreten. PT (A), S. 764. Zum Verhältnis von Text und Thema in der Predigt, vgl. PT, S. 232‒239. – Zur Vorbereitung der Predigt und zur Ordnung und Vereinheitlichung der Gedankenfülle, vgl. PT, S. 264‒285. Vgl. PT, S. 186. – Zu Schleiermachers Begriff der Stimmung vgl. auch M. Moxter, Religion und Kunst, in A. Arndt, U. Barth, W. Gräb (Hrsg.), Christentum – Staat – Kultur, Berlin-New York 2008, S. 600‒605. PT, S. 107.
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I. Einleitung
Diese vierfache Typologie bezieht sich primär auf die sogenannten unbedingten Darstellungen, also auf die „Normalsonntage“. Sie erübrigt natürlich nicht die notwendige theologische Spezifizierung eines Gottesdienstes in Richtung auf ein Thema, das einerseits an Kirchenjahr und Bibeltext, andererseits an der Gemeindesituation orientiert ist. Auf dieses Thema eines jeden Gottesdienstes beziehen sich Predigt und Predigtlied dann auf je ihre Weise. Der Gegenstand der Predigt und die Stimmung des Liedes sollen sozusagen in dem beide übergreifenden Thema des Gottesdienstes aufgehoben sein, das beiden Sprachformen Spielraum gewährt. So könnte man am ehesten von einem Entsprechungsverhältnis zwischen Lied und Predigt sprechen. Und darum betont Schleiermacher die Bedeutung einer besonnenen Liedauswahl: „Den Gesang hat der Geistliche zu wählen. Das Ganze soll ein Ganzes sein, ein gewisser Zusammenhang zwischen Gesang und Rede [...] und dieses überlegend müssen wir sagen: Vorausbedenken der Rede schon etwas unvermeidliches.“57
Bei der Liedauswahl steht dem Liturgen über das je geltende Gesangbuch hinaus der gesamte Schatz von amtlich anerkannten evangelischen Kirchenliedern zur Verfügung.58 Schleiermacher ordnet die Kirchenlieder historisch nach Entstehungszeit und systematisch nach Gehalt. Während die Lieder des 16. Jahrhunderts (Schleiermacher: „symbolische Lieder“) zum liturgischen Eingang des Gottesdienstes passen, sind als Hauptlieder die sogenannten „individuellen“ Lieder aus der „mystischen“ Periode der Kirchenliedgeschichte geeignet59, sie passen zur Rede, weil diese „auch von einem persönlichen Erregungsmoment ausgehen soll.“60 Sie nähern sich der Predigt, weil auch da die Individualität des Einzelnen, hier des Dichters, dort des Predigers, vorherrscht. Und Schleiermacher bekennt: „Wenn die Erzeugungen der zweiten Periode nicht vorhanden wären, so würden wir nicht ein vollkommen harmonisches Ganze aus den Acten des Cultus bilden können.“61 Die systematische Einteilung der Lieder fragt nach ihrem Charakter, ob das „Erhebende“ oder das „Demütigende“ dominiere. Als Unterabteilung empfiehlt Schleiermacher die Kategorie des allgemeinen und individuellen.62 Hier 57 58 59
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PT (B, 1828), S. 795f. – Zur Liedauswahl durch den Prediger (nicht den Kantor!) vgl. Schleiermachers Notiz zum Entwurf einer neuen Kirchenordnung von 1818, s. o. S. 1, Fußnote 2. Vgl. PT, S. 178f. Vgl. PT, S. 180‒183. Schleiermacher unterscheidet drei Epochen, die ich hier vereinfacht als Reformationszeit, Pietismus und Aufklärung bezeichne. Ungeachtet der besonderen Eignung der Lieder aus der zweiten Periode empfiehlt Schleiermacher für den Gottesdienst das neue Lied, da es ja um die Erbauung seiner Zeitgenossen geht: „Das natürliche für uns wird der Charakter der lezten Periode sein.“ PT, S. 183. Freilich weiß er auch um Mängel, weshalb er den Geistlichen ermächtigt, Lieder zu ändern bzw. auf Änderungen zu dringen um des religiösen Gebrauchs willen. Was dem gegenwärtigen Empfinden widerstrebt, muss differenziert werden. Da der Gesang den aktiven Beitrag der Gemeinde im Gottesdienst darstellt, muss diese sich mit den Liedtexten auch identifizieren können. PT, S. 181. PT, S. 181. Vgl. PT (A), S. 758. Zur Kategorie des „erhebenden und niederschlagenden“, vgl. auch PT, S. 104‒106.
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begegnet dasselbe Muster wie bei der Typologie der Gottesdienste. Dabei fällt auf, dass das letztgenannte Typenpaar zugleich der liturgischen Duplizität von Anfangs- und Hauptlied entspricht, so dass Schleiermacher für das Liedgut ein einfaches Rubrizierungsschema anbieten kann, das die Lieder in vier „psycholiturgische Mischkategorien“ einzuteilen erlaubt: allgemein-erhebende oder allgemein-demütigende für den Anfang, individuell-erhebende oder individuell-demütigende zur Predigt. Ob Schleiermacher mit dieser sehr formalen Kategorisierung der Vielgestaltigkeit des Liedguts gerecht wird, kann man fragen, aber seine Intention ist deutlich: Das Hauptlied muss nicht zu allen Einzelheiten der Predigt passen, nur zum Gesamtcharakter des Gottesdienstes. Mit Hilfe der Koinzidenz des Schemas der religiösen Gemütszustände mit der Theorie des Gottesdienstes und der Kirchenliedtypologie bahnt Schleiermacher einen methodisch reflektierten Weg, um ein Lied in Beziehung auf die Predigt auszusuchen, ohne das Lied zum Vorspiel der Predigt zu degradieren. Denn die Eigenständigkeit des Liedes soll gewahrt bleiben. Aus diesem Grund warnt Schleiermacher auch vor der Verstümmelung der Lieder, da sie ihren Charakter dann nicht entfalten können, und tritt für die Verwendung eines Liedes als Ganzes ein, mit einer Einschränkung: Die häufig eschatologisch akzentuierten Schluss-Strophen sind beim Lied vor der Predigt wegzulassen, sie lenken nur vom Zusammenhang mit der Predigt ab.63 Auf die Predigt soll ein kurzer Gesang der Gemeinde folgen: „Daß der Theil des Gesanges der auf die Predigt folgt der kürzere sei, finden wir in der allgemeinen Praxis; er soll nur schließen mit der Selbstthätigkeit der Gemeine und soll keinen anderen Charakter haben als daß er ein zusammengedrängter Ausdrukk dessen sei was der Inhalt dieses Actes des Cultus gewesen ist.“64
Das Lied nach der Predigt soll die Richtung der Predigt aufnehmen und „in die allgemein-religiöse Stimmung aussprechen.“65 Diese Liedstrophe nimmt den Inhalt der Predigt auf – eine genaue Entsprechung ist auch hier weder möglich noch nötig – und stärkt noch einmal das Gemeinschaftsbewusstsein der Gemeinde. Was nun den sogenannten Kanzelvers betrifft, so müsse von Fall zu Fall entschieden werden, ob er sich organisch einfügen lasse. Schleiermacher empfiehlt ihn – unabhängig von seiner eigenen Praxis – für Festgottesdienste, weil der Kanzelvers „den Gegenstand des Festes noch von einer Seite mehr vors Gemüth“ stellen kann.66
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Vgl. PT, S. 175. Von der Herrnhuter Singstundenpraxis, die Einzelstrophen verschiedener Lieder bunt zusammenflocht, ist hier keine Rede, vgl. dazu Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 79‒84. PT, S. 176. PT (A), S. 752. Ueber die neue Liturgie, KGA I/9, S. 100. „Vorzüglich aber an den hohen Festen möchte ich mir ihn ungern nehmen lassen; denn jeder auch der kleinste Theil des Gottesdienstes giebt dann Gelegenheit den Gegenstand des Festes noch von einer Seite mehr vors Gemüth zu bringen.“ Ebd.
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I. Einleitung
Doch jeder Gottesdienst hat sein Proprium. Festgottesdienste unterscheiden sich von Normalgottesdiensten lediglich dadurch, dass dort der Gegenstand vorgegeben ist, während er hier aus dem religiösen Leben der konkreten Gemeinde erwächst. Wie Poesie und Prosa, Lied und Rede in Beziehung aufeinander stehen, so sind sie doch auch kontrastierende Elemente, die den Gottesdienst vervollständigen, denn jeder Gottesdienst soll ein Ganzes sein. „Wird eine andere Seite des Gegenstandes im Gesang herausgehoben: so ist das eher vortheilhaft als nachtheilig, weil der Gottesdienst dadurch vollständiger wird.“67 Diese „andere Seite des Gegenstandes“ ist vielfältig deutbar: Von der poetischen Sprachform und der individuellen Erregung war bereits die Rede. Sodann birgt die Menge der Lieder eine große spirituelle und dogmatische Vielfalt in sich. In einem anderen Zusammenhang hebt Schleiermacher auch ihre Neutralität gegenüber obrigkeitlichen Erwartungen bzw. gegenüber der je speziellen Gemeindesituation hervor.68 Schließlich ist die konfessionsübergreifende Geltung von Gesangbüchern nicht zu vergessen.69 Allgemein gilt: Schleiermacher reflektiert sowohl die Differenz zwischen liturgischer und homiletischer Rede als auch ihre Beziehung zueinander. Die Predigt soll in die religiöse Selbstäußerung der Gemeinde, das Kirchenlied, sorgfältig eingebettet sein. Lied und Predigt gleichen sich darin, dass sie nicht erziehen und nicht belehren, sondern das als vorhanden gedachte religiöse Bewusstsein beleben wollen. Zwar unterscheiden sich beide in der Sprachform und in der unterschiedlichen Individualität von Dichter und Prediger, aber sie gleichen sich wiederum darin, dass beide in sich einheitlich sein müssen, das Lied in der Stimmung, die Predigt im Gegenstand. So kann und muss es Übereinstimmung geben. Das Übereinstimmende, die vorausliegende größere Einheit oder der gemeinsame Nenner ist zunächst der Typ des Gottesdienstes und dann die jeweilige „Idee des Cultus“, das vom religiösen Leben der Gemeinde ausgehende spezielle Thema, dem das Lied auf seine und die Predigt auf ihre Weise entspricht. Auf das von ihm unbefangen in Anspruch genommene Recht, Liedtexte zu ändern, ist Schleiermacher in seiner PT nirgends eingegangen. War diese Praxis seit der Aufklärung so verbreitet, dass sie einer theoretischen Rechtfertigung nicht bedurfte? Das wäre zu einfach gedacht. Auch zeigt die von 1830 stammende Rechtfertigungsschrift „Ueber das Berliner Gesangbuch“ sehr wohl
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PT (C, 1833), S. 829. Vgl. das zweite Gutachten von 1804, KGA I/4, S. 424 und PT, S. 405. Das Lied kann sich „solchen fremdartigen Ansprüchen, die an den Cultus nicht gemacht werden sollten“ leichter entziehen als die Predigt. Vgl. dazu erstes Gutachten von 1804, KGA I/4, S. 390.
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an, dass Schleiermacher ein diesbezügliches Problembewusstsein durchaus besaß.70 Vielmehr lässt sich vermuten, dass Schleiermacher das Recht zum Abändern von Liedtexten in seiner evangelischen Freiheit begründet sah, wie er in einer Erklärung von 1825 bezüglich des Umgangs mit der Agende kundtat: „Der evangelische Cultus will nach der Schrift in allen seinen Theilen eine λογικὴ λατρεία [Röm 12,1, B. S.] sein; also kommt es bei allem was darin Rede ist nicht auf den Buchstaben an sondern auf den Gedanken. Daher kann auch der liturgische Theil unseres Gottesdienstes seiner Idee nur entsprechen wenn der Geistliche sich die Gedanken die er vorträgt lebendig angeeignet hat. Wenn er aber von einer solchen Aneignung des Gedankens aus den Ausdruck hervorbringt, wird dieser nicht jedesmal buchstäblich derselbe sein. Nicht einmal bei Anführung von Schriftstellen ist eine solche Buchstäblichkeit immer zu verlangen, wie sich sehr leicht nachweisen läßt. Vielweniger also darf den Geistlichen verwehrt werden bei Anreden und Gebeten von größtentheils unbekannten Verfassern und immer aus einer späteren Zeit einzelne Wendungen bald so bald anders abzuändern und nach dem Interesse des Augenblicks Abkürzungen oder Einschaltungen eintreten zu lassen. [...] Daher, so wie schwerlich ein Beispiel wird angeführt werden können, daß irgend eine evangelische Agende bis jetzt her mit einem solchen ausdrüklichen Anspruch auf Buchstäblichkeit eingeführt worden wäre, wie in den Worten: �ohne alle Abweichung� liegt: so erkläre ich auch, daß ich mich nicht für berechtigt halten kann, mich gegen irgend jemanden zu einer knechtischen Buchstäblichkeit zu verpflichten.“71
„Einzelne Wendungen bald so bald anders abzuändern und nach dem Interesse des Augenblicks Abkürzungen oder Einschaltungen eintreten zu lassen.“ Diese Freiheit hat Schleiermacher nicht nur gegenüber den liturgischen, sondern – mutatis mutandis – auch gegenüber den Lied-Texten für sich reklamiert, im Interesse eines lebendigen, liturgisch stimmigen, zeit- und ortsbezogenen Gottesdienstes.72 Aber damit überschreiten wir bereits die Grenze von der Theorie zur Praxis.
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„Ich meine also, wenn Veränderungen nur zwekkmäßig sind, von dem Recht dazu kann gar nicht die Rede sein. Jenes ist die gerechte Forderung der Gemeine, sie will zur Erbauung zwekkmäßige Lieder.“ KGA I/9, S. 488. F. Schleiermacher, Erklärung des Unterzeichneten vom 13. September 1825 wegen der Agende, KGA I/9, S. 285‒294, hier S. 292f. – Ähnlich in der Vorstellung der unterschriebenen Berlinischen Prediger vom 7.10.1825 an das Konsistorium der Provinz Brandenburg, vgl. KGA I/9, S. 295‒334, besonders S. 303‒311. Zur Verfasserschaft dieser Schrift, vgl. KGA I/9, Einleitung des Bandherausgebers, S. LXXXVII. Die Kritik einer Unterwerfung unter den Zeitgeist hätte Schleiermacher mit der Forderung der Zeitgemäßheit gekontert. I. Mädler stellt im Blick auf Schleiermachers Gottesdiensttheorie fest: „Die Gestaltung des Gottesdienstes hat sich demnach in enger Korrelation zu der jeweiligen Kunstentwicklung eines spezifischen Kulturkreises zu vollziehen, und das Verhältnis beider Bereiche zueinander bedarf der ständig neu zu aktualisierenden Bestimmung.“ Und zitiert Schleiermachers PT: „abhängig wird die Theorie des Cultus immer sein von der Aesthetik. Wir müssen nur suchen, uns bewußt zu werden, wie weit die Veränderlichkeit von jenem durch diese gehen kann.“ (PT, S. 789) I. Mädler, ebd., S. 158f.
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I. Einleitung
3. Die Liederblätter des Jahres 1817 3.1. Zur Quellenlage Mit dem Neujahrstag 1817 treten wir in die Epoche der datierten Liederblätter ein.73 Aus dem Jahre 1817 sind insgesamt 31 Liederblätter erhalten. Damit ist dieser Jahrgang vollständig dokumentiert. Schleiermacher folgt der Ordnung des Kirchenjahres, wie sie sich seit dem Mittelalter herausgebildet hatte und von der Reformation bestätigt worden war.74 Zu den 31 Gottesdiensten liegen uns 20 Predigten vor. Nur eine Predigt ist bisher gedruckt.75 Für die anderen halten wir uns an die zuverlässigen Nachschriften des Schleiermacherschülers Ludwig Jonas.76 Fehlende Predigten können daher rühren, dass Schleiermacher entweder gar nicht in Berlin war, nachweislich am 24.8. und am 7.9.1817, oder dass keine Nachschrift entstand oder überliefert ist. Da Schleiermacher völlig frei sprach, sind aus dieser Schaffensphase keine eigenen Predigtmanuskripte oder Predigtdispositionen vorhanden. Die Liederblätter des Jahrgangs 1817 weisen ein stereotypes Schema auf: Lied vor dem Gebet – Lied nach dem Gebet – Lied unter der Predigt – Lied nach der Predigt.77 An fünf Festtagen (Neujahr, Invocavit, Pfingstmontag, 2. Reformationstag, 2. Weihnachtstag) kommen Vokalmusiken hinzu. Da Schleiermacher mit den eingeführten Gesangbüchern (Porst und Mylius) insgesamt wenig zufrieden war und sich deshalb anderer Gesangbücher bediente78, werden die Gesangbuchquellen häufig mitgeteilt. So nennt er auf
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Zu Geschichte und Gestalt der Liederblätter vgl. Wolfgang Virmond, Schleiermachers Liederblätter, in: R. D. Richardson, Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, Lewiston 1991, S. 275‒293 und I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 46‒58. Das Kirchenjahr wird strukturiert und gerahmt durch die Christusfeste, biblisch begründete Heiligenfeste sowie ergänzt durch einige kirchlich begangene weltliche Feiertage. Vgl. Frieder Schulz, Die Ordnung der liturgischen Zeit in den Kirchen der Reformation, in: Liturgisches Jahrbuch 1982 (32. Jg.), S. 1‒24 und Klaus-Peter Jörns/Karl-Heinrich Bieritz, Art. Kirchenjahr, in: TRE, Bd. 18 (1989), S. 587. – Die Zählung der Sonntage in der festlosen Zeit nach Epiphanias und Trinitatis findet sich bereits in der gallikanischen Liturgie des 7. und 8. Jahrhunderts. Die Reformation hat in ihrer Abwehr der Heiligenverehrung diese Ordnung aufgegriffen und übernommen. Zweiter Reformationsfeiertag, 1.11.1817, vgl. F. Schleiermacher, SW II/4, Berlin 1844, S. 98–109. Vgl. das Depositum des De Gruyter-Verlags in der Berliner Staatsbibliothek: SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Vorläufiges Verzeichnis von Lothar Busch, Kasten 18, Mappe 70, Sammlung Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818). Von diesem Schema weicht lediglich der am Dienstag, den 11.11.1817 abgehaltene Gottesdienst zur Eröffnung der Synode ab, indem dort der „Kanzelvers“ fehlt. Noch 1830 schreibt Schleiermacher in seiner Apologie des Berliner Gesangbuchs: „Ist aber das ganze Gesangbuch dem Prediger nicht angemessen, findet er nichts was seiner Predigtweise zusagt: so kann er auch aus dem ganzen Gottesdienst nicht machen was er daraus machen möchte, und seine Predigt wird es immer empfinden, wenn die Gesänge störend auf ihn wirken.“ Ueber das Berliner Gesangbuch, KGA 1/9, S. 480.
3. Die Liederblätter des Jahres 1817
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den Liederblättern 1817 zwölfmal das Jauersche Gesangbuch (1813), neunmal das Bremer Gesangbuch (1812), viermal das Stettiner Gesangbuch (1791), zweimal das Gesangbuch der Brüdergemeine (1778) sowie einmal das Baierische Gesangbuch (1816).79 Schon in der Auswahl der Gesangbücher zeichnet sich deutlich eine Bevorzugung der neueren Lieder ab, da die Jauersche, die Bremer und die Baierische Sammlung zu den so genannten Neuen Gesangbüchern zählen. Auch die gelegentlich aufgeführten Namen der Liederdichter weisen auf ein Übergewicht der neueren Lieder hin. So werden Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Kaspar Lavater je viermal, Balthasar Münter dreimal, Johann Andreas Cramer, Paul Gerhardt, Johann Rist und Christoph Christian Sturm je zweimal sowie Christian Fürchtegott Gellert, Justus Gesenius, Johann Heermann, Friedrich Mohn, Johann Olearius, Johann Scheffler, Johann Adolf Schlegel, Johann Heinrich Schröder und Johann Christian Zimmermann je einmal ausdrücklich genannt. Erfreulicherweise konnten die allermeisten Liedstrophen quellenmäßig identifiziert werden. Dabei ergibt sich folgende vorläufige Statistik: Spitzenreiter unter den benutzten Gesangbüchern ist das Jauersche Gesangbuch mit mutmaßlich 57 Belegen, gefolgt vom Bremer Gesangbuch (31), vom Stettiner Gesangbuch (15), vom Baierischen Gesangbuch (7) und vom Brüdergesangbuch (6). Aus A. H. Niemeyers Sammlung „Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen“ wurde insgesamt siebenmal geschöpft sowie einmal aus G. A. L. Hansteins Sammlung „Elf Kirchenlieder für das Jubelfest der Reformation“. Lediglich für zwei Liedstrophen kann ich bisher keine Quellenvermutung aussprechen.80 Freilich besteht eine gewisse Unschärfe, da viele Lieder, die keine Quelle nennen, in mehreren Gesangbüchern stehen. Außerdem zog Schleiermacher für die Bearbeitung eines Liedes gelegentlich mehrere Gesangbücher heran. Doch trotz der genannten Unschärfe zeigt sich wiederum eine eindeutige Präferenz für neuere Lieder und Gesangbücher. Bei der vorgelegten Statistik dominieren die Lieder aus den neuen Gesangbüchern (103:21). Exemplarisch für diese Tatsache ist, dass das erste Lied, das im Jahre 1817 gesungen wurde („Heilig ist der Gott der Götter“), von Friedrich Mohn, einem damals noch lebenden Liederdichter stammte, und dass Schleiermacher seinen zweiten Hauptgottesdienst (1. Sonntag nach Epiphanias) nachweislich mit einem Lied („Dich Jesum laß ich ewig nicht“) aus dem Baierischen Gesangbuch eröffnete, das gerade erst (1816) erschienen war. Typisch für Schleiermachers damaligen Liedgeschmack scheint mir die Liedauswahl für den 12. Sonntag nach Trinitatis zu sein, als er Lieder von
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In seinen Notizen zur „Anleitung zum Entwurf der Kirchenordnung“ (1818) gibt Schleiermacher auf die Frage „Das Gesangbuch. Soll die ganze Landeskirche ein gemeinschaftliches oder jede kirchliche Provinz ihr besonderes haben?“ (KGA I/9, Anhang, S. 543), zu Protokoll: „Gesangbuch Mannigfaltigkeit.“ (Ebd., S. 201). Die Liedstrophen „Treulich Herr auf deinen Wegen“ (Neujahr 1817) und „Du Vater aller Gnaden“ (2. Weihnachtstag 1817).
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I. Einleitung
Cramer, Sturm, Klopstock und Münter ansetzte. Sinnfällig wird die Vorliebe für neue Lieder auch beim Festgottesdienst zum 300. Reformationsjubiläum und beim Eröffnungsgottesdienst der Synode, als Schleiermacher nur druckfrische Lieder auswählte, womit er auch sein dynamisches Reformationsverständnis manifestierte. Eines von Schleiermachers erklärten Zielen war es, wieder mehr Melodien „in Gang zu bringen“, wie er 1815 an die Königlich-Kurmärkische Geistlicheund Schuldeputation schrieb: „Beim gewöhnlichen Gottesdienst dachte ich darauf einen größeren Reichthum von Melodien wieder in Gang zu bringen, denn man war bis auf sehr wenige zurückgekommen.“81
Auf den Liederblättern des Jahres 1817 begegnen 60 verschiedene Melodien, wobei „Herzliebster Jesu“ mit sieben Belegen sowie „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, „Freu dich sehr, o meine Seele“ und „Nun lob mein Seel’, den Herren“ mit je fünf Belegen am häufigsten vorkommen. Zumindest die drei letztgenannten gehören zu den „großen“ Melodien des evangelischen Kirchengesangs, während die Melodien „Herzliebster Jesu“ und „Freu dich sehr“ aus der reformierten Psalmtradition stammen. Mit einem Lied auf die Weise „Wachet auf“ beginnt das Jahr, mit einem Lied auf die Weise „Nun lob mein Seel’ den Herren“ schließt es. 31 Melodien werden nur einmal gewählt. Die seinerzeit am häufigsten gebrauchte und fast schon sprichwörtlich verschlissene Weise von Georg Neumark „Wer nur den lieben Gott lässt walten“82 kommt gar nicht vor. Die Formulierung „wieder in Gang zu bringen“ verrät freilich auch, dass die Einführung neuer Melodien leider nicht in Schleiermachers primärer Absicht lag. Zu den zeitgenössischen Melodiegestalten, die noch sehr durch isochrone Umformungen (gleiche Notenwerte) geprägt sind, vergleiche man jeweils die Choralbücher von Johann Christoph Kühnau83 und von August Wilhelm Bach.84
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Vgl. das Schreiben vom 1.2.1815 bei B. Schmidt, Lied, S. 491. Vgl. F. Schleiermacher, PT, S. 184. Vierstimmige alte und neue Choralgesänge, mit Provinzial-Abweichungen, von Johann Christoph Kühnau, Kantor und Musikdirektor wie auch Lehrer bey der Königl. Realschule zu Berlin, Berlin, im Verlag des Autors, 1786. – Kühnau war von 1788 bis 1805 Kantor an der Dreifaltigkeitskirche gewesen, sein Sohn Johann Friedrich Wilhelm Kühnau bekleidete seit 1814 das Organistenamt daselbst. Vater Kühnau war auch mit vereinzelten Kirchen-Kompositionen hervorgetreten, vgl. K. v. Ledebur, Tonkünstlerlexicon Berlin’s (1861), S. 304f. August Wilhelm Bach, Choral-Buch für das Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen bearbeitet und mit Genehmigung eines Königl. Hohen Ministerii der Geistlichen etc. Angelegenheiten herausgegeben von August Wilhelm Bach, Musik-Direktor und Organist an der St. Marien-Kirche zu Berlin, Berlin 1830. – Zu A. W. Bachs Choralbuch vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 111‒115.
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3.2. Zur Liedbearbeitungstechnik Neben der Benutzung vieler verschiedener Gesangbücher war die Veränderung der Texte Anlass und Zweck für die Herstellung der Liederblätter. In der nachfolgenden Edition werden alle Abweichungen von ihren mutmaßlichen Quellentexten nachgewiesen. Zwar sind nicht alle Varianten wirklich deutungsrelevant. Man muss sich den Entstehungsprozess ja so vorstellen, dass Schleiermacher mehrere Liederblätter gleichzeitig vorbereitete85, dass er also viele Lieder aus verschiedenen Gesangbüchern abschrieb und die Manuskripte dem Drucker Georg Reimer übergab, ohne dass wir hier mit einem sorgfältigen Lektorat rechnen können, so dass sich beim Abschreiben wie beim Lesen auch Fehler eingeschlichen haben dürften, die nicht korrigiert worden sind. Und denoch gibt es viele – sowohl theologisch als auch stilistisch oder liturgisch begründete – Varianten. Mit den auf den Liederblättern genannten Gesangbüchern haben wir relativ sichere Quellenhinweise, doch keineswegs in allen Fällen. Denn auch unter den quellenmäßig verifizierten Liedern gibt es Unsicherheiten hinsichtlich der tatsächlichen Quelle(n). Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass Schleiermacher für die Bearbeitung eines Liedes gelegentlich mehrere Gesangbücher heranzog. Ein Beispiel dafür ist die Bearbeitung des Lavaterliedes „O Tag des Herrn“ mit Hilfe des Jauerschen und des Bremer Gesangbuchs am 2. Sonntag nach Trinitatis. Ein anderes Beispiel ist das Hauptlied am Erntedanktag „Wir alle Menschenvater bringen“. Hier gibt Schleiermacher zwar die Jauersche Sammlung als Quellengesangbuch an, doch die Analyse zeigt, dass er das Lied zugleich mit Hilfe des gleichnamigen Liedes aus der Bremer Sammlung bearbeitet hat. Das bedeutet nun auch, dass keineswegs alle Lesarten, die von dem genannten oder vermuteten Quellengesangbuch abweichen, von Schleiermacher selbst geschaffen worden sind. Für diesen „Quellen-Ekklektizismus“ gibt es viele Beispiele, die auch zur Vorsicht gegenüber den gedruckten Quellenangaben mahnen. So setzt er am 1. Advent als Morgenlied „Preis sei dem ewigen Erbarmen“ angeblich aus dem Bremer Gesangbuch an, doch der Textvergleich zeigt, dass die Liedblattfassung der Jauerschen Version viel ähnlicher ist. Schleiermacher scheut auch nicht davor zurück, neue Textfassungen aus Strophen verschiedener Lieder gleichen Versmaßes herzustellen: So wird etwa der Gottesdienst am „Sonntag nach Weihnachten“ mit einer Collage der Lieder „Mein Dankopfer, Herr, ich bringe“ von Heinrich Albert und „Auf! mein Geist, auf! und erhebe“ von Simon Dach eröffnet. Beide Lieder stehen im Stettiner Gesangbuch mit der Melodie „Herr, ich habe missgehandelt“. Die „Feindstrophe“ des Albert-Liedes „Daß du meine stolzen Feinde“ wird durch die fröhliche und unbeschwerte mittlere Strophe des Dach-Liedes substituiert. Um
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S. u. S. 27, Fußnote 129.
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die Dach-Strophe passend zu machen, hat sie Schleiermacher in die Anredeform transformiert, ebenso die letzte Albert-Strophe. In der letzten Liedblattstrophe hat Schleiermacher die beiden Schluss-Verse wiederum dem DachLied entnommen. Andere Beispiele: Am 24. Sonntag nach Trinitatis fügt er dem Hauptlied „Gott, der väterlich geliebet“ eine fremde Strophe aus dem Lied „Dir empfehl ich meine Sache“ ein. Oder er setzt am Sonntag Misericordias Domini das siebenstrophige Hauptlied „Von dir, mein Gott, strömt Licht und Leben“ aus den Strophen zweier Lieder aus dem Jauerschen Gesangbuch zusammen, wobei er die beiden Schluss-Strophen wiederum aus Verszeilen verschiedener Quellenstrophen des Liedes „Wer hat ins Leben mich gerufen“ gebildet hat. Diese buchstäbliche „Kompositions-Technik“ wendet Schleiermacher häufig bei der Strophenbildung an, wenn er zwecks Komprimierung oder theologischer Pointierung aus dem vorhandenen Versmaterial neue Strophen bildet. Mit großer Sorgfalt hat Schleiermacher die grammatikalische Person bedacht und behandelt, wie das Beispiel der Anredetransformation am Sonntag nach Weihnachten belegt. Man vergleiche aber auch die Umstellung des Hauptliedes am 20. Sonntag nach Trinitatis von der Ich- auf die Wir-Form oder das eigens inszenierte Rollenspiel zwischen Chor und Gemeinde am Sonntag Invocavit. Wir haben die Veränderung von Liedtexten, wie sie Schleiemacher vorgenommen hat, bisher mit der Selbstverständlichkeit des Bearbeiters betrachtet. Doch diese Selbstverständlichkeit war schon zu Schleiermachers Lebzeiten fraglich geworden. Nach Erscheinen des Berliner Gesangbuchs von 1829 wurde massive Kritik laut. Schleiermacher hat diese Kritik, die vor allem aus dem konservativen Lager kam86, gründlich, grundsätzlich und ironisch abgewehrt. Und er hat das Recht zur Textbearbeitung vor allem aus rezeptionellen Gründen verteidigt. Alleiniger Zweck des Gottesdienstes sei die Erbauung der Gemeinde: Ich meine also, wenn Veränderungen nur zwekkmäßig sind, von dem Recht dazu kann gar nicht die Rede sein. Jenes ist die gerechte Forderung der Gemeine, sie will zur Erbauung zwekkmäßige Lieder.87
Und noch einmal: Es kommt also alles darauf an, nicht wer die Veränderungen gemacht hat, noch woran sie gemacht sind, sondern ob sie gut sind, das heißt ob sie Störungen der Erbauung hinwegnehmen [...] Denn die Erbaulichkeit ist das einzige worauf es ankommt.88
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88
Vgl. zur Rezeption des BG, insbesondere zur Kritik C. C. J. Bunsens und K. v. Raumers, I. Seibt, F. Schleiermacher und das BG, S. 195‒207. Ueber das Berliner Gesangbuch, KGA 1/9, S. 488. – Da in dieser Schrift Prinzipien verteidigt werden, die von Beginn der Kommissionsarbeit an (d. h. seit 1818/19) gegolten haben, kann sie auch an dieser Stelle zitiert werden. Ebd., S. 490.
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Die Aussage hat Schleiermacher auch in der Vorlesung wiederholt: „Was erreicht werden soll [im Gottesdienst, B. S.] ist das was wir Erbauung nennen.“89 Die Erbaulichkeit bzw. die „religiöse Erregung des Gemüths“90 werde einerseits erreicht durch das Zusammenstimmen der liturgischen Bestandteile. Es sei eine „liturgische Aufgabe die Lieder als harmonische Bestandtheile unseres öffentlichen Gottesdienstes herzustellen.“91 Sie werde andererseits erreicht durch die Verständlichkeit der Texte sowie durch einen gewissen Orts- und Zeitbezug. Über die Verständlichkeit schreibt Schleiermacher 1830 an Ritschl, „weil wir unsere Gemeinen nichts wollten singen lassen was sie nicht verstehn.“92 Und die Forderung nach einem allgemeinen deutschen oder auch nur preußischen Gesangbuch wehrt er ab mit der Bemerkung: Ein Gesangbuch das ein so allgemeines sein wollte [für ganz Deutschland oder für ganz Preußen, B. S.] würde nirgend in einer wirklichen Gemeine ein recht erbauliches sein.93
Zwar verlieh Schleiermacher mit der Forderung nach Erbaulichkeit der Lieder seiner Liedbearbeitung eine neue Begründung. Gleichwohl hat er an der seit der Aufklärung, z. T. auch von berühmten Dichtern94 geübten Praxis der willkürlichen Veränderung von Liedtexten festgehalten.95 In einer Grundsatzerklärung der Gesangbuchs-Commission zu den künftigen Prinzipien der Gesangbucharbeit bekennt sich auch Schleiermacher 1818 ausdrücklich zur prinzipiellen Veränderbarkeit eines jeden Liedes: „Kein Lied würde bey der Auswahl a priori als unverbesserlich anzuerkennen seyn.“96
3.3. Die Kirchenmusiken Die Identifizierung der Kirchenmusiken gestaltet sich weiter schwierig.97 Leider war es mir nicht vergönnt, Noten- und Aufführungsmaterial oder weitere Zeitzeugenberichte zu finden, so dass die Liedblatt-Texte weiter die einzigen Anhaltspunkte darstellen. Jedoch hat sich der Eindruck verfestigt, dass es sich auch bei den Kirchenmusiken des Jahres 1817 durchgehend um so genannte
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PT, S. 41. PT, S. 619. Ueber das Berliner Gesangbuch, KGA 1/9, S. 504f. Ebd., S. 484. Ebd., S. 500. – Die Beschränkung auf Berlin gehörte von Beginn an zu den Prämissen der Arbeit der Gesangbuchs-Commission, vgl. Wilmsens Protokoll vom 24.7.1818, in B. Schmidt, Lied, S. 527. Vgl. etwa F. G. Klopstock, Geistliche Lieder, Erster Theil, Kopenhagen und Leipzig 1758 sowie „Veränderte Lieder“ und Geistliche Lieder, Zweiter Theil, Kopenhagen und Leipzig 1769 Vgl. I. Seibt, F. Schleiermacher und das BG, S. 17‒23, wobei Seibt das BG als „das erste offizielle Reformgesangbuch“ würdigt, ebd. S. 22. Aus dem Protokoll Wilmsens vom 24.7.1818, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 527. Zur Problematik verweise ich auf meinen Exkurs über die Pflege und Bedeutung der Kirchenmusik, in: B. Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 107‒151.
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Pasticci handelt, also um kantatenartige Gebilde, bestehend aus Einzelstücken verschiedener Provenienz. Mit relativer Sicherheit können die Stücke des Sonntags Invocavit (Carl Heinrich Graun und Antonio Rosetti) sowie des zweiten Reformationstages (Georg Friedrich Händel) bestimmt werden. Die Chöre am zweiten Weihnachtstag dürften aus rezeptionsgeschichtlichen Erwägungen am ehesten von Johann Heinrich Rolle und wiederum von C. H. Graun stammen. Als besonders schwierig erwies sich die Bestimmung der Musiken an Neujahr und Pfingsten, wobei wir es am Pfingstmontag möglicherweise mit der Übersetzung lateinischer Stücke zu tun haben, was die Identifizierung zusätzlich erschwert. Als Komponisten kommen in Frage: Johann Gottfried Krebs, Theodor Christlieb Reinhold, wiederum J. H. Rolle oder Johann Philipp Kirnberger, Gottfried Heinrich Stölzel sowie ein Carl Philipp Emanuel Bach zugeschriebenes Werk von Georg Philipp Telemann. Damit dominieren – bei aller Unsicherheit hinsichtlich der Bestimmung der Stücke im Einzelnen – die Werke von Meistern des mitteldeutschen Raums aus der Übergangszeit zwischen Barock und Klassik. Der große Kontrapunktiker und Repräsentant des „alten Stils“, J. S. Bach, kommt selten98, die Protagonisten der damaligen Moderne, Haydn und Mozart, kommen – soweit ich sehe – auf den Liederblättern gar nicht vor.99 Abgesehen von Händel, für den Schleiermacher eine persönliche Vorliebe hegte100, erhielten also vorrangig solche Komponisten den Vorzug, die eine zwischen dem als akademisch geltenden strengen Kontrapunkt und dem modernen akkordischen Satz der Wiener Klassik liegende Satztechnik beherrschten und einen Stil pflegten, der das „Opernhafte“ und „Gekünstelte“ meidet, der einem natürlichen Melos Raum gibt, vokal empfunden ist und durch seine liedmäßige Schlichtheit das – zumal „heilige“ – Gefühl empfindsam anspricht. Die skizzierten Stilmerkmale weisen hin auf die musikgeschichtliche Periode der „Empfindsamkeit“, die von älteren Musikhistorikern auch „Hasse-Graunsche Periode“ genannt wurde.101 Die Überein98
Bezeichnenderweise stammt das häufig und vielleicht auch am 26.12.1817 aufgeführte Werk, die Weihnachtsmotette „Kündlich groß“ gar nicht von J. S. Bach, sondern von C. H. Graun, s. u. S. 285f. 99 Gegen die Haydnschen Oratorien hatte Schleiermacher nicht zuletzt der Texte wegen Vorbehalte, wobei er wohl auch spürte, wie sich in der Wiener Klassik die Musik vom Wort emanzipiert. Schleiermacher an Schwester Charlotte (vom 29.12.1800): „Concerte deren es im Winter hier Viele giebt besuche ich aus andern Gründen nicht: theils sind sie sehr theuer theils mache ich mir gar nichts aus der Virtuosenmusik, selbst nicht aus dem Virtuosengesang. So habe ich auch die Schöpfung von Haidn noch nicht gehört, sie wird aber in acht Tagen hier von der königlichen Kapelle aufgeführt werden und vielleicht gehe ich dann doch hin – hier habe ich sehr verschiedene Urtheile darüber gehört; einige sind ganz davon entzükt, Andern scheint es mit Künsteleien überladen zu sein, der Text ist mir nicht bekannt, er pflegt aber gewöhnlich bei solchen Dingen schlecht zu sein. Die Musik die ich am liebsten und öftesten höre ist die SingAkademie wo lauter KirchenMusik im großen Styl aufgeführt wird und ich mich oft der Festmusiken und Wechselchöre auf den Gemeindesälen erinnere.“ Brief Nr. 997, KGA 5/4 (1994), S. 382. 100 Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 133‒135. 101 Vgl. G. Feder, in: F. Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik (19652), S. 218.
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stimmung der in den Gottesdiensten mutmaßlich aufgeführten Stücke mit dem Musikgeschmack Schleiermachers weist darauf hin, dass Schleiermacher an der Auswahl der Stücke durch Kantor Rex maßgeblich beteiligt war.102 Der liedmäßigen Schlichtheit der bevorzugten Werke korrespondiert – nach Schleiermachers Theorie und Praxis – in aufführungspraktischer Hinsicht die Beschränkung des Instrumentariums auf die Orgel, die als eine Konsequenz des so genannten „Keuschheitsprinzips“ verstanden werden darf.103 So kann als sicher gelten, dass auch kantaten- oder oratorienhafte Stücke wie z. B. die Chöre aus Rosettis Oratorium „Der sterbende Jesus“ oder aus Händels „Messias“ nur von der Orgel begleitet wurden.104 Ausführende waren der lutherische Kantor Carl Friedrich Rex (1780‒1866), der seit 1815 auf Schleiermachers Bitte hin auch die Figuralmusiken im reformierten Gottesdienst leitete, und die Sängerinnen und Sänger der Singakademie, die sowieso zu Schleiermachers Predigthöhrern zählten.105 Rex spricht in einer Eingabe von 1817 von „fast jedesmal zwischen dreissig und fünfzig Personen, meistentheils immer dieselben, aus allen Gegenden der Stadt“.106 Während die Auswahl der Werke – samt ihrer stilistischen Verwurzelung in der Berliner „Liedtradition“ – naheliegende Konvergenzen zu Repertoire und Ästhetik der Berliner Singakademie anzeigen107, macht sich in der asketischen Darbietung, vor allem aber im mutmaßlichen Verzicht auf die altitalienische Vokalpolyphonie eine deutliche Eigenständigkeit Schleiermachers bemerkbar. Die Bevorzugung des liedhaften und die Ablehnung des instrumentalen und harmonischen Elements stammen ideengeschichtlich betrachtet aus einer Quelle. Carl Dahlhaus hat am Beispiel E. T. A. Hoffmanns gezeigt, dass die sogenannte „wahre Kirchenmusik“ der alten Italiener mit der modernen Instrumentalmusik der Wiener Klassik den Vorrang der Harmonie vor der Melodie verband, weil jene als Ausdruck der Unendlichkeit galt, während die Ästhetik der Empfindsamkeit (Rousseau und Herder) den Ursprung der Musik in der Sprache sah und der Melodie den Vorrang gab.108 Während der junge 102 Zur Zusammenarbeit von Prediger und Kirchenmusiker vgl. B. Schmidt, Lied, S. 416f., vgl. auch ebd., S. 763. 103 Zu Schleiermachers liturgischen und ästhetischen Stilprinzipien vgl. B. Schmidt, Lied, S. 38‒42 und F. Schleiermacher, PT, S. 174. 104 Vgl. Schleiermachers Stellungnahme aus dem Jahre 1827: „Es ist in der Dreifaltigkeitskirche keine andere Instrumentalmusik üblich als bisweilen zumal wenn ein Te Deum gesungen wird Begleitung von Posaunen. Wenn an hohen Festen oder bei anderen besonderen Veranlassungen Gesangstücke vom Chor vorgetragen werden: so geschieht solches nur mit Begleitung der Orgel.“ Dreifaltigkeitsarchiv VII/2, Bl. 25, in: B. Schmidt, Lied, S. 517. 105 Vgl. Schleiermachers Gesuch an die Königlich-Kurmärkische Geistliche- und Schuldeputation vom 1.2.1815, in: B. Schmidt, Lied, S. 491f., s. u. S. 24, Fußnote 110 und C. F. Rex, Promemoria vom 14.12.1817, ebd., S. 502‒506. 106 B. Schmidt, Lied, S. 503. 107 Zur Ästhetik der Berliner Singakademie vgl. F. Milz, in: Sing-Akademie zu Berlin. Festschrift hrsg. von W. Bollert (1966), S. 50–60. 108 Vgl. C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 47–61. „Daß die ‚Harmonie‘ – oder Polyphonie – und nicht die ‚Melodie‘ die Signatur des ‚modernen, christlichen, romantischen‘
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Schleiermacher in den „Reden“ und in der „Weihnachtsfeier“ noch mit der romantischen Musikästhetik sympathisiert hatte, kehrte sich der reife „kirchliche“ Schleiermacher von dieser ab und verschaffte durch seine liturgische Praxis dem deutsch gesungenen deutlichen Wort Gehör. Diese Wendung erklärt, warum Schleiermacher die als „harmonisch“ empfundene lateinische Kirchenmusik der alten Italiener wahrscheinlich nicht rezipierte. Schleiermachers Kirchenmusikpflege steht im Dienst seiner Liturgik.109 So spiegeln wahrscheinlich auch Programmwahl und Aufführungspraxis Schleiermachers liturgische Stilprinzipien „Simplizität und Keuschheit“ wider. Dass die Kirchenmusiken im Dienste der Liturgie stehen und gleichsam ein Vehikel zur Verbesserung des Kirchengesangs darstellen, aber für ihn kein wesentliches Element des Gottesdienstes bilden, bestätigt Schleiermacher in verschiedenen Zeugnissen. So schreibt er anlässlich eines Antrags an die Kurmärkische Geistliche- und Schuldeputation am 1.2.1815: „Seitdem ich das Predigtamt an der Dreifaltigkeitskirche bekleide habe ich es mir besonders sehr angelegen sein lassen, dem, wie bei kleinen Gemeinen nur zu leicht geschieht, sehr verfallenen Kirchengesang wieder aufzuhelfen. Ich suchte bei festlichen Gelegenheiten möglich zu machen, daß abwechselnd einzelne Stophen vierstimmig oder auch figurirt gesungen wurden, theils kleine Motetten und Chöre von guten Meistern den Gesang der Gemeine unterbrachen.“110
Den festlichen Charakter der Kirchenmusik unterstreicht Schleiermacher auch in seinem Glückwünschungsschreiben von 1814: „Allein wollte man auch für den gewöhnlichen Sonntag die Predigt als Hauptsache ansehen: so muß doch jeder gestehen, die höhern kirchlichen Feste, und hätten wir deren doch mehrere! – fordern eine eigenthümliche Auszeichnung, daß nemlich die größere Erregtheit der Gemeinde sich auch durch eine erhöhte Selbstthätigkeit derselben ausspreche, und also einen größern Reichthum des Gottesdienstes, hinter welchem die Predigt noch mehr zurücktritt; und überdies kann man wohl kein kirchliches Fest für vollständig halten, ohnen einen selbstständigeren und bedeutenderen Antheil der Tonkunst, ohne eine volle Kirchenmusik.“111
Anders argumentiert Schleiermacher in seiner Schrift „Ueber die neue Liturgie“ von 1816, wo er die fehlende liturgische Verklammerung des Chorgesangs innerhalb des Gottesdienstes moniert und über den Chorgesang urteilt:
Zeitalters in der Musik bilde, ist eine der tragenden Thesen des Aufsatzes [von E. T. A. Hoffmann] ‚Alte und neue Kirchenmusik‘.“ S. 49. – Zur Vielfältigkeit des Phänomens und Begriffs der „wahren“ Kirchenmusik vgl. auch Jürgen Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jhds. (2001), S. 231‒245. 109 Zu den Prinzipien seiner Liturgik, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 38‒42. 110 An Eine Hochlöbliche Königlich Churmärkische Regierungs Geistliche und Schul Deputation. Gehorsamster Antrag wegen Verbesserung des Kirchengesanges bei der reformirten Gemeine an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Hauptabteilung X (II. Abteilung), Rep. 2 B, Nr.3532. Acta betreffend die Verbesserung des Kirchengesanges und die Remunerierung des lutherischen Kantors für Leitung der Kirchenmusik bei der reformirten Dreifaltigkeitskriche 1815, Blatt 2–3. Abgedruckt bei B. Schmidt, Lied, S. 491f. 111 F. Schleiermacher, Glückwünschungsschreiben (1814), KGA I/9, S. 72.
4. Die Liederblätter als Dokument der Gottesdiensttheorie Schleiermachers
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„So ist er seiner Natur nach im Wechsel entweder mit dem Liturgus oder mit der Gemeine. Zeigt er sich als keines von beiden: so erscheint sein Auftreten ganz willkührlich und zum großen Theile bedeutungslos.“112
Die hier zitierten Äußerungen stimmen mit seiner eigenen Praxis darin überein, dass Schleiermacher die figurale Chormusik nur dem Festgottesdienst zugesteht, dass er sich von ihr eine Verbesserung des Gemeindegesangs erhofft, und dass er sie in den Dienst der Erbauung der Gemeinde stellt, die er jedoch nur dann verwirklicht sieht, wenn die Kirchenmusik mit Text und Musik liturgisch hinreichend verklammert ist.113
4. Die Liederblätter als Dokument der Gottesdiensttheorie Schleiermachers Schleiermacher hat offenkundig viel Mühe auf die Bearbeitung der Lieder verwendet, und wir fragen nach den Gründen. Ilsabe Seibt hatte die Liederblätter „als jahrelange intensive Vorarbeit zum Gesangbuch“ verstanden.114 Doch dieses Motiv kann für 1817 ausscheiden, da sich die Gesangbuchkommission erst im Dezember 1817 konstituierte115 und ihre regelmäßige Arbeit erst im Februar 1819 aufnahm116, Liederblätter aber bereits seit 1812/13 gedruckt wurden.117 Wollte Schleiermacher seiner Gemeinde dogmatisch korrek112 Ueber die neue Liturgie (1816), KGA I/9, S. 97. – Im Agendenstreit mit König Friedrich Wilhelm III. hat es Schleiermacher später sehr grundsätzlich, als unionsfeindlich und sogar als „unevangelisch“ bestritten, dass der Chorgesang ein wesentlicher Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes sei. In einer Stellungnahme von 1824/25 stellt er fest: „Unevangelisch nemlich ist jede Beschränkung der Predigt und des Kirchengesanges zum Vortheil des Chorgesanges und des Altardienstes. Für den Chorgesang kann in unserm Gottesdienst, in dem er ja an den meisten Orten gänzlich fehlt, auf keine andere Stelle Anspruch gemacht werden, als daß er den Uebergang mache vom Altargebet des Liturgen zum Gesang der Gemeine und umgekehrt. Die neue Ordnung aber macht den Chorgesang zu etwas wesentlichem und erweitert ihn zum Nachtheil des Altardienstes selbst, der durch ihn zerstückelt wird und spricht eine Geringschäzung des in der lutherischen Kirche so herrlich ausgebildeten Kirchengesangs aus.“ F. Schleiermacher, Zur Agende (1824/25) KGA I/9, S. 274. 113 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat Schleiermacher auch in die Kirchenmusiktexte ändernd eingegriffen, vgl. etwa die Umstellung von der ersten auf die zweite Person in dem Solo „Ja deine Augen haben den Heiland gesehen.“ am 2. Weihnachtstag 1817, s. u. S. 285. 114 I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 216. 115 Die Wahl der Gesangbuchkommission fand auf der achten Sitzung der Kreissynode am 10.12.1817 statt, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 177. 116 Vgl. die Protokolle der Gesangbuch-Commission, in B. Schmidt, Lied, S. 536. 117 In einem Brief an Luise Zenge schreibt Schleiermacher 1821: „Sie erhalten also hierbei 7 Jahrgänge von 1814–20 der erste ist mir ausgegangen....“ Undatierter Brief an Luise von Zenge (1821), BBAW, Autograph I/1234. Da wir aber mehr undatierte Liederblätter haben, als die Jahre 1813 bis 1816 hergeben, muss damit gerechnet werden, dass Schleiermacher mit dem Druck der Liederblätter bereits im Laufe des Jahres 1812 begann. Dieser Annahme korrespondiert die Beobachtung von Wolfgang Virmond, dass Schleiermacher lt. Reimerschem Hauptbuch am 6.12.1813 „für Druck u. Papier der Lieder von 1812-13 ... 67 rth“ zahlen sollte, vgl. W. Virmond, Schleiermachers Liederblätter, Lewiston 1991, S. 279. Vielleicht löst sich der Wider-
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I. Einleitung
te und poetisch ansprechende Liedtexte an die Hand geben? Dafür könnte sprechen, dass die Liedbearbeitungen bestimmte theologische und philologische Prinzipien erkennen lassen, die seit langem bekannt sind118: Als theologisches Redaktionsprinzip fällt zuerst auf, dass bestimmte Reizworte sowohl aus der altprotestantischen als auch und vor allem aus der aufklärerischen Theologie gern eliminiert werden. Dazu gehören Begriffe wie Tugend119, Pflicht120, Strafe121, Hölle122, böse Lust123, Laster124. Insgesamt war es Schleiermacher um eine Verkirchlichung, Vergeistigung und Veredelung der Texte zu tun. Man vergleiche etwa die Bearbeitung des Hauptliedes am 3. Sonntag nach Epiphanias, wo er den brüderischen Überschwang rigoros dämpft („heilige“ statt „zarte Liebestriebe“, „Erdensohn“ statt „armen kalten Thon“, „o Heiland“ statt „o Bräutigam“ oder „Und hauch ihm ein dein selig Leben“ statt „erfülle sie mit Freudenöle“).125 Obwohl Schleiermacher dem Lied unter den religiösen Texten die poetische Rolle zuweist126, drängt er in seinen Bearbeitungen das Bildhafte zurück, um die Phantasie zu bändigen und in die gewünschte Richtung zu lenken. Auch bei der Liedbearbeitung gelten die Prinzipien der Allgemeingültigkeit und einer zeitenthobenen Klassizität.127 Diesem Zweck dienen oft auch die stilistisch motivierten Abänderungen. Hier ist vor allem das Streben nach Beseitigung von Wortwiederholungen aufgefallen. So erklären sich viele Textänderungen im Eingangslied des Trinitatissonntages, z. B. die Eliminierung von „Trost“ in der letzten Verszeile der dritten Strophe, da Trost schon in der ersten Verszeile genannt ist, oder die Eliminierung des anaphorischen Relativsatzes „der mir...“. Außerdem lässt die systematische Abwandlung des Strophenbeginns dogmatische Vorbehalte gegen
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spruch so auf, dass Schleiermacher im Laufe des Jahres 1812 mit der regelmäßigen Herausgabe von Liederblättern begann, 1813 aber den ersten kompletten Jahrgang herausgab. Vgl. schon Schleiermachers eigene Verteidigungsschrift des Berliner Gesangbuchs: F. Schleiermacher, Ueber das Berliner Gesangbuch, KGA I/9, S. 473-512; I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 139‒194 und B. Schmidt, Lied, S. 198‒215. Vgl. die Redaktion des Morgen- und des Hauptliedes am Sonntag Misericordias Domini, s. u. S. 109. Vgl. das Morgenlied am 1. Sonntag nach Epiphanias, s. u. S. 53. Der Begriff der Pflicht wird allerdings nicht so rigoros ausgemerzt wie der der Tugend. In einigen Liedern lässt ihn Schleiermacher auch stehen. Vgl. z. B. das Morgenlied am Sonntag Invocavit, s. u. S. 75.. Vgl. z. B. das Hauptlied am Sonntag Oculi, s. u. S. 86. Vgl. z. B. das Schlusslied am Sonntag Judica, s. u. S. 95. Vgl. z. B. das Eingangslied am Neujahrstag, s. u. S. 39. S. u. S. 60f. Vgl. PT, S. 119f. und s. o. S. 10f. Zu den philologischen Redaktionsprinzipien der Gesangbuchs-Commission vgl. B. Schmidt, Lied, S. 198‒205. ‒ In einer praktisch-theologischen Abhandlung über die „Liturgie im Cultus“ erläutert Schleiermacher den Begriff des Klassischen in der Sprache: „so meinen wir damit einen Charakter der Allgemeingültigkeit, worin der Wechsel der Sprache nicht so streng auftritt, sondern der lange verständlich und schön bleiben wird. In den Grenzen des klassischen muß sich die Sprache in diesen Elementen des Cultus halten.“ PT, S. 166.
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die kirchliche Trinitätslehre erkennen. Hierbei ist freilich anzumerken, dass sich gerade in diesem Stilprinzip, der Beseitigung von Wiederholungen, gelegentlich eine unpoetische, verkopfte und fast schülerhaft wirkende Herangehensweise an die Liedtexte manifestiert. Dass es sich dabei nicht um eine momentane Laune Schleiermachers, sondern um eine allgemeine Zeiterscheinung handelte, belegen die Protokolle der Gesangbuchs-Commission.128 Doch alle diese theologisch oder philologisch begründeten Maßnahmen können das Phänomen Liedblatt nicht erklären, um so weniger, als Schleiermacher, wie wir sahen, überwiegend neuere Lieder auswählte, die ja seinem theologischen und ästhetischen Geschmack ohnehin eher entsprachen. Außerdem stellt sich die Frage, wie ein und dasselbe Lied in unterschiedlichen Textfassungen auf den Liederblättern erscheinen kann. So wird etwa die Strophe „Jehova Gott der Götter“ aus dem Bremer Gesangbuch (Nr. 433,8) an zwei aufeinanderfolgenden Gottesdiensten als Schlusslied angesetzt, am Erntedanksonntag (5.10.1817) und am darauf folgenden 20. Sonntag nach Trinitatis (19.10.1817). Da damit gerechnet werden muss, dass Schleiermacher beide Liederblätter gleichzeitig vorbereitete129, sind die Differenzen ernst zu nehmen. Während Schleiermacher nun zum 5.10.1817 drei kleine Retouchen vornimmt, bringt er das Lied am 19.10. unverändert. Dieser Befund lässt sich nur so erklären, dass es für die Liedbearbeitung immanente Kriterien gab, dass also eine Liedbearbeitung auf den jeweiligen Gottesdienst, den speziellen Sonntag, die Predigt, das Liedblatt im ganzen zugeschnitten war. Bei dem genannten Beispiel könnte am Erntedankfest Lob und Dank im Vordergrund gestanden haben (vgl. etwa den Austausch von „Größe“ durch „Güte“) während der Gottesdienst am 20. Sonntag nach Trinitatis (trotz des dankbaren Gedenkens an die Völkerschlacht) einen durchaus ernsten Charakter trug und eher die Größe, Strenge und Hoheit Gottes thematisierte. Das heißt: außer den dogmatisch und stilistisch begründeten Textänderungen gibt es solche, die sich der konkreten liturgischen Situation verdanken. Dazu einige Einzelbeispiele: Die Schluss-Strophe am Neujahrstag wird von Schleiermacher so geformt, dass sie ausdrücklich die Fürbitte für den König enthält. Am 3. Sonntag nach Epiphanias bittet die Gemeinde im Kanzelvers situationsgemäß: „Laß deiner Wahrheit Lehren, / Uns unverdrossen hören, /
128 Vgl. etwa im Protokoll vom 30.11.1820 die Debatte über Ritschls Bearbeitung von „Jesu, meine Freude“: „Hr. Ritschl trug vor das Joh. Franksche JESU MEINE FREUDE, MEINES HERZENS WEIDE [BG 532] u hatte in seiner Bearbeitung den Satan u das ‚Gotteslamm, mein Bräutigam’ beibehalten, auch V. 5 das 3malige: ‚Gute Nacht’ wogegen sich aber die Mehrheit erklärte, u diese drei Stellen wurden daher verändert.“ B. Schmidt, Lied, S. 591. Auch im Sendschreiben an Ritschl (1830) teilt Schleiermacher beiläufig mit: „und so haben wir ja auch den Feind allein stehen lassen in der vorlezten Strophe; aber eben deshalb mußten wir hier um die Wiederholung zu vermeiden der Böse sagen.“ KGA I/9, S. 507. Schleiermacher verteidigt hier Hansteins Bearbeitung von J. Stegmanns „Ach bleib mit deiner Gnade“. 129 Wolfgang Virmond weist darauf hin, dass aufgrund der kleinformatigen Zettel „mehrere Nummern gleichzeitig gedruckt wurden.“ W. Virmond, in Schleiermacher in Context, S. 282.
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I. Einleitung
Und deinem Wort uns weihn!“ Beim Schlussgesang des Pfingstgottesdienstes hat Schleiermacher ein Segensmotiv („Du segnest gern“) eingetragen. Wiederum eine kleine liturgisch motivierte Textkorrektur weist der Kanzelvers am Trinitatissonntag auf: „Des heil’gen Geists Gemeinschaft sei / In seinem Haus’ uns fühlbar neu“ (an Stelle von „uns alle Tage fühlbar neu“). Die These vom Zusammenhang von Liedern und Predigt, die ich bereits in meiner Dissertation über den Festgottesdienst Schleiermachers vertreten hatte130, wird nun durch folgende Beobachtungen und Anhaltspunkte gestützt: Explizite Verweise des Predigers auf gesungene oder noch zu singende Lieder. Der Zusammenhang von Predigt und Lied war Schleiermachers Predigthörern offenbar so selbstverständlich131, dass der Prediger nicht jedes Mal darauf aufmerksam machen musste. Tat er es, dann elegant und beiläufig wie am Schluss der Predigt am 3. Advent, wo er das vor der Predigt gesungene Lied zitiert „Ausrufen müssen wir: mit Ernst ihr Menschenkinder! Alles laßt uns verbannen, was den Menschen dahin bringen kann, daß der Erlöser ihm zum Fall wird!“ Ein anderes Beispiel: die Predigt am 24. Sonntag nach Trinitatis schließt mit einem Zitat der letzten Liedverszeile: „so wird man daran erkennen, daß wir seine Jünger sind.“ (Vgl. den Schluss des Liedes Herz und Herz vereint zusammen: „Also wird die Welt erkennen, / daß wir deine Jünger sein.“) Am 20. Sonntag nach Trinitatis, dem Tag der Völkerschlacht, knüpft der Prediger ebenfalls – allerdings mit mahnendem Gestus – an die Lieder vor der Predigt an („unsre Freud- und unsre Lobgesänge“, „und indem wir unsrem Gott danken und lobsingen“ vgl. die Lieder „Fallet nieder! Fallet nieder“; „Der Herr ist gut, ihr Himmel höret“). Die thematische Verklammerung von Predigt und Lied kann behauptet werden, auch wenn sie sich nicht in jedem Gottesdienst in gleicher Intensität belegen lässt. Einige Beispiele: Eine besonders enge Beziehung zwischen Lied und Predigt zeigt sich im Festgottesdienst zum 300. Reformationsjubiläum, dessen zweiter Feiertag der christlichen Jugend gewidmet war. Hier ist es insbesondere das Lied vor der Predigt, das punktgenau auf Predigttext und – thema vorausweist und einstimmt. Außerdem nimmt der Prediger im abschließenden Gebet Motive des Schlussliedes vorweg („wandelnd im Lichte der Klarheit“). Eine enge Beziehung von Predigt und Lied kann auch im Gottesdienst zur Eröffnung der Synode beobachtet werden, wo der Gedanke des Bundes bzw. des Verbündens und des Bandes Lieder („Gieb Eintracht, Herr, der Liebe Band“) und Predigt („Das Ziel ist also, daß ein enges Band der brüderlichen Liebe [...] auf noch heiligere Weise uns untereinander verbinde“) verbindet. Oder am zweiten Weihnachtstag 1817, wo Schleiermacher mit Kol 1,16f. über die Schöpfungsmittlerschaft Christi predigt und in das Hauptlied zur Vorbereitung auf die Predigt der Vers „Daß du erschienst, du starker Held, / Der alles schuf und alles hält“ eigens eingetragen wird. 130 Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 477f. 131 Vgl. dazu auch die Beispiele im Abschnitt „Rückverweise des Predigers auf gesungene Lieder“, in: B. Schmidt, Lied, S. 435‒437.
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Doch sind es keineswegs nur die außerordentlichen Festgottesdienste, die solche Beziehungen aufweisen. So thematisieren etwa Liedblatt und Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis übereinstimmend die christliche Sonntagsfeier, was aus den Texten selbst sowie aus den entsprechenden Gesangbuchrubriken hervorgeht. Besonders eng sind die Verbindungen zur Predigt naturgemäß im Lied „Nach dem Gebet“. Am 6. Sonntag nach Trinitatis handeln Lieder und Predigt vom Gesetz, am 10. Sonntag nach Trinitatis von der Nachfolge Christi. Am Sonntag Misericordias Domini predigt Schleiermacher über Lk 24,44‒48 und den richtigen Gebrauch bzw. das richtige Verstehen der Schrift, des geschriebenen Wortes Gottes. Zur Vorbereitung auf diese Predigt bildet er im Hauptlied Liedstrophen aus Versen verschiedener Lieder, die allesamt das „Wort Gottes“ zum Thema haben. Freilich liegen die Verbindungen von Predigt und Lied nicht immer offen zutage. Vielmehr beobachten wir oft, dass die Predigt zwar an den Liedtext oder den Charakter des Liedes anknüpft, aber dann gern darüber hinausgeht. So etwa setzt Schleiermacher bei seiner Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, dem Gedenktag an die siegreiche Völkerschlacht zu Leipzig 1813, bei der Feststimmung seiner Hörer an, führt aber sogleich darüber hinaus, indem er zur Buße ruft: „Ja sollen diese großen Thaten nicht vergebens gewesen seyn, nicht vergebens unsre Freud- und unsre Lobgesänge, o so laßt uns der ernsten Worte gedenken, daß auch wir Buße thun müssen im Sack und in der Asche und daß durch diese Buße unser Herz müsse gereinigt werden.“ Es folgt im Kontrast zu den vorangegangenen Liedern eine strenge Bußpredigt. Doch dass diese nicht nur aus einer momentanen Stimmung oder Aufwallung geschah, zeigen wiederum die Lieder unter und nach der Predigt, die die Hoheit, Größe und Gerechtigkeit Gottes besingen. Am 24. Sonntag nach Trinitatis lässt sich eine ähnliche Rollenverteilung zwischen Lied und Predigt beobachten: Während die Lieder übereinstimmend das Thema Liebe und Einigkeit (Eingangslied) und Vergebung (Hauptlied, vgl. auch den Stropheneinschub „Dir mein Herr dir will ichs klagen“) in der christlichen Gemeinde behandeln, predigt Schleiermacher anhand von Lk 17,3 über Strafen und Vergeben. In seiner zweiteiligen Predigt geht er im ersten Teil auf Strafen und Vergeben einzeln ein und weist im zweiten Teil nach, dass die Kirche in der Nachfolge Jesu nur in beidem bestehen kann. Mit seinem letzten Satz „Sind wir aber in wahrer christlicher Liebe bereit zu strafen und zu vergeben, so wird man daran erkennen, daß wir seine Jünger sind“ zitiert Schleiermacher – wie bereits erwähnt – auch die letzte Liedzeile und legt sie damit aus. Der Zusammenhang und die thematische Verwandtschaft von Predigt und Lied, auf die nicht immer explizit hingewiesen wird, lässt sich trotz der Tatsache, dass „Poesie und Prosa nicht dieselbe Einheit haben.“132 oft auch wortstatistisch belegen, man vergleiche etwa die Gottesdienste am Sonntag Misericordias Domini (über das Wort Gottes und
132 F. Schleiermacher, PT (B, 1828), S. 809, vgl. auch PT, S. 186.
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I. Einleitung
unser Verstehen), am 2. Sonntag nach Trinitatis (christliche Sonntagsfeier) oder am 6. Sonntag nach Trinitatis (Heiligkeit und Gesetz). Auch bei solchen Liederblättern, zu denen uns die Predigt gleichsam als der hermeneutische Schlüssel fehlt, fällt eine relative thematische Geschlossenheit auf: So kreisen beispielsweise die Lieder des Liedblattes „Judica“ um den Prozess Jesu mit seinen beiden Stufen (Hoher Rat und Pilatus).133 In ähnlicher Weise dominiert auf dem Liedblatt für den Sonntag „Exaudi“ das Thema der „Treue“. Diese Beobachtungen erhärten übrigens den Verdacht, dass die Liederblätter über ihre liturgische Funktion im engeren Sinne hinaus auch den Zweck eines privaten Andachtsmittels erfüllten. Der Briefwechsel Schleiermachers mit Luise von Zenge134 und der Hinweis auf die Möglichkeit eines Jahresabonnements auf den Liederblättern L 1 und L 2 unterstreichen diese Vermutung. Es scheint also, dass Schleiermacher – sobald er über das Gottesdienstthema entschieden hatte – in den einschlägigen Gesangbuchrubriken nach Liedern suchte. Nicht selten holte er die meisten Lieder eines Gottesdienstes aus einer Rubrik desselben Gesangbuchs (z. B. alle vier Lieder: Sexagesimä, 8. Sonntag nach Trinitatis, oder drei von vier Liedern: Invocavit, Cantate, 12. Sonntag nach Trinitatis, Erntedank, 24. Sonntag nach Trinitatis, 1. Advent, 3. Advent). Zwar hatte auch schon Wolfgang Virmond 1988, nach Wiederentdeckung der Liederblätter, in Bezug auf den Zusammenhang von Predigt und Liedblatt vermutet: „Das heißt aber, daß Schleiermacher auch für seine (Haupt-)Predigten lange im Voraus ein Konzept haben mußte: sei’s im Kopf, sei’s auf dem Papier.“135 Aber wie sollte das gehen, wenn Schleiermacher – wie bekannt – seine Predigten sehr kurzfristig disponierte und präparierte? Die Untersuchung der Schleiermacherschen Hauptgottesdienste von 1817 hat ergeben, dass Schleiermacher noch häufiger, als bisher bekannt, und eben auch in seinen Hauptgottesdiensten Predigtreihen bildete.136 So verzeichnen wir allein im Jahr 1817 fünf Reihen: eine kleine Reihe zum Jahreswechsel 1816/17, eine Reihe über Berufungsgeschichten vom 1. Sonntag nach Epiphanias bis Sexagesimä, eine Reihe Ostergeschichten: „Die Art, wie wir diesmal unsere Auferstehungsandachten angefangen haben“137 sowie vom 2. bis 8. Sonntag
133 Fraglich ist, ob diese Themenwahl mit dem Namen und Proprium des Sonntags in Verbindung gebracht werden kann. Dafür könnte sprechen, dass auch am vorausgehenden Sonntag „Oculi“ das Schauen und die Passionsbetrachtung im Mittelpunkt stehen. 134 S. o. S. 25, Fußnote 117. 135 W. Virmond, Schleiermachers Liederblätter, in: Schleiermacher in Context (1991), S. 282. 136 Diese Eigentümlichkeit wurde zuerst von Alexander Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, Halle 1834, S. 67‒71, gewürdigt, allerdings nur auf der Quellenbasis der damals im Druck erschienenen Predigten. 137 Vgl. die Predigtnachschrift Jonas vom Sonntag Misericordias Domini, Bl. 74f. In dieser Reihe geht es darum „die Spuren von dem Höchsten im Zusammenseyn der Jünger mit dem Erlöser aufzusuchen.“ Leider sind uns aus der Osterzeit 1817 nur Predigten vom Ostersonntag und vom Sonntag Misericordias Domini erhalten.
4. Die Liederblätter als Dokument der Gottesdiensttheorie Schleiermachers
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nach Trinitatis 1817 eine Reihe über weniger bekannte Jesusworte. Auch die beiden Adventspredigten über Lk 2,30-32 (1. Advent) und Lk 2,34 (3. Advent) bilden eine kleine Einheit („den ewigen Rathschluß Gottes von der Erlösung [...] heut und an den folgenden Sonntagen ins Auge“ zu fassen). Diese Reihenbildung erlaubte es dem Prediger, ein Thema des Gottesdienstes längerfristig festzulegen und dafür Lieder auszusuchen, ohne für die spezielle Textwahl und -auslegung, die oft situativ geschah, zu sehr eingeengt zu sein. Ebenfalls wurde eine längerfristige Vorbereitung durch die festliche Akzentuierung bestimmter Sonntage erleichtert. So erinnert Schleiermacher etwa am 26.1. an das Fest der Bekehrung des Apostels Paulus vom Vortag oder am 29.6. an den fünf Tage zurückliegenden Johannestag. Oder er bedient sich vaterländischer Gedenktage, wie z. B. am Ostersonntag (Tag der Heimkehr der siegreichen Truppen) und am 20. Sonntag nach Trinitatis (Gedenken an die Völkerschlacht).138 Mit Hilfe solcher Anlässe konnte Schleiermacher die Gottesdienste schon im voraus thematisch akzentuieren und die Lieder planen. Zusätzlich fällt auf, dass es zwischen Predigttexten und –themen einerseits und Schleiermachers akademischer und kirchlicher Wirksamkeit andererseits Verbindungen gibt. So lässt sich beobachten, dass Schleiermacher parallel zu seiner Lukas-Exegese (Wintersemester 1816/17) gern lukanische Texte predigte.139 Den 20 aus dem Jahre 1817 überlieferten Hauptpredigten liegen 12mal Lukas-Texte zugrunde140, sozusagen ein Synergieeffekt zwischen der akademischen und der kirchlichen Tätigkeit Schleiermachers. So haben wir zahlreiche Indizien dafür, dass die Predigt zusammen mit den Lied-, Kirchenmusik- und Gebetstexten eine harmonische Einheit bilden kann, und dass Schleiermacher damit den eigenen theoretischen Anspruch an den Gottesdienst „Das Ganze soll ein Ganzes sein“141 zu erfüllen versuchte. Diese Beobachtung scheint mir gleichsam der Generalschlüssel zum Verständnis des Phänomens der Liederblätter zu sein.
138 Hingegen spielt der traditionelle de-Tempore-Charakter der Sonntage keine Rolle mehr. 139 M. Wolfes vermutet auch einen Zusammenhang zwischen der Predigtreihe ab dem 2. Sonntag nach Trinitatis und Schleiermachers Politikvorlesung, s. u. S. 152, Fußnote 31. 140 Bei dieser Zahl ist allerdings zu berücksichtigen, dass Schleiermacher seiner Predigt zu dieser Zeit gern auch zwei Texte zugrunde legte. 141 Vgl. F. Schleiermacher PT, S. 795.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Am Neujahrstage 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Wachet auf ruft uns etc.3
Heilig ist der Gott der Götter, Erbebt, erblaßt4 ihr frechen Spötter, Die ihr des Herrn Gesez verhöhnt! Mit gerechtem Abscheu siehet Er den, der Licht und Wahrheit fliehet, Und knechtisch nur der Sünde5 fröhnt. Fluch und Verderben ruht Auf dem der Böses thut, Gott ist heilig! der Frevler Schaar umringt Gefahr Und Schrecken Gottes immerdar. Heilig war sein Sohn auf Erden; Ihm täglich ähnlicher zu werden, Ist unser göttlicher6 Beruf. Ehren sollen wir im Stillen Gleich ihm des großen Vaters Willen, Der zur Vollkommenheit uns schuf. Wer sagt, er7 kenne ihn, Muß alles Böse8 fliehn. Gott ist heilig, wie glänzt am Thron des Christen Lohn, Der heilig lebt, wie Gottes Sohn! Heilig ist der Geist der Gnade, Der auf der Wahrheit lichtem Pfade 1
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1.1.1817. – Vorläufige Signatur L 0 (Signaturen von W. Virmond. L = Londoner Sammelband.), Vgl. auch das Faksimile s. u. S. 302f. Für die Erlaubnis danke ich der British Library in London. Mögliche Quelle: Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 31,1‒3.7. Zur zeitgenössischen Melodiefassung vgl. Vierstimmige alte und neue Choralgesänge, mit Provinzial-Abweichungen, von Johann Christoph Kühnau (1786), Nr. 151 und August Wilhelm Bach, Choral-Buch für das Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen (1830), Nr. 223. erblaßt] erbebt nur der Sünde] bösen Lüsten göttlicher] heiliger – Hier wohl im Sinne von göttlicher Auftrag verstanden. sagt, er] spricht: ich alles Böse] jedes Laster
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Dem höhern9 Ziel uns näher führt. Glücklich wer des Geistes Triebe Zu Gottesfurcht und Bruderliebe10 Und frommen11 Werken in sich spürt. Des12 Herz ist fromm und rein, Und Jesus nennt ihn sein. Gott ist heilig! O folge gern dem Geist des Herrn, Sein Licht, o Mensch, ist dir nicht fern! Laßt uns denn13 als Christen ringen Den Kampf des Glaubens14 zu vollbringen, Wie Christus uns ein Beispiel gab. Aehnlich ihm sein15 unsre Herzen, Vergnügt zu Gott16, getrost in Schmerzen Und ausgesöhnt17 mit Tod und Grab. Zur besten18 Welt erhebt Gott den, der heilig lebt. Gott ist heilig! ihm ähnlich sein vermag allein Uns ewig, ewig zu erfreun. [Mohn.]
Nach dem Gebet. Chor.19 Alle eure Sorgen werft auf den Herrn, denn er sorget für euch. Treulich Herr auf deinen Wegen laß mich wandeln immerdar, Sei bei mir mit deinem Seegen, rette Gott mich in Gefahr. Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hülfe in den großen Nöthen, die uns troffen haben. Darum fürchten wir uns nicht; wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
höhern] hohen Bruderliebe] Menschenliebe frommen] edlen Des] Sein Laßt uns denn] Auf laßt uns Den ... Glaubens] nur edle Thaten Aehnlich ihm sein] Frommer Sinn macht Vergnügt zu Gott] im Glück vergnügt Und ausgesöhnt] und söhnt uns aus besten] bessern Zur Identifizierung der Chorstücke s. u. S. 39‒44.
Am Neujahrstage 1817.
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Gemeine.20 Mel. Wie wohl ist mir o Freund.21
Herr den die Sonnen und die Erden Durch ihren Bau voll Pracht erhöhn, Durch dessen Machtwort Welten werden Und Welten wieder untergehn!22 Dein Thron Gott bleibet ewig stehen, Du bleibst derselbe, wir vergehen; Wie schnell verströmet unsre Zeit! Schon wieder ist von unserm Leben ein Jahr das deine Huld gegeben, Im Abgrund der Vergangenheit.23 Chor. Kommt, dies sei uns ein Tag des Bundes! Dem frommen Bunde bleibet treu, Und den Gelübden eures Mundes Stimm eure24 Seele redlich bei. O Land! Gelobe Gott zu dienen, Und Du wirst wie ein Garten grünen, Den er sich selbst gepflanzet hat. Geht, Brüder25, geht auf seinen Wegen; Dann macht sein unerschöpfter Segen Aus seiner Füll euch täglich satt. Gemeine. Gott schau herab von deinen Höhen, Auf uns, als Kinder die Du liebst, Erhöre, die in Christo flehen, Gieb, wie Du Deinen Kindern giebst.26 Erhalte deiner Kirche Wächter, Daß noch die spätesten Geschlechter,
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22 23 24 25 26
Mögliche Q: Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 712 (Vf. J. A. Schlegel). Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 164 und A. W. Bach, Nr. 239 (oder Nr. 240). Vgl. dazu auch das Lied „Nach dem Gebet“ am 1. Adventssonntag 1817, s. u. S. 263, Fußnote 16. Herr ... untergehn!] aus Strophe 1. Dein Thron ... Vergangenheit] aus Strophe 2. eure] unsre Brüder] Menschen Gott ... giebst] aus Strophe 4.
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Die Predigt deines Worts erfreu. Durch sie laß Segen auf uns fließen, Dem Pflanzen Herr und dem Begießen Gieb Gnade, daß es stets gedeih.27
U n t e r d e r P r e d i g t . 28 Mel. Nun laßt uns gehn und etc.29
Lob Dir, Du schenkst aufs neue Uns deine Vatertreue! Lob sei den starken Händen, Die alles Unglück wenden.
N a c h d e r P r e d i g t . 30 Laß keine Seel ihr Heil verscherzen, Und mache selbst31 die Thoren klug, Gieb deine Kraft den schwachen32 Herzen, Den dürftgen Muth und Trost33 genug!34 Für Ihn flehn wir um Heil und Leben, Den König den Du35 uns gegeben, Durch Furcht vor Dir besteh sein Thron! Laß ihn auf Licht36 und Wahrheit schauen Durch Recht des Reiches Wohlfahrt bauen, Der Herzen Liebe sei sein Lohn.37 [J. A. Schlegel.]
27
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Erhalte ... gedeih] aus Strophe 5: Erhalte deiner Kirche Wächter/ Herr, deiner lautern Lehre treu/ daß noch die spätesten Geschlechter / die Predigt deines Worts erfreu./ Hilf ihnen, Herr, daß ihre Lehren/ nie leer an Früchten wiederkehren/ und wir uns ganz der Wahrheit weihn/ durch sie laß Segen auf uns fließen/ sie pflanzen, Herr, und sie begießen/ doch nur von dir kömmt das Gedeihn. Mögliche Q: Bremer Gesangbuch Nr. 716,7 („Mit Freuden laßt uns treten“, Vf. P. Gerhardt). Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch (1786), Nr. 127 („Nun laßt uns Gott, dem Herren“) und A. W. Bach, Choralbuch (1830), Nr. 222. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 712,7.4. selbst] du deine ... schwachen] deinen Trost bedrängten Den ... Trost] und unsern Armen Brod Laß … genug!] aus Bremer Gb (1812), Nr. 712,7. Den König den Du] den du zum Herrscher Licht] Recht Für Ihn ... Lohn] aus Bremer Gb (1812), Nr. 712,4.
Am Neujahrstage 1817.
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1. Lied- und Musikauswahl und Textredaktion 1.1. Das Lied „Vor dem Gebet“ Für das Eingangslied lässt die Angabe Mohn (Friedrich Mohn, 1762 bis ca. 183038) auf das Jauersche als Quellengesangbuch schließen, wo das Lied mit Verfasserunterschrift in der Rubrik „Preisgesänge der Gottheit“, Unterrubrik „Preis der göttlichen Eigenschaften“ steht. Schleiermacher hat aus dem siebenstrophigen Lied die Moral- und Drohstrophen 4 bis 6 ausgeschieden und durch die Auswahlstrophen 1 bis 3 eine trinitarische Struktur (dreimalig Heilig) mit dem Ruf zur Nachfolge (Liedblattstrophe 4) verbunden. Die zahlreichen von Schleiermacher vorgenommenen Textänderungen sind theologisch oder stilistisch motiviert. Die theologischen Retouchen zeichnen sich durch Entmoralisierung bzw. Verallgemeinerung aus, so in 1/639: „Sünde“ statt „böse Lüste“ und 2/8: „alles Böse“ statt „jedes Laster“, durch Verkirchlichung bzw. Bibelangleichung, so in 3/5: „Bruderliebe“40 statt „Menschenliebe“; 3/6: „fromme(n)“ statt „edle(n) Werke(n)“ 41; 4/2: „den Kampf des Glaubens“42 statt „nur edle Thaten“; 4/4: „Aehnlich ihm sein unsre Herzen“43 statt „Frommer Sinn macht unsre Herzen...“ sowie durch dogmatische Korrektur, so 4/7: „zur besten Welt“ statt nur komparativisch „zur bessern Welt“. Dagegen lassen die stilistisch bedingten Änderungen erkennen, dass es Schleiermacher vor allem um die Tilgung von Anaphern (1/2; 2/3; 3/7), um eine Glättung des Sprachflusses (4/1) und um grammatikalische Vereinheitlichung (2/7; 4/6) ging.
1.2. Lied und Musik „Nach dem Gebet“ Der musikalische Komplex „Nach dem Gebet“ besteht aus einer kleinen Kantate44, die mit einem Chor über 1Petr 5,7 beginnt, mit der Liedstrophe „Treulich Herr auf deinen Wegen“ und mit einem Chor über Psalm 46,2f. fortgeführt sowie mit drei Strophen des Liedes „Herr, den die Sonnen und die Erden“ von Johann Adolf Schlegel abgeschlossen wird. Ein aus diesen Textbestandteilen bestehendes Stück ist bisher nicht bekannt, so dass theoretisch folgende vier Möglichkeiten in Frage kommen: 38 39 40 41
42 43 44
Den Autor fand ich nur im Internet, vgl. das Lexikon westfälischer Autorinnen und Autoren 1750 bis 1950: http://www.lwl.org/literaturkommission. Liedblattstrophe 1, Verszeile 6. Vgl. 1Joh 2,10 u.ö. Zwar kommt die Wortverbindung „fromme Werke“ in der Lutherbibel nicht vor, wohl aber das Eigenschaftswort „fromm“ im Sinne einer geistlichen Qualität, während „edel“ fast nur im Zusammenhang materieller Dinge oder als Standesbezeichnung begegnet. Vgl. 1Tim 6,12. Zum paulinischen Motiv der imitatio Christi vgl. Gal 6,17 und 2Kor 4,10. Hier im allgemeinen Sinne eines mehrsätzigen geistlichen Vokalstückes verstanden, zur Begriffsbestimmung vgl. auch B. Schmidt, Lied, S. 136‒140.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Eine bisher nicht identifizierte Kantate, die aus diesen Stücken besteht. Der zuständige Kantor Rex hat die vorliegenden Texte selbst vertont. Bekannten Musikstücken sind andere Texte unterlegt worden. Es handelt sich um ein Pasticcio, d. h. dass Stücke verschiedener Provenienz hier aktual zusammengestellt worden sind. Die vierte Möglichkeit hat die größte Wahrscheinlichkeit für sich, weil andere Liedblätter zahlreiche Belege dafür liefern, während die Varianten zwei und drei völlig hypothetisch sind, eine wesentlich aufwendigere Vorbereitung erfordert hätten und bisher auch nicht eindeutig belegt sind.45 In einem Memorandum vom 14.12.1817 schreibt Kantor Rex: „Im Jahre 1817. waren am Neujahrstage und am ersten Fastensonntage bei der reformierten Predigt Musikaufführungen, weil weder am Weihnachtsfest 1816 noch am Osterfest 1817 in der reformierten Gemeinde solche statt haben konnten. Eben so ward – weil am 1. Pfingsttage keine Musik bei der lutherischen Gemeinde war, dagegen am Himmelfahrtstage eine Musikaufführung eingerichtet. Auf diese Weise hoffe ich, wenn mir Gott die Kräfte gibt, und wenn die Bereitwilligkeit der Einzuladenden meinen Wünschen entspricht, auch im künftigen Jahre fortzufahren.“46
Diese Stelle hat ein hohes Maß an Aussagekraft, nicht nur weil sie belegt, dass Neujahr 1817 tatsächlich eine Kirchenmusik stattgefunden, sondern auch, dass Rex sie lediglich „eingerichtet“ hat (eigene Kompositionen hätte er erwähnt) und dass der Chor aus externen Musikliebhabern („die Bereitwilligkeit der Einzuladenden“) bestand.47 Aber welche Stücke wurden nun aufgeführt? Für die Prosastücke kommen aufgrund der Texte folgende Werke der Musikliteratur vorläufig in Betracht: a) „Alle eure Sorgen werft auf den Herrn, denn er sorget für euch.“48 Das Handschriftenverzeichnis von RISM49 nennt unter diesem Incipit (bei verschiedenen Lesarten50) Werke von K. O. Eberhardt, J. G. Krebs, T. C. Rein45 46 47 48
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Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 107‒151 (Exkurs I: Zur Pflege und Bedeutung der Kirchenmusik an der Berliner Dreifaltigkeitskirche). Aus dem Promemoria des Musikdirektors C. F. Rex, in B. Schmidt, Lied, S. 502‒506, bes. Bl. 10v, S. 504f. – Die kursivierten Passagen bezeichnen ausgeschriebene Abkürzungen. Zum „Personal“, das Rex hierfür zur Verfügung stand, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 120‒122. Hier gibt es bei Luther selbst eine Variante, vgl. M. Luther, WA DB 7/2, Weimar 1931, S. 312f. Während es im sog. „Septembertestament“ (1522) heißt: „Alle ewre sorge werfft auff yhn, denn er sorget fur euch.“ (ebd., S. 312), heißt es in der „Ausgabe letzter Hand“ (1546): „Alle ewer sorge werffet auff jn, denn er sorget fur euch.“ (ebd., S. 313). ‒ Spätere Ausgaben wie die wahrscheinlich von Schleiermacher benutzte Altonaer Bibel folgen der frühen Lesart und lesen: „Alle eure sorge werfet auf ihn, denn Er sorget für euch.“ Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments nach der Uebersetzung D. Martin Luthers. Unter Zustimmung des Generalsuperintendenten Adler bearbeitet und herausgegeben von Nicolaus Funk. Compastor und Ritter des Danebrog-Ordens. Altona 1815. Den Hinweis auf die Altonaer Bibel und den Stellennachweis verdanke ich Frau Elisabeth Blumrich, Schleiermacherforschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität Kiel. RISM Serie, Musikhandschriften nach 1600. 13. kumulierte Auflage (2008). „Alle eure Sorge werfet auf den Herrn“ (6 x), „Alle eure Sorge werfet auf ihn“ (2 x), „Alle eure Sorgen“ (1 x), „Alle eure Sorgen werfet auf den Herren“ (1 x), „Alle eure Sorgen werfet auf den Herrn“ (6 x), „Alle eure Sorgen werfet auf ihn“ (2 x). Dass die auf dem Liedblatt über-
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hold, J. T. Römhild, W. N. Haueisen, G. P. Telemann, G. H. Stölzel. Keiner dieser Komponisten ist bisher mit einem Werk auf den Liederblättern nachgewiesen worden. Das Werk von Haueisen scheidet zuerst aus, da der Text signifikant abweicht51 ‒ gleichlautend auch bei Stölzel52 ‒, und da er als Sopranarie für eine Hochzeitskantate vertont ist. Dagegen weisen die anderen Belege den Text als Chorstück aus, wobei bei dem Werk J. Th. Römhilds53 die Besetzung unklar ist. Von seinem Fundort Schotten54 her und der Unbekanntheit des Komponisten ist auch das Werk von Eberhardt recht unwahrscheinlich, da es kaum das Kriterium „von schon anerkanntem und bewährten musikalischen Verdienst“55 erfüllt.56 Das anerkannte und bewährte musikalische Verdienst ist G. Ph. Telemann sicherlich nicht abzusprechen57, obwohl er als Komponist auf den Liederblättern bisher nicht aufgefallen ist.58 Auch bevorzugten Schleiermacher und Rex nach bisheriger Kenntnis neuere Komponisten aus dem nord- und mitteldeut-
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lieferte Schreibweise „Alle eure Sorgen werft auf den Herrn“ nicht dabei ist, kann auch auf einen Abschreibfehler zurückgehen. „Alle eure Sorge werfet auf ihn.“ Frankfurt a. M., Universitätsbibliothek (Mus.Hs 2626 Nr. 4). „Alle eure Sorgen werfet auf ihn“, Kantate zum 15. Sonntag nach Trinitatis, Sondershausen, Stadt- und Kreisbibliothek. „Alle eure Sorgen werfet auf den Herren“, Kantate am 7. Sonntag nach Trinitatis, Bibliothèque du Séminaire Protestant Strasbourg (Ssp – 17. Mms 33). Johann Theodor Römhild (1684‒1757), zuletzt Hofkapellmeister und Domorganist in Merseburg, vgl. Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biografisches Lexicon der Tonkünstler, Leipzig 1790‒1792, Sp. 309f. Pfarramtsarchiv der Liebfrauenkirchen von Schotten, zwischen Gießen und Fulda gelegen. Vgl. F. Schleiermacher, Ueber die neue Liturgie, Berlin 1816, KGA I/9, S. 95. Zwar ist interessant, dass es von Karl Otto Eberhardt (1711‒1757) auch eine Vertonung des Psalmverses „Gott ist unsre Zuversicht“ gibt, doch gehört dieses Stück zur Kantate für den 4. Sonntag nach Epiphanias, während der Chor zu „Alle eure Sorge“ die Kantate zum 15. Sonntag p. Trinitatis eröffnet, vgl. Schotten, Liebfrauenkirche (E 6/4). Kantate zum 15. Sonntag nach Trinitatis „Alle eure Sorge werfet auf den Herrn“ (1719, TVWV 1.71). Die Fundorte Sondershausen (Stadt- und Kreisbibliothek Mus.A 17:36) und vor allem Frankfurt/M. (Universitätsbibliothek Ms. Ff. Mus. 754) und Schotten (Liebfrauenkirche T 5/9) sind allerdings etwas abgelegen. Vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Band 1 Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt 19882, S. 8, dort lautet der Titel „All eure Sorgen werfet auf den Herrn“. Obwohl Telemann gute Beziehungen nach Berlin unterhielt, etwa zu C. Ph. E. Bach und den Gebrüdern Graun, was auch die Verbreitung seiner Vokalmusik in Berliner Musikerkreisen förderte, geht der umfangreiche Notenbestand, vor allem geistlicher Werke Telemanns, im Archiv der Singakademie auf die Vorbesitzer Johann Friedrich Agricola, Johannes Ringk und Jacob Ditmar zurück, vgl. den ungedruckten Aufsatz von Christoph Henzel, Telemann-Überlieferung im Spiegel des Notenarchivs der Sing-Akademie zu Berlin, in: Telemann, der musikalische Maler / Telemann-Kompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin. Bericht über die Internationale Musikwissenschaftliche Konferenz anlässlich der 17. Magdeburger Telemann-Festtage, 10.‒12. März 2004 (=Telemann-Konferenzberichte, Bd. 15), hg. v. C. Lange u. B. Reipsch. Danach wurden Telemann-Kantaten bereits in friderzianischer Zeit in Berlin in außerordentlichen Gottesdiensten aufgeführt. Besonders der nicht selbst komponierende Nicolai-Kantor Jacob Ditmar scheint viele Telemann-Kantaten aufgeführt zu haben. – In der Zelter-Ära habe sich die Telemannrezeption allerdings deutlich abgeschwächt, vgl. auch Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791‒1941, Regensburg 1941, der die Aufführung Telemannscher Werke nur einmal summarisch erwähnt, ebd., S. 43.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
schen Raum. So kommen aus rezeptionsgeschichtlichen Überlegungen neben Telemann am ehesten die Werke von Krebs und Reinhold in Betracht, auch wenn deren Namen im Archiv der Singakademie fehlen.59 Von der Kantate Johann Gottfried Krebs’60 gibt es freilich eine Abschrift im Handschriftenbestand der Berliner Staatsbibliothek.61 Das Stück (¾-Takt, 117 Takte) entstand lt. Einlegeblatt 1802 als Jahrmarktsmusik. Oft gehen zwei Stimmen zusammen. Die Stelle „denn er sorget für euch“ ist häufig in Koloraturen gesetzt. Von der Motette des Dresdener Kreuzkantor Theodor Christlieb Reinhold befinden sich mehrere Handschriftenexemplare in Herrnhut.62 Außerdem war Reinholds Vertonung in Johann Adam Hillers beliebter Sammlung „Vierstimmige Motetten und Arien“ abgedruckt63, was ihre seinerzeitige Popularität belegt. Reinholds Chor ist ein 90 Takte langer, schlichter vierstimmiger polyphoner Satz ohne Soli, weitgehend syllabisch deklamierend. Für eines dieser Werke, Krebs oder Reinhold, spricht zudem der Wortlaut des Incipits „Alle eure Sorgen werfet auf den Herrn“, der unserer Lesart am nächsten kommt.64 b) „Treulich Herr auf deinen Wegen“ Diese Strophe konnte trotz angestrengten Suchens bisher nicht identifiziert werden. In den für Schleiermacher einschlägigen Gesangbüchern ist sie nicht enthalten.65 Auch in Liedern mit einer längeren trochäischen Strophe66 war sie nicht zu finden. 59
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Neben Krebs und Reinhold sind übrigens auch die Komponisten Eberhardt, Römhild und Haueisen nicht in den Notenbeständen des Archivs der Berliner Singakademie zu finden. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Tobias Schwinger, der im Rahmen eines DFG-Projektes an der musikwissenschaftlichen Erschließung des 1999 von Christoph Wolf in Kiew wiederentdeckten Archivs arbeitet. J. G. Krebs (1741‒1814), Sohn des Bachschülers Johann Ludwig Krebs (1713‒80), war seit 1771 Stadtkantor in Altenburg und komponierte zahlreiche De-Tempore-Kantaten. Ein Teil seiner Musikaliensammlung mit Werken seines Vaters und J. S. Bachs gelangte durch Schenkung an J. F. Agricola nach Berlin, vgl. Felix Friedrich, in MGG2, Personenteil 10, Kassel u. a. 2003, Sp. 647f. „Alle eure Sorgen werfet auf den Herrn“, Kantate zum 5. Sonntag nach Trinitatis, SBB: Mus.ms.11985/1. Andere Fundorte: Kantoreiarchiv St. Bartholomäus Waldenburg (Sachsen, Signatur: Nr. 160‒121) und Pfarrarchiv Niedertrebra (bei Weimar, Sign.: Flurstedt II,8). Herrnhut Mus.B.40:506; Mus.B 50:6; Mus.M 195:2; Mus.M 196:3. Je ein Exemplar befindet sich auch im Archiv der Musikhochschule Weimar (AN 205) und im Archiv der St. Michaelskirche Schwäbisch Hall (ohne Signatur). Beim Komponisten handelt es sich um den Dresdener Kreuzkantor Theodor Christlieb Reinhold (1682‒1755), Lehrer von J. A. Hiller, vgl. MGG2, Personalteil Bd. 13 (2005), Sp. 1532f. (Cordula Timm-Hartmann). Motetto VI. in: Vierstimmige Motetten und Arien in Partitur, von verschiedenen Componisten, zum Gebrauche der Schulen und anderer Gesangsliebhaber gesammelt und herausgegeben von Johann Adam Hiller. Vierter Theil. Leipzig 1780, S. 33‒37. Bibliothek der Universität der Künste Berlin, Signatur: RA 5627-4. ‒ Wortlaut: „Alle eure sorgen werfet auf den Herrn, denn er sorgt für euch, denn er sorgt für euch...“ Krebs’ Kantate heißt auf dem Titelblatt „Alle eure Sorgen werfet auf den Herrn“ und im Notentext „Alle eure Sorge“ Doch diese Differenz ist musikalisch irrelevant, da beide Lesarten die gleiche Silbenzahl haben. Sie könnte auf die auf den Liederblättern begegnenden Melodien „Seelenweide meine Freude“ (vgl. z. B. 2. Sonntag p. Epiphanias o. J. [H 26] und 3.8.1828 [B 24], vgl. auch A. W. Bach,
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So bleibt zunächst die Vermutung, dass Schleiermacher diese Strophe selbst gemacht hat.67 Die zwischen dem „Ihr“- und dem „Wir“-Text auffällige Ich-Form könnte darauf hindeuten, dass diese Strophe solistisch gesungen wurde. Textlich baut sie die Brücke von der Bitte um treue Gebotserfüllung zur Segens- und Errettungsbitte, die in dem folgenden Stück indikativisch aufgenommen wird. c) „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hülfe in den großen Nöthen, die uns troffen haben. Darum fürchten wir uns nicht; wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.“68 Diese Psalmverse sind oft vertont worden. Das Handschriftenverzeichnis von RISM verzeichnet z. Zt. 47 Eintragungen. Doch bei näherem Hinsehen reduziert sich die Zahl der in Frage kommenden Werke.69
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Choralbuch, Nr. 204) oder „O der alles hätt verloren“ (vgl. 14.9.1823 [L 176], nicht in A. W. Bachs Choralbuch) oder „Ringe recht wenn Gottes Gnade“ (vgl. 8.2.1824 [H 33], vgl. A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 198 und 199) gesungen worden sein. ‒ A. W. Bach bietet außerdem die Melodie „Gott will’s machen, daß die Sachen“ Nr. 88, vgl. auch BG, Nr. 597, die allerdings auf den Liederblättern, im Stettiner, im Jauerschen und im Bremer Gesangbuch nicht vorkommt. Das Brüdergesangbuch enthält zwar das Lied „Gott will’s machen“ (Nr. 873), aber die Strophe „Treulich Herr“ ist auch hier nicht enthalten. Z. B. „Sollt ich meinem Gott nicht singen“, „Lasset uns den Herren preisen“, „Du o schönes Weltgebäude“, „Gott des Himmels und der Erden“, „Zion klagt mit Angst und Schmerzen“ oder „Alle Menschen müssen sterben“. Die beiden Endreimformen „Wegen“-„Segen“ und „immerdar“-„Gefahr“ begegnen übrigens nochmals auf dem Liedblatt, im Eingangslied (1. Strophe) und in der vorletzten Strophe vor der Predigt. Zur Strophendichtung Schleiermachers vgl. auch B. Schmidt, Lied, S. 245‒252. Psalm 46,2f. Wortlaut und Schreibweise stimmen genau mit der Lutherbibel (Altona 1815) überein, s. o. S. 40, Fußnote 48. – In der Luther-Bibel von 1545 und in vielen späteren Ausgaben heißt der Konjunktiv des letzten Wortes allerdings noch sün(c)ken statt „sänken“, im Ganzen: „Gott ist vnser Zuuersicht vnd Sterke, Eine Hülffe in den grossen Nöten, die vns troffen haben. / Darumb fürchten wir vns nicht, wenn gleich die Welt vntergienge, Vnd die Berge mitten ins Meer süncken.“ M. Luther, WA DB 10/1, Weimar 1956, S. 249. Einige Stücke scheiden schon wegen der Lebensdaten ihrer Autoren aus: Wilhelm Schneider (1783‒1843, Organist und Musikdirektor in Merseburg, s. Hugo Riemann, Musik-Lexikon, Leipzig 19005, S. 1012. Seine Stücke erschienen alle erst ab 1823, ebd.), Wilhelm Adolf Müller (1793‒1859) war Stadtkantor und Knabenschullehrer in Borna, Verfasser u. a. einer Klavierschule und einer Pfingstkantate. Der nachmals bekannte Berliner Musiker und Ehemann der Lilly Parthey, Bernhard Joseph Klein (1793‒1832) kam erst 1819 nach Berlin. –Andere kommen wegen abweichender Besetzung (Arie statt Chor) nicht in Frage, z. B. die Werke von J. L. Bach und J. S. Dreese. Oft ist der ganze Psalm oder doch mehrere Verse vertont worden, wie z. B. in dem sehr verbreiteten Stück von J. F. Doles (SBB: Mus.ms. 5103/7 oder SA 310) oder einem Anonymus (SBB: Am.B 326 (9), vgl. Nr. 9 in dem Motettenband „Dis kan nicht schlechter seind“, Bl. 29-31.) Aus demselben Grund scheidet auch die Kantate von J. H. Rolle „Gott ist unsre Zuversicht und Stärcke“ für 4 Singstimmen und Orchester (SBB: Mus.ms. 18725) aus, da sie den ganzen 46. Psalm vertont und bereits im ersten Chor über unseren Liedblatt-Text hinausgeht (bis V 4 „Berge einfielen.“) sowie mit dem Choral „Verleih uns Frieden gnädiglich“ endet. – Andere Stücke sind aus rezeptionsgeschichtlichen Erwägungen eher unwahrscheinlich, z. B. die Stücke von Johann Wendelin Glaser (1713‒1783), der fast 40 Jahre in Wertheim bei Würzburg wirkte und über 300 Kantaten schrieb, aber in Berlin unbekannt war. Dasselbe gilt von Johann Balthasar König (1691‒1758), einem zwar bekannten Kirchenkomponisten, der auch Kirchenlieder schrieb (vgl. EG 330 und 400), aber seit 1727 Stadtkapellmeister in Frankfurt a. M. war. Johann Krieger (1651‒1735) war ab 1682 Kantor und Organist in Zittau. Die
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Vorstellbar wäre die gleichnamige Motette „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke“ des Magdeburger Komponisten Johann Heinrich Rolle (1716‒1785), ein einsätziges Stück mit kleinen Solopartien in allen vier Stimmen, das vom Wortlaut, von der musikalischen Form und Besetzung sowie vom rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund exakt hierher passt.70 Das Gesagte gilt auch für die Motette „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke“ des in Berlin gestorbenen mutmaßlichen Bachschülers und Lehrers des Dreifaltigkeitsorganisten Johann Christoph Kühnau, Johann Philipp Kirnberger (1721‒1783), das übrigens auch im Notenarchiv der Singakademie vorhanden ist71, ein Stück mit identischem Text (nur Ps 46,2f. mit den charakteristischen Verbformen „troffen“ und „sänken“). Die einsätzige Motette (85 Takte) besteht entsprechend der zwei Verse aus zwei Teilen, einer kurzen Eröffnung (14 Takte), die den Text mottoartig homophon voranstellt und einer Chorfuge über V 3 („Darum fürchten wir uns nicht“, 71 Takte). Die Bibelworte werden stets deklamiert, was eine gute Textverständlichkeit gewährleistet. Es bleibt dabei: Wir wissen nicht, welche Figuralstücke am Neujahrstag 1817 in der Dreifaltigkeitskirche erklangen. Am wahrscheinlichsten ein Pasticcio, vielleicht beginnend mit der Reinhold-Motette „Alle eure Sorgen“ (oder dem gleichnamigen Stück von Krebs) und schließend mit der Motette „Gott ist unsre Zuversicht“ von Rolle (oder dem gleichnamigen Stück von Kirnberger). Die eingeschobene Liedstrophe „Treulich Herr auf deinen Wegen“ ist bisher – sowohl textlich als auch musikalisch – gänzlich unbekannt. An die Figuralmusik schließen sich drei Strophen aus dem Lied „Herr, den die Sonnen und die Erden“ an, wahrscheinlich aus dem Bremer Gesangbuch von 1812 (Rubrik: „Anfang des Jahres“), die im Wechsel von Gemeinde und Chor gesungen werden. Das Lied von Johann Adolf Schlegel (1721‒1793) be-
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folgenden Komponisten sind zwar von ihren Lebensdaten und Wirkungskreisen nicht auszuschließen, aber eine Rezeption ihrer Werke in Berlin ist nicht belegt: Johann Trier (1716‒1790) war Schüler von J. S. Bach, Kantor in Zittau und Lehrer des späteren Thomaskantors Johann Gottfried Schicht. Friedrich Wilhelm August Volland (1774‒1841) war Kantor bei Weimar. Carl August Friedrich Westenholz (1736‒89) war bis zu seinem Tod Hofkapellmeister in Schwerin. Für Telemann gilt das bereits gesagte, s. o. S. 41, Fußnote 58. ‒ W. Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke Telemanns Bd. 1, 19882, S. 62f. nennt allerdings zu diesem Text vier Belege, drei gleichnamige Kantaten zum 4. Sonntag nach Epiphanias aus drei verschiedenen Jahren sowie die verschollene Kantate zum Sonntag nach Neujahr „Gott ist unsre Zuversicht“ (TVWV 1.666) aus dem Jahre 1727. Vgl. J. H. Rolle, Motette Nr. XII für vierstimmigen Chor a capella mit dem identischen Text „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hülfe in den großen Nöthen, die uns troffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken.“ Rolle-Motetten Part. Mus.ms. 18750. – Werke des Magdeburger Meisters erscheinen wahrscheinlich häufiger auf den Liederblättern, vgl. z. B. B. Schmidt, Lied, S. 367f. SBB: SA 776. Vgl. auch SBB: Mus.ms.11624/10. – In der Partitur aus dem Archiv der Singakademie folgt auf die Fuge ein weiterer Chorsatz auf den Text „Der Herr wird mich erlösen von allem Übel und aufhelfen zu seinem himmlischen Reich. Welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen.“
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singt die Unwandelbarkeit und Ewigkeit Gottes angesichts des Flusses der Zeit und führt stringent auf den Akt der Predigt zu („Die Predigt deines Worts erfreu“). Abgesehen von den Schleiermacherschen Versumstellungen und Strophen-Kompositionen (Liedblattstrophe 1 setzt sich zusammen aus den Originalstrophen 1 und 2; Liedblattstrophe 3 aus aus den Originalstrophen 4 und 5) hat der Redaktor auch hier den Wortlaut verkirchlicht („Brüder“ statt „Menschen“) und Chor und Gemeinde explizit gegenübergestellt (Adressatenwechsel „eure Seele“ statt „unsre Seele“ in Liedblattstrophe 2). Die Fürbitte für den König (Originalstrophe 4) ist nicht gestrichen, sondern liturgisch korrekt für die Schluss-Strophe („Nach der Predigt“) aufgespart worden.
1.3. Das Lied „Unter der Predigt“ Die 7. Strophe des in der Fassung des Bremer Gesangbuchs stark veränderten Paul-Gerhardt-Liedes könnte Schleiermacher beim Blättern im Bremer Gesangbuch in der Rubrik „Anfang und Schluß des Jahres“ gefunden und dann unverändert übernommen haben. Ich nehme an, dass die Strophe nach der „Predigteinleitung“ unmittelbar nach dem Vaterunser gesungen wurde. Obwohl nicht auf Predigttext oder Predigteinleitung bezogen, schließt sich die Strophe insofern gut an das Herrengebet an, als sie noch einmal die Vateranrede Jesu rekapituliert.
1.4. Das Lied „Nach der Predigt“ Bei der Betrachtung dieser Strophe fällt sofort die politische Pointe auf, die Fürbitte für den König, die an das die Predigt abschließende Kanzelgebet anschließt. Wieder setzt Schleiermacher Verszeilen verschiedener Strophen zusammen, um die eschatologische Mahnung („Laß keine Seel ihr Heil verscherzen“) und die ganz konkrete Fürbitte für den „König“ (statt „Herrscher“) in einer Schluss-Strophe vereinen zu können. Im ersten Teil der Strophe wird der diakonische Aspekt („und unsern Armen Brod genug“) durch den poimenischen („den dürftgen Muth und Trost genug“) ersetzt. Der Ersatz des Nomens „Recht“ durch „Licht“ in der achten Verszeile ist wohl nicht nur aus stilistischen Gründen (Wortwiederholung) erfolgt, denn Predigt und Gebet sowie das Eingangslied zeigen, dass das Wortpaar „Licht und Wahrheit“ für Schleiermacher gleichsam eine Zwillingsformel bildet.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
2. Die Predigt Die zweiteilige Predigt über 2Petr 3,13f., die von Ludwig Jonas überliefert ist72, behandelt die Gottgefälligkeit, Prüfung und Läuterung unserer Zukunftswünsche und –erwartungen einerseits sowie die Reinigung und Heiligung unserer Entschließungen andererseits.73 Zur christlichen Zukunftserwartung führt Schleiermacher aus: „einen neuen Himmel, in unsere, in aller Christen und aller Brüder Herzen und eine neue Erde um uns her, worin diese Gerechtigkeit wohnt und regiert, o was können wir Größeres wünschen?“ (Bl. 13f.) In Bezug auf die guten Vorsätze stellt er fest, dass Warten kein Nichtstun sei und dass das Tun des Einzelnen – hier werden die politischen Führer ausdrücklich mitangesprochen – erst in der von Gott gewirkten Gemeinschaft gedeihlich wirke. Der Prediger vertritt durchaus keine pazifistische Position, sondern deutet – mit der Erfahrung der Befreiungskriege – das christliche Friedenshandeln als den aktiven und erfolgreichen Kampf gegen das Böse und fordert dazu auf: „Wir sollen Krieg führen mit der Welt, in welchem der Glaube den Sieg gewinnt.“ (17) So wird „die neue Erde, die wir erwarten“ als „die Tochter […] des neuen Himmels, der ins aufgehen soll“ (12) entstehen. Theologisch findet hier bereits eine strikte Entmythologisierung und Existenzialisierung der im Text verheißenen neuen Welt statt, indem diese aus der Geschichte heraus in die Gemüter der Gläubigen verlegt wird und damit traditionelle eschatologische Vorstellungen korrigiert werden. Schleiermacher stellt die apostolische Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde psychologisch als ein natürliches Verhalten dar, mit dem „die Worte des Apostels unserm menschlichen Gefühle [...] sehr entgegen“ kämen (11). Homiletisch interessant ist, wie Schleiermacher seine Hörer abholt, im Predigteingang bei ihren guten Wünschen und Vorsätzen für das Neue Jahr, im Verlaufe der Predigt immer wieder an gemeinsame Erfahrungen in den Befreiungskriegen erinnernd sowie durch Anknüpfung an die letzte Predigt im alten Jahr74 in der Einleitung (Hinführung zur Predigtdisposition) und am Ende der Predigt. Die Predigt lässt eine Fülle von Bibelworten und geschichten anklingen, so z.B. Lk 12,37 oder Lk 17,10. Am Schluss des Predigteingangs, der traditionell zur Verlesung des Predigttextes führt, wird die Predigt durch das Vaterunser unterbrochen, zu dem Schleiermacher hier ex-
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Diese Nachschrift befindet sich in zwei Sammlungen in der Berliner Staatsbibliothek: SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Vorläufiges Verzeichnis von Lothar Busch, Kasten 18, Mappe 70, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 9‒23, aus der hier zitiert wird sowie in Kasten 18, Mappe 71, Slg. Jonas, Jonas C (1816‒1817; 2 Predigten vom 29.12.1816 und 01.01.1817), S. 10‒24. Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt, Leipzig 1933, S. 47, bemerkt, die Neujahrspredigten überblickend: „Freilich sind auch die Neujahrspredigten an den Jahreswechsel angeknüpfte Reflexionen über den Fluß der Zeit, über unsere Zukunftserwartungen.“ Gehalten am Sonntag, den 29.12.1816 über 2Petr 3,3‒9.
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plizit auffordert. Im Anschluss daran dürfte der Kanzelvers gesungen worden sein.75 Das eindrückliche Kanzelgebet nimmt die vaterländische Pointe auf und bittet um die reine Verkündigung des göttlichen Wortes sowie für den König um „weise Gedanken, heilsame Rathschläge, Kraft und Muth, was er erkannt hat in dem Lichte deiner Wahrheit auszuführen als Deinen Befehl.“ (22) Es fällt auf, wie Schleiermacher Textbausteine aus dem traditionellen Gebetsformular76 mit Motiven und Formeln aus seiner Predigt verknüpft.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Die Texte dieses Gottesdienstes thematisieren je auf ihre Art die Heiligkeit und Unwandelbarkeit Gottes sowie die Aufforderung der Gläubigen zur Heiligung am Beginn des neuen Jahres, besonders klar ausgedrückt vom Morgenlied „Heilig ist der Gott der Götter“ in der zweiten Strophe: „Heilig war sein Sohn auf Erden; / Ihm täglich ähnlicher zu werden, / Ist unser göttlicher Beruf“. Die Redaktion des Eingangsliedes zeichnet sich durch eine strikte Verchristlichung des Textes aus. Ähnlich benennt der Prediger die Neujahrsaufgabe „so unsre Erwartungen und Entschließungen zu reinigen und zu heiligen vor Gott, das soll für uns alle der Segen des heutigen Tages seyn.“ (21) Deutlich zeigt sich Schleiermachers Bedürfnis, seine Gemeinde am Neujahrstag, dem Beginn des bürgerlichen Jahres, in Lied und Predigt ausdrücklich als Christen anzusprechen. Der in den Lied- und Musiktexten besungenen Unwandelbarkeit Gottes sowie der Vergänglichkeit der Welt („Sonnen und Erden“ „Durch dessen Machtwort Welten werden / Und Welten wieder untergehn!“) korrespondiert der Predigttext aus 2Petr 3, der einen neuen Himmel und eine neue Erde ankündigt, welche freilich vom Prediger in das menschliche Innere verlegt werden. Eine weitere Korrespondenz zwischen Lied- und Musiktexten einerseits, Predigt und Gebet andererseits besteht in dem vaterländisch-politischen Aspekt, der Schleiermachers Neujahrspredigten traditionell eigen ist. Während die Kirchenmusiktexte eher Sorge, Not und Gefahr benennen, in denen Gottes Hilfe benötigt wird, fällt in den Strophen vor und nach der Predigt ein überindividueller politischer Zug auf. So ruft etwa der Chor die Gemeinde – resp. das ganze Land – in der Strophe vor der Predigt ausdrücklich zu Gottesfurcht und Gottesdienst: „O Land! Gelobe Gott zu dienen“, während in der Schluss-
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Vgl. den Gottesdienst zum Gedenken an die verstorbene Königin Luise vom 5.8.1810, SW II/4, S. 52‒68, besonders S. 55. Vgl. das von Schleiermacher gern in Auszügen benutzte Fürbittgebet von 1713, in: B. Schmidt, Lied, S. 330‒332. Dort heißt es z. B. in dem Fürbittabschnitt für den König: „Sonderlich wollest Du, o Herr, unserm Könige zu seiner Regierung geben und verleihen ein weises Herz, königliche Gedanken, heilsame Rathschläge, gerechte Werke, einen tapfern Muth, starken Arm, verständige und getreue Räthe.“
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Strophe nach der impliziten Drohung „Laß keine Seel ihr Heil verscherzen“ die Fürbitte für den König aus dem Munde der Gemeinde wiederholt wird. Schließlich begegnet uns hier auch zum ersten Mal die liturgisch begründete Textänderung, indem eine aus Versen zweier Strophen zusammengesetzte Schluss-Strophe gebildet wird, die – liturgisch korrekt nach der Predigt – auch die Fürbitte für den König beinhaltet. Ebenfalls zum ersten Mal beobachten wir mit dem Verweis des Predigers auf den letzten Gottesdienst, dass Schleiermacher auch bei seinen Hauptpredigten gern kleine Predigtreihen bildete.
Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Was Gott thut, das etc.3
Dich Jesum laß ich ewig nicht, Dir bleibt mein Herz ergeben! Du kennst dies Herz, das redlich spricht, Nur Einem will ich leben. Der Glaubensbund Hat festen Grund; Die deiner sich nicht schämen, Die kann dir niemand nehmen.4 Dich Jesum laß ich ewig nicht! Aus göttlichem Erbarmen Gingst du für Sünder ins Gericht, Und büßtest für mich Armen. Aus Dankbarkeit Will ich, erfreut Um deiner Liebe willen, Treu mein Gelübd’ erfüllen.5 Dich Jesum laß ich ewig nicht! Du stärkest mich von oben, Auf dich steht meine Zuversicht, Wenn6 meine Feinde toben. Ich flieh zu dir, Du eilst zu mir; 1
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12.1.1817. L 1, H 21 (Vorläufige Signaturen von W. Virmond. L = Londoner Sammelband; H = Hannoveraner Sammelband). D. h. dieses Liedblatt ist in beiden Sammlungen enthalten. Vgl. auch das Faksimile, s. u. S. 304f. Q: Gesangbuch für die protestantische Gesammt-Gemeinde des Königreichs Baiern, Sulzbach 1816, Nr. 552,1/2.3-5. Melodie zu „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ von Severus Gastorius (1679). Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch (1786), Nr.155 und A. W. Bach, Choral-Buch (1830), Nr. 227. In beiden Choralbüchern ist die Melodie isochron vereinfacht, d. h. fast durchgehend auf einen Notenwert reduziert. Der Glaubensbund ... nehmen] Verse 5-8 aus Q-Strophe 2. Um deiner Liebe ... erfüllen] um deines Leidens willen/ die Pflicht der Treu’ erfüllen. (QStrophe 3) Wenn] wann
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Wenn7 mich die Feinde hassen, Wirst du mich nicht verlassen. Dich Jesum laß ich ewig nicht; Das Kreuz soll uns nicht scheiden, Es bleibet jedes Gliedes Pflicht Mit seinem Haupt zu leiden. Doch all mein Leid Währt kurze Zeit; Bald ist es überstanden, Und Ruh ist dann vorhanden. [Bairisches GesangBuch]
Nach dem Gebet.8 Mel. Jesus meine Zuversicht etc.9
Jesus ist des Höchsten Sohn, Beugt euch tief vor ihm im Staube! Er ist Gottes einger Sohn,10 Wiederhol’ es laut mein Glaube! Rühm’s voll Dank, daß Jesus Christ Seiner Welt Erlöser ist. Heil, Er kommt, es11 öffnen sich Nun des12 ewgen Lebens Pforten; Menschen werden brüderlich, Ehren Gott an allen Orten; Nicht mehr13 Furcht, nicht Sklavensinn, Liebe treibt zu Gott sie hin. Nein, was dieser Mund gelehrt, Hatte nie ein Ohr vernommen, Nein, so war des Menschen Werth, Noch in keines Herz gekommen! Nur durch Jesum, Gottes Sohn, Steigt14 der Mensch zu Gottes Thron.
7 8 9 10 11 12 13 14
Wenn] wann Q: Jauersches Gb, Nr. 192,1.4‒8. Biblische Bezugsstelle: Joh 8,12, Vf.: Reinhard Gottlob Reiber (1744‒1809). Vgl. zur zeitgenössischen Melodiegestalt von „Jesus meine Zuversicht“ (Berlin 1653) J. C. Kühnau, Choralbuch (1786), Nr. 101 und A. W. Bach, Nr. 132. Er ist ... Sohn,] Er ist Gott, ist Gottes Sohn. es] da Nun des] jenes mehr] die Steigt] stieg
Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1817.
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Daß mein Herz ihm ganz vertraut, Daß es nichts auf Erden15 scheuet, Daß es weiß auf wen es baut, Wer ihm, wenn es fehlt,16 verzeihet, Ach den Weg zum Licht hinauf, Dies Geheimniß schloß Er auf. Bande, die nicht Land und Meer Die nicht Wahn und Meinung trennen, Solche17 Bande knüpfte er, Hieß sich Alle Brüder nennen. Brüder, o das18 Herz wird weit, Ja, ihr liebt euch,19 wo ihr seid! Hochgelobter Gottessohn, Dir verdank’ ichs, daß ich glaube; Du versprichst der Treue20 Lohn, Und Verklärung meinem Staube! Hier wall ich im dunklen Ort, Ganz Gott kennen werd’ ich dort. [Jauersches GesangBuch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 21 Mel. Seelenbräutigam etc.22
Deinen Frieden gieb, Aus barmherzger23 Lieb! Uns den deinen, die dich kennen, Und nach dir sich Christen nennen, Denen du bist lieb Deinen Frieden gieb.
15 16 17 18 19 20 21 22
23
nichts auf Erden] keine Schickung Wer ... fehlt,] wenn es fehlt, wer ihm Solche] diese das] dies Ja, ... euch] ach! euch lieb’ ich, Treue] Tugend Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 641,7. Vf.: J. A. Freylinghausen. Oder völlig identisch aus: Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778, Nr. 285,7. Zur Melodie des Liedes „Seelenbräutigam, Jesu, Gottes Lamm“ von Adam Drese (1698) vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 144 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 203. Die Melodie ist heute mit dem Zinzendorf-Text „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn“ verbunden, vgl. EG 391. barmherzger] so großer
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
N a c h d e r P r e d i g t . 24 Mel. Kommt her zu mir etc.25
An dich zu glauben, Herr an dich! Wie sehnt, wie sehnt die Seele sich, Die Schatten zu verlassen, Dein Licht, du Quell des Lichts zu sehn, Vertraulicher zu dir zu flehn, Dich reiner zu umfassen. Sei du mein Vorbild, du mein Licht, Du Stab mir, Fels und Zuversicht! Ja, wenn ich steh’ und wanke, Wenn Glück und Elend mich umgiebt, Sei du, der ewig ewig liebt, Mein süßester Gedanke. --Vorausbezahlung wird auf den neuen Jahrgang wie gewöhnlich angenommen.26
24 25
26
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 640,8-9; Lied „O du, der Gottheit erster Sohn“, Vf. Johann Kaspar Lavater (1741‒1801). Zur Melodie „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“ vgl. Liederkunde EKG, Nr. 245 (1990), S. 189. Vgl. auch Johannes Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, 2. Band, Gütersloh 1890, Nr. 2496a‒c. Am verbreitetsten ist die Variante c (Nürnberg 1534), die auch EG 363 entspricht. Zur zeitgenössischen isochronen Melodiegestalt vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 106 und A. W. Bach, Choralbuch Nr. 143. Dieser Hinweis belegt, dass die Liederblätter auch jahrgangsweise abonniert werden konnten, vgl. dazu W. Virmond, Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers, in: Schleiermacher in context, Lewiston u. a. 1991, S. 281f.
Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Als Eingangslied wählt Schleiermacher aus einem Lied des Baierischen Gesangbuchs, das erst 1816 erschienen war, aus der Rubrik „Christliches Verhalten gegen Gott“, Unterrubrik „Gesinnungen gegen Jesum“, vier von sechs Strophen aus, wobei er die erste Strophe aus zwei Quellenstrophen zusammensetzt. Dabei wird der „Glaubensbund“ zwischen den Gläubigen und Christus beschworen. Hier fällt der uns unbekannte Autor in den Plural („die deiner sich nicht schämen“). Die Textänderung in der zweiten Strophe geht auf das Konto des Reizwortes „Pflicht“. Bei dieser Gelegenheit tauscht der Redaktor auch das Motiv der Dankbarkeit aus: „Um deiner Liebe willen“ statt „Um deines Leidens willen“. Es ist bekannt, dass Schleiermacher das Erlösungswerk Christi nicht auf die Passion beschränkt sah.27 Thema des Liedes ist die Verbundenheit mit Jesus im Glauben, durch alle Anfechtungen hindurch. Das Hauptlied dieses Sonntags stammt von Reinhard Gottlob Reiber aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Jesu Lehre und Thaten“, die sich zwischen den Weihnachts- und den Passionsliedern befindet. Eine eigene Rubrik „Epiphanias“ fehlt. Schleiermacher hat sechs Strophen übernommen. Die beiden Strophen, die den Zustand vor der Inkarnation des Gottessohnes beschreiben, sind wohl wegen ihres spekulativen Gehalts ausgelassen. Unser Interesse verdient die Textabweichung in der ersten Strophe. Die dezidierte Erklärung „Er ist Gott“ wird im Sinne des Incipits, aber auch im Sinne von Schleiermacher Christologie abgeschwächt: „Er ist Gottes einger Sohn“.28 Die Eingriffe in den Folgestrophen lassen eine strikte Vergegenwärtigung und Verdiesseitigung auch des christologischen Geschehens erkennen: Zweite Strophe: „nun des ewgen Lebens Pforten“ statt „jenes ewgen Lebens Pforten“. Dritte Strophe: „steigt“ statt „stieg“. Der Satz ist nun nicht mehr christologisch, i. S. von „stieg ein Mensch“, sondern soteriologisch zu verstehen, i. S. von: Jeder (erlöste) Mensch steigt nun zu Gottes Thron. Vierte Strophe: „daß es nichts auf Erden scheuet“ statt „daß es keine Schickung scheuet“. In den beiden letzten Strophen gibt es noch zwei interessante Korrekturen: In der vorletzten Strophe nimmt Schleiermacher eine logische Klärung vor. Die Lesart des Jauerschen Gesangbuchs „ach! euch lieb’ ich, wo ihr seid!“ lässt im Unklaren, welches „Ich“ hier spricht, Christus oder der Sänger des Liedes. Deshalb klärt Schleiermacher: „Ja, ihr liebt euch, wo ihr seid!“ In der letzten Strophe wird die anstößige „Tugend“ durch „Treue“ ersetzt. Insgesamt handelt das Hauptlied 27
28
Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S.159f. – Allerdings darf dieser Tausch auch nicht überbewertet werden, da sowohl die Pflicht als auch das Kreuz Jesu und die Leidensnachfolge in der vierten Liedblattstrophe unverändert wieder auftauchen. Vgl. Leitsatz § 116 in der Glaubenslehre (CG1 1821/22): „Vermöge dieser Vereinigung des geschichtlichen und urbildlichen ist der Erlöser auf der einen Seite, was die menschliche Natur betrifft, uns vollkommen gleich, auf der anderen Seite als Anfänger eines zur Verbreitung über das ganze menschliche Geschlecht bestimmten neuen Lebens dadurch von allen andern Menschen unterschieden, daß das ihm einwohnende Gottesbewußtsein ein wahres Sein Gottes in ihm war.“ KGA I/7, Teilband 2, S. 27.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
vom Gottessohn, der den Weg zu Gott, zum Leben und zur brüderlichen Gemeinschaft geebnet hat. Dabei drängt Schleiermacher in seiner Strophenauswahl und Bearbeitung das Historische zurück und akzentuiert das gegenwärtige Heilsgeschehen. Den „Kanzelvers“ aus dem bekannten Freylinghausenschen Lied „Seelenbräutigam“ könnte Schleiermacher ebenfalls dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Jesum“ entnommen haben. Die wahrscheinliche Herkunft der Strophen „Nach der Predigt“ aus dem Jauerschen Gesangbuch, Nr. 640 (s. u.), spricht dafür. Die einzige Abweichung „Aus barmherzger Lieb!“ statt „Aus so großer Lieb“ mag abgesehen davon, dass das Attribut „barmherzig“ biblisch konkreter ist, phonetisch begründet gewesen sein. Die Strophe bittet um Frieden für die Christusjünger. Insofern taucht das Motiv der Jüngerschaft bzw. Brüderschaft, das in den vorigen Liedern im Namen des Bundes oder der Bande präsent war, auch hier wieder auf. Wie schon der „Kanzelvers“ so dürften auch die Strophen „Nach der Predigt“ aus der Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Jesum“ des Jauerschen Gesangbuchs stammen. Verfasser des Liedes „O du, der Gottheit erster Sohn“ ist der Schweizer Theologe Johann Kaspar Lavater. Schleiermacher übernimmt die beiden letzten Strophen des Liedes unverändert auf das Liedblatt. Sie thematisieren die Sehnsucht der Seele nach Glauben, Licht und inniger Gemeinschaft mit Christus.
2. Die Predigt Für den Gottesdienst liegt uns eine Predigtnachschrift (ohne Gebet) von Ludwig Jonas vor.29 Schleiermacher beginnt an diesem Sonntag eine kleine Reihe über Berufungsgeschichten, die er mit einer Predigt über Joh 1,35‒40, die Berufung der ersten Jünger, eröffnet. Die Predigt besteht aus zwei Hauptteilen: einer knappen exegetischen Einführung in den Kontext der Stelle und einer zweiteiligen Applikation auf die Gemeinde. In deren erstem Teil (a) preist Schleiermacher die Leichtigkeit des Glaubens und weist die verbreitete Meinung zurück, die Verbindung mit Christus könne nur „die Wirkung schweren Kampfes des Gemüths“ (Bl. 27) sein.30 Aber „Christo zu nahen und bei ihm zu bleiben [...] das ist nichts schweres.“ (27) In Teil (b) warnt der Prediger vor der immer noch verbreiteten Wundergläubigkeit. Der Glaube an Christus beruhe allein auf dem Hinweis des Täufers: „Sehet das ist Gottes Lamm!“ Der Glaube 29 30
SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 25‒30. Anders als August Hermann Francke lehnte Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf den „Bußkampf“ ab. Zur Kontroverse zwischen den Halleschen und den Herrnhuter Pietisten um den „Bußkampf“ vgl. Peter Schicketanz, Der Pietismus von 1675 bis 1800, Leipzig 2001, S. 127‒130. Zu Franckes Lehre vom Bußkampf vgl. auch TRE, Bd. 21 (1991), Art. Liebe VII (Neuzeit), von G. Meckenstock, S. 157.
Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1817.
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könne nur aufgrund des Rufes Christi erfolgen. „Aber wer auf einen andern Ruf hört, wer etwa äußere Erwartungen in seiner Seele nährt, oder wer sich durch das Wunderbare bestechen läßt, der kann nicht sicher seyn seines Zuges, bei dem ist es Glück, wenn er das Wahre findet.“ (29) Und er schließt seine Predigt mit dem Aufruf: „Wir gehören dem Erlöser an, wir sind ihm verbunden mit aller Liebe und Dankbarkeit. So laßt uns diese nie in der Stille unsers Herzens vergraben, sondern ausrufen: das ist Gottes Lamm. Bisweilen werden wir sehen, daß die Menschen auf diese Stimme hören. Nicht nur das sind wir Christus schuldig, sondern dazu sollen wir von selbst geneigt seyn. Unsere heiterste Pflicht sey, die Menschen von uns wegzuweisen.“ (29f.)
3. Der Gottesdienst als Ganzes Schleiermacher setzt in diesem Gottesdienst überwiegend neue Lieder an, aus neuen und neuesten Gesangbüchern (Jauer 1813, Sulzbach 1816). Die Epiphaniasthematik spielt in Predigt und Liedern kaum eine Rolle, lediglich im Schlusslied begegnen Lichtmetaphern. Stattdessen hat Schleiermacher gemäß dem Thema seiner Predigtreihe über Berufungsgeschichten das Motiv der Jüngerschaft in den Mittelpunkt dieses Gottesdienstes gestellt. Im Unterschied zur Predigt, die die Leichtigkeit des Glaubens betont, akzentuieren die Lieder die Sehnsucht des Einzelnen nach dem wahren Glauben (vgl. das Schlusslied). Ausdrücke wie „Bund“, „Bande“, „Brüder“, „brüderlich“, „Treue/treu“ verdeutlichen die Thematik der Jüngerschaft. Doch zeigt sich die Milde, die die Predigt durchweht („Da sind wir dann ganz in dem Reich der Liebe und der Barmherzigkeit“31), auch bei den Liedbearbeitungen, wo die Wörter „Liebe“ (Eingangslied) und „barmherzig“ (unter der Predigt) ebenfalls Eingang gefunden haben. Insgesamt deuten die ausgewählten und redigierten Liedtexte darauf hin, dass Schleiermacher bei der Erstellung des Liedblattes schon plante, über die Beziehung des Einzelnen zu Christus zu predigen.
31
Bl. 25.
Am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Jesu der du meine Seele etc.3
Gott laß uns aus dir gebohren, Jesu Christi Jünger sein, Die nur ihn zum Herrn erkohren, Sich nur seinem Dienste weihn. Wirke du4 in unsern Herzen Wahrer Buße selge Schmerzen, Mach uns durch den Glauben neu, Seine Frucht sei Lieb und Treu. Mach uns in der Hoffnung sehnlich, In der Sanftmuth Jesu gleich; Ihm in Herzens Demuth ähnlich, Und im Beten andachtsreich, In Geduld unüberwindlich, In der Gottesfurcht recht kindlich! Bilde uns sein Eigenthum, Ganz zu unsers Königs Ruhm. Zeuch uns aus dem Weltgetümmel, Bring uns seiner Ruhe nah! Unser Herz sei schon im Himmel, Denn auch unser Schaz ist da; Himmlisch hilf uns eingewöhnen,
1 2 3
4
26.1.1817. – L 2, H 28 (Vorläufige Signaturen von W. Virmond. L = Londoner Sammelband; H = Hannoveraner Sammelband). Q: Bremer Gb, Nr. 761 (Mel. Schwinge zu des Himmels, Vf. unbekannt). Zur Melodie „Jesu, der du meine Seele“, vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 94 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 125. Die bei Kühnau stehende und von A. W. Bach Johann Schop (1640) zugeschriebene Melodie hat Ähnlichkeit mit J. Zahn, 4. Bd., Nr. 6779a (Darmstadt 1687), die auch auf dem Grundton beginnt, vgl. auch I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 312. – Kaum handelt es sich um die Melodie von Johann Schop (Zahn, Nr. 6767) oder um die von Johann Rist (Zahn, Nr. 6804, PPM Frankfurt 1662). – Die Internetseite http://www.bachcantatas.com/CM/Jesu-der-du-meine-Seele.htm, verweist auf Zahn, Nr. 6804 und behauptet: „Melody and text by Johann Rist (1641) (Dürr claims that this was an original melody which appeared with the text.“) Wirke du] Wirk’ dazu
Am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817.
Uns nach ewgem Leben sehnen;5 Denn dein auserwählt Geschlecht, Hat des Himmels Bürgerrecht. [Bremisches Gesang Buch]
Nach dem Gebet.6 Mel. Mein Jesu, dem die Seraphinen etc.7
Mein Freund wie dank’ ichs deiner Liebe, Daß du von deinem Gnadenthron, Durch deine heilgen8 Liebestriebe, Erwärmt mich kalten Erdensohn!9 Wie dank’ ichs deinem treuen Herzen, Daß du mich von dem Fluch befreit, Und mir die ewge Seligkeit Erworben hast durch Todesschmerzen? Das hab’ ich an mir wahrgenommen, Zu deiner Stunde ist’s geschehn; Da bin ich meinem Feind entkommen, Da hab’ ich in dein Licht gesehn! Da wurde köstliches Geschmeide, Das Kleid des Heils, mir zugewandt, Da ward zugleich der Kindschaft Pfand Mir mitgetheilt, des Geistes Freude. Wär’s etwa, daß mein Herz10 noch hinge An einem Faden dieser Welt, Auf etwas seine Sehnsucht ginge, Was dir o Heiland nicht gefällt:11 Ach wäre dies, mein einig Leben, So bitt ich deine Liebesgewalt12, Zerreiße diesen Faden bald, Mein Wille sei dir übergeben! Mein ganzes Herz sei dir gegeben Zu deiner Wohnung nimm es hin!
5 6 7 8 9 10 11 12
Himmlisch ... sehnen] Laß sich unsern Sinn gewöhnen, / sich nach jener Welt zu sehnen. Q: Brüder-Gb, Nr. 422,1‒5. Die 6. Strophe ist ausgelassen. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 119 und A. W. Bach, Nr. 157. heilgen] zarten Erwärmt ... Erdensohn!] erwärmst mich armen kalten Thon: Herz] Geist Auf etwas ... gefällt:] und sein Verlangen auf was ginge, / das dir, o Bräutgam! nicht gefällt; Im Brüder-Gb, Nr. 422,3 richtig: Liebsgewalt.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Und hauch ihm ein dein selig Leben,13 Dein Geist regier allein darin! Die Liebe, die dich ehmals nieder In dieses Erdenwesen zog,14 Und Mensch zu werden dich bewog15, Die ziehe dich auch itzo wieder! Zerbrich, vertilge, ja zermalme16, Was dir nicht völlig wohl gefällt! Ob mich die Welt an einem Halme, Ob sie mich an der Kette hält, Ist alles eins in deinen Augen, Da nur ein ganz befreiter Geist, der alles fremde Schaden heißt, Und nur die lautre Liebe taugen. [Gesang Buch der Brüder Gemeine]
U n t e r d e r P r e d i g t . 17 Mel. Nun ruhen alle etc.18
Laß deiner Wahrheit Lehren, Uns unverdrossen hören, Und deinem Wort uns weihn!19 Auf Pflanzen und Begießen Laß dein Gedeihen fließen, Des Geistes Erndte20 reichlich sein.
13 14 15 16 17 18
19 20
Mein ganzes ... Leben,] Da ist mein Herz und meine Seele! / ach nimm sie dir zur Wohnung hin, / erfülle sie mit Freudenöle; In dieses ... zog,] in mein blutarmes Wesen zog, dich bewog] überwog vertilge, ja zermalme] verbrenne und zermalme Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 763,3. Lied „Herr, höre! Herr, erhöre!“ Vf. Benjamin Schmolck (1672‒1737). Zur zeitgenössischen Melodiegestalt des Liedes „Nun ruhen alle Wälder“ („O Welt ich muss dich lassen“) von Heinrich Isaak, vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 128 und A. W. Bach, Nr. 179. Laß ... weihn!] Gieb uns getreue Lehrer, / und unverdroßne Hörer, / die deinem Wort sich weihn. Des ... Erndte] der Aerndte Früchte
Am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817.
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N a c h d e r P r e d i g t . 21 Mel. Wie wohl ist mir etc.22
Er führet mich auf rechten Wegen Er geht voran, ich folge nach, Und wenn ich gleich in finstern Stegen Und Thälern voller Ungemach Auf rauher Bahn23 durch Dorn und Hecken Muß wandern, soll mich doch nichts schrecken, Denn du bist bei mir stetiglich; Du bist mein Licht, mein Stern, mein Führer, dein Wort und Wink ist mein Regierer, Und deine Treue schirmet mich.24 Vorausbezahlung wird auf diesen Jahrgang wie gewöhnlich angenommen.25
21 22 23 24 25
Mögliche Q: Brüder-Gb, Nr. 483,2. Lied „Jehova ist mein Hort und Hüter“, Vf. unbekannt. Zur Melodie „Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen“ vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 164 und A. W. Bach, Nr. 239 (und Nr. 240). Auf ... Bahn] durch dick und dünn dein Wort ... mich] dein Stab und Stecken mein Regierer, / auf deinen Achseln ruhe ich. Siehe voriger Abschnitt, S. 52, Fußnote 26.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Als Morgenlied übernimmt Schleiermacher das Lied eines unbekannten Verfassers „Gott laß uns aus dir geboren“ vollständig aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Allgemeine Gebetslieder“, und gibt ihm die in Berlin bekannte Melodie bei „Jesu, der du meine Seele“, ein Lied, das um wahre Jüngerschaft bittet. Am Text werden nur zwei Änderungen vorgenommen. Die erste bringt mit dem Vokativ eine theologische Verdeutlichung (Wirke du) und wehrt jeden synergistischen Verdacht („Wirk’ dazu“) ab. Dagegen ist die Änderung in der letzten Strophe schwieriger zu beurteilen. Wenn man davon ausgeht, dass Schleiermacher stilistische Anstöße gern zum Anlass nahm, um theologische Retouchen einzuführen26, dann könnte das holprige zweifache reflexive „sich“ den Anstoß gegeben haben. So wird die Sehnsucht „nach jener Welt“ ersetzt durch die Sehnsucht „nach ewgem Leben“, das bei Schleiermacher immer auch immanent zu verstehen ist.27 Der prosaische Ausdruck „Laß sich unsern Sinn gewöhnen“ wird durch den poetischeren „Himmlisch hilf uns eingewöhnen“ ersetzt, wobei eine Alliteration entsteht, inhaltlich aber in der Schwebe bleibt, ob „himmlisch“ zum versteckten Subjekt „Du“ i. S. von „Vom Himmel her hilf uns“ oder adverbial zu „eingewöhnen“ zu ziehen ist. Beim Hauptlied aus dem Brüdergesangbuch – der Verfasser ist ebenfalls unbekannt – fehlt die letzte Strophe, die ein Gelübde des Beters enthält. Die Redaktion nimmt stilistische Glättungen und theologische Versachlichungen bzw. Verkirchlichungen vor. Schleiermacher, obwohl selbst in Herrnhut erzogen und mit einer heimlichen Sehnsucht behaftet, dämpft die brüderische Tändelei und einen gewissen Masochismus, der sich in z. T. drastischen Ausdrücken entlädt. Die Eingriffe in der ersten Strophe bezwecken eine „Verkirchlichung“ („heilige“ statt „zarte Liebestriebe“) und Vergeistigung („Erdensohn“ statt „armen kalten Thon“). Der Ersatz von „Geist“ durch „Herz“ in der dritten Strophe ist nicht nur ein Vorgriff auf die nächste Strophe („Mein ganzes Herz sei dir gegeben“), sondern stellt wiederum eine sachliche Korrektur eines Theologen dar, für den Religion „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“28 ist. Für die nächste Abänderung dürften sprachliche Mängel („und sein Verlangen auf was ginge“) und sachliche Einwände den Ausschlag gegeben haben. Schleiermacher hat die Ausdrücke „o Bräutigam“ und „mein liebstes Leben“ als zu intim verworfen und mit „o Heiland“ und 26
27
28
Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 140: „Wo es dann im Zuge notwendiger sprachlicher und inhaltlicher Verbesserung möglich und sinnvoll erschien, hat Schleiermacher seine eigene Theologie zum Zuge kommen lassen.“ Oder: „Wahrscheinlich ist vielmehr, daß er theologische Absichten immer dann in Textänderungen umgesetzt hat, wenn dies im Zuge von ihm als notwendig erachteter Neugestaltung möglich war.“ Ebd., S. 141. Zu Schleiermachers Eschatologie in seinen Liedbearbeitungen vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 188‒193. „Die ‚Mitteilung des ewigen Lebens in dem Reiche Gottes geschieht in der Gegenwart und ist hier und jetzt für die Gläubigen erfahrbar.“ Ebd., S. 191. Vgl. die berühmte Definition in: F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, KGA I/2, S. 211/32‒33. (Erstausgabe, S. 50).
Am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817.
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„mein einig Leben“ ebenfalls „verkirchlicht“. Die Bearbeitung der vierten Strophe nimmt ihren Ausgang bei dem offenbar anstößigen „Freudenöle“. Auch beim Umdichten von Liedern blieb Schleiermacher sparsam im Gebrauch von Bildern. Wieder steht das „Herz“ pars pro toto für den ganzen Menschen, wobei „mein blutarmes Wesen“ in „dieses Erdenwesen“ verwandelt wird. Der letzte Eingriff intendiert durch die bekräftigende Partikel „ja“ eine Steigerung der imperativischen Bitten. Die „Entdeckung“ der Strophe „Unter der Predigt“ lag nach dem Eingangslied (Bremer Gesangbuch, Nr. 761) buchstäblich nahe. Die textlichen Abweichungen können auf den speziellen liturgischen Ort zurückgeführt werden. Benjamin Schmolcks allgemeine Bitte um treue Lehrer und unverdrossene Hörer wird hier zur speziellen Bitte um unverdrossenes Hören der göttlichen Lehre und um eine reiche Ernte des Geistes. Für den Schlussgesang wählt Schleiermacher aus einem den 23. Psalm paraphrasierenden Lied des Brüdergesangbuchs die zweite Strophe, die geeignet ist, die Christen am Ende des Gottesdienstes mit der Zusage des göttlichen Beistandes in den Alltag zu senden. Die Textredaktion zeichnet sich abermals durch Veredelung und Vergeistigung aus, die wiederum durch die Eliminierung umgangssprachlicher Wendungen („durch dick und dünn“) und anschaulicher Bilder („auf deinen Achseln ruhe ich“) erkauft ist.
2. Die Predigt Der Gottesdienst findet statt am 26. Januar 1817, einen Tag nach dem Fest der Bekehrung des Paulus, an das Schleiermacher seine Zuhörer eingangs der Predigt erinnert. Der Prediger legt seiner Predigt nicht nur einen, sondern zwei, dazu ungewöhnlich lange Texte zugrunde: Lk 5,1-11 und Apg 22,1-1629, die allerdings nicht nacheinander, sondern zu Beginn des jeweiligen Predigtteils gelesen werden. Die Predigt ist in einer schwer leserlichen, mit Bleistiftkorrekturen versehenen, wohl unvollständigen Nachschrift von Ludwig Jonas erhalten30, der man entnehmen kann, dass Schleiermacher zu Beginn des Jahres 1817 eine kleine Predigtreihe über Berufungsgeschichten bildete, wie er auch in dem ersten überlieferten Satz sogleich die letzte Predigt über die Berufung Andreas’ und Johannes’ (1. Sonntag nach Epiphanias Joh 1,35‒40) rekapitulierte. Zunächst stellt Schleiermacher die unterschiedliche Disposition der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus heraus. Im Gegensatz zu Andreas und Johannes sei Petrus weniger leichtgläubig gewesen, hätte weniger ein persönliches 29
30
Vgl. auch die nächste Hauptpredigt am Sonntag Sexagesimä am 9.2.1817. – Schleiermacher beschäftigte sich zu dieser Zeit auch akademisch mit der Lukas-Exegese. Im Wintersemester 1816/17 hatte er beide lukanischen Schriften angekündigt. Vgl. seine Schrift „Ueber die Schriften des Lukas. Ein kritischer Versuch“, Erster Theil, Berlin 1817. KGA I/8 (2001), S. 1‒193. Es fehlen zumindest die Einleitung mit der Anrede der Gemeinde und das Schlussgebet, vgl. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 30-35.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
als ein allgemeines Interesse am Erlöser und an der Erlösung gehabt. Das Wunder des Fischzugs hätte zwar seine Überzeugung nicht gegründet, wohl aber – zeitbedingt – bestärkt. Sein Beispiel („nicht so leicht beweglich war Petrus“) (32) mahne zur Toleranz: „So mag auch dies lehrreich seyn und warnen, daß wir nicht glauben es gäbe nur eine31 Art, zu Christus zu kommen.“ (32) Die intime, individualistische Jesusfrömmigkeit des Johannes sei keineswegs die einzige Form der Christusbeziehung. Immer noch gebe es Christen, die Christus nur zu „ihrer Besserung, zu ihrem Genuss haben“ (32) wollen, während andere stärker von der Macht ergriffen seien, die Christus in seinem Reich ausübe. Petri Widerstand gegen Christi Leiden wird verteidigt, er sei „natürlich bei einem auf das Große gerichteten Gemüthe.“ (33) „Irren im Einzelnen, das können auch die Helden des Glaubens. Laßt uns aber seine gänzliche Hingebung in die andre Schaale legen.“ (33) Auch Paulus sei durch „die Wirkung nicht des Wunderbaren [sc. der Lichterscheinung, B. S.], sondern der Gespräche“ (34) mit Hananias zum Glauben gekommen.32 Christus bekehrte ihn, weil er sich seinen Eifer zunutze machen wollte. „Darum dachte Christus: wer so eifert für das Gesetz, wie wird der eifern für das Wort der Versöhnung.“ (34) Paulus hatte schon vor seiner Bekehrung aus treuer Überzeugung gehandelt, weshalb von Reue und Zerknirschung bei ihm nicht die Rede ist. Unter Verweisung auf Paulus mahnt der Prediger zur Geduld mit Menschen, die nicht unseren Glauben teilen. „Laßt uns warten bis einst ihre Stunde schlägt. Bis dahin laßt uns ihnen alles zu Gute halten.“ (34) Und weiter: „Nur wer mit Ruhe und Liebe verfährt, kann ein Werkzeug des Herrn werden. Darum laßt uns liebevoll seyn gegen die, welche unsers Glaubens nicht sind!“ (35) Und Schleiermacher schließt mit der Bitte in den Feinden zu sehen, „nicht was sie jetzt sind, sondern was sie sein werden, wenn das himmlische Licht sie umblickt! Amen.“ (35) Diese Predigt, in der die Pluralität mit zwei Texten und zwei Protagonisten schon angelegt ist, erweist sich als ein leidenschaftliches Plädoyer für Toleranz in Glaubensdingen. Die biblischen Beispiele zeigten, wie unterschiedlich die göttlichen Hauptwerkzeuge Petrus und Paulus gewesen seien und auf welch unterschiedlichen Wegen sie zum Glauben an Christus gekommen seien. Da der Mensch dem Urteil und der Wahl Gottes nicht vorgreifen könne, solle er sich in Geduld und Toleranz üben. Zerknirschung und Reue oder pietistischer Bußkampf seien nicht der einzige Weg zum Glauben. Wir wissen nicht genau, welches der Hintergrund dieser Mahnungen war. Aus den Briefen jener Zeit geht lediglich hervor, dass Schleiermacher auf der 31 32
Unterstreichung im Manuskript. In einem Brief an seine Schwägerin Charlotte von Kathen setzt sich Schleiermacher am 9.1.1817 mit dem Wunderglauben der Hausfreundin Karoline Fischer, für den auch seine Frau anfällig war, auseinander: „Von einem Gegensatz zwischen Natürlich und Übernatürlich, Begreiflich und Unbegreiflich weiß ich überhaupt nichts. Alles ist natürlich in dem einen Sinne und übernatürlich in dem andern. Selbst daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, muß in einem höheren Sinne natürlich sein.“ In: Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe, hrsg. von Heinrich Meisner, Gotha 1923, S. 247.
Am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817.
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Kanzel wie auf dem Katheder gegen ein „abergläubisches Buchstabenwesen“ zu Felde zog und dagegen die „kirchliche und theologische Freiheit“ zu verteidigen suchte.33
3. Der Gottesdienst als Ganzes Das Thema „Jüngerschaft“ bestimmt auch das Eingangslied: „Gott laß uns aus dir gebohren, / Jesu Christi Jünger sein, / Die nur ihn zum Herrn erkohren, / Sich nur seinem Dienste weihn.“ Im Hauptlied finden sich Anklänge an die Berufung des Paulus: „Das hab’ ich an mir wahrgenommen, / Zu deiner Stunde ist’s geschehn; / Da bin ich meinem Feind entkommen, / Da hab’ ich in dein Licht gesehn!“ Freilich betont gerade dieses Lied immer wieder die Initiative Christi: „Mein Freund wie dank’ ichs deiner Liebe“; „Wie dank’ ichs deinem treuen Herzen“; „Zu deiner Stunde ist’s geschehen“. Interessant ist auch die Textänderung im Eingangslied, die Gott allein die Bekehrung und das Maß der Bußschmerzen zuschreibt: „Wirke du in unsern Herzen / wahrer Buße selge Schmerzen“. An die so redigierten Liedtexte konnte sich eine Predigt, die auf Vernüchterung und Pluralisierung in Glaubensdingen zielt, gut anschließen. Umgekehrt mag der Plan einer Predigtreihe über Berufung und Jüngerschaft die gezielte Liedauswahl und –bearbeitung erleichtert haben.
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Vgl. sein Schreiben an August Twesten vom 11.5.1817, in: Schleiermacher als Mensch, S. 250f. – Auch D. Schmid und H. Patsch diagnostizieren, dass Schleiermacher zu dieser Zeit gegen „die sich verstärkenden pietistischen Strömungen in der preußischen Kirche und ihre theologischen Sprecher“ anging, vgl. F. Schleiermacher, Exegetische Schriften, KGA I/8 (2001), Einleitung der Bandherausgeber, S. XV.
Am Sonntage Sexagesimä 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Jesus meine Zuversicht.3
Seele, was ermüdst du dich In den Dingen dieser Erden? Ach sie sind4 veränderlich, Können dir gefährlich werden! Suche Jesum und sein Licht; Alles andre hilft dir nicht. Sammle den zerstreuten Sinn Daß er sich zu Gott aufschwinge!5 Richt ihn stets zum Himmel hin, Daß er in die Gnade dringe!6 Suche Jesum und sein Licht; Alles andre hilft dir nicht. Oft verlangst du süße Ruh Das betrübte Herz zu laben; Eile denn der Quelle zu Wo du reichlich sie kannst haben!7 Suche Jesum und sein Licht; Alles andre hilft dir nicht. Geh einfältig stets einher8; Laß dir nicht9 das Ziel verrücken; Gott wird aus dem Liebesmeer, Dich, wenn du bedarfst,10 erquicken!
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9.2.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 3; H 38. Q: Jauersches Gb, Nr. 642,1-3.5.7; Mel. Meinen Jesum laß ich etc. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 101 und A. W. Bach, Nr. 132. Ach sie sind] Sie sind so Daß ... aufschwinge!] laß ihn sich zu Gott aufschwingen, Daß ... dringe] laß ihn in die Gnad’ eindringen. Oft ... haben] Du verlangst oft süße Ruh’, / dein betrübtes Herz zu laben; / eil’ zur Lebensquell’ hinzu, / da kannst du sie reichlich haben. einher] daher nicht] Nichts wenn du bedarfst] den Kranken wohl
Am Sonntage Sexagesimä 1817.
Suche Jesum und sein Licht; Alles andre hilft dir nicht. Nahe dich dem lautern Strom, Der vom Thron des Meisters11 fließet, Und auf die so, keusch und fromm, Sich in reichem Maaß ergießet! Suche Jesum und sein Licht; Alles andre hilft dir nicht. [Jauersches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t 12 Mel. Kommt her zu mir.13
O Gottes erstgeborner Sohn,14 Ich wage mich vor deinen Thron, Lamm Gottes, Heil der Sünder! Ich unwerth nur zu nennen dich, Vor deine Hoheit wag’ ich mich15 Ich Sterblicher, ich Sünder! Mir wird so frisch und leicht16 ums Herz In Ruhe wandelt sich der Schmerz,17 So oft ich dir mich nahe. Ich fühle neu lebendig mich, Umfaßt mein Geist voll Glauben dich, Den nie mein Auge sahe. Und18 außer Dir wie todt und matt Ist alles, was ich thu und that! Wie giebst du allem Leben! Wie anders lieb’ und handl’ ich, wenn Ich an dich glaube dich erkenn,19 Auf dich nur zielt mein Streben! Wann hätt es20 je mein Herz bereut, Wo es sich21 glaubend dein gefreut?
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Meisters] Lammes Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 640,1‒4.8‒9. Vgl. die isochronen Melodiefassungen bei J. C. Kühnau, Nr. 106 und A. W. Bach, Nr. 143. O ... Sohn,] O du, der Gottheit erster Sohn! Vor ... mich] vor deiner Hoheit neig’ ich mich, so ... leicht] so wohl, so leicht In ... Schmerz] und Ruh’ und Freude wird mein Schmerz, Und] Ach! glaube dich erkenn] glaub’, ich dich erkenn’ Wann ... es] Wann, wann hats
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Gefreut auch dein im Leiden? Wann war ich fern von Kraft und Ruh? Ach, wo ich dich geflohen, Du22 Du süßeste der Freuden! An dich zu glauben, Herr, an dich, Wie sehnt, wie sehnt die Seele sich! Die Schatten zu verlassen, Dein Licht, du Quell des Lichts, zu sehn, Vertraulicher zu dir zu flehn, Dich reiner zu umfassen. Sei du mein Vorbild, du mein Licht, Du Stab mir, Fels und Zuversicht! Ja, ob ich steh, ob23 wanke, Ob Glück, ob Elend24 mich umgiebt, Sei du, der ewig ewig liebt, Mein süßester Gedanke. [Lavater]
U n t e r d e r P r e d i g t . 25 Mel. Warum sollt ich mich.26
Meines Herzens reinste Freude Ist nur die,27 Daß ich nie Mich von Jesu scheide; Daß ich ihn durch Glauben ehre, Jederzeit Hocherfreut Seine Stimme höre. Freundlich ruft er alle Müden, Und erfüllt Sanft und mild Ihren Geist mit Frieden; Seine Last ist leicht zu tragen, Er macht Bahn, Geht voran, Tröstet, wenn wir zagen. 21 22 23 24 25 26 27
Wo es sich] hatt’ es sich Ach ... Du] Ach, dann, wenn ich dich flohe, du ob ich steh, ob] wenn ich steh’ und wanke Ob ... Elend] wenn Glück und Elend mich umgibt, Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 635,1-2. Vf. Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831). Zur zeitgenössischen Gestalt der Ebelingschen Melodie vgl. A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 225. Ist nur die] das ist sie
Am Sonntage Sexagesimä 1817.
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N a c h d e r P r e d i g t . 28 Mel. Valet will ich.29
Nach dir o Jesu heben Hier unsre Herzen sich! In diesem Schattenleben Verlangen wir nur dich! Wir hoffen zu genesen Mit ahnungsvoller Lust, Drückst du, o heilges Wesen, Uns an die treue Brust.30
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 637. Vf. Friedrich Freiherr von Hardenberg, genannt Novalis (1772–1801). Vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 18 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 217. Drückst du ... Brust] drückst du uns, heiligs Wesen, an deine treue Brust.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Die Textveränderungen im Eingangslied können, da das Jauersche als Quellengesangbuch bekannt ist, zuverlässig kontrolliert werden. Schleiermacher wählt aus dem im Quellengesangbuch neunstrophigen Lied des Hallenser Pietisten Jacob Gabriel Wolf31 (1683/84‒1754) aus den Rubriken „Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Jesum“ – „Liebe zu Jesu“ fünf Strophen aus. Die meisten redaktionellen Eingriffe bezwecken eine Glättung und Verflüssigung des Sprachflusses. Nur die beiden letzten Abänderungen lassen theologische Kritik erkennen. In der 4. Strophe wird die häufig zu beobachtende anthropologische Optimierung deutlich: Der Mensch wird von Gott erquickt, nicht weil er krank ist, sondern wenn er dessen bedarf.32 Der Eingriff in der letzten Strophe (Ersetzung des Lammes durch den Meister) stellt eine Abkehr von dem apokalyptischen Bild (Apk 7,17; 22,1) dar und kann – zumal Schleiermacher als ehemaliger und bekennender Herrnhuter die Lamm-Christologie kannte und verteidigte33 – nur vom Kontext des Gottesdienstes her verstanden werden. Im Hauptlied bringt Schleiermacher 6 Strophen eines neunstrophigen, angeblich von Lavater stammenden Liedes34, wahrscheinlich aus derselben Rubrik des Jauerschen Gesangbuchs. Die redaktionellen Eingriffe sind auf Verflüssigung und Versachlichung gerichtet, was bei einem so schwärmerischen Lied nicht einfach ist, so dass Schleiermacher in der letzten Strophe die im Jauerschen Gesangbuch eliminierte Emphase35 wiederherstellt. Theologisch motivierte Textänderungen sind mir nicht aufgefallen. Die Strophen Unter und Nach der Predigt hat Schleiermacher wohl ebenfalls dem Jauerschen Gesangbuch entnommen. Sie stammen von S. G. Bürde und Novalis und stehen in derselben Rubrik wie die beiden Hauptlieder. Die Strophen thematisieren die Sehnsucht nach Jesus und die Nachfolge Jesu (Mt 11,28-30). Redaktionelle Änderungen sind kaum zu verzeichnen. In der Novalisstrophe „Nach dir o Jesu heben“ hat Schleiermacher das Possesivpronomen „deine“ eliminiert und dadurch eine größere Distanz zum Bild hergestellt.
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Im Original zwölfstrophig, vgl. A. W. Fischer, Kirchenliederlexikon, Gotha 1879 (Reprint Hildesheim 1967), Teil 2, S. 245. Schleiermacher war der Autor bekannt, vgl. Liedblatt L 47 vom 13.6.1819. Zu Schleiermachers Anthropologie und Sündenlehre bei der Liedbearbeitung vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 167–176. Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 229. Siehe auch das folgende Lied! In der einschlägigen Sammlung Johann Caspar Lavaters auserlesene Christliche Lieder, Basel, bey Johann Jakob Flick, 1792 (SBB: Hb 1039), habe ich das Lied nicht gefunden, auch nicht in Lavaters „Christlichen Liedern der vaterländischen Jugend“, Zürich 1774 (SBB: Ei 6512b). Auch in Anthologien wie z. B. bei E. E. Koch ist das Lied nicht enthalten. „Ja, ob ich steh, ob wanke“, „Ob Glück, ob Elend“.
Am Sonntage Sexagesimä 1817.
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2. Die Predigt Vom Gottesdienst am Sonntag Sexagesimä 1817 ist außer dem Liedblatt eine lückenhaft anmutende Predigtnachschrift von Ludwig Jonas erhalten, der mindestens der Anfang (Kanzelgruß, Anrede) und das abschließende Kanzelgebet fehlen.36 Die Predigt gehört zu einer kleinen Predigtreihe über die Berufung der ersten Jünger, wobei Schleiermacher in seiner Einleitung das psychologische Bestreben ankündigt, „gemeinsam [mit seinen Hörern] bei jenen in das Innere einzudringen.“ (35) Wie schon der letzten Hauptpredigt am 3. Sonntag nach Epiphanias so liegen auch dieser Predigt wieder zwei Texte zugrunde. Im ersten Teil seiner Predigt über Lk 5,27–29 thematisiert Schleiermacher die Berufung des Zöllners Levi oder Matthäus37, betonend, dass der Nachfolge eine längere Vorbereitung und Sehnsucht vorausging, und dass diese nicht allein auf die augenblickliche und wunderkräftige Erscheinung Jesu zurückzuführen sei. Interessant ist die Warnung des Predigers, nicht zu hohe Forderungen an die zu stellen, die „in die Geschäfte des Lebens verwickelt“ seien und „die wir selbst nicht einmal erfüllen.“ (37) Auch Christus habe manchen, der ihm nachzufolgen begehrte, abgewiesen und beauftragt, bei den Seinen zu bleiben. Das sei „das Los der meisten Menschen unter uns“ (37). Der erste Predigtteil mündet unter dem Hinweis auf Levis Gastmahl (Lk 5,29, vgl. auch Lk 19,6) in ein Lob der weltlichen Freuden und der Untrennbarkeit der sinnlichen und der geistigen Seite des Lebens. „Es giebt keine Gestalt, die der Geist nicht zu seinem Werkzeug machen könnte.“ (38) Der zweite Predigtteil handelt mit Joh 1,45–51 von der Berufung Nathanaels. Schleiermacher tadelt die Leichtfertigkeit von Bekenntnissen, auch den schnellen Sinneswandel Nathanaels (vgl. Joh 1,46 und 1,49) und fordert die Hoffnung auf Größeres, auf die Art, wie Christi Reich auf die Gemüter wirkt, wie es immer mehr das Böse besiegt und die „selige Gemeinschaft des Himmels und der Erde“ (40) bewirke. Wie schon in den vorigen Predigten scheint Schleiermacher auch hier einem geistlichen Schwärmertum entgegensteuern zu wollen.38
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SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 35‒40. Schleiermacher benutzt meist beide Namen, ohne die Doppelung zu erklären. In Lk 5,27 heißt er Levi (vgl. auch Mk 2,14), in Mt 9,9 Matthäus. Bei der Aufzählung der 12 Jünger benutzen alle Synoptiker den Namen Matthäus. – Zur Stelle in Schleiermachers Lukas-Kommentar, vgl. KGA I/8, S. 54‒56. Weder aus der Predigt selbst noch aus den Briefen dieser Zeit geht eindeutig hervor, an wen diese Mahnung gerichtet war, s. o. S. 63, Fußnote 33.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
3. Der Gottesdienst als Ganzes Um die Sehnsucht der müden und ermatteten Seelen nach Christus geht es in den Liedern (Morgenlied, Kanzelvers 2. Strophe, Schlusslied). Das Eingangslied hat traditionell die Funktion der Sammlung – sowohl innerlich der Gedanken („Sammle den zerstreuten Sinn“) als auch äußerlich der einzelnen Personen zur Gemeinde. Ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Textänderung in der letzten Strophe („Thron des Meisters“ statt „Thron des Lammes“) und dem Ausruf des Predigers „Mancher mag in einem Augenblick mit Nathanael gerufen haben: Meister Du bist Gottes Sohn“ (40)39, ist unsicher. Das Lied vor der Predigt jedenfalls ist ein Lied der Demut vor dem Thron Christi im Bewusstsein der Sünde und der Sehnsucht nach dem Erlöser, insofern eine adäquate Vorbereitung auf den ersten Predigtteil über Lk 5,27–29 und die im Hintergrund präsente Bekehrungsgeschichte des Zachäus (Lk 19,1-10). Der Kanzelvers rüstet nicht nur zur Predigt („Daß ich ihn durch Glauben ehre, / Jederzeit / hocherfreut / Seine Stimme höre“), sondern korrespondiert mit seiner Milde „Freundlich ruft er alle Müden, / Und erfüllt / Sanft und mild / Ihren Geist mit Frieden; / Seine Last ist leicht zu tragen“ auch der Warnung des Predigers vor geistlichem Übereifer und religiöser Überanstrengung. Die Lieder des vorliegenden Liedblattes weisen – bedingt und ermöglicht durch die gleiche Rubrik des Quellengesangbuchs, dem sie entnommen sind – eine relativ große inhaltliche Einheitlichkeit auf und führen vom individuellen Ich (Eingangslied, Hauptlied, Kanzelvers) zum gemeindlichen Wir (Kanzelvers, Schlusslied).
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Mit dem christologischen Titel „Meister“ distanziert sich Schleiermacher sowohl von dem Bild des Lammes im Lied als auch von der hebräischen Bezeichnung Rabbi im Text.
Am Sonntag Invocavit 18171 Vor dem Gebet.2 Mel. Die Tugend wird.3
Laß mir die Feier deiner Leiden Mein Heiland hehr und4 heilig sein. Sie lehren5 mich die Sünde meiden Und dir mein ganzes Leben weihn; Dir, der so ruhig und entschlossen Des Lebens bittre Leiden trug, Des Herz, als schon sein Blut geflossen, Für mich noch heiß von Liebe schlug.6 In der Betrachtung heil’gen Stunden Will ich am Leidenshügel stehn, Und Herr für deine Todeswunden Mit Dank und Thränen dich erhöhn,7 Will tief gerührt die Huld ermessen Womit dein Herz die Welt umfaßt, Und nie aus Undank es8 vergessen Was du für mich erduldet hast. Mir sollen diese Feierzeiten Nicht unbenutzt vorüberfliehn,9 Ich will dich an dein Kreuz begleiten 1 2 3 4 5 6
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23.02.1817. Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 4, H 45. Q: Bremer Gb, Nr. 151,1-3. Vf. Christoph Georg Ludwig Meister (1738‒1811). – Vgl. auch Jauersches Gb, Nr. 207. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt des Chorals „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“ vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 34 und A. W. Bach, Nr. 53. Mein ... und] o großer Dulder, lehren] lehre Dir, der so ... schlug] dir, dessen Blut für mich geflossen, / deß Herz für mich im Tode schlug, / der ruhig, heiter und entschlossen / auch meiner Sünden Strafe trug. - Schleiermachers Lesart folgt im wesentlichen der Fassung des Jauerschen Gb, Nr. 207,1: dir, der so ruhig und entschlossen, / für mich die Last des Kreuzes trug, / deß Herz, als schon sein Blut geflossen, / für mich noch heiß von Liebe schlug. In der ... erhöhn] Ach, in der stillsten meiner Stunden / will ich nach deinem Kreuze sehn, / und dich, o Herr, für deine Wunden / durch meinen Thränendank erhöhn – Schleiermachers Lesart entspricht wiederum der des Jauerschen Gb, Nr. 207,2. aus Undank es] es undankbar – Schleiermacher folgt wiederum dem Jauerschen Gb, Nr. 207,2. Nicht ... vorüberfliehn] der größten Liebe heilig seyn; – s. u. Fußnote 12.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Und wilden Freuden mich entziehn.10 Dein Leiden ist mein höchster Segen, Dein Tod mein seligster Gewinn, Dir walle stets mein Herz entgegen,11 Weil ich durch dich gerettet bin.12 [Bremisches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 13 Mel. Helft mir Gottes Güte.14
Dich krönte Gott mit Freuden O Jesu nach dem Streit, Du drangst durch Schmach und Leiden Zu deiner Herrlichkeit. Triumph ward dir dein Tod; Dein Kampf war ausgekämpfet, Der Feinde Wut gedämpfet, Nun gingst du hin zu Gott, Ich, Herr, dein Pilger, walle Dir meinem Führer nach; Doch strauchl’ ich15 noch und falle, Denn ich bin müd’ und schwach, Du führst auch mich16 durch Streit Durch Kummer und durch Leiden Zu meines Zieles Freuden Zu deiner Herrlichkeit. Chor Wie Er des Todes Schrecken Einst siegreich überwand, Als er ihn ganz zu schmecken Selbst im Gerichte stand: 10 11 12
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Und ... entziehn] und jeden Reiz der Sünde scheun. – s. u. Fußnote 12. Dir ... entgegen] mein Herz schlägt dir voll Danks entgegen, Vgl. die Strophe im Jauerschen Gb, Nr. 207,3: Mir sollen diese Feierzeiten / nicht unbenutzt vorüber fliehn, / ich will dich an dein Kreuz begleiten, / und wilden Freuden mich entziehn. / Dein Leiden sei mein höchster Segen, / dein Tod mein seligster Gewinn! / Dir walle sanft mein Herz entgegen, / weil ich durch dich gerettet bin! Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 272,1‒5, Mel. Aus meines Herzens Grunde, Autor: Balthasar Münter (1735‒1793). Zur Melodie „Helft mir Gott’s Güte preisen“ vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 67 und A. W. Bach, Nr. 90 sowie das Eingangslied am 4. Sonntag p. T. 1817, s. u. S. 155, Fußnote 3. Doch ... ich] und strauchle auch mich] mich auch
Am Sonntag Invocavit 1817
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So giebt sein Sieg, wenn du Durchs finstre Thal sollst gehen, Und im Gerichte stehen, Auch dir die Kraft dazu:17 Selig sind von nun an alle die Todten die im Herrn sterben! Sie werden von ihrer Arbeit ruhn; ihre Werke folgen ihnen nach.18 Gemeine.19 Ja, wenn ich bis zum Grabe Vollendet meinen Streit, Und gut gekämpfet habe Um meine Seligkeit: Wie werd ich dann mich freun! Wie werd ich voll Entzücken Auf meine Krone blicken, Wie selig werd ich sein. Zwei Stimmen.20 Ja ich will auf Jesum sehn! Sollt ich nicht auf Jesum sehn? Und ihm treu zur Seite stehn. Denn aus seinem Leiden fließet Kraft, die sich ins Herz mir gießet. Ich will an sein Leiden denken, Wenn mich Feind und Sünde kränken, Bis mein Leben sich beschließet! Chor.21 Zwischen Hoffnung, Angst und Beben Schwebte dieses kurze Leben, Ungewissem Ende zu, Süß ist nun des Todes Grauen, Durch die Nacht des Grabes schauen Wir den Schöpfer unsrer Ruh.
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Wie Er ... dazu] Wie du des Todes Schrecken / einst siegreich überwandst, / als du ihn ganz zu schmecken, / Herr, im Gerichte standst: / So stärkst du, wenn einst ich / durchs finstre Thal soll gehen, / und im Gerichte stehen, / durch deinen Sieg auch mich. Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 77f. Strophe identisch mit Jauersches Gb, Nr. 272,4. Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 78f. Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 77f.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Gemeine22 Ich harr indeß23 und streite Bis meine Stund erscheint, Und du stehst mir zur Seite, Mein Retter und mein Freund! Sinkt auch24 im Kampfe mir Mein Arm ermüdet nieder, Das Wort erhebt ihn wieder, „Sei treu, ich bin mit dir.“ [Münter.]
U n t e r d e r P r e d i g t . 25 Mel. Die Seele Christi.26
Anbetend folgen wir dir nach, Von Hohn zu Hohn, von Schmach zu Schmach; Schaun bis27 zu deinem Kreuz hinan, Und fassens nicht, und beten an.
N a c h d e r P r e d i g t . 28 Mel. Herzliebster Jesu.29
Dein Bild soll stets vor meine Blicke treten, Mit dir Herr will ich wachen, will ich beten. Dann werd im Kampf ich niemals unterliegen, Ich werde siegen. 22 23 24 25 26
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Vgl. Jauersches Gb, Nr. 272,5. Ich harr indeß] Drum harr’ ich hier auch] dann Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 216,9. Mel. Nun lasst uns den Leib begraben, Vf. August Hermann Niemeyer (1754‒1828). Zur Melodie „Die Seele Christi heil’ge mich“ vgl. J. Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, 1. Band, Gütersloh 1889 (Reprint 1963), Nr. 636. Die Melodie fehlt bei Kühnau und A. W. Bach. Schaun bis] und schaun. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 218,8, identischer Wortlaut, Incipit: „Bekenner Jesu, werdet nie vermessen“; Vf. Johann Andreas Cramer. In Cramers sämmtlichen Gedichten, Zweiter Theil, Leipzig 1782, Sechstes Buch, Nr. 94, S. 11f. und im Cramerschen Gesangbuch, Altona 1780, lautet die letzte (8.) Strophe: „Laß deinen Geist uns, Herr, vor Gott vertreten; / Er laß uns wachen, helf uns Schwachen beten; / So werden wir im Kampfe nicht erliegen, / Wir werden siegen.“ Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 82 und A. W. Bach, Nr. 108 (109). Die unter Nr. 109 aufgeführte Alternativmelodie fehlt bei J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Gütersloh 1889, Nr. 966‒1032.
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1. Lied- und Musikauswahl und Textredaktion 1.1. Das Lied „Vor dem Gebet“ Für das Eingangslied ist die Quelle angegeben: das Bremer Gesangbuch von 1812. Das Lied „Laß mir die Feier deiner Leiden“ stammt von Christoph Georg Ludwig Meister (1738‒1811) und eröffnet im Bremer Gesangbuch die Passionslieder. Schleiermacher übernimmt die ersten drei Strophen des vierstrophigen Liedes30 auf sein Liedblatt und bearbeitet sie mit Hilfe der Fassung aus dem Jauerschen Gesangbuch. Mit dieser hat Schleiermacher dogmatische Anstöße beseitigt: In 1/231 „mein Heiland hehr und heilig“ statt „O großer Dulder“.32 In 1/8 („für mich noch heiß von Liebe schlug“ statt „auch meiner Sünden Strafe trug“ ‒ Liebe statt Zorn und Strafe.33 stilistische Anstöße beseitigt: 1,5‒8 (doppeltes „für mich“ beseitigt); 2/4 („Dank und Thränen“ statt „Thränendank“); 3/7 (Berichtigung des Bildes „dir walle stets mein Herz entgegen“ statt „dir walle sanft mein Herz entgegen“). das Lied an die gottesdienstliche Situation angepasst: 2/1 („In der Betrachtung heil’gen Stunden“ statt „Ach, in der stillsten meiner Stunden“).
1.2. Lied und Musik „Nach dem Gebet“ Für die Rahmung des musikalischen Komplexes vor der Predigt wählt Schleiermacher das Müntersche Lied „Dich krönte Gott mit Freuden“, wahrscheinlich aus dem Jauerschen Gesangbuch, wo es das vorletzte der Passionslieder ist und unter der Überschrift „Zur Beruhigung“ steht. Doch prägt das Lied weniger eine kontemplative als eine durchaus kämpferische Passionsvorstellung. Das inspirierende Bibelwort für das ganze Lied ist sicherlich, wenn auch bei Jauer anders angegeben34, Apk 2,10: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Als Melodie ist im Jauerschen Gesangbuch „Aus meines Herzens Grunde“ (6/4-Takt) vorgesehen, auf dem Liedblatt dagegen die gemessenere „Helft mir Gotts Güte preisen“.35 Von den sechs Strophen erscheinen nur die ersten fünf auf dem Liedblatt, wohl weil sich die letzte 30 31 32 33 34 35
Der historische Bezug (Gethsemane und Golgotha) und die manirierte Anrede („ihr Stätten“ u. ä.) könnten die Auslassung der letzten Strophe veranlasst haben. Strophe 1, Verszeile 2. Diese Änderung ist original Schleiermacher. Zu seinem Passionsverständnis als Tätigsein, vgl. auch I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 159f. Zu Schleiermachers Problem mit der Satisfaktionslehre, vgl. I. Seibt, ebd., S. 164. Im Jauerschen Gb ist Hebr 10,12‒23 als biblischer Bezugstext angegeben. Letztere Melodie begegnet 31mal auf den bisher bekannten Liederblättern, die erste nur viermal.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Strophe durch eine sehr traditionelle, Schleiermacher fremde Jenseitserwartung auszeichnet („daß bald ein beßres Leben / mein ewig Erbtheil sei“). Die ersten beiden Strophen sind fast unverändert übernommen. Als interessant erweisen sich die Abweichungen in der vom Chor gesungenen dritten Strophe, wo die Person vollständig umgestellt wird. Von Christus ist nun in der dritten Person die Rede, während der Gläubige mit „Du“ angesprochen wird. Hier zeigt sich, dass der Chor in Schleiermachers Verständnis eine eigene liturgische Rolle spielt und der Gemeinde gegenübertritt.36 Die Auslassung des Temporaladverbs „einst“ öffnet die zweite Strophenhälfte für eine immanente Deutung, im Sinne von: ‚Immer, wenn du durch finstere Täler gehen musst und im Gericht stehst.’ Zwischen den Choralstrophen stehen verschiedene andere Texte, die eine Figuralmusik anzeigen. Wie meist, so sind wir auch bei der Identifizierung dieser Kirchenmusik auf Vermutungen angewiesen. Da die Liederblätter Autor und Herkunft der Figuralstücke nicht nennen und wir keine Sekundärquellen haben, kann nur hypothetisch argumentiert werden. Dabei verfahre ich – hier wie sonst – methodisch folgendermaßen: Wenn mehrere Stücke eines Liedblatts wesentliche Textübereinstimmungen mit Sätzen eines Werkes der Musikliteratur aufweisen, gehe ich bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass die Stücke diesem Opus entstammen (Kohärenzkriterium). Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Hypothese erhöht sich noch, wenn die Besetzungsangaben übereinstimmen und nachweisbar ist, dass das entsprechende Werk auch in Berlin rezipiert wurde. Dagegen ist eine buchstäbliche Übereinstimmung der Texte zur Begründung einer Hypothese nicht erforderlich, weil auch die Musiktexte gegen sekundäre Eingriffe nicht geschützt waren.37 Dass die einzelnen Sätze einer Kirchenmusik häufig nach dem Pasticcioprinzip zusammengesetzt sind, relativiert das Kohärenzkriterium zwar, hebt es aber nicht auf38, so dass das Auftauchen opusfremder Stücke innerhalb einer Kirchenmusik nicht gegen die hypothetische Zuordnung spricht, weil die Kirchenmusiken jeweils aktuell nach theologischen und personellen, sprich: Besetzungs-Kriterien „eingerichtet“ wurden. Diese „Einrichtung“, d. h. dieses Zusammensetzen (Kom-ponieren), nahm Kantor Rex selbst vor.39 Solche Praxis 36
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In seiner Schrift „Ueber die neue Liturgie“ (1816) bezeichnet Schleiermacher den Chor „auf der einen Seite“ als „musikalische[n] Ausschuß der Gemeinde“, „auf der andern bildet er eine repräsentative Masse, an die sich der Liturgus wendet, welche die untern Stufen des Kirchendienstes, und die Verbindung der Schule mit der Kirche versinnlicht. So ist er seiner Natur nach im Wechsel entweder mit dem Liturgus oder mit der Gemeine.“ KGA I/9 (2000), S. 97. Vgl. etwa die exemplarische Textänderung im Messias-Duett Nr. 17 am 2. Weihnachtstag 1823, LB L 184, in: B. Schmidt, Lied, S. 368. Zur Methode der Verifizierung der Kirchenmusiken vgl. ebd., S. 128‒133. Zum Pasticcioprinzip vgl. B. Schmidt, Lied, S. 136‒140. Rex spricht von „Einrichtung und Leitung kirchlicher Musikaufführungen“, vgl. Rex, Promemoria vom 14.12.1817, Bl. 8v, abgedruckt bei B. Schmidt, Lied, S. 502.
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war damals en vogue und ist z. B. durch das Graunsche Passionspasticcio als prominentes Beispiel exemplarisch belegt.40 Dass Kantor Rex selbst Texte vertont hat, kann zwar nicht ausgeschlossen, bisher aber auch nicht nachgewiesen werden. Zur Musik am Sonntag Invocavit 1817: Zunächst das Prosastück auf Apk 14,13 „Selig sind von nun an alle die Todten die im Herrn sterben! Sie werden von ihrer Arbeit ruhn; ihre Werke folgen ihnen nach.“ Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um einen Chor aus dem Oratorium „Der sterbende Jesus“ (1785) des mecklenburgischen Hofkapellmeisters Franz Anton Rösler, alias Rosetti (1750–1792). Der Text stammt von Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel (1758–1813). Zwar ist der zugrundeliegende Bibeltext häufig vertont worden.41 Prominente Vertonungen dieses Textes stammen beispielsweise von C. F. Fasch42, C. Graupner43, J. G. Naumann44, J. H. Rolle45, G. Ph. Telemann46J. G. Vierling47 oder von G. A. Homilius.48 Doch gibt es gegenüber diesen Werken signifikante textliche und formale Abweichungen. Dagegen ist die Herkunft aus dem Rosetti-Oratorium auch dadurch wahrscheinlich, dass der zweite Chor unseres Liedblattes „Zwischen Hofnung, Angst und Beben“ ebenfalls dort auftaucht. Außerdem besitzt die Berliner Staatsbibliothek einen Druck und zwei Handschriften des besagten Werkes49, was für eine Berliner Rezeption spricht. 40 41 42
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Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 139f. Vgl. RISM, Musikhandschriften nach 1600. 13. kumulierte Auflage. Karl Christian Friedrich Fasch, Sämmtliche Werke, hrsg. von der Singakademie in Berlin, Berlin o. J., Dritte Lieferung, S. 16f. Nr. III: Trauer-Motette (SBB: N.Mus. 13001‒3). Das Werk für vierstimmigen Chor a capella hat den von Lb L 4 abweichenden Text „Seelig sind die Todten, die in dem Herrn sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach“. Christoph Graupner (1683‒1760), Kantate „Seelig sind die Todten, die in dem Herrn sterben“, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (Mus.ms 439/13). Johann Gottlied Naumann, Kantate von 1783 „Zeit und Ewigkeit“ (Text von Heinrich Julius Tode), darin der Chor „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“. Eine Handschrift befindet sich in der Landesbibliothek Schwerin (Mus. 3974). Johann Heinrich Rolle (1716‒1785), Trauerkantate „Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben“. (SBB: Mus.ms. 18732). Vgl. die Telemann-Vertonungen TVWV 1.784; 1.1302; 4.1; 1.1298; 1.1299; 1.1300; 8.13-A; Vgl. die Signaturen der SBB bei RISM. Johann Gottfried Vierling (1750‒1813), vgl. die „Leichen-Motette“ Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“, SBB: Mus.ms.22350. Vgl. Gottfried August Homilius (1714–1785), Dreißig vierstimmige Motetten von Homilius, SBB: Am.B. 298. Darunter auch die 4-stimmige Motette mit abweichendem Text: „Selig, selig, selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben, ja der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach“. Vgl. auch SBB: Mus.ms. 10808/1; Mus.ms. 10807 und 10807/1. Vgl. den undatierten Druck Wien o. J., (SBB: D.MS O.56636), hier Nr. 15 (Chorus, S. 85‒91, Tarde) – Vgl. auch die Handschriften SBB:, Mus.ms.18912 und 18912/1. Andere Abschriften des weit verbreiteten Werkes befinden sich in Herrnhut (Mus.B 146:1; Mus.E 2:22; Mus.L 148:1; Mus.M 120:1; Mus.E 60:1; Mus.K 206:2; Mus.K 100:10), im Pfarrarchiv Olbernhau (Mus.arch.R 6:1 und Mus.R 3:2), im Musikarchiv St. Georgen Glauchau (Mus.R. 3:1), im Kantoreiarchiv Waldenburg (WAB – Nr. 47), in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Zu Rosettis Satz „Selig sind von nun an“: Nr. 15, Tarde, C-Dur, 2/2-Takt, für Flöte, 2 Oboen, 2 Hörner, Fagott, Violinen, Viola und Fond (Generalbass). Der Text wird choralartig deklamiert und ist überwiegend homophon gesetzt, wobei die Instrumente (Geigen und Bass) die Melodie mit Sextolen umspielen und während eines sechstaktigen Nachspiels, das im ff beginnt und im pp verklingt, das Nachfolgen der Werke tonmalerisch abbilden. Der Orchesterpart wurde in der Dreifaltigkeitskirche natürlich von der Orgel übernommen.50 Der mit Larghetto überschriebene Choral „Zwischen Hoffnung, Angst und Beben“ (Nr. 21) steht in B-Dur, 2/2-Takt, ist auch überwiegend homophon (Note gegen Note) gesetzt und schreitet in feierlichen halben Noten voran. Die Partitur sieht nur eine Bläserbegleitung vor. Zwischen den beiden Rosetti-Chören steht, stilistisch nicht unpassend, das Duett „Sollt ich nicht auf Jesum sehn?“ – sehr wahrscheinlich aus der Passionskantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ des Berliner Hofkapellmeisters Carl Heinrich Graun (1704–1759).51 Diese um 1730 in Braunschweig entstandene Kantate52, wurde wegen des berühmteren Werkes „Der Tod Jesu“ (1755) auch „Kleine Passion“ genannt. Obwohl sie nicht die Popularität des Passionsoratoriums „Der Tod Jesu“ erreichte, das bis ins späte 19. Jahrhundert die „offizielle“ Berliner Karfreitagsmusik blieb, galt Graun eben durch den „Tod Jesu“ in Berlin als Meister der Kirchenmusik und geriet nie in Vergessenheit.53 Natürlich gehörte auch die „Kleine Passion“ zum Handschriftenbestand der Berliner Singakademie.54 Die Popularität des Werkes wird auch dadurch bestätigt, daß es als Grundgerüst des erwähnten Passions-Pasticcios „Wer ist der, so von Edom kömmt“ diente.55 Dass das Werk nie ganz gedruckt und darum auch selten aufgeführt wurde, hing offenbar damit zusammen, dass man
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(M B/2464) sowie in der Universitätsbibliothek Breslau (WRu 60642) ‒ Zum Text vgl. das Libretto der Breslauer Aufführung von 1789 aus der Sammlung Poelchau, SBB: Mus T 95, Nr. 13. – Vgl. The Music of Antonio Rosetti (Anton Rösler) ca. 1750‒1792, A Thematic Catalog by Sterling E. Murray, Michigan 1996, zum Oratorium „Der sterbende Jesus“, S. 463‒476. In einem Schreiben an das Konsistorium vom 30.11.1827 berichtet Schleiermacher: „Es ist in der Dreifaltigkeitskirche keine andere Instrumentalmusik üblich als bisweilen zumal wenn ein Te Deum gesungen wird Begleitung von Posaunen. Wenn an hohen Festen oder bei anderen besonderen Veranlassungen Gesangstücke vom Chor vorgetragen werden: so geschieht solches nur mit Begleitung der Orgel.“ Dreifaltigkeitsarchiv VII/2, Bl. 25, B. Schmidt, Lied, S. 517. – Lilly Parthey bestätigt diese Musizierpraxis auch aus anderen Kirchen. Die Verwendung von Instrumenten (außer der Orgel), etwa im Te Deum anläßlich der Wahl der Stadtverordneten am 17.11.1822, wird eigens erwähnt, L. Parthey, Tagebücher, S. 253. Vgl. C. H. Graun, Passionskantate „Ein Lämmlein geht” (GSV 40:18). Vgl. John Whitfield Grubbs, The sacred vocal music of the Graun brothers: a biographical study, Los Angeles 1972, S. 770‒794, zu „Sollt ich nicht”, ebd., S. 781. Eine Photokopie der Monographie von Grubbs befindet sich in der SBB: Mus LS Tgr 1350. Immerhin bezeichnet Grubbs Grauns „Kleine Passion“ neben dem „Tod Jesu“ als „his most popular and well-known sacred vocal work.“ J. W. Grubbs, The sacred vocal music of the Graun brothers, S. 770. SBB: SA 62. Vgl. auch die verschiedenen Manuskripte in der Berliner Staatsbibliothek: SBB: Mus.ms. 8155 und Mus.ms 8156 und 8156/1 und Amalienbibliothek Am.B. 172 und Am.B. 173. Vgl. J. W. Grubbs, The sacred vocal music (1972), S. 795‒846 und Ch. Henzel, GraunWerkverzeichnis, Band I (2006), S. 514‒524.
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zunehmend Anstoß an den z. T. „unedlen“ naturalistischen Texten nahm.56 Auf dem Liedblatt liegt bereits eine „veredelte“ Fassung vor57, die die Leidenssuggestion abschwächt und „Tod und Teufel“ in „Feind und Sünde“ umschreibt. Die Autorschaft des Textes ist ungeklärt. Auch auf wen die hiesige Textredaktion zurückgeht, ist unbekannt. Eine Textskizze des Kantors Rex zu Invocavit 1826, die einen identischen Wortlaut andeutet, könnte auf seine Autorschaft schließen lassen.58 Bei dem Stück „Sollt ich nicht auf Jesum sehn?“ handelt es sich um ein Duett für Sopran und Alt mit Da capo im wiegenden Siziliano-Rhythmus (Largo 6/8 Takt). Das Instrumentarium im Original besteht aus einer Oboe, zwei Violinen und Basso continuo.59
1.3. Die Strophe „Unter der Predigt“ Der Kanzelvers stammt aus dem Lied „Auch unsre Seel ermuntre sich“ von August Hermann Niemeyer (1754‒1828). Im Jauerschen Gesangbuch, Nr. 216 ist es die neunte und letzte Strophe. Das Lied steht im mutmaßlichen Quellengesangbuch in der Unterrubrik „Jesus am Oelberge“ und ist mit der Melodie „Nun laßt uns den Leib etc.“ verzeichnet, die allerdings bei den Kanzelversen der Liederblätter nie begegnet. Stattdessen finden wir bei diesem Versmaß oft die Weise „Die Seele Christi heilge mich“, so auch hier.60 Das Motiv der Anbetung, das die Strophe klammert, sowie das Motiv der Kreuzesschau machen die Strophe für diesen liturgischen Platz geeignet. Die unglückliche Änderung in der dritten Verszeile („schaun bis“) ist wohl aus stilistischen Gründen erfolgt, weil Schleiermacher das dreifache „und“ umgehen wollte.
1.4. Die Strophe „Nach der Predigt“ Die Schluss-Strophe „Dein Bild soll stets“ aus dem Lied „Bekenner Jesu, werdet nie vermessen“ von Johann Andreas Cramer findet sich auf der Nachbarseite unter der Nr. 218 des Jauerschen Gesangbuchs, unter der Überschrift „Der Jünger Schwachheit“. Schleiermacher hat diese Strophe in Wort und Weise 56 57
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Vgl. etwa das Vorwort zum Textbuch der Breslauer Aufführung von 1832 (SBB: Mus Tg 881/1). In den Abschriften (Am. B. Mus. Ms. 8156 und 8156/1) steht folgender Wortlaut: „Sollt ich nicht auf Jesum sehn / Ja, ich will auf Jesum sehn / und ihm treu zur Seiten stehn, /da sein Blut vom Haupte fließet, / und sich auf mein Herz ergießet. / Ich will an sein Antlitz denken, / ich will an sein Leiden denken, / wenn mich Tod und Teufel kränken, / wenn mein Leben sich beschließet.“ Vgl. auch das Textbuch einer Potsdamer Aufführung von 1768, das einen mit den o. g. Handschriften identischen Text bezeugt. SBB: Mus Tg 881/3. Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 416f. GSV 40:18, vgl. das Thema bei J. W. Grubbs, The sacred vocal music, S. 781. Von 12 Belegen auf den Liederblättern begegnet sie neunmal „Unter der Predigt“.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
unverändert auf das Liedblatt übernommen. Die Strophe greift die Gethsemane-Szene (vgl. Mk 14,38 par.) auf und mahnt zu Wachsamkeit und Gebet sowie zum Kampf gegen die Versuchung.
2. Der Gottesdienst als Ganzes Der Gottesdienst am Sonntag Invocavit 1817, von dem wir leider keine Predigt haben,61 ist durch eine figurale Kirchenmusik ausgezeichnet. Schleiermacher hob den Beginn der Passionszeit gern durch diese Art der festlichen Gestaltung hervor.62 Die Feierlichkeit dieses Sonntags wird sogleich bestätigt durch das Eingangslied „Laß mir die F e i e r deiner Leiden“, das Schleiermacher jeweils nur am ersten Sonntag in der Passionszeit, den er zu halten hatte, also entweder Invocavit oder Reminiscere, singen ließ. Textlich sind die Lieder dieses Liedblattes – allesamt neuere Lieder – geprägt von der stillen und feierlichen Betrachtung des Leidens Christi einerseits und der kämpferischen Bereitschaft zur Nachfolge andererseits. Entsprechend häufen sich hier die Ausdrücke des Sehens: „Betrachtung“, „sehen“, „schauen“, „dein Bild soll stets vor meine Blicke treten“ und des Kampfes: „Streit“, „streiten“, „Kampf“, „kämpfen“, „siegen“. Implizites theologisches Thema der „Kantate“ vor der Predigt sind Sieg und Lohn der Treue gemäß Apk 2,10. Hier entwickeln Prediger und Kirchenmusiker einen lebendigen Dialog zwischen Chor und Gemeinde, wobei die Rollen so verteilt sind, dass der Chor der Gemeinde gegenübertretend gleichsam in die Rolle des Evangelisten schlüpft, während die Gemeinde den Part des gläubigen Ich übernimmt, das sich vertrauensvoll an Jesus wendet, siehe Liedstrophen 1,2,4,5.63 Zu diesem Zweck hat Schleiermacher die dritte Strophe pronominal umgestellt und dabei zugleich seine präsentische Eschatologie eingetragen. Die Redaktion dieses Liedes ist auch ein schönes Beispiel für die kontextuelle Anpassung von Liedtexten. Die einzelnen Kantatensätze sind wohl überwiegend nach einem einfachen Stichwort- oder Assoziationsprinzip aneinandergereiht: „Wie er des Todes Schrecken“ – „Selig sind von nun an alle die Todten“. „Selig sind von nun alle“ 61
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Man vergleiche aber den Hinweis auf Schleiermachers Hauptpredigt im Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 920. Dass die Kirchenmusik wirklich stattgefunden hat, bezeugt auch Rex in seiner Eingabe vom 18.12.1817: „im Jahre 1817. waren am Neujahrstage und am ersten Fastensonntage bei der reformierten Predigt Musikaufführungen.“ Promemoria des Musikdirektors C. F. Rex vom 14.12.1817, gerichtet an das Kirchenvorstands-Collegium der Dreifaltigkeitskirche, abgedruckt bei B. Schmidt, Lied, S. 502‒506, Zitat (Bl. 10v) auf S. 504f. Vgl. auch die Liederblätter zu Invocavit 1820, 1824, 1826. In seinem Glückwünschungsschreiben (1814), KGA I/9, S. 51‒78, klagt Schleiermacher: „In dieser Hinsicht scheint mir unserm sonntäglichen Hauptgottesdienst vorzüglich dieses zu fehlen, daß er nicht dialogisch genug ist.“ (S. 71f.) Und er fordert einen „selbstständigeren und bedeutenderen Antheil der Tonkunst“ (S. 72).
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– „Ja, wenn ich bis zum Grabe […] um meine Seligkeit“. „Wie werd ich voll Entzücken auf meine Krone blicken“ – „Ja ich will auf Jesum sehn!“ Während der Chorsatz „Zwischen Hoffnung, Angst und Beben“ aus diesem Rahmen herausfällt, indem er sachlich auf die Chorstrophe „Wie er des Todes Schrecken“ und auf den Chorsatz „Selig sind von nun an“ zurückgreift (Motiv der Totenruhe) und auch im Numerus abweicht (schauen wir den Schöpfer), knüpft die letzte Gemeindestrophe „Ich harr indeß und streite“ wieder stichwortartig an das Graun-Duett an: „und ihm treu zur Seite stehn.“ – „Und du stehst mir zur Seite“. Zwar erschwerte und störte der Einbau opusverschiedener Figuralstücke, den Schleiermacher wahrscheinlich dem Kantor überließ, mitunter die einheitliche theologische Gestaltung. Dennoch ist diese erkennbar und z. B. durch eine durchgehende Spiritualisierung der Leidensschau ausgezeichnet.
Am Sonntag Oculi 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Herzliebster Jesu.3
Herr stärke mich dein Leiden zu bedenken Mich in das Meer der Liebe zu versenken, Die dich bewog von aller Schuld des Bösen Uns zu erlösen! Vereint mit Gott ein Mensch gleich uns auf Erden Und bis zum Tod am Kreuz gehorsam werden; An unsrer Statt gemartert und zerschlagen Die Sünde tragen: Welch wundervoll hochheiliges Geschäfte! Sinn ich ihm nach, so zagen meine Kräfte, Mein Herz erbebt, ich sehe und empfinde Den Fluch der Sünde. Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen, Gott ist die Lieb’ und läßt die Welt erlösen, Dies kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken Am Kreuz erblicken. Es schlägt den Stolz und allen Dünkel nieder4, Es beugt mich tief, und es erhebt mich wieder; Lehrt mich mein Heil5, macht mich aus Gottes Feinde Zu Gottes Freunde. O Herr mein Heil, an dessen Kreuz6 ich glaube, Ich liege hier vor dir gebeugt im Staube, Verliere mich mit dankendem Gemüthe In deiner Güte. 1 2
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9.3.1817. – Vorläufige Liedblattsignaturen L 5; H 55. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 152,1‒6.9/15. Die letzte Liedblattstrophe ist aus je zwei Verszeilen der Strophen 9 und 15 zusammengesetzt. Im Jauerschen Gb, Nr. 206 (9 Strophen) fehlt die letzte Strophe ganz, daher wahrscheinlich das Bremer Gb, in dem das 22strophige Gellertlied mit 21 Strophen verzeichnet ist. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 82 und A. W. Bach, Nr. 108 (109). Die unter Nr. 109 aufgeführte Alternativmelodie fehlt bei J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Gütersloh 1889, Nr. 966‒1032. allen Dünkel nieder] mein Verdienst darnieder Heil] Glück Kreuz] Blut
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Laß deinen Geist mich stets mein Heiland lehren Dein großes Opfer gläubig zu verehren,7 Er gebe mir die Kraft in deinem Namen Dich nachzuahmen.8 [Gellert.]
Nach dem Gebet.9 Mel. Jesu der du meine Seele.10
Jesu Christe, dessen Wunden Heil und Leben uns gebracht, Ach wie hart wirst du gebunden, Du Verbrechern gleich gemacht! Deiner Feinde ganze Tücke Kennst du, und weichst nicht zurücke, Giebst mit sanftem stillen Sinn Dich in ihre Bande hin. Aller Engel Legionen,11 Die um deines Vaters Thron Seines Winks zu warten wohnen, Stehn bereit, o Menschensohn. Nur ein Wink, du bist befreiet Und der Feinde Heer zerstreuet, Doch wie viel ihr Grimm verbricht, Du winkst deinen Engeln nicht. Du bist selber reich an Stärke, Die auch hier sich nicht verlor, Doch in diesem hohen Werke12 Geht Geduld der Allmacht vor. Sprächst du nur, gleich Simsons Schlingen Würden deine Bande springen, Und der Feinde große Zahl Stürzte deiner Gottheit Strahl.
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Laß ... verehren] Verszeilen 1‒2 aus Strophe 9 Er ... nachzuahmen] Und Gott giebt uns die Kraft, in deinem Namen / dir nachzuahmen. Verszeilen 3‒4 aus Strophe 15. Q: Jauersches Gb, Nr. 224,1‒5.8; Mel. Jesu meines Lebens Leben; Vf. Johann Adolf Schlegel (1721‒93). Zum Problem der Melodie „Jesu der du meine Seele“ s. o. S. 56, Fußnote 3. Aller Engel Legionen,] Mehr, als zwölf der Legionen, Doch ... Werke] Aber, Herr, in diesem Werke
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Doch sie beben, und zur Erden Stürzen sie durch dein, I c h b i n s 13, Daß sie selber Zeugen werden Deines hohen Heldensinns. Niemand nimmt von dir dein Leben, Du willst selbst für uns es geben, Du nicht Schmach noch Marter scheun, Für dein Reich14 uns zu befrein. Treuer Bürg, um unsretwillen Streckst du deine Hände dar; Gottes Rathschluß zu erfüllen Schonest du der frechen Schaar; Wehrst dem Schwerdte deines Freundes, Heilst die Wunde deines Feindes, Nimmst die Bande willig an, Die dein Arm verweigern kann. Soll ich einst den Ruhm erlangen, Daß ich deines Geistes voll In Bekennerfesseln prangen Deinetwegen leiden soll; Gieb dann mir in Pein und Schanden Reichen Trost aus deinen Banden, Daß gleich dir ich sie nicht scheu, Ich gleich dir gelassen sei. [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 15 Mel. In eigner Melodie.16
O Lamm Gottes unschuldig Trugst du die harte Verhöhnung17 Und immer gleich18 geduldig Zu meiner Sünden Versöhnung! Dein Bild soll mich beleben Zu dulden, zu vergeben, Wie du zu lieben, mein Jesus. 13 14 15 16 17 18
Gesperrt gedruckt auf dem Liedblatt und bei Jauer. Für dein Reich] aus der Höll’ Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 168,2. Vf. Heinrich Julius Tode (1733‒1797). Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. die Choralbücher von Kühnau; Nr. 135 und A. W. Bach, Nr. 191. Auf dem Liedblatt steht hier „Versöhnung“, wohl ein Abschreib- oder Druckfehler! gleich] so
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N a c h d e r P r e d i g t . 19 Mel. Freu dich sehr.20
Unsern Jüngerbund erneuern Hilf uns, Geist der Heiligkeit! Salb uns, also recht zu feiern Jesu Christi Leidenszeit! Aller treuen Brüder Herz Fülle mit der Wehmuth Schmerz, Und von deinem Strahl getroffen Sei es seinem Frieden offen.
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 208,2: „Salb’ uns alle, lehr’ uns feiern / Jesu Christi Leidenszeit; / unsern Bund mit Gott erneuern / lehr’ uns Geist der Heiligkeit! / Fülle unser ganzes Herz / mit der Wehmuth süßem Schmerz, / und von deinem Stral getroffen / sei es frommer Rührung offen.“ Vf. des Liedes „Senke dich auf uns hernieder“ ist C. F. D. Schubart. – Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte. Herausgegeben von seinem Sohne Ludwig Schubart, Frankfurt a. M. 1802, S. 70 (Passions-Lied um Salbung. 1779. Mit dem Incipit: „Fall auf die Gemeinde nieder, / Geist! der uns mit Feuer tauft; / Alle sind wir Jesus Glieder, / All’ mit seinem Blut erkauft: / Füll uns mit der Andacht Glut, / Laß der Leidenschaften Flut / Nicht des Herzens Ruhe stören; / Denn wir singen Gott zu Ehren.“ 2. Strophe: „Salb uns alle, lehr uns feyern / Jesu Christi Leidenszeit, / Unsern Bund mit Gott erneuern, / Lehr uns, Geist der Heiligkeit; / Rein und keusch sey unser Herz, / Nicht von Eis und nicht von Erz; / Und von deinem Stral getroffen, / Jeder frommen Rührung offen.“ Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 56 und A. W. Bach, Nr. 75.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Entsprechend dem Proprium und dem Namen des Sonntags (Oculi mei) ist das Anfangslied auf die gläubige Betrachtung der Leiden Christi gerichtet. Gellerts Lied steht in der Tradition der reflektierenden mittelalterlichen Passionsbetrachtung.21 Schleiermacher wählt wohl aus der 21strophigen Fassung des Bremer Gesangbuchs (bei Gellert 22 Strophen) die ersten 6 soteriologischen Strophen aus und übergeht die paränetischen. In den zwei letzten Liedblattstrophen wird der Gebetsduktus aus der Kopfstrophe wieder aufgenommen, wobei sich der Beter an Christus wendet. So werden die moralischen Forderungen Gellerts in die Bitte an Christus transformiert, durch den Heiligen Geist die Kraft zur Nachfolge zu verleihen. Die wenigen Retouchen intendieren theologische Korrektur und Verkirchlichung („Heil“ statt „Glück“ 5/3) und Spiritualisierung („Kreuz“ statt „Blut“ 6/1). Unklar ist mir die Ursache für den Eingriff in 5/1, wo Schleiermacher das Rechtfertigungsmotiv („und mein Verdienst“) eliminiert und das Demütigungsmotiv („Es schlägt den Stolz“) durch „allen Dünkel“ verstärkt. Als Gesang vor der Predigt bringt Schleiermacher ein Lied von Johann Adolf Schlegel (1721‒1793) in der achtstrophigen Fassung des Jauerschen Gesangbuchs, von denen er sechs Strophen übernimmt. Die ersten fünf Strophen paraphrasieren die Gefangennahme Jesu nach Joh 18,3–12 und Mt 27,51–54. Ausgelassen sind die Strophen, die die Bande Christi besingen (Strophe 6), und die die Sündensklaverei und Weltverführung des Versuchers beklagen (Strophe 7). Dagegen ist die Finalstrophe, die um Mut und Gelassenheit in „Bekennerfesseln“ bittet, aufgenommen. Textänderungen sind nur sparsam vorgenommen. Am Beginn der zweiten Strophe ist die hyperbolische hebräische Wendung „mehr als zwölf der Legionen“, was soviel bedeutet wie „mehr als alle“ korrigiert zu „Aller Engel Legionen“. In 4/8 hat Schleiermacher erwartungsgemäß die Hölle eliminiert. Außerdem hat er die seiner Gemeinde offenbar weniger bekannte Melodie „Jesu meines Lebens Leben“ durch „Jesu der du meine Seele“ ersetzt.22 Als „Kanzelvers“ wählt Schleiermacher aus der Umdichtung des alten Decius’schen Liedes von H. J. Tode im Bremer Gesangbuch die mittlere Strophe aus, die – passend an dieser Stelle – das Bild Christi vor Augen stellt und wie schon die vorangegangenen Lieder zur Nachfolge Jesu im Dulden, Vergeben und Lieben aufruft. Mit der kleinen Abweichung in der dritten Verszeile soll wohl die Geduld Christi in die Gegenwart prolongiert werden. Die Schluss-Strophe stammt wahrscheinlich aus dem Lied „Senke dich auf uns hernieder“ von Christian Friedrich Daniel Schubart, das im Bremer Gesangbuch fehlt. Falls er die Strophe dem Jauerschen Gesangbuch (Nr. 208) entnommen hat, ist fraglich, warum Schleiermacher die ersten drei Verspaare 21 22
Vgl. Siegfried Fornaçon, in Handbuch zum EKG, Liederkunde 1. Teil, Göttingen 1970, S. 311. Gegenüber der Weise „Jesu meines Lebens Leben“, die nur 3mal auf den bisher bekannten Liederblättern begegnet, begegnet „Jesu der du meine Seele“ 33mal.
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umgestellt hat. Die Verständlichkeit des Textes hat dadurch nicht gewonnen. Freilich wird der sakramentale („Salb uns alle“) und der pädagogische Duktus der Schubartstrophe (zweimaliges „lehr uns“) abgeschwächt und die Gemeinschaft der Christen untereinander beschworen („Unsern Jüngerbund“, „Aller treuen Brüder Herz“). Am Schluss der Strophe (und des Gottesdienstes) wird die Bitte um fromme Rührung des Herzens durch die Bitte um den Frieden Jesu Christi für die Herzen der Brüder (vgl. Phil 4,7) ersetzt.
2. Das Ganze Leider ist uns für diesen Sonntag keine Predigt überliefert. Das Liedblatt weist durchgehend Lieder bedeutender Aufklärungsdichter auf, die Schleiermacher wahrscheinlich alle den von ihm am häufigsten benutzten Gesangbüchern aus Jauer und Bremen entnommen hat. Drei thematische Schwerpunkte fallen auf, die hier allerdings mehr durch die Lied- und Strophenauswahl als durch Eingriffe in die Liedtexte zustande kommen: Zunächst die Betrachtung der Leiden Christi, die schon der Name des Sonntags „Oculi“ nahelegt, und zu der das Eingangslied explizit aufruft. Dazu bringt die Liedstrophe „Unter der Predigt“ die Hoffnung auf Belebung durch das Bild Christi zum Ausdruck. Ein zweiter Akzent ist die Leidensnachfolge, die auch in der Sonntagsepistel Eph 5,1-9 (Mimesis) angedeutet ist, und die in den ersten drei Liedern jeweils am Schluss explizit erinnert bzw. erbeten wird. Schließlich fällt die Präsenz des Heiligen Geistes als des Geistes Jesu Christi, besonders in den Liedern vor und nach der Predigt, auf. Von den Früchten des Geistes und vom Geist Jesu Christi handeln auch die Lesungen dieses Sonntags, obwohl wir nicht wissen, ob sich Schleiermacher damals an die agendarisch vorgeschriebenen Lektionen hielt.23
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Zum Problem der Lesung in Schleiermachers Gottesdiensttheorie und -praxis, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 350 (Exkurs III: Zu Schleiermachers agendarischer Praxis).
Am Sonntag Judica 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Nun ruhen alle Wälder.3
Ach welche Schmach und Plagen Muß mein Erlöser tragen,4 Der nie ein Sünder war! Ihn stellen Missethäter Als einen Uebertreter Den ungerechten Richtern dar.5 Da steht er im Gerichte, Auf seinem Angesichte Strahlt Ruh und hoher Muth; Er achtet nicht der Bande, Und groß in Schmerz und Schande Erduldet er der Frevler Wuth.6 Treu bleibt er seiner Wahrheit, Und seiner Unschuld Klarheit Versüßt ihm Spott und Hohn. Er schweigt bei schnöden Fragen, Doch darf er laut es sagen: Ich bin der König, Gottes Sohn.7 Ihr unsers Hauptes Glieder, Ihr Christen fallet nieder, Und betet Jesum an. Er ist troz frechen8 Spottes
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23.3.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 6; H 63. Mögliche Quellen: Bremer Gb, Nr. 159 und Jauersches Gb, Nr. 225. Vgl. zur Textabhängigkeit auch die Synopse, s. u. S. 92f. Vf. Christoph Christian Sturm. Vgl. die vereinfachte isochrone Melodieform bei Kühnau, Nr. 128 und A. W. Bach, Nr. 179. Ach ... tragen] wörtlich übereinstimmend mit Bremer Gb, Nr. 159,1, Verse 1‒2. Der ... dar] wörtlich übereinstimmend mit Jauersches Gb, Nr. 225,1, Verse 3‒6. Strophe 2 wörtlich übereinstimmend mit Jauersches Gb, Nr. 225,2. Treu ... Sohn] Bremer Gb, Nr. 159,3: Treu bleibt er seiner Lehre, / und seiner Unschuld Ehre / versüßt ihm Schmach und Hohn. / Er schweigt bey schnöden Fragen; / doch darf er laut es sagen: / Ich bin des Hochgelobten Sohn!“ frechen] Jauersches Gb, Nr. 225,4: alles
Am Sonntag Judica 1817.
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Der Sohn des ewgen Gottes, Ihn betet einst der Weltkreis an.9 Jauchzt, ihr Gerechte, schauet, Der Herr, dem ihr vertrauet, Kommt einst,10 mit ihm sein Lohn! Wenn dann die Sünder zagen, Dann könnt ihr fröhlich sagen, Gelobet seist du Gottes Sohn.11 [Sturm.]
N a c h d e m G e b e t . 12 Mel. Zion klagt.13
Menschenfurcht und Furcht vor Sünden Stimmen miteinander nicht; Wo sich jene pflegt zu finden Da verlezet man die Pflicht, Bei dem Wahn, es streu die That Dornen hin auf unsern Pfad, Und das Unrecht nur gewähre Sichern Weg und Menschenehre. Lieber Unrecht thun als leiden Brachte Jesu Gottes Sohn Bei der Hohenpriester Neiden Geissel Schmach und Kreuz zum Lohn. Schau was ein Pilatus kann! In ihm siehest du den Mann, Der bei hoher Erdenwürde Trug der Menschenknechtschaft Bürde. Gerne hätt’ er losgegeben Ihn, deß Unschuld er erklärt, Hätte nicht das Widerstreben Frecher Mordlust es verwehrt. All sein Kommen und sein Gehn All sein Halbthun läßt dich sehn, Daß er wollte Recht bewahren Doch ohn’ eigene Gefahren. 9 10 11 12 13
Strophe 4 entspricht Jauersches Gb, Nr. 225,4. Kommt einst] Jauersches Gb, Nr. 225,7: erscheint Strophe 7 entspricht Jauersches Gb, Nr. 225,7. Q: Bremer Gb, Nr. 160; Melodie: Werde munter mein Gemüthe; Vf. Henr. Meier. Im Wortlaut identisch. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 58 und A. W. Bach, Nr. 253.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Läßt du los der Juden König Bist du nicht des Kaisers Freund, Dies bewegt ihn, Unschuld wenig, Wie so hell sie ihm auch scheint, Seine Hände waschend gab Er das Todesurtheil ab, Um des innern Richters Rügen Selbst sich täuschend zu besiegen. Lieber alles Unrecht leiden Als das kleinste Unrecht thun, Nur alsdann kannst du mit Freuden In des Heilgen Fügung ruhn. Jener feile Sklavensinn Täuschet dich nur mit Gewinn, Denn du trägst im höchsten Stande Doch der Selbstverachtung Schande. Alle Gottesmenschen rangen Gott zu fürchten mehr als Welt, Sie der Wahrheit Zeugen drangen Jedem Leiden dargestellt Durch des Erdenlebens Nacht Hin, wo die Vergeltung lacht, Wo den Treuen schmückt die Krone Der Gerechtigkeit zum Lohne. [Bremisches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 14 Mel. Christus der uns selig.15
Laß das Wort von deinem Kreuz Mich mit Muth beleben, Siegreich jeder Sünde Reiz Hier zu widerstreben.16 Nicht vergebens darf ich nun Mich um Kraft bewerben, Gottes Willen treu zu thun Sünden abzusterben.17
14 15 16 17
Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 171,7.4. Hier in eigener Melodie; Vf. Johann Samuel Diterich Vgl. zur Melodie die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 26 und A. W. Bach, Nr. 41. Laß ... widerstreben] identisch mit Bremer Gb, Nr. 171,7, Verse 1‒4. Nicht ... abzusterben] identisch mit Bremer Gb, Nr. 171,4, Verse 5‒8, vgl. auch Jauersches Gb, Nr. 260,4.
Am Sonntag Judica 1817.
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N a c h d e r P r e d i g t . 18 Mel. Freu dich sehr o meine.19
Hab ich dich in meinem Herzen Du Brunn aller Gütigkeit, So empfind ich keine Schmerzen Auch im herbsten20 Kampf und Streit. Ich verberge mich in dich; Was kann da verlezen mich?21 Wer bei dir in Andacht bleibet, Die Versuchung von sich treibet.22
18 19 20 21 22
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 264 (Lied „Jesu, deine tiefen Wunden“), aus Strophen 6 und 3, vgl. auch Bremer Gb, Nr. 170,6. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 56 und A. W. Bach, Nr. 75. herbsten] letzten Was ... mich?] wer kann dann verletzen mich? ‒ Bis hier aus Strophe 6. Wer ... treibet] so kann ich in Andacht bleiben, / alle böse Lust vertreiben. Strophe 3/7‒8.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Beim Eröffnungslied von Christoph Christian Sturm (1740‒1786), das den Prozess des künftigen Weltrichters vor dem Hohen Rat schildert, ist unklar, aus welchem Quellengesangbuch es stammt. Die von Schleiermacher zu dieser Zeit am häufigsten gebrauchten neuen Gesangbücher aus Jauer (1813) und Bremen (1812) kommen in Frage. Vermutlich hat Schleiermacher die Fassung des Jauerschen Gesangbuchs, wo das Lied unter den Passionsliedern in der Unterrubrik „Falsche Anklage und Mißhandlung Jesu“ steht, zugrunde gelegt und diese mit Hilfe der Bremer Fassung bearbeitet, zeigt sich doch, dass fast alle Abweichungen von der Jauerschen Fassung mit der Bremer Fassung übereinstimmen. Auch deutet die Autorenangabe „Sturm“ auf Jauer als Erstquelle hin, da die Bremer Sammlung Diterich als Verfasser nennt.23 Außerdem hatte Schleiermacher das Lied früher bereits nach dem Jauerschen Gesangbuch zitiert.24 Andererseits zeigt die Strophenauswahl wieder eine größere Übereinstimmung mit dem Bremer Gesangbuch, wo das Lied mit 5 – bei Jauer dagegen mit 7 Strophen – abgedruckt ist. Sowohl in der Bremer Sammlung als auch bei Schleiermacher sind die dezidiert eschatologischen- und Vergeltungsstrophen 5 und 6 der Jauerschen Fassung ausgelassen. Liedblatt H 63 (23.3.1817) Vor dem Gebet. Mel. Nun ruhen alle Wälder
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 225 Mel. Nun ruhen alle Wälder
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 159 Mel. Nun ruhen unsre Felder
Ach welche Schmach und Plagen Muß mein Erlöser tragen, Der nie ein Sünder war! Ihn stellen Missethäter Als einen Uebertreter Den ungerechten Richtern dar.
Gott welche Schmach und Plagen muß er, mein Heiland, tragen, der nie ein Sünder war! Ihn stellen Missethäter als einen Uebertreter den ungerechten Richtern dar.
Ach, welche Schmach und Plagen muß mein Erlöser tragen, der nichts verbrochen hat! Als einen Uebertreter des Glaubens seiner Väter klagt man ihn an im hohen Rath.
Da steht er im Gerichte, Auf seinem Angesichte Strahlt Ruh und hoher Muth; Er achtet nicht der Bande, Und groß in Schmerz und Schande Erduldet er der Frevler Wuth.
Da steht er im Gerichte! Auf seinem Angesichte stralt Ruh, und hoher Muth. Er achtet nicht der Bande, und groß in Schmerz und Schande, erduldet er der Frevler Wuth!
Da steht er im Gerichte. Auf seinem Angesichte strahlt hoher, freyer Muth. Er, groß auch in den Banden, verachtet Schmach und Schanden und duldet still der Frevler Wuth.
23
24
Dass das Lied in der Sammlung „Lieder und Kirchengesänge von Christoph Christian Sturm“, Hamburg 1780, fehlt, könnte ein zusätzlicher Hinweis auf das Jauersche als Quellengesangbuch sein. Schleiermacher hätte die Autorenunterschrift dann ungeprüft übernommen. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, Bd. 6, Stuttgart 1869, S. 367, erwähnt dieses Lied nicht, weist aber darauf hin, dass viele Lieder von Sturm von J. S. Diterich bearbeitet wurden und in das Myliussche und Zollikofersche Gesangbuch aufgenommen wurden. Allerdings ist gerade dieses Lied im Mylius nicht enthalten, bei Zollikofer auch nicht. Vgl. das Liedblatt H 57, Lätare o. J., auf dem das Lied vollständig und wörtlich übereinstimmend mit der Jauerschen Fassung abgedruckt ist.
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Am Sonntag Judica 1817. Liedblatt H 63 (23.3.1817) Vor dem Gebet. Mel. Nun ruhen alle Wälder
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 225 Mel. Nun ruhen alle Wälder
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 159 Mel. Nun ruhen unsre Felder
Treu bleibt er seiner Wahrheit, Und seiner Unschuld Klarheit Versüßt ihm Spott und Hohn. Er schweigt bei schnöden Fragen, Doch darf er laut es sagen: Ich bin der König, Gottes Sohn.
Er wird ein Ziel des Spottes; Er heißt ein Lästrer Gottes, der Tod wird nun sein Lohn; doch er, o Menschen, höret! der Unerschrockne schwöret: „Ich bin des Hochgelobten Sohn.“
Treu bleibt er seiner Lehre, Und seiner Unschuld Ehre versüßt ihm Schmach und Hohn. Er schweigt bey schnöden Fragen; doch darf er laut es sagen: ich bin des Hochgelobten Sohn!
Ihr unsers Hauptes Glieder, Ihr Christen fallet nieder, Und betet Jesum an. Er ist troz frechen Spottes Der Sohn des ewgen Gottes, Ihn betet einst der Weltkreis an.
Ihr unsers Hauptes Glieder, ihr Christen, fallet nieder, und betet Jesum an! Er ist trotz allen Spottes, der Sohn des ewgen Gottes; ihn betet einst der Weltkreis an.
Werft euch im Staube nieder, ihr, seines Reiches Glieder; ihr Christen, betet an! Der Herr, trotz frechen Spottes, ist Sohn des ew’gen Gottes und alles ist ihm unterthan.
Er, dem Gericht entnommen, wird herrlich wiederkommen, des Hochgelobten Sohn! Er, jeder Bosheit Rächer! Dann stehen die Verbrecher vor seinem hohen Richterthron. Wie werden sie, mit Grauen und Todesangst ihn schauen, in seiner Majestät! „Ihn, wird ihr Herz dann sagen, ihn haben wir geschlagen, verspottet und ans Kreuz erhöht.“ Jauchzt, ihr Gerechte, schauet, Der Herr, dem ihr vertrauet, Kommt einst, mit ihm sein Lohn! Wenn dann die Sünder zagen, Dann könnt ihr fröhlich sagen, Gelobet seist du Gottes Sohn. Sturm
Jauchzt, ihr Gerechten, schauet! Der Herr, dem ihr vertrauet, erscheint, mit ihm sein Lohn. Wenn dann die Sünder zagen, dann könnt ihr fröhlich sagen: „Gelobet seist du Gottes Sohn!“ Sturm.
Freut euch, ihr Frommen, schauet; der Herr, dem ihr vertrauet, kömmt; mit ihm kömmt sein Lohn. Wann einst die Sünder zagen, dann könnt ihr fröhlich sagen: Gelobet seyst du, Gottes Sohn! (29) [J. S. Diterich]
Das vermutete Pendeln zwischen beiden Quellengesangbüchern zeigt sich schon zu Beginn. Beim Incipit entscheidet sich Schleiermacher (mit Diterich) für die Interjektion „Ach welche Schmach“ gegen die Jauersche Eröffnung „Gott welche Schmach“, wodurch das Lied den Duktus des Gebetes verliert. Mit dem Bremer Text wählt er auch den Christustitel „Erlöser“, statt „Hei-
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
land“. Doch in der dritten Verszeile gibt Schleiermacher der Jauerschen – gleichsam theologischen – Lesart den Vorzug: „der nie ein Sünder war!“25 Nur in der dritten Strophe folgt Schleiermacher noch einmal dem Bremer Gesangbuch, weicht aber von dessen Wortlaut zweimal ab: „Treu bleibt er seiner Wahrheit/ und seiner Unschuld Klarheit“. Damit wird die pädagogisierende „Lehre“ (vgl. aber Joh 18,19f.) durch den johanneischen und Rechtsbegriff der „Wahrheit“ ersetzt. In der letzten Verszeile wird die eigenständige messianische Bedeutung Jesu durch das Bekenntnis: „Ich bin der König, Gottes Sohn“ (vgl. Mk 14,61f. par.) anstelle des hebraisierenden „des Hochgelobten Sohn“ unterstrichen. Dieser christologische Titel wird übrigens auch in der 2. und 4. Strophe des Hauptliedes wieder aufgenommen. Neben der vielleicht auch phonetisch begründeten Ersetzung des Attributs „alles“ (Spottes) durch „frechen“ in 4/4 (vgl. Bremer Gesangbuch) hat Schleiermacher in der letzten Strophe gut lutherisch – und wieder näher an der Bremer Lesart – die Zukünftigkeit des Weltgerichts („Kommt einst, mit ihm sein Lohn!“) ausdrücklich betont. Damit wird eine Brücke vom Gericht Jesu zum jüngsten Gericht geschlagen. Dieser futurische Aspekt könnte überraschen, doch steht das „einst“ analog zum „einst“ der vierten Strophe und zeigt, dass nicht alle Textänderungen mit Schleiermachers Glaubenslehre abgeglichen werden können. Auch das Hauptlied von Henr. Meier (geb. 1752)26 aus den Passionsliedern des Bremer Gesangbuchs kreist um den Prozess Jesu, dieses allerdings um den Prozess vor Pilatus. Dabei zeigt sich die bereits im Neuen Testament vorhandene Tendenz, Pilatus zu entschuldigen und den Juden die alleinige Schuld für Jesu Tod geben. Merkwürdigerweise führt der Autor in seinem etwas lehrhaften Lied Pilatus als Beispiel für ein erdverhaftetes halbherziges Christentum vor. Die paulinische Regel „Lieber alles Unrecht leiden / Als das kleinste Unrecht thun“ (vgl. 1Kor 6,7) bzw. die clausula Petri „Alle Gottesmenschen rangen / Gott zu fürchten mehr als Welt“ (Act 5,29) heben den Stoff von der historischen auf die ethisch-paränetische Ebene. Schleiermacher übernimmt das Lied aus dem Bremer Gesangbuch vollständig und unverändert. Das überrascht sowohl wegen des Reizwortes „Pflicht“ (1/4) als auch wegen der sonst gern unterdrückten historischen Stophen (2 bis 4) und wegen des untergründigen Antijudaismus (vgl. Strophen 2 und 3).27 So bleiben wir im Ungewissen darüber, warum Schleiermacher ausgerechnet dieses Lied unbearbeitet ließ. 25 26
27
Zum Topos der Sündlosigkeit Jesu, vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 151. Über den Autor Henricus (Heinrich) Meier (Geburtsjahr lt. Bremer Gesangbuch, wahrscheinlich war er in dessen Erscheinungsjahr 1812 noch am Leben) können z. Zt. keine näheren Angaben gemacht werden, nicht einmal in E. E. Kochs achtbändiger Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs (Stuttgart 1866‒1877) wird er erwähnt, auch die Internet-Suchmaschine Google findet ihn nicht. Dieser ist übrigens bei der Wiederaufnahme des Liedes am Sonntag Lätare 1822 (Lb H 59) abgemildert worden.
Am Sonntag Judica 1817.
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Allerdings hat er das Lied unter eine andere Melodie gestellt. Während es im Bremer Gesangbuch mit der auch in Berlin bekannten Weise „Werde munter, mein Gemüte“ verzeichnet ist, gibt Schleiermacher die Melodie „Zion klagt mit Angst und Schmerzen“ bei, die er vorzüglich bei Passionsliedern verwendete.28 Den Kanzelvers formt Schleiermacher aus zwei Strophen des Liedes „Mein Erlöser, Gottes Sohn“ von Johann Samuel Diterich (Bremer Gesangbuch, Nr. 171,7.4) Die Strophenwahl ist im Blick auf den liturgischen Ort zu Beginn der Predigt („Laß das Wort von deinem Kreuz / Mich mit Muth beleben“) sinnvoll. Um die „böse Lust“ zu umgehen, bedient sich der Redaktor der Verszeilen 5 bis 8 der vierten Strophe, die aber die paränetische Richtung beibehalten. Im Kontext des Liedblattes nimmt die Strophe den Faden des Hauptliedes wieder auf, wenn sie vor dem Hintergrund der Feigheit des Pilatus um Mut und Kraft bittet. Dieselbe Technik der „Verskomposition“ beobachten wir beim Schlusslied. Hier hat Schleiermacher aus den Strophen 6 und 3 des Liedes „Jesu, deine tiefen Wunden“ von Johann Heermann (1585‒1647) aus dem Jauerschen Gesangbuch, Unterrubrik „Anwendung der Leiden und des Todes Jesu“ eine Strophe gebildet. Der Grund liegt auf der Hand: Das Bild vom „Legen in die Wunden Christi“ war zu eliminieren, so dass lediglich die beiden letzten Verszeilen aus der 3. Strophe ergänzt und angepasst werden mussten. Auch hier ist wieder die „böse Lust“ der allgemeineren „Versuchung“ gewichen. Zwei kleinere Abweichungen vom Quellentext fallen noch auf: Schleiermacher wandelt den „letzten“ in den „herbsten Kampf und Streit“ und tauscht das Fragepronomen „Wer“ in „Was“ (kann da verlezen mich?). Beide Eingriffe verallgemeinern und helfen den Blick auf das irdische Leben zu richten. Insgesamt fällt der ruhige und persönliche Ton auf, der den Hauptliedern abgeht und der vor der Predigt nicht zu erwarten war. Doch öffnet Schleiermacher am Schluss die 1. Person („so kann ich in Andacht bleiben“) in eine unbestimmte und konditionale 3. Person „Wer bei dir in Andacht bleibet“).
2. Das Ganze Eine Predigtnachschrift liegt nicht vor, der gepredigte Text – falls Schleiermacher diesen Gottesdienst gehalten hat29 – ist unbekannt. Für die Herstellung des Liedblattes bedient sich Schleiermacher wiederum der beiden Aufklärungsgesangbücher aus Jauer und Bremen, wobei er gern Verse „mixt“ und so neue Strophen bildet. Diese Technik lässt sich bei drei von vier Liedern dieses Liedblattes beobachten. 28 29
Von zwölf Belegen auf den Liederblättern begegnet die Melodie zehnmal an Passionssonntagen. Nach dem Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 1440, war er für die Hauptpredigt vorgesehen.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
In den Liedern vor der Predigt steht – passend zum Sonntag Judica30 – der Prozess Jesu mit seinen beiden Stufen (vor dem Synhedrion und vor Pilatus) im Vordergrund. Dieses Thema belegen auch die zahlreichen Termini der Gerichtssprache, z. B.: Unrecht (4x), Unschuld (3x), Richter (2x), Wahrheit (2x), gerecht, Gerechtigkeit, Gericht, Recht, ungerecht, Übertreter, Vergeltung, Todesurteil, Zeugen. Dagegen dominiert in den Strophen unter und nach der Predigt ein persönlicherer Ton, der die Singenden vor dem Hintergrund des jüngsten Gerichts zum Kampf gegen die Sünde in der Verbundenheit mit Christus aufruft. Dieses Liedblatt erweist sich als ein hervorragendes Beispiel dafür, dass sich Schleiermacher um die thematische Stimmigkeit der Lieder untereinander, also auch unabhängig von der Predigt bemühte, wodurch die Liederblätter auch die Eignung eines persönlichen Andachtsmittels erlangten.
30
Der De-Tempore-Charakter der Sonntage spielt bei Schleiermacher sonst keine große Rolle.
Am Ostersonntage 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Nun lob mein Seel.3
Wach auf an seinem Grabe Mein Psalter, singe Jesu Dank, Den ich beweinet habe, Der für mich4 mit dem Tode rang! Jetzt Freudenthränen rinnet, Sein finstres Grab ist leer; Das Morgenroth beginnet Und Jesus schläft nicht mehr; Doch was er uns gegeben Durch seinen Tod und Pein, Wird noch in jenem Leben Uns unerforschlich sein.5 Wie wird beim Osterliede Die Seele frisch, der Geist erfreut!6 Mir haucht sein Odem Friede, Mich überschattet Seligkeit! Heil mir, was ich genieße, Ist das7 schon jene Ruh? Strömt mir vom Paradiese Schon jene Wonne zu? Ich höre Hochgesänge, Mein ganzer Geist entzückt Eilt zu der frohen Menge, Die Jesum schon erblickt. Wir stammeln, ach wir singen Noch unvollkommen Christus Lob. 1 2 3 4 5 6 7
6.4.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 7; H 75. Q: Jauersches Gb, Nr. 285. Vf. Reinhard Gottlob Reiber (1744‒1809). Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 126 und A. W. Bach, Nr. 177. Fehlt auf Lb L 7; H 75. Doch was ... sein] nach Strophe 3, Verse 9‒12: „doch was du uns gegeben / durch deinen Tod und Pein, / wird selbst in jenem Leben / noch unerforschlich seyn.“ Die Seele ... erfreut] mein Psalter laut, mein Geist erfreut! das] dies
98
II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Wer kann die Nacht durchdringen Da Gott dich ließ, und dann erhob?8 Lamm Gottes, Preis und Ehre! Dein Heil und dein Gericht Erblicken jene Chöre In einem hellern Licht!9 Dir10 jauchzt der Himmel Freude, Die frohe Erde bebt, Und dankbar fühlen beide, Daß ihr Erbarmer lebt.11 [Jauersches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 12 Mel. Herr Gott dich loben wir.13
Dich Sieger loben wir Wir Christen danken dir, Jauchzt Himmel, jauchz erlöste Welt, Besingt den Lebensfürst, den Held! Preist Jesum welcher auferstand, Die Feinde herrlich überwand! Ihm ist nun alles unterthan; Fallt nieder, betet Jesum an, Heilig ist Gottes Sohn! Heilig ist Gottes Sohn! Heilig ist Jesus Christ, Der auferstanden ist. Der Sohn verließ des Vaters Thron, Er kam und ward ein Menschensohn, Erniedrigt für die Sündenwelt, Die er durch seine Huld erhält, Empfand betrübt bis in den Tod Was Gottes Ernst den Sündern droht, Vergoß auch für die ganze Welt
8 9 10 11 12 13
Wir stammeln ... erhob?] aus Strophe 4, Verse 1‒4. Lamm Gottes, ... Licht] aus Strophe 3, Verse 5‒8. Dir] Ihm Dir jauchzt ... lebt] aus Strophe 1, Verse 9‒12. Hier steht auf dem Liedblatt irrtümlicherweise: „Nach der Predigt.“ – Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 279. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von Kühnau, Nr. 71 und A. W. Bach, Nr. 94. – A. W. Bach gibt genau an, wo die Posaunen – so vorhanden – einsetzen sollen. Kühnau markiert die entsprechenden Stellen mit einem Forte-Zeichen.
Am Ostersonntage 1817.
99
Sein Blut das theure Lösegeld, Und starb mit Thränen und Gebet, Am Kreuz erwürget und verschmäht, Er lag im Grabe wo er schlief, Bis ihn sein Gott ins Leben rief.14 Tag der des Jubels würdig ist, Der Sohn stand auf, der Herr der Christ, Sei Ostertag der Christenheit Ein Tag der Wonn und Heiligkeit! Das Grab ist leer, Gott ist versöhnt, Der Mittler ist mit Preis gekrönt, Er ist entnommen dem Gericht Und seiner Angst; der Vater spricht Vom Fluch uns frei. O betet an! Wer ist der uns15 verdammen kann? Er lebt, und den, der an ihn glaubt, Vertritt er, unser Herr und Haupt. Nun ist der Tod, den er bezwang, Zur Seligkeit ein Uebergang. Mein Leib wird in dem Grabe Staub, Doch bleibt er nicht des Todes Raub; Denn du o Herr verklärst ihn einst Wenn du zum Weltgericht erscheinst. Wieviel o Herr erwarbst du mir! Herr, ewig ewig dank ich dir! Du hast das Leben wiederbracht, Unsterblich hast du uns16 gemacht. Der Vater liebt und höret dich, Vertritt auf deinem Throne mich! Beschüze deine Christenheit, Und hilf ihr Herr der Herrlichkeit! Mach aller Feinde Macht zu Spott, Erhör uns unser Herr und Gott, Amen! [Klopstock.]17
14 15 16 17
Empfand ... rief] aus Strophe 3, Verse 5‒12. uns] nun (Jauersches Gb, Nr. 279,4). uns] mich (Jauersches Gb, Nr. 279,5). Die Quellenangabe stammt nicht aus dem Jauerschen Gb. Auch in „Klopstocks Liedern“ (Wien 1784) ist das Lied nicht enthalten. Auch nicht in: F. G. Klopstock, Geistliche Lieder. (dreiteilig, Erster Theil, Kopenhagen und Leipzig 1758 mit „Veränderte Lieder“ und Geistliche Lieder, Zweiter Theil, Kopenhagen und Leipzig 1769).
100
II. Die Liederblätter des Jahres 1817
U n t e r d e r P r e d i g t . 18 Eigne Melodie.19
Christ ist erstanden von der Marter alle, Des sollen wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Erbarm dich Herr.20
N a c h d e r P r e d i g t . 21 Mel. Lobe den Herrn22
Preis dem Erstandnen! Zum Lohne den Gott ihm beschieden, Reichet fortan keine Macht seiner Feinde hienieden. Glorreich erhöht, ob ihr ihn Feinde gleich23 schmäht, Lebt er im seligsten Frieden.
18 19 20
21
22 23
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 287. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von Kühnau, Nr. 24 und A. W. Bach, Nr. 32. Erbarm dich Herr] Kyrieleison. – Die einfache Übersetzung des originalen „Kyrieleis“, das aber metrisch nicht passt, da in dieser letzten Verszeile der Versakzent auf der ersten Silbe liegt. Woher stammt es? Nicht aus dem Jauerschen Gb (Kyrieleison), nicht aus dem Baierischem Gb (Gelobt sey Gott), nicht aus Mylius und Rigaer Gb (unterschiedliche Refrains in allen 3 Strophen, aber nie Kyrieleis); BG und Brüder-Gb lesen: Hallelujah; im Bremer Gb ist das Lied gar nicht enthalten. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 293,6. Lied „Preis und Triumph dem Erweckten!“, Vf. Christian Friedrich Wehrhan (1761‒1808), Pastor zu Lignitz, vgl. Samuel Christian Gottfried Küster, lebensgeschichtliche Nachrichten, Nr. 198. Zur zeitgenössischen isochronen (rhythmisch vereinfachten) Melodieform vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 110 und A. W. Bach, Nr. 150. gleich] auch
Am Ostersonntage 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Schleiermacher macht aus dem vierstrophigen Osterlied von Reiber, das in der Unterrubrik „Preis der Auferstehung“ des Jauerschen Gesangbuchs steht, drei Strophen, wobei diejenigen Verszeilen aus der dritten und vierten Quellenstrophe ausgelassen sind, die den endgültigen Triumph über die Feinde besingen und die auf die Passion zurück- und auf das Leben nach dem Tod vorausschauen. Damit wird eine radikale Vergegenwärtigung des Ostergeschehens erreicht. So bejubelt etwa die zweite Strophe nur die Osterfreude. Durch die neue Versanordnung erzielt Schleiermacher eine Steigerung der Intensität. Erst in den letzten Versen geht die singende Gemeinde vom unpersönlichen „Er“ zum vertraulichen „Du“ über. Interessant ist die Textänderung zu Beginn der zweiten Strophe: Die Doppelung „Wie wird beim Osterliede / mein Psalter laut“ wird ersetzt durch die Wendung „Wie wird beim Osterliede / die Seele frisch, der Geist erfreut“, ein Gedanke, den auch der Prediger aufgreifen wird. Vor der Predigt bringt Schleiermacher angeblich eine Klopstocksche Bearbeitung24 des Te Deums. Wie die Gesangbuchrubriken zeigen25, waren die von Martin Luther bearbeitete altkirchliche Melodie und die verschiedenen TeDeums-Paraphrasen besonders bei vaterländischen Festen und Siegesfeiern beliebt.26 Nun erfahren wir aus dem Kanzelgebet, dass an diesem Ostersonntag 24 25 26
Zur ungeklärten Verfasserschaft s. o. S. 99, Fußnote 17. Vgl. etwa die Rubriken „Darstellung der Gottseligkeit im Staatsbürgerlichen Verhältniße“ und „Allgemeine Volksangelegenheiten“ im Jauerschen Gb, dort die Nr. 673, 977 und 979. Auf den bisher bekannten Liederblättern begegnen Te-Deums-Bearbeitungen insgesamt neunmal, meist am Neujahrstag (fünfmal). Dieser Brauch scheint allerdings eher auf ein Gewohnheitsrecht denn auf amtliche Vorschriften zurückzugehen, denn in den märkischen Kirchenordnungen gibt es dazu keine Festlegungen oder Vorschläge, vgl. Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Dritter Band, Die Mark Brandenburg u. a., Leipzig 1909. Dafür ist aber in Johann Heinrich Zedlers Großem vollständigem Universal-Lexikon, Bd. 42, Leipzig/Halle 1744, Sp. 524f. über das TE DEUM LAUDAMUS zu lesen: „Man bedient sich desselben als eines Sieges- und Danck-Liedes unter allen Protestanten der gantzen Christenheit, wenn eine Victorie wieder den Feind befochten, oder sonsten was grosses dem Lande ersprießliches und dem Fürsten glorieuses, vorgegangen.“ Und weiter: „In unsrer Evangelischen Kirche wird dieser Gesang an den hohen Fest-Tagen ordentlich gesungen, wie auch an andern ausserordentlichen Danck und Freuden-Festen. Und schreibet davon D. Carpzov in seinen Leich-Predigten [...] also: Wir pflegen ihn ordentlich bey uns an den Apostel-Tagen und Reformations-Fest des seel. Lutheri, ingleichen bey allen ausserordentlichen Solennitäten zu singen; als wenn ein Danck-Fest, Friedens-Fest und andere JubelFeste ausgeschrieben sind, oder auch, wenn nach angetretener Regierung eines neuen LandesVaters die Huldigungs-Predigt gehalten wird [...] Es ist auch jedem erlaubet, ihn zu aller Zeit zu Hause zu singen, und wäre löblich, wenn er öffters daselbst gesungen würde.“ Ebd., Sp. 538. Diese Praxis bestätigt für den kurfürstlichen Hof in Dresden während des 30jährigen Krieges und anlässlich des Westfälischen Friedens auch Eberhard Schmidt, in: Der Gottesdienst am kurfürstlichen Hofe zu Dresden, Göttingen 1961, S. 119‒121. Zur Rezeption und Kritik vgl. auch Eberhard Weismann, Liedkommentar zu EGK 137, in Handbuch zum EKG, Bd. 3/1, Berlin 1970, S. 409f. und E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, Bd. 8, Stuttgart 1876, S. 301‒308. Nach Koch wurde das Te Deum seit der Kaiserkrönung Karls des Großen „bei jeder Krönung eines deutschen Kaisers angestimmt und wurde so überhaupt der Krönungspsalm.“ Ebd., S. 304. Außerdem berichtet Koch von dem in allen Konfessionen
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der Heimkehr der siegreichen preußischen Truppen gedacht wurde.27 So paaren sich hier der Jubel über den Sieg über Napoleon mit dem österlichen Jubel über Christi Sieg über den Tod. Schleiermacher hat den Quellentext etwas gekürzt, indem er die zweite und dritte Strophe zusammengezogen hat. Der Straffung sind Verse über das Leben und Wirken Christi (seine Wunder!) sowie über seinen Tod als Sündenstrafe zum Opfer gefallen.28 Unter der Predigt lässt Schleiermacher die erste Strophe des alten „Christ ist erstanden“ singen. Den Kehrvers „Kyrieleis“ überträgt wohl er selbst in „Erbarm dich Herr“, wobei dem Metrum die Wortfolge „Herr, erbarm dich“ besser entsprochen hätte. Die Strophe dürfte unmittelbar vor oder nach der Verlesung des Predigttextes (Lk 24,1–6) gesungen worden sein. Mit dem Schlussgesang nimmt Schleiermacher den Gestus des Triumphs, der schon das Lied zur Predigt ausgezeichnet hatte, noch einmal auf. Die Auf-
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verbreiteten Brauch, das Te Deum nach erfolgreichen Schlachten anzustimmen, so habe etwa auch Max von Schenkendorf nach der Völkerschlacht bei Leipzig ein Te Deum geschrieben, vgl. ebd. S. 308. – Auch nach dem Bekanntwerden des Sieges über Napoleon und der Einnahme Paris’ vom 31.3.1814, s. u., Fußnote 27, wurde für den 17.4.1814 in allen Berliner Kirchen ein Dankgottesdienst mit Te Deum angeordnet. Die Vossische Zeitung vom 19.4.1814 berichtet: „Berlin, den 17ten April. Der heutige Morgen weckte uns zum Dankgefühl gegen Gott, für die Erhaltung unsers allertheuersten Königs und für den Sieg Seiner Waffen. In allen Kirchen war feierlicher Gottesdienst, Predigt über die Textesworte: Ps. LXXVII,14‒16, Te Deum, Musik, und vor allem der schöne Einklang eines Volks, das mit Religiosität gegen Gott, Religiosität gegen König und Vaterland verbindet. In der Domkirche fanden sich die Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses ein, und hörten dem Vortrage des Hofpredigers Ehrenberg zu. Während des Te Deums wurden aus den im Lustgarten aufgeführten Kanonen 101 Salven gegeben.“ Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats und gelehrten Sachen, 47stes Stück, Dienstag, den 19ten April 1814. – Die Praxis der Nachahmung bzw. Parodie des Te Deums gibt es bereits seit dem Mittelalter, vgl. das Te matrem Dei laudamus, das Te Mariam laudamus oder das gegenreformatorische Te Lutherum damnamus, vgl. Carl Springer, in TRE, Bd. XXXIII, Art. Te Deum, S. 26f. Am Ostersonntag des Jahres 1814 (10.4.1814) war die Nachricht vom Sieg der alliierten Truppen über Napoleon, dem seine Abdankung und die Verbannung auf die Insel Elba folgten, in Berlin eingetroffen. Die Spenersche Zeitung meldet am 12.4.1814: „Am Sonntag, den 10ten dieses, Morgens um 2 Uhr, erhielten wir durch einen aus Lüttich abgefertigten Courier die vorläufige Nachricht, daß ein Theil der großen verbündeten Armee, am 31sten März siegreich in Paris eingerückt sey. Dieses frohen Ereignisses wegen ward früh um 9 Uhr eine Salve von 25 Kanonenschüssen abgefeuert. Nachmittags um 5 Uhr traf der mit dieser wichtigen Bothschaft von Sr. Maj. dem Könige unmittelbar abgefertigte Courier, Oberst-Lieutnant Graf v. Schwerin, hier ein. Er ward von einem Kommando reitender Gensd’armerie, reitender Polizei und vier und zwanzig blasenden Postillionen, unter Anführung eines Königlichen Post-Offizianten, in einem feierlichen Zuge eingeholt, und unter den lauten Freudensbezeugungen der überall herbeiströmenden Einwohner, zu den hier anwesenden Mitgliedern der Königl. Familie begleitet.“ Berlinische Nachrichten Von Staats- und gelehrten Sachen. Im Verlage der Haude und Spenerschen Buchhandlung. Nr. 44. ‒ Die gleiche Ausgabe druckt das Gedicht eines ungenannten Verfassers ab, in dem diese Nachricht eine pseudoreligiöse Deutung erfährt, hier die Überschrift und die ersten zwei Strophen: „Als am ersten Ostertage die Einnahme der Stadt Paris zu Berlin bekannt gemacht wurde. Frohlokkend rollt an Spreens Strom / der Donner durch die Luft. / Die alten Helden in dem Dom / entsteigen ihrer Gruft. ‒ Und stimmen, wo in trunknen Reihn / die Schaar an Schaar sich preßt, / in ihres Volks Hosannah ein. / am Auferstehungsfest.“ Zu Schleiermachers Problem mit der Satisfaktionslehre, vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 164 und s. u. S. 117, Fußnote 25.
Am Ostersonntage 1817.
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erstehung wird als Sieg Christi über „alle Mächte und Gewalten“ gefeiert und der Zustand als „seligster Friede“ gekennzeichnet. Schleiermacher dürfte die Strophe auch deshalb ausgewählt haben, weil die daktylische Melodie „Lobe den Herren“ zu den feierlichsten Weisen des evangelischen Kirchengesangs gehört.
2. Die Predigt Schleiermacher predigt über Lk 24,1–6. Die Predigt ist in einer Nachschrift von Ludwig Jonas erhalten.29 Thema der schlüssigen Predigt ist in Bezug auf die Frage des Engels „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ (Lk 24,5) die schrittweise Vertreibung des Todes bzw. alles Totmachenden aus dem Leben der Christen, wobei der Prediger dieses Postulat auf drei Bereiche anwendet: die heiligen Gebräuche der Kirche, die heiligen Lehren des Glaubens und die frommen inneren Bewegungen unseres Gemütes. (52) Alle religiösen Bräuche seien veränderlich und vergänglich bis auf „die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft und die Fortsetzung derselben“, womit die Sakramente Taufe und Abendmahl gemeint seien, die sich „an solche Bedürfnisse des Menschen anschließen, die nie aufhören – Reinigung und Mahnung.“ (55) Wer aber versuche, erstorbene Bräuche wiederherzustellen, sagt Schleiermacher vielleicht in Richtung König Friedrich Wilhelms, der sich als Agendenrestaurator betätigte, der suche „das Lebendige bei dem Todten.“30 Dasselbe gelte von der heiligen Lehre, ja selbst von dem Wort der Schrift, wenn es im Buchstaben erstarre „und sich feststellt ohne Zusammenhang mit jenem Gefühl, woraus es gekommen ist“ (56) und wenn einzelne Worte aus ihrem Zusammenhang gerissen würden. „Reisten wir aber Einzelnes aus seinem Zusammenhange heraus, ja was erlebten wir dann anders hiervon, als eben die bittre Frucht und das verderbliche Werk des Todes?“ (58) Eine Warnung vor Biblizismus und Dogmatismus.31 Schließlich warnt der Prediger auch davor, 29 30
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SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 50‒63. Schleiermacher bezeichnet seine Liturgieschrift von 1816 gegenüber August Twesten am 11.5.1817 als „gewissermaßen eine persönliche Fehde gegen den König“. Schleiermacher als Mensch, hrsg. von H. Meisner, S. 250. – Unsicher ist, ob Mitglieder der königlichen Familie unter Schleiermachers Kanzel saßen. Das Fürbittgebet könnte dafür sprechen, andererseits schreibt Schleiermacher in dem o. g. Brief an Twesten: „verhaßt bin ich ja doch einmal und gewissermaßen in die Acht erklärt, wenigstens gehen seitdem die königlichen Geschwister und Kinder nicht mehr in meine Kirche.“ Ebd. Im o. g. Brief an Twesten beklagt Schleiermacher: „Allein es reißt jetzt eine solche Furcht ein vor abweichenden Ansichten und ein so abergläubisches Buchstabenwesen.“ Ebd., S. 250 und weiter unten: „Eine Kabinettsordre, von der man spricht, ‚der König habe mit Schmerz vernommen, daß auf hiesiger und anderen Universitäten Irrlehren verbreitet würden, und der Minister solle die Irrlehrer fördersamst removiren’.“ Ebd., S. 251. Mit dem 5. April 1817 hatte Schleiermacher die Widmung seines Lukaskommentars an seinen geschätzten und in die Kritik geratenen Kollegen Wilhelm Martin Leberecht De Wette (1780‒1849) datiert, mit der Schleiermacher sich gegen pietistische Strömungen an der Fakultät zur Wehr setzt und ein
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
das wahre Verhältnis von Freude und Schmerz umzukehren. Das Christentum sei keine „Religion der Wehmuth und des Schmerzes“, vielmehr sei der Schmerz über die Sünde „nur der Vorhof des Christenthums, das Heilige und Allerheiligste ist die Freude“ über die Erlösung. (59) Der Prediger schließt mit der Hoffnung, die Freude möge den Schmerz immer mehr überwältigen und das göttliche Leben und die Kraft der Auferstehung möge in uns immer mehr Wurzel fassen. Jonas überliefert auch das Kanzelgebet, in dem der Prediger um ein Christus ähnliches reines und unvergängliches Leben bittet: „Rotte auch aus unsern Herzen immer mehr aus, was seiner Natur nach vergänglich ist, damit wir unsern Arm ausstrecken nach den ewigen Gütern und alles Irdische aufhöre einen Werth für uns zu haben.“ (62) Mit allgemeinen Fürbitten für König und Vaterland und dankbarem Gedenken an den Sieg über Napoleon („Und da wir heute zugleich feiern den Gedächtnißtag des Einzuges unserer siegreichen Heere in die friedliche Hauptstadt“) endet das Gebet.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Das Liedblatt weist anlässlich des doppelten Feiertags besonders festliche Strophenformen auf: so die Melodien „Nun lob mein Seel“, „Herr Gott, dich loben wir“32, „Lobe den Herren, den mächtigen König“. Sowohl in der Predigt als auch in der Liedbearbeitung drängt Schleiermacher die Historie energisch zurück, vergegenwärtigt das Ostergeschehen radikal und hebt es auf die Erfahrungsebene, was z. B. durch die mehrfach gebrauchte Wendung von der Erfrischung des Lebens bzw. der Seele deutlich wird: „damit unser ganzes Leben ein frisches Leben der Auferstehung sey.“ (52), vgl. auch die Änderung in der 2. Strophe des Eingangsliedes. Diese Tendenz kommt ebenfalls durch die Metaphorik des Schlafs bzw. des Aufwachens im Eingangs- und im Hauptlied zur Geltung sowie in der Vergegenwärtigung der Paradies- bzw. Christuserfahrung durch das dreimalige Temporaladverb „schon“ in der 2. Strophe des Eingangsliedes. Dabei würdigt Schleiermacher das Siegesgedenken durch eine angeblich von Klopstock stammende Te-Deums-Fassung, allerdings auf seine Weise. Denn dass hier ausdrücklich der Sieg Christi gerühmt wird, muss als ein Gegengewicht zur allgemeinen Siegeseuphorie verstanden werden, die traditionell mit einer Lobpreisung des Schöpfers zum Ausdruck gebracht wurde. Ebenso widersteht der Prediger der Versuchung, den militärischen Sieg theologisch, etwa als Auferstehungserfahrung, zu deuten.
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Bekenntnis zur Freiheit der theologischen Forschung ablegt. F. Schleiermacher, Ueber die Schriften des Lukas [...] Erster Theil, Berlin 1817, KGA I/8 (2001). Vgl. die Einleitung der Bandherausgeber, besonders S. VIII‒XIX. Eventuell mit Posaunenbegleitung, s. o. S. 78, Fußnote 50.
Am Sonntage Misericordias Domini 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Jesu meiner Seelen.3
Stärke, denn oft will er wanken, Meinen Glauben Gott an dich, O wie wird mein Herz dir danken! Wie frohlocken! Höre mich! Laß mich nicht an dir verzagen, Immer kühnre Blicke wagen, Sinkt mein Glauben, gieße du Oel der schwachen Flamme zu.4 Aechten Glauben schenk vor allen Andern Gnaden, Vater, mir! Wem er fehlt, muß dir mißfallen; Wer ihn hat, ist eins mit dir. Er belebe meine Triebe, Sei der Stab, die Hand der Liebe, Er besiege wie ein Held Durch mich Satan, Fleisch und Welt.
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20.4.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 8; H 86. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 469. Vgl. auch Johann Caspar Lavaters auserlesene Christliche Lieder, Basel 1792, Nr. XIII, Gebethlied um Stärkung des Glaubens. Der Jauersche Text stimmt mit den Lavaterstrophen 1.4‒6 wörtlich überein. Hier ist unklar, um welche Melodie es sich handelt, da sie in beiden Choralbüchern fehlt. Zahn nennt unter diesem Versmaß zwei Lieder dieses Incipits: „Jesu, meiner Seelen Wonne, Jesu meine beste Lust“, Nr. 6813‒6815 und „Jesu, meiner Seelen Leben, meines Herzens höchste Freud“, Nr. 6825, vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 4, Gütersloh 1891. Da auf den Liederblättern eine Melodie mit gleichem Versmaß und dem Titel „Jesu meiner Seele Leben“ insgesamt siebenmal auftaucht, halte ich für möglich, dass es sich auch hier um diese Weise handelt. Andererseits begegnet das Lied „Stärke, denn oft will er wanken“ nur noch einmal auf den Liederblättern und zwar am 3. Advent 1819 mit der Melodie „Jesu, der du meine Seele“, vgl. J. C. Kühnau, Nr. 94 und A. W. Bach, Nr. 125, so dass es sich auch um diese Melodie handeln könnte. – Vgl. dazu auch das Protokoll der Gesangbuchs-Commission vom 1.6.1820, bei B. Schmidt, Lied, S. 577. „Bei dem Liede: JESU MEINER SEELE LEBEN wurde bemerkt, daß zwei Lieder mit diesem Anfang vorhanden sind.“ Vgl. Liederliste J.I.12, Bl. 46: Jesu meiner Seele Leben, meines Herzens höchste Freud (z.B. Stettiner Gb, Nr. 667) und: Jesu meiner Seele Leben, dir will ich mich ganz (Vgl. Porst, Nr. 716). Nur das erste Lied weist das hier gesuchte Versmaß auf, so dass doch am meisten für diese Melodie spricht. Oel ... zu] Oel dem schwachen Lichte zu!
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Glauben, wie wenn ich dich sähe Flöße mir mein Heiland ein! Im Gefühl von deiner Nähe, Laß mein Herz sich täglich freun! Jesus willst du dich nicht zeigen? Hörst du mich, wie kannst du schweigen? Gieb mir Glauben, nahe dich Meinem Geist und stärke mich! Unaussprechlich schwach und flüchtig Ist das tief verdorbne Herz,5 Heut ist Heiligkeit ihm wichtig Morgen ihm die Sünd’ ein Scherz.6 Ach wär nur mein Glaube fester! Stärk’ ihn, mehr ihn, Allerbester! Jesus eile, stärk’ ihn, du! Ach sonst find’ ich keine Ruh. [Lavater.]
Nach dem Gebet.7 Mel. Dir dir Jehova will.8
Von dir mein Gott strömt Licht und Leben, Der du des Lichts und Lebens Quelle bist. Noch hat mich Finsterniß umgeben, Noch bin9 ich nicht, wie dirs gefällig ist. O senk’ in mich der Wahrheit Strahlen ein, Belebe mich, so leb’ ich dir allein. Dein Wort zog aus den Finsternissen Mit hoher Kraft der Sonne10 Licht hervor, Du sprachst, da ward’s dem Nichts entrissen, Und schwang sich schnell aus tiefer Nacht empor, Herr, laß dieß Wort in mir auch mächtig sein Es zeige mir die Wahrheit hell und rein.
5 6 7 8 9 10
Ist das ... Herz,] ist mein tief verdorbnes Herz; Heut ... Scherz.] heut’ ist mir die Tugend wichtig, / morgen mir die Sünd ein Scherz. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 363,1‒5.6 und Nr. 369,7‒8.4. Vgl. die Melodie in den Choralbüchern von J. C. Kühnau, Nr. 35 und A. W. Bach, Nr. 55. bin] leb’ Sonne] Sonnen
Am Sonntage Misericordias Domini 1817.
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Dich hat noch niemand je gesehen, Dein Sohn allein hat dich bei uns verklärt, Doch wie kann ich ihn recht verstehen, Wenn nicht dein Geist mich durch das Wort belehrt? Drumm komm o Geist, du Geist der Frömmigkeit Erleuchte mich in dieser Dunkelheit. Dann werd’ ich Herr, dich recht erkennen, Wenn deinem Willen sich mein Herz ergiebt,11 Nur dann erst froh dich Vater nennen Wenn mir dein Geist der Kindschaft Zeugniß giebt. So wird mir erst die hohe Weisheit klar, Die uns durch Jesum offenbaret war. O leite mich in deiner Wahrheit Den Lebensweg durch Irrthum und durch Nacht, Umgieb dein Wort mit sanfter Klarheit, Verleih ihm oft auch deines Donners Macht, Damit erschreckt der Sünder um sich seh’ Und wehmuthsvoll bei dir um Gnade fleh.12 Verklärt wird alles mir im Bunde Durch den der Sohn mich ewig dir vereint,13 Erhellet14 selbst die dunkle Stunde, Wenn ob der Sünde bang das Auge weint,15 Dein Wort zeigt mir das Heil in Jesu Blut, Und giebt zum bessern Wandel neuen Muth.16 So trägt mich frei vom Hang zum Staube Seit Gott mich höhres Leben finden ließ, Zu jenem schönren Land der Glaube, Das durch den Sohn der Liebende verhieß;17 Zur Bildung für die Unvergänglichkeit Führt mich dein Wort, und zur Vollkommenheit.18
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18
Wenn deinem ... ergiebt,] wenn stets mein Herz die wahre Tugend liebt; Von dir mein Gott ... um Gnade fleh: aus Jauersches Gb, Nr. 363,1‒5. Durch den ... vereint,] durch den du ewig mich mit Gott vereint Erhellet] Du heiterst (Jauersches Gb, Nr. 369,7). Wenn ob ... weint] wenn bang mein Auge zu den Sternen weint (Jauersches Gb, Nr. 369,7). Dein Wort ... neuen Muth] Entdeck’ ihm dann sein Heil in Jesu Blut, / und gib ihm selbst zur Tugend neuen Muth! (Jauersches Gb, Nr. 363,6). So trägt ... verhieß] Frei von dem Hang zum Erdenstaube, / wo Gott mich froh das Leben finden ließ, / trägt mich ins schönre Land der Glaube, / das mir der Liebende durch dich verhieß. (Jauersches Gb, Nr. 369,8). Zur Bildung ... Vollkommenheit] Er gab der Zeit mich nur zur Pflege, / zur Bildung für die Unvergänglichkeit. Im Dunkeln gehn hier seine Wege, / doch führet jeder zur Vollkommenheit. (Jauersches Gb, Nr. 369,4).
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U n t e r d e r P r e d i g t . 19 Mel. Herzlich thut mich.20
Laß mich dein sein und bleiben, Du treuer Gott und Herr, Von dir laß mich nichts treiben Halt mich bei reiner Lehr. Herr laß mich ja nicht wanken Gieb mir Beständigkeit, Dafür will ich dir danken, In alle Ewigkeit.
N a c h d e r P r e d i g t 21. 22 Mel. Ich ruf zu dir Herr.23
Freund meiner Seele, du bist mir Der Weinstock, ich die Rebe, Zeuch mich dir nach, daß ich zu dir Mich von der Welt erhebe.24 In jeder Noth o Gott25 laß mich Bei dir Erbarmung finden, Trost empfinden, Und dann zuletzt durch dich In allem überwinden.26
19 20
21 22 23 24 25 26
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 361, mit dem die Strophe identisch ist. Zur Melodie „Herzlich thut mich verlangen“, vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 17 und A. W. Bach, Nr. 107. Im Stammteil des EG ist die Melodie nur in Verbindung mit Paul Gerhardts Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) enthalten. „Nach dem Gebet“ ist ein Druckfehler. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 458,1.2. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 87 und A. W. Bach, Nr. 118 und EG 343. Freund ... erhebe.] Jauersches Gesangbuch, Nr. 458,1, Verszeilen 1‒4. Gott] Herr In jeder ... überwinden.] Jauersches Gb, Nr. 458,2, Verszeilen 5‒9.
Am Sonntage Misericordias Domini 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Schleiermacher wählt für den Beginn ein Lavaterlied, wahrscheinlich aus der Rubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“, Unterrubrik „Vom Glauben und der Gnade“ des Jauerschen Gesangbuchs. Mit wenigen Änderungen übernimmt er es vollständig. In 1/8 verstärkt er das Bild, wobei er den eigenen Glauben mit einer „schwachen Flamme“ vergleicht, die durch das von Gott hineingegossene Öl wieder auflodert. Vielleicht wollte Schleiermacher die Metapher des Lichts Gott bzw. Christus vorbehalten. Eine signifikante Textänderung gibt es in der letzten Strophe: An die Stelle der „Tugend“ tritt die „Heiligkeit“, wobei sich die Redaktion auch durch eine gewisse Verobjektivierung (Gebrauch der dritten statt der ersten Person Singular) auszeichnet. Auffällig ist noch die Melodiewahl: „Jesu meiner Seelen“, während die im Quellengesangbuch angegebene Weise „Jesu, meines Lebens Leben“ auf den Liederblättern nur selten begegnet. Wiederum ein interessantes Gebilde ist das Lied „Nach dem Gebet“, das sich aus Strophen zweier anonymer Lieder zusammensetzt. Die ersten fünf Strophen entstammen dem Lied „Von dir, mein Gott, strömt Licht und Leben“ höchstwahrscheinlich aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubriken „Dem Heiligen Geiste“, „Vom Worte Gottes“. Relevant ist nur die Textabweichung in der vierten Strophe, wo Schleiermacher wiederum die ungeliebte „Tugend“ eliminiert. Die beiden letzten Strophen gehören überwiegend – aber nicht nur – zu dem Lied „Wer hat ins Leben mich gerufen“ aus derselben Rubrik desselben Gesangbuchs, wobei der Redaktor die zwei Strophen aus Verszeilen verschiedener Quellenstrophen gebildet hat. Diese komplizierte Komposition kann nur tabellarisch veranschaulicht werden:
Lied „Nach dem Gebet“
Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 369 Wer hat ins Leben mich gerufen?
Strophen 6–7
Strophen 7,8,4
Verklärt wird alles mir im Bunde Durch den der Sohn mich ewig dir vereint, Erhellet selbst die dunkle Stunde, Wenn ob der Sünde bang das Auge weint, Dein Wort zeigt mir das Heil in Jesu Blut,
Verklärt wird alles mir im Bunde, (7) durch den du ewig mich mit Gott vereint! (7) Du heiterst selbst die dunkle Stunde, (7) wenn bang mein Auge zu den Sternen weint; (7)
Liedblatt H 86 (20.4.1817)
Entdeck ihm dann sein Heil in Jesu Blut, und gib ihm selbst zur Tugend neuen Muth!
Und giebt zum bessern Wandel neuen Muth. So trägt mich frei vom Hang zum Staube Seit Gott mich höhres Leben finden ließ, Zu jenem schönren Land der Glaube, Das durch den Sohn der Liebende verhieß; Zur Bildung für die Unvergänglichkeit Führt mich dein Wort, und zur Vollkommenheit.
Jauersches Gesangbuch Nr. 363 Von dir, mein Gott, strömt Licht und Leben Strophe 6
Frei von dem Hang zum Erdenstaube, (8) wo Gott mich froh das Leben finden ließ, (8) trägt mich ins schönre Land der Glaube, (8) das mir der Liebende durch dich verhieß. (8) Er gab der Zeit mich nur zur Pflege, / zur Bildung für die Unvergänglichkeit. (4) Im Dunkeln gehn hier seine Wege, / doch führet jeder zur Vollkommenheit. (4)
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
In der jetzigen Form sind die beiden Strophen ein Lobpreis, gerichtet an Gott, den Vater, mit einer hymnischen Danksagung für Wort und Glaube. Schleiermacher hat die Adressierung geklärt, indem – angepasst an die Strophen 1 bis 5 – durchgehend Gott Vater angeredet wird. Die dem Lied „Wer hat ins Leben mich gerufen“ eigene pessimistische Weltsicht wird aufgehellt. Erwartungsgemäß wird auch der Begriff der „Tugend“ durch den Ausdruck „zum bessern Wandel“ ersetzt. Im Gesamtkontext des Gottesdienstes ist noch interessant, dass der Liedbearbeiter zweimal das göttliche Wort, einmal als Heilsanzeiger (6/5), ein andermal als Führer zur Vollkommenheit (7/6) eingebracht hat Für den Gesang „Unter der Predigt“ übernimmt Schleiermacher eine Strophe von Nikolaus Selnecker unverändert aus dem Jauerschen Gesangbuch, das vom vorigen Lied bereits auf dieser Seite aufgeschlagen war. Gerade wegen der Bitte: „Halt mich bei rechter Lehr“ ist das Lied „unter der Predigt“, d. h. wohl nach der Einleitung oder Textverlesung geeignet.27 Die Schluss-Strophe bestätigt, dass Schleiermacher bei der Vorbereitung dieses Liedblattes experimentierfreudig war, denn auch sie ist aus zwei Strophen des Liedes „Freund meiner Seele, du bist mir“ aus der Rubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“, Unterrubrik „Vom Glauben und der Gnade“ im Jauerschen Gesangbuch zusammengesetzt. Beide Strophen lehnen sich an die Schluss-Strophen des Agricolaliedes „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ an. Sind die ersten vier Verszeilen unverändert aus der ersten Strophe übernommen, so stammen die letzten fünf Verszeilen aus der zweiten Hälfte der zweiten Strophe. Schleiermacher mied die zweite Hälfte der ersten Strophe wegen ihrer Todessehnsucht. Doch die eschatologische Pointe der beiden Schlussverse machen die Strophe trotz ihres persönlichen Tons für diesen Liedplatz geeignet.
2. Die Predigt Schleiermachers Predigt ist wiederum in einer Nachschrift von Ludwig Jonas überliefert.28 Auch die Predigten der Osterzeit 1817 gehören wieder einer kleinen Reihe an: „Die Art, wie wir diesmal unsere Auferstehungsandachten angefangen haben“ (74). In dieser Reihe geht es darum, „die Spuren von dem Höchsten im Zusammenseyn der Jünger mit dem Erlöser aufzusuchen.“ (75). Schleiermacher predigt über Lk 24,44–48.29 Sein Thema ist der richtige Gebrauch der Schrift, der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem höheren Verstehen der Schrift und die Entstehung des letzteren.
27 28 29
Auf den bisher bekannten Liederblättern kommt das Lied an dieser Stelle viermal vor. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 73‒84. In seinem eben zu dieser Zeit erschienenen Lukas-Kommentar werden die Verse 44ff. als ein „späterer zusammenfassender Nachtrag“ bezeichnet, vgl. Über die Schriften des Lukas, KGA I/8, S. 179.
Am Sonntage Misericordias Domini 1817.
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Der Prediger setzt ein bei der allgemeinen Erfahrung des unvollkommenen Verstehens eines anderen oder seiner selbst. „Ist schon ein jedes volle Verstehen menschlicher Art in ihrer vollen Bedeutung etwas besonders Seeliges für einen jeden, der den wahren Werth und innern Zweck des Lebens versteht, wie viel mehr muß es ein volles Verstehen des Wortes Gottes seyn? Genießen wir aber eines solchen seeligen Augenblicks, dann müssen wir auch fühlen, daß das gewöhnliche Verstehen und Auffassen der Schrift weit dahinter zurückbleibt, dann müssen wir fühlen, daß Gott uns bei diesem Verstehen Geist an Geist stehe.“ (78) Doch dürfe im Warten auf die göttliche Gnade das gewöhnliche Schriftstudium nicht vernachlässigt werden, das eine Voraussetzung für die Inspiration, das Verstehen „in seinem tiefsten Umfange“ (79) darstelle. Allerdings warnt Schleiermacher vor dem „das liebende Zusammenseyn mit unsern Brüdern zurückdrängend einsam Forschen und Grübeln in der Schrift.“ (79f.) Daraus erwüchsen Missbräuche wie das Hell- oder Schwarzsehen und Totwünschen.30 „Stärkung und Erbauung, das soll jedem die Schrift seyn. Hat er diese, dann gehe er auch muthig in die Welt zu seiner Arbeit und vertiefe sich nicht ins Grübeln.“ (81) Und der Prediger fragt, wie man vom gewöhnlichen Lesen zum höheren Verstehen komme und erinnert an die Jünger: „Sie konnten sich den Erlöser nicht bestellen, sondern er kam, wann er wollte. Aber wann kam er? Wenn sie voll waren von ihm, wenn sie beisammen waren frisch und fröhlich in Liebe, dann trat er unter sie.“ (81) So sei auch unter uns die Übung der Liebe die beste Vorbereitung für sein Eintreten. Und „wenn uns ein Wort der Schrift zusammentrifft mit einem Bedürfniß des Herzens. Dann ist ein solcher Augenblick da, und es ergreift uns dann in seiner eigenthümlichen Kraft.“ (82) Der Prediger schließt mit der Aufforderung, von der Kraft des göttlichen Worts „vor der unchristlichen und christlichen Welt“ und vor den „jungen christlichen Gemüthern“ Zeugnis zu geben. (83) Im abschließenden Gebet bittet Schleiermacher um den Segen des göttlichen Wortes in Kirche, Schule, Haus und um Segen für den König, seine Geschäfte, seine Familie und Beamten.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Wenn es stimmt, dass Schleiermacher eine Predigtreihe geplant hatte, dann musste ihre Thematik auch die Gestaltung der Liederblätter beeinflussen. Tatsächlich finden sich Korrespondenzen zwischen den Liedern vor der Predigt und der Predigt selbst . Zwar kommt das Stichwort „Schrift“ (Lk 24,45) in den Liedern nicht vor, dafür um so nachdrücklicher die Bitte um Stärkung, Reifung und Wachstum des Glaubens im Eingangslied sowie die Macht des göttlichen Wortes und die Kategorie des rechten „Verstehens“ unter Führung des Heili30
Vielleicht eine Anspielung auf die hellseherischen Fähigkeiten der Hausgenossin Karoline Fischer. Zu Schleiermachers nicht einfachen häuslichen Verhältnissen vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher, Göttingen 2001, S. 371‒377.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
gen Geistes (Strophe 3) und die Bildung und Leitung zur Vollkommenheit (Strophe 7) im Hauptlied. Den Weg zum vollkommenen Verstehen der Schrift will der Prediger weisen. Eine kleine Wortstatistik mag diesen Zusammenhang verdeutlichen: Das Wort „Glaube“ kommt im Eingangslied sechsmal vor, häufig durch Attribute verstärkt: „Aechten Glauben“ oder „Glauben, wie wenn ich dich sähe“ oder im Irrealis „Ach wär nur mein Glauben fester“. Das Verbum „stärken“ begegnet viermal, außerdem sinnverwandte Verben wie „zugießen“, „schenken“, „einflößen“, „geben“, „mehren“. Das erbetene Wachstum im Glauben drücken auch Komparative aus wie „immer kühnre“ oder eben „Ach wär nur mein Glaube fester!“ Wie der „Glaube“ durchs Eingangslied, so zieht sich das „Wort“ (Gottes) durch das Hauptlied. Statistisch begegnet es sechsmal. Noch wichtiger aber ist, dass Schleiermacher die beiden letzten Strophen einem anderen Lied entnommen und so gebildet hat, dass in jeder Strophe das Wort Gottes („dein Wort“) erscheint und als Subjekt auftritt. In der dritten Strophe gibt es enge Berührungen mit der Predigt: „Doch wie kann ich ihn recht verstehen, / Wenn nicht dein Geist mich durch das Wort belehrt? / Drum komm o Geist, du Geist der Frömmigkeit / Erleuchte mich in dieser Dunkelheit.“ Predigt: „aber doch der Geist Gottes waltet besonders in der Schrift, der Geist kommt aus dem Glauben, der Glaube aus der Predigt, die Predigt aus der Schrift. So kann Jeder Gott aus der Schrift verstehen. Trost und Kraft und Rührung des Gemüthes wird gewiß jedem kommen, der fromm die Schrift liest.“ (77) In Predigt und Gebet kommt das „Wort“ Gottes 18mal und Worte aus der Wortgruppe verstehen/ Verständnis u.ä. insgesamt 27mal vor. Dieser Befund lässt vermuten, dass Schleiermacher sich schon bei der Vorbereitung des Liedblattes auf die Thematik „Wort Gottes“ festlegte, wie es auch die Gesangbuchrubrik, aus der das Hauptlied stammt, nahelegt. Den Predigttext mag er dann erst kurzfristig gewählt haben.
Am Sonntage Cantate 1817.1 Vor dem Gebet.2 In eigener Melodie.3
Eins ist Noth ach Herr dies Eine Lehre mich erkennen doch! Alles andre wie’s auch scheine Ist ja nur ein schweres Joch, Darunter die Seele mit Sorgen sich plaget Und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget. Erlang’ ich dies Eine, das alles ersetzt: So werd ich mit Allem in Einem ergötzt. Seele willst du dieses finden, Such’s bei keiner Kreatur, Laß nichts irdisches dich binden, Schwing dich über die Natur. Wo Gott und die Menschheit in Einem vereinet, Wo alle vollkommene Fülle erscheinet: Da da ist das beste nothwendigste Theil, Mein Ein und mein Alles, mein seligstes Heil. Wie zu ihres Freundes Füßen Sich Maria niederließ, Ihn den einz’gen zu genießen Alles andre von sich wies, Das Herz ihr entbrannte das Alles4 zu hören, Was Jesus ihr Meister allein sie kann lehren;5 Die Seele6 war gänzlich in Jesum versenkt Drum alles ihr wurde in Einem geschenkt.
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4.5.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 9; H 97. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 490,1‒4. Vgl. zur Melodie die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 41 und A. W. Bach, Nr. 61. das Alles] dies einzig Was Jesus ... lehren;] was Jesus, ihr Heiland, sie wollte belehren, Die Seele] ihr Alles
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Also ist auch mein Verlangen Liebster Jesu nur nach dir; Laß mich treulich an dir hangen, Schenke dich zu eigen mir! Die Welt mag dann immer beim Eiteln verweilen Ich will dir mein Heiland im Glauben nacheilen; Denn dein Wort, o Jesu, ist Leben und Geist; Was ist wohl das man nicht in Jesu geneußt? [Schröder]
Nach dem Gebet.7 Mel. Wachet auf ruft uns.8
Herr welch Heil kann ich erringen, In welche Höh’ darf ich mich schwingen, Mein Wandel soll im Himmel sein! O du Wort voll heilgen Lebens9, Voll Wonne! Wort des ewgen Lebens, Im Himmel soll mein Wandel sein! Ich sink erstaunend hin, Empfinde wer ich bin Wer ich sein kann! ich trage noch Des Todes Joch; im Himmel ist mein Wandel doch.10 Wort vom Anfang! Wunderbarer O du der Gottheit Offenbarer! Den Erdkreis deckte Dunkelheit, Du erschienst, du Licht vom Lichte, Wir schaun in deinem Angesichte Nun deines Vaters Herrlichkeit. Nicht Wahrheit nur, auch Ruh Strahlst du uns Gottmensch zu, Seelenfrieden! Du hasts vollbracht, Von11 Irrthums Nacht, Von Nacht der Sünd uns frei gemacht!12 7 8 9 10 11 12
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 491,1.3‒5. Vgl. auch Klopstocks Lieder, Wien 1784, S. 205ff. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 151 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 223. Lebens] Bebens im Himmel ... doch] im Himmel soll mein Wandel seyn. Von] Des Von Nacht ... gemacht] der Sünde dunkle Nacht ist hin!
Am Sonntage Cantate 1817.
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Wenn die Seel in tiefer13 Stille Versunken ist, wenn ganz ihr Wille Der Wille des ist, der sie liebt; Wenn ihr inniges Vertrauen Ihr freudges14 Hoffen fast zum Schauen Emporsteigt, wenn sie wieder liebt, Und nun wahrhaftig weiß, Nach15 Kampf und Todesschweiß Weltversöhner16, lebst du ihr Heil, Und Recht und Theil an dir sei Aller ewges Heil.17 O dann ist ihr schon gegeben Ihr neuer Nam’ und ewges18 Leben, Im Himmel ist ihr Wandel dann! Stark den Streit des Herrn zu streiten Sieht sie die Krone schon von weitem, Die Kron am Ziel und betet an. Preis Ehr’ und Stärk und Kraft Sei dem, der uns erschafft Ihm zu leben, Der bei uns ist Wo sein ein Christ Im Glauben denkt, zu jeder Frist.19 [Klopstock]
U n t e r d e r P r e d i g t . 20 In eigener Melodie.21
Nun bitten wir den heiligen Geist Um den wahren22 Glauben allermeist Daß er uns behüte an unserm Ende
13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
tiefer] tiefe freudges] freudig Nach] dein Weltversöhner] Gottversöhner lebst du ... Heil] dein Blut am Kreuz’, / dein Tod am Kreuz’, / versöhn’ o Herr, versöhn’ auch sie. ewges] ewigs Der bei ... Frist] Für uns verbürgt, bist du erwürgt. Anbetung, Ruhm und Dank sei dir! Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 327,1‒2. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 122 und A. W. Bach, Nr. 172. Zum Problem des Kehrverses, s. u. S. 118. wahren] rechten
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Wenn wir heimfahren aus diesem Elende Herr erbarm dich unser. Du werthes Licht, gieb uns deinen Schein, Lehr uns Jesum Christum erkennen allein, Daß wir an ihm bleiben dem treuen Heiland, Der uns bracht hat zu dem rechten Vaterland, Herr erbarm dich unser.
N a c h d e r P r e d i g t . 23 Mel. Allein Gott in der Höh.24
Nimm deinen Geist Herr nicht von mir Der mächtig in mir walte, Und mich im Land der Prüfung dir Treu bis zum Tod’ erhalte. Er wirk in mir entschloßnen Muth Nur dein zu seyn, dann hab ichs gut Im Leben und im Sterben.
23 24
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 467,4. Lied: Schaff’ in mir, Gott, ein reines Herz; Vf. unbekannt. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 5 und A. W. Bach, Nr. 12.
Am Sonntage Cantate 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Das Eingangslied „Eins ist Noth, ach Herr dies Eine“ des Franckeschülers Johann Heinrich Schröder (1666–1699) kommt wahrscheinlich aus dem Jauerschen Gesangbuch, wo es in der Hauptrubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“, Unterrubrik „Seliger Zustand der Gläubigen“ mit allen zehn Strophen abgedruckt ist. Schleiermacher bringt die Strophen 1 bis 4. Mit der Bitte um innere Konzentration auf „das Eine“ (vgl. Lk 10,42) bzw. „den Einen“ (Strophe 3 und 4) bietet sich das Lied als Eingangslied an, obwohl ein sehr persönlicher, fast mystischer Ton vorherrscht. Textabweichungen von der Fassung des Jauerschen Gesangbuchs gibt es in der dritten Strophe. Sie gehen aus von dem Befürfnis, Wortwiederholungen („das Alles“ statt „dies einzig“, „Die Seele“ statt „ihr Alles“) zu eliminieren und von der Korrektur des Verbums „belehren“ in 3/6. Schleiermacher entschärft den pädagogischen Ton durch Streichung des Präfixes „be“, wobei er eine Silbe gewinnt, was zu Umstellungen führen musste. Auch schien dem Redaktor zur Tätigkeit des „Lehrens“ der Hoheitstitel „Meister“ besser zu passen als „Heiland“, welch letzterer ohnehin in 4/6 begegnet. Die unmittelbare Nachbarschaft im Jauerschen Gesangbuch (Nr. 491) stützt die Annahme, dass sowohl dieses als auch das vorige Lied der Jauerschen Sammlung entnommen sind. Schleiermacher wählt aus dem Klopstocklied, das im Jauerschen Gesangbuch mit sechs Strophen steht, vier Strophen aus, wobei die zweite, bei Jauer als Chorstrophe deklariert, und die letzte Strophe ausgelassen sind. Die zweite Strophe fehlt wahrscheinlich, weil hier ein Adressatenwechsel stattfindet (an die „versöhnte Seele“), der bei fehlendem Chor verwirren muss. Und die sechste Strophe führt binitarisch die Doxologie aus, mit der die fünfte geschlossen hatte. Mit Klopstocks Lied wird die Thematik des Anfangsliedes aufgenommen: die Vereinigung der Gläubigen mit Gott in Christus, hier im Einswerden des Willens mit dem Willen Christi und einem himmlischen Wandel auf Erden. Schleiermacher reimt jeweils – anders als Klopstock, aber mit Philipp Nicolai in den Strophen 2 und 3 von „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ – die letzte Verszeile auf die vorletzte und drittletzte, wodurch sich vielfältige Textvarianten ergeben. So gibt es in 3/9 eine interessante dogmatische Korrektur: Schleiermacher korrigiert den Klopstockschen Titel „Gottversöhner“ in „Weltversöhner“ und damit unter der Hand die alte Anselmsche Satisfaktionslehre.25 Bei der Gestaltung der letzten Verszeile wird man an eine weitere dogmatische „Spezialität“ Schleiermachers erinnert: die so genannte 25
Vgl. auch CG1, § 125, z. B., S. 94: „so erscheint eine solche Uebertragung der Strafe die Vollendung des Mißverständnisses.“ Vgl. auch die berühmte Stelle im Brief an den Vater aus dem Herrnhuter Seminar in Barby vom 21.1.1787, in dem der 18jährige Schleiermacher seine Zweifel an der traditionellen Opfertodvorstellung äußert: „Ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.“ KGA V/1, Nr. 53.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Allversöhnungslehre („an dir sei Aller ewges Heil“)26, die jedoch am Schluss der letzten Strophe dahingehend wieder eingeschränkt wird, dass Gott nur bei den Christen sei, die „im Glauben“ sein gedenken, ein sowohl theologisch als auch syntaktisch unglücklicher Abschluss. „Unter der Predigt“ lässt Schleiermacher passend zum liturgischen Ort die ersten beiden Strophen aus Luthers „Nun bitten wir den heiligen Geist“ singen. Der Text weist gegenüber der Fassung des Jauerschen Gesangbuchs (Nr. 327) nur eine einzige, allerdings wesentliche Abweichung auf. Um einem nur kognitiven Verständnis des Glaubens zu wehren, verbessert Schleiermacher den „rechten“ Glauben Luthers in den „wahren“ Glauben im Sinne echter Herzensfrömmigkeit, wie sie bereits in den vorhergehenden Liedern gefordert und besungen wurde. Der griechische Gebetsruf „Ky-ri-e-leis“ ist schon im Jauerschen Gesangbuch verdeutscht.27 Die beiden Lutherstrophen sind übrigens die einzigen auf diesem Liedblatt, die im gemeindlichen „Wir“ sprechen. Die Strophe „Nimm deinen Geist, Herr, nicht von mir“ aus dem Lied „Schaff in mir, Gott, ein reines Herz“ eines unbekannten Autors dürfte ebenfalls dem Jauerschen Gesangbuch entnommen sein. Das Lied steht dort wie die ersten beiden Lieder in der Hauptrubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“. Die textlich unverändert übernommene vierte Strophe schließt mit ihrer Bitte um den Heiligen Geist gut an die Lutherstrophen „Unter der Predigt“ an. Mit dem Wunsch „nur dein zu seyn“ stimmt sie mit den beiden Hauptliedern überein. Die Bitte um den Geist und der Blick auf das Ende des Lebens sind außerdem beliebte Motive für Schlusslieder. Die Melodie „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (bei Jauer „Aus tiefer Not“) begegnet auf den bisher bekannten Liederblättern insgesamt achtmal bei Schlussliedern.
26 27
Die Eintragung der Allversöhnungslehre in redigierte Liedtexte beobachtet auch I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 158. Vgl. auch ältere „neue“ Gesangbücher, z. B. Mylius, Nr. 226: „Erbarm dich, Herr!“ Problematisch bleibt hier die Silbenaufteilung, da die Schlussphrase der Melodie damals fünftönig war, vgl. etwa J. C. Kühnau, Choralbuch (1786), Nr. 122 und A. W. Bach, Choralbuch (1830), Nr. 172. Vgl. dazu auch J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Nr. 2029, der für die letzte Verszeile eine sechstönige Melodievariante von M. Prätorius auf Ky-ri-e e-lei-son (Zahn, Nr. 2029a, Variante 5) präsentiert. Dagegen bietet Kühnau neben dem fünftönigen Versschluss, der melodisch Johann Walter oder Luther folgt, vgl. Zahn, Nr. 2029a, eine Schlussvariante an, in der die letzte Verszeile unter ausführlichem Kadenzieren auf fünf Takte verteilt wird, wobei der Grundton zum Schluss dreimal wiederholt wird. A. W. Bach bietet den fünftönigen Schlussvers, vgl. J. Walter oder Luther, auf den man gut „Herr er-bar-me dich!“ singen kann. Interessant ist, dass der Schlussvers offenbar bereits in Straßburg 1545 mit Halleluja unterlegt, wurde, s. Zahn ebd. Die jetzige viertönige Melodiefassung, vgl. EG 124, geht auf Luther (Klug 1535, Babst 1545) zurück, vgl. Zahn, Nr. 2029a/b. – Vgl. zur Melodie auch H.-O. Korth, in Liederkunde EG, Heft 10 (2004), S. 74f.
Am Sonntage Cantate 1817.
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2. Das Ganze Die Lieder dieses Liedblattes, die wohl alle aus dem Jauerschen Gesangbuch stammen, gehen auf Namen und Inhalt des Sonntags „Cantate“ nirgends ein. Vielmehr steht die mystische Vereinigung des Gläubigen mit Gott bzw. Christus im Vordergrund, worauf auch die Gesangbuchrubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“ hindeutet, der drei der vier Lieder dieses Liedblattes entnommen sind. Eine Predigt ist uns nicht überliefert. Wenn Schleiermacher an diesem Sonntag gepredigt hat28, dann über einen Text in der Themenreihe „Über die Spuren des Höchsten im Zusammenseyn der Jünger mit dem Erlöser“.29
28 29
So das Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 2224. Vgl. die Predigt am Sonntag Misericordias Domini, 20. April 1817, Bl. 75, s. o. S. 110.
Am Sonntag Exaudi 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Valet will ich dir.3
Wer in der Welt Getümmel Ein armer Fremdling steht, Voll Sehnsucht auf zum Himmel Mit seinen Blicken geht, Wem hier die Last der Erde Die matte Brust beengt, Und mächtige Beschwerde Das arme Herz bedrängt, Dem thut in dunklen Nächten Sich bald der Himmel auf, Er schauet dort den echten Und wahren Lebenslauf; Er siehet mit Entzücken Der fernen Heimat Blau, Und bald muß ihn erquicken Des ewgen Lebens Thau. Denn4 Jesus der Geliebte Reicht ihm den Freundes Arm, Und bald ist der betrübte Befreit von allem Harm. Er sieht als Himmelszeichen Das Kreuz von unserm Herrn, Nun muß der Gram entweichen Vor diesem lichten Stern. Getrost laßt uns nur fassen Des ewgen Freundes Hand, Er wird uns niemals lassen, Er bleibt uns zugewandt. O daß sich nimmer wende
1 2 3 4
18.5.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 10; H 111. Q: Jauersches Gb, Nr. 557,1‒2.4‒5. Vf. unbekannt. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 18 und A. W. Bach, Nr. 217. Denn] Und
Am Sonntag Exaudi 1817.
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Von seinem Kreuz der Blick! Dies bleibt am letzten Ende Allein uns treu zurück. [Jauersches Gesang Buch]
Nach dem Gebet.5 Mel. Was mein Gott will.6
Sei Gott getreu, halt seinen Bund Bekenn ihn durch dein Leben! Dein Glaube ruht auf festem Grund, Drum bleib ihm stets ergeben. Wie hat Gott dich verpflichtet sich Durch seine Huld und Gnade! Vertrau dem Herrn und wandle gern Der Frommen7 sichre Pfade. Sey8 Gott getreu von Jugend auf, Laß keine Lust kein Leiden Dich je in deines Lebens Lauf Von seiner Liebe scheiden. Denn seine Treu ist täglich neu, Sein Wort kann niemals trügen; Was er verspricht, das bricht er nicht, Daran laß dir genügen. Sei Gott getreu in jedem Stand, In den er dich gesezet! Denn9 schützt dich seine starke Hand, Wer ist der dich verlezet? Wer seinen Rath zum Beistand hat, Ist immer wohl berathen; Wer mit Gebet zur Arbeit geht Hat Glück bei seinen Thaten.
5 6 7 8 9
Mögliche Q: Baierisches Gb (Sulzbach 1816), Nr. 513,1‒5. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 157 und A. W. Bach, Nr. 228. Frommen] Tugend Die Lesart „Sey“ folgt dem Quellengesangbuch, das diese Schreibweise in allen Strophen durchhält. Denn] dann
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Sei Gott getreu, sein theures Wort Freimüthig zu bekennen, Vor Jedermann an jedem Ort Dich seinen Freund zu nennen. Was in der Welt dir wohlgefällt, Muß alles bald vergehen, Nur Gottes Wort bleibt immerfort Zum Heil der frommen stehen. Sei Gott getreu in jedem Streit! Dann wirst du überwinden; Denn er läßt Muth und Freudigkeit Den treuen Kämpfer finden. Verleze nicht die kleinste Pflicht; Doch hast du dich vergangen, So nuz die Reu, geprüft und treu Die Krone zu erlangen.10
U n t e r d e r P r e d i g t . 11 Mel. Es ist das Heil.12
Herr laß des Wortes Geist und Kraft Die Herzen ganz durchdringen, Und uns treu und gewissenhaft, Was er uns lehrt vollbringen, Laß uns durch seinen Unterricht Stets eifriger in unsrer Pflicht Im Glauben stärker werden.13
10 11 12 13
Doch hast ... erlangen] Doch wirst du dich vergehen: / so nütz’ die Reu’, um künftig treu / die Prüfung zu bestehen. Mögliche Q: Baierisches Gb, Nr. 17,4. Lied: O zeuch mich, Heiliger zu dir, Mel. Allein Gott in der Höh. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 50 und A. W. Bach, Nr. 68. Herr laß ... werden.] Gib, daß des Geistes Wort und Kraft / mein ganzes Herz durchdringe, / und ich treu und gewissenhaft, / was er mich lehrt, vollbringe. / Laß mich durch seinen Unterricht / stets eifriger in meiner Pflicht, / im Glauben stärker werden.
Am Sonntag Exaudi 1817.
N a c h d e r P r e d i g t . 14 Mel. Jesus meine Zuversicht.15
Auf denn16 Mitgenossen geht Muthig durch die kurze Wüste, Seht auf Jesum, wacht und fleht Daß er17 selbst zum Kampf euch rüste. Der in Schwachen mächtig ist, Giebt uns Sieg durch Jesum Christ.
14 15 16 17
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 487,5. Vf. Samuel Gottlieb Bürde (1753‒1831) Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 101; A. W. Bach, Nr. 132. denn] dann, er] Gott
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Der Gottesdienst am Sonntag Exaudi beginnt mit dem Lied eines unbekannten Verfassers „Wer in der Welt Getümmel“ aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Gott“, Unterrubrik „Vertrauen, Hoffnung, Geduld und Ergebung“. Schleiermacher übernimmt das Lied nahezu unverändert, allerdings mit Auslassung der dritten Strophe, vielleicht weil sie mit einem mythologischen Engelsmotiv („Ein Engel steigt hernieder“) von der christologischen Pointe ablenkt. Das folgende Lied „Sei Gott getreu“ steht nicht im Jauerschen, dafür aber im Baierischen Gesangbuch (Sulzbach 1816) unter der Hauptrubrik „Christliches Verhalten gegen Gott“, Unterrubrik „Treue“.18 Nur die letzte Strophe („Sey Gott getreu bis in den Tod“) fehlt, wohl wegen ihrer eschatologischen Ausrichtung. Thema des Liedes ist, wie schon das Incipit verrät, das sich mottoartig in jeder Strophe wiederholt, die Ermahnung zur Treue gegenüber Gott in allen Ständen und Lebenslagen. Schleiermacher hat an dem Text zwei kleine Veränderungen vorgenommen: In der Kopfstrophe wird erwartungsgemäß „Der Tugend“ durch „Der Frommen“ ersetzt. Aus den Korrekturen der letzten Strophe spricht ein gewisser lutherischer Realismus: Pflichtverletzungen und Vergehen sind nicht nur künftige Möglichkeiten („Doch wirst du dich vergehen“), sondern immer schon reale Tatsachen („Doch hast du dich vergangen“), die nur bereut und vergeben werden können. Dem „treuen Bestehen“ der „Prüfung“ setzt Schleiermacher schriftgemäß das „Erlangen“ der „Krone“ (vgl. Apk 2,10) entgegen. Bei der Quellenzuweisung für den Kanzelvers befinden wir uns auf unsicherem Gelände. Im Jauerschen Gesangbuch fehlt diese oder eine ähnliche Strophe. Dagegen findet sich im Baierischen Gesangbuch (Rubrik „Sonntag“) das Lied „O zeuch mich, Heiliger zu dir“ und darin eine Strophe „Gib, daß des Geistes Wort und Kraft“. Abgesehen davon, dass schon das vorige Lied im Baierischen Gesangbuch stand, spricht für diese Quellenvermutung, dass das Lied am Kantate-Sonntag 1822 mit der Quellenangabe „Bair. Ges.B.“wieder angesetzt wird. Schleiermacher hätte dann die vierte Strophe nur ins kollektive „Wir“ umgestellt und die direkte Anrede „Herr“ ergänzt, was bei einer Einzelstrophe sinnvoll ist. Außerdem wurde die Genitivverbindung „des Geistes Wort und Kraft“ in „des Wortes Geist und Kraft“ umgestellt, zu Beginn der Predigt durchaus nachvollziehbar.19 Die Schluss-Strophe gehört zu dem Lied „Steil und dornicht ist der Pfad“ von Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831), das im Jauerschen Gesangbuch in die Rubrik „Selige Vereinigung des Menschen mit Gott“, Unterrubrik „Von der 18 19
Das Lied stammt von Michael Franck (1609‒1667), vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, 3. Band, Stuttgart 1867, S. 435‒441. Allerdings hätte diese Umstellung eine weitere Retouche nach sich ziehen müssen, indem das Subjekt in der vierten Verszeile nun das Wort ist, es folglich heißen müsste: „Was es uns lehrt vollbringen“.
Am Sonntag Exaudi 1817.
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Heiligung“ aufgenommen ist. Als biblischer Leitvers ist Apk 2,10 („Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“) genannt. Mit der Korrektur in der vierten Verszeile hat Schleiermacher etwas verunklart, von wem die Rede sein soll: Gott oder Jesus?20 Möglich, dass er solche Anthropomorphismen („daß Gott selbst zum Kampf euch rüste“) von Gott fernhalten wollte.
2. Das Ganze Die Lieder dieses Gottesdienstes, von dem keine Predigt überliefert ist, besingen die Treue des Christen in den Kämpfen des Lebens. Am deutlichsten spricht das Hauptlied diesen Gedanken aus: „Sei Gott getreu“. Insgesamt begegnet das Wort „treu“ mit seinen Derivaten zehnmal auf dem Liedblatt, meist als Aufruf zur Treue, doch auch als Zusage der Treue Gottes (Eingangslied 4/8, Hauptlied 2/5). Die in diesem Kontext unvermeidlichen Kriegsmetaphern sind: „der Welt Getümmel“ (Eingangslied), „Streit“, „Muth“, „Kämpfer“ (Hauptlied), „Mitgenossen“, „muthig“, „Kampf“, „rüsten“, „Sieg“ (Schlusslied).
20
Eindeutig ist in den Verszeilen 5 und 6 Gott das Subjekt.
Am zweiten Pfingsttage 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Ein feste Burg.3
Herr auf dein Wort soll’s sein gewagt Du kannst mir’s nicht verdenken, Du hast mir einmal zugesagt Den heil’gen Geist zu schenken; Drum komm’ ich jetzt zu Dir, Jesu halte mir Was du verheißen hast! Du willt ja diesen Gast Dem geben, der dich liebet. Komm Tröster4 laß mich Gottes Huld Durch Sünden nicht verscherzen! Gieb Liebe Hoffnung und Geduld Gieb Demuth meinem Herzen! Gieb Andacht im Gebet, Wann ich vor Gott tret! Ach laß mich Herz und Sinn Nur richten bloß dahin, Woher mir kommt die Hülfe.5 Erleuchte mir du liebes Licht Des Herzens finstre Höhle, Verschmähe diese Wohnung nicht Senk dich in meine Seele! Herr Gott ich bitte dich, Stärke, labe mich Sei Beistand mir und Rath
1 2 3
4 5
26.5.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 11. Q: Stettiner Gb (1790), Nr. 360,1.5‒7. Vf. G. W. Sacer. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Nr. 42 und A. W. Bach, Nr. 59. Beide Choralbücher bieten einen beruhigten Melodieverlauf. Kühnaus isochrone Fassung besteht nur aus halben Noten, Bachs aus Vierteln und Halben. Komm Tröster] Gib Glauben – Die Stropheneröffnung stammt aus der 3. Quellenstrophe: „Komm, Tröster, hilf, und steh mir bei“. Woher ... Hülfe.] Woher mir Hülffe kömmet.
Am zweiten Pfingsttage 1817.
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Und Kraft zu jeder That,6 Gieb Freude, mach lebendig! Was in mir noch von argem Sinn Und Fleisch hilf mir bezwingen!7 Nimm ganz8 den bösen Willen hin, Gieb mir vor allen Dingen, Daß ich mich in der Lieb Meines Jesu üb’, Und täglich fertig sei Aus dieser Wüstenei Vor deinen Thron zu treten9. [Stettinisches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 10 Mel. Wie schön leucht’t uns.11
O heiliger Geist kehr bei uns ein, Und laß uns deine Wohnung sein, O komm du Herzenssonne! Du Himmelslicht, laß deinen Schein Bei uns und in uns kräftig sein Zu steter Freud und Wonne! Sonne, Wonne, himmlisch Leben Willt du geben, Wenn wir beten; Zu dir kommen wir getreten!12 Chor. Du Quell, draus alle Weisheit fließt Die sich in fromme Seelen gießt, Laß deinen Trost uns hören, Daß wir in Glaubenseinigkeit Mit deiner werthen Christenheit Dein wahres Zeugniß ehren! Höre, lehre, daß wir Sinnen Und Beginnen Dir ergeben, Dir zum Lob und uns zum Leben. 6 7 8 9 10 11 12
Sei ... That] sey meine Kraft, mein Rath, / mein Trost, mein Advocat, Was in ... bezwingen!] Treib von mir aus den argen Sinn, / hilf mir mein Fleisch bezwingen, Nimm ganz] und nimm treten] gehen Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 328,1-2. Autor: Michael Schirmer. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 163 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 238. Wenn wir ... getreten] wenn mit Beten / wir zu deinem Throne treten.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen; denn du bist mein Gott! Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.13 Einzelne Stimmen.14 Sende Erlöser uns den Tröster, Daß er uns in alle Wahrheit leite, Daß er dich in uns verkläre. Chor.15 Auf uns nieder komm o heilger Gottesgeist, Komm und erfüll die Herzen der Gläubigen, Entzünde in ihnen der Liebe heiliges Feuer, Der du aus allen Sprachen und allerlei Völkern Uns zu des Glaubens Kraft und Einigkeit hast versammelt. Hallelujah. Hör unser Gebet, Gottes Geist16 Den Jesus Christus uns verheißt! Erfüll mit deinen Seeligkeiten Uns die sich Christo weihten. Die Völker aller Welt führst du Ins Heiligthum zu Gottes Ruh; Es schall Anbetung dir zum Ruhme Singt Völker ihm im Heiligthume Hallelujah, Hallelujah. Gemeine. Du heiliges Licht, starker Hort Durch dich leucht’ uns des Lebens Wort, Den Ewigen lehr uns erkennen, Von Herzen Vater ihn nennen! Treib fern von uns des Irrthums Nacht Laß siegen deiner Wahrheit Macht, Daß Jesus Christ der ganzen Erde Bekannt und angebetet werde! Hallelujah, Hallelujah. [Klopstock]
13 14 15 16
Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 132f. Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 133. Zur Identifizierung von Text und Musik, s. u. S. 134f. Ab hier identisch mit Jauersches Gb, Nr. 323 (B),1‒2. Mel. Komm heiliger Geiste, Herre Gott. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 103 und A. W. Bach, Nr. 141.
Am zweiten Pfingsttage 1817.
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U n t e r d e r P r e d i g t . 17 Mel. Die Seele Christi.18
Komm Gott Schöpfer heiliger Geist Besuch das Herz der Menschen dein, Mit Gnaden sie füll’, wie du weißt, Daß dein Geschöpf soll vor dir sein. Zünd uns ein Licht an im Verstand, Gieb in das19 Herz der Liebe Brunst; Das schwach Fleisch in uns dir bekannt Erhalt fest deine Kraft und Gunst.
N a c h d e r P r e d i g t . 20 Mel. Wachet auf ruft.21
Gottes Geist du Geist der Liebe Befrucht auch unsres Herzens Triebe Der großen Gaben werth zu sein, Geuß ins Herz der Liebe Flammen Daß wir geschwisterlich beisammen In deinem Tempel uns erfreun! In Eintracht singen wir Als deine Kinder dir Dir o Vater, Du segnest gern, Sei nie uns fern! Wir folgen dir, dem guten Herrn.22
17 18
19 20 21 22
Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 361,1.3. In bekannter Melodie. Im Jauerschen Gb ist diese Hymnenübersetzung Luthers erstaunlicherweise nicht enthalten. Zur Melodie „Die Seele Christi heil’ge mich“, die bei Kühnau und A. W. Bach fehlt, auch im Porstschen Gb, dafür aber im Jauerschen Gb als eigene Melodie genannt ist, vgl. J. Zahn, Die Melodien, 1. Band, Gütersloh 1889, Nr. 636. – Die Melodie begegnet zwölfmal auf den Liederblättern – davon neunmal „Unter der Predigt“ – allerdings nur bis 1817 und am 15.6.1817 das letzte Mal. Gieb in das] gib uns ins Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 325,3. Autor unbekannt. Zur zeitgenössischen Melodiefassung vgl. Choralbücher von Kühnau, Nr. 151 und A. W. Bach, Nr. 223. In Eintracht ... Herrn] In Eintracht singen dir / all deine Kinder wir, / dir, o Vater! / Gott gibt so gern! / Gebt nah und fern, / wo Gaben noth, und dankt dem Herrn!
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Der Festgottesdienst am Pfingstmontag wird eröffnet mit dem Lied „Herr auf dein Wort“ von Gottfried Wilhelm Sacer (1635-1699) aus den „Pfingstgesängen“ des Stettiner Gesangbuchs. Schleiermacher hat das siebenstrophige Lied zu vier Strophen komprimiert, wobei er die Strophen 2–4 mit den bildhaften Prädikationen des erbetenen Geistes ausgelassen hat. Nur die typisch pfingstliche Bitte „Komm“ (Veni) sowie die Joh 14,26 entlehnte Anrede des Geistes als „Tröster“ (lat. paraclitus oder consolator) wird in dieser seltenen Kombination aus der dritten Quellenstrophe übernommen und eröffnet die direkte Anrede des Heiligen Geistes (2/1). In der dritten Liedblattstrophe hat Schleiermacher das anaphorische „mein“ gestrichen und damit auch das charakteristische Prädikat „Advocat“. Die Redaktion der letzten Liedblattstrophe zeigt eine Abschwächung des exorzistischen Motivs (Streichung der Bitte „treib aus“) und den für Schleiermacher in Bezug auf die Sünde typischen anthropologischen Optimismus durch Einfügung des Temporaladverbs „noch“23, wofür sogar eine Versüberschreitung in Kauf genommen wird (Was in mir noch von argem Sinn / Und Fleisch | hilf mir bezwingen!). Weiter zeigt die Redaktion stilistisch motivierte Eingriffe mit der Beseitigung der wiederholten Verseröffnung „und“ wie auch in der letzten Verszeile mit dem Ersatz des Verbums „gehen“ durch das sachgemäßere und klingendere Verbum „treten“.24 Was die Melodie betrifft, so dürfte die 6. Verszeile volltaktig begonnen haben entsprechend Kühnaus Lesart und der Variante I im Choralbuch von A. W. Bach. Es folgen die ersten beiden Strophen aus Michael Schirmers Pfingstlied „O heilger Geist kehr bei uns ein“, vermutlich aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Bitte um den Beistand des heiligen Geistes“, wobei nur eine Textänderung am Ende der ersten Strophe zu verzeichnen ist, die bloß stilistisch (Vermeidung des Enjambements) begründet sein dürfte, da der Thron als endzeitliches Symbol ja auch das Eingangslied beschlossen hatte. Jedenfalls hat Schleiermacher hier den Urtext restauriert.25 Mit diesem Lied, deren zweite Strophe „Du Quell“ vom Chor vorgetragen wird, beginnt die festliche Kirchenmusik (s. u.). Wie diese von der Gemeinde eröffnet wird, so wird sie auch von der Gemeinde beschlossen, mit zwei Strophen der Klopstockschen Umdichtung des Luther-Liedes „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“, sehr wahrscheinlich aus der
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Diese Tendenz bestätigt auch Ilsabe Seibt, die zu Schleiermachers Sündenbegriff bei den Liedbearbeitungen bemerkt: „Zweitens ist die Sünde im Vergehen begriffen. Noch ist sie da und stellt sich dem Gläubigen hemmend entgegen.“ I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 169. Vielleicht auch ein Anklang an den gern als „Sterbelied“ J. S. Bachs bezeichneten Choral von Bodo von Hodenberg (1646) „Vor deinen Thron t r e t ich hiermit“. Vgl. Albert Fischer, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und hrsg. von W. Tümpel, 3. Band, Gütersloh 1906, Nr. 506, S. 459f. – Zum Traditionsverständnis Schleiermachers und der Gesangbuchs-Commission vgl. B. Schmidt, Lied, S. 215‒217.
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gleichen Rubrik des Jauerschen Gesangbuchs, mit dem der Liedblatt-Text gegen Klopstocks Original wörtlich übereinstimmt.26 Als Kanzelvers wählt Schleiermacher einen weiteren Pfingsthymnus, zwei Strophen der Luther-Übertragung „Komm Gott Schöpfer Heiliger Geist“, vermutlich aus dem Stettiner Gesangbuch. Die einzige Textänderung dürfte – wenn nicht ein Abschreibfehler – auf die Vermeidung des wiederholten Dativobjekts „uns“ gerichtet gewesen sein. Die Strophenauswahl ist vom liturgischen Platz bestimmt („Zünd uns ein Licht an im Verstand“). Die Schluss-Strophe wird aus derselben Rubrik des Jauerschen Gesangbuchs stammen und zwar aus dem Lied eines unbekannten Verfassers „Laßt uns heut’ vor Gott uns freuen“. Dessen letzte Strophe richtet den Blick hinaus ins Leben, sie ruft zur Wertschätzung der geistlichen Gaben sowie zur geschwisterlichen (!) Eintracht auf. Schleiermacher hat den Ausgang der Strophe abgeändert und – dem liturgischen Ort gemäß – den Segen Gottes („du segnest gern“) eingetragen. Das Lied beschließt den Gottesdienst mit der Selbstverpflichtung der Gemeinde: „Wir folgen dir, dem guten Herrn.“
2. Die Kirchenmusik Die Kirchenmusik ist wieder symmetrisch gebaut. Zwei Choralstrophen rahmen das Ganze, wobei die Gemeinde das erste und das letzte Wort hat.27 An die Choralstrophe „Du Quell, draus alle Weisheit fließt“ schließt sich nach dem Prinzip der Stichwortanknüpfung („Höre, lehre“) ein Chorsatz auf den Text von Ps 143,10 „Lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen; denn du bist mein Gott! Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn“ an. Schleiermacher stellt gern ein biblisches Wort antiphonartig an den Beginn der eigentlichen Figuralmusik.28 Nach den Soli auf die Worte „Sende Erlöser uns den Tröster, Daß er uns in alle Wahrheit leite, Daß er dich in uns verkläre.“ singt der Chor „Auf uns nieder komm o heilger Gottesgeist“, danach die Choralstrophe „Hör unser Gebet, Gottes Geist“ Mit der Gemeindestrophe „Du heiliges Licht“ schließt die Kirchenmusik. Neben Stichwortanknüpfungen zeichnet sich in den Figural-
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Die Fassung des Jauerschen Gesangbuchs weicht von der in den „Veränderten Liedern“ erheblich ab, vgl. F. G. Klopstock, Geistliche Lieder. Erster Theil, Kopenhagen und Leipzig 1773, S. 209, hier die ersten beiden Strophen: Komm, heiliger Geist! Tröster! Gott! / Erfülle, Geist der Salbung! Gott! / Mit deiner Liebe Seligkeiten, / Die Jesu Christo sich weihten! / Die Völker aller Welt führst du / Ins Heiligthum, zu Gottes Ruh! / Es schall Anbetung dir zum Ruhme! / Singt, Völker, ihm im Heiligthume! Halleluja! Halleluja! ‒ Du heiliges Licht! starker Hort! / Durch dich leucht’ uns des Lebens Wort! / Den Ewigen lehr uns erkennen! / Von Herzen Vater ihn nennen! / Ein neuer Irrthum ist erwacht! / Durchstrahle du des Irrthums Nacht! / Sie wollen, Herr, unsern Glauben, / Den Mittler, Jesum Christum, rauben! / Bekehre sie! bekehre sie! So meistens auf den Liederblättern, vgl. die Übersicht bei I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 40‒42. Vgl. die Liederblätter Neujahr 1817, Invocavit 1817, 2. Reformationstag 1817, 2. Weihnachtstag 1817.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
stücken eine trinitarische Struktur als Bauprinzip ab, wobei die Anrufung des Heiligen Geistes den theologischen Rahmen bildet. Keines der Einzelstücke geschweige denn das Ganze konnte bisher eindeutig musikalisch identifiziert werden. Nach jetzigem Kenntnisstand scheinen Schleiermacher und Rex wieder die Pasticcio-Form gewählt zu haben.29 Für das erste Stück im Wortlaut „Lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen“ bietet der Handschriftenkatalog von RISM30 z. Zt. 14 Einträge, von denen einige allerdings schon wegen abweichender Besetzung (J. F. Doles31, H. Wundsch32, G. Ph. Telemann33), andere wegen abgelegener Fundorte ausscheiden: C. Graupner (Darmstadt)34, J. G. Vierling (Frankfurt a.M. und Kempten, Allgäu); J. W. Glaser (Wertheim bei Würzburg); Gessel und C. G. Tag (beide Danzig). Hinzu kommt, dass keiner der genannten Komponisten: Graupner, Vierling, Glaser, Gessel und Tag von der Singakademie unter Zelter rezipiert wurde.35 Die Suche wird dadurch noch komplizierter, dass es Stücke mit der expliziten Herr-Anrede im Titel „Herr, lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen“ gibt, u. a. eine Motette für vierstimmigen gemischten Chor a capella von G. A. Homilius, die nach Besetzung, Stil und Satztechnik sonst wohl in Frage käme und von der auch eine Abschrift in der Berliner Staatsbibliothek vorhanden ist36, genauso wie die gleichnamige Motette des nicht näher bekannten Johann Georg Weiske (1746‒1806), für die auch sprechen könnte, dass sie in der beliebten und verbreiteten Motettensammlung von J. A. Hiller enthalten war.37 29 30 31
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Zum Problem s. o. S. 40‒44 und S. 76f. Auf CD-Rom. RISM, Musikhandschriften nach 1600. 13. kumulierte Auflage (1998-2008). Johann Friedrich Doles (1715‒97), Psalmkantate „Herr, erhöre mein Gebet“, darin als viertes Stück die Sopran-Arie „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“ Das Ms. befindet sich in Herrnhut (Mus.K.108:1). Heinrich Wundsch (18. Jhd.), Kantate am Sonntag Kantate „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“, beginnt mit gleichnamiger Sopranarie. Fundort: Frankfurt/M. „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“. Duett für Alt und Bass mit Streichern (TVWV 10:31), Fundort Universitätsbibliothek Frankfurt/M., vgl. auch Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Band II, Frankfurt 19952, S. 43. Christoph Graupner (1683–1760), Kantate für Chor, Orchester und bc „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“ (1751). Hier ist wohl nur der Eingangschor erhalten. Fundort: Universitäts-und Landesbibliothek Darmstadt (Signatur Mus.ms 459/13). Vgl. Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791‒1941, Regensburg 1941. – Auch sind gar nicht alle diese Kantaten Pfingstkantaten. So sind die Kantaten von Gessel und Tag für den Sonntag Septuagesimae, die von Glaser und Vierling für den Sonntag Kantate, ebenso die Kantate von Wundsch und die des Anonymus (s. u.), und die von Graupner wohl für den Trinitatis-Sonntag bestimmt. Gottfried August Homilius, Motette „Herr, lehre micht thun nach deinem Wohlgefallen“ (SBB: Mus.ms. 10808/4). Vgl. Motetto IV von Weiske, in: Vierstimmige Motetten und Arien in Partitur, von verschiedenen Componisten, zum Gebrauche der Schulen und anderer Gesangsliebhaber gesammelt und herausgegeben von Johann Adam Hiller. Fünfter Theil. Leipzig 1784, S. 36‒39. Folgender Text: „Herr lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen, denn du bist mein Gott, dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn.“ Bibliothek der Universität der Künste Berlin, Signatur:
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Als Stücke mit genau identischem Text bleiben 1) ein Anonymus, darin der erste Chor: „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“38, 2) Johann Balthasar Christian Freißlichs (1687–1764) Pfingstkantate für Chor und Orchester mit dem Eingangschor „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“39 und 3) Gottfried Heinrich Stölzels (1690–1749) Kantate „Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen“.40 Von Wortlaut, Besetzung, Bestimmungstag und Rezeptionsgeschichte her kommt am ehesten der Chor von Stölzel in Frage, ein 80 Takte langes Stück, das mit einer Chorfuge beginnt, der ein syllabisch deklamierender zweiter Teil „Denn du bist mein Gott“ folgt, und das mit einer Koloratur „auf ebener Bahn“ schließt. Für Stölzel spricht, dass die Kantate von dem Berliner Kirchenmusiker Jacob Ditmar abgeschrieben worden war und somit bereits Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin rezipiert wurde. Auch befindet sich eine Abschrift im Archiv der Singakademie.41 Für den Prosatext der Soli „Sende Erlöser uns den Tröster“ kann ich bisher keinen Titel aus der Musikliteratur nennen.42 Kantor Rex könnte die kurzen Stücke auf Joh 14ff. etwa in Rezitativ-Form selbst vertont haben.
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RA 5627-5. ‒ Hierbei handelt es sich um ein 33-taktiges a-capella-Stück im überwiegend homophonen Satz mit kleinen Solo-Passagen in allen vier Stimmen. Das Stück ist außerdem vorhanden in Herrnhut (Mus.B 40:507 und Mus.M 195:2). – Weitere Stücke mit dem Titel „Herr, lehre mich thun“ stammen lt. RISM von J. P. Förtsch (1652‒1732), D. H. Garthoff († 1741), J. C. Büchner (1726‒1804) und C. G. A. Bergt (1771‒1837), die jedoch in Berlin zu jener Zeit kaum rezipiert wurden, da es z. B. keinerlei Einträge im Archiv der Sing-Akademie gibt. Lediglich von Förtschs Kantate gibt es in der SBB eine Abschrift (SBB: Mus.ms.6471). Luckau, Kantoreibibliothek (Signatur: 31). Sondershausen, Stadt- und Kreisbibliothek (Signatur: Mus. A 7:42). Vgl. Fünfzehn Kirchenkantaten von Gottfried Heinrich Stölzel, Kapellmeister in Gotha, Band II, darin die Nr. 12 „Lehre mich thun nach deinem Wohlgefallen“ Der Chor stimmt textlich exakt überein, alle anderen Stücke der Kantate weichen jedoch ab (SBB: Mus.ms.21412 II). – Nach RISM und F. Hennenberg, Das Kantatenschaffen von Gottfried Heinrich Stölzel, Leipzig 1976, gibt es von Stölzel noch eine in Sondershausen befindliche gleichnamige Kantate aus dem Jahre 1736, vgl. F. Hennenberg, ebd. S. 103, außerdem nach RISM einen gleichnamigen Chor in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (Signatur: ND VI 965.43). SBB: SA 909. – Ich beziehe mich auf den bisher ungedruckten Aufsatz von Christoph Henzel, Telemann-Überlieferung im Spiegel des Notenarchivs der Sing-Akademie zu Berlin, in: Telemann, der musikalische Maler / Telemann-Kompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin. Bericht über die Internationale Musikwissenschaftliche Konferenz anlässlich der 17. Magdeburger Telemann-Festtage, 10.‒12. März 2004 (Telemann-Konferenzberichte, Bd. 15), hrsg. v. C. Lange u. B. Reipsch. Im Manuskript S. 13, Fußnote 41, wo Henzel auf Partitur und Stimmen der Pfingstkantate „Lehre mich thun“ von Stölzel (SA 909) hinweist und erläutert: „Während der Kopist der Partitur unbekannt ist, stammen die Stimmen von der Hand Ditmars. Das WZ der Orgelstimme (großes Monogramm FR) verweist auf die Enstehung in Berlin.“ – Dass Stölzels Werke zum Repertoire der Singakadamie unter Zelter gehörten, bestätigt auch Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791‒1941, S. 43. Damit erfüllt das Werk übrigens auch den Schleiermacherschen Anspruch „von schon anerkanntem und bewährten musikalischen Verdienst“, vgl. ders., Über die neue Liturgie (1816), KGA I/9, S. 95. Nach Auskunft des katholischen Liturgiewissenschaftlers Ansgar Franz (Mainz) handelt es sich nicht um die Übersetzung lateinischer liturgischer Texte, sondern um Texte frei nach Johannes 14,16f.; 15,26; 16,7.13.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Interessant ist wiederum das nächste Stück. Für den vorliegenden Text „Auf uns nieder komm“ verzeichnet RISM keine Belege. Ich vermute aber, dass es sich hier um eine deutsche Übertragung der lateinischen Antiphon „Veni Sancte Spiritus, Reple tuorum corda fidelium“ handelt, die häufig vertont worden ist.43 Es wäre auch denkbar, dass eine der zahlreichen Vertonungen des alten Textes auf lateinisch gesungen wurde und auf dem Liedblatt nur die deutsche Übersetzung (vielleicht von Schleiermacher) abgedruckt war. Dazu passt, dass es eine (sogar gedruckte) „Veni-sancte-spiritus-reple“ Vertonung des damaligen Leipziger Thomaskantors Johann Gottfried Schicht (1753‒1823) 44 gibt, die ebenfalls mit deutschen Untertiteln versehen war. Zwar divergiert die deutsche Übersetzung dieser Motette vollständig von der hiesigen45, doch sie belegt – und zwar für diesen Text – die Praxis, alte Hymnentexte mit einem deutschen Text zu unterlegen. Was nun das musikalische Werk betrifft, so tappen wir völlig im Dunkeln. Die nahe liegende Idee, dass es sich bei dem Stück um eine der damals so beliebten „altitalienischen“ Vokalwerke handeln könnte, scheidet aus.46 Denkbar wäre die lange C. Ph. E. Bach zugeschriebene, tatsächlich von G. Ph. Telemann stammende „Veni sancte Spiritus“-Komposition von 1760, ein zweiteiliger Chorsatz (57 Takte) für vierstimmigen gemischten Chor und Orchester, der mit einer choralartigen Eröffnung beginnt und mit einer Chorfuge („Qui per diversitatem linguarum ... Halleluja“ 3/4-Takt) schließt. Für dieses Stück könnte sprechen, dass es eine Abschrift im Archiv der Singakademie gibt47 und dass 43
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„Veni Sancte Spiritus, / Reple tuorum corda fidelium, / Et tui in eis ignem accende, / Qui per diversitatem linguarum cunctarum / Gentes in unitate fidei congregasti. / Alleluia, Alleluia.“ – RISM verzeichnet unter dem Einordnungstitel „Veni sancte spiritus reple“ 86 Einträge, darunter Werke von C. Ph. E. Bach, C. H. Graun, A. Hammerschmidt, N. Jommelli, Orlando di Lasso, J. G. Schicht, G. Ph. Telemann. Motetto Veni sancte spiritus – Heiliger Quell der ewigen Seligkeit – für vier Singstimmen komponirt von J. G. Schicht. Gedruckt bei Kühnel in Leipzig (SBB: Mus.13071). Handschriften in Zittau, Herrnhut, Gnadau, Stadtbibliothek Lübeck, Leipzig Musikbibliothek. „Heilger Quell der ewgen Seligkeit, ströme Segen und Heil auf uns! Erfülle unsre Herzen mit Kraft und Freudigkeit, durchwalle die Brust mit deinem heiligen Feuer, und weih sie dir zum heiligen Tempel. Völker von alle Landen bekennen vereinet, was sie, von dir begeistert, schauten und tief empfanden! Weit über alle Sphären erschalle laut dein Ruhm. Halleluja.“ Bei den im Handschriftenbestand der SBB: vorhandenen Veni-sancte-Spiritus-Kompositionen der damals auch von Zelter gern rezipierten Italiener, z. B. Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525‒1594) [Mus.ms. 16750‒3, Mus.ms. 16755, Mus.ms. 16758‒4, Mus.ms. 16759‒3, Mus.ms. 16763 und Am.B. 281 (31)] und Nicolo Jommelli (1714‒1774) [Mus. ms. 11212/12-14] handelt es sich sämtlich um Vertonungen der Pfingstsequenz „Veni Sancte Spiritus, et emitte caelitus lucis tuae radium“. – Zum grundsätzlichen Verhältnis s. o. S. 23f. Zur Rezeption altitalienischer Vokalmusik vgl. auch J. Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der 2. Hälfte des 18. Jhds, Göttingen 2001, S. 34‒85. Vgl. SA 263. Das Werk aus dem Nachlass Carl Philipp Emanuel Bachs kam 1805 in den Besitz des Sammlers Georg Poelchau und wurde von diesem im Jahre 1811 zusammen mit vielen anderen Bachquellen an Zelter übergeben, vgl. Wolfram Enßlin, Die Bach-Quellen der Sing-Akademie zu Berlin. Katalog, Hildesheim-Zürich-New York 2006, S. 515. – Zur Verfasserschaft des Stückes vgl. Heinrich Miesner, Philipp Emanuel Bach in Hamburg, Wiesbaden 1929 (Reprint 1969), S. 85f.: „In der SAkB [Bibliothek der Singakadamie Berlin, B. S.] fand Verfasser Chor-
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der vermeintliche Komponist, C. Ph. E. Bach von Zelters Singakademie gern und viel gesungen wurde48 und seine Musik nachweislich auch in den Kirchenmusiken der Dreifaltigkeitskirche erklang.49 Doch auch hier gilt: Gewissheit bezüglich der vorgetragenen Musikwerke wird es erst geben, wenn Notenmaterial oder weitere Zeitzeugenberichte auftauchen.
3. Der Gottesdienst im Ganzen Die festliche Gestaltung des Gottesdienstes, von dem wir leider die Predigt nicht kennen, manifestiert sich durch die Figuralmusik sowie durch die Auswahl festlicher Melodien. Zum ersten Mal im Jahre 1817 greift Schleiermacher nachweislich auf das später so häufig benutzte Stettiner Gesangbuch zurück. Auch sonst zeigt er sich traditionsbewusst, etwa beim Kanzelvers mit Luthers „Komm Gott Schöpfer heiliger Geist“. In den Lied- und Musiktexten, die – bis auf den Anfang des Eingangsliedes, die Antiphon „Lehre mich thun“, das Terzett „Sende Erlöser“ und das Ende des Schlussliedes – Gott, den Heiligen Geist ansprechen, begegnet auffallend häufig das Motiv des Lichtes bzw. der geistlichen Erleuchtung (alle Lieder bis auf das Schlusslied). Außerdem ist eine Tendenz vom Ich (Eingangslied) zum Wir (ab dem Hauptlied), auch in den Kirchenmusiktexten („Lehre m i c h thun“ – „Sende Erlöser u n s den Tröster“), die einem trinitarischen Aufbau
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und Orchesterstimmen zu einem ‚Veni sancte spiritus’ unter dem Namen Ph. E. Bachs. Nachdem er schon die Partitur zusammengestellt hatte, entdeckte er jedoch, daß das Werk von Telemann ist, dessen eigenhändige Partitur aus dem Jahre 1760 die B. B. [SBB:, B.S.] bewahrt (Mus.ms. Telemann G. Ph. 125); somit ist Wotquennes Thema 220 zu streichen. Nach den vorhandenen Stimmen zu urteilen, hat Bach wahrscheinlich immer dieselbe Komposition zu den Einführungen benutzt.“ Vgl. Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791‒1941 (1941), S. 28, 44, 45, 49. Das gilt nicht in gleicher Weise für Telemann, der um 1800 als veraltet galt. Von Schünemann wird er in der Zelter-Ära nur einmal summarisch erwähnt, vgl. ebd., S. 43. – Freilich gibt es eine ganze Reihe von Telemann-Kantaten zu „Veni sancte spiritus reple“, was damit zusammenhängt, dass dieser Text (lateinisch oder deutsch) in Hamburg für die Einführung von Predigern verwendet wurde. Lt. Werner Menke, Das Vokalwerk G. Ph. Telemanns, Kassel 1942, S. 85f., hat Telemann für mehr als 40 Pfarrer die Einführungsmusiken geschrieben, die jeweils aus vier Teilen bestanden: Vor der Predigt eine vollständige Kantate, nach der Predigt ein Chor – entweder lateinisch „Veni sancte spiritus“ oder deutsch „Komm, heiliger Geist, erfülle“ – dann ein Stück direkt vor der Ordination sowie eine zweite Kantate zum Beschluss. „Vom ‚Veni sancte spiritus’, dem in Motettenform geschriebenen Mittelteil, sind uns 7 autographe und 3 andere Fassungen erhalten, die meisten davon ohne Jahresangabe. Von der deutschen Fassung ‚Komm heiliger Geist, erfülle...’ kennen wir 4. In allen Fällen stellen wir die außerordentlich starke Wandlungsfähigkeit Telemanns fest; den gleichen Text auf soviel verschiedene Arten vertont zu haben, ist immerhin ein beachtenswertes Zeichen von Können. Miesner teilt mit, daß die 7 Autographen und 2 Kopien des deutschen Textes aus dem Nachlaß von Phil. Em. Bach stammen.“ W. Menke, S. 86. Vgl. etwa den Gottesdienst am 2. Ostertag 1819 (Lb L 40), bei B. Schmidt, Lied, S. 161.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
entspricht (vgl. im Eingangslied und in den Kirchenmusiktexten: Gott – Erlöser – Gottesgeist) zu beobachten. Wieder einmal ist es ein Kirchenmusiktext, der auch die alttestamentliche Tradition wahrt (Ps 143,1).50 Schließlich zeigt sich sowohl beim Kanzelvers als auch beim Schlusslied eine sorgfältige, auch nach liturgischen Gesichtspunkten erfolgte Anordnung bzw. Abänderung der Liedtexte.
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Vgl. dazu auch B. Schmidt, Lied, S. 143f.
Am Sonntag Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Nun danket alle Gott3
Gelobet sey der Herr, mein starker Schutz4, mein Leben, Mein Schöpfer der mir hat Leib Seel’ und Geist5 gegeben, Mein Vater der mich führt6 von Mutterleibe an, Der alle Augenblick viel Guts an mir gethan. Gelobet sey der Herr, mein ewig Heil7 mein Leben, Des Vaters liebster Sohn, der sich für mich gegeben, Der mich erlöset hat mit seinem theuren Blut, Der mir im Glauben schenkt des allerhöchsten8 Gut. Gelobet sei der Herr, mein süßer Trost9, mein Leben Des Vaters werther Geist, den mir der Sohn gegeben, Der mir mein Herz erquickt zu immer neuer Kraft,10 Und mir in aller Noth Rath Hülf und Ausgang schafft.11 Gelobet sei der Herr, mein Gott, der ewig lebet, Den alles liebt12, was in den weiten Lüften schwebet, Gelobet sei der Herr, deß Namen heilig heißt, Der Vater mit dem Sohn, in uns der heilge Geist.13 Dem lassen wir anitzt das Heilig froh erklingen, Und wollen mit der Schaar der Engel ihm Lob singen;
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1.6.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 12. Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 378. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 124 und A. W. Bach, Nr. 173. mein starker Schutz] mein Gott, mein Licht, Leib Seel’ und Geist] mein’n Leib und Seel’ führt] schützt mein ewig Heil] mein Gott, mein Heil des allerhöchsten] das allerhöchste mein süßer Trost] mein Gott, mein Trost zu ... Kraft,] der mir giebt neue Kraft, Und mir ... schafft.] der mir in aller Noth Rath, Trost und Hülffe schafft. liebt] lobt Der Vater ... Geist.] Gott Vater, Gott der Sohn, und Gott der werthe Geist.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Ihn preise dankbar stets die ganze Christenheit, Gelobt sei unser Gott in alle Ewigkeit.14 [Olearius]
N a c h d e m G e b e t . 15 Mel. Es woll uns Gott.16
Herr unser Gott wer ist dir gleich Du allerhöchstes Wesen,17 Der du an Gnad unendlich reich18 Uns dir zum Dienst erlesen! Gemeinschaft sollen wir mit dir Du allerhöchster haben; Mit deinem Heil willst du uns hier Und ewig einst begaben, Du Quelle alles Seegens! Wir beten dich o Vater an! Sind wir gleich vor dir Sünder; Du führest doch auf ebner Bahn Auch die verirrten Kinder.19 Du hast für uns aus großer Huld Selbst deinen Sohn gegeben; Dein Herz voll Güte und Geduld Lehr uns des Glaubens leben An dich den rechten Vater. O Jesu ew’ger Gottes Sohn Auf dessen Heil wir hoffen,20 Durch dich steht zu des Vaters Thron Der Weg uns wieder offen, Uns zu befrein von Sünden, Noth21 Kamst du zu uns auf Erden; So laß dein Leben deinen Tod
14
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Dem lassen ... Ewigkeit.] Dem wir das Heilig itzt mit Freuden lassen klingen, / und mit der Engel Schaar das Heilig, Heilig singen; / den hertzlich lobt und preist die gantze Christenheit, / gelobet sey mein Gott in alle Ewigkeit. Q: Bremer Gb, Nr. 49. Vf. Ludwig Andreas Gotter, überarbeitet von Johann Samuel Diterich. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 54 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 73. Du ... Wesen,] Du bist das höchste Wesen. Der du ... reich] Und doch hast du, an Gnade reich, Du führest ... Kinder] so nimmst du dich doch unser an, / wie Väter ihrer Kinder. Auf dessen ... hoffen,] Du Heil, auf das wir hoffen! von Sünden Noth] von Sünd’ und Tod,
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Uns recht gesegnet werden,22 Und dir im Glauben dienen. O heil’ger Geist, du Geist von Gott Wehr in uns dem Verderben! Im Glauben an des Mittlers Tod Hilf uns der Sünde sterben. Du bists der guten Willen schafft, Gieb Kraft auch zum Vollbringen, Daß wir durch unsre Pilgerschaft Das Vaterland erringen23 Zum Preise deiner Gnade. Herr segn’ uns denn von deinem Thron, Und gieb uns recht Gedeihen, Daß wir auf dieser Erde schon Des Himmels uns erfreuen!24 Dein ist das Reich die Herrlichkeit; Dir wollen wir hier leben: So wirst du nach vollbrachter Zeit Uns einst dahin erheben, Wo wir dein Antlitz schauen. [Bremisches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 25 Mel. Die Seele Christi.26
Die Gnade des Herrn Jesu Christ, Die Liebe deß der Vater ist, Des heil’gen Geists Gemeinschaft sei In seinem Haus’ uns fühlbar neu.27 Der Vater segn’ uns, unser Gott! Der Sohn segn’ uns durch seinen Tod, Des heilgen Geistes Gütigkeit Segne die ganze Christenheit.28
22 23 24 25 26 27 28
So laß ... werden,] O laß uns, unser Herr und Gott, / froh deines Segens werden, Daß wir ... erringen] damit in unsrer Pilgerschaft / wir näher stets dir dringen, Herr segn’ ... erfreuen!] Laß, Gott, uns dein auf Erden schon, / als unsers Horts uns freuen! / Herr, segne uns von deinem Thron, / daß wir vor dir gedeihen! Mögliche Q: Brüder-Gesangbuch, Nr. 260 und 253,4. Zur Melodie s. o. S. 129, Fußnote 18. In seinem ... neu.] uns alle Tage fühlbar neu. Der Vater ... Christenheit.] Uns segne der Herr unser Gott! / uns segne der Sohn durch sein’n Tod! / es segne des Geists Gütigkeit / uns und die ganze Christenheit! Vgl. Brüder-Gb, Nr. 254,4.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
N a c h d e r P r e d i g t . 29 Mel. Komm heiliger Geist, Herre.30
Lob Preis und Ehre bringen wir Gott Vater Sohn und Geist nun31 Dir! Es müsse jedes Land auf Erden Voll deiner Herrlichkeit werden! Wie seelig wie begnadigt ist Ein Volk, des Zuversicht du bist! Jehova deinem großen Namen Sei ewig Ruhm und Ehre, Amen! Sei hochgelobt, sei hochgelobt.
29 30 31
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 42,6. Autor unbekannt. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 103 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 141. nun] nur
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1. Liedauswahl und Textredaktion Die Quelle für das Eingangslied von Johann Olearius (1611–1684) ist unsicher. Trotz vieler Abweichungen gehe ich aber davon aus, dass Schleiermacher das Lied aus dem Stettiner Gesangbuch abschrieb. Dafür spricht nicht zuletzt, dass er hier den Autor nennt, was er nur macht, wenn – wie im Stettiner oder Jauerschen Gesangbuch – auch das Quellengesangbuch den Autor angibt. Zunächst nimmt Schleiermacher Anstoß an dem anaphorischen Beginn des Liedes, der in den ersten drei Strophen begegnet und aus einer Dreierformel besteht, bei der stets das mittlere Glied abgewandelt wird (Licht, Heil, Trost). Schleiermacher streicht jeweils das erste Prädikat „Gott“ und fügt dem zweiten variablen Prädikat ein Attribut hinzu: „mein starker Schutz“, „mein ewig Heil“, „mein süßer Trost“. Eine theologisch verständliche Maßnahme, die die göttlichen Eigenschaften der einzelnen trinitarischen Personen differenzieren und hervorheben will, die aber sprachlich als unglücklich bezeichnet werden muss. Das Streben nach theologischer Korrektheit und Vollständigkeit zeigt sich auch bei der Hinzufügung des Geistes zu Leib und Seele als einer Umschreibung für die somatische Ganzheit des Menschen (1/2) oder bei der Änderung des attributiven Ausdrucks „das allerhöchste Gut“ in „des allerhöchsten Gut“, einen Genitivus subjektivus im Sinne von „das Gut des Allerhöchsten“ (nämlich Gottes, 2/4). Auch bei diesem Lied gehen viele Änderungen auf die Beseitigung von Wortwiederholungen zurück, z. B. die Eliminierung von „Trost“ in 3/4 , da Trost schon in 3/1 genannt ist, oder den Ersatz von „Den alles lobt“ durch „Den alles liebt“ in 4/2, weil diese Strophe bereits mit dem „Lob“ begonnen hat wie auch die meisten Abweichungen in der letzten Strophe, bis auf das konsequente Kollektivum „unser Gott“ in 5/4. Die Änderungen in der vierten Liedblattstrophe lassen sich ebenfalls so verstehen, dass der Parallelismus „Gott Vater, Gott der Sohn, und Gott der werthe Geist“ durch die erläuternde Form „Der Vater mit dem Sohn, in uns der heilge Geist“ ersetzt werden sollte. Dabei ist der von Schleiermacher stammende, kaum zufällig das kollektive „uns“ einführende Ausdruck „in uns der heilge Geist“ besonders zu beachten.32 Auch das von Ludwig Andreas Gotter (1661–1735) stammende und von Johann Samuel Diterich (1721–1797) überarbeitete Hauptlied aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Gott“, Unterrubrik „Vater, Sohn und Geist“, hat die Herrlichkeit des dreieinigen Gottes zum Inhalt. Schleiermacher hat an dem Liedtext einige theologische Konjekturen vorgenommen. So wird in 1/2 der Superlativ „höchstes Wesen“ analog 1/6 noch einmal hyperbolisch zu „Du 32
Vgl. den Leitsatz § 142 in CG1: „Der heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur unter der Form des das Gesammtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.“ KGA I/7/2, S. 198. Weiter heißt es: „Denn wenn wir von dem heiligen Geiste sollen gedrungen und getrieben werden, so muß er unmittelbar in uns sein; denn sonst wirkte er noch nicht in uns, sondern auf uns, und wir wären noch in dem Zustande der bloßen Empfänglichkeit.“ Ebd., § 143, S. 204. Die Rede, dass der Geist Gottes in uns wohnt, erinnert daran, „daß das göttliche Wesen in uns auf eine andere Weise ist als in Christo, und daß wir es nicht jeder für sich allein in uns haben, sondern nur alle in Gemeinschaft.“ Ebd., S. 206.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
allerhöchstes Wesen“ gesteigert. Auch in 1/3 wird der Konjunktionalsatz „Und doch hast du, an Gnade reich“ durch den Relativsatz „Der du an Gnad unendlich reich“, der ebenfalls hyperbolisch steigert und deutlicher die Freiheit und Ehre Gottes wahrt, ersetzt. Dasselbe Anliegen verfolgt die Korrektur in 2/3-4: Gottes Handeln ist mit menschlichem Handeln („wie Väter ihre Kinder“) nicht zu vergleichen. In 3/5 wird das traditionelle „Sünd und Tod“ durch das asyndetische Paar „Sünden, Noth“ ersetzt, wobei die Interpunktion unsicher ist. Sicher ist aber, dass Schleiermacher die Befreiung vom physischen Tod nicht aussagen wollte. Bei der nächsten Stelle (3/7) präzisiert Schleiermacher die christologische Aussage: Die für Christus offenbar anstößige Anrede „Herr und Gott“ (vgl. aber Joh 20,28) wird zurückgenommen. Der Eingriff in 4/7–8 stellt wiederum eine theologische Berichtigung dar: Das dem Geist „näher dringen“ dürfte Schleiermacher als eine theologische Unmöglichkeit erschienen sein, da er im Heiligen Geist den Gemeingeist der christlichen Kirche sah, dessen „Teilhaber“ jeder einzelne Christ immer schon ist.33 In der letzten Strophe, die wiederum an Gott den Vater gerichtet ist, hat Schleiermacher dann auch seine präsentische Eschatologie eingetragen (Daß wir auf dieser Erde schon / Des Himmels uns erfreuen!), ohne den futurischen Aspekt zu streichen.34 Unter der Predigt werden zwei Strophen gesungen, die aus verschiedenen Liedern, aber wohl beide aus der Rubrik „Von der heiligen Dreyeinigkeit“ des Brüdergesangbuchs stammen.35 Beide Strophen stimmen in ihrer trinitarischen Struktur und Aussage überein, wobei die erste Strophe den trinitarischen Gruß aus 2Kor 13,13 paraphrasiert, während die zweite Strophe einen trinitarischen Segen ausspricht. Die erste Änderung („in seinem Haus“) macht den Text noch gottesdiensttauglicher. In der zweiten Strophe hat Schleiermacher – falls er es war – die trinitarischen Personen noch einmal korrekter und entsprechend der ersten Strophe nominiert (Vater, Heiliger Geist) und sie jeweils an den Zeilenanfang gesetzt, wo sie im Strophenschema auch betont sind. Der Schlussgesang „Lob, Preis und Ehre bringen wir“ entstammt wahrscheinlich dem gleichnamigen Lied des Jauerschen Gesangbuchs, Rubrik „Preisgesänge der Gottheit“ „Dem Dreieinigen“ und ist fast textidentisch aufgenommen. Der Text klingt an den Lobpreis der Engel in Jesaja 6 an, weshalb auch der Gottesname „Jehova“ auftaucht, den Schleiermacher freilich in späteren Jahren getilgt hat.36
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Vgl. CG1, Leitsatz § 142 s. o. Fußnote 32. Im Leitsatz § 143 heißt es: „so ist nun für einen jeden Einzelnen Christum in sich haben und den heiligen Geist haben eines und dasselbe.“ KGA I/7/2, S. 203. Vgl. dazu auch I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 156f. und S. 188‒193. Die Prüfung der übrigen Liederblätter ergab, dass Schleiermacher bei dieser kleinen Melodie fast immer zwei oder mehr Strophen singen ließ. Die Melodie begegnet zwölfmal auf den Liederblättern, wobei nur ein einziges Mal, Invocavit 1817, dort vielleicht schlicht aus Platzgründen, bloß eine Strophe angesetzt ist. Vgl. die Liederblätter L 138 (Trinitatis 1822), L 168 (Trinitatis 1823) und H 19 (Neujahr 1828).
Am Sonntag Trinitatis 1817.
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2. Das Ganze Die Analyse dieses Liedblatts wird erschwert durch die Unsicherheit hinsichtlich der Quellengesangbücher und durch das Fehlen einer Predigtnachschrift.37 Gleichwohl zeigt das Liedblatt mit seinen durchweg trinitarischen Liedtexten, dass der Liturg und Hymnologe Schleiermacher der kirchlichen Tradition näher stand als der Dogmatiker der Glaubenslehre, der die Trinitätslehre bekanntlich in den Anhang verbannt hatte. Die Textbearbeitung vor allem im Lied vor der Predigt lässt erkennen, dass Schleiermacher die Ehre des dreieinigen Gottes auf die Spitze treibt und gleichzeitig zwischen den trinitarischen Personen sauber differenziert. Neben vielen dogmatisch oder ästhetisch begründeten Textänderungen fallen auch wieder liturgisch bedingte auf (Kanzelvers). Der Gottesdienst schließt wie er begonnen hat: Mit dem Lob des dreieinigen Gottes aus dem Munde der Gemeinde. Es ist davon auszugehen, dass auch der Prediger die göttliche Dreifaltigkeit thematisiert hat. Außerdem zeigt das Liedblatt durch seine inhaltliche Geschlossenheit eindrücklich, dass der Trinitatissonntag als kirchliches Fest betrachtet wird, dem eine „bedingte Darstellung“, also ein externer Gegenstand, eigentümlich ist.38
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Im Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 2720 war Schleiermacher für den 1.6.1817 angekündigt. Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 18f.
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Jesu der du meine.3
Unerschöpfter Quell des Lebens Du hast deine Kinder lieb! Müde nie des frohen Gebens Reicher Vater aller, gieb Gieb uns Allen täglich Gnade! Sei uns Licht auf unserm Pfade Höher täglich führ uns hie, In der Noth verlaß uns nie! Vater! Vater dich zu nennen, Sei der Seele größte4 Lust; Höchste Weisheit! so dich kennen Fülle freudig unsre Brust.5 Tröster, Führer! Nein an Deiner Treu und Milde6 zweifle keiner; Jeder sag und jeder denk’ Gott ist gut und sein Geschenk!7 Jesus Christus, unser Leben, Send’ uns was dein Gott dir gab, Dir, dem alles übergeben, Aus dem Heiligthum herab! Freuden die uns nie gereuen, Leiden die uns ewig freuen, Trieb das beste nur zu thun, Lust und Kraft in dir zu ruhn.
1 2 3 4 5 6 7
15.06.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 13. – Vgl. auch die Abbildung, s. u. S. 306f. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 760,1‒2/3.5‒6/7. Mel. Schwinge zu des Himmels etc. Zur Melodie s. o. S. 56, Fußnote 3. größte] höchste Fülle ... Brust.] Freude füll’ dann unsre Brust, Milde] Weisheit Tröster ... Geschenk!] aus Strophe 3, Verszeilen 5‒8.
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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Lehr uns dulden, reden, schweigen, Jetzt mit Heldenglauben flehn, Dann uns tief in Demuth beugen, Nun; Dein Wille soll geschehn! Lehr uns dich im Geist umfassen, Gutes lieben, böses hassen; Mache, brünstig flehen wir, Heiliger uns ähnlich dir!8 [Lavater.]
Nach dem Gebet.9 Mel. Die Tugend wird.10
O Tag des Herrn du sollt mir heilig Ein Festtag meiner Seele sein! Gleich jenen ersten Christen, heilig Will ich den Tag der Andacht weihn. Zum Himmel soll mein Geist sich schwingen, Zum Himmel, denn11 ich feire heut Entfernt von allen eitlen Dingen Den Festtag wahrer Frömmigkeit12.13 Mit allen heiligen Gemeinen, Die heut vor deinem Antlitz stehn, Soll meine Seele sich vereinen Herr deine Liebe zu erhöhn! Wo sich die Gläubigen versammeln, Stimm ich in das geweihte Chor, Dein Lob mit Ehrfurcht hier zu stammeln; Einst steigt ein bessrer Psalm empor.14
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10 11 12 13 14
Mache ... dir!] aus Strophe 7, Verszeilen 7‒8. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 597,1‒4.7, Mel. Du bist ja, Jesu, meine etc.. Oder Bremer Gb, Nr. 756, Mel. Wie groß ist des etc. Vgl. auch Johann Caspar Lavaters auserlesene Christliche Lieder, Basel 1792, Nr. XXXVIII. Sonntagslied: Ja! Tag des Herrn, du sollst mir heilig. Zur Melodie Die Tugend wird durchs Kreuz geübet etc. vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 34 und A. W. Bach, Nr. 53. denn] dem wahrer Frömmigkeit] der Unsterblichkeit Zum Himmel soll ... Frömmigkeit] entspricht Bremer Gesangbuch, Nr. 756,1, Verszeilen 5‒8. Wo sich ... empor.] Wo sich die Heiligen versammeln, / will ich dein Lob mit Ehrfurcht stammeln, / dort sing’ ich in der Engel Chor / ein beßres Lied zu dir empor. Entspricht Jauersches Gesangbuch, Nr. 597,2,5‒8.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
An diesem Gott geweihten Orte Erschallt der Gnade Stimme mir; Ich höre, Jesu, deine Worte, Und stille seufzt mein Herz nach15 dir. Da wirst du Lehrer mir und Tröster, Ich kann mich deiner Liebe freun, Ich fühle mich als dein Erlöster, Und lerne dir ergeben sein.16 Und Gottes Wort hier zu erwägen Ist hohes Glück und heil’ge Pflicht; Ein Thor verkennet nur den Seegen Aus diesem theuren Unterricht! Nein nein mit einfaltvoller Seele Mit Dank und Demuth als dein Kind Vernehm ich Vater die Befehle, Die lauter Licht und Leben sind.17 O Tag des Herrn, o18 Tag der Wonne Du Tag des Seegens für mein Herz! Bestrahle mich o Geist der Sonne So hebt mein Geist sich himmelwärts. Gott! Segne meine Andachtsstille! Erfüll mit deines Lichtes Glanz Mit deines Geistes selger Fülle19 Mich heut o Jesus Christus ganz! [Lavater.]
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nach] zu (Jauersches Gesangbuch, Nr. 597,3). Da wirst ... sein.] Da wirst du Lehrer mir und Tröster, / da kann ich mich, ich, dein Erlöster, / Weltheiland, deiner Liebe freun, / da lern’ ich dir ergebner seyn. Jauersches Gesangbuch, Nr. 597,3, Verszeilen 5‒8. Und Gottes ... sind.] Die Schriften Gottes still zu lesen, / ist heut mein Glück, und meine Pflicht; / ein Thor wär’ ich, o weises Wesen, / verwürf’ ich deinen Unterricht. / Nein, nein! mit einfaltvoller Seele / erforsch’ ich, Vater, die Befehle, / die lauter Licht und Leben sind, / mit Dank und Demuth als dein Kind. Jauersches Gb, Nr. 597,4. o ] Du. Jauersches Gb, Nr. 597,7. Erfüll ... Fülle] erfüll’ mit deines Geistes Fülle, / mit deines Angesichtes Glanz, Jauersches Gb, Nr. 597,7, Verszeilen 6‒7.
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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U n t e r d e r P r e d i g t . 20 Mel. Die Seele Christi.21
Schaff du ein reines Herz in mir Ein Herz voll Lieb und Furcht zu dir, Ein Herz voll Demuth Preis und Dank, Ein frommes22 Herz mein Lebenlang! Laß deines Namens mich zu freun Ihn stets vor meinen Augen sein! Laß meines Glaubens mich zu freun Ihn stets durch Liebe thätig sein.
N a c h d e r P r e d i g t . 23 Mel. Dir dir Jehova.24
Verkläre dich aus deinem Worte O du des Lichtes Quell auch heut uns ganz Nicht hier allein, an jedem Orte Umstrahl uns deiner ewgen Wahrheit Glanz. In Lieb und Glauben froh uns dir zu weihn Dein Tempel, Heilger, überall zu sein.
20 21 22 23 24
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 585,2.5; Lied: Ich komme vor dein Angesicht, Vf. C. F. Gellert, Mel. Vor deinen Thron. Zur Melodie s. o. S. 129, Fußnote 18. – Zu Die Seele Christi heil’ge mich etc. vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Gütersloh 1889, S. 175, Nr. 636. Die Weise fehlt bei Kühnau und A. W. Bach. frommes] ruhig Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 595,4; Lied: Dich preisen Herr, Gesang und Lieder. Vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 35 und A. W. Bach, Nr. 55.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Das Morgenlied von Lavater hat Schleiermacher höchstwahrscheinlich im Bremer Gesangbuch gefunden, wo es neunstrophig in der Rubrik „Allgemeine Gebetslieder“, in der er gern nach Eingangsliedern suchte, steht. Wieder hat Schleiermacher Wort- und Versmaterial aus sechs Strophen zu vier Strophen komprimiert, wobei die ersten beiden Liedblattstrophen an Gott, den Vater und Quell des Lebens, die beiden letzten an Christus als Lehrer und Vorbild im Leben und Leiden gerichtet sind. Die „Komposition“ der zweiten Liedblattstrophe geschah wohl aus Gründen des Gedankenfortschritts.25 Auch in seiner letzten Strophe hat Schleiermacher Verse zusammengesetzt. Die Verse 4/7-8 stammen aus der siebenten Originalstrophe und sollen das Lied hier abrunden (Christus ähnlich werden) und abschließen.26 Dabei fällt die Christusanrede „Heiliger“ auf. Insgesamt zielt Schleiermachers Textredaktion vor allem auf die Vermeidung von Wortwiederholungen: vgl. 2/2: „größte“ statt „höchste Lust“, 2/6: „Milde“ statt „Weisheit“ und auf die Verflüssigung des Textes: vgl. den Nebensatz in 2/4. Beim Lied „Nach dem Gebet“ ist schwer zu entscheiden, aus welcher Quelle es stammt. Während das Reimschema (doppelter Kreuzreim) und die Nähe zum Eingangslied (Nr. 760) für das Bremer Gesangbuch sprechen (Nr. 756 in der Unterrubrik „Sonntagsfeyer“), lassen die Strophenauswahl und die größere textliche Nähe an das Jauersche Gesangbuch denken. Denkbar wäre, dass Schleiermacher im Bremer Gesangbuch auf dieses Lied gestoßen ist, und dass er es dann mit Hilfe des Jauerschen Gesangbuchs bearbeitet hat. Die siebenstrophige Fassung des Jauerschen Gesangbuchs steht dem Lavaterschen „Sonntagslied“ (12 Strophen) textlich näher als die sechsstrophige Fassung des Bremer Gesangbuchs, in der z. B. die vierte Liedblattstrophe gar nicht enthalten ist. Hier ein synoptischer Vergleich:
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Während Lavater den Schöpfer noch für Sonne und Mond preist, geht Schleiermacher schon weiter, um den lebensgeschichtlichen Aspekt (Tröster, Führer!) in das Gotteslob miteinzuschließen. Die unverfänglichen Schlussverse der 6. Strophe lauten: Herzlich geben nicht zum Schein! / Selbst auch Feinde gern erfreun!
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.
Liedblatt L 13 (15.6.1817) Nach dem Gebet Mel. Die Tugend wird.
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 756 Mel. Wie groß ist des etc.
Du, Tag des Herrn sollst meiner Seele O Tag des Herrn du sollt mir heilig ein stiller froher Festtag seyn; Ein Festtag meiner Seele sein! ein Tag, den ich mit Ernst erwähle, Gleich jenen ersten Christen, heilig um ihn dem Lebenswort zu weihn. Will ich den Tag der Andacht weihn. Zum Himmel soll mein Geist sich schwingen,Zum Himmel soll mein Geist sich schwingen, zum Himmel, dem ich feyre heut, Zum Himmel, denn ich feire heut entfernt von allen eitlen Dingen, Entfernt von allen eitlen Dingen Den Festtag wahrer Frömmigkeit den Festtag der Unsterblichkeit.
149 Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 597 Mel. Du bist ja Jesu, meine etc.
O Tag des Herrn, du sollst mir heilig, ein Festtag meiner Seele seyn! Gleich jenen ersten Christen heilig will ich den Tag der Andacht weihn. Hinweg von allen eiteln Dingen zum Himmel soll mein Geist sich schwingen Ja, Vater, fröhlich feir’ ich heut den Festtag der Unsterblichkeit.
Sey stark, und triumphir, mein Glaube, ich weiß es, daß du Wahrheit bist! Emporgeschwungen aus dem Staube des Todes hat sich Jesus Christ. Ja, Licht und Wahrheit, Worte Gottes, sind deine Worte, ja du bist, du bleibst, trotz jedes frechen Spottes, der Sohn des Höchsten Jesus Christ! Mit allen heiligen Gemeinen, Die heut vor deinem Antlitz stehn, Soll meine Seele sich vereinen Herr deine Liebe zu erhöhn! Wo sich die Gläubigen versammeln, Stimm ich in das geweihte Chor, Dein Lob mit Ehrfurcht hier zu stammeln; Einst steigt ein bessrer Psalm empor.
Mit deinen heiligen Gemeinen, die heut vor deinem Antlitz stehn, soll meine Seele sich vereinen, Herr, deine Liebe zu erhöhn; dein Lob, mit Ehrfurcht hier zu stammeln, bis einst, wann in der Engelchor sich deine Heiligen versammeln, mein Psalm mit ihnen dringt empor!
Mit allen heiligen Gemeinen, die heut vor deinem Antlitz stehn, soll meine Seele sich vereinen, Herr, deine Liebe zu erhöhn. Wo sich die Heiligen versammeln, will ich dein Lob mit Ehrfurcht stammeln, dort sing ich in der Engel Chor ein beßres Lied zu dir empor.
An diesem Gott geweihten Orte Erschallt der Gnade Stimme mir; Ich höre, Jesu, deine Worte, Und stille seufzt mein Herz nach dir. Da wirst du Lehrer mir und Tröster, Ich kann mich deiner Liebe freun, Ich fühle mich als dein Erlöster, Und lerne dir ergeben sein.
Noch hier, am Gott geweihten Orte erschallt der Gnaden Stimme mir. Ich höre, Jesus, deine Worte und stille seufzt mein Herz zu dir. Zu dir, deß ich, als dein Erlöster, für den du starbst, mich kann erfreun, zu dir, mein Licht, mein Schild, mein Tröster, durch den ich geh’ zum Leben ein.
An diesem Gott geweihten Orte erschallt der Gnade Stimme mir; ich höre, Jesu, deine Worte, und stille seufzt mein Herz zu dir. Da wirst du Lehrer mir und Tröster, da kann ich mich, ich, dein Erlöster, Weltheiland, deiner Liebe freun, da lern’ ich dir ergebner seyn.
Und Gottes Wort hier zu erwägen Ist hohes Glück und heil’ge Pflicht; Ein Thor verkennet nur den Seegen Aus diesem theuren Unterricht! Nein nein mit einfaltvoller Seele Mit Dank und Demuth als dein Kind Vernehm ich Vater die Befehle, Die lauter Licht und Leben sind.
Die Schriften Gottes still zu lesen, ist heut mein Glück, und meine Pflicht; ein Thor wär’ ich, o weises Wesen, verwürf’ ich deinen Unterricht. Nein, nein! mit einfaltsvoller Seele erforsch’ ich, Vater die Befehle, die lauter Licht und Leben sind, mit Dank und Demuth als dein Kind.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Liedblatt L 13 (15.6.1817) Nach dem Gebet Mel. Die Tugend wird.
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 756 Mel. Wie groß ist des etc. Und sammeln soll in heil’ger Stille zu neuer Kraft die Seele sich, und fragen: was verfolgt dein Wille? Was quält, und was ergötzet dich? Sie soll ergründen ihr Bestreben; im Blick auf jenen heil’gen Pfad, erwägen Sinn und Wort und Leben, den Jesus Christ gewandelt hat.
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 597 Mel. Du bist ja Jesu, meine etc. Und sammeln sollst du in der Stille, mein Geist, vor deinem Schöpfer dich! Da frage dich, was sucht mein Wille? Was quält und was erfreuet mich? Da untersuche dein Bestreben, wäg’ alle Thaten, prüf’ dein Leben! Da, Seele, wenn du redlich bist, vergleiche dich mit Jesu Christ! Da, da vergiß nicht deine Sünden, die du vielleicht noch nie bereut, mit tiefer Reue zu empfinden, bis Gott dein schmachtend Herz erfreut! Da, da erwäg’ des Vaters Güte; da dank’ mit Freuden mein Gemüthe dem Vater der Barmherzigkeit! Ja tief im Staube dank’ ihm heut. O Tag des Herrn! Du Tag der Wonne! Du Tag des Segens für mein Herz; bestrale mich, o Geist der Sonne, so hebt mein Geist sich Himmelwärts. Gott! segne meine Andachts-Stille, erfüll’ mit deines Geistes Fülle, mit deines Angesichtes Glanz, mich heut’, o Jesus Christus, ganz.
O Tag des Herrn, o Tag der Wonne Du Tag des Seegens für mein Herz! Bestrahle mich o Geist der Sonne So hebt mein Geist sich himmelwärts. Gott! Segne meine Andachtsstille! Erfüll mit deines Lichtes Glanz Mit deines Geistes selger Fülle Mich heut o Jesus Christus ganz! Als milder brüderlicher Tröster will ich zu dir, Verlaßner, gehn; mit Freundlichkeit, du Hülfentblößter, soll gern mein Herz dir offen stehn. Ich will zu dir, du Kranker, eilen, du sollst in meiner Liebe ruhn; will deine Schmerzen mit dir theilen! Denn Sabbatsfey’r ist: Gutes thun.
In der ersten Strophenhälfte der Kopfstrophe hält sich Schleiermacher zunächst an den Wortlaut des Jauerschen Gesangbuchs, in der zweiten Strophenhälfte adaptiert er mit dem Kreuzreim die Bremer Fassung.27 In der letzten Verszeile haben wir allerdings eine signifikante Abweichung von beiden Quellen zu verzeichnen: „den Festtag wahrer Frömmigkeit“ statt „den Festtag der Unsterblichkeit“. Damit stellt der Bearbeiter den pragmatisch-psychologischen Aspekt der Sonntagsfeier über den historisch-theologischen des Auferstehungsgedenkens. Überhaupt fällt auf, dass Schleiermacher das Lied bei seiner Bearbeitung an die konkrete gottesdienstliche Situation angepasst hat. Obwohl
27
In dieser dürfte er in der vorletzten Verszeile („entfernt von allen eitlen Dingen“) auch die eigene Sonntagstheorie („Unterbrechung des übrigen Lebens“) wiedergefunden haben. Vgl. Schleiermachers PT, S. 70 und B. Schmidt, Lied, S. 9‒18.
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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Schleiermacher sonst gern Wortwiederholungen getilgt hat28, behält er hier das zweifache epiphorische „heilig“ bei. Auch in der zweiten und dritten Liedblattstrophe folgt Schleiermacher jeweils in der ersten Strophenhälfte wörtlich dem Jauerschen Gesangbuch. Dagegen machte die Anlehnung an die Bremer Form in der zweiten Strophenhälfte jeweils Umstellungen oder Umdichtungen erforderlich. „Die Heiligen“ werden durch „die Gläubigen“ substituiert (2/5), hier um die Wortwiederholung (vgl. 2/1) zu vermeiden. Der Engelchor wird durch „das geweihte Chor“ ersetzt und damit vom Himmel auf die Erde geholt. In der letzten Verszeile kombiniert Schleiermacher beide Quellen zu „ein bessrer Psalm“ (2/8), so dass die Hoffnung auf eine künftige Überbietung des irdischen „Stammelns“ mit der reformierten Wertschätzung des Psalms (statt „Lied“, Jauersches Gesangbuch) verbunden wird. Die zweite Hälfte der dritten Liedblattstrophe wird von Schleiermacher vereinfacht, indem er die schwierige Jauersche Satzkonstruktion in drei Hauptsätze mit Konjunktionalsatz auflöst und den Stoff neu ordnet, und nun die Verben „freuen“ und „fühlen“ sich auf den „Tröster“ und das Verb „lernen“ sich auf den „Lehrer“ beziehen. Das Verb „fühlen“ findet sich in keiner Vorlage. Schleiermacher hat es selbst eingetragen.29 In der vierten Liedblattstrophe folgt Schleiermacher wiederum dem Jauerschen Gesangbuch, auch hier wird der Text wieder der liturgischen Situation angepasst: „Und Gottes Wort hier zu erwägen“ statt „Die Schriften Gottes still zu lesen“ – letzteres schien besser auf das private Schriftstudium oder die Hausandacht zu passen, wobei durch den neuen Versschluss auch andere Abänderungen bedingt sind. Auch in der zweiten Strophenhälfte passt „vernehm ich Vater die Befehle“ besser als „erforsch’ ich, Vater die Befehle“ auf den öffentlichen Gottesdienst. Und dieser öffentliche Gottesdienst wird nun fast pathetisch gepriesen als „hohes Glück“ und „heil’ge Pflicht“ und „theurer Unterricht“. Schleiermacher selbst hat diese Adjektive an die Stelle der Possesivpronomina gesetzt. Die letzte Liedblattstrophe lehnt sich am dichtesten an das Jauersche Gesangbuch an. Die Abweichungen sind durch das andere Reimschema bedingt und haben kaum inhaltliche Relevanz. Lediglich die Bitte „Erfüll mit deines Lichtes Glanz“ (statt „mit deines Angesichtes Glanz“) lässt die Tendenz zur Abstraktion erkennen. Mit dieser Strophenfolge und in diesem Wortlaut stellt das Lied einen Preisgesang auf die sonntägliche Gottesdienstfeier („Den Festtag wahrer Frömmigkeit“) dar, wobei die gottesdienstlichen Elemente Versammlung der Gläubigen (Strophe 2), Gesang und Gebet (2), Hören (3) und Erwägen (4) des Gotteswortes sowie Segen (5) ausdrücklich benannt werden.
28 29
Z. B. beim Eingangslied, s. o. S. 148. Vgl. CG1 (1821/22), die Leitsätze § 8: „Die Frömmigkeit an sich ist weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des G e f ü h l s .“ (KGA I/7/1, S. 26) und § 9: „Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig f ü h l e n von Gott.“ Ebd., S. 31.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Unter der Predigt folgen zwei Strophen des Gellert-Liedes „Ich komme vor dein Angesicht“, wohl aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit. In Beziehung auf Gott“, Unterrubrik „Gebet“. Die vierzeilige Weise „Die Seele Christi“ begegnet häufig als „Kanzelvers“.30 Schleiermacher wählt die Strophen 2 und 5 aus und übernimmt sie mit der kleinen aber signifikanten theologischen Berichtigung: „ein frommes Herz mein Lebenlang“ statt „ein ruhig Herz“ auf das Liedblatt. Die Auswahlstrophen bitten Gott um ein reines Herz (vgl. Ps 51,12), und um Gottes- und Glaubensfreude. Nicht die Sündenvergebung steht hier im Vordergrund, sondern die richtige Disposition zum Hören der Predigt. Interessant im Blick auf Predigttext und Auslegung ist noch, dass das Lied Psalm 51 paraphrasiert, der zu den wichtigsten kultkritischen Texten des AT gehört. Der Schlussgesang „Verkläre dich aus deinem Worte“ entstammt als letzte Strophe dem Lied eines unbekannten Autors „Dich preisen Herr, Gesang und Lieder“, das Schleiermacher wahrscheinlich im Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit. In Beziehung auf Gott“, Unterrubrik „Oeffentliche Anbetung“ fand. Der hier unverändert abgedruckte Text bittet um die Ausstrahlung der göttlichen Wahrheit „an jedem Orte“, eine Überbietung und Ausweitung des nur liturgischen Gottesdienstes. Er spiritualisiert den Tempelbegriff (vgl. 1Kor 3,16) und fasst ihn ekklesiologisch („In Lieb und Glauben froh uns dir zu weihn / Dein Tempel, Heiliger, überall zu sein). Wieder fällt die Gottesanrede „Heiliger“ auf.
2. Die Predigt Schleiermacher eröffnet an diesem Sonntag eine neue Predigtreihe, genannt „eigne Worte des Erlösers, die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind.“ (91f.)31 Der Text zur vorliegenden Predigt, Nachschrift: Ludwig Jonas32, ist Joh 2,16. Das Thema lautet: „daß unser Gottesdienst immer mehr des christlichen Namens würdig, des heiligen Zweckes, zu welchem andächtige Jünger sich versammeln, angemessen werde.“ (92). Trotz mancher Unterschiede zum jüdischen Gottesdienst sei vergleichbar, „daß die Zeit und der Ort 30
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Insgesamt neunmal von 12 Belegen der Melodie auf den Liederblättern. Dagegen begegnet die im Jauerschen Gb vorgeschlagene Mel. Vor deinen Thron tret ich hiermit etc. gar nicht auf den Liederblättern. In seiner Monographie „Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft“, Teil 2, Berlin‒New York 2004, S. 121f. weist Matthias Wolfes darauf hin, dass die Predigten am 2., 4., 6., und 8. Sonntag nach Trinitatis 1817 parallel zu seiner Politikvorlesung gehalten wurden und den Titel tragen: „Predigten über eigene Worte des Erlösers, die in den gewöhnlichen Abschnitten nicht enthalten sind und besonders auf die Zeit, in der wir leben, bezogen werden können.“ (S. 121) Wolfes kündigt an: „an anderer Stelle näher auf sie einzugehen.“ „Vermutlich bildete die kleine Nachschriftengruppe ursprünglich ein eigenes Heft, das später mit anderen Predigtaufzeichnungen zu jenem ‚Größeren Heft’, einem voluminösen Band, zusammengebunden wurde.“ Ebd., S. 122, Fußnote 338. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 91‒104.
Am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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der allgemeinen Gottesverehrung frei seyn soll und rein von aller Vermischung mit dem Weltlichen.“ (93) Der Prediger fragt nach faktischen aktuellen Verunreinigungen des christlichen Gottesdienstes und verurteilt mit schärfsten Worten die Scheinfrömmigkeit derer, bei denen der Kirchgang lediglich zum guten Ton gehöre. (95) Auch der nur pädagogisch motivierte Gottesdienstbesuch, um ein gutes Beispiel zu geben, wird von Schleiermacher als „eine feilere Art der Heuchelei“ verurteilt. „Ein gutes Beispiel kann nur das geben, was aus dem Gemüthe des Menschen selbst hervorgeht.“ (96) Doch kann „die Mittheilung der Frömmigkeit“ „unmöglich rein unmittelbar von Herzen zu Herzen gehen. Sie bedarf der Rede, des Gesanges, mancherlei Gebräuche und eine Vereinigung mehrer zu demselben Zwecke.“ (96f.) Allerdings sei auch der rein ästhetische Genuss des Gottesdienstes („schöne Worte hören“) eine Form der Korruption. Alle Menschengefälligkeit und Menschenfurcht statt Erhebung des Herzens zu Gott bringe „die ganze verderbte irdische Welt mit in das Haus des Vaters“ und mache auf diese Weise das Haus des Herrn zum Kaufhaus. (97) Auch der Gebrauch des Gottesdienstes zur Stärkung für die weltlichen Geschäfte wird als Missbrauch verurteilt: Alles, „was ihm wohlthut und wol thun soll in seinen weltlichen Geschäften, das will er für sich erhandeln zum Verderben des heiligen Zwekkes.“ (97) Es scheint, als bekäme die Predigt hier sogar einen politischen Zug, indem Schleiermacher diejenigen tadelt, die die Kritik an der bestehenden Gottesdienstordnung nur aus Menschenfurcht übernehmen. Ein Seitenhieb auf die liturgische Experimentierfreude des Königs und auf seine Hofbeamten? Ebenso geißelt der Prediger alles dogmatische Gezänk, das von der Kanzel ausgeht, „denn ein Streit der Meinungen ist keine Erbauung, keine unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, immer die Einmischung eines Fremden.“ (99) Im zweiten Predigtteil setzt sich Schleiermacher mit Fehlentwicklungen auseinander, denen keine verkehrte subjektive Absicht zugrunde liegt. Hier nennt der reformierte Theologe zuerst die künstlerische Pracht, die sich im Laufe der Jahrhunderte in die Gottesdienste eingeschlichen habe, und die die Andacht oft störe, „denn so oft wir uns an das Sinnliche hangen, so ist Zerstörung da und Streit zwischen dem Zustande, in welchem wir seyn wollen und dem, in welchem wir sind.“ (101) Zwar fragt Schleiermacher, „ob nicht der Andacht müsse nachgekommen werden durch das, was auf die Sinne wirkt“ und rät: „Wenn wir es fühlen, wie die gemeinsame Andacht mancherlei Unterstützung bedarf, o mögten wir das doch immer mehr in dem Innern als in dem Aeußeren suchen!“ (101) Doch dann kommt der Prediger auf die psychologische Ursache dieser Entwicklung zu sprechen und schlägt einen milderen Ton an: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Und wir dürfen auch hier nicht zu viel fordern, nicht mehr als der Mensch leisten kann und wenn wir dem Gottesdienste alles rauben wollten, so würde er seine Lebendigkeit verlieren.“ (102) Schleiermacher denkt hier wohl weniger an die Künste als an den notwendigen Lebensbezug der Predigt. Doch sei das rechte Maß schwer zu finden, um „das Haus des Vaters [nicht] zum Sammelplatz irdischer Gefühle“
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
(103) zu machen. So gipfelt die Predigt im Aufruf an die Hörer, an sich selbst zu arbeiten und alles Weltliche draußen zu lassen. „Mögen wir je länger je mehr reines Herzens werden! [...] Laßt uns den Worten des Erlösers fleißig nachdenken und jeder erwäge, was er fortschaffen müsse aus sich selbst, wenn er in das Haus seines Vaters geht!“ (104)
3. Der Gottesdienst als Ganzes Das Liedblatt L 13 und die Predigt vom 15. Juni 1817 sind ein vorzügliches Beispiel für den Zusammenklang von Predigt und Lied. Allen Liedern des Liedblattes ist gemeinsam, dass sie die christliche Sonntagsfeier thematisieren, was aus den Texten selbst wie aus ihrer Einordnung in den jeweiligen Gesangbüchern hervorgeht. Besonders dicht sind die Verbindungen zur Predigt im Lied „Nach dem Gebet“, wo auch spezielle Textänderungen auf das Konto der Hinführung zur Predigt gehen. Aber auch in den Strophen „Unter der Predigt“ und „Nach der Predigt“ klingen Predigttext und -thema an bzw. nach.33 Eine kleine Wortstatistik mag den Akzent „Sonntagsfeier“ noch einmal verdeutlichen: In den Liedblatt-Texten begegnet die Wortgruppe heilig/Heiliger/ Heiligtum insgesamt siebenmal, die Wortgruppe Tag (Tag des Herrn/Tag der Andacht/Tag der Wonne/Tag des Segens/ Festtag ) ebenfalls siebenmal, die Wortgruppe weihen/geweiht dreimal, die Wortgruppe Frömmigkeit/fromm zweimal. Der Gesamtbefund kann nicht anders interpretiert werden, als dass Schleiermacher Predigtreihe und Predigtthema bereits geplant hatte, als er das Liedblatt L 13 vorbereitete. Mit diesem Gottesdienst gibt Schleiermacher gleichzeitig eine Probe seiner in der Predigt erörterten Gottesdienst-Ästhetik. Alle Tätigkeiten im Gottesdienst sollen konzentrieren und auf das Eine, „immer in Gemeinschaft mit ihm zu seyn“ (104), gerichtet sein.
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Wenn wir fragen: Wann wurde der Kanzelvers gesungen?, könnte die Predigt einen Hinweis geben: „Lasset uns 1. sehen auf die Absicht, in welcher das Haus Gottes besucht werden kann und 2. auf dasjenige achten, wobei zwar keine Verkehrte Absicht zum Grunde liegt, was sich aber doch ähnlich als Unreinheit offenbart. Folget mir mit christlicher Andacht! I. M. A. F. Auch in dem Gottesdienst der Christen, der ein reiner, ein geistiger, eine Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit seyn soll, hat es doch immer nicht daran gefehlt, daß sich mehr oder minder allerlei unreine Absichten bei der Theilnahme an demselben und der Einrichtung desselben beimischten.“ (94) – Der auffallend häufige Gebrauch der Worte „Unreinheit“ und „rein“ in der Disposition und zu Beginn des ersten Teils könnten ein Hinweis darauf sein, dass die Strophe „Schaff du ein reines Herz in mir“ nach der Predigtdisposition und der Aufforderung „Folget mir mit christlicher Andacht“ gesungen wurde.
Am vierten Sonntage nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Helft mir Gottes Güte.3
Helft mir den Herren preisen Ihr Christen überall Mit wunderschönen Weisen, Mit starkem Jubelschall!4 Da der Elende rief, Hat ihn der Herr erhöret, In Lust das Leid verkehret, Darin er lag so tief.5 Des Herren Augen sehen Was der Gerechte macht, Auch müssen offen stehen Sein’ Ohren Tag und Nacht; Er höret ihr Geschrei Wenn Trübsal sie will tödten, So hilft er schnell aus Nöthen Und macht sie sorgenfrei. Der Herr ist nahe denen Die trüben6 Herzens sind, Wie sich sonst Eltern sehnen Nach ihrem schwachen Kind,
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29.6.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 14; H 136. Mögliche Q: Stettiner Gb (1790), Nr. 1062,2/3.5‒6.9, Mel. Von Gott will ich nicht lassen, Vf. Johann Rist. Muss eigentlich heißen: Helft mir Gott’s Güte. – Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 67, wo die Melodieführung der Weise Von Gott will ich nicht lassen etc. ähnelt, vgl. J. Zahn, Bd. 3, Nr. 5264a, während Kühnau, Nr. 68 Von Gott will ich nicht lassen etc. ganz anders verläuft und beispielsweise mit der Oberquint einsetzt, vgl. etwa EG 9: Nun jauchzet all’, ihr Frommen etc. von J. Crüger. Vgl. J. Zahn, Bd. 3, Nr.5266b. Vgl. auch A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 90. Die alte Weise zu Helft mir Gott’s Güte preisen von W. Figulus ist allmählich durch die Melodie, die heute mit Von Gott will ich nicht lassen etc. verbunden ist und ebenfalls von Figulus stammt, verdrängt worden, vgl. J. Zahn, Bd. 3, S. 354. Mit starkem Jubelschall] mit Instrumentenschall Die erste Strophe bedient sich der Strophen 2 (Verse 1‒4) und 3 (Verse 5‒8) des Quellengesangbuchs. trüben] traurigs
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Also nimmt gnädig an Zerschlagene Gemüther Israels Hirt und Hüter, Der alles heilen kann. Laß gnädig dir gefallen, Du meines Lebens Hort, Dies meiner Zunge Lallen Es sind dein eig’ne Wort! Ach nimm sie von mir an, Dieweil mir will geziemen Von Herzen dich zu rühmen, So lang ich reden kann. [Rist.]
Nach dem Gebet.7 Mel. Du o schönes.8
Ach unselig ist zu nennen Der sich in die Welt verliebt, Der nicht will noch mag erkennen Daß sie falsche Güter giebt!9 Stückwerk unvollkommen Wesen Ist es, was die Welt erlesen; Aber mein Herr Jesus Christ Alles mir in allem ist. Ach wo mag man hier auf Erden Finden ein so großes Gut, Dadurch möcht vergnüget werden Uns’re Seele Herz und Muth? Find’ ich hier auch was mich herzet,10 Dort bald findet sich was11 schmerzet; Aber mein Herr Jesus Christ Alles mir in allem ist. Nichts nach Himmel, nichts nach Erden Frag’ ich, nur nach Jesu Christ; Wenn nur er mir möchte werden, 7 8 9 10 11
Q: Stettiner Gb, Nr. 1111,1‒3.5‒6, Mel. Du o schönes Weltgebäude etc. oder: Alle Menschen müssen sterben etc. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 38 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 57 (Johann Crüger). Daß ... giebt!] was die Welt für Güter giebt. Find’ ich ... herzet,] Find ich hier was, das da hertzet, was] das
Am vierten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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Er der mein Verlangen ist! 12 Wenn ich ihn13 im Herzen habe, Dann14 hab’ ich die theurste Gabe, Weil15 ja mein Herr Jesus Christ Alles mir in allem ist. In der Schwachheit meine Stärke In der Finsterniß mein Licht, Daß ich treibe gute Werke Nur mit seiner Hülf’ geschieht16. Was mein Herz nur Guts begehret, Des werd ich in dir gewähret; O der Freude! Jesus Christ17 Alles mir in allem ist. Drum wie selig ist zu nennen Der nur Jesum innig liebt,18 Ders bedenkt und kann erkennen, Daß er wahre Güter giebt!19 Lauter ganz vollkomm’ne Gaben Wir allein in Jesu haben; Denn er selber Jesus Christ Alles mir in allem ist. [Stettinisches Gesang Buch.]
U n t e r d e r P r e d i g t . 20 Mel. Freu’ dich sehr o.21
Selig wer im Glauben kämpfet Selig wer im Kampf besteht, Und die Sünden in sich dämpfet Selig wer die Welt verschmäht. Unter Christi Kreuzes Schmach 12 13 14 15 16 17 18 19 20
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Wenn nur ... ist!] ich wünsch, daß er mir mag werden, / der nur mein Verlangen ist; ihn] den Dann] so Weil] denn geschieht] geschicht O ... Christ] o der Freud’! daß Jesus Christ Der ... liebt,] der in Jesum ist verliebt, Daß ... giebt!] was für Güter Jesus giebt: Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 1082,4. Lied: Schaffet, schaffet, Menschenkinder. In identischem Wortlaut, aber ohne Verfasserangabe. – Der Autor ist Ludwig Andreas Gotter (1661‒1735), vgl. Jauersches Gb, Nr. 700 und S. C. G. Küster, Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten, Berlin 1831. Zur Melodie „Freu dich sehr, o meine Seele“ vgl. J. C. Kühnau, Nr. 56 und A. W. Bach, Nr. 75.
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Jaget man dem Frieden nach, Wer den Himmel will ererben Muß zuvor mit Christo sterben.
N a c h d e r P r e d i g t . 22 Mel. Freu’ dich sehr o.
Wächst das Reich der Finsternissen So wächst auch des Lichtes Reich; Jenes wird bald weichen müssen, Aber der Gerechten Zweig Wird in steter Blüte stehen, Wenn die Welt wird untergehen! Darum freuet euch ihr Frommen Euer Jesus wird bald kommen.
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Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 1127,6. Lied: Es sind schon die letzten Zeiten, Autor: Laurentius Laurenti.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Für das Morgenlied von Johann Rist legen die Verfasserangabe sowie die Quellenangabe des folgenden Liedes nahe, dass Schleiermacher auch dieses Lied, eine Paraphrase von Psalm 34, im Stettiner Gesangbuch fand. Wieder bildet Schleiermacher aus dem Material von fünf Quellenstrophen vier Strophen, wobei merkwürdig ist, dass die Kopfstrophe übergangen ist. Sonst sind nur zwei Eingriffe in den Text zu konstatieren: der „Instrumentenschall“ wird zu „starkem Jubelschall“ verallgemeinert und in 3/2 wird „traur’ges Herzens zu „trüben Herzens“ geglättet. Strophen- und Versauswahl lassen erkennen, dass der Gottesdienst nicht mit einem zu persönlichen Andachtslied beginnen sollte. Nur die letzte Liedblattstrophe ist durchgehend in der Ich-Form gehalten. Das Hauptlied „Ach unselig ist zu nennen“ aus dem Stettiner Gesangbuch bietet eine christologische Interpretation des 73. Psalms, in der vorliegenden Form ein Jesus-Minne-Lied. Bezeichnend scheint Strophe 6: „Drum wie selig ist zu nennen, der in Jesum ist verliebt“, von Schleiermacher vornehm abgeschwächt. Der Redaktor bringt fünf der sechs Strophen, die vierte ist ausgelassen.23 In den aufgenommen Strophen hat Schleiermacher zahlreiche stilistische Glättungen vorgenommen, die inhaltlich ohne Relevanz sind. Beim „Kanzelvers“ handelt es sich um die vierte Strophe des Liedes „Schaffet, schaffet, Menschenkinder“, das wortgenau auch im Stettiner Gesangbuch steht und die Verleugnung der Welt in der Nachfolge Christi thematisiert. Der Gottesdienst schließt mit einer eschatologischen Strophe, die eine dezidierte Naherwartung zum Ausdruck bringt, die bei Schleiermacher befremdet, und die dem Lied „Es sind schon die letzten Zeiten“ des pietistischen Liederdichters Laurentius Laurenti (1660–1722) entstammt, das wiederum im zweiten Anhang des Stettiner Gesangbuchs zu finden ist.
2. Die Predigt Schleiermacher predigt am 29. Juni 1817, fünf Tage nach dem Johannesfest über Lk 7,28.24 Er erweckt den Anschein, als hätte er am Sonntag nach dem 24. Juni stets über Johannes den Täufer gepredigt, eine Regel, die ich nach stichprobenartiger Prüfung aber nicht bestätigen kann. Die Predigt besteht entsprechend dem Bibelvers wieder aus zwei Teilen: Inwiefern Johannes der Größte war im Alten Bund und wiefern er der Kleinste sei im Neuen Bund.
23
24
„Wenn mir Leib und Seel’ verschmachtet, / weil die Angst mich preßt und drückt, / doch mein Herz es gar nicht achtet, / weil mich Jesu Lieb’ erquickt;/ denn mein Labsal, Trost und Freude / ist er mir in Angst und Leide./ Ach! ja, mein Herr Jesus Christ / alles mir in allem ist.“ Vgl. die Nachschrift von Ludwig Jonas in: SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 105‒119.
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Schleiermacher erläutert die Aussage Jesu, dass Johannes der größte Prophet gewesen sei dahingehend, dass er nichts Äußerliches und Einzelnes vorhergesehen habe, sondern nur zwei wesentliche Weissagungen gemacht hätte: „das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ und „Er ist mitten unter euch!“ (108) Der andere Teil des Jesuslogions wird im zweiten Predigtteil erörtert. Dabei ruft der Prediger seiner Gemeinde zu: „Im Reich Gottes sind wir ja wol alle. Das muß unser aller Gefühl seyn.“ (113) Aber nur wegen dieser Zugehörigkeit zum Reich Gottes fällt der Vergleich mit Johannes für den Christen so positiv aus. „Das ist ja das Wesen des Reiches Gottes, daß keiner darin etwas für sich ist, sondern Glied des großen Leibes, wovon der Erlöser das Haupt ist.“ (113) Während Johannes der neuen Zeit lediglich mit „dem schauenden Blicke des Geistes“ angehörte, so gehört der Christ ihr an „mit der ganzen Thatkraft, er verhält sich zu jenem wie die Erfüllung zur Hoffnung.“ (115) Wo an die alten Propheten nur das Wort erging: „Öffne die Augen und sieh!“, da ergeht an die Kinder des neuen Bundes der Ruf: „Schmecket und fühlet wie freundlich der Herr ist! Mit der ganzen Fülle ihres Daseyns sind sie eingetaucht in das höhere Leben, aus diesem Gefühle wirken sie dann und was sie hervorbringen, das ist ein Beitrag zum Reiche Gottes“ (116) Die Seligkeit des neuen Lebens bestehe darin, dass die Gemeinschaft mit dem Erlöser im Geiste Gegenwart sei und nicht bloß Gegenstand der Voraussagung. Gewagt ist die Verallgemeinerung: „Ueberall, wo wir an den Grenzen stehen einer alten Zeit und einer neuen, eines frühen oder späten Abschnittes in unserem persönlichen oder gemeinsamen Daseyn, da stehen wir auf einem solchen Punkte, daß alles auf dem jenseitigen Gebiete größer seyn soll [...] und jeder soll nun aus allen Kräften dazu beitragen, die neue Zeit aus der alten hervorzuholen.“ (116f.) In diesem Sinne sei auch Johannes der Größte an persönlicher Ergebung und Entsagung gewesen. „Suche jeder, so wie Johannes die Züge des neuen Lebens entwarf, so bestimmt zu erblicken und auszusprechen, was zum Frieden der Menschen dient [...] Jeder thue das mit derselben reinen Entsagung, als Johannes, ohne nach den Früchten zu fragen, die er etwa genießen könnte! Jeder stelle sich eben so den Irrthümern entgegen und dem, was die Herzen der Menschen verkehrt!“ (117f.) Dass der Kleinste in der neuen Zeit größer sei als der Größte in der alten, solle zur Demut anleiten und zur strengen Selbstprüfung, „daß wir alles Unreine von uns thun, was der neuen Zeit nicht werth ist.“ Die Predigt mündet ein in ein Gebet, das den Inhalt der Predigt noch einmal in Bittform gießt: „Mögen wir immer mehr vertilgen, was noch der frühern, der unvollkommenen Zeit angehört! Mögen wir uns alle hingeben dem großen Werke, welches Du fördern willst auf Erden!“ (119) Es folgen die allgemeinen Fürbitten.25
25
Zu Sinn und Zweck und Aufbau des freien Gebetes nach der Predigt vgl. die von Schleiermacher verfasste oder wenigstens redigierte „Vorstellung der unterschriebenen Berlinischen Prediger vom 7.10.1825 an das Konsistorium der Provinz Brandenburg“, KGA I/9, S. 295‒334,
Am vierten Sonntage nach Trinitatis 1817.
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Schleiermachers Predigt über den Transitus von der alten zur neuen Zeit ist getragen von einem großen theologischen Fortschrittsoptimismus. Doch bleibe Johannes der Täufer ein Vorbild für völlige Ergebung und reine Entsagung.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Zwar erwähnen die Lieder, die wohl alle aus dem Stettiner Gesangbuch kommen, Johannes den Täufer nicht. Und doch begegnen Motive und Strukturen, die auch in der Predigt wiederkehren. Dass der Gottesdienst mit einer Psalmparaphrase, mit einem Lied des alten Bundes (bis auf die Aufforderung „Ihr Christen überall“ begegnet keine christliche Adaption, und der Gottesname „Israels Hirt und Hüter“ bleibt stehen!) beginnt, ist bemerkenswert und auch für den reformiert geprägten Schleiermacher nicht selbstverständlich. Auch ist das Lied singulär auf den bisher bekannten Liederblättern. Im Hauptlied treffen wir dann auf einen dezidiert christlichen Text mit dem Kehrvers „Aber mein Herr Jesus Christ / Alles mir in allem ist“. Diese Pointe korrespondiert dem Gedanken des zweiten Predigtteils, dass die Bürger des Gottesreiches bereits gegenwärtig ungeteilt und unbeschränkt mit dem Erlöser verbunden seien. Obwohl wir nicht genau wissen, wann der „Kanzelvers“ gesungen wurde, ob während der Unterbrechung durch das Vaterunser oder an anderer Stelle, fügt sich diese Strophe passend zur Schlussparänese der Predigt mit ihrer Johannes dem Täufer nachempfundenen weltentsagenden und kämpferischen Tendenz („Jeder stelle sich eben so den Irrthümern entgegen und dem, was die Herzen der Menschen verkehrt!“). Nur im liturgischen Gesamtkontext des Gottesdienstes erhellt auch die Schluss-Strophe mit ihrer für Schleiermacher befremdlichen dualistischen und apokalyptischen Pointe („Darum freuet euch ihr Frommen / Euer Jesus wird bald kommen.“). Schleiermacher hatte wohl eine Liedstrophe gesucht, die zur Täuferpredigt und zum Johannestag passte. Genauere Akzentsetzungen hatte er noch nicht vorgenommen.
wo er „das freie laute Herzensgebet des Predigers“ als „Gipfel der Andacht“ bezeichnen wird. Ebd., S. 323.
Am sechsten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Freu’ dich sehr o meine Seele.3
Gott vor dessen Angesichte Nur ein reiner Wandel gilt, Keiner kommt zu deinem Lichte, Der nicht dein Gesetz erfüllt. Heilig und gerecht bist du, Und uns allen rufst du zu: Ich bin heilig, heilig werde Jeder Mensch auch4 auf der Erde. Heilig sollen deine Kinder Aehnlich deinem Bilde sein, Herr vor dir besteht kein Sünder Denn du bist vollkommen rein. Nur der Fromme kann sich dein Heiliger in Demuth freun,5 Wer beharrt in seinen Sünden, Kann vor dir nicht Gnade finden. O so laß uns nicht verscherzen Was dein Rath uns zugedacht! Schaff’ in uns, Gott, reine Herzen, Tilg’6 in uns der Sünde Macht! Unser Elend ist vor dir, Schwach und bald verführt sind wir, Und wer kann sie alle zählen Die Gebrechen uns’rer Seelen!
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13.7.1817. Vorläufige Liedblatt-Signaturen: L 15; H 146. Mögliche Q: Baierisches Gb, Nr. 306,1.3‒6. Auf diese Lesart beziehen sich die folgenden Fußnoten. Vgl. aber auch Bremer Gb, Nr. 39 und Jauersches Gb, Nr. 30. Beide Gesangbücher führen auch den Verfasser an. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 56 und A. W. Bach, Nr. 75. auch] schon Nur der ... freun,] Du bist nur der Frommen Freund; / Uebelthätern bist du feind. – Schleiermachers Lesart abweichend von Baierisches Gb, Nr. 306,3, identisch mit Bremer Gb, Nr. 39,3. Tilg’] Tödt’ – Schleiermachers Lesart abweichend von Baierisches Gb, Nr. 306,4, identisch mit Bremer Gb, Nr. 39,4.
Am sechsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Starb, o Gott! uns zu erlösen Jesus einst, so laß uns nun Ernstlich durch ihn allem Bösen Widerstehn und Gutes thun. Gieb uns, wie dein Wort verheißt, Gieb uns deinen heil’gen Geist Daß er unsern Geist regiere Und auch uns zum Himmel führe.7 Unsers Wandels höchste Zierde Sei was deinen Beifall hat, Keine sündliche Begierde Schände,8 Neigung, Wort und That. Mach uns deinem Bilde gleich! Denn zu deinem Himmelreich Wirst du Herr nur die erheben, Die im Glauben heilig leben.9 [Zimmermann]10
N a c h d e m G e b e t . 11 In eigener Melodie.12
Mir nach spricht Christus unser Held Mir nach ihr Christen alle! Verleugnet euch, verlaßt die Welt Folgt meines Rufes Schalle! Nehmt euer Kreuz und Ungemach Auf euch, folgt meinem Wandel nach. Ich bin das Licht, ich leucht euch für Mit göttlich reinem Leben;13 Wer zu mir kommt und folget mir, 7 8
9 10
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Strophe identisch mit Baierisches Gb, Nr. 306,5; nicht im Bremer Gb. Schände,] schände Das Komma auf dem Liedblatt dürfte ein Versehen des Setzers sein. Schände scheint wie in der Quelle Verbum zu sein, i. S. von: Keine sündliche Begierde möge Neigung, Wort und Tat schänden. Strophe identisch mit Baierisches Gb, Nr. 306,5; abweichend von Bremer Gb, Nr. 39,5. Johann Christian Zimmermann (1702‒1783), 1740 Redakteur des Hannoverschen Gb, seit 1743 Propst zu Ülzen. Zu Zimmermann vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, 5. Band, Stuttgart 1868, S. 566‒570. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 651, Vf. Angelus (Johann Scheffler). Obwohl dieses Lied in allen Gesangbüchern enthalten ist, ist die Textübereinstimmung hier am größten. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Nr. 112 und A. W. Bach, Nr. 153. In beiden Choralbüchern firmiert die Melodie unter dem Titel „Machs mit mir Gott, nach deiner Güt’“. Die Melodie von J. H. Schein (1628) war zuerst mit diesem Text verbunden, wurde jedoch mit dem Schefflerschen Text bekannter, vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 2, Nr. 2383. Mit göttlich reinem Leben;] mit heilgem Tugend-Leben;
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Darf nicht im Finstern schweben, Ich bin der Weg, ich weise wol Wie man wahrhaftig wandeln soll. Mein Herz ist voll Demüthigkeit Voll Liebe meine Seele, Mein Auge blickt mit Mildigkeit Auf tief gebüßte14 Fehle, Mein Geist, Gemüthe, Kraft und Sinn Ist eins mit Gott, und schaut auf ihn.15 Ich zeig’ euch das, was schädlich ist, Zu fliehen und zu meiden, Von allem Trug und arger List Das Herze ganz zu scheiden!16 Ich bin der Seelen Fels und Hort Und führ’ euch zu der Himmelspfort. Fällt es euch schwer,17 ich geh voran Ich steh euch an der Seite, Ich kämpfe selbst, ich mache18 Bahn Bin alles in dem Streite. Dem Jünger19 Schmach, der muthlos steht Wenn ihm voran sein Meister geht.20 Wer seine Seel zu finden meint, Wird sie ohn mich verlieren, Dem der sie zu verlieren scheint Werd ich sie sicher führen, Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt mir Ist mein nicht werth und meiner Zier. So laßt uns dann21 dem lieben Herrn Mit Leib und Seel nachgehen, Und wohlgemuth getrost und gern Zu seinem Worte stehen!22 Wer ihm nicht folgt,23 trägt auch die Kron Des ewgen Lebens nicht davon. [Scheffler.]
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gebüßte] bereute Ist eins ... ihn.] ist Gott ergeben, schaut auf ihn. Von allem ... scheiden!] und euer Herz von arger List / zu reingen und zu scheiden. Fällt ... schwer,] Fällts euch zu schwer; mache] brech’ die Jünger] Krieger Wenn ihm ... geht.] wenn kühn voran sein Feldherr geht! dann] denn Zu seinem Worte stehen!] bei ihm im Leiden stehen: Wer ... folgt,] denn wer nicht kämpft,
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U n t e r d e r P r e d i g t . 24 Mel. Herzliebster Jesu.25
O laß auch heute deinen Geist mich lehren Herr immer innger mich zu dir zu kehren!26 Regiere mich, daß ich mit ganzer Seele Nur dich erwähle.27
N a c h d e r P r e d i g t . 28 Mel. Kommt her zu mir.29
Erhalte mir o Herr mein Hort Den Glauben an dein göttlich Wort Um deines Namens willen; Laß ihn mein Licht auf Erden sein, Ihn täglich mehr mein Herz erneun, Und mich mit Trost erfüllen. L 15, H 146
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Mögliche Q: Baierisches Gb, Nr. 14,6. Lied Dieß ist der Tag, zum Segen eingeweihet etc. Vgl. auch Bremer Gb, Nr. 482,6. Zur Melodie s. o. S. 74, Fußnote 29. Herr ... kehren!] Und von der Sünde mich zu dir bekehren. daß ich ... erwähle] daß meine ganze Seele / dich, Herr, erwähle. Mögliche Q: Baierisches Gb, Nr. 417,4. Lied: So hoff’ ich denn mit festem Muth etc. von C. F. Gellert, s. auch Bremer Gb, Nr. 275,4. Völlig identisch. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 106 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 143.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Der Text des Eingangsliedes stimmt weitgehend mit der Fassung des Baierischen Gesangbuchs, Rubrik: „Gott. Heiligkeit und Gerechtigkeit“, überein. Allerdings deutet die Verfasserangabe „Zimmermann“ darauf hin, dass Schleiermacher noch andere Gesangbücher zur Hand hatte. Tatsächlich stimmen die Abweichungen von der baierischen Fassung fast durchgehend mit der Lesart des Bremer Gesangbuchs überein, wo der Liedautor auch genannt ist. Nur die Jesusstrophe (4. Liedblattstrophe) fehlt im Bremer Gesangbuch. So scheint Schleiermacher das Lied dem Baierischen Gesangbuch entnommen und es dann mit Hilfe der Bremer Sammlung bearbeitet zu haben. Die wenigen redaktionellen Eingriffe beschränken sich auf die Abmilderung drastischer Ausdrücke, indem etwa die Verse „Uebelthätern bist du feind“ oder „Tödt in uns der Sünde Macht“ abgeschwächt werden. Beim Hauptlied wird Schleiermacher ebenfalls mehrere Gesangbücher zu Rate gezogen haben. Auch wenn ihm der Dichter natürlich bekannt war, weist der explizite Autorenvermerk „Scheffler“ am ehesten auf das Bremer Gesangbuch, Rubrik „Leben, Lehre, Charakter und Thaten Jesu“ hin.30 Textlich steht die Liedblattfassung freilich der des Jauerschen Gesangbuchs am nächsten.31 Die erste Textredaktion ersetzt erwartungsgemäß das „Tugend-Leben“. Wollte Schleiermacher mit dem Austausch der „bereuten“ durch die „gebüßte“ Fehle auf das Bußsakrament hinweisen?32 Die nächste Änderung („ist eins mit Gott“) verstärkt die christologische Aussage im Sinne von Joh 10,30 (vgl. auch Joh 17,21f.) In der fünften Strophe schwächt der Redaktor die Schefflersche Kriegsmetaphorik ab. Dieselbe Tendenz lassen auch die Änderungen in der letzten Strophe erkennen. Schleiermacher geht es diesmal erkennbar mehr um die Leichtigkeit der Nachfolge Christi und weniger um Kampf und Leiden. 30
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Bremer Gb, Nr. 145. Im Jauerschen Gb, Nr. 651 steht der lateinische Ehrenname Angelus [Silesius, B. S.] des zum Katholizismus konvertierten schlesischen Dichters Johann Scheffler (1624‒1677). Zu den Bearbeitungsmotiven und -problemen dieses Liedes vgl. die Anmerkungen von S. C. G. Küster in seinem Grundsatzpapier für die Arbeit der Gesangbuchs-Commission vom 24.7.1818: „ad 5. Mir scheinet es doch, als wenn die Form eines Liedes allerdings ein Grund sein könnte, es umzuändern. So spricht z. B. in dem bekannten alten Liede: Mir nach spricht Christus p. unser Herr selbst durch das ganze Lied mit: Ich, und daß die Gemeinde eine solche Stimme vom Himmel wörtlich nachsingt, ist gewiß unpassend. Der selige Dietrich hat es daher sehr richtig u zugleich sehr zart in eine Anrede an Christum umgeändert.“ Abgedruckt bei B. Schmidt, Lied, S. 529. Im Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 494, ist dann auch das ganze Lied bis auf die erste Strophe auf die zweite Person umgestellt worden, ähnlich schon im Rigaer Gesangbuch, vgl. Sammlung alter und neuer geistlicher Lieder, Riga 1810, Nr. 200. Vgl. den Leitsatz § 161 in CG1 (1821/22) KGA I/7/2: Vom Amt der Schlüssel: „Nur wegen ihres Zusammenseins mit der Welt kommt der Kirche eine gesezgebende und eine ausführende Gewalt zu, welche ein wesentlicher Ausfluß aus der königlichen Gewalt Christi ist.“ (S. 285). „Und das gesezgebende ist eigentlich nichts anderes, als das Sein Christi in der Gemeinschaft der Seinigen.“ (ebd., S. 288) Nach Leitsatz § 130 ist die Reue neben der Sinnesänderung nur ein Moment der Buße, welche selbst (neben dem Glauben) ein Moment der Bekehrung ist. Buße hat also durchaus auch einen positiven Aspekt, vgl. ebd., S. 118.
Am sechsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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„Unter der Predigt“ wird die sechste Strophe des Liedes „Dies ist der Tag, zum Segen eingeweihet“ von Christoph Christian Sturm (1740–1786) gesungen. Dieses Lied findet sich in vielen neueren Gesangbüchern.33 Die vorliegende Textfassung ist wiederum der des Baierischen Gesangbuchs (Rubrik „Sonntag“) am ähnlichsten. Die erste Textänderung scheint dem liturgischen Ort geschuldet: Unter der Predigt geht es nicht primär um die Sündenvergebung und schon gar nicht um Bekehrung, sondern um die Hinwendung der Seele zu Gott.34 Beim Schlussgesang handelt es sich um die vierte Strophe des Gellertliedes „So hoff ich denn mit festem Muth“ aus dem Bremer Gesangbuch (Rubrik „Glaube“) oder aus dem Baierischen Gesangbuch (Rubrik „Glaube und seine Wirkungen“). Da die Textfassungen identisch sind, könnte die Melodieangabe „Kommt her zu mir“ im letzteren ein Indiz für das Quellengesangbuch sein.35 Die Strophe lenkt den Blick aus der Kirche hinaus in den Alltag und bittet um Glaube und tägliche Erneuerung des Herzens.
2. Die Predigt In der Reihe der weniger geläufigen Jesuslogien predigt Schleiermacher am 6. Sonntag nach Trinitatis 1817 über Mt 5,17.19, die Rolle des Gesetzes in der Verkündigung Jesu.36 Die beiden Worte gliedern die Predigt. Es ist die Freude an der Dialektik, die Schleiermacher die beiden Verse – noch vor jeder Anrede – gegenüberstellen lässt. Wie konnte Jesus von sich sagen, er sei gekommen, das Gesetz zu erfüllen, wo er es doch aufgelöst hat? Schleiermacher unterscheidet zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz und „zwischen demjenigen, was der Mensch selbst thut und […] demjenigen, was durch ihn geschieht.“ (122) Durch Jesu Gesetzeserfüllung sei die Auflösung des Gesetzes geschehen. „So war auch der Erlöser nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es löste sich selbst auf.“ (123f.) „Er war nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, aber der Ungläubigen bediente sich Gott, es aufzulösen.“ (124) Schleiermacher begründet das so, dass die ersten Heidenchristen auch ohne Gesetz zum Glau-
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Vgl. etwa Bremer Gb, Nr. 482; Jauersches Gb, Nr. 596. Interessant ist noch, dass das Sturmsche Sonntagslied mit leicht variiertem Text zweimal in seiner Sammlung auftaucht, vgl. Lieder und Kirchengesänge von Christoph Christian Sturm, Hamburg 1780: Sonntagslied Nr. 10 „Dir, Ewiger sey dieser Tag geweihet“ (S. 25) und Sonntagslied Nr. 39, „Dir, Jesu, dir sey dieser Tag geweihet“ (S. 84), wobei das erste Lied unserer Fassung näher steht: „O laß auch heute deinen Geist mich lehren, / Vom Weg, der dir mißfällt, mich abzukehren. / Regiere mich, daß meine ganze Seele / Zum Trost dich wähle.“ (Nr. 10) Dagegen: „Er leite mich, daß meine ganze Seele / Zum Trost dich wähle.“ (Nr. 39). Im Bremer Gb, Nr. 275, ohne Melodieangabe. Mit der Gegenüberstellung von groß und klein im Himmelreich konnte er auch an die vorige Predigt vom 29.6.1817 anknüpfen Vgl. die Predigtnachschrift von Ludwig Jonas, in: SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 120‒133.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
ben an Christus gekommen seien, indem sie den Heiligen Geist ohne Taufe empfangen hätten (vgl. Apg 10,47), andererseits, dass das ablehnende Verhalten der Juden gegen Christus indirekt zur Zerstörung Jerusalems (durch die „ungläubigen Römer“) geführt habe, wodurch die Gesetzeserfüllung unmöglich geworden sei. In welchem Sinne nun nennt Jesus diejenigen klein im Himmelreich, die das kleinste Gebot auflösen und groß diejenigen, die es tun und lehren? Weil Auflösung und Zerstörung nur das Werk der „Bösen in der Welt“, der „Kinder der Finsterniß“ (129) sein kann. „Wir dürfen nicht zerstören und nicht Zerstörung lehre. Was zerstört werden soll, das löst sich von selbst auf, und ist es aufgelöst, nun wohlan! Dann sollen wir unsre Kräfte zusammenthun, ein Neues zu bauen, dann sollen wir dem neuen Geist einen Tempel erbauen uns aus dem Geist einen neuen Buchstaben, woran sich die Menschen halten, bis auch der wieder unvollkommen wird!“ (130) Das ist die Dialektik der göttlichen Weltregierung, dass „in seinem Reiche, die demselben nicht dienen, ihm doch dienen, so sollen sie seyn zu seiner Verherrlichung.“ (130) Schleiermacher wendet den Vers dann noch einmal anders und deutet die Gebote auf irdische Lasten, die wir nicht von den Menschen nehmen sollen, „denn wir wissen nicht, wohin das führt.“ (131) Und weiter: „Erfüllen sollen wir jedes Gesetz, so lange es besteht, aber Muth sollen wir beständig haben, das Bessere zu lehren, die Menschen aufzufordern, daß sie demselben nachstreben, daß sie selbst beitragen, aus dem Unvollkommnen das Vollkommne zu gestalten, und so unser Licht, das Licht der Freiheit des Geistes leuchten zu lassen vor den Menschen.“ (132) Spielt Schleiermacher hier auf seine Vorschläge zu einer gemeinsamen protestantischen Synodalverfassung, zur Einrichtung von Presbyterien und zu einer Synodenhierarchie an?37 Vage deutet er an: „Wer das Gesetz so erfüllt und lehrt, daß unser Gottesdienst ein vernünftiger seyn soll, daß wir Gott nur dienen sollen im Geist und der Wahrheit [...], dann werden überall, wo Zerstörungen sind, die fleißigen Hände der Diener Gottes etwas Neues bauen.“ (132f.) „Und wann könnte dies Wort richtiger seyn, ob in der Zeit, in der wir nach Gottes Gnade leben, wo so manches zerstört ist durch menschlichen Frevel und Uebermuth und manches von selbst noch stürzen wird, was noch nicht zerstört ist, wo thörigte Anhänglichkeit an das Zerstörte und frevelnder Zerstörungssinn sich entgegenstehen? Aber gut ist es da, daß die wahren Jünger in der Mitte stehen.“ (133) Man kann vermuten, dass Schleiermacher hier nicht nur auf den Streit zwischen Rationalisten und Supranatu37
Vgl. die in dieser Zeit (Mai bis Juni 1817) entstandene und im Juli 1817 veröffentlichte Schrift „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staates einzurichtende Synodalverfassung“, KGA I/9 107‒172. Zur Einleitung des Herausgebers, vgl. S. XLIX‒LIV. Schleiermacher war gerade damals von der Notwendigkeit einer guten kirchlichen Gesetzgebung durchdrungen, in der sich die alte Konsistorial- und die neue Synodal-Verfassung nicht ausschließen. (KGA I/9, S. 124f.) Der Geist braucht die Form: „Geist und Form sind überall durch einander bedingt.“ Ebd., S. 142. „So laßt uns nun auch zeigen, daß der Geist diese Form zu beleben weiß, daß er sich kräftig und erfolgreich in ihr bewegt. Alle geselligen Einrichtungen gelangen erst allmählig zur Vollkommenheit; so wird es ohnstreitig auch dieser gehen.“ Ebd., S. 143.
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ralisten anspielt38, sondern dass er bezüglich des Gottesdienstes sowohl die laufenden Unionsverhandlungen39 als auch den Agendenstreit mit dem König im Sinne hatte.40
3. Der Gottesdienst als Ganzes Schleiermacher predigt über die Gesetzeserfüllung Jesu und über die bleibende Relevanz des Gesetzes. Dieses Thema begegnet auch in den beiden Hauptliedern. Während das Eingangslied von Zimmermann, eine christliche Auslegung des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17) bezeichnenderweise mit den Worten beginnt: „Gott, vor dessen Angesichte / nur ein reiner Wandel gilt, / keiner kommt zu deinem Lichte, / der nicht dein Gesetz erfüllt“, widmet sich das Hauptlied „Mir nach spricht Christus unser Held“ der vollkommenen Gesetzeserfüllung Christi und ruft zur Nachfolge auf, wobei das Lied in Schleiermachers Bearbeitung milder, sanfter und leichter geworden ist. Dem Gedanken der Kreuzesnachfolge („Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt mir“) korrespondiert in der Predigt der Gedanke von der notwendigen Übernahme irdischer Lasten. Doch ist das Verhältnis zum Gesetz sowohl in der Predigt als auch in den Liedbearbeitungen durch eine große Gelassenheit gekennzeichnet. Somit spricht viel dafür, dass sich Schleiermacher bereits bei der Liedblattvorbereitung für die Thematik Gesetz/Gesetzeserfüllung/Heiligkeit entschieden hatte. So kommt etwa die Wortgruppe „heilig“ auf dem Liedblatt siebenmal, die Wortgruppe „rein“ viermal vor. Die Themenwahl leuchtet auch von daher ein, dass das Gesetz Schleiermacher damals auch als Kirchenrechtler und Kirchenpolitiker beschäftigte, da er im Sommer 1817 mit der Ausarbeitung einer neuen Synodalverfassung befasst war41, in der er die einmalige Chance eines die Freiheit und Vielfalt der protestantischen Kirche befördernden Kirchengesetzes und einer Erneuerung des deutschen Protestantismus nach den geistlichen Verwüstungen der Aufklärung wie auch gegenüber einer wieder erstarkenden römisch-katholischen Kirche sah.42
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Vgl. in der Schrift „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staates einzurichtende Synodalverfassung“, KGA I/9, S. 107‒172, S. 115 und 134f. – Zu Schleiermachers „Vermittlungstheologie“ auf der Kanzel vgl. auch den Zeitgenossen Alexander Schweizer, in: Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, S. 20‒41. Vgl. den Brief an Gaß vom 5.7.1817, Schleiermachers Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, Berlin 1852, S. 139. Vgl. Brief an Blanc vom 26.5.1817, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, hrsg. von W. Dilthey, 4. Band, Berlin 1863, S. 217. Vgl. die Leichtigkeit auch im Brief an Gaß vom 5.7.1817: „Die Synodalverfassung wird sich schon machen, man muß nur über den ungünstigen Anfang nicht verzagen.“ Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, S. 137. In den agnostischen Anhängern der Aufklärung einerseits und den römischen Katholiken andererseits macht Schleiermacher 1817 die beiden Gegner der evangelischen Kirche fest, vgl. seine Schrift „Ueber die [...] einzurichtende Synodalverfassung“ KGA I/9, S. 140.
Am achten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Warum sollt ich.3
Meines Herzens reinste Freude Bleibet die,4 daß ich nie mich von Jesu scheide, Daß ich ihn im5 Glauben ehre, Jederzeit hocherfreut seine Stimme höre. Freundlich ruft er alle Müden, Und erfüllt sanft und mild ihren Geist mit Frieden; Seine Last ist leicht zu tragen, Er macht Bahn, geht voran, tröstet wenn wir zagen. Denn er kennt die Leidensstunden, Größern Schmerz als sein Herz hat kein Herz empfunden; Darum blickt, wenn seiner Brüder Einer weint, unser Freund, mitleidsvoll hernieder. Will das Herz vor Jammer brechen: O dann pflegt er, und trägt uns in unsern Schwächen; Selig wer in bösen Zeiten In Gefahr immerdar, sich von ihm läßt leiten. Jesu treuster Freund von allen! Mit dir will froh und still ich durchs Leben wallen. Auch der Tod kann mich nicht schrecken; Denn du wirst, Lebensfürst, einst mich6 auferwecken. [Jauersches Gesang Buch]
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27.7.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 16. Q: Jauersches Gb, Nr. 635. Autor: Samuel Gottlieb Bürde (1753‒1831). Zur Melodie von J. G. Ebeling vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 60 und A. W. Bach, Nr. 225. – A. W. Bachs Choralbuch weist unter Nr. 226 noch eine weitere Melodie auf, vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 4, Gütersloh 1891, Nr. 6470. Diese Melodie stammt vermutlich von Johann Christian Kittel (1732‒1809), dem letzten Schüler von J. S. Bach. 1803 gab Kittel für das Cramersche Gesangbuch von 1780 ein vierstimmiges Choralbuch heraus, vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, 6. Band, Stuttgart 1869, S. 466f. Bleibet die,] das ist sie, im] durch einst mich] mich einst
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Nach dem Gebet.7 Mel. Sollt ich meinem.8
Welterlöser dich zu lieben Bis das Aug’ im Tode bricht, Mit des Herzens reinsten Trieben, Ist der Jünger höchste Pflicht.9 Von der Liebe Glut durchdrungen Kamst du aus des Himmels Reich, Wurdest schwachen Menschen gleich, Hast mit Noth und Tod gerungen; Frommer Herzen Liebesdrang10 Sagt nun deiner Liebe Dank. Die da wandelten im Staube, Danken dir der Seele Glück; Zweifel, Wahn und irrer Glaube Schwand vor deinem Licht zurück.11 Zu dem12 Heiligthum der Wahrheit Führtest du der deinen Schaar; Und wer dir nur folgsam war, Sah sein Heil in voller Klarheit, Zeugen das wir alle nicht?13 Uns auch uns umglänzt dein Licht. Auch14 der Sünder darf nicht beben Findt er sich15 zu dir zurück. Deine Stimme, du sollt leben, Heitert der Zerknirschung Blick.16 Denn17 du blutetest am Kreuze Trugest Schmach und Angst und Noth Starbst für ihn, damit dein Tod
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 645,1.3.5‒7; Autor: Johann Wilhelm Reche (1764–1835). Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 108 (zweite Melodie „Lasset uns den Herren preisen“ von Johann Schop, vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd 4, Gütersloh 1891, Nr. 7886) und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 210 und 211. Ist der ... Pflicht.] ist uns theure, heilge Pflicht! Frommer ... Liebesdrang] Froher Herzen Preisgesang Die da ... zurück.] Mächtig selbst im tiefsten Staube, / schufest du der Seelen Glück; / Zweifelsucht und Aberglaube schwanden in die Nacht zurück; Zu dem] hin zum Zeugen ... nicht?] O wer bebt vor Freude nicht? – Diese Verszeile ist nicht ganz sicher zu lesen. Auch] Selbst Findt er sich] eilt er nur Heitert ... Blick.] heitert seinen Thränenblick. Denn] Ach!
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Ihn zu Gott zu kommen reize.18 Nimmt er gläubig deine Huld,19 Ausgetilgt ist seine Schuld. Heil uns wenn wir treu dir dienen Aufgeregt durch deinen Geist!20 Ist gleich das noch21 nicht erschienen, Was die Zukunft uns verheißt Dich, dich hat uns Gott gegeben! O zu welcher Herrlichkeit Wird er nach durchkämpfter Zeit Uns dein treues Volk erheben! Herr durch diesen Hofnungsstrahl Wird uns hell das Todesthal. Dank sei Dir von allen Frommen, Preis und Dank sei dir geweiht! Herr durch dich ist Heil gekommen, In das Land der Sterblichkeit! Wer mit22 dir durchs Leben gehet, Schmeckt schon hier des Himmels Lust, Friede wohnt in seiner Brust; Wird er einst zu Gott erhöhet, Dann mischt sich der Liebe Dank In der Engel Preisgesang.
U n t e r d e r P r e d i g t . 23 Mel. Valet will ich dir.24
Nach dir o Jesu heben Hier unsre Herzen sich; In diesem Schattenleben Verlangen wir nur dich; Wir hoffen zu genesen Mit ahnungsvoller Lust, Drückst du o heiliges Wesen; Uns an die treue Brust.25 18 19 20 21 22 23 24 25
Ihn zu ... reize.] ihn zum frömmern Leben reize. Nimmt er ... Huld,] Folgt er dir: - o welche Huld! Aufgeregt ... Geist!] Wonne strömt durch unsern Geist. Ist ... noch] Noch ist das uns mit] gleich Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 637, Vf. Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772–1801). Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 18 und A. W. Bach, Nr. 217. Drückst ... Brust.] drückst du uns, heiligs Wesen, an deine treue Brust.
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N a c h d e r P r e d i g t . 26 Mel. Seelenbräutigam.27
Jesu hilf daß ich allhie ritterlich Alles durch dich überwinde, Und in deinem Sieg empfinde, Wie so ritterlich du gekämpft für mich. Du mein Preis und Ruhm! dir zum Eigenthum Will ich gänzlich mich ergeben, Und nur dir zur Ehre leben Als dein Eigenthum, du28 mein Preis und Ruhm!
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 641,11-12, Vf.: Johann Anastasius Freylinghausen (1670‒1739). Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 144 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 203. du] o
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Schleiermacher hat das erste Lied von Samuel Gottlieb Bürde dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Jesum“, fast wörtlich übernommen. Nur die erste Abweichung scheint stilistisch bedingt zu sein: „Das ist sie“ (1/2).29 Außerdem zeigt sich auch hier wieder die Intention, Wiederholungen zu vermeinden, insbesondere anaphorische Figuren. Im Jauerschen Gesangbuch steht über dem Lied als biblische Bezugsstelle Phil 1,21, doch stellt sich das Lied eher als Paraphrase von Mt 11,28 dar. Auch das Hauptlied von Johann Wilhelm Reche entstammt wahrscheinlich der gleichen Rubrik des Jauerschen Gesangbuchs. Schleiermacher hat fünf der sieben Strophen ausgewählt und erheblich bearbeitet, wobei er Pathos und Theatralik gedämpft und den Wortlaut vernüchtert hat, z. B. 1/4: „Ist der Jünger höchste Pflicht“ statt „ist uns theure heilge Pflicht“ oder 4/2: „Aufgeregt durch deinen Geist“ statt „Wonne strömt durch unsern Geist“, wobei er Interjektionen beseitigt (3/5; 3/9) und den Text verkirchlicht und näher an den Bibeltext herangeführt hat. So ändert Schleiermacher die Stelle 2/9: „O, wer bebt vor Freude nicht?“ in Anlehnung an die Pfingstpredigt des Petrus in „Zeugen wir das alle nicht?“ (vgl. Apg 2,32). Den Beginn der zweiten Liedblattstrophe hat Schleiermacher stark verändert, vor allem wohl wegen des Anschlusses an die erste Strophe. Subjekt ist nun nicht mehr Christus, sondern die Gläubigen: „die da wandelten im Staube“. In 3/7-8 wird die gläubige Annahme des Kreuzestodes Christi ausdrücklich als Weg „zu Gott“ (statt moralisch „zum frömmern Leben“) beschrieben. Vermutlich wieder dem Jauerschen Gesangbuch und derselben Rubrik entnimmt Schleiermacher die Strophe „Unter der Predigt“ von Novalis „Nach dir, o Jesu, heben“. Wie schon die vorausgehenden Lieder richtet sich auch diese Strophe direkt an Jesus. Die Textbearbeitung entspricht der auf dem Liedblatt L 3/H 38 am Sonntag Sexagesimä 1817.30 Beim Schlussgesang handelt es sich um die beiden letzten Strophen des Liedes „Seelenbräutigam“ von Johann Anastasius Freylinghausen, das in derselben Gesangbuchrubrik steht. Schleiermacher hat beide Strophen nahezu unverändert31 übernommen. Auch dieses Lied wendet sich direkt an Jesus, der als Kämpfer, Ritter, Sieger charakterisiert wird, und dem nachfolgend sich der Sänger ergeben und zum Eigentum übergeben will.
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Die Anstößigkeit dieser Stelle belegt auch das Lied „Unter der Predigt“ am Sonntag Sexagesimä 1817. S. o. S. 67. Lediglich in der letzten Verszeile hat er das emphatische „o“ durch das persönlichere „du“ ersetzt.
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2. Die Predigt Der Predigt vom 27.7.1817, nachgeschrieben von Ludwig Jonas32, liegen wieder zwei Jesuslogien aus dem Lukasevangelium zugrunde: Lk 9,50 und Lk 11,23.33 Ein Kanzelgebet ist nicht erhalten, dafür aber ein Kanzelgruß, der mit „Die Gnade cet.“ wiedergegeben ist.34 Schleiermacher fragt nach den Grenzen der Christenheit, wie weit oder eng sie gezogen werden müssten. Dazu stellt er die beiden sich scheinbar widersprechenden Jesuslogien hart nebeneinander, doch in der Absicht, sie miteinander zu versöhnen. Schleiermacher findet den „Vereinigungspunkt“ beider Worte in der Aufforderung zur inneren Gemeinschaft mit dem Erlöser, die eine bloß äußere Gemeinschaft nicht voraussetze: „Wer mit ihm sammelte, mit ihm war im Geiste, der könnte doch verhindert seyn, ihm zu folgen. Wer aber nicht mit ihm verbunden sey im Geiste, der sey wider ihn, zerstreue, was er gesammelt habe.“ (139) Im zweiten Teil seiner Predigt über Lk 11,23 überrascht eine fast dualistische Denkweise. Hier spricht der Prediger von „jenem großen und heiligen Kriege des Guten gegen das Böse, des Göttlichen gegen das Irdische, in jenem, so lange Menschen auf dieser Erde wandeln werden, nie zu beendigendem Kriege des Guten gegen die Wurzel alles Bösen, welche zugleich Grund alles Uebels ist.“ (140) Auf der Seite des Bösen ständen heute nicht gewaltsame Christenverfolger oder Gottesleugner, sondern die den Glauben, die Liebe und das christliche Leben im Namen der „Herrschaft, welche über die Erde auszuüben ist“ (141f.) und im Namen „höherer Güter“ (142) relativierten. Sie würden daran erkannt, wie sie das Böse aus dem Weg räumten, nämlich „nicht in seinem Namen, sondern nur durch ein andres Böse.“ (143) Doch ebenso eindringlich mahnt er in Auslegung des Wortes Lk 9,50 zur Toleranz. Während es zu Jesu Zeiten nur „Eine Gesellschaft des Erlösers“ gegeben habe, gebe es jetzt viele Gesellschaften, „die enger unter sich verbunden und von andern getrennt, Jesu folgen, indem sie ihn als ihren Herrn und Meister bekennen und keine von ihnen hat ihn persönlich in ihrer Mitte.“ (145) Damit verteidigt Schleiermacher die moderne konfessionelle Vielfalt: „Wer nicht mit uns ihm folgt, der folget ihm mit andern.“ (146)35 Doch dann formuliert er auch das verbindend und ausschließend Christliche und zwar streng christo32 33 34 35
SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 134‒148. Vgl. auch die Predigt am 7. Sonntag p. T. 1833 (21.7.1833) über dieselben Texte! (Lk 11,23 und Lk 9,50), SW II/3 (Berlin 1843), S. 661‒674. Denkbar wäre eine Eröffnungsformel nach 2Kor 13,13. Vgl. Schleiermachers Schrift „Ueber die für die protestantische Kirche […] einzurichtende Synodalverfassung“, Berlin 1817, KGA I/9, S. 107‒172, in der er für die evangelischen Kirchen konstatiert: „Die protestantische Kirche ist gar nicht dazu gemacht eine vollkommene Uebereinstimmung der Lehre und der Gebräuche in ihrem ganzen Umfang darzustellen, wie dies auch bei keiner von beiden Confessionen für sich der Fall ist, sondern eine Verschiedenheit der Lehre und der Gebräuche, aber ohne die Kirchengemeinschaft zu stören.“ S. 114f.
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zentrisch: „Wer ihn bekennt als den Anfänger und Vollender seines Glaubens, [...] dessungeachtet kann er von seinem Glauben so reden, daß er uns nicht immer ansprechen würde.“ (147) Schleiermacher spricht von einer „Mannigfaltigkeit, die Gott geordnet hat, in der die Gläubigen seyn sollen“ (148). Doch sei diese Mannigfaltigkeit nur eine vorläufige, weil die Zeit noch nicht gekommen sei, dass „die Eine Heerde des Erlösers“ „ganz Eins seyn kann“ (146). Diese Predigt ist auch eine Nebenfrucht der kirchenpolitischen und akademischen Tätigkeit des Predigers, denn Schleiermacher beschäftigte sich in diesen Wochen einerseits intensiv mit der Lukas-Exegese36 und andererseits mit den Vorbereitungen zur preußischen Kirchenunion.37 Hier hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass eine völlige Übereinstimmung in Lehre und Ritus für die Kirchengemeinschaft nicht notwendig sei.38
3. Der Gottesdienst als Ganzes Die Liedauswahl dieses Liedblattes lässt deutlich eine christologische Vorentscheidung erkennen. Alle vier Lieder entstammen höchstwahrscheinlich derselben Rubrik des Jauerschen Gesangbuches („Darstellung der Gottseligkeit in Beziehung auf Jesum“). Alle Lieder richten sich direkt an Jesus, wenn auch das Morgenlied erst in der letzten Strophe. An einigen Stellen lässt sich auch eine gezielt christologische Bearbeitungstendenz erkennen, so etwa in der zweiten Liedblattstrophe des Hauptliedes: „Zweifel, Wahn und irrer Glaube / schwand vor deinem Licht zurück.“ Oder in der vierten Strophe desselben Liedes: „Aufgeregt durch deinen Geist“. Die Unauflöslichkeit der Beziehung des Gläubigen zu Jesus durchzieht die Lieder vom ersten bis zum letzten Vers. Dieses Thema nimmt der Prediger auf und reflektiert vor dem Hintergrund der Mannigfaltigkeit des modernen Christentums und vor dem Hintergrund der eigenen Beschäftigung mit einer neuen Kirchenverfassung.
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Vgl. Brief an Gaß vom 5.7.1817 „und außer dem Lukas, den Reimer wol an Dich besorgt haben wird, ist nichts zu Stande gekommen.“ Fr. Schleiermachers Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, Berlin 1852, S. 139. – Vgl. auch F. Schleiermacher, Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch. Erster Theil, KGA I/8, S. 1‒180. S. o. S. 175, Fußnote 35. Dass er auch den nichtevangelischen Konfessionen Kirchenstatus zugesteht, macht er in seiner Synodenschrift deutlich: „Denn wie eine Mannigfaltigkeit von Sprachen, so hat Gott auch eine Mannigfaltigkeit von Denkungsarten gemacht, und das Christenthum kann und soll eine Menge wie von jenen so auch von diesen unbeschadet seiner Einen göttlichen Kraft und Wirkung im Gemüth durchdringen und sich aneignen.“ Vgl. Ueber die für die protestantische Kirche […] einzurichtende Synodalverfassung, KGA I/9, S. 134.
Am zehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Du o schönes Weltgebäude.3
Gott laß uns aus dir geboren Jesu Christi Jünger sein, Die nur ihn zum Herrn erkohren Sich nur seinem Dienste weihn! Wirk dazu in unsern Herzen Wahrer Buße selge Schmerzen; Mach uns durch den Glauben neu, Seine Frucht sei Lieb und Treu. Mach uns in der Hoffnung sehnlich In der Sanftmuth Jesu gleich, Ihm in Herzens Demuth ähnlich Und im Beten andachtsreich; In Geduld unüberwindlich, In der Gottesfurcht recht kindlich; Bilde uns sein Eigenthum Ganz zu unsres Königs Ruhm. Zeuch uns aus dem Weltgetümmel Bring uns unsrer Ruhe nah! Unser Herz sei schon im Himmel; Denn auch unser Schaz ist da! Laß sich unsern Sinn gewöhnen Sich nach jener Welt zu sehnen, Denn dein auserwählt Geschlecht, Hat des Himmels Bürgerrecht. [Bremisches Gesang Buch]
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10.8.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 17. Q: Bremer Gb, Nr. 761; Mel. Schwinge zu des Himmels etc.; Vf. unbekannt. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 38 und A. W. Bach, Nr. 57.
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Nach dem Gebet.4 Mel. Wachet auf ruft.5
Jesus kommt von allem Bösen Uns seine Christen zu erlösen; Er kommt mit Macht und Herrlichkeit! Dann an seinem großen Tage Verwandelt sich der Frommen Klage In ewige Zufriedenheit. Sei fröhlich Volk des Herrn! Er kommt, er ist nicht fern Dein Erretter! Dein Leid ist kaum Ein kurzer Traum6 Schon glänzt der Morgenröthe Saum.7 Der zum Volke dich erwählet,8 Der deine9 Thränen alle zählet, Der10 stritt mit ungebeugtem Muth. Wie hat unser Herr gerungen, Wie tief war er von Angst durchdrungen Wie seufzt er laut! Sein Schweiß war Blut. Doch sahn die Feinde nicht Auf seinem Angesicht, Bange Schrecken; Gestärkt von Gott Litt er den Tod, Und ewig Heil folgt’ aller Noth.11 Mitgenossen seiner Leiden Sind wir, einst ärndten wir auch Freuden Mit ihm dem Ueberwinder ein. Laßt uns kämpfen, laßt uns ringen Mit unserm Haupt hindurch zu dringen Und seiner Gnade12 werth zu sein. Der Hülf’ uns schafft ist Er; Sein großer Nam’ ist, Herr 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 320; Autor: Balthasar Münter (1735‒1793). Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 151 und A. W. Bach, Nr. 223. Ein kurzer Traum] ein Morgentraum; Schon ... Saum.] auf ihn folgt ewig, ewig Heil. Der zum ... erwählet,] Der sich euch zum Volk erwählet, deine] eure Der] er Und ewig ... Noth.] da jauchzten alle Himmel ihm. seiner Gnade] und seines Himmels
Am zehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Unsre Stärke! Die ihm vertraun, Die werden schaun Wie sicher ist auf ihn zu baun.13 Ja er kommt von allem Bösen Uns seine Glieder zu erlösen; In seinem Reich ist unser Theil. In den allertrübsten Tagen Soll nimmer unser Herz verzagen Uns stärkt die Hoffnung auf sein Heil.14 Uns hält in unserm Lauf Kein Schmerz des Leidens auf; Ja wir siegen! Das Ziel ist nah, Bald sind wir da. Und laut ertönt Hallelujah!15 [Münter]
U n t e r d e r P r e d i g t . 16 Mel. Nun danket alle Gott.17
Erfüll Herr unser Herz mit heiligen Gedanken, Bewahr uns, daß wir nie verführt im Glauben wanken.18 Laß uns den guten Kampf hier kämpfen, und wenn du Uns rufst, so führ uns ein in19 deines Himmels Ruh.
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Wie sicher ... baun.] welch eine feste Burg er ist. Ja er kommt ... Heil.] Ja, du kömmst von allem Bösen / uns, deine Glieder, zu erlösen: / deß sind wir froh und danken dir. / In den allertrübsten Tagen / soll nimmer unser Herz verzagen; / auf deine Zukunft hoffen wir. (Strophe 5, Verszeilen 1‒6). Uns hält ... Hallelujah!] Euch halt’ in eurem Lauf / kein Schmerz des Lebens auf; / Ueberwinder, / das Ziel ist nah; / bald seyd ihr da; / und eure Leiden sind nicht mehr. (Strophe 2, Verszeilen 7‒12). Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 757,11.12; Lied O Vater, unser Gott; Mel. Soll dein verderbtes Herz etc.; Vf. unbekannt. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 124 und A. W. Bach, Nr. 173. Bewahr ... wanken.] Bewahre uns, daß wir im Glauben nimmer wanken. so führ uns ein in] so führe uns zu
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N a c h d e r P r e d i g t . 20 Mel. Herzliebster Jesu.21
Der Weg ist gut der durch das Leiden führet; Man findet Gott, wenn man sich selbst verlieret; Gefahr und Noth treibt die beherzten Streiter Beständig weiter. Ihn ist der Herr des Lebens selbst gegangen, Wer einst mit ihm als Sieger22 wünscht zu prangen, Muß seiner Schmach und Leiden hier auf Erden Gewürdigt werden.
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Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 316,1.13; Autor: Friedrich Carl von Moser. Zur Melodie s. o. S. 74, Fußnote 29. als Sieger] in Kronen
Am zehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Zur Eröffnung wählt Schleiermacher das Lied eines unbekannten Autors „Gott, laß uns aus dir gebohren“ aus der Rubrik „Allgemeine Gebetlieder“ des Bremer Gesangbuchs. Anders als am dritten Sonntag nach Epiphanias 1817 übernimmt er es vollständig und ohne Textänderungen, hier allerdings mit der Melodie „Du o schönes Weltgebäude“. Das Hauptlied von Balthasar Münter (1735–1793) stammt wohl ebenfalls aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Segnungen des Christenthums“, Unterrubrik „Trost im Leiden“. Schleiermacher bildet aus fünf Strophen vier, indem er die letzte Liedblattstrophe aus Versen der zweiten und fünften Quellenstrophe zusammensetzt. Die meisten Textänderungen sind formal bedingt: So wird von Jesus stets in der dritten Person gesprochen. Ab 4/7 stellt der Redaktor von der zweiten auf die erste Person Plural um. Auch reimt Schleiermacher jeweils die letzte Verszeile auf die beiden vorletzten.23 Die Redaktion der zweiten Liedblattstrophe hängt mit der Beibehaltung der zweiten Person Singular für das Volk zusammen. Auch hat Schleiermacher hier die schöne Form Der-DerDer; Wie-Wie-Wie durch Ergänzung des „Der“ in 2/3 vervollständigt. Überhaupt zeugt diese Liedbearbeitung von einem poetischen Sinn, vgl. etwa den Ausdruck in 1/12. Theologisch betrachtet ist eine Dämpfung der Himmelssehnsucht sowie die Vergegenwärtigung der Heilserfahrung zu beobachten. Auf das Vaterunserlied „O Vater, unser Gott“ als Kanzelvers wird Schleiermacher beim Blättern im Bremer Gesangbuch, Rubrik „Allgemeine Gebetlieder“, wo auch das Eingangslied steht, gestoßen sein. Er kombiniert die erste Hälfte der 11. Strophe mit der zweiten Hälfte der 12. Strophe. Die Gründe dafür mögen im Zusammenhang mit der Predigt erkannt werden. Auch das letzte Lied von Friedrich Carl Freiherr von Moser (1723–1793) „Der Weg ist gut“ steht im Bremer Gesangbuch und zwar in der Rubrik „Segnungen des Christenthums“, als letzter Titel in der Unterrubrik „Trost bey den Unvollkommenheiten dieses Lebens“. Schleiermacher wählt die Strophen 1 und 13 aus, die vom Sinn des Leidens, der Selbstverleugnung und von der Leidensnachfolge sprechen. Das Bild von den Leidenskronen wird durch den trockenen Ausdruck „als Sieger“ ersetzt.
2. Die Predigt Die Predigt über Lk 9,57–62 ist wiederum in einer Nachschrift von Ludwig Jonas überliefert.24 Nach dem Kanzelgruß „Die Gnade cet.“ setzt Schleiermacher ein, indem er die Geschichte vom reichen Jüngling (Lk 18,18–27) re-
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So wie Philipp Nicolai in den Strophen 2 und 3 des Liedes Wachet auf, ruft uns die Stimme. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 153‒162.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
kapituliert, gleichsam um das Thema herzuleiten: „Wohl wissend, daß es für uns nichts gebe, als dem Herrn zu folgen, sind dennoch die an ihn glauben und ihn lieben mannigfaltig getrennt, indem der eine mehr oder weniger zu seiner Nachfolge rechnet, als der andre und so ist auch unter den Christen diese Frage immer ein neuer Gegenstand des Nachdenkens, was denn der Herr meint, wenn er sagt: folge mir nach.“ (153) Dabei handele es sich nicht um spezielle Forderungen an bestimmte Menschen, vielmehr komme es nur auf die Gesinnung an, „daß, kommt die Gelegenheit, nichts davon versäumt werde.“ (155) Entsprechend der dreimaligen Aufforderung zur Nachfolge ist die Predigt in drei Teile gegliedert, in denen sich Schleiermacher zunächst jeweils mit der Plausibilität der Einwände auseinandersetzt, um sie dann jedoch scharf zurückzuweisen. Immer müsse das Äußere dem Inneren dienen, das Irdische dem Geistigen. Entgegen der „trübsinnige[n] Ansicht“ (156), dass auch heute der Erlöser „keine sichtbare Herrschaft in der Welt“ (155) habe, verteidigt Schleiermacher das gegenwärtige Reich Gottes, die Kirche. Doch gebe es kein Teilzeitchristentum. „Aber nein, wo man dem Erlöser in Heiligkeit folgt, da giebt es keine Ruhe und kein Ausruhen, da muß man immer vorwärts schreiten.“ [156f.] Schleiermacher prangert eine bürgerliche Genügsamkeit des Christentums an. Die Maßlosigkeit der Nachfolge gelte aber nicht nur für den Bereich der persönlichen Frömmigkeit, sondern auch für das, „was wir in der Welt auszurichten haben.“ (157) Das harte Wort Jesu „Lass die Toten ihre Toten begraben“ wende sich an die, die nur äußere Riten pflegten und sich scheuten, das Reich Gottes zu verkündigen, die auf bequemere Zeiten warteten oder das Reich Gottes leiser verkündigten, als ihr Inneres gebiete, und die so versäumten, Leben hervorzubringen. Schleiermacher entlarvt die Entschuldigung für den Moment als ein Zögern und Zaudern, das im Reich Gottes nicht brauchbar sei. Das dritte Wort mahnt, das weltliche Leben nicht zu verselbständigen, sondern es als den Platz zu begreifen, an dem zu arbeiten sei im Reich Gottes. Schleiermacher erinnert an die Gütergemeinschaft der ersten Christen und fragt, warum denn nicht auch wir unseren Beruf aufgeben sollen. „Weil der Beruf schon untergeordnet ist dem Dienste des Herrn und jeder in diesem, seinen Berufe und durch ihn dem Herrn dient.“ (161) Dankbar stellt der Prediger fest, dass die Welt gleichsam in der Kirche aufgehe, und dass Friede sei. Freilich diene es „sich dem Herrn besser in Ruhe und Frieden, als unter Schmaach und Seufzen.“ (161) Dennoch bedürfe es auch in diesem Leben „christlicher Tapferkeit“, die der Text („ein wohlstehendes Gebäude der christlichen Tapferkeit“) illustriere. Zusammenfassend mahnt Schleiermacher zu Ruhelosigkeit, Abkehr von leerem Schein und „allem Irdischen“ und schließt: „O was könnte uns dann noch fehlen! Die so glauben, die haben schon jetzt das ewige Leben. Amen.“ (162)
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3. Der Gottesdienst als Ganzes Den Liedern dieses Liedblatts, die alle im Bremer Gesangbuch stehen, ist ein kämpferischer Ton eigen, wobei die Strophen unter und nach der Predigt die kämpferischsten sind („Laß uns den guten Kampf hier kämpfen“ oder „Gefahr und Noth treibt die beherzten Streiter beständig weiter.“) Auch das Hauptlied singt vom Kampf mit und für Christus. Und alle Lieder wissen davon, dass diese Kämpfe mit Leiden verbunden sind (vgl. die allerletzte Liedblattstrophe). Dass Nachfolge Christi Leidensnachfolge bedeuten kann, weiß auch der Prediger, weshalb er dankbar feststellt: „es dient sich dem Herrn besser in Ruhe und Frieden, als unter Schmaach und Seufzen.“ (161) Den Motiven Kampf und Leiden korrespondiert eine eigentümliche Himmelssehnsucht, die – bis auf die Schluss-Strophen – alle Lieder aussprechen. Sie wird jedoch von Schleiermacher gedämpft und im Epilog der Predigt im Sinne seiner immanenten Eschatologie korrigiert. Das Eingangslied demonstriert, dass Schleiermacher den Gottesdienst unter das Motto „Nachfolge“ stellen wollte („Gott, laß uns aus dir geboren / Jesu Christi Jünger sein, / die nur ihn zum Herrn erkoren, / sich nur seinem Dienste weihn!“). Text (Lk 9,57–62) und Schwerpunkte der Predigt wählte er dann kurzfristig. So ist auch dieser Gottesdienst ein anschauliches Beispiel dafür, wie wir uns die Vorbereitung Schleiermachers vorzustellen haben: Bei der Gestaltung des Liedblattes legte er sich auf ein Thema fest, das er bei der Predigtvorbereitung dann durch einen Bibeltext genauer akzentuierte.
Am zwölften Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Befiehl du deine Wege.3
Erwachet, Harf’ und Psalter! Gott hat den Tag gemacht. Dankt, danket dem Erhalter, Dem Hüter in der Nacht! Erwachet ihn zu loben, Gott hat den Tag gemacht, Der Hüter sei erhoben Der Hüter in der Nacht! Erwacht zu seinem Ruhme, Ihr Frommen aus der Nacht, Zu seinem Eigenthume Geschaffen und bewacht! Ihr abgefallnen Kinder Hört ihren Lobgesang! Und Buße, Buß’, ihr Sünder, Sei euer Morgendank! So weit die Himmel gehen Geht, Vater, deine Treu’! Stets will ich sie erhöhen, Denn täglich wird sie neu! Von dem wir Alles haben, Mein Schutz, mein Heil, mein Licht, Quell aller guten Gaben, Gott, wen erfreust du nicht? Ich bin durch deine Liebe, Allvater, was ich bin; 1 2
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24.8.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 18. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 922,1.4‒6. Mel. Ich dank’ dir, lieber etc. Wechsel von Chor und Gemeine. Vgl. auch Cramers Gb „Allgemeines Gesangbuch, [...] zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, der Herrschaft Pinneberg, der Stadt Altona, und der Grafschaft Ranzau gewidmet [...], Altona 1780, Nr. 2, (und Kiel 180514, Nr. 2). – Vgl. auch Johann Andreas Cramers Prokanzlers der Universität Kiel Sämmtliche Gedichte. Dritter Theil, Leipzig 1783, S. 3 (Vierzehntes Buch, Nr. 201). Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 16 und A. W. Bach, Nr. 29.
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Nimm jeden meiner Triebe Zu deinem Opfer hin! Was soll ich Herr dir geben? Mich ganz und ohne Zwang! Ein dir geheiligt Leben Sei ewig, Gott, mein Dank. [Cramer.]
Nach dem Gebet.4 Mel. Sei Lob und Ehr dem höchsten.5
Ich weiß an wen mein Glaub’ sich hält, Kein Feind soll mir ihn rauben. Als Bürger einer bessern Welt Leb’ ich hier nur im Glauben. Dort schau ich was ich hier geglaubt, Wer ist, der mir mein Erbtheil raubt? Es ruht in Jesu Händen. Mein Leben ist ein kurzer Streit; Lang währt der Tag des Sieges. Ich kämpfe für die Ewigkeit, Erwünschter Lohn des Krieges! Der du für mich den Tod geschmeckt, Durch deinen* Schild bin ich gedeckt, Ich kämpf und überwinde. O Herr, du bist mein ganzer Ruhm Mein einz’ger Trost im Leben, Zu meinem ew’gen Eigenthum Hast du dich mir gegeben,6 Von fern glänzt mir mein Kleinod zu, Du schaffest nach dem Streit mir Ruh, Und reichst mir meine Krone. 4
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Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 291,1‒4.7‒8. – Der Bremer Text stimmt weitgehend überein mit dem Lied „Versicherung der Seligkeit“ von C. C. Sturm, Lieder und Kirchengesänge, Hamburg 1780, S. 15. Die Melodieangabe stimmt mit dem Bremer Gb überein. Allerdings ist sie weder in J. C. Kühnaus noch in A. W. Bachs Choralbuch enthalten. A. W. Bach verweist auf das Lied Es ist das Heil uns kommen her etc. (Nr. 68), genauso Porst, Nr. 600, das Stettiner Gb, Nr. 873 und das Jauersche Gb, Nr. 495. – Vgl. die Melodie von Johann Crüger zu: Herr Jesu Christ, du höchstes Gut etc., in: J. Zahn, Die Melodien, Bd. 3, Gütersloh 1890, Nr. 4545. Zur Melodie vgl. W. Voll, in Liederkunde zum EKG, 2. Teil, Göttingen 1990 Nr. 233, S. 151‒153 und Liedkommentar zu EG 326, von Bernhard Leube, in Liederkunde zum EG (unveröffentlichter Text, noch nicht erschienen). Mein einz’ger ... gegeben,] mein Trost in diesem Leben, / in jener Welt mein Eigenthum; / du hast dich mir gegeben.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
So7 lenke meines Geistes Blick Von dieser Welt Getümmel Auf dich, auf meiner Seele Glück Auf Ewigkeit und Himmel, Die Welt mit ihrer Herrlichkeit Vergeht, und währt nur kurze Zeit; Im Himmel sei mein Wandel! Zu ewgem8 Glück bin ich erkauft, O Herr durch deine Leiden; Auf deinen Tod bin ich getauft, Wer will mich von dir scheiden? Du zeichnest mich in deine Hand; Du bist mir, ich bin dir bekannt; Mein und der Deinen Freuden.9 Wie groß ist deine Herrlichkeit, Empfinde sie o Seele! Vom Tand der Erde unentweiht, Erhebe Gott! o Seele! Der Erde glänzend Nichts vergeht, Nur der10 Gerechten Ruhm besteht Durch alle Ewigkeiten. [Sturm.]
U n t e r d e r P r e d i g t . 11 Mel. Es woll uns Gott genädig sein.12
Ihr Christen,13 haltet an und seht Empor zum großen Lohne, Nur mitten durch die Feinde geht Der Weg zu jener Krone. Ob tausend auch zur Rechten euch Zur Linken tausend sänken: Sinkt dennoch nicht!14 Gott wird sein Reich,
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So] Herr, ewgem] diesem Mein ... Freuden.] mein sind des Himmels Freuden. der] des Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 294,2; Lied Ihr Mitgenossen, auf zum Streit; Mel. Allwissender vollkommner etc.; Autor: F. G. Klopstock. Vgl. auch Jauersches Gb, Nr. 477,2 und Klopstocks Lieder, Wien 1784, S. 226ff. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 54 und A. W. Bach, Nr. 73. Ihr Christen,] Miterben, Sinkt dennoch nicht!] so sinkt doch nicht!
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Wird Kraft zum Streit uns schenken, Wenn wir nicht muthlos weichen.
N a c h d e r P r e d i g t . 15 Mel. Herzliebster Jesu.16
Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, Noch Engel, die des Höchsten Thron umgeben, Noch Teufel, noch Gewalt, noch Freud’ und Leiden, Von Gott mich scheiden. So kniet denn erlöste, theure Brüder, Voll heißen Danks vor seinem Throne nieder, Ihm alles, was wir haben, unser Leben, Ganz zu ergeben.
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Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 289,1.4; Mel. Herr stärke mich dein etc.; Autor: Balthasar Münter. Zur Melodie s. o. S. 74, Fußnote 29.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Der Gottesdienst beginnt mit dem Morgenlied von J. A. Cramer (1723‒1788) „Erwachet Harf’ und Psalter!“ wohl aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Der Sonntagmorgen“. Schleiermacher hat vier von sechs Strophen wörtlich übernommen. Während das Lied im Quellengesangbuch aufgrund der responsorischen Form (Wechsel von Chor und Gemeinde) einen dreimaligen Adressatenwechsel aufweist, verzeichnet die Liedblattfassung durch die Auslassung der Gemeindestrophen 2 und 3 nur einen Adressatenwechsel (mit Beginn der dritten Strophe). Das Hauptlied „Ich weiß, an wen mein Glaub’“ von C. C. Sturm (1740‒1786) entstammt wahrscheinlich dem Bremer Gesangbuch, Rubriken „Segnungen des Christenthums“, „Freudigkeit in Gott“. Dafür sprechen die größere Textnähe zum Bremer als zum Jauerschen Gesangbuch sowie die Melodie „Sey Lob und Ehr dem höchsten Gut“. Schleiermacher übernimmt sechs der acht Strophen und bearbeitet den Text signifikant mit der Tendenz, die Exklusivität der Gottesbeziehung im Glauben – und zwar hier und heute – zu akzentuieren. Davon zeugen drei redaktionelle Eingriffe: In 3/2‒3 ändert Schleiermacher den Text gemäß der ersten Frage des Heidelberger Katechismus: „Mein einz’ger Trost im Leben, / Zu meinem ew’gen Eigenthum“ und verstärkt damit die Aussage. In 5/1 und 5/7 werden himmlisches „Glück“ und „des Himmels Freuden“ eliminiert und in die Ewigkeit bzw. Christusbeziehung aufgehoben. Für Schleiermacher transzendiert diese als „ewiges Leben“ verstandene Beziehung den Gegensatz von Himmel und Erde, von irdischem und überirdischem Dasein17, wobei typisch ist, dass er jeglichem Heilsindividualismus widersteht und das ewige Leben nur als ein gemeinschaftliches denken kann, was in seiner Lesart „Mein und der Deinen Freuden“ (5/7) deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Tendenz zeigt auch die letzte Änderung in 6/6, wo aus „des Gerechten“ (sing.) „der Gerechten“ (plur.) wird. Als Kanzelvers bringt Schleiermacher die Klopstock-Strophe „Ihr Christen, haltet an und seht“ aus dem Lied „Ihr Mitgenossen, auf zum Streit“, wohl aus dem Bremer Gesangbuch, Nr. 294. Aufgrund der Nachbarschaft zu den Liedern Nr. 291 und 289 und wegen der größeren textlichen Übereinstimmung ist diese Quelle wahrscheinlicher als das Jauersche Gesangbuch. Der Stellung als Einzelstrophe fiel die originale Anrede „Miterben“ zum Opfer. Zwei Strophen des Liedes „Ich bin gewiß“ von Balthasar Münter beschließen den Gottesdienst. Wieder kommt das Bremer als Quellengesangbuch in Frage, mit dem die Liedblattstrophen wörtlich übereinstimmen. Während sich
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Vgl. CG1, § 179,2 über die Kontinuität des künftigen zum irdischen Leben: „Aber gleich wenig ist zu begreifen, wie wir auf dieser Stufe gleich bei der Auferstehung stehen sollten, ohne daß die Identität unseres Wesens gefährdet sei, oder wie wir allmählig dazu gelangen könnten, als nur wenn das künftige Leben eine wenig abgeänderte Fortsezung des gegenwärtigen wäre.“ KGA I/7/2, S. 335. Schleiermacher scheint – obwohl er sich des bildlichen Charakters dieser Aussagen bewusst ist – eher der zweiten Option den Vorzug zu geben.
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die erste Strophe an Röm 8,38f. anschließt, ermahnt die zweite Strophe die „erlösten Brüder“ – passend zum liturgischen Ort – zu Dankbarkeit und Übergabe des ganzen Lebens.
2. Das Ganze Am 24.8.1817 hielt sich Schleiermacher zu seinem Jahresurlaub im Thüringer Wald auf.18 Wer ihn auf der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche vertrat, und ob das Liedblatt benutzt wurde, wissen wir nicht. Nach Schleiermachers Konzept sollte der Gottesdienst mit einem leichten Dank- und Morgenlied beginnen und mit der Aufforderung zu Dank und Lebenshingabe schließen. Der PaulusHymnus über die Glaubenszuversicht aus Röm 8,38f. wird in den Liedern zweimal aufgegriffen. Im Hauptlied werden traditionelle eschatologische Vorstellungen korrigiert. Insgesamt überwiegt auf dem Liedblatt, das ausschließlich Lieder namhafter Aufklärungsdichter bietet, der Gestus der Ermutigung und des Zuspruchs.
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Vgl. die Briefe an seine Frau vom 23.8.1817 aus Eisenach und vom 25.8.1817 aus Suhl, in H. Meisner, Schleiermacher als Mensch. Familien- und Freundesbriefe 1804‒1834, Gotha 1923, Nr. 171f., S. 260‒262.
Am vierzehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Nun danket alle Gott.3
Lobsingt, lobsingt den4 Herrn Frohlocket Gott voll5 Freuden! Denn er ist unser Heil In allen unsern Leiden Er unser Vater nimmt Sich unser mächtig an, Und große Dinge hat Der Herr an uns gethan. Wie mächtig ist der Herr! Wie heilig, hoch zu ehren, Von allen, die durch ihn Erlöst zu sein begehren! Denn er ist gnädig, ist’s6 Durch Zeit und Ewigkeit Dem, welcher7 ihm vertraut, Und seiner Huld sich freut. Er steht dem Frommen bei, Er segnet seine Freunde, Die Stärke seines Arms Erfahren seine Feinde, Er sieht den Uebermuth Der Stolzen, und sein Blick Zerstreut sie, und entreißt Hoffärtigen ihr Glück.
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7.9.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 19. Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 142,1‒3. Vf. unbekannt. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 124 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 173. Wahrscheinlich ein Druckfehler, richtig: „dem“, so auch im Jauerschen Gesangbuch. Voll] mit Denn er ... ist’s] Er ist ja gnadenvoll Dem, welcher] für den, der
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Nach dem Gebet.8 Mel. Von Gott will ich nicht lassen.9
Zeuch ein zu meinen10 Thoren, Sei meines Herzens Gast, Der du, da ich geboren, Mich neu geboren hast, Du11 hochgeliebter Geist Des Vaters und des Sohnes, Mit beiden gleiches Thrones, Mit beiden gleich gepreist. Zieh ein, laß mich empfinden Und schmecken deine Kraft, Die Kraft, die uns von Sünden Hülf’ und Errettung schafft. ............................................12 Daß ich mit reinem Geiste Dir Ehr’ und Dienste leiste, Die ich dir schuldig bin. Erfülle die Gemüther Mit reiner Glaubenszier, Die Häuser und die Güter Mit Segen für und für Vertreib den bösen Geist, Der dir sich13 widersetzet, Was uns in dir ergötzet14 Aus unsern Herzen reißt. Richt unser ganzes Leben Allzeit nach deinem Sinn, Und wenn wir’s sollen geben In’s Todes Hände15 hin, Wenn’s hier mit uns16 wird aus, So hilf uns fröhlich sterben Und nach dem Tod ererben Des ew’gen Lebens Haus. [Paul Gerhard.] 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 372,1‒2.11.13. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 68 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 220. meinen] deinen Du] ach Hier fehlt eine Verszeile, z. B.: Entsünd’ge meinen Sinn, (Stettiner Gesangbuch, Nr. 372,2/5). dir sich] sich dir Was uns in dir ergötzet] und was dein Herz ergötzet, Hände] Rachen hier mit uns] mit uns hier
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U n t e r d e r P r e d i g t . 17 Mel. Herzlich thut mich.18
Laß mich dein sein und bleiben Du treuer Gott und Herr, Von dir laß mich nichts treiben, Halt mich bei reiner Lehr! Herr, laß mich nur19 nicht wanken, Gieb mir Beständigkeit, Dafür will ich dir danken In alle Ewigkeit.
N a c h d e r P r e d i g t . 20 Mel. Befiehl du deine Wege.21
Mit dir kann ich die Sünden22 Mich selbst, die Welt, den Tod, Und Alles überwinden, Was mir Verderben droht Ich werde nicht erliegen, Ich dring’ ins Reich des Lichts Ich bin gewiß zu siegen, Dein Wort, o Gott versprichts.
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 361; Mel. Herzlich thut mich verlangen. Andere Melodieangabe im Stettiner Gb, Nr. 410; Mel. Ich dank dir, lieber Herre etc., sonst textlich identisch mit Liedblattversion. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 17 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 107. nur] ja Mögliche Q: Baierisches Gb, Nr. 428,7; Lied Um als ein Christ zu leben; Mel. Befiehl du deine Wege; vgl. auch leicht abweichend Bremer Gb, Nr. 389,8; Vf. Johann Andreas Cramer und Johann Samuel Diterich. – Vgl. in J. A. Cramers sämmtlichen Gedichten (Zweyter Theil), Leipzig 1782, Sechstes Buch, Nr. 106, S. 54‒59 das Gedicht „Wer durch den Glauben lebet“ mit der letzten (11.) Strophe: „So kann sie allen Sünden, / Sich selbst, die Welt, den Tod, / Und alles überwinden, / Was ihrem Heile droht. / Sie kann nicht unterliegen; / Sie dringt ins Reich des Lichts. / Sie ist gewiß zu siegen; / Sie siegt auch! Gott versprichts!“ Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 16 und A. W. Bach, Nr. 29. Mir dir ... Sünden] So kann ich alle Sünden,
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1. Liedauswahl und Textredaktion Mit den ersten drei Strophen des Lobliedes „Lobsingt, lobsingt dem Herrn“, einer Paraphrase des Magnifikats und wahrscheinlich dem Jauerschen Gesangbuch, Rubrik „Göttliche Anstalten zur Sendung des Erlösers“ entnommen, wird der Gottesdienst eröffnet. Die bildhafteren Strophen vier bis sechs sowie die christologische letzte Strophe sind ausgelassen. Die Abweichungen vom mutmaßlichen Quellentext sind inhaltlich irrelevant. Lediglich die Korrektur in 2/5, die eine engere Verbindung der Verszeilen erreicht, deutet mit dem Wort „gnädig“ auch eine Verkirchlichung des Sprachgebrauches an. Hauptgesang ist Paul Gerhardts Pfingstlied „Zeuch ein zu meinen Toren“, wahrscheinlich aus dem Stettiner Gesangbuch. Schleiermacher hat aus dem 13strophigen Lied, das überwiegend an den Heiligen Geist gerichtet ist, die allgemeineren Strophen ausgewählt und die heilsbiographischen („Ich war ein wilder Reben“) sowie die pneumatologischen „Du bist“-Strophen wie auch die Fürbitten („Beschirm die Polizeien“) ausgelassen. Übrig geblieben ist ein Lied, das Gott, den Heiligen Geist, um Beistand im Herzen bittet und sich vom Ich zum Wir (dritte und vierte Liedblattstrophe) aufschwingt. Schwierig zu beurteilen ist die Umstellung in der ersten Verszeile: „Zeuch ein zu meinen Thoren“23, wo Schleiermacher selbst schwankend war.24 Ansonsten tendiert seine Redaktion zur Vergeistigung („was uns in dir ergötzet“ statt „und was dein Herz ergötzet“) oder zur Abmilderung des Textes („in’s Todes Hände hin“ statt: „in’s Todes Rachen hin“25). Der Kanzelvers von Nikolaus Selnecker (1530-1592) dürfte aufgrund der Melodieübereinstimmung („Herzlich thut mich verlangen“) aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubriken „Dem heiligen Geiste“, „Vom Worte Gottes“, kommen. Die Strophe passt nach Form und Inhalt (Bitte um das Bleiben bei der reinen Lehre) gut an diesen liturgischen Ort, weshalb sie Schleiermacher hier auch häufiger platziert hat.26 Die Schluss-Strophe „Mit dir kann ich die Sünden“ aus dem Lied „Um als ein Christ zu leben“ von J. A. Cramer, bearbeitet von J. S. Diterich, steht im Baierischen und im Bremer Gesangbuch. Die größere Textnähe besteht zur Fassung im Baierischen Gesangbuch (Rubrik „Wachsthum im Guten“). Weil es eine Einzelstrophe ist, hat Schleiermacher den konsekutiven Beginn „So kann 23
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So auch im Porstschen Gb, Nr. 186,1. Anders Eberhard von Cranach-Sichart (Hrsg.), Paul Gerhardt, Wach auf mein Herz, und singe. Vollständige Ausgabe seiner Lieder und Gedichte, Wuppertal 20073, S. 111. Zur Diskussion um das Originalincipit, vgl. Liederkunde EKG, Göttingen 1970, Nr. 105 (Zeuch ein zu deinen Toren), S. 404‒407 (J. Stalmann, J. Grimm) und Liederkunde EG, Heft 5, Göttingen 2002, S. 93 (J. Henkys). Vgl. etwa die Liedblätter H 118 (Pfingstsonntag o. J., vor 1817) und L 260 (2. Pfingsttag 1826), sowie die Diskussion in der Gesangbuchkommission am 1.8., 8.8. und 15.8.1822, s. B. Schmidt, Lied, S. 625f. Letztere Lesart ist original, vgl. E. von Cranach-Sichart, Paul Gerhardt, S. 114. In den Jahren 1817 und 1819 bringt er die Strophe insgesamt viermal „Unter der Predigt“, dazu 1818 einmal „Nach der Predigt“.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
ich“ abgeändert. Die ein wenig an 1Joh 5,4 erinnernde Strophe macht Mut zur Selbstüberwindung, wobei das Wort Gottes der Garant für den Sieg ist.
2. Das Ganze Auch diesen Gottesdienst hat Schleiermacher nicht selbst gehalten, da er sich am 7. September 1817 in Halle aufhielt.27 Nach dem Berliner Intelligenzblatt wurde Schleiermacher durch Sack jr.28 im Hauptgottesdienst der Dreifaltigkeitskirche vertreten. Die Lieder dieses Liedblatts stammen wahrscheinlich aus drei Gesangbüchern. Das zur Predigt führende Hauptlied korrespondiert der Sonntagsepistel (Gal 5,16-24) insofern, als es die Früchte des Heiligen Geistes thematisiert, freilich mehr als Gaben denn als Aufgaben. Insgesamt muss man sich bei der Beurteilung allerdings zurückhalten, da Schleiermacher bei der Vorbereitung des Liedblattes vermutlich schon wusste, dass er zu dieser Zeit abwesend sein würde.
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So schreibt er am 30.8.1817 an seine Frau: „so daß wir wohl erst Freitag nach Halle kommen. In diesem Falle habe ich halb und halb Blanc versprochen, in Halle für ihn zu predigen, reise dann aber gewiß noch Sonntag Abend ab.“, in Heinrich Meisner, Schleiermacher als Mensch, Nr. 174, S. 264. Vgl. Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 4464. – Hier ist wohl Friedrich Ferdinand Adolf Sack (1788‒1842) gemeint (Sohn des Bischofs Friedrich Samuel Gottfried Sack), seit 1815 Feldprediger, ab 1819 bis zu seinem Tode Hof- und Domprediger in Berlin, vgl. Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg, Band II/2, bearbeitet von Otto Fischer, Berlin 1941, S. 726.
Am sechszehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Herzliebster Jesu.3
Ich bin gewiß daß weder Tod noch Leben Noch Engel, die des Höchsten Thron umschweben4, Noch Teufel noch Gewalt noch Feind noch5 Leiden Von Gott mich scheiden. Der Ewige der über Sonnen thronet, Hat für mich seines Sohnes nicht verschonet; Voll Huld hat er, damit wir alle leben, Ihn hingegeben. Wie sollt er nun, wenn uns die Sünden kränken, Mit Jesu uns nicht alles alles schenken? Ja alles, o des Wunders voll6 Erbarmen, Schenkt er uns Armen. So kniet denn erlöste theure Brüder Voll heißen Danks vor seinem Throne nieder, Ihm alles was wir haben, unser Leben Ganz zu ergeben. Hier sind wir Gott, du schenkest uns Verlornen Das Liebste, Jesum deinen Eingebornen, Und wir, wir bringen dir voll reiner Triebe Ein Herz voll Liebe. [Münter]
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21.9.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 20. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 289. Zur Melodie s. o. S. 74, Fußnote 29. umschweben] umgeben Feind noch] Freud’ und voll] von
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Nach dem Gebet.7 Mel. In dich hab ich gehoffet.8
Ich freue mich mein Gott in dir, Du bist mein Trost, und was kann mir In deiner Liebe fehlen? Du Herr bist mein, und ich bin dein; Was mangelt meiner Seelen? Du hast mich von9 der Welt erwählt Und deinen Kinder zugezählt, Mag doch die Welt mich hassen! Du liebst mein Wohl, wirst gnadenvoll Mich nimmermehr verlaßen.10 Du segnest mich, wenn man mir flucht; Und wer hier mein Verderben sucht, Dem wird es nicht gelingen. Du stehst mir bei; durch deine Treu Muß alles Segen bringen.11 Du trägst mich liebreich mit Geduld, Vergiebst durch Christum mir die Schuld, Wann ich aus Schwachheit fehle. An seinem Heil giebst du mir12 Theil, Das13 tröstet meine Seele. Du bist mir der bewährte Freund14 Der es aufs beste mit mir meint; Wo fänd15 ich deines Gleichen?
7 8 9 10 11
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Q: Jauersches Gb, Nr. 515,1‒2.6.3‒5.7‒8; vgl. aber auch Bremer Gb, Nr. 292; Vf. Samuel Liscow, bearbeitet durch Johann Samuel Diterich. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 29 und A. W. Bach, Nr. 135 (136). von] vor – Vgl. aber Bremer Gb, Nr. 292,2. Mag doch ... verlaßen.] nie wirst du mein vergessen! / Du liebst mein Wohl, hast gnadenvoll / mein Glück mir zugemessen. Vgl. aber Bremer Gb, Nr. 292,2. Du segnest ... bringen.] Du segnest mich, wenn man mir flucht, / und wer mir auch zu schaden sucht, / dem wird’s doch nicht gelingen. / Selbst was mich kränkt, / das muß, gelenkt / von dir, mir Segen bringen. Jauersches Gb, Nr. 515,6. Vgl. auch Bremer Gb, Nr. 292,7: Du segnest mich, wenn man mir flucht, /und wer hier mein Verderben sucht, / dem wird es nicht gelingen. / Mit deiner Treu / stehst du mir bey, / daß ich kann fröhlich singen. giebst du mir] hab’ ich auch Jauersches Gb, Nr. 515,3. Das] Dieß Du bist ... Freund] An dir hab’ ich den treusten Freund, vgl. aber Bremer Gb, Nr. 292,4: Du bist mir der bewährte Freund, fänd] find’
Am sechszehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Und dien ich dir, so hilfst du mir Das schöne Ziel erreichen.16 In Finsterniß bist du mein Licht, Erfreust mein Herz: drum frag ich nicht, Nach allem Tand der Erde. Herr ohne dich ist nichts für mich, Das mir erfreulich werde. Auf deiner Huld allein beruht Mein wahres17 Glück, mein höchstes Gut, In dir leb ich zufrieden; So dort als hier bleib ich von dir18 In Liebe ungeschieden. Drum ist mein wahres Wohlergehn Mich, Herr, in deinem Dienst zu sehn, Das ist der Quell der Freuden; Daran kann sich auch ewiglich Herr meine Seele weiden.19 [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 20 Mel. Jesu meine Freude.21
Vater aller Gnaden Der du uns geladen Hast an diesen Ort, Dein Wort anzuhören Uns22 den Weg zu lehren Zu der Himmelspfort! Zu uns richt dein Angesicht, Das uns leucht vor unsern Füßen In den Finsternissen.
16
17 18 19
20 21 22
Und dien ... erreichen.] Mit deiner Treu’ stehst du mir bei, / und ob auch Berge weichen. Vgl. auch Bremer Gb, Nr. 292,4: Du stehst mir bey und bleibst getreu, / wann Berg und Hügel weichen. wahres] ganzes So dort ... dir] So dort, als hier, Herr! bleiben wir – Vgl. auch Bremer Gb, Nr. 292,6: Dort, Herr, und hier, bleib ich von dir Drum ... weiden.] Du willst mein ew’ges Wohlergehn. / Einst werd’ ich dich noch näher sehn, / du Ursprung wahrer Freuden! / Wie leicht vergißt, wer selig ist, / des Lebens kurze Leiden! Vgl. Bremer Gb, Nr 292,8: Du läßt mirs ewig wohlergehn. Einst werd’ ich dich noch näher sehn, du Urquell reiner Freuden; an dir wird sich dann ewiglich, Herr, meine Seele weiden. Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 145,1. Autor: G. Meißner. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 95 und A. W. Bach, Nr. 130. Uns] und
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
N a c h d e r P r e d i g t . 23 Mel. Helft mir Gott’s etc.24
Dem Herrn ich mich ergebe25 Ihm sei es heimgestellt! Nach nichts mehr ich sonst strebe Als26 nur was ihm gefällt, Sein Will’ ist mein Begier, Der ist und bleibt der Beste, Das glaub ich stets und feste, Wohl dem der glaubt mit mir. [Heermann]
23 24 25 26
Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 798,6. Lied Was willst du dich betrüben, Mel. Von Gott will ich nicht lassen etc., Vf. Johann Heermann. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 67 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 90. Dem ... ergebe] Drum ich mich ihm ergebe, Als] denn
Am sechszehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Mit dem Röm 8,31ff. paraphrasierenden Lied von Balthasar Münter (1735‒1793) „Ich bin gewiß daß weder Tod noch Leben“ beginnt der Gottesdienst. Das Bremer Gesangbuch, Rubriken „Segnungen des Christentums“, „Friede und Freudigkeit in Gott“, kommt als Quelle in Frage. Schleiermacher übernimmt das Lied vollständig mit geringfügigen Abweichungen. Ob es sich bei dem „Feind“ in 1/3 um eine Korrektur (im Sinne einer Reihung von negativen Mächten) oder um einen Abschreibfehler handelt, ist schwer zu entscheiden. Die Polarität von „Freud und Leiden“ der Bremer Lesart steht Röm 8,38f. jedenfalls näher. Es folgt als Hauptlied „Ich freue mich mein Gott in dir“ von Samuel Liscow (1640-89), nach eigenen Angaben aus dem Jauerschen Gesangbuch, Rubriken „Darstellung der Gottseligkeit“, „Liebe zu Gott“. Doch Schleiermacher changiert wieder zwischen dem Jauerschen und dem Bremer Gesangbuch, wie die Synopse zeigt:27 Liedblatt L 20 (21.9.1817) Nach dem Gebet Mel. In dich hab ich gehoffet
Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 515 Mel. In dich hab ich gehoffet
Bremer Gesangbuch (1812) Nr. 292 Mel. Ich weiß, mein Gott etc.
Ich freue mich mein Gott in dir, Du bist mein Trost, und was kann mir In deiner Liebe fehlen? Du Herr bist mein, und ich bin dein; Was mangelt meiner Seelen?
Ich freue mich, mein Gott! in dir. Du bist mein Trost, und was kann mir in deiner Liebe fehlen? Du, Herr, bist mein, und ich bin dein; was mangelt meiner Seelen?
Ich freue mich, mein Gott, in dir. Du bist mein Trost, was ist, daß mir bey deiner Liebe fehle! Du Herr, bist mein, und ich bin dein. Was mangelt meiner Seele?
Du hast mich von der Welt erwählt Und deinen Kinder zugezählt, Mag doch die Welt mich hassen! Du liebst mein Wohl, wirst gnadenvoll Mich nimmermehr verlaßen.
2. Du hast mich vor der Welt erwählt, und deinen Kindern zugezählt; nie wirst du mein vergessen! Du liebst mein Wohl, hast gnadenvoll mein Glück mir zugemessen.
2. Du hast mich von der Welt erwählt, und deinen Kindern zugezählt, mag doch die Welt mich hassen. Du liebst mein Wohl; wirst gnadenvoll mich nimmermehr verlassen.
Du segnest mich, wenn man mir flucht; Und wer hier mein Verderben sucht, Dem wird es nicht gelingen. Du stehst mir bei; durch deine Treu Muß alles Segen bringen.
6. Du segnest mich, wenn man mir flucht, und wer mir auch zu schaden sucht, dem wird’s doch nicht gelingen. Selbst was mich kränkt, das muß, gelenkt von dir, mir Segen bringen.
7. Du segnest mich, wenn man mir flucht, und wer hier mein Verderben sucht, dem wird es nicht gelingen. Mit deiner Treu stehst du mir bey, daß ich kann fröhlich singen.
Du trägst mich liebreich mit Geduld, Vergiebst durch Christum mir die Schuld, Wann ich aus Schwachheit fehle. An seinem Heil giebst du mir Theil, Das tröstet meine Seele.
3. Du trägst mich liebreich mit Geduld, vergibst durch Christum mir die Schuld,
3. Du trägst mich liebreich mit Geduld, vergiebst in Christo mir die Schuld,
wenn ich aus Schwachheit fehle. An seinem Heil hab ich auch Theil. Dieß tröstet meine Seele.
wenn ich aus Schwachheit fehle. Du giebst mir Theil an seinem Heil. Dieß tröstet meine Seele.
27
In der Synopse sind gemäß der Strophenfolge auf dem Liedblatt die inhaltlich sich entsprechenden Strophen nebeneinandergestellt.
200 Liedblatt L 20 (21.9.1817) Nach dem Gebet Mel. In dich hab ich gehoffet
II. Die Liederblätter des Jahres 1817 Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 515 Mel. In dich hab ich gehoffet
Bremer Gesangbuch (1812) Nr. 292 Mel. Ich weiß, mein Gott etc.
Du bist mir der bewährte Freund Der es aufs beste mit mir meint; Wo fänd ich deines Gleichen? Und dien ich dir, so hilfst du mir Das schöne Ziel erreichen.
4. An dir hab’ ich den treusten Freund, der es auf’s beste mit mir meint; wo find’ ich deines gleichen? Mit deiner Treu’ stehst du mir bei, und ob auch Berge weichen.
4. Du bist mir der bewährte Freund, der es aufs Beste mit mir *gemeint. Wo find ich deines gleichen? Du stehst mir bey und bleibst getreu, wann Berg und Hügel weichen.
In Finsterniß bist du mein Licht, Erfreust mein Herz: drum frag ich nicht, Nach allem Tand der Erde. Herr ohne dich ist nichts für mich, Das mir erfreulich werde.
5. In Finsterniß bist du mein Licht, erfreust mein Herz; drum frag’ ich nicht nach allem Tand der Erde. Herr! ohne dich ist nichts für mich, das mir erfreulich werde.
5. Du bist mein Leben, Trost und Licht, mein Fels und Heil; drum frag ich nicht nach Himmel und nach Erde; Herr, ohne dich ist nichts für mich im Himmel und auf Erde.
Auf deiner Huld allein beruht Mein wahres Glück, mein höchstes Gut, In dir leb ich zufrieden; So dort als hier bleib ich von dir In Liebe ungeschieden.
7. Auf deiner Huld allein beruht mein ganzes Glück, mein höchstes Gut; in dir leb ich zufrieden. So dort, als hier, Herr! bleiben wir in Liebe ungeschieden.
6. Du bist mein allerhöchstes Gut, darauf mein ewig Wohl beruht. In dir leb ich zufrieden. Dort, Herr, und hier, bleib ich von dir in Liebe ungeschieden.
Drum ist mein wahres Wohlergehn Mich, Herr, in deinem Dienst zu sehn, Das ist der Quell der Freuden; Daran kann sich auch ewiglich Herr meine Seele weiden.
8. Du willst mein ew’ges Wohlergehn. Einst werd’ ich dich noch näher sehn, du Ursprung wahrer Freuden! Wie leicht vergißt, wer selig ist, des Lebens kurze Leiden!
8. Du läßt mirs ewig wohlergehn. Einst werd’ ich dich noch näher sehn, du Urquell reiner Freuden; an dir wird sich dann ewiglich, Herr, meine Seele weiden.
* die Silbe ge- ist überzählig, wohl Druckfehler
9. Kein sterblich Aug’ hats je gesehn, was uns dein Rathschluß ausersehn; doch harr’ ich sein im Glauben. Vollkommnes Heil ist da mein Theil; das wird mir niemand rauben.
In der Kopfstrophe folgt Schleiermacher dem Jauerschen, in der zweiten Strophe dem Bremer Text, mit dem er statt einer Präexistenzaussage eine selektivprädestinatianische Aussage trifft (erwählt „von der Welt“ statt „vor der Welt“). In der dritten, vorgezogenen Liedblattstrophe pendelt Schleiermacher zwischen beiden Quellen. Formal ist er zwar näher bei der Bremer Lesart, doch inhaltlich übernimmt er den Gedanken der göttlichen Providentia und Treue, die alles zum Segen führt. Allerdings hat Schleiermacher hier nicht den liturgischen Segen im Blick, sondern ein stetiges göttliches Handeln, weshalb er die Strophe, die in den Quellengesangbüchern an drittletzter Stelle steht, auch vorzieht. In der vierten Strophe beobachten wir wieder ein Pendeln zwischen beiden Quellen. In Strophe fünf übernimmt Schleiermacher zunächst den Bremer Text, nur in den beiden letzten Verszeilen weicht er mit einer eigenen blassen Wendung („das schöne Ziel erreichen“) ab, wohl um eine Wiederholung (s. dritte Liedblattstrophe) zu vermeiden und um den Aspekt des Dienens zu betonen. Damit entfällt – kaum zufällig – auch das schöne Bild aus Jes 54. In den Strophen 5 und 6 lehnt Schleiermacher sich eng an den Jauerschen Text an. Das summierende Adverb „Drum“ eröffnet die letzte Liedblattstrophe, die das
Am sechszehnten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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„wahre Wohlergehn“ und den „Quell der Freuden“ verdiesseitigt, indem sie diese „in deinem Dienst“ verortet und damit die naive Gottesschau der Vorlagen eliminiert. Schleiermacher hat dieses religiöse Liebeslied mit Hilfe zweier Gesangbücher redigiert und dabei die Aspekte der Diesseitigkeit und der Gegenseitigkeit, auf der menschlichen Seite: des Dienens, herausgearbeitet.28 Unter der Predigt singt die Gemeinde die Strophe „Vater aller Gnaden“ aus dem gleichnamigen trinitarisch strukturierten Lied von Gottfried Meisner (1618-1690), wahrscheinlich aus dem Stettiner Gesangbuch, Rubrik „SonntagsGesänge vor der Predigt“. Die einzige Textabweichung („uns“ statt „und“) ist sachlich nicht relevant und könnte auch auf einem Abschreibfehler beruhen. Den Abschluss des Gottesdienstes bildet die letzte Strophe des Liedes „Was willst du dich betrüben“ von dem ausdrücklich genannten Johann Heermann, wohl wieder aus dem Stettiner Gesangbuch, wo es in der Rubrik „Vom Kreuz, Leiden, Noth und Trübsal“ steht. Die Einzelstrophe erforderte die Umstellung der ersten Verszeile. Die Strophe mahnt zur Ergebung in den Willen Gottes.
2. Das Ganze Obwohl uns von diesem Gottesdienst keine Predigtnachschrift vorliegt und wir daher auch Predigttext und –thema nicht kennen, wissen wir29, dass Schleiermacher an diesem Sonntag die Hauptpredigt zu halten hatte. Von den vier Liedblattliedern stammen drei aus dem 17. Jahrhundert. Als Quellen sind das Bremer, das Jauersche und das Stettiner Gesangbuch wahrscheinlich. Die beiden Hauptlieder sind von Röm 8,38f. inspiriert und thematisieren die unüberbietbare und unscheidbare Liebe zwischen Gott und dem gläubigen Ich. Diese Unzertrennlichkeit wird sowohl in der Kopfstrophe des Eingangsliedes als auch in der vorletzten Strophe des Hauptliedes: „So dort als hier bleib ich von dir / In Liebe ungeschieden“ postuliert. Von diesem Schwerpunkt zeugt ebenfalls die Häufigkeit von Worten mit dem Stamm lieb- (6x), freu- (4x) und vor allem die Possesivpronomina „mein“ und „dein“, die allein im Lied „Nach dem Gebet“ 21mal begegnen. Am deutlichsten kommt der Beziehungsaspekt in der Formel „Du Herr bist mein, und ich bin dein“ in diesem Lied zur Geltung.30 Dabei hat Schleiermacher die Gegenseitigkeit der Beziehung zwischen Gott und dem gläubigen Ich durch den Dienst des Gläubigen (Hauptlied, 5/4 und 8/2) ausdrücklich akzentuiert.
28
29 30
Auf den bisher bekannten Liederblättern begegnet das Lied insgesamt noch fünfmal, auch aus anderen Quellengesangbüchern: Estomihi 1819 (Breslauer Gesangbuch), 20. p. T. 1822 (Freilinghausensches Gesangbuch), 4. p. T. 1823 (Bremer Gesangbuch), Quasimodogeniti 1827, 18. p. T. 1827. Die Textfassungen weichen z. T. stark von der hiesigen ab. Vgl. Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 4704 Vgl. auch Martin Luthers Lied „Nun freut euch lieben Christen gmein“, EG 341,7.
Am Erndtefest 1817.1 Vor dem Gebet.2 In eigener Melodie.3
Sei Lob und Ehr4 dem höchsten Gut, Dem Vater aller Güte, Dem Gott der große Wunder thut, Dem Gott der mein Gemüthe Mit seinem reichen Trost erfüllt, Dem Gott der allen Jammer stillt! Gebt unserm Gott die Ehre.5 Was unser Gott geschaffen hat: Das will er auch erhalten, Darüber will mit weisen Rath Und großer Gnad’ er walten; In seinem ganzen Königreich Herrscht Macht und Recht und Huld zugleich; Gebt unserm Gott die Ehre.6 Der Herr ist noch und nimmer nicht,7 Von seinem Volk geschieden, Er bleibt der Frommen Zuversicht, Giebt ihnen Heil und Frieden; Er führt mit väterlicher Hand Die Seinen, die er treu erkannt; Gebt unserm Gott die Ehre. Wenn Trost und Hülf ermangeln will,8 Wenn niemand mehr kann rathen:
1 2 3 4 5 6
7 8
5.10.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 21. Q: Bremer Gb, Nr. 438,1.3.5.6. Autor: J. J. Schütz. Zum Problem der Melodie vgl. Lied „Nach dem Gebet“ am 12. Sonntag p. T. 1817, s. o. S. 185, Fußnote 5. Sei ... Ehr] Lob, Ehr und Preis Gebt ... Ehr.] Anbetung ihm und Ehre. Was unser ... Ehre.] Was deine Macht erschaffen hat, / das willst du auch erhalten; / darüber will dein weiser Rath / und deine Gnade walten. / In deinem ganzen weiten Reich / herrscht Macht und Recht und Huld zugleich. / Anbetung dir und Ehre! Der Herr ... nicht,] Gott ist bisher noch immer nicht Wenn Trost ... will,] Wann Trost und Hülfe mangeln will,
Am Erndtefest 1817.
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So setzet Gott der Noth ein Ziel, Und hilft durch Wort und Thaten. Er nimmt sich dessen gnädig an, Der nirgend Ruhe9 finden kann; Gebt unserm Gott die Ehre. [Bremisches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 10 Mel. Die Tugend wird etc.11
Wir alle Menschenvater bringen Dir unsern feierlichsten Dank, Und unsre frohen Herzen singen Dir ihren lauten Preisgesang!12 Gekrönt hast du mit deiner Milde Rings um uns her das ganze Land, Dein Segen floß auf die Gefilde Aus deiner offnen Vaterhand. Du schenktest Sonnenschein und Regen Für jede Frucht zur rechten Zeit, Und gabst dem Samen Kraft und Segen, Den Menschenhände ausgestreut. Für Millionen deiner Kinder Reicht deiner Gaben Reichthum hin, Du nährst den Frommen nährst den Sünder, Mit ewig treuem Vatersinn. Wer kann die Güte ganz ermessen, Die weiter als die Wolken reicht! Wer undankbar die Huld13 vergessen, die nie von uns im Staube weicht; O nimm in heißen Freudezähren, In jedem Pulsschlag unsern Dank! Wir wollen ewig dich verehren Durch Thaten wie durch Lobgesang14.
9 10 11 12 13 14
nirgend Ruhe] keine Hülfe Q: Jauersches Gb, Nr. 958; Mel. Wie groß ist des Allmächtgen Güte; Vf. C. G. L. Meister. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnaus, Nr. 34 und A. W. Bach, Nr. 53. Dir unsern ... Preisgesang!] dir an dem Festaltare Dank! / Das Alter und die Jugend singen / dir heute frohen Lobgesang. die Huld] der Treu’ Lobgesang] Preisgesang
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Was du uns gabst wohl anzuwenden Verlieh uns Weisheit und Verstand!15 Nicht um es üppig zu verschwenden Empfingen wirs aus deiner Hand: Die Gaben sollen wir genießen, Doch mäßig auch und dankbar sein, Und so mit ruhigem Gewissen Uns deines Vater, Segens16 freun.17 Auch für den Armen wuchs der Segen, Den deine Hand so reichlich gab; Wir wollen seiner liebreich pflegen, Er trockne seine Thränen ab! Er danke heute mit uns allen, Frohlocke laut und bete an, Daß du nach deinem Wohlgefallen So viel o Gott an uns gethan. [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 18 Mel. Nun danket alle Gott.19
O könnt ich meinem Gott dem herrlichen lobsingen, Und heil’ger Andacht voll ihm Dank und Ehre bringen, O gäbe sich mein Leib und mein erweckter Sinn Ihm ganz zu seinem Dienst, ihm ganz zum Lobe hin! Der du das Wollen mir nach deiner Huld gegeben, Hinfort ganz dir allein zu Lob und Dienst20 zu leben, Gieb zum Vollbringen auch mir deinen guten Geist, Der mich in deinem Dienst und Loben21 unterweist.
15 16 17 18 19 20 21
Verlieh ... Verstand!] gib Mild’ ins Herz, gib uns Verstand; Vater, Segens: muss wohl heißen: Vatersegens, vgl. Bremer Gb, Nr. 800,5 oder „Uns deines Segens, Vater, freun. Doch mäßig ... freun.] doch mäßig im Genuß uns freun; / und mild, wie du, Herr, dich erwiesen, / soll jeder der Beglückten seyn. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 435,1‒2; Autor: J. Menzer, bearbeitet von J. J. Spalding. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 124 und A. W. Bach, Nr. 173. zu Lob und Dienst] zum Dienst und Lob Loben] Lobe
Am Erndtefest 1817.
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N a c h d e r P r e d i g t . 22 Mel. Nun lob mein Seel etc.23
Jehova Gott der Götter, An deine Güte24 reichet nichts! Wir neigen uns Erretter Vor dir gebeugten Angesichts. Von ungezählten Sternen Erschallen Stimmen dir; Die Nähen und die Fernen Ertönen preisend dir;25 Es mischt in unsre26 Chöre Sich noch die fernste Zeit; Dir Herr sei Preis und Ehre, Hallts durch die Ewigkeit.
22 23 24 25 26
Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 433,8; Lied Wie groß sind deine Kräfte, Autorin: Christine Engel von Westphalen (geb. von Axen, 1758‒1840). Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 126 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 177. Güte] Größe preisend dir;] dort und hier. unsre] ihre
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Das Eingangslied von Johann Jakob Schütz (1640–1690) kommt hier aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Lob Gottes“. Vier Wir-Strophen werden ausgewählt, wogegen die persönlicheren Ich-Strophen fehlen.27 Bei der Bearbeitung des Liedes verfährt Schleiermacher so, dass er Gott durchgehend in die dritte Person versetzt (bzw. zurückversetzt, vgl. die zweite Liedblattstrophe), und dass er den originalen Wortlaut teilweise restauriert, so etwa beim Incipit oder in 3/1 sowie beim Kehrvers der ersten beiden Strophen. In 4/6 ersetzt er die bereits in der ersten Verszeile vorkommende „Hilfe“ durch „Ruhe“. Durch die Strophenauswahl wird das Lied als Erntedanklied qualifiziert, wobei Schleiermacher offensichtlich nicht nur an die Einbringung der bäuerlichern Ernte denkt, sondern an ein Lob des Schöpfers und Erhalters (s. 2/1‒2) im Sinne des ersten Glaubensartikels. Das Hauptlied von Christoph Georg Ludwig Meister (1738–1811) steht in der Rubrik „Lieder für besondere Zeiten“, „Nach der Erndte“ im Jauerschen Gesangbuch und führt explizit in den Kasus des Sonntags ein. Schleiermacher hat das Lied vollständig übernommen und wiederum mit Hilfe der Fassung des Bremer Gesangbuchs, Rubriken „In besondern Umständen“, „Saat und Aerndte“, bearbeitet. Liedblatt L 21 (5.10.1817) Nach dem Gebet Mel. Die Tugend wird etc.
Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 958 Mel. Wie groß ist des Allm. etc.
Bremer Gesangbuch (1812) Nr. 800 Mel. Wie groß ist des etc.
Wir alle Menschenvater bringen Dir unsern feierlichsten Dank, Und unsre frohen Herzen singen Dir ihren lauten Preisgesang! Gekrönt hast du mit deiner Milde Rings um uns her das ganze Land, Dein Segen floß auf die Gefilde Aus deiner offnen Vaterhand.
Wir alle, Menschenvater, bringen dir an dem Festaltare Dank! Das Alter und die Jugend singen dir heute frohen Lobgesang. Gekrönt hast du mit deiner Milde rings um uns her das ganze Land; dein Segen floß auf die Gefilde aus deiner offnen Vaterhand.
Wir alle, Menschenvater, bringen dir unsern feyerlichsten Dank, und unsre frohen Herzen singen dir ihren lauten Preisgesang. Für Millionen deiner Kinder ist jetzt ein neuer Tisch bereit. Du nährst den Frommen und den Sünder, und alles wird durch dich erfreut.
Du schenktest Sonnenschein und Regen Für jede Frucht zur rechten Zeit, Und gabst dem Samen Kraft und Segen, Den Menschenhände ausgestreut. Für Millionen deiner Kinder Reicht deiner Gaben Reichthum hin, Du nährst den Frommen nährst den Sünder, Mit ewig treuem Vatersinn.
2. Du schenktest Sonnenschein und Regen für jede Frucht zur rechten Zeit, und gabst dem Saamen Kraft und Segen, den Menschenhände ausgestreut. Für Millionen deiner Kinder reicht deiner Gaben Reichthum hin; du nährst den Frommen, nährst den Sünder
2. O welchen Reichthum deiner Gaben hast du mit liebervoller Hand, uns zu erhalten und zu laben, von neuem uns herabgesandt! Wir ärndteten aus deiner Fülle den Segen unsrer Fluren ein: denn uns zu segnen ist dein Wille.
mit ewig treuem Vatersinn.
Wer wollte dir nicht dankbar seyn? 3. Wie väterlich kannst du versorgen! Mehr, als wir bitten und verstehn! Du hörst am Abend und am Morgen
27
Die einzige Ich-Passage findet sich in der ersten Strophe „Dem Gott der m e i n Gemüthe“.
Am Erndtefest 1817. Liedblatt L 21 (5.10.1817) Nach dem Gebet Mel. Die Tugend wird etc.
Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 958 Mel. Wie groß ist des Allm. etc.
207 Bremer Gesangbuch (1812) Nr. 800 Mel. Wie groß ist des etc. mit Vaterhuld auf unser Flehn. Selbst unser Undank, unsre Sünden ermüden deine Liebe nicht. Wir sehen, schmecken und empfinden, was uns dein göttlich Wort verspricht.
Wer kann die Güte ganz ermessen, Die weiter als die Wolken reicht! Wer undankbar die Huld vergessen, die nie von uns im Staube weicht; O nimm in heißen Freudezähren, In jedem Pulsschlag unsern Dank! Wir wollen ewig dich verehren Durch Thaten wie durch Lobgesang
3. Wer kann die Güte ganz ermessen, die weiter, als die Wolken, reicht! wer undankbar der Treu’ vergessen, die nie von uns im Staube weicht! O nim in heißen Freudezähren, in jedem Pulsschlag unsern Dank! Wir wollen ewig dich verehren, durch Thaten, wie durch Preisgesang.
4. Wer kann die Güte ganz ermessen, die weiter, als die Wolken reicht? Wer kann sie undankbar vergessen, da jede Stunde von ihr zeugt? Du schenktest Sonnenschein und Regen zur rechten Zeit für jede Frucht. O wohl uns, wenn auf deinen Wegen auch unser Herz dich ewig sucht.
Was du uns gabst wohl anzuwenden Verlieh uns Weisheit und Verstand! Nicht um es üppig zu verschwenden Empfingen wirs aus deiner Hand: Die Gaben sollen wir genießen, Doch mäßig auch und dankbar sein, Und so mit ruhigem Gewissen Uns deines Vater, Segens freun.
4. Was du uns gabst, wohl anzuwenden, gib Mild’ ins Herz, gib uns Verstand; nicht um es üppig zu verschwenden, empfingen wirs aus deiner Hand. Die Gaben sollen wir genießen, doch mäßig im Genuß uns freun; und mild, wie du, Herr, dich erwiesen, soll jeder der Beglückten seyn.
5. Um deine Gaben anzuwenden, verleih uns Weisheit und Verstand. Nicht, um sie üppig zu verschwenden, entströmten sie, Gott, deiner Hand. Wir sollen alle sie genießen, doch mäßig auch und dankbar seyn, und so mit ruhigem Gewissen uns deines Vatersegens freun.
Auch für den Armen wuchs der Segen, Den deine Hand so reichlich gab; Wir wollen seiner liebreich pflegen, Er trockne seine Thränen ab! Er danke heute mit uns allen, Frohlocke laut und bete an, Daß du nach deinem Wohlgefallen So viel o Gott an uns gethan.
5. Auch für den Armen wuchs der Segen, den deine Hand so reichlich gab; wir wollen seiner liebreich pflegen; er trockne seine Thränen ab! Er danke heute mit uns Allen, frohlocke laut und bete an, daß du, nach deinem Wohlgefallen; so viel, o Gott, an uns gethan!
6. Ja, groß, o Herr, ist deine Milde! Wir wollen freudig dich erhöhn, und liebreich seyn nach deinem Bilde, und hören auf des Armen Flehn. Er jauchze heute mit uns allen, er trockne seine Thränen ab, und denke stets mit Wohlgefallen, daß deine Hand uns Segen gab!
Die Tabelle zeigt, dass Schleiermacher fast überall dort, wo er vom Quellentext des Jauerschen Gesangbuchs abweicht, auf Bremer Lesarten zurückgreift. Ausnahmen sind „die Huld“ statt „der Treu’“ in 3/3 und „Lobgesang“ statt „Preisgesang“ in 3/8, jeweils um Wortwiederholungen zu vermeiden. In der ersten Strophe fehlt der Festaltar28 und die Differenzierung der Gemeinde in Alte und Junge. In Strophe vier sind Weisheit und Verstand die geeigneteren Mittel zur Prüfung des angemessenen Gebrauchs der Schöpfungsgaben. Auch wird neben das rechte Maß die Dankbarkeit im Genuss gestellt und ein ruhiges Gewissen aller Gesegneten erbeten. Damit wird der Moralismus des Originals etwas 28
Übrigens auch auf dem Lieblatt L 87 zum Erntefest 1820. ‒ Aus Schleiermachers Schrift „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden“ von 1820, KGA I/9, S. 203‒210, geht hervor, dass bei der reformierten Gemeinde bis zur Union jeglicher „Altarschmuck“ unüblich gewesen war: „Die erstere [die reformierte Gemeinde, B. S.] hat seitdem den ihr sonst fremden Altarschmuck angenommen“, ebd., S. 205. Gut möglich, wenn auch nicht beweisbar, dass damit auch die Erntedankdekoration gemeint war.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
gedämpft. Die Melodie „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“ verwendet Schleiermacher gern und häufig, besonders auch an Festtagen.29 Unter der Predigt singt die Gemeinde zwei Strophen eines Liedes von Johann Mentzer (1658–1734) in der Bearbeitung von Johann Joachim Spalding (1714–1804) aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Lob Gottes“, die in einem persönlichen Ton – das einzige Ich-Lied auf dem Liedblatt – um die Kraft des Geistes für „Dienst und Lob“ bitten. Dieses Paar begegnet in den beiden Strophen insgesamt dreimal, wobei Schleiermacher die Wortfolge einmal umdreht, wohl um das Formelhafte zu vermeiden. In derselben Rubrik des Bremer Gesangbuchs findet sich auch das Lied „Wie groß sind deine Kräfte“ von Christine Engel von Westphalen (1758–1840), mit dessen letzter Strophe „Jehova Gott der Götter“ der Gottesdienst schließt.30 Durch seine Redaktion hat Schleiermacher die Strophe besser an die liturgische Situation der am Erntedankfest versammelten und singenden Gemeinde angepasst. Die Größe Gottes weicht seiner „Güte“. Das Adverb „preisend“ verdrängt die Ortsbestimmung „dort und hier“ und in „unsere“ (statt „ihre“) Chöre lässt er „noch die fernste Zeit“ einstimmen.
2. Das Ganze Vom Erntedankgottesdienst 1817 ist keine Predigtnachschrift erhalten. Doch wissen wir aus dem Berliner Intelligenzblatt31, dass Schleiermacher den Hauptgottesdienst am 5.10.1817 gehalten hat. Drei der vier Lieder stammen aus der Rubrik „Lob Gottes“ des Bremer Gesangbuchs, was ihren hymnischen Charakter erklärt. Nur das Hauptlied aus dem Jauerschen Gesangbuch steht bei den Ernteliedern. Doch auch die anderen Lieder sind mit Bedacht gewählt. So behandeln das erste und das letzte Lied das Thema Schöpfung und Erhaltung, wobei sich gerade die SchlussStrophe als ein eindrücklicher Hymnus auf die Unendlichkeit darstellt. Die Liedbearbeitungen zeigen jedoch, dass Schleiermacher nicht vordergründig an Weltbildfragen interessiert war, sondern dass es ihm um das Lob des Schöpfers ging und um den Preis seiner Güte durch die singende Gemeinde. Das auffällige Zurücktreten der eigentlichen Erntethematik in den Liedtexten scheint kein Zufall zu sein. In seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie führt Schleiermacher aus: „In einer Gesellschaft wo der Akkerbau nicht
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Auf den bisher bekannten Liederblättern insgesamt 37mal, davon zehnmal an Festtagen (dreimal an Erntedank). Dagegen begegnet die Weise Wie groß ist des Allmächt’gen Güte etc., die das gleiche Versmaß aufweist, nur zweimal auf den Liederblättern. Zur Autorin vgl. Damen Conversations Lexikon, Band 10. 1838, S. 428‒429: „Ihren dichterischen Ruf begründete sie durch zwei dramatische Gedichte: ‚Charlotte Corday’ und ‚Petrarca’, so wie durch die ‚Gesänge der Zeit’, welche im Jahre 1815 erschienen. Eine Sammlung ihrer Gedichte in 3 Bänden kam 1809–11 heraus.“ Vgl. http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834. Berliner Intelligenzblatt 1817, S. 4952.
Am Erndtefest 1817.
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so die Basis wäre, würde dies [das Erntefest, B. S.] nicht so hervortreten.“32 Dies trifft für die bürgerliche Großstadtgemeinde am Beginn der Industrialisierung durchaus zu, so dass in den Liedern stärker das allgemeine Lob des Schöpfers und Erhalters hervortritt.33 Allen Liedern ist gemeinsam, dass sie von Gott nur von dem Vater reden bzw. den Vater anreden (vgl. auch die Textfassung im Hauptlied 4/8). Dass der Lobpreis des Vaters das beherrschende Thema der Liedblattlieder ist, verdeutlicht auch eine kleine Wortstatistik. So begegnen die Wörter der Wortgruppe „ehr“ insgesamt achtmal, Wörter mit dem Stamm „lob“, „dank“ und „geb“ je sechsmal, die Worte „Vater“ und „Hand/Hände“ je fünfmal sowie „Segen“ viermal, „Preis“, „Huld“ und „Güte“ je dreimal. Dieser Lobpreischarakter wird durch die durchweg feierlichen Melodien noch unterstrichen.34
32 33
34
F. Schleiermacher, PT, S. 154. Schleiermacher betrachtet die Landwirtschaft als den erfahrungsmäßigen Haftpunkt des Erntefestes und dahinter liegend die Schöpfermacht Gottes. Das Erntefest „bezieht sich auf die Agricultur, sofern sie als die Basis des gemeinschaftlichen Lebens angesehen wird, selbst aber wieder auf den Naturkräften und der göttlichen Anordnung in Beziehung auf diese mit beruht.“ PT, S. 154. In seiner Theorie des Gesanges im Cultus unterscheidet Schleiermacher zwischen der „kleinen“ und „großen Strophe“ und schreibt: „ein festlicher Gottesdienst hingegen in dem nichts als gewöhnliche und triviale Melodien erscheinen, ist unvollkommen.“ PT, S. 184.
Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Alle Menschen müssen etc.3
Fallet nieder! Fallet nieder, Betet Gottes Hoheit4 an! Menschen, Christen, Freunde, Brüder Viel hat er an uns gethan.5 Seht wir schöpfen, was wir haben, Aus dem Strome seiner Gaben, Jedes Gut das6 uns entzückt, Jeden Ruhm auch,7 der uns schmückt.8 Keiner rühme seiner Stärke Seiner Kunst und Weisheit sich; Jeder rühme deine Werke, Vater, jeder rühme dich! Voll von tiefer Demuth preise Dich der Starke wie der Weise,9 Ihre Kraft und ihr Verstand, Sind Geschenke deiner Hand.10 Dich mein Vater will ich loben Demuthsvoll bis in den Tod, Ewig sei von mir erhoben, 1 2
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19.10.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 22. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 402,1‒2.4; Mel. Schwinge zu des Himmels etc. und Jauersches Gb, Nr. 569; Vf. nicht genannt; Mel. Jesu, der du meine Seele etc. Vgl. auch Johann Andreas Cramers Gedichte. Zweiter Theil, Carlsruhe 1783, Nr. 139, S. 178. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 7 und A. W. Bach, Nr. 10. Hoheit] Wunder (Bremer Gb, Cramer). Menschen ... gethan.] Unzählbares hat, ihr Brüder, unser Gott an uns gethan. (Bremer Gb). Unzählbare hat, ihr Brüder, / Unser Gott für uns gethan! (Cramer). Jedes Gut das] Jede Lust, die (Cramer). Jeden Ruhm auch,] jeden Vorzug (Jauersches Gb, Cramer). Seht wir ... schmückt.] Wir entschöpfen, was wir haben, / nur dem Strome seiner Gaben, / jede Lust, die uns entzückt, / jeden Vorzug, der uns schmückt. (Bremer Gb). Vater, ... Weise,] preise laut als Vater dich; / mit beseelter Zunge preise / dich der Starke, dich der Weise! (Bremer Gb). Keiner rühme ... Hand] Jeder rühme deiner Stärke, / Jeder deiner Weisheit sich, / Jeder preise deine Werke, / Jeder, Vater, rühme dich! / Mit verhülltem Antlitz preise/ Dich der Starke, dich der Weise!/ Ihre Kraft und ihr Verstand/ Sind Geschenk’ aus deiner Hand. (Cramer)
Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Ueber alles o mein Gott!11 Angebetet sollst du werden, Weil im Himmel und auf Erden Dir erhabnen niemand gleicht, Deine Größe nichts erreicht.12 [Cramer]
N a c h d e m G e b e t . 13 Mel. Die Tugend wird etc.14
Der Herr ist gut, ihr Himmel höret, Und jauchzt uns15 nach, der Herr ist gut, Er hat das16 Leid in Lust verkehret, Gott ists der große Dinge thut! Zu ihm, von dem wir Hülfe haben, Ging unser Flehn in tiefer Noth17, Als große Wasser uns18 umgaben, Und keine Hand uns19 Hülfe bot. Verderben wollt uns schon20 verschlingen, Vor Menschen war’s um uns21 gethan; Doch er vernahm das Flehn und22 Ringen, Er sah uns Arme23 gnädig an. Er ließ die Fluthen grausend schwellen, Und rettete mit starker Macht Uns mitten durch die starken Wellen, Durch alle Schrecken banger Nacht.24
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Dich mein ... Gott!] Nein wir wollen, Gott, dich loben / demuthsvoll bis in den Tod! / Ewig sey von uns erhoben / über alles, unser Gott! (Bremer Gb) Dir erhabnen ... erreicht.] Keiner dir an Größe gleicht,/ Keiner je dich ganz erreicht. (Jauersches Gb). Niemand dir, Erhabner, gleicht,/ Niemand deine Größ’ erreicht! (Cramer) Q: Bremer Gb, Nr. 428; Autor: J. P. Uz; Mel. Wie groß ist des Allmächtgen etc. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 34 und A. W. Bach, Nr. 53. Uns] mir Das] mein Ging ... Noth] zu Gott rief ich in meiner Noth uns] mich uns] mir wollt uns schon] wollte mich uns] mich das Flehn und] mein flehend Er sah uns Arme] Gott sah mich Armen Uns mitten ... Nacht.] mich mitten durch die schwarzen Wellen / und alle Schrecken banger Nacht.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Gott ist mit uns, was kann uns schaden? Was kann uns Staub und Asche thun?25 Wie gut ists aller Sorg entladen, Herr unter deinen Flügeln ruhn! Wir preisen dich, du Herr der Schaaren, Gott unser Zuflucht, unser Hort! Wenn wir uns dir getreu bewahren, So hältst du stets dein Gnadenwort.26 So leitetest auf dunklen Wegen Du uns, verbargst dein Angesicht, Und warest doch bei uns zugegen, Und in der Dunkelheit uns Licht. Ihr goldnen Seile treuer Liebe, Zieht uns zu unserm Vater hin, Daß wir ihm weihen unsre Triebe, Und ihm sich heilge jeder Sinn!27 So fliehn wir der Betrognen Pfade, Die sich von Gott zur Welt gewandt, Des Herrn vergessen, seiner Gnade, Der Hülfe, die er ausgesandt. So laßt uns noch in fernen Zeiten,28 Des großen Retters in der Noth, Des weisen29 Vaters Lob verbreiten, Das Lob des Gottes Zebaoth. [Bremisches Gesang Buch]
25 26 27
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Gott ist ... thun?] Gott ist mit mir! Was kann mir schaden? / Was kann mir Staub und Asche thun? Wir preisen ... Gnadenwort.] Ich preise dich, Fels meiner Stärke, / Gott, meine Zuflucht, mein Panier! / Wann ich auf deine Führung merke, / wie weis’ und göttlich ist sie mir! So leitetest ... Sinn!] Du führtest mich auf dunkeln Wegen, / verbargst vor mir dein Angesicht, / und warest doch bey mir zugegen, und in der Finsterniß mein Licht. / Ihr goldnen Seile treuer Liebe / zieht mich zu meinem Vater hin! / Daß ihm ich weihe meine Triebe, / ich, der ich ihm so theuer bin. So fliehn ... Zeiten,] So flieh’ ich des Betrognen Pfade, / der sich von Gott zur Welt gewandt, / des Herrn vergißt, und seiner Gnade, / der Hülfe, die er ihm gesandt. / So werd’ ich noch auf ferne Zeiten Unleserliches Wort, hier nach Bremer Gb ergänzt.
Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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U n t e r d e r P r e d i g t . 30 Mel. Lobt Gott ihr Christen etc.31
Hoch in den Wolken thront der Herr Mit Wahrheit und mit Licht, Gerechtigkeit geht vor ihm her, Er übt ein recht Gericht. Er schaut mit mildem Vaterblick, Die Werke seiner Hand. Er sorget für der Menschen Glück, Er segnet Volk und Land.
N a c h d e r P r e d i g t . 32 Mel. Nun lob mein Seel etc.33
Jehova Gott der Götter, An deine Größe reichet nichts; Wir neigen uns Erretter, Vor dir gebeugten Angesichts. Von ungezählten Sternen, Erschallen Stimmen dir, Die Nähen und die Fernen, Ertönen dort und hier, Es mischt in ihre Chöre Sich noch die fernste Zeit, Dir Herr sei Preis und Ehre, Hallts durch die Ewigkeit.
30 31 32 33
Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 437,1.10; Mel. Ich singe dir mit Herz und Mund; Vf. Rudolf Ernst Schilling. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 89 und A. W. Bach, Nr. 152. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 433,8; Mel. Kommt, kommt den etc.; Vf. Christine Engel von Westphalen. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 126 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 177.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Die Autorenangabe „Cramer“ legt eine Spur zum Bremer Gesangbuch, wo das Lied in der Abteilung „Gesinnungen und Verhalten des Christen gegen Gott“, „Anbetung Gottes“ steht. Die Übereinstimmung mit dem Text des Jauerschen Gesangbuchs, Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit. In Beziehung auf Gott“, „Dankbarkeit“ (ohne Verfasserangabe!) erweist sich jedoch sowohl in der Strophenauswahl als auch in den Lesarten als ungleich größer. Darum soll auch hier der mögliche Redaktionsprozess tabellarisch veranschaulicht werden: Lb L 22 - Vor dem Gebet Mel. Alle Menschen müssen etc.
Bremer Gesangbuch, Nr. 402 Mel. Schwinge zu des Himmels etc.
Jauersches Gesangbuch, Nr. 569 Mel. Jesu der du meine Seele.
Fallet nieder! Fallet nieder, Betet Gottes Hoheit an! Menschen, Christen, Freunde, Brüder Viel hat er an uns gethan. Seht wir schöpfen, was wir haben, Aus dem Strome seiner Gaben, Jedes Gut das uns entzückt, Jeden Ruhm auch, der uns schmückt.
Fallet nieder, fallet nieder, betet Gottes Wunder an! Unzählbares hat, ihr Brüder, unser Gott an uns gethan. Wir entschöpfen, was wir haben, nur dem Strome seiner Gaben, jede Lust, die uns entzückt, jeden Vorzug, der uns schmückt.
Fallet nieder! Fallet nieder! Betet Gottes Hoheit an! Menschen, Christen, Freunde, Brüder! Viel hat er an uns gethan. Seht wir schöpfen, was wir haben, aus dem Strome seiner Gaben, jedes Gut, das uns entzückt, jeden Vorzug, der uns schmückt.
Keiner rühme seiner Stärke Seiner Kunst und Weisheit sich; Jeder rühme deine Werke, Vater, jeder rühme dich! Voll von tiefer Demuth preise Dich der Starke wie der Weise, Ihre Kraft und ihr Verstand, Sind Geschenke deiner Hand.
2. Keiner rühme seiner Stärke, seiner Kunst und Weisheit sich; jeder rühme deine Werke, preise laut als Vater dich; mit beseelter Zunge preise dich der Starke, dich der Weise! Ihre Kraft und ihr Verstand sind Geschenke deiner Hand.
2. Keiner rühme seiner Stärke, seiner Kunst und Weisheit sich! Jeder rühme deine Werke, Vater, jeder rühme dich! Voll von tiefer Demuth preise dich der Starke, dich der Weise! Ihre Kraft und ihr Verstand sind Geschenke deiner Hand.
3. Unsre rege Dankbegierde müsse Gott, nur dein sich freun; denn der Christen Ruhm und Zierde ist die Demuth, sie allein. Sollten wir uns überheben deß, was du nur uns kannst geben? Deß, was darum nur uns schmückt, weil du uns damit beglückt? Dich mein Vater will ich loben Demuthsvoll bis in den Tod, Ewig sei von mir erhoben, Ueber alles o mein Gott! Angebetet sollst du werden, Weil im Himmel und auf Erden Dir erhabnen niemand gleicht, Deine Größe nichts erreicht. [Cramer]
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4. Nein wir wollen, Gott, dich loben demuthsvoll bis in den Tod! Ewig sey von uns erhoben über alles, unser Gott! Angebetet sollst du werden, weil im Himmel und auf Erden dir, Erhabner, niemand gleicht, deine Größe nichts erreicht!
3. Dich, mein Vater, will ich loben demuthsvoll bis in den Tod. Ewig sei von mir erhoben über Alles, o mein Gott! Angebetet sollst du werden, weil im Himmel und auf Erden Keiner dir an Größe gleicht, Keiner je dich ganz erreicht.
(21.)34
Die Zahl verweist auf das Autorenverzeichnis und auf Johann Andreas Cramer.
Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Der Textvergleich zeigt, dass Schleiermacher sich eng an die Jauersche Fassung anlehnt. Bloß in den letzten beiden Verszeilen, die auch von Cramers Original abweichen, scheint er die Bremer Lesart (mit einer kleinen grammatikalischen Korrektur) zu übernehmen. Mit den Pronomina „niemand“ und „nichts“ wird eine noch größere Spannung ausgedrückt als mit dem Pronomen „Keiner“, das nur männliche Personen ausschließt. In der letzten Zeile der ersten Strophe weicht Schleiermacher mit dem feierlicheren „Ruhm“ von dem nüchternen „Vorzug“ der beiden möglichen Quellen ab. Damit bereitet er nicht nur die zweite Strophe vor, die mit Jer 9,22f. menschliches Rühmen verbietet, er greift auch einem anderen Kasus dieses Gottesdienstes, dem Heldengedenken, vor. Das Hauptlied „Der Herr ist gut!“ von Johann Peter Uz (1720‒1796) kommt wieder aus dem Bremer Gesangbuch, aus der Hauptabteilung „Gesinnungen und Verhalten des Christen gegen Gott“, Unterabteilung „Dankbarkeit gegen Gott“. Im Jauerschen Gesangbuch fehlt das Lied, so dass davon auszugehen ist, dass Schleiermacher selbst es konsequent in die gemeindetauglichere WirForm – inhaltliche Gründe dafür mögen aus der Predigt ersichtlich werden – transformiert hat. Im Zuge dessen hat Schleiermacher auch in 3/5 den kriegerischen „Gott der Schaaren“ eingebracht. „Unter der Predigt“ singt die Gemeinde die Strophen 1 und 10 aus dem Lied „Hoch in den Wolken thront der Herr“ von Rudolf Ernst Schilling († 1774) aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Lob Gottes“. Hier überraschen der Gerichtsgedanke und das vaterländische Motiv „Er segnet Volk und Land.“. Schleiermacher hat beide Strophen völlig unverändert auf das Liedblatt übernommen. Genauso „Nach der Predigt“ die vom letzten Gottesdienst bereits bekannte, aber dort redigierte Strophe „Jehova Gott der Götter“ aus dem Lied „Wie groß sind deine Kräfte“ von Christine Engel von Westphalen, aus derselben Rubrik des Bremer Gesangbuchs.
2. Die Predigt Schleiermacher predigt am 19.10.1817 über Lk 10,13f.35 und begründet die ungewöhnliche Textwahl sogleich damit, dass er die Gerichtsankündigung Christi als „eine Warnung“ auffasst, „der wir auch heute [uns] nicht entschlagen sollen.“ (170) Die Bußpredigt solle dazu dienen, die Erfahrung der Befreiuungskriege auch für die Zukunft nutzbar zu machen: „Wolan denn, daß wir diese großenThaten recht benutzen, daß sie sich nicht vergeblich mögen ereignet haben.“ (170)
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Nachschrift Ludwig Jonas, vgl. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 169‒176.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Zwei Fragen gliedern die Predigt: „Ob doch und in wie fern in dieser Beziehung wir der Buße bedürfen?“ Und „ob doch und in wie fern uns dieser Tag gerade dazu auffordert.“ (170) Die erste Frage wird energisch bejaht. Schleiermacher predigt an gegen eine euphorische Selbstgerechtigkeit, nach der die geschichtlichen Ereignisse „uns das Recht geben zu sagen, daß wir der Buße gar nicht bedürfen oder ob wir bloß in freudige Dankbarkeit ausbrechen dürfen.“ (171) Dagegen zeige die geschichtliche Erfahrung, dass jedem Neuen „Zeiten der Buße und Zerknirschung“ vorangehen und „Streit zwischen denen, welche das Neue erkennen und denen, die das Alte vorziehen.“ (171) Und mit Blick auf die jüngste Geschichte warnt der Prediger: „Ja sollen diese großen Thaten nicht vergebens gewesen seyn, nicht vergebens unsre Freud- und unsre Lobgesänge, o so laßt uns der ernsten Worte gedenken, daß auch wir Buße thun müssen im Sack und in der Asche und daß durch diese Buße unser Herz müsse gereinigt werden, damit wir das verlangte Hochzeitskleid anhaben in dieser Festzeit Gottes, damit wir unter die Zahl der Christen aufgenommen werden und nicht draußen auf der Gasse stehen müssen.“ Der Prediger knüpft hier ganz offensichtlich an das Evangelium für den 20. Sonntag nach Trinitatis (Mt 22,1-14) an, das vor der Predigt verlesen worden war, einer der seltenen Belege für die Praxis der Lektionen bei Schleiermacher.36 Nach diesem grundsätzlichen ersten Teil kann nun auch die zweite Frage bejaht werden: Wenn das Bedürfnis der Buße da ist, dann gerade heute. Denn „was an dem heutigen Tage vor 4 Jahren geschehen ist, es gab uns allen die erste sichere Bürgschaft, daß das harte und drückende Joch der Knechtschaft von uns genommen sey.“ (173)37 Schleiermacher wird hier ungewöhnlich direkt und patriotisch: „Nach den großen und blutigen Werken dieses Tages gaben wir uns alle in ruhiger Hoffnung die Hand, daß nun keiner unsrer deutschen Brüder mehr unter der Fahne des Bedrückers stehen würde, daß alle das letzte thun würden, um das schnöde Joch der fremden Dienstbarkeit abzuschütteln.“ (174) Doch es wird auch erinnert an „unsere Empfindungen, wie unsicher unsere Ansichten von den dunklen Wegen Gottes mit den Menschen!“ damals waren (174) und „wie nicht mit Unrecht jener Mensch, dessen eiserner Arm wüthete, von diesem und jenem die Geißel Gottes genannt“ wurde. Erst nach dem Sieg über Napoleon sei die „väterliche Liebe“ wieder hervorgebrochen. So war es „dieser Tag, da unser aller Gefühl gereinigt werden konnte von den Schlacken, mit welchen der Sturm der Zeit es verunreinigt hatte; [...] wo allgemeines Mitgefühl erwachte, wo Haß und Rachsucht bei allen mehr und mehr erlosch, und der freudige Gedanke sich überall aufdrängte, es würden nun alle Hand in Hand gehen in brüderlicher Liebe.“ (174f.) Wieder 36 37
Vgl. dazu B. Schmidt, Lied, S. 350. 19.10.1813: Die „Völkerschlacht bei Leipzig“ (16.‒19.10.1813), eine der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte, endet mit dem Sieg der verbündeten Russen, Preußen und Österreicher über die Franzosen. Auf alliierter Seiten kämpfen rund 330.000 Soldaten, auf französischer Seite rund 200.000. Etwa 122.000 Männer finden in der Schlacht den Tod. Napoléon tritt mit seiner Armee den fluchtartigen Rückzug nach Paris an. In der Folge werden alle französischen Garnisonen aus Deutschland abgezogen, der 1806 begründete Rheinbund zerfällt.
Am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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dämpft Schleiermacher die Euphorie und fragt, „wie weit denn das Werk des Herrn gedeihen solle und warum es noch nicht weiter gediehen sey?“ Und er warnt davor, „daß wir nur die Schuld daran nicht auf andere schieben, sondern allein in dem suchen, was alle noch drückt!“ (175) Zuletzt stellt Schleiermacher seinen Predigthörern die Helden der Befreiungskriege vor Augen: „Mögen wir sehen, M. F., auf die, welche an diesem Tage gekämpft haben. Wohl gebührt ihnen unsre Achtung und Verehrung und indem wir unsrem Gott danken und lobsingen, schließen wir ja auch die mit ein, welche seine ausgewählten Werkzeuge gewesen sind, aber hätten sie selbst etwas andres gesucht, als das Wort Gottes unter uns aufzubauen, hätte ihr Anführer auf Glanz, Ehre und Eroberungen gehofft, hätten sie einen andren Ruhm gewollt, als den, Werkzeuge Gottes zu seyn, dann hätten sie ihren Ruhm dahin.“ (175) Stattdessen riefen sie den Zeitgenossen zu: „reinigt eure Herzen vor Gott, damit ihr ihm wohlgefällig seyt, baut auf die neue Stadt Gottes mehr und mehr ein des wahren Wohlseyns würdiges Volk.“ (175f.) So prägt der Prediger seinen Hörern die Buße gleichsam als Vermächtnis der gefallenen Helden ein: „Wenn uns nicht die neue Zeit mit einem reinen Herzen ausgestattet hat, wie werden dann diese in freudiger Hoffnung Gestorbenen der Nachwelt nur als bedenkungswürdige Opfer erscheinen, die zwar sterbend gehofft hätten, aus ihrem Blute ein neues Reich der Tugend aufzubauen [...] Damit ferne sey solche Schmach, so laßt uns reinigen unsre Herzen vor Gott, damit ihm wohlgefällig sey das Opfer, das wir ihm bringen wollen ein gemeinschaftliches Gebet. Amen.“ (176) Indem Schleiermacher gegen die allgemeine Siegeseuphorie anpredigt und eine oberflächliche Lob- und Dankstimmung relativiert, hat er mit seiner Predigt Mut bewiesen. Diese Tendenz ist nicht zufällig, sondern theologisch sorgfältig reflektiert.38 Schleiermacher hält eine ausgesprochene Themenpredigt, eine Textauslegung von Lk 10,13f. findet nicht statt.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Das vorliegende Liedblatt weist eine enge Beziehung von Lied und Predigt auf, die sich zunächst damit erklärt, dass der 19. Oktober offizieller Staatsfeiertag war. Sie manifestiert sich in der Lied- und Strophenauswahl (Alle Lieder preisen die Macht und Hoheit Gottes, siehe aber auch das vaterländische Motiv im Kanzelvers „Er segnet Volk und Land“), in der Textredaktion („Ruhm“ statt „Vorzug“, siehe Eingangslied 1/8), und sie kommt auch darin zum Ausdruck,
38
Vgl. PT, S. 155: „Im Sieg ist keine göttliche Rechtfertigung zu finden. Sofern die Siegesfeste auf diese Differenzen gehen, sollte man sie abstellen und sagen, Der Krieg ist eine Zeit wo in der religiösen Anregung die Buße eintreten soll.“ Schleiermacher betrachtet die Buße neben dem Glauben als ein Moment der Bekehrung, wobei die Buße selbst zwei Momente verknüpfe: die Reue und die Sinnesänderung, vgl. CG1 Leitsatz § 130, KGA I/7/2, S. 118.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
dass der Prediger selbst mehrfach auf die erfolgten Lob- und Dankgesänge hinweist. Allerdings werden letztere durch Schleiermacher auch energisch relativiert. Dies geschieht durch den Predigttext (Lk 10,13f.), der ohne die sonst übliche Einleitung hart vorangestellt wird, und der hier eher als Stichwortgeber fungiert als wirklich ausgelegt wird. Andererseits wird der Gerichtsgedanke überraschenderweise im Kanzelvers aufgegriffen. Auch im Hauptlied, vor allem in der konsequenten Umstellung von der Ich- in die Wir-Form, kündigen sich mit der kollektiven Erfahrung („Zu ihm, von dem wir Hülfe haben,/ Ging unser Flehn in tiefer Noth“ u. ö.) Kasus und Predigtthema bereits an. Die zweimalige Nennung des „Herrn Zebaoth“ bzw. des „Herrn der Schaaren“ – letztere Wendung wohl von Schleiermacher selbst – im Hauptlied verknüpft ebenfalls Predigt und Lied. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Liedblattlieder klimaktisch zur Predigt hinführen, ohne deren eigentümliche Pointe (die Buße) vorwegzunehmen.
Am zweiten Tage des Reformationsfestes 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Komm heiliger Geist.3
Hoch sei gesegnet dieses Jahr,4 Der fesselfreien Christenschaar! Schon dreimal sank es fröhlich nieder,5 Es schallten6 Dank und Jubellieder, Und noch strömt uns der Wahrheit Quell,7 Die Lehre Jesu, rein8 und hell; Er drang durch Klippen und9 Gefahren, Drum schallt nach dreimal hundert Jahren, Hallelujah, Hallelujah. Du Geist der Wahrheit, Jesu Geist, Der uns des Irrthums Macht entreißt, Mehr’ unsrer Andacht heilges Feuer, Der Väter Erde bleib uns theuer. Aus tiefen Aberglaubens Nacht Sind sie durch dich zum Licht erwacht, Und wir zur Freiheit auserkohren, Ein Volk durch Christum neu gebohren. Hallelujah, Hallelujah. O Wort des Lebens, Himmelswort, Erschalle mächtig fort und fort, Daß alle Welt den Meister kenne, Kein Irrgeist Jesu Glieder trenne, Daß nah und fern der Völker Schaar,
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1.11.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 24. Q: Kirchenlieder zur Feyer des Reformations-Jubelfestes 1817, Wittenberg, gedruckt bei Rübener, Nr. 2. Zur zeitgenössischen Gestalt der alten Luther-Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 103 und A. W. Bach, Nr. 141. Hoch ... Jahr,] Sey hoch gesegnet, Jubeljahr, Schon ... nieder,] Schon dreimal heilig sankst du nieder; Es schallten] dich preisen Und noch ... Quell,] Noch strömt der ewgen Wahrheit Quell, rein] klar und] voll
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Die seiner Kirche Schooß gebar, In Glaubenseintracht sich umschlinge, Und Jubeldank gen Himmel dringe! Hallelujah, Hallelujah.
N a c h d e m G e b e t . 10 Gemeine Mel. Wachet auf ruft uns etc.11
Freuet hoch euch all ihr Frommen, Das Fest des Heils es ist gekommen, Gesegnet brach sein Morgen an.12 Singt dem Herrn den Gott gesendet, Er ging voran, er hat vollendet, Was Glaubensmuth mit ihm begann. Sein Wort, sein Geist, sein Bild, Es lag in Nacht gehüllt, Sehnend blickte die kleine Schaar, Die treu ihm war, Zu ihm – da wurd’ es wieder klar.13 Chor. Wort des Herrn! wie rein14 wie helle, Rinnt nun in dir der Weisheit Quelle, Wird Lebensstrom der ewig fleußt! Alle welche dir vertrauen, In deinem Licht das Licht nur schauen, Sie einigt nun15 Ein Sinn Ein Geist. Drückt uns der Sünde Schuld, Bei Gott ist Gnad’ und Huld, Freie Gnade, für Gold nicht feil,
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11
12 13 14 15
Q: Kirchenlieder zur Feyer des Reformations-Jubelfestes 1817, Wittenberg, gedruckt bei Rübener, dort die Nr. 6. Vgl. auch Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen, von D. August Hermann Niemeyer, Halle und Berlin 1817. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 151 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 223. In beiden Choralbüchern wird die Melodie übrigens Jakob Prätorius (Hamburg 1604) zugeschrieben. Gesegnet ... an.] Weiht euch! Es bricht sein Morgen an. Zu ihm ... klar.] Zu ihm empor – und es ward Licht. Rein] klar nun] uns
Am zweiten Tage des Reformationsfestes 1817.
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Ist unser Heil, Durch Glaub’ in Christo unser Theil.16 Der Herr gab das Wort: groß war die Menge der Boten Gottes.17 Eine Stimme. Wie lieblich ist der Boten Schritt, Sie kündigen Frieden uns an, Sie bringen Botschaft Zion, Daß sein Gott König sei. Ihr Schall geht aus in jedes Land, Und ihr Wort an alle Enden der Welt. Chor. Ihr Schall geht aus in jedes Land Und ihr Wort an alle Enden der Welt. Gemeine.18 Mel. Vom Himmel hoch da etc.19
Vereint mit uns im Heiligthum, Singt großer Vater deinen Ruhm, Das Herz voll Freude Preis und Dank, Auch unsrer Kinder Lobgesang. Was uns den Tag zum Fest gemacht Hat großes Heil für sie gebracht, Einst schwand des Geistes Blüthe hin, Bei todter Lehre dunklem Sinn.20 Jetzt lernt die Jugend Gott vertraun,21 Im Sohn des Vaters Liebe schaun, Jetzt trägt auch sie ein reiner Geist,22 Der dem Verderben sie entreißt. So laß, Herr, die sie zu erzieh’n Stets fröhlich unsre Schulen blühn,
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19 20 21 22
Durch Glaub’ ... Theil.] der Glaube hebt sein Haupt empor. Zur Quellenlage der Figuralstücke s. u. Q: Kirchenlieder zur Feyer des Reformations-Jubelfestes 1817, dort die Nr. 23. Vgl. auch Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes [...], von D. August Hermann Niemeyer, Halle und Berlin 1817. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 152 und A. W. Bach, Nr. 219. Einst ... Sinn.] Das sie umstrahlt, das heitre Licht, / die dunkle Vorwelt kannt’ es nicht. Jetzt lernt ... vertraun,] Jetzt lernt die Jugend Gott vertraun, Jetzt trägt ... Geist,] Er haucht in sie den reinen Geist
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Daß einst an der Vergeltung Tag Nicht eins von allen fehlen mag.23
U n t e r d e r P r e d i g t . 24 Mel. Mir nach spricht etc.25
Wie wird die Jugend ihre Bahn, Vor dir unsträflich gehen? Wie wird ihr Auge frei hinan Nach deinem Himmel sehen? Wenn sie sich standhaft immerfort Nur hält o Herr nach deinem Wort.
N a c h d e r P r e d i g t . 26 Mel. Lobe den Herren etc.27
Lobet den Herren, der aus den verachteten Zellen,28 Luther und Zwingli berief, sich ans Ruder zu stellen,29 Fort dann und fort30 Leuchte das himmlische Wort, Um uns den Weg zu erhellen.31 Lobet den Herren, und schafft in dem Reiche der Wahrheit, Werke des Lichtes umglänzet von himmlischer Klarheit Ewiglich nicht Lasset vom Recht und vom Licht, Haltet an Christus und Wahrheit. 23
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So laß, ... fehlen mag.] Sie für den Himmel zu erziehn, / laß unsre Schulen fröhlich blühn. / Des Vaters Herz, des Mutters Brust / sey sich des hohen Amts bewußt. Herr, Herr! sie sind dein Eigenthum, / auch unsre Wonne, unser Ruhm; / o daß an der Vergeltung Tag / Nicht eins von allen fehlen mag! Q: Kirchenlieder zur Feyer des Reformations-Jubelfestes 1817, dort die Nr. 24: Es freut, Herr, die Gemeinde sich, Strophe 5. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 112 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 153 (Machs mit mir Gott, nach deiner Güt’) Q: Elf Kirchenlieder für das Jubelfest der Reformation, nach bekannten Choral-Melodieen, aus mehreren vorzüglichen Gesangbüchern zusammengetragen und z. Th. neu verfertigt. Voran der Text der verordneten Liturgie. Aus Dr. G. A. L. Hansteins Vorbereitungen zur Feier des dritten Jubel-Festes, Berlin 1817. dort aus der Nr. 9 die letzten beiden Strophen 7 und 8. Der Verfasser heißt Steckling. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 110 und A. W. Bach, Nr. 150. Der aus den ... Zellen,] der aus der verachteten Zelle sich ans ... stellen,] an des Herrlichen Stelle. Fort ... fort] Immerdar fort Leuchte ... erhellen.] tönt ihr gewaltiges Wort, / bis in die Tiefen der Hölle.
Am zweiten Tage des Reformationsfestes 1817.
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1. Lied- und Strophenauswahl. Textredaktion Eine Vorbemerkung: Das Liedblatt L 24 und den Gottesdienst vom 1.11.1817, seinen Kontext und seine Vorgeschichte habe ich im Rahmen meiner Dissertation ausführlich untersucht und auch die mutmaßlichen Quellentexte dort zugänglich gemacht.32 Bei diesem Abschnitt handelt es sich um eine leicht gekürzte und aktualisierte Variante. Alle Lieder dieses Liedblattes bis auf das Schlusslied stammen aus einer Sammlung mit dem Namen „Kirchenlieder zur Feyer des ReformationsJubelfestes 1817, Wittenberg, gedruckt bei Rübener.“33 Das anonyme Eingangslied steht dort als Nr. 2 unter der Rubrik „Lieder zur Weihe des Festes und zum Anfang des Gottesdienstes“. Die Kopfstrophe preist im Stile eines Preisliedes das dritte Jubeljahr des Thesenanschlags. Die Mittelstrophe bittet den Geist um die Bewahrung des teuren Erbes der Reformation, während in der dritten Strophe das „Wort des Lebens“ mit der Bitte um Ausbreitung und Glaubenseintracht angerufen wird. Offensichtlich beabsichtigte der Texter, das Jubelfest in ein pfingstliches Licht zu rücken und es damit theologisch zu qualifizieren.34 Interessant ist der Textvergleich. Abweichungen treten nur in der Kopfstrophe auf, dafür aber signifikante: Um den Preis der stilistischen Homogenität gibt Schleiermacher die hymnische Anredeform in der ersten Strophe auf und weicht in einen vorsichtigen Optativ aus: „Hoch sei gesegnet dieses Jahr“ (statt Imperativ „Sey hoch gesegnet Jubeljahr“). Das deplazierte Sanctus-Motiv wird getilgt, indem das „dreimal heilige“ Niedersinken des Jubiläums durch ein „fröhliches“ ersetzt wird, ebenso das hymnische „preisen“ durch ein nüchternes „schallen“. Insgesamt wirkt die bearbeitete Fassung weniger pathetisch. Der Redaktor dämpft die Jubiläumseuphorie. Die „Hypostasierung“ des Jubiläums vollzieht er nicht mit, dafür ist ihm der Bezug des Textes zur singenden Gemeinde wichtig. Das Proprium des
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B. Schmidt, Lied–Kirchenmusik–Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Berlin-New York 2002, S. 81‒106. Vgl. SBB: Cn 21023. Die Bezugnahmen auf traditionelle Pfingstlieder fallen auf. Schon bei der Wahl des Metrums und der Melodie wird sowohl reformatorischer als auch pfingstlicher Geist beschworen, durch die Anrede „Geist der Wahrheit“ und den Topos des heiligen Feuers, aber auch durch die aus Pfingstliedern bekannte Gebetssprache, besonders in der zweiten und dritten Strophe (Du Geist, O Wort). Die Bezeichnung Jesu als Meister begegnet auch in der zweiten Strophe von Luthers „Komm heiliger Geist, Herre Gott“. Mit dem alten Pfingstlied verbindet es das ähnliche Metrum, Melodie, Strophenzahl, der Halleluja-Kehrvers und der pfingstliche Duktus, zu dem auch die Aufforderung zu Dank, Lob und Jubel gehört. Metaphern wie „Irrthums Macht“ und „Aberglaubens Nacht“ gehören zum typischen Vokabular der Zeit, mit dem die Epoche des Mittelalters bezeichnet und der Lichtepoche der Reformation gern kontrastiert wird. Das Ereignis der Union, das dem dritten Jubelfest seine besondere Note und Aktualität gab, klingt möglicherweise in der dritten Strophe an: „Kein Irrgeist Jesu Glieder trenne [...] In Glaubenseintracht sich umschlinge“.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Gottesdienstes, die Bedeutung der Reformation für die Jugend, wird im Eingangslied allerdings noch nicht thematisiert. Auch der Choral „Freuet hoch euch all’ ihr Frommen“ stammt aus der genannten Wittenberger Jubiläumsliedersammlung als Nr. 6 (Rubrik II: Hauptlieder). Außerdem fand ich das Lied in einer Anthologie des Hallenser Theologen A. H. Niemeyer, dem offensichtlichen Autor.35 Beide Strophen des Liedblatts folgen exakt dem Metrum von Philipp Nicolais „Wachet auf, ruft uns die Stimme“.36 Niemeyers Lied ist ein Hymnus, der zu Dank und Lobpreis für die Errungenschaften der Reformation auffordert. Ich beschränke meine Analyse auf die von Schleiermacher ausgewählten Strophen.37 Das Lied beginnt mit der Aufforderung, sich auf die Feier des Tages mit Festgesang einzustimmen. Das Motiv des anbrechenden Morgens erinnert sowohl an Nicolais Lied als auch an die geschichtsmetaphysische Stilisierung der Reformation als neuen Morgen nach der langen Nacht des Mittelalters. Erstaunlicherweise ist der Rückblick nicht auf die Reformatoren, sondern auf „die kleine Schaar, die treu ihm war“, gerichtet. Die Gemeinde als Handlungssubjekt der Reformation erbaut sich an sich selbst! Zwar wird die Reformation in einen gleichsam heilsgeschichtlichen Rang gehoben (Fest des Heils), aber nur weil sie das begonnene Werk Jesu aufgenommen und weitergeführt hat. In seiner Christologie folgt das Lied Hebr 12,2: Christus erscheint als der von Gott gesandte vollkommene Mensch, Wegbereiter und Vollender des Glaubens. Erinnern die ersten beiden Strophen an die Geschichte der Reformation, so bündelt Niemeyers dritte Strophe (Liedblattstrophe 2) ihre Ergebnisse: das vertrauenheischende unverfälschte Wort Gottes (2/1–6) und die Rechtfertigung allein aus dem Glauben (2/7–11). Letztere Verse fassen die reformatorische Rechtfertigungslehre prägnant zusammen. Zur Strophenauswahl und Textbearbeitung: Schleiermacher bedient sich der Feierlichkeit der „großen Strophe“38 von Nicolais Choral. Das melodische Weckruf-Motiv und seine Assoziation eignet sich für die Aufforderung an die evangelischen Christen, die Reformation durch Herstellung der Union fortzuführen. Auch mag die suggestive Morgenstimmung der Liedmelodie im speziellen Kontext dieses Gottesdienstes, in dem es um die Jugend ging, willkommen gewesen sein. Der Textvergleich in Strophe 1 weist wiederum eine Vernüchterung durch Abschwächung von Hoheitsmotiven auf: Die Aufforderung: „Weiht euch!“ wird gestrichen. Die letzte Zeile ändert Schleiermacher, wohl 35
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Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen, von D. August Hermann Niemeyer, Halle und Berlin 1817. – Niemeyer (1754–1828) war Urenkel August Hermann Franckes und Enkel J. A. Freylinghausens. Er machte über 100 Kirchenlieder und schrieb auch Oratorientexte, vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6 (1869), S. 369–371. – Schleiermacher studierte bei Niemeyer und war von 1804–1807 in Halle auch sein Kollege. Das BG von 1829 hat vier Niemeyer-Lieder aufgenommen. Entgegen Strophe 1, aber gemäß der Strophen 2 und 3 bei Nicolai wird die letzte Zeile auf die beiden vorigen gereimt. Dagegen lehnt sich Niemeyer durchgehend an das Reimschema der Nicolaischen Kopfstrophe an. Vgl. den vollständigen Abdruck des sechsstrophigen Liedes in B. Schmidt, Lied, S. 86f. Vgl. Schleiermacher, PT, S.184.
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aus stilistischen Gründen, wie auch die andere Strophe zeigt. Doch ist die Korrektur nicht nur stilistisch motiviert: Schleiermachers „da wurd’ es wieder klar“, bezogen auf das Bild Christi, ist weniger radikal und theologisch weniger pathetisch als Niemeyers: „Und es ward Licht“! In 2/6 fügt Schleiermacher die Partikel „nun“ ein, um den Überschritt von der Geschichte zur Gegenwart zu verdeutlichen, wobei das „nun“ als unmissverständlicher Hinweis auf die Union: „Sie einigt n u n Ein Sinn Ein Geist“ zu lesen ist. Die Korrektur „Durch Glaub’, in Christo unser Theil“ erinnert mit dem Instrumentalis an das reformatorische „sola fide“. Während Niemeyers „Der Glaube hebt sein Haupt empor“ historisch gemeint ist, betont Schleiermachers Lesart „d u r c h Glaub“ gut lutherisch den existentiellen Aspekt des Glaubens. Dieser Glaube ist ihm keine politische oder intellektuelle Haltung, sondern die Lebensgemeinschaft der Christen mit Christus, daher auch das lokale „in Christo“ (ἐ ᾧ).39 Da Schleiermacher sich aus Gründen der Ökonomie des Gottesdienstes ohnehin bescheiden musste, dürfte ihm die Auslassung der historisierenden, polemisierenden, personalisierenden und eschatologisierenden Strophen nicht schwergefallen sein. Auch das Lied vor der Predigt steht, ohne Verfasserangabe, in der Wittenberger Reformationslieder-Sammlung (Rubrik V: Gesänge für das Fest der Kinder). Dort wird als Melodie empfohlen: „Herr Gott, dich loben alle wir“. Das Lied stammt ebenfalls von Niemeyer.40 Es setzt die gegebene Situation voraus, nämlich die sonst nicht übliche Anwesenheit der Jugend im Gottesdienst: „Vereint mit uns im Heiligthum“.41 Dass das Lied eigens für diesen Tag geschrieben worden ist, dürfte Schleiermachers Wahl in erster Linie bestimmt haben. Daneben ist die Melodiewahl („Vom Himmel hoch“) vielleicht auch eine Reverenz an den Reformator und Melodisten Martin Luther. Die einfache, den Schülern aus dem Katechismusunterricht bekannte Weise erscheint als geeignet. Obwohl wir nicht genau wissen, welche Quelle Schleiermacher benutzt hat, das Ergebnis seiner Bearbeitung ist interessant: Zunächst leuchtet ein, dass er eine Strophenauswahl treffen musste. Dabei bietet er vier Strophen,
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In der Schleiermacherschen Fassung enthält die zweite Strophe alle vier reformatorischen Exklusiv-Partikel dem Sinne nach. Solo verbo: „Wort des Herrn“; die Ausschließlichkeit wird durch die Attribute rein und hell angedeutet. Sola gratia: „Freie Gnade, für Gold nicht feil“; der Passus weist auf die Ausschließlichkeit der Gnade hin. Sola fide: „Durch Glaub’“; mit dem reformatorischen Instrumentalis. Solus Christus: „In Christo“, bezeichnenderweise heißt es nicht: Durch Glaub an Christus. Der Christusglaube wird mystisch gefasst. In seiner Liedersammlung erscheint es als Nr. III unter dem Titel: „Am Tag der Schulfeier“. Melodievorschläge bei Niemeyer sind neben der genannten Melodie „Herr Jesu Christ dich zu uns wend“ und „Vom Himmel hoch“. Es ist nicht mehr entscheidbar, welche Quelle Schleiermacher benutzt hat, vgl. die verschiedenen Textversionen bei B. Schmidt, Lied, S. 93. Niemeyer schuf diese Verse wohl eigens für die in Preußen angeordnete „Schulfeier“ am 1.11.1817, wobei schade ist, dass die Jugend nicht selbst in der ersten Person zu Wort kommt. Stilistisch erweist sich das Lied als anspruchslos. Viele Reimpaare wirken abgegriffen, pars pro toto der sprichwörtliche Herz-Schmerz-Reim in Strophe 6, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 93. Allerdings wird – wie schon in den vorausgegangen Liedern – der im Akt des Singens vollzogene Lobgesang auch textlich fixiert.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
die er aus sechs Strophen seiner Vorlage gewinnt.42 Daran zeigt sich schon der Wille zur Straffung, der auch hier – wie so oft – die historischen Inhalte zum Opfer fallen. Immerhin streift Schleiermacher mit der zweiten Strophe die Historie, auf deren Hintergrund und an sie anknüpfend sich seine dritte Strophe versteht. So nimmt er Jesuserinnerung und Lutherverherrlichung und den dadurch bedingten Transitiv (lehren) heraus, vergegenwärtigt die Aussage durch das doppelte „jetzt“ und macht den reinen Geist zum Subjekt des Satzes. Auch mit seiner letzten Strophe fasst Schleiermacher den Inhalt zweier Strophen zusammen: Die Bitte um Segnung der Schule und die eschatologische Mahnung. Die letzte Strophe nimmt die Gottesanrede des Anfangs noch einmal auf und wandelt die Bitte dahingehend ab, dass die schulische Erziehung weder für den Himmel noch für die Erde, sondern für den Herrn geschehe. Schleiermacher streicht die Ermahnung der Eltern, zitiert aber ausdrücklich das Wort von der Vergeltung. Das ist um so erstaunlicher, als er sonst apokalyptische Drohungen eher meidet bzw. eschatologische Verse gewöhnlich an das Ende des Gottesdienstes setzt. Diese Mahnung muss ihm wichtig gewesen sein, in der Predigt wird er sie wieder aufnehmen. Die Strophe „Unter der Predigt“ stammt aus dem Lied „Es freut, Herr, die Gemeinde sich“, wiederum aus der Wittenberger Liedersammlung.43 Der Autor ist unbekannt. Schleiermacher greift aus dem achtstrophigen Lied die fünfte Strophe unverändert heraus, die zwei Funktionen verbinden soll: Wie immer dient der Kanzelvers der gemeinschaftlichen Einstimmung auf Bibeltext und Predigtwort (Stichwort: „o Herr nach deinem Wort“). Dieses allgemeine Anliegen wird hier mit dem speziellen Anliegen der Predigt, die Sorge um und für die Jugend („Wie wird die Jugend ihre Bahn“), verschränkt. Was das „Halten an Gottes Wort“ bedeutet, und was es von den Erwachsenen fordert, wird die Predigt ausführlich entfalten. Als Gesang „Nach der Predigt“ erscheint auf dem Liedblatt ein Text auf das Versmaß von Joachim Neanders „Lobe den Herren“, stammend aus der Liedersammlung „Elf Kirchenlieder für das Jubelfest der Reformation“, zum Reformationsjubiläum eigens herausgegeben von Schleiermachers Berliner Amtsbruder und späterem Kollegen in der GesangbuchCommission, Gottfried August Ludwig Hanstein, Propst zu Cölln und Prediger an der St. PetriKirche.44 Als Verfasser des Liedes wird ein gewisser Steckling genannt.45 Schleiermacher hat aus dieser Neander-Adaption, die teilweise einer Verballhornung gleicht46, zwei Strophen herausgegriffen, die einen auf das Fest Bezug nehmenden, sehr konkreten Lobpreis Gottes anstimmen (vorletzte Strophe) 42 43
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Schleiermachers zweite Strophe beinhaltet Verse aus Niemeyers zweiter und fünfter, Schleiermachers vierte Strophe Verse aus Niemeyers elfter und zwölfter Strophe. Rubrik V: Gesänge für das Fest der Kinder. Von der Wittenberger Sammlung wird das Lied als Wechselgesang zwischen Gemeinde und Kinderchor empfohlen, vgl. den Text bei B. Schmidt, Lied, S. 94f., Fußnote 39. Vgl. ebenfalls SBB: Cn 21023. Einen Liederdichter dieses Namens konnte ich bisher nicht identifizieren. Vgl. das ganze Lied bei B. Schmidt, Lied, S. 101.
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und eine die Ergebnisse der Reformation anwendende Selbstaufforderung aussprechen (letzte Strophe). Die daktylische Strophe von „Lobe den Herren“ steht par excellence für festliche Dichtung und einen lobpreisenden Ton und passt daher zum Fest- und Jubelcharakter des Gottesdienstes.47 Die befremdliche und sonst von Schleiermacher eher gemiedene Namensnennung Luthers und Zwinglis dürfte in unserem Kontext darauf hindeuten, dass Schleiermacher auch an den reformierten Anteil der Reformation erinnert wissen wollte. Das Lied schließt mit der Aufforderung, die Errungenschaften der Reformation zu bewahren, und im „Reiche der Wahrheit Werke des Lichtes umglänzet von himmlischer Klarheit“ zu schaffen. Mit der Mahnung, nicht von Christus und der Wahrheit abzulassen, werden die Versammelten in ihren Alltag entlassen und in die Kirchengeschichte der Zukunft gesendet. Schleiermachers Textrevision zeugt trotz der Namensnennung von dem Bemühen, das bei Steckling mystisch überhöhte persönliche Verdienst der Reformatoren zu relativieren. Deshalb ersetzt er in der vorletzten Strophe das Stellvertretermotiv („an des Herrlichen Stelle“) durch das Steuermannsmotiv. Das Ergebnis ist sprachlich nicht befriedigend, aber theologisch nachvollziehbar. Aus „der verachteten Zelle“ – gemeint ist wohl Luthers Klosterzelle – werden dadurch „die verachteten Zellen“. Ein Weiterwirken ist dem göttlichen Wort beschieden, nicht dem Wort der Reformatoren. Schleiermacher bedient sich gern des Bildes aus Ps 119,105.48 Und schließlich tauscht er das apokalyptische Motiv („bis in die Tiefen der Hölle“) durch das ethische Motiv („uns den Weg zu erhellen“) aus, das zugleich in den liturgischen Kontext der abschließenden Sendung passt. Die letzte Strophe wird von Schleiermacher unverändert übernommen. Sie schließt glatt an die revidierte Fassung der vorletzten Strophe an: Der göttlichen Treue muss die Treue der Christen korrespondieren.
2. Die Figuralmusik Die Kirchenmusik, die eigentlich schon mit der vom Chor gesungenen zweiten Strophe des Liedes „Freuet hoch euch all ihr Frommen“ beginnt, wächst organisch aus dem Choralgesang heraus.49 Auf ihn folgt eine von zwei Chören eingerahmte Arie. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um die Nummern 33 bis 35 aus dem zweiten Teil von Händels Oratorium „Der Messias“.50 Die Abfolge der drei Stücke,
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Die Punktierungen der Originalmelodie, vgl. noch Freylinghausens Gesangbuch (1741), Nr. 1203, wurden damals allerdings nicht gesungen, vgl. die Choralbücher von Kühnau (1786) und A. W. Bach (1830). So übrigens auch zweimal in seiner Predigt. Der für Strophe 2 verwendete Chorsatz lässt sich nicht mehr feststellen, vgl. etwa Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 151. Vgl. Georg Friedrich Händel, The Messiah, in: Hallische Händel-Ausgabe Bd. 17, hrsg. von John Tobin, Kassel u. a. 1965. Auf diese Ausgabe beziehen sich auch die Nummernangaben. –
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
die auch bei Händel aufeinander folgen, die identischen Besetzungsangaben: Chor–Arie–Chor, schließlich die wörtliche Übereinstimmung mit der Textfassung der Mozartschen Messiasausgabe, die auch von Zelters Singakademie verwendet wurde51, lassen kaum Zweifel an der Identität der Stücke. Dazu kommt, dass die Singakademie, aus deren Reihen auch die Choristen im Dreifaltigkeitsgottesdienst stammten52, am Vorabend des Reformationsfestes, am Donnerstag, den 30.10.1817, an einer Aufführung des Messias, die auf Befehl und im Beisein des Königs in der Berliner Garnisonkirche stattfand, beteiligt war.53 Da Kantor Friedrich Carl Rex selbst zur Singakademie gehörte, hat er wahrscheinlich auch an der genannten Aufführung des Messias teilgenommen. So war das Werk als Reformationsfest-Musik bereits sanktioniert und wurde vom Chor beherrscht. Der Text des Eingangschores „Der Herr gab das Wort: Groß war die Menge der Boten Gottes“ beruht auf Ps 68,12. Dort übersetzt Luther (1545): „Der Herr gibt das Wort, Mit grossen scharen Euangelisten.“54 Im Kontext des Messias markiert dieser Chor (Nr. 33) einen Neuanfang. Hatte die vorausgehende Altarie Nr. 32 die Höllenfahrt Christi besungen, so kehrt Händel mit Nr. 33 auf die Erde zurück und leitet zum pfingstlichen Geschehen über. Der Chor besteht aus nur 24 Takten. Das zweitaktige Fanfarensignal am Anfang, in Oktaven gesetzt für Tenor und Bass, ruft einem Herold gleich zur Aufmerksamkeit. Und dann schwärmt die große Menge der Boten Gottes (in Sechszehntelnoten) aus. Der Chor ist meist homophon gesetzt und gewährleistet so eine gute Textverständlichkeit. Es schließt sich die Sopran-Arie „Wie lieblich ist der Boten Schritt“ (Nr. 34a) an, bei der Händel und sein englischer Librettist Charles Jennens auf Texte aus Jes 52,7 bzw. Röm 10,15 zurückgriffen. Es handelt sich um eine dreiteilige Arie mit Mittelteil und Da capo. Der Mittelteil nimmt den Text des folgenden Chores vorweg: „Ihr Schall geht aus in jedes Land, Und ihr Wort an alle Enden der Welt“. Die Arie im graziösen Siziliano-Rhytmus (g-moll, 12/8 Takt) lässt die Lieblichkeit der Schritte hörbar werden, während der ausgehende Schall im Mittelteil in einem aufsteigenden Skalenmotiv (F-Dur) ertönt.55 Mit der Wahl
51
52 53
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Zum generellen Problem der Identifizierung der Kirchenmusiktexte auf den Liederblättern vgl. B. Schmidt, Lied, S. 107‒151. Georg Friedrich Händel’s Oratorium Der Messias nach W. A. Mozart’s Bearbeitung. Breitkopf und Härtel, Leipzig 1803. Dieser Ausgabe wurde im wesentlichen der Text in der Übertragung von J. A. Hiller (1786) untergelegt, vgl. W. Siegmund-Schultze, Über die ersten Messiasaufführungen in Deutschland. Händeljahrbuch 1960, S. 68f., Zur Berliner Händelpflege im frühen 19. Jhd. vgl. auch B. Schmidt, Lied, S. 133‒135. Vgl. B. Schmidt, Lied, S. 120‒122. Spenersche Zeitung Nr. 131 (1.11.1817): „Die Mitglieder der Singakademie, die königlichen Sänger und Sängerinnen, in Verbindung mit der gesamten königlichen Kapelle [...], ließen unter Leitung des Herrn Professors Zelter diesem Meisterwerk [dem Messias, B. S.] gebührende Gerechtigkeit widerfahren.“ Martin Luther, WA DB 10/1, Weimar 1956, S. 311. Zu Umfang und Wert der Quellen, vgl. auch das Vorwort in der Händelausgabe von F. Chrysander (Bd. 45), Leipzig 1901, S. VIII–IX. Zu den Varianten dieses Satzes, ebd., S. XII–XIII.
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der originalen Da-capo-Form ist Rex nicht der Mozart-Ausgabe gefolgt. Ob er hier auf eine andere Ausgabe zurückgriff, oder ob er die Originalform selbst wiederherstellte, ist dunkel.56 Es folgt der Es-Dur-Chor „Ihr Schall geht aus in jedes Land / Und ihr Wort an alle Enden der Welt“. (Nr. 35a) Textgrundlage ist Ps 19,5 bzw. Röm 10,18. Wieder illustrieren Fanfarenmotive den Text. Der Quintsprung imitiert ein Trompetensignal. Die Stimmen des 38 Takte langen Satzes setzen kanonisch ein, vielleicht ein Sinnbild der vier Himmelsrichtungen. Die die Textverständlichkeit erschwerende polyphone Satzweise hält sich durch, aber die Gemeinde hat ja den Text vor Augen. Insgesamt zeichnet sich diese Kirchenmusik durch einen kräftigen unsentimentalen Ton aus. Die Themen sind prägnant, das instrumentale Ritornell im zweiten Satz ist kurz, die Musik weiß sich dem Bibelwort verpflichtet. Der Komponist, dessen Popularität auch Jahrzehnte nach seinem Tod ungebrochen war, galt als Repräsentant „wahrer Kirchenmusik“57, zugleich als Weltbürger, der mit seinen Oratorien auch protestantische Bibelgebundenheit demonstriert hat. Schleiermachers besondere Wertschätzung des Messias ist bekannt; in der „Weihnachtsfeier“ (1806, 18262) hat er sie eindrücklich dargelegt.58 Im Kontext des Reformationsjubiläums bekommen die Messiastexte historische Transparenz. „Der Herr gab das Wort: Groß war die Menge der Boten Gottes.“ Natürlich musste man dabei an Luthers Neuentdeckung von Bibel und Rechtfertigungslehre und bei den Boten an die Reformatoren denken. Die Boten und das Wort scheinen im Kontext besonders wichtig zu sein, denn beide Motive
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Händel hat das Stück in der vorliegenden Gestalt als Da-capo-Arie geschrieben, später hat er selbst Mittelteil und Da capo gestrichen und auf den freiwerdenden Text den Chor Nr. 35a komponiert. Vgl. auch den Kritischen Bericht von John Tobin, in: Hallische Händel-Ausgabe (KGA) I/17, Kassel u. a. 1965, S. VI‒XI. Die Arnoldsche Ausgabe von 1787f. Messiah. A Sacred Oratorio [...] composed in the year 1741 by G. F. Handel. (SBB: 4° N. Mus. 2245‒9/13.) bringt die Arie in ihrer originalen Da-capoForm, allerdings mit englischem Text. Der vielbenutzte Klavierauszug des Messias von C. F. G. Schwencke (SBB: N. Mus. O. 295) dagegen folgt der Mozartausgabe. Vgl. z. B. den Aufsatz J. F. Reichardts „Kirchenmusik“ im „Musikalischen Kunstmagazin“ Bd. 1 (1782), Leipzig 1976, S. 170‒174 und den Aufsatz E. T. A. Hoffmanns „Alte und neue Kirchenmusik“, in AMZ 16 (1814), Auszüge in C. Dahlhaus/M. Zimmermann, Musik zur Sprache gebracht, S. 202–208. Vgl. auch J. Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2001, S. 176‒183. „Darum müssen beide fest an einander halten, Christenthum und Musik, weil beide einander verklären und erheben. Vom Chor der Engel ward Jesus empfangen, und so begleiten wir ihn mit Tönen und Gesang bis zum großen Halleluja der Himmelfahrt.“ KGA I/5, S. 64f. In der zweiten Auflage (1826) wird Eduard sogar ausdrücklich bekennen: „und eine Musik wie Händels Messias ist mir gleichsam eine compendiöse Verkündigung des gesammten Christenthums.“ Ebd. – Möglich, dass Schleiermacher während seiner Hallenser Zeit 1804–1807 mit Händel bekannt wurde; die erste Hallesche Aufführung des Messias fand 1803 statt. – Daraus, dass sich die Charakterisierung des Messias als „compendiöse Verkündigung“ erst in der zweiten Auflage findet, kann man schließen, dass Schleiermacher das Werk in den Berliner Jahren auch theologisch immer wichtiger geworden ist. – Dass in Schleiermachers Gottesdiensten Händel aufgeführt wurde, bezeugt auch Moritz August von Bethmann-Hollweg in seinem eindrücklichen Erlebnisbericht vom 1. Advent 1815, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 146f.
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begegnen in allen drei Messiassätzen, die hier zur Aufführung gelangen. Als passend erweist sich auch der von Händel adäquat vertonte alttestamentliche Universalismus: „Ihr Schall geht aus in jedes Land“, der auch der missionarischen Aufbruchstimmung jener Zeit und dem Duktus des Eingangsliedes entsprach. Charakteristisch ist auch die Ein- und Anordnung der Einzelstücke. Schleiermacher bettet Solodarbietungen stets in gemeinschaftliches Handeln ein. Auch hier weist die Kirchenmusik eine doppelte Rahmenstruktur auf: Die Solo-Arie wird durch Chöre und diese wiederum durch Choräle eingerahmt. Damit geht auch musikalisch der Einzelne aus der Gemeinde hervor und kehrt in sie zurück. Und die Händelsche Musik ist von den Melodien Nicolais und Luthers künstlerisch würdig eingerahmt. Im Ganzen erweist sich die Kirchenmusik mit ihrer pfingstlichen Thematik für die Feier des Reformationsjubiläums als gut gewählt, auch wenn sich ein unmittelbarer Bezug zum expliziten Thema dieses Gottesdienstes, der „Bedeutung der Reformation für die Jugend“, nicht herstellen lässt. Möglicherweise wurde dieselbe Figuralmusik bereits am Tag zuvor aufgeführt. Jedenfalls ist Kantor Rex auf die Kirchenmusiken anlässlich des Reformationsjubiläums in seiner Denkschrift vom 14.12.1817 ausdrücklich eingegangen: „Die Festlichkeit des diesjährigen Reformationsfestes trieb mich an, an beiden Festtagen einen Sängerchor einzuladen, und ich habe für die mannigfaltigen Arbeiten zu diesem und ähnlichen Festlichkeiten jener Tage die Satisfaction der Zufriedenheit meiner hohen Vorgesetzten und der Zuhörer gehabt.“59
3. Predigt und Gebet60 Auf einen Kanzelgruß frei nach Ps 119,105 folgt die Einleitung, in der der Prediger bereits darauf hinweist, dass das kostbare Erbe der Reformation weiterzugeben und der Genuss auf die künftigen Geschlechter fortzupflanzen sei. Diese Aufgabe hat auch der Erlöser gestellt, der „der erste Kinderfreund“ war, ebenso „der selige Mann Gottes Martin Luther“. (178) Auf die Verlesung des Predigttextes Mt 18,1-661 folgt traditionell der Predigteingang, der zur Formulierung des Themas und zur Aufstellung der Disposition führt. Schleiermacher gelingt eine geistvolle Verknüpfung von Text und Thema: Weil Jesus gebot, für die Kinder zu sorgen, darum sind besonders ihnen die Schätze der Reformation anzuvertrauen. Die beiden vorzüglichen Schätze der Reformation bilden das Gerüst der Disposition. Es gehe darum,
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F. C. Rex, Promemoria vom 14.12.1817, Blatt 10, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 504. Ich beziehe mich trotz der von Schleiermacher autorisierten und gedruckten Fassung (SW II/4, Berlin 1844, S. 98–109) auf die der gehaltenen Predigt wohl näher stehende Jonas-Nachschrift, SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 177‒187. In SW II/4, Berlin 1844, S. 100: Mt 18,5‒6. Wahrscheinlich hat Schleiermacher die Perikope für die Druckausgabe gekürzt.
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„1. daß wir der Jugend behülflich seyn zum freien Gebrauch des Worts, und daß wir sie 2. sollen erziehen zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt.“ (179) Die erste Aufgabe erhalte ihre besondere Aktualität daher, dass der Jugend, wie Schleiermacher beanstandet, aus übertriebener Vorsicht und Ehrfurcht der Eltern das Bibelwort vorenthalten werde. Dieses Übel stehe unter dem Verdikt des Jesuswortes: „Wer aber ärgert dieser Kleinsten einen“ und komme einem Rückfall in den Katholizismus gleich. (181) Der Prediger erläutert, dass die Erkenntnisfähigkeit auch der Erwachsenen in Bezug auf Gott begrenzt sei, so dass die mangelnde Fasskraft der Kinder kein Gegenargument darstelle. Vielmehr sei es „das lieblichste, süßeste Geschäft der mütterlichen Liebe, […] zu merken, wie allmählig sich die menschlichen Vermögen im Kinde sich entwickeln, und sobald sie sich zeigen, ihnen entgegenzukommen, bis das ganze menschliche Gemüth in seiner Entfaltung da steht?“ (181) In einer eigenen Anrede an die anwesende Jugend ermutigt Schleiermacher sie, bei Bedarf des Herzens nach dem Wort Gottes zur Bibel zu greifen. Zugleich mahnt er zu besonderer Liebe und Ehrfurcht gegenüber dem Wort Gottes. Wieder an alle gewandt äußert Schleiermacher Dank, dass in der „Zeit des Klügelns über göttliche Dinge nicht auch ist aufgehoben der Zusammenhang der Kirche und der Schule.“ (183) Und er schließt den ersten Teil mit der eindringlichen Aufforderung: „Dies laßt uns also ansehen als die heiligste Pflicht, die Jugend zu erziehen in der Furcht des Herrn und ihr das Wort hinzugeben frühzeitig zu einer Leuchte auf ihrem Wege.“ (183) Institutionelle Voraussetzung für eine kindgerechte Begegnung mit der Schrift sei der Konnex zwischen Kirche und Schule.62 Mit der Forderung nach dessen Aufrechterhaltung bekommt die Predigt eine unverkennbar politische Note. Im zweiten Teil befasst sich Schleiermacher mit der Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Erziehung. An den Urteilen der Erwachsenen bilden sich die Gewissen der Kinder. Aber Lohn und Strafe sind nur Äußerlichkeiten. Darum darf eine christliche Erziehung nicht bei der Ausbildung einer nur äußerlichen Tadellosigkeit, einer „eitlen Werthhaltung dessen, was noch keinen Werth giebt“ (184), stehen bleiben. Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben kann aber den Kindern nicht gelehrt, sie muss ihnen vorgelebt werden. Schleiermacher gibt den Eltern zwei Erziehungsratschläge: Einmal das Vertrauen auf den in jedem Menschen befindlichen Keim des göttlichen Lebens, dessen ungestörte Entwicklung eine gute Erziehung behutsam zu fördern hat. Zum anderen das leise Vorbild: Eltern und Erzieher dürften durch ihr persönliches Vorbild weder das Werk des Geistes noch ihre eigene Erziehung 62
Vgl. auch Schleiermacher in PT, S. 356: „Wo die Tendenz ist die Schule aus der Verbindung mit der Kirche herauszureißen, ist auch das Bestreben die kirchlichen Gegenstände aus der Schule zu verdrängen.“ Es war Schleiermachers Auffassung, dass sich Schule und Familie in die Vorbereitung des kirchlichen Religionsunterrichts teilen dergestalt, dass in der Schule die Bibelkunde und in der Familie die religiöse Gemütsbildung stattfinden müsse, vgl. PT, S. 357.
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konterkarieren. Die Liebe der Eltern müsse die Liebe Gottes widerspiegeln, ihre Liebe müsse größer sein als ihre Gerechtigkeit. Die anwesende Jugend wird ausdrücklich zu eigenen Glaubenserfahrungen und zur Entwicklung eines gemeinsamen Geistes ermutigt. Schleiermacher warnt sie vor einer äußerlichen Pflichterfüllung, die nur aus Furcht vor Strafe oder aus Ordnungssinn stamme, und summiert: „Alles äußere Recht lernt nur ansehen als die Schaale eines höheren Lebens.“ (185) Auch der zweite Teil schließt mit einer politischen Applikation. Der Dank für die Fortschritte im bürgerlichen Leben wird mit der Hoffnung auf eine weitere Liberalisierung der Gesellschaft, in der „alle äußeren Rechte und Ordnungen“ nur auf eine Erweiterung der inneren Freiheit abzielen, und auf die Entwicklung „zu einem christlichen Volke“ (185) verbunden, das die Gestalt des Lebens mit der Lehre in Übereinstimmung zu bringen vermag, damit die vorhandenen Keime in der Jugend genährt werden bis „zur wahren Freiheit der Kinder Gottes.“ (186) Schleiermacher entwickelt seine pädagogische Gelassenheit aus der reformatorischen Theologie: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben bedeutet, dass die Heiligkeit des Menschen nicht von ihm selbst oder von seiner Umwelt erzwungen werden kann, sondern dass sie als ein Werk des Geistes Gottes lediglich zugelassen werden muss. Dabei entsteht der Eindruck, als führe die religiöse Entwicklung – wenn sie nur nicht gestört wird – gleichsam von selbst zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.63 Die Drohungen des Textes (vgl. Mt 18,6) stehen – wenn auch unkommentiert – warnend im Hintergrund. Im Kontext der christlichen Erziehungsaufgabe bekräftigt Schleiermacher seine Ablehnung eines auf Wissen und Moral reduzierten aufklärerischen Religionsverständnisses. Vielmehr kann die Weitergabe des Glaubens an die Nachgeborenen nur gelingen bei einer unbefangenen Weitergabe des Wortes Gottes im Vertrauen auf das Wirken des Geistes und durch das glaubwürdige Zeugnis des eigenen Lebens. Von anderen Predigten Schleiermachers unterscheidet sich diese vor allem durch die zweimalige explizite Anrede der anwesenden Jugend (Konfirmanden). Diese Abschnitte unterscheiden sich von den übrigen weniger in der Begrifflichkeit ihrer Sprache als dadurch, dass hier ausschließlich die Anredeform gewählt wird. Die Predigt endet mit einem kollektierenden Gebet. Wahrscheinlich schloss sich daran noch das Allgemeine Kirchengebet an. Das freie Gebet besteht aus Dank und Bitte.64 Der Dank für die „Wohlthat“ der Reformation und die Bitte 63
64
Dieser Eindruck trügt nicht, sondern liegt in Schleiermachers inkarnationstheologischen Ansatz begründet. Diese Deutung insinuiert bereits der zweite Predigtteil „daß wir sie sollen erziehen zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt“. (179) Demgegenüber könnte geltend gemacht werden, dass die Gerechtigkeit Gottes ein opus alienum ist, das im Glauben angeeignet wird. Schleiermacher unterscheidet das Gebet in Beziehung auf die Vergangenheit, das ist die Danksagung, vom Gebet in Beziehung auf die Zukunft, das ist die Bitte. Er postuliert, „daß es keinen anderen Gegenstand des Gebetes giebt als die Förderung des Reiches Gottes, und sich alles andere auf dieses bezieht.“ PT, S. 187.
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um echte Dankbarkeit für die reformatorischen Errungenschaften wird verbunden mit der Fürbitte für die (nunmehr unierte) Kirche („der du sie jetzt besonders baust auf eine uns allen erfreuliche Weise“ 186f.), besonders in künftigen Tagen „der Betrübniß, der Finsterniß und Verwirrung“ (187), und der Bitte um den Geist des Sohnes, auch und gerade bei der Arbeit am künftigen Geschlecht. Das Gebet richtet sich wie üblich an Gott Vater, während Christus und der Heilige Geist nur in der dritten Person präsent sind. Die Gebetsanliegen werden wie oft bei Schleiermacher vorsichtig im Optativ vorgetragen: „O daß es alle auch fühlen mögten“ (186). Das Gebet strömt eine fast stoische Gelassenheit aus. Alles, was geschieht, ist eine Wirkung göttlicher Kausalität und hat seinen Sinn in Gottes großer Weltordnung. Darum scheut sich der Beter auch nicht, künftige „Tage der Betrübniß“ vorherzusagen. Diese Vorhersage wird theologisch besänftigt durch die Gewissheit, dass der Geist Christi seine Gemeinde nie verlässt, sondern in der Geschichte verschiedene Wirkweisen kennt: In Zeiten der Finsternis leuchtet er „stärker […] an einzelnen Puncten“, „je besser das Leben ist, desto mächtiger tritt er im Allgemeinen hervor.“ (187) Und sollten wieder dunkle Zeiten anbrechen, so „vertrauen wir, daß dein Geist beseelen wird starke Männer, das Licht leuchten zu lassen.“ (187) Doch sei eine gewissenhafte christliche Erziehung der Jugend („ein Geschlecht zurücklassen, wandelnd im Lichte der Klarheit“) die beste Zukunftsvorsorge. Mit diesem Gebetsabschluss greift Schleiermacher zweifellos auf das Schlusslied vor, in dem es heißt: „Fort dann und fort leuchte das himmlische Wort“ und „Werke des Lichts umglänzet von himmlischer Klarheit.“65
4. Der Gottesdienst als Ganzes Der vorliegende Gottesdienst gehört zu den außerordentlichen Festgottesdiensten, bei denen die Beziehung von Liedblatt und Predigt besonders eng ist, was auch damit zusammenhängt, dass das Liedblatt wahrscheinlich kurzfristig als Einzelblatt gedruckt wurde. Das Liedblatt präsentiert uns einen gut durchkomponierten Gottesdienst, der von der allgemeinen Festfreude (Eingangslied) ausgeht, mit dem Hauptlied und der Kirchenmusik die Stichworte „Wort“ und „Gnade“ gibt und schließlich mit dem Lied vor der Predigt ganz konkret auf deren Text und Thema einstimmt (die Reformation und die Jugend). Durch eine sukzessive Verdichtung mittels der Gesänge führt Schleiermacher seine Hörer an den Ort, wo der Höhepunkt der religiösen Erbauung stattfindet, in der Predigt. Die Predigt schließt mit einem Gebet, welches das Anliegen der Predigt anbetend vor Gott bringt. Auch das abschließende Lied, dessen Motive („starke Männer“, „Licht“, „Klarheit“) im Gebet schon anklingen, ist auf den Lobpreis Gottes gerichtet und auf Zukunft gestellt. Der kultische Gottesdienst mündet in 65
In der Druckfassung sind diese Anklänge übrigens beseitigt worden, vgl. SW II/4, S. 109.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
den Gottesdienst des Lebens aus. Dieser Gottesdienst wirkt nicht nur stimmig in dem Bemühen, die Hörer abzuholen, mitzunehmen und auszusenden, sondern auch darin, Lied-Inhalte und Aktions-Formen in Übereinstimmung zu bringen. Ob er auch künstlerisch homogen ist, d. h. ob die Liedtexte dem Qualitätsanspruch der Kirchenmusik und der Predigt genügen, ist eine andere Frage. Thematisch kreist der Gottesdienst um das Thema 300 Jahre Reformation und den speziellen Aspekt der Bedeutung dieses Jubiläums für die Jugend. Dabei ist offensichtlich, dass Schleiermacher sich für den Geschichtsrückblick und die Heroen der Reformation weit weniger interessiert als all die anderen Prediger und Laudatoren66, und dass sein Interesse auf dem Weiterwirken der Reformation bis in die Gegenwart und auf ihren unverlierbaren Impulsen ruht.67 Reformation ist für Schleiermacher nicht Gedenktag, sondern Prozess.68 Dieses Reformationverständnis muss zwangsläufig zu einer vehementen Aktualisierung des Reformationsgeschehens (vgl. die Temporaladverbien „nun“ und „jetzt“ in den Liedern nach dem Gebet und vor der Predigt) wie auch zu einer nüchterneren Betrachtung des Saeculums führen. Und tatsächlich: Schleiermacher dämpft das Festpathos der Lieder, was sich an zahlreichen Textänderungen, besonders der ersten beiden Lieder, zeigt. Der auffälligste Befund dieses Liedblatts ist zugleich ein schlagender Beweis für Schleiermachers dynamischen Reformationsbegriff: Sämtliche Liedstrophen dieses Liedblattes entstammen ganz neuen, eigens für dieses Reformationsjubiläum verfassten Liedern. Es kann nicht die Begeisterung für diese – hymnologisch betrachtet – durchweg mittelmäßigen Produkte gewesen sein, vielmehr ist die Liedwahl Programm und hat eine dreifache Symbolik: 66
67
68
Dieses relative Desinteresse zeigt sich sowohl in der Predigt, wo historische Informationen auf ein Minimum beschränkt werden, als auch in Schleiermachers Liedbearbeitungen. Die namentlichen Nennungen Luthers werden meist gemieden oder retouchiert, Strophen, die die historischen Ereignisse und heroischen Taten besingen, lässt Schleiermacher aus. – Diese Beobachtung bestätigt auch Simon Gerber, der mich darauf hinweist, dass Schleiermachers zufolge der Einfluss der Einzelnen in der Kirchengeschichte immer mehr abnimmt und abnehmen muss, weil diese Tendenz selbst ein Ergebnis der Entwicklung und des Fortschritts in der Kirchengeschichte sei, vgl. z. B. Schleiermachers Kolleg über Kirchengeschichte 1821/22, Nachschrift Klamroth (5. Stunde): „So gewiß wir also die Reformation für einen neuen Entwicklungspunct im Christenthum halten müssen, so gewiß ist dies die größeste Tendenz im Christenthum überhaupt. Der Einfluß ausgezeichneter Einzelner soll also verringert werden. [...] Je mehr das Ganze fortschreitet, desto sparsamer müssen revolutionäre Entwicklungspuncte sich zeigen, desto seltener muß der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Masse sich gespannt zeigen.“ KGA II/6, S. 481. Und explizit in der 91.‒93. Stunde: „Wir müssen nicht Luthern, nicht Zwingli als den Grund aller Bewegungen ansehn, sondern einen allgemeinen Grund finden in alten früheren Bewegungen im 15 und 16 seculi initio. [...] Wir müssen nicht bei den einzelnen Personen stehen bleiben, in denen zwar herrliche Erscheinungen sich finden.“ Ebd., S. 629. Auch W. Trillhaas hat diese Beobachtung gemacht: „Die Reformation war ihm heilig um ihrer Motive, ihres Geistes willen, nicht wegen ihrer Lehren oder gar wegen der Reformatoren.“ Ders., Schleiermachers Predigt (1933), S. 95. Vgl. seinen berühmt gewordenen Ausspruch: „Die Reformation geht noch fort.“ In: „Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen“ (1827), KGA I/9, S. 471.
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Zunächst war es ein Kennzeichen der Reformation, dass sie neue deutsche Lieder hervorbrachte. Darum muss eine Reformation, die „fortgeht“, auch hymnologisch und liturgisch innovativ sein. Das bloße Festhalten an den altehrwürdigen Chorälen kann die Gemeinde in schöner Tradition erstarren lassen. Sodann betrachtet Schleiermacher die christliche Freiheit als das höchste Gut der Reformation.69 Unter christlicher Freiheit versteht er zuerst die Freiheit des Geistes, die von Tradition und Lehre ständig bedroht wird. In das Lied vor der Predigt hat er eine entsprechende Passage ausdrücklich aufgenommen: „Einst schwand des Geistes Blüthe hin, bei todter Lehre dunklem Sinn“. Mit seiner Entscheidung für neueste Lieder – freilich mit alten Melodien – hat er sich einer sehr vereinnahmenden Tradition entwunden. So will das Liedblatt einerseits den Beweis der Lebendigkeit der ecclesia semper reformata70 bringen, andererseits ein Zeugnis praktizierter evangelischer Freiheit sein. Schleiermacher war tatsächlich der Meinung, dass die größte Bedrohung für die evangelische Freiheit vom Buchstaben der Lehre, ja u. U. sogar vom Buchstaben der Bibel ausgehe.71 So hat Schleiermacher mit seinen Liedern wie auch mit der freien Auswahl des Predigttextes evangelische Freiheit und ein durchaus charismatisches Reformationsverständnis exemplarisch demonstriert. Dass der Impuls- und Innovationscharakter der Reformation so ausführlich und sinnfällig thematisiert wird, hängt schließlich drittens mit dem Proprium des Tages, der so genannten „Schulfeier“, zusammen. Die anwesende Jugend ist die Generation von morgen, der es heute das Erbe der Reformation anzuvertrauen gilt. Aus diesem Erbe greift der Prediger zwei Kostbarkeiten heraus: das Wort und die Rechtfertigungsbotschaft. Der freie Zugang zum Wort Gottes, den Luther durch seine Lehre vom Priestertum aller Gläubigen gebahnt und durch seine Bibelübersetzung eröffnet hatte, wird in vielen Versen dieses Liedblatts dankbar erinnert. Die aktuelle Gefahr bestehe aber in der Verachtung bzw. im Entzug des Wortes. Wie ernst es Schleiermacher mit dieser Ermahnung ist, zeigt die Wahl des drastischen Predigttextes Mt 18,1‒6. Zwar wird Vers 6 nicht ausgelegt, trotzdem steht die martialische Strafandrohung im Raum und verleiht den Worten des Predigers einen tödlichen Ernst. Dieser trifft die Gemeinde nicht unvorbereitet. Hatte sie doch im Lied vor der Predigt gesungen: „Daß einst an der Vergeltung Tag nicht eins von ihnen fehlen mag.“ Dieses Drohwort ist für Schleiermacher ungewöhnlich und daher aussagekräftig: Das Schicksal der Reformation, nämlich ihr Weiterwirken, entscheidet sich am Umgang mit den Kindern. Darum heißt es auch im Gebet: „Größeres [...] können wir nicht thun, als aufnehmen die Kindlein.“ Dass diese christliche Erziehungsaufgabe nicht ohne Hilfe der Schule zu bewältigen sei, haben Predigt und Lied („So laß, Herr, dir sie zu erziehn, stets fröhlich unsre Schulen blühn“) übereinstimmend und nachdrücklich zur Geltung gebracht. 69 70 71
Vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1933), S. 87. Ich gebrauche diesen Ausdruck hier bewusst in der Perfekt-Form. Vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 88.
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Neben dem „Wort“, das den ganzen Gottesdienst wie ein Leitmotiv durchzieht, tritt der zweite Predigtgedanke, die behutsame Heranführung der Kinder an die Glaubensgerechtigkeit auf dem Liedblatt etwas zurück. Doch hat Schleiermacher in das Lied vor der Predigt eine Strophe dieses Inhalts ausdrücklich aufgenommen: „Jetzt lernt die Jugend Gott vertraun, / Im Sohn des Vaters Liebe schaun“. Auch in dem Lied „Freuet hoch euch all ihr Frommen“ hatte Schleiermacher das sola fide und die innige Verbindung mit Christus ausdrücklich eingetragen: „Durch Glaub, in Christo unser Theil“. Das Ereignis, das der Jubelfeier 1817 die Krone aufsetzte und die Reformation als Prozess am sichtbarsten vor Augen führte, war die Union. Sie war in der Dreifaltigkeitskirche wie in allen anderen preußischen Kirchen bereits am Tag zuvor festlich begangen worden. Damit erklären sich wohl die eher bescheidenen Niederschläge dieses Ereignisses auf dem Liedblatt.72 Immerhin ist die Erwähnung Luthers und Zwinglis im Schlusslied bemerkenswert. Während Schleiermacher Namen sonst eher meidet, ist hier die Namensnennung unvermeidlich, weil programmatisch: Was beim Marburger Religionsgespräch 1529 nicht gelang, nämlich eine Einigung über die Abendmahlslehre, wurde am 30.10.1817 praktisch realisiert: eine gemeinsame lutherisch-reformierte Abendmahlsfeier in der Berliner Nikolaikirche, mit der die Union besiegelt wurde. Durch bewusste Strophenauswahl, gezielte Retouchen und eine subtile verbale Leitmotivik werden die Lied- und Musiktexte trotz Wahrung ihrer Eigenständigkeit zu expliziten und impliziten Hinweisen auf Schleiermachers Verständnis des Reformationsjubiläums und auf sein aus dem Geist der Reformation gewonnenes christliches Erziehungsideal.
72
Die vorhandenen Anklänge in den Liedern habe ich genannt. Aus der Zurückhaltung des Predigers dürfen jedoch keine falschen Rückschlüsse gezogen werden. Schleiermacher gehörte zu den Vordenkern der preußischen Union und zu den Protagonisten der gemeinsamen Abendmahlsfeier am 30.10.1817. In unserer Predigt konzentriert er sich auf ein anderes Thema!
Am zwei und zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Was mein Gott will etc.3
Herr dir sei Dank und Preis gebracht, Daß wir zur Wahrheit kommen Daß deines Wortes Licht die Nacht Und Blindheit weggenommen. Wir wissen, wer auf Christum baut4, Erlanget Heil und Leben; Wer glaubend auf den Heiland schaut, Dem wird die Schuld vergeben. Dies lehret uns o Herr dein Mund. Wobei wir fest verbleiben; Uns soll von diesem Felsengrund Kein Engel selbst vertreiben. Es werde deine Gütigkeit, Die uns zum Heil gewiesen, O Bundesgott zu jeder Zeit Durch unsern Dank gepriesen. Zeuch durch dein Gnadenwort an dich, Die noch den Irrweg gehen; Steu’r allen Frevlern kräftiglich, Die Dir noch widerstehen! Nichts muß o Herr dein Lebenswort
1 2 3
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2.11.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 23. Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 349; Mel. Oft klagt dein Herz etc.; Vf. Justus Gesenius. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 157 und A. W. Bach, Nr. 228. – Zur alten Straßburger Melodie (1530) vgl. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 4, Nr. 7553. Mit Gellerts „Oft klagt dein Herz“ wurde die Melodie also nicht erst im Karlsruher Gesangbuch von 1836 verbunden (so Zahn), sondern bereits im Bremer Gesangbuch von 1812 (Nr. 518). – Die Melodie ist zuerst mit einem weltlichen Lied 1529 überliefert, vgl. EG, Nr. 364. Vgl. zur Überlieferung auch J. Zahn, ebd., Nr. 7568. – Die Weise war, dem Zeitgeschmack folgend, vereinfacht worden, s. o. Kühnau und A. W. Bach. Sie fließt ausschließlich in halben Noten dahin. Die rhythmischen und melodischen „Schnörkel“ des Originals sind eingeebnet, doch ist der Melodieverlauf im wesentlichen gleich geblieben. Es ist damit zu rechnen, dass die Dreifaltigkeitsgemeinde das Lied in der isochronen Form sang, da Kühnau von 1788 bis zu seinem Tode im Jahr 1805 Kantor an dieser Kirche gewesen war. baut] traut
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Im freien Laufe hindern,5 Erhalt es weiter fort und fort, Bei uns und unsern Kindern. [Gesenius]
Nach dem Gebet.6 Mel. Mein Jesu dem die etc.7
Dein Wort o Herr bringt uns zusammen, Daß wir in der Gemeinschaft stehn, Es läßt an uns die heilgen Flammen Des Glaubens und der Liebe sehn, Der Glaubensgrund, darauf wir stehen, Ist Christus und sein theures Blut, Und Christus ist das höchste Gut, Das einzge Ziel darauf wir sehen.8 Was ist das für ein himmlisch Leben, Mit Vater Sohn und heilgem Geist, In seliger Gemeinschaft schweben, Wie Christus unser Herr verheißt!9 Wie flammen da die süßen Triebe! Gott schüttet in sein geistlich Haus Die ganze Gnadenfülle aus; Hier wohnet Gott, die ewge Liebe. Der Vater liebt uns als die Kinder, Schenkt uns den Geist der Abba schreit; Des Sohnes Treue schmückt uns Sünder Mit ewiger Gerechtigkeit; Der heilge Geist tritt mit dem Oele Des Friedens und der Freude zu; Das Herz genießet Trost und Ruh, Und neue Kraft stärkt Leib und Seele. Und solcher Seligkeit Gesellen,10 Die stehen auch für einen Mann;
5 6 7 8
9 10
Nichts muß ... hindern,] Nichts müsse, Herr, dein Lebenswort, / nichts dessen Lauf verhindern! Q: Jauersches Gb, Nr. 334. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 119 und A. W. Bach, Nr. 157. Der Glaubensgrund ... sehen.] Der Glaubensgrund, auf dem wir stehen, / ist Christus und sein theures Blut; / das einzge Ziel, darauf wir sehen, / ist Christus, unser höchstes Gut. Aus: Jauersches Gb, Nr. 334,2, Verszeilen 1‒4. Wie Christus ... verheißt!] genießen das, was Gott geneußt! Und solcher Seligkeit Gesellen,] Die Kinder, die zusammen essen,
Am zwei und zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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Will wo der Feind nur Eines fällen, So nehmen Alle deß sich an;11 Sie fallen betend Gott zu Füßen, Und siegen in des Herren Kraft; Sie wollen von der Brüderschaft Der Heilgen nicht das Kleinste missen. Sie wallen mit verbundnen Herzen, Durchs Thränenthal ins Vaterland, Versüßen sich die bittern Schmerzen, Eins reicht dem Andern seine Hand, Sie wollen sich mit Freuden dienen; Sie sehen mit des Glaubens Blick, Auf Jesum und ihr künftges Glück; Sie sind in ihm, und er in ihnen. [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 12 Mel. Herr Jesu Christ dich etc.13
Erhalt uns Herr bei deinem Wort, Den finstern Irrthum treibe fort, Bewahr uns vor Gewissenszwang, Frei bleibe unser Lobgesang. Nur geistig sei der Wahrheit Krieg, Gieb wider Irrsal ihr den Sieg, Durch klaren gründlichen Beweis, Und durch des frommen Beispiels Fleiß.
11 12 13
Will wo ... an;] Wagt sich der Feind an Eins vermessen, / so greifet er sie Alle an: Mögliche Q: Bremer Gb, Nr. 351,1.4; Mel. Wir gehn ans Grab etc., Vf. G. Zollikofer, nach M. Luther. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 73 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 98.
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N a c h d e r P r e d i g t . 14 Mel. Herzlich lieb habe ich etc.15
Geist Gottes unsre Zuversicht, Verlaß verlaß uns Arme nicht, Stärk unsern schwachen Glauben!16 Zeuch uns zu Gott und seinem Sohn, Und laß nichts unsern Gnadenlohn, In jener Welt uns rauben. Lenk uns von Welt und Eitelkeit Auf jenes Heil der Ewigkeit, Daß wir der Welt entrissen dir Hier leben, Gott, einst sterben dir! O Geist aus Gott, Zeig uns im Tod das Heil des Herrn, Dann folgen wir zum Grabe gern.
14
15 16
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 43,3; Vf. Sturm. Vgl. auch C. C. Sturm, Lieder und Kirchengesänge, Hamburg 1780, Nr. 19, S. 44, Titel: Die Bestimmung des Christen: „Mein Glück im kurzen Raum der Zeit“, Strophe 3: „Geist Gottes, unsre Zuversicht, / Verlaß, verlaß uns Arme nicht, / Und stärk uns unsern Glauben. / Durch dich blickt unser Aug zum Lohn, / Bereit für uns an Gottes Thron. / O schenk uns diesen Glauben. / Lenk uns von Welt und Eitelkeit / Auf jenes Heil der Ewigkeit: / Daß wir der Welt entrissen, dir / Hier leben, Gott! einst sterben dir. / Geist, unser Gott! / Zeig uns im Tod das Heil des Herrn: / Dann folgen wir zum Grabe gern.“ Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 81 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 106. Stärk ... Glauben!] Und stärke unsern Glauben.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Der dritte Feiertag des Reformationsjubiläums beginnt mit dem Lied „Herr dir sei Dank und Preis gebracht“, sehr wahrscheinlich aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Christliche Kirche“17, das Justus Gesenius (1601‒167118) als Autor angibt. Dabei handelt es sich um eine Bearbeitung der Strophen 7. 9–10 des zehnstrophigen „O Herr, dein seeligmachend Wort“.19 Das Lied musste hier mit der Melodie „Was mein Gott will, gescheh allzeit“20 versehen werden, da die Bremer Weise in Berlin unbekannt war. Den Text hat der Bearbeiter gegenüber der mutmaßlichen Quelle nur wenig verändert. Immerhin hat er die allgemeine Wendung „Wer auf Christum traut“ durch die anschaulichere und wohl auf Mt 16,18 (und/oder auf 1Kor 3,11) Bezug nehmende „Wer auf Christum baut“ ersetzt. Das Alter des Liedes sowie das Gewicht und die Allgemeinheit der theologischen Aussagen machen das Lied zu einem – von Schleiermacher für den Anfang des Gottesdienstes geforderten – symbolischen Lied.21 Die Abgrenzung vom katholischen „Irrweg“ ist für Schleiermacher Element des evangelischen Bekenntnisses. Streitbar und siegesgewiß ruft der Autor dem Nachfolger Petri und allen Wankelmütigen das Wort von der Rechtfertigung zu: „Uns soll von diesem Felsengrund kein Engel selbst vertreiben.“ Es folgt das im Jauerschen Gesangbuch anonyme Lied22 „Dein Wort o Herr bringt uns zusammen“, Rubriken „Dem heiligen Geiste. Von der christlichen Kirche. Gemeinschaft der Heiligen.“ Schleiermacher bildet aus sechs Quellenstrophen fünf Strophen, indem er die ersten beiden Strophen zusammenfasst, wodurch es zu kleineren interessanten Umstellungen kommt. In 2/4 muss der Anthropomorphismus „genießen das, was Gott geneußt“ weichen, und in 4/1 werden „Die Kinder, die zusammen essen“ durch „Und solcher Seligkeit Gesellen“ ersetzt, mit den entsprechenden Folgen für den Endreim. Mit diesen Korrekturen wird die neu errungene Abendmahlsgemeinschaft bewusst ausgeblendet und dafür das gegenseitige füreinander Einstehen stark gemacht. Unter der Predigt singt die Gemeinde zwei Strophen des von Justus Jonas und Georg Joachim Zollikofer veränderten Lutherliedes „Erhalt uns Herr, bei 17 18
19
20 21 22
In dieser Rubrik finden sich so bekannte Reformationslieder wie „Ein feste Burg“, „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ von Luther oder „Wenn Christus seine Kirche schützt“ von Gellert. Das tatsächliche Sterbejahr ist 1673, s. EG Liederkunde, Nr. 957, vgl. auch H.-J. Kalberlah, Art. Gesenius, Justus, in: W. Herbst, Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs, Göttingen 1999, S. 112f. Vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 3, Stuttgart 1867, S. 236 und A. Fischer/ W. Tümpel, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jhds., Bd. 2, Gütersloh 1905, Nr. 410, S. 427f. Zur Melodie s. o. S. 237, Fußnote 3. Vgl. F. Schleiermacher, PT, S. 186. – Auch die Anklänge an Luthers „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ sind unüberhörbar. Verfasser des 1744 in Köthen entstandenen Liedes ist der August-Hermann-Francke-Schüler Johann Ludwig Conrad Allendorf (1693–1773) vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, 4. Band, Stuttgart 1868, S. 445.
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deinem Wort“ aus dem Bremer Gesangbuch, Rubrik „Christliche Kirche“. Dass Schleiermacher hier ein Lied aus dem 16. Jahrhundert in neuer Bearbeitung ansetzt, ist wiederum typisch für sein Reformationsverständnis. Der Gottesdienst schließt mit der nahezu unverändert übernommenen Strophe „Geist Gottes, unsre Zuversicht“ von C. C. Sturm (1740‒1786) aus dem Jauerschen Gesangbuch, Abteilung „Preisgesänge der Gottheit“. Damit wird der ekklesiologische Fokus der Lieder noch einmal bekräftigt und der Gottesdienst mit einem eschatologischen Ausblick beschlossen.
2. Die Predigt Schleiermacher predigt am dritten Tag der Reformationsfeierlichkeiten über Lk 10,21‒2423, über die „mannigfaltigen Schicksale, welche das Wort Gottes und die göttliche Veranstaltung zum Heil der Menschen auf der Erde erfahren habe“, wobei er voraussetzt, dass „unsre Gemüther von dem großen Gegenstand, der uns erfüllt, noch nicht abgewandt“ (189) seien. Ausgehend vom Predigttext gliedert Schleiermacher seine Predigt in zwei Teile: Was sich durch Jesu „Erscheinung auf Erden zu gestalten anfing“ (190) in Beziehung auf die Vergangenheit (Teil 1) und in Bezug auf die Zukunft (Teil 2). Im ersten Teil weist Schleiermacher zunächst auf das Doppelprinzip von Ähnlichkeit und Neuigkeit hin, das sowohl für Jesu Person im Vergleich zu allen anderen Menschen und für seine Lehre im Blick auf die ihm vorausgegangenen Offenbarungen als auch für die Kirchengeschichte insbesondere seit der Reformation gelte. In einem heilsgeschichtlichen Exkurs von der Schöpfung über Abraham, Mose, die Propheten bis zum Kommen Jesu und der Zeit der Kirche bis zur Reformation weist der Prediger den „beständigen Wechsel des Fortschreitens und Zurückgehens“ auf. Dieses „Gesetz des Wechsels“ habe „sich auch in diesen 3 Jahrhunderten der evangelischen Kirche mannigfaltig offenbart.“ (193) Dabei hätten die Knechtschaft des Buchstabens einerseits und eine sträfliche Zügellosigkeit andererseits den Geist des Evangeliums gestört. Doch jetzt sei der Kairos (Lk 10,24) und die Chance „gut zu machen mancherlei Irrthümer, mancherlei Spaltungen“, die milde als die Folge „der Standhaftigkeit, des festen Mutes und des Beharrens auf dem Erkannten, welches denn oftmals in Hartnäckigkeit ausartete“ (193) charakterisiert werden. Damals hätte die Freiheit des Einzelnen Priorität gehabt vor der Schaffung einer verbindlichen Kirchenordnung, doch bald hätten viele gefühlt, „wie viel Uebles aus diesem Mangel an fester Gemeinschaft hervorgegangen ist.“ (194) Mit diesem Defizit bezeichnet Schleiermacher weniger die förmliche Trennung der reformatorischen Kirchen als die Vereinzelung der Gläubigen innerhalb der Gemeinden: „Tief ist es gefühlt worden, daß jeder einsam und abgesondert seinen Weg ge-
23
Vgl. Nachschrift Jonas, SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 189‒197.
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gangen, daß man sich zwar gemeinschaftlich versammlet hat, aber daß dies nur ein Zusammenseyn gewesen ist mit dem, der da lehrt und spricht, ohne in die innige Gemeinschaft mit dem Ganzen zu treten.“ (194) Für die Zukunft wünsche man, „daß jede einzelne Gemeinschaft ein lebendiges Ganze darstelle“, und dass die „Gemeinen in einer Provinz so fest unter sich verbunden werden, daß ein gemeinsames Leben sie durchdringe, und daß unbeschadet der Abweichungen, die Zeit und Ort wünschenswerth machen, sie durch einen hohen Sinn verbunden als ein wohl zusammengefügtes Ganze dastehn.“ (194) Den zweiten Teil eröffnet Schleiermacher mit der Frage, wie wir die Zukunft „in Beziehung auf den gegenwärtigen Augenblick zu betrachten haben“, und er verweist mit Jesu Wort aus Lk 10,21 auf die Hindernisse, „welche dem Bau seines Werkes auf Erden entgegenstehen.“ (195) Das Verbergen der Offenbarung vor den Weisen wird nur als ein vorläufiges („für diesen Augenblick“) bezeichnet, damit diese den göttlichen Heilsplan mit ihrer Weltweisheit nicht stören. An Spekulationen über konkrete künftige Hindernisse beteiligt sich der Prediger nicht, bestärkt aber seine Gemeinde darin, „daß der Herr bei allen Hindernissen das junge Werk dieser Zeit wird zu bewahren wissen.“ (196) In Zeiten der Anfechtung wird Jesu Wort trösten, dass Gott „solches den Feinden seines Worts verborgen hält“ (197). Die, denen er es offenbart habe, seien allerdings „weil die Zeit erfüllt ist, nicht bloß die Unmündigen.“ Schleiermacher schließt mit der Mahnung zur Barmherzigkeit gegenüber den „ungehorsamen Gemüthern“ und der Aufforderung, der Zukunft nicht bloß entgegenzugehen, sondern an ihr zu arbeiten. Eine erbauliche Predigt, voller paränetischer und kirchenpolitischer Konkretionen, wie etwa den Aufruf zur sowohl inneren als auch äußeren Gemeinschaftsbildung und die Warnung vor Schwarzseherei.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Der Gottesdienst am 2.11.1817 wurde als der dritte Festtag des triduum sacrum gefeiert, wobei „der erste, als Haupttag, ganz religiöser Erbauung gewidmet, der zweyte vorzugsweise zu Jugend- und Schulfesten bestimmt, der dritte, ohnehin ein Sonntag, der Heiligung frommer Vorsätze für ein weiteres Fortschreiten religiöser Ueberzeugungen aufbehalten sey“.24 Wie schon am Vortag25 ist auch hier die Liedwahl typisch für Schleiermachers dynamisches Reformationsverständnis, indem er neuere (Schlusslied) und alte Lieder in neuer Bearbeitung ansetzt (Eingangslied26, Kanzelvers).
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Zitiert nach Nationalzeitung 1817, S. 774, bei Wichman von Meding, Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817 (1986), S. 21. Vgl. Liedblatt L 24 und den Gottesdienst vom 1.11.1817, s. o. S. 219ff. Das Lied begegnet als Eingangslied auch wieder beim Gottesdienst anlässlich der Einführung der Union in der Dreifaltigkeitskirche am 31.3.1822, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 294‒296.
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Neue Melodien wagt er allerdings nichts. Schade auch, dass der Kanzelvers nicht in der alten Lutherweise gesungen wird.27 Aber welche Konvergenzen gibt es nun zwischen den von Schleiermacher ausgewählten und bearbeiteten Liedern und seiner Predigt? Zunächst zeigt die Liedauswahl eine klare Vorentscheidung zugunsten des Propriums des „dritten Reformationsfesttages“, das dasjenige des 22. Sonntags nach Trinitatis völlig überlagert. Trotz der „normalliturgischen“ Liedblattüberschrift hat Schleiermacher den Gottesdienst von Beginn an als Reformations-Festgottesdienst angelegt. Das belegen sowohl die pfingstlichen Gesangbuchrubriken, denen die Strophen entstammen, als auch die in den Liedern vorherrschenden Begriffe, von denen viele gleichsam Chiffren für den „Kirchenkampf“ des 16. Jahrhunderts darstellen, der dualistisch zum Kampf zwischen Licht und Finsternis stilisiert wird. Davon zeugen Worte wie „Licht“ oder „Wahrheit“ einerseits, „Nacht“, „Blindheit“, „Irrweg“, „Irrsal“ etc. andererseits. Besonders sticht der protestantische Kampfbegriff „Wort“ (auch in Kombination) hervor, vor allem in Eingangslied und Kanzelvers. Insgesamt kommt er auf dem Liedblatt fünfmal vor. Auch die Änderung in der Kopfstrophe des Eingangsliedes („wer auf Christum baut“) dürfte konfessorischen Charakter tragen. Außerdem fällt auf, dass die protestantischen „Urworte“ „Glaube/glaubend“ fünfmal auf dem Liedblatt begegnen, davon dreimal im Hauptlied. In diesem dominiert sonst die Beschwörung der durch das „Wort“ und den Glauben an Christus bzw. den trinitarischen Glauben konstituierten Gemeinschaft („Dein Wort o Herr bringt uns zusammen, / Daß wir in der Gemeinschaft stehn.“). Die Schluss-Strophen des Hauptliedes konkretisieren die Bitte um intensive Gemeinschaft („Und solcher Seligkeit Gesellen, / Die stehen auch für einen Mann; / Will wo der Feind nur Eines fällen, / So nehmen Alle deß sich an“), ein Gedanke, auf den auch der erste Predigtteil explizit hinausläuft, wo der Prediger sogar die größere Gemeinschaft der Kirchenprovinz in Augenschein nimmt. Die Textänderungen im Hauptlied machen – erschlossen durch die Predigt – deutlich, dass es Schleiermacher um die Mahnung zu einer auch im Alltag zu bewährenden Gemeinschaftsbildung ging, jenseits der im gemeinsamen Abendmahl nur rituell vollzogenen Gemeinschaft.
27
Eine Durchsicht der Liederblätter zeigt allerdings, dass die Weise der Dreifaltigkeitsgemeinde unbekannt war. Das Lied begegnet viermal auf den Liederblättern, verbunden mit den Melodien „Die Seele Christi“, „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ und „Nun lasst uns den Leib“.
Bei Eröffnung der Synode1 Vor dem Gebet.2 Mel. Komm heiliger etc.3
Du heiliger Gott! auf zu dir, Vertrauend glaubend blicken wir. Laß unsre Arbeit wohl gelingen, Uns alle deinen Geist durchdringen! Zu deines Reiches Dienst geweiht, Gieb Kraft uns und Beständigkeit, Daß Erdenlast4 und Erdenfreuden Von dir uns nimmer nimmer scheiden, Erhalt uns treu bis an den Tod. Du heiliges Licht, Lebenswort, Bleib unsre Sonne Schild und Hort, Lehr uns in Dir die Wahrheit finden, Mit Gotteskraft sie zu verkünden. Wenn uns des Tages Hitze drückt, Wenn aufwärts unser Auge blickt, Muß es in jenen lichten Höhen Den Lohn der treuen Dulder sehen, Dich Jesu schaun mit Preis gekrönt.5 Komm himmlische Kraft steh uns bei. Es schwören neue feste Treu, Die Herr du dir zum Dienst erkohren. Es finde dich, wer Dich verloren, Doch ferne sei von unserm Bund, Wer es nicht meint von Herzensgrund! All Hinderniß zu überwinden,
1 2 3 4 5
11.11.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 26. Mögliche Q: Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen. Von D. August Hermann Niemeyer, Nr. III, S. 21f. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 103 und A. W. Bach, Nr. 141. Erdenlast] Erdenlust Du heiliges Licht ... gekrönt.] bei Niemeyer die 3. Strophe.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Laß Beistand uns und Hülfe finden, Uns wirken weil es Tag noch ist.6
Nach dem Gebet.7 Mel. Sei Lob und Ehr etc.8
O du der einst auf Felsengrund, Sich seine Kirche baute, Ach daß auf unsern frommen Bund, Dein Auge segnend schaute! Wenn du in unsern Herzen lebst, Wenn du in unsrer Mitte schwebst, Wird unser Werk gelingen.9 Oft wenn die Saat zu dürftig keimt, Die wir auf Hoffnung säen; Wenn uns die Frucht zu lange säumt Will uns der Muth entgehen. Hier drückt uns Noth, dort lockt die Lust, Bald stört in unsrer eignen Brust Ein Feind die Ruh den Frieden. Wir fühlen unsre Ohnmacht wohl, Auch strebt mit ihren Tücken Die Welt von Sünd’ und Irrthum voll Das Ziel uns zu verrücken In ihrer Weisheit höhnet sie Des Amtes Ernst, die eitle Müh. Den Glauben festzuhalten. Doch neues Leben ist erwacht, Die Welt besiegt der Glaube! O daß uns nicht des Zweifels Macht Die süße Hoffnung raube! Die erste Liebe kehrt zurück, Zum Himmel richtet sich der Blick, Und Gottes Reich steigt nieder! 6 7
8 9
All Hinderniß ... ist.] Die Macht der Sünde zu bezwingen, / Auf! Laßt uns wachen, beten, ringen, / Noch ist es Tag - es kommt die Nacht! – Diese Strophe steht bei Niemeyer in der Mitte. Mögliche Q: A. H. Niemeyer, Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen, Nr. I., S. 18f. – Andere Quelle: August Hermann Niemeyer, Geistliche Lieder, Oratorien und vermischte Gedichte, Halle und Berlin 1820. Rubrik Synodallieder, S. 442‒448, Nr. I, S. 442ff., dort Abweichung in Strophe 2: Bald stört ... Frieden.] Bald raubt in unsrer eignen Brust / Ein Feind uns Ruh und Frieden. Zum Problem der Melodie vgl. Lied „Nach dem Gebet“ am 12. Sonntag p. T. 1817, s. o. S. 185, Fußnote 5. Wird ... gelingen.] So wird sein Werk gelingen.
Bei Eröffnung der Synode
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N a c h d e r P r e d i g t . 10 Mel. Mir nach spricht etc.11
Gieb Eintracht, Herr, der Liebe Band Laß fester uns umschlingen, Daß wir vereint mit starker Hand Im Kampf den Sieg erringen. Es gilt dein Reich, und keine Macht Zerstört was du ans Licht gebracht. Mit uns ist Gott! Laßt unverzagt Uns Zions Mauern bauen, Dem was der Herr uns zugesagt Von ganzer Seele trauen. Sei unsre Kraft auch schwach und klein, Der Mächtige wird mit uns sein.
10 11
Mögliche Q: A. H. Niemeyer, Lieder zur kirchlichen Feyer, Nr. II., S. 20, das Lied „So komm’ hernieder, Geist des Herrn“, daraus die Schluss-Strophen 3 und 4. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Nr. 112 und A. W. Bach, Nr. 153 (Machs mit mir Gott, nach deiner Güt).
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Schleiermacher und die Berliner Synode Am 11.11.1817 fand in Berlin die erste Sitzung der Vereinigten Berliner Synode statt, zu deren Präses Schleiermacher am 1.10.1817 gewählt worden war.12 „Vereinigt“ in dieser Synode waren die drei lutherischen Stadtsuperintendenturen (Berlin, Cölln, Friedrichwerder) sowie der reformierte Kirchenkreis.13 Bis zum 10.12.1817 wurden sieben weitere Synodalsitzungen abgehalten. Auf der ersten Sitzung, die mit dem nämlichen Gottesdienst eröffnet wurde, sollte nach Schleiermachers Willen lediglich der Entwurf zur Synodalordnung verhandelt werden, das war ein kirchlicher Verfassungsentwurf, der die kirchliche Ordnung auf allen Ebenen regeln sollte, auf der gemeindlichen, kreislichen und provinzialen Ebene.14 Auf der Gemeindeebene war die Errichtung von Presbyterien vorgesehen, deren Aufgabe u. a. darin bestehen sollte, in Konfliktfällen zwischen Pfarrer und Gemeinde zu vermitteln, die gesetzlich nicht geregelt waren. Bezüglich der Kreisebene wurde über die Vollmachten der Kreissynode beraten sowie über die rechtliche Stellung des Superintendenten, die Schleiermacher als „persona duplex“15, zwischen Kirche und Staat stehend, charakterisiert hatte.16 Für den Geschäftsbereich der Provinzialsynoden einigte man sich auf das „ReinKirchliche“, was insbesondere das ius liturgicum, die Erziehung der Jugend sowie Fragen der Kirchenordnung und Kirchenzucht betraf. Zwar wurde das Amt eines staatlichen Generalsuperintendenten mehrheitlich abgelehnt, doch auch Schleiermachers Lieblingsidee einer Generalsynode, d. h. einer kirchlichen Landesrepräsentation, fand auf der Berliner Synode keine Mehrheit. Trotzdem äußerte sich Schleiermacher positiv über die Ergebnisse der Verhandlungen, blieben sie auch im Ganzen hinter seinen kirchenpolitischen Idealvorstellungen weit zurück.17
12
13
14
15 16 17
Zu Einzelheiten vgl. Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Bielefeld 1997, S. 164‒180. – Die Predigt vom 11.11.1817 zur Eröffnung der Synode befindet sich leider nicht unter den von Geck ausgewerteten Quellen. Für diese Vereinigung hatte sich Schleiermacher bereits in seiner Schrift „Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung“, erschienen im Juli 1817, stark gemacht, vgl. KGA I/9, S. 107‒172. Dieser so genannte Berliner Entwurf der Synodal-Ordnung vom 10.5.1817 (offizieller Titel: „Entwurf der Synodal-Ordnung für den Kirchenverein beider evangelischer Confessionen im Preußischen Staate“) war im Auftrag des Königs von Hofprediger Ehrenberg verfasst worden, vgl. dazu A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 142‒146. Der Entwurf ist abgedruckt in KGA I/9, S. 515‒531. Vgl. seine Schrift „Ueber die […] einzurichtende Synodalverfassung“, KGA I/9, S. 167. Vgl. A. Geck, S. 184. Vgl. A. Geck, S. 182‒189.
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Bei Eröffnung der Synode
2. Lied- und Strophenauswahl und Textbearbeitung Alle drei Gesänge dieses Liedblattes stammen aus der Synodalliedersammlung August Hermann Niemeyers (1754‒1828), die dieser 1817 zusammen mit Liedern für das Reformationsfest herausgegeben hatte.18 Sie ähneln sich darin, dass sie Gott um seinen Beistand für das begonnene Werk der Kirchenreform bitten. Beim Eröffnungslied ist Schleiermacher von Niemeyers Liedfassung dreimal abgewichen: In der ersten Strophe ersetzt er „Erdenlust“ durch „Erdenlast“. Damit beseitigt er die Tautologie „Erdenlust und Erdenfreuden“ und erweitert den Sinnzusammenhang. Dass die beiden hinteren Strophen vertauscht wurden, dürfte mit der trinitarischen Struktur und der beabsichtigten Anlehnung an Luthers Lied „O heiliger Geist“, Niemeyers Vorlage, zusammenhängen, von dem sich Schleiermacher freilich in seiner letzten Strophe noch weiter entfernt, indem er dem Lied mit Luthers Dualismus („Tod und Leben“) bzw. Niemeyers „Macht der Sünde“ und „es kommt die Nacht“ die dunkle Seite nimmt und ihm einen optimistischen, fast seichten Ausklang gibt. Liedblatt L 26
Martin Luther,
Mel. Komm heiliger etc.
August Hermann Niemeyer Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen. Halle und Berlin 1817, Nr. III. Mel. Komm, heiliger Geist
Du heiliger Gott! auf zu dir, Vertrauend glaubend blicken wir. Laß unsre Arbeit wohl gelingen, Uns alle deinen Geist durchdringen! Zu deines Reiches Dienst geweiht, Gieb Kraft uns und Beständigkeit, Daß Erdenlast und Erdenfreuden Von dir uns nimmer nimmer scheiden, Erhalt uns treu bis an den Tod.
Du heiliger Gott! auf zu dir, Vertrauend glaubend blicken wir. Laß unsre Arbeit wohl gelingen, Uns alle deinen Geist durchdringen! Zu deines Reiches Dienst geweiht, Gieb Kraft uns und Beständigkeit, Daß Erdenlust und Erdenfreuden Von dir uns nimmer nimmer scheiden, Erhalt uns treu bis an den Tod.
Komm, heiliger Geist, Herre Gott! erfüll’ mit deiner Gnaden Gut deiner Gläubigen Herz, Muth und Sinn, dein’ brünst’ge Lieb’ entzünd’ in ihn’n! O Herr! durch deines Lichtes Glanz, zu dem Glauben versammelt hast das Volk aus aller Welt Zungen, das sey dir, Herr, zu Lob gesungen. Alleluja, Alleluja.
Du heiliges Licht, Lebenswort, Bleib unsre Sonne Schild und Hort, Lehr uns in Dir die Wahrheit finden, Mit Gotteskraft sie zu verkünden. Wenn uns des Tages Hitze drückt, Wenn aufwärts unser Auge blickt, Muß es in jenen lichten Höhen Den Lohn der treuen Dulder sehen, Dich Jesu schaun mit Preis gekrönt.
Komm himmlische Kraft steh uns bei. Es schwören neue feste Treu, Die Herr du dir zum Dienst erkohren. Es finde dich, wer Dich verloren, Doch ferne sei von unserm Bund, Wer es nicht meint von Herzensgrund! Die Macht der Sünde zu bezwingen, Auf! Laßt uns wachen, beten, ringen, Noch ist es Tag – es kommt die Nacht!
Du heiliges Licht, edler Hort! laß uns leuchten des Lebens Wort, und lehr uns Gott recht erkennen, von Herzen Vater ihn nennen. O Herr! behüt’ vor fremder Lehr, daß wir nicht Meister suchen mehr, denn Jesum Christ mit rechtem Glauben, und ihm aus ganzer Macht vertrauen. Alleluja, Alleluja.
Vor dem Gebet
18
nach Stettiner Gesangbuch, Nr. 363
In bekannter Melodie
Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen. Von D. August Hermann Niemeyer, Canzler und Professor der Theologie auf der vereinigten Halleund Wittenbergischen Friedrichsuniversität. Halle und Berlin 1817, S. 18‒22. – Vgl. auch die „Neue wohlfeilere Ausgabe“ von 1820 (mit Vorwort vom 1. April 1818): Reformations- und Synodal-Lieder, in: Geistliche Lieder, Oratorien, und vermischte Gedichte von August Hermann Niemeyer, Halle und Berlin 1820.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817 Liedblatt L 26 Vor dem Gebet
Mel. Komm heiliger etc. Komm himmlische Kraft steh uns bei. Es schwören neue feste Treu, Die Herr du dir zum Dienst erkohren. Es finde dich, wer Dich verloren, Doch ferne sei von unserm Bund, Wer es nicht meint von Herzensgrund! All Hinderniß zu überwinden, Laß Beistand uns und Hülfe finden, Uns wirken weil es Tag noch ist.
August Hermann Niemeyer Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen. Halle und Berlin 1817, Nr. III. Mel. Komm, heiliger Geist Du heiliges Licht, Lebenswort, Bleib unsre Sonne Schild und Hort, Lehr uns in Dir die Wahrheit finden, Mit Gotteskraft sie zu verkünden. Wenn uns des Tages Hitze drückt, Wenn aufwärts unser Auge blickt, Muß es in jenen lichten Höhen Den Lohn der treuen Dulder sehen, Dich Jesu schaun mit Preis gekrönt.
Martin Luther, nach Stettiner Gesangbuch, Nr. 363
In bekannter Melodie Du heilige Brunst, süßer Trost! nun hilf uns fröhlich und getrost in deinem Dienst beständig bleiben, die Trübsal uns nicht abtreiben! O Herr! durch dein’ Kraft uns bereit’, und stärk’ des Fleisches Blödigkeit, daß wir hie ritterlich ringen, durch Tod und Leben zu dir dringen. Alleluja, Alleluja.
Das Lied „Nach dem Gebet“ druckt Schleiermacher fast unverändert auf dem Liedblatt ab, lediglich am Schluss der ersten Strophe ändert er das Possessivpronomen und stärkt damit das „Wir-Gefühl“ der anwesenden Synodalen: „wird unser Werk gelingen.“ Für den Gesang „Nach der Predigt“, auf einen Kanzelvers wird – wahrscheinlich aus Zeitgründen19 – verzichtet, wählt der Prediger die beiden Schluss-Strophen des Liedes „So komm hernieder Geist des Herrn“ aus und druckt sie unverändert ab. Fraglich ist nur, welche feindliche und zerstörerische Macht hier eigentlich gemeint ist.
3. Die Predigt Schleiermachers Predigt zur Eröffnung der Synode am 11.11.1817 über Phil 3,12 wurde wiederum von Ludwig Jonas nachgeschrieben.20 Angeredet werden zunächst nur „die Brüder im Dienste des göttlichen Wortes“ (198). Auffällig ist die Gliederung in drei Teile, wobei Schleiermacher das paulinische Ziel-Streben anwenden will auf das Verhältnis des jeweiligen Geistlichen zu seiner Gemeinde, auf das Verhältnis der Pfarrer untereinander sowie auf das Verhältnis zur Kirche insgesamt. Im ersten Teil fordert Schleiermacher seine Amtsbrüder auf, ihre Gemeinden noch besser kennenzulernen, „sich mit der Gemeine einzuleben und auf alle Weise auf sie zu wirken“ (199) Bemerkenswert ist der Aufruf, der sich
19
20
Der Gottesdienst begann um 9 Uhr und durfte nicht länger als 45 Minuten dauern, da die Synodalverhandlung bereits um 10 Uhr im Saal des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums eröffnet werden sollte, vgl. Schleiermachers Konvokationsschreiben vom 5.11.1817, bei A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 292. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 198‒204.
Bei Eröffnung der Synode
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offenbar an die anwesenden Laien richtet: „Hört es denn auch ihr Christen, die ihr hier versammlet seyd [...] Durch Aelteste aus eurer Mitte sollen unsre Gemeinen mit uns enger verbunden werden. Sie werden uns eure Wünsche darbringen, ihre Besorgnisse und Bekümmernisse mittheilen, sie werden uns mit der genaueren Bekanntschaft eures Lebens viel Freudiges zeigen, das sich in euch gestaltet und das wir sonst nicht erblicken würden und unsre Wünsche werden sie euch darbringen; wie unsre christlichen Erbauungen noch eindringlicher und das ganze Band noch mehr und mehr ins Leben geflochten werden könne, werden sie euch mittheilen. (199f.) Im zweiten Teil mahnt Schleiermacher die „theuren Brüder“ eindringlich zur Eintracht und Zusammenarbeit, denn es sei „Ein21 großes, gemeinsames Werk, welches der Herr uns anvertraut hat.“ „Das Ziel ist also, daß ein enges Band der brüderlichen Liebe, der aufrichtigsten Freundschaft, das auch alle andren umschlingen soll, auf eine engere, genauere, ja daß ich es sage, auf noch heiligere Weise uns untereinander verbinde.“ (200) Die bisherige Zentralverwaltung („durch geliebte und geehrte Oberen“), die nur zur Vereinzelung der Geistlichen führte, sei zu ersetzen durch eine Synodalverfassung, die von „der gegenseitigen Berührung der Geister“ lebt. Und Schleiermacher knüpft daran die Hoffnung, „daß jeder in höherem Maaße als bisher möglich war, wolthätig auf den andern wirken muß, daß jede Kraft, die sich in dem Einzelnen offenbart, nun für alle gesegnet seyn wird, wie müssen wir es fühlen, daß nicht nur die Starken die Schwachen tragen, sondern daß wir uns alle, durch die Kraft der Liebe beseelt, gegenseitig fördern und heben werden zu einer bisher nicht gekannten Stufe gemeinsamer Wirksamkeit?! So umschlingt uns von nun an alle ein heiliges Band.“ (201) Schließlich erinnert Schleiermacher im dritten Teil an „den großen Gegenstand unsrer Sorge“ (201), „diese ganze auf das Wort Gottes neu gegründete Kirche“ (202), worunter er offensichtlich die frisch unierte evangelische Kirche versteht, die er seinen Amtsbrüdern noch einmal besonders ans Herz legt. Sie sei in Gefahr, wiederum dem „vereitelnden tödtenden Geist dieser Welt“ (202) anheimzufallen. Darum sei es die Pflicht der Geistlichen, „diese göttliche Kraft zusammenzuhalten, zu nähren und zu erbauen, damit sie nicht wieder von demselben Feinde besiegt und unterdrückt werde.“ (202) Gleichwohl habe alles menschliche Streben seine Grenze: „Lassen wir los von der Hand des Herrn, dann kann unser Werk nicht bestehen, dann werden wir zurückgehen, statt vorwärts zu schreiten.“ (203) In dem sich anschließenden freien Gebet bittet der Prediger um den Geist, der sich in allen als Kraft des Glaubens und der Liebe erweisen möge, um „Schutzherrn der Kirche“ und um die Fähigkeit seiner „Diener“ „Rechenschaft abzulegen von dem Pfunde“, das sie erhalten haben (vgl. Mt 25,15). Mit dem 21
Möglich, dass Schleiermacher das Zahlwort „Ein“ betont hat, so dass Jonas diesen Nachdruck mit Großschreibung wiedergibt. Mit der Einheit ist zunächst die vereinigte Berliner Synode gemeint und offenbar noch nicht eine unierte Landeskirche. Zu Schleiermachers Bedenken gegen eine überstürzte Union vgl. A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 180f.
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Zuspruch aus Mt 25,21 „Du frommer und getreuer Knecht, gehe ein zu deines Herrn Freude“ (204) schließt das Gebet ab. Schleiermacher nutzt die Predigt, um den anwesenden Geistlichen die Ziele ihres Wirkens wie auch den Prozesscharakter der Kirchenreform („nicht daß ich es schon ergriffen hätte“) vor Augen zu stellen. Dabei benennt er drei Bereiche bzw. Verhältnisse, in denen die Prediger stehen. Die Gemeinde: hier sollen die Laienvertretungen (Presbyterien) die Kommunikation zwischen den Geistlichen und der Gemeinde fördern.22 Die Kreissynode: hier ermahnt Schleiermacher die Amtsbrüder zu Brüderlichkeit, zu persönlicher und interkonfessioneller Ergänzung sowie zu gegenseitiger Seelsorge, die „durch geliebte und geehrte Oberen“, sprich vorgesetzte Superintendenten, nicht zu leisten ist. Schließlich die neuerdings unierte Gesamtkirche.23 Hier scheint Schleiermacher auf die Gefahr einer Hierarchisierung („damit sie nicht wieder von demselben Feinde besiegt und unterdrückt werde“) und Lehrvereinheitlichung („Dienst des Buchstabens“) anzuspielen. Im Unterschied zum Synodalentwurf ist hier die Provinzkirche nicht allein Angelegenheit des Generalsuperintendenten, sondern „der Gegenstand u ns re s Dienstes und u ns rer Sorge“. Der Predigttext ist völlig von seinem Kontext isoliert, er dient nur als Vehikel kirchlicher Strebsamkeit bzw. als Stichwortgeber für die Stichworte „streben“ und „Ziel“. Die angehängte Einschränkung des notwendigen Ergriffenseins von Christus wirkt – obwohl aus dem Text hervorgehend – etwas gezwungen und aufgesetzt. Wenige Tage nach dem Unionsschluss am 30.10.1817 und unmittelbar vor der ersten Synodalsitzung ergreift Schleiermacher hier noch einmal die Gelegenheit, für die beiden großen Teile des kirchlichen Reformwerkes zu werben: Kirchenunion24 und Synodalverfassung.
4. Der Gottesdienst als Ganzes Wie schon am zweiten Reformationsfeiertag hat sich Schleiermacher durchweg für neueste Lieder mit alten Melodien entschieden, wodurch der innovative Charakter dieses Gottesdienstes bzw. der nachfolgenden Veranstaltung suggestiv zum Ausdruck gebracht wird. Allerdings fällt auf, dass Schleiermacher die Niemeyer-Lieder in einer anderen Reihenfolge ansetzt: Er beginnt mit der Adaption des Lutherschen Pfingstliedes „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“, das textlich die besonderen Erwartungen der Gemeinde („Laß unsre Arbeit wohl gelingen“) bündig zu22 23
24
Dagegen werden im Synodalentwurf nur formale und disziplinarische Aufgaben und Anforderungen an die Ältesten aufgezählt, vgl. KGA I/9, S. 517‒519. Diese drei Verhältnisse entsprechen auch den drei Ebenen, über die auf der Synode verhandelt werden sollte: Gemeinde, Superintendentur, Provinz, vgl. A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 183‒185. Schleiermachers Einladungsschreiben (Konvokationsschreiben) als Synodalpräses vom 5.11. 1817 zur Eröffnungssitzung am 11.11.1817 lässt allerdings erkennen, dass er die Unionsdebatte ins neue Jahr verschieben wollte, vgl. A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 180f.
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sammenfasst. Den Schluss des Liedes passt er durch Strophenumstellung und Textänderung ebenfalls der Situation an („All Hinderniß zu überwinden, / Laß Beistand uns und Hülfe finden“). Das Hauptlied „O du, der einst auf Felsengrund“ könnte mit der Genfer Melodie „Sei Lob und Ehr“ reformierte Assoziationen geweckt haben. Textlich steht der Gedanke des Neuanfangs und des Bundes („Ach daß auf unsern frommen Bund“) im Vordergrund, wie auch im Schlusslied („Gieb Eintracht, Herr, der Liebe Band / Laß fester uns umschlingen“). Überhaupt schaffen der Gedanke des Bundes und des Verbündens (zweimal in den Liedern, zweimal in der Predigt) bzw. des Bandes (einmal in den Liedern, sechsmal in der Predigt) eine enge Verbindung zwischen Liedern und Predigt. Dagegen tauchen andere aufregende Aspekte der Predigt – wie etwa der Charakter der Reformation als eines fortlaufenden Prozesses und vor allem das Laienelement in der Kirche – in den Liedtexten nicht auf. Als Sub- bzw. Kontrasttext zur Predigt ist der allen Geistlichen wohlbekannte Entwurf der Synodal-Ordnung, der einen sehr kirchenamtlichen regulativen Ton anschlägt, zu denken, ferner der möglicherweise als Evangelium verlesene Text Mt 25,14‒21.25
25
Vgl. die Hinweise darauf im Kanzelgebet, s. o. S. 251f.
Am 24sten Sonntag nach Trinitatis 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. O du Liebe etc.3
Herz und Herz vereint zusammen Sucht in Gottes Herzen Ruh, Laßet eure Liebesflammen Lodern auf den Heiland zu! Er ists Haupt, wir seine Glieder, Er das Licht, und wir der Schein; Er der Meister und wir Brüder, Er ist unser, wir sind sein. Kommt ach kommt ihr Gnadenkinder, Und erneuert euren Bund, Schwöret unserm Ueberwinder Lieb und Treu aus Herzensgrund; Und wenn eurer Liebeskette Festigkeit und Stärke fehlt: O so flehet um die Wette, Bis sie Jesus wieder stählt. Ja4 du holder Freund vereine Deine dir geweihte Schaar, Daß sie sich so herzlich meine, Wie’s dein letzter Wille war! Ja verbinde in der Wahrheit, Die du selbst im Wesen bist, Alles, was von deiner Klarheit In der That erleuchtet ist.
1 2 3
4
16.11.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 25. Q: Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778, Nr. 713,1‒2.7‒8. Bei der Melodie ist unklar, ob es sich um die herbe g-Moll-Weise, vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 130 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 182, handelt mit dem verlängerten Versschluss in der ersten Verszeile (bei Kühnau 5 Takte) oder um die heute mit dem Text verbundene einfache und frische Dur-Melodie (EG 251), vgl. auch A. W. Bach, Nr. 183. Lt. J. Zahn, Die Melodien, Bd. 4, Nr. 6699, stammt diese Weise von Johann Thommen (1745), eine Vermutung, der A. Stier, in Liederkunde EKG, 2. Teil (1990), Nr. 217, S. 115f. nicht folgen mag. Ja] Ach
Am 24sten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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So wird dein Gebet5 erfüllet, Daß der Vater alle die, Welche du in dich verhüllet, Auch in seine Liebe zieh; Und daß, wie du eins mit ihnen, Also sie auch eines sein, Sich in wahrer Liebe dienen, Und einander gern erfreun. [Gesang Buch der Brüder Gemeine]
Nach dem Gebet.6 Mel. Sollt ich meinem etc.7
Gott, der väterlich geliebet, Nie ein strenges hartes Recht Sondern Gnade nur geübet8 An dem sündigen Geschlecht! Deinen Geist laß mich beleben,9 Daß ich, Vater, als dein Kind Liebend10 sei wie du gesinnt, Herr du willst den Sinn mir geben, Der bei Fehlern Nachsicht zeigt, Und mit Sanftmuth spricht und schweigt. Dir mein Herr dir will ichs klagen,11 Wenn mein Mitknecht tief mich kränkt, Will zu meinem Herzen sagen, Du hast’s12 über mich verhängt. Hilf du ihm sich bald bekehren, Und mir hilf Herr, unverrückt, Auch von Spott und Haß gedrückt, 5
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8 9 10 11 12
Gebet oder Gebot? Das ist nicht zu entziffern. Da Schleiermacher den Text aber sonst nahezu unverändert übernommen hat, dürfte es auch hier mit Brüdergesangbuch; Nr. 713,8 heißen: Gebet, vgl. Joh 17,21. Q: Bremer Gb, Nr. 634, Lied: Gott, der du die Menschen liebest; Autoren: Diterich, nach Ph. F. Hiller. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 108 und A. W. Bach, Nr. 210. Beide Choralbücher bieten eine weitgehend isochrone Melodiefassung, außerdem mildern sie den originalen Quintsprung zu Beginn durch eine Durchgangsterz ab. Gott, der ... geübet] Gott, der du die Menschen liebest, / der du nicht ein strenges Recht, / sondern lauter Gnade übest Deinen ... beleben,] Laß mich deinen Geist beleben, Liebend] liebreich Diese 2. Strophe stammt wohl aus dem Lied Dir empfehl’ ich meine Sache, Bremer Gb, Nr. 639,2.4; Vf. F. W. Loder. Du hast’s] Gott hats
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Durch Vergeben dich zu ehren!13 Lehr mich dulden, bis du einst Mir zum ewgen Lohn erscheinst.14 Meines Nächsten laß mich schonen,15 Willig tragen seine Last, Und so lang ich hier soll wohnen, Bleibe Rache16 mir verhaßt! Nein für Alle will ich beten, Und wenn du o Friedensfürst, Einst die Menschen richten wirst, Ohne Klage vor dich treten;17 Gott des Friedens, segne du Mich mit deiner Kraft dazu! Ewges Heil ist dem beschieden, Der nach stiller Eintracht strebt; Höchster gieb mir deinen Frieden, Der zur Sanftmuth uns erhebt! Er regiere Herz und Sinnen, denn wenn er das Herz regiert, Wird, was je zur18 Zwietracht führt, Niemals Uebermacht gewinnen, Bis einst in der Herrlichkeit, Ewger Frieden uns erfreut. [Bremisches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 19 Mel. Nun sich der Tag etc.20
Der du noch in der letzten Nacht Eh du für uns erblaßt, Den deinen von der Liebe Macht, So schön gepredigt hast, 13
14 15 16 17 18 19 20
Hilf du ... ehren!] Lehr auch ihn sich bald bekehren, / und mich selbst dich unverrückt, / auch wenn Spott und Haß mich drückt, / durch Vergeben kindlich ehren. (Aus Strophe 4, Verszeilen 5‒8). Mir zum ... erscheinst.] Richter, mir zum Lohn erscheinst. Meines ... schonen,] Laß mich meines Nächsten schonen, Rache] Zanksucht Nein für ... treten;] für die Feinde will ich beten, / und vor dich, du Friedensfürst, / wann du Menschen richten wirst, / ausgesöhnt mit ihnen treten. (Aus Strophe 3, Verszeilen 5‒7). je zur] zu der Mögliche Q: Brüder-Gesangbuch, Nr. 714. Zur Melodie vgl. Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 90 und A. W. Bach, Nr. 180, vgl. auch EG Nr. 478.
Am 24sten Sonntag nach Trinitatis 1817.
Erinnre deine kleine Schaar, Die sich sonst leicht entzweit, Daß deine letzte Sorge war, Der Glieder Einigkeit.
N a c h d e r P r e d i g t . 21 Mel. O du Liebe etc.22
Laß uns so vereinigt werden, Wie du mit dem Vater bist, Bis schon hier auf dieser Erden Kein getrenntes Glied mehr ist; Und allein von deinem Brennen Nehme unser Licht den Schein; Also wird die Welt erkennen, Daß wir deine Jünger sein.
21 22
Mögliche Q: Brüder-Gesangbuch, Nr. 713,10. Zur Melodie s. o. S. 254, Fußnote 3.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Das Eingangslied „Herz und Herz vereint zusammen“ von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700‒1760) aus dem Brüdergesangbuch, Rubrik „Von der brüderlichen Liebe und Einigkeit des Geistes“ wird nahezu unbearbeitet übernommen. Hier begegnet das Lied zum ersten Mal auf den Liederblättern.23 In anderen „alten“ Gesangbüchern (vgl. Freylinghausen, Porst, Stettin) war es noch nicht enthalten. Schleiermacher wählt zunächst vier Strophen des zehnstrophigen Liedes aus. Die bildhaften, z. T. drastischen Mittelstrophen, die die Liebe Christi und die Bruderliebe (Joh 17) illustrieren24, sind ausgelassen, ebenso die beiden letzten, die keinen Gedankenfortschritt bringen. Die letzte Strophe des Liedes folgt nach der Predigt. Mit der Aussicht, dass sich Jesu Bitte aus dem Hohepriesterlichen Gebet (Joh 17,21) erfüllen werde („und daß, wie du Eins mit ihnen, / also sie auch Eines seyn“), schließt das Lied „Vor dem Gebet“. Es folgt „Gott, der väterlich geliebet“ aus der Rubrik „Gesinnungen und Verhalten des Christen gegen den Nächsten“, Abschnitt „Sanftmuth und Versöhnlichkeit“ des Bremer Gesangbuchs. Das Lied von Philipp Friedrich Hiller (1699‒1769) liegt hier in einer Bearbeitung von Johann Samuel Diterich (1721‒1797) vor. Es ist der einzige Beleg auf den Liederblättern. Schleiermacher hat drei der vier Strophen übernommen und dabei die zweite und dritte Strophe zusammengefasst. An zweiter Stelle hat er eine ebenfalls zusammengesetzte Strophe aus dem Lied „Dir empfehl ich meine Sache“ von Friedrich Wilhelm Loder (1757‒1823)25 eingeschoben, eine Selbstaufforderung zur Gottergebenheit in der Anfechtung, die die harmlos- irenische Grundstimmung des Hiller-Liedes etwas relativiert. Mit dieser „Duldestrophe“, die an das Verbum „schweigt“ gut anschließt, hat Schleiermacher zugleich der christlichen Tat und Gesinnung das Gebet („Dir mein Herr, dir will ich’s klagen“) vorgeschaltet. Die übrigen redaktionellen Maßnahmen zielen auf größere Bibelkonformität (Gottesbezeichnung „väterlich“, „Rache“ statt „Zanksucht“) und bessere Textverständlichkeit. In der dritten Strophe musste die Fürbitte „für die Feinde“ der Fürbitte „für alle“ weichen. Um die Mahnung zu – bzw. Bitte um – Liebe und Eintracht unter den Christen geht es auch im Lied „Unter der Predigt“, dessen zwei Strophen wahrscheinlich wieder aus dem Brüdergesangbuch stammen, aus derselben Rubrik wie auch das Eingangslied. Der Gottesdienst rundet sich mit der Schluss-Strophe des Liedes „Herz und Herz vereint zusammen“, wiederum aus dem Brüdergesangbuch. Es ist die an Christus gerichtete Bitte um Einigkeit unter den Christen. 23
24 25
Vgl. spätere Lb vom 30.5.1824 und 8.4.1827. Schleiermacher bearbeitete das Lied auch für die Gesangbuchkommission, vgl. die Protokolle vom 25.5.1820 und 5.12.1822, B. Schmidt, Lied, S. 229f.; S. 574 und 631. Etwa „So hat uns der Freund geliebet, / so zerfloß er dort im Blut“; „Einer reize doch den andern, / unserm blutbefreundten Lamm“; „weil er nicht mit Löwengrimme“ Zu Loder vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6, Stuttgart 1869, S. 226f.
Am 24sten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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2. Die Predigt Die Predigt über Lk 17,3‒4 ist uns in Nachschriften von Jonas, Balan und Maquet überliefert. Wir legen wiederum den Text von Ludwig Jonas zugrunde.26 Schleiermacher setzt ein bei der Erfahrung der Verschiedenheit der Meinungen, die sich merkwürdigerweise auch auf das Christentum erstrecke. Diese führe aber dazu, dass „von Zeit zu Zeit wieder ein engeres Band die Gemüther verknüpft.“ Es sei ja offenbar, „daß die Liebe die Seele des Christenthums ist.“ (209) Doch dass „in der wahren christlichen Liebe der heilige Ernst und die fromme Milde müssen vereinigt seyn“ (209f.), ist das Thema der Predigt.27 Im ersten Gliederungsteil wird Strafe und Vergebung erörtert, im zweiten gleichsam synthetisch die Frage nach der „wahre[n] christliche[n] Liebe gestellt. Indem Schleiermacher verschiedene Formen der brüderlichen Kritik abstuft (die milde Zurückweisung, der stärkere Unwille, der heftigere Unwille), weist er nach, dass diese „Bestandtheil der christlichen Liebe“ (210) seien, sofern sie das Werk Gottes auf Erden förderten. Schleiermacher leitet die Legitimität solcher Kirchenzucht von dem göttlichen „heiligen Unwillen gegen das Böse“ (211) ab, dessen größtes Symbol die Sendung des Sohnes in die Welt ist. „Und sind wir noch uneins mit uns, so können wir uns ja nur hinwenden zu dem Beispiele des göttlichen Erlösers, welcher mit schöner Milde bittre Strenge zu vereinigen wußte gegen die verschuldeten Gemüther. Sind wir nun seine Diener [...], so ist mit Recht sein Gebot, daß wir den schuldigen Bruder strafen sollen, an jeden unter uns gerichtet.“ (211f.) Freilich müsse jedem brüderlichen Strafen die strengste Selbstprüfung vorausgehen: „So prüfe sich denn ein jeder [...] er sehe wol zu, daß er nichts andres sey, als der reine Spiegel des göttlichen Worts in diesem Augenblick, daß es hier um nichts andres zu thun sey, als um die Beförderung des großen Werks Gottes.“ (212) Im zweiten Gedanken des ersten Teils widmet sich der Prediger der Vergebung. Wieder spricht er ein vorgängiges Missverständnis an, das allgemeine Gefühl aufrufend: „das fühlen wir wol, daß das Wort, daß wir nicht nur vergeben, sondern auch vergessen wollen, noch nicht das Wahre der christlichen Vergebung ausmachen kann.“ (212f.) Entscheidend für die Vergebung sei die Reue des Schuldigen. Schleiermacher weist darauf hin, dass dies keine einfache menschliche Möglichkeit sei, sondern „ein Werk des göttlichen Geistes im Menschen“ (213). Der natürliche Mensch „kann nur so vergeben, daß das 26 27
Vgl. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 209‒216. Schleiermacher hatte im Wintersemester 1816/17 eine Vorlesung zu den Schriften des Lukas angeboten, zur Ostermesse 1817 erschien dann bei Reimer die de Wette gewidmete Monographie „Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch von Dr. F. Schleiermacher“, Berlin 1817. Vgl. KGA I/8 (hrsg. H. Patsch und D. Schmid), Berlin‒New York 2001. Zur Entstehung vgl. die historische Einführung, ebd. S. VIII‒XIX. ‒ Zu unserer Stelle hat Schleiermacher leider nur Einleitungsfragen erörtert, vgl. ebd. S. 129‒131. Auch könnte man eine fortlaufende Übersetzung der Texte vermissen.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
höchste Ziel des Vergebens das Vergessen ist. Das Stärkere und das zu allem Guten Bekehren ist nur das Werk des heiligen Geistes.“ (214) In diesem Zusammenhang warnt Schleiermacher auch vor einem zu schnellen und leichtfertigen Vergeben. Erst muss der Schmerz erloschen sein. „Nur der kann vergeben, welcher im Frieden mit Gott, mit einem guten Gewissen zu dem Sündiger hinzutreten und ihm zurufen kann: ich vergebe dir, ich will vergessen.“ (214). Im zweiten Predigtteil wird die Dialektik von Strafen und Vergeben noch einmal bekräftigt. Schleiermacher postuliert, „daß nur in Verbindung von Strafe und Vergebung die wahre christliche Kirche besteht.“ (214) Nur wer auch vergeben kann, darf strafen, damit er nicht „als ein Sprecher des Rechts und der Strafe“ auftrete, sondern „als ein Sprecher der Liebe.“ (215) Umgekehrt muss bei einem Christen, der „sich nie entschließen kann, wenn es Noth thut, mit Ernst und Strenge“ aufzutreten, an seinem „reinen Gemüth“ gezweifelt werden. „Sind wir aber in wahrer christlicher Liebe bereit zu strafen und zu vergeben, so wird man daran erkennen, daß wir seine Jünger sind.“ (216)
3. Der Gottesdienst als Ganzes Dieser Gottesdienst ist wiederum ein anschauliches Beispiel für thematische Einheit und Ausdifferenzierung. Während die Liedtexte um das Thema Einigkeit, Liebe, Versöhnlichkeit innerhalb der christlichen Gemeinde kreisen, so dass man auch eine Predigt über Joh 17 erwarten könnte (vgl. besonders den Kanzelvers), und während sie einen insgesamt sehr sanften Ton anschlagen, wird das Thema vom Prediger aufgenommen und weitergeführt, indem zunächst christliche Trennungserfahrungen thematisiert und dann der christlichen Milde und Vergebungsbereitschaft die christliche Strenge und der Eifer für Wahrheit und Gerechtigkeit gegenübergestellt wird. Lediglich die von Schleiermacher eingeschaltete, ihrerseits zusammengesetzte zweite Strophe des Hauptliedes, die von manifesten Unrechtserfahrungen und der Hoffnung auf Bekehrung des Sünders handelt, weist leise auf die Dialektik der Predigt voraus. Worte des Stammes lieb- kommen in den Liedern achtmal vor, Worte des Stammes ein- (im Sinne von einig, einträchtig, vereint) siebenmal, Worte des Stammes herz- ebenfalls achtmal. Deutlich ist das Motiv des Vergebens im Lied vor der Predigt präsent, während das des Strafens fehlt. Die Stropheneinfügung im Hauptlied „Dir, mein Herr, dir will ichs klagen, / wenn mein Mitknecht tief mich kränkt“ weist auf die Predigt über Lk 17,3f. voraus, stellt allerdings den Zorn Gott anheim. Hier setzt der Prediger noch einen deutlich anderen Akzent: Wahre christliche Liebe erweise sich nur in der Dialektik von Vergeben und Strafen. Und diese Akzentverschiebung war genau Schleiermachers Intention: Mit den Liedern auf die Predigt vorzubereiten, ohne die Predigt vorwegzu-
Am 24sten Sonntag nach Trinitatis 1817.
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nehmen.28 Es fällt auf, dass der Schluss-Satz der Predigt den letzten beiden Liedverszeilen entspricht, Predigt: „So wird man daran erkennen, daß wir seine Jünger sind.“ Lied: „Also wird die Welt erkennen, / daß wir deine Jünger sein.“ Weiter fällt auf, dass Schleiermacher zu dieser Zeit, da er sich akademisch mit den lukanischen Schriften beschäftigte, auch in der Predigt häufig auf Lukas-Texte zurückgriff.
28
Vgl. dazu B. Schmidt, Lied, S. 30‒38.
Am ersten Adventssonntage 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. O daß ich tausend etc.3
Preis sei dem ewigen Erbarmen,4 Das alles Denken übersteigt, Preis sei den offnen Liebesarmen,5 Des der sich zu den Sündern neigt, Dem stets das Herz vor Mitleid bricht, Wir kommen oder kommen nicht. Wir sollten6 nicht verloren werden, Gott will uns soll geholfen sein; Nur darum kam sein7 Sohn auf Erden, Und nahm hernach den Himmel ein; Nur darum8 klopft er für und für So stark an unsers Herzens Thür. O Abgrund, welcher alle Sünden Durch Christi Tod verschlungen hat! Das heißt die Wunde recht verbinden, Nun9 findet kein Verdammen statt, Weil Christi Blut beständig schreit Barmherzigkeit, Barmherzigkeit. Darein will ich mich gläubig senken, Dem will ich mich getrost vertraun, Und wenn mich meine Sünden kränken,
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30.11.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 27. Q: Bremer Gb, Nr. 105,1‒4.8; Lied Gott ist die Liebe, hegt Erbarmen; Mel. Wer nur den lieben Gott etc.; Vf. J. A. Rothe. Wahrscheinlich hat Schleiermacher auch das Jauersche Gb, Nr. 137,2‒5.7 zu Rate gezogen, Lied Ich habe nun den Grund gefunden; Mel. O daß ich tausend etc., Vf. Lehr. – Auf die Fassung des Jauerschen Gb beziehen sich auch die Anmerkungen ohne Quellenangabe. Zur Quellenlage s. u. die Synopse, S. 266f. Zur Melodie vgl. A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 181; in Kühnaus Choralbuch nicht enthalten. Preis sei ... Erbarmen,] Es ist das ewige Erbarmen, Preis sei ... Liebesarmen,] es sind die offnen Liebesarmen sollten] sollen Nur ... sein] Deswegen kam der Nur darum] deswegen Nun] da
Am ersten Adventssonntage 1817.
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Auf Gottes Huld in Jesu10 schaun. Die11 zeiget mir zu aller Zeit,12 Unendliche Barmherzigkeit. Auf diesem Grund denn13 will ich bleiben, So lange mich die Erde trägt; Das will ich denken thun und treiben, So lange sich ein Glied bewegt, Einst sing ich himmlisch dann erfreut,14 O Abgrund der Barmherzigkeit. [Bremisches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 15 Mel. Wie wohl ist mir etc.16
Dein Mittler kommt, auf blöde Seele, die Mosis Fluch und Donner schreckt, Die in der bangen Trauerhöhle In Fesseln trüber Schwermuth steckt! Der Fluch vergeht, die Bande springen, Es reißen Satans feste Schlingen, Die den befangnen Geist beklemmt; Du kannst nun Heil und Freiheit hoffen, Gott ist versöhnt, sein Schooß steht offen; Dein Gnadenvoller Mittler kömmt. Dein Lehrer kommt, daß deine Ohren Auf seinen Mund gerichtet sein! Er zeigt den Weg, den du verloren; Er flößt dir Licht und Wahrheit ein. Was unter dunkeln Schatten stecket, Das hat dir dein Prophet entdecket; Er hat das Reich der Nacht gehemmt. Er klärt dir auf des Vaters Willen,
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in Jesu] im Glauben (Bremer Gesangbuch, Nr. 105,4). Die] Sie (Bremer Gesangbuch, Nr. 105,4). Auf Gottes Huld ... Zeit,] hinauf ins Herz des Vaters schaun, / da findet sich zu aller Zeit (Jauersches Gesangbuch, Nr. 137,5. Auf diesem Grund denn] Bei diesem Grunde Einst ... erfreut,] so sing’ ich einstens höchst erfreut: Q: Jauersches Gb, Nr. 145. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 164 und A. W. Bach, Nr. 239. A. W. Bach bietet außerdem noch eine ariose zweite Melodie (Nr. 240), die J. Zahn, Die Melodien, 4. Bd., Nr. 7795, auf J. F. Doles (1785) zurückführt.
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Er giebt dir Kraft ihn zu erfüllen; Dein weisheitsvoller17 Lehrer kömmt. Dein König kommt, doch ohne Prangen, Sein Aufzug ist an Armuth reich. Auf! deinen Fürsten zu empfangen, Der dir, dem Schwachen, würde18 gleich! Komm Hand und Zepter dem zu küssen, Der dich wird so zu schützen wissen, Daß dich kein Angststrom überschwemmt. Thu wie getreue Unterthanen, Komm her und schwör bei seinen Fahnen! Dein längst verlangter König kömmt. Dein Alles kommt dich zu ergötzen, Dein höchstes Gut ist vor der Thür. Wer dieses Gut weiß recht zu schützen, Vertauschet gern die Welt dafür. So greif denn zu mit beiden Händen, Da dich o Geist von allen Enden Der Gnaden Fülle überschwemmt. Nimm weg den Damm, thu auf die Thüren! Laß dich zu nehmen willig spüren, O armes Nichts, dein Alles kommt. [JauerschesGesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 19 Mel. Nun komm der Heiden etc.20
Gott sei Dank in aller Welt, Der sein Wort beständig hält, Und der Sünder Trost und Rath, Zu uns hergesendet hat! Sei willkommen, Preis sei dir! Komm, o Jesu, auch zu mir. Oefne du mir selbst die Bahn, Daß auch ich dir nahen kann.
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weisheitsvoller] weisheitreicher dem Schwachen würde] an tiefster Schwachheit Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 149,1.4; Autor: H. Held. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 123 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 175.
Am ersten Adventssonntage 1817.
N a c h d e r P r e d i g t . 21 Mel. Jesu meine Freude etc.22
Eilet, eilt ihr Sünder Werdet Gottes Kinder, Werdet seiner werth! Eilet, eilt ihr Frommen, Seid wie er, vollkommen, Bleibet seiner werth! Preiset ihn daß er erschien, Preist ihn, ewig ihm ergeben, Durch ein göttlich Leben.
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Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 150,6; Autor: B. Münter. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 95 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 130.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
1. Liedauswahl und Textredaktion Schleiermacher gibt für das Morgenlied das Bremer Gesangbuch, Autor: Johann Andreas Rothe (1688‒1758), Rubrik: „Der Mensch“, „Hülfe für den Sünder“, als Quelle an. Doch wird er auch wieder das Jauersche Gesangbuch, Verfasser: Lehr23, Rubrik: „Dem Sohne Gottes“, „Göttlicher Rathschluß unsrer Erlösung“, benutzt haben, wie die Melodie und folgende Synopse zeigt: Liedblatt L 27 (30.11.1817)
Bremer Gesangbuch (1812)
Jauersches Gesangbuch (1813)
Vor dem Gebet
Nr. 105
Nr. 137
Mel. O daß ich tausend Zungen
Mel. Wer nur den lieben Gott
Mel. O daß ich tausend Zungen Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält wo anders als in Jesu Wunden? da lag er vor der Zeit der Welt den Grund, der unbeweglich steht, wenn Erd’ und Himmel untergeht.
Preis sei dem ewigen Erbarmen, Das alles Denken übersteigt, Preis sei den offnen Liebesarmen, Des der sich zu den Sündern neigt, Dem stets das Herz vor Mitleid bricht, Wir kommen oder kommen nicht.
Gott ist die Liebe, hegt Erbarmen, das alles Denken übersteigt. Gott ist die Liebe! Heil uns Armen; Er ist’s, der sich zu Sündern neigt. Er geht mit uns nicht ins Gericht; er will den Tod des Sünders nicht.
2. Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt, es sind die offnen Liebesarmen deß, der sich zu den Sündern neigt, dem stets das Herz vor Mitleid bricht, wir kommen, oder kommen nicht.
Wir sollten nicht verloren werden, Gott will uns soll geholfen sein; Nur darum kam sein Sohn auf Erden, Und nahm hernach den Himmel ein; Nur darum klopft er für und für So stark an unsers Herzens Thür.
2. Wir sollen nicht verloren werden; Gott will, uns soll geholfen seyn. Nur darum kam sein Sohn auf Erden und nahm den Himmel siegreich ein. Er ruft in seinem Wort uns zu: kommt her zu mir, bey mir ist Ruh!
3. Wir sollen nicht verloren werden, Gott will, uns soll geholfen seyn. Deswegen kam der Sohn auf Erden, und nahm hernach den Himmel ein; deswegen klopft er für und für so stark an unsre Herzensthür.
O Abgrund, welcher alle Sünden Durch Christi Tod verschlungen hat! Das heißt die Wunde recht verbinden, Nun findet kein Verdammen statt, Weil Christi Blut beständig schreit Barmherzigkeit, Barmherzigkeit.
3. O Liebe, welche unsre Sünden durch Christi Tod getilget hat! Wenn wir uns treu mit ihm verbinden, dann findet kein Verdammen statt, weil Christi Blut beständig schreyt: Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!
4. O Abgrund, welcher alle Sünden durch Christi Tod verschlungen hat! Das heißt die Wunde recht verbinden, da findet kein Verdammen statt; weil Christi Blut beständig schreit: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!
Darein will ich mich gläubig senken, Dem will ich mich getrost vertraun, Und wenn mich meine Sünden kränken, Auf Gottes Huld in Jesu schaun. Die zeiget mir zu aller Zeit, Unendliche Barmherzigkeit.
4. An dieses Wort will ich gedenken, ihm will ich freudig mich vertraun, und, wenn mich meine Sünden kränken, auf Gottes Huld im Glauben schaun. Sie zeiget mir zu aller Zeit unendliche Barmherzigkeit.
5. Darein will ich mich gläubig senken, dem will ich mich getrost vertraun, und wenn mich meine Sünden kränken, hinauf ins Herz des Vaters schaun, da findet sich zu aller Zeit unendliche Barmherzigkeit.
23
Nach S. C. G. Küster, Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten von den Verfassern der Lieder des neuen Berliner Gesangbuchs, 1831, S. 25f.: Leopold Franz Friedrich Lehr (1709‒1744).
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Am ersten Adventssonntage 1817.
Liedblatt L 27 (30.11.1817)
Jauersches Gesangbuch (1813)
Bremer Gesangbuch (1812)
Vor dem Gebet
Nr. 105
Nr. 137
Mel. O daß ich tausend Zungen
Mel. Wer nur den lieben Gott
Mel. O daß ich tausend Zungen
5. Wird alles andre mir entrissen, was Leib und Seel’ erquicken kann; muß ich des Lebens Freuden missen, und nimmt kein Freund sich meiner an; scheint meine Rettung noch so weit: bey Gott bleibt mir Barmherzigkeit.
6. Wird alles andre weggerissen, was Seel’ und Leib erquicken kann, darf ich von keinem Troste wissen, und scheine völlig ausgethan, scheint die Errettung noch so weit; mir bleibet die Barmherzigkeit.
6. Auch selbst in meinen besten Werken, ist redlich nur mein innrer Sinn, muß ich noch manchen Fehl bemerken; doch fällt gleich aller Ruhm dahin, so bleibet doch mein Trost bereit: Gott schenket mir Barmherzigkeit.
7. Drum geh’ es mir nach Gottes Willen, bey dem so viel Erbarmen ist. Er wird gewiß sein Wort erfüllen, der seiner Kinder nie vergißt. Sie währt, sie wirkt in Ewigkeit, die göttliche Barmherzigkeit.
Auf diesem Grund denn will ich bleiben, So lange mich die Erde trägt; Das will ich denken thun und treiben, So lange sich ein Glied bewegt, Einst sing ich himmlisch dann erfreut, O Abgrund der Barmherzigkeit.
8. Auf diesen Grund will stets ich bauen, so lang’ ich hier auf Erden bin. Der Gnade Gottes will ich trauen, fällt alles andre gleich dahin. Einst preist mein Psalm nach dieser Zeit dich Vater der Barmherzigkeit! (145)
7. Bei diesem Grunde will ich bleiben, so lange mich die Erde trägt; das will ich denken, thun und treiben, so lange sich ein Glied bewegt; so sing’ ich einstens höchst erfreut: o Abgrund der Barmherzigkeit! Lehr
Deutlich orientiert sich Schleiermacher überwiegend an der Textfassung des Jauerschen Gesangbuchs. Lediglich in 4/4‒5 zieht er, wohl wegen des Anthropomorphismus („hinauf ins Herz des Vaters schaun“) die Bremer Fassung vor. So nehme ich an, dass er das Lied im Bremer Gesangbuch fand und es mit Hilfe des Jauerschen Gesangbuchs bearbeitete. Für Jauer spricht, dass alle anderen Lieder des Liedblatts auch dort zu finden sind. Obwohl das Lied in beiden Sammlungen nicht unter den Adventsliedern steht, enthält es Motive, die aus Advents- und Weihnachtsliedern bekannt sind, z. B. das Kommen des Sohnes auf Erden 2/3 (vgl. Gottes Sohn ist kommen), das Klopfen an die Herzenstür, 2/5‒6 (vgl. Macht hoch die Tür), den Abgrund, 3/1 und 5/6 (vgl. Ich steh an deiner Krippen hier). In Schleiermachers Bearbeitung beginnt das Lied als kollektives Lobpreislied und endet als persönliches Vertrauenslied. Nach dem Gebet singt die Gemeinde Johann Jakob Rambachs (1693‒1735) „Dein Mittler kommt, auf blöde Seele“, aus dem Jauerschen Gesangbuch,
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Rubrik: „Feier der Sendung Jesu.“24 Schleiermacher hat das Lied, das die verschiedenen christologischen Aspekte entsprechend der traditionellen Ämterlehre entfaltet (Mittler/Priester, Lehrer/Prophet, König, Alles), fast wörtlich übernommen, die wenigen Abweichungen sind inhaltlich irrelevant.25 Es folgen zwei Strophen des neunstrophigen Liedes von Heinrich Held (1620‒1659) „Gott sei Dank in aller Welt“26, wieder unverändert wohl aus den Adventsliedern des Jauerschen Gesangbuchs aufgenommen. Schließlich folgt als Schlusslied die letzte Strophe aus Balthasar Münters „Jesus ist gekommen“, ebenfalls unverändert abgedruckt aus der Abteilung Adventslieder des Jauerschen Gesangbuchs.
2. Die Predigt Die Predigt über Lk 2,30‒32 wurde wiederum von Ludwig Jonas mitgeschrieben.27 Schleiermacher setzt mit einer kurzen liturgischen Besinnung ein.28 Das neue Kirchenjahr beginnt zwar mit der Geburt des Erlösers, um aber die Gemeinde um dieses Thema zu sammeln („gemeinsam müssen wir uns auf einen und denselben Gegenstand hinrichten“)29 und darauf einzustimmen, gibt es „seit langer Zeit in der christlichen Kirche“ die vorbereitende Adventszeit, für die sich der Prediger vorgenommen hat, „den ewigen Rathschluß Gottes von der Erlösung [...] heut und an den folgenden Sonntagen ins Auge“ zu fassen. (217) Der Auszug aus dem Lobgesang des Simeon, den der Prediger als allgemein bekannt voraussetzt, liefert die Stichworte „zu erleuchten die Heiden“ und „Heiland“, die zur zweiteiligen Disposition führen: Jesus als Erlöser und als Lehrer.30 Im ersten Predigtteil erörtert Schleiermacher die Frage: „Wie vieles würde uns fehlen, wenn Jesus Christus unser Herr zwar ganz derselbe göttliche Lehrer gewesen wäre, aber unser himmlischer Vater hätte ihn uns nicht zum Erlöser bereitet?“ (219) Es ist die „Kluft [...] zwischen der Erkenntniß der Wahrheit und ihrer Befolgung“. (219) Unter Heranziehung anderer Bibelstellen, vor 24 25 26 27 28 29 30
Der Verfasser wird allerdings im Jauerschen Gesangbuch nicht genannt. Die Änderung in 2/10 geschieht vielleicht in Parallelität zu 1/10: gnadenvoll – weisheitsvoll. Das Originalincipit des Heldschen Liedes von 1659 lautet „Gott sei Dank durch alle Welt“, vgl. E. Schmidt, in Liederkunde EG, Heft 3, Göttingen 2001, S. 4. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 217‒225. Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt, Leipzig 1933, S. 47, beobachtet, dass der Anfang des Kirchenjahres in fast allen Schleiermacherschen Adventspredigten gewürdigt wird. Vgl. Schleiermachers Unterscheidung von bedingter und unbedingter Darstellung, in PT, S. 128‒130 und B. Schmidt, Lied, S. 19. Schleiermachers Lukas-Kommentar „Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch“ war Ostern 1817 bei Reimer erschienen, vgl. KGA I/8. In dem Abschnitt über Lk 2,22‒40, ebd. S. 32f., befasst sich Schleiermacher fast ausschließlich mit Entstehungs- und Einleitungsfragen. Er bescheinigt dem Stück „ein rein geschichtliches Gepräge“ (S. 32) und führt die Überlieferung auf die Prophetin Hanna zurück.
Am ersten Adventssonntage 1817.
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allem Röm 7,19, zeigt Schleiermacher, dass weder die Lehre Christi noch Wille und Einsicht des Menschen ausreichen würden, das Gute zu tun und zur Erlösung zu gelangen, und fährt fort: „Das, M. F. muß hinzukommen zu der Lehre, daß wir im Geiste wandeln; der Geist aber [...] wäre nicht gekommen, wenn er [Christus, B. S.] nicht hingegeben wäre.“ (221) Vom Leben im Geist erhofft der Prediger sich die Heiligung: „O wenn wir uns nur fühlen könnten in dem Zustand eines langsamen Besserwerdens, in einer Heiligung [...], so wäre der Zusammenhang der Menschen mit dem Erlöser recht begriffen.“ (221f.) Interessant, wie Schleiermacher die Erlösung pneumatologisch auflöst und sie durch die Heiligung in die Erfahrung („O wenn wir uns nur fühlen könnten“ o. ä. passim) hineinzieht. Umgekehrt sei Christus nicht nur als Erlöser, sondern auch als Lehrer zu glauben. Wer Christus nur als Erlöser und nicht als Lehrer annehme, laufe Gefahr, die Erlösung als Freiheit zur Sünde zu missverstehen (vgl. Röm 6,1). „Aber das müssen wir sagen, die ganze Seeligkeit der Gemeinschaft mit dem Erlöser hat nur derjenige, der beides gleich sehr ehrt und beides gleich sehr fühlt als unentbehrlich.“ (225) Schleiermacher schließt mit dem Wunsch: „Möge er [Christus, B. S.] denn allen beides werden, mögen die einseitigen Gemüther sich verbinden und sich näher kennen, damit entstehe ein muthiges Fortschreiten im Guten und das Gefühl eines ganz neuen von aller Knechtschaft und Sünde befreiten Lebens“ (225). Ausgehend vom Predigttext, den Schleiermacher allerdings völlig vom exegetischen wie auch vom liturgischen Kontext (Adventszeit, Vorbereitungs- und Bußzeit) löst, weist er die Einzigartigkeit Christi nach und zeigt die beiden Aspekte der Christologie, den dogmatischen und ethischen, auf. Die traditionelle eschatologische Implikation des Advent wird von Schleiermacher im Sinne seines christlichen Prozesses aufgenommen.
3. Der Gottesdienst als Ganzes Die Verbindung zwischen Predigt und Liedern ist schon durch den Kasus gegeben. Programmatisch formuliert Schleiermacher in seiner Einleitung das Ziel jeder Adventspredigt, „den ewigen Rathschluß Gottes von der Erlösung“ ins Auge zu fassen. Auf dieses Ziel bereitet bereits das Eingangslied vor, das aus der Unterrubrik „Göttlicher Rathschluß unserer Erlösung“ stammt. Auf das Thema der „vielen Theile des großen Berufs unsers Erlösers“ sowie auf die die Predigt strukturierende Dialektik von Erlösung und Lehre führt das Hauptlied stringent hin, vor allem mit seinen ersten beiden Strophen über Jesus, den Mittler und Erlöser bzw. Lehrer und Propheten. In einem stimmen die Predigt und alle Texte dieses Liedblattes überein: Das von W. Trillhaas diagnostizierte Fehlen jeder eschatologischen Adventsdeutung („Adventscharakter dieser Welt-
270
II. Die Liederblätter des Jahres 1817
zeit“)31 bzw. deren Umdeutung lässt sich sowohl an den Liedtexten als auch an der Predigt aufweisen. Jedoch ganz unabhängig von der Predigt klammert der Lob-Preis des erschienenen Christus den Gottesdienst: „Preis sei dem ewigen Erbarmen“ – „Preiset ihn, daß er erschien.“
31
W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 42.
Am dritten Adventssonntage 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Wie schön leucht etc.3
Der Heiland kommt, lobsinget ihm Dem Herrn, dem alle Seraphim Das Heilig Heilig singen! Er kommt der eingeborne Sohn, Und steigt von seines Himmels Thron, Der Welt das Heil zu bringen! Preis dir, daß wir von den Sünden Rettung finden! Höchstes Wesen, Durch dich werden wir genesen. Du bringst uns Trost, Zufriedenheit, Heil, Leben, ewge Seligkeit, Sei hoch dafür gepriesen! O Herr wie viel zu schwach sind wir, Die Treue zu vergelten dir, Die du an uns bewiesen! Von dir, da wir im Verderben Mußten4 sterben, Kommt das Leben, O was kannst du größers geben! Laß uns zu unserm ewgen Heil, An dir im wahren Glauben Theil Durch deinen Geist erlangen; Auch wenn wir leiden5 auf dich sehn, Im Guten immer weiter gehen, Nicht an der Erde hangen, Bis wir zu dir mit den Frommen, Ewig kommen,
1 2 3 4 5
14.12.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 28. Q: Jauersches Gb, Nr. 146,1.3.5. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 163 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 238. Mußten] müßten leiden] leiden,
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Dich erheben, Und in deinem Reiche leben. [Jauersches Gesang Buch]
Nach dem Gebet.6 Mel. Helft mir Gott’s etc.7
Mit Ernst ihr8 Menschenkinder, Macht euer Herz bereit! Er kommt, das Heil der Sünder, Der Herr der Herrlichkeit; Er kommt von seinem Thron Voll Huld zu uns hernieder, Wird einer unsrer Brüder, Er Gottes einger Sohn. Ihn dürstet vor9 Verlangen Sich auch zu euch zu nahn, Wohlauf ihn zu empfangen Bereitet ihm die Bahn! Eilt willig in sein Reich, Verabscheut und verlasset, Was euer König hasset; Vertraut ihm, heiligt10 euch. Das hat der Herr geboten, Sein Herold hat’s gelehrt, Es lehren’s seine Boten, Und selig ist wer hört. Ja leben wird, wer gläubt, Und wer nicht gläubt wird sterben, Und jeder wird verderben, Der in der Sünde bleibt.11
6 7 8 9 10 11
Q: Jauersches Gb, Nr. 151; Mel. Aus meines Herzens etc.; Autor: Thilo. Zur Melodie Helft mir Gott’s Güte preisen etc. vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 67 und A. W. Bach, Nr. 90. ihr] o. vor] von heiligt] bessert Der in der Sünde bleibt.] wer noch ein Sünder bleibt.
Am dritten Adventssonntage 1817.
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Ein Herz das Demuth liebet, Das will der Herr erhöhn, Ein Herz das Hochmuth übet,12 Wird nie sein Antlitz sehn. Wer ihm sich ganz13 ergiebt, Der wird sein Tempel werden, Nicht dort nur, schon auf Erden, Erfahren wie er liebt. So weihe denn mich Armen, Zu einer14 Wohnung dir, Mit Liebe mit Erbarmen, Erscheine Jesu mir! Zeuch in mein Herz hinein; Ich eile dir entgegen, Ich will für deinen Segen, Dir ewig dankbar sein. [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 15 Mel. Vom Himmel hoch etc.16
Lob sei dem allerhöchsten17 Gott, Der unser sich erbarmet hat, Gesandt sein’n allerliebsten Sohn, Von seiner Herrlichkeiten Thron.18 Ei nimm ihn heut mit Freuden an, Bereit ihm deines Herzens Bahn, Auf daß er komm in dein Gemüth, Und du genießest seiner Güt.
12 13 14 15 16 17 18
Hochmuth übet,] sich nur liebet, sich ganz] sein Herz einer] deiner Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 158,1.9 oder Brüder-Gesangbuch, Nr. 46,1.9. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 152 und A. W. Bach, Nr. 219. Allmächtigen (Brüder-Gb) Von seiner Herrlichkeiten Thron.] aus ihm geborn im höchsten Thron. (Stettiner Gb und Brüder-Gb)
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
N a c h d e r P r e d i g t . 19 Mel. Wie schön leucht’t etc.
Wie freu ich dein mich Jesu Christ, Daß du der Erst’ und letzte bist, Der Anfang und das Ende! Einst, wenn er dich im Tode preist, Und jetzt befehl ich meinen Geist, Herr Herr, in deine Hände! Ewig werd ich Herr dich loben, Einst erhoben Zu dem Leben, Das mir deine Huld wird geben.
19
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 153,7; Incipit: Wie herrlich stralt der Morgenstern.
Am dritten Adventssonntage 1817.
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1. Liedauswahl und Textredaktion Der Gottesdienst wird eröffnet mit dem Adventslied eines unbekannten Verfassers „Der Heiland kommt, lobsinget ihm“ aus dem Jauerschen Gesangbuch.20 Gesungen werden die Strophen 1, 3 und 5. Damit wird die symbolische Struktur verstärkt: Lob des Präexistenten, Dank für die himmlischen Gaben, Teilhabe am ewigen Heil im wahren Glauben durch den Geist. Die inkarnatorische Strophe 2 („du kleidest dich in Fleisch und Blut“) und die moralische Strophe 4 („und des Fleisches Lust bezwingen“) sind ausgelassen. Die geringfügigen Textabweichungen sind inhaltlich bedeutungslos. Auch das Hauptlied stammt aus dem Jauerschen Gesangbuch. Es ist eine Bearbeitung das Adventsliedes „Mit Ernst, o Menschenkinder“ von Valentin Thilo (1607‒1662). Schleiermacher zieht die Melodie „Helft mir Gott’s Güte preisen“ der Weise „Aus meines Herzens Grunde“ vor.21 Das wie sein Titel ernste und strenge Lied führt über die Aufforderung zur Herzensvorbereitung zur persönlichen Bitte um den Einzug in das Herz des Beters. Bei den Textabweichungen von der Jauerschen Fassung sind von formalen und stilistischen die inhaltlichen zu unterscheiden: In 2/8 wird der mit der Wendung „bessert euch“ angezeigte platte Moralismus durch das theologisch sachgemäßere und biblisch-korrekte „heiligt euch“ ersetzt. Auch die Änderung in 3/8 „Der in der Sünde bleibt“ zeugt von theologischer Reflexion, indem die Sünde als eine transpersonale Macht ernstgenommen wird. In Strophe 4 wird mit dem Begriffspaar „Demuth-Hochmuth“ der originale Wortlaut wiederhergestellt. Aber warum hat der Redaktor das „Herz“ in 4/5 eliminiert? Wegen der Wortwiederholung? Oder weil er mit 1Kor 6,19 den Leib – mithin den „ganzen“ Menschen – im Sinne hatte? Auch die Abweichung in 5/2 gibt Rätsel auf. Sie spricht von „einer“ statt „deiner Wohnung“: Abschreibfehler oder Abschwächung der Exklusivität? Der Kanzelvers von Michael Weiße (1488‒1534) steht nicht im Jauerschen Gesangbuch. In vielen alten Gesangbüchern ist das Lied enthalten, z. B. im Stettiner und im Brüdergesangbuch. Die Korrektur in 1/4 geschah, falls sie auf Schleiermacher zurückgeht, wohl weniger aus dogmatischen Bedenken als aus sachlicher Stringenz. Schleiermacher bleibt am 3. Advent noch bei der Sendung Christi. Während die erste Strophe zum Gotteslob aufruft, fordert die zweite – liturgisch an diesem Ort durchaus sinnvoll – zur Bereitung der Herzensbahn auf.
20 21
In S. C. G. Küster, Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten von den Verfassern, Berlin 1831, wird als Liedquelle allerdings das Magdeburger Gesangbuch angegeben. Letztere begegnet nur viermal auf den bisher bekannten Liederblättern, dagegen Helft mir Gotts Güte etc. 30mal, davon viermal in Verbindung mit dem Adventslied Mit Ernst o Menschenkinder etc. Auch in Kühnaus Choralbuch, Nr. 67 ist das Lied mit dieser Melodie verbunden, die der Standardweise Von Gott will ich nicht lassen (seit 1657) im rhythmischen und harmonischen Verlauf sehr ähnlich ist. Zu den verschiedenen Melodien, die sich mit diesem Text verbunden haben, vgl. Liederkunde EG, Heft 12, Göttingen 2005, S.12.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Auf die Predigt folgt die Strophe „Wie freu ich dein mich Jesu Christ“ aus dem Lied „Wie herrlich strahlt der Morgenstern“, wohl wieder aus dem Jauerschen Gesangbuch, mit dem der Text wörtlich übereinstimmt. Der Verfasser ist unbekannt. Die Strophe weist keine adventlichen Motive auf, passt aber mit ihrer eschatologischen Pointe und wegen der Melodie (vgl. das Anfangslied) gut an diesen liturgischen Platz.
2. Die Predigt Die Kenntnis der Predigt vom 3. Advent 1817 verdanken wir abermals einer Nachschrift von Ludwig Jonas.22 Mit der Wahl von Text (Lk 2,34) und Thema knüpft Schleiermacher – wie versprochen23 – an die Predigt vom 1. Advent an, die ebenfalls auf den Lobgesang des Simeon zurückging und grundsätzliche Überlegungen zur Erscheinung des Erlösers auf Erden anstellte. Thema dieser Predigt ist die mit dem Text gegebene Ambivalenz allen göttlichen Handelns, die sogar „von der größten Wohlthat, von der Erscheinung unsers Erlösers“ (233) ausgesagt werden müsse. Zwar sollen in diesen Zeiten „nur freudige Betrachtungen“ angestellt werden, „aber es kommt uns ungesucht auch diese entgegen [...] Damit uns das nun nicht verwirre in unsrer Freude“ solle „auch darin die Weisheit Gottes“ erkannt werden. (234) Schleiermacher geht sogleich über die nationale Beschränkung auf das Volk Israel hinaus und konstatiert: „wie können wir uns der niederschlagenden Bemerkung enthalten, daß zwar itzt noch der Erlöser so vielen die Stütze ihres geistigen Lebens ist, aber immer auch nicht wenigen zum Falle gereicht.“ (235) Diese Ambivalenz soll in Bezug auf das individuelle und auf das gesellige Leben aufgewiesen werden. Schleiermacher teilt die Menschheit ante Christum natum in die leichtsinnigen Schicksalsgläubigen (Heiden) und in die trübsinnigen Gesetzesgläubigen (Juden). Erst „mit dem Erlöser erschien die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt und dabei konnte die erlogene Unschuld und die ängstliche Erfüllung des Gesetzes nicht bestehen.“ (236) Doch was hat sich durch das Kommen Christi geändert? Einige wie Paulus führte sein Kommen zur Auferstehung, doch viele andere zum Fall. Ebenso wurden die Heiden, mit Christus konfrontiert, vor die Entscheidung gestellt. „So konnte es nicht anders seyn, die da glaubten, die standen auf zu einem neuen Leben mit Christo, die nicht glaubten, versanken in einen Zustand, der schlimmer war, als der vorige.“ (238) Schleiermacher hebt diese Klassifizierung nun von der historischen auf die psychologische Ebene und unterscheidet in der Begegnung mit Christus zwei Typen: den, der unter der Gewalt der sinnlichen Triebe und den, der unter der Gewalt des Buchstabens steht. Wem die Begegnung mit Christus nicht zum Aufstehen und zum Abschied vom früheren Leben wird, denen gereicht der 22 23
SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 233‒243. S. o. S. 268, Predigt am 1. Advent 1817, Bl. 217.
Am dritten Adventssonntage 1817.
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„Erlöser zum Fall, wenn sie nicht lassen wollen von demjenigen, worin sie früher Ruhe gefunden.“ (239) Im zweiten Teil kommt Schleiermacher auf das gesellige Leben zu sprechen. Wieder beschreibt er zunächst die Geselligkeitsformen vor der Zeit Christi und unterscheidet die willkürlich interessegeleitete und die natürlich abstammungsgeleitete Verbindung zwischen Menschen. Beide Kreise können allerdings „nicht ohne Streit gegen die übrigen“ gedacht werden. Mit dem Erscheinen Christi, „der alle vereinigen solle zum göttlichen Gehorsam und ein Band unter ihnen knüpfen, [...] welches alle umfassen könne“ (239), wurde den Menschen die Belanglosigkeit und Wertlosigkeit ihrer bisherigen Verbindungen bewusst. Je nach ihrer Stellung zum Erlöser und ihrer Bereitschaft zur ausschließlichen Nachfolge gereichte ihnen sein Reich zu Aufstehen oder Fall. „Da erscheint vielen [...] diese Liebe als eine das menschliche Leben in seinen mancherlei Verzweigungen zerstörende [...] da fürchten sie, diese Liebe werde die Bande der Natur zerreißen und aufhören machen.“ (241) Diese Befürchtung ist nicht abwegig, so dass der Prediger um Verständnis wirbt: „Und die beides nicht zu vereinigen wissen, wie kann der Erlöser anders als ihnen zum Fall gereichen und wie können wir anders, [...] als sie bemitleiden?“ (241) Schleiermacher versucht seiner Gemeinde diese bittere Wahrheit mit dem Wesen des Reiches Gottes annehmbar zu machen, welches immer noch im Entstehen sei. Die Liebe zum Erlöser führe nicht in die Weltflucht, sondern zur ganzen Fülle des Lebens: „Sehen wir überall, wie in der Liebe zum Erlöser jede andre Liebe nicht untergeht, sondern aufersteht zu einem höheren Leben.“ (242) So ermuntert er seine Hörer, sich dem Erlöser hinzugeben und am Reich Gottes mitzubauen: „Wolan denn! je herrlicher sich das Reich Gottes auf Erden gestalten wird, je mehr alle [...] nach nichts anderem trachten, als die Erde dem Himmel ähnlich zu machen, [...] o wer könnte da noch seyn, der sich dem Erlöser nicht hingiebt?“ (243) Und er mahnt zu Selbstzucht, Ernst und Vorbild: „Ausrufen müssen wir: mit Ernst ihr Menschenkinder! Alles laßt uns verbannen, was den Menschen dahin bringen kann, daß der Erlöser ihm zum Fall wird! Laßt uns streben, daß das künftige Geschlecht aus unserm Leben merke, was der Erlöser gekommen ist den Menschen zu geben!“ (243) Und schließt mit einem seltsamen eschatologischen Ausblick auf das Kommen Christi: „dann wird die Zeit kommen, wo er kommen wird, Wohnung in ihnen zu machen. Amen.“ (243)
3. Der Gottesdienst als Ganzes Mehr als alle anderen Lieder zeigt das Hauptlied den ernsten Charakter des Gottesdienstes an, der sich dann auch im Predigttext und in der Predigt niederschlägt. Es geht im Angesicht des Kommens Christi um den Ernst der Entscheidung; Schleiermacher verwendet freilich diese Bekehrungsterminologie gar nicht, sondern spricht von der „Hingabe für den Erlöser“ und ermuntert
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
seine Hörer, nach der innigen Gemeinschaft mit Christus zu streben und das Erwachen des Glaubens zu fördern. Zwar kommt der Dualismus von Aufstehen und Fall (nach Lk 2,34) bei Valentin Thilo nicht explizit vor, aber von der Entscheidung zwischen Glauben und Leben einerseits, Nichtglauben und Sterben andererseits, von Demut und Hochmut weiß auch das Lied, auf das sich der Prediger ausdrücklich bezieht, wenn er ausgangs seiner Predigt proklamiert: „Ausrufen müssen wir: mit Ernst ihr Menschenkinder!“ Auch im letzten Satz seiner Predigt, der im Kontext von Schleiermachers Theologie überrascht, scheint er sich mit Joh 14,23 auf die letzte Strophe dieses Liedes zu beziehen: „wo er kommen wird, Wohnung in ihnen zu machen.“ Die auffällige Abänderung des Liedtextes: „So weihe denn mich Armen, / Zu einer Wohnung dir“ statt „Zu deiner Wohnung dir“ mag bereits auf die Universalität der Annahme Christi vorausweisen, die Schleiermacher in der Predigt entfalten wird. Neben der theologischen Stringenz erfreut die musikalische. Der Gottesdienst beginnt und schließt mit der Weise „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, und die Predigt wird passenderweise durch zwei Strophen der Melodie „Vom Himmel hoch“ unterbrochen.
Am zweiten Weihnachtstage 1817.1 Vor dem Gebet.2 In eigener Melodie.3
O Jesu Christ, dein Kripplein ist Mein Paradies, da meine Seele weidet, Hier ist der Ort, hier liegt das Wort In unser Fleisch persönlich eingekleidet.4 Du höchstes Gut hebst unser Blut In deinen Thron, hoch über alle Höhen! Du ew’ge Kraft machst Brüderschaft Mit uns, die wir wie Rauch und Dampf5 vergehen. Drum frommer Christ, wer du auch bist, Es kann nicht anders sein, Gott muß dich lieben; Weil Gottes Kind dich ihm verbündt, So fasse Muth, und laß dich nichts betrüben.6 Betracht es7 doch, wie herrlich hoch Er über allen Jammer dich geführet; Der Engel Heer ist selbst nicht mehr, Als eben du, mit Seeligkeit gezieret. Du siehest ja vor Augen da Dein Fleisch und Blut die Luft und Wolken lenken, Was will doch sich, ich frage dich, Erheben, dich in Angst und Furcht zu senken. [Paul Gerhard]
1 2 3 4 5 6 7
26.12.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 29. Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 197,1.3.7‒9. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 133 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 190. In unser ... eingekleidet.] mit unserm Fleisch persönlich angekleidet. wir ... Dampf] wie ein Dampf und Rauch Es kann ... betrüben.] sey gutes Muths, und laß dich nichts betrüben; / weil Gottes Kind dich ihm verbind’t, / so kanns nicht anders seyn, Gott muß dich lieben. Betracht es] Gedenke doch
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Nach dem Gebet.8 In eigener Melodie.9
Ermuntre dich mein schwacher Geist, Und trage groß Verlangen, Das Kind, das dein Erlöser heißt,10 Mit Freuden zu empfangen. O heil’ge Nacht,11 darin es kam Und menschlich Leben12 an sich nahm, Die Welt mit wahren Treuen13 Als seine Braut zu freien. Willkommen,14 süßer Bräutigam, Du König aller Ehren! Willkommen15 Jesu Gotteslamm, Ich will dein Lob vermehren. Daß du erschienst, du starker Held, Der alles schuf und alles hält, Der Freund der Menschenkinder, Des Todes Überwinder.16 O Herr! wie konnt es immer sein, Dein Himmelreich zu lassen, Zu kommen in die Welt hinein, Da nichts denn Neid und Hassen.17 Sohn Gottes, o wie hast du dich Erniedriget und ward’st wie ich!18
8 9 10 11 12 13 14 15 16
17 18
Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 177,1‒3.6‒7. Vgl. auch J. A. Freylinghausen, Geistreiches Gesangbuch, Halle 1741, Nr. 52. Zur Melodie vgl. J. Ch. Kühnau, Choralbuch, Nr. 46 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 65. Das Kind ... heißt,] ein kleines Kind, das Vater heißt, O heil’ge Nacht,] Dies ist die Nacht, Leben] Wesen Die Welt ... Treuen] dadurch die Welt mit Treuen Willkommen,] Willkomm’n, o Willkommen] Willkomm’n, o Daß du ... Überwinder.] ich will dir all’ mein Leben lang / von Herzen sagen Preis und Dank, / daß du, da wir verloren, / für uns bist Mensch geboren. – Vgl. auch Bremer Gb, Nr. 139,2, wohl von Mylius (Berlin 1780), Nr. 69,2 abhängig, wo die zweite Strophenhälfte lautet: In dir erschien der starke Held, / der alles schuf und alles hält, / der Freund der Menschenkinder, / des Todes Ueberwinder. O Herr! ... Hassen.] O großer Gott! wie konnt’ es seyn, / dein Himmelreich zu lassen, / zu springen in die Welt hinein, / da nichts denn Neid und Hassen? Sohn Gottes ... ich!] vgl. Bremer Gb, Nr. 139,3 (wohl abhängig von Mylius, Nr. 69,3): Sohn Gottes, o wie hast du dich / so tief erniedrigt auch für mich!
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Wie kannst du meinetwegen, Den Zepter von dir legen.19 Chor. Siehe Finsterniß bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker! Aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.20 Eine Stimme. Ja deine Augen haben den Heiland gesehen, welchen Gott bereitet hat vor allen Völkern.21 Chor. Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß: Gott ist offenbaret im Fleisch.22 Gemeine. O großes Werk, o Wundernacht, Dergleichen nie gefunden, Du hast den Heiland hergebracht, Der alles überwunden! Hier kommt*23 als Kind der Wundermann, Der Feur und Wolken hemmen kann, Der stark die Hölle zwinget, Den Sündern Friede bringet.24 O liebes Kind, o süßer Knab, Holdselig von Geberden! Mein Bruder den ich lieber hab’ Als alle Schätz auf Erden! Komm schönster in mein Herz hinein, Komm laß es deine Wohnung sein!25
19
20 21 22 23 24 25
Sohn Gottes ... von dir legen.] Wie konntest du die große Macht, / dein Königreich, die Freuden-Pracht, / ja dein erwünschtes Leben / für solche Feind’ hingeben? Wie kannst ... legen.] noch darfst du ihretwegen / den Scepter von dir legen. (Strophe 4, Verszeilen 7‒8). Vgl. Jesaja 60,2. Zur Komposition, s. u. S. 284. Vgl. Lk 2,29‒31, zur Komposition, s. u. S. 285. Vgl. 1Tim 3,16, zur Komposition, s. u. S. 285f. „kommt“ unleserlich Hier kommt ... bringet.] du hast gebracht den starken Mann, / der Feu’r und Wolken zwingen kann, / vor dem die Himmel zittern, / und alle Berg’ erschüttern. Komm laß ... sein!] komm eilend, laß die Krippe seyn,
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Ich will mich ganz verschreiben, Dir ewig treu zu bleiben.26 [Rist]
U n t e r d e r P r e d i g t . 27 In eigener Melodie.28
Lobt Gott ihr Christen allzugleich, In seinem höchsten Thron, der heut aufschleußt sein Himmelreich, Und schenkt uns seinen Sohn. So29 schleußt er wieder auf die Thür Zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob Ehr und Preis.
N a c h d e r P r e d i g t . 30 Mel. Nun lob mein Seel etc.31
Du Vater aller Gnaden, Gelobt seist du für deinen Sohn Er wendet meinen Schaden, Und hilft mir herrlich nun davon. Er schreibt mich in den Orden Der Auserwählten ein, Und ist mein Bürge worden, Ich will sein Diener sein. Ihm reich ich nun mein Herze Zum schwachen Ehrensold, Ich weiß von keinem Schmerze, Ist mir mein Jesus hold.
26 27 28 29 30 31
Ich will ... bleiben.] komm! komm! ich will bei Zeiten / dein Lager dir bereiten. – Die Verszeilen 7‒8 stammen aus Strophe 8. Mögliche Q: Stettiner Gb, Nr. 192,1.8; Autor: Nikolaus Herman. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 89 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 152. So] Heut Strophe, Lied und Quellengesangbuch unbekannt. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 126 und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 177.
Am zweiten Weihnachtstage 1817.
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1. Lied- und Strophenauswahl Schleiermacher eröffnet den Weihnachtsgottesdienst mit dem Paul-GerhardtLied „O Jesu Christ, dein Kripplein ist“.32 Wahrscheinlich schrieb er das Lied aus dem Stettiner Gesangbuch ab und wählte 5 der 15 Strophen aus, die er leicht bearbeitete. Bezeichnenderweise wurden drei applikative Strophen ausgewählt, solche, die vom Ertrag der Menschwerdung für uns sprechen, vgl. die Anfänge der letzten drei Strophen, in denen jedesmal der „fromme Christ“ angeredet ist. Bei der Textbearbeitung ist Schleiermacher dem klassizistischen Prinzip der „Veredelung“33 gefolgt, der auch das naturalistische „mit unserm Fleisch persönlich angekleidet“ zum Opfer fiel. In 3/2-4 sind die Verszeilen neu geordnet, so dass nun die christologische Begründung („Es kann nicht anders sein, Gott muß dich lieben; weil Gottes Kind dich ihm verbündt“) der Ermutigung („So fasse Muth, und laß dich nichts betrüben!“) vorausgeht. „Nach dem Gebet“ singt die Gemeinde – unterbrochen von einer Figuralmusik – fünf Strophen aus dem Rist’schen Liebeslied „Ermuntre dich, mein schwacher Geist“, wohl wieder aus dem Stettiner Gesangbuch, wo das Lied vollständig mit neun Strophen abgedruckt ist. Einige der mystischen Braut/Bräutigam-Strophen sind ausgelassen bzw. abgemildert, die übrigen sind bearbeitet. Bei der Bearbeitung der zweiten und dritten Strophe dürfte Schleiermacher das Bremer Gesangbuch zu Hilfe genommen haben. Dabei wurde dem Lied das Motiv der Schöpfungsmittlerschaft Christi („Der alles schuf und alles hält“) hinzugefügt. In 4/5‒8 drängt der Bearbeiter die Naturwunder („vor dem die Himmel zittern / und alle Berg’ erschüttern“) zugunsten der Friedensgabe zurück. Zweimal (Liedblattstrophen 3 und 5) hat Schleiermacher die beiden Schlussverse einer anderen Strophe entnommen und den Text damit komprimiert. Insgesamt ist die Bearbeitung gekennzeichnet durch eine trinitarische Differenzierung bzw. Abschwächung der hohen Ristschen Theologie (1/3: „ein kleines Kind, das Vater heißt“; 3/1: „O großer Gott! wie konnt’ es seyn, / dein Himmelreich zu lassen“), durch eine Eliminierung erotischer Anspielungen (5/7‒8: „komm, komm, ich will bei Zeiten / dein Lager dir bereiten“) sowie durch das Bemühen um Verflüssigung des Textes („Willkommen“ statt: „Willkomm’n, o“) „Unter der Predigt“ setzt Schleiermacher Kopf- und Finalstrophe des Nikolaus Hermanschen „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“ an, wohl wieder aus dem Stettiner Gesangbuch. Es sind die Strophen, die das „Heute“ des Heils besingen. Die originale Eröffnung der letzten Strophe „Heut schleußt er wieder auf“ hat er wegen der wörtlichen Wiederholung in „So schleußt er“ geändert. 32
33
Schleiermachers Vorliebe für dieses Lied bezeugt später auch die Notiz aus der Sitzung der Gesangbuchs-Commission vom 28.6.1821: „Auf desselben [Schleiermachers, B. S.] Vorschlag sollte anfangs das Lied: O JESU CHRIST, IM KRIPPLEIN IST p. wenigstens zum Theil aufgenommen werden, doch besann man sich bald eines Bessern“, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 605. D. h. eine tendentielle Entmaterialisierung der Texte, vgl. etwa die Protokolle der Gesangbuchs-Commission vom 4.10.1821 und 18.10.1821, in B. Schmidt, Lied, S. 610f.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Die Strophe „Nach der Predigt“ gibt Rätsel auf. Wo stammt sie her? Weder in den gebräuchlichen Gesangbüchern noch auf den Liederblättern kommt sie sonst vor. Inhalt und Sprache nach zu urteilen, ist sie einem neueren Lied entnommen. Oder sollte Schleiermacher sie selbst gemacht haben?34
2. Die Figuralstücke Auf die Strophe „O Herr! wie konnt es immer sein“ folgt ein Chorsatz mit dem Text: „Siehe Finsterniß bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker! Aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“35 Der zugrundeliegende Text Jes 60,2 ist häufig vertont worden. Hat Kantor Rex nicht selbst einen Chorsatz komponiert36, käme für unseren kulturellen Kontext etwa die Weihnachtskantate von Johann Heinrich Rolle in Betracht.37 Die exakte Textübereinstimmung, die räumliche Nähe zu Magdeburg, der Überlieferungsstrang über Georg Poelchau38, die musikstilistische Nähe Rolles zu Graun und C. Ph. E. Bach wie auch die geistige Nähe Rolles zu Klopstock und die Popularität des Werkes39 lassen bei diesem Eingangschor an Rolles Vertonung zu denken. Hierbei handelt es sich um einen auf 132 Takte ausgedehnten Chorsatz. Das Orchester ist mit Pauken und Trompeten besetzt. Das Stück besteht aus dem Wechsel von Chor-Tutti und kleinen Solopassagen. Die Stimmen setzen z. T. kanonisch ein und bilden die Finsternis durch eine chromatische Abwärtsbewegung tonmalerisch nach, umgekehrt das Aufgehen des Herrn in einem aufstrebenden Dreiklang. 34 35
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Zur möglichen eigenen Strophendichtung Schleiermachers vgl. B. Schmidt, Lied, S. 245‒252. Dieser Chor begegnet auf den Liederblättern noch zweimal: am 1. Advent 1818 (H 193) und am 2. Weihnachtstag 1823 (L 184). Jedesmal ist das Stück ausdrücklich als Chor deklariert, so dass es sich kaum um das textgleiche Accompagnato-Rezitativ aus Händels Messias handeln kann. Vgl. G. F. Händel, Der Messias, hrsg. von John Tobin, Hallische Händelausgabe Bd. 17, Kassel u. a. 1965, Nr. 9. Gegen das Messias-Rezitativ spricht auch, dass dieses Jes 60,2–3 vertont, der Liedblatt-Text aber nur Jes 60,2. – Weitere Vertonungen dieses Textes stammen lt. RISM von J. C. Geisler (1729‒1815), W. N. Haueisen (1740‒1804) und J. Herbst (1735‒1812). Dafür gibt es bisher jedoch keine Indizien, vgl. auch B. Schmidt, Lied, S. 125‒127. Vgl. die Abschrift in: Johann Heinrich Rolle-Kantaten (Ex bibliotheca poelchauiana), Nr. 6 Weihnachtskantate: „Siehe, Finsterniß bedecket das Erdreich. In 2 Theile getheilet. Potsdam 1789“, darin: Fer: 1 Nat. Christi Cantate „Siehe, Finsterniß bedeket das Erdreich“ – J. H. Rolle (1716–1785) war seit 1752 Musikdirektor in Magdeburg, wo er jeden Sonntag für eine der städtischen Kirchen eine Kirchenmusik zu schreiben hatte. Dort begründete er auch das „öffentliche Konzert“ und schrieb 21 Oratorien unter dem Einfluss Klopstocks. Zuvor war er 1741– 1746 in Berlin als Geiger und Bratscher Mitglied der Hofkapelle Friedrichs II. gewesen. In dieser Zeit nahm er auch bei Graun Kompositionsunterricht. Vgl. Ralph-Jürgen Reipsch und Andreas Waczkat, in MGG2, Personenteil Bd. 14 (2005), Sp. 302f. Durch den Hamburger Musiksammler Georg Poelchau, der 1814 der Berliner Singakademie beigetreten war, könnte das Material Kantor Rex bekannt geworden sein. Zu G. Poelchau vgl. MGG2 Personenteil Bd. 13 (2005), Sp. 707f. (Judith Wisser) – Das Werk befand sich übrigens auch in Zelters Sammlung, vgl. Th. Richter, Bibliotheca Zelteriana (2000), Nr. 2035, S. 174. Das Stück wurde später auch in der Chorsammlung „Die Heilige Cäcilia“ (1818/19) abgedruckt, vgl. „Die Heilige Cäcilia“, Berlin o. J. (1818/19) Bd. III, Nr. 14.
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Es folgt ein Solo mit dem Text „Ja deine Augen haben den Heiland gesehen, welchen Gott bereitet hat vor allen Völkern.“ Textlich handelt es sich um einen umgeformten Auszug aus dem Lobgesang des Simeon („Nunc dimittis“ Lk 2,29‒31). In Luthers Übersetzung heißt die Stelle: „Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern.“ Der Redaktor – ob Schleiermacher selbst? – hat den Text von der Gebetsform auf eine Anrede an die anwesende Gemeinde umgeformt. Musikalisch konnte das Stück bisher nicht identifiziert werden.40 Die Figuralmusik schließt mit einem Chorsatz über 1Tim 3,16: „Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß, Gott ist offenbaret im Fleisch.“ Bei der Frage nach der Komposition sind der rezeptionsgeschichtliche und musikästhetische Befund sowie der kompositorische Kontext zu prüfen. Letzterer fällt bei Spruchmotetten wie „Kündlich groß“ aus. Der Text erscheint noch zweimal auf den Liederblättern.41 Prominente Vertonungen des beliebten Weihnachtstextes stammen von Reinhard Keiser (1674–1739), Georg Philipp Telemann (1681– 1767), Johann Friedrich Agricola (1720–1774) und Carl Heinrich Graun.42 Hier muss der nächstliegende rezeptionsgeschichtliche Kontext entscheiden. Die Keiser-Motette wurde, da der Komponist Thomaner gewesen war, in den Leipziger Hauptkirchen häufig aufgeführt, nicht jedoch von der Berliner Singakademie.43 Auch Telemann wurde in Berlin um 1815 wenig rezipiert.44 Der
40 41 42
43
Auch RISM, Musikhandschriften nach 1600. 13. kumulierte Auflage verzeichnet unter diesem Einordnungstitel z. Zt. keinen Eintrag. H 9 (1. Weihnachtstag o. J.): hier steht das Stück allein, dagegen ist es auf dem Liedblatt H 13 (2. Weihnachtstag 1819) eingebettet in einen größeren kantatenhaften Zusammenhang. RISM, Musikhandschriften nach 1600. 13. kumulierte Auflage, nennt im Februar 2008 37 Belege, darunter auch Werke weniger bekannter Komponisten wie z. B. Johann Gottfried Gessel (1724‒1793, eine Abschrift in der SBB: Mus. ms. 7390); Christian Friedrich Gregor (1723‒1801, 7 Abschriften in Herrnhut); Philipp Christoph Kayser (1755‒1823, Abschriften ebenfalls in Herrnhut, aber vor allem aufgenommen in J. A. Hillers Motettensammlung, 2. Teil, Leipzig 1777, s. u. nächste Fußnote) und Friedrich Gottlieb Klose (1748‒1827, Herrnhut Mus.B 133:1). Weitere Werke dieses Titels stammen lt. RISM von Liebhold (17./18. Jhd., Dresden) und Wagner sen. (18. Jhd.; Göttingen) – Das ebenfalls in Herrnhut befindliche gleichnamige Stück von J. H. Rolle (Mus.B.30:60) kommt nicht in Frage, da es sich um eine SopranArie handelt. Außerdem nennt RISM noch zwei Kantaten von G. A. Homilius und G. H. Stölzel, deren Rezeption in Berlin nicht belegt und aufgrund der Fundstellen (Kempten/Allgäu, Augustusburg, Breslau für Homilius, Sondershausen für Stölzel) auch eher unwahscheinlich ist. Indizien für diese Feststellung sind: Sie fehlt im Archiv der Singakademie. Auch wird das Werk im Verzeichnis der aufgeführten Werke bei G. Schünemann, Die Singakademie zu Berlin (1941), S. 201–209, und bei F. Welter, Die Musikbibliothek der Sing-Akademie zu Berlin, in: Sing-Akademie zu Berlin, hrsg. W. Bollert (1966), S. 33–47, nicht erwähnt. – Dafür ist allerdings ein Stück von „Kayser“ enthalten in Johann Adam Hillers beliebter und verbreiteter Chorsammlung, 2. Teil, Leipzig 1777, S. 3‒10: „Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß. Gott ist offenbaret im Fleisch.“ Auf einen ouvertüreartigen Eingangsteil, der auch ariose Passagen enthält (Soli), folgt eine große Chorfuge. UdK-Bibliothek RA 5627‒2, Abschriften auch in Herrnhut (Mus.B 40:504; Mus.K 20:18; Mus.M 196:3). Sein Autor ist allerdings ein anderer, der Goethefreund Philipp Christoph Kaiser (1755‒1823).
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Bach-Schüler Agricola käme in Frage, da er Nachfolger C. H. Grauns an der Potsdamer Hofkapelle war und das Werk sich auch im Notenarchiv der Singakademie befindet.45 Doch ist über seine Rezeption im frühen 19. Jahrhundert nichts bekannt. Dagegen hörte man in Berlin diesen Text häufig in einer angeblich von J. S. Bach, tatsächlich von Graun stammenden Motette, die von Zelter doppelchörig bearbeitet worden war. Da die Singakademie diese PseudoBachmotette in ihrem ständigen Repertoire hatte und sie auch am 23.12.1817 geprobt hatte, könnte es sich hier um dieses Werk zu gehandelt haben.46 44
45
46
S. o. S. 41, Fußnote 58. Von Telemann gibt es drei gleichnamige Weihnachtskantaten (TVWV 1:1017; 1:1019 und 1:1020). Vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Band 1, Frankfurt/M 19882, S. 220. Die Abschriften liegen jedoch alle in Frankfurt/M. Außerdem handelt es sich bei TVWV 1:1017 um eine Sopran-Arie und bei TVWV 1:1019 um eine Bass-Arie. SA 182. Johann Friedrich Agricola, Weihnachtskantate „Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß“ (mit Textdrucken). Diese 5 identischen Textblätter „Text zur Musik am WeihnachtsFeste“ entstammen einer handschriftlichen Eintragung gemäß von 1771. – Der 96 Takte lange und mit Vivace überschriebene Eingangschor im ¾-Takt mit Oboen, Hörnern, Pauken, Trompeten und Streichern ist überwiegend homophon gesetzt und wird von kleinen kanonischen Einsätzen über „Gott ist offenbahret im Fleisch“ unterbrochen. Die übrigen Musiktexte der Weihnachtskantate weichen von den Liedblatt-Texten ab. Von besagter Weihnachtsmotette (BWV Anh. III 161, vgl. W. Schmieder, [Hrsg.], Thematischsystematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von J. S. Bach [19902], S. 877) wissen wir, dass Zelter sie umarbeitete und fremde Stücke einfügte. Nach neueren Erkenntnissen stammt dieses Stück ursprünglich aus C. H. Grauns Kantate zu Mariae Verkündigung „Du König der Ehren“ (GSV 10), die wahrscheinlich 1727 entstand, vgl. J. W. Grubbs, The sacral vocal music of the Graun Brothers (1972), S. 612; Ch. Henzel, Graun-Werkverzeichnis, Band I (2006), S. 709f. Vgl. die Handschrift SBB: Mus.ms. 8183 und das Konvolut Deutsche Motetten aus dem Nachlass von L. Erk, darin die Nr. 5 (SBB: Mus.ms.30371). Zur Quellenlage und Überlieferung des Werkes vgl. T. Schwinger, Die Kirchenkantaten der Brüder Graun (1997), S. 56‒60. – Über die Bachpflege der Singakademie unter Carl Friedrich Zelter berichtet Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791–1941: „Zunächst nahm er die Motetten Bachs wieder auf, ‚Singet dem Herrn‘ (1804, 1805) und ‚Fürchte dich nicht‘ (1806). Hinzu kamen die Bach zugeschriebene Weihnachtsmotette ‚Kündlich groß‘, die er für Doppelchor unter Einschaltung anderer Stücke eingerichtet hatte, und ‚Jesu meine Freude‘.“ (S. 27). „Die Motetten wurden unermüdlich weiter studiert: [...] ‚Der Geist hilft‘ in den Jahren 1810, 1811, 1812, 1816, [...] die bearbeitete Motette ‚Kündlich groß‘ kam in jedem Jahre heran.“ (S. 43). Zur Rezeption dieses Werkes durch die Akademie vgl. auch ders., Die Bachpflege der Berliner Singakademie, in: Bach-Jahrbuch 25/1928, S. 151: „In den großen Proben des Gesamtchors, über die die Tagebücher regelmäßig berichten, gehören die Bachschen Motetten zum regelmäßigen Arbeitspensum. [...] ‚Kündlich groß‘ am: 23.12.1817, 14./21.12.1819, 19.12.1820, 24.12.1822.“ „Für die Gesamtproben liegen die Anwesenheitslisten geschlossen vor. Aus ihnen sieht man, wie die Motetten Bachs Jahr für Jahr, und nicht nur in Proben, sondern auch öffentlich in der MarienKirche gesungen wurden.“ (Die Singakademie zu Berlin, S. 49). Doch regten sich auch damals schon Zweifel an der Bachschen Verfasserschaft. So bemerkt der Sammler Georg Poelchau: „Festo Annunciationis Mariae: Du König der Ehren... Hierin ein Chor: Kündlich groß für 4 St. mit Instr. der von einigen für eine J. S. Bachsche Arbeit gehalten wird“ (T. Schwinger, ebd., S. 57). Zu Zelters doppelchöriger Einrichtung dieses Werkes, ebd. – Über Zelters Texteingriffe in Bachs Werke erfahren wir von Schünemann: „Sein Bleistift und seine rote Tinte setzen erst in den Kirchenstücken ein, in den Kantaten und Passionen. Hier rauft er sich um jedes Wort, jede Zeile und versucht der Zeit anzugleichen, was ihm wunderlich, fremd, altväterisch dünkt. Er schreckt nicht davor zurück, seine Eintragungen unmittelbar in Bachs Handschriften einzuzeichnen.“ (S. 48). Auf Zelters Eingriffe in Musik und Text der Bachschen Kirchen-
Am zweiten Weihnachtstage 1817.
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Auch wenn die Einzelstücke musikalisch nicht sicher bestimmt werden können, zeigt das Arrangement theologische Reflexion: Die Beschreibung der Weltzeit ante Christum natum mit „Da nichts denn Neid und Hassen“ wird im ersten Chor mit den Metaphern „Finsternis“ und „Dunkelheit“ aufgenommen. Insgesamt treten Chor und Solist der Gemeinde mit evangelistischer Stimme gegenüber und verkünden ihr das Weihnachtsgeheimnis: „Gott ist offenbaret im Fleisch“, worauf die Gemeinde antwortet: „O großes Werk, o Wundernacht“.
3. Die Predigt Schleiermacher beginnt seine Weihnachtspredigt47 über zwei Verse des Kolosserhymnus (Kol 1,16f.) mit dem Kanzelgruß aus Lk 2,14 und stellt eingangs fest, dass der zu Weihnachten gebotenen vollkommenen Freude am Erlöser die Tatsache im Wege stehe, dass auch die Schrift Christus nie rein als Gottmenschen darstellen könne, sondern jeweils einer Natur den Vorzug geben müsse. Deshalb müsse diese Betrachtung Christi zerlegt werden in ein Nacheinander und müsse pendeln vom Göttlichen zum Menschlichen und wieder zurück zum Göttlichen. Aus dieser Beobachtung leitet er dann auch die Disposition ab, die im ersten Teil Christus – gleichsam von oben – verherrlicht als Ziel der Schöpfung, als denjenigen, „zu dem, d. h. für welchen alles geschehen ist“, und im zweiten Teil – gleichsam von unten – als denjenigen, „in dem alles besteht, d. h. in dem und durch welchen alles ist zu seiner Ruhe gekommen.“ (267) Im ersten sehr dogmatischen Teil greift der Prediger auf den Mythos („jene[n] alten Urkunden“) von Schöpfung und Fall (Gen 1‒3) zurück: „Es ist das innerste Gefühl unseres Lebens, daß alles für den Menschen da ist, daß er der Statthalter Gottes ist auf Erden, und daß durch ihn erst alles einem höhern Zwecke dienen soll.“ (268) Doch konnte nach dem Sündenfall „d e r nun die ganze Welt beherrschen, dessen Gedanken sich untereinander selbst verklagten und verschuldigten? konnte d e r Statthalter Gottes seyn, dessen Herz nun aus jener kindlichen Unschuld gerissen“ war? Doch „nachdem die weitere Entwickelung des Menschen diesen Gang genommen hatte, müssen wir es fühlen, daß der Ewige zum Worte, daß alles gut sey, daß der Mensch nach seinem Ebenbilde geschaffen sey, nicht hätte sprechen können, als nur in Beziehung auf den [...] durch welchen allein die menschliche Natur zur wahren Vollendung kommen konnte, so auch alles andre für seine eigentliche Bestimmung
47
musik geht Schünemann ausführlicher ein in seinem Aufsatz „Die Bachpflege der Berliner Singakademie“, Bach-Jahrbuch 25/1928, S. 138–171. Mitgeschrieben von Ludwig Jonas, SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 265‒279.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
mußte gemacht seyn.“ (269)48 Fast hat es den Anschein, als würde der Sündenfall, der Verlust der kindlichen Unschuld, als schöpfungsimmanent gedacht, als zwangsläufige Konsequenz des menschlichen Erkenntnisvermögens. Schleiermacher deutet die Präexistenz Christi nicht zeitlich, sondern verlegt sie gleichsam in den ewigen Plan Gottes49: Christus, die „lebendige Kraft, die in die menschliche Natur [...] mußte eingepflanzt werden“, der Mensch, der das Böse nicht von innen kannte, „sondern nur, weil es ihm von außen gegeben war als der Widerspruch des Heiligen in ihm. Der allein ist es, den wir ansehen können als das Ende und das Ziel der ganzen Schöpfung. Seitdem er da ist, ist alles vollendet.“ (270) Auf die zu erwartende Frage nach der neuen Schöpfung antwortet Schleiermacher: „Der neue Himmel und die neue Erde brauchen nicht erst zu kommen, sondern sie sind schon da, so gewiß das Wort des Erlösers wahr ist: wer an mich glaubt, der hat schon das ewige Leben, kein Glaube, kein Geist darf mehr in das menschliche Herz kommen, als der schon da ist.“ (272f.) Um keinen Zweifel an seinem perfektischen Erlösungsverständnis zu lassen, hebt er sogar den Unterschied zwischen Natur und Gnade auf: „Natur und Gnade, alles ist Eins, aber nur durch ihn und für ihn.“ (273) Im zweiten Teil betrachtet Schleiermacher die Inkarnation gleichsam von unten, von der Erfahrung aus. Es erinnert an deistisches Denken, wenn er dem Schöpfer bescheinigt, „er habe geruht von seinen Werken nach vollendeter Schöpfung der Welt.“ (273) Doch der Mensch habe diese göttliche Ruhe gestört. „Ja wol ein unruhiges Leben und Treiben war das ganze Leben der Menschen vor der Erscheinung des Erlösers und konnte nichts andres seyn. Von Gott sich entfernend und ihn wieder suchend.“ (274) Während das Menschenleben durch Unruhe gekennzeichnet sei, sei der Erlöser derjenige, „in welchem alles wieder fest geworden und zur Ruhe gekommen sey.“ Indem der Mensch zur Ruhe komme, vollende sich die Schöpfung. Aber inwiefern kann man sagen, dass Christus den Frieden gebracht hat? Einerseits gilt, „daß der Mensch im Augenblick, wo er sich dem Erlöser hingiebt, den Frieden seiner Seele erhält.“ (275) Andererseits halte der Streit zwischen Geist und Fleisch im Menschen an, sei der Mensch noch „zerrissen durch die verschiedenen Bestrebungen im Leben.“ (276) Dennoch stehe das Ergebnis fest: „Die gläubige Seele fühlt zwar, daß sie immer suchen muß, aber sie fühlt doch auch, daß sie gefunden hat und noch immer mehr finden wird, sie fühlt, daß der Glaube siegt und nie aufhören kann zu siegen.“ (277) Die Predigt mündet fast unbemerkt in das Schlussgebet ein, aus dem die Fürbitten um „dankbare Hirten dem Dienst deines Sohnes“, für den Unterricht 48
49
Dass Schleiermacher die Schöpfungsmittlerschaft Christi in Kol 1,15‒20 lediglich im Sinne einer causa finalis verstanden hat, hat er immer wieder betont, vgl. die Belege in: F. Schleiermacher, Exegetische Schriften, KGA I/8, S. XLII, Fußnote 132. Diese auch in einem exegetischen Aufsatz über Kol 1,15-20 von 1832 vorgetragene Deutung brachte ihm die Kritik eines Fachkollegen ein, aus dogmatischem Interesse „eine Beschränkung des Göttlichen in der Würde, Wirksamkeit und Geschichte Christi“ zu erzeugen, „welche mit der Lehre der Schrift überhaupt und mit diesem ihrem leuchtenden Punkt in unserer Stelle sich nimmer verträgt.“ Vgl. die Kritik J. E. Osianders, ebd., S. XLIX.
Am zweiten Weihnachtstage 1817.
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an der Jugend und für die „Herrn und Fürsten der Völker“ hervorgehen. Das Gebet endet explizit mit dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser.50 Erstaunlicherweise geht Schleiermacher auf die Weihnachtsgeschichte überhaupt nicht ein, sondern charakterisiert die Menschwerdung Gottes universell als das Ziel (telos) der Schöpfung und individuell als Mittel für das ZurRuhe-Kommen des Gläubigen. Im Unterschied zu Luthers totus peccator wird der Mensch als ein zwar beschädigtes, aber nicht gänzlich verderbtes Wesen betrachtet („weil zwar das Gute in ihm war, aber nicht ohne durch das Böse getrübt zu werden, das Böse zwar war, aber nicht ohne einen Schimmer des Guten.“) (270) Der Begriff der Sünde kommt in der Predigt bloß ein einziges Mal vor. Schöpfung ist in Schleiermachers Verständnis vor allem die creatio continua („Und sehen wir uns um in der Schöpfung“), die nach gottgewirkten Gesetzen („gesetzmäßiges Leben in Regel und Ordnung“) funktioniert. Sehr entschieden trägt Schleiermacher seine präsentische Eschatologie vor: „Seitdem Er da ist, ist alles vollendet.“ Nichts steht noch aus, weder im Reich der Gnade noch im Reich der Natur. „In diesem Fortschreiten des gemeinsamen Reiches Gottes auf Erden hat die Welt den Frieden gefunden.“ (277) Den gegenwärtigen Unfrieden bezeichnet Schleiermacher optimistisch „als die letzten Zuckungen jenes ruhelosen Lebens, welches dem Erlöser voranging.“ (275) Die Predigt erweist sich als ein einziger Hymnus auf das „schon hier“, eine sprachliche Wendung, die übrigens in der Predigt insgesamt dreimal begegnet.
4. Der Gottesdienst als Ganzes Auf den ersten Blick haben Lieder, Kirchenmusik und Predigt nicht viel gemein, da die Lied- und Musiktexte auf traditionelle Weise die Christgeburt preisen, während der Prediger die Vollendung der Schöpfung reflektiert. Schaut man aber Strophenauswahl und Textredaktion genauer an, so bemerkt man, dass sich Schwerpunkte der Predigt hier bereits andeuten. Wie der Prediger das Erlösungsgeschehen machtvoll in die Gegenwart zieht und einer Historisierung wie Utopisierung entschieden widersteht, so ziehen auch die Lieder vor der Predigt durch ihre mystische Grundhaltung das Weihnachtsgeschehen in die Gegenwart hinein. Überdies wird in den ausgewählten Strophen das „hier“ und „heute“ ausdrücklich betont. So kommen sowohl die Temporaladverbien „heute“ und „nun“ insgesamt dreimal als auch das Adverb „hier“ (vgl. das anaphorische „hier“ in 1/3 des Eingangsliedes) in den Liedern dreimal vor, wobei der Bearbeiter das „hier“ in die vierte Liedblattstrophe des Hauptliedes überhaupt erst eingetragen hat. Die Liedstrophen „Unter der Predigt“ akzentuieren und explizieren ebenfalls das „Heute“ des Heilsgeschehens: „der heut aufschleußt sein Himmelreich.“
50
Zu Schleiermachers Gebeten im Gottesdienst, vgl. B. Schmidt, Lied, S. 328‒334, bes. S. 333, Fußnote 53.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Auch das die Predigt bestimmende Thema der Schöpfung begegnet auf dem Liedblatt. Nicht nur, dass im Kanzelvers an die Vollendung der Schöpfung erinnert wird („So schleußt er wieder auf die Thür / zum schönen Paradeis“), Schleiermacher hat auch das Motiv der Schöpfungsmittlerschaft Christi durch Verstausch in das Hauptlied eingetragen (2/5‒6: „Daß du erschienst, du starker Held, / Der alles schuf und alles hält“) und dem Lied die den zweiten Predigtteil leitende Idee der Friedensgabe (4/8: „den Sündern Frieden bringet“) hinzugefügt. Gerade die letztgenannte Strophe erlaubt einen Einblick in Schleiermachers „Liedbearbeitungswerkstatt“: Fast alle von ihm benutzten Worte und Begriffe finden sich bei Rist, darunter die Hölle („Höllenzwinger“) und der Friede („Friedenswiederbringer“, beide in der 5. Originalstrophe). Lediglich das Kompositum „Wundermann“ (das allerdings auf die „Wundernacht“ Bezug nimmt) sowie die „Sünder“ stammen nicht von Rist. Schließlich weist der von einer einzelnen Stimme vorgetragene und auf Anrede umgestellte Satz aus dem „Nunc dimittis“ (Lk 2,29‒31) auf die Präexistenz Christi hin („welchen Gott bereitet hat vor allen Völkern“), die zu den theologischen Prämissen der Predigt gehört. Insgesamt erwecken die erhaltenen Dokumente dieses Weihnachtsgottesdienstes wiederum den Eindruck, als hätte Schleiermacher sich auf den Skopus „Weihnachten als Vollendung der Schöpfung“ bereits festgelegt, als er das Liedblatt herstellte, ohne über die Einzelheiten der Predigt schon entschieden zu haben.
Am Sonntage nach Weihnachten 1817.1 Vor dem Gebet.2 Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc.3
Mein Dankopfer Herr ich bringe, So mir recht von Herzen geht; Ueber deine Wunderdinge, Wird mein Geist zu dir erhöht: Gott ich freue mich, mein Leben Ist ganz deinem Lob ergeben. Deine Huld und Liebe machet,4 Daß ich also fröhlich bin, Daß mein Mund nur singt und lachet, Und wirft alles Trauern hin. Alles Trauern alles Leiden, Wendest du5 in lauter Freuden.6 Denn du führest meine Sache, Und mein Recht so herrlich aus, Daß man sieht, dein sei die Rache, Und ein jeder merke draus, Wie du dich gesezt das Tichten Aller Menschen selbst zu richten. Herr du bist7 ein Schutz der Armen, Und ein Schild in aller Noth,
1 2
3 4
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7
28.12.1817. – Vorläufige Liedblatt-Signatur: L 30. Q: Stettiner Gb, Nr. 836; Vf. Heinrich Albert. Die 2. Strophe stammt aus dem Lied Nr. 850: Auf! mein Geist, auf! und erhebe Gottes Güt’ und Vatertreu; Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc.; Vf. Simon Dach. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 70 und A. W. Bach, Nr. 97. Deine ... machet,] Seine Huld und Liebe machet, – Vgl. Stettiner Gb, Nr. 850,2 aus dem Lied: Auf! mein Geist, auf! und erhebe; Mel. Herr ich habe mißgehandelt. – Die Strophe lautet: Seine Huld und Liebe machet, / daß ich also frölich bin, / daß mein Mund nur singt und lachet, / und wirft alles Trauren hin; Alles Trauren, alles Leiden, / wendet er in lauter Freuden. Wendest du] wendet er – Vgl. Stettiner Gb, Nr. 850,2. Deine Huld ... Freuden.] Daß du meine stolzen Feinde / hinter sich getrieben hast, / daß, der mich zu fällen meinte, / und nicht hatte Ruh und Rast, / nun vor dir, o Gott, sammt allen / selbst umkommen und gefallen. Herr du bist] Der Herr ist
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Deine Gnad und dein Erbarmen,8 Steht bei uns9 bis in den Tod. Dich zu rühmen und zu loben, Soll mein Werk seyn hier und droben.10 [Stettinisches Gesang Buch]
N a c h d e m G e b e t . 11 Mel. Valet will ich dir etc.12
Wer in der Welt Getümmel Als armer Fremdling steht, Voll Sehnsucht auf zum Himmel Mit seinen Blicken geht, Wem hier die Last der Erde Die schwache13 Brust beengt, Und mächtige Beschwerde Das arme Herz bedrängt, Dem thut in dunklen Nächten Sich bald der Himmel auf, Er schauet dort den ächten Und wahren Lebenslauf; Er siehet mit Entzücken Der fernen Heimat Blau Und bald muß ihn erquicken Des ewigen Lebens Thau. Es bricht aus Himmels Landen, Ein güldner Strahl herein; Er fühlt von allen Banden, Nun bald befreit zu seyn; Ein Engel steigt hernieder, Und macht ihn fessellos, Er sinket heiter nieder In dieses Engels Schooß. Und Jesus der Geliebte, Reicht ihm den Freundes Arm, Und bald ist der Betrübte Befreit von allem Harm 8 9 10 11 12 13
Deine Gnad ... Erbarmen,] seine Gnad und sein Erbarmen Steht bei uns] steht uns bey Dich zu ... droben.] Die ihn kennen und nicht hassen, / wil er nimmermehr verlassen. Q: Jauersches Gb, Nr. 557. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 18 und A. W. Bach, Nr. 217. schwache] matte
Am Sonntage nach Weihnachten 1817.
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Er sieht als Himmelszeichen Das Kreuz von unserm Herrn; Nun muß der Gram entweichen, Vor diesem lichten Stern. Getrost nur lasst uns fassen Des ew’gen Freundes Hand, Er wird uns niemals lassen, Er bleibt uns zugewandt O daß sich nimmer wende, Von seinem Kreuz der Blick! Dies bleibt am letzten Ende, Allein uns treu zurück. [Jauersches Gesang Buch]
U n t e r d e r P r e d i g t . 14 Mel. O Haupt voll etc.15
Wenn dir im Heiligthume Die Andacht Opfer weiht, So fliehn die Erdgedanken, Ich athme Seligkeit; Ich kniee mit den Frommen, Vor deinem Thron, und du Siehst gnädig auf uns nieder, Und giebst uns Himmelsruh.16
14 15 16
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 70,9; Lied: Wie schlägt voll Dank und Liebe; Mel. Valet will ich dir etc. Zur Melodie vgl. J. C. Kühnau, Choralbuch, Nr. 17 (Herzlich thut mich verlangen) und A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 107 (Herzlich thut mich verlangen). Wenn dir ... Himmelsruh.] Es fliehn die Erdgedanken, / ich athme Seligkeit, / wenn dir im Heiligthume / die Andacht Opfer weiht. / Da knie’ ich mit den Frommen / vor deinem Thron, und du/ siehst freundlich unsre Rührung / und lohnst mit Himmelsruh.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
N a c h d e r P r e d i g t . 17 Mel. Nun lob mein Seel etc.18
Herr dein ist alle Stärke, Und alle Hülfe Gott ist dein, Das zeugen deine Werke, Die deiner hohen Kraft sich freun. Wir auch erfreun uns ihrer, Ihr Lob ist19 unsre Pflicht; O Vater, o Regierer, Wen hält wen schützt sie nicht? Du lebst, du wirkst in Allen, Dir dir vertrauen wir. Erhalter wer kann fallen Geschützt20, gestärkt von dir.21
17
18 19 20 21
Mögliche Q: Jauersches Gb, Nr. 13,5; Incipit: Kommt, kommt, den Herrn zu preisen; Vf. J. A. Cramer. – Vgl. Johann Andreas Cramers Prokanzlers der Universität Kiel Sämmtliche Gedichte. Erster Theil, Leipzig 1782, Zweytes Buch, Nr. 21, S. 67‒70. Zur Melodie vgl. die Choralbücher von J. C. Kühnau, Nr. 126 und A. W. Bach, Nr. 177. ist] sei Geschützt] beschützt Wortlaut der Strophe bei Cramer (Bibliographie s. o. Fußnote 17): Herr, dein ist alle Stärke, / Und alle Hülfe, Gott, ist dein! / Das preisen deine Werke, / Die deiner Kraft allein sich freun. / Wir auch erfreun uns ihrer; / Ihr Lob sey unsre Pflicht! / O Vater, o Regierer, / Wen hält, wen schützt sie nicht? / Du lebst, du wirkst in allen; / Dir, dir vertrauen wir! / Erhalter, wer kann fallen, / Getragen, Herr, von dir?
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Am Sonntage nach Weihnachten 1817.
1. Liedauswahl und Textredaktion Der Gottesdienst wird mit einer Collage der Lieder „Mein Dankopfer, Herr, ich bringe“ von Heinrich Albert (1604‒1651) aus der Rubrik „Trost-, Geduld- und Aufmunterungs-Gesänge“ und „Auf! mein Geist, auf! und erhebe“, Rubrik: „Lob- und Dankgesänge“ von Simon Dach (1605‒1659) eröffnet. Beide Lieder stehen im Stettiner Gesangbuch mit der Melodie „Herr, ich habe missgehandelt“. Schleiermacher substituiert die Feindstrophe des Albert-Liedes („Daß du meine stolzen Feinde“) durch die fröhliche und unbeschwerte mittlere Strophe aus dem Dach-Lied.22 Um die Dach-Strophe passend zu machen, hat der Bearbeiter sie in die Anredeform transformiert, ebenso die letzte Albert-Strophe. In der letzten Strophe sind die beiden Schluss-Verse wiederum dem Dach-Lied entnommen. Durch diesen Strophen- und Zeilen-Mix ist ein freundliches Dank- und Morgenlied entstanden, dem allerdings die dunklen Aspekte (Feinde, Hass) fehlen, die dem Morgenlied traditionell anhaften.23 Liedblatt L 30, 28.12.1817
Mein Dankopfer, Herr, ich bringe
Auf! mein Geist, auf! und erhebe
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Vor dem Gebet
Stettiner Gesangbuch 1790, Nr. 836
Stettiner Gesangbuch 1790, Nr. 850 Auf! mein Geist, auf! und erhebe Gottes Güt’ und Vatertreu, er ist’s, der so lang ich lebe, mich macht aller Sorgen frei; drum auch ihn allzeit zu ehren, sich mein Spiel soll lassen hören.
Mein Dankopfer Herr ich bringe, So mir recht von Herzen geht; Ueber deine Wunderdinge, Wird mein Geist zu dir erhöht: Gott ich freue mich, mein Leben Ist ganz deinem Lob ergeben.
Mein Dankopfer, Herr, ich bringe, so mir recht von Herzen geht, über deine Wunderdinge wird mein Geist zu dir erhöht. Gott, ich freue mich, mein Leben ist ganz deinem Lob ergeben. Daß du meine stolze Feinde hinter sich getrieben hast, daß, der mich zu fällen meinte, und nicht hatte Ruh und Rast, nun vor dir, o Gott, sammt allen selbst umkommen und gefallen.
Deine Huld und Liebe machet, Daß ich also fröhlich bin, Daß mein Mund nur singt und lachet,
22
23
Seine Huld und Liebe machet, daß ich also fröhlich bin, daß mein Mund nur singt und lachet,
Heinrich Albert und Simon Dach waren bekanntlich befreundet und gehörten beide zur literarischen Gesellschaft „Die musikalische Kürbishütte“, die sich in Alberts Königsberger Gartenhaus traf. Vgl. J. Henkys’ Auslegung der Gerhardtschen Morgenlieder, in: H.-J. Beeskow (Hrsg.), „Auf rechten, guten Wegen”. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung von Paul Gerhardt (1607‒1676), Berlin‒Basel 2007, S. 17‒28, besonders S. 18f. Henkys weist auf die mönchische Tradition und vor allem auf Luthers Morgensegen hin.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Liedblatt L 30, 28.12.1817
Mein Dankopfer, Herr, ich bringe
Auf! mein Geist, auf! und erhebe
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Mel. Herr, ich habe mißgehandelt
Vor dem Gebet
Stettiner Gesangbuch 1790, Nr. 836
Stettiner Gesangbuch 1790, Nr. 850
Und wirft alles Trauern hin. Alles Trauern alles Leiden, Wendest du in lauter Freuden.
und wirft alles Trauern hin; alles Trauern, alles Leiden, wendet er in lauter Freuden.
Denn du führest meine Sache, Und mein Recht so herrlich aus, Daß man sieht, dein sei die Rache, Und ein jeder merke draus, Wie du dich gesezt das Tichten Aller Menschen selbst zu richten.
Denn du führest meine Sache, und mein Recht so herrlich aus, daß man sieht, dein sei die Rache, und ein jeder merke draus, wie du dich gesezt das Tichten aller Menschen selbst zu richten.
Herr du bist ein Schutz der Armen, Und ein Schild in aller Noth, Deine Gnad und dein Erbarmen, Steht bei uns bis in den Tod. Dich zu rühmen und zu loben, Soll mein Werk seyn hier und droben.
Der Herr ist ein Schutz der Armen und ein Schild in aller Noth, seine Gnad’ und sein Erbarmen steht uns bei bis in den Tod; die ihn kennen und nicht hassen, will er nimmermehr verlassen.
Großer Gott! laß dir’s gefallen, was mein Mund aus Einfalt singt; dein Lob müsse weit erschallen, bis es durch die Wolken dringt; dich zu rühmen und zu loben soll mein Werk seyn hier und droben.
Es folgt als Hauptlied „Wer in der Welt Getümmel“ aus der Rubrik „Darstellung der Gottseligkeit. In Beziehung auf Gott (Vertrauen und Hoffnung)“ aus dem Jauerschen Gesangbuch. Schleiermacher hat das ganze Lied übernommen und nur eine geringfügige Änderung vorgenommen (1/6: schwache statt matte Brust). Das Lied eines unbekannten Verfassers führt von der Weltund Lebensmüdigkeit über die Himmelssehnsucht zur Christusverbundenheit. Auch der Kanzelvers dürfte dem Jauerschen Gesangbuch entstammen, dem Lied „Wie schlägt voll Dank und Liebe“, Rubrik „Gott, dem Vater. Der Mensch“ Allerdings hat Schleiermacher den Beginn der Strophe so umgestellt, dass nun der Nebensatz „Wenn dir im Heiligthume“ voransteht, um sie als Kanzelvers geeignet zu machen. Der Gedanke des „Lohnens“ im letzten Vers wird durch das Verbum „geben“ ersetzt. Der Schlussgesang wird demselben Gesangbuch entnommen sein, dem Lied „Kommt, kommt, den Herrn zu preisen“ von J. A. Cramer (1723‒1788) aus der Rubrik „Preis der göttlichen Eigenschaften“. Die geringfügigen Textabweichungen sind inhaltlich irrelevant. Die Strophe besingt die Allmacht Gottes, des Schöpfers und Erhalters, die es zu loben und der es sich anzuvertrauen gilt.
2. Die Predigt Schleiermacher predigt am letzten Sonntag des Jahres über Hebr 3,8‒11.24 Der Prediger weist seine Gemeinde eingangs auf den Unterschied zwischen dem Kirchenjahr und dem bürgerlichen Jahr hin, indem das Kirchenjahr „seit eini24
Predigtnachschrift Ludwig Jonas, vgl. SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Slg. Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818), S. 281‒288.
Am Sonntage nach Weihnachten 1817.
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ger Zeit“25 mit dem Totengedenken am Ewigkeitssonntag, das bürgerliche Jahr aber mit einer allgemeinen Rückbesinnung auf das verflossene Jahr beschlossen würde, wobei die Schwierigkeit darin bestände, dass nicht alle dasselbe erlebt hätten, es bliebe aber „des Gemeinsamen noch genug übrig.“ (281) Kurz führt Schleiermacher in den exegetischen Zusammenhang ein, wobei er den alttestamentlichen Hintergrund als „eine Ausführung aus einem der Psalmen“26 lediglich als Mittel des Briefautors beschreibt, „um die Christen, an welche er schreibt, in die richtige Stimmung des Gemüths zu versetzen in Beziehung auf das, was ihnen begegnet war und bevorstand.“ (282) Doch das eigentliche Thema, das die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt hätte, sei dies, dass sich die Erfüllung der göttlichen Verheißung häufig verzögere. Diese allgemeine Erfahrung unerfüllter Erwartungen führt schließlich zur Disposition nach Hebr 3,10: 1. Sie irren in ihrem Herzen. 2. Sie wollen meine Wege nicht verstehen lernen. Im ersten Teil fragt Schleiermacher nach dem Grund des Irrens und Misstrauens gegen Gott, obwohl er auch Israel in der Wüste „das gläubige Gefühl von einer besondern göttlichen Fügung“ (283) zugesteht. Die Antwort: „Es liegt in der Trägheit der Menschen, in dem Mangel an Beharrlichkeit, in derjenigen Eigenschaft der menschlichen Natur, vermöge derer der Mensch sich leichter auf eine kurze Zeit der größten Gefahr aussetzt, als daß er auf längere Zeit beständig kleinen, aber sich immer wieder erneuernden aussetzt.“ (284) Voraussetzung für die Erlangung der inneren Ruhe sei das „Zurücksehen in die Vergangenheit“ (284) und die Einsicht, dass „die Verbesserung unsers eigenen Gemüths, unsre Reinigung von dem Bösen, daß unser Fortschreiten in der Erkenntniß“ nicht „ohne Mühe und Anstrengung“ (285) zu erreichen sei. Dieses Missverständnis der Leichtigkeit und Mühelosigkeit sei „der gefährlichste Leichtsinn des menschlichen Herzens“ (285). Eingangs des zweiten Teils rekapituliert der Prediger die Exodusgeschichte und warnt sogleich vor einem oberflächlichen Verständnis: Der Auszug aus Ägypten sei kein Selbstzweck gewesen, sondern „daß der Herr darum sie ausgeführt habe, um sie zu läutern.“ (286) Sodann beklagt Schleiermacher die menschliche Vergesslichkeit, besonders für die Taten Gottes, obwohl es doch „ein herrlicher Vorzug seiner Natur ist, daß er die Vergangenheit in seinem Gemüthe festhalten kann.“ (286) Doch lasse sich der Mensch gern „von dem Augenblicke der Noth überwältigen“ (287) „Das Verkennen der göttlichen Wege ist für alle die unvermeidlich, welche immer auf das Aeußere und nicht auf das Innere sehen.“ (287) Im Sinne des Hebräerbriefs wird die Wüstenwanderung zu einem Weg der Selbstreinigung und Läuterung spiritualisiert. Es gelte, „nicht nur die Wege anschauen, sondern auch verstehen lernen“, „um das 25
26
Der Sonntag vor dem 1. Advent wurde per Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms III. vom 17.11.1816 zum „allgemeinen Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen“ in Preußen. Vorausgegangen war eine „Todtenfeier zum Gedächtniß der im Felde gefallenen Krieger“ am 4.7.1816, vgl. K.-H. Bieritz, Art. Totensonntag, in RGG4, Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 498. Vgl. Psalm 95.
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II. Die Liederblätter des Jahres 1817
Reich Gottes und die Absicht des Herrn und die Geschichte der Menschen zu erkennen“ und den Gewinn, den „die vielen Entbehrungen und Widerwärtigkeiten, die der Herr uns auflegt“ (287), mit sich bringen. Der Prediger schließt mit einer unverhohlenen Drohung: „Denen aber, M. a. F., unter uns, die sich nicht warnen lassen durch das Wort des Herrn, die da fortfahren zu irren und seine Wege nicht verstehen wollen, denen sind wir berechtigt zu sagen, was der Herr von seinem Volke gesagt hat: ihr alle sollt zu reiner Ruhe nicht einkehren, deren Leiber sollen verfallen in der Wüste, ehe dem sie sehen das Land der Verheißung.“ Und er befürchtet, „daß die Erfüllung der Verheißung aufbewahrt wird auf die künftigen Geschlechter; sie aber werden alle vergehen in der unerfüllten Hoffnung.“ (288) Deutlich predigt Schleiermacher gegen die Ungeduld. Aber worauf bezieht er sich? Auf die Ungeduld mit der politischen oder der kirchlichen Entwicklung?27 Interessant ist auch, dass diese Predigt über Hebr 3,8‒11 auf Ex 17,1‒7 und Num 20,2‒6 als Subtexten basiert. Es fällt auf, dass Schleiermacher um den Jahreswechsel herum häufiger alttestamentliche Texte predigte28, die das Wesen von Zeit und Geschichte behandeln.29
3. Der Gottesdienst als Ganzes Zwar trägt das Liedblatt den Titel „Am Sonntage nach Weihnachten“, doch spielt die Weihnachtsthematik weder in den Liedern noch in der Predigt irgendeine Rolle.30 Vielmehr machen Liedauswahl und Strophenkomposition deutlich, dass Schleiermacher den Gottesdienst als dankbaren Jahresrückblick angelegt hatte. Die Erfahrung des Glaubens sei: „Alles Trauern alles Leiden / wendest du in lauter Freuden.“ (Morgenlied) Darauf könne der Mensch nur 27
28 29
30
Nach der Union vom 31.10.1817 warteten viele ungeduldig auf die Ausarbeitung und Einführung eines neuen Unionsritus. Außerdem stockten die Verhandlungen zur Einführung der Synodalverfassung, vgl. das Schreiben an Blanc vom 6.12.1817, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, 4. Band, Berlin 1863, S. 228f. In einem Brief vom 9.12.1817 an den Schwager Ernst Moritz Arndt kommt Schleiermacher auch auf die „Wartburggeschichte“ zu sprechen, vgl. Heinrich Meisner, Schleiermacher als Mensch. Familien- und Freundesbriefe 1804‒1834, S. 268f. Auf dem ersten Wartburgfest am 18.10.1817 hatten Professoren und Studenten aller deutschen Universitäten für einen deutschen Nationalstaat und eine freiheitliche Verfassung demonstriert. – Dagegen hat W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, Leipzig 1933, S. 49, behauptet, die reale Zeitgeschichte trete in den Predigten – mit Ausnahme des Jahreswechsels 1806/07 – „ganz in den Hintergrund“, und Schleiermacher predige „das zeitlose ‚Heute’ des christlichen Bewußseins“. Dagegen steht allerdings der explizite Erfahrungsbezug in dieser Predigt, der Rekurs auf den Schatz allgemeiner Erfahrung, Bl. 281. Vgl. z. B. Neujahr 1793: Ps 90,10; Sonntag nach Weihnachten 1794: Ps 26,8; Sylvester 1806: Pred 7,11; Neujahr 1824: Hiob 38,11. Wolfgang Trillhaas hat eine enge Verwandtschaft der Advents- und Neujahrspredigten festgestellt: „Beide Reihen berühren sich im Gedanken der Zeit.“ W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 49. Ähnlich die Liederblätter H 14 (Sonntag nach Weihnachten o. J.); L 124 (Sonntag nach Weihnachten 1821) und L 154 (Sonntag nach Weihnachten 1822).
Am Sonntage nach Weihnachten 1817.
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mit Lobpreis reagieren: „Dich zu rühmen und zu loben / Soll mein Werk seyn hier und droben.“ (Morgenlied) bzw. „Ihr Lob ist unsre Pflicht“ (Schlussgesang). Mit dem Hauptlied „Wer in der Welt Getümmel“, das die Erfahrung der Glaubensmüdigkeit und Himmelssehnsucht thematisiert, führt Schleiermacher zur Predigt hin, die ihren Schwerpunkt bei der Frage nach dem Unwillen des Menschen hat, sich auf Gottes Wege einzulassen. Der an Hebr 3,11 angelehnten Drohung, wer die Wege des Herrn nicht verstehen wolle, werde „zu reiner Ruhe nicht einkehren“, korrespondiert und kontrastiert der Kanzelvers mit der – bei fliehenden „Erdgedanken“ – in Aussicht gestellten „Himmelsruh“.
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Abkürzungsverzeichnis Am.B. BBAW BG Bl. CG
EG EKG Gb GSV
Amalienbibliothek (Notensammlung innerhalb der SBB) Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Berliner Gesangbuch (1829), Mitherausgeber F. Schleiermacher Blatt (in den Predigtmanuskripten) Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Evangelisches Gesangbuch Evangelisches Kirchengesangbuch Gesangbuch
Lb M. a. F. M. F. MGG Ms. Q
Graun Sacred Vocal. Verzeichnis der geistlichen Vokalwerke der Gebrüder Graun Liederblätter. Hannoveraner Sammelband (mit fortlaufender Nummer eigener Zählung) Kritische Gesamtausgabe (der Werke Schleiermachers) Liederblätter. Londoner Sammelband (mit fortlaufender Nummer eigener Zählung) Liedblatt Meine andächtigen Freunde Meine Freunde Die Musik in Geschichte und Gegenwart Manuskript Quelle, Quellengesangbuch
p. Ep. p. T. RGG RISM SBB SW TRE TVWV Vf.
nach Epiphanias nach Trinitatis Die Religion in Geschichte und Gegenwart Répertoire International des Sources musicales Staatsbibliothek zu Berlin. SPKB (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) Sämtliche Werke (Schleiermachers) Theologische Realenzyklopädie Telemann-Vokal-Werk-Verzeichnis Verfasser
WA DB
Martin Luther, Weimarer Ausgabe Deutsche Bibel
H KGA L
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Gesangbücher Allgemeines Gesangbuch [...] zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Holstein, der Grafschaft Pinneberg, der Stadt Altona, und der Grafschaft Ranzau. [...] Kiel 180514. (SBB: Hb 2981m). Allgemeines Gesangbuch, auf Königlichen Allergnädigsten Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, der Herrschaft Pinneberg, der Stadt Altona, und der Grafschaft Ranzau gewidmet und mit Königlichem Allerhöchsten Privilegio herausgegeben. Altona 17812. [Cramers Gesangbuch, so auch das folgende.] (SBB: Hb 1983). Allgemeines und vollständiges Evangelisches Gesang-Buch für die Königlich Preußisch Schlesischen Lande, hrsg. von Johann Friedrich Burg, Breslau 1790 (17451). (SBB: Hb 2318m). Altmärkisch- und Prignitzsches Neu-eingerichtetes Gesang-Buch, Salzwedel 1764 (mit einer Vorrede von J. C. Meurers 1734). (SBB: Hb 1972m). Choral-Buch für das Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen, bearbeitet und [...] herausgegeben von August Wilhelm Bach, Berlin 1830. (SBB: DMS O.91322). Christliche Gesänge zur Beförderung eines frommen Sinnes und Wandels und zum Gebrauch bei der öffentlichen und häuslichen Gottesverehrung, Elberfeld 1805 (2. Teil 1817). (SBB: Hb 2543,1–2). Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht, Bremen 1812. (SBB: Hb 2296) Cramer. Johann Andreas Cramers Prokanzlers der Universität Kiel Sämmtliche Gedichte, Carlruhe 1783. (Erster und Zweiter Theil). (SBB: Yk 8952a). Cramer. Johann Andreas Cramers Prokanzlers der Universität Kiel Sämmtliche Gedichte, Dritter Theil, Leipzig 1783. (SBB: Yk 8951a). Elf Kirchenlieder für das Jubelfest der Reformation, nach bekannten ChoralMelodieen, aus mehreren vorzüglichen Gesangbüchern zusammengetragen und z. Th. neu verfertigt. Voran der Text der verordneten Liturgie. Aus Dr. G. A. L. Hansteins Vorbereitungen zur Feier des dritten Jubel-Festes [...] Berlin 1817. (SBB: Cn 21023).
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Erste Sammlung Geistlicher Lieder von Balthasar Münter, Leipzig 17732. (Zweigbibliothek Theologie der Humboldt-Universität Berlin, Signatur: 16/1132–12.2). – Zwote Sammlung Geistlicher Lieder von Balthasar Münter, Leipzig 1774. (dgl. Signatur). Evangelisches Gesangbuch, Stammausgabe Berlin 1993. Evangelisches Kirchengesangbuch, Stammausgabe Kassel 1950. Evers, Nikolaus Joachim Guilliam, Sammlung geistlicher Lieder zur Erheiterung und Beruhigung [...] Erster und Zweiter Theil Hamburg 1817, Dritter Theil Hamburg 1818. (3 Bände). (SBB: Hb 537). Freylinghausen. Johann Anastasii Freylinghausens [...] Geistreiches Gesangbuch den Kern alter und neuer Lieder in sich haltend [...] herausgegeben von Gotthilf August Francken, Halle 1741. (SBB: Hb 599). Geistliche und liebliche Lieder [...] nebst einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1790 (Vorrede von 1728). (SBB: Hb 2145). Geistliche und liebliche Lieder, [...] Nebst einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1713. (SBB: Hb 2107). Geistliche und liebliche Lieder, [...] Nebst einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1728. (SBB: Hb 2112). Gesangbuch für die häusliche Andacht, hrsg. von Johann Samuel Diterich, Berlin 1787. (SBB: Hb 492). Gesangbuch für die protestantische Gesammt-Gemeinde des Königreiches Baiern. Sulzbach 1816. (SBB: Hb 2043). Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778. (SBB: Hb 2891). Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich-Preußischen Landen, Berlin 1780. (verlegt bei August Mylius). (SBB: Hb 2141). Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauche für die Stadt und das Herzogthum Magdeburg, Magdeburg 18184. (SBB: Hb 3214). Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen, Berlin 1829. (Herausgegeben von der Berliner Gesangbuchs-Commission, zu der auch Schleiermacher gehörte) (SBB: Hb 2164). Geystliche Lieder. Mit einer neven vorrhede D. Martin Luthers [...] Gedruckt zu Leipzig durch Valentin Babst in der Ritterstrassen. 1545. (Faksimiledruck mit einem Geleitwort von Konrad Ameln, Bärenreiter Kassel u. a. 1988, Ausgabe von 1551). (SBB: Hb 1134m). Hannoversches Kirchengesangbuch nebst einem Anhange neuer Gesänge [...] Hannover 181545. (SBB: Hb 2857m). Heiliges Lippen- und Herzens-Opfer einer gläubigen Seele oder vollständiges Gesang-Buch [...], hrsg. von L. D. Bollhagen, Alt-Stettin 1844 (mit einer Vorrede von 1791). (Privatbesitz). (SBB: Hb 3841).
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Kirchenlieder zur Feyer des Reformations-Jubelfestes 1817, Wittenberg, gedruckt bei Rübener. (SBB: Cn 21023). Klopstock, F. G., Geistliche Lieder. (dreiteilig, Erster Theil, Kopenhagen und Leipzig 1758 mit „Veränderte Lieder“ und Geistliche Lieder, Zweiter Theil, Kopenhagen und Leipzig 1769). (SBB: Hb 928‒931; SBB: 38 MA 12416 Rara). Klopstocks Lieder. Wien 1784. (SBB: Yk 9599a). Lavater. Johann Caspar Lavaters auserlesene Christliche Lieder. Ein Handbuch zur Erbauung und zum Nachdenken, Basel 1792. (SBB: Hb 1039). Lavater. Johann Caspar Lavaters Christliche Lieder der vaterländischen Jugend, Zürich 1774. (SBB: Ei 6512b). Lieder für den öffentlichen Gottesdienst, Berlin bey David Gottlieb Schatz 1765. (Hrsg. Johann Samuel Diterich). (SBB: Hb 2128). Lieder zur kirchlichen Feyer des Reformationsfestes und der Synodalversammlungen, von D. August Hermann Niemeyer. Canzler und Professor der Theologie an der vereinigten Halle- und Wittenberger Friedrichs-Universität, Halle und Berlin 1817. (SBB: Cn 21023). Neu verbessertes Kirchen-Gesang-Buch, in sich haltend die Psalmen Davids, nach D. Ambros. Lobwassers Übersetzung, Frankfurt am Mayn 1753. (SBB: Hb 2614). Neues Evangelisches Gesangbuch für die Königlich Preußisch Schlesischen Lande zur öffentlichen und häuslichen Gottesverehrung [...] und einer Vorrede von D. David Gottfried Gerhard (1799), Breslau 1810. (SBB: Hb 2319n). Neues Gesangbuch, oder Sammlung der besten geistlichen Lieder und Gesänge zum Gebrauche bey dem öffentlichen Gottesdienst herausgegeben von G. J. Zollikofer, Leipzig 1766 (SBB: Hb 1940). Niemeyer, August Hermann, Geistliche Lieder, Oratorien und vermischte Gedichte, Halle und Berlin 1820. (SBB: Mus.T 380). Praxis Pietatis Melica. Das ist: Übung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesängen [...] Von Johann Crügern, Berlin 1666[12] [...] Editio XII. (EKU-Bibl.: Ff 251012). Rambach, August Jakob, Anthologie christlicher Gesänge aus allen Jahrhunderten der Kirche. 6 Bände. Altona und Leipzig 1817–1833. (SBB: Mus. T. 386). Sammlung alter und neuer geistlicher Lieder in Gemäßheit der Allerhöchst bestätigten Allgemeinen Liturgischen Verordnung für die evangelischlutherischen Gemeinden im Russischen Reiche von 1805 herausgegeben, Riga 1810. (SBB: Hb 3620). Sammlung christlicher Lieder für die kirchliche Andacht evangelischer Gemeinen. Zunächst der zu Jauer, Breslau und Jauer 1813. (SBB: Hb 2958). Schubart. Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte, hrsg. von seinem Sohne Ludwig Schubart, Frankfurt am Main 1802. (SBB: Yl 6341–1.2).
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2. Musikalien (in Auswahl) Agricola, Johann Friedrich, Weihnachtskantate „Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß“ (1771) (SBB: SA 182). Arnold, Samuel (Hrsg.), „Messiah. A Sacred Oratorio in Score With all the Additional Alternations composed in the year 1741 by G. F. Handel.“ 1787‒1788. (SBB 4° N. Mus. 2245‒9/13). Graun, Carl Heinrich, Chor „Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß, Gott ist offenbaret im Fleisch“, aus der Kantate „Du König der Ehren“ (Graun Sacred Vocal GSV 10) (SBB: Mus. ms 8183 und Mus.ms.30371), Früher J. S. Bach zugeschrieben (vgl. BWV Anh. III 161). Graun, Carl Heinrich, Passionskantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (GSV 40) (SBB: SA 62; SBB: Mus.ms. 8155 und Mus.ms 8156 und 8156/1; SBB: Am.B. 172 und Am.B. 173). Händel, Georg Friedrich, Der Messias im Clavierauszuge von C. F. G. Schwencke mit deutschem Texte von Klopstock und Ebeling. Hamburg bey Johann August Böhme 1809. (SBB: N. Mus. O. 295). Händel, Georg Friedrich, Oratorium Der Messias, nach W. A. Mozart’s Bearbeitung, Leipzig (Breikopf und Härtel) 1803. (SBB: N. Mus. O. 4277). Händel, Georg Friedrich, The Messiah. Oratorio in three parts, hrsg. von John Tobin, Hallische Händelausgabe Bd. 17, Kassel u. a. 1965.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
3. Schleiermacher 3.1. Handschriften Predigtnachschriften von Ludwig Jonas aus dem Jahre 1817. Depositum des De Gruyter-Verlags in der Berliner Staatsbibliothek: SBB: Dep. 42 a, Schleiermacher-Archiv, Vorläufiges Verzeichnis von Lothar Busch, Kasten 18, Mappe 70, Sammlung Jonas, Jonas B 41 Predigten (1816‒1818). Undatierter Brief Schleiermachers an Luise von Zenge (1821), BBAW, Autograph I/1234.
3.2. Druckschriften [Liederblätter. Sammelband in Hannover, Bibliothek der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik, Signatur B V 6754 (vorläufiges Sigel: H), Kopie in BBAW.] [Liederblätter. Sammelband in London, British Library, Signatur 3436.h.29 (vorläufiges Sigel: L), Kopie in BBAW.] [Liederblätter. Einzelblätter im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB: Depositum De Gruyter 42a, Schleiermacher-Archiv (vorläufiges Sigel: B), Kopie in BBAW.] Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30. October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier. 1817, in: KGA I/9, hrsg. von Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin‒New York 2000, S. 173‒188. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden (1820), in: KGA I/9, hrsg. von Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin‒New York 2000, S. 203‒210. Ästhetik. Nach den bisher unveröffentlichten Urschriften zum ersten Male herausgegeben von Rudolf Odebrecht, Berlin und Leipzig 1931. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Erster Band (bis 1804), Berlin 1860. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Zweiter Band (1804–1834), Berlin 1860. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Dritter Band (Briefwechsel mit Freunden bis 1804), hrsg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey, Berlin 1861. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Vierter Band (Briefwechsel mit Freunden von 1804–1834, Denkschriften u. ä.), hrsg. von Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey, Berlin 1863.
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